Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 656 Die Namenlose Zone
Die Kinder der BRISBEE von Hubert Haensel
Auf dem P...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 656 Die Namenlose Zone
Die Kinder der BRISBEE von Hubert Haensel
Auf dem Planeten der Emulatoren
Es geschah im April 3808. Die endgültige Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Positiven, hauptsächlich repräsentiert durch Atlan und die Solaner, und zwischen Anti‐ES und seinen unfreiwilligen Helfern, vollzog sich in Bars‐2‐Bars, der künstlich geschaffenen Doppelgalaxis. Dieser Entscheidungskampf geht überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wird gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entsteht ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß in Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐ Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Und so dringt Atlan mit der MJAILAM erneut in den ehemaligen Verbannungsort von Anti‐ES vor, und er entdeckt, daß der so leer und sternenlos wirkende Raum Sonnen und Planeten enthält. Zum Beispiel Solist, den Planeten der Emulatoren. Dort befinden sich auch DIE KINDER DER BRISBEE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide und sein Team in der Namenlosen Zone. Tyari ‐ Atlans Gefährtin. Daug‐Enn‐Daug und Ehennesi ‐ Emulatoren an Bord der MJAILAM. Uster Brick ‐ Pilot der MJAILAM. Desmon und Dyla ‐ Zwei der Kinder von der BRISBEE.
Prolog Dort, wo selbst die Zeit stillzustehen schien, weil es nichts gab, woran ihr Lauf gemessen werden konnte, existierte eine Zone gebündelter Energie. Orte wie diese blieben dem Auge verborgen – selbst die perfektesten Meßgeräte mußten versagen. Dennoch war da das Erzeugnis fremdartiger Technik: gerichtete Impulsstrahlen kreuzten sich in der Unendlichkeit; Daten wurden übermittelt und Befehle empfangen. Beobachtungsrelais 228 versah seine Aufgabe mit der Akribie einer intelligenten Maschine. Distanz noch 50 Einheiten, meldeten die Sensoren. Nur Sekundenbruchteile später kam aus der Tiefe des Raumes die Antwort. Ist alles bereit, die Eindringlinge dem Ziel zuzuführen? Unser Objekt erfüllt sämtliche Erwartungen; in Kürze wird es keine Fremden mehr geben. 1. Als Uster Bricks Gesicht sich veränderte, wußte Atlan sofort, daß etwas Entscheidendes geschehen sein mußte. Leider konnte er nicht erkennen, wer der Anrufer war, der sich in der Zentrale der MJAILAM gemeldet hatte. Der Pilot führte rasch hintereinander einige Schaltungen aus.
»Sicherungstrupp und Medoroboter bitte in den Hauptlagerraum A. Es handelt sich um einen Notfall.« Atlan erhob sich aus seinem Sessel vor den Monitoren der Ortungen und wandte sich Brick zu. »Was ist geschehen?« Uster, der sich eben noch über die grenzenlose Leere der Namenlosen Zone lustig gemacht hatte, wirkte nun ernst, beinahe verschlossen. »Daug‐Enn‐Daug«, sagte er. »Ein Unfall. Es hat ihn erwischt.« »Schwer?« »Ich weiß nicht.« Wie der Pilot die Worte hervorstieß, klangen sie beinahe so, als sei es ihm im Grunde egal, was mit dem Emulator der Vulnurer geschah. Atlan verließ eilig die Zentrale. Wenig später erreichte er das Deck des Hauptlagerraumes. Männer und Frauen der Freischicht drängten sich vor dem Eingang; als sie den Arkoniden erkannten, machten sie bereitwillig Platz. »Die beiden waren mir von Anfang an unheimlich«, hörte er im Vorbeigehen eine Frau sagen. »Du hoffst, daß Daug‐Enn‐Daug tot ist?« fragte jemand überrascht. »Nein, das ganz gewiß nicht«, erwiderte sie heftig. »Aber mir wäre wohler zumute, wenn ich wüßte, daß die Emulatoren so bald wie möglich wieder von Bord verschwinden.« Roboter waren bereits mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Eine der tonnenschweren Regalreihen war aus ihren Verankerungen herausgebrochen und umgestürzt. Ersatzteile und kostbare technische Geräte lagen in wirrem Durcheinander verstreut. Der Arkonide sah zwei Medoroboter über einen reglosen Körper gebeugt. Daug‐Enn‐Daug lag ausgestreckt auf dem Rücken, sein Gesicht war blutverkrustet. Eine Vielzahl von Meßgeräten war an seinen Schläfen, den Armen und am Hals angeschlossen. »Und?« wollte Atlan wissen. »Innere Verletzungen sind nicht festzustellen«, antwortete einer
der Roboter. »Allerdings steht der Emulator unter Schockeinwirkung.« »Schafft ihn auf die Krankenstation und unterrichtet mich, sobald er wieder zu sich kommt.« Atlan wandte sich an einen Mann des Sicherungstrupps: »Liegen schon Ergebnisse vor?« »Wir haben eindeutige Spuren einer engbegrenzten thermischen Entladung gefunden. Allem Anschein nach sind mehrere Sprengkörper detoniert.« »Jemand hat versucht, Daug‐Enn‐Daug zu töten?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das habe ich nicht behauptet.« »Aber du nimmst es ebenfalls an? Ein Emulator dürfte kaum dazu fähig sein, sich selbst in die Luft zu sprengen.« »Wir sollten die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten. Immerhin haben wir die Fremden gegen ihren Willen an Bord genommen, um sie vor dem energetischen Chaos auf Rostbraun zu retten. Noch vor wenigen Tagen wollten sie sterben.« »… um nicht die Stelle der Grenzwächter einnehmen zu müssen.« Atlan winkte heftig ab. »Solche Ausflüchte kann ich auf keinen Fall gelten lassen.« * Als Atlan den Lagerraum wieder verließ, kam Ehennesi ihm entgegen. Der Zhu‐Umlat entstammte einem Volk, das angeblich als eines der ersten von einem ungnädigen Schicksal in die Namenlose Zone verschlagen worden war. Er war uralt, nach menschlichen Maßstäben sogar älter als Atlan. Dennoch war er nicht wirklich unsterblich, eher mußte er nur deshalb noch existieren, weil sein Volk nach ihm keinen weiteren Emulator hervorgebracht hatte. Ehennesi ähnelte einem aufrecht gehenden vierbeinigen Bären mit acht Armen. Der haarlose Kopf hätte durchaus der eines Menschen
sein können, wäre nicht an Stelle der Augen ein umlaufen des blaues Sehband gewesen, das ihm eine geradezu vollkommene Rundumsicht ermöglichte. Er trug ein ledernes Kleidungsstück in Form eines lose fallenden Umhangs. Ehennesi war überaus kräftig, zog es jedoch vor, sich mit Gegnern auf geistiger Basis auseinanderzusetzen. Dabei, das hatte sich inzwischen herausgestellt, erwies er sich als weise, weitblickend, geduldig und verständnisvoll. Wie konnte es auch anders sein? Immerhin symbolisierten die Emulatoren das unverfälschte Gute ihrer Völker – eine letzte Hoffnung sozusagen. All das schoß Atlan durch den Sinn, während Ehennesi in hilfloser Geste seine acht Arme ausbreitete. »Ich habe gehört, was geschehen ist. Wie steht es um Daug‐Enn‐ Daug?« »Er hatte Glück. Vermutlich ist er in einigen Stunden wieder wohlauf.« »Wie konnte das geschehen?« »Wir wissen es nicht. Noch nicht.« »Jeder Unglücksfall ist bedauerlich«, murmelte der Emulator. »Das Leben intelligenter Wesen zu schützen, sollte unser vorrangiges Ziel sein.« Freundschaftlich legte er zwei Arme auf Atlans Schultern. »Ich habe lange darüber nachgedacht, aber nachträglich erscheint es mir doch richtig, daß du uns gerettet hast. Deshalb möchte ich mit dir reden. Deshalb und weil ich deine Idee zu kennen glaube, alle positiven Kräfte der Namenlosen Zone zu sammeln und zu verbünden.« Der Arkonide bedachte ihn mit einem überraschten Blick. »Du besitzt ein gutes Gespür für Gefühle. In der Zentrale können wir uns ungestört unterhalten; hier gibt es ohnehin nichts für uns zu tun.« Völlig unerwartet sprach Atlans Minikom an. Uster Brick meldete sich. »Die Teppelhoffs haben eine Sonne aufgespürt, die höchstens zwei
oder drei Lichttage vor uns steht. Es muß sich um einen vergleichsweise kleinen Stern handeln, der aber dennoch, so behauptet Eresa, mindestens zwei Planeten besitzt. Die Ortungen zeigen natürlich wieder nichts an. Es ist zum Haareraufen, wenn man nicht weiß, wie man fliegen soll.« »Das dürfte ausgerechnet dir keine Schwierigkeiten bereiten.« Atlan lachte leise. »Ich denke, wir werden auch diesem System einen Besuch abstatten.« »Du vergeudest wertvolle Zeit, wenn du jedes System anfliegen läßt«, sagte Ehennesi. »Weißt du etwas über die Sonne vor uns?« Der Emulator schüttelte den Kopf. »Ich habe dir einen wertvolleren Vorschlag zu machen.« Auf dem Bildschirm des Minikoms war noch immer Uster Bricks fragendes Gesicht zu sehen. »Du hast es gehört«, meinte Atlan. »Behalte vorerst den Kurs bei. Die Buhrlos sollen aber weiter beobachten.« Minuten später erreichten sie die Zentrale. Einige der Anwesenden warfen Ehennesi scheue Blicke zu. »Die Medostation hat sich eben gemeldet«, sagte Brick. »Daug‐Enn‐Daug ist wieder bei Bewußtsein.« »Und?« »Er kann sich nicht erinnern, was vorgefallen ist.« »Was hat er überhaupt im Lagerraum zu suchen?« rief der diensttuende Funkoffizier, ein zu körperlicher Fülle neigender Mann. »Das klingt beinahe wie eine Anschuldigung«, stutzte Atlan. »Soll es auch sein.« »Was hat Daug‐Enn‐Daug dir getan?« »Nichts. Aber darum geht es überhaupt nicht. Ich …« »Vorurteile sind unangebracht«, unterbrach Ehennesi. »Kein Emulator würde Böses auch nur denken.« Der Funkoffizier wirkte keineswegs überzeugt, als er sich wieder
seinen Geräten zuwandte. An Bord braut sich einiges zusammen, behauptete Atlans Extrasinn. Es wird keinen Ärger geben, erwiderte der Arkonide ebenso lautlos. Ehennesi betrachtete die Bildschirme, auf denen sich die lichtlose Schwärze der Namenlosen Zone zeigte. »Irgendwo dort draußen gibt es einen Planeten, auf dem Emulatoren in Freiheit leben«, murmelte er. »Solist heißt diese Welt. Obwohl ich sie nie gesehen habe, konnte ich ihre Existenz wiederholt wahrnehmen.« »Wie viele deiner Art leben dort?« Ehennesi zuckte mit seinem obersten Armpaar. »Einige Dutzend, glaube ich. Auf jeden Fall wären sie stark genug, jedem Gegner gegenüberzutreten.« »Das ist die erste gute Nachricht, seit wir Rostbraun verlassen haben. Du weißt, wo jene Welt zu finden ist?« »Wir nähern uns ihr. Ich kenne die Koordinaten nicht, die du benötigst, aber ich kann dir sagen, wann wir Solist erreichen.« Schrille, abgehackt klingende Töne hallten durch die Zentrale. »Das sind Funkzeichen«, rief der Offizier überrascht. »Die Ortungen zeigen kein Raumschiff«, bemerkte Brick. »Habe ich auch nicht erwartet. Die Signale kommen aus dem Sonnensystem, auf einer ungebräuchlichen Frequenz und außerdem nur normal lichtschnell.« »Das wäre eine Überprüfung wert«, pflichtete der Pilot bei. »Wenn es einer Lebensform gelungen ist, die Schockfront mit Funkwellen zu überwinden …« Ehennesi schüttelte den Kopf. »Atlan muß Solist anfliegen, will er sein Vorhaben verwirklichen. Alles andere bedeutet nur eine Gefährdung seiner Pläne.« »Falls jemand Hilfe braucht, sollten wir sie ihm nicht versagen.« Uster Brick wirkte gereizt. »Hank«, wandte er sich an den Funkoffizier, »gib den Empfang an die Positronik.« Minuten vergingen. Weil in dieser Zeit nicht ein Wort fiel, wurde
die gereizte Stimmung deutlich spürbar. Endlich meldete sich die mit einem unabhängigen Plasmazusatz versehene MJAILAM‐Positronik. Sie war leistungsstark genug, um jeden Kode zu brechen, die Funkimpulse konnte sie jedoch nicht entschlüsseln. »Eine Falle«, vermutete Ehennesi spontan. »Unsinn«, fuhr Thompson auf. »Völlige Fremdartigkeit ist nicht gleichzusetzen mit etwas Bösem.« »Das habe ich nicht behauptet«, versuchte der Emulator, sich zu rechtfertigen. »Du solltest froh sein, daß wir dein Leben gerettet haben«, rief der Pilot. »Mische dich also nicht in Angelegenheiten der Schiffsführung ein.« »Noch bin ich Kommandant dieses Schiffes.« Atlan war nahe daran, seine zur Schau gestellte Ruhe zu verlieren. »Wir fliegen dieses System nicht an, sondern suchen Solist.« »Niemand will deine Befehle anzweifeln«, gab Brick leise zurück. »Es ist nur …« »Ich höre.« »Ehennesi versucht offensichtlich, dich in seinem Sinn zu beeinflussen.« Atlan bedachte erst den Piloten mit einem forschenden Blick, dann Thompson und die anderen. »Was habt ihr gegen den Emulator?« brauste er auf. »Heraus mit der Sprache. Ehennesi läßt sich wie Daug‐Enn‐Daug von einer positiven Lebenseinstellung leiten und versucht, uns zu helfen.« »Trotzdem …«, beharrte Brick. »Ja?« Der Pilot vergrub sein Gesicht in den Handflächen und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Er seufzte leise. »Es tut mir leid, ich kann es nicht in Worte fassen. Vermutlich fühlen wir alle ähnlich.« »Ich denke, es ist besser, wenn ich mich zurückziehe«, erklärte
Ehennesi. »Die Gemüter werden sich hoffentlich bald beruhigt haben.« »Wir behalten den Kurs bei«, sagte Atlan. »Danke«, nickte der Emulator. »Du wirst es nicht bereuen.« Der Arkonide blickte dem bärenhaften Wesen nach, bis das Schott sich hinter ihm schloß. Dann wandte er sich wieder zu seiner Besatzung um. »Jetzt will ich wissen, was wirklich gespielt wird«, sagte er. »Entweder es gibt einen Grund, Ehennesi zu mißtrauen, oder in Zukunft werden einige ihr Verhalten ändern müssen.« Das betretene Schweigen, das sich in der Zentrale ausbreitete, war Antwort genug. »Ich dachte es mir«, nickte Atlan bitter. »Die Solaner fallen in die Zeit emotionsgeladener Verhaltensweisen zurück.« »Spürst du die Bedrohung nicht, die von ihnen ausgeht? Sie wird zunehmend stärker.« »Ehennesi und Daug‐Enn‐Daug sind uns unheimlich«, sagte Brick. »Das ist ausgemachter Blödsinn. Ich will nur einen vernünftigen Grund für die Antipathie gegenüber Ehennesi hören.« »Sagt dein Extrasinn, daß keine Gefahr droht?« fragte Thompson. Überrascht zog Atlan die Brauen in die Höhe. »Soll ich nun als Opfer herhalten?« »So habe ich es nicht gemeint«, wiegelte der Funkoffizier ab. »Aber so war es zu verstehen.« Ein säuerliches Lächeln umspielte Atlans Mundwinkel. »Jeder von euch ist dabei, einen Komplex gegen die Emulatoren zu entwickeln. Ich kann das sogar verstehen – nur nicht, daß ihr euch nicht dagegen zur Wehr setzt.« Der Arkonide nickte flüchtig und wandte sich dem Schott zu. »Wenn mich jemand sucht«, sagte er, »ich bin auf der Medostation.« *
Ein Sprayverband zierte Daug‐Enn‐Daugs Stirn. Die Verletzung hatte zunächst schlimmer ausgesehen, als sie wirklich war, aber der Emulator der Vulnurer hatte lediglich eine große Platzwunde sowie Abschürfungen und Prellungen davongetragen. Auch den Schock schien er inzwischen überwunden zu haben. »Ich fühle mich völlig in Ordnung«, eröffnete er dem Arkoniden. Atlan ließ sich in den nächsten Sessel sinken. »Ich bin nicht bloß gekommen, um mich nach deinem Befinden zu erkundigen, sondern um zu erfahren, was geschehen ist.« »Ich weiß es nicht«, sagte der Vulnurer. »Alles, woran ich mich erinnern kann, ist ein Lichtblitz und dann ein Schlag, der mir die Besinnung raubte.« »Hast du jemanden gesehen?« »Nein. – Aber … wieso fragst du? Glaubst du, jemand trachtet mir nach dem Leben? Das ist absurd.« »Dann sage mir, weshalb du den Lagerraum betreten hast.« Daug‐Enn‐Daug zögerte merklich. »Darf ich mich im Schiff nicht mehr frei bewegen?« »Doch. Aber du tust nichts ohne Grund, soweit kenne ich dich inzwischen.« Daug‐Enn‐Daugs Fühler begannen zu zittern – ein deutliches Zeichen seiner Erregung. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann dich nicht mit meinen Problemen belasten.« »Du willst nicht«, vermutete Atlan. »Bislang habe ich dir vertraut.« »Das solltest du auch weiterhin.« Der Arkonide stemmte sich im Sessel hoch. »Versuchst du, jemanden von der Besatzung zu decken?« fragte er lauernd. »Ich kann dich auf Schritt und Tritt überwachen lassen.« »Du bist nicht der Mann, der dies tun würde«, erwiderte Daug‐ Enn‐Daug. »Darauf verlasse dich lieber nicht«, murmelte der Arkonide. Im Schott stieß er beinahe mit dem hereinkommenden Arzt
zusammen. Trevor Yorksham zog überrascht die Brauen hoch. »Du hättest deinen Besuch anmelden sollen, Atlan. Der Patient ist psychisch noch überaus labil.« »Ich hatte einen anderen Eindruck.« Yorksham winkte ab. »Der Schock sitzt tiefer als ursprünglich angenommen. Ich muß ihn mindestens zwei Tage unter ständiger Kontrolle halten.« Du solltest die Informationsspeicher der Medoroboter abfragen, raunte der Extrasinn. Von seiner Kabine aus stellte Atlan eine Verbindung zur MJAILAM‐Positronik her. Er war keineswegs überrascht, dem Datenspeicher der Roboter zu entnehmen, daß Daug‐Enn‐Daug jederzeit hätte entlassen werden können. Dr. Yorksham handelte demnach auf eigene Verantwortung. Es war unschwer zu erkennen, daß auch er zu jenen gehörte, die den Emulatoren voreingenommen gegenüberstanden. * Eine eigenartige Unruhe hatte von Tyari Besitz ergriffen. Sie kannte weder das Volk der Vulnurer noch der Zhu‐Umlat, doch sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß die Ursache für ihre nervöse Anspannung in der Abwesenheit der beiden Emulatoren zu suchen war. Ziellos wanderte die Frau durch die Korridore des Kreuzers. Plötzlich vernahm Tyari Stimmen. Sie konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, aber der Tonfall war unverkennbar aggressiv. Obwohl ihr eigenes Verhalten ihr lächerlich vorkommen mußte, huschte sie vorsichtig weiter. Vor ihr lagen die Werkstätten. Durch ein nur halb geschlossenes Schott hindurch konnte sie vier Männer und eine Frau erkennen, die sich an einem Roboter zu schaffen machten. Einige Wartungsklappen der Maschine waren geöffnet
und die Positronik freigelegt. Zweifellos wurde versucht, mit unzureichenden Mitteln eine Programmänderung vorzunehmen. »… und du glaubst, es funktioniert, Heather?« »Ich bin sogar überzeugt davon.« »Wir hätten versuchen sollen, Serbal auf unsere Seite zu ziehen. Für ihn wäre das Ganze ein Kinderspiel.« Unwillkürlich zuckte Tyari zusammen. Sie kannte Serbal Gnygg, den Positroniker, der mitunter nichts anderes als dummes Zeug im Kopf hatte. Er war einer der Buhrlos und mit den Teppelhoffs ziemlich gut befreundet. Demnach mußte der mit Heather angesprochene Heather Lleit sein, ebenfalls ein Buhrlo, und die Frau war seine Lebensgefährtin Wendy NʹColm. Beide gehörten eigentlich zur Mannschaft von Breiskolls Korvette FARTULOON, waren aber von Atlan für seine Mission übernommen worden. Von ihnen hatte der Arkonide sich im Hinblick auf den Teppelhoff‐Effekt weitere Kenntnisse erhofft. »Vielleicht sollten wir es doch lieber Atlan überlassen, die drohende Gefahr abzuwenden.« »Er tut nichts. Im Gegenteil. Er nimmt die beiden in Schutz.« »Bist du sicher, Hank?« »Irgendwie müssen sie es geschafft haben, Atlan in ihrem Sinn zu beeinflussen. Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, ist es zu spät.« »Ich weiß nicht, was ihr habt«, erklärte Heather Lleit. »Alles ist bestens vorbereitet.« An den Geräuschen hörte Tyari, daß die Verkleidung des Roboters geschlossen wurde. Blitzschnell huschte sie den Korridor zurück und verbarg sich in einer seitlichen Nische. Die Verschwörer gingen an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, wenig später stapfte auch der Roboter vorüber. Tyari kannte Hank Thompson und die beiden Buhrlos. Obwohl sie eine gute Telepathin war, konnte sie die Gedanken der Solaner kaum erfassen. Sie nahm nur Bruchstücke dessen wahr, was sie ohnehin schon gehört hatte. Wenn sie es recht
bedachte, ließ ihre Fähigkeit nach, seit die beiden Emulatoren an Bord gekommen waren, und es wurde schlimmer, je mehr Zeit verstrich. Tyari folgte dem Roboter, der sich zielstrebig den Kabinen der Emulatoren näherte. Der Roboter blieb vor Daug‐Enn‐Daugs Unterkunft stehen. Tyari wußte, daß das Impulsschloß nur auf einen besonderen Kode ansprach. Um so überraschter war sie, als das Schott schon nach wenigen Augenblicken aufglitt. Die Frau wollte sich weiter vorwagen, als der Roboter unverhofft zurück kam und sich am Eingang der gegenüberliegenden Kabine zu schaffen machte. Flüchtig spielte sie mit dem Gedanken, Atlan zu verständigen, doch befand sich ein Interkomanschluß erst beim nächsten Antigravschacht. Sie beschloß daher, lieber den Roboter nicht aus den Augen zu lassen, der soeben in Ehennesis Räumen verschwand. Gleich darauf vernahm sie die Stimme des Emulators aus der geräumigen Naßzelle. Und dann hörte sie den Roboter reden, verstand aber nur Bruchstücke von dem, was beide sagten. »… eine Gefahr für die MJAILAM … Deshalb von Bord … auf der nächsten Welt …« »Weder Daug‐Enn‐Daug noch ich … gegen die Solaner gestellt.« »Das ist egal … Anwesenheit bedeutet Gefahr …« »Steck die Waffe weg! Du darfst nicht …« Als Tyari vorsichtig durch das geöffnete Schott trat, erklang das typische Fauchen eines Lähmstrahlers, gefolgt vom Fall eines schweren Körpers. Unwillkürlich zuckte ihre Rechte an den Griff der eigenen Waffe. Geräusche verrieten, daß der Roboter den Bewußtlosen über den Boden zerrte. Für einen Augenblick war Tyari versucht, sich einfach umzuwenden und die Kabine zu verlassen. Dennoch zögerte sie. Der Roboter erschien im Durchgang. »Was geht hier vor?« herrschte Tyari den Maschinenmenschen an,
der in halb gebückter Haltung verharrte, ohne Ehennesis reglosen Körper loszulassen. »Ich habe Befehl, die Emulatoren von Bord zu schaffen«, sagte der Roboter. »Von wem hast du den Befehl?« wollte sie wissen. »Von Atlan.« »Du lügst!« entfuhr es ihr. »Nein, Tyari«, sagte der Roboter. »Der Arkonide hat mir aufgetragen, die Gefahr für die MJAILAM abzuwenden.« »Wohin bringst du Ehennesi?« »Nur wenige Lichttage entfernt steht ein kleines Sonnensystem. Die Buhrlos sagen, daß es Planeten besitzt. Hank Thompson erwartet mich an Bord der MJAI‐A.« »Hat Atlan für die Space‐Jet Starterlaubnis erteilt?« »Ich weiß nicht.« »Dann werde ich dich daran hindern, das Schiff zu verlassen.« In dem Moment, in dem der Roboter den Lähmstrahler hochriß und abdrückte, ließ Tyari sich fallen. Ein Raumteiler bot ihr halbwegs Deckung. Aber schon kam die Maschine auf sie zu. Die Frau zog ihre Thermowaffe. »Bleib stehen!« warnte sie. »Andernfalls werde ich dich zerstören.« Der Roboter reagierte nicht. Tyari konnte das Schott nicht erreichen, ohne sein Schußfeld zu durchqueren. Er war höchstens noch fünf Meter entfernt, als sie aufsprang und sich nach vorne schnellte. Ein harter Schlag gegen die linke Schulter ließ sie stürzen. Ihr Arm wurde gefühllos. Sie hatte Mühe, sich auf den Rücken zu wälzen, und feuerte, ohne zu überlegen. Der scharf gebündelte Glutstrahl traf die Sehzellen der Maschine und wanderte zitternd zur Decke weiter, ehe Tyari den Finger vom Auslöser nahm. Der Roboter machte noch einen Schritt vorwärts und erstarrte dann mitten in der Bewegung.
* Atlan hatte zwar mit einer Konfrontation zwischen manchen Besatzungsmitgliedern und den Emulatoren gerechnet, was Tyari ihm über Interkom in kurzen Stichworten mitteilte, überstieg indes seine Befürchtungen bei weitem. Zum wiederholten Male fragte er sich selbst, ob Daug‐Enn‐Daug und Ehennesi tatsächlich eine Gefahr darstellten – er gelangte zu dem Ergebnis, daß dem nicht so war. Aber wodurch wurde das Verhalten der Besatzung ausgelöst? Vielleicht fand er die Lösung, wenn er mit den Emulatoren sprach. Auf dem Weg zu Tyari suchte er erneut die Medostation auf. Daug‐ Enn‐Daug schlief. Atlan verzichtete darauf, den Vulnurer zu wecken, sondern postierte zwei Roboter vor dessen Zimmer. Sie erhielten den Befehl, niemanden außer ihm und Tyari einzulassen. Anschließend begab der Arkonide sich zu den Unterkünften der Emulatoren. Tyari konnte ihren Arm bereits wieder bewegen. Die Folgen des Streifschusses klangen rasch ab. Ehennesi schien im Begriff, das Bewußtsein zurückzuerlangen. Atlans Miene wurde ernster, je länger Tyari berichtete. »Du solltest die fünf in Sicherungsverwahrung nehmen«, schloß sie. »Möglicherweise wartet Thompson noch immer in der Space‐ Jet.« »Das hat Zeit«, erwiderte Atlan. »Ich habe dafür gesorgt, daß ein ähnlicher Übergriff sich nicht wiederholen kann. Mir geht es in erster Linie darum, die Gründe herauszufinden. Als Telepathin solltest du mir helfen können.« Betreten schüttelte Tyari den Kopf. »Leider sieht es so aus, als würde meine Fähigkeit allmählich versiegen.« »Seit wann?« »Ungefähr zwei Stunden. Und bevor du mich fragst: ich glaube, daß die Emulatoren in irgendeiner Weise damit zu tun haben.« Atlan blickte Tyari forschend an.
»Ich weiß keine Erklärung dafür«, fuhr sie fort. »Es ist einfach ein inneres Unbehagen, als sei etwas an Bord, was nicht hierhergehört.« Ehennesi ließ ein Ächzen vernehmen. Mühsam stemmte er sich auf vier seiner acht Arme hoch. »Ich habe alles mit angehört«, kam es gepreßt über seine Lippen. »Obwohl ich nicht verstehen kann, wieso intelligente Wesen wie die Solaner sich zu solchem Verhalten hinreißen lassen, möchte ich an Bord bleiben. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, ausgerechnet jetzt aufzugeben, wo ich sicher bin, daß wir uns Solist nähern.« »Wir werden hart durchgreifen, damit der Zwischenfall sich nicht wiederholt«, versprach Atlan. Besänftigend legte Ehennesi ihm eine Hand auf den Arm. »Das verlange ich nicht. Laß deinen Leuten Zeit, um zu sich selbst zurückzufinden. Sie glaubten, richtig zu handeln, und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Gibt es einen Ort auf MJAILAM, an dem ich vorübergehend sicher bin?« »Deine Kabine, Atlan«, stieß Tyari hervor. Der Arkonide nickte. »Du begleitest Ehennesi und weichst nicht von seiner Seite.« »Und du?« »Ich habe einiges zu erledigen.« * Dr. Trevor Yorksham war puterrot im Gesicht. »Was hat das zu bedeuten?« schimpfte er lautstark. »Ich verlange eine plausible Erklärung. Auf der Medostation bestimme immer noch ich, was geschieht: selbst du hast nicht das Recht, dich einzumischen.« Laß ihn ausreden, wisperte der Extrasinn. Wenn du ihn unterbrichst, bringst du ihn erst recht auf die Palme. »Wozu die beiden Roboter? Welche Vorschriften besagen, daß ein
Arzt nicht mehr zu seinem Patienten darf?« »Ich habe den Befehl aus Sicherheitsgründen gegeben.« »Sicherheit?« Yorksham schien nicht fassen zu können, was er soeben gehört hatte. »Verdammt nochmal, soll der Emulator mir unter den Händen wegsterben?« »Er wird es nicht«, erwiderte Atlan ruhig. »Wirklich?« Der Arzt begann fast zu schreien. »Du trägst die Verantwortung, ja?« »Ich übernehme die volle Verantwortung«, nickte Atlan. »Sonst noch was? Wenn nicht, laß mich bitte durch.« Überrascht trat Trevor Yorksham zur Seite. Er traf auch keine Anstalten, dem Arkoniden zu folgen, als dieser das Krankenzimmer betrat. »Besondere Vorkommnisse?« Atlan bedachte die beiden Roboter nur mit einem flüchtigen Blick. »Dr. Yorksham hat mehrfach versucht, den Patienten zu sehen. Als wir es ihm verwehrten, wurde er ausfällig und nannte dich …« »Schon gut.« Daug‐Enn‐Daug schlief noch. Atlan verzichtete darauf, den Vulnurer zu wecken, sondern holte sich einen Stuhl neben das Bett und wartete, hielt stumme Zwiesprache mit seinem Extrasinn, ohne jedoch zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen. Als der Vulnurer endlich aufwachte, war mehr als eine halbe Stunde vergangen. Dreimal hatte Dr. Yorksham sich während dieser Zeit bemüht, den Arkoniden zum Einlenken zu bewegen – mit Argumenten, die Atlan allmählich an dessen klarem Verstand zweifeln ließen. Konnte es sein, daß eine unbekannte kosmische Strahlung auf die MJAILAM einwirkte? Die Besatzung versucht lediglich, etwas Unangenehmes von sich fernzuhalten, das als Bedrohung eingestuft wird. »Du hättest nicht erneut zu kommen brauchen«, sagte Daug‐Enn‐ Daug. »Ich kann mich nicht erinnern, was geschehen ist.« »Wenn ich ehrlich sein soll, ich glaube, daß du nicht mit der
ganzen Wahrheit herausrückst. Wen versuchst du zu decken?« Der Vulnurer seufzte schwer und richtete sich halb auf. »Es ist zu früh, dich da mit hineinzuziehen.« »Möglicherweise sind wir alle schon tiefer in das Geschehen verstrickt, als du glaubst.« Atlan berichtete, was er von Tyari erfahren hatte. »Also doch«, erschrak Daug‐Enn‐Daug. »Etwas Negatives ist an Bord. Ich kann es aber nicht lokalisieren. Doch es ist da, und seine Macht wächst. Mag sein, daß es eine Gefahr bedeutet.« »Die Solaner identifizieren dich und Ehennesi damit.« »Das ist ein Irrtum«, brauste der Emulator ungehalten auf. Im selben Moment bemerkte er, daß er laut geworden war. »Entschuldige«, sagte er. »Ich war drauf und dran, mich zu vergessen. Aber ich werde keine Schwierigkeiten machen. Bevor es zu ernsthaften Auseinandersetzungen kommt, gehe ich lieber.« »Es wird das Beste sein, du bleibst vorerst auf der Krankenstation. Ich lasse die Roboter zu deinem Schutz zurück.« Der Vulnurer schien etwas erwidern zu wollen, schwieg dann aber. »Ja?« machte Atlan. »Es ist nichts«, wehrte Daug‐Enn‐Daug ab. »Ich glaubte nur gerade, das Böse wieder wahrzunehmen.« »Hast du deswegen den Lagerraum aufgesucht?« Der Emulator nickte schwer. »Das nächste Mal informiere mich vorher«, fuhr Atlan fort. »Du kannst nicht immer solches Glück haben.« Er verließ das Zimmer und suchte das Krankenarchiv auf. Die Auswertungen von Daug‐Enn‐Daugs Untersuchungen befanden sich nicht in der Kartei. Das einzige, was er fand, war ein handgeschriebener Zettel. Psychopharmaka, stand darauf. Patient bedeutet Gefahr. »Sind denn alle verrückt geworden?« murmelte der Arkonide vor sich hin.
Der Vulnurer weiß mehr, als er zugibt, wisperte sein Extrasinn. Weshalb konfrontierst du ihn nicht mit Tatsachen, denen er sich stellen muß? Atlan nahm das Papier an sich und zerknüllte es gedankenverloren. Dann gab er sich einen Ruck und ging zurück. Die beiden Wachroboter ließen ihn passieren. Das Bett, in dem Daug‐Enn‐Daug gelegen hatte, war leer. Atlan fuhr mit der Hand über die Decke. Sie war noch warm. Er öffnete die Tür zum Waschraum, warf einen flüchtigen Blick hinein und zog sie sogleich wieder zu. »Wohin ist er?« wandte er sich an die Roboter. »Wer?« »Der Vulnurer.« »Daug‐Enn‐Daug hat den Raum nicht verlassen.« »Aber er ist weg. Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben.« Vielleicht doch. Völlig unerwartet erschien Trevor Yorksham im geöffneten Schott. Auf gewisse Weise wirkte der Arzt erleichtert. »Er ist weg, nicht wahr?« sprudelte es aus ihm heraus, noch bevor Atlan ein Wort sagen konnte. »Woher weißt du …?« »Ich spüre es. Die Gefahr, die fast greifbar über uns schwebte, ist plötzlich nicht mehr da.« * Eine Stunde später saß Atlan Hank Thompson sowie den Buhrlos Heather Lleit und Wendy NʹColm gegenüber. Alle drei machten auf ihn einen gelösten Eindruck. Die Tatsache, daß er sie von Robotern hatte vorführen lassen, beeindruckte sie nicht im mindesten. »Ihr wißt, weshalb ich euch holen ließ?« »Ehrlich gesagt, nein.« Thompson kaute gelangweilt auf seiner
Unterlippe. Atlan entschloß sich zu einem direkten Vorstoß. »Ich weiß Bescheid über dein Vorhaben, die beiden Emulatoren im nächsten Sonnensystem abzusetzen. Aber warum hast du die Space‐Jet wieder verlassen?« »Weil es nicht mehr nötig war zu warten. Die Bedrohung, die uns allen Furcht einjagte, verschwand schlagartig.« »Und jetzt?« Hank Thompson zuckte mit den Schultern. »Es ist alles beim alten. Die Emulatoren sind fort. Mehr wollte keiner von uns erreichen.« Atlan betätigte einen kleinen Impulsgeber. Augenblicke später glitt das Schott auf. Überraschung zeichnete sich auf den Gesichtern der Buhrlos ab, als Ehennesi in Tyaris Begleitung eintrat. Der Arkonide beobachtete genau und registrierte jede Bewegung. Er mußte feststellen, daß vor allem Thompson verwirrt reagierte. »Ich kann sie wegen des Anschlags auf mich nicht verurteilen«, sagte Ehennesi in dem Moment. »Immerhin glauben sie, richtig zu handeln.« »Wo ist der andere?« wollte Heather Lleit wissen. »Er befindet sich nicht mehr an Bord«, erwiderte Atlan. »Dann stellte er allein die Gefahr dar. Wir spüren nichts mehr.« »Was hältst du davon?« wandte Atlan sich an den Emulator. Ehennesi verschränkte seine vier Armpaare. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, erklärte der Bärenartige nach einer Weile. »Daug‐Enn‐Daug ist mein Freund. Er wäre niemals in der Lage, Böses zu planen oder gar auszuführen. Schlagt euch das aus dem Kopf.« »Kennst du ihn wirklich so genau?« fragte Wendy NʹColm lauernd. »Wieso ist er verschwunden, als er befürchten mußte, entlarvt zu werden?« *
Die Uhren zeigten den Beginn des 2. Juni 3808 an, als Atlan endlich zur Ruhe kam. Tyari war bei ihm geblieben. Auch sie wirkte müde – nicht zu müde allerdings, um sich in seine Arme zu schmiegen. »Noch vor wenigen Wochen hätte ich nicht geglaubt, daß wir beide uns einmal lieben würden«, flüsterte sie. »Es ist seltsam, wie sehr die Zeit alles verändert. Das Problem Bars‐2‐Bars gibt es nicht mehr …« »Wie die Terraner zu sagen pflegen: wir sind vom Regen in die Traufe gekommen.« »Bitte?« machte Tyari verständnislos. »Vergiß es«, winkte er ab. »Ich werde es dir später erklären.« Sekunden später fanden ihre Lippen sich zu einem innigen Kuß. Das Summen des Interkoms holte sie jäh in die Wirklichkeit zurück. »Hör nicht hin.« Tyari zog ihn sanft aber nachdrücklich wieder an sich. Das Summen klang drängender. »Da ist etwas geschehen«, vermutete der Arkonide. Tyari seufzte. »Ich hoffe, du willst nicht so gehen.« Sie warf ihm seine Bordkombination zu, während er sich erhob und den Interkom mittels Blickschaltung aktivierte. Bricks Stellvertreter erschien auf dem Monitor. »Atlan«, begann er ohne Umschweife, »die Buhrlos haben ein weiteres Sonnensystem aufgespürt. Es handelt sich um eine Doppelsonne – ein weißer Zwerg und ein gelber Begleiter.« »Wir fliegen daran vorbei, solange Ehennesi nicht zu verstehen gibt, daß wir Solist erreicht haben.« »Ich dachte nur … weil doch ein Doppelstern etwas Besonderes …« »Das ist kein Grund, mich zu stören. Sonst noch was?« Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Piloten. Allem Anschein nach hatte er Tyari entdeckt, die sich noch im Aufnahmebereich der
Optik befand. »Entschuldige, Atlan … ich wußte nicht …« Der Bildschirm wurde schlagartig dunkel. 2. Mit zwei Überlichtetappen legte die MJAILAM jeweils mehr als fünfzig Lichtjahre zurück, entfernte sich dabei aber nur um etwa den halben Wert vom Junk‐Nabel und damit dem einzig möglichen Übergangspunkt in das Einstein‐Universum. Gegen 10.00 Uhr Bordzeit meldete sich Ehennesi in der Zentrale und teilte dem mittlerweile wieder das Schiff führenden Uster Brick mit, daß man sich Solist nähere. Niemand störte sich noch an der Anwesenheit des Emulators. Die Hysterie an Bord war mit Daug‐Enn‐Daugs spurlosem Verschwinden abgeflaut. Eine Stunde später »sahen« die Buhrlos einen blassen Lichtschimmer in der endlosen Finsternis der Namenlosen Zone. Auf Ehennesis Bitte hin änderte Brick geringfügig den Kurs und flog den gesichteten Stern an. Serbal Gnygg identifizierte die Sonne als gelben Hauptreihenstern der Spektralklasse F. Während der weiteren Annäherung stellte er fest, daß nur ein einziger Planet existierte. »Das ist Solist«, behauptete der Emulator spontan. Es wird inzwischen alltäglich, daß selbst bei größter Annäherung nur die Buhrlos unter der Tarnung einer Schockfront liegende Sonnen sahen. Sämtliche Instrumente versagten, ohne daß es eine plausible wissenschaftliche Erklärung dafür gab. »Distanz?« »Die Sonne steht etwa faustgroß vor uns«, erklärte Gnygg. »Wir müssen jeden Moment auf die Schockfront treffen.« Atlan verspürte ein seltsames Ziehen in den Schläfen. Der Schmerz wurde rasch stärker.
Tyari stöhnte verhalten auf. Sie schien ebenfalls betroffen zu sein. Uster Brick war blaß geworden. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand massierte er seine Stirn. »Die Geschwindigkeit sinkt rapide«, meldete er. »Da draußen ist etwas, was uns abbremst.« Die Restfahrt der MJAILAM betrug knapp ein Zwanzigstel der Lichtgeschwindigkeit. Obwohl der Pilot die Triebwerksleistung steigerte, beschleunigte der Kreuzer nur unwesentlich. Atlan nahm ein leichtes Pochen seines Zellschwingungsaktivators wahr. Das kleine Gerät, das ihm die relative Unsterblichkeit verlieh, hielt offensichtlich einen stärker werdenden äußeren Einfluß von ihm ab. Ein Techniker brach besinnungslos zusammen. »Diese Kopfschmerzen …«, ächzte jemand. Uster Brick schwankte leicht in seinem Sessel. Er schien Mühe zu haben, seine Bewegungen zu kontrollieren. »Dreh um!« befahl Atlan. »Was wir spüren, sind Ausstrahlungen der Schockfront.« Als der Pilot nur zögernd reagierte, führte er selbst die erforderlichen Schaltungen aus; die MJAILAM schwankte in eine mehrere hunderttausend Kilometer durchmessende Kreisbahn ein. Minuten später wich die Benommenheit von den Männern und Frauen des Kreuzers. »Wir kommen nicht durch«, stöhnte Brick. »Es hat wenig Sinn, wenn wir es auf dieselbe Weise erneut versuchen.« Atlan wandte sich an Ehennesi. »Was hältst du davon? Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind die Schockfronten dazu da, den intelligenten Bewohnern der Planeten das Verlassen ihrer Heimatsysteme unmöglich zu machen. Nur was als absolut positiv einzustufen ist, kann von innen her passieren.« »Solist ist etwas Besonderes«, erwiderte der Emulator zögernd. »Ich kann dir leider nicht weiterhelfen.« Mag sein, daß an Bord längst nicht alles in Ordnung ist, wisperte Atlans Extrasinn.
Was sollte anders sein als bisher? gab er in Gedanken zurück. Seit Daug‐Enn‐Daug verschwand, läuft alles in gewohnten Bahnen. Das muß nicht heißen, daß wir nicht doch etwas Negatives auf der MJAILAM haben. Es wäre nur logisch, daß uns deshalb der Anflug auf Solist verwehrt wird. Das Gute, in Gestalt der Emulatoren, weiß sich zu schützen. Du siehst die Dinge in zu düsteren Farben. Ich habe dich gewarnt, Arkonide. Versuche später nicht, mir die Schuld zuzuschieben. Atlan reagierte überaus heftig. »Ich will nichts mehr davon hören«, schimpfte er. Die verwunderten Blicke, die ihn trafen, ließ er unbeachtet. Minuten später hatte die MJAILAM die für einen Linearflug erforderliche Mindestgeschwindigkeit erreicht. Der Übertritt in die Librationszone vollzog sich problemlos. Auch jetzt war die an geflogene Sonne nicht auf den Bildschirmen auszumachen. Ein greller Blitz zuckte durch die Zentrale, begleitet vom ohrenbetäubenden Wimmern überlasteter Antriebsaggregate. Atlan hatte das Gefühl, in vollem Lauf gegen eine unsichtbare Mauer zu prallen. Die Beine wurden ihm unter dem Körper weggerissen. Er stürzte in einen endlos tiefen Schacht wesenloser Schwärze, die ihn gierig umfing. Ein gleißendes Lichtermeer hüllte die MJAILAM ein. Dies war nicht der Linearraum, aber auch nicht mehr die Namenlose Zone. Die Schockfront verursacht dieses Phänomen! durchzuckte es den Arkoniden. Alles war plötzlich bedeutungslos. Von überall her strömte Ruhe auf ihn ein – ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Wie aus weiter Ferne vernahm er seinen Namen. Die Helligkeit gebar rasch dahintreibende Lichtschwaden, sich verdichtend und zu rotierenden Spiralen werdend. Atlan verharrte, als ein schemenhaftes Gesicht ihn anstarrte. Sieh dich vor! warnte eine lautlose Stimme. Der falsche Weg
bedeutet den Tod. »Wer bist du?« Ist das nicht unwichtig? »Nein«, wollte Atlan sagen, aber jetzt sah er das Gesicht deutlich vor sich. Es waren Daug‐Enn‐Daugs Züge. Doch schon im nächsten Moment verwischten sich die Konturen, glaubte der Arkonide, sich selbst gegenüberzustehen. Atlan konnte sich eines leichten Schauders nicht erwehren, als sein Ebenbild auf ihn zukam und die Hand nach ihm ausstreckte. Die Berührung verursachte ein brennendes Prickeln auf der Haut. Warum verschließt du dich vor der Gefahr? Er war nicht in der Lage, etwas zu erwidern – er starrte das Gesicht an, das innerhalb von Sekundenbruchteilen verfiel und zum Totenschädel wurde. Dann, schlagartig, war der Spuk wie weggewischt. Von den Bildschirmen sprangen die Schwärze der Namenlosen Zone herab und der Schein einer gelben Sonne. Nur eine Handbreit davon entfernt stand die zunehmende Sichel eines wolkenverhangenen Planeten. »Wir sind durch«, rief jemand überschwenglich. »Wir haben es geschafft.« Während die MJAILAM sich mit zunehmender Geschwindigkeit Solist näherte, arbeiteten die Ortungen auf Hochtouren. Zumindest auf Anhieb ließ diese Welt keine Besonderheiten erkennen. Sie war nur marsgroß, besaß aber annähernd irdische Schwerkraftwerte. Aufgrund der sonnennahen Umlaufbahn lagen die durchschnittlichen Temperaturen höher, die fehlende Achsneigung begünstigte ein gleichbleibendes Klima. Die Sauerstoffatmosphäre und die dichte Wolkendecke ließen auf ein üppiges Pflanzenwachstum schließen. Die Reliefortung zeigte Meere und Kontinente, ausgedehnte Gebirgszüge, tief eingeschnittene Täler und weitgezogene Ebenen. »Eine Welt wie viele andere auch.« Uster Brick klang enttäuscht. »Was hast du erwartet?« fragte Atlan.
»Ich weiß nicht … Ich – he, was ist das?« Auf einem der Bildschirme der Außenbeobachtung veränderte sich die Wiedergabe. Ein Ausschnitt von der Oberfläche eines Planeten wurde erkennbar, zeigte einen kleinen Raumhafen und dann die Gebäude einer nahe gelegenen Stadt. »Die Optik muß ausgefallen sein«, vermutete Brick spontan. »Aber – wieso sehen wir diese Aufzeichnung.« »Ich bekomme hier Grünwerte«, rief eine junge Frau. »Die Positronik hat sich nicht eingeschaltet.« »Unmöglich.« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Woher sollte die Einspeisung der Aufnahmen sonst kommen?« »Warte!« machte Atlan überrascht. »Sieh dir den Film genau an.« Über jener Welt war die Nacht hereingebrochen. Ein gleißender Sternenhimmel überzog das Firmament. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Brick zögernd. Der Arkonide deutete auf eine markante Konstellation von fünf dicht beieinander stehenden roten Riesensonnen, deren scheinbare Helligkeit die der meisten anderen Sonnen um ein Vielfaches übertraf. »Das ist das Sternbild des Pentagon, das nur von einem Seitenarm unserer heimatlichen Galaxis aus gesehen werden kann.« »Bist du wirklich sicher?« fragte Uster Brick skeptisch. »Einen solchen Anblick vergißt man nicht.« »Dann muß ich dir leider sagen, daß wir an Bord der MJAILAM nicht einen Informationsbit über die Milchstraße gespeichert haben.« Er lachte spöttisch. »Vielleicht will jemand deine Aufmerksamkeit erregen …« »Wer …?« begann Atlan, wurde aber sofort von seinem Extrasinn unterbrochen. So abwegig ist die Idee gar nicht, wisperte es in seinen Gedanken. In dem Moment veränderte sich das Bild abermals. MOSAIK Als das Hyperkomgespräch abrupt abbrach, herrschte sekundenlang betretenes Schweigen in dem behelfsmäßig
eingerichteten Raum. Die beiden Männer starrten den Empfänger an. »Die Laren haben nun auch Yeh Trimen besetzt«, sagte Rudi Miller tonlos. »Es kann keinen Zweifel daran geben.« Er war einer von denen, die es niemals schafften, ganz nach oben zu gelangen, obwohl sie die Anlagen dafür besaßen. Seit mehr als zehn Jahren Offiziersanwärter bei der Flotte, erschöpfte sich seine Tätigkeit einzig und allein darin, daß er neu erschlossenen »lausigen« Planeten normgerechte Funkstationen einrichtete. Irgendwann, so hatte Rudi Miller bis vor kurzem gehofft, würde seine Zeit kommen. Doch damit schien es nun endgültig vorbei. Seit beinahe einem Jahr herrschte in weiten Teilen der Galaxis das Chaos, seit die Laren erschienen waren. Perry Rhodans Versuche, auf Zeitgewinn zu arbeiten, waren fehlgeschlagen. Den 7. März des Jahres 3460 konnte Miller so schnell nicht vergessen – vor nunmehr drei Monaten war die Erde zusammen mit Luna spurlos verschwunden. Niemand wußte, wohin, aber die wildesten Gerüchte wurden geboren. Ob lediglich Atlan noch in der Milchstraße weilte, wagte er nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall mußte der Arkonide allein auf sich gestellt zu schwach sein, um den Laren und ihren Hilfsvölkern die Stirn zu bieten. »Was ist mit dir? Träumst du?« fauchte Jurte Halbough. Der 1,80 Meter große, kräftige Mann mit der Stirnglatze und den tückisch funkelnden Augen war Miller von Anfang an unsympathisch gewesen. Trotzdem mußten beide zusammenarbeiten. Rudi war der einzige noch auf Startrupp verweilende Flottenangehörige und als solcher darauf angewiesen, daß Zivilisten ihm zur Hand gingen. Seit einigen Monaten herrschte ein schier heilloses Durcheinander. Wiederholte Versuche, sein Kommando zu erreichen, waren stets daran gescheitert, daß Laren oder Überschwere sich in die Funksprüche eingeschaltet hatten. Inzwischen beschränkte er sich mehr oder weniger darauf, den Äther abzuhören, um nicht durch weitere vergebliche Versuche die Okkupanten auf Startrupp
aufmerksam zu machen. »Du bist ein Narr«, stellte Halbough fest. »Sitzt hier herum und starrst Löcher in die Luft. Was wir brauchen, ist ein Raumschiff, mit dem wir endlich von diesem miesen Planeten verschwinden können.« »Ich kann keines herbeizaubern. Du fürchtest die Laren, Jurte?« »Du nicht?« erwiderte Halbough gereizt. Da war wieder dieses tückische Glitzern in seinen Augen, das Miller überaus abstoßend fand. »Es ist schwer, sich ein halbwegs klares Bild zu machen«, sagte Miller. »Die Laren versuchen immerhin, nicht nur die politischen Wirren in der Milchstraße unter Kontrolle zu bekommen.« »Ich weiß«, seufzte Halbough. »Mindestens ein dutzendmal hast du mir inzwischen erklärt, daß es unter ihrer Herrschaft keine Kriminellen mehr geben wird. Aber ich habe endgültig die Nase voll, verstehst du. Ich will weg von hier.« Kopfschüttelnd starrte Miller dem Mann hinterher, der wütend die Funkstation verließ. Er ahnte, daß den annähernd 18.000 Einwohnern der Stadt das Schlimmste noch bevorstand. * Nur ein einziger Kunde befand sich in der geräumigen Schalterhalle. Unmittelbar neben dem Portal standen zwei Wachroboter; sie markierten zugleich den Übergang vom Eingangsbereich zur Serviceabteilung. Zwanzig durch schalldämmende Energieschirme voneinander abgetrennte Sitzecken bildeten den geräumigen Beratungstrakt, der von Geldautomaten und Computerterminals flankiert wurde. Das Gebäude der Interstar Banking Co. war für einen Einzugsbereich von mindestens 200.000 Menschen ausgelegt – für eine Zukunft also, die nicht mehr stattfand. Seit beinahe einem Jahr war die Kapazität auf
ein Mindestmaß beschränkt. Was aber keineswegs hieß, daß in den Tresoren der Bank nicht Millionenbeträge an Solar und Wertsachen lagerten. Die beiden Männer, die kurz vor 18.00 Uhr Ortszeit die Bank betraten, waren dem anwesenden Personal nicht bekannt. Der eine maß ungefähr 1,90 Meter. Seine üppige schwarze Lockenpracht paßte nicht zu dem blassen, kantigen Gesicht. Der andere war höchstens 1,60 Meter groß, füllig und gut zehn Jahre junger. Auch er wirkte blaß. Er trug einen unvorteilhaft geschnittenen grauen Anzug mit schwarzen Nadelstreifen. Beide ignorierten die Wachroboter wie auch das Auskunftsterminal und steuerten geradewegs auf einen der Angestellten zu. »Womit kann ich Ihnen dienen?« erkundigte sich der Mann in verbindlichfreundlichem Tonfall. »Wir möchten den Direktor sprechen.« »In welcher Angelegenheit bitte?« »Das sagen wir ihm selbst.« Ein Hauch von Unwillen zeichnete sich um die Mundwinkel des Angestellten ab. »Wen darf ich melden?« Der Dicke schob ihm eine Visitenkarte zu. Yeroba Engineering Trust stand darauf zu lesen. Sonst nichts. Der Angestellte kniff die Brauen zusammen und musterte die beiden. »Womit befassen Sie sich?« wollte er wissen. »Mit dem An‐ und Verkauf von Immobilien. In Zeiten wie diesen allerdings mehr mit dem Ankauf.« Der Ältere klopfte mit der flachen Hand auf seinen prall gefüllten Aktenkoffer. »Kein schlechtes Geschäft, wenn man auf die Zukunft vertraut. Und das tun doch wohl alle Banken.« »In gewisser Weise«, nickte der Angestellte und stellte eine Sprechverbindung her. »Mr. Hofmann, zwei Herren wünschen Sie zu sprechen.« Er wandte sich wieder den Besuchern zu. »Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick.«
»Natürlich«, meinte der Dicke und sah sich wie beiläufig um. Besonders lange blieb sein Blick auf den Robotern hängen. Er hatte die Hände in den Taschen seines Anzuges vergraben. Tatsächlich dauerte es höchstens eine Minute, bis der Direktor kam. Er forderte die beiden Kunden auf, ihn zu begleiten, doch der Ältere winkte ab. »Was es zu besprechen gibt, können wir ebensogut hier tun«, sagte er, legte seinen Koffer auf den Tisch und öffnete die beiden auf seinen Fingerdruck reagierenden Schlösser. Dann ging alles blitzschnell. Der Dicke hielt plötzlich zwei jeweils zehn Zentimeter lange Metallrohre in Händen. Aus den vorderen Öffnungen wurden Haftladungen herauskatapultiert, die mit dumpfem Geräusch gegen die Wachroboter prallten und sofort grell aufglühten. Die entstehende Hitze war groß genug, die Brustpanzer der Maschinen schmelzen zu lassen und das empfindliche Innenleben irreparabel zu schädigen. Den Robotern blieb keine Zeit, eine Meldung abzusetzen. »Ruhig bleiben, dann geschieht niemandem etwas.« In dem Aktenkoffer waren auch ein Thermostrahler und ein Nadler verborgen gewesen. »Was … wollen Sie?« stieß Hofmann entsetzt hervor. Der Ältere machte eine auffordernde Bewegung mit der Waffe. »Ihren Tresorraum von innen besichtigen. Oder ist das zuviel verlangt?« »Sie werden nicht weit kommen.« »Lassen Sie das unsere Sorge sein.« Das Geräusch eines Thermoschusses ertönte. Eine Reihe von Beleuchtungskörpern implodierte mit dumpfem Knall, als die Glutbahn quer durch die Schalterhalle stach und bizarre Muster in die gegenüberliegende Wand fraß. »Laßt die Finger von den Sicherheitseinrichtungen!« rief der einzelne Kunde, den niemand mehr beachtet hatte. »Wir haben es nicht gern, wenn uns der Rückweg versperrt wird.«
Am Ende der Halle führte ein Antigravschacht in die unteren Etagen. Der Direktor öffnete die zwei Meter durchmessende Röhre, die im Tresorraum endete, mit einem Impulsschlüssel und trat vor dem Anführer der Bewaffneten hinein. Oben in der Halle summte ein Visiphon. Der Klang schien drängender zu werden. Wer immer der Anrufer war, er zeigte sich hartnäckig. »Vielleicht sollte ich …«, begann eine junge Frau zaghaft. »Niemand geht ran«, fauchte der Dicke. »Verstanden?« Immer wieder blickte er an den qualmenden Überresten der Roboter vorbei zum Eingang hinüber. »Laß dich nicht verrückt machen, Bary.« Sein Komplize stieß einen der Angestellten mit der Schuhspitze an. »Ich hoffe doch, ihr wißt, was sich gehört. Also verhaltet euch ruhig.« Im Antigravschacht schwebten prall gefüllte Reklametüten herauf und wurden von den gerichteten Schwerefeldern am Rand abgesetzt. »Dorian«, rief der Dicke, »wo bleibst du?« »Sofort«, erklang es aus dem Tresor. »Ich lege nur den Direktor schlafen.« Die drei hatten den Ausgang noch nicht erreicht, als die Sirene eines sich nähernden Polizeigleiters erklang. Der mit Bary angeredete Dicke warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir sind 30 Sekunden zu spät.« Höchstens einen Kilometer entfernt schossen Stichflammen in den düster roten Abendhimmel. Das Heulen der Sirene verstummte. Passanten blieben stehen und starrten zu ihnen herüber, als sie in den gegenüber der Bank wartenden Gleiter hineinsprangen und das Fahrzeug mit aufheulenden Turbinen abhob. »Wieviel habt ihr, Dorian?« fragte die Frau im Pilotensitz, ohne sich umzuwenden. »Sechs oder sieben Millionen Solar.« Mit blitzschnellen Griffen löste der Anführer die Bioplastmaske von seinem Gesicht, das nun
noch kantiger wirkte. Die beiden anderen entledigten sich ebenfalls ihrer Masken, die eine Identifizierung unmöglich machen sollten. »Wohin fliegen wir?« »Zuerst einmal raus aus der Stadt«, erklärte Dorian Grey, mit seinen 38 Jahren zugleich der Älteste der Bande. »Wir müssen damit rechnen, daß nach dem Abschuß des Polizeigleiters durch unsere Freunde sämtliche Sicherheitskräfte hinter uns her sind.« »Das können nicht mehr als 20 Mann sein«, erwiderte der Dicke heftig. Er besaß keinen Nachnamen, alle nannten ihn nur Bary. »Was geschieht, falls jemand die paar Polizisten um die Ecke bringt oder zumindest besticht?« wollte Smiler Johnson wissen, der dritte von ihnen. »Eine sehr gute Frage«, pflichtete Bary bei. »Wir hätten praktisch ganz Startrupp in der Hand.« »… und womöglich bald die Laren und ihre Hilfstruppen am Hals«, wehrte Grey ab. »Sie springen mit Kriminellen nicht eben zimperlich um. Nein, ich ziehe es vor, als freier Mann irgendwo in der Galaxis zu leben. Reichtum wird überall geschätzt.« »Du vergißt, daß wir auf Startrupp festsitzen«, sagte die Pilotin heftig. »Sämtliche Raumschiffe wurden durch die Flotte abgezogen.« Dorian Grey verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. »Wenn ein Schiff kommt, werden wir die ersten sein, die es erfahren.« Der Gleiter hatte die letzten Gebäude hinter sich gelassen und folgte in wenigen Metern Höhe dem natürlichen Geländeverlauf. So war man einigermaßen sicher davor, geortet zu werden. Viel zu spät entdeckte die Frau die andere Maschine, die ihnen aus der untergehenden Sonne heraus entgegen kam. »Ich verwette meinen Hals dafür, daß die uns ebenfalls bemerkt haben«, schimpfte Smiler. »Das bedeutet, daß die Meute bald hinter uns her ist«, nickte Bary.
»Wir müssen den Gleiter abschießen.« Grey winkte barsch ab. »Susan, Kurs Ost, zum Ufer des Shiwa‐ Sees. Wir tauchen im wahrsten Sinne des Wortes unter.« * Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen fast völlig verschwunden. Wer ihr gegenüberstand, glaubte, die Augen einer Toten zu sehen. Grace war erst zwölf, aber wenn sie auf Startrupp blieb, würde sie ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erleben. Auf der noch jungen Siedlungswelt gab es weder die medizinischen Kapazitäten, die in der Lage waren, eine Gen‐Modulation durchzuführen, noch die erforderlichen technischen Vorrichtungen dafür. Obwohl ihr Vater Vorsitzender der planetaren Regierungskommission war, besaß sie nur eine geringe Chance. Sie selbst wußte das nicht, auch nicht, daß ihre Erbkrankheit mit einem Strahlenunfall ihrer Mutter im Zusammenhang stand. Thomas Caddington, ihr Vater, war bei ihr, wann immer er Zeit fand. In den letzten Monaten gab es kaum noch Regierungsgeschäfte zu bewältigen. Deshalb hatten sie sich in das schmucke Sommerhaus am Westufer des Shiwa‐Sees zurückgezogen. Abends, wenn er am Bett seiner Tochter saß, verlor sein Blick sich meist in weiter Ferne. Er wünschte, vieles in seinem Leben wäre anders gekommen. »Erzähle mir von Mutter«, bat Grace. »War sie schön?« Caddingtons Lippen bebten. »Warum sagst du nichts, Dad?« »Weil …« Es fiel schwer, die richtigen Worte zu finden, um seiner Tochter die schreckliche Wahrheit beizubringen. Die Geräusche eines landenden Gleiters enthoben ihn vorerst der
Suche nach einer passenden Antwort. »Wer mag das sein?« »Ich weiß nicht, Kleines.« »Dad, ich habe Angst.« Er wollte ihr sagen, daß dies Unsinn sei, doch von draußen her erklangen Flüche. Ein gellender Schrei brach abrupt ab. Eilig verließ er das Zimmer, hastete die Treppe ins Erdgeschoß hinab. Unten kam ihm ein glatzköpfiger Mann entgegen. Der entsicherte Strahler in dessen Hand redete eine deutliche Sprache. Thomas Caddington blieb abrupt stehen. Soeben betraten zwei weitere Männer das Haus. Sie trugen das offensichtlich bewußtlose Hausmädchen zwischen sich und ließen es achtlos zu Boden gleiten. »Wer sind Sie?« »Das tut nichts zur Sache. Wir bleiben ohnehin nur einige Tage bei Ihnen.« »Für Verbrecher ist in meinem Haus kein Platz«, protestierte Caddington trotz des auf ihn gerichteten Strahlers. »Vielleicht ist Ihre Tochter da anderer Meinung, Mister«, erwiderte der Anführer mit aller Schärfe. »Bary, Smiler, seht oben nach und …« »Lassen Sie mein Kind in Ruhe!« »Sieh da, es geht also doch.« Dorian warf sich in den nächstbesten Sessel. »Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen. Setzen Sie sich, Caddington. Sie sollten wissen, daß der Sicherheitsdienst hinter uns her ist. Immerhin haben wir einen nicht unbeträchtlichen Betrag an Geld und Wertscheinen von der Bank abgehoben und die Besatzung eines Polizeigleiters … Na ja, falls jemand mit dem Leben davongekommen ist, wird er so schnell nicht wieder Dienst tun können. Sie wissen also, woran Sie mit uns sind.« Thomas Caddington bebte vor verhaltenem Zorn. Er war hilflos. Von oben erklangen die Rufe seiner Tochter. »Bary«, sagte Grey, »du solltest dich um sie kümmern. Aber sei
nett, sie ist erst zwölf.« Von draußen erklang das sich rasch steigernde Rumoren eines anlaufenden Triebwerks. »Das ist unser Gleiter«, erklärte Dorian. »Susan hat ihn so programmiert, daß er auf den See hinausfliegt. Irgendwo da draußen wird er dann abstürzen.« * Der Donner einer heftigen Explosion zerriß die Stille. Etliche Kilometer entfernt schoß eine Säule aus Feuer und Wasser in den nächtlichen Himmel. Dorian Grey stand am Fenster und starrte hinaus auf die flackernde Lichterscheinung, die innerhalb von Sekunden wieder in sich zusammenfiel. »Rufen Sie an«, wandte er sich an Caddington. »Aber kein falsches Wort.« Der Vorsitzende der planetaren Regierungskommission nickte zögernd. In dem Moment war er nur noch Vater. Er würde für seine Tochter alles tun. Mit ruckartigen Bewegungen stellte er die Telekomverbindung zum Sicherheitsdienst her. »Sie, Mr. Caddington«, stellte der Beamte am anderen Ende überrascht fest. »Auf dem See ist irgend etwas geschehen. Ich hörte eine Explosion und konnte Feuerschein sehen, ungefähr fünf oder sechs Kilometer vom Ufer entfernt.« »Haben Sie noch andere Wahrnehmungen gemacht?« »Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.« »Besser, Sie bewaffnen sich und bleiben im Haus. Wir verfolgen eine Bande Krimineller, die zwei unserer Leute auf dem Gewissen hat.« »Vermuten Sie ausgerechnet am Shiwa‐See, dem einsamsten Fleck …?« »Vor einigen Minuten erhielten wir von dritter Seite einen
brauchbaren Hinweis, der in dieselbe Richtung zielt.« Als der Beamte von sich aus die Verbindung unterbrach, lächelte Grey zufrieden. »Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht«, sagte er. * Eine Stunde später landete ein Gleiter vor dem gepflegten Garten, der sich unmittelbar an das Haus anschloß. Um zu verhindern, daß die Polizisten das Gebäude betraten, ging Caddington ihnen entgegen. »Nein, ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt«, vernahm Dorian Grey seine Stimme. »Ich wurde erst durch die Explosion aufmerksam.« »Selbstverständlich stellen wir Ihnen einen Mann als persönlichen Schutz zur Verfügung.« »Danke«, wehrte Caddington ab. »Ich glaube nicht, daß das nötig sein wird.« »Diese Verbrecher scheinen zu allem fähig zu sein.« »Warum sollten sie ausgerechnet zu mir kommen? Falls überhaupt einer den Absturz überlebt hat. Der Gleiter muß aus großer Höhe aufs Wasser geschlagen sein.« Ein Teil des Sees lag im gleißenden Licht Dutzender Suchscheinwerfer. »Wenn Sie Interesse haben, Sir, können Sie jederzeit mit uns fliegen.« »Danke«, winkte Caddington ab. »Meine Tochter braucht mich hier.« »Natürlich.« Das Summen seines Minikoms unterbrach den Polizisten. Er sagte einige Worte und wandte sich dann wieder an Caddington. »Meine Leute haben Trümmerstücke und etliche 1.000‐ Solar‐Scheine gefunden, die weit draußen auf dem Wasser schwammen.«
»Dann sind die Personen tot, nach denen Sie suchen?« »Vermutlich. Ich werde mich selbst darum kümmern.« Caddington blickte dem Mann hinterher, bis er seine Maschine bestieg und abflog. Zögernd ging er zum Haus zurück. Als er den ebenerdig gelegenen Wohnraum betrat, zuckte er zusammen. Bary kauerte in einem Sessel, und neben ihm stand die verängstigte Grace. Sein Strahler zielte auf ihren Kopf. »Du kannst von Glück reden, daß du nicht versucht hast, den Polypen ein Zeichen zu geben«, grinste der Dicke. »Dann wäre dein Töchterlein jetzt …« »Schert euch zum Teufel. Ihr widert mich an.« Dorian Grey hielt Bary zurück, als dieser aufspringen wollte. »Sie müssen unsere Anwesenheit noch einige Tage ertragen«, sagte er. »Und dann?« fragte Caddington. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie vorhaben, uns laufenzulassen.« Als Grey lediglich mit den Schultern zuckte, fuhr er fort: »Lassen Sie Grace und mich nach oben gehen. Das Mädchen braucht Ruhe.« »Selbstverständlich«, nickte Dorian. »Wir sind schließlich keine Unmenschen.« * Zwei Tage lang hatte Rudi Miller die Funkstation nicht verlassen; es überraschte ihn selbst, mit wie wenig Schlaf er auskam. Unablässig hörte er die gebräuchlichsten Frequenzen nach Funksprüchen ab, aber die meisten terranischen Großfunkstationen und Relaisstellen schwiegen beharrlich. Hin und wieder schlug der Hyperfunkspruch eines Raumschiffs durch. Rudi versuchte stets, Kontakt mit den betreffenden Einheiten aufzunehmen, doch entweder wurden seine Bemühungen dort nicht registriert, oder die Kommandanten fürchteten eine Falle. Laren und Überschwere machten zeitweise regelrecht Jagd auf terranische
Schiffe. »Du hockst wie eine Spinne in ihrem Netz und wartest auf Beute.« Jäh aus seinen Gedanken aufgeschreckt, zuckte Miller zusammen. Er hatte Jurte Halbough nicht kommen hören. »Ich habe schließlich nicht vor, mein Leben auf Startrupp zu beenden«, entgegnete Rudi heftig. »Glaubst du, ich? Diese Welt ist so ziemlich die lausigste, die ich kenne. Aber was geschieht, sollte eines Tages wirklich ein Raumschiff landen?« »Ehrlich gesagt, es ist nicht meine Aufgabe, mir darüber den Kopf zu zerbrechen.« »Du solltest dir rechtzeitig darüber im klaren sein, daß zumindest 60 Prozent der Bevölkerung Startrupp verlassen wollen.« »Warte!« Einige Kontrollampen blinkten plötzlich in hektischem Rhythmus. Die automatische Frequenznachführung begann sich einzupegeln. Rudi Miller hatte nur noch Augen für die Anlage. Er schaltete rasch. Aus den Lautsprechern drang ein undefinierbares Knistern, das sich nur unmerklich gegen die Geräuschkulisse der galaktischen Hintergrundstrahlung abhob. »Der Sender schwimmt davon«, bemerkte Halbough. »Er ist zu weit entfernt.« »Mit Sicherheit nicht. Ich habe eher den Eindruck, daß jemand versucht, sich der Einpeilung zu entziehen. Du kannst mir helfen.« Der Leuchtpunkt eines Oszillographen, der bislang eine gleichmäßige Sinuskurve beschrieben hatte, schlug für Sekundenbruchteile aus. »Aufzeichnung!« kommandierte Miller. »Läuft bereits.« Der Ausschlag wiederholte sich. Unzweifelhaft ein Rafferimpuls. Halbough überspielte die Aufnahme in den Entzerrer. Was er zu hören bekam, war eine Folge unregelmäßiger Blips in verschieden hoher Tonlage.
»Was soll das?« »Ich weiß auch nicht«, sagte Miller. »Vergessen wir es.« »Nein, warte.« Der Funker lauschte den verhallenden Tönen. Plötzlich stutzte er. »Merkst du nichts, Jurte? Die Reihenfolge. Jemand versucht, uns die Zahl fünf zu signalisieren.« »Und?« zuckte Halbough die Schultern. »Das kann vieles bedeuten.« »Fünftausend«, lachte Miller, »ist die am wenigsten gebräuchliche Frequenz, die es gibt, weil in dem Bandbereich Störungen überhandnehmen. Da scheint einer gar nicht so dumm zu sein.« Einige Minuten vergingen, bis er die elektronischen Justierungssperren beseitigt und den neuen Frequenzbereich eingestellt hatte. Die automatischen Filter verschluckten viel von den Nebengeräuschen, die den Empfang beeinträchtigten. Endlich war da eine leise, verzerrte Stimme, kaum wahrnehmbar, doch mit der Zeit deutlicher werdend. »Hier ist die BRISBEE«, erklang es, von zahlreichen Störungen überlagert. »Ein terranisches Schiff?« Vermutlich wurde die Frage nicht verstanden, denn eine Antwort blieb aus. Statt dessen wiederholte sich der Funkspruch. »Hier ist die BRISBEE. Wir suchen noch Besatzungsmitglieder, die bereit sind, mit uns gegen die Laren zu kämpfen.« Halbough stieß einen überraschten Pfiff aus. »Wo steht das Schiff?« »Mir fehlen die Möglichkeiten für eine exakte Dreieckspeilung«, sagte Miller. »Allerdings würde die Verbindung zusammenbrechen, wenn die Entfernung mehr als fünfzig Lichtjahre beträgt.« Hartnäckig versuchte er, die BRISBEE zu erreichen; ihm stand genügend Sendeenergie zur Verfügung, um im Normalfall Entfernungen bis zu 10.000 Lichtjahren zu überbrücken. Endlich
wurde sein Ruf empfangen. »Wer ist da?« erklang es verzerrt aus dem Lautsprecher »Siedlungswelt Startrupp. Systembezeichnung XQ 73.« »Nie gehört. Seid ihr wirklich Menschen?« »Mist«, entfuhr es dem Funker. Offenbar befürchtete die Besatzung der BRISBEE, mit Laren konfrontiert zu werden. »Warum versuchst du es nicht mit dem Flottenkode«, meinte Halbough. Rudi Miller schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Achtung, BRISBEE«, sagte er. »Golf – December … Sigma zwo delta – Luna – Wostock. Gobi.« »Verstanden«, erklang es nach einer Weile. »Delta Gobi. Wir haben auch einen ehemaligen Kadetten von Sigma zwo an Bord. Nur, wer sagt uns, daß der Gegner nicht längst diesen Kode geknackt hat?« »Euch ist nicht mehr zu helfen«, stöhnte Miller. »Meinetwegen versauert da draußen. Habt ihr verstanden?« »Verstanden schon, aber nicht kapiert. Startrupp ist in unseren Karten als unbedeutend verzeichnet.« »Das ganze Solare Imperium ist unbedeutend geworden«, rief Jurte Halbough. »Wenn ihr Männer und Frauen sucht, die nicht nur mit euch fliegen, sondern auch zu kämpfen verstehen, seid ihr bei uns genau richtig.« »Was seid ihr für ein Schiff?« wollte Miller wissen. »Ein Sonderraumer der Imperiumsklasse; vor einigen Monaten von der Werft abgezogen.« Halbough stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Lange Zeit hindurch hatten die Superschlachtschiffe mit ihrem Durchmesser von 1.500 Meter als die mächtigste Waffe Terras gegolten. Im Normalfall flogen sie mit 2.000 Mann Besatzung, waren aber auch mit einem Bruchteil unter Kontrolle zu halten. »Startrupp empfängt euch mit offenen Armen«, stellte Rudi Miller fest. »Vermutlich könnt ihr innerhalb eines Tages bei uns sein.«
»Nach unseren Messungen beträgt die Entfernung 47 Lichtjahre. Wir kommen. Aber bereitet uns bitte keinen überschwenglichen Empfang. Nahrungsvorräte und Wasser sind uns lieber.« * Rudi Miller saß eine ganze Weile nur da und lächelte. »Ich wußte es«, sagte er schließlich. »Das Ganze ist einfach ein Gesetz der Wahrscheinlichkeit, wann ein Schiff über Startrupp auftaucht. Ich muß die Regierung verständigen. Alle Ausreisewilligen müssen informiert werden …« »Hast du vor, aus der Landung der BRISBEE ein Volksfest zu machen? Die Stammbesatzung des Schiffes braucht keine verscheuchten Siedler, sondern zu allem entschlossene Männer und Frauen.« »Sie werden sich den Erfordernissen beugen. Solange Kampfhandlungen vermieden werden können, ist den Interessen terranischer Kolonien Priorität einzuräumen.« Miller winkte heftig ab. Als er sich dem Telekom zuwandte, faßte Halbough nach seiner Schulter und zog ihn zu sich herum: »Du wirst niemanden verständigen.« »Doch.« Miller wandte sich erneut dem Telekom zu. Jurte Halboughs Faustschlag traf ihn am Kinn und ließ ihn fast zu Boden gehen. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Ein dünner Blutfaden rann aus seiner aufgeplatzten Unterlippe. Verwirrt starrte er den Mann an, dessen Blick plötzlich eine unverhohlene Drohung war. »Du kannst mich nicht daran hindern.« Wieder schlug Halbough zu, aber diesmal wich Miller zur Seite aus. Er hatte nie sonderlich viel von seinem Assistenten gehalten, und dieses Gefühl schien sich nun zu bewahrheiten. Welches Interesse konnte Halbough daran haben, daß die bevorstehende Landung der BRISBEE geheim blieb?
Fast hätte der Funker sich ablenken lassen – sein Gegner drang mit unnachgiebiger Härte auf ihn ein. Er blockte einen schwungvollen Haken ab, im selben Moment erkannte er die Finte, auf die er hereingefallen war. Eine kurze Gerade trieb ihn zurück. Er war gezwungen, seine Deckung aufzugeben, und schon prasselten die Schläge auf ihn herab. Miller brach in die Knie, und Schwärze umfing ihn. Als er nach einigen Minuten wieder zu sich kam, stand Jurte Halbough breitbeinig vor ihm. In der Rechten hielt er einen entsicherten Strahler. »Ich denke, wir haben uns verstanden«, sagte er. 3. Das Bild verblaßte von einem Augenblick zum anderen. Uster Brick, der die Positronik nach der Aufzeichnung fragte, erhielt die lapidare Auskunft, daß der Bildschirm ausgefallen und seit mehr als einer halben Stunde nicht funktionsfähig sei. Kommt Zeit, kommt Rat, meinte Atlans Extrasinn orakelhaft. Mittlerweile hatte man sich Solist bis auf weniger als 100.000 Kilometer genähert. Die Energieortung blieb stumm, was jedoch nicht mit letzter Konsequenz bedeutete, daß der Planet unbewohnt war. Nur die Wahrscheinlichkeit, auf intelligentes Leben zu stoßen, wurde dadurch geringer. Nach einer ersten Umrandung des Äquators befahl Atlan, tiefer zu gehen. Es gab nicht viele für eine Besiedlung geeignete Landstriche. Die Suche nach den von Ehennesi erwähnten Emulatoren konnte daher auf wenige Regionen beschränkt werden. Immerhin war nicht anzunehmen, daß diese Wesen sich die weitläufigen Sumpfgebiete oder die schroffen Hochgebirge zum ständigen Aufenthalt erwählt hatten. Regungslos wie eine Statue stand Ehennesi vor dem großen
Panoramaschirm, jedes seiner Armpaare ineinander verschränkt. »Sie leben auf dieser Welt«, murmelte er leise vor sich hin. »Ich fühle es.« Ein ausgedehnter Binnensee erstreckte sich unter der MJAILAM, die kaum noch höher als drei Kilometer flog. Im Westen und Süden schlossen sich Sandwüsten an, lediglich im Norden wurde das Land fruchtbarer. Der schmale Uferstreifen war von palmenähnlichen Bäumen bestanden. »Da ist etwas!« rief Ehennesi plötzlich. »Als wäre jemand vor dem Schatten unseres Schiffes geflohen.« »Wahrscheinlich ein Tier«, vermutete Uster Brick. Obwohl die MJAILAM nur mit einfacher Schallgeschwindigkeit flog, war sie längst über den genannten Punkt hinaus. »Kein Tier«, schüttelte der Emulator den Kopf. »Eher ein menschliches Wesen. Wir sollten umdrehen.« Uster Brick warf Atlan einen fragenden Blick zu. Der Arkonide nickte zustimmend. »Ich möchte die Aufzeichnung sehen«, wandte er sich an die Positronik. Atlan beobachtete den Emulator genau, während die dreidimensionale Wiedergabe lief. »Stopp!« rief er, als Ehennesis Haltung sich versteifte. »Ausschnittvergrößerung!« Zwischen den Wipfeln der Bäume hindurch war ein sich bewegender Schemen zu erkennen. Eine nochmalige Verlängerung der Brennweite zeigte ein zweibeiniges Wesen. »Wir landen«, entschied der Arkonide. Der Kreuzer ging im seichten Uferwasser nieder. Die Landestützen sanken nur unwesentlich ein, weil sie schon nach wenigen Zentimetern Schlamm auf gewachsenen Fels stießen. »Es erübrigt sich, einen Landungstrupp zusammenzustellen«, wehrte Atlan ab, als Brick den Interkom aktivierte. »Lediglich Tyari und ich werden hinausgehen. Wie sieht es draußen aus? Sind Schutzanzüge erforderlich?« »Ich begleite dich ebenfalls«, sagte Ehennesi.
»Die Atmosphäre weist keine schädlichen oder gar gefährlichen Beimengungen auf«, stellte die Frau fest, die erste Strahlenanalysen durchführte. »Sauerstoff ist reichlich vorhanden. Außerdem scheint es weder Bakterien noch Viren zu geben.« »Ein Paradies?« murmelte Uster Brick. »Hoffentlich ist das nicht wie mit den Frauen. Je schöner sie sind, desto gefährlicher können sie werden.« Den bitterbösen Blick, den Tyari ihm zuwarf, übersah er geflissentlich. * Solist war zweifellos eine schöne Welt, das stellten sie schon fest, als sie durch das knöchelhohe Wasser ans Ufer wateten. Ein azurblauer, nahezu wolkenloser Himmel spannte sich über ihnen, und die Sonne zeichnete mit Licht und Schatten verwirrende Muster auf den palmenbestandenen Sandstreifen. Eine stete frische Brise wehte vom See her. Dennoch herrschten angenehme Temperaturen. Schon bald stießen Atlan und seine beiden Begleiter auf die ersten Spuren im Sand. Es waren die Abdrücke nackter menschlicher Füße. Zwischen den Palmen verliefen sie in verschiedenen Richtungen. »Es hat wenig Sinn, ihnen nachgehen zu wollen«, bemerkte Tyari. »Wir erreichen wahrscheinlich am meisten, wenn wir uns landeinwärts halten.« »Wer immer sie sind«, sagte Ehennesi, »die Landung der MJAILAM wird sie erschreckt haben.« »Du glaubst nicht, daß wir es bereits mit den Emulatoren von Solist zu tun haben?« wollte Atlan wissen. Ehennesi schritt schneller aus. Tyari und der Arkonide hatten Mühe, ihm zu folgen. Schon nach wenigen hundert Metern bildeten die Palmen einen regelrechten Wald. Atlans Minikom summte. Uster Brick rief ihn von Bord des
Kreuzers. »Wir haben euch aus der Direktsicht verloren. Vielleicht ist es besser, miteinander Verbindung zu halten.« »Meinetwegen«, stimmte der Arkonide zu. »Liegen inzwischen Ergebnisse vor?« »Nichts von Interesse. Allem Anschein nach existieren auf Solist keine technischen Anlagen. Ich fange an, diese Welt mit Rostbraun zu vergleichen.« Ein leises, kaum wahrnehmbares Singen erfüllte die Luft, sobald die Palmwedel sich im Wind bewegten. Aber da war noch etwas anderes … »Stimmen«, murmelte Tyari nach einer Weile. Das Unterholz wurde dichter. Mehrmals mußte Atlan von der bisherigen Richtung abweichen, weil verfilztes Dornengestrüpp jedes Durchkommen unmöglich machte. Nur einmal erhaschte er dabei einen flüchtigen Blick auf die inzwischen gut drei Kilometer entfernte MJAILAM. Das trockene Krachen zerbrechender Äste, das Rascheln von Laub und ein heiseres Krächzen erschreckte sie. Tyaris Rechte zuckte zur Waffe. Nur wenige Meter entfernt brach der schlanke, geschuppte Kopf einer Echse aus dem Gestrüpp hervor. Ein halbes Dutzend lidloser Augen starrten die Eindringlinge an. Im nächsten Moment richtete das Tier sich vollends auf, stieß erneut krächzende Laute aus und entfernte sich hüpfend. Die beiden kräftig ausgebildeten Beine erinnerten Atlan an ein irdisches Känguruh. »Was ist das dort drüben?« Tyari deutete auf ein metallisches Glitzern, an dem sie zuvor achtlos vorübergegangen waren. Sie wäre wohl noch immer nicht darauf aufmerksam geworden, hätte das Tier nicht einen Teil des bislang die Sicht versperrenden Gestrüpps niedergetrampelt. Ranken und blühende Gewächse wucherten an jener Stelle besonders dicht. Obwohl der Waldboden ansonsten eben war, reihten sich liier etliche Hügel aneinander.
Atlan zwängte sich als erster durch das Dickicht, während Tyari und Ehennesi vorerst zurückblieben. Die Frau hielt ihren Strahler entsichert in der Hand. Das Glitzern wurde deutlicher. Es stammte eindeutig von einem von den Pflanzen überwachsenen Stück Metall. Vorsichtig begann der Arkonide, die Ranken zur Seite zu ziehen. Ein eigenartiges Prickeln machte sich unter seine Kopfhaut bemerkbar und zog sich bis in den Nacken hin. Es war die Erregung, die sich seiner bemächtigte. Er stand vor einem Kreuz. Aus zwei schmalen, stählernen Streben zusammengeschweißt, steckte es tief im Boden. Lediglich die Schweißnaht zeigte Spuren von Oxidation, aber diese waren nicht ausreichend, um das Alter des Kreuzers zu bestimmen. »Was ist das?« rief Tyari. Atlan schreckte aus seinen Überlegungen auf. »Wenn es nicht so gut wie ausgeschlossen wäre, würde ich sagen, ein Symbol menschlichen Glaubens.« Die Frau half ihm, weitere Kreuze freizulegen. Insgesamt fanden sie zehn der kleinen Hügel im Umkreis. Einige Metallstangen waren verbogen, als ob sie ungeheuren Belastungen ausgesetzt gewesen wären. Tyari fuhr mit den Fingern über die dennoch glatte Oberfläche. »Das Metall sieht aus wie Terkonit«, sagte sie. »Aber was hat das alles zu bedeuten, abgesehen davon, daß nur intelligente Wesen die Kreuze errichtet haben können? Ehennesi, ist das die erste Spur der Emulatoren, nach denen wir suchen?« »Ich weiß nicht.« Der Bärenähnliche wirkte verwirrt. »Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber ich möchte trotzdem behaupten, daß Menschen hier ihre Toten begraben haben«, stellte Atlan fest. »Menschen in der Namenlosen Zone, und ausgerechnet auf Solist, dem Planeten der freien Emulatoren?« Der Arkonide zuckte mit den Schultern.
Wieder trug der Wind Stimmen heran. Diesmal fiel es leichter, die Richtung festzustellen. »Ich schicke euch Unterstützung«, teilte Uster Brick über die bestehende Funkverbindung mit. »Nein«, wehrte Atlan ab. »Bleibt, wo ihr seid.« * Völlig überraschend stießen sie auf eine schmale Lichtung, die aus der Luft kaum einsehbar war. Ein helles Stimmchen sang eine monotone Melodie, aber die Worte blieben unverständlich. Im Schutz der letzten Bäume verharrten Atlan und seine Begleiter. Vor ihnen lag eine Ansiedlung aus primitiven Hütten. Holz war das hauptsächlich verwendete Baumaterial. Roh zugehauene Stämme bildeten die Eckpfosten, dazwischen waren Steine aufeinander gemauert oder wabenförmige Geflechte aus Ästen eingefügt. Eine lehmartige Masse füllte nicht nur Risse und Fugen aus, sondern diente allem Anschein nach auch dazu, die Wände abzudichten. Allerdings bröckelte diese Art von Putz großflächig ab. Fenster und Türen waren lediglich dunkel gähnende Öffnungen; das gleichbleibende Klima auf Solist machte es nicht erforderlich, sich gegen Witterungsunbilden zu schützen. Zu sehen war niemand. Hinter einer der Hütten kräuselte sich ein dünner Rauchfaden in die Höhe, bis der herrschende Wind ihn zerstreute. Bratenduft breitete sich aus. »Wer mögen sie sein?« flüsterte Tyari. Ohne sich davon zu überzeugen, ob die Frau und Ehennesi ihm wirklich folgten, huschte Atlan am Rand der Lichtung weiter. Die Stimmen wurden deutlicher. Sie klangen hell, manchmal sogar schrill. Das sind keine erwachsenen Wesen, behauptete der Extrasinn.
Und dann sah der Arkonide sie: Kinder, die an einem aus Steinen aufgeschichteten Grill beieinander saßen. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf ihre Umgebung zu achten. »Menschen«, machte Tyari überrascht. »Du hast es gewußt, Atlan, nicht wahr? Seit du die Kreuze gesehen hast.« »Trotzdem stehe ich vor einem Rätsel.« Es waren elf Kinder, die Fell‐ und Lederkleidung trugen. Das älteste mochte 15 Jahre sein, das jüngste vielleicht acht. »Bist du sicher, daß es sich um Terraner handelt?« wollte Tyari wissen. »Wo sind dann ihre Eltern? Es hat nicht den Anschein, als würden sich Erwachsene in den Hütten aufhalten.« »Gehen wir hin und fragen sie«, meinte Ehennesi. Atlan wußte nicht zu sagen, weshalb er den Vorschlag des Emulators ablehnte. Es war wohl am ehesten eine Gefühlssache. Immerhin bestand die Gefahr, daß plötzlich auftauchende Fremde die Vorstellungswelt der Kinder grundlegend veränderten. »Irgendwo müssen die Erwachsenen sein«, behauptete er. Sie fanden einen zweiten, größeren Friedhof, der ebenfalls von einer schützenden Dornenhecke umgeben wurde. Etwa fünfzig Gräber lagen hier auf engem Raum beieinander. Mehr als die Hälfte wirkte verwildert und war von Pflanzen aller Art überwuchert, einige aber, mit einfachen Holzkreuzen versehen, schienen erst wenige Jahre alt zu sein. Sinnend stand Atlan da und betrachtete die eingefallenen Erdhügel. Die Gräber waren verschiedenen Datums. Das bedeutete, daß alle, die hier lagen, eines natürlichen Todes gestorben waren. »Atlan! Schnell!« Erschrecken schwang in Tyaris Stimme mit. Als der Arkonide herumfuhr, sah er ein fremdartiges Geschöpf hinter den nächsten Bäumen verschwinden. Es besaß drei Arme und drei Beine, einen überaus dürren Körper und war mindestens zwei Meter groß. Der Schädel hatte die Form zweier aneinandergefügter Kugeln deren vordere Hälften zu glitzernden Facetten ausgebildet waren.
»
Das war kein Tier«, behauptete die Frau. »Du meinst, einer der Emulatoren?« Suchend sah Atlan sich um. Im nächsten Moment schrie die Frau unterdrückt auf. Ein scharfkantiger, faustgroßer Stein hatte sie am Arm gestreift und ihre Kombination aufgerissen. Von anderer Seite schwirrte eine gut zwanzig Zentimeter durchmessende Scheibe heran und krachte gegen eines der hölzernen Kreuze, wobei sie sich auflöste und zu einem netzähnlichen Gebilde wurde, das das Kreuz einhüllte. Ringsum erwachte der Wald zu gespenstischem Leben. Skurrile Gestalten huschten durch das Unterholz. Atlan erkannte das Känguruh mit dem Echsenschädel, dem sie schon begegnet waren. Ein achtbeiniges Spinnengeschöpf hockte im Wipfel einer Palme und ließ armdicke, klebrige Fäden durch die Luft segeln. Ihr gemeinsames Vorgehen zeigte gezieltes Handeln. »Das müssen Emulatoren sein«, stieß Tyari hervor. »Keine Welt bringt so verschiedenartige Intelligenzen hervor. Aber weshalb greifen sie uns an? Ehennesi, du mußt ihnen klarmachen, wer wir sind.« Der Bärenähnliche rief einige Sätze in einer fremden Sprache, erreichte aber keinerlei Wirkung damit. Einer der dicken Spinnfäden wickelte sich um Atlans Handgelenk und zog sich schmerzhaft zusammen. »Das sind zehn oder elf Gegner«, stellte Tyari fest. »Wir müssen durchbrechen, bevor sie zu nahe kommen.« Ein bolaähnliches Wurfgeschoß brachte sie zu Fall, und ein sengend heißer Glutstrahl aus ihrer Waffe fraß sich durch die Baumwipfel hindurch in den Himmel. Die herrschende Feuchtigkeit erstickte den entstehenden Schwelbrand jedoch rasch. Mit fliegenden Fingern löste Atlan die Fesseln von Tyaris Knöcheln und zog sie mit sich in den Schutz eines Baumes. Ehennesi versuchte noch immer, die Angreifer zu besänftigen. »Wir verhandeln nicht mit Verbrechern!« erklang es in halbwegs verständlichem Interkosmo. »Kehrt zurück, von wo ihr gekommen
seid, und laßt uns auf Solist in Frieden.« Atlan war nur einen Augenblick lang verblüfft. »Ihr seid Emulatoren«, rief er. »Warum greift ihr uns an?« Auch Ehennesi war gezwungen, Deckung zu suchen. Die Fremden machten keinen Unterschied zwischen Atlan, der Frau und ihm. Sie gingen mit einer Heftigkeit vor, die Verbitterung erkennen ließ. »Paß auf!« warnte Tyari. »Sie versuchen, uns einzufangen.« Einige Dutzend Fäden spannten sich bereits zwischen den Bäumen. Das Spinnenwesen hatte damit begonnen, ein trichterförmiges Netz aufzubauen. Atlan hob den Strahler und schoß. Als sich der Glutstrahl zischend durch das Gespinst fraß und die einzelnen Fäden aufglühend zerfallen ließ, wurde ein Aufschrei der Enttäuschung laut. Tyari rannte los, verschwand mit Zickzacksprüngen im Wald. Ehennesi hatte weniger Glück. Ein neues Spinnennetz versperrte ihm jäh den Weg. Atlan konnte nun keine Rücksicht mehr nehmen. Obwohl er womöglich vieles damit verdarb, schoß er eine Reihe von Büschen in Brand, um die Angreifer zurückzudrängen. Dichter Qualm stieg auf und begrenzte die Sicht schlagartig bis auf weniger als dreißig Meter. Endlich fand der Arkonide wieder Zeit, auf seinen Minikom zu achten. »Wir holen euch«, meldete Uster Brick. »Die MJAI‐A ist unterwegs.« »Ich hoffe, du hast befohlen, mögliche Provokationen zu unterlassen.« »Keine Sorge. Blödel ist mit an Bord. Er kann vielleicht besser als jeder von uns beurteilen, was zu tun ist.« Triebwerksgeräusche näherten sich. Für einige Augenblicke gewahrte Atlan die 12‐Meter‐Space‐Jet über den Baumwipfeln. Sie setzte nur wenig entfernt zur Landung an. Im selben Moment, in dem er den tonnenförmigen Schatten neben sich bemerkte, warf er sich der Länge nach hin. Irgend etwas Undefinierbares schoß über ihn hinweg. Das plumpe Geschöpf stieß
eine Reihe von Klagelauten aus. Es war zu langsam, um ihm folgen zu können, als er aufsprang und weiterhastete. Ein stechender Schmerz tobte durch Atlans linkes Handgelenk – so stark, daß er unwillkürlich die Zähne zusammenbiß. Selbst der Zellaktivator war dagegen machtlos. Die Umgebung begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Weiter! befahl sein Extrasinn. Nicht aufgeben. Du schaffst es. Mit aller Kraft kämpfte er gegen das an, was von ihm Besitz ergreifen wollte. Der dicke Spinnfaden um seinen Arm begann sich auszudehnen. Als Atlan mit der Rechten Zugriff, stieß er auf unnachgiebigen Widerstand, an dem seine Finger abglitten. Die Masse wuchs über seinen Ellbogen zum Schultergelenk hinauf. Nur noch schemenhaft erkannte er die Umrisse der Space‐Jet. Alles um ihn her verfiel in einen rasenden Wirbel. Aber schon Sekunden später griffen hilfreiche Hände nach ihm und zerrten ihn in die weit geöffnete Bodenschleuse, während die MJAI‐A bereits wieder abhob. * »Um Himmels willen, helft ihm!« Entsetzt starrte Tyari auf die gläsern wirkende Masse, die Atlans linke Körperhälfte bis zur Hüfte hinab vollständig überzogen hatte. Der Arkonide war ohne Besinnung. Insider, der grünhäutige, vierarmige Extra, faßte zusammen mit Ehennesi Atlan unter der Schulter. Blödel, der Scientologen‐Roboter stand daneben und gab wohlgemeinte Ratschläge, auf die jedoch niemand hörte. Plötzlich schrie Insider auf. Ohne daß er es verhindern konnte, war er mit der gläsernen Schicht in Berührung gekommen, und nun bedeckte sie bereits seine Hand und dehnte sich aus. Er schaffte es gerade noch, den Arkoniden bis zu einem Sessel zu tragen.
»Atlan atmet kaum mehr«, stöhnte Tyari. »Blödel, unternimm endlich was. Steh nicht bloß dumm herum.« »Warum regst du dich auf? Ich werde nicht zulassen, daß ihm etwas geschieht.« Aus einer seiner vielen Körperöffnungen zog der Roboter ein Laserskalpell hervor. Der ultrafein gebündelte Lichtstrahl fraß sich lautlos durch die steinharte Masse. Im nächsten Moment gab es einen grellen Lichtblitz. Blödels Arm wurde regelrecht zurückgeschleudert, als das Skalpell in seiner Hand verglühte. Tyari stand wie versteinert. Selbst vor Atlans Gesicht machte die tückische Masse nicht halt. Insider hatte inzwischen ebenfalls die Besinnung verloren. Eine weitere Klappe an Blödels Körper öffnete sich. Ein acht Zentimeter durchmessendes, kugelförmiges, pelziges Wesen fiel heraus und landete auf Atlans Bauch. »Weshalb sagt man mir nicht, was vorgeht?« erregte sich das kleine Geschöpf lautstark. »Wuschel wird immer erst dann geholt, wenn alle anderen versagt haben.« »Sei still und friß«, schimpfte Blödel. Wuschels Metabolismus war in der Lage, nahezu jeden Stoff und jede Materie, selbst in großen Mengen, zu verdauen. Er war sozusagen ein lebender Konverter, dem auch Giftstoffe nichts anhaben konnten. Tatsächlich gelang es ihm, die gläserne Masse aufzulösen. Auf seinen acht kurzen Beinchen kletterte er als blau‐ schwarze Fellkugel über Atlans reglosen Körper. Ein leises Schmatzen war zu vernehmen, als Blödel ihn dann auf Insiders Schulter setzte. »Börps«, rülpste Wuschel schließlich. »Ich weiß nicht, was es war, aber es war ausgezeichnet.« Während die Space‐Jet in den Hangar der MJAILAM einflog, kam Atlan bereits wieder zu sich. Sein Zellaktivator half ihm, die Schwäche schneller zu überwinden als Insider. »Beeilt euch«, kam Uster Bricks Aufforderung aus der Zentrale. »Es geht wieder los.«
»Was …?« wollte Tyari wissen. »Was geht los?« »Diese seltsame Aufzeichnung. Entweder spinnt die Positronik, oder ich.« »Die Positronik ist völlig in Ordnung«, behauptete Blödel. MOSAIK »Bist du sicher, daß das Schiff auf Startrupp landen wird?« fragte Dorian Grey ohne erkennbare Regung. »Völlig sicher«, erklärte sein unsichtbar bleibender Gesprächspartner. Über den Bildschirm des Telekoms huschten nur graue Schlieren. »Dann weißt du, was du zu tun hast.« Als von der anderen Seite aus abgeschaltet wurde, wandte Grey sich lachend um. Er blickte in grinsende, hoffnungsvolle Gesichter. »Morgen also«, sagte Bary. »Wenn wir alle unsere Freunde mitnehmen, sind wir dreißig. Glaubst du, das reicht?« »Natürlich«, nickte Grey und wandte sich an Caddington. »Mann, Sie machen ein Gesicht, als wäre Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen. Dabei sollten Sie froh sein, daß Sie uns eher als geplant loswerden.« »Das glaube ich erst, wenn es soweit ist.« »Ach ja«, spottete Bary. »Wir brauchen noch einmal deine Hilfe. Leider sind wir nämlich im Siedlungsamt nicht als ausreisewillig erfaßt.« »Die Computerkartei ist gegen jeden unbefugten Zugriff abgesichert.« »Sie sollen keine Daten fälschen«, erklärte Grey. »Es geht nur darum, daß die Männer des Sicherheitsdienstes uns an Bord lassen.« Nachdenklich musterte Thomas Caddington sein Gegenüber. »Ich weiß, was du sagen willst«, grinste Bary. »Wir haben keine Gewähr, daß alles so abläuft, wie wir es uns vorstellen. Selbstverständlich wird deine Tochter uns begleiten.« »Laßt Grace in Frieden.« »Ist es nicht so, daß Ihre Tochter bald operiert werden muß?« fragte Grey. »Was halten Sie davon, wenn wir Ihnen die Chance
geben, mit uns an Bord des Schiffes zu gehen?« * Mit auf den Rücken gefesselten Armen und zusammengebundenen Beinen lag Rudi Miller auf dem nackten Stahlplastboden der Funkstation. Wenn Blicke töten könnten, hätte er Jurte Halbough längst durchbohrt. Er verfluchte den Augenblick, in dem er sich dazu hatte hinreißen lassen, mit dem Funkamateur zusammenzuarbeiten. Aus den verschiedenen Telekomgesprächen, die Halbough im Lauf weniger Stunden führte, reimte Miller sich zusammen, daß er einer größeren Bande in die Hände gefallen war. Unter diesen Umständen mußte er um sein Leben fürchten. Die Kriminellen wollten Startrupp verlassen und würden kaum zögern, Mitwisser zum Schweigen zu bringen. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. Seine Handgelenke brannten wie Feuer, weil die dünnen Stricke längst die Haut aufgeschürft hatten, aber ein klein wenig hatten die Fesseln inzwischen nachgegeben. Während Halbough schlief, verstärkte Miller seine Bemühungen, freizukommen. Doch die Zeit verging viel zu schnell, und der ansprechende Funkempfang schreckte Halbough auf. Die BRISBEE würde in zwei Stunden landen. Aus dem Linearraum kommend, flog sie soeben in das Sonnensystem ein. Endlich bekam Rudi Miller eine Hand frei. Er streifte die Fesseln ab und begann, die Stricke an seinen Beinen zu lösen. Halbough führte soeben ein Telekomgespräch mit dem Sicherheitsdienst und informierte erstmals die offiziellen Stellen über die bevorstehende Ankunft eines Raumschiffs der IMPERIUMS‐Klasse. Bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden, richtete Miller sich auf. Drei Meter von ihm entfernt stand ein Werkzeugschrank, der unter anderem einige unterarmlange, schwere Eisenstangen enthielt.
Miller hatte sie erst vor kurzem für Experimente gebraucht. Halbough wandte ihm noch immer den Rücken zu. Vorsichtig öffnete Miller den Schrank gerade so weit, daß er hineinlangen konnte. Er wußte, daß die Tür ab einem gewissen Punkt knarrte. Innerlich atmete er auf, als er endlich eines der Eisen in der Hand hielt. In dem Moment wandte Halbough sich um, seine Rechte zuckte zur Waffe, die er unter der Achsel trug. Mit einem Aufschrei schnellte Miller sich vorwärts. Aber noch sechs Meter trennten ihn von seinem Gegner, und Halbough war schnell. Der eng gebündelte Glutstrahl aus seiner Waffe bohrte sich in Millers Schulter und ließ den Funker stürzen. Die Eisenstange polterte zu Boden. Rudi Miller fühlte keine Schmerzen. Der Thermoschuß hatte seine Schulter glatt durchgeschlagen. Halbough stand jetzt unmittelbar neben ihm; er blickte geradewegs in die aktivierte Abstrahlmündung seiner Waffe. »Nein!« wollte der Funker schreien, aber die Stimme versagte ihm den Dienst. Und dann erloschen seine Wahrnehmungen in einem jäh aufzuckenden grellen Blitz. * Will Jamison war der Chef des Sicherheitsdienstes auf Startrupp. Sein einstudiert wirkendes Lächeln wurde schlagartig freundlicher, als das Bild des Anrufers sich auf seinem Schirm stabilisierte. »Sie haben es schon gehört, Mr. Caddington?« fragte er abstelle einer Begrüßung. »Falls Sie die BRISBEE meinen, deshalb will ich mit Ihnen reden.« »Sie und Ihre Tochter erhalten selbstverständlich einen Platz an Bord. Noch wissen wir nicht, wieviele Personen das Schiff überhaupt aufnehmen kann.« »Es geht nicht allein um uns, sondern auch um vier Freunde –
Verwandte meiner Frau. Sie wollen ebenfalls von Startrupp fort.« »Machen Sie keinen Unsinn«, zischte Grey. »Denken Sie an ihre Tochter.« Caddington vollführte außerhalb des Erfassungsbereichs der Optik eine besänftigende Handbewegung. »Die vier sind bisher nicht verzeichnet«, sagte er. »Ich denke, Sie werden ein Auge zudrücken, Mr. Jamison. Immerhin sind Sie mir einen Gefallen schuldig.« Der Chef des Sicherheitsdiensts fuhr sich zögernd mit der Zunge über die Lippen. Schließlich nickte er. »Es läßt sich machen. Ihre Verwandten sollen sich von mir abfertigen lassen.« »Danke«, sagte Caddington, schaltete ab und wandte sich zu Grey um. »Zufrieden?« fragte er. »Mir gefällt Ihre Art nicht«, gab der Anführer zur Antwort. »Dann haben wir wenigstens eines gemeinsam. Ich hoffe, Sie halten Wort.« In quälender Langsamkeit rückten die Anzeigen der Uhren vor. Eine Stunde war noch nicht ganz vergangen, als ein Gleiter das Haus überflog und vor dem Anwesen landete. Zwei Männer und eine Frau stiegen aus und näherten sich zielstrebig. »Bekannte?« fragte Grey scharf. »Gute Freunde«, erwiderte Caddington. »Sie betreiben zehn Meilen westlich eine Farm.« »Wimmeln Sie sie ab, egal wie. Susan, du gehst mit dem Mädchen nach oben. Bary und Smiler, ihr wartet im Nebenraum.« Caddington öffnete selbst, weil sein Hausmädchen gefesselt in ihrem Zimmer lag. »Hallo, altes Haus, wird Zeit, daß wir uns wieder bei dir blicken lassen. Was ist, freust du dich nicht? Gib uns einen von deinen alten Cognacs, und die Welt sieht gleich viel besser aus.« Ehe Caddington abwehren konnte, waren die drei an ihm vorbei. »Du hast Besuch? Warum sagst du das nicht?« »Ich bin ein Verwandter seiner Frau«, sagte Dorian zurückhaltend.
»Wir wollten gerade zusammen in die Stadt aufbrechen.« »Oh«, machte die Frau. »Wir stören hoffentlich nicht? Wo ist deine Tochter, Thomas? Wir haben ihr einiges mitgebracht.« »Oben«, murmelte Caddington. »Sie schläft gerade. Aber setzt euch doch.« Unruhig wanderten die drei Besucher durch den Wohnraum. Ihre Blicke waren überall. »Eine Falle!« gellte plötzlich Susans Aufschrei aus dem oberen Stockwerk herab. »Das Haus wird umstellt!« Dorian Grey reagierte blitzschnell. Noch bevor die drei Fremden, die vermutlich dem Sicherheitsdienst angehörten, ihre Schocker in Händen hielten, feuerte er seinen Strahler ab. Einer der Männer brach lautlos zusammen. Grey stieß den schweren Metalltisch um und warf sich dahinter in Deckung. Die Lähmstrahlen würden die Platte kaum durchdringen können. Sein zweiter Schuß ging fehl. Caddington rannte zur Treppe. Aber ehe er sie erreichte, vertrat Johnson ihm den Weg. »Lassen Sie die Waffen fallen, oder er ist ein toter Mann!« forderte Smiler die beiden Sicherheitsbeamten auf. Im selben Moment schossen Bary und Grey. »Mörder«, stöhnte Caddington und wandte sich erschüttert ab. »Ihr verdammten Mörder.« »Das haben wir dir zu verdanken, oder?« vermutete Bary. »Wie hast du ihnen den Tip gegeben?« »Mr. Caddington, sind Sie okay?« erklang von draußen eine durch Lautsprecher verstärkte Stimme. »Nichts ist okay«, brüllte Grey. »Zieht euch zurück, oder es gibt noch zwei Tote.« »Sie gehen in Deckung«, rief Susan von oben. »Verdammt«, fluchte Bary. »Wenn sie mit Schockern schießen, brauchen sie nicht einmal auf unsere Geiseln Rücksicht nehmen. Wir kommen hier nicht raus.« »Vielleicht doch«, überlegte Grey. »Führende Politiker verfügen zumeist über Individualschutzschirme. Wenn einer von uns diesen
IV‐Schirm trägt, wird keiner der Polypen zu schießen wagen. Heraus mit der Sprache, Caddington, wo haben Sie das Aggregat.« »Suchen Sie doch.« Bary wollte zuschlagen, aber Grey fiel ihm in den Arm. »Nicht. So bekommst du ihn nie zum Reden. Susan«, befahl er laut, »nimm dir das Mädchen vor.« Augenblicke später hallten Graces Schreie durch das Haus. Caddington wurde blaß. »Hinter dem Bild«, stieß er tonlos hervor. »Der Wandsafe ist offen.« »Warum nicht gleich.« Dorian Grey befestigte den kleinen Projektor an seinem Gürtel. »Und jetzt sage denen da draußen, daß wir freies Geleit wollen.« Zehn Minuten später schob sich Caddingtons Gleiter aus der an das Haus angebauten Garage. Nicht ein Schuß fiel. Als die schwere Maschine dicht über die Polizeigleiter hinwegzogen, feuerte Grey aus einem geöffneten Seitenfenster nach unten. Er erzielte zwar keine große Wirkung, konnte aber sicher sein, daß den Beamten zumindest während der nächsten halben Stunde eine Verfolgung unmöglich war. * Schon Minuten nach der Landung der BRISBEE auf dem verwaisten Raumhafen von Startrupp hatten sich Hunderte Siedler eingefunden. Nichts hielt sie noch auf ihrer Welt, die keine Zukunft besaß. »Zuerst werden die aufgenommen, die Erfahrungen mit der Technik unserer Raumschiffe haben und in der Lage sind, das Stammpersonal zu ergänzen. Und natürlich deren Familienangehörige«, hallte eine Lautsprecherstimme über das Hafengelände. Keiner war unter den sich um die Landestützen drängenden
Menschen, der diese Anforderungen nicht erfüllt hätte. Als sich dann die Bodenschleuse öffnete, fluteten sie unaufhaltsam in das Schiff. »Bitte beachte Sie die Anweisungen der Besatzung«, erklang es in den Korridoren und Liftschächten. »Begeben Sie sich zunächst in die Ihnen zugewiesenen Kabinen.« Aber nicht alle folgten dem Aufruf. Einige Männer sonderten sich unbemerkt ab und stiegen über Nottreppen zu den Decks unterhalb des Ringwulstes hinauf. Dort befanden sich nur die Lagerhallen für Ersatzteile, Roboter und Proviantdepots, sondern auch die Waffenarsenale. Jurte Halbough war einer von ihnen. Als näherkommende Schritte laut wurden, gab er den anderen durch einen flüchtigen Wink zu verstehen, daß sie sich in den Seitengängen verbergen sollten. Zwei Mannschaftsmitglieder kamen ihm entgegen. Halbough blieb stehen. »Haben Sie die Aufrufe nicht gehört?« fuhr einer der beiden ihn an. »Ich suche die Zentrale«, sagte Jurte. »Ich war Kadett bei der Flotte und …« »… und deshalb glauben Sie, sich in einem Schiff wie der BRISBEE auszukennen?« Halbough schnellte nach vorne. Der Mann war zu überrascht, um den Fausthieben auszuweichen. Ächzend und nach Luft ringend, brach er zusammen. Der andere wollte seine Waffe hochreißen, aber Halboughs Begleiter kamen ihm zuvor. »Nehmt ihnen die Strahler ab!« befahl Jurte. »Und was machen wir mit den beiden? Sobald sie wieder zu sich kommen, werden sie uns verraten.« »Jedes Problem kann man lösen.« Halbough ließ sich eine der Waffen geben, dann drückte er zweimal hintereinander ab. »Und jetzt weiter. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Das Schott zum Waffenarsenal war verschlossen und ohne den
richtigen Kode nicht zu öffnen. Jurte Halbough zerstörte den Mechanismus. Es war ihm egal, daß im selben Moment in der Zentrale ein Warnsymbol aufleuchtete. »Beeilt euch!« rief er. »Nehmt, was ihr tragen könnt. Wir müssen in spätestens zwei Minuten verschwunden sein.« * Die Zentrale der BRISBEE war ebenso unterbesetzt wie alle anderen wichtigen Knotenpunkte im Schiff. Keiner der Anwesenden wandte sich um, als das Hauptschott aufglitt. Erst als die fremde Stimme erklang, ließen sie von ihrer Arbeit ab. »Ab sofort übernehmen wir die Befehlsgewalt.« Der Kommandant musterte die fünf Bewaffneten der Reihe nach. »Was soll das?« fragte er verächtlich. »Meuterei?« »Wir richten uns nicht gern nach Befehlen anderer.« »Das hat doch keinen Sinn. Auf diese Weise kommen Sie niemals von Startrupp fort.« »Abwarten. Und lassen Sie die Finger vom Interkom.« Der Kommandant nickte zögernd. »Zumindest im Augenblick haben Sie die bessere Position. Was wollen Sie?« Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte Halbough eine Bewegung. Er wirbelte herum und schoß. Seine Waffe halb gezogen, brach ein Mann der Besatzung zusammen. »Ich rate niemandem, es noch einmal zu versuchen«, warnte Jurte. »Und keine Tricks. Wir können unangenehm werden.« Ein Anruf kam aus der Funkzentrale. Jemand, den die Besatzung nie zuvor gesehen hatte, erklärte, daß alles in Ordnung sei. Nur Sekunden später meldete sich die Ortungszentrale. »Und?« wollte Halbourgh wissen. »Wie siehtʹs aus?« »Wir haben einen Gleiter erfaßt, der sich von Osten her nähert. Er wird das Hafengelände in spätestens fünf Minuten erreichen.«
Die Verbindung zur Funkzentrale bestand noch. »Du hast es gehört, James«, sagte Halbough zu seinem Mann. »Versuche herauszufinden, ob das Dorian und die anderen sind.« Wenig später kam der Kontakt zustande. Es war tatsächlich Grey. »Läuft alles nach Plan?« wollte er wissen. »Wir warten nur noch auf euch.« Jurte Halbough wandte sich an den Kommandanten: »Öffnen Sie einen der Hangars für die Ein‐ Mann‐Jäger und lassen Sie die Triebwerke anlaufen.« »Aber … das kann eine Katastrophe geben. Die vielen Menschen rund um das Schiff …« »Tun Sie, was ich Ihnen befehle. Wer da draußen jetzt nicht die Beine in die Hand nimmt, ist selbst schuld.« * Ein vielstimmiger Schrei der Entrüstung hallte über das Landefeld, als die untere Bodenschleuse sich zu schließen begann. Mittlerweile warteten mehr als 2.000 Menschen darauf, an Bord des Schiffes gehen zu können. Als irgend jemand zufällig bemerkte, daß die Abstrahldüsen im Ringwulst zu flimmern begannen, brach Panik aus. Noch war es lediglich erhitzte Luft, die die Konturen verschwimmen ließ, aber jeden Augenblick konnten glühende Partikelströme daraus hervorbrechen und im Umkreis von etlichen hundert Metern alles verbrennen. Die Menschen wußten nicht, was geschehen war, doch sie ahnten, daß es um ihr Leben ging. Rücksichtslos versuchte jeder, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Nach allen Seiten flutete der schreiende Mob auseinander. Niemand nahm den Gleiter mit den Emblemen der planetaren Regierung wahr, der in etwa fünfhundert Meter Höhe in eine geöffnete Schleuse einflog.
Augenblicke später hob das mächtige stählerne Ungetüm ab. Nur von Antigravfeldern getragen, schwebte es in die Höhe, bis die Impulstriebwerke zündeten und das Schiff pfeilschnell in den Himmel rissen. Donnernd und mit orkanartiger Gewalt stürzten die erhitzten Luftmassen in das entstandene Vakuum zurück. Die BRISBEE verschwand als winziger Stern über Startrupp. 4. »Sie greifen die MJAILAM an!« Schlagartig erlosch die Wiedergabe auf dem mittlerweile funktionstüchtigen Bildschirm. Die Außenbeobachtung ließ erkennen, daß elf zum Teil skurril anmutende Wesen vom Ufer her gegen den Kreuzer vorgingen. Nur zwei von ihnen waren entfernt menschlich. »Was soll das?« Uster Brick lachte zwar, doch dieses Lachen klang bedrückt, als vermute er mehr hinter dem primitiven Angriff. »Mit Steinen und Wurfscheiben können die das Schiff nicht einmal ankratzen.« Atlan erkannte einige der Angreifer wieder. Wenn er an das Stück des Spinnenfadens dachte, das ihn und Insider beinahe das Leben gekostet hätte, erschauderte er noch nachträglich. »Das sind Emulatoren«, behauptete Ehennesi. »Vielleicht werden sie mit mir reden, wenn sie die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen eingesehen haben.« »Du willst hinausgehen?« Ehennesi vollführte eine zustimmende Bewegung. »Was ist falsch daran, wenn ich zu vermitteln versuche? Ein Emulator kann mit seinesgleichen besser reden als jedes andere Wesen.« »Sieh dich dennoch vor«, warnte Atlan. »Keine Sorge«, erwiderte der Bärenähnliche. »Unkraut vergeht nicht, wie es bei euch an Bord so schön heißt.«
»Sollen wir dir eine Überwachungssonde mitgeben?« fragte Brick. Ehennesi wehrte ab, weil er glaubte, daß dies zu weiteren Mißverständnissen führen konnte. »Weshalb stellen die Emulatoren sich überhaupt gegen uns?« wollte jemand wissen. »Weil sie uns für Verbrecher halten«, erklärte Tyari. »Das haben sie jedenfalls gesagt.« Fällt dir nichts auf? folgerte Atlans Extrasinn. Du meinst die Kriminellen von Startrupp, gab der Arkonide ebenso lautlos zurück. Aber wo besteht der Zusammenhang? Dieselbe Frage stellte er wenig später zur Diskussion. Auch sein Logiksektor konnte nur Vermutungen vorbringen. Um zu einem halbwegs brauchbaren Ergebnis zu kommen, fehlten zu viele Fakten. »Die Positronik behauptet nach wie vor, keine Aufzeichnungen eingeblendet zu haben«, sagte Brick. »Aber ich habe einen Mitschnitt angefertigt. Womöglich hilft uns das weiter.« »Laß sehen«, forderte Atlan den Piloten auf. Schon nach einer halben Minute begann Brick, unruhig zu werden. Es stellte sich heraus, daß der Speicherkristall leer war. »Ein technischer Defekt ist ausgeschlossen.« »Demnach gibt der Kristall genau das wieder, was auf dem Bildschirm war, nämlich nichts«, sagte Tyari. »Und was haben wir wirklich gesehen?« fragte Atlan. »Genauer genommen, wie haben wir es gesehen?« Er wurde abgelenkt, weil Ehennesi in dem Moment den Emulatoren von Solist entgegentrat. * Er kam zwar aus dem Schiff der Verbrecher, aber diesmal war er allein. Und er hatte die Arme in freundschaftlicher Geste
ausgebreitet. »Er ist wie wir«, stellte Sirhat, die Spinne fest. »Ich fühle, daß von ihm die Macht eines alten Volkes ausstrahlt.« »Trotzdem führte er die Verbrecher nach Solist«, entgegnete Kitt, das Echsenwesen, heftig. »Warum tut er das, wenn er einer von uns ist?« »Frage ihn selbst.« Sirhat klickte mit ihren kurzen Beißzangen. »Wir sollten ihn von den Kindern fernhalten«, gab Der‐mit‐dem‐ unaussprechlichen‐Namen zu bedenken. »Die Überlieferungen sprechen davon, daß Unheil über unsere Welt kommt, wenn wieder eine Kugel aus Stahl vom Himmel herabsteigt.« Er war derjenige unter den elf Emulatoren, der den Menschen noch am meisten ähnelte. »Ich komme in Frieden«, rief Ehennesi. »Und ich bin auf der Suche nach meiner Bestimmung. Das Volk der Zhu‐Umlat, das mich in seiner Verzweiflung geboren hat, wurde als eines der ersten in die Namenlose Zone verschlagen.« »Du hast dich mit den Falschen verbündet«, rief Kitt. Sein mit fingerlangen Dornen bewehrter Schwanz peitschte den Boden. »Die Solaner sind nicht böse.« Ehennesi schritt weiter auf die elf zu, deren ablehnende Haltung nicht mehr ganz so starr schien, wie wenige Augenblicke zuvor. »Wäre es ihnen sonst gelungen, die Schockfront um Solist und seine Sonne zu durchdringen?« Seine Worte lösten zum Teil Betroffenheit, zumindest aber Nachdenklichkeit aus. »Du magst recht haben«, nickte Der‐mit‐dem‐unaussprechlichen‐ Namen. »Wir werden die Wahrheit herausfinden.« »Dann greift das Schiff der Solaner nicht mehr an. Ihre Waffen sind den euren tausendfach überlegen. Allein daraus, daß sie euch noch nicht getötet haben, solltet ihr ersehen, daß sie nicht böse sind.« »Sie nennen sich Solaner?« machte Sirhat verwirrt. »Nicht Terraner?«
Ehennesi blieb ihm die Antwort schuldig. Er kannte den Weg, den sie einschlugen, und der zur Lichtung mit den primitiven Hütten führte. Schließlich stand er den Kindern gegenüber, die ihn neugierig umringten. Sie waren elf, wie die Emulatoren, und sie zeigten auch vor ihm keine Scheu. »Es sind unsere Kinder«, sagte Kitt nicht ohne Stolz. »Vielleicht werden sie im Kräftespiel zwischen Gut und Böse eines Tages die Entscheidung bringen.« »Deshalb sind wir bei ihnen.« »Ich kenne die Bedeutung von Solist«, pflichtete Ehennesi bei. Eines der Kinder, ein etwa 14 Jahre altes Mädchen, zupfte ungeduldig an seinem Umhang. »Bist du mit dem Schiff gekommen, das vom Himmel fiel?« »Sei nicht so vorlaut, Menizza«, tadelte Der‐mit‐dem‐ unaussprechlichen‐Namen. »Laß sie«, wehrte Ehennesi ab und nahm das Mädchen vorsichtig auf seine Arme. »Ja«, sagte er, »ich bin mit dem Raumschiff gekommen. An Bord leben viele, die so aussehen wie ihr. Aber sie sind älter. Sie könnten eure Eltern sein.« »Eltern?« machte Menizza verblüfft, und einige der Kinder wiederholten das Wort beinahe ehrfürchtig. »Lediglich die Ältesten von uns können sich daran erinnern, wie Erwachsene aussehen. Die Emulatoren haben uns aufgezogen.« * Als Kitt sie in ihre Hütte schickte, zogen die Kinder sich ohne Widerspruch zurück. Lara und Menizza, die beiden gleichaltrigen Sprecherinnen der Mädchen sowie der älteste von ihnen, der 15jährige Jauter, blieben zusammen, nachdem Menizza beiden kurz vorher zugeblinzelt hatte. »Also, heraus mit der Sprache, was ist los?« begann Lara.
»Nicht so laut.« Menizza legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und blickte sich suchend um. »Dieser Fremde ist mir nicht geheuer. Er ist anders als unsere Emulatoren.« »Weil wir ihn nicht kennen«, meinte Jauter schulterzuckend. »Sagt Der‐mit‐dem‐unaussprechlichen‐Namen nicht immer, Vorurteile seien die schlimmste aller Sünden?« »Trotzdem«, beharrte Menizza. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns selbst davon überzeugen, was richtig ist?« »Du willst zu dem Schiff«, erschrak Lara. »Wenn dort Erwachsene leben, muß ich sie einfach sehen. Am liebsten sofort.« »He, was habt ihr miteinander zu flüstern?« Dyla, erst 13 Jahre alt, aber schon mehr Frau als die beiden anderen Mädchen, kam neugierig näher. »Nichts von Bedeutung«, wehrte Menizza ab. »Habt ihr auch Angst vor dem Fremden?« »Angst?« »Na ja, so ein Unbehagen.« »Kommst du mit?« fragte Jauter. »Wohin?« Ein Aufleuchten huschte über Dylas Miene. »Ihr wollt wirklich …« Hintereinander schlichen sie sich aus der Hütte. Keiner der Emulatoren achtete auf sie, und als sie endlich den Schutz des Waldes erreicht hatten, begannen sie zu rennen. Die Neugierde trieb sie vorwärts. Wenn sie wirklich Erwachsene trafen, würde diese Begegnung ihr Leben verändern. Sie erreichten den See schneller als jemals zuvor. Das Schiff war ein stählerner Koloß, gegen den man sich winzig klein vorkam. »Es ist unheimlich«, stellte Dyla fest. »Wieviele Menschen mögen darin Platz finden? Hundert? Oder noch mehr?« »Einige tausend«, sagte Jauter. Kurz entschlossen trat er aus dem Schatten der Palmen hervor. Um jetzt noch die obere Rundung des Kreuzers sehen zu können, mußte er den Kopf weit in den Nacken
legen. Er brauchte nicht lange zu warten, bis ein Teil der glatten Hülle, die die Lichtreflexionen der Wasseroberfläche widerspiegelte, aufglitt. Zwei Menschen erschienen in der Öffnung und schwebten langsam herab. »Das sind sie«, stieß Lara hervor. Der Mann und die Frau kamen langsam näher. Jauter stellte fest, daß sie ihnen wirklich ähnlich waren. Trotzdem machte er einen zögernden Schritt rückwärts. Auch die Mädchen schien plötzlich der Mut zu verlassen. Der Mann lächelte. »Ich bin Atlan«, sagte er. »Und meine Begleiterin heißt Tyari.« »Ich … wir … darf ich dich anfassen?« krächzte Dyla. »Bitte«, machte er verblüfft. Vorsichtig tastete sie über sein Gesicht, fuhr dann mit beiden Händen über seine Haare und die Schultern und umfaßte zögernd den Zellaktivator. Der Arkonide bemerkte, daß sie zitterte. Aber wohl mehr vor Erregung als vor Furcht. Die Kinder glichen einander wie Geschwister. Abgesehen davon, daß sie fast die gleiche kunstvoll gefertigte Kleidung trugen, waren alle vier auffällig weißblond. Das und ihre helle Hautfarbe mochte eine Folge der Umwelt sein, möglicherweise bedingt durch eine unbekannte Strahlung von Solists Sonne. »Du und Tyari, ihr seid anders als dieser fremde Emulator«, platzte Dyla heraus. »Zu euch fühle ich mich hingezogen.« »Ehennesi ist zu fremdartig«, erwiderte die Frau. »Kein Wunder, daß du bei seinem Anblick erschrickst.« »Nein«, wehrte Menizza ab. »Es kommt nicht auf das Äußere eines Wesens an. Das jedenfalls sagen die Emulatoren, die uns aufgezogen haben.« »Wo sind eure Eltern?« fragte Tyari verblüfft. »Tot«, sagte Jauter. »Alle?«
Der Junge nickte heftig. »Sie starben bei unserer Geburt. Und für sie kamen Emulatoren. Nur Ehennesi ist anders.« »Weil er kam, ohne daß einer von euch starb?« »Vielleicht«, meinte Menizza. »Ich weiß es nicht.« »Kann euer Schiff wirklich wie ein Vogel am Himmel fliegen?« wollte Jauter wissen. »Das und noch vieles mehr«, lachte Atlan. »Dürfen wir es sehen? Ich meine, von innen.« Einer plötzlichen Regung folgend, nahm der Arkonide Dyla auf den Arm. Es wäre schön gewesen, selbst Kinder zu haben – sogar für einen wie ihn, der die relative Unsterblichkeit besaß. »Warum eigentlich nicht?« sagte er. * Die Emulatoren akzeptierten Ehennesi als einen der Ihren, und sie verstanden seine Gründe, weshalb er den Weg nach Solist gesucht hatte. »Was in unserer Macht steht, werden wir tun, um den Männern und Frauen auf der MJAILAM zu helfen«, sagten sie. »Du hast uns überzeugt, daß sie keine Verbrecher sind.« »Ich weiß euer Angebot zu schätzen.« Ehennesi war dennoch die Enttäuschung anzumerken. »Aber eigentlich hoffte ich, mehr auf Solist zu finden. Eine Waffe, gegen das Böse, gegen den Rat der Pagen.« »Du verlangst viel.« »Nicht zuviel. Ich weiß, daß Solist ein Geheimnis birgt. Oder bemüht ihr euch nicht, die Kinder vor sich selbst zu beschützen?« Kitts Echsenschädel zuckte vor und verharrte unmittelbar vor Ehennesi. »Was weißt du?« zischte er. »Nur wovon viele unserer Art sprechen, ohne daß es den meisten vergönnt ist, die Wahrheit zu erfahren. Ich bin älter als die Legende von Solist, die von jenen Emulatoren berichtete, deren Völker
untergegangen sind. Für sie, heißt es, ist dieser Planet eine Zuflucht.« »Die Legende mag einen wahren Kern besitzen«, sagte Der‐mit‐ dem‐unaussprechlichen‐Namen, »doch in einem Punkt irrt sie. Solist bedeutet keine Zuflucht, sondern wird uns allen irgendwann zum Schicksal werden.« »Unsere Geschichte ist zugleich die der Kinder«, warf Sirhat ein. »Die Gesetze der Namenlosen Zone machen uns voneinander abhängig.« Nicht ein einziges Mal unterbrach Ehennesi das Spinnenwesen, als es berichtete. Obwohl die Erzählung nur unvollkommen sein konnte, wie eben alle Überlieferungen im Lauf von Jahrhunderten vielerlei Veränderungen erfahren, berichtete sie von den Grundzügen eines jeden intelligenten Wesens, von Gut und Böse. Ausschließlich der Polarisation dieser beiden Werte verdankten die Emulatoren ihr Dasein. »… das von dir erwähnte Geheimnis von Solist kann nur mit der früheren Gedenkstätte identisch sein«, schloß Sirhat. »Sie liegt etliche Tagesreisen weit im Norden am Rand des großen Sumpfwaldes und geriet schon von Jahrzehnten in Vergessenheit. Wir halten es für besser, den Kindern nichts von ihrer Herkunft zu erzählen. Denn vielleicht ist diese Vergangenheit der Fluch, der sie sterben läßt, sobald sie selbst Kinder in die Welt setzen.« »Ich muß die Gedenkstätte sehen«, sagte Ehennesi. Sirhat wehrte gestenreich ab. »Auch wir bemühen uns, zu vergessen. Dein Versuch, mehr zu erfahren, würde unnötige Gefahren heraufbeschwören.« »Der Fluch des Sterbenmüssens kann nur dort beseitigt werden, wo das Böse begann.« »Viele Emulatoren vor uns haben es vergeblich versucht«, wehrte Kitt ab. »Weil ihnen eines fehlte: Menschen, die bereit sind, für ihresgleichen sogar das Leben einzusetzen. Die Solaner, mit denen
ich nach Solist kam, sind solche Menschen.« »Du willst, daß wir dir helfen, die Gedenkstätte zu sehen, und daß wir uns mit den Fremden aus dem Sternenschiff zusammentun?« fragte Kitt. »Dann bereite dich darauf vor, deinen Geist in die Ferne zu schicken.« Die elf Emulatoren bildeten einen Kreis um ihn. Der melodische Gesang, den sie anstimmten, sollte alles Belastende fernhalten, damit ihre besonderen Fähigkeiten sich entfalten konnten. Ehennesi spürte die auf ihn überströmenden psionischen Energien. Er schloß die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Als würde ein dunkler Vorhang zerreißen, umfloß ihn plötzlich blendende Helligkeit. Aber nur für wenige Sekunden. Ein kurzer, ziehender Schmerz beendete diesen Zustand zwischen Traum und Wachen. Ehennesi sah sich selbst, sah, wie er den Kopf hob und nach oben blickte. Aber das war nur sein Körper – der Geist glitt in Gedankenschnelle dahin. Nach Norden. Eine etliche hundert Meter hohe, sanft gerundete Erhebung fesselte seine Aufmerksamkeit. Zugleich wußte er, daß dies die Gedenkstätte war. Schlingpflanzen hatten von ihr Besitz ergriffen und ließen nur hie und da noch mattes Metall erkennen, das bewies, daß dieser Berg keineswegs natürlichen Ursprungs war. Selbst meterdicker Stahl bedeutete für Ehennesis Geist keinen Widerstand. Da war etwas, das auf ihn wartete. Es verstand, was er sagte und gehorchte seinen Befehlen, wie es vor langer Zeit seinen längst verstorbenen Erbauern gedient hatte. Zufrieden kehrte Ehennesi in seinen Körper zurück. * Die Kopfschmerzen kamen so unverhofft, daß Atlan verhalten aufstöhnte. Eben erst hatte er mit Tyari und den Kindern die Schleusenkammer verlassen. Sie zeigten sich zwar ängstlich, aber
die Neugierde dominierte. Der Arkonide sah ihre Blicke auf sich gerichtet. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nicht ein einziges Wort hervor – als würde eine fremde Macht von ihm Besitz ergreifen. In seinen Gedanken entstanden Bilder, die er kannte, die er erst vor kurzem auf einem Bildschirm in der Zentrale gesehen hatte. Es waren Bilder der BRISBEE … MOSAIK Die BRISBEE war im Bau gewesen, als das Konzil der Sieben durch die Laren seinen Anspruch auf die Milchstraße anmeldete. Monate später hatte eine Handvoll Terraner den Raumer der IMPERIUMS‐Klasse in einem Handstreich von dem Werftplaneten entführt, um ihn dem Zugriff der Fremden und der Überschweren zu entziehen. Von Walzenraumschiffen verfolgt, war ihnen trotz mangelhafter Ausrüstung und Bewaffnung die Flucht durch den Linearraum gelungen. In den Folgemonaten hatte die BRISBEE sich im Ortungsschatten vieler Sonnen verbergen müssen. Die Besatzung war zu klein, um einen offenen Kampf aufzunehmen. Der Versuch, Atlan zu finden, von dem man wußte, daß er sich noch irgendwo in der Milchstraße aufhielt, mißlang. Anfang Mai des Jahres 3.460 waren zwei Agrarwelten im galaktischen Westarm angeflogen worden, um die mittlerweile zur Neige gehenden Nahrungsvorräte zu ergänzen und endlich die Besatzung zu vervollständigen. Beides hatte sich mehr oder weniger als Fehlschlag erwiesen. Bedingt durch die herrschende Krise erzeugten die Siedlungswelten kaum noch genügend Verbrauchsgüter, um sich selbst am Leben zu erhalten. Außerdem stellte sich heraus, daß nur eine Handvoll der dort angesiedelten Männer und Frauen jemals ein anderes Raumschiff von innen gesehen hatte als den Transporter, der sie vor Jahren zu ihrem neu erworbenen Land gebracht hatte. Die Landung auf Startrupp schließlich war der größte Fehler gewesen. Jonas Logan, selbsternannter Kommandant der BRISBEE, blickte mißmutig in die flimmernde Abstrahlmündung der auf ihn
gerichteten Waffe. Keiner von seinen Leuten hatte eine Chance gehabt, das Geschehene zu verhindern. Aber nicht das hatte ihn zutiefst getroffen, sondern vielmehr die Tatsache, daß auch jetzt noch Menschen gegen ihresgleichen kämpften, obwohl die Laren wahrscheinlich der gefährlichste Gegner in der Geschichte des Solaren Imperiums waren. Mit zigtausendfacher Lichtgeschwindigkeit raste die BRISBEE durch die Librationszone, jene Dimension zwischen Einstein‐ Universum und Hyperraum. Zielstern war irgendeine Sonne in Richtung des intergalaktischen Leerraums. Auf Startrupp waren weit mehr als 2000 Siedler an Bord gekommen. Wieviele von ihnen mit den Entführern sympathisierten, vermochte Logan nicht abzuschätzen. Er wußte nur, daß alle wichtigen Stationen sich in ihrer Hand befanden. »Orientierungsaustritt erfolgt in zwei Minuten«, meldete die Positronik. Der Kommandant führte eine Reihe von Schaltungen durch, deren einzig sichtbare Folge die Einblendung von Koordinaten auf einem Monitor war. »Was machen Sie da?« fuhr Jurte Halbough auf. »Ich kontrolliere die Kursdaten für den Rücksturz«, sagte Logan. Halboughs Gesichtszüge verzerrten sich. »Halten Sie mich nicht für dumm«, fauchte er. »Ich bin durchaus in der Lage, den Versuch einer Kursänderung zu erkennen.« Dorian Grey, der vor wenigen Minuten erst die Zentrale betreten hatte, schien zumindest Jurtes letzte Worte mitgehört zu haben. »Wenn wir auch die nächste Etappe hinter uns haben, dürften wir vor den Laren sicher sein«, wandte er sich an Halbough. Die BRISBEE fiel in den Normalraum zurück. Mit bloßem Auge war nur ein verschwommener Fleck zu sehen – die Nachbargalaxis Andromeda. Herausfordernd spielte Halbough mit dem Strahler. »Ich denke, Logan, Sie löschen jetzt die veränderte Programmierung«, sagte er scharf. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Alarm durch
das Schiff gellte. * Gleich nach dem Start von Startrupp waren Thomas Caddington und seine Tochter Grace in eine der Mannschaftskabinen gesperrt worden, und seitdem kümmerte sich niemand mehr um sie. Grey hatte nicht versäumt, den Interkomanschluß unbrauchbar zu machen. Lediglich eine einzige Verbindung ließ sich noch herstellen. »Falls Sie etwas brauchen«, hatte Grey gesagt. »Entweder Bary oder Smiler werden am anderen Ende sein.« Das Mädchen weinte leise vor sich hin. Die Ereignisse der vergangenen Tage waren für sie nur schwer zu bewältigen. Zunächst hatte sie noch den so dringend benötigten Schlaf gefunden, war dann aber immer wieder durch Alpträume aufgeschreckt. »Dad?« murmelte sie leise. »Es wird alles gut, nicht wahr?« Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Obwohl er oft darüber nachgegrübelt hatte, war er jetzt froh, daß Grace das wirkliche Ausmaß ihrer Krankheit nicht kannte. Ob er diesem Grey vertrauen durfte? Immerhin war er Zeuge gewesen, wie die Verbrecher kaltblütig drei Menschen erschossen hatten. Sie würden es sich nicht erlauben können, ihn und das Mädchen laufenzulassen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Er wußte nicht, wieviele Siedler von Startrupp sich an Bord befanden, aber wenn sie erfuhren, was gespielt wurde, stand bestimmt die Mehrheit auf seiner Seite. Mit seinen Vermutungen, daß lediglich eine Handvoll Krimineller die personelle Situation auf der BRISBEE ausgenutzt hatte, um sich in den Besitz des Schiffes zu bringen, traf er die Wahrheit ziemlich genau. »Grace«, sagte er, »du mußt mir helfen, damit wir das alles bald vergessen können. Meinetwegen schreie oder fange an zu toben, es
muß nur echt wirken.« Langsam wandte sie ihm den Kopf zu. In ihrem Gesicht drückte sich die Mutlosigkeit aus, die sie empfand. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« fragte Caddington. Grace nickte schwer. Im nächsten Moment stieß sie schrille Schreie aus und begann, wie besessen um sich zu schlagen. Mit zitternden Fingern stellte ihr Vater die einzig mögliche Interkomverbindung her. »Was wollen Sie?« fuhr Smiler Johnson ihn an. Dann stutzte er. »Ist das Ihre Tochter, die so tobt? Kümmern Sie sich selbst darum, das geht mich nichts an.« »Warten Sie«, rief Caddington, bevor der andere abschalten konnte. »Grace ist noch ein Kind. Bringen Sie mir wenigstens beruhigende Medikamente!« Gut zehn Minuten vergingen, bis das Schott sich öffnete. Das Mädchen wimmerte nur noch leise vor sich hin. »Hat sie sich beruhigt?« fragte Johnson. »Mann, ich verstehe ohnehin nicht, was das Theater mit euch noch soll.« »Wie meinen Sie das?« machte Caddington verwundert. »Glauben Sie Narr wirklich, daß Dorian vorhat, Sie auf einer unserer Welten abzusetzen? Wir sind längst auf dem Weg nach Andromeda. Bleiben Sie, wo Sie sind, ich warne Sie.« Der jäh aufheulende Alarm erschreckte Johnson, und Caddington zögerte nicht, die sich bietende Chance zu nutzen. Aus dem Stand heraus schnellte er vor und rammte Smiler den Ellbogen in die Seite. Der Mann taumelte gegen den Schottrahmen und riß seinen Strahler aus dem Halfter. Verbissen versuchte Caddington, dem die Verzweiflung ungeahnte Kräfte verlieh, ihm die Waffe zu entwinden. Dumpf fauchend löste sich ein Schuß. Caddington spürte eine fürchterliche Hitze seinen Handrücken verbrennen, dann brach der Gegner vor ihm zusammen. Er nahm den Strahler an sich und zog Grace hinter sich her. Wenn er das Mädchen zurückließ, kam er zwar schneller voran, lief aber Gefahr, daß Grey und die anderen sie erneut als Geisel
verwendeten. Was der Alarm zu bedeuten hatte, war ihm im Moment egal. Der Korridor lag verlassen vor ihm. Er mußte Menschen finden, die er kannte, und die ihm halfen. Immerhin ging es auch um deren Zukunft. * Zwei Kampfschiffe der Überschweren waren aus dem Linearraum aufgetaucht und näherten sich der BRISBEE. Jeder der beiden Walzenraumer war sechshundert Meter lang und durchmaß einhundert Meter. »Unternehmen Sie etwas, Logan!« befahl Grey. »Beschleunigen Sie!« »Wir können es unmöglich schaffen. Die Überschweren stehen zu nahe. Uns bleibt nur die Wahl, zu kämpfen.« »Sie lügen.« »Bitte«, machte der Kommandant, »es steht Ihnen frei, das Gegenteil zu beweisen.« Die ersten lichtschnellen Impulsbahnen zuckten heran und wurden von der Positronik auf den Schirmen sichtbar gemacht. Nur Sekundenbruchteile später begannen die aktivierten Schutzschirme aufzuglühen. Die Belastungsanzeigen schnellten bis auf Werte von über 80 Prozent empor. »Feuer frei!« befahl der Kommandant. »Wir setzen uns mit allem zur Wehr, was wir haben. Ich fürchte nur«, fügte er wesentlich leiser hinzu, »das ist nicht genug. Grey, Sie und Ihre Leute sollten uns helfen, anstatt uns zu behindern. Wir sitzen schließlich im selben Boot.« »Die Situation wird sich auch wieder ändern. Mit ihrer Masche hätten Sie gestern vielleicht noch Erfolg gehabt, mittlerweile haben wir uns nicht nur wegen Bankraub sondern vor allem wegen
mehrfachen Mordes zu verantworten. Glauben Sie, ich will meinen Lebensabend in irgendeiner Strafkolonie verbringen? Andromeda ist unter diesen Umständen der einzige Ort, der mir nicht nur die Freiheit, sondern sogar Macht verspricht. Mit der BRISBEE werden wir in der Lage sein, ein eigenes kleines Imperium aufzubauen.« Erste Strukturrisse entstanden im Schutzschirm. Überschlagsenergien versetzten die Schiffshülle in Schwingungen und erzeugten ein dumpfes Dröhnen. Wo eben noch die Schwärze des intergalaktischen Leerraums war, zeichnete sich plötzlich das grelle Leuchten dreier winziger Sonnen ab. »SVE‐Raumer!« stieß der Kommandant entsetzt hervor. »Gegen die haben wir keine Chance.« »Gehen Sie in den Linearraum!« befahl Grey. »Das wäre Selbstmord. Unsere Geschwindigkeit ist viel zu gering für einen Übertritt.« »Leiten Sie den Linearflug ein, oder ich schieße Sie nieder«, zischte Grey aufgebracht. »Wenn ich die Wahl habe zwischen zwei Gefahren, wähle ich die, die mir die größeren Chancen läßt.« »Sie müssen wahnsinnig sein.« Ein unmißverständlicher Wink mit der Waffe ließ Logan verstummen. Sekundenbruchteile später schien eine Titanenfaust nach der BRISBEE zu greifen; begleitet von einem infernalischen Heulen bäumte das Schiff sich auf. * Das Gefühl, in einen endlosen, düsteren Schacht zu stürzen, endete abrupt. Dorian Grey war einer der letzten, die die Besinnung wiedererlangten. Gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß der Kommandant ihn überwältigte. In dem Moment wurde eine Stimme laut, die über Rundspruch überall im Schiff zu hören war. »Hier spricht Thomas Caddington,
Vorsitzender der Regierungskommission von Startrupp. Verbrecher haben die BRISBEE in ihre Hände gebracht, um uns nach Andromeda zu entführen. Ich fordere jeden auf, sich diesen Männern und Frauen mit allen Mittel entgegenzustellen.« Dorian Grey lachte heiser. »Los, Kommandant, sagen Sie ihnen, was auf Meuterei steht. Wir fliegen zur Nachbargalaxis, weil wir nur dort vor den Laren und deren Helfern sicher sind. Wer das nicht begreift, ist selbst schuld.« Jonas Logan schwieg. »Ich wiederhole mich nicht gern«, fauchte Grey. Als der Kommandant der Aufforderung auch dann noch nicht nachkam, schlug er mit dem Strahler zu. Eine Platzwunde quer über die Stirn, brach Logan zusammen. »Du«, winkte Grey einen Mann heran. »Du hast gehört, was ich will. Und du, Bary, sieh nach, wieso Caddington entkommen konnte. Falls du seine Tochter erwischst, nimm sie dir vor.« »… schließt euch Caddington an«, rief der Mann von der Besatzung über den Interkom. »Wir dürfen nicht aufge …« Grey schoß ihn kaltblütig nieder. Es kam zum Tumult in der Zentrale, aber kaum jemand hatte eine Chance. Die meisten resignierten. Überall im Schiff brachen Kämpfe aus. Wo Bewaffnete angetroffen wurden, gingen die Passagiere von Startrupp sogar mit bloßen Fäusten gegen sie vor. Innerhalb weniger Minuten gab es mindestens 100 Tote und Verwundete. Aber auch einige von Greys Leuten wurden niedergestreckt. Die Passagiere bewaffneten sich, und spätestens nach der Plünderung eines Depots wurden sie ernst zu nehmende Gegner. Von der Zentrale aus versuchte Grey, Unruhe zu schüren, und seine Hetzreden entbehrten keineswegs eines wahren Kerns. In der Milchstraße herrschten die Laren – wer vernünftig war, zog es vor, sich in Freiheit eine neue Existenz aufzubauen. Andromeda bot alle Voraussetzungen dafür. Macht, Reichtum und Abenteuer lockte manchen. Aber würden die Laren nicht eines Tages auch die
Nachbargalaxis heimsuchen? Dorian Grey verschwieg diese Befürchtung, weil er sie selbst nicht wahrhaben wollte. Während die BRISBEE mit unvermindert hoher Geschwindigkeit durch den Linearraum raste, rissen Explosionen im Ringwulstbereich die Außenhülle auf. Da kaum jemand wußte, wie die Sicherheitsabschottung auf die betroffenen Decks wenigstens für einige Sekunden aufzuhalten war, wurden viele, denen jäh die Fluchtwege versperrt waren, vom Vakuum eingeholt. Eine Katastrophe begann sich anzubahnen. Schlagartig verschwanden nicht nur die schattenhaften Lichterscheinungen des Linearraums von den Bildschirmen, sondern auch der verwaschene Fleck der Andromeda in Zielrichtung. Trotz aktivierter Neutralisatoren wurden hohe Andruckkräfte wirksam, die weitere Verletzte forderten. Die Aufzeichnungen dieser Flugphase ließen später zumindest ahnen, daß die BRISBEE von einem gewaltigen energetischen Strudel verschluckt und durch den Raum und Zeit gewirbelt worden war – einem unbekannten Ziel entgegen. Sämtliche Uhren an Bord blieben stehen … … und gingen erst wieder, als der Strudel die BRISBEE freigab. Andromeda und die Milchstraße waren verschwunden. Selbst die Ortungen lieferten keinen Hinweis darauf, wo man sich befand. Unter dem Eindruck dieser offenbar unabänderlichen Tatsache kam es zu einem vorläufigen Waffenstillstand. Nur vereinzelt gab es noch Auseinandersetzungen, die aber keine Menschenleben mehr forderten. Niemand vermochte zu sagen, ob die BRISBEE sich nur für Sekundenbruchteile in dem energetischen Chaos befunden hatte, für Minuten, Tage oder gar Wochen. Der objektive Eindruck war so verschieden, daß kaum zwei gleiche Meinungen laut wurden. Schon nach Stunden stand fest, daß das Schiff in einen unbekannten Raum verschlagen worden war. Es existierten keine Sterne, keine Galaxien – einfach nichts. Gerüchte von einem grausamen Fluch machten die Runde.
Manche erinnerten sich an Kain und Abel und gaben den Kämpfen an Bord die Schuld. Dennoch brachen erneut Streitigkeiten aus, bis Tage später unvermutet eine gelbe Sonne mit einem einzelnen Planeten entdeckt wurde. Diese Welt, man nannte sie Solist, bot angenehme Lebensbedingungen. Und trotz einer reichhaltigen Fauna und Flora hatte sie keine eigene Intelligenzen hervorgebracht. Mit jedem Tag wuchs die Schar von Dorian Greys Anhängern. Nach und nach sah wohl jeder ein, daß es besser war, unter seinem Befehl zu leben, als sich ihm zu widersetzen und eines gewaltsamen Todes zu sterben. Die BRISBEE hatte beträchtliche Schäden erlitten. Über ein halbes Jahr nahmen die Reparaturarbeiten in Anspruch, und noch vor ihrem Abschluß war das erste freudige Ereignis zu verzeichnen. Susan Amoth schenkte einem strammen Knaben das Leben. Das Kind war Bary, der sich nur schwer mit der Vaterrolle abfand, wie aus dem Gesicht geschnitten. * Irgend jemand hatte aus Metall, Holz und viel Stoff eine Wiege gebastelt und diese zu Susan auf die Krankenstation gestellt. So konnte die Mutter ihr Baby nach der verhältnismäßig schweren Geburt ständig bei sich haben. Schiffe wie die BRISBEE waren eben nicht für solche Vorfälle ausgerüstet. Der Kleine schlief fast den ganzen Tag über, und Susan Amoth war froh, daß sie ebenfalls ein wenig Ruhe fand. Doch als der Säugling plötzlich zu wimmern begann, schreckte sie auf. Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, wurde übermächtig. Susan glaubte, das Geräusch verhaltener Atemzüge zu vernehmen, das vom Schott her kam. Schwerfällig wandte sie sich um … … und erstarrte. Unmittelbar neben dem Eingang stand eine
Kreatur, wie sie nur einem Alptraum entsprungen sein konnte. Sie war höchstens 1,20 Meter groß, dafür aber fast ebenso breit. Beine und Arme waren nicht voneinander zu unterscheiden – ein Ring von multiplen Tentakeln zog sich rund um die Körpermitte. Der Kopf glich einem pulsierenden Etwas von unbestimmter Form. Susan schrie gellend auf; das Baby begann zu brüllen. Nur Sekunden später stürzte ein Arzt in das Krankenzimmer. »Ich weiß nicht, was es ist«, krächzte die Frau, »aber es ist schrecklich. Sehen Sie.« Der Arzt folgte ihrem ausgestreckten, zitterndem Arm mit den Augen. »Da ist nichts«, sagte er beruhigend. »Sie sollten versuchen, zu schlafen.« »Aber ich …« Susan war zu schwach, um zu widersprechen. Das Zischen einer Hochdruckinjektion war das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüberglitt. Als sie ausgeruht erwachte, war die Kreatur wieder da. Auch Bary, der soeben den Raum betrat, sah sie. Er schoß sofort, doch er konnte das Wesen nicht töten. Im nächsten Moment verschwand die Kreatur spurlos. Am Nachmittag desselben Tages starb Susan Amoth ohne ersichtlichen Grund. Die Diagnose lautete auf Herzstillstand. Als auch Bary kurz darauf einen Kreislaufzusammenbruch erlitt, war dies Anlaß für vielerlei Spekulationen. Er erholte sich nicht mehr, und während der Fremde erneut beim Baby gesehen wurde, starb er. Panik kam auf. Die häßliche Kreatur ließ sich nicht vertreiben und erwies sich als immun gegen jede Art von Waffen. Selbst Dorian Grey war bald bereit, an einen Fluch zu glauben. Er befahl den Start der BRISBEE. Aber das Schiff kam nur wenige Lichtminuten weit. Sämtliche Versuche, das Sonnensystem zu verlassen, scheiterten an einer undurchdringlichen, unsichtbaren Sperre, die Solist und sein Muttergestirn völlig einschloß. Beim Einsatz sämtlicher Waffensysteme havarierte das Schiff erneut durch reflektierte
Energien. Nur mit Mühe gelang es, den Planeten wieder anzusteuern, wo die BRISBEE nach einem Teilausfall ihrer Triebwerke am Rande eines weiten Sumpfgebiets abstürzte. Die Überlebenden waren gezwungen, auf Solist zu siedeln, wobei die Natur des Planeten ihnen weitgehend entgegenkam. Grey und seine Leute setzten ihren Willen nach wie vor durch. Die nächsten Kinder wurden geboren, und schon bald nach jeder Geburt erschien ein unbeschreibliches Fremdwesen. Keines glich dem anderen; sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte, und waren durch nichts aufzuhalten. Immer mehr Menschen starben ohne ersichtlichen Grund. Daß ihre Kinder am Leben blieben, war in den entstehenden Wirren kein Trost. Apathie breitete sich aus, nachdem die Fremden sich der Neugeborenen angenommen hatten, um ihnen die Eltern zu ersetzen. Sie nannten sich selbst Emulatoren. Wiederholt kam es zu flüchtigen Verständigungen zwischen ihnen und den Siedlern. Es stellte sich heraus, daß sie der menschlichen Tragödie, die jeder Geburt folgte ebenso hilflos gegenüberstanden, daß auch ihnen das Geschehen unbegreiflich war. Auf den Passagieren der BRISBEE schien tatsächlich ein Fluch zu lasten, und auf ihren Kindern ebenfalls. Von Generation zu Generation wurden sie weniger. Die Zahl der Emulatoren richtete sich dabei stets nach der Zahl der Kinder. Sie, die von sich sagten, kein Volk mehr zu haben, erschienen kurz nach jeder Geburt und verschwanden, sobald der von ihnen aufgezogene Mensch starb, weil er selbst Nachwuchs in die Welt gesetzt hatte. Unter sich überlieferten die Emulatoren das frühere Geschehen weiter. Nur den Menschen verschwiegen sie deren Herkunft, weil sie in dem sinnlosen Morden an Bord der längst von Sumpfpflanzen überwucherten BRISBEE die Ursache allen Übels sahen. Ihre Hoffnungen indes, daß die längst positiv gewordenen Nachkommen jener Kriminellen eines Tages zusammen mit ihren Kindern alt werden konnten, erfüllten sich nicht.
5. »Ehennesi kommt zurück«, sagte Uster Brick überrascht. »Und er ist nicht allein. Es hat ganz den Anschein, als möchten die Emulatoren an Bord kommen.« »Na also«, nickte Atlan. »Hole sie mit dem Antigrav in die Schleuse.« »Aber …«, begann Brick und hob die Schultern. »Ich weiß nicht recht. Womöglich verdanken wir ihnen das Wissen über die BRISBEE – immerhin begann die erste Aufzeichnung, nachdem wir die Schockfront überwunden hatten. Niemand kann uns sagen, ob wir wirklich die Wahrheit erfahren haben oder einer Lüge aufgesessen sind.« »Das ist dasselbe unbegründete Mißtrauen, das alle Ehennesi entgegengebracht haben. Nun mach schon.« Die Begegnung, in die auch die auf der MJAILAM anwesenden Kinder miteinbezogen wurden, verlief friedlich und in angenehmer Atmosphäre. Der‐mit‐dem‐unaussprechlichen‐Namen entschuldigte sich für alle Emulatoren, daß sie Atlan und Tyari angegriffen hatten. Aber ihnen war das Wohl der Kinder am Herzen gelegen, die nicht wie ihre Vorfahren zu Verbrechern werden durften. »Wir sollten gemeinsam versuchen, das Beste aus der Vergangenheit zu machen«, schlug Ehennesi vor. »Ich bin überzeugt davon, daß die Gedenkstätte der BRISBEE Geheimnisse birgt. Der Fluch des Sterbens kann nur von dort ausgehen.« »Eine Gedenkstätte?« machte Jauter überrascht. »Wir haben nie davon gehört. Was ist das?« »Das Raumschiff, mit dem eure Ahnen vor Jahrhunderten nach Solist verschlagen wurden«, erklärte Ehennesi. »Ist es so groß wie die MJAILAM?« wollte Lara wissen. »Viel größer«, sagte der Zhu‐Umlat.
»Dann zeigt es uns; wir haben nie davon gehört.« »Besser, ihr bleibt der BRISBEE fern«, warnte das Spinnenwesen Sirhat. »Der Weg nach Norden ist anstrengend und gefährlich.« »Wir fliegen mit der MJAILAM«, schlug Atlan vor. »In einer halben Stunde sind wir am Ziel.« »Zuvor holen wir Desmon, Frago und die anderen«, stieß Menizza eifrig hervor. »Sie sollen auch dabei sein. Oder glaubst du, die meisten von ihnen sind noch zu klein?« Lächelnd schüttelte der Arkonide den Kopf. »Wir warten am besten bis morgen«, sagte er. »Immerhin bricht die Nacht bald herein.« * Es war kurz nach Mitternacht, als Atlan endlich Zeit fand, sich in seine Kabine zurückzuziehen. Den Emulatoren waren Einzelunterkünfte zugewiesen worden. Die stundenlangen Gespräche mit ihnen hatten kaum noch Neues erbracht. Angeblich waren sie es nicht, die den Solanern auf der MJAILAM das Wissen über die BRISBEE mosaikartig zugespielt hatten. Atlan zweifelte zwar an ihrer Aussage, sein Extrasinn behauptete aber, daß sie die Wahrheit sagten. Die Arme hinter den Kopf verschränkt, lag er noch lange wach und grübelte. Seine Gedanken drehten sich um die Namenlose Zone. Schließlich verfiel er in einen leichten Schlaf. Der Extrasinn weckte ihn. Obwohl Atlan keine telepathischen Fähigkeiten besaß, nahm er eine bekannte Ausstrahlung auf. Aber erst als er die Beleuchtung aktivierte, erkannte er Daug‐Enn‐Daug, der in der Mitte des Raumes stand und ihn aus seinen starren Facettenaugen musterte. »Ich bin gekommen, um dich zu warnen«, erklärte der Vulnurer. »Du vertraust mit Ehennesi dem Falschen, und wenn du ihm folgst,
wirst du in dein Unglück fliegen.« »Wo warst du?« wollte Atlan wissen. »Du würdest es nicht verstehen.« »Aber du willst, daß ich dir glaube?« Daug‐Enn‐Daug vollführte eine zustimmende Handbewegung. »Nein«, sagte der Arkonide. »Mein gesunder Menschenverstand rät mir, dich als Gegner einzustufen.« »Weil Ehennesi es geschafft hat, dich und alle anderen in seinem Sinn zu beeinflussen.« »Hast du Beweise dafür?« »Leider nein. Aber du suchst nach dem, der dir das Mosaik übermittelt hat. Das war ich, weil ich der Ansicht war, das Wissen würde dir helfen, richtig zu entscheiden. Die BRISBEE geriet während eines unkontrollierten Fluges in den Einfluß eines ›Sammelbeckens des Bösen‹ und wurde in die Namenlose Zone gezogen. Die Geburt jedes unschuldigen und damit nicht‐negativen Kindes lockte im Gut‐Böse‐Kräftespiel jeweils einen Emulator an, dessen Volk untergegangen war. Weshalb das so ist, konnte ich nicht herausfinden. Vermutlich sind die unbegreiflichen Kräfte der Namenlosen Zone dafür wie auch für den frühzeitigen Tod der Menschen verantwortlich. Einst mochte die Schockfront von Solist dazu gedient haben, die Verbrecher auf dem Planeten festzuhalten – inzwischen hat ihre Funktion sich umgekehrt. Heute weist sie in erster Linie Böses ab, das sich von außen her nähert. Vergiß nicht die Schwierigkeiten der MJAILAM, in das Solist‐System einzudringen.« »Trotzdem haben wir es geschafft«, winkte Atlan ab. »Mein Entschluß steht fest. Wir fliegen die BRISBEE an. Immerhin vertrauen auch die anderen Emulatoren Ehennesi.« »Sieh dich vor, Atlan.« Daug‐Enn‐Daug verschwand so überraschend, wie er gekommen war. *
Zwei Stunden nach Sonnenaufgang startete der Kreuzer, stieg bis in die oberen Luftschichten auf und legte die Entfernung von rund 2.000 Kilometern mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit zurück, um schon nach kurzer Zeit in der Nähe der BRISBEE niederzugehen. Atlan stellte einen aus zehn Solanern bestehenden Erkundungstrupp zusammen, den er selbst anführte. Die Emulatoren und Ehennesi bestanden darauf, ihn zu begleiten. Er hatte keine Möglichkeit, ihnen die Bitte abzuschlagen, wohl aber den Kindern, die ebenfalls das unter einer dicken Schlammschicht begrabene Wrack betreten wollten. Auf der Suche nach einer begehbaren Schleuse wurden die überall üppig wuchernden Pflanzen mit Desintegratoren beseitigt. Man hielt sich unterhalb des Ringwulsts und stieß sehr schnell auf eine kleine Mannschleuse. Schon jetzt zeigte sich, daß die BRISBEE nur in einer Art Dornröschenschlaf lag. Obwohl das Schiff tot wirkte und die Energieortung der MJAILAM keine Werte erbracht hatten, glomm in der engen Schleusenkammer eine trübe Notbeleuchtung. Die Luft schmeckte schal und roch nach Moder und Sumpfgasen. Durch einige Lecks in der Außenhülle waren Schlamm und Pflanzensamen eingedrungen. In vielen Korridoren entlang der Peripherie wucherten mutierte, fast weiße Sträucher, deren Wurzeln offensichtlich die Fähigkeit besaßen, selbst Terkonitstahl und Plastik anzugreifen und aufzulösen. Um rasch einen größeren Überblick zu gewinnen, teilte Atlan mehrere kleine Gruppen ein, die über verschiedene Hauptdecks zur Zentrale vorstoßen sollten. Zum Glück besaß das Wrack keine nennenswerte Schräglage, so daß es kaum zu Behinderungen kam. Leichte, kaum wahrnehmbare Vibrationen durchliefen den Boden. Das konnte nur bedeuten, daß einige der großen Energieerzeuger wieder arbeiteten. Möglicherweise hatte das Eindringen der Solaner einen unbekannten Mechanismus ausgelöst, vielleicht sogar eine Selbstzerstörungsanlage.
»Alle verlassen das Schiff!« befahl Atlan. »Wenn uns noch Zeit bleibt, schicken wir Spezialroboter herüber!« * Obwohl sie von Fremden aufgezogen wurden, waren die Kinder wie alle in ihrem Alter, egal ob auf Terra, Siga, auf Arkon oder Boscyks Stern. Sie konnten still und unauffällig sein, konnten angespannt zuhören, wenn ihnen Neues erklärt wurde, aber auch zu Quälgeistern werden, wenn man ihnen verwehrte, was ihnen ihrer Meinung nach zustand. Tyari und Uster Brick mußte diese Erfahrung schon bald machen, nachdem Atlan und die Emulatoren von Bord gegangen waren. Vor allem. Jauter und Menizza drängten darauf, daß sie die BRISBEE aus der Nähe sehen durften. Immerhin war die MJAILAM gut drei Kilometer entfernt gelandet, und auf den Bildschirmen war wegen des Dschungels nicht sehr viel von dem großen Raumschiff zu erkennen. »Du kannst uns den Wunsch nicht abschlagen«, sagte Jauter. »Die BRISBEE ist unser Erbe. Wir wollen ihr wenigstens für kurze Zeit so nahe sein wie möglich.« Tyari mußte nachgeben. Aber sie bestand darauf, die Kinder zu begleiten, und daß außerdem jedes von ihnen, auch die schon älteren Jugendlichen, ein Funkgerät mit sich führten. Schon die ersten Versuche mit den am Handgelenk getragenen kleinen Geräten riefen Begeisterung hervor und ließen das Unbehagen vergessen, das die Kinder trotz allen Wissensdursts auf der MJAILAM empfanden. Die Einflüsse ihrer Erziehung und vor allem der urwüchsigen Umwelt des Planeten Solist waren nicht zu leugnen. Alle elf Kinder besaßen einen ausgeprägten Charakter, ein sehr natürliches Verhalten, das die Solaner oft vermissen ließen, und vor allem eine enge innere Bindung an die Natur ihrer Welt. Es bereitete ihnen Freude, sich durch das dichte Unterholz zum Wrack
vorzuarbeiten. Einige hundert Meter vor der BRISBEE wurde der Untergrund trügerisch. Tyari verbot ihren Schützlingen, sich dem Schiff weiter zu nähern. Desmon und Dyla, er 15, sie 13, beide unzertrennlich, verstanden es geschickt, sich unauffällig von den anderen abzusondern. Sie hatten nur Augen für die BRISBEE. »Irgendwie muß es uns möglich sein, hineinzugelangen«, überlegte Desmon. »Ich will wissen, wie das Schiff, mit dem unsere Vorfahren kamen, im Innern aussieht.« »Wahrscheinlich nicht viel anders als die MJAILAM«, erwiderte Dyla. »Nur eben alles ein wenig größer.« Während sie unschlüssig waren, in welche Richtung sie sich wenden sollte, entstand in der überwucherten Hülle des Wracks eine Öffnung. Sie lag höchstens vier Meter über dem Boden. Ein einzelnes Wesen erschien in der Schleuse. »Das ist Ehennesi«, machte Dyla erstaunt. »Was mag er vorhaben?« Der Emulator hatte sie noch nicht gesehen. Sie folgten ihm, und da sie mit der Umwelt gut vertraut waren, blieben sie weiterhin unentdeckt. Im Schatten des Waldes verharrte Ehennesi. Er richtete ein nur faustgroßes technisches Gerät auf die BRISBEE, und wenig später begann der Schlamm und die Pflanzen von der Hülle des Schiffes abzufallen. Großflächig wurde blankes Metall sichtbar. »Ich traue ihm nicht«, raunte Dyla. »Er ist so anders. Wir sollten Atlan warnen.« * Irgendeine Veränderung ging vor sich. Wenn der Arkonide seinem Extrasinn glauben sollte, dann verwandelte sich die BRISBEE wieder in das, was sie vor über drei Jahrhunderten gewesen war: ein
Schlachtschiff der IMPERIUMS‐Klasse. Mitten in seine Überlegung hinein erreichte ihn auf dem Umweg über die MJAILAM der Funkspruch der beiden Kinder. Sofort nahm er bei den anderen Gruppen Rückfrage. Ehennesi war tatsächlich verschwunden. »Ich fürchte fast, wir haben ihm zu lange vertraut.« Aufgeregt meldete Uster Brick, daß die Energieortung auf der BRISBEE nahezu ein Viertel der Sollwerte anmaß. »Wir sind auf dem Rückweg«, rief Atlan. »Hole uns mit dem Kreuzer ab.« Begleitet von einem dumpfen, vom Ringwulst ausgehenden Rumoren, begann die BRISBEE sich zu schütteln. Als Atlan und die anderen die Schleuse endlich erreichten, durch die sie eingedrungen waren, zuckten bereits die ersten glühenden Impulsbahnen aus dem Triebwerksdüsen. Die MJAILAM schwebte nur wenige Meter über dem Wrack. Uster Brick holte den Arkoniden und seine Begleiter mit einem schwachen Traktorstrahl an Bord. Fast gleichzeitig erschienen auch Tyari und die Kinder am Waldrand. Es war beinahe schon zu spät, sie ebenfalls einzuschleusen. Wie ein stählernes, urweltliches Ungetüm erhob die BRISBEE sich aus dem Sumpf. Sie griff sofort an. »Alarmstart, Uster«, rief Atlan. »Aber zwei Kinder sind noch draußen.« Sie konnten keine Rücksicht nehmen. Eine Breitseite der BRISBEE aus allernächster Nähe brachte die Schutzschirme zum Flackern. Brick war gezwungen, den Kreuzer mit Höchstwerten zu beschleunigen, obwohl dieses Manöver in Bodennähe einen wahren Orkan auslösen mußte. Für einige Sekunden gewann er so eine Atempause, dann war der Angreifer wieder heran. »Wer fliegt die BRISBEE?« wollte jemand wissen. Atlan hatte selbst keine Ahnung – außer, daß dieses Geschehen irgendwie mit Ehennesi zusammenhing. Daß die MJAILAM noch existierte, war wohl nur dem Umstand zu verdanken, daß das Schlachtschiff einst
ohne ausreichende Bewaffnung von der Werft abgezogen worden war. »Feuer frei!« befahl Brick. Von Desmon und Dyla wurde ein kurzer, von Störungen überlagerter Funkspruch aufgefangen. Ehennesi hatte die beiden entdeckt und verfolgte sie. Atlan wurde blaß. »Wir können nicht landen, ohne unsere Vernichtung zu riskieren.« »Ticker hat deine Gedanken erfaßt«, sagte Tyari. »Er verläßt die MJAILAM; um einzugreifen.« Das adlergleiche Tier vom Arsenalplaneten besaß im Augenblick die größte Chance, die Kinder zu retten. Der Kampf gegen die BRISBEE forderte dem Piloten alles ab. Ein anderer als Uster Brick wäre vermutlich trotz der beschränkten Feuerkraft des Angreifers verloren gewesen. Er aber spielte wie ein Virtuose auf dem Instrumentarium der MJAILAM und verstand es, die Schwächen des Gegners geschickt auszunutzen. Eine Reihe von Treffern schränkte das Schlachtschiff in seiner Manövrierfähigkeit ein. Der Schlagabtausch verlagerte sich immer mehr in den freien Weltraum, bis einschließlich eine Reihe heftiger Explosionen die BRISBEE auseinanderbrechen ließ. Einzelne Bruchstücke, die wieder in den Anziehungsbereich von Solist gerieten, würden beim Eintritt in die Atmosphäre verglühen, ohne Schaden anzurichten. * Mit Ehennesi war eine erschreckende Wandlung vorgegangen. Sein Gesicht wirkte verzerrt, zudem strahlte er nun eine Aura der Bösartigkeit aus, die Desmon und Dyla das Schlimmste fürchten ließ. Er war ungeheuer zäh und ausdauernd, und obwohl sie einen großen Vorsprung besessen hatten, holte er immer mehr auf. Die
beiden wußten nicht, ob ihr Hilferuf auf der MJAILAM überhaupt empfangen worden war. Dyla schrie auf, als sie jäh den Boden unter den Füßen verlor und bis über die Hüfte einbrach. Desmon, der einige Meter vor ihr gewesen war, wirbelte herum. Er versuchte, ihr zu helfen, aber ein Heer von ameisenartigen Tieren stürzte sich auf ihn und das Mädchen. Ihre Bisse waren überaus schmerzhaft. »Schlage sie tot«, kreischte Dyla. Da war Ehennesi heran, packte den Jungen und riß ihn hoch. »Ihr werdet sterben«, keuchte er. »Ihr alle müßt sterben, weil eine höhere Macht es so will.« Ein grauer Schatten kam den Kindern zu Hilfe, ein Raubvogel mit einer Spannweite von fast vier Metern. Ehennesis abwehrende Bewegung, wohl mehr aus der Überraschung heraus geboren, kam zu spät. Das Tier bohrte seine Fänge in die Schulter des Zhu‐Umlat, und sein Schnabel hackte nach dem falschen Emulator. Ehennesi warf sich brüllend herum. Aber der Vogel war schneller, stieg scheinbar mühelos auf und stieß erneut mit angelegten Schwingen herab. Offenbar hatte er es auf das kleine Gerät abgesehen, das der Bärenähnliche an seinem Umhang befestigt trug. Augenblicke später traf sein Schnabel das Aggregat. Ein jäh aufzuckender Lichtblitz blendete Desmon. Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte, lag Ehennesi tot am Boden. Sein Umhang wies einen kreisrunden Brandfleck auf. Dyla schrie noch immer. Der große Vogel hatte sie gepackt und stieg mit ihr auf. Desmon war nicht in der Lage, sich zu wehren, als auch er Krallen an der Schulter spürte und gleich darauf den Boden unter den Füßen verlor. Offensichtlich hatte der Raubvogel sie beide als Beute gewählt. Er stieg über die höchsten Wipfel des Dschungels empor und strich schwerfällig nach Westen. Irgendwann sah Desmon die MJAI‐LAM vor sich. Aber erst Minuten später wurde ihm klar, daß der Vogel von dort gekommen sein mußte.
* »Ich freue mich, Atlan, daß du praktisch in letzter Sekunde noch zur Besinnung gekommen bist.« Von einem Moment zum anderen stand Daug‐Enn‐Daug inmitten der Zentrale des Kreuzers, obwohl diese Art seines Erscheinens kaum etwas mit Teleportation zu tun haben konnte. »Du weißt jetzt, daß allein Ehennesi dein Gegner war, und daß er dich und die MJAILAM benutzt hat, um die Schockfront zu überwinden. Deshalb kam es zu den vorher nicht beobachteten Schwierigkeiten.« Der Start des Kreuzers stand unmittelbar bevor. Atlan hatte die Emulatoren davon überzeugen können, daß den Brisbee‐Kindern wohl am ehesten von anderen Menschen und mit Hilfe der hochwertigen medizinischen Kapazitäten auf der SOL geholfen werden konnte. Der‐mit‐dem‐unaussprechlichen‐Namen und die anderen wollten auf Solist zurückbleiben. »Du weißt, daß sie ihr Dasein beenden werden, wenn die Kinder nicht mehr in ihrer Nähe sind«, sagte Daug‐Enn‐Daug zu Atlan, der zögernd nickte. »Aber es ist ihr Wille, den du achten solltest. Ehennesi war ein Handlanger der Macht, die die Namenlose Zone beherrscht und mit dieser und den bösen Völkern zweifellos eine bestimmte Absicht verfolgt. Sein Auftrag lautete, die positiven Kräfte auf Solist zu beseitigen. Nach den Ereignissen auf Rostbraun wurde von ihm außerdem verlangt, die MJAILAM mit ihrer Besatzung zu vernichten. Er erhielt die Kraft, die BRISBEE für kurze Zeit zu aktivieren, aber er mußte dich und deine Besatzung, die Kinder und die Emulatoren an einem Ort versammeln, um erfolgreich sein zu können. Darauf war sein Handeln letztlich ausgerichtet.« Wenig später startete die MJAILAM. Noch bevor sie die Schockfront erreichte, löste diese sich auf, und Solists Sonne wurde
zugleich der erste Stern der Namenlosen Zone, den jeder ungehindert sehen konnte und den auch die Ortungen erfaßten. Vielleicht hat das Ende der Emulatoren diesen Vorgang ausgelöst, vermutete Atlans Extrasinn. Die MJAILAM nahm Kurs auf den Junk‐Nabel, den man, wenn es zu keinen Zwischenfällen kam, in zwei Tagen erreichen würde. Der Brisbee‐Kinder wegen war die SOL das nächste Ziel. Epilog Beobachtungsrelais 228 meldete an den Rat der Pagen, daß der Negativ‐Faktor, den die Emulatoren von Solist im Gefüge der Namenlosen Zone dargestellt hatten, beseitigt werden konnten. Das künstliche Produkt Ehennesi hatte jedoch den Auftrag der Vernichtung der MJAILAM nicht erfüllt. Und Ehennesi war nicht mehr. Kommandant der MJAILAM ist ein Arkonide namens Atlan, teilte das Relais weiter mit. Er steht in Verbindung mit einem noch größeren Schiff, das SOL genannt wird. Dieses Schiff will er nun erreichen. Die Antwort des Rates der Pagen ließ nicht lange auf sich warten. Sie beschlossen, gleichzeitig die MJAILAM und die SOL anzugreifen, um die Gefährdung der eigenen Pläne endgültig abzuwenden. ENDE Im Atlan‐Band der nächsten Woche blenden wir wieder um zum Geschehen auf der SOL. Da ist Zelenzo, der mysteriöse Verschwörer, der der SOL‐Führung weitere Schwierigkeiten bereitet – und da erscheint der Zwergstern. Sein unvermutetes Auftauchen führt zur PANIK AUF DER SOL …
PANIK AUF DER SOL – so heißt auch der Titel des Atlan‐Bandes 657. Der Roman wurde von Hans Kneifel geschrieben.