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Fong-Ch'ang war zumute, als habe man tausend Nadeln in seinen Leib gesteckt und schlüge m...
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Seewölfe 129 1
Roy Palmer 1.
Fong-Ch'ang war zumute, als habe man tausend Nadeln in seinen Leib gesteckt und schlüge mit Hämmern auf seinen Schädel ein. Er wankte und hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Er wußte, daß er innerhalb der nächsten Sekunden vor Schmerzen und Schwäche zusammenbrechen würde, auch ohne das Zutun seiner Todfeinde. Vergeblich versuchte er, etwas Konkretes zu erkennen. Rote und graue Schleier wogten vor seinen Augen und webten einen Vorhang zwischen seiner Wahrnehmung und dem weißlichen Sonnenlicht. Das Oberdeck der Galeone schien sich Fong entgegenzuwölben, und die Gesichter der Mannschaft waren helle Flecken, die in dem wabernden Glast tanzten wie Irrlichter in der Dämmerung über einem Sumpfteich. „Erbarmen.“ Mehr als dieses eine Wort vermochte Fong mit seinen spröden, völlig ausgetrockneten Lippen nicht zu formulieren. Seine rauhe, kratzende Stimme war das letzte sinnlose Flehen eines Verdurstenden in der Wüste des Hasses und der Grausamkeit. Vinicio de Romaes stand dicht hinter Fong vor dem Achterkastell. Er hob die neunschwänzige Katze mit der rechten Hand, kniff die Augen zusammen und schlug zu. Eine Feuerzunge, kein Peitschenschlag, schien über Fongs Rücken hinwegzurasen. Er zuckte zusammen und strauchelte mit nach vorn gestreckten Armen. Nur ein kurzes Stück flog er über die Kuhl, dann landete er mit dem Bauch hart auf den Planken. Über ihm war das höhnische Gelächter der Piraten. „Erbarmen?“ sagte de Romaes. „Hast du etwa welches mit uns gehabt? In Shanghai hätten wir um ein Haar alle fünf ins Gras gebissen —wenn es nach dir gegangen wäre. Ist es so?“ Fong antwortete nicht. Er lag schwer atmend da und kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufloderte und von ihm Besitz zu ergreifen drohte.
Die Geißel des Gelben Meeres
Der Mongole, der in Shanghai beim Überfall auf Philipp Hasard Killigrew und dessen Begleiter an der Schulter verletzt worden war, trat vor und rammte Fong den Fuß in die Seite. „Hast du nicht gehört, was der Kapitän gesagt hat, du Dreckskerl? Antworte! Du wolltest uns alle ans Messer liefern.“ „Ja“, stöhnte Fong. Zwei, drei Piraten traktierten Fong, und ein stämmiger Chinese mit dickem schwarzem Zopf und nacktem Oberkörper schrie: „Denk an Raga, den Malaien! Und an unseren Landsmann! Du hast sie beide auf dem Gewissen!“ „Umgebracht hast du sie!“ brüllte ein zweiter. Und ein anderer fügte hinzu: „Elend verreckt wie die Ratten sind sie, dabei zählten sie zu unseren besten Kämpfern!“ Der Mongole zückte mit der gesunden Hand eine Bambusgerte, schlug zu und fuhr Fong-Ch'ang an: „Ich zähle jetzt bis drei, dann stehst du auf und läufst bis zum Vordeck, du Hund. Lauf, so schnell du kannst, bevor wir dir so richtig das Fell gerben.“ Sie stellten sich in zwei Reihen in Längsrichtung des Schiffes auf. So bildeten sie eine Gasse, durch die Fong zu Laufen hatte. Abwartend standen sie da, ein bösartiges, vergeltungssüchtiges Grinsen auf den Lippen, die Bambusgerten in den Fäusten. „Eins“, sagte der Mongole. Nakamura, der Japaner, war zu dem Portugiesen getreten. „Auf was warten wir denn noch, de Romaes?“ fragte er. „Töten wir den Lumpen. Hat er etwas anderes verdient?“ „Nein.“ „Aber seit Tagen führen wir ihn jetzt als Gefangenen im Kabelgatt mit und tun nichts anderes, als ihn hin und wieder an Oberdeck zu holen.“ „Damit er nicht zu Kräften kommt und an Flucht denken kann“, versetzte de Romaes. Nakamura blickte zu Fong-Ch'ang. Kein Mitleid erschien auf seinen maskenhaften Zügen. „Es kann nicht sein, daß du ihn schonen willst. Ich kann es mir nicht
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vorstellen. Du mußt gestatten, daß wir ihn töten.“ „Gewiß, aber das hätten wir auch in Shanghai tun können, als wir ihm und dem verfluchten Mädchen in der Nähe des Gerichtsgebäudes auflauerten. Gerade das will ich aber nicht.“ Nakamura schaute zu den prall gefüllten Segeln der Galeone auf und ließ den Blick wieder sinken. Geschickt balancierte er die Decksbewegungen durch Beinarbeit aus. „Ich begreife dich, de Romaes. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn wir diesen Kerl getötet hätten. Mit ihm, einem bewußtlosen Gefangenen, war es schwierig genug, den Hafen zu verlassen. Fast wären wir einer Patrouille Soldaten aufgefallen.“ De Romaes lächelte dünn. „Stimmt, und auf dem Jangtsekiang hätte uns dann beinah die Besatzung einer schweren Kriegsdschunke aufgestöbert. Wir mußten schleunigst an Bord der Galeone gehen und unsere versteckte Bucht verlassen. Dort waren wir nicht mehr sicher.“ „Dabei hätten wir dort liegenbleiben und vielleicht doch noch dem Seewolf auflauern können“, meinte der Mann aus dem Inselland, das die Europäer einst Zipangu genannt hatten. „Fong hat es uns gründlich verpatzt. Raga hatte uns vor ihm gewarnt.“ Vinicio de Romaes wandte den Kopf und fixierte den Japaner. „Willst du damit sagen, daß ich einen Fehler begangen habe, Nakamura?“ „Natürlich nicht.“ „Jeder von uns muß ständig damit rechnen, ins Gras zu beißen.“ „Ja, Kapitän.“ „Zwei!“ hatte der Mongole gebrüllt, jetzt hob er die Hand mit der Gerte und rief: „Drei!“ Fong-Ch'ang war auf den Beinen. Mühselig hatte er sich aufgerappelt. Er torkelte, fing sich und lief unter Schmerzen los. Die kurzen Gerten prasselten auf ihn ein. Der Spießrutenlauf hatte begonnen. „Fong soll eines langsamen Todes sterben“, sagte Vinicio de Romaes. „Alles andere wäre ein viel zu gnädiges Schicksal für ihn.“
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Nakamura schlug vor: „Laufen wir die Küste an und suchen wir einen Brechnußbaum. Wir binden den Kerl daran fest und brauchen dann nur noch die Nacht abzuwarten.“ Die gifthaltigen Samenkapseln des Brechnußbaumes öffneten sich bei Nacht und dünsteten ihr tödliches Miasma aus. In einzelnen Provinzen des Reiches der Mitte war diese Todesart als Bestrafung fast an der Tagesordnung. Der Portugiese sah gelassen zu, wie Fong stürzte. „Schafft ihn wieder ins Kabelgatt“, ordnete er mit schneidender Stimme an. „Legt ihn in Ketten. Und daß mir die Wache im Gang ja nicht schläft! Ich werde immer wieder kontrollieren!“ Er drehte sich dem Japaner zu. „Minutenlang mit dem Tod ringen? Nur für ein paar Minuten? Auch das wäre ein viel zu mildes Ende für diesen räudigen Hund. Nein. Ich werde mir etwas Besseres einfallen lassen.“ Er wollte weiterreden, aber in diesem Moment meldete sich der Rudergänger mit einem Ruf. „Kapitän! Der Kolderstock ...“ De Romaes fuhr herum, klomm den Backbordniedergang zum Achterdeck ein Stück hoch und blickte zu dem Mann, der aufgeregt an dem klobigen Kolderstock hantierte. „Was ist los?“ schrie der Portugiese. „Kannst du dich nicht klar ausdrücken, Bastard?“ Das war nicht mehr nötig. De Romaes sah auch so, was passiert war. Der Kolderstock bewegte sich locker hin und her. Das Ruderblatt gehorchte nicht mehr, der Kontakt war unterbrochen. Das Schiff lief plötzlich aus dem Ruder. Die Steuerungsanlage hatte einen Defekt. De Romaes begann mörderisch zu fluchen. * Die „Isabella VIII.“ segelte durch die leichte Dünung des Gelben Meeres. Fast schien sie das Drängende zu spüren, das diese Fahrt bestimmte.
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Philipp Hasard Killigrew und seine Männer hatten die Verfolgung von Fei Yen, der „Fliegenden Schwalbe“ des Piraten Khai Wang, wiederaufgenommen. Mit verbissenen Mienen standen sie auf dem Achterdeck und blickten voraus: Hasard, Siri-Tong, Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Old O'Flynn und Smoky. Auf dem Quarterdeck, neben dem Ruderhaus, hatte sich der Profos Carberry aufgebaut, und nicht weit von ihm entfernt verharrte soeben auch Ch'ing-chao Li-Hsia, das als Schiffsjunge verkleidete chinesische Mädchen, dessen Name übersetzt „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ bedeutete. Auch auf der Back hatten sich Männer der Crew versammelt und spähten angestrengt am Bugspriet der „Isabella“ vorbei zur nördlichen Kimm. Und Dan O'Flynn, der wegen seiner scharfen Augen den Ausguck im Großmars übernommen hatte, starrte durch seinen Kieker, als wolle er hineinkriechen. „Mist“, murmelte er immer wieder. „So ein elender, verdammter Mist.“ Auf dem Achterdeck ließ der Seewolf das Spektiv sinken. „Der Kerl hat zuviel Vorsprung gewonnen. Und jetzt macht uns die Dämmerung einen Strich durch die Rechnung. Wir haben ihn aus den Augen verloren.“ „Der Teufel soll ihn holen“, sagte Ferris. „Ja, ist denn das zu fassen?“ Ben Brighton wandte Hasard das Gesicht zu. „Hat der Hund das Glück auf seiner Seite? Entwischt der uns jetzt ein für allemal?“ „Nein.“ Siri-Tongs jettschwarze Augen funkelten vor Wut. „Niemals. Ich kriege ihn. Und wenn ich ihn bis ans Ende meiner Tage hetzen muß. Ich packe ihn.“ „Ben, Ed, Pete!“ rief der Seewolf. „Wir halten den Kurs!“ „Aye, aye, Sir!“ rief Carberry vom Quarterdeck aus zurück. „Immer stur nach Norden!“ „Ja, denn ich rechne fest damit, daß Khai Wang an seinem ursprünglichen Vorhaben festhält“, sagte Hasard. Die Rote Korsarin streifte ihn mit einem wachen, erregten Blick. „Er will also
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immer noch nach Peking, in die Verbotene Stadt? Ja, das halte auch ich für möglich. Er hat ja noch die Mumie des Mandarins an Bord, dieser Schakal. Er will sie nach Peking schaffen und beim Großen Chan abliefern.“ „Um diesem Chan um den Bart zu gehen“, sagte Old O'Flynn. Angewidert verzog er seinen Mund. „Das sieht so einem Halunken ähnlich.“ „Wahrscheinlich hofft er auf den Pardon des Großen Chan“, sagte Hasard. „Er wird sich freies Geleit erbitten, die Stadt als. Held verlassen und für einige Zeit seine Ruhe vor den Verfolgern haben. In letzter Zeit scheinen ihm die Kriegsdschunken des Reiches ziemlich hart zugesetzt zu haben. Selbst für einen hartgesottenen, mit allen Wassern gewaschenen Schlagetot wie ihn muß es da langsam brenzlig werden.“ Er hob noch einmal das Spektiv ans Auge und blickte zur nördlichen Kimm. Aber die Dämmerung senkte sich bleischwer auf die See und ließ jene Linie, die das Wasser vom Himmel trennte, kaum noch erkennen. Das Eisengrau des Abendhimmels war mit rötlichen Streifen durchwirkt, und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis endgültige Dunkelheit die „Isabella“ umfing. Ben und die anderen Männer blickten zu ihrem Kapitän, dann zu Siri-Tong. Danach schauten sie sich schweigend an. Würde Hasard die Jagd jetzt abbrechen? Nein, er hatte ja angeordnet, den Kurs zu halten. Aber wie lange hielt er an dieser Order fest? Bis zum Morgen? Und dann? Wenn sie die Dschunke von Khai Wang nicht wieder entdeckten, konnte der Seewolf leicht das Interesse an dieser Verfolgung verlieren. Oder bildeten sie sich das nur ein? Bei Siri-Tong waren die Männer sicher: Sie würde nicht eher ruhen, bis sie Khai Wang, die „Geißel des Gelben Meeres“, gestellt und vor die Klinge gefordert hatte. Denn Khai Wang war es gewesen, der sie von Bord des schwarzen Schiffes entführt und nach Shanghai verschleppt hatte. Seinetwegen war die Korsarin in den Kerker der Stadt geworfen und an drei
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Gerichtstagen abgeurteilt worden: Tod durch das Schwert des Henkers. Nur Hasards tollkühnem Einsatz war es zu verdanken, daß sie der Vollstreckung des Urteils entgangen war. Die Seewölfe hatten um Siri-Tong ebenso gebangt wie die Männer des schwarzen Seglers. Sie hingen an ihr, achteten und verehrten sie in einem Maß, das ihnen nie zuvor so richtig bewußt geworden war. Im stillen gaben sie der schönen Frau recht, was ihre Rachegefühle betraf. Sie folgten ihr und kämpften für sie bis zur letzten Konsequenz. Nur Hasard in seiner unerreichten Souveränität stand über den Dingen. Deshalb - weil er nicht unbedingt auf Vergeltung sann - kamen den Männern in diesem Augenblick leise Zweifel. Er wandte sich zu ihnen um. „Ich kann mir gut vorstellen, was in diesem Moment in euch vorgeht“, sagte er. „Aber ihr könnt ganz beruhigt sein. Auch ich habe nach wie vor ein reges Interesse, Khai Wang in die Enge zu treiben und zu erledigen.“ „Arwenack!“ rief Big Old Shane. „Du hast uns aus der Seele gesprochen, Hasard!“ Siri-Tong sah zum Seewolf, und es lagen Bewunderung und Dankbarkeit in ihrem Blick. Nur ein hauchdünner Seidenfaden hatte in Shanghai ihr Leben vom Tod getrennt -und dann waren er und seine Männer aufgetaucht. Sie wußte, daß sie ihm nie vergessen würde, was er für sie getan hatte, aber da war mehr als bloßer Dank. Jetzt, im wiedereroberten Leben, flammten ihre Empfindungen für ihn so vehement wie nie zuvor auf. Hasard schritt nach vorn, nahm den Backbordniedergang zum Quarterdeck und gelangte zu Carberry. „Holen wir aus unsrer Lady 'raus, was in ihr steckt, Ed. Wir setzen sämtliches Zeug.“ „Aye, Sir. Auch mein rotes Unterhemd, wenn's sein muß.“ Sir John, der karmesinrote Papagei, hatte sich auf seiner linken Schulter niedergelassen. Er nickte heftig, plusterte sich auf und krähte: „Jacke vollhauen, Jacke vollhauen!“
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„Sei still, du Schrumpfhals“, fuhr ihn der Profos an. „Soweit sind wir noch nicht.“ Hasard schaute zu Pete Ballie ins Ruderhaus, prüfte den Stand der Kompaßnadel, warf einen Blick auf die Karten und setzte dann seinen Weg zur Kuhl hin fort. Carberry und „Flüssiges Licht“ folgten ihm auf dem Fuß. „Männer“, sagte Hasard, als er die Kuhlgräting erreicht hatte. „Blacky, Batuti, Kutscher, Gary, Matt, Al, Jeff, Sam, Bob, Luke, Will und Stenmark.“ Er blickte zur Back. „Bill, wo steckst du?“ „Hier, Sir!“ Der Junge streckte seinen Kopf zum Kombüsenschott heraus. „Klare die Kombüse auf, Sir!“ „In Ordnung.“ Hasard legte den Kopf in den Nacken. „Dan, hörst du mich?“ schrie er. Dan und Arwenack, der Schimpanse, zeigten sich gleichzeitig am Rand der Großmarsverkleidung. „Aye, aye, Sir!“ rief der junge O'Flynn. „Gut, dann hört zu“, sagte Hasard. „Ihr habt unsere ‚Isabella' wieder so weit aufgeklart, daß von dem Gefecht mit Khai Wang kaum noch etwas zu sehen ist. Jetzt beweist mir, daß ihr noch die tadellosen Seeleute seid, die ihr immer wart. Wir klüsen, was das Zeug hält. Wir rauschen Khai Wang nach und kriegen ihn wieder, auf Teufel komm 'raus.“ „Und wir segeln dem Höllenfürst ein Ohr ab!“ rief Blacky. „Und spucken dreimal kräftig gegen den Wind!“ brüllte Matt Davies. „Ho!“ dröhnte Carberrys Stimme. „Wie lange ist es schon her, daß wir ein richtiges Wettsegeln veranstaltet haben, ihr Stinkstiefel?“ „Eine Ewigkeit“, sagte Al Conroy. „Viel zu lange ...“ „Dann steht nicht 'rum und gafft wie die Ölgötzen“, polterte der Profos los. „An die Brassen, an die Schoten, 'rauf in die Wanten, Mann Gottes, wie steht denn das Rigg, das ist ja eine Sauerei, ihr Affenärsche, ihr Rübenschweine! Muß ich euch das wirklich noch erst beibringen? Hey, Matt Davies und Jeff Bowie, setzt die Blinde und meinetwegen auch noch mein
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rotes Hemd, aber hopp-hopp, oder soll ich euch Beine machen, ihr Säcke, was, wie? Das alles hab ich schon schneller gesehen, ihr Kakerlaken! Oh, ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr nicht flitzt und die Hacken zeigt.“ Er stapfte über Deck, die Kuhl war sein, er beherrschte die ganze Szene. Wenn der Profos nicht brüllte, war er nicht gesund -aber Carberry erfreute sich auch nach der Auseinandersetzung mit Khai Wang blühender Gesundheit. Hasard hatte Fei Yen gestellt und ramponiert. Und vorher hatten vier Seewölfe die Piratendschunke sogar geentert. Aber Khai Wang war ihnen noch einmal entwischt, wenn auch angeschlagen, und hatte Distanz zwischen sich und die „Isabella“ gelegt. Das wurmte die Männer mächtig. Hasard sah zu wie sie über Deck' stürmten und in die Wanten aufenterten. Er wandte sich schließlich ab und kehrte zum Achterdeck zurück. Flüssiges Licht trat auf ihn zu. Im fallenden Dunkel der Nacht verschmolzen ihre Körperkonturen mit dem Schwarz des in ihrem Rücken aufragenden Achterkastells. „Seewolf“, sagte sie. „Ob Fong-Ch'ang wohl noch lebt?“ Er blieb stehen und schaute sie eine Weile nachdenklich an. „Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Schlau, wie er ist, ist er seinen Häschern wahrscheinlich entkommen.“ „Du glaubst selbst nicht daran. De Romaes, Nakamura und der Mongole haben ihm aufgelauert, um sich an ihm zu rächen.“ „Aber du trägst keine Schuld daran.“ „Ich mache mir Vorwürfe.“ „Das ist falsch“, sagte Hasard sanft. „Jeder von uns ist nur sich selbst verantwortlich. Auch Fong. Es tut mir weh, so reden zu müssen, das kannst du mir glauben, denn er ist ein echter Freund. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Du weißt auch, daß wir nicht nach ihm suchen konnten.“ „Ja, natürlich.“ Das Mädchen senkte den Blick. „Wenn er - tot ist, dann wünsche ich
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ihm, daß er dort, im Jenseits, seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedertrifft. Dann wird auch er endlich Frieden finden.“ 2.
Die ganze Nacht über knüppelten die Seewölfe ihr Schiff voran. Der Wind drehte von Südost auf Ost, und sie mußten hart darangehen und den Kurs geringfügig nach Nordwesten ändern. Später, als der Wind wieder handig bis steif aus Südosten blies, wurde es einfacher, seine volle Kraft auszunutzen. Die Männer gaben in dieser Nacht ihr äußerstes an Können. Sie holten wirklich aus ihrer „Lady“ heraus, was sie hergab. Und hier zeigte sich wieder einmal, wie weit die Galeone den sonst üblichen Schiffsbauten ihrer Zeit voraus war. Die überhohen Masten mit der großen Segelfläche verliehen ihr eine erstaunliche Geschwindigkeit. Hasard tat in diesen Stunden kein Auge zu. Immer wieder berechnete er Position, Kurs und Geschwindigkeit. Endlich, seit Xiapu, hatte er verläßliches Kartenmaterial in Händen. Im Schein von Öllampen stand er im Ruderhaus und stellte auf den feinen Bogen Papier, die er an die Holzwand und aufs Pult gepinnt hatte, seine Messungen an. „Übermorgen erreichen wir Tschifu“, sagte er einmal, kurz vor Mitternacht, zu Pete Ballie. „Vorausgesetzt, die Wind- und Wetterverhältnisse spielen uns keinen bösen Streich.“ „Tschifu — wo liegt das, Sir?“ „Auf einer großen Halbinsel, die das Gelbe Meer von dem Golf von Chihli abtrennt.“ „Golf von Chihli — dann kann auch die Verbotene Stadt nicht mehr fern sein.“ „Stimmt, aber daran will ich jetzt noch nicht denken“, erwiderte der Seewolf. „Ehe wir Khai Wang nicht wiedergefunden haben, müssen wir alle anderen Vorhaben zurückstellen. Übrigens, Pete, weißt du, wie schnell wir in den letzten Stunden gesegelt sind?“ „Ich schätze, an die sieben bis siebeneinhalb Knoten, Sir.“
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„Achteinhalb bis neun, Pete.“ Pete stieß unwillkürlich einen leisen Pfiff aus. „Donnerkeil, das ist ja unheimlich. Wenn wir das Tempo durchhalten, schaffen wir ein Etmal von — von ...“ „Von über zweihundert Meilen“, sagte der Seewolf. Er ließ Pete Ballie allein an seinem Ruderrad und trat ins Freie. Pete blickte zur Kuhl, murmelte ein paarmal ein ehrfürchtiges „Mehr als zweihundert Meilen“ und sagte dann: „Leute, klüsen wir, was das Zeug hält, wir brechen unseren eigenen Rekord.“ * Am frühen Morgen hatte die „Isabella“ den Wind immer noch raumschots. Ihr Bug trennte die Fluten wie ein Pflug, Gischt sprühte, das Wasser rauschte an den Bordwänden und fächerte hinter dem Heck in schillernden Streifen auseinander. Vergeblich hielten Siri-Tong und die Männer nach der Piratendschunke Ausschau. Carberry wetterte wie nie zuvor, Dan O'Flynn zweifelte an der Verläßlichkeit seiner sonst so scharfen Augen und bei der Crew wurde gemunkelt, daß wahrscheinlich alles für die Katz gewesen sei und Khai Wang sich nach Osten verzogen oder in Richtung Westen fortgestohlen habe, vielleicht irgendwo unter Land liege. Erst gegen Mittag stieß Dan O'Flynn einen Schrei aus, der alle aufrüttelte. „Deck, ho! Mastspitzen, im Norden an der Kimm!“ Der Seewolf und die Rote Korsarin stürzten allen voran ans Schanzkleid. Die Spektive flogen hoch, sie spähten hindurch und erkannten die Mastspitzen. Kurze Zeit darauf entpuppten sich diese Masten als die einer Dschunke: Sie waren mit den typischen Mattensegeln getakelt, in die in horizontaler Richtung Bambusstreifen eingeflochten waren. „Drei Masten“, sagte Hasard. „Der Größe und der Form nach könnte es die Piratendschunke sein.“
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„Das ist die Fliegende Schwalbe!“ rief Dan O'Flynn. „Wir haben sie! Wir haben die Bastarde wieder!“ Daß diese Äußerung etwas zu voreilig getan war, stellten die Männer rasch fest. Khai Wang und sein Steuermann Wu trieben die Dschunke in einem genauso harten Törn voran wie Hasard seine „Isabella“. Strikt hielten sie den Nordkurs, jagten dahin und trachteten, den Gegner wieder abzuhängen, den sie natürlich auch gesichtet hatten. So dauerte die Jagd fort. Bis zum nächsten Morgen. In der Nacht suchte der Seewolf seine Kammer im Achterkastell auf. Er brauchte jetzt doch Ruhe und mußte für das, was aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstand, Kräfte sammeln. Die Crew hatte er in vier Wachen eingeteilt, damit sie sich im sechsstündlichen Turnus ablösen konnte. Hasard hatte sich in seine Koje gelegt und streckte die Beine aus, da öffnete sich langsam seine Kammertür. Er hatte sie nicht verriegelt, um im Bedarfsfall schnell ans Oberdeck laufen zu können und durch nichts aufgehalten zu werden. Er lag ruhig da und blickte auf die schlanke Gestalt, die sich zum Spalt hereinschob. Lange, vollendet modellierte Gazellenbeine bewegten sich durch sein Allerheiligstes und verharrten. Geschickte Finger schoben nun doch den Türriegel vor. Dieselben Finger strichen über die rote Bluse, öffneten sie, streiften sie von diesem berückenden Körper ab. Volle Brüste wippten leicht in dem weißlichen Licht des Mondes, das durch die Bleiglasfenster eindrang. Schwarzes Haar rahmte ein ebenmäßiges Gesicht und floß weich auf sanfte Schultern. Sie näherte sich seiner Koje, blieb wieder stehen und entledigte sich auch der letzten Kleidungsstücke. „Siri-Tong“, sagte Hasard leise. „Die Nacht ist nicht nur zum Schlafen da“, entgegnete sie genauso gedämpft. „Rück ein Stück zur Seite, Seewolf. Oder willst du mich wegschicken?“
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Hasard machte ihr Platz. Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke, und er spürte ihren weichen, warmen Körper auf sich zugleiten. * Am Morgen hatte die „Isabella VIII.“ beachtlich aufgeholt. Hasard lief zur Back, klomm hoch und stellte sich an den vorderen Querabschluß. Seine Finger krampften sich um die Handleiste der Balustrade. Wuchtig hob sich das Heck der Dschunke vor ihm aus der See. Fei Yen schien zum Greifen nahe zu sein. Hasard schätzte die Entfernung grob. „Knapp eine Meile“, sagte er zu den Männern hinter seinem Rücken. „Eher weniger als mehr.“ „Diesmal haben wir ihn wirklich“, entgegnete Smoky. Ben Brighton hatte sich vom Achterdeck aus in Bewegung gesetzt, betrat die Back und hielt auf den Seewolf zu. „Ich habe unsere neue Position auf der Karte eingetragen“, sagte er. „Wir befinden uns jetzt fast auf der Höhe von Tschifu.“ „Wir haben das schnellere Schiff“, frohlockte Carberry. „Bald zerquetschen wir Khai Wang samt Kahn vor der Küste der Verbotenen Stadt. Da kann er gar nichts machen, der Hurensohn.“ Hasard drehte sich zu ihnen um. Sein Lächeln war hart und wirkte eingefroren. „Du übertreibst, Ed. Aber eins ist sicher. Innerhalb der nächsten Stunde haben wir ihn vor unseren Geschützmündungen.“ Smoky hob die Augenbrauen. „Und das heißt, Sir?“ „Klar Schiff zum Gefecht.“ Carberry fuhr mit einem knarrenden „Aye, Sir“, herum und ranzte die Decksmannschaft an: „Habt ihr das nicht gehört, ihr Schnarchsäcke? Willig, an die Kanonen, alle Mann auf Gefechtsstation — und daß mir ja keiner Mist baut. He, Bill, Junge, schnapp dir die Pütz und schöpf Seewasser hoch. Wird's bald, oder muß ich dir erst Dampf unter deinen Achtersteven blasen?“
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Im nächsten Augenblick war hektische Eile auf der Kuhl, auf dem Vor- und Achterdeck. Fußsohlen und Stiefel trappelten, die Geschütze rollten rumpelnd auf den Hartholzrädern ihrer Lafetten aus und wurden in Ladestellung gebracht. Bill stellte Kübel mit Seewasser zum Befeuchten der Wischer bereit. Der Kutscher löschte die Kombüsenfeuer und streute anschließend Sand auf Oberdeck aus, damit die Männer im Gefecht einen sicheren Stand hatten und ausbrechende Feuer im Ansatz erstickt wurden. Unaufhaltbar schob sich die „Isabella“ auf ihren Feind zu. Ein gigantisches Duell zur See bahnte sich an, ein Kampf ohne Kompromisse. Einer mußte auf der Strecke bleiben. Hasard beobachtete fast unausgesetzt mit dem Spektiv. Das hoch aufragende Heck der Dschunke versperrte ihm den Ausblick auf das Oberdeck. Als aber die „Isabella“ noch weiter aufholte und sich in schräg versetzter Kiellinie Steuerbord achteraus von Fei Yen befand, gewann er zumindest einen bruchstückhaften Einblick auf das Geschehen an Bord. Hektisches Treiben hatte auch bei den Piraten eingesetzt. Er konnte ihre Köpfe erkennen. Sie ruckten hin und her, verschwanden hinter dem Schanzkleid, tauchten wieder auf. „Eins muß man Khai Wang lassen“, sagte der Seewolf. „Er hat Schneid. Er büxt nicht aus. Sein Stolz und sein Kampfgeist verbieten es ihm.“ Eine Hand legte sich auf seine rechte Schulter. Hasard blickte nach hinten und sah Siri-Tong hinter sich stehen. Sie trug an diesem Morgen weißleinene Kleidung, Bluse und Hose, und sah so hinreißend aus wie nie zuvor. Der Wind zerzauste ihre langen schwarzen Haare. „Man könnte fast glauben, du achtest ihn“, sagte sie. „Dabei hat er den Stolz eines räudigen Hundes. Er rechnet sich ganz einfach eine reelle Chance aus, gegen uns zu siegen und die Schätze der ‚Isabella' einzuheimsen, das ist es.“ „Ich leide nicht an Selbstüberschätzung“, erwiderte er. „Wir können auch
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unterliegen. Vielleicht haben wir in Khai Wang unseren Meister gefunden, was das Gefecht betrifft. Glaubst du, er schafft es, uns unterzukriegen?“ „Niemals.“ „Und wenn du dich irrst?“ „Dann sterbe ich lieber, als mich noch einmal von diesem Bastard gefangen nehmen zu lassen“, stieß sie wütend hervor. Er sah ihr in die Augen, und ihre Blicke verfingen sich ineinander. „Hör zu, Siri-Tong“, sagte der Seewolf. „Angenommen, wir siegen. Was tust du dann mit Khai Wang?“ „Ich töte ihn.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Nein. Ihn und Wu müssen wir lebend haben. Wir müssen unsere Rachegefühle zurückstellen. Ich will die beiden zum Großen Chan schleifen und ihnen den Prozeß machen lassen. Ich bitte dich, darüber nachzudenken.“ Die Korsarin grübelte mit verdrossener Miene, aber schließlich hellten sich ihre Züge ein wenig auf. „Also gut. Ich bin einverstanden. Der Große Chan soll entscheiden, was mit diesen Verbrechern geschieht.“ * Wu, der Steuermann, hatte den Kolderstock der Dschunke einem der wilden Kerle übergeben. Auf der Kuhl arbeitete die Mannschaft an den bronzenen Geschützen — einst dreißig skrupellose, grausame Kerle, jetzt ein auf weniger als zwei Dutzend Köpfe reduzierter Haufe. Der letzte Kampf mit der „Isabella“ hatte seinen Tribut gefordert. Wu trat den Rudergänger mit dem Fuß und stieß die lästerlichsten Verwünschungen aus. Er hastete auf die Kuhl hinunter und beschimpfte auch den Rest der Besatzung. Er war ein drahtiger kleiner Chinese, etwas gedrungen, mit stets verschlagenem, tückischem Ausdruck im Gesicht. Er suchte einen Sündenbock, und deshalb kreidete er der Mannschaft alles an: ihr Versagen, die zu langsame Fahrt der
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Dschunke, das Wiederauftauchen der „Isabella“. „Das werdet ihr mir büßen“, stieß er zischend aus. „Wenn ihr uns diese Hunde nicht wieder vom Hals schafft, peitsche ich euch der Reihe nach aus — jeden einzelnen von euch!“ In diesem Augenblick erschien die Gestalt Khai Wangs im Achterdecksschott. Der Pirat verharrte und blickte zu seinem Steuermann. Seine Stirn kräuselte sich, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Khai Wang verschränkte die Arme, er sah roh und gefährlich aus. Seine Gesichtsfarbe war fast quittengelb, sein lackschwarzes Haar wirkte wie angeklebt. Weit hing sein Oberlippenbart übers Kinn, und dort, wo seine seidenen Gewänder auseinanderklafften, war ein Teil seiner Tätowierungen zu erkennen. Die blaulila Farben schienen zu leuchten. Auf der Brust Khai Wangs stellten sie einen wilden Drachen .dar, auf dem Rücken formten sie eine sich windende Schlange, die einen Vogel verschlang. Khai Wang hatte von einem kleinen Guckloch des Achterkastells aus zur „Isabella VIII.“ hinübergespäht, um die Geschwindigkeit des Gegners zu taxieren und festzustellen, wieweit er mit den Vorbereitungen zum Kampf war. Khai Wang löste sich aus seiner starren Haltung. Er trat auf Wu zu, packte ihn bei der Schulter und riß ihn zu sich herum. „Bist du wahnsinnig?“ herrschte er ihn an. „Dein Reden hört sich an wie das Kläffen eines Gassenköters. Laß die Männer in Ruhe.“ Wu blickte seinen Kapitän lauernd an. „Du nimmst sie in Schutz?“ „Sie können nichts dafür, daß Fei Yen der Galeone des Seewolfs nicht davonsegelt. Unser Schiff ist zu langsam, das mußt auch du begreifen. Und den Kurs habe ich angegeben, weil wir gemeinsam der Ansicht waren, daß das Weib und ihre verfluchten Freunde uns bis hierher nicht folgen würden.” „Wir haben uns getäuscht, Khai Wang ...“ „Und du trägst mit mir die Verantwortung, Wu.“
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„Ja, Herr.“ Khai Wang entblößte seine Zähne und lachte hart. „Hast du Angst, Wu? Willst du vor dem Seewolf und seinem jämmerlichen Pack etwa kneifen? Du wärst ein niedriges Tier, eine noch erbärmlichere Ratte als der letzte dieser Kerle.“ Mit jäher Geste wies er auf die Mannschaft. „Nein“, erklärte Wu. „Ich werde kämpfen, besser als alle anderen. Ich weiß, daß wir den Gegner diesmal vernichten.“ Khai Wang strich sich mit zwei Fingern über den langen Bart. „Gut. So gefällst du mir schon besser. Geh jetzt, übernimm selbst das Ruder. Während die Seewölfe sich anpirschen, lasse ich die Brandsätze und den chinesischen Schnee auf Deck tragen. Wir haben noch einen kleinen Vorrat davon. Damit heizen wir diesen Narren ein.“ „Siri-Tong muß als erste sterben“, zischte Wu. „Ob als erste oder als letzte, ist mir egal“, erwiderte Khai Wang mit verzerrter Miene. „Die Hauptsache ist, sie verreckt, denn sie hat kein Recht, noch unter den Sterblichen zu weilen.“ Wu stürzte zum Steuerbordschanzkleid der Kuhl und sah zum Gegner. Er drehte sich um und rief: „Sie sind auf Schußweite für unsere Brandsätze heran. Wir können ihr Schiff in Flammen aufgehen lassen.“ „Noch warten wir“, sagte Khai Wang. „Ich will sie so nahe wie möglich heran lassen.“ „Ich verstehe“, sagte Wu mit plötzlichem Grinsen. „Was verstehst du?“ „Du willst sie täuschen.“ „Sie sollen denken, wir haben nur noch unsere Kanonen als Waffen gegen sie.“ „Wie wäre es, wenn wir uns zum Schein ergeben, Geißel des Gelben Meeres?“ Unwillig bewegte Khai Wang die rechte Hand. „Darauf fallen sie nie herein. Wir sind angeschlagen, aber sie wissen ganz genau, daß wir nie und nimmer freiwillig die Flagge streichen. Und nun lauf, Wu, und tu, was ich dir gesagt habe.“ „Ja, Herr.“ Wu hastete untertänigst gebückt zum Niedergang der Backbordseite, sprang die Stufen hoch und jagte den Rudergänger
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mit einem Fluch und einem Tritt vom Kolderstock. Wu war der Durchtriebenste unter den Piraten und zu allen Gemeinheiten fähig. Bislang hatte es nur einen gegeben, vor dem er ohne zu mucken gebuckelt hatte — Khai Wang. Wer die „Geißel des Gelben Meeres“ zu hintergehen trachtete, bezahlte dafür mit dem Leben. Viele hatten versucht, zu meutern und das Kommando über die Dschunke an sich zu reißen. Keinem war es gelungen. Dennoch fragte sich Wu in diesem Moment, ob nicht der Tag gekommen sei, an dem das Prinzip des absoluten Gehorsams durchbrochen werden müsse. Sein Tag — des Überlebens wegen. Das Risiko, den Sprung über die düstere Schwelle ins Jenseits anzutreten, bestand ohnehin — so oder so. Er schaute sich nicht zu der „Isabella“ um, aber er spürte sie wie eine kalte Riesenfaust in seinem Nacken. * Einen vollen Tag lang hatte die Galeone von Vinicio de Romaes manövrierunfähig in der See gedümpelt. Erst danach war die Ruderanlage wieder intakt gewesen. Fünf Männer hatten ununterbrochen an der zerbrochenen Fortsetzung des Kolderstocks im Schiffsinneren gearbeitet und hatten sie durch ein neu gezimmertes Teil ersetzt. Jetzt lagen die fünf in ihren Kojen. Die Galeone lief vor dem Südostwind in Richtung Nordwesten. Sie war während der Unterbrechung von einer Strömung erfaßt und vom ursprünglichen Kurs abgetrieben worden. Das Ziel des Portugiesen hieß Zhangzidao. Diese Insel lag der Halbinsel Liaotung im Südosten vorgelagert. Liaotung bildete das nördliche Gegenstück zu der Halbinsel Shantung, an deren Küste die Hafenstadt Tschifu gebaut worden war. Zwischen beiden Halbinseln hindurch führte die Reise in den Golf von Chihli - aber so weit wollte de Romaes gar nicht segeln.
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Zhangzidao, „seine Insel“, erreichte er schon vorher. Sie war ein hervorragender Schlupfwinkel für Piraten - wie all die anderen Inseln, die zu dem Archipel gehörten. Als Ausgangsbasis für immer neue, verwegene Raubzüge konnte es nichts Besseres geben. Auch Khai Wang hatte zeitweilig eine der Inseln zu seinem Eigentum erklärt und sich dort häuslich niedergelassen. So hatte de Romaes ihn kennengelernt. Beide hatten sie in friedlicher Koexistenz zueinander gelebt. Sie hatten begriffen, daß es sich nicht lohnte, sich untereinander zu bekriegen. Ein Gedanke rührte noch aus jener Zeit her, eine großartige Idee, die in Vinicio de Romaes' Geist herangereift war. Leider hatte es keine Verwirklichung gegeben, denn eines Tages war Khai Wang verschwunden gewesen, auf und davon. Im Gegensatz zu anderen Freibeutern der Chinesischen See hielt er es nie lange auf einem Eiland aus. Versonnen blickte de Romaes voraus. , Er stand auf dem Vordeck und bemerkte es kaum, als der Japaner neben ihn trat. Nakamura mußte sich erst räuspern. Der Portugiese wandte den Kopf. „Ich weiß, was du willst. Du möchtest kurzen Prozeß mit unserem Gefangenen machen. Hat er sich etwa aufsässig gezeigt?“ „Nein. Er hängt wie tot in seinen Ketten.“ „Gut. Auf Zhangzidao richten wir ihn hin“, sagte de Romaes. „Dort haben wir die Muße, uns ihm voll zu widmen.“ „Der Mongole und ich übernehmen ihn“, sagte Nakamura. „Wer was tut, bestimme ich, Nakamura.“ „Ja. Natürlich.“ De Romaes grinste. „Ich kann es nicht leiden, wenn meine Leute eigenmächtig handeln wollen, mein Freund.“ „Das habe ich nicht vor.“ „Nehmen wir an, es stimmt. Was würdest du sagen, wenn ich Fong-Ch'ang an deine Landsleute verkaufen würde?“ Nakamura war entgeistert. Er blickte seinen Kapitän aus großen, ungläubigen Augen an. „In Zipangu gibt es eine Menge Leihe, die
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für einen guten Sklaven eine Menge Geld zahlen“, fuhr der Portugiese genüßlich fort. „Und es gibt für einen Chinesen keine größere Schande, als ein Leibeigener zu werden. Ebenso schimpflich ist es aber, als Eunuch erkannt zu werden ...“ Jetzt lachte der Japaner auf. „Ich verstehe. Wenn der Eunuch erst fett genug ist, könnte ich mir gut vorstellen, daß er als Versuchsopfer für die Ausbildung von Sumo-Ringern weiterveräußert wird. Und dort wird man ihm die Knochen brechen, denn niemals bringt er die Kraft auf, gegen die Kolosse zu bestehen.“ „Ich merke schon, wir verstehen uns wirklich, Nakamura.“ „Das also wäre der unendlich langsame Tod, den Fong verdient hat.“ „Hast du einen besseren Vorschlag?“ „Nein.“ „Denke darüber nach. Bis Zhangzidao hast du noch Zeit“, sagte der Portugiese gnädig. „Dort entscheide ich dann, welches Schicksal den Hundesohn treffen soll.“ Sie schwiegen, wurden aber bald darauf von dem Ausguck im Vormars aus ihren Gedanken gerissen. „Deck!“ rief der Mann auf chinesisch. „Mastspitzen Backbord voraus! Zwei Schiffe!“ De Romaes griff sich das Spektiv und hielt nach den Fremden Ausschau. Er malte sich bereits eine Gelegenheit aus, einem dieser Schiffe in die Seite zu fallen, es zu entern und auszuplündern, während das zweite nicht schnell genug heran sein und das Feuer eröffnen konnte. Aber diese Hoffnungen wurden schnell zerstört. Als der Ausguck immer aufgeregter wurde und Nakamura mit einem Fernrohr in den Großmars aufenterte, begriff auch de Romaes, wen er da vor sich hatte — bevor es seine Männer riefen. Nein, die zwei fremden Schiffe bildeten keinen Verband. Unmöglich, denn Khai Wang war ein Einzelgänger zur See, ein einsames, schnell zuschlagendes und genauso rasch spurlos verschwindendes Raubtier.
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Die Dschunke dort im Südwesten war Khai Wangs Fei Yen, die „Fliegende Schwalbe“. Und auch den zweiten Segler erkannte de Romaes jetzt wieder. Für einen Augenblick fehlten ihm die Worte, dann stammelte er: „Das kann doch nicht sein — das ist ja die ‚Isabella'. Das Schiff des Seewolfes ...“ „Beide halten Nordkurs“, meldete Nakamura aus dem Großmars. „Und die Galeone scheint sich an Khai Wangs Dschunke heranzuschieben. Ja, sie ist die schnellere.“ „Das gibt ein Gefecht“, sagte der Portugiese. „Jetzt ist mir alles klar.“ In Shanghai hatte er nur Yards entfernt gestanden, als der Seewolf einem hohen Würdenträger auseinandergesetzt hatte, was er bisher in China erlebt hatte. Er hatte ziemlich gutes Portugiesisch gesprochen, dieser Philip Hasard Killigrew, und ein Dolmetscher hatte es dem Mandarin ins Chinesische übertragen. So wußte de Romaes, welchen Haß der Seewolf gegen Khai Wang hatte. Ihm war auch bekannt, daß Khai Wang die Rote Korsarin, eine Frau namens Siri-Tong, von einem schwarzen Segler mit vier Masten entführt hatte. Wo aber diese Siri-Tong nun war, wußte Vinicio de Romaes nicht. „Kurs auf die beiden Schiffe!“ schrie er. „Wir gehen klar zum Gefecht und greifen mit ein. Khai Wang ist ein Freund und Verbündeter, wir müssen ihm beistehen!“ Die Mannschaft antwortete mit wildem Johlen und Pfeifen. De Romaes grinste, hob das Spektiv wieder ans Auge und verschaffte sich im Nähersegeln ein genaueres Bild der Lage. Daß er nicht schon eher mit Khai Wang oder der Galeone der Seewölfe zusammengetroffen war, beruhte auf einer simplen Tatsache. De Romaes' Kurs hatte gewiß viel weiter östlich versetzt von dem der beiden anderen gelegen. Er war weiter auf die offene See hinaus gesegelt, um ganz sicher zu gehen, daß er keine Verfolger im Nacken hatte. Schon vor dem Seewolf war er aus Shanghai geflüchtet und hatte sofort den
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Jangtsekiang verlassen. Er, de Romaes, wußte also nicht, was nach dem dritten Verhandlungstag geschehen war. Und jetzt, hier, wo niemand damit gerechnet hatte, hatte er den Todfeind wieder vor sich. „Jetzt zahlst du“, flüsterte er. „Für alles, was du mir in Shanghai angetan hast, Seewolf.“ Der Portugiese bewegte das Rohr um einen Deut nach rechts und hatte nun die „Fliegende Schwalbe“ des Khai Wang in der Optik. Plötzlich jagten sich seine Gedanken. War dies nicht die Gelegenheit, die Idee von damals in die Tat umzusetzen? Khai Wang als Verbündeter — das war es, was de Romaes vorschwebte, denn mit jenem Mann zusammen mußten Kaperfahrten und Raubzüge in einem Ausmaß gelingen, wie sie zuvor niemand vollbracht hatte. Zwei Fliegen mit einer Klappe also — Vinicio de Romaes wollte mithelfen, den Seewolf zu vernichten. Zweitens konnte er hier Khai Wang beweisen, was für ein großartiger Partner er für ihn war. Nichts konnte den Chinesen besser überzeugen. Und gemeinsam würden sie die „Isabella VIII.“ von den Mastspitzen bis zum Kielschwein ausnehmen. „Gold, Silber und Juwelen“, sagte de Romaes fast ehrfürchtig. „So kriege ich euch doch noch. Fong, es hat dir nichts genutzt, mich zu hintergehen. Seewolf, ich komme, um dich zu den Fischen zu jagen. Du weißt nicht, was es heißt, einen de Romaes zum Feind zu haben.“ Die Galeone hielt Kurs auf die beiden Kontrahenten. Donnernd rollten die Geschütze aus — acht 17-Pfünder und zwei Neunpfünder auf jeder Seite. 3. Dan O'Flynn wußte, was für ein Riesenfehler es war, nur die Dschunke im Auge zu behalten. Auch jetzt, als die „Isabella“ der „Fliegenden Schwalbe“ so bedrohlich nahe war, spähte er daher immer wieder in die Runde. Und das zahlte sich aus.
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Plötzlich fuhr Dan hoch, schlug Arwenack, dem Schimpansen, auf die behaarte Schulter und beugte sich über die Segeltuchverkleidung des Großmarses. „Deck! Da ist noch ein Schiff! Nordöstlich von uns!“ Er setzte den Kieker hastig wieder an und beobachtete mit halb zusammengekniffenem Auge. „Der Kerl hält hart am Wind auf uns zu. Eine Galeone mit drei Masten!“ „Der Teufel soll sie holen!“ brüllte Carberry. Hasard hatte seinen Platz verlassen und war zum Schanzkleid an der Steuerbordseite der Back gelaufen. Auch er richtete sein Spektiv auf den Fremden. Siri-Tong erschien neben ihm und tat das gleiche. „Geben wir uns keinen falschen Hoffnungen hin“, sagte der Seewolf. „Das ist bestimmt keiner, der uns freundlich gesonnen ist. Und mit Unterstützung dürfen wir in dieser Gegend sowieso nicht rechnen.“ Carberry erschien auf dem Steuerbordniedergang der Back. Er streckte seinen bulligen Kopf vor. „Sir— wir sind der Dschunke dicht genug auf dem Pelz. Sollen wir ihr ein Ding verplätten?“ „Nein, Ed. Khai Wang soll den ersten Schuß abgeben.“ „Hasard, es könnte sein, daß er noch Brandsätze an Bord hat“, gab Siri-Tong zu bedenken. „Du weißt, auf welche Distanz er sie ins Ziel schießt.“ „Trotzdem warten wir ab.“ Die Korsarin erhob keinen weiteren Einwand. Obwohl sie den Kampf gern anders eröffnet hätte als der Seewolf, ordnete sie sich ihm in diesem Fall unter. Er war der Kapitän auf der „Isabella“, nicht sie, und sie mußte ihm die uneingeschränkte Befehlsgewalt zugestehen, sonst gab es Streit — trotz ihres Verhältnisses. Hasard beobachtete noch immer die fremde Galeone. „Heraushalten will der Bursche sich garantiert nicht“, sagte er. „Sonst würde er nicht so entschlossen auf uns zusteuern.“
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Smoky trat neben sie. „Vielleicht denkt er, wir sind mit der Dschunkenbesatzung befreundet, geben ihr Geleitschutz oder so ...“ „Smoky, das glaubst du doch selbst nicht“, erwiderte Hasard. „Auf diese Entfernung muß der Kapitän der Galeone bereits erkannt haben, daß Khai Wangs Segler keine harmlose Gemüsedschunke ist. Welche Rolle wir in diesem Spiel haben, könnte ihm noch unklar sein, aber auf keinen Fall würde sich ein simpler portugiesischer Handelsfahrer an uns heranwagen. Das Gelbe Meer ist piratenverseucht, und jeder ehrbare Kapitän muß damit rechnen, überfallen zu werden.“ „Das heißt, du hältst den Kerl dort für einen Freibeuter?“ fragte Siri-Tong. „Ja. Paßt auf, in den nächsten Minuten haben wir nicht einen, sondern zwei Gegner am Leib. Sie werden sich ohne große Absprache zusammentun und versuchen, uns in die Zange zu nehmen.“ „Die werden sich wundern“, sagte Smoky grimmig. Auf einen Wink des Seewolfs hin zog er sich wieder auf seinen Posten zurück — an die eine Drehbasse der Back. Beide Männer hatten sich im Laufe der Zeit zu wahren Meistern im Umgang mit den leichten Geschützen entwickelt. Hasard und Siri-Tong verließen die Back, um sich auf den Gefechtsstand auf dem Achterdeck zu begeben. Auf halben Weg verharrte der Seewolf auf der Kuhl. „Ed, wir fallen etwas ab und schieben uns dichter an Khai Wang heran.“ „Aye, Sir.“ Carberry grinste. Das war nach seinem Geschmack. Mit den üblichen Flüchen und Titulierungen purrte er die Männer an die Schoten und Brassen. Matt Davies blickte Jeff Bowie an, als sie an Backbord standen und eine Schot langsam wegschrickten, um die Stellung des Großsegels zu korrigieren. „Weißt du, was das heißt? Der Seewolf reizt Khai Wang bis aufs Blut.“ „Und er springt dem Teufel auf die Schippe“, fügte Jeff hinzu.
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„Hast du was dagegen?“ „Nein. Wir hüpfen mit und hauen dem Leibhaftigen eins in die Schnauze.“ „Und ich hätte große Lust, Khai Wang noch mal meinen Eisenhaken vorzuführen“, knurrte Matt Davies. Hasard war bei Batuti angelangt und blieb wieder stehen. „Batuti, 'rauf mit dir in den Vormars. Du schießt, wenn ich das Zeichen dazu gebe.“ „Aye, Sir“, sagte der schwarze Herkules aus Gambia. „Das gibt ein schönes Feuerzauber.“ „Paß auf, daß die Chinesen dir nicht den Hintern versengen!“ rief Carberry, als sich der Goliath in Richtung Fockmast in Bewegung setzte. Hasard war inzwischen auf dem Quarterdeck, wandte sich Pete Ballie zu und rief: „Abfallen, Pete, zwei Strich Backbord!“ Er hastete weiter, zum Achterdeck hinauf. Siri-Tong hatte ihn überholt und stand schon bei Ferris Tucker, der diesmal nicht die eine Drehbasse des Achterdecks übernommen hatte. Old Donegal, Daniel O'Flynn und Ben Brighton hatten die Posten an den beiden Hinterladern inne und spähten immer wieder argwöhnisch zu der herangleitenden Galeone hinüber. Die Korsarin betrachtete verdutzt, was Hasards rothaariger Zimmermann da auf Deck gehievt hatte: ein hölzernes Gestell von etwa zwei Fuß Höhe. Ein Ding, das wie eine Mischung aus Steinschleuder und Armbrust anmutete, eine recht seltsame Kombination aus einer Geschützlafette und jener Art von Abschußbasis, wie sie auf Siri-Tongs schwarzem Segler zum Verfeuern der Brandsätze verwendet wurden. Ferris hatte das Gebilde mittels einer Brook festgezurrt, deren Enden in eiserne Augbolzen des Schanzkleides verspleißt waren. Emsig hantierte er immer noch daran herum. „Himmel, Ferris, was wird denn das?“ fragte die Korsarin. Ferris blickte sie an und lächelte breit. „Das wird nicht erst, das ist schon, Madame. Eine Kanone für meine
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Höllenflaschen. Sie werden staunen, wie der Apparat funktioniert.“ „Aber – ich habe gar nicht gewußt, daß so ein Ding auf der ‚Isabella' existiert.“ SiriTong war immer noch verblüfft. Hasard hatte Big Old Shane zugewinkt und ihm somit zu verstehen gegeben, er solle in den Großmars zu Dan O'Flynn und Arwenack aufentern. Shane, wie Batuti mit Pfeil und Bogen bewaffnet, enterte auf. Hasard wandte sich jetzt Siri-Tong und Ferris Tucker zu. „Ferris hat das Ding ja auch erst in Shanghai zu basteln begonnen“, erklärte er. „Als wir so lange warten mußten, bis wir wußten, wo du steckst. Er hat die Sache ziemlich geheim gehalten –und heute hebt er seine ,Höllenflaschenabschußkanone' praktisch aus der Taufe.“ „Das heißt, es muß sich erst noch zeigen, ob sie auch wirklich etwas taugt“, meinte die Frau skeptisch. Ferris war nicht gerade beleidigt, hob den Kopf aber voller Stolz. „Madame, ich werde Ihnen beweisen, daß Ferris Tucker keinen Mist baut.“ Zu weiteren Erörterungen blieb keine Zeit. Dan O'Flynn stieß plötzlich einen schrillen Pfiff aus. Im nächsten Augenblick zischte es drüben auf der. „Fliegenden Schwalbe“ auf. Hasard, Siri-Tong und alle anderen auf der „Isabella“ wußten, was das bedeutete. Sie duckten sich und zogen die Köpfe ein. „Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ kauerte im Mittelgang des Achterkastells. Hasard hatte ihr untersagt, sich während des Gefechts auf Oberdeck aufzuhalten, aber sie hatte keine der Kammern aufgesucht und hielt das Schott so weit offen, daß sie genau verfolgen konnte, wie es jetzt gleißend von der Piratendschunke herüberzuckte. Das Mädchen stieß einen erstickten Schrei aus. Die „Isabella“ befand sich immer noch etwas schräg achtern an Steuerbord von Fei Yen, aber die Distanz zwischen beiden Schiffen betrug höchstens noch eine Drittelmeile, etwas mehr als drei Kabellängen also.
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So hatte Khai Wangs Feuerwerker keine Schwierigkeiten, den ersten Brandsatz sicher ins Ziel zu bringen. Mit geradezu unheimlicher Präzision schlug die Ladung gegen den Großmast der „Isabella“ chinesischer Schnee, eine Salpetermischung, die enorme Hitze erzeugte. „Flüssiges Licht“ schlug die Hände vors Gesicht. War das bereits der Beginn einer Niederlage? * Wu brüllte vor Freude auf. „Gut getroffen! Ihr elender Kahn geht in Flammen auf! Und sie schießen immer noch nicht, diese Narren!“ Khai Wang stand neben ihm auf dem Achterdeck und blickte eher skeptisch zur „Isabella“. Der Seewolf verfolgte eine bestimmte Taktik, nur hatte Khai Wang noch nicht heraus, was für eine. Er war aufs äußerste gereizt und erwartete jeden Moment eine Finte, einen gefährlichen Trick des Todfeindes - denn es war logisch, daß ein Mann wie dieser Killigrew sich nicht derart leichtfertig auf ein Gefecht einließ. Khai Wang hatte ihn in seiner ganzen Härte kennengelernt, daher war es fast offenkundig, daß der Seewolf nun irgendeinen Trumpf in der Hinterhand hielt. Khai Wangs Augen weiteten sich. „Da, sieh doch, Wu, du Ratte - du hast zu früh geschrien.“ Wu wandte den Kopf und sah nun ebenfalls, wie die auflodernden Flammen auf dem Schiff des Gegners rasch wieder erstickten. „Nein“, stieß er aus. „Wie ist das möglich?“ „Wie ist das möglich“, äffte Khai Wang ihn nach. „Ganz einfach. Sie haben damit gerechnet, daß wir noch Brandsätze haben. Sie haben die Segel, die Masten und die Decks mit Wasser benetzt und mit Sand bestreut.“ „Wie viele Brandsätze haben wir noch?“
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„Noch zwei.“ „Wenn wir das Vor- und Achterkastell treffen - oder die Pulverfässer, die sie auf Deck haben müssen ...“ „Wo stehen die Fässer?“ Khai Wang brüllte es fast. „Wo befinden sich die Munitionskammern der Galeone? Weißt du es, du Hund?“ „Nein, Herr.“ „Dann schweig.“ Khai Wang verließ wütend das Achterdeck, stürmte zum Feuerwerker, der seinen Posten auf der Kuhl eingenommen hatte, und schärfte ihm ein: „Ziele auf das Vor- und Achterschiff. Versuche, die ungeschützten Punkte zu treffen.“ „Ich werde mein Bestes tun“, versicherte der Feuerwerker. Er schwitzte unter seiner Kopfbedeckung, denn er ahnte, daß vielleicht sein Leben von dem Ausgang des Zielschießens abhing. Khai Wang eilte weiter und klomm auf das Vordeck seiner Dschunke. Er richtete sein Fernrohr nach Nordosten. Längst hatte sein Ausguck die fremde Galeone gesichtet, längst wußte der Piratenführer, daß es einen dritten Akteur in dem blutigen Drama geben würde — andernfalls hätte sich der Kapitän des Dreimasters spätestens jetzt, im Losfauchen der Brandsätze verzogen. Aber er hielt weiter auf sie zu. Khai Wang erkannte, daß er noch weiter anluvte. In diesem Augenblick wurde das Ansinnen des Fremden klar: Er wollte die „Isabella“ von der anderen Seite angreifen. Nur noch etwa eine halbe Meile betrug die Distanz zu der Galeone der Seewölfe. Die Spektive und Fernrohre der Chinesen waren besser und stärker als die der Spanier, Portugiesen und Engländer. Khai Wang konnte auf diese Entfernung erkennen, wer sich dort drüben, auf der nicht identifizierten Galeone, über das Achterdeck bewegte. Erst verschlug es ihm die Sprache-- dann lachte er wild auf. Der zweite Brandsatz huschte weißglühend von der Dschunke zur „Isabella“ hinüber. Er traf das Vordeck. Flammen stoben himmelan. Die Piraten johlten.
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Khai Wang fuhr zu ihnen herum und schrie: „Wir kriegen Verstärkung durch Vinicio de Romaes, unseren Freund zur See! Die Schlacht ist so gut wie gewonnen!“ Der gellende Kriegsruf der chinesischen Seeräuber wehte über das Gelbe Meer, und der dritte Brandsatz fackelte wie ein Irrwisch auf die „Isabella“ zu. Khai Wang stieß die Fäuste in die Seiten, beugte sich zurück und hörte nicht auf zu lachen. Die „Geißel des Gelben Meeres“ befand sich in ihrem Element. * Die Luft im Kabelgatt war heiß und stickig. Fong-Ch'ang fiel das Atmen schwer. Die Übelkeit und die drohende Ohnmacht wollten ihn immer wieder übermannen, aber er kämpfte dagegen an, mit aller Kraft, die er noch zur Verfügung hatte. Er schaffte es, bei Besinnung zu bleiben und sich nicht zu übergeben. Mühsam stemmte er sich an der Holzwand hoch und blieb mit abgespreizten Beinen stehen. De Romaes' Kerle hatten ihn nur mit zwei Ketten gefesselt, aber in der Art, wie sie es getan hatten, lag alle Gemeinheit der Welt. Eine Kette schloß sich mittels eines eisernen Ringes um Fongs rechtes Handgelenk, die andere um das linke. Beide Metallbänder führten schräg ein Stück an der Wand des Kabelgatts hoch und endeten in dicken Augbolzen. So konnte Fong allenfalls hocken, stumpfsinnig da kauern, niemals liegen. Das Stehen bereitete ihm Mühe,. seine Knie waren weich wie Uferschlamm. Dennoch keimte plötzlich frischer Lebenswille und Widerstandsgeist in Fong-Ch'ang auf. Er hatte vernommen, wie die Männer oben auf Deck zu rufen und zu debattieren begonnen hatten. Sie sprachen stets chinesisch. Sie waren ein bunt zusammengewürfelter Haufe von Chinesen, Mongolen, Koreanern, Japanern, Malaien und Halunken anderer Herkunft, aber sie hatten sich mit de Romaes auf diese Sprache geeinigt. Er selbst
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beherrschte die chinesische Sprache, während die Meute es niemals fertigbringen würde, mehr als ein paar Brocken Portugiesisch zu formulieren. Zwei Schiffe im Westen. Eine Schlacht bahnte sich an. Zuerst hatte Fong angenommen, der Portugiese wolle nur Beute schlagen, zwei chinesische oder fremdländische Segler kapern. Das hatte sich aber rasch als Irrtum herausgestellt. Hier war mehr im Spiel! Sehr schnell waren die fünf Männer, die in den vergangenen vierundzwanzig Stunden an dem kaputten Ruder gearbeitet hatten, von ihren Lagern aufgestanden. Fong hatte das Trappeln ihrer Füße gehört, das Rufen von Befehlen auf Deck, das Hin und Her, das Rumpeln der Kanonen. Dann hatte Nakamura nach den beiden Wachtposten vor der Tür des Kabelgatts gerufen. Sie hatten noch einmal nach ihrem Gefangenen geschaut - knarrend hatte sich die Tür geöffnet. Fong war rasch zu Boden gesunken. Er hatte gelernt, dies lautlos zu tun. Kein Rasseln der Ketten verriet, daß er bei Besinnung war. Scheinbar ohnmächtig hatte sich seine halb zusammengesunkene Gestalt den Augen der zwei Kerle präsentiert. Sie hatten die Tür wieder zugeknallt und waren abgerückt. Und dann hatte FongCh'ang klar und deutlich vernommen, wie an Oberdeck „Khai Wang“ und „Fei Yen“ und „Isabella“ gerufen wurde, etwas später „Seewolf“ und „Zur Hölle mit diesem Hund!“ Fong war aufgesprungen, als habe ihn eine Wespe gestochen. Er hatte das Gleichgewicht verloren und war gestürzt. Fast hätte er sich dabei verletzt. Sein nächstes Aufrappeln war daher weniger heftig ausgefallen. Der Seewolf! Philip Hasard Killigrew! „Flüssiges Licht“, Ben Brighton und all die anderen, seine neugewonnenen Freunde sie waren in Gefahr! Fong wußte, daß er sich nicht täuschte, daß er richtig verstanden hatte: Khai Wang und de
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Romaes bekämpften den Seewolf gemeinsam. Das sah diesen Teufeln ähnlich! Fong atmete schwer. Er blickte nach links, an der Wand hoch. Durch ein paar Ritzen in der Beplankung des Vordecks fielen winzige Sonnenstrahlen. Diese Lichtstreifen ermöglichten es ihm, den Augbolzen zu sehen. Es war ein Umstand, dem Fong während der Tage seiner Gefangenschaft kaum Beachtung geschenkt hatte. Der linke Bolzen saß etwas locker im Holz. Die Kerle hatten das aber nicht bemerkt, als sie ihn in das Kabelgatt gepfercht und festgebunden hatten. Fong selbst hatte sich keinen Illusionen hingegeben. Ihm fehlte die Kraft, sich aus seiner Lage zu befreien, und auch wenn er es schaffte, würden die Piraten ihn wieder aus der See fischen, falls es ihm jemals gelang, sich in die Fluten zu stürzen. Jetzt erschien alles in einem völlig anderen Licht. Fong riß den linken Arm nach vorn. Es gab einen dumpfen Laut, und die Kette ruckte hart an dem Augbolzen. Fong verspürte ein schmerzhaftes Brennen in seinem Unterarm und ließ ihn sinken. Er sah wieder nach links oben. Täuschte er sich, gaukelte ihm die gedämpfte Wahrnehmung etwas vor - oder hatte sich der Bolzen tatsächlich etwas weiter gelockert? Fong wartete, bis sein Atem etwas langsamer ging, dann versuchte er es wieder. Er hatte das Gefühl, sich den linken Arm aus dem Leib zu reißen, hörte aber nicht auf, zu rucken und zu zerren. Der Gedanke an die „Isabella“ und ihre Mannschaft trieb ihn zu beinahe übermenschlichen Leistungen an und verlieh ihm den wilden Mut der Verzweiflung. Es gab keine Wachen, die ihn an seinem Vorhaben hindern konnten. De Romaes brauchte jetzt jeden Mann auf Deck. Fong arbeitete wütend und unter Schmerzen. Sein gepeinigter Körper drohte der Belastung nicht standzuhalten, aber
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immer wieder bezwang er sich und kämpfte die nahende Ohnmacht nieder. Eine außergewöhnliche Selbstbeherrschung hatte von jeher FongCh'angs Leben bestimmt und verließ ihn auch jetzt nicht. Er wußte nicht, daß Vinicio de Romaes und Nakamura, der Japaner, in diesem Augenblick fast genau über ihm auf dem Vordeck der Galeone standen und zur „Isabella“ hinüberblickten. De Romaes und Nakamura ahnten nicht einmal, welche Aktivitäten Fong entwickelte, denn das Poltern der Kanonen und das Patschen nackter Fußsohlen auf Deck überdeckten alle anderen Geräusche. De Romaes spähte durch sein Spektiv. „Eine Frau läuft auf dem Achterdeck zwischen den Flammen auf und ab“, sagte er. „Das ist aber nicht das Mädchen, das wir in Shanghai bei dem Seewolf und Fong-Ch'ang gesehen haben.“ „Wer dann?“ „Das kann nur Siri-Tong sein. Die Rote Korsarin.“ „Sie haben sie aus Shanghai gerettet“, erwiderte der Japaner. „Dort wurde sie des Mordes und des Tempelraubes angeklagt, wie ich gehört habe. In China steht auf diese Verbrechen der Tod.“ Aus blassen, gnadenlosen Augen schaute er zur „Isabella“. „So wird sie eben doch noch hingerichtet.“ Mit gischtender Bugwelle schob sich die Galeone auf die „Isabella“ zu. Drohend ragten die zwanzig Geschützmündungen aus den geöffneten Stückpforten. De Romaes ließ noch weiter anluven und ging mit seinem Schiff fast in den Wind. Er wollte den Seewolf mit einer vollen Breitseite begrüßen. 4. Hasard und Siri-Tong packten auf dem Achterdeck der „Isabella“ selbst mit zu, um den Brand zu löschen. Zum Glück waren die letzten beiden Brandsätze der Dschunke kein „chinesisches Feuer“ gewesen – die verheerende Mischung war wegen ihrer enormen Hitzeentwicklung
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nur sehr schwer zum Verglimmen zu bringen. Am Großmast hatten die Männer es geschafft. Nur das Unterliek des Großmarssegels schwelte noch, und das Großsegel hatte in seinem oberen Drittel zwei kopfgroße Löcher. Ruß hatte sich in Streifen auf die Takelage gelegt. Sam Roskill war mit einer Pütz voll Seewasser in den Luvhauptwanten aufgeentert und kippte sie über dem Großmarssegel aus. Zischend verging auch die letzte Glut. Jetzt gab es nur noch auf dem Vor- und Achterdeck alle Hände voll zu tun. Khai Wangs Feuerwerker hatte die beiden Kastelle zentral getroffen, und der Sand, den der Kutscher vorher ausgestreut hatte, reichte nicht, um die Flammen zum Ersticken zu bringen. Immer wieder leckten hier und dort Feuerzungen hoch. Bill, der Schiffsjunge, hievte pausenlos Seewasser in Pützen und Kübeln hoch. Ein Drittel der Crew bildete eine Kette zum Vor- und Achterdeck hin. So wurden die Behälter weitergereicht und in aller Eile über den Bränden ausgeleert. Auf der Back erschien plötzlich der Kutscher. Er raste wie verrückt mit einer Feuerpatsche auf und ab. Fast rutschte er dabei aus und hieb Smoky das Ding um die Ohren. Das viele Wasser hatte den Sand in eine glitschige Masse verwandelt. Man mußte höllisch aufpassen, nicht der Länge nach hinzuschlagen. Wasser, immer mehr Wasser ergoß sich auf die beiden Decks, und bald trieften sie regelrecht vor Nässe. Der Kutscher verschwand wieder unter Deck und kehrte binnen Sekunden mit zwei Kübeln voll trockenem Sand zurück. Das Vordeck war gelöscht und konnte neu bestreut werden. Auf dem Achterdeck gossen, schlugen und traten Hasard, SiriTong und die anderen soeben die letzten Flammen aus. Der Rest der Mannschaft befand sich unterdessen ohne Unterbrechung auf Gefechtsstation. Carberrys Stimme hallte über Deck. „Klar bei Kartuschen!“
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Die „Isabella“ schickte sich an, die Dschunke der Piraten zu überholen: Schon befand sich ihr Bugspriet auf gleicher Höhe mit dem Heck von Fei Yen. Die Seewölfe blickten zu Hasard auf. Sie warteten auf den Feuerbefehl. Smoky und Al Conroy hatten die vorderen Drehbassen in ihren Gabellafetten herumgeschwenkt und zielten bereits auf die Dschunke, während die Geschützführer der Culverinen noch darauf warteten, daß die „Isabella“ anluvte. Hasard richtete sich von den Löscharbeiten auf, sein ganzes Gesicht war rußverschmiert und verschwitzt. Sofort blickte er wieder zu der fremden Galeone. Sie rauschte hoch am Wind heran und trachtete, ihm in die Seite zu fallen. Ein kühnes Unternehmen, das mußte der Seewolf dem Kapitän lassen. Hasard eilte nach Steuerbord, zog das Spektiv aus der Tasche und blickte zu dem Dreimaster hinüber. Der Art seiner Aufbauten und seiner Verzierungen nach mußte er ein portugiesisches Schiff sein. Er führte weder Flaggen noch einen Namen noch andere Erkennungszeichen. Als er auf gleicher Höhe mit der „Fliegenden Schwalbe“ war und an ihr vorbeizog, sah Hasard, wer die beiden Männer ganz vorn auf der Back der Galeone waren: Vinicio de Romaes und Nakamura. Etwas weiter hinten glaubte er inmitten der Decksmeute auch den Mongolen zu erkennen. „Jetzt geht mir ein Licht auf“, sagte Hasard. Er wandte sich zu Siri-Tong um und erklärte, wen er entdeckt hatte. „Fong hatte uns gesagt, daß de Romaes seine Galeone in einer Bucht des Jangtsekiang versteckt hatte!“ rief sie zurück. „Der Kerl muß aber schon vor uns getürmt sein, denn wir haben nach ihm Ausschau gehalten und ihn nirgends entdeckt.“ „Ja. Er ist uns vorausgesegelt“, sagte Hasard. „Der Teufel mag wissen, was ihn dann aufgehalten hat. Auf jeden Fall ist er durch puren Zufall auf uns gestoßen.“
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„Der Kerl ist tolldreist!“ schrie Ben Brighton von der Drehbasse aus herüber. „Was will er uns denn beweisen?“ „Daß er der Stärkere ist“, meinte der Seewolf. „Und er brennt in seinem glühenden Haß darauf, Vergeltung für die Niederlage in Shanghai zu üben.“ Die Korsarin stand jetzt neben dem Seewolf. „Ob der Portugiese wohl FongCh'ang an Bord hat?“ „Ich kann Fong nicht sehen“, antwortete Hasard ihr noch. Dann ging alles in der Entwicklung der Ereignisse unter. Zu Mutmaßungen blieb keine Zeit mehr, die Männer der „Isabella“ und die Rote Korsarin wurden gefordert. Hasard stürzte an die Five-Rail, beide Gegnerschiffe waren jetzt bedrohlich nahe, er durfte keine Sekunde Zeit verlieren. „Al, Smoky!“ rief er. „Feuer frei auf Fei Yen!“ Smoky und Al Conroy standen schon mit glimmenden Lunten in den Händen bereit. Sie senkten die Schnüre auf die Bodenstücke der schlanken Drehbassen und die Geschütze ruckten in ihren Lafetten und spuckten die Ladungen aus. Smoky und Al hatten die Bassen hart nach Backbord schwenken müssen, denn die „Isabella“ war mit ihrem gesamten Vorschiff am Spiegel der Dschunke vorbei und begann mit dem Überholmanöver. Die Drehbassenkugeln schlugen ins Schanzkleid der Kuhl von Fei Yen und boxten zwei, drei Piraten zurück, die dort hinter den bronzenen Geschützen gekauert hatten. Die Seewölfe brüllten „Hurra“ -von der Dschunke gellten Wutschreie und die Schmerzenslaute der Getroffenen herüber. Zur selben Zeit pflügte de Romaes' Galeone heran und befand sich in einem Abstand von knapp mehr als zwei Kabellängen fast auf gleicher Höhe mit der „Isabella“. De Romaes ging mit dem Schiff in den Wind und riskierte, daß die Segel killten, nahm gleichzeitig aber Fährt weg und schwenkte so weit herum, daß er den Gegner vor den Steuerbordgeschützen hatte.
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Hasard hatte Carberry einen Wink gegeben. Der Profos wußte sofort, was er zu tun hatte. „Vordere Batterie - Feuer!“ rief er den Geschützführern der Backbordseite zu. Matt Davies, Blacky, Stenmark und Luke Morgan zündeten die 17-Pfünder mit den überlangen Rohren. Brüllend rasten die Kugeln aus den Mündungen, fegten über die glitzernde Wasserfläche dahin und kreuzten sich fast mit den Geschossen, die nun auch die Bronzekanonen von Khai Wangs Dschunke ausgestoßen hatten. Ein einziger langgezogener Donner wälzte sich über das Gelbe Meer. Fei Yen segelte wie die „Isabella“ auf Backbordbug liegend, krängte also nach Backbord - und die vierfache Ladung der Culverinen bohrte sich wie eine Gigantenfaust in ihr Schanzkleid. Holz zerbrach zu zackigen Splittern, wirbelte, segelte über Deck und nach außenbords und wieder brüllten die Piraten durcheinander. Die Kugeln der Piraten waren schlechter gezielt. Nur zwei rissen Löcher in die Bordwand der „Isabella“. Der Rest saß zu tief oder zu hoch oder fegte am Bug der Galeone vorbei. Hasard hatte den Annäherungskurs zur Dschunke beibehalten und segelte praktisch im spitzen Winkel auf sie zu, so daß die Treffer der 17-Pfünder im Achterschiff des Feindes zu verzeichnen waren. Der Profos stürmte über die Kuhl, hielt auf die Geschützführer der Steuerbordseite zu und gab den Befehl: „Achtere Batterie Feuer!“ Zwei Sekunden später krachten auch diese vier Geschütze los. Kurze Mündungsblitze erschienen vor den Rohren, der Gluthauch des Todes eilte auf de Romaes und seine Bande zu. Nur zwei Kugeln saßen jedoch, sie hackten in die Back der gegnerischen Galeone. Die anderen beiden ließen Wasserfontänen vor der Bordwand aufsteigen. Gary Andrews, der Kutscher, Bob Grey und Will Thorne - die Geschützführersahen sich an.
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„Hölle und Teufel“, wetterte Bob los. „Wer hat denn hier kein Zielwasser gesoffen?“ „Du vielleicht“, sagte Will genauso gereizt. Gary wollte etwas einwenden, aber in diesem Augenblick orgelte von drüben die Antwort heran. Sie zogen die Köpfe ein. Carberry fluchte, daß auch eine hartgesottene Hafenhure errötet wäre. Es heulte, krachte und rauschte. Und mitten in dem tödlichen Inferno schrie der Seewolf: „Pete, Hartruder Steuerbord, Ed - wir luven an!“ Carberry unterbrach sich und brüllte: „Aye, aye, Sir, anluven!“ Dann fluchte er weiter, während die Männer, die die Segel zu bedienen hatten, auseinanderspritzten und über Deck hasteten. Die „Isabella“ war ein williges Schiff, fast zu schlank für eine Galeone und hervorragend zu manövrieren. Sie beschrieb eine enge Schleife. Carberry fuhr zu den achteren Geschützführern der Backbordseite herum und schrie: „Feuer!“ Vier Kugeln prasselten auf die Dschunke ein. Zwei Treffer hatte die „Isabella“ von de Romaes' Seite einstecken müssen. Keilförmige Breschen klafften im Schanzkleid der Steuerbordseite, aber keiner der Männer war verletzt worden. Die „Isabella“ schwenkte immer weiter herum und zeigte Fei Yen ihr Heck. Ben Brighton und Old O'Flynn kamen mit den achteren Drehbassen zum Zug und bepflasterten das Heck von „Fliegender Schwalbe“, ehe sie sich zu weit entfernen konnte. „Khai Wang schafft es nicht mehr!“ rief Siri-Tong. „Wir liegen nicht mehr in der Zielrichtung seiner Geschütze, außerdem braucht er zuviel Zeit zum Nachladen. Und seine Brandsätze scheint er verpulvert zu haben.“ „Dein Wort in Gottes Ohr, Mädchen“, sagte der alte O'Flynn mit krächzender Stimme. Ben Brighton schaute ihn verdutzt an, während er seine Drehbasse nachlud. Das war ja fast ein frommer Spruch, den der
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alte Haudegen da ganz gegen seine sonstige Gewohnheit losgelassen hatte. De Romaes zog in der Drehbewegung der „Isabella“ mit und schickte sich an, ihr vorbeizugleiten. Seine Galeone drohte der „Isabella“ die Luvposition zu rauben. „Klar bei Lunten - Feuer!“ dröhnte Carberrys Stimme über Deck. Diesmal wummerten die vorderen Culverinen der Steuerbordseite los. Ihre Kugeln erwischten die Feindgaleone, bevor sie vorbei war und ehe de Romaes' Männer die Kanonen gesäubert und nachgeladen hatten. Und auch Al Conroy und Smoky waren mit den beiden Drehbassen der Back wieder schußbereit. Smoky, der Decksälteste, wandte sich zum Seewolf um. Hasard gab vom Achterdeck aus sein Zeichen. „Feuer“, zischte Smoky. „Drauf, Al.“ So wendete die „Isabella“ zwischen zwei Fronten und bot sich dem Feind als feuerspuckende Burg dar. Carberry lachte jetzt und rieb sich die Hände. „Gut so, gut so!“ rief er. „Gebt's diesen Hurensöhnen, ihr Satansbraten, daß sie mit den Ohren schlackern und ihnen das Luftholen vergeht! O Mann, das wird eine Schlacht mit Pauken und Trompeten.“ Die Galeone des Portugiesen war jetzt an der „Isabella“ vorbei, segelte immer noch hoch am Wind liegend in Richtung SüdSüd-West und gewann Abstand vom Feind. Fei Yen schob sich ebenfalls aus der unmittelbaren Schußweite der „Isabella“. Khai Wang brauchte Zeit zum Laden seiner Kanonen, zum Versorgen der Verletzten - und zum Luftholen. * Fassungslos blickte Khai Wang zur „Isabella“ zurück. Sein überschwängliches Triumphgefühl war dahin. Dieser Teufel von einem Seewolf - wie hatte er es fertiggebracht, den Brand zu löschen und auch noch so hart zuzuschlagen - gegen zwei Gegner?
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Es wollte dem Piraten nicht in den Kopf. Khai Wang hätte sich den Tatsachen gern verschlossen, aber er brauchte nur auf die Kuhl zu schauen, um brutal in die Realität zurückgerissen zu werden. Zwei Tote lagen dort, aber der schlimmste Zustand wurde durch die Verwundeten hervorgerufen. Sechs Männer waren schwer verletzt, einer hatte ein Bein eingebüßt, das Jammern und Schreien drang laut bis zu Khai Wang herauf, der immer noch auf dem Vordeck der Dschunke stand. Es zerrte an seinen Nerven. Drei Männer hatten leichtere Blessuren davongetragen, aber auch sie bluteten erheblich. Die Zahl der voll Wehrfähigen hatte sich auf nahezu ein Dutzend reduziert. Voll Zorn stampfte Khai Wang mit dem Fuß auf. Er hastete auf die Kuhl hinunter, stieß fast mit dem Feldscher zusammen und herrschte ihn an: „Beeil dich, du Lumpenhund! Wirf die Toten über Bord und flick die Verletzten wieder zusammen, so gut es geht. Wer nicht mehr kriechen kann, den betäubst du, daß er nicht mehr aufwacht. Ich kann keine Krüppel gebrauchen.“ „Ja, Herr.“ Khai Wang eilte weiter und spürte die haßerfüllten Blicke nicht, die der Feldscher und einige andere Männer ihm nachsandten. Khai Wang wollte den Feuerwerker treten, schlagen und über Bord befördern, so aufgebracht war er, aber dann überlegte er es sich doch anders. Natürlich sah er ein, daß der Mann sein Bestes getan hatte und nichts dafür konnte, daß der Seewolf und seine Mannschaft des Feuers Herr geworden waren. Khai Wang nahm den Niedergang der Backbordseite mit zwei Sätzen und war auf dem Achterdeck. „Abfallen“, rief er Wu zu. „Wir wenden, gehen hart an den Wind und laufen nach Südwesten zurück. Ich will dem Seewolf die Backbordbreitseite zu schmecken geben.“
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„Wir sind ihm nicht gewachsen“, sagte Wu. „Doch!“ brüllte Khai Wang zurück. „Er weiß nur noch nicht, auf was er sich eingelassen hat.“ Mit bebender Hand wies er auf die Galeone des Portugiesen. „Hast du vergessen, daß wir einen Verbündeten haben?“ Wu wagte keine Erwiderung. Er duckte sich ein wenig und legte den Kolderstock herum. * Die Segel der „Isabella“ hingen im Gei, der Südostwind blies gegen das Vorschiff an. Hasard turnte den Niedergang aufs Quarterdeck hinunter, blieb neben dem Ruderhaus stehen und hob die Hand. Pete Ballie wandte den Kopf. „Sir?“ „Wir wenden, nehmen wieder Fahrt auf und stellen dem Portugiesen nach.“ „Aye, Sir.“ Das Ruderrad wirbelte unter Petes schwieligen Händen. Carberrys Befehle hetzten die Männer in die Wanten. Sie kletterten wie die Affen und setzten die Segel genauso schnell wieder, wie sie sie aufgeholt hatten. Ein anderer Teil der Crew stand auf Deck und bediente die Brassen und Schoten. Die Schoten an Steuerbord wurden so dicht wie möglich geholt. Die Männer braßten an und brachten ihr Schiff hoch an den Wind. Die Segel bauschten sich in der steifen Brise. Die „Isabella“ nahm Fahrt auf und jagte dem Portugiesen nach. De Romaes war mit seiner Galeone abgefallen und wollte sich in einer weitgezogenen Schleife zu Fei Yen gesellen, aber daraus wurde nichts. Hasard schnitt ihm vorher den Weg ab. Es sah aus, als wollte die „Isabella“ die Piratengaleone rammen. De Romaes ließ noch weiter abfallen und lag mit seinem Schiff nun platt vor dem Wind, aber nur für eine Weile. Danach luvte er nach Steuerbord an, segelte nun mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug liegend und zeigte den Seewölfen erneut die volle Breitseite.
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Hasard war an die vordere Schmuckbalustrade des Quarterdecks getreten und sagte zu seinen Männern: „Ruhig Blut bewahren. Ich will, daß der Portugiese sich verausgabt, bevor wir richtig einsteigen. Dann ziehen wir alle Register.“ Er schaute zu Shane und Batuti hoch, die aus dem Groß- und Vormars herabgrinsten und klar zeigten. Er dachte an Ferris Tuckers neueste Konstruktion und fragte sich insgeheim, ob es nicht doch unsinnig sei, dem Schiffszimmermann die Spielerei zu gestatten. Nur: Solche Spielereien hatten den Seewölfen schon öfter etwas eingebracht. Die Höllenflaschen beispielsweise waren alles andere als ein Schlag ins Wasser gewesen. De Romaes eröffnete das Feuer. Die Kugeln rasten heran, acht 17-Pfünder und zwei Neunpfünder zur selben Zeit. Hasard ließ in diesem Augenblick abfallen und folgte der Bewegung der feindlichen Galeone. Er präsentierte dem Gegner den Bug und somit die geringste Angriffsfläche. Trotzdem konnte er den Treffern nicht entgehen. Die außenliegenden Kugeln jaulten an der „Isabella“ vorbei, aber die inneren lagen im Ziel. Die „Isabella“ rauschte genau hinein. Das brüllte und barst, krachte und prasselte, und plötzlich lagen Siri-Tong und die Seewölfe flach auf den Bäuchen. Auch „Flüssiges Licht“ hatte sich im Achterdecksgang hingeworfen. Das Schiff vibrierte unter den Einschlägen, und eine Serie von dumpfen, hammerharten Hieben lief durch den Rumpf bis in die am tiefsten befindlichen Verbände. Dan, Shane und Batuti hielten sich auf ihren luftigen Posten fest und fluchten, was das Zeug hielt. Arwenack hatte Vorderund Hinterpfoten um die Umrandung des Großmars geklammert. Fast wäre er vorübergekippt. Sir John flatterte aus Carberrys Tasche auf, aber der Profos packte ihn mit einem erstaunlich sicheren Griff und stopfte ihn ins Wams zurück.
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„Das ist nichts für Papageien, du Vogel“, sagte er. Zusammen mit Hasard, Siri-Tong und Ben Brighton richtete er sich als einer der ersten wieder auf. Ihr Blick nach vorn war entsetzt, nicht nur besorgt. Der „Isabella“ hatte es nicht nur den Bugspriet mitsamt der Blinde weggerissen, auch der Fockmast hatte einen Knacks weg. Und Bill, der Schiffsjunge, stürmte aus dem Vordeck und rief verzweifelt: „Sir, ein Leck! Himmel, das ganze Wasser ...“ „Ferris, sieh nach, was los ist“, befahl der Seewolf. „Nimm Matt Davies und Luke Morgan als Helfer mit. Wenn du noch mehr Leute brauchst, kriegst du sie. Sieh zu, daß unsere Lady über Wasser bleibt, verdammt noch mal!“ „Aye, Sir.“ Ferris sprang auf und hetzte los. „Deine Höllenflaschenabschußkanone bediene ich“, rief der Seewolf ihm noch nach. „Pete — alles in Ordnung?“ „Alles in Ordnung, Sir!“ Hasard wirbelte auf dem Absatz herum, flog den Niedergang hoch und erreichte das seltsame Holzgebilde, auf das Ferris so stolz war. Wenig später feuerten Al Conroy und Smoky als erste ihre Drehbassen auf die gegnerische Galeone ab. Vinicio de Romaes' Kugeln hatten einiges Unheil angerichtet — den Hinterladern der Back hatten sie aber nichts anhaben können. Die funktionierten nach wie vor großartig und ruhten auch noch fest und sicher in ihren Gabellafetten. Die Distanz zwischen den Gegnern schrumpfte. Hasard warf einen Blick nach Steuerbord, zu Khai Wangs Dschunke hinüber — der Chinese war noch mit seinem Überstag-Manöver beschäftigt und konnte nicht eingreifen. Hasard sah zu Shane und Batuti auf. Auf seinen Wink hin legten sie die ersten Pfeile an die Bogensehnen. Die Pfeilspitzen waren mit ölgetränkten Lappen umwickelt. Sie zündeten sie mittels glimmender Lunten an — und zuckende Lichter stachen zu der Galeone des Portugiesen hinüber und senkten sich auf die Decks.
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Drohend schob sich die „Isabella“ immer näher auf den Feind zu. De Romaes hatte keine Chance, durch ein rasches Manöver auszuweichen. Und vorerst wollte er das auch nicht, denn trotz der Brandpfeile glaubte er immer noch, zeitig nachladen und der „Isabella“ durch eine neue Breitseite den entscheidenden Schlag versetzen zu können. Warte, dachte Hasard, wundern wirst du dich noch, Bursche. Durch ein neues Zeichen gab er Big Old Shane zu verstehen, er solle jetzt seine „Spezialpfeile“ einsetzen. Dann widmete sich der Seewolf den Höllenflaschen und dem Abschußgestell. 5. „Verflucht, beeilt euch mit dem Nachladen!“ schrie Vinicio de Romaes. „Ihr Bastarde, ich peitsche euch aus, wenn das nicht schneller geht!“ Nakamura und der Mongole hatten auf der Steuerbordseite der Kuhl mit zugepackt und halfen, die Rohre der Culverinen und Demi-Culverinen zu säubern und neu mit Pulver, Kugeln und Kabelgarn als Verdämmungspfropfen zu füllen. Sie verrichteten ihr Werk mit fliegenden Fingern. Nakamura preßte mit einem gebogenen Ansetzer ein Wergknäuel in das Rohr eines 17-Pfünders, um die Lage der Kugel zu sichern - da begann es Brandpfeile zu hageln. Einer davon traf fast den Mongolen. Der Pfeil blieb etwa zwei Handspannen hinter seinen Hacken in einer Kuhlplanke stecken. Der Mongole brüllte auf, fuhr herum und packte das Geschoß am Schaft. Er riß es aus der Planke und schleuderte es außenbords. Dabei versengte er sich die Hand und steckte sie rasch in einen Kübel Seewasser, um sie zu kühlen. „Löscht!“ schrie de Romaes vom Vordeck aus. „Kippt Sand und Wasser über die Flammen, zum Teufel noch mal!“ Nakamura hatte den Ladevorgang beendet und winkte einem der Chinesen zu. Der Mann huschte heran. Er steckte das Ende
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einer Lunte in das Kupferbecken mit glimmender Holzkohle, das gleich neben der Culverine stand. Nakamura griff sich unterdessen eine Segeltuchpütz mit Wasser und hetzte los, um den Brand zu bekämpfen. Überall auf Deck loderten Feuer auf. De Romaes wies mit verzerrtem Gesicht auf das Großsegel. Ein Brandpfeil war darin steckengeblieben, hoch leckten die Flammen an dem Tuch empor. Der Chinese, der Nakamuras Geschütz übernommen hatte, wollte die Lunte auf das Bodenstück senken. Aber in diesem Augenblick raste etwas Heißes, Waberndes auf ihn zu. Er wollte ausweichen, aber jede Reaktion erfolgte zu spät. Der Pfeil traf seine Brust. Schreiend stürzte der Pirat. Shane und Batuti veranstalteten mit ihren Pfeilen ein Zielschießen auf die Galeone. Und wieder belferten die Drehbassen von der Back der „Isabella“. Zwei, drei Piraten zündeten ihre Kanonen. Doch sie waren zu nervös geworden und hatten zu oberflächlich gezielt. Wirkungslos flogen die Kugeln an dem anrückenden Gegner vorbei. Vinicio de Romaes tobte. Aber die Überraschung stand ihm noch bevor. Das wahre Inferno sollte erst noch ausbrechen. Nakamura stand inzwischen mit einem Kübel Wasser bewaffnet auf den Rüsten der Backbordhauptwanten. Er begann auf zuentern, um das Großsegel vor dem Flammenfraß zu retten. Auf halbem Weg sah er einen dicken Pfeil heransurren. Instinktiv duckte er sich. Der Pfeil blieb mit einem harten Geräusch im Großmast stecken. Nakamura schaute zu ihm auf, sah die lodernde Spitze, wunderte sich über den ungewöhnlich dicken Schaft - und dann geschah es auch schon. Der Pfeil explodierte. Nakamura fühlte eine glühende Woge von oben heranrasen. Er verlor vor Schreck den Kübel und glitt in den Webeleinen aus. Im Krachen des pulvergefüllten Pfeilschaftes schlidderte er in die Tiefe. Ein paar Yards tiefer verfing er sich in den Webeleinen,
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sonst wäre er zweifellos außendords gestürzt. Nakamura pendelte hilflos und entsetzt über der Kuhl und sah, wie weitere Pulverpfeile in den Planken, in den Masten und in den Aufbauten der Galeone steckenblieben. Eine Detonation nach der anderen ließ das Oberdeck vibrieren. Die Piraten warfen sich hin, schrien und fluchten. Vinicio de Romaes hatte zunächst wie erstarrt dagestanden. Jetzt löste er sich aus seiner erschütterten Haltung. Er stürzte zum Niedergang, stolperte die Stufen hinunter — und entging um Haaresbreite einem weiteren Pfeil. Als er die am weitesten achtern stehende Culverine erreichte, blafften drüben wieder die flink nachgeladenen Drehbassen von der Back der „Isabella“ los. De Romaes trat dem Geschützführer in die Kehrseite. Der Mann wälzte sich vor ihm. „Warum schießt du nicht, du Hund?“ brüllte der Portugiese ihn an. „Ich will nicht getroffen werden!“ schrie der Mann mit angstgeweiteten Augen zurück. De Romaes mußte sich selbst hinkauern, um den heranzischenden Pfeilen zu entgehen. Er duckte sich hinter das Geschütz, packte die Lunte, brachte das Ende zum Glühen, wich zur Seite aus, um dem Rückstoß des 17-Pfünders zu entgehen, und zündete die Ladung. Dröhnend fuhr die Kugel aus dem Lauf. Das Zurückpoltern der Kanone wurde durch die Brook gebremst. De Romaes richtete sich ein Stück hinter dem Schanzkleid auf und spähte zur „Isabella“. Dicht vor dem Bug des stolzen Dreimasters wuchs ein Wasserpilz aus der See. Seine schäumende Krone hüllte den Vorsteven und den Stummel ein, an dem vorher der Bugspriet gesessen hatte. De Romaes hieb mit beiden Fäusten auf die Brüstung des Schanzkleides. Der Schuß war zu kurz angesetzt worden, die Kugel traf die „Isabella“ nicht unter der Wasserlinie, sondern vor ihrer Bordwand und versackte in den Tiefen der See.
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Hinter dem Portugiesen erfolgten mehrere Explosionen im Stakkato. De Romaes drehte sich um. Das Deck brannte prasselnd und knackend. Das Großsegel stand in hellen Flammen, und auch das Großmarssegel wurde jetzt in Mitleidenschaft gezogen. Die Mannschaft geriet in Panik und konnte weder mit Wasser noch mit Löschsand etwas gegen den Brand ausrichten, der immer schneller um sieh griff. Nakamura und der Mongole waren neben de Romaes die einzigen, die nach wie vor den Überblick behielten. Alle drei trachteten, den Rest der Mannschaft diszipliniert über Deck zu scheuchen. Nur so konnte die Galeone vor der Vernichtung durch die Flammen bewahrt werden. Denn das planlose Auf und Ab der Piraten, das hastige Auskippen von Kübeln und Pützen, mal hier, mal da, nahm sich eher wie der Tropfen auf dem heißen Stein aus. Nakamura blieb plötzlich nahe der Kuhlgräting stehen und deutete verwirrt auf die „Isabella“. De Romaes, der gerade auf ihn zueilte, wandte rasch den Kopf. So sah er das rätselhafte Objekt, das sich vom Achterdeck der feindlichen Galeone gelöst hatte und in hohem Bogen heransegelte. Es tauchte nahe der Bordwand vom Schiff des Portugiesen ins Wasser, und Vinicio de Romaes stellte verblüfft fest, daß es sich um eine Flasche handelte. Daß diese Flasche von einem gewissen Ferris Tucker mit Pulver, Nägeln und Blei gefüllt worden war, entging jedoch seiner Aufmerksamkeit. Und ebenso wenig erkannte er, daß die Flasche mit einem Korken zugestöpselt war, durch den eine Lunte führte. Je nach der Länge der Lunte konnten sowohl der rothaarige Schiffszimmermann als auch Hasard und einige andere an Bord der „Isabella“ ziemlich genau berechnen, wann die „Höllenflasche“ detonierte, aber das ahnte de Romaes in diesem Augenblick nicht. Und wenn man ihm erzählt hätte, daß die Lunte unter Wasser weiterglomm, wenn sie erst einmal durch den Korken abgebrannt war, hätte er nur hämisch
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gelacht und das Ganze für verrücktes Seemannsgarn gehalten. Etwas begriff er erst dann, als die See eine Beule schlug und zu sprudeln begann — dort, wo die Flasche soeben eingetaucht war. Ein Schlag traf die Galeone von unten. Ein kleines Seebeben schien eingesetzt zu haben. De Romaes und seine Männer hatten keine Zeit, se darüber zu wundern. Schon torkelte eine zweite Flasche von der „Isabella“ herüber. Sie landete polternd auf der Kuhl. Inmitten der Flammen. Sie rollte ein Stück durch das Feuer, verharrte am Rand der Gräting, dann ging sie hoch. Schreiend ging de Romaes in Deckung. Er sah, wie Trümmer und Menschen wirbelten, wie Nakamura und der Mongole durch die Wucht der Druckwelle umgerissen wurden und über Deck rutschten. Der Mongole geriet ins Feuer, seine Kleidung begann zu lodern. Mit gellenden Schreien schlug er die Flammen aus. Nakamura richtete sich taumelnd auf, ließ sich im nächsten Moment aber wieder fallen. Pausenlos regneten Brandpfeile, Pulverpfeile und Höllenflaschen auf die Piratengaleone. Die „Isabella“ schob sich noch näher heran. Sie luvte nach Steuerbord an, schoß noch einmal ihre vorderen Drehbassen auf den Todfeind ab und richtete dann ziemlich schnell ihre acht Culverinen der Backbordseite auf die Piraten. * Ferris Tucker kehrte aus dem Vorschiff zurück. Er war pudelnaß, schüttelte sich, fluchte und lief zum Achterdeck. Als er den Niedergang hochstieg und den Seewolf mit Eifer an der „Höllenflaschenabschußkanone“ hantieren sah, mußte er unwillkürlich grinsen. Und als er dann auch noch registrierte, wie präzise Hasard die Flaschen zu de Romaes hinüberschickte und in welchem Zustand sich der Gegner befand, lachte er lauthals.
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„Ho, das Ding funktioniert also!“ rief er. „Gratuliere, Sir, du kannst prächtig damit umgehen.“ „Ich will mich nicht mit Ruhm bekleckern“, sagte der Seewolf. „Das Lob steht unserem rothaarigen Dickschädel zu, stimmt's, Männer?“ „Ja!“ schrie Old O'Flynn. „Ein dreifaches Hurra für unseren Klamphauer, Leute!“ Das Hurra schallte über Deck, und Ferris wurde dabei im Gesicht fast so rot wie oben auf dem Schädel. Er kniete sich schnell neben Hasard auf das leicht schwankende Deck. „Das Leck ist notdürftig abgedichtet“, sagte er. „Aber Matt und Luke lösen sich an der Pumpe ab, sonst nehmen wir doch zuviel Wasser auf. Ich kann den Vorsteven erst richtig reparieren, wenn wir irgendwo vor Anker gehen.“ „Einverstanden, Ferris“, erwiderte der Seewolf. „Es bleibt uns ja nichts anderes übrig.“ Er legte eine neue Höllenflasche mit glimmender Lunte auf die kleine Plattform des Holzgestells, betätigte den Sperrhebel - und das Geschoß schwang in die Luft. „Hauptsache, wir bleiben seetüchtig und manövrierfähig.“ „Dafür leg ich meine Hand ins Feuer“, sagte Ferris Tucker, und wenn er das sagte, war das keinesfalls nur so dahingesprochen. Hasard überließ Ferris die Bedienung der Höllenflaschenkanone. Er erhob sich, lief ans Backbordschanzkleid und verschaffte sich einen Überblick von der Lage. Die Galeone des Portugiesen brannte in einem Höllenfeuer. De Romaes schien seine Leute nicht mehr zur Räson bringen zu können. Vorerst hatte er genug und dachte nicht mehr daran, sich mit der „Isabella“ anzulegen. Die Kerle hatten alle Hände voll zu tun, das Feuer zu löschen wenn sie es schafften. „Sieh ihn dir an“, sagte Ben Brighton von der Drehbasse her. „Seine Entschlossenheit und sein Mumm sind dahin. Seine Breitseite war ein Schuß in den Ofen.“ „Und wir haben die Luvposition“, stieß der alte O'Flynn begeistert aus. „Hey, ist das
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eine Schlacht! Wie in den guten alten Zeiten, oben in der Irischen See!“ Er ließ sich ausschweifend und fast ohne Pause darüber aus, was damals in der Irischen See alles los gewesen war. Aber keiner der Kameraden hörte so richtig hin. Erstens kannten sie die „ollen Kamellen“, wie der junge O'Flynn sie respektlos nannte, bereits lückenlos. Zweitens war das Gefecht noch nicht beendet. Die „Isabella“ glitt an dem Gegner vorbei, luvte immer weiter an und hielt nun auf die Dschunke von Khai Wang zu. Der chinesische Pirat hatte die Wende inzwischen vollendet und segelte auf Steuerbordbug liegend heran, um seinem Verbündeten zu Hilfe zu eilen. Hasard blickte durch das Spektiv noch einmal zu de Romaes' Schiff. Er sah, wie der Mongole auf eine der Culverinen zustrebte und sich daneben hockte. Kein Zweifel, er wollte den geringen Abstand zwischen den Schiffen nutzen und der „Isabella“ doch noch einen Treffer verabreichen. Auch de Romaes und Nakamura erschienen in der Optik des Spektivs. Sie hantierten ebenfalls an zwei Kanonen der Steuerbordseite. Hasard fuhr zur Kuhl herum. „Ed, die achtere Backbordbatterie zünden!“ „Aye, Sir“, tönte es zurück. „Klar bei Kartuschen, klar bei Lunten, ihr Stinkstiefel, ihr Rübenschweine -haut dem Bastard ein Ding vor die Kiemen - Feuer!“ Fast gleichzeitig rollten die Böller über See. Bevor de Romaes, Nakamura und der Mongole zum Schuß gelangten, hatten die schweren 17-Pfünder-Kugeln die Bordwand ihres Schiffes erreicht und gruben sich hinein. Hasard setzte das Spektiv nicht ab. Er beobachtete mit verkniffener Miene. Einer der Piraten war voll getroffen worden - der Mongole. Er wurde von der Wucht der Kugel quer über die Kuhl befördert und außenbords gewirbelt. *
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Im Rumpf der Galeone knackte und knirschte es, der Schiffskörper schien jeden Augenblick zerbrechen zu wollen. Fong-Ch'ang hörte das Donnern der Explosionen auf dem Oberdeck, vernahm das Geschrei der Piraten und auch das Geprassel der Flammen. Er lachte auf. Das konnte nur das Verdienst des Seewolfs sein! Kein anderer verstand es, einem Gegner derart einzuheizen, wenn das Kräfteverhältnis so ungleich gesetzt war. Fong hatte Hasard nie im Kampf erlebt, aber er wußte diesen Mann zu taxieren, und er hatte auch durch Ch'ing-chao LiHsia, dem Mädchen „Flüssiges Licht“, von den Heldentaten des Seewolfes vernommen. So erfüllte ihn mit ungeheurer Genugtuung, was hier geschah — und er riß mit noch wilderem Eifer an seiner linken Kette. Wenn das Schiff bersten und sinken mußte, dann wünschte er sich nur eins: daß es geschah, wenn er sich befreit hatte. Fong keuchte, schwitzte und drohte jeden Moment zusammenzusinken. Narr, dachte er, glaubst du denn wirklich, du schaffst es? Wut stieg in ihm auf. Sie verdoppelte die letzte Energien, die noch in ihm steckten. Fong warf sich vor —und der enorme Ruck drohte ihm den Arm zu brechen. Aber dann war da dieses Knirschen, dieses Nachgeben — Fong stürzte vornüber und verlor das Gleichgewicht, weil sein linker Arm und die Kette plötzlich frei durch das Kabelgatt schwangen. Er fiel hin und rappelte sich lachend wieder auf. Fassungslos starrte er auf die herunterbaumelnde Kette und den daran befestigten Augbolzen. Er blickte zur Wand und sah das Loch klaffen. Er hatte es geschafft. Aber noch war da die andere Kette. Fong atmete ein paarmal tief durch und packte dann mit der linken Hand zu. Auch die rechte Hand schob er durch den Eisenring so weit vor, daß sich die Finger um die Metallfessel klammern konnten. So zerrte er mit aller Macht, während das lose Stück
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Kette herunterbaumelte und hin und her schwang. Fong ruckte und riß. Es bestand keinerlei Aussicht, daß sich auch der zweite Bolzen aus der Holzwand löste, aber trotzdem mühte er sich mit dem wilden Mut der Verzweiflung ab. Das Begehren, der Hölle zu entrinnen, war stärker als jede vernunftsmäßige Erwägung. Er zerrte, bis er fast völlig ausgelaugt war. Draußen, über ihm, war das Tönen von Explosionen und Kugeleinschlägen. Vinicio de Romaes schrie Worte in seiner Muttersprache, die Fong nicht verstand. Nach dem Klang seiner Stimme schien der Portugiese jedoch hell entsetzt zu sein, zum erstenmal hörte Fong. Angst aus dem Tonfall heraus. De Romaes schien sich jetzt auf dem Achterdeck zu befinden. Wenig später vernahm Fong-Ch'ang aus dem Mund zweier chinesischer Piraten, daß es den Mongolen erwischt hatte. Ein halbes Dutzend Piraten war verwundet, ihr Stöhnen drang bis ins Kabelgatt. Nur de Romaes und Namakura, der Japaner, waren unversehrt! Fong tobte und gab nicht auf. Die Kette war der Mittelpunkt der Welt, sie entschied alles. Gab der Bolzen nach, würde Fong an dem Kampf teilhaben, auf seine Art. Hielt er stand, endete hier sein Dasein. Denn Fong rechnete sich kaum Chancen aus, auf andere Weise lebend die Galeone zu verlassen. Auch wenn das Schiff nicht sank - Vinicio de Romaes würde ihn aus Wut über das, was er einstecken mußte, töten. Der Anlaß war gegeben, und ein Anflug von Jähzorn genügte, um das Schicksal des Gefangenen zu besiegeln. Plötzlich war das Knirschen wieder da. Fong warf sich zurück und legte alles Gewicht seines Körpers in diesen neuen Ruck. Was oben auf Deck geschah, verfolgte er nicht mehr. Der Kampf wogte unausgesetzt hin und her, aber Fong hatte keinen Begriff mehr davon, wie es um die beiden Parteien stand. Er widmete seine volle Konzentration der Kette, nur der Kette.
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Mit rauhem, kratzendem Laut gab sie nach. Fong-Ch'ang fiel auf den Rücken. Schmerz raste stechend durch seinen Körper. Er war von Kopf bis Fuß zerschunden, zerlumpt, ausgemergelt, und die Übelkeit stieg würgend in seinem Hals auf. Schwarz waberte es vor seinen Augen. Er wurde ohnmächtig. Aber nur Sekunden dauerte seine Bewußtlosigkeit an. Als er wieder die Augen aufschlug und sich benommen aufrichtete, spürte er sofort einen frischen Schub Kraft in seinen Muskeln. Die Lage verhalf ihm zu dieser Energie, woraus sollte er sie sonst schöpfen? Fong erhob sich, taumelte und mußte sich an der Wand abstützen, um nicht wieder hinzufallen. Die Luft im Kabelgatt war stickig und wurde durch das oben ausgebrochene Feuer noch angeheizt. Fong hustete und humpelte zur Tür. Die Ketten schleiften seinen herabbaumelnden Armen nach. Die Tür ging nach innen auf, aber Fong konnte sie nicht öffnen. Sie war von außen verriegelt. Zorn und Verzweiflung trieben ihm die Tränen in die Augen. Er warf sich gegen die Tür, die letzte Barriere vor der Freiheit, aber er konnte nichts ausrichten. Wieder hielt er inne. Er stand gebeugt und schöpfte röchelnd Atem. Dann verfiel er darauf, die Ketten zu Hilfe zu nehmen. Da war ein roher, nach oben gebogener Eisenstab im Holz der Tür, eine Art Haken. Vielleicht hatte er einem Balken zur zusätzlichen Innenverriegelung als Halterung gedient. Fong raffte die Ketten auf und legte sie über den Haken. Die Enden seiner Fesseln packte er - und wieder zerrte er. Der kalte Schweiß rann ihm über das Gesicht. Die Tür hatte etwas Spielraum in ihrer Füllung und ruckte vor und zurück. Zu Fongs Erleichterung vergrößerte sich dieser Spalt schon nach den ersten Versuchen erheblich. Er lachte und rüttelte. Zweimal glitt er aus und brach zusammen, rappelte sich keuchend und hustend wieder auf und arbeitete weiter. Schließlich gab der Außenriegel nach. Fong hatte ihn so weit verbogen, daß er die
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Tür nicht mehr blockierte und unter einem letzten ruckartigen Ziehen über den Rahmen scharrte. Die Tür schwang auf Fong-Ch'ang zu. Er hievte die Ketten aus dem Bügel, fiel beinahe wieder hin, fing sich aber und stolperte auf den Vordecksgang hinaus. Die Ketten rasselten. Sie waren ihm beim Laufen im Weg. Er strauchelte darüber, taumelte nach links und krachte mit der Schulter gegen die Wand. Schmerzen schüttelten seinen Körper. Aber Fong kümmerte sich nicht darum. Wieder standen ihm die Tränen in den Augen, er weinte wirklich, diesmal aber aus Freude. Er sah das Tageslicht, das am Ende des Ganges ins Vordeck fiel, auch das rötliche Zucken der Flammen - dort lag der Ausgang der Hölle. Aber kein Brand der Welt konnte ihn zurückhalten, Feuer war nichts im Vergleich zu dem, was er in den letzten Tagen durchgestanden hatte. De Romaes' Wächter waren nicht zurückgekehrt, um nach ihrem Gefangenen zu schauen. Es war Not am Mann, jede Hand, die noch zupacken und löschen konnte, wurde gebraucht. Kein Gegner also, der sich ihm entgegenstellte. Fong wankte mit schleifenden Ketten weiter, am Mannschaftslogis und den anderen Vordecksräumen vorbei. Er erreichte den Niedergang, klomm die Stufen hoch und gelangte an das Querschott zur Kuhl. Heiße Luft wehte ihm entgegen. Aber sie brachte auch die Brise mit, die von Südosten her über das Gelbe Meer wehte, und war frisch genug, Fongs Lebensgeister erneut zu wecken. 6. Khai Wang spähte vom Vordeck seiner Dschunke zur „Isabella“ und zur Galeone des Portugiesen hinüber. De Romaes blieb mit seinem Schiff hinter den Seewölfen zurück. Das Feuer hatte den größten Teil der Segelfläche vernichtet. Die Galeone lief kaum noch Fahrt.
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„Die „Isabella“ indes lag mit Steuerbordhalsen hart. am Wind, krängte auf Backbordbug und rauschte im Direktkurs auf Fei Yen zu. „Fliegende Schwalbe“ lag in entgegengesetzter Richtung am Wind und steuerte den ramponierten Bug der „Isabella“ an - es sah so aus, als wollten sich die beiden Schiffe frontal rammen. Khai Wang fuhr herum und lief zur Kuhl. Seine Gewänder klafften auseinander, die Schöße flatterten im Wind. Die Tätowierungen auf seinem verschwitzten Leib schienen zu leuchten. Auf der Kuhl vergewisserte er sich, daß die Toten in die See befördert und die Verwundeten versorgt worden waren. Den Mann, der ein Bein eingebüßt hatte, hatte der Feldscher heimlich in eine Kammer des Vordecks gebracht. Er hatte ihm einen betäubenden Trank eingeflößt, aber nur gerade so viel, daß der Pirat die Schmerzen ertrug und vorübergehend einschlief. Die doppelte Dosis hätte den Schwerverletzten ins Jenseits befördert. Aber auch unter den Piraten herrschte eine Art Kumpanei, und der Feldscher, der mit dem Mann befreundet war, hatte es nicht fertiggebracht, ihn zu töten. Die anderen fünf Schwerverletzten hatten sich aus eigenen Kräften ins Mannschaftslogis zurückziehen können. Dort waren sie vom Feldscher versorgt worden. Die drei Leichtverwundeten halfen bereits wieder beim Laden und Richten der Geschütze mit. Der Feuerwerker, der keine Brandsätze mehr zur Verfügung hatte, hantierte an einer der achteren Bronzekanonen. Khai Wang verharrte bei dem Feldscher. „Wie steht es um die Schwerverletzten?“ „Sie kommen durch.“ „Alle?“ „Alle, ich habe keinen Zweifel daran“, versicherte der Feldscher. „Du stehst mit deinem Kopf dafür ein“, sagte Khai Wang. Dann eilte er weiter, zum Achterdeck, wo Wu nach wie vor den Kolderstock bediente.
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„Wu!“ rief der Piratenführer. „Wir halten den Kurs. De Romaes ist ein verfluchter Narr, weil er sich durch das lächerliche Feuerwerk der Seewölfe hat ausschalten lassen. Aber wir - wir spielen den Hunden jetzt einen mörderischen Streich.“ Wu schaute schweigend zu Khai Wang. Khai Wang mit seiner quittegelben Haut und dem lang herabhängenden Oberlippenbart hatte in diesem Moment etwas Diabolisches, fast Magisches an sich. Wu fand, daß der Feuerzauber der Seewölfe keineswegs lächerlich gewesen war. Er hatte genau gesehen, wie schnell sich der Brand auf der Galeoneausgebreitet hatte und wie verheerend die Explosionen gewesen waren, aber er hielt mit seiner Meinung zurück. „Wir geben ihnen nicht zu erkennen, an welcher Seite wir an ihnen vorbeisegeln wollen“, fuhr Khai Wang fort. Seine Züge nahmen einen fanatischen Ausdruck an. „Erst im letzten Augenblick ziehst du Fei Yen nach Backbord - und so gewinnen wir die Luvposition. Wir segeln so nah an ihnen vorbei, daß sie das kalte Grausen kriegen.“ „Ja.“ „Irgendwelche Einwände, Wu?“ fragte Khai Wang seinen Steuermann. „Keine. Wir müssen diese Schlacht gewinnen. Um jeden Preis.“ Die Geißel des Gelben Meeres rückte sehr nah an ihn heran. „Wu, ich bringe dich um, wenn du deine Sache nicht gut erledigst“, zischte er. „Mit diesen Händen.“ Khai Wang hob seine langen, knochigen Finger und hielt sie Wu vors Gesicht. Der Steuermann fühlte, wie winzige Eiskristalle über seinen Rücken liefen. * Fong-Ch'ang sprang einfach aus dem Vordecksschott. Er hatte sich die eine Kette um den Arm gewickelt, die andere schwang er wie eine jener großen ledernen Schlaufen, mit denen die Bauern der chinesischen Provinzen ihre Büffelkälber einzufangen pflegten.
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So griff Fong auf seine Art in das Geschehen ein. Er raste über die Kuhl. Das Feuer ignorierte er. Es konnte ihm keine Furcht einjagen, obwohl es immer höher leckte. Fong setzte mit kurzen Sprüngen über Flammenbarrieren hinweg, war an der Gräting des Hauptdecks und drang gegen zwei Piraten vor. Zwei Chinesen - sie zückten ihre gebogenen Schwerter. Fong ließ die Kette surren und lehnte seinen Oberkörper vor. Die großen, schweren Eisenglieder schlangen sich um den Hals des einen Mannes. Der Kerl schrie auf. Es lag so viel Schwung in Fongs Hieb, daß der Pirat aus dem Gleichgewicht geriet, strauchelte und mit seinem Kumpan zusammenprallte. Sie stürzten beide. Fong riß die Kette wieder an sich und ließ sie wirbeln. Er traf wieder bevor einer der Kerle ihm das Schwert in den Bauch stoßen konnte. Er peitschte sie nieder, so, wie sie ihn gegeißelt hatten. Er rückte näher auf sie zu. Sie wanden sich und schützten ihre Köpfe mit den Händen. Fong rächte sich für alle Gertenschläge, für jedes Spießrutenlaufen an Bord der Galeone. Er lief an den beiden Piraten vorbei, hielt auf das Achterdeck zu und mähte im Dahinhasten alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Ehe Vinicio de Romaes durch Feuer und schwelenden Rauch erkennen konnte, was sich auf der Kuhl abspielte, hatte FongCh'ang den Backbordniedergang des Achterdecks erreicht. Er blieb stehen, wandte sich um und drosch mit seiner Kette auf einen ihm nachrückenden Chinesen ein. Der Kerl brach mit einem Aufschrei zusammen. Fong nahm die letzten Stufen zum Achterdeck. Er sah de Romaes und auch Nakamura, der sich als einziger neben dem Anführer auf dem Achterdeck befand. Beide hatten sie mit Wasser und Sand gegen die Flammen gekämpft. Ihre Kleidung hatten sie auch benetzt, um gegen den Funkenflug geschützt zu sein.
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Jetzt hielten sie inne und blickten entgeistert auf ihren ehemaligen Gefangenen. Ja, Fong war frei und bereit, es mit jedem Gegner aufzunehmen. Wie ein Gespenst tauchte er am Backbordschanzkleid vor ihnen auf – zerlumpt, schmutzig, mager bis auf die Knochen, mit hervortretenden Augen und verfilztem Haar. Seine Stimme klang rauh, war jedoch sehr gut zu verstehen. „Und jetzt zu uns, Vinicio de Romaes. Nakamura, auch deine Stunde hat geschlagen.“ * Dan O'Flynn ließ keine Sekunde von seinem alten Prinzip ab, stets in die Runde zu spähen und den Überblick über die komplette Szenerie zu behalten. Und vom Großmars aus konnte er immer noch sehr gut erkennen, was zwischen den zuckenden Flammen auf dem Oberdeck der De-Romaes-Galeone geschah. So erkannte er Fong-Ch'ang und verfolgte dessen beispiellosen Auftritt auf der Kuhl. „Das ist doch unser Freund aus Shanghai jener Mann, der de Romaes' Raubzug gegen die ‚Isabella' vereitelt hat“, murmelte er verblüfft, beugte sich vor und schrie nach unten: „Achtung, Deck! Auf de Romaes' Schiff ist soeben Fong erschienen. Er kämpft mit Eisenketten und arbeitet sich zum Achterdeck vor, um den Portugiesen und den Japaner zu erledigen!“ Hasard wandte sich nach achtern um und setzte das Spektiv an. Durch die Rauchfahne, die über dem Schiff von de Romaes stand, konnte er aber nur schemenhafte Bewegungen an Deck beobachten. „Deck!“ brüllte Batuti aus dem Vormars. „Dschunke läuft immer noch genau auf uns zu, verdammich!“ Big Old Shane hatte sich mit einem Nachschub an Pfeilen versorgt, stieg soeben wieder zu Dan in den Großmars und sagte: „Es wird wieder heiß. Was tun wir jetzt, helfen wir dem armen Fong, oder
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hauen wir Khai Wang und seinen elenden Kübel zu Klumpen?“ „Letzteres“, erwiderte Dan. „Wir haben keine andere Wahl, Shane.“ So war es. Der Seewolf fühlte sich für Sekunden hin und her gerissen. Dan O'Flynn hatte sich nicht getäuscht, das stand außer Frage. Wenn er sagte, Fong sei auf der Galeone aufgetaucht, dann stimmte das auch, es sei denn, Fong hatte einen Zwillingsbruder oder Doppelgänger, der ihm aufs Haar glich. Niemals konnte Fong gegen de Romaes und dessen Restmeute bestehen, er brauchte Hilfe. Aber die Auseinandersetzung mit Khai Wang war nicht mehr abzuwenden. Zu sehr war die Distanz zwischen beiden Schiffen geschrumpft - sie verringerte sich mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit. Khai Wang traf alle Anstalten, mit der Dschunke in den Bug der „Isabella“ zu rauschen, aber Hasard wußte, daß es eine Finte war. Der Kampf würde hart Seite an Seite stattfinden. Siri-Tong war auf den Seewolf zugetreten. „Wir können Fong-Ch'ang nicht seinem Schicksal überlassen.“ „Himmel, mach es mir doch nicht noch schwerer“, erwiderte er gepreßt. „Wir können nicht mehr zurück.“ Plötzlich tauchte „Flüssiges Licht“ auf dem Achterdeck auf. Ferris Tucker wandte den Kopf und rief: „Mädchen, wer hat dir das erlaubt? Der Seewolf hat dir ausdrücklich befohlen, du sollst unter Deck bleiben ...“ „Hau ab, edle Lilie“, fügte der alte Donegal Daniel O'Flynn barsch hinzu. „Bist du denn des Teufels?“ Ch'ing-chao Li-Hsia schritt unbeirrt auf Hasard zu. „Ich habe gehört, wie Dan Fongs Namen ausgestoßen hat“, sagte sie. „Da hat mich nichts mehr gehalten. Fong hat mich in Shanghai vor einer großen Schande bewahrt. Er hat das Komplott der Piraten aufgedeckt und uns geholfen, wo er konnte. Ich kann ihn jetzt nicht allein lassen.“ Sie blickte nach achtern und traf Anstalten, ganz bis ans Heck zu laufen.
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Siri-Tong hielt sie fest. „,Flüssiges Licht', was hast du vor? Du darfst hier nicht auf eigene Faust handeln, hörst du?“ „Ich schwimme zur Galeone des Portugiesen.“ „Nein!“ rief Hasard. „Hoher Herr, ich flehe dich an“, jammerte sie. Siri-Tong blickte ebenfalls zu Hasard. Sie wußte, daß jeder Mann im Kampf gegen Khai Wang gebraucht wurde, und doch plädierte sie im stillen für den Vorschlag des Mädchens. Denn: Nach allem, was die Korsarin über Fong vernommen hatte, hatte der Mann sich wie ein echter Held verhalten. Wenn jemand ihrer aller Beistand verdiente, dann war er es. Hasard lief an die Five-Rail. Die Crew war längst wieder gefechtsbereit, sämtliche Geschützstationen waren aufgeklart, der Kutscher hatte leichte Blessuren rasch verarztet. Und Fei Yen pflügte drohend heran. „Zwei Freiwillige!“ rief der Seewolf. „Für ein Unternehmen, das euch den Kopf kosten kann!“ Blacky und Sam Roskill rissen als erste die Arme hoch. Hasard winkte ihnen zu. Sie grinsten wie die Teufel, liefen aufs Quarterdeck und von dort aus aufs Achterdeck. Natürlich ahnten sie, um was es ging. Sie hatten ja Dan O'Flynns Meldung auch vernommen. „Legt die Klamotten ab, steckt euch jeder zwei Messer zu, und dann ab mit euch“, sagte der Seewolf. „Ihr schwimmt zur Galeone des Portugiesen, so schnell ihr könnt. Noch steht Fong auf dem Achterdeck, noch kämpft er, aber wir wissen nicht, wie lange er sich hält.“ „Das ist genau das richtige für uns“, sagte Blacky grimmig und riß sich bereits Wams, Hemd und Hose vom Leib. „Los, Sam, beeil dich, du Barsch!“ Er grinste, als er die Blicke von Siri-Tong und „Flüssiges Licht“ bemerkte. Aber natürlich behielten er und Sam Roskill jeder eine kurze Hose an. In die Gürtel schoben sie sich Messer, dann traten sie auf das achtere Schanzkleid zu, schwangen sich auf die Handleiste und
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richteten sich auf. Sie streckten die Arme vor und hechteten außenbords. „Flüssiges Licht“ stürmte auf Hasard zu. „Danke, hoher Herr, danke“, stieß sie immer wieder hervor. Sie schien sich ihm an den Hals werfen zu wollen, aber er wies mit steinerner Miene auf den Niedergang. „Ab mit dir, zurück ins Achterkastell. Überlaß alles Weitere uns. Das ist ein Befehl.“ Hasard begab sich wieder an die Five-Rail. Siri-Tong trat neben ihn. Sie blickten voraus. Fei Yen wuchs zu einer gigantischen Silhouette unter den Strahlen der Morgensonne. Vom Achterdeck aus gesehen drohte sie bereits binnen der nächsten Sekunden in die „Isabella“ hineinzukrachen. „Kurs halten!“ schrie der Seewolf. „Wir werden ja sehen, wer die stärkeren Nerven hat!“ Es wurde eine Zerreißprobe auf Leben und Tod. * Blacky und Sam Roskill tauchten durch die klaren grünlichen Fluten, ließen sich vom Auftrieb mitnehmen und steckten fast zur selben Zeit die Köpfe aus dem Wasser. Sie schöpften Luft und hielten nach dem feindlichen Schiff Ausschau. Die Galeone lief kaum noch Fahrt. Sie dümpelte ihnen entgegen, ein paar Yards vielleicht. Wegsegeln konnte sie nicht mehr, denn die Feuersbrunst hatte das Rigg völlig zerfranst und vertilgte jetzt auch die letzten Fetzen. „Wir packen es“, sagte Blacky. „Hoffentlich noch rechtzeitig“, entgegnete Sam. „Red nicht - schwimm.“ Sie hielten auf das Piratenschiff zu, ohne wieder unterzutauchen. Die Distanz betrug schätzungsweise eine Kabellänge. Blacky und Sam überbrückten sie ohne Pause in kürzester Zeit. Sie zählten zu den besten Schwimmern der Seewolf-Crew. Beim Näherschwimmen hörten sie das Knistern und Knacken der Flammen. Sie konnten auch einen Ruf und einen Fluch
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vernehmen, beide schienen vom Achterdeck her zu ertönen. Auf der Kuhl rückten hin und wieder Köpfe ins Blickfeld, einige Piraten gossen, traten und schlugen immer noch Flammen aus, obwohl es eine Sisyphusarbeit im wahrsten Sinne des Wortes war. Der Brand hatte jetzt zu sehr um sich gegriffen. Nur eine etwa fünfzigköpfige Löschmannschaft konnte ihn noch niederzwingen, aber de Romaes hatte nicht einmal die Hälfte an Männern zur Verfügung. Blacky gab Sam ein Zeichen. Sie schoben sich jeder ein Messer zwischen die Zähne, dann tauchten sie wieder. Die Piraten schienen genug mit dem Feuer zu tun zu haben, doch es konnte immer einen dummen Zufall geben, der das Unternehmen auffliegen ließ. Wenn Blacky und Sam Roskill vorzeitig entdeckt wurden, konnten die Piraten mit Musketen, Arkebusen oder Tromblons ein Zielschießen auf sie veranstalten. Unter Wasser strebten die beiden auf das Schiff zu. Der Rumpf schob sich grauschwarz und abweisend auf sie zu. Sie drehten auf ungefähr einem Yard Abstand nach achtern ab und tasteten sich an Steuerbord der Galeone entlang. Einmal stießen sie noch wieder hoch und holten Luft. Dann verschwanden sie wieder in der Tiefe. Ihr Ziel war das Ruderblatt der Galeone. 7. „Ruder hart Backbord!“ brüllte Khai Wang. Wu reagierte gedankenschnell und drückte den Kolderstock nach links. Fei Yen schwenkte vor dem verstümmelten Bug der „Isabella“ zur Seite und brachte sich aus der Zone der vernichtenden Gefahr. Knapp eine viertel Kabellänge trennte beide Schiffe nur noch, und Khai Wang zeigte, daß er die schwächeren Nerven hatte. Eine Wahnsinnsidee zerbrach. Khai Wang fluchte und tobte und steigerte sich in immer heftigere Phasen seines Jähzorns. Die Dschunke segelte jetzt zu hoch am Wind, die Segel drohten zu killen. Khai
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Wang wußte, daß er dann geliefert war die Schoten würden über Deck peitschen, daß die Mannschaft die Köpfe einzog, vielleicht würden sogar die Mattensegel zerreißen. Auf jeden Fall aber mußte die Schubwirkung des Südostwindes nachlassen, und das war in einer Situation wie dieser gleichsam tödlich. Khai Wangs Stimme klang schrill und drohte überzukippen. „Wu, korrigiere! Du Bastard, wir gehen ja in den Wind!“ Wu zögerte. Er blickte voraus und stellte fest, daß die „Isabella“ ihren Kurs stur beibehielt. Das hatten sie nun davon - sie konnte ihnen geradewegs in die Seite fallen, und die Aussicht, die Luvposition als beherrschende Kampfstellung zu gewinnen, verlor von Sekunde zu Sekunde an Bedeutung. „Wu!“ brüllte Khai Wang. Wu lehnte sich mit seinem Körpergewicht gegen den Kolderstock. „Fliegende Schwalbe“ drängte auf den alten Kurs zurück, der nun seitlich nach Südosten versetzt lag und auf knappe Distanz an der Bordwand der „Isabella“ vorbeiführte. Nein, Wu hatte keinen Augenblick etwas von dieser Taktik gehalten. Sein Respekt vor Khai Wang schrumpfte, wenngleich er ihn fürchtete. Er wußte, daß sie in aller Härte aneinandergeraten würden. Khai Wang wollte den Feuerbefehl geben, um bereits das Vorschiff der heranrauschenden Galeone mit Kugeln einzudecken. Aber das Wort blieb ihm im Hals stecken. Brandpfeile stachen aus Groß- und Vormars der „Isabella“ auf die Dschunke zu. Höllenflaschen segelten heran, kugelten sich in der Luft, überschlugen sich und krachten auf das Deck. „Nein!“ schrie Khai Wang. „Schleudert diese Teufelsflaschen zurück! Tretet die Flammen aus!“ Ein dicker Chinese mit breitem Leibgurt und nacktem Oberkörper hastete auf eine der Explosionsflaschen zu, hob sie auf und lief zum Schanzkleid, um sie außenbords zu befördern, eventuell gleich auf das Deck des Gegners zurück.
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Er griff mit der Hand nach der Lunte, aber die Glut hatte sich bereits durch den Korken gefressen. Dort war sie nicht mehr zu löschen und entzog sich jedem Einfluß. Die Flasche flog mit einem Donnerschlag auseinander. Der dicke Chinese brach am Schanzkleid zusammen. Er bot einen entsetzlichen Anblick. „Feuer!“ gellte Khai Wangs Stimme. Die vorderen Steuerbordkanonen der Dschunke spuckten Feuer, Rauch und Eisen, aber nur eine hieb ein Loch in das Vorschiff der „Isabella“ - über der Wasserlinie. Die achteren Bronzegeschütze gelangten noch nicht zum Einsatz, denn die Schiffe befanden sich nicht auf gleicher Höhe. Erst ihre Vorsteven hatten eine parallele Schnittlinie erreicht, die jeweils etwas hinter der Back, des Gegners lag. Pausenlos hagelte es Brandpfeile, Pulverpfeile und Höllenflaschen. Und dann knallten von der Back der „Isabella“ plötzlich auch Musketen und Arkebusen, Blunderbüchsen und andere seltsame Waffen, die der erschütterte, vor Zorn überschäumende Khai Wang nicht einzuordnen wußte. Es handelte sich um den SchnapphahnRevolverstutzen und den RadschloßDrehling sowie andere mehrschüssige Gewehre, die die Seewölfe von den Ladrones, den Diebesinseln, mitgebracht hatten. Auf die geringe Entfernung ließen sich diese Spezialanfertigungen hervorragend einsetzen. Al Conroy schoß mit dem RadschloßDrehling einen Piraten von seinem Geschütz weg. Khai Wangs Männer mußten sich in Deckung werfen und konnten die Kanonen nicht mehr bedienen, wenn sie nicht einen Kopfschuß riskieren wollten. Smoky feuerte mit dem SchnapphahnRevolverstutzen. Er drückte ab, fing den Rückstoß mit der Schulter auf und spannte den Hahn wieder mit der rechten Hand. Die Trommel drehte er mit der Linken, dann senkte er den Batteriestahl über die oberste, noch verschlossene Pfanne, öffnete den Pfannenschieber - und krümmte wieder den Zeigefinger. Der
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Seewolf hatte seinem Decksältesten und anderen Männern beigebracht, wie man die etwas komplizierte, aber überaus präzise Waffe bediente. Fei Yen wurde schwer angeschlagen. Khai Wang hatte sich jetzt verausgabt wie Vinicio de Romaes. Er gelangte nicht mehr zum Zug. Auf dem Höhepunkt des Gefechts, als beide Schiffe für Sekunden genau nebeneinander lagen, warf sich Khai Wang selbst hinter ein Geschütz, zündete es und lachte irrsinnig auf. Die Kugel war in das Schanzkleid der „Isabella“ gefahren. Wutgeschrei drang herüber. Khai Wang wünschte sich, das gesamte Deck leergefegt zu haben, aber es blieb bei dem Wunsch. Nur Jeff Bowie hatte einen Holzsplitter im linken Oberschenkel stecken, die anderen waren unversehrt. Der Kutscher flitzte heran, ließ sich neben Jeff auf den Planken nieder und behandelte ihn sofort. Zur selben Zeit brüllte Carberry wie ein Löwe und gab den Befehl, den er vom Seewolf entgegengenommen hatte. Die Geschützführer an Steuerbord zündeten die acht Culverinen. Eine Mauer aus Feuer, Schwefel und Pulverqualm brodelte auf Fei Yen zu. Khai Wang ließ sich zurückfallen, rollte sich nach Backbord ab und schrie auf. Die unsichtbaren Riesen, von deren Existenz die jahrtausendealte chinesische Mythologie zu berichten wußte, schienen mit steinernen Hämmern gegen „Fliegende Schwalbe“ zu donnern. Das Steuerbordschanzkleid der Kuhl flog auseinander. Ein Wirbel von Trümmern und Menschen ergoß sich über das Oberdeck. Fei Yen krängte gegen den Wind nach Backbord und wälzte sich von der „Isabella“ fortstrebend wieder auf den Steuerbordbug. Lecks klafften, Masten, Takelage und Teile der Decks loderten. Neben den Toten wälzten sich die Verwundeten. Khai Wang erhob sich. Wie durch ein Wunder war er un- versehrt. Er wankte zum Niedergang, stieg ihn hoch und rutschte aus. Ein kaum noch als menschlich zu bezeichnender Laut drang über seine Lippen.
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Er fing sich, klomm aufs Achterdeck und stierte seinen Steuermann aus blutunterlaufenen Augen an. Wus Gesicht war rußgeschwärzt. Sein Gewand war an der Oberseite aufgeschlitzt, Splitter hatten ihm Brust und einen Arm aufgerissen. „Wenden“, würgte Khai Wang hervor. „Ich gebe noch nicht auf. Ich –der Kampf hat erst richtig begonnen ...“ Wus Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. „Wenden? Niemals. Wir sprechen damit unser eigenes Todesurteil. Ich bin kein Selbstmörder, Khai Wang.“ „Was? Du wagst es ...“ „Du hast kein Recht, uns als Kanonenfutter zu verheizen“, stieß Wu schrill hervor. „Das ist Meuterei“, keuchte Khai Wang. „Dafür wirst du büßen. Wir rechnen deswegen noch ab, mein Freund. Aber jetzt hast du zu gehorchen, nur zu gehorchen, nichts anderes!“ Er sprang auf Wu zu, bevor dieser eine Waffe zücken konnte. Khai Wangs Fäuste hämmerten auf den Verdutzten ein. Mit seinen langen, knochigen Händen rang die Geißel des Gelben Meeres den Aufmüpfigen nieder. Blutig und zerschunden blieb Wu zu seinen Füßen liegen. „Ich habe dich gewarnt!“ rief Khai Wang. „Ich bringe dich mit diesen Händen um, wenn du nicht parierst. Gib mir deine Waffe.“ Wortlos händigte Wu ihm das Schwert und eine Beutepistole aus, die er in seinem Gurt stecken hatte. „An Flucht ist nicht zu denken“, sagte Khai Wang mit seltsam schwerer Zunge. „Wir kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Diese Hunde – niemals werde ich ihnen diese Genugtuung geben.“ Wu rappelte sich vom Achterdeck auf. Er schaute unentwegt zu Khai Wang, und wieder spürte er dieses entsetzlich kalte Prickeln auf seinem Rücken, trotz der Hitze, die von der Kuhl heraufdrang. Nur mit Mühe konnte Wu die Dschunke halb herummanövrieren. Die Segel brannten lichterloh, die Ruderanlage schien auch beschädigt zu sein. Sich der
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„Isabella“ noch einmal entgegenzuwerfen, war wirklich völliger Schwachsinn. Die „Isabella“ fuhr eine Wende, wie Wu durch einen raschen Blick nach achtern feststellte. Sehr schnell drehte sie mit dem Vorschiff, ging wieder mit Kurs Südwesten hart an den Wind und steuerte erneut auf „Fliegende Schwalbe“ zu. Es gehörte kein Scharfsinn dazu, das Vorhaben der Seewölfe zu erraten. Sie wollten Fei Yen entern. * Blacky und Sam Roskill hatten das Heck der Galeone erreicht. Als sie auftauchten, sahen sie den gewaltigen Spiegel mit der Heckgalerie und den reichen Verzierungen über sich aufragen. Die Messer immer noch zwischen den Zähnen, schwammen Blacky und Sam auf das Ruderblatt zu. Blacky klomm als erster daran hoch. An der Hennegatsöffnung angelangt, bückte er sich und wollte Sam behilflich sein, aber das war schon nicht mehr nötig. Sam schaffte es auch allein. Blacky kletterte weiter, gelangte mit einigem akrobatischen Geschick auf die Heckgalerie und hangelte bis zum Achterdeck hoch. Dort kämpfte Fong-Ch'ang wie ein antiker Held. Er schwang immer noch seine Kette, aber in Vinicio de Romaes und Nakamura hatte er zwei Gegner gefunden, die sich weder rasch überrumpeln noch groß einschüchtern ließen. Sie hatten ihn bis an die Hecklaterne zurückgedrängt. Fong stand auf dem erhöhten, spitz nach achtern zulaufenden Teil des Achterdecks und hatte hinter sich keinen Platz mehr zum Ausweichen. Sie hatten ihn in die Enge getrieben. Fong stand mit dem Rücken gegen die Heckreling gelehnt. Er hatte die eine Kette mit beiden Fäusten gepackt und schwang sie über seinem Kopf. Immer wieder hieb er damit nach dem Portugiesen und dem Japaner, aber die duckten sich und wichen geschickt aus.
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Vor dem feuerglühenden Besanmast und den Flammen, die über das Achterdeck wischten, schoben sie sich immer näher auf Fong zu. Zuckendes rotes Licht hüllte ihre Gestalten ein. Sie bedrängten ihn jetzt aufs äußerste. Fong fühlte, wie ihn die Kräfte verließen. Er hatte das Höchstmaß dessen vollbracht, was ein gepeinigter, geschwächter Mann zu leisten imstande war. Jetzt reichte der letzte Rest eiserner Kampfwille nicht mehr aus, auch diese beiden Kerle zu überwältigen. De Romaes hätte Fong mit der Pistole erschießen können. Aber er rückte ihm lieber mit dem Säbel zu Leibe. Nakamura hielt einen langen, leicht gebogenen Schiffshauer. Er stand zwei Schritte hinter dem Portugiesen. Einmal blickte er über die Schulter zurück und sah einen der Chinesen auf der obersten Stufe des Backbordniederganges erscheinen. Der Bursche hob eine Muskete. Er wollte damit auf Fong anlegen und bedeutete Nakamura und de Romaes, sich zu ducken. Der Japaner winkte ab. Verdutzt zog sich der Chinese wieder zurück. Er stieg auf die Kuhl hinunter und half mit, Seewasser in die schmatzenden Flammen zu kippen. Er begriff nicht, wieso er nicht schießen sollte, folgerte jedoch, daß der Portugiese und der Japaner wohl allein mit Fong fertig wurden. Vinicio de Romaes führte mit dem Säbel eine Parade auf Fong zu. Fong rettete sich nur vor dem tödlichen Stoß, indem er die Kette auf die Säbelklinge niederknallen ließ. Um die Waffe nicht aus der Hand zu verlieren, zog sich de Romaes gedankenschnell wieder zurück. Aber er grinste. Er wußte, daß schon die nächste Attacke glücken konnte. „So“, sagte er höhnisch. „Jetzt rechnen wir ab. Deine Stunde hat geschlagen, du Dreckskerl, nicht unsere. Was bildest du dir eigentlich ein? Daß du uns alle abservieren kannst?“ „Wie bist du überhaupt aus dem Kabelgatt entwischt?“ zischte Nakamura. De Romaes' Mundwinkel krümmten sich, ein sprödes Lächeln kerbte sich in ihnen
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fest. „Er hat sich losgerissen und das Türschloß aufgebrochen, ganz einfach. Ich wundere mich nur, woher er die Kraft genommen hat.“ „Wir hätten ihn doch gleich in Shanghai über die Klinge springen lassen sollen, ich hab's ja gesagt“, erwiderte Nakamura, indem er mit seinem gewaltigen Schiffshauer neben den Portugiesen trat. Er hielt die Waffe mit beiden Fäusten wie ein Samurai, die Klinge ragte von seiner Hüfte aus schräg auf. Drohend funkelte die Spitze vor Fong-Ch'angs Gesicht. „Ihr könnt mich nicht töten“, sagte Fong. „Die Götter haben mir die Kraft gegeben, das Böse zu vernichten. Buddha steht hinter allen Schwachen und Getretenen, die das Recht auf ihrer Seite haben.“ „Du frommer Bastard“, entgegnete Vinicio de Romaes. „Meinst du, du kannst uns mit deinen Sprüchen einlullen? Ich vollziehe jetzt, was ich dir versprochen habe. Ich hätte dir eine Kugel in den Kopf jagen können, aber das will ich nicht. Keiner meiner Männer soll dich. durch einen gezielten Schuß zur Strecke bringen. Ich werde dir viele Säbelwunden zufügen — langsam, ganz langsam wirst du sterben.“ Fong schwang wieder seine Kette. Wie ein Schwarm Hornissen surrte sie über seinem Kopf, aber er sah ein, daß er den Todfeinden damit keine Angst mehr einjagen konnte. Er bereute es jetzt, auf der Kuhl nicht irgendeine Waffe aufgelesen zu haben. Er hätte einem der niedergerungenen Gegner einen Säbel abnehmen können, eine Pistole, aber daran hatte er im Sturm der Ereignisse nicht gedacht. De Romaes und Nakamura schoben sich mit haßverzerrten Gesichtern auf ihn zu. Beide waren sie bereit, ein paar Kettenhiebe einzustecken — wenn sie Fong nur den Garaus bereiten konnten. Aber dann trat das Unerwartete ein. Zwei furchterregende Gestalten schwangen sich über den achteren Teil des Schanzkleides auf die erhöhte Heckpartie des Decks. Zwei wassertriefende, dunkelhaarige Kerle mit wildem Blick und Messern zwischen den Zähnen. Zusätzlich
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hielt jeder von ihnen ein Messer in der Faust. „Fong!“ rief Blacky. „Zur Seite!“ Er stieß es auf portugiesisch aus. Fong-Ch'ang ließ vor Überraschung die Ketten sinken. Er stolperte nach links, prallte gegen das Schanzkleid und kippte beinahe vornüber. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er tief unter sich die Fluten. Das Feuer auf der Galeone hatte den Wellen rotgelbe Kronen aufgesetzt. Fong zuckte herum und erkannte Blacky und Sam Roskill. In Shanghai hatte er sie an Bord der „Isabella VIII.“ kennengelernt. Der Seewolf hatte ihm jeden Mann der Crew einzeln vorgestellt. Fong schrie vor Freude. Vinicio de Romaes brüllte in rasender Wut und stürmte vor. Mit seiner Beherrschung war es dahin. Blacky und Sam standen geduckt. Sie hielten die Messer zum Wurf bereit. Blacky entblößte wieder die Zähne und quetschte zwei Worte hervor, obwohl ihn das Messer im Mund ziemlich behinderte: „Romaes — zurück!“ Der Portugiese ließ sich nicht bremsen. Er holte mit dem Säbel aus, um ihn FongCh'ang in den Leib zu rammen. Fong stand mit herabhängenden Armen da und war viel zu verdattert, um eine Abwehrbewegung zu unternehmen. Blacky schleuderte sein Messer. Als es plötzlich in de Romaes' Brust steckte, stieß Nakamura einen heiseren Schrei aus. Er sprang mit weit abgewinkelten Beinen vor, hob den Schiffshauer, brüllte „Ha-he“ und wollte auf Sam Roskill einstechen. Blacky hatte das zweite Messer mit traumhaft schneller Bewegung aus dem Mund in die Faust befördert. Sam Roskill brauchte aber keine Unterstützung. Er war bei Bob Grey, einem ausgezeichneten Messerwerfer der Seewolf -Crew, in die Lehre gegangen. Sein Messer flog durch die Luft auf Nakamuras Hals zu. Der Japaner suchte sich mit dem Schiffshauer zu schützen und wollte das Messer zur Seite schlagen, verschätzte sich aber. Nur eine ruckartige Bewegung des
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Oberkörpers bewahrte ihn vor de Romaes' Schicksal. Haarscharf sirrte das Messer an seinem Hals vorbei und ritzte seine Schulter. Nakamura heulte auf und wich zurück. Sam Roskill hatte nun auch das zweite Messer in der Hand. Vinicio de Romaes war auf Fong zugewankt, hatte den Säbel aber sinken lassen. Tief steckte das Messer in seiner Brust. Seine Züge verfielen zusehends, er alterte in diesem Augenblick vor seinem Ende um Jahre, und sein Blick wurde starr und glasig. „Elender gelber Bastard“, stieß er noch hervor. Dann sank er Fong in die Arme. Fong nahm ihm den Säbel ab und ließ den Sterbenden an Deck gleiten. De Romaes legte sich beinahe sanft auf den Rücken. Fong hob den Beutesäbel gegen Nakamura. Gemeinsam mit Blacky und Sam Roskill rückte er auf ihn zu. Wieder brüllte der Japaner wie von Sinnen. Seine Augen huschten hin und her, und immer noch schwenkte er den Schiffshauer nach Samurai-Art. Hastig schrie er ein paar Wörter heraus. „Vorsicht“, warnte Fong. „Er ruft um Hilfe.“ Sam Roskill sah einen Kopf über dem Backbordniedergang erscheinen, dann den dazugehörigen Oberkörper — schließlich zwei Hände, die eine Muskete hielten. Es war der Kerl, der kurz zuvor schon auf Fong hatte feuern wollen. Sams rechte Hand schnellte vor. Der Dolch entglitt seinen Fingern, war ein Blitz im lodernden Feuer und erreichte den Piraten, bevor dieser die Muskete in Anschlag bringen konnte. Der Kerl kippte vom Niedergang und verlor dabei die Schußwaffe. Nakamura wollte die Gelegenheit nutzen. Er dachte, nicht nur Sam, sondern auch Blacky und Fong wären durch den Zwischenfall abgelenkt. Mit hochgerecktem Schiffshauer rannte er auf Fong zu. Aber Fong parierte erstaunlich sicher. Der Säbel flog hoch. Er traf die Klinge des
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Schiffshauers mit voller Wucht. Es gab einen harten Knall, und Fong sackte in die Knie. Blacky konnte sein Zweitmesser nicht werfen, weil er in diesem Moment genau hinter Fong stand und riskierte, statt des Japaners den Freund zu treffen. Fong, durch Entbehrungen und Prügel zu sehr geschwächt, landete auf den Knien. Er hatte aber die Geistesgegenwart, den Säbel mit einer ungestümen Bewegung nach rechts zu reißen — damit hatte Nakamura nicht gerechnet. Nakamura verlor den Schiffshauer aus den Händen. Das scharfgeschliffene Ding polterte zwischen Fong und Sam Roskill auf die Planken - unerreichbar für Nakamura. Mit schreckensbleichem Gesicht wich der Japaner zurück. Er spreizte die Finger, tastete nach hinten, gelangte ans Schanzkleid und blieb dort wie vom Donner gerührt stehen. Fong und Blacky näherten sich ihm. Fong hatte sich rasch wieder aufgerappelt und hielt den Säbel de Romaes' auf seinen Gegner gerichtet. Blacky bückte sich und hob den Schiffshauer auf. Sam Roskill war unterdessen zum Backbordniedergang gelaufen und hatte sich die Muskete geschnappt. Sam hob den Kolben an die Schulter, zielte und drückte ab. Dumpf brach der Schuß. Unten auf der Kuhl breitete ein heranstürmender Pirat schreiend die Arme aus. Er fiel, überrollte sich und blieb reglos liegen. Dabei glitt ihm eine Pistole aus der Hand. Sam sauste den Niedergang hinunter, um sich auch diese Waffe zu nehmen. Die unbrauchbar gewordene Muskete schleuderte er im Laufen außenbords. Fong verharrte vor Nakamura. ,Spring! Verschwinde“, sagte er. „Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Du hast es nicht verdient, mit dem Leben davonzukommen, aber ich bin kein blutgieriger Henker, Nakamura. Ich habe nur mein Leben verteidigt. Aber das wirst du nie begreifen.“ „Töte mich“, stieß der Japaner hervor.
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„Nein. Spring, bevor wir nachhelfen.“ „Was hast du gesagt?“ fragte Blacky. Fong beherrschte nur wenige Brocken Portugiesisch. Die Tage auf de Romaes' Segler und der Aufenthalt in Shanghai hatten nicht ausgereicht, seine Sprachkenntnise gründlich zu vertiefen. „Er soll gehen“, übersetzte er daher nur. Blacky verstand aber auch so. Und ihm war ebenfalls nicht daran gelegen, den jetzt Wehrlosen niederzustechen. Er trat vor Nakamura hin, stieß ihn vor die Brust und wies übers Schanzkleid weg auf die See. Nakamura zauderte noch immer. Da packten ihn Blacky und Fong. Sie beförderten ihn schwungvoll über die Brüstung, versetzten ihm noch einen Stoß und Nakamura fiel in die Tiefe. Er überschlug sich in der Luft, verlieh sich dann aber mit ausgebreiteten Armen und zusammengepreßten Beinen ein wenig Stabilität. Kopfunter tauchte er in die Fluten. Fong und Blacky drehten sich um, liefen über das brennende Achterdeck und stürzten auf die Kuhl hinunter. Dort hatte Sam Roskill soeben die erbeutete Pistole auf einen Gegner abgefeuert. 8. Fei Yen fiel nur sehr langsam ab -wie Wu es erwartet hatte. Ehe sie der „Isabella“ ihre Steuerbordbreitseite präsentieren konnte, ehe die Kanonen überhaupt nachgeladen waren, war die große, schnittig gebaute Galeone des Feindes bereits heran. Hasard und Siri-Tong standen auf der Back an der Spitze des Entertrupps bereit. Die bewundernden Blicke der Crew ruhten auf diesem unvergleichlichen, fast königlich anmutenden Paar. Der Seewolf hatte die Hand auf den Degenknauf gelegt, aber noch ließ er die Waffe in der Scheide. Sein Wams war ganz aufgeknöpft, die Aufschläge flatterten im Wind. Unter seinem weißen Hemd spannte sich eine mächtige Brust, seine Schultern waren ausladend, seine ganze Gestalt so groß und breit, daß er mühelos
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eine Tür verdecken konnte, wie der Profos zu sagen pflegte. Hasard stand mit hoch erhobenem Kopf und musterte die Dschunke unter leicht gesenkten Lidern. Sein Gesicht war von kantigem Schnitt, jung und doch schon alt, von hundert Erfahrungen geprägt. Sichtbar wurde dies besonders durch die Narbe, die von seiner oberen rechten Stirnhälfte schräg über die linke Augenbraue und die linke Wange verlief. In seinen eisblauen Augen war jenes wilde Licht, dort tanzten jene tausend Teufel, die seine Männer immer wieder registriert hatten, wenn es aufs Ganze ging oder der Seewolf einen besonders waghalsigen Raid plante. Siri-Tong war mit ihren schwarzen Haaren, dem ebenmäßig und fein geschnittenen Gesicht und dieser in Vollendung proportionierten Figur der Inbegriff der Schönheit. Sie trug immer noch die weißleinene Hose und Bluse. Ihre Füße steckten in Stiefeln aus dunklem Leder, deren Schäfte fast so hoch ragten wie die des Seewolfes. Siri-Tong war immer eine Frau voller Rätsel gewesen. Kontraste schienen ihren Charakter zu bestimmen. Sie konnte eisenhart und rigoros durchgreifen, war eine furchterregende Kämpferin – bestach andererseits aber wieder durch ihr weibliches Einfühlungsvermögen, durch ihr großes Verständnis, ihre Sanftmut und die Zuneigung, die sie Hasard entgegenbrachte. Auch sie hatte die Hand auf den Degen gelegt. Über den Bugsprietstummel hinweg sah sie zu der Dschunke, und nur ein Gedanke beherrschte ihren Geist: Khai Wang, Wu – diesmal gibt es kein Entweichen. Diesmal ergeht es euch anders als an dem Riff, an dem wir euch zum erstenmal gestellt haben. Hinter Hasard und Siri-Tong warteten Ben Brighton, Ferris Tucker, Smoky und ein Drittel der Crew auf den Einsatz. Ihr Arsenal bestand aus Degen, Entermessern, Piken, Beilen und Morgensternen. Etwas weiter hinten und unten auf der Kuhl würde Old Donegal O'Flynn mit dem
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zweiten Drittel für den nötigen Feuerschutz sorgen. Musketen, Arkebusen, Tromblons und die „Wunderwaffen“ von den Diebesinseln schoben sich drohend über das Schanzkleid. Carberry indes war mit dem Resthaufen aufs Achterdeck gerückt. Hasard hatte den Befehl gegeben. Es gehörte zu seiner Taktik, daß sich der Profos mit seinen Leuten in der ersten Phase des Manövers zurückhielt. Pete Ballie blieb natürlich am Ruder. Und Dan O'Flynn, Big Old Shane und Batuti hatten nach wie vor ihre Posten in Großund Vormars inne. „Vorsicht“, sagte Ben Brighton. „Vielleicht schießen die Hundesöhne uns in den Bug.“ „Sie schießen nicht“, erwiderte Hasard ruhig. „Khai Wang scheint sich mit Wu geschlagen zu haben, und beide haben die Kontrolle über ihre Meute verloren. Wir schieben uns an Steuerbord auf Fei Yen zu – ich glaube kaum, daß sie noch weiter herumschwenkt.“ „An Steuerbord, aye, aye“, sagte Ben. „He, Ferris, gib das weiter!“ Die Order ging von Mann zu Mann und erreichte Pete Ballie. Matt Davies und ein paar andere auf der Kuhl hielten sich bereit, um beim Abfallen die Segelstellung zu korrigieren. Rasch verkürzte sich die Distanz. Dann war es soweit. Hasard ließ abfallen und die Segel aufgeien, damit die „Isabella“ nicht zuviel Fahrt hatte. Der Dreimaster ging fast platt vor den Südost, sein Vorschiff schwang auf die Dschunke zu. Hoch ragte deren verzierter Spiegel auf, noch höher fackelte das Feuer himmelan. Fei Yen krängte immer stärker nach Steuerbord. Sie war keine stolze Schwalbe mehr, sie hatte sich in einen flügellahmen Albatros verwandelt - den Unglücksvogel. Hasard und Siri-Tong traten ans Backbordschanzkleid. Die Crew war hinter ihnen. „Flüssiges Licht“ kauerte wieder im Achterkastell und spähte durch die Öffnung des Schotts. Gern wäre sie jetzt
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auf das Deck gelaufen und hätte an dem Unternehmen teilgenommen, aber der Befehl des Seewolfes war ehernes Gesetz. Wenn sie es brach, zog sie sich seinen Zorn zu. So hockte sie da, betete, bangte und hoffte, daß alles schnell vorbei sein möge. Ben, Ferris, Smoky, Al und ein paar andere schwangen die Enterhaken über den Köpfen. Nur noch wenige Yards trennten die Schiffe voneinander. „Man kann schon 'rüberspucken“, sagte Carberry auf dem Achterdeck. Er lachte grollend und fühlte sich trotzdem ein wenig unsicher, denn er kam sich hier ein wenig fehl am Platze vor. Außerdem wurmte es ihn mächtig, daß er nicht beim ersten Sturm dabei sein konnte. Hasard sah Khai Wang. Der Pirat verließ das Achterdeck und hetzte auf eins der Steuerbordgeschütze zu. Auf dem Weg dorthin trat er nach einem Mann, hieb um sich und brüllte pausenlos Befehle. „Sie sollen die Kanonen abfeuern“, übersetzte Siri-Tong seine Worte. „Aber sie gehorchen nicht. Sie haben zuviel Angst, verbrannt zu werden.“ „Ein kopfloser Haufen“, sagte Hasard. „Trotzdem sollten wir sie nicht unterschätzen. Die Burschen werden sich wie die Tiger wehren, wenn wir ihnen zu Leibe rücken.“ Ben und die anderen schleuderten die Enterhaken. Die widerhakenbewehrten Eisenkrallen flogen auf Fei Yens Achterkastell zu. Einige rutschten ab, mußten wieder binnenbords geholt und neu geschleudert .werden. Aber drei, vier klammerten sich an den Berghölzern, den Rüsten und am Schanzkleid der Dschunke fest. Die Männer johlten und zerrten an den Leinen. Mit verringerter Fahrt schob sich die „Isabella“ ganz an den Gegner heran. Rundhölzer oder mit Werg gefüllte Säcke milderten den Aufprall. Hasard und Siri-Tong kletterten aufs Schanzkleid. zückten die Degen und stießen sich mit den Füßen ab. Sie federten auf die düstere Bordwand der Dschunke zu
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und landeten beide auf dem hölzernen Wulst, der die Außenwand umgab. Hinter ihnen ertönte das Grölen und Brüllen der Männer, und der alte Schlachtruf der Seewölfe hallte von Schiff zu Schiff: „Ar-we-nack! Ar-we-nack!“ Hasard und die Rote Korsarin kletterten wie Raubkatzen und erreichten den oberen Teil des Schanzkleides der Dschunke. Zwei, drei Piraten richteten sich hinter dem Schanzkleid auf. Sie legten mit Feuerwaffen auf die Angreifer an. Aber bevor Hasard und Siri-Tong sich diesen Kerlen entgegenwarfen, griff Old O'Flynns bis an die Zähne bewaffnete Garde ein. Die Musketen und Arkebusen blafften auf. Zwei chinesische Piraten sanken zusammen. Hasard schwang hoch und durchbohrte einen dritten mit dem Degen. Auf dem Achterdeck der Dschunke zeigte sich ein ganz Vorwitziger. Old Donegal riß selbst einen Blunderbuss mit trichterförmig geweiteter Mündung hoch und drückte ab. Ein Hagel von Blei ergoß sich auf den heulenden Chinesen, und wieder war ein Gegner außer Gefecht gesetzt. Hasard und Siri-Tong flankten über das Schanzkleid und stürmten die Kuhl. Die „Isabella“ schor ständig weiter an Steuerbord der „Fliegenden Schwalbe“ entlang. Die Crew drängte nach — ein Strom fechtender und zustoßender Kämpfer quoll auf die Chinesen zu. Dan O'Flynn, Shane und Batuti lieferten ihren Beitrag zu dem Gefecht, indem sie Pfeile und Wurfäxte auf die Feinde schleuderten. Khai Wang, Wu und weitere zwölf wilde Kerle von der Dschunke warfen sich den Seewölfen mit schrillem Geschrei entgegen. Hasard behielt recht, sie legten alles in diesen Widerstand, wirklich alles. Hasard focht einen Kerl nieder, verschaffte sich Platz und entdeckte zwischen den Flammen auf der Kuhl Khai Wang. Siri-Tong hatte den Piratenführer ebenfalls gesehen. Siedend heiß stieg der Haß in ihr auf. Sie wollte auf die Geißel des Gelben Meeres zustürmen, doch plötzlich stellte sich ihr jemand in den Weg — ein wüster, fluchender Wu, der seinen Kolderstock im
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Stich gelassen hatte und jetzt beidhändig ein riesiges gebogenes Schwert schwang. Siri-Tong blockte seinen Angriff mit dem Degen ab. Wu wollte den Degen der Korsarin mit einem Hieb seines Schwertes zertrümmern, aber Siri-Tong war auf der Hut. Wie ein Blitz zuckte ihre Klinge durch die Luft, schnitt eine Zickzacklinie hinein und sirrte an dem tödlichen Schwert vorbei. Wu mußte ein Stück zurückweichen, sonst hätte die Spitze des Degens sein Gesicht getroffen. Sofort fing er sich wieder. Erneut rückte er gegen die Korsarin vor. Hasard hatte sich einen Weg zu Khai Wang gebahnt. „Zu uns, du Satan!“ rief er ihm zu, aber Khai Wang verstand die englischen Worte natürlich nicht. Es war auch nicht erforderlich. Die Situation ließ keine zweite Auslegung zu. Hasard nahm das Duell mit Khai Wang auf. Big Old Shane stand hoch oben im Großmars und schwang den Tschakan, die türkische Wurfaxt, die er im Mittelmeer von einem Feind erbeutet hatte. Dan sah, daß er es auf Wu abgesehen hatte. Aber der junge Mann legte dem graubärtigen Riesen die Hand auf den Unterarm. „Laß, Shane. Sie wird allein mit ihm fertig. Hast du sie denn noch nie richtig kämpfen sehen?“ „Sicher — aber sieh dir das Schwert des Burschen an.“ „Sie schafft es trotzdem, Shane.“ Shane stieß einen tiefen, kehligen Laut aus, eine Art Grunzen. Er sah ein, daß er SiriTongs Stolz brach, wenn er ihr Wu vom Hals schaffte. Dieser heimtückische Hund war genauso brutal und durchtrieben wie sein Führer. Er war die Nummer zwei auf der Dschunke, und die Korsarin erinnerte sich nur zu genau, wie er mit ihr umgesprungen war, .als sie Gefangene auf der Dschunke gewesen war. Shane schleuderte den Tschakan in eine andere Richtung. Er hatte es gelernt, die Waffe auf fünfzig Yards ins Ziel zu bringen. So auch jetzt. Ein halbnackter Chinese mit hochgebundenem Zopf hatte
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sich hinter Ben Brighton geschlichen. Ben selbst hatte mit einem anderen Gegner zu tun und bemerkte den Kerl nicht. Auch die anderen Männer von der „Isabella“ achteten nicht auf den Halbnackten. Nur Shane hatte diesmal aufgepaßt - und der Tschakan erwischte den Chinesen zwischen Hals und Schulter. Mit entsetzlichem Laut stürzte er. Die „Isabella“ lag fast längsseits --der Dschunke. Die Enterhaken und Leinen fesselten die Schiffe aneinander. Carberry mit seiner Nachhut gelangte nun zum Einsatz - mit einem Schwall von Flüchen auf den Lippen setzte der wackere Profos als erster über, dann stürmte seine Meute nach. Auf dem Achterdeck der Dschunke stellten sich ihnen nur zwei Männer entgegen. Carberry war ein brüllendes, narbiges Ungeheuer, das mit einem riesigen Morgenstern um sich hieb, als gelte es, den Besanmast zu fällen. Entsetzt nahmen die Piraten Reißaus. Der Profos trieb sie bis auf die Kuhl. Hier verbündeten sich die beiden Chinesen mit ihren Kumpanen, fühlten sich im Rücken gedeckt und nahmen den Kampf auf. Zwischen züngelnden Flammen geriet der Kampf Mann gegen Mann zu einem tosenden Inferno. * Sam hatte die Pistole, die er ergattert hatte, auf einen Gegner abgefeuert. Jetzt fegten Blacky, Fong und er wie die Kastenteufel quer über die Kuhl der Galeone. Sie schlugen und schossen nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Der Zahl nach hätten Vinicio de Romaes' Kerle den dreien leicht Einhalt gebieten können. Aber die Piraten hatten bemerkt, daß ihr Kapitän gefallen und Nakamura schimpflich außenbords geflogen war. Sie waren verunsichert, die sonst so grausamen Kerle, und diese Tatsache nutzten Blacky, Sam und Fong aus. Zwischen den Flammen fand das große Aufräumen statt. Aber sie nahmen sich nur
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die Piraten vor, die sich ihnen in Weg stellen und sie niedermachen wollten. Funken stoben, die Hitze wurde unerträglich. Aber noch kümmerten sich Hasards zwei Männer und Fong-Ch'ang nicht darum. Sie tobten durch eine glühende Hölle. Unter ihren Füßen wurden die Planken heiß und morsch, und überall im Schiff begann es bedrohlich zu knacken und zu knirschen. Einige weniger couragierte Seeräuber wichen auf die Back zurück. Nur kurz berieten sie, dann hatten sie ihren Entschluß gefaßt. Sie jumpten über das Schanzkleid und stürzten sich in die Fluten. Auf der Galeone gab es nur noch die Wahl zwischen zwei direkten Wegen in die Hölle: dem Tod durch die Waffen der Feinde oder durch die vernichtenden Flammen. Nie - das sah auch der letzte Pirat ein - würde es gelingen, die Angreifer zu besiegen und dann auch noch die Galeone zu retten. Der Dreimaster war ein weithin sichtbares Fanal in der See. Und die Ratten verließen das lodernde Schiff. Blacky blieb als erster stehen und schaute sich um. Bam Roskill und Fong verhielten neben ihm. „Wir sind hier fertig“, sagte Blacky. „Wir müssen zur ‚Isabella' zurückschwimmen, denn die Beiboote sind schon zu sehr angesengt.“ Mit einem raschen Blick zu den beiden Jollen des Piratenseglers pflichtete Sam ihm bei. „Stimmt, die können wir nicht mehr gebrauchen. Aber Fong kann unmöglich mit seinen Ketten schwimmen.“ Fong befand sich neben ihnen und atmete schwer. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, auf dem Gesicht und dem gesamten Körper. Wieder drohte ihn die Ohnmacht zu übermannen. Wieder kämpfte er mit aller Macht dagegen an. „Im Achterkastell gibt es Werkzeug“, stieß er hervor. „Irgendwo dort. In einer der Kammern.“ „Los, nichts wie hin!“ rief Blacky. Er drehte auf dem Absatz um und lief los. Als
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erster erreichte er die Querwand des Achterkastells, eine brennende, qualmende Mauer im Hitzestau. Er erkannte die Öffnung, die vorher das Schott gewesen sein mußte. Das Schott lag jetzt platt auf den Planken. Es hatte sich aus der Verankerung gelöst. Blacky zögerte keine Sekunde. Mit einem Satz sprang er durch die flammende Barriere, landete unsanft auf den brüchigen Stufen eines Niederganges, überrollte sich und polterte in den Achterdecksgang hinunter. Die Hitze waberte ihm entgegen. Er erhob sich und hustete. Die Augen tränten ihm. An der Wand entlangtastend, gelangte er in die erste Kammer. Draußen schrie Sam Roskill nach ihm: „Blacky, he — wo zum Teufel steckst du?“ „Hier!“ rief Blacky zurück. Es wurde aber mehr ein erstickter, würgender Laut, denn der Rauch biß in seiner Kehle und kratzte ekelerregend bis in den Magen. Von der „Isabella“ schallte in diesem Augenblick zum erstenmal der Schlachtruf herüber: „Ar-we-nack! Ar-we-nack!“ Blacky mußte grinsen, trotz allem. Was das bedeutete, wußte er nur zu genau, und es erfüllte ihn mit Stolz und Zufriedenheit. Was hatte ihnen Khai Wang alles angetan, wie lange hatten sie ihn gehetzt — jetzt bezahlte er dafür. Andernfalls hätten die Kameraden drüben nicht so begeistert gebrüllt. Blacky durchstöberte drei Kammern, dann, in der vierten, traf er endlich auf das, was er suchte. Rauchschwaden wogten durch den Raum. Blacky konnte kaum etwas erkennen, aber er stieß mit den Füßen gegen einige schwere Gegenstände. Er bückte sich danach. Dann war eine Bewegung neben ihm. Er reagierte nicht darauf, denn er nahm an, einer der Freunde wäre zu ihm gestoßen. Das stellte sich innerhalb der nächsten Sekunde jedoch als böser Irrtum heraus. Der Mann an seiner Seite war ein Pirat, einer von de Romaes' Leuten! Blacky gewahrte aus den Augenwinkeln, wie der Kerl ein Entermesser gegen ihn hob.
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Bedrohlich schwebte es über Blackys Kopf. Bis zum letzten Augenblick hatte sich dieser Kerl also im Achterdeck aufgehalten. Blacky hatte nicht damit gerechnet, daß er es hier noch aushielt, daß er als blindwütiger Rächer auf seinen Moment wartete —statt zur Heckgalerie zu stürzen und ebenfalls in die See zu springen. Blacky ließ sich zur Seite fallen. Seine Hände hatten einen Hammer gepackt. Den hob er jetzt und wollte ihn auf den Angreifer schleudern. Aber die Abwehrgeste erfolgte zu spät. Um Blacky, einen von Hasards treuesten Männern, war es geschehen. Das Entermesser zuckte auf ihn nieder. Unwillkürlich schloß er die Augen. Einmal mußte es ja aus sein. Und lieber im Kampf sterben als in einem weichen Bett, zum Teufel, dachte er. Dann ruckte die Gestalt des Piraten plötzlich nach hinten. Blacky konnte sich diese Entwicklung nicht erklären. Er staunte noch mehr, als er sah, wie sich das Entermesser aus der Hand des Kerls löste. Dann erst begriff er. Fong war da. Er hatte mit seinen Ketten zugeschlagen. Die eine hatte sich um den Hals des Piraten gewickelt, die andere hatte ihm die Waffe aus der Faust gehauen. Der Kerl brach zusammen, als FongCh'ang wie verrückt an den Ketten zerrte. Aber auf dem Boden der Kammer versuchte er doch noch, an sein Entermesser zu gelangen. Er kroch, fluchte, keuchte — und schaffte es. Mit einem gurgelnden Laut packte er die Waffe und wollte sie Blacky in den Leib stechen. Blacky war auf den Beinen. Er schwang den Hammer im Rundhieb und schlug ihn auf den Kopf des Piraten. Erst da war es mit dem erbitterten Widerstand des Kerls aus. Blacky und Fong standen für Sekunden da, dann platzte es aus Blacky heraus: „Himmel, Fong, ich danke dir! Danke! Verstehst du mich? Verdammt, wenn du nicht gewesen wärst.“ Er sprach portugiesisch und englisch.
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Fong winkte ab. Er wollte keinen Dank. Wären Hasard und seine Männer nicht gewesen, dann würde er nicht mehr leben und wäre bereits auf der Dschunke der Pesttoten vor seinem Dorf südlich von Xiapu jämmerlich verbrannt oder ertrunken. Hustend suchten sie beide auf dem Boden herum und klaubten weitere Werkzeuge auf, die dem Schiffszimmermann der Galeone gehört haben mußten: eine Zange und ein Stemmeisen. Taumelnd kehrten sie auf den Achterdecksgang zurück. Sie wankten nach vorn und wurden von der Hitze und dem Rauch fast erdrückt und zur Ohnmacht getrieben. Aber dann, endlich, lag der Niedergang wieder vor ihnen. Die Glut hatte die Holzstufen mürbe gebrannt. Als Blacky nach oben stieg, brachen gleich zwei Stufen unter ihm zusammen. Er stürzte fluchend, aber FongCh'ang fing ihn auf. Gemeinsam krochen sie nach oben und warfen sich durch die Feuerbarriere. Sam Roskill hatte gerade ins Achterkastell eindringen wollen, aber jetzt stockte er in der Bewegung und atmete auf. „Hölle und Teufel!“ schrie er. „Was habt ihr bloß so lange gemacht?“ Blacky gab keine Antwort. Er wälzte sich, weil seine Kleidung Feuer gefangen hatte. Mit den Händen versuchte er die Flammen totzuschlagen, und auch Fong eilte ihm zu Hilfe. Geistesgegenwärtig griff sich Sam einen Kübel, der noch halb mit Seewasser gefüllt war, und kippte ihn über Blacky aus — das Feuer erlosch. Blacky richtete sich auf, grinste, hustete und packte den Hammer und das Stemmeisen. Sam Roskill nahm aus Fongs Hand die Zange entgegen. Dann arbeiteten die beiden Seewölfe an den Ketten. Es gelang ihnen, die Eisenringe um Fongs Handgelenke ein Stück aufzuliegen. Als Sam mit der Zange nicht mehr weiterkam, wurde Blacky mit dem Hammer und dem Stemmeisen aktiv. Heftig hieb er drein. Fong riskierte, einen schlecht gezielten
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Schlag auf die Finger zu kriegen, hielt aber dennoch völlig still. Blacky hieb nicht daneben. Und die Ringe öffneten sich so weit, daß Fong-Ch'ang die Hände herausziehen konnte. „He!“ brüllte Sam plötzlich. „Zur Seite! Bringt euch in Sicherheit!“ Sie spritzten auseinander, und das war ihr Glück. Die Großrah hatte sich im Feuer aufgelöst und stürzte mit dem letzten Rest brennenden Segels Deck — genau auf die Stelle, n der Fong, Blacky und Sam eben noch gekauert hatten. Donnernd landete die schwere Spiere. Sie zerbrach und brannte weiter. Fong war frei. Strahlend reckte er die Arme. „Los, nichts wie weg hier!“ rief Blacky. „Es hat keinen Zweck, daß wir noch versuchen, irgendetwas aus den Frachträumen zu retten. Wer weiß, ob de Romaes überhaupt Schätze an Bord mitgeführt hat.“ Fong sah ihn fragend an, und Blacky fügte erläuternd hinzu: „Gold, verstehst du? Silber. Diamanten.“ Er wies mit dem Finger nach unten, dorthin, wo die Laderäume der Galeone lagen. Gold, das verstand Fong. Aber er hatte gehört, daß Vinicio de Romaes in den letzten Wochen keine Beute geschlagen hatte, und wußte, daß alles, was er dereinst gehortet hatte, auf der Insel, dem Schlupfwinkel, lagerte: Zhangzidao. „Nicht Gold“, erwiderte er in gebrochenem Portugiesisch. „Zhangzidao.“ Blacky und Sam verstanden, obwohl sie mit dem Namen der Insel nichts anfangen konnten. Sie begriffen nur, daß es auf dieser Galeone nichts für sie zu holen gab — und daß de Romaes wohl auch deshalb das Bündnis mit Khai Wang gesucht hatte, weil er sich an dessen Seite mehr Erfolg versprochen hatte. Sie fuhren hoch und liefen zum Schanzkleid der Steuerbordseite. Mit einem Satz sprang Blacky auf die Handleiste, hob die Arme und ließ sich nach vorn kippen. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. Sie tauchten in das grünblaue
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Wasser und brachten sich ein Stück unter dem Spiegel der See voran. Danach schossen sie wieder hoch, japsten nach Luft und schwammen auf die in hellen Flammen stehende Dschunke und ihre „Isabella“ zu. 9. Old O'Flynn und sein Trupp hatten das Feuer eingestellt. Hasard und die anderen auf Fei Yen hatten keine Rückendeckung mehr nötig. Was jetzt folgte, wurde ausschließlich mit Degen, Säbeln und Entermessern ausgetragen. Der alte Donegal feuerte seine Helfer trotzdem mit den übelsten Flüchen und deftigsten Sprüchen an, denn jetzt galt es, das übergreifen des Feuers von der Dschunke auf die „Isabella“ zu verhindern. Kübel mit Seewasser und Sand, überschwappende Pützen wurden von Mann zu Mann gereicht. Bill, der Schiffsjunge, hörte keinen Augenblick mit dem Schöpfen auf. Der Kutscher hatte jedoch eine großartige Idee gehabt. Er hatte einen langen Schlauch aus Ziegenleder bis ins Vordeck gelegt, und das Wasser, das immer noch durch das notdürftig abgedichtete Leck eintrat, pumpte er selbst in diesen Schlauch. Oben, in der Nähe des Kombüsenschotts, stand Old O'Flynn und richtete das zweite Schlauchende aufs Backbordschanzkleid. Das Wasser sprudelte und spritzte. Der Alte setzte hin und wieder mit dem Fluchen aus und kicherte vergnügt. Auf der Dschunke tobte der Kampf immer noch hin und her. Ferris Tucker hatte sich einen bulligen Chinesen vorgeknöpft. Der Kerl hatte gewaltige Muskeln, ganze Berge davon, und er verstand sein Schwert mit Bravour zu führen. Ferris blockte nicht weniger gekonnt mit seiner Axt ab, hatte aber kaum eine Chance, eine Attacke zu führen. Sie deckten sich mit gewaltigen Hieben ein, und jeder wußte sich gegen jede Parade seines Gegners zu schützen. So endete ihr Duell auf einem Nullpunkt, der
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Kampf ging nicht voran. Die Hitze trieb ihnen den Schweiß aus allen Poren. Schließlich gab Ferris sich eine Blöße und mußte bis ans Schanzkleid der Backbordseite zurückweichen. Der bullige Chinese stieß einen Laut aus, der wie „Sch-aa“ klang, setzte nach und senste wie ein Schnitter mit dem Schwert durch die Luft. „Warte ab, dir mach' ich noch die Hölle heiß!“ rief Ferris. Im Augenblick hatte aber der Pirat die Oberhand. Ferris mußte plötzlich hochspringen, um einem hundsgemeinen, besonders tief geführten Stoß zu entgehen. Im Satz schwang er die Beine leicht nach hinten, ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren — und setzte auf dem Schanzkleid auf. Es war ein geglückter Sprung, mit dem der Chinese wohl nicht gerechnet hatte. Ferris hielt sich mit der einen Hand an den Fockwanten fest. Die andere führte die Axt. Der Schiffszimmermann ließ sie flach auf den Bulligen zuschwingen, um ihm den Zopf abzurasieren. Aber der Pirat war auf der Hut. Er bückte sich, gab einen schrillen Ruf von sich, stürmte vor und hackte unversehens auf die Fockwanten ein. Sein Schwert war ungemein scharf. Es rasierte in einem einzigen Streich die Wanten über ihren Rüsten ab. Ferris geriet aus der Balance. Er wankte, bewegte wieder die Arme und versuchte verzweifelt, die aufrechte Haltung zu bewahren. Brüllend drang der bullige Kerl gegen ihn vor. Ferris kippte nach hinten weg und segelte in die Tiefe. Neben ihm war die Bordwand, ein huschendes, schemengleiches Etwas. Er fluchte wie der Profos, aber das nutzte ihm auch nichts mehr. Er klatschte in die Fluten. Unter Wasser riß er sofort die Augen auf. So erblickte er wieder die Bordwand der Dschunke vor sich. Und aus purem Zufall gewahrte er, daß ein beachtliches Loch in der „Fliegenden Schwalbe“ klaffte. Ein
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Leck, das sie aus dem Gefecht davongetragen hatte. Ferris ließ sich vom Auftrieb packen und schnellte nach oben. Japsend tauchte er auf, schaute sich nach allen Seiten um und entdeckte zu seiner Verblüffung drei Köpfe, die sich mit einem geradezu dämlichen Grinsen auf ihn zubewegten. „Blacky und Sam“, stammelte er. „Und Fong — ja, da brat mir doch einer n' Heringsschwanz, habt ihr's also geschafft, ihr alten Schnarchsäcke!“ „Von wegen Schnarchsäcke“, sagte Blacky. „Was treibst du denn da, du alter Klampenhauer?“ „Ich bade, siehst du das nicht?“ „Jetzt?“ „Zu Weihnachten hab ich das letzte Mal, wurde mal wieder Zeit“, gurgelte Ferris. Sie lachten. Das war wirklich paradox, beinahe aberwitzig — oben schlugen sich Seewölfe mit Piraten, und hier rissen zwei von Hasards fähigsten Männern faule Witze. Sie sahen selbst ein, daß das nicht angebracht war. „Also, was ist?“ fragte Blacky. „Entern wir?“ „Geben wir Khai Wang und seinen Hunden den Rest“, sagte Sam Roskill. „Ja“, meinte Ferris Tucker. „Da müssen wir uns verdammt beeilen, denn die verdammte Dschunke hat ein höllisches Leck unter der Wasserlinie. Die säuft bald ab.“ Jetzt grinsten Blacky und Sam nicht mehr. Nur Fong lächelte im Schwimmen noch vor sich hin, denn er hatte ja kein Wort von dem, was gesprochen worden war, verstanden. Sie suchten nach einer Möglichkeit zum Aufentern und fanden sie. Carberry hatte wie ein Berserker gekämpft, zwei Gegner zu den Seiten weggefegt und einen dritten niedergewalzt. Danach hatte er durch Zufall festgestellt, daß an Backbord von Fei Yen vier Männer im Teich strampelten, die ihm ziemlich bekannt schienen. Er hatte ein Tau für sie ausgeworfen und schnell oben am Schanzkleid belegt. Das Tau baumelte bis aufs Wasser.
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Ferris schwamm als erster darauf zu, packte es und dachte voll Grimm an den bulligen chinesischen Piraten. * Hasard trieb Khai Wang von der Kuhlgräting zum Backbordniedergang des Achterdecks, und auf halbem Weg geriet der Pirat fast mit einer Nagelbank ins Gehege. Nur knapp vermochte er ihr auszuweichen. Er stolperte rückwärts, stimmte ein wüstes Gezeter an und prallte mit der Körperseite gegen das Schanzkleid. Old O'Flynn besprühte mittels des Ziegenlederschlauches inzwischen auch die Dschunke, denn er hatte festgestellt, daß das um sich greifende Feuer auch SiriTong und die Seewölfe gehörig in die Bredouille bringen konnte. So hielt er ihnen das Kampffeld einigermaßen von Flammen und Funken frei und benetzte die Kameraden selbst, damit sie gegen Funkenflug geschützt waren. Nur bis zur Backbordseite regneten die Wassertropfen nicht. So geschah es, daß Khai Wangs Gewand plötzlich mit dem einen Zipfel in einen züngelnden Flammenteich geriet. Der Pirat bemerkte es, zerrte an seinen Kleidern und war abgelenkt. Hasard sprang vor. Sein Degen rührte die heiße Luft auf, fetzte unsichtbare Linien hinein und erreichte die Geißel des Gelben Meeres. Mit einem gewaltigen Hieb schlug ihm Hasard den Säbel aus der Faust. Khai Wang schrie auf. Er trat mit 'einem Fuß auf den Saum seines langen, bestickten Gewandes und konnte so die Flammen und die Glut ersticken. In einer reflexartigen Bewegung riß er dann die Pistole aus dem Gurt, die er kurz vorher auf dem Achterdeck seinem aufsässigen Steuermann abgenommen hatte. Der Seewolf hätte Khai Wangs Handgelenk mit Leichtigkeit einen Schnitt zufügen und die Pulsadern auftrennen können. Oder er hätte ihm den Degen bis zum Heft in die Brust rammen können. Khai Wang brachte die Pistole nicht schnell genug hoch, und auch den Hahn
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hatte er noch nicht gespannt. Er war zum Sterben verdammt. Hasard aber ließ den Degen fallen. Dann sprang er dicht vor den Chinesen und riß nur die rechte Faust hoch. Khai Wang war zu verblüfft, um zu reagieren. Er steckte den Hieb mit verzerrtem Gesicht ein. Hasards Mittelfingerknöchel traf den entscheidenden Punkt am Kinn. Der Pirat brach in den Knien zusammen und sank mit glasigen Augen auf den Niedergang. Hasard packte ihn am Gewand und zog ihn zu sich hoch. Khai Wang versuchte keinen Trick. Er war wirklich bewußtlos. Hasard fuhr herum. Er sah Siri-Tong, die Wu bis an den Großmast getrieben hatte und dort jetzt seine letzte Verteidigung niederfocht. Er konnte gegen ihre Degenkünste nicht bestehen und war am Ende. Verzweifelt hob er immer wieder das viel größere Schwert. Aber ihm mangelte es an Technik und Umsicht. Seine blinde Angriffswut war dahin, und — so absurd es auch klang - er war der Korsarin trotz des gewaltigen Schwertes jämmerlich unterlegen. Dabei wirkte der Degen von Siri-Tong im Vergleich zu der Riesenwaffe wie ein zerbrechlicher Dolch. Und doch, Wu gelang es nicht, den Degen zu zerschmettern. Hier zeigte sich wieder, was für eine überragende Kämpferin die Korsarin war. Sie hatte Meuterer an Bord ihres schwarzen Seglers zum Zweikampf herausgefordert und immer gesiegt. Sie hatte sich in Schlachten den härtesten Gegnern präsentiert und nur selten eine Blessur einstecken müssen. Gegen diesen Vulkan an Zorn und Kampfesmut war Wu machtlos. Hasard wandte sich zum Achterkastell um, sah Ben Brighton, der gerade mit einem Gegner fertig geworden war, und gab ihm einen Wink. Ben erschien, um Khai Wang in Empfang zu nehmen und nicht aus den Augen zu lassen. Hasard eilte zu Siri-Tong. Ferris, Blacky, Sam Roskill und FongCh'ang hatten mittlerweile die Bordwand von Fei Yen erklommen. Sie kletterten
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übers Schanzkleid, und Ferris fand die Axt wieder, die er vorher, bei seinem Sturz, verloren hatte. Die Axt war auf den Decksplanken gelandet, keiner hatte sich mehr darum gekümmert. Hasards rothaariger Zimmermann nahm die Waffe auf, stieß einen saftigen Fluch aus und rückte auf den bulligen Chinesen zu. Dieser Kerl stand immer noch aufrecht. Er schlug sich gerade mit Carberry herum. Der Profos nannte ihn eine Rübensau, einen triefäugigen Hornochsen, eine stinkende Sumpfnelke und eine von einer Kuh im Linksgalopp an die Wand geschissene Mißgeburt, aber das konnte den Kerl nicht beeindrucken. „Ja, verstehst du schielendes Walroß denn gar nichts?“ brüllte Carberry. Ferris Tucker war jetzt neben ihm. „Ed, laß mich mal 'ran“, sagte er grollend. „Der gehört mir. Der hat an meiner Ehre gekratzt, Hölle, und dafür muß ich mich revanchieren.“ „Hör mal, Ferris, du alter Stinkstiefel ...“ Ferris stierte Carberry wild an und brüllte: „Ed, bitte!“ Worauf der Profos sich achselzuckend zurückzog. „Wenn einer den Profos höflich um was bittet, dann gibt der Profos gnädig nach“, knurrte er. Ferris ließ den bulligen Chinesen gar nicht erst zu Luft kommen. Er deckte ihn mit kreuz und quer geführten Axthieben ein, und diesmal hatte er die bessere Ausgangsbasis. Der Pirat wich zurück. Ferris knallte ihm die Axt mit solcher Wucht gegen das Schwert, als gelte es einen Baum zu fällen, aus dem man einen neuen Mast für die „Isabella“ schnitzen wollte – und plötzlich zerbrach das Schwert des Kerls. Völlig verdutzt blickte der Chinese auf den Klingenstummel, der noch aus seiner Faust aufragte. Ferris entblößte die Zähne und grinste richtig teuflisch. „So, und jetzt ab durch die Mitte, du Sohn einer vergammelten Hafenhure. Wird's bald?“ Er wies zum Schanzkleid, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu
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verleihen und sich dem Zopfmann überhaupt verständlich zu machen. Der Bullige begriff so schnell, wie er noch nie kapiert hatte. Mit erstaunlicher Gewandtheit setzte er übers Schanzkleid und warf sich ins Wasser. Ferris war am Schanzkleid, beugte sich vor und schaute ihm nach. Der Chinese zog die Beine an den Leib, umklammerte sie mit den Armen und fiel mit dem Kopf nach oben und dem Allerwertesten nach unten in die See. Es gab einen gewaltigen Klatscher, Wasser spritzte nach allen Seiten, und Ferris lachte, bis ihm die Tränen in den Augen standen. Dann fiel ihm etwas ein, und er hielt nach dem Seewolf Ausschau. Hasard hatte Siri-Tong erreicht, als sie Wus Hand verletzt hatte und der Steuermann das Schwert hatte sinken lassen müssen. Wu blutete stark aus einem Schnitt am Handgelenk. Die Korsarin hatte ihm die Degenspitze gegen den Kehlkopf gestellt und redete auf chinesisch auf ihn ein. „Siri-Tong“, sagte der Seewolf. Sie blickte ihn an, ließ aber nicht von dem verschlagenen kleinen Kerl ab. „Siri-Tong, wir wollen sie doch beide lebend haben, oder?“ Hasards Blick bohrte sich in ihre schwarzen Augen. „Sie werden in Peking, in der Verbotenen Stadt, vor ein Gericht, vielleicht sogar vor den Großen Chan persönlich gestellt, und dort wird entschieden, was mit ihnen geschieht. Unsere persönlichen Rachegefühle müssen zurückstehen. Wir waren uns doch einig, nicht wahr?“ Sie sah es ein und ließ von dem Kerl ab. Ferris, Blacky und Sam eilten heran und nahmen Wu in Empfang. Die Crew der „Isabella“ hatte den Nahkampf auf der Dschunke inzwischen auch für sich entschieden. Hasard schaute sich besorgt um. Nur leichte Verwundungen stellte er bei seinen Männern fest. Auf dem Deck lagen nur Khai Wangs und Wus tote Kumpane. Nicht alle hatten bis zur letzten, bitteren Konsequenz gekämpft. Einige hatten sich ergeben. Carberry und einige Helfer
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trieben sie gerade zusammen und fesselten sie. „Kutscher!“ rief Hasard zur „Isabella“ hinüber. „Sir?“ „Komm her und verbinde Wus Hand. Ich will nicht, daß er verblutet. Blacky und Al, ihr fesselt den Burschen. Nehmt euch in acht, ihr wißt, daß er gefährlicher ist als ein Sack voll Schlangen.“ „Und ob“, erwiderte Blacky grimmig. „Schaffen wir diesen Knaben und seinen Anführer auf die ‚Isabella' hinüber?“ „Ja, und die anderen Gefangenen verfrachtet ihr in das Beiboot der Dschunke, das den Brand überstanden hat. Fiert es ab und gewährt den Kerlen freies Geleit. Die Anständigkeit verlangt, daß wir ihnen diese Chance geben.“ „Ja, Sir“, erwiderte Sam Roskill. „Hasard“, sagte Ferris Tucker. „Die Dschunke hat ein Riesenleck in der Bordwand, sie krängt immer mehr nach Backbord. Wir müssen uns beeilen ...“ „Ja.“ Hasard wirbelte herum und lief zum Vordeck. Siri-Tong nahm sich das Achterkastell der Dschunke vor. Im Vorschiff geriet Hasard ins Mannschaftslogis und entdeckte die sechs Schwerverletzten, die hier vom Feldscher untergebracht worden waren. Der Pirat, der ein Bein verloren hatte, schwadronierte vor sich hin, offenbar wirres Zeug, wenn der Seewolf auch kein Wort verstand. Er schien Fieber zu haben. Die anderen blickten ihn entsetzt an. Fong-Ch'ang trat hinter Hasard ein. Er hatte von Siri-Tong vernommen, was die beiden suchten. Er sprach ruhig auf die sechs Piraten ein. Schließlich antwortete einer von ihnen. Seine Worte waren hastig, er sprudelte sie nur so heraus. Fong legte Hasard die Hand auf die Schulter und wies zum Achterschiff. Sie verließen gemeinsam das Vordeck und stürmten nach achtern. Im Laufen sah Hasard, daß seine Männer bereits Khai Wang und Wu auf die „Isabella“ hinüberdirigierten. Der Kutscher hatte Wu einen Verband angelegt. Bob Grey, Matt
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Davies und Stenmark fierten inzwischen das Beiboot ab, wobei sie darauf achten mußten, daß es nicht doch noch Feuer fing. Denn „Fliegende Schwalbe“ brannte weiter, und Old O'Flynn gab sich jetzt nicht mehr damit ab, das Schanzkleid und die Kuhl zu besprühen. Ihm genügte es, daß die „Isabella“ vor dem Übergreifen des Feuers bewahrt blieb. Im Achterdeck rief Hasard nach Siri-Tong. Sie erwiderte etwas, das er nicht verstand. Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu tönen. Es dauerte eine Weile, bis der Seewolf und sein chinesischer Freund das Versteck gefunden hatten, in dem die Korsarin auf die zwei Gesuchten gestoßen war. Von zweien zu reden, war eher grotesk, denn der eine Mann war seit Jahren tot und gleichsam zu einem Objekt von symbolischer Bedeutung, zu einer Legende geworden - die Mumie des Mandarins. Neben ihr kauerte Hung-wan, der alte Chronist von „Eiliger Drache über den Wassern“. „Tötet mich“, sagte er mit dünner Stimme. „Das Schicksal der Mumie ist auch mein Untergang.“ Siri-Tong übersetzte es, und Hasard erwiderte schroff: „Sag ihm, er soll keinen Unsinn reden. Los, wir bergen die Mumie selbst. Fong soll den Alten stützen und nach oben führen. Wir müssen hier weg, sonst saufen wir noch mit der verdammten Dschunke ab.“ Das war keineswegs übertrieben. Fei Yen krängte schon erheblich, als sie aufs Oberdeck zurückkehrten. Immer weiter neigte sie sich nach Backbord und zerrte an den Leinen, die sie mit der „Isabella“ verbanden. Hasard, Siri-Tong und ihre Begleiter hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Mumie des Mandarins und den Chronisten auf die Galeone hinüberzutragen und selbst die Dschunke zu verlassen. Das Beiboot von Fei Yen dümpelte in der See. Auch die Schwerverletzten waren mit hinein verfrachtet worden, nachdem der Kutscher die Piraten mit schmerz- und wundstillenden Mitteln versorgt hatte.
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Mehr hätte auch ein barmherziger Samariter nicht für die Kerle tun können. Sie hatten die reelle Chance, an Land zu pullen und dort allmählich wieder zu Kräften zu kommen. „Ed!“ rief Hasard im Hinüberjumpen zur „Isabella“ dem Profos zu. „Sperr die beiden Gefangenen in die Vorpiek. Postiere zwei Wachen vor der Piek und löse sie alle acht Glasen ab.“ „Geht in Ordnung!“ Siri-Tong, Fong und alle Seewölfe befanden sich nun wieder auf der „Isabella“ - und es wurde Zeit, daß sich die Galeone endgültig von der Dschunke löste. Ben Brighton kappte mit dem Tschakan, den er von der Kuhl Fei Yens aufgelesen hatte, die Taue der Enterhaken. Ein Zwischenraum schob sich neben die Bordwände, und Fei Yen krängte nun noch heftiger und drohte zu kentern. Die schöne Frau und die Männer traten an das Backbordschanzkleid der Kuhl und blickten auf die lodernde Dschunke. Auch
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„Flüssiges Licht im beginnenden Sommer“ durfte das Achterkastell verlassen und sich über das Wiedersehen mit Fong freuen. Fong-Ch'ang schloß das Mädchen in seine Arme, nicht wie eine Geliebte, sondern wie eine Tochter. Die Segel der „Isabella“ wurden gesetzt, sie nahm Fahrt auf. Etwas später sahen Hasard und seine Männer, wie „Fliegende Schwalbe“ und die Galeone von Vinicio de Romaes brennend sanken. Zwei Stunden hatte das Gefecht gedauert, aber der Korsarin, dem Mädchen und den Männern war zumute, als hätten sie zwei Tage unentwegten Kämpfens hinter sich. Erst jetzt spürten sie die Erschöpfung. „Ich hoffe, daß wir in der Verbotenen Stadt etwas Zeit finden, uns zu erholen“, sagte der Seewolf. Er lächelte, denn er glaubte selbst nicht daran. Eine stolze, wenn auch etwas angeschlagene „Isabella VIII.“ luvte an und nahm Kurs nach Norden.
ENDE