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Kate Morton
Die fernen Stunden
Roman
Au s d e m Eng lis ch en von Char lo tte Br euer und Norb er t Mö lleman n
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Kate Morton
Die fernen Stunden
Roman
Au s d e m Eng lis ch en von Char lo tte Br euer und Norb er t Mö lleman n
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Schsch! Hörst du ihn? Die Bäume hören ihn. Sie wissen als Erste, dass er kommt. Horch! Im tiefen , dunklen Wald erzittern die Bäume, ih re Blätter rascheln wie Silb erfolie, ein verstohlen er Wind geistert und schlängelt sich g litzernd durch ihre Kronen und flü stert, dass es bald an fangen wird . Die Bäume wissen es, denn sie sind alt u nd haben es schon vielmals erleb t.
Es ist Neumond.
Es ist Neumond, wenn der Modermann kommt. Die Nacht hat sich weiche Lederhandschuh e ü bergezogen und ein schwarzes Laken über dem Land au sg eb reitet, eine List, ein e Verk leid ung , ein Bann, damit alles in süßem Schlaf schlummert. Und urchd ring lich es Dunk el. Doch auch die Du nkelheit hat ih re Nuan cen , ih re Konturen. Schau: Der dichte Wald ist ein rau er Pelz, die Feld er sind eine Flickendecke, d as Wasser i m Schlossgraben glänzt wie Siru p. Und d ennoch . Wenn du nicht ganz großes Pech hast, siehst du nicht, dass sich etwas b eweg t hat, dort, wo sich nichts regen dürfte. Und du kan nst di ch g lück lich schätzen, d enn niemand, der gesehen h at, wie der Modermann sich erhebt, lebt lang e gen ug, u m später davon zu b erichten . Da - sieh st du? Der stille, schwarze Schlo ssg rab en, der sch lammig e Schlo ssg raben liegt nich t meh r spiegelglatt da. Eine Blase hat sich geb ild et, wo er am b reitesten ist, eine große Blase, ein leichtes Kräu seln rundheru m, eine Ah nun g... Aber du hast dich abgewende t! Und das war klug. Ein solcher Anblick ist nichts für deinesgleichen. Wenden wir unse3
re Aufmerksamkeit lieber dem Schloss zu, denn auch dort regt sich etwas. Ho ch ob en im Tu rm. Sch au hin, und du wirst es seh en. Ein kleines Mäd chen sch läg t seine Decke zu rück. Man hat es Stund en zuvor zu Bett gebracht; im Nebenzimmer sch narch t seine Kin derfrau leise, träu mt von Seife u nd Lilien und hoh en Gläsern mit war mer, frischer Milch. Aber irgendetwas hat das Mädchen geweckt. Vorsichtig setzt es sich au f, rutscht üb er d as saubere weiße Lak en, stellt die blassen, sch malen Füße auf den Holzboden. Kein Mond steh t am Himmel, den es an schauen od er der ihm Licht spenden könnte, und doch füh lt es sich zu m Fen ster hingezogen. Das b lasige Glas ist kalt; das Mädchen spü rt das Flirren der eisk alten Nachtluft, als es auf das halbhohe Bücherregal mit den au srangierten Kin derbüchern klettert, den Opfern seiner Ungeduld, erwach sen und flügge zu wer den. Es zieht das Nachth emd über d ie blassen Bein e und legt das Kinn in die Mulde, die sich zwischen den Knien bildet. Die Welt ist da draußen, Menschen bewegen sich darin wie Au fziehp uppen. Das alles will es sich demn ächst mit eigenen Augen an sehen. Zwar sind alle Tü ren in diesem Schloss mit schweren Schlössern und die Fen ster mit Rieg eln v erseh en, aber sie dienen dazu , d en do rt d rau ßen nicht hereinzulassen , nicht dazu, das Mädch en festzuhalten . Der do rt d rau ßen . Das Mädchen hat Gesch ich ten über ihn gehö rt. Er ist eine Geschichte. Er ist eine alte Legen de, u nd die Riegel und Schlösser sind Überreste einer Zeit, als die Menschen noch an solche Dinge glaubten. An Gerü chte über Un geheuer in Sch lo ssg räben, d ie auf der Lauer lagen, um Jagd auf schöne Jungfrauen zu machen . Über einen Mann, dem vor langer Zeit ein Unrecht g etan wu rd e und der immer und immer wieder auf Rache sinnt. Aber das kleine Mädchen - es wü rd e fin ster d reinblicken, wenn es wüsste, dass man es so bezeichnet - fü rchtet sich nicht mehr vor den Ungeheuern und Märchen seiner Kindheit. Es ist u n ruhig. Es ist ein Kind der mo dern en Zeit und
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es ist au ch nicht meh r klein und es will en dlich fo rt. Dieses Fen ster, diese Bu rg können ihm nichts mehr bieten, aber vo rerst mu ss es sich damit begnügen, und so schaut es niedergeschlagen hinau s. Da draußen, in der Fern e, im Tal zwischen den Hügeln, sinkt d as Do rf in den Sch laf. Ein du mp f ru mpelnder Zug , d er letzte an diesem Abend , künd igt seine Ank un ft an: ein ein samer Ru f, der unb ean two rtet bleibt. Der Bahnh o fswärter mit Schirmmü tze stolpert heraus, um die Kelle zu heben. Im nahe gelegenen Wald begutachtet ein Wild erer seine frisch erlegte Beu te un d träu mt davon , nach Hau se in s Bett zu ko mmen, während am Dorfrand, in einer Hü tte, wo die Farbe von den Wän den abb lättert, ein Neugebo renes wein t. Vollko mme n g ewöhnlich e Vo rkommn isse in einer Welt, wo alles einen Sinn ergibt. Wo ma n Ding e sieht, wenn sie d a sind , und Din ge, d ie nicht da sind, allenfalls vermisst. Eine ganz andere Welt als die, in der das Mäd chen erwacht ist. Denn do rt un ten , ganz n ahe bei dem Mäd chen , d as seinen Blick in die Ferne schweifen lässt, geschieht etwas. Der Graben hat angefang en zu atmen . Tief, tief unten i m Sch lamm schlägt das nasse Herz des begrabenen Mannes. Ein leises Geräu sch wie das Stöhnen d es Wind es steigt au s den Tiefen au f und v ib riert dicht über der Oberfläche. Das Mäd chen hört es, nein, es spü rt es, d enn die Fund amente des Schlosses sind eins mit dem Schlamm, und das Stöhn en dringt durch die Steine, d ie Mauern emp o r, Stock werk fü r Sto ck werk und u nmer klich du rch das Bü cherreg al, au f de m es sitzt. Ein ein st heiß g eliebtes Buch fällt u m, un d das Mädchen im Turm erschrickt. Der Modermann öffnet ein Auge. Versch lagen blickt es hin und her. Denkt er in diesem Au genblick an seine verlo rene Familie? An die hübsche, zierliche Frau und die beiden kleinen, wohlgen äh rten Kind er, die er zurückgelassen hat? Oder gehen seine Gedanken noch weiter zurück, zu den Tagen seiner Kindheit, als er mit seinem Bru der über d ie Wiesen , du rch das hoh e Gras lief? Oder denk t er v ielleicht an d ie an dere Frau , die ihn vo r sein em Tod liebte? An ih re Schmei cheleien und Aufmerksamk eiten, an ih re Weigerung , seine
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Weigerung hinzun eh men, was den Mo dermann am En d e alles geko stet hat ... Etwas veränd ert sich. Das Mädchen spürt es und fröstelt. Legt eine Hand an d ie eisige Fensterscheibe, wo sie auf dem feuchten Film einen sternförmigen Abdruck hinterlässt. Die Geisterstunde ist angeb ro chen , auch wenn das Mädchen nicht weiß, dass man sie so nennt. Jetzt ist niemand mehr da, der ih m h elfen kann . Der Zu g ist fort, der Wilddieb kusch elt sich an seine Frau, und selb st das Neu gebo ren e schläft un d hat es aufgegeben, der Welt mitzuteilen, was es weiß . Im Schloss ist nur das Mädchen am Fenster wach. Die Kinderfrau hat aufgehört zu schnarchen, und sie atmet so leicht, dass man meinen kön nte, sie sei erfro ren . Auch die Vög el im Wald sind still, sie haben die Köpfchen unter die zitternden Flü gel gesteckt u nd die Augen zu dü nnen , g rau en Linien g eschlossen, um nicht sehen zu müssen, was sich da nähert. Nu r das Mädchen ist wach. Und der Mann, der im Schlam m erwacht ist. Sein Herz pu mp t jetzt schneller, denn seine Zeit ist gekommen, und sie ist kurz bemessen . Er bewegt seine Hand - und Fu ßgelenke und steigt au s seinem sch lammig en Bett. Sieh nich t hin. In Gottes Namen , schau dir nicht an , wie er du rch die Ob erfläche b richt, wie er au s dem Graben steigt, wie er sich auf d em sch warzen, nassen Ufer au frichtet, die Arme streckt und Lu ft holt. Wie er sich erinnert, wie es sich an fühlt zu atmen, zu lieb en, zu leiden. Sch au dir lieber die Gewitterwolken an. Selbst in der Dun kelheit kann st du sie ko mmen sehen. Wütende, wie Fäuste geballte Wolken , die sich übereinanderwälzen und miteinander ringen, b is sie sich direkt üb er d em Tu rm v ereinen. Bringt d er Mo dermann das Ge witter oder das Gewitter den Mo dermann? Nieman d weiß es. In sein em Zimmer neigt das Mädchen den Kopf, als die ersten, zögernden Tropfen gegen die Fensterscheibe un d seine Hand klatsch en. Es war ein schöner Tag, nich t zu heiß, der Abend war kühl. Nichts d eutete au f mitternäch tlichen Reg en hin. Am n ächsten Morgen we rd en die Leute sich über d ie feuchte Erde wundern, sie werden sich am K op f k ratzen, ei-
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nander anlächeln und sagen: Das ist ja ein Ding ! Und wir sind nicht einmal wach gewo rd en ! Ab er sieh nu r! Was ist d as? Eine unförmige Gestalt klettert an der Tu rmmauer hoch. Sie klettert schn ell und g eschickt, wie es eigentlich unmöglich ist. So ein Kunststück kann doch k ein Mensch vollb ringen ! Die Gestalt erreicht das Fenster des Mädch ens. Zwei Augen vor seinen Augen. Das Mädchen sieht sie du rch das blasige Glas, du rch den Reg en, d er jetzt in Strö men fällt, sieht ein schlammb edecktes, ab scheuliches Geschöpf. Das Mädchen öffn et den Mu nd, um zu schreien, um Hilfe zu rufen, ab er genau in diesem Mo ment verwandelt sich d ie Szene. Er v erwandelt sich. Durch die Schlammschichten, durch Ge nerationen vo n Fin stern is und Wut und Trauer sieht das Mädchen das menschliche Gesicht. Das Gesicht eines ju ngen Mannes. Ein vergessenes Gesicht. Ein Gesicht voller Sehnsuch t und Trau rig keit und Schönheit. Und ohne nachzudenken öffnet es das Fenster. Um ihn einzulassen, damit er vor dem Regen geschützt ist. Raymond Blythe, Die wahre Geschichte vom Modermann, Prolog
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Teil eins Ein verlorener Brief findet seinen Bestimmungsort 1992 Es b egann mit einem Brief. Ein Brief, der lan ge v erschollen war, der ein h albes Jah rh undert überd auert h atte, heiß e Sommer und kalte Winter, in einem vergessenen Po stbeutel auf d em dämmrigen Dachbod en ein es un schein baren Hau ses in Bermondsey. Ich mu ss man ch mal d aran denk en, an diesen Po stb eutel, an die Hund erte von Liebesb riefen , Leb ens mittelrechnungen , Gebu rtstagsk arten, Kinderbriefen an die Eltern, d ie do rt b eieinand erlag en, bebten und seu fzten , währen d ih re nie angeko mmen en Botsch aften im Du nkeln flü sterten. Wie sie darauf warteten und warteten , dass jeman d sie fand . Denn es heißt, dass ein Brief immer einen Leser sucht, dass Worte, ob es einem gefällt oder nicht, es an sich haben , d en Weg an s Licht zu finden, ihre Geheimnisse preiszu geben. Aber ich werde sentimen tal - eine Ang ewohnh eit au s der Zeit, als ich mit einer Taschenlamp e Ro mane au s dem neun zehnten Jahrhundert las, wäh rend meine Eltern glau bten , ich sch liefe. Eigentlich wollte ich sagen : Merk würdig - h ätte Arthur Tyrell an jenem Heilig abend 1 9 4 1 nicht einen od er zwei Grog zu viel getrunk en un d wäre er nich t nach Hau se gegang en und b etrunken eingeschlafen, anstatt d ie Po st au szutrag en, hätte der Postb eutel nicht all die Jah re unbemerk t auf seinem Dachboden g eleg en, bis Arthur Tyrell fün fzig Jah re später starb und eine seiner Töch ter den Beutel fan d und bei der Daily Mail anrief, dann wäre vielleicht alles ganz an ders geko mmen . Für meine Mutter, für mich und vor alle m fü r Ju niper Blyth e. In allen Zeitung en und in den Fern sehnach richten wu rd e darüber berichtet. Channel 4 h at sog ar ein e Sondersendung g eb racht, in der einig e der Emp fänger über ihren Brief sprechen sollten, über die Stimme aus der Vergangenheit, die so unerwartet zu ihnen sprach. Da war eine Frau , d eren Verlo b-
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ter damals bei der Royal Air Fo rce g ewe sen war, und dann dieser Mann mit der Gebu rtstagskarte von seinem So hn, d er ev akuiert wo rd en und eine Woche später von einem Bo mbensplitter getötet wo rden war. Es war ein e gute Sen dung , fand ich - teilweise sehr rührend, mit manchmal ku riosen, manchmal trau rigen Geschichten, das Ganze an gereichert mit Originalaufnahmen aus dem Krieg. Ein paarmal mu sste ich sogar weinen, was allerd ing s nicht viel heißen will, denn ich habe ziemlich nah am Wasser gebau t. Meine Mutter hat b ei der Sendung nicht mitgemacht. Man hatte sie ang eru fen und gefragt, ob in ih rem Brief etwas stand, was sie gern mitteilen wollte, aber sie hatte Nein gesag t, es habe sich nu r u m ein e gan z gewöhnlich e Bestellbestätigung von einem Bekleidungsgeschäft geh andelt, das es läng st nicht meh r g ebe. Aber das stimmte nicht. Das weiß ich, weil ich zu fällig da war, als der Brief kam. Ich habe ihre Reaktion auf den Brief miterl ebt, und die war alles and ere als gewöhnlich. Es war an einem Morgen Ende Februar, der Winter mach te un s no ch o rdentlich zu schaffen, die Blumenbeete waren gefroren, und ich war gek o mmen , um meiner Mutter bei der Zubereitung des Sonntagsmahls zu helfen . Ich mache das hin und wieder, weil meine Eltern sich darüber freuen - obwohl es fü r g ewöhn lich Hühn chen g ibt und ich Vegetarierin bin und genau weiß, dass mein e Mu tter irgend wan n im Lauf der Mahlzeit ein so rg envolles Gesicht aufsetzt, bis sie es nicht meh r aushalten kann und an fän gt, mir Vo rträg e über Pro teinmangel und Anämi e zu halten . Ich stand gerade an der Spüle und schälte Kartoffeln , als der Brief du rch den Sch litz in der Haustür fiel. No rmalerweise ko mmt so nntags kein e Po st, und das hätte u ns gleich au ffallen sollen , aber das tat es nicht. Ich selbst war viel zu sehr damit beschäftigt, mir zu überlegen , wie ich mein en Eltern beibringen sollte, dass Jamie und ich un s getrennt h at ten. Seitd em waren schon zwei Mo nate vergangen , und irgendwann würde ich ihn en reinen Wein einschenken mü ssen, ab er je länger ich es vor mir herschob, desto schwerer fiel es mir. Un d ich h atte meine Gründe, waru m ich n ich ts sag te: Meine Eltern waren Jamie g egenüb er von An fang an skep -
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tisch gewesen. Außerdem k ö nnen sie nicht gut mit Problemen u mgehen, und mein e Mutter würd e sich no ch mehr Sorgen machen , wenn sie hörte, dass ich jetzt allein in unserer Wohnung lebte. Aber vo r allem f ü rchtete ich mich vo r d em un au sweichlichen, pein lichen Gesp räch, das au f meine Eröffnung folgen würde. Zu sehen, wie sich im Ge sicht meiner Mutter zuerst Verwund erung, d ann En tgeisterun g und schließlich Resignation sp ieg eln wü rd e, wenn sie feststellte, dass von ihr als Mutter jetzt irgend eine Art von Tro st erwartet würde ... Aber zurück zu dem Brief. Das Geräusch von etwas, das du rch den Briefschlitz geschob en wurde und leise zu Boden fiel. »Edie, kannst du mal nach sehen? «, sagte meine Mutter. Sie d eutete mit ein er Kin nbewegung in Richtung Flu r und gestikulierte mit der Hand, die sich nich t im Innern des Hüh nchens befand . Ich legte die Kartoffel weg, wischte mir die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging d ie Post holen. Es war nur ein einzelner Brief, der au f der Fußmatte lag: ein offizieller U mschlag der Post, dessen In halt als »Nachsend ung « dek lariert wurde. Ich las mein er Mutter die Aufschrift vor, als ich in die Kü che kam. Sie h atte das Hühnchen fertig g efüllt und war g erad e d abei, sich die Hände abzutrocknen. Stirn runzelnd , eh er aus Gewoh nheit als au s Beso rgnis, nahm sie den Brief entgegen und klaubte ih re Leseb rille von d em Kü rb is in d er Ob stsch ale. Sie b etrachtete den Po stau fd ruck und beg ann , d en äußeren U mschlag zu öffnen. Ich hatte mich wieder dem Kartoffelschälen zugewandt, ei ne Aufgabe, die mir im Mo ment d ring licher erschien , als meine Mu tter beim Öffnen der Post zu beobachten, deswegen habe ich leider ihr Gesicht nicht gesehen , als sie d en kleineren Umschlag hervorzog , das dünn e Notp apier sah und die alte Briefmarke, als sie den Brief umdreh te und den Absender auf der Rückseite las. Aber seitdem habe ich mir oft vorgestellt, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, wie ih re Finger zu zittern beg annen, sod ass es meh rere Min uten dauerte, ehe sie in der Lage war, den Umschlag au fzureißen .
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Was ich mi r nich t vo rzu stellen brau che, ist das Geräu sch . Das entsetzte, kehlige Keuch en, gefolgt von heisere m Sch luchzen, das so p lötzlich k am, dass mir das Schälmesser ab rutschte und in den Fin ger schnitt. »Mu m? « Ich ging zu ih r und legte ih r ein en Arm u m die Schultern, wobei ich darauf achtete, dass kein Blut auf ih r Kleid trop fte. Aber sie sag te nichts. Sie konn te es nicht, erzählte sie mir sp äter, nicht in diesem Au g enb lick . Sie stand stocksteif da, und Trän en lie fen ih r über die Wangen , wäh rend sie sich den Umschlag an die Brust drückte, einen seltsamen kleinen Umsch lag aus so dünn em Papier, d ass ich den gefalteten Brief d arin erkennen kon nte. Dann , n achd em sie ein paar wirre Anweisung en zu dem Hü h nchen, dem Ofen und den Kartoffeln erteilt hatte, gin g sie n ach oben un d versch wand in ih rem Sch lafzimmer. In der Küche wurde es bedrückend still, nachdem meine Mu tter fo rt war, und ich schlich nur noch auf Zehenspitzen herum. Meine Mutter weint nicht leicht, aber dieser Augen blick - ih r Sch reck und der Schock , den er bei mir au slö ste kam mir vage bekannt vo r, als hätte ich dasselbe schon ein mal erlebt. Nach ein er Viertelstunde, in de r ich d ie Karto ffeln zu End e geschält hatte, d ie Mög lich keiten du rchgegan gen war, wer der Absender des Briefs sein kö nnte, und mi ch gefragt hatte, wie ich mich v erhalten sollte, klopfte ich schließlich an ihre Tür und fragte sie, ob sie eine Tasse Tee wolle. Sie hatte in zwischen die Fassu ng wiedergewonnen, und wir setzten uns einand er g egenüber an den kleinen Resopaltisch in der Küch e. Während ich so tat, als wü rde ich nicht bemerken , dass sie geweint hatte, beg ann sie zu sprechen . »Ein Brief«, sagte sie, »von jeman dem, d en ich vo r lang er Zeit mal gek annt habe. Als ich zwölf, d reizeh n Jahre alt war.« Ein Bild fiel mir ein, an das ich mich dunkel erin nerte, ein Foto, das au f d em Nach ttisch mein er Groß mutter gestanden hatte, als sie im Sterben lag . Drei Kin der, das jüng ste mein e Mu tter, ein Mäd chen mit ku rzem, du nklen Haar, das im Vo rderg rund auf etwas hock te. Seltsam, ich hatte Gott weiß wie o ft am Bett meiner Groß mu tter gesessen und ko nnte mich
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do ch nich t an d as Gesicht des Mädchen s erinnern. Vielleicht in teressieren sich Kinder ja erst dan n d afü r, wer ih re Eltern vo r ih rer Gebu rt waren , wenn etwas passiert, das mit der Verg angenheit zu tun hat. Ich trank meinen Tee und wartete darau f, dass meine Mutter fo rtfuhr. »Ich glaube, ich habe dir nicht viel über diese Zeit erzäh lt, nicht wahr? Über die Zeit im Krieg, im Zweiten Weltk rieg. Es war eine sch recklich e Zeit, all die Au freg ung u nd d ie Zerstörung . Es schien ...« Sie seufzte. »Na ja, es schien , als würd e die Welt nie wieder normal werden. Als wäre sie aus dem Gleichgewicht ge raten und n ich ts k önnte sie wieder in s Lot b rin gen.« Sie legte ih re Händ e u m ih re damp fen de Tasse und sch aute hinein. »Meine Familie - Mum, Dad, Rita, Ed und ich -, wir wohnten in einem kleinen Reih enhaus in der Barlow Street, im Stadtteil Elephan t and Castle, und am Tag nach dem d er Krieg au sgeb rochen war, wu rd en wir Kinder in Sch ulen g esammelt, zu m Bahnhof gebracht und in d en Zug g esetzt. Das werd e ich nie vergessen, wie wir in Reih und Glied zu m Bahnho f marschierten, mit Namen sschildern un d Gasmask en und unseren Taschen, und wie d ie Mütter, denen es nicht geheuer war, dass wir fortgeschickt wurden , die Straße herun tergerannt kamen und dem Wachman n zu riefen , er solle ih re Kin der freilassen , und wie sie dann den älteren Gesch wistern zu riefen , sie sollten auf die jüngeren achtgeben und sie nicht au s den Augen lassen.« Eine Weile kaute sie au f ih rer Unterlip pe, während sie d as alles in ih rer Erinnerung noch einmal du rchlebte. »Du hast bestimmt g roß e An gst gehabt«, sagte ich . In unserer Familie berührte man sich nie viel, so nst hätte ich vielleich t ihre Hand g enommen . »Anfangs ja.« Sie blick te au f und schau te mich an , dann nah m sie die Brille ab und rieb sich die Augen. Ohne ihre Brille wirkte sie v erletzlich, ungeschützt, wie ein kleines, nachtaktives Tier, das vom Tageslicht verwirrt ist. Ich war froh , als sie d ie Brille wieder aufsetzte und fortfuhr. »Ich war noch nie von zu Hause weg gewesen, hatte noch nie eine Nacht getrennt von mein er Mutter v erb rach t. Ab er meine älteren Geschwister waren ja bei mir, und als wir im Zug sa -
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ßen und eine der Lehrerinnen Sch okoladenriegel verteilte, wu rd e d ie Stimmu n g gelö ster, und wir kamen un s beinah e vo r wie au f einer Abenteuerreise. Kannst du dir d as v o rstellen? Es war Krieg, aber wir sangen Lieder und aßen Birnen aus Dosen und spielten >Ich seh e was, was du n icht sieh stWie h eißt du? Möchtest du gern mitko mmen un d b ei mir wohnen?Ho me FarmIch hüp feKu ck mal, Dadd y, wie ich hüpfe!