Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Über lange Jahre hat er Spiele entwickelt. Aus d...
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Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Über lange Jahre hat er Spiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den Achtzigerjahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens. Joel Rosenberg (geb. 1954) ist ein renommierter Fantasy-Autor, zu dessen bekanntesten Werken der »Die-Hüter-der-Flamme«-Zyklus gehört. Der Midkemia-Zyklus beginnt mit dem Traum der beiden Jungen Pug und Tomas von Ruhm und Ehre. Als Midkemia von Invasoren aus Kelewan angegriffen wird, werden sie in den gewaltigen »Spaltkrieg« hineingezogen. Zeitgleich zur »Midkemia-Saga« ist die »Kelewan-Saga« angeordnet: In ihr werden die Geschehnisse auf der Gegenseite während des Spaltkriegs geschildert. Chronologisch folgen dann die Romane der »Krondor-Saga«, bevor Midkemia in der »Schlangenkrieg-Saga« von einer weiteren Invasion heimgesucht wird: Die Flotte der Smaragdkönigin kommt übers Meer, und ihre Armee überzieht das Land mit Krieg. Die »Legenden von Midkemia« führen dann wieder in die Zeit des Spaltkriegs zurück. Als Blanvalet Taschenbuch von Raymond Feist lieferbar: DIE MIDKEMIA-SAGA: 1. Der Lehrling des Magiers (24616), 2. Der verwaiste Thron (24617), 3. Die Gilde des Todes (24618), 4. Dunkel über Sethanon (24611), 5. Gefährten des Blutes (24650), 6. Des Königs Freibeuter (24651) DIE KELEWAN-SAGA: 1. Die Auserwählte (24748), 2. Die Stunde der Wahrheit (24749), 3. Der Sklave von Midkemia (24750), 4. Zeit des Aufbruchs (24751), 5. Die Schwarzen Roben (24752), 6. Tag der Entscheidung (24753) DIE KRONDOR-SAGA: 1. Die Verschwörung der Magier (24914), 2. Im Labyrinth der Schatten (24915), 3. Die Tränen der Götter (24916) DIE SCHLANGENKRIEG-SAGA: 1. Die Blutroten Adler (24666), 2. Die Smaragdkönigin (24667), 3. Die Händler von Krondor (24668), 4. Die Fehde von Krondor (24784), 5. Die Rückkehr des Schwarzen Zauberers (24785), 6. Der Zorn des Dämonen (24786), 7. Die zersprungene Krone (24787), 8. Der Schatten der Schwarzen Königin (24788) DIE LEGENDEN VON MIDKEMIA: 1. Die Brücke (24190), 2. Die drei Krieger (24236), 3. Der Dieb von Krondor (24237) DIE ERBEN VON MIDKEMIA: 1. Der Silberfalke (24917), 2. Der König der Füchse (24309), 3. Konklave der Schatten (24376) 4. Der Flug der Nachtfalken (24406), 5. Ins Reich der Finsternis (24414) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Raymond Feist & Joel Rosenberg
Die drei Krieger
Die Legenden von Midkemia 2 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Murder in LaMut. Legends of the Rifrwar (vol 2)«
Danksagungen
Ich möchte Felicia, Judy und Rachel danken, aus den offensichtlichen Gründen, und außerdem danke ich Ray, weil er mir erlaubt hat, ein paar von meinen eigenen Spielsachen mit in seinen Hinterhof zu bringen. Joel Rosenberg Wie immer stehe ich tief in der Schuld jener, die Midkemia entworfen haben, und danke ihnen ein weiteres Mal. Ich möchte auch allen danken, die mir in den letzten beiden Jahren geholfen haben weiterzumachen - ihr wisst schon, wer gemeint ist. Und ich danke Joel dafür, dass er drei meiner Lieblingsfiguren aus seinem Universum geklont und sie in meins transplantiert hat. Sie sind nicht gerade die drei Musketiere, aber drei der unterhaltsamsten Schurken, über die man eine Geschichte erzählen kann. Raymond E. Feist
Für Fritz Leiber un Donald E. Westlak
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Nacht
Es war eine dunkle, stürmische Nacht. Doch das störte Durine nicht. Nicht, dass ihn die Göttin Killian, die für das Wetter zuständig war, nach seiner Meinung gefragt hätte. Das taten auch die anderen Götter nicht, ebenso wenig wie die Menschen. In seinen mehr als zwanzig Jahren Soldatenleben - sowohl lehensgebunden als auch als Söldner - und auch in den Tagen, bevor er zu Klinge und Bogen gegriffen hatte, war es so gut wie nie vorgekommen, dass maßgebliche Leute Durine nach seiner Meinung fragten, bevor sie ihre Entscheidungen trafen. Auch das störte ihn nicht. Das Gute am Soldatenleben war, dass man sich auf die kleinen, aber wichtigen Entscheidungen konzentrieren konnte, zum Beispiel, in wen man sein Schwert als Nächstes steckte - die großen Entscheidungen konnte man getrost anderen überlassen. Und es hätte schließlich auch keinen Zweck gehabt, sich zu beschweren - davon würde es nicht wärmer werden, der Schneeregen würde nicht aufhören, und kein Gejammer der Welt hätte das Eis davon abgehalten, an Durines immer schwerer werdendem Segeltuchumhang zu kleben, während er halb blind die schlammige Straße entlangstapfte. Schlamm. Schlamm schien zu LaMut zu gehören wie Salz zum Fisch. Aber auch das störte Durine nicht besonders. Durch diesen 9
halb gefrorenen Schlamm zu stapfen gehörte eben zum Handwerk, und hier war es wenigstens nur Schneematsch und nicht jene grausige Art von Schlamm, die entstand, wenn sich Erde mit dem Blut und der Scheiße sterbender Männer mischte. Der Anblick und besonders der Gestank von dieser Art Schlamm bewirkte
manchmal, dass sogar Durine schlecht wurde, und dabei hatte er schon mehr als genug davon gesehen. Was ihm überhaupt nicht passte, war die Kälte. Es war immer noch viel zu kalt. An den Zehen spürte er die Kälte und die Schmerzen schon nicht mehr, und das war kein gutes Zeichen. Die Ortsansässigen sprachen vom Tauwetter wie von etwas, das sie nun, da der Winter mehr als zur Hälfte vorüber war, beinahe jeden Tag erwarteten. Durine blickte auf in den Schneeregen, der ihm ins Gesicht fiel, und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine seltsame Art von Tauwetter handelte. Für seine Verhältnisse fiel da viel zu viel von diesem halb gefrorenen Zeug vom Himmel, als dass man von einem vernünftigen Tauwetter sprechen könnte. Gut, vor diesem letzten Schnee war der Himmel drei Tage lang klar gewesen, aber an der Luft hatte sich nichts geändert; es war immer noch viel zu feucht und viel zu kalt. Vielleicht auch zu kalt zum Kämpfen? Na ja, im Hinblick auf die Käfer und die Tsuranis war das vielleicht gar nicht so übel. Sie hatten im Norden gegen Tsuranis, Goblins und Käfer gekämpft, und nun sah es so aus, als wären ihnen zumindest hier die Tsuranis, Goblins und Käfer ausgegangen, und sobald es warm genug war, würde man Durine und die anderen bezahlen und wegschicken. Wenn er bis dahin noch ein paar Wochen Dienst in der Kaserne leisten musste, war das weiter kein Problem. Solange sie hier festsaßen, war Durine Kasernendienst lieber, als gleich ausbezahlt zu werden und sein eigenes Geld für Unterbringung und Verpflegung ausgeben zu müssen. Was konnte man mehr verlangen, als dass der Graf für alles außer Alkohol und Frauen bezahlte, bis es mit diesem angeblichen Tauwetter endlich so weit war - und die 10
Einschränkung machte Durine auch nur, weil wahrscheinlich nicht einmal Pirojil einen Weg finden könnte, sich auch noch Bier und Huren vom Zahlmeister bezahlen zu lassen. Sobald sich das Wetter gebessert hatte, würden sie sich ihren Sold abholen und nach Süden, nach Ylith, reiten und an Bord eines Schiffes gehen, das sie in wärmere Gefilde brachte. Und das wiederum bedeutete, dass die derzeitige Situation trotz des Schlamms und der Kälte beinahe perfekt war. Dieser Tage fanden die schweren Kämpfe angeblich bei Crydee statt, und das bedeutete, dass Crydee der Ort war, an den die drei sich auf keinen Fall begeben würden. Wenn es erst Frühling war, würde das Kaperschiff Melanie in Ylith einlaufen. Kapitän Thorn würde sie schnell von dort wegbringen, und man konnte sich wohl darauf verlassen, dass er nicht versuchen würde, sie im Schlaf abzustechen. Das wäre auch schlecht für seine Gesundheit, wie Thorns Vorgänger gerade noch bemerkt hatte, bevor Pirojil ihm ein Messer in die rechte Niere gestochen hatte, während sich der kurz darauf verstorbene Kapitän mit dem Schwert in der Hand über das Deckenbündel gebeugt hatte, das er für den schlafenden Durine hielt. In Anbetracht der Tatsache, dass Thorn sein Schiff dem misstrauischen Wesen von Durine und seinen Kameraden verdankte, würde er sie wohl umsonst mitnehmen. Aber wohin?
Darüber machte sich Durine eigentlich keine Gedanken. Sollten sich doch Kethol und Pirojil darüber den Kopf zerbrechen. Kethol würde schon jemanden finden, der drei Männer brauchte, die wussten, mit welcher Seite des Schwerts man zuschlug und welche man benutzte, um sich Butter aufs Brot zu schmieren, und Pirojil würde einen Preis aushandeln, der mindestens um die Hälfte über dem lag, was der Mann eigentlich hatte bezahlen wollen. Das Einzige, um was sich Durine kümmern musste, war, Leute umzubringen. Und das war schon ganz in Ordnung so. Aber bis das Eis brach, würde man Yabon nur zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Wagen verlassen und über Land nach Krondor zie11
hen können. Die einzige andere Möglichkeit bestand darin, wieder nach Norden zu gehen und noch mehr zu kämpfen, und derzeit hatten sie genug Geld - oder sie würden es haben, wenn sie erst einmal ihren Sold erhalten hatten. Dann würden ihre Umhänge schwer von Gold und ihre Beutel voller Silber sein, sodass sie fürs Erste kein Interesse mehr am Kämpfen hätten. Es reichte. Dieser Feldzug hatte ihm ein paar neue Narben für seine ohnehin umfangreiche Sammlung eingebracht, und an der linken Hand fehlte ihm ein Fingerglied, weil er nicht schnell genug zurückgewichen war, nachdem er einen Käfer mit der Pike aufgespießt hatte. Wahrscheinlich würde er jetzt nie mehr lernen können, Laute zu spielen. Nicht, dass er es je versucht hätte, aber er hatte immer gedacht, er würde es eines Tages gerne mal probieren. Diese Wunde und eine lange rote Narbe an der Innenseite des Oberschenkels erinnerten ihn bei jedem Schritt daran, dass er nicht mehr so jung und gelenkig war wie früher. Andererseits war Durine auch schon alt zur Welt gekommen. Und zumindest war er stark. Er würde einfach abwarten, die Tage an sich vorbeiziehen lassen, ein wenig arbeiten, und dann würde es schon bald anfangen zu tauen, das Schiff würde einlaufen, und er und die anderen würden von hier verschwinden. Irgendwohin, wo es warm war - vielleicht nach Salador, wo die Frauen und der Wind warm und weich waren und das kalte Bier gut und billig und in Strömen floss wie Eiter aus einer entzündeten Wunde. Wenn ihnen dann das Gold ausging, konnten sie immer noch in die Königreiche im Osten gehen. Nette, freundliche kleine Kriege dort. Die Ortsansässigen wussten Fachleute zu schätzen, die ihnen halfen, sich die Nachbarn vom Hals zu schaffen, und sie zahlten gut, wenn auch nicht so viel wie der Graf von LaMut. Und nach Durines Ansicht war das Beste an den Königreichen im Osten, dass es dort keine Käfer gab - das war sogar noch besser als die Wärme. Oder wenn sie es wirklich warm haben wollten, konnten sie wieder ins Tal der Träume ziehen und dort gutes Geld verdienen, 12
indem sie für Lord Sutherland Hundesoldaten aus Kesh und Rebellen bekämpften. Nein, entschied Durine einen Augenblick später, das Tal der Träume war nicht wirklich besser als das eisige, schlammige La-Mut, ganz gleich, wie verlockend es einem in dieser kalten, elenden Nacht auch vorkommen mochte; als sie das letzte Mal dort unten gewesen waren, hatte ihn die Hitze beinahe genauso gequält wie heute die Kälte.
Warum fing nicht mal jemand einen Krieg an einem schönen, angenehmen Strand an? Er ließ sich von dem Licht, das durch die Ritzen rund um die Tür der Schänke zum Abgebrochenen Zahn fiel, den Weg weisen, weil es zumindest so etwas wie Wärme, warmes Essen und sogar das versprach, was unter Söldnern als »Freunde« durchging. Das würde Durine genügen. Zumindest im Augenblick. Er stapfte die paar Stufen von der schlammigen Straße zur Holzveranda vor dem Eingang zur Gaststube hinauf. Unter dem Vordach direkt vor der Tür standen zwei Männer, die sich fest in ihre Umhänge gewickelt hatten. »Der Schwertmeister will dich sehen.« Einer zog den Umhang zurück, als könnte Durine auch im Dunkeln das Wolfskopfwappen auf seinem Waffenrock erkennen, von dem er wusste, dass es dort aufgenäht war. Sie hatten es herausgefunden. Auf Leichenfledderei stand, wie auf die meisten Verbrechen, die Todesstrafe (entweder, wenn der Graf schlechte Laune hatte, direkt durch den Strang oder durch Erschöpfung und schlechtes Essen, während man versuchte, zwanzig Jahre Schwerstarbeit in den Steinbrüchen zu überleben), obwohl Durine selbst daran nichts Verwerfliches finden konnte. Es war schließlich nicht so, als könnten die toten Soldaten die jämmerlichen paar Münzen in ihren Beuteln oder Umhängen noch brauchen. Durine und seine beiden Freunde hatten selbst erheblich mehr als nur ein paar Münzen an ihren Körpern versteckt - eingenäht in Geheimta13
schen im Futter ihrer Waffenröcke, in den Säumen ihrer Umhänge oder in Beuteln, die sie unter der Kleidung trugen, eingewickelt in Rohleder, das nachträglich schrumpfte und auf diese Weise verhinderte, dass die Münzen klimperten. Ein Adliger konnte seine Schätze in eine Schatzkammer oder eine gepanzerte Truhe stecken und Bewaffnete dafür bezahlen, sie zu bewachen; ein Kaufmann konnte seinen Wohlstand in Handelsgütern anlegen, die man nicht so schnell stehlen konnte; ein Zauberer konnte sein Gold einfach offen liegen lassen und sich darauf verlassen, dass, selbst wenn Vernunft und Selbsterhaltungstrieb es nicht vor Dieben schützten, die Zaubersprüche, mit denen er es belegt hatte, genügen würden Durine hatte einmal einen Mann gesehen, der versucht hatte, in das Haus eines schlafenden Magiers einzubrechen. Oder zumindest war der Kerl vor diesem Versuch ein Mann gewesen ... Aber ein Söldner konnte sein Geld entweder bei sich tragen oder ausgeben, und Durine hätte keine gute Erklärung für den relativen Wohlstand geben können, den eine ausführliche Durchsuchung seiner Person zu Tage gefördert hätte. Ein Adliger wäre einfach an den beiden Männern vorbeigegangen, denn sie hätten es nicht gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen, aber Durine war kein Adliger. Außerdem gab es nicht viele, die er in Stichweite hinter seinem breiten Rücken haben wollte, und diese beiden grauen Gestalten waren recht unwahrscheinliche Anwärter auf eine solche Ehre.
Einer gegen zwei? Er hatte nicht vorgehabt, so zu sterben, aber wenn es denn sein musste, musste es eben sein, obwohl er schon häufig gegen zwei Männer gleichzeitig gekämpft hatte und nicht getötet worden war. Noch nicht. Es war ohnehin zu kalt und feucht und widerwärtig, um am Leben zu bleiben. Er tat so, als wäre er auf dem Holz ausgerutscht, und steckte dabei die rechte Hand in den Umhang, um nach einem seiner 14
Messer zu greifen. Sie würden ihm wohl kaum Zeit lassen, das Schwert zu ziehen. Bei dieser Bewegung wichen die Männer einen Schritt zurück. »Warte -«, sagte einer. »Immer mit der Ruhe, Mann!« Der andere hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Der Schwertmeister sagt, er will nur mit dir reden«, erklärte er. »Es ist viel zu kalt und widerwärtig zum Sterben, und das gilt für uns ebenso wie für dich.« »Und so groß, wie der da ist, würde es wahrscheinlich zwei Männer brauchen, um ihn unschädlich zu machen«, murmelte der Erste. Durine knurrte, aber er behielt seine Gedanken wie üblich für sich. Es würde sehr wahrscheinlich mehr als zwei brauchen. Mindestens noch die beiden anderen, die hinter ihm aus dem Dunkeln gekommen waren - die beiden, die ihm nicht hatten auffallen sollen. Aber er überließ das Prahlen lieber anderen. »Also gehen wir«, sagte er. »Es wird hier draußen nicht wärmer.« Er richtete sich auf. Aber er ließ die Hand in der Nähe des Messers. Nur für den Fall. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, aber zum Glück nur draußen. Hier drinnen unter den Lampen an den Deckenbalken war es warm und rauchig, sodass es gleichzeitig zu kalt und zu heiß war. Das Leben eines Söldners, dachte Kethol oft, war immer entweder zu lebhaft oder zu langweilig. Entweder er verlor vor Langeweile beinahe den Verstand, während er verzweifelt versuchte wach zu bleiben und wartete, dass etwas passierte, oder er watete durch Ströme von Tsuranis, in der Hoffnung, die Mistkerle schnell genug zu erwischen, damit keiner an ihm vorbei zu Pirojil und Durine gelangen würde. Entweder er war am Verdursten, oder er ertrank beinahe im Regen. Er war immer entweder zu dicht von zu vielen ungewaschenen Männern umgeben und muss15
te ihren Gestank ertragen, oder er war ganz allein auf einem Wachposten mitten in der Nacht und hoffte, dass das leise Rascheln dort im Wald nur von einem Reh verursacht worden war und nicht von Tsuranis, die sich anschlichen, und wünschte sich ein Dutzend Kameraden, die sich um ihn drängten. Selbst hier, in der relativen Bequemlichkeit der Schänke zum Abgebrochenen Zahn, war immer irgend was nicht perfekt. Es gab in einer kalten Nacht in keiner Gaststube so etwas wie »genau richtig« - man war immer zu nah an der Hauptfeuerstelle oder zu weit entfernt. Wenn man ihm die Wahl ließ, zog Kethol zu nahe vor, und zwar mit dem Rücken zum Feuer, denn man konnte sich so etwas wie »zu warm« im Winter kaum vorstellen, selbst wenn es
einem später Leid tat, wenn man wieder in die kalte Nacht hinaus musste, um in die Kaserne am Südende der Stadt zurückzukehren und der Wind wie ein Messer durch die schweißnasse Kleidung schnitt. Und es gab bessere Möglichkeiten, ins Schwitzen zu geraten. Ein paar andere Söldner waren jetzt genau damit beschäftigt -sie gaben ihr schwer verdientes Geld in den Schlafzimmern über der Gaststube aus, und das stetige Knarren der Dielen bezeugte, wie sie das taten, aber obwohl Kethol nichts dagegen hatte, ein oder zwei Kupferstücke für eine Hure auszugeben, ließ die Kälte seine Leidenschaft ebenso schrumpfen wie die zuständigen Teile seiner Anatomie, und er sah nicht ein, wieso er gutes Geld für ein weiches, verwanztes Bett ausgeben sollte, wenn eine ebenso verwanzte Pritsche in der Kaserne umsonst auf ihn wartete. Kethol sah zu, wie die Karten ausgegeben wurden. Dieses Spiel, das sie Pakir nannten, war ihm unbekannt, aber Spiel war Spiel, und er würde nur genug davon lernen müssen, um die Fallen zu meiden, in die Betrunkene gingen, und dann konnte er mitmachen. Männer griffen aus vielen dummen Gründen zum Schwert. Ehre, Familie, Land, Haus und Herd. Kethol tat es für Geld, aber er bestand nicht darauf, all sein Geld mit dem Schwert zu verdienen. 16
Vorerst einmal gab er ein wenig davon für das besonders dünne, säuerliche Bier von LaMut aus. Da hier mehr als genug gutes Zwergenbier zu haben war - Kethol befürchtete manchmal, dass es dabei nicht ohne Magie abging, aber Zwergenbier war immer besser als alles, was Menschen brauten -, war klar, dass die hiesigen menschlichen Bierbrauer nur ein Ziel verfolgten: es so billig wie möglich herzustellen, wobei sie so etwas wie gute Gerste, nicht verfaulten Hopfen und das Auswaschen der Fässer für unnötigen Firlefanz hielten. Also bestellte Kethol Zwergenbier, wenn andere bezahlten, und wenn er selbst die Kupferstücke dafür hinlegen musste, nahm er das billige Zeug. Immerhin hatte er ohnehin nicht vor, viel zu trinken. Er wollte nur den Eindruck erwecken, als tränke er viel. Es war eine Investition, wie Pirojil sagen würde. Eine kleine Investition, die seine Gegner glauben ließ, dass er ein wenig betrunken und vielleicht nicht so aufmerksam war, wie das Spiel es erforderte. Er trank hier und da einen Schluck, wobei er jedoch den größten Teil des miesen Gesöffs auf den Boden schüttete, und wenn er sich zum Spielen hinsetzte, würden mehrere leere Bierkrüge Zeugnis dafür ablegen, dass er reif war, betrogen zu werden. Dann war die Zeit für sein Spiel gekommen. Ja, es war eine Investition. Ebenso wie ihre drei Schwerter: Klingen, die glatt durch Leder und Fleisch und bis in die Knochen drangen, statt sich zu verbiegen und abzubrechen, hatten mehr als nur einmal bewiesen, dass sie den hohen Preis wert waren. Sparen war eine gute Sache, aber man sollte ganz bestimmt nicht beim Handwerkszeug damit anfangen. Vor seinem geistigen Auge sah er immer noch die aufgerissenen Augen des Tsurani, dessen Klinge an seinem Schild zerbrochen war, Augenblicke bevor Kethol seine eigene Schwertspitze unter den Arm seines Feindes und in die weiche Verbindung der Rüstungsteile unter der Achselhöhle gestoßen hatte, die auf den Seiten von den Schulterplatten geschützt war. Er hatte nichts gegen den Tsurani gehabt, aber er hatte nur gegen sehr wenige der Män-
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ner, die er getötet hatte, etwas Persönliches gehabt. Im Grunde hatte er viel mit den Tsuranis gemein - es heißt, dass sie angeblich wegen Metall in Midkemia eingedrungen waren, und ein Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, mit Hilfe von Stahl zu töten, um Gold und Silber zu verdienen, konnte so etwas gut verstehen. Wenn Kethol die Wahl hätte, was Metalle anging, würde er sich zehn Mal in zehn Fällen für Stahl entscheiden - Stahl verhalf einem seiner Erfahrung nach erheblich besser zu Gold, als Gold einem zu Stahl verhalf. Außerdem waren seine Fähigkeiten hier nützlich. Sich in einer bestimmten Umgebung beinahe unsichtbar machen zu können war eine Fähigkeit, die ein Mann, der sein Leben als Sohn eines Försters begonnen hatte, auch auf anderem Boden nutzen konnte. Der Trick bestand darin, es nicht zu übertreiben und nicht zu angestrengt zu versuchen, wie ein Ortsansässiger zu wirken, denn das würde unweigerlich dazu führen, dass man auffiel und als Schwindler entlarvt wurde. Nur hier und da ein wenig Dialekt, manchmal ein Fingerschnippen, wie sie es hier benutzten, wenn sie ausdrücken wollten, dass ihnen etwas vollkommen egal war, und immer freundlich sein und lächeln, ohne zu vertraulich zu werden, dann würde den anderen erst gar nicht auffallen, dass er ihnen nicht auffiel. Es hatte funktioniert, als er in diesem kleinen Dorf vor Rodez Faustkämpfe ausgetragen hatte - bevor Pirojil diesen dämlichen kleinen Feldwebel getötet hatte und sie wieder einmal auf der Flucht gewesen waren -, und es hatte funktioniert, als er lernte, wie man in Nordwacht würfelt. Er musste nur die Grundlagen des Spiels lernen, sich schön unauffällig anpassen und nüchtern bleiben, so betrunken er auch wirkte, und sie würden erst merken, dass er sie besiegt hatte, wenn alles schon vorbei und er verschwunden war. Einer musste ja schließlich gewinnen. Warum also nicht Kethol? Drei große, kräftige Muts, einer mit frischen Unteroffiziersab18
zeichen am Ärmel, beugten sich über den grob gezimmerten Tisch und betrachteten forschend die Karten vor ihnen, während vier andere zusahen. Alle trugen die graue Uniform der regulären Soldaten von LaMut, und alle unterhielten sich in diesem ausgeprägten Dialekt, den Kethol inzwischen imitieren konnte, ohne auch nur nachzudenken. »Guter Wurf, Osic«, sagte einer, als ein anderer ihm einen Haufen Kupfer abnahm. »Ich war sicher, dass ich dich geschlagen hätte.« »Kann schon mal passieren«, erwiderte Osic. Dann wandte er sich Kethol zu. »Kehol«, sprach er den Namen auf eine Weise falsch aus, die einen stolzeren Mann beleidigt hätte, »willst du bei der nächsten Runde mithalten? Nur ein paar Kupferstücke, um die ersten Karten zu sehen. Aber ich will ganz ehrlich sein: Danach kann es teuer werden.« Kethol glaubte, dass er lange genug zugesehen hatte, um grob zu verstehen, welche Kombinationen wie viel zählten. Und was wichtiger war, die Muts hatten lange genug gesoffen, dass es einem nüchternen Mann nicht schwer fallen sollte herauszufinden, wer von ihnen glaubte, eine gute Kombination zu haben.
Im Land der Betrunkenen war ein Nüchterner mindestens ein Baron und an einem guten Tag sogar ein Graf. »Warum nicht?«, sagte Kethol und holte pflichtschuldig eine Hand voll patinierter Kupfermünzen aus dem Beutel, um sie auf den Tisch zu legen. Er hatte natürlich erheblich mehr dabei, aber es war besser, nicht den Eindruck zu erwecken, als wäre man reich. »Dein Geld ist genauso grün wie das von anderen«, sagte einer der Muts, und die anderen lachten leise über den Witz, der schon alt gewesen war, als das Königreich noch neu war. Es war vielleicht gefährlich, mit den hiesigen Berufssoldaten zu spielen, aber es gab eben Zeiten, in denen man ein Risiko eingehen musste. Drüben in der anderen Ecke, ganz in der Nähe der Stelle, wo der Geruch von Lammbraten aus der Küche drang, spielten zwei Söldner Zwei Daumen: Mackin, der verrückte Zwerg, und ein 19
dünner, kahler Bursche mit aufgeschwemmtem Gesicht, der sich Milo nannte, von dem Kethol aber sicher war, dass er unter einem anderen Namen gesucht wurde, und das für eine beträchtliche Summe und vielleicht sogar direkt hier - warum sonst sollte er sich zurückziehen, wann immer der Wachtmeister auftauchte? Dort hätte Kethol eigentlich sein sollen. Wenn sich ein anderer Söldner darüber aufregte, dass Kethol das Spiel gewann, würden sich seine Kameraden kaum einmischen. Man konnte an einem Abend, an dem man immer so aussah, als tränke man einen großen Schluck, wenn man in Wahrheit kaum nippte, eine Menge gewinnen. Mit Soldaten der regulären Armee war es riskanter, aber dafür war auch der Profit höher. Kethol betrachtete den Spieltisch einfach nur als ein weiteres Schlachtfeld, und er musste sich im Grunde bloß an die gleichen Regeln halten: sich und seine Freunde schützen, keine zu große Aufmerksamkeit auf sich lenken und dafür sorgen, dass er noch aufrecht stand, wenn alles vorbei war. Und ebenso, wie die beste Zeit für einen Angriff kurz vor dem Morgengrauen lag, wenn die Feinde alle schliefen, war die beste Zeit für ein Glücksspiel spät am Abend, wenn die Köpfe der anderen von zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf benebelt waren. Und wenn das irgendwem hinterhältig und ungerecht vorkam, nun, dann interessierte das Kethol einen Dreck. Er war immerhin ein Söldner, der den Höhergestellten für Geld diente, und ebenso wie die Huren ein Stockwerk höher versuchte er, sich so gut für seine Dienste bezahlen zu lassen, wie es ging. Also nickte er, setzte sich hin und warf ein paar Kupferstücke in die Mitte des Tischs. Dann nahm er seine Karten in Empfang. Er wollte gerade sein erstes Spiel machen, als an dem Tisch hinter ihm Streit ausbrach. Man sollte denken, dass Männer, die ihren Lebensunterhalt mit Kämpfen verdienten, in ihrer Freizeit Besseres zu tun hätten, als sich auch noch zum Vergnügen zu prügeln. Wozu sollte das schon gut sein? Es diente nicht mal der Übung. 20
Weder die Tsuranis noch die Käfer noch sonst wer, gegen den Kethol j e ein Schwert oder eine Pike geschwungen hatte, hätte sich mit nackten Fäusten gewehrt, solange sie Zugang zu etwas Scharfem oder Stumpfem hatten, um einen damit anzugreifen. Und wenn etwas wirklich wert war, darum zu kämpfen, dann war es auch wert, einen anderen dafür zu töten, und wenn einen das zum Gesetzlosen machte... nun ja, Midkemia war groß genug, dass man an mehreren Orten für vogelfrei erklärt sein konnte und immer noch im Stande war, sein Geld zu verdienen - etwas, das Kethol aus persönlicher Erfahrung wusste. Für gewöhnlich ging es um eins von dreien: Geld, eine Frau oder »Mir ist einfach danach, mich wie ein Idiot zu benehmen«. Häufig ging es um alle drei Dinge gleichzeitig. Kethol hatte keine Ahnung, was hinter dieser Rauferei stand, aber das Ächzen und Schnauben wurde schnell zu Geschrei, und dem Geschrei folgte das dumpfe Krachen von Schlägen. Er sah etwas aus dem Augenwinkel und duckte sich schnell genug, um dem fliegenden Stuhl auszuweichen, aber die Bewegung ließ ihn gegen den kräftigen Soldaten rechts von ihm stoßen, und der reagierte instinktiv mit einem Rückhandschlag, der Kethol am rechten Wangenknochen traf. Das Licht in Kethols rechtem Auge ging aus, aber seine Reflexe funktionierten auch noch, wenn es die Sehkraft nicht mehr tat; er senkte den Kopf und griff an, packte den Mann um die Taille und riss sie beide auf den harten Holzboden. Kethol landete oben und hoffte, dem anderen bei dem Sturz schon mal die Luft aus der Lunge gedrückt zu haben. Nur um ganz sicher zu gehen, drosch er dem Mann die Faust in die Mitte, direkt unter den Brustkorb. Hoffnung war eine schöne Sache, aber Sicherheit war einfach besser. Er hatte nichts gegen den Kerl, den er da verprügelte, aber er war daran gewöhnt, Leute zu töten, gegen die er nichts hatte, also zählte es kaum, einem nur ein paar Schläge zu verpassen. Also stieß er ihm zum Abschluss noch das Knie zwischen die Beine und ließ dann von ihm ab. Das hier war eine Sache der Selbstverteidigung, nicht des Zorns. 21
Kethol hatte das bei anderen nie so recht verstanden. Andere -selbst Pirojil und Durine - wurden beim Kämpfen oft zornig und ließen sich von diesem Zorn treiben. Für Kethol ging es nur darum zu tun, was getan werden musste. Zornig wurde man über andere Dinge - Grausamkeit, Verrat, Unfähigkeit oder Verschwendung -, nicht wegen eines Kampfs. Ein paar unbedeutende Schläge trafen ihn an Rücken und Beinen, als er geduckt hochkam - die wild tretenden Füße der beiden anderen Kämpfer, die sich auf dem Boden wälzten -, aber das ließ ihn nicht langsamer werden, und zumindest hatte noch keiner ein Messer oder ein Schwert gezogen. Es war nur eine Kneipenschlägerei und daher bei aller Betrunkenheit unwahrscheinlich, dass die Soldaten sich zu mehr würden hinreißen lassen. Irgendwo in der Ferne läutete hektisch eine Alarmglocke, "wahrscheinlich rief der Wirt nach der Wache, denn auf die Glocke folgten rasch die Trillerpfeifen. Offensichtlich war die Wache ganz in der Nähe gewesen, unterstützt von einem Trupp regulärer Soldaten des Grafen, um in der Stadt Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Graf von LaMut mochte jung und neu im Amt sein, aber es
war ihm und seinen Hauptleuten wohl nichts Neues, dass Soldaten in einer Garnison dazu neigten, sich miteinander anzulegen, wenn sie sonst nichts zu tun hatten, und die Vernünftigeren unter den Adligen waren daran gewöhnt, das Unvermeidliche zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Kethol war ebenfalls alles andere als überrascht; er erwartete eigentlich immer halb, dass ein Streit ausbrach, und obwohl er nicht darauf gezählt hatte, hatte er es doch gehofft. Und nun nutzte er die Gelegenheit. Wenn bei einer Schlägerei jemand zu Boden ging, war das nicht überraschend, und daher interessierte sich niemand sonderlich dafür, als Kethol sich ächzend fallen ließ, obwohl ihn kein Schlag getroffen hatte. Die Tatsache, dass er dort hinfiel, wo mehrere Dutzend Münzen unter dem Tisch lagen, war eben ein wunderbarer Zufall. Rasch raffte er eine Hand voll Münzen zusammen - er brauch22
te sich bei all dem Geschrei und Gegrunze um das Klirren keine Sorgen zu machen; alle anderen wären viel zu beschäftigt, um so eine Kleinigkeit zu bemerken - und achtete dabei darauf, erst die Silberstücke aufzulesen, bevor er sich um das Kupfer kümmerte. Er steckte alles in eine Geheimtasche auf der Innenseite seines Waffenrocks und packte noch einen Lappen mit hinein, bevor er die Schnur der Tasche fest zuzog. Dann war er auf allen vieren und kroch so schnell er konnte auf die Tür zu: Er war bereits für diesen Kampf bezahlt worden, und es war Zeit zu gehen. Eine Kneipenschlägerei hatte ihre eigene Dynamik: Nach ein paar Augenblicken, in denen es wild durcheinander ging, lagen meist schon bald ein paar verletzt am Boden, und daneben schlugen sie sich in Paaren und reagierten alten Groll mit ihren Fäusten ab. Wieder andere würden bald tun, was Kethol gerade tat: Sie würden nicht abwarten, bis es wirklich blutig wurde, und erst recht nicht, bis die Wache auftauchte, sondern sich schnell davonmachen. Selbstverständlich war Milo der Erste gewesen, der verschwunden war, und andere waren ihm gefolgt. Kethol würde weder der Erste noch der Letzte sein, der die Schänke verließ, und das war gut so. Er huschte durch den Vorraum und dann zum Eingang und schob die dicken Segeltuchvorhänge beiseite, die die kalte Luft draußen halten sollten. Dann blieb er wie erstarrt stehen. Sie warteten schon auf ihn: eine Gruppe regulärer Soldaten, angeführt von einem berittenen Unteroffizier, dessen kräftiges dunkles Pferd nervös auf dem fest gestampften Schnee tänzelte und mit diesen seltsamen klauenbesetzten Hufeisen scharrte, die Kethol außer in LaMut noch nirgendwo gesehen hatte. Eine Lanze war auf ihn gerichtet. »Du bist Kethol, der Söldner«, erklang eine Stimme aus dem Dunkeln. Die Lanze hatte eine gut geschliffene Spitze, das war nicht ab23
zustreiten. Wenn es Ärger gab, würde er sich jetzt herausreden oder, was wahrscheinlicher war, kämpfen müssen.
»Ja«, sagte er und breitete die Arme in einer fragenden Geste aus. »Gibt es ein Problem?« »Nicht für mich. Der Schwertmeister will dich sehen.« »Mich?« »Euch. Alle drei.« Er brauchte nicht zu fragen, wen der Unteroffizier mit »alle drei« meinte. »Also gehen wir«, sagte der Unteroffizier. Kethol zuckte mit den Achseln. Mit den gestohlenen Münzen in der Geheimtasche hatte er derzeit ohnehin nichts Besseres zu tun, und das schloss auf der Straße sterben mit ein. Zumindest im Augenblick. Es war eine dunkle, stürmische Nacht, und falls es irgendwo auf der Welt Stallungen gab, in denen es nicht zog, hatte Pirojil sie jedenfalls noch nie gesehen, also überraschte ihn die eisige Kälte, die durch das Gebäude fegte, nicht, als er einen weiteren Heuballen vom Heuboden rollte und ihn auf den fest gestampften Boden weiter unten fallen ließ. Die Pferde waren an das Geräusch herunterfallender Ballen gewöhnt, und nur der große braune Wallach, der für den Pferdemeister selbst reserviert war, wieherte und stampfte unruhig in seiner Box. Pirojil hatte nichts dagegen, sich an der Pflege der Pferde zu beteiligen - alle Stallknechte waren bei der vorletzten Schlacht als Boten eingesetzt worden, und sie waren alle entweder von Tsuranis oder Käfern getötet worden -, aber er war nicht besonders versessen darauf, das in einem Stall zu tun, der so kalt und zugig war, dass ihm der Schweiß auf der Nase gefror. Es war ein Kuhhandel, wie so vieles im Leben. Je weniger man sich darüber beschwerte, dass man ein paar Boxen ausmisten musste, desto unwahrscheinlicher war es, dass man seinen Namen 24
ganz oben auf der Liste im Kopf des Hauptmanns wiederfand, wenn es mal wieder darum ging, eine Patrouille auszuschicken, die nachsehen sollte, ob im Wald weiter vorn tatsächlich Tsuranis im Hinterhalt lagen. Und wenn man sich die Arbeit mit mehr als ein paar Schlucken aus einer Flasche billigen Weins aus Tyr-Sog erleichtern konnte, die der verstorbene Feldwebel - möge Tith-Onaka, der Soldatengott, ihn an seine haarige, frostige Brust drücken! - nicht mehr brauchte, dann war es schon auszuhalten. Es war lausige Arbeit, aber einfach. Man zog dem Pferd ein Stallhalfter über, führte es in eine leere Box, schloss es dort gut ein, und dann schaufelte man das alte, voll gepisste und geschissene Stroh mit der Mistgabel raus und frisches rein. Das alte Stroh landete in einer Schubkarre, und die Schubkarre fuhr man dann die Rampe rauf und durch zwei schwere Schwingtüren, um sie auf dem Mistwagen auszukippen, wonach der Rest nicht mehr Pirojils Problem war. Andere würden den Wagen in die Stadt bringen und das Zeug loswerden müssen. Angeblich war es der Pferdemist, der die Kartoffeln in LaMut so groß wie Pferdeäpfel werden ließ, aber Gemüseanbau gehörte nicht zu Pirojils Spezialgebieten. Er wusste, dass er ein überdurchschnittlich vielschichtiger Mensch war, und gerade aus diesem Grund fand er sehr einfache Dinge so ausgesprochen angenehm. Wie zum Beispiel, nicht über etwas nachzudenken, was ihn ohnehin nicht betraf. Es
hatte keinen Sinn, den Kopf ohne guten Grund zu strapazieren. Er nahm noch einen Schluck Wein, gurgelte mit dem Zeug, um sich den Schleim aus der Kehle zu spülen, und verschloss die Flasche vorsichtig wieder, bevor er sie neben der Leiter auf den Boden stellte. Die Leiter diente dazu, vom Heuboden herunterzugelangen, aber es gab auch noch ein Seil. Und nur einen kurzen Schritt entfernt stand ein einladend gut polierter Pfosten. Pirojil rutschte also den Pfosten hinunter, wobei seine dicken Lederhandschuhe von der Reibung nur geringfügig wärmer wurden, und landete leichtfüßig. Das war der Trick dabei, hatte er bemerkt. Man musste mit Hilfe der Reibung kurz vor dem Boden 25
langsamer werden, dann kam man auch nicht zu fest auf der gestampften Erde auf. Dumm, sich auf so etwas zu konzentrieren, aber es gab Schlimmeres. Zum Beispiel, wie die Frauen ihn anschauten. Sogar die Huren. Er zuckte mit den Achseln. Ein hässlicher Mann war ein hässlicher Mann, aber ein hässlicher reicher Mann war ein reicher Mann, und er würde eines Tages zumindest ein halbwegs reicher Mann sein, wenn er nicht vorher zum toten Mann wurde. Man musste einfach immer weiter sparen und auf den richtigen Augenblick warten, und in der Zwischenzeit In der Zwischenzeit konnte man sich mit Träumen über Wohlstand amüsieren, während man darauf wartete, dass sich einem dieser bewusste Speer, der einem vorherbestimmt war, in die Gedärme bohrte, das Schwert des Schicksals das Herz traf oder der unvermeidliche Pfeil das Auge. Willem, der letzte Stallknecht, war mit dem Schild seines Vaters in den Krieg gezogen und auf diesem Schild zurückgekehrt. Zu seinem Andenken hatte man den Schild mit den anderen an die Wand im Stall gehängt, und jemand, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, hatte sie alle auf Hochglanz poliert. Zum Glück jedoch konnte Pirojil selbst in diesen Schilden nicht sein Spiegelbild erkennen. Er war nicht sonderlich versessen darauf, die verbogene Stirn mit den schweren, buschigen Brauen zu erblicken, die müden, tief liegenden Augen und eine Nase, die oft genug gebrochen worden war, dass sie beinahe flach war und ihn in einen Mundatmer verwandelte. Pirojil betastete den schütteren Bart, der sein Kinn überzog. Dieser Bart wurde nie richtig dicht, und Pirojil wollte ihn auch nicht lang genug wachsen lassen, dass ein Feind ihn daran packen konnte. Man sah den Leuten nicht immer an, was sie waren. Es gab wirklich hässliche Menschen auf der Welt, aber viele von ihnen waren gut und freundlich. Pirojil war jedoch schon lange zu dem Schluss gekommen, dass sein eigenes Gesicht ein angemessener 26
Spiegel seiner Seele war. Es brauchte schon etwas anderes als eine sanftmütige Seele, um den größten Teil seines Lebensunterhalts damit zu verdienen, einem anderen das Schwert in die Eingeweide zu treiben. Ein kratzendes Geräusch ließ ihn herumfahren und die Hand zum Gürtel senken. Dann zwang er sich dazu, sich wieder zu entspannen. Nur eine Ratte, da drüben neben der Haferkiste.
Schädlinge waren ein ständiges Problem, und eins, von dem man eigentlich annehmen sollte, dass es selbst die stets überlasteten Magier irgendwann auf den Plan rufen würde. Konnten sie nicht... irgendwelche Gesten machen oder einen Bann sprechen oder was auch immer, damit die Ratten sich vom Hafer, den Möhren und dem Getreide für die Pferde fern hielten? Nicht, dass ihn das etwas anging. Zum Glück musste er nicht hier in dem zugigen Stall schlafen, und außerdem wurde er nicht dafür bezahlt, Ratten zu töten. Etwas sauste an seinem Ohr vorbei und bohrte sich in das Holz der Haferkiste, begleitet von einem kurzen Quieken. »Erwischt.« Ein hoch gewachsener, sehniger Mann kam aus dem Schatten und steckte sich dabei das zweite Messer wieder in die Schärpe. Ein Rapier mit einem geflochtenen Handschutz hing an seinem Gürtel - die spitze, präzise Waffe eines Duellanten, nicht das breitere, längere Schwert, mit dem ein einfacher Soldat in den Kampf ziehen würde. Hauptmann Tom Garnett wählte seine Waffen mit Sorgfalt. In dieser Situation zählte es nicht mehr, dass Pirojils eigenes Schwert gut sechs Schritte entfernt war, wo er es an einen Haken gehängt hatte, damit es bei der Arbeit nicht im Weg war. Hauptmann Tom Garnett, der älteste der lehensgebundenen Offiziere seiner Exzellenz des Grafen von LaMut, war selbst mit Ende Vierzig noch ein besserer Schwertkämpfer, als Pirojil es je werden könnte. Ob das nun an einer angeborenen Begabung lag oder daran, dass Garnett mehr als dreißig Jahre lang die Hälfte seiner Tage mit dem Schwert in der Hand zugebracht hatte - er hätte Pirojil jedenfalls leicht in Stücke schneiden können. 27
Und anscheinend kannte er sich auch mit Wurfmessern aus, obwohl Pirojil das nicht von ihm gedacht hätte, denn er hatte noch nie davon gehört, dass ein geworfenes Messer wirklich jemanden getötet hätte, und es war daher vollkommen albern, das Geld auszugeben, das ein gut ausgewogenes Wurfmesser kostete. Sinnlos, wirklich. Also versuchte Pirojil erst gar nicht, dorthin zu greifen, wo sein eigenes Wurfmesser unter dem Hemd steckte. Denn obwohl er wirklich noch nie davon gehört hatte, dass ein geworfenes Messer jemanden getötet hätte, konnte es einen Mann doch lange genug ablenken, damit man ihn auf andere Weise erledigen konnte, und außerdem gab es immer ein erstes Mal; Pirojil weigerte sich einfach nur, das Gold für ein wirklich gutes Wurfmesser auszugeben, und selbst wenn, dann hätte er es nicht für Ungeziefer aufs Spiel gesetzt. Pirojil ließ seine Gedanken weiter einigermaßen ziellos dahinplätschern und blieb ruhig stehen, während Tom Garnett zur Haferkiste ging, das Messer zurückholte und dabei die Ratte zeigte, die er sauber und ordentlich aufgespießt hatte. Sie war bereits schlaff und reglos; Tom Garnett schnippte sie vom Messer in die Schubkarre mit dem Stroh und der Scheiße, dann bückte er sich und hob eine Hand voll frisches Stroh auf, um das Messer zu säubern, bevor er es wieder einsteckte. Er war einen Kopf größer als Pirojil, der selbst überdurchschnittlich groß war, aber während Pirojil beinahe so kräftig gebaut war wie Durine, war Tom Garnett sogar noch hagerer und sehniger als Kethol. Sein Haar war rabenschwarz und hatte ein paar silbrige Glanzlichter, und von seinem dünnen Schnurrbart und dem winzigen Spitzbart abgesehen war sein Gesicht ordentlich rasiert, was die Narben auf den
Wangen und an der Stirn noch deutlicher hervorhob. Man hätte vielleicht erwartet, dass sich ein so großer, schlaksiger Mann ungeschickt bewegen würde, aber er war wie ein Tänzer stets im Gleichgewicht. »Ich habe dich offenbar überrascht«, sagte der Hauptmann und schnalzte missbilligend. »Das hätte ich nicht von dir erwartet, Pirojil.« 28
Pirojil zog den Kopf ein. »Sehr freundlich von dem Herrn Hauptmann, sich an mich zu erinnern«, erwiderte er. »Und unfreundlich, dich zu kritisieren? Nun, das ist schon möglich.« Garnett zeigte auf die Ratte. »Du hast etwas dagegen, dass ich eine Ratte töte?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht, Hauptmann«, sagte er. »Ich hätte es vielleicht auch selbst getan.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du gewollt hättest.« Der Tonfall des Hauptmanns war ein ganz klein bisschen spöttisch. »Wenn ich gewollt hätte.« »Und warum hat es dich nicht interessiert, Pirojil?«, fragte Garnett vielleicht ein wenig zu freundlich. Erneut zuckte Pirojil mit den Achseln. »Ich halte es für sinnlos. Wenn man eine von ihnen umbringt, gibt es immer noch viel zu viele. Sie hat mich nicht gestört, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass man mir befohlen - oder mich dafür bezahlt - hätte, Ratten zu jagen.« Er stützte sich auf die Mistgabel. »Wollt Ihr mich bezahlen, Ratten zu jagen, Hauptmann?« Tom Garnett schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich nicht, Pirojil. Der Schwertmeister hat allerdings vielleicht ein paar Ratten, die du für ihn jagen oder auf die du zumindest ein Auge haben könntest. Ich habe nach deinen Kameraden geschickt; sie sollten inzwischen im Adlerhorst sein. Würde es dir etwas ausmachen, mit mir zu kommen?«, fragte er höflich, obwohl es sich eindeutig um einen Befehl handelte. Pirojil schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten«, log er. Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte. Tom Garnett lächelte. »Sich ins Unvermeidliche zu fügen ist immer weise, Pirojil.« »Das habt Ihr aber nicht gesagt, als wir beinahe von den Käfern überrannt worden wären, Hauptmann«, erwiderte Pirojil. »Ich erinnere mich, dass Ihr etwas darüber gebrüllt habt, dass wir jetzt wohl sterben würden, aber wie Soldaten sterben sollten. Oder trügt mich da meine Erinnerung?« 29
Tom Garnett grinste. Es war kein angenehmes Grinsen; es erinnerte an einen Wolf, der die Zähne fletscht. »Da wir nicht überrannt wurden, war es offenbar doch nicht unvermeidlich, oder?« Der Hauptmann drehte sich um, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging. Pirojil beschloss, den Erwartungen seines Vorgesetzten zu entsprechen, und folgte ihm aus dem Stall. Als er einen Blick durch das offene Tor auf der anderen Seite des vorderen Hofs warf, sah er kurz die Lichter der Gebäude an der Straße, die vom Hügel hinunter in die eigentliche Stadt führte, und musste daran denken, wie schlau es doch gewesen war, diese Burg auf dem Felsvorsprung oberhalb der ursprünglichen Stadt zu bauen. Es war eine hervorragende Verteidigungsposition, so lange man nicht bei diesem elenden Wetter den Hügel rauf und runter rennen musste. Andererseits,
dachte er, waren die, die solche Burgen entwarfen, auch nicht unbedingt diejenigen, die mitten in einem Unwetter die Straße rauf und runter rennen mussten. So etwas überließ man Leuten wie Pirojil, Durine und Kethol. Verflucht. Hätte er doch bloß nichts über diesen Käferangriff gesagt. Dann schob er den Gedanken beiseite und folgte weiter dem Hauptmann.
2
Sorgen
Graf Vandros fiel auf, dass im Adlerhorst immer noch ein Hauch von Lady Mondegreens Duft nach Patschuli und Myrrhe in der Luft hing, wenn er auch in dem Schwefelgestank des Atems von Fantus kaum mehr wahrzunehmen war. Der grüne Feuerdrache war gerade von seinem Abendessen in der Küche zurückgekommen und hatte zufrieden gerülpst. Der Graf von LaMut und sein Schwertmeister wechselten einen Blick, als das Geschöpf sich vor dem Feuer niederließ. Der Schwertmeister war schon zuvor nicht sonderlich erfreut über die Anwesenheit des Feuerdrachen gewesen, und das war nicht besser geworden, als Fantus sich ausgerechnet den Adlerhorst zum Wohnsitz auserkoren hatte, wahrscheinlich, weil er ihn durch die alte Falknerei so gut erreichen konnte. Vandros war sich allerdings nicht sicher, wie es dem Drachen gelang, in die abgeschlossenen Gemächer des Schwertmeisters im Adlerhorst zu kommen, wenn er doch eigentlich im Dachgeschoss darüber bleiben sollte, wo frühere Herrscher von LaMut jahrzehntelang ihre Beizvögel untergebracht hatten. Inzwischen hauste dort oben eine nach Steven Argents Ansicht vollkommen unzulängliche Ansammlung von Brieftauben unter der Obhut von Haskeil, dem Taubenzüchter, den Steven Argent sarkastisch als den »Vogelmeister« bezeichnete - allerdings nicht in Graf Vandros' Hörweite. Eigentlich sollte Haskeil dafür sorgen, dass der Feuerdrache 31
dort oben blieb, aber die einzigen Türen, die er sorgfältig verschloss, waren die zu den Käfigen seiner Schutzbefohlenen, die jeweils mit »Festung Mondegreen« oder »Yabon« oder »Crydee« und so weiter beschriftet waren, je nachdem, wo die Vögel aufgewachsen waren und wohin ihr Instinkt sie zurückführen würde, wenn man sie freiließe; Haskeil war erheblich weniger zuverlässig, wenn es um die Türen zwischen dem Speicher und Steven Argents Gemächern ging. Aber selbst wenn der Schwertmeister diese Türen persönlich verriegelte, gelang es dem Drachen irgendwie, die schmale Steintreppe herunterzukommen und sich Einlass in die Wohnung des Schwertmeisters zu verschaffen. In den letzten Tagen hatte Argem daher resigniert und wehrte sich nicht mehr gegen diesen seltsamen Untermieter und würde es wohl auch nicht mehr versuchen, bis der Herzog von Crydee im Frühjahr von der Generalstabssitzung in Yabon zurückkehren und das Tier abholen würde. Fantus gab einen zufrieden klingenden Seufzer von sich, reckte den langen, schlangenhaften Hals und legte das Kinn auf die warmen Steinfliesen vor der Feuerstelle. Er hatte die Flügel anmutig auf dem Rücken gefaltet, und die Flammen spiegelten sich scharlachrot und golden auf den grünen Schuppen.
Der Feuerdrache war eine Woche zuvor mit Lord Borrics Hofmagier Kulgan in LaMut eingetroffen, und als der Herzog von Crydee und sein Gefolge sich vor zwei Tagen zur Generalstabssitzung in Herzog Brucals Burg in Yabon aufgemacht hatten, war Fantus hier zurückgeblieben. Keiner in Graf Vandros' Burg war sich so recht sicher, was sie mit dem Tier anfangen sollten; die meisten Diener und anderen Angehörigen des Haushalts hatten genug Angst vor dem kleinen drachenartigen Geschöpf, dass sie ihm aus dem Weg gingen, wenn Fantus sich jeden Tag zu einem Beutezug in die Küche aufmachte, obwohl einige wenige Burgbewohner, darunter auch der Graf selbst, ihn recht amüsant fanden. Vandros ließ sich nicht anmerken, ob ihn der Gestank störte, 32
ebenso wenig wie der stets verdrießliche Oberste Diener, der ein Tablett auf den Tisch stellte und ihnen nun den Wein eingoss, bevor er die Flasche wieder auf das Tablett zurückstellte. »Wünscht Ihr noch etwas, Schwertmeister?«, wandte sich Ereven an Steven Argem und nicht an Graf Vandros - und das war auch ganz angemessen so, denn obwohl Vandros von höherem Rang war als der Schwertmeister und als Graf von LaMut über die gesamte Burg befehligte, war der Adlerhorst doch die Wohnung des Schwertmeisters, und der Oberste Diener war offiziell damit beschäftigt, Steven Argent dabei behilflich zu sein, für das Wohlergehen seines Gastes zu sorgen. Der Schwertmeister lächelte dem Diener anerkennend zu; Argent hielt es sehr mit den Feinheiten der Gastfreundschaft, ebenso wie er auch in allen anderen Dingen sehr penibel war. »Nein danke, Ereven«, sagte er nach einem schnellen Nicken des Grafen. »Betrachte dich als für den Abend beurlaubt, und bitte grüße Becka und deine Tochter von mir.« Erevens verdrießliche Miene wurde noch etwas säuerlicher, obwohl er sich zu einem Lächeln zwang. »Das werde ich tun, Schwertmeister, und ich wünsche Euch und Seiner Lordschaft eine gute Nacht.« Vandros zog bei dieser Bemerkung nicht einmal die Braue hoch und sagte kein Wort, bis Ereven die Tür hinter sich geschlossen hatte. Nicht, dass es zu erwarten gewesen wäre, dass er sich äußerte. Die Liebeleien des Schwertmeisters waren der Stoff zahlloser Gerüchte, ob es sich nun um die angebliche Affäre mit der sehr hübschen jungen Tochter des Obersten Dieners handelte (nicht zutreffend) oder die mit Lady Mondegreen (zutreffend). Steven Argent war sowohl Soldat als auch Frauenheld, und sein Erfolg auf beiden Feldern hatte ihm den Neid und die Feindschaft vieler wichtiger Männer eingebracht. Mehrmals in den letzten beiden Jahrzehnten hatte allein die Tatsache, dass sich Argent mit einer Dame aus dem niederen Adel oder der Frau eines reichen Kaufmanns unterhalten hatte, zu einer Auseinandersetzung und einmal sogar zu einem Duell geführt. Dieses Duell war der wich33
tigste Grund dafür gewesen, dass er seinen schnellen Aufstieg in der Armee des Königs von Rillanon abgebrochen hatte und nach Westen gegangen war, um dort erst als Hauptmann und dann als Schwertmeister in der Garnison von Vandros'
Vater zu dienen. Obwohl Vandros sich für gewöhnlich als offener, unkomplizierter Krieger gab, hatte er sich doch den größten Teil seiner achtundzwanzig Jahre darauf vorbereitet, einmal Graf von LaMut zu werden, und er konnte durchaus feinsinnig sein, wenn er es sein musste: Er wusste, wann man sich eine Bemerkung besser verkneifen sollte. Als die Tür sich hinter Ereven schloss, sagte er daher nur: »Es fällt mir immer noch schwer, mir vorzustellen, dass es unter uns einen Verräter geben soll. Aber ...« »Aber es waren einfach ein paar Unfälle zu viel in der letzten Zeit«, beendete Steven Argent den Satz für ihn. »Und nach all dem kann ich nicht mehr stillschweigend davon ausgehen, dass alles in Ordnung sein soll. Im Norden ist es zu ruhig geworden -und wenn ich etwas schon gelernt habe, als ich noch in den Windeln lag, dann ist es, sich nach einer Falle umzusehen, sobald alles zu glatt läuft.« »Aber wie könnten die Tsuranis denn überhaupt einen Verräter finden und rekrutieren? Es ist ja nicht so, als ob sich einer von ihnen verkleiden, nach Ylith spazieren und so tun könnte, als wäre er ein Kaufmann aus Sarth. Sind sie überhaupt zu solchen Intrigen imstande?« Steven Argent schüttelte den Kopf. Das war offenbar der Teil, den er ebenfalls nicht begriff. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich mache mir Sorgen. Selbstverständlich muss ein Verräter, wenn es denn einen gibt, nicht unbedingt im Dienst der Tsuranis stehen. Wenn sie sich wirklich mit Attentaten abgäben, dann wäre ihr Ziel wohl kaum ein Baron, wie wichtig er auch sein mag. Ich wette, sie würden sich auf Grafen und Herzöge konzentrieren. Und wenn es um andere mögliche Kandidaten geht, die einen Mord in Auftrag gegeben haben, dann gibt es leider viel zu viele wahrscheinliche Kandidaten. Ich habe nicht viel für Baron Morray übrig - ich finde, die Fehde zwischen seiner Familie und der 34
von Baron Verheyen hätte schon vor einer Generation mit einem Duell beigelegt werden sollen, und er hat sich auch noch genügend andere Feinde gemacht -, aber ich denke, wir sollten lieber dafür sorgen, dass ihm nichts zustößt, solange er sich hier in der Stadt befindet. Schon deshalb, weil es den Herzog vermutlich verärgern würde.« Darüber musste Vandros lächeln. »Ich kann auch nicht behaupten - und was das angeht, habe ich einen hervorragenden Informanten -, dass es den Grafen sonderlich erfreuen würde.« »Wir könnten damit leben, wenn er im Kampf umkäme - das ist eine Gefahr, der wir alle ausgesetzt sind. Aber ...« Vandros seufzte. »Es fällt mir schwer zu glauben, dass Lord Verheyen einen heimtückischen Mord gutheißen würde. Sicher, er ist heißblütig und hitzköpfig. Aber einen Mord anordnen? Das klingt gar nicht nach ihm.« Er schüttelte den Kopf. Vandros' Vater hatte Morray als Heereskämmerer von LaMut berufen, als der Krieg begonnen hatte, und Vandros hatte die Entscheidung des alten Grafen unangetastet gelassen, als er vor zwei Jahren den Titel erbte, denn der Mann leistete gute Arbeit. Und als Graf wusste Vandros besser als die meisten, dass sowohl eine Grafschaft besonders zu Kriegszeiten - als auch eine Armee ebenso sehr von Gold und Silber lebte wie von Fleisch und Getreide.
Hätte Steven Argent seinen Willen bekommen, dann hätte der Graf Baron Morray mit seinen Büchern, Konten und Geldsäcken im Turm eingeschlossen, bis der letzte Tsurani aus Midkemia vertrieben war, aber das war politisch unmöglich, und selbst, ihn in der Stadt wohnen zu lassen schien inzwischen eine schlechte Idee zu sein. Es war Zeit, ihn aus der Stadt zu schaffen, zumindest für eine Weile. »Es könnte Zufall sein. Aber es gibt ein altes Sprichwort, Mylord«, sagte der Schwertmeister. »>Beim ersten Mal ist es Zufall, beim zweiten Mal ein bemerkenswerter Zufall und beim dritten Mal eine Verschwörung.Da, wo es drauf ankommt, bist du groß genug!Schwertmeister aus dem Osten< oder >diesem Exhauptmann aus Rillanon< sprechen, obwohl ich dem Grafen von LaMut schon ein Dutzend Jahr diene. Außerdem bin ich ein Soldat und der hiesige Schwertmeister, und das ist alles, was ich sein will. Was immer hier besprochen wird, muss aus dem Rat selbst hervorgehen und darf nicht von einem wie mir beeinflusst werden.« Was Morray nun veranstaltete, kam einem pfauenhaften Herumstolzieren im Sitzen gleich. Er lächelte und fuhr sich eitel durchs Haar, und Verheyen war nicht der Einzige, der ihm einen wütenden Blick zuwarf. »Und aus diesem Grund«, fuhr der Schwertmeister fort und erhob sich bei diesen Worten wieder, »möchte ich Lady Mondegreen bitten, diesen Platz einzunehmen, und dann werde ich mich entschuldigen und Euch, meine Herren und meine Dame, Euren Beratungen überlassen - es sei denn, ich höre einen Einspruch.« Er hob vorsichtshalber gleich die Hand. »Zuvor möchte ich aller194 dings noch sagen, dass ich jeden Einspruch gegen meine Entscheidung nicht nur als eine Beleidigung des Hauses Mondegreen betrachten werde, sondern auch meiner Ehre, und als Edelmann aus Rillanon ebenso wie als Schwertmeister von LaMut weiß ich genau, wie ich damit umzugehen habe.« Das alles sagte er mit einer Stimme, die gerade deshalb so bedrohlich wirkte, weil sie ganz und gar lässig klang. Verheyen war der Erste, der reagierte. Er nickte und lächelte. »Ich halte Lady Mondegreen für eine gute Wahl; ich kann mir keine bessere vorstellen und in der Tat einige schlechtere, ich selbst eingeschlossen. Würdet Ihr da nicht auch zustimmen, Baron Morray?« Baron Morray saß in der Falle und hatte es auch nicht besser verdient. Ihm blieb nur noch zu nicken. »Selbstverständlich freue ich mich, dass unsere Beratungen von dieser Dame geleitet werden, die nicht nur schön ist, sondern auch weise.« »Hört, hört«, riefen mehrere andere, und Steven Argent verließ das Zimmer und winkte Pirojil, ihm zu folgen.
7
Beförderungen
Der Schwertmeister öffnete die Tür. Pirojil nahm an, dass Steven Argent in Gedanken versunken war, denn er kümmerte sich nicht um das Protokoll, das verlangt hätte, dass Pirojil ihm die Tür aufhielt. Der Schwertmeister war auf dem Weg von der Ratskammer zu seinen eigenen Gemächern offenbar vollkommen damit zufrieden gewesen, seine Gedanken für sich zu behalten; er hatte nur erwähnt, dass er schon vor Beginn des Rats nach Durine und Kethol geschickt hatte, die jetzt sicher schon auf sie warten würden.
Durine befand sich tatsächlich, wie der Bote des Schwertmeisters ihn angewiesen hatte, bereits zusammen mit Kethol im Adlerhorst, als Pirojil und der Schwertmeister wie zwei alte Freunde hereinmarschiert kamen. Kethol war sogar noch vor Durine hier oben gewesen, hatte sich in den Sessel neben der Feuerstelle gesetzt und war nun damit beschäftigt, mit dem Griff seines Messers die Augenwülste des Drachen zu kraulen. Das sah für Durine alles andere als sanft aus, aber Fantus bog den Rücken durch und schmiegte sich wie eine Katze in die Bewegung. Die Flügel hatte er entweder vor Entzücken ausgebreitet oder einfach nur, um so viel Wärme wie möglich aufzunehmen. Durine hatte sich auf eine Holzbank am Feuer gesetzt und Kethol angestarrt, der mit dem kleinen Drachen spielte. Er war nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. 196 »Ich glaube, er mag mich«, hatte Kethol gesagt. »Oh.« Als Pirojil und der Schwertmeister hereinkamen, bedeutete Steven Argent ihnen mit einer Geste, sitzen zu bleiben und bat Pirojil, sich ebenfalls niederzulassen, bevor er sich in den Sessel gegenüber von Kethol sinken ließ. Dann streckte er genüsslich die langen Beine aus und faltete die Hände hinter dem Kopf. Er schien unerträglich zufrieden mit sich selbst. »Nun, das ging besser, als zu erwarten war, oder?« Oder? Pirojil wandte sich Durine zu. »Der Schwertmeister hat Lady Mondegreen den Vorsitz über den Baronsrat überlassen.« Er nickte. »Und ich wette, das hat die anderen ziemlich überrascht.« Der Schwertmeister grinste. »Das hat es.« Er zuckte mit den Achseln und sah die drei vollkommen unschuldig an. »Und um ehrlich zu sein, ich denke, es war eine durchaus vernünftige Entscheidung, und ich hätte kein Problem damit, sie auch gegenüber Graf Vandros zu rechtfertigen - immerhin hat Baron Mondegreen seine Frau geschickt, um ihn zu vertreten, und er war der offensichtlichste Kandidat.« Dann wurde er ernst. »Wie gut der Rest laufen wird, kann ich nicht sagen - es gibt viel zu tun, und der Graf wird selbst darüber urteilen müssen, wie gut sie ihre Prioritäten und Budgets verteilt haben.« Er schüttelte den Kopf. »Mein Leben besteht aus Waffen und Kampfkünsten, aber ich lebe schon lange genug, um zu wissen, dass wir bis zum Frühling die gesamte Schatzkammer des Grafen dafür leeren könnten, die Barone bei den Routinereparaturen auf ihrem eigenen Land zu unterstützen, und damit ist noch nicht ein einziger Kriegsschaden behoben.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Ich bezweifle nicht, dass schnelles Geld und die Tatsache, dass es hier mehr Arbeit als Fachleute gibt, eine Flut von Anstreichern, Zimmerleuten und Maurern aus der Provinz Krondor nach Norden bringen wird.« Pirojil hätte beinahe gelächelt. Nur ein Mann aus dem Osten hätte den Herrschaftsbereich »die Provinz Krondor« genannt. Der Schwertmeister war nach zwölf Jahren im Westen wirklich 197 immer noch »dieser Exhauptmann aus Rillanon«. Er hatte recht daran getan, sich aus dem Rat zu entfernen. Argent schüttelte müde den Kopf, als würden ihn Finanz- und Regierungsangelegenheiten mehr erschöpfen als jeder Zweikampf. »Das wird
zweifellos die Preise hoch treiben, vom Hühnchen auf dem Markt bis zu einer Elle Wollstoff.« Er zog den Korken aus einer Flasche, die auf dem Beistelltisch neben seinem Sessel stand, und goss sich ein Glas Wein ein. »Aber das ist zum Glück nicht mein Problem, und ich kann mich wieder um Dinge kümmern, mit denen ich mich besser auskenne.« Er trank einen Schluck. »Und deshalb habe ich nach euch geschickt.« Er warf Kethol einen Blick zu. »Hast du deinen Freunden von diesem kleinen Zwischenfall in der Unterkunft erzählt - dieser Schlägerei zwischen Morrays und Verheyens Leuten, zu der wir zufällig hinzugekommen sind?« »Nein.« Kethol schüttelte den Kopf. »Es war mehr ein Handgemenge als ein Kampf, und es schien mir nicht erwähnenswert.« Argent schnaubte. Kethol zuckte mit den Achseln. »Niemand ist umgekommen, es gab nur ein paar gebrochene Knochen und nicht einmal eine Stichwunde -« »Wir haben Hunderte von Soldaten aus einem Dutzend rivalisierender Baronien, die hier in LaMut festsitzen, alle kriegsmüde, gereizt, gelangweilt und auf der Suche nach etwas, womit sie sich amüsieren können, und du glaubst, eine Schlägerei sei nicht erwähnenswert?« Das mit dem Dutzend rivalisierender Baronien war ein wenig übertrieben, aber das eigentliche Problem entsprach durchaus der Beschreibung des Schwertmeisters, dachte Kethol. Es war vielleicht sogar noch schlimmer. Dennoch, wenn man einmal von den persönlichen Wachen der Barone absah, war der größte Teil der Soldaten aus den Baronien getrennt voneinander in nahe gelegenen Dörfern untergebracht, und welche Probleme Baron Folsons Männer vielleicht mit Baron Benteens Leuten haben mochten, war vollkommen akademisch -das Unwetter hatte die Kompanien voneinander isoliert. 198 Es gab jedoch genügend Leute von Morray und Verheyen in der Stadt, um ernsthaften Arger zu machen - und sie waren kaum das einzige Beispiel. Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Die Hauptleute haben mir bereits von weiteren solcher Handgemengt erzählt.« Das war zu erwarten gewesen. Es war einer der Gründe, wieso Durine so froh war, dass ihre eigenen Aufgaben sie in den Bergfried führten und sie nicht den ganzen Tag mit den anderen in der Unterkunft hocken mussten. Bei solchen Handgemengen war es schwierig, neutral zu bleiben; die Leute hatten etwas gegen einen Mann, der sich weigerte, sich auf eine bestimmte Seite zu schlagen - oder genauer gesagt, sie hatten etwas gegen einen Mann, der sich nicht auf ihre Seite schlug. »Und Hauptmann Kelly und ein paar Feldwebel mussten einen Soldaten zu Vater Riley tragen - er hatte eine Messerwunde an der Seite. Eine seltsame Art Wunde, die ihm, wenn man den Soldaten in der Unterkunft glauben will, niemand verpasst hat, und keiner weiß etwas darüber.« »Davon hatte ich noch nicht gehört«, sagte Pirojil. Durine schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ihr werdet es schon noch erfahren, auf die eine oder andere Weise«, sagte Argent. »Und wenn das geschieht, dann solltet ihr auf jeden Fall erwähnen, dass die Wunde des Soldaten - er ist einer von Verheyens Leuten - sehr klein war. Er wird wieder
vollkommen gesund werden und nur eine Narbe und die Erinnerung an ein paar Tage im Bett zurückbehalten.« Die drei nickten. »In der Zwischenzeit habe ich die Hauptleute befehlen lassen, dass die Männer, die nicht im Dienst sind, aus der Unterkunft heraus und in die Stadt geschickt werden, damit sie sich dort die Beine vertreten. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich in jedem Raum der Unterkunft einen Hauptmann postieren müssen, in der Hoffnung, dass sie dort die Ordnung aufrechterhalten können, und ich -« Er hielt inne, dann zuckte er mit den Achseln und fuhr fort: »Und ich kann mich zwar auf meine eigenen Hauptleu199 te verlassen, aber ich bin nicht sicher, ob ein paar dieser Offiziere der Barone nicht ein ebenso großes Problem darstellen wie ihre Männer. Diese Fehden unter Baronen dauern oft über Generationen und beinhalten alle Arten von Groll, bis hinunter zu dem einfachen Soldaten, dessen Großvater von dem Großvater eines anderen einfachen Soldaten beleidigt wurde.« Steven Argent schaute von einem Gesicht zum anderen, als wollte er sie herausfordern, ihm entweder zuzustimmen oder zu widersprechen, und Durine brauchte seine Kameraden nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihre Mienen vollkommen ausdruckslos und gleichgültig waren, genau wie seine eigene. Steven Argent schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Aber es wird Ärger geben, da bin ich sicher, und ich will, dass sich außer der Stadtwache noch andere in meinem Auftrag umsehen. Dem Wachtmeister kommt es immer viel zu sehr darauf an, mir sagen zu können, dass alles in Ordnung ist - gar nicht davon zu reden, dass er nicht die Leute hat, um es mit ausgebildeten Kämpfern aufzunehmen -, und ich habe zwar schon eine Kompanie meiner eigenen Leute zur Unterstützung der Wache ausgeschickt und kann mich auf Hauptmann Stirling ebenso verlassen wie auf Tom Garnett, aber falls ein größerer Konflikt ausbrechen sollte, könnten meine Männer von beiden Seiten einfach überrannt werden; die meisten meiner Leute sind ohnehin mit dem Grafen in Yabon oder immer noch an der Front, wo sie sich eingegraben haben.« Einen Augenblick sah er aus, als wünschte er sich, diese Männer wären wieder in der Stadt, aus mehr Gründen als nur, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Er schaute von Durine zu Kethol und dann zu Pirojil und sagte: »Ich hätte gern drei weitere Augen- und Ohrenpaare draußen in der Stadt. Und nicht nur Augen und Ohren, sondern auch noch Münder.« Durine nickte langsam. »Und das sollen wir sein, Mylord?« »Schluss mit dem >LordLord< vor seinen Namen schreiben kann.« Immer noch lächelnd, legte er nun die andere Hand auf Durines Schulter. »Und wofür hältst du dich eigentlich, du zu groß geratener Scheißhaufen in einem zu kleinen Beutel?« Durine zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Ich denke, sie haben die Lektion gelernt«, erwiderte er. »Wie lange es halten wird, ist eine andere Frage.« 207 Beide Hauptleute nickten, dann seufzte Ben Kelly. »Wir tun, was wir können.« Sie gingen weiter die Straße entlang, weg von den Soldaten, damit man sie nicht belauschen konnte. Kelly fuhr fort: »Wenn der Baron von dem Kerl da jemals Graf werden sollte, dann werde ich mir eine andere Grafschaft suchen, um dort zu dienen, oder ich werde Söldner - alles lieber, als auch nur einen einzigen Tag unter diesem Dreckskerl dienen zu müssen, wenn er erst Schwertmeister ist -« »Genau so denke ich auch«, erklärte Karris. »Und nicht nur wegen der Art, wie die linke Flanke der Front in der Schlacht im Wald eingebrochen ist, weil du darauf bestanden hast, deine Kompanie in Reserve zu halten.« Sein Tonfall war immer noch gleichmäßig, aber es war eine gewisse Hitzigkeit darunter zu spüren. »Aber im Augenblick ist ein Befehl ein Befehl, und wir haben hier zu viele Männer mit zu vielen Gründen, einander zu hassen, also werden wir tun, was wir können, um die Ruhe aufrechtzuerhalten. Selbst wenn das bedeutet, Kelly in der Kneipe den Rücken zuzudrehen und dabei genau zu wissen, dass er in mein Bier spucken wird.« Kelly nickte. »Aber nur, weil ich nicht genug Zeit hätte, meine Hose aufzuknöpfen«, sagte er mit humorlosem Lächeln. Er ging vor den beiden anderen die verschneiten Stufen zur Tür der Kneipe hinauf und vermied es dabei gerade noch, sich an dem Schild, das einen Keshianer am Galgen zeigte, den Kopf zu stoßen. »Nach Euch, lieber Hauptmann Karris.« »Nein, nach Euch, mein Freund Hauptmann Kelly«
Durine drängte sich einfach zwischen den beiden hindurch, ging nach drinnen und überließ es ihnen, miteinander auszuhandeln, in welcher Reihenfolge sie folgen würden. Hier und jetzt war alles friedlich, und so würde es wohl auch noch lange genug bleiben, bis die Hauptleute ihr Bier getrunken hatten und ihre Schmiedearbeit erledigt sein würde, und selbst wenn ein paar Soldaten es vielleicht ein wenig seltsam fanden, dass ein Schürhaken so verbogen werden konnte oder ein Messingsteigbügel zu einem Zeitpunkt brach, da sein Besitzer nicht ein208 mal in die Nähe seines Pferds kam, war doch zu hoffen, dass sie den Sinn hinter dieser kleinen Scharade verstanden und sich ihre Hauptleute zum Vorbild nahmen. Und darüber hinaus? Durine schüttelte den Kopf. Die Hauptleute konnten nicht überall gleichzeitig sein. Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit.
8
Konfrontation
Es roch schlecht in der Kneipe. Wieso das so war, hätte Pirojil nicht sagen können. Zweifellos roch es nicht in einem objektiven Sinn schlecht - ganz im Gegenteil. Der Duft der Lammkeule, die auf dem Spieß gleichzeitig aufgetaut und gebraten wurde, erfüllte den Schankraum mit einem Aroma, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und das sogar immer besser wurde, weil die dicke Frau, die sich darum kümmerte, die Oberseite des Fleisches mit ein paar Löffeln der knoblauchträchtigen Wein-undGewürzmischung aus der Holzschale auf dem Hocker neben sich beträufelte. Die Frau warf zwar hin und wieder einen nervösen Blick über die Schulter zu den Soldaten, aber es schien alles ruhig und friedlich zu sein, wenn man die Szenerie betrachtete. Nur, dass es falsch roch. Die Gruppe von Morray-Soldaten, die sich um die Tische an einem Ende des Abgebrochenen Zahns versammelt hatte, ignorierte demonstrativ die Verheyens am anderen Ende; es gab nicht eine einzige leise Bemerkung oder einen zornigen Blick, weil die Verheyens sich erheblich näher an der warmen Feuerstelle befanden. Ein halbes Dutzend Söldner hatte ebenfalls den Befehl, in die Stadt zu gehen, als »geht in die nächste Kneipe und esst und trinkt« verstanden, und sowohl Milo mit seinem verquollenen Gesicht als auch der verrückte Zwerg Mackin waren nun schon ein paar Stunden hier, wenn man von dem Haufen abgenagter 210 Hühnerknochen vor ihnen auf dem Tisch und der Art ausging, wie Mackins Augen Mühe hatten, geradeaus zu schauen. Pirojil suchte sich in der seltsam ungenutzten Mitte des Raums einen Tisch. Als Milo ihn mit einem knappen Nicken grüßte, winkte Pirojil ihn und Mackin zu sich. Das ungleiche Paar kam herübergestolpert, wobei Mackin Bier aus einem riesigen Steingutkrug auf den Boden vergoss. »Ich grüße dich, Pirojil«, sagte Milo. »Mischst du dich für ein schnelles Bier unter den Pöbel?«
»Ja.« Mackin lachte und fiel eher auf den Hocker, als dass er sich hinsetzte. »Ich dachte nicht, dass wir noch viel von euch dreien sehen würden, nachdem ihr jetzt so einen angenehmen Posten habt.« Er verzog den unmöglich großen Mund zu einem lüsternen Grinsen. »Ihr verbringt genauso viel Zeit mit dieser Lady Mondegreen wie der Baron.« Das stimmte nun wirklich nicht, und wieso es Mackin überhaupt interessierte, war etwas, worüber Pirojil nicht mehr wissen wollte als unbedingt notwendig, obwohl Mackins häufige Kontakte zu den menschlichen Huren im ersten Stock für die anderen Söldner Anlass zu ein paar hässlichen Bemerkungen gewesen warenselbstverständlich nur in Abwesenheit des Zwergs. Die meiste Zeit konnte man sich darauf verlassen, dass ein Söldner sich nicht in einen Kampf verwickeln ließ, wenn er dafür nicht bezahlt wurde, aber es gab immer Ausnahmen, und Mackin war ganz bestimmt eine: Es war bekannt, dass er sich erheblich daran störte, wenn seine ungewöhnliche Vorliebe Zielscheibe von Witzen wurde. Er war vermutlich der einzige Zwerg zwischen Dorgin und Bergenstein, der lieber als Söldner diente als unter seinesgleichen, und er war vermutlich der einzige Zwerg in ganz Midkemia, der Menschenfrauen attraktiv anzusehen fand, gar nicht zu reden davon, mit ihnen ins Bett zu gehen. Andererseits, dachte Pirojil, nannte man ihn auch nicht ohne Grund den »verrückten« Mackin. »Ich habe ein wenig Zeit in ihrer Nähe verbracht, ja, aber nur auf Befehl und in Erfüllung meiner Pflicht.« »Aber sie ist hübsch anzusehen.« 211 Pirojil zuckte mit den Achseln, obwohl er sich einen Augenblick vorzustellen versuchte, wie es sein musste, wie Mackin zu sein. Einen noch kürzeren Augenblick überlegte er, wie es wohl sein musste, mit einer Zwergenfrau zu schlafen, aber als sein Magen reagierte, schob er den Gedanken schnell wieder beiseite. Wie die meisten Männer zog er Frauen der eigenen Spezies vor. Er fürchtete schon, sich nun mit einem Gedankenbild verflucht zu haben, das er ewig nicht mehr loswerden würde, als der Wirt den kahlen Kopf aus dem Hinterzimmer streckte. Pirojil winkte nach einem Bier und fragte sich, ob es wohl das widerliche in der Stadt gebraute Bier sein würde oder das viel bessere Zwergenbier. Mackin sagte: »Deine neuen Pflichten sind wohl ziemlich anstrengend. Seit eurem neuen Auftrag habe ich nicht viel von dir gesehen.« »Ja, ich war in der Tat sehr beschäftigt.« Pirojil dachte einen Augenblick darüber nach und beschloss, keine Einzelheiten über Dinge zu erzählen, die diese beiden ohnehin nichts angingen und die sich außerdem wie Prahlerei anhören würden, trotz der Tatsache, dass sich im Augenblick sein einziger Wunsch darauf richtete, dass der Schnee draußen schmelzen würde und sie drei einfach aus der Stadt reiten könnten. »Hier scheint es ruhig zu sein«, sagte er. Milo lächelte über seinem Bier. »Zu ruhig.« Er nickte zu der Treppe hinüber. »Ich höre von oben keine knarrenden Dielen und habe nicht gesehen, dass einer rauf gegangen wäre, um ein bisschen Dampf abzulassen. Sie trinken alle nur«, sagte er, beugte sich vor und senkte die Stimme. »Und ich bin nicht zu betrunken, um zu bemerken, dass ein paar von diesen Verheyen-Männern dauernd zur Tür schauen.«
»Doch nicht etwa so, als würden sie jemanden erwarten?«, fragte der Zwerg. Daran hatte Pirojil noch gar nicht gedacht, obwohl er es hätte tun sollen. Die Tatsache, dass er an solche Dinge nicht gewöhnt war, war nur eine Erklärung, keine Ausrede, und Steven Argent war jemand, der sich viel mehr für Ergebnisse als für alles andere 212 interessierte, seien es nun Ausreden oder Erklärungen. Pirojil sah den Zwerg mit hochgezogenen Brauen an. »Ja, genau.« Mackin grinste und zeigte dabei eine Zahnlücke. Pirojil war froh, dass der Zwerg verstand, was die hochgezogenen Brauen bedeuteten, denn nun würde Mackin seine lautlos gestellte Frage vielleicht beantworten. Mackin nickte und sagte: »Sie warten wahrscheinlich darauf, dass noch ein paar Kameraden von ihnen hereinkommen, damit sie diese Geschichte mit einem gewissen Vorteil - sagen wir mal zwei zu eins oder drei zu eins - regeln können.« Er trank seinen Krug leer, schlug damit auf den Tisch und brüllte nach einem weiteren Bier. Mit boshafter Freude flüsterte er: »Dürfte unterhaltsam werden.« Dann verschwand sein Lächeln, und er zeigte auf ein paar Söldner, die an einem Tisch am anderen Ende des Schankraums saßen. »Zumindest sollte es von da drüben aus, wo Filt und die anderen sitzen, unterhaltsam sein - nahe genug an der Hintertür, damit man verschwinden kann, falls es zu unterhaltsam werden sollte, und nicht hier, in der Mitte, wo man wahrscheinlich niedergetrampelt wird.« Milo nickte zustimmend. »Am besten suchen wir uns einen Tisch, unter den wir kriechen können.« Unter normalen Umständen hätte Pirojil ihm zugestimmt, aber da er nun ein Offizier am Hof des Grafen war, waren die Umstände alles andere als normal. Er musste überlegen, wie er diese Schlägerei verhindern konnte. Am besten wäre es, eine Seite zu überreden, sich eine andere Kneipe zu suchen. Es gab immerhin neun weitere Schänken in der Unterstadt... Pirojil bekam Kopfschmerzen. Dass er nun an mehr als an sich selbst und seine beiden Kameraden denken musste, wurde langsam anstrengend. Ja, es gab neun weitere Schänken, und jede einzelne davon war zweifellos ebenfalls bis unter die Dachbalken voll gleichermaßen unruhiger Soldaten aus sämtlichen Baronien. Pirojil war nicht so dumm anzunehmen, dass die Fehde zwischen Verheyen und Morray die einzige war, die es hier gab. Er wusste zwar nicht, um was es zwischen Folson und Benteen oder Morray 213 und Mondegreen oder irgendeinem anderen Paar ging, aber Fehden waren Fehden, und bei Feindseligkeiten ging es immer um das, was man gerade glaubte, wenn man eine Klinge zog und sich auf einen anderen stürzte, und Pirojil wusste über solche Anlässe nur, dass er überhaupt nichts dagegen tun konnte. Irgendwie sollte er die Leute aber trotzdem davon abhalten, einander umzubringen. Bevor sich die Kriegslage beruhigt hatte, war die Dringlichkeit all dieser Feindseligkeiten von der unmittelbaren Notwendigkeit, gegen die Tsuranis und die Käfer zu kämpfen, an den Rand gedrängt worden; außerdem verbrachten die meisten Soldaten den größten Teil ihrer Zeit im Feld, wo sie genügend Platz hatten,
und nicht zusammengepfercht in der gleichen Stadt, ganz zu schweigen von den gleichen Unterkünften. Eine grundsätzliche Lösung zu finden war die Aufgabe der Offiziere, und wenn die Offiziere eine bessere Idee gehabt hätten, um die Spannungen zu mildern, als Soldaten, die nicht im Dienst waren, in die Stadt zu schicken, dann hätten sie das sicher getan, statt Oh. Er war nun auch ein Offizier, zumindest theoretisch, obwohl sein Umhang die neuen Rangabzeichen im Augenblick noch verbarg. Verflucht. Er dachte einen Moment darüber nach. »Bleibt hier.« »Erteilst du jetzt etwa Befehle?«, fragte Milo. »Tu einfach, was ich sage, Milo, und wir können uns später streiten.« Der kahle Mann mit den wässrigen Augen blinzelte ein paar Mal, dann nickte er und griff nach seinem Krug. »Das werden wir zweifellos tun, Pirojil. Ganz bestimmt.« Pirojil stand auf und ging zu dem Tisch der Morray-Männer. Zwei von ihnen nickten zum Gruß, einer verzog mürrisch das Gesicht. »Bist du nicht einer von diesen Söldnern, die unseren Baron bewachen sollen, damit dieses Arschloch Verheyen ihn nicht umbringen lässt?«, fragte der Mann. Er hatte eine breite Brust und außer seinem schwarzen Bart nur wenig Haar am Kopf, obwohl 214 sein Hals und die Unterarme mit einer dichten Matte von dem Zeug bedeckt waren. Die Feldwebelstreifen auf seinem Waffenrock waren verwittert und ausgeblichen. »Ich bin Söldner, ja.« Pirojil machte eine Geste zu einem Stuhl, die eine unausgesprochene Frage darstellte, und setzte sich auf das Nicken des Feldwebels hin. »Ich heiße Pirojil.« »Gardell«, stellte sich der Sergeant vor. »Glennen, Darneil, Roland, Garden und Spotteswold«, sagte er und zeigte dabei jeweils auf den Mann, dessen Namen er nannte. »Aber du hast nicht ganz meine Frage beantwortet, Pirojil - solltest du nicht damit beschäftigt sein, unseren Lord zu beschützen?« Pirojil zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was ihr gehört habt, aber falls es wirklich einen Grund gibt, wieso Baron Verheyen euren Baron umbringen will, dann ist das noch nicht bis zu mir durchgedrungen.« Gardell schnaubte. »Dann hast du wohl nicht oft zugehört, wie?« Man konnte nicht viel tun, um Männer zu überreden, die sich nicht überreden lassen wollten, und Pirojil hätte beinahe resigniert. Dennoch... »Ich war heute früh mit im Ratszimmer, und beide Barone -und der Rest - haben klar gemacht, dass sie glauben, dass es im Augenblick Dringenderes gibt als irgendwelche Meinungsverschiedenheiten -« »Meinungsverschiedenheiten - pah!« Roland spuckte neben sich auf den Boden. Er war ein großer, kräftiger Mann, vielleicht sogar um einen Fingerbreit größer und breiter als Durine, aber seine Stimme war überraschend hell, sodass sich Pirojil fragte, ob ihn eine Kampfeswunde entmannt hatte - nicht, dass es die Möglichkeit gegeben hätte, eine solche Frage offen zu stellen.
»Ja, Meinungsverschiedenheiten.« Pirojil hob den Finger. »Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht bessern, wenn zum Beispiel ihr euch mit den Verheyens da drüben anlegt. Mal ganz davon abgesehen, dass ich glaube, dass sie auf Verstärkung warten.« 215 Gardell nickte knapp und schien sich ein wenig zu entspannen. »Nun«, sagte er, »dann sollten wir vielleicht rübergehen und ... es mit ihnen ausdiskutieren, solange es noch sechs zu fünf steht, oder?« Er setzte dazu an aufzustehen, und er hielt in der Bewegung nicht einmal inne, als Pirojil die Hand hob. Dann standen auch die anderen auf, was den Verheyens auf der anderen Seite des Zimmers nicht entging, wenn Pirojil das Geräusch weggeschobener Stühle hinter sich richtig deutete. »Hinsetzen.« Pirojil zog den Umhang zurück und zeigte die Rangabzeichen auf seiner rechten Schulter. »Sofort.« Gardell dachte einen Augenblick darüber nach - einen zu langen Augenblick, fand Pirojil -, dann setzte er sich plötzlich wieder hin und zuckte bei dem Gelächter, das auf der anderen Seite des Raumes erklang, sichtlich zusammen. »Hauptmann, wie? Das sind nicht zufällig gefälschte Rangabzeichen?« Pirojil gestattete sich ein Lächeln. »Du kannst dich gerne beim Schwertmeister danach erkundigen, wenn du willst.« Gardell brummte: »Erinnere mich daran, dass ich nie mit dir Pa-Kir spiele ... Hauptmann. Man sieht dir nicht an, ob du bluffst oder nicht.« Er dachte einen Augenblick darüber nach, dann fügte er hinzu: »Ich bin sicher, du weißt, dass man hier im Königreich dafür gehängt werden kann, sich unrechtmäßig als Offizier ausgegeben zu haben. Wenn ich diese Strafe gegen die Standpauke abwäge, die mir der Schwertmeister eventuell halten wird, dann glaube ich Euch, Hauptmann.« Pirojil sagte: »Ich habe einen Vorschlag: Wenn ihr in die Burg zurückkehrt, solltet ihr vielleicht euren eigenen Hauptmann fragen, was er davon hält, dass ihr Euch mit Verheyen-Leuten prügelt -« »Ich könnte schwören, dass Hauptmann Martin für Verheyen und seine Bande nicht mehr übrig hat als wir anderen«, sagte Gardell. »Er hat gestern Abend die Rauferei in Unterkunft Drei nur deshalb beendet, weil er will, dass wir alles für eine bessere Gelegenheit aufsparen - eine Gelegenheit wie jetzt.« Gardell klang, als ob er die Wahrheit sagte, und Pirojil fragte sich, ob dieser Haupt216 mann Martin ein vollkommener Idiot war, weil er nicht jeden Gedanken an einen Kampf sofort im Keim erstickt hatte, oder ob er ein echtes Genie war, weil seine Worte eine Schlägerei umgehend beendet hatten, zumindest für diesen Abend, ganz gleich, was in naher Zukunft geschehen würde. Pirojil wandte sich wieder an Roland. »Also gut. Dann mache ich aus diesem Vorschlag einen Befehl: Fragt ihn, was Schlägereien in der Stadt angeht. Und richtet ihm außerdem aus, dass der Schwertmeister ihn vielleicht heute Nachmittag fragen wird, ob er verstanden hat oder nicht, dass es überhaupt keine Streitigkeiten geben soll, und worin die Verantwortung eines Hauptmanns besteht, der dem Grafen von LaMut unterstellt ist.«
Keiner sagte etwas darauf, und das konnte Pirojil nicht einfach auf sich beruhen lassen. Er war nicht sonderlich daran gewöhnt, Befehle zu geben - ob es nun beliebte oder unbeliebte waren -, aber er hatte mehr Befehle entgegengenommen, als er auch nur vage schätzen wollte, und er erinnerte sich daran, wie Baron Morray es erst einen Tag zuvor ausgedrückt hatte. »Es gefällt mir überhaupt nicht, den gleichen Befehl zweimal geben zu müssen, Soldat Roland«, sagte er, »und ich mag es beim dritten Mal noch weniger.« Er starrte Roland ruhig und ohne mit der Wimper zu zucken an, bis der große, kräftige Mann nickte. Pirojil vermied es, zur Kenntnis zu nehmen, dass Rolands Nicken eines von Gardell vorangegangen war - es hatte keinen Sinn, sich wegen Kleinigkeiten aufzuregen. Dann stand er auf und zog seinen Umhang wieder um sich. »Zu Befehl, Sir«, sagte Roland und nahm Habachtstellung an, was allerdings nichts an seinem höhnischen Grinsen änderte. Dann ging er auf die Kneipentür zu. Und nun schoben drei Verheyens ihre Stühle noch einmal zurück. »He, warum habt ihr's denn so eilig?«, wollte einer wissen. 217 »Draußen ist es ziemlich kalt«, fügte ein anderer hinzu. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht noch ein bisschen bleiben wollt?«, fragte der dritte, während zwei seiner Kameraden auf die Tür zugingen, um den Morrays den Weg zu versperren. »Rührt euch nicht vom Fleck - und das ist ebenfalls ein Befehl«, sagte Pirojil leise zu den Morrays. Er war bereits aufgestanden. Nun nahm er den Umhang vollkommen ab und ließ ihn zu Boden fallen, was seine Rangabzeichen deutlich sichtbar machte; dann ging er auf die Verheyens zu und hoffte, dass Gardell seine Leute an Ort und Stelle halten würde. »Gibt es hier ein Problem?«, fragte er laut, ohne zu schreien. Die Verheyens hatten ihn ignoriert, aber nun bekamen sie große Augen, als sie die Rangabzeichen sahen. »Sir«, sagte einer von ihnen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Widerstrebend nahmen die Verheyen-Männer Habachtstellung an, und Pirojil sah sie lange und forschend an, ebenso wie es zwei Männer taten, die Roland in den Weg getreten waren und ignorierten, wie er unsanft versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen. »Ich brauche sechs Freiwillige, um Bier in die Festung hinaufzubringen«, erklärte Pirojil. »Ich habe sie gerade gefunden.« »Hauptmann, wir -« »Ist die Disziplin in Baron Luke Verheyens Truppe so lasch, dass ihr nicht einmal einen schlichten Befehl versteht?«, brüllte er. Er wusste nicht genau, wie es ausgehen würde - er war sicher, was geschehen wäre, wenn er statt der Hauptmannsabzeichen auf den Schultern nur Feldwebelstreifen an den Ärmeln gehabt hätte -, aber wenn es falsch ausging, würde er den Tisch auf drei von ihnen zutreten, einen vierten niederschlagen und hoffen, dass er entkommen konnte.
Wie er das dann hinterher dem Schwertmeister erklären sollte, war im Augenblick nicht das dringendste Problem. »Nein, Sir. Wir wissen, wie man gehorcht, Sir«, sagte einer der 218 Männer. Er hatte den Blick auf Pirojil gerichtet, aber die mürrischen Mienen der anderen waren hervorragend geeignet, um das höhnische Grinsen von Gardell und den übrigen Morrays zu spiegeln. Es gab Leute, die einfach nicht wussten, wann sie ihren Gesichtsausdruck lieber unter Kontrolle bringen sollten. »Also gut«, sagte Pirojil und nickte. »Wirt - Wirt Her mit Euch!« Der Wirt kam so schnell aus der Küche in die Schankstube gestürzt, dass Pirojil sicher war, dass er die ganze Szene durch den Perlenvorhang beobachtet hatte. »Jawohl - Hauptmann Pirojil«, sagte er mit einer leichten Überbetonung von Pirojils neuem Rang. »Kann ich etwas für Euch tun?« »Der Graf braucht drei Fässer Bier. Diese Männer werden sie in die Burg tragen, und der hier - wie heißt du, Soldat?« »Garrick, Sir!« »Und Soldat Garrick wird Eure Rechnung zu seinem Vorgesetzten, Hauptmann ...« »Hauptmann Ben Everet, Sir.« »... Hauptmann Ben Everet bringen, der sie dann dem Zahlmeister vorlegen wird. Hauptmann Ben Everet wird sich, wie ich hoffe, in einer Stunde in Unterkunft Eins mit mir treffen; bitte richte ihm das aus, Soldat Garrick.« »Ja, Sir.« Der Wirt nickte, und es gelang ihm, sich das Grinsen zu verkneifen. Die Fässer würden vermutlich das ortsübliche, von Menschen gebraute Spülwasser enthalten, während die Rechnung auf teures Zwergenbier ausgestellt würde. Ein normaler Offizier, der für Proviant sorgte, hätte genauere Anweisungen gegeben, aber Pirojil hatte nicht nur keine Ahnung, was ein Fass von der einen oder anderen Biersorte den Grafen normalerweise kosten würde, er hatte im Augenblick auch erheblich dringendere Sorgen, als dass der Küche des Grafen ein paar Kupferstücke zu viel abgenommen würden. 219 Mürrisch und angestrengt bemüht, die Morrays nicht wahrzunehmen, schlurften die Verheyens auf die Küche zu, wo es eine Treppe zum Bierkeller gab. Pirojil hob seinen Umhang auf und legte ihn ordentlich gefaltet auf den Hocker, bevor er sich wieder zu Mackin und Milo setzte. »Hauptmann Pirojil, wie?« Milo wich seinem Blick aus; stattdessen betrachtete er scheinbar interessiert seine Zeigefingerspitze, mit der er durch eine kleine Bierpfütze auf dem Tisch fuhr. Pirojil zuckte mit den Achseln. »Wie du schon sagtest, mein Auftrag hat tatsächlich ein paar Vorteile.« Nicht zu reden von dem Nachteil, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, auf die er so gut wie keinen Einfluss hatte. »Befehle zu geben scheint dir gut zu tun«, sagte Milo. Mackin lachte boshaft. »Ja, zumindest dieses Mal.« Er runzelte die Stirn. »Und es hat mich ein paar Kupferstücke gekostet: Ich hatte mit Milo gewettet, dass die Verheyens dich zusammenschlagen und nicht einfach die Treppe runter - und dann in die Kälte hinausgehen würden, nur weil du es ihnen gesagt, äh, befohlen hast.«
Sorgfältig zählte er die sechs Kupfermünzen ab und schob sie über den Tisch zu Milo, der einen Augenblick so aussah, als wollte er etwas sagen, aber dann zuckte er nur die Achseln und steckte sie ein. »Ich nehme an, ihr hättet euch dann eben eine andere Kneipe gesucht, genau wie die anderen Söldner da in der Ecke«, sagte Pirojil. »Ich schon.« Milo nickte. »Und zwar so schnell, wie mich meine zierlichen Füßlein tragen können.« »Ich wäre geblieben und hätte zugesehen«, sagte Mackin und trank nachdenklich einen Schluck Bier. »Aber es wäre nicht mein Kampf gewesen, Hauptmann.« Das konnte Pirojil ihm nicht übel nehmen, aber zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er wieder einmal daran, ob es nicht außer den offensichtlichen Nachteilen auch Vorteile haben könnte, Verbindungen zu anderen als Kethol und Durine zu knüpfen. Das 220 Problem dabei war allerdings: Wenn er erwartete, dass Leute sich in seine eigenen Probleme verstrickten, musste er sich auch in ihre verstricken. Pirojil hätte es vielleicht geschafft, Mackin und Milo bei einem Kampf auf seine Seite zu ziehen und damit die Chance zu verringern, dass er selbst totgeschlagen wurde, aber das hätte immer noch nicht viel genutzt. Sobald eine Schlägerei losgegangen wäre, wäre jeder Soldat in der Kneipe darin verwickelt gewesen. Selbst wenn die Wache schnell genug aufgetaucht wäre, um dieses Feuer zu löschen, hätte die ganze Geschichte genügt, dass in Zukunft die Soldaten der beiden Baronien schon anfangen würden sich zu prügeln, wenn sie einander nur irgendwo sahen. Und da alle fröhlich zusammen in dieser kleinen Stadt eingeschneit waren, würden sie einander oft zu sehen bekommen. Pirojil holte die Trillerpfeife aus dem Beutel und hielt sie den beiden anderen auf der Handfläche hin. »Habt ihr ein Problem damit, Befehle zu befolgen?« Milos Miene blieb weiterhin ausdruckslos. »Normalerweise nicht. Wie du, glaube ich, hin und wieder selbst beobachten konntest. Ich nehme an, es hängt von der Art der Befehle ab.« Pirojil schob Milo die Pfeife über den Tisch hinweg zu. »Betrachte diese Kneipe als deinen Posten. Sorge dafür, dass es hier ruhig bleibt - pfeif nach der Wache, wenn es Probleme geben sollte.« Milo und Mackin wechselten einen raschen Blick, und Pirojil erinnerte sich daran, dass Milo sich immer verzog, wenn der Wachtmeister in der Nähe war. Pirojil wusste nicht, um was es dabei ging - es ging ihn auch nichts an -, und im Augenblick war nicht der geeignete Zeitpunkt, um nach Einzelheiten zu fragen. Schwere Schritte erklangen, und drei Paare von Verheyen-Männern kamen hintereinander durch den Perlenvorhang aus der Küche, jeweils mit einem Fass beladen. Das leise, höhnische Lachen der Morrays verstummte, als sich Pirojil Gardell zuwandte, obwohl die Männer immer noch grinsten, einige von ihnen hinter ihren Bierkrügen, die sie in sarkastischem Gruß erhoben hatten. 221 Scheiße. So ging es wirklich nicht.
Pirojil hatte vielleicht sogar alles noch schlimmer gemacht, obwohl er immerhin erfolgreich verhindert hatte, dass hier sofort ein Kampf ausbrach. Die MorrayMänner hielten ihren Spott im Augenblick vielleicht noch einigermaßen zurück, aber später? Würden sie es sich etwa verkneifen, hier oder in der Unterkunft zu lachen, würden sie etwa nicht zu anderen Kneipen weiterziehen und damit prahlen, dass sich dieser hässliche frisch ernannte Hauptmann in der Verheyen-MorrayFehde auf ihre Seite gestellt und die feigen Verheyens in die Kälte hinausgeschickt hatte? Sehr unwahrscheinlich. Pirojil hatte also nur mehr Holz auf einen bereits schwelenden Stapel geworfen. Es könnte einige Zeit dauern, bis das Feuer wirklich offen aufflackerte, aber dafür würde es später umso heller und heißer brennen. »Halt«, rief er den Verheyens zu, gerade als das erste Paar Männer den Schankraum verließ. »Bleibt einen Augenblick stehen ... Und jetzt hört mir alle mal zu«, sprach er die im Schankraum Versammelten an, wenig überrascht, dass ihn ohnehin schon alle anstarrten. »Es scheint, als hätte ich einen Fehler gemacht - der Graf braucht noch drei weitere Fässer Bier, und ich weiß, ihr alle habt gerade gehört, wie sich die Männer aus der Baronie Morray freiwillig gemeldet haben, sie zur Burg zu tragen, sobald diese netten Jungs aus Verheyen von ihrer Arbeit zurückgekehrt sind.« Er ging zu den Verheyens und redete leiser mit ihnen. »Ich bin sicher, dass ihr euch Zeit lassen wollt, eure Last alle paar Fuß absetzen und auf keinen Fall zu schnell zur Burg hinauf rennen werdet, sodass eure Freunde aus Morray genug Zeit haben, sich auszuruhen und sich mit Speis und Trank zu stärken, bis sie damit dran sind, in die Kälte hinauszugehen. Ihr könnt -« Er hielt inne. »Nein, wartet einen Augenblick. Ich habe noch eins zu sagen, und zwar euch allen.« Er ging zurück in die Mitte des Schankraums und baute sich zwischen den beiden Gruppen auf. »Ich weiß, dass der Schwertmeister den Hauptleuten vollkommen klar gemacht hat, wie er denkt, und die Hauptleute haben es 222 bereits an jeden weitergegeben, der halbwegs hören kann, aber ich wiederhole die Botschaft trotzdem noch einmal, falls jemand sie aus irgendeinem Grund noch nicht begriffen hat. Es wird keine Probleme geben. Es wird keine Schlägereien geben. Es ist vollkommen gleich, wer damit anfängt und warum. Jede Schlägerei wird mindestens damit enden, dass die Teilnehmer im Stadtgefängnis landen. Sobald Blut fließt, werden einige von euch als Zwangsarbeiter in die Minen geschickt werden. Und wenn jemand umkommt, werden auch welche hängen. Also wird einfach nichts passieren. Verstanden?« Schweigen. »Verstanden}« Zustimmendes Gemurmel erklang, und Pirojil bedeutete den Verheyen-Männern, dass sie gehen konnten. Die Verheyens durchquerten den Vorraum der Schänke zum Abgebrochenen Zahn beinahe so schnell, wie sie ohne Lasten gegangen wären, und Pirojil setzte sich wieder neben Milo und den Zwerg und ignorierte die wütenden Blicke Gardells und seiner Kameraden.
Ja, es war ungerecht - vom Gesichtspunkt der Morrays aus. Immerhin hatten die Verheyens sie hier in eine Falle gelockt, und die Schlägerei wäre der Fehler der Verheyens gewesen - obwohl die Morrays schließlich auch einfach hätten gehen können, als die anderen hereingekommen waren. Hätte Pirojil es auf sich beruhen lassen, wie er es zunächst geplant hatte, dann hätte ihm das nur die Feindseligkeit einer Seite eingebracht. Jetzt hassten ihn beide Seiten. Auf der Habenseite des Hauptbuchs war jedoch zu verzeichnen, dass sie das vielleicht ein wenig von der Tatsache ablenken würde, dass sie einander sogar noch mehr hassten, zumindest für ein paar Stunden oder gar für einen Tag, und all das hatte keine schlimmeren Folgen, als dass es nun ein weiteres Dutzend Männer gab, die Pirojil in einer dunklen Nacht lieber nicht in seinem Rücken hätte. Im Ausgleich dazu kam ihm der Sold eines Hauptmanns inzwischen reichlich jämmerlich vor. 223 »Nun, es war wahrscheinlich eine gute Idee, so mit der Sache umzugehen«, murmelte Mackin. »Ich hatte auch schon daran gedacht, noch bevor du etwas gesagt hast.« »Warum hast du es dann nicht erwähnt?« Pirojil bereute diese Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. »Nicht meine Sache.« Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte, Hauptmann Pirojil, es geht mich nichts an, wie höher Gestellte sich benehmen. Du erinnerst dich vielleicht an dieses Gefühl, aus der Zeit, als du noch ein einfacher Soldat warst... wann war das noch? Gestern?« »Sei still, Mackin«, sagte Milo stirnrunzelnd. »Der Mann tut sein Bestes.« »Aber es geht uns immer noch nichts an.« »Mag sein. Oder auch nicht.« Er wandte sich Pirojil zu. »Also gut, Pirojil - ich werde tun, was ich kann«, erklärte er. »Aber ich kann nicht versprechen, dass es funktionieren wird.« »Bring es einfach zum Funktionieren«, erwiderte Pirojil, als würde ein Befehl die Sache einfacher machen - das hatte er an Offizieren immer gehasst, wenn sie es mit ihm getan hatten. Ganz egal, was die Geschichten behaupteten, wenn ein Offizier einem sagte, man sollte springen, war »Wie hoch?« eine vollkommen sinnlose Frage. Miro verzog das Gesicht. Wahrscheinlich dachte er das Gleiche. »Bitte«, fügte Pirojil hinzu. Das schien nur angemessen zu sein, Offizier oder nicht. Milo nickte. »Ich werde tun, was ich kann. Bis wann?« Pirojil hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. »Bis du abgelöst wirst«, sagte er und überlegte, wen er schicken könnte, um Milo abzulösen. Er schaute zu den anderen Söldnern in der Ecke hinüber, die ihn für seinen Geschmack viel zu intensiv beobachteten. »Such dir Hilfe oder finde deine eigene Ablösung, wenn es nötig werden sollte. Finde jemanden, der verlässlich ist, und ich werde mich darum kümmern, dass er bezahlt wird, ebenso wie du.« Wie eine Gruppe von Söldnern Ruhe und Ordnung zwischen 224
den Fraktionen aufrechterhalten sollte, selbst hier in der Schänke zum Abgebrochenen Za hn, war eine andere Frage. Sie würden eben improvisieren müssen, genau wie Pirojil es getan hatte. »Das ist leichter gesagt als getan«, erwiderte Milo. »Vielleicht, wenn ich Feldwebel wäre?« Pirojil musste lachen. »Willst du, dass ich darüber mit Steven Argent spreche?« »Lieber nicht.« Milo schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, wenn ich genauer darüber nachdenke, will ich das auf gar keinen Fall. Es braucht nur eine Beförderung, und ehe ich michs versehe, bin ich dann Hauptmann und muss überall in LaMut für Ruhe und Ordnung sorgen und einen Haufen anderer anheuern, damit sie mir helfen, das Meer mit einer Gabel aufzuhalten.« Er schob die Trillerpfeife zu Mackin hinüber, und der nickte und steckte sie in die Jacke. Der Zwerg grinste Pirojil an. »Solltest du nicht dafür sorgen, dass diese Verheyens sich auf dem Weg nicht verlaufen?« Pirojil nahm nicht an, dass sie sich sehr viel Zeit lassen würden, und es war ihm eigentlich vollkommen gleich, ob sie direkt zur Burg gingen oder noch in der Stadt herumwanderten, aber er musste wirklich mit diesem Verheyen-Hauptmann sprechen. Nicht, dass Pirojils Worte noch viel nützen würden, wenn die des Schwertmeisters bereits auf taube Ohren gestoßen waren. Pirojil wusste, dass Steven Argent bereits mit den Hauptleuten gesprochen hatte, und soweit er den Schwertmeister kannte, hatte er keinen Zweifel daran, dass der Mann seinen Standpunkt vollkommen klar gemacht hatte. Was erklärte, wieso der Schwertmeister so weit gegangen war, drei Söldner zu Hauptleuten zu befördern - er war nicht einfach nur unsicher, was die Verlässlichkeit einiger Hauptleute anging, er war überzeugt, dass er sich nicht auf diese Männer verlassen konnte, zumindest nicht unter den derzeitigen Bedingungen, wo alle so dicht aufeinander saßen, und er konnte sich auch nicht darauf verlassen, dass diejenigen, denen er vertraute, es schafften, den Deckel fest genug auf den Topf zu drücken. 225 Steven Argent hatte Recht, sich Gedanken zu machen, dachte Pirojil. Selbst wenn alle Hauptleute vollkommen zuverlässig und unglaublich kompetent wären und die Situation vollkommen erfassen würden, wäre LaMut gleichzeitig zu groß und viel zu klein. Es war wirklich ein beschissener Tag. Ein besonders beschissener Tag, wenn man neue Rangabzeichen trug, die so schwer wie Bleigewichte waren, die einem jemand auf die Schultern genagelt hatte. Ein beschissener Tag, wenn man an die aktiveren Zeiten des Krieges dachte, in denen die Unterkünfte in der Burg beinahe leer waren und selbst die Soldaten, die direkt dem Grafen unterstellt waren, sich mehr dafür interessierten, wo die nächsten Blauen und Käfer lauerten, als ihren Hass gegen ihre ortsansässigen Erbfeinde zu pflegen. Pirojil zog den Umhang um sich und stand auf. Dann ging er hinaus in das abweisende, gefrorene Weiß dieses beschissenen Tages.
Es musste ja wohl ein beschissener Tag sein, wenn ein Mann sich freute, wieder nach draußen in die Kälte zu kommen.
Intrigen
Kethol blieb stehen. Das einzige Geräusch, das er hören konnte, als er stehen blieb und sich in der weißen Landschaft umsah, war sein eigenes Atmen. Alte Gewohnheiten waren nicht so leicht abzuschütteln, und er zwang sich, zwischen seinen Atemzügen nach den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Er dachte daran, wie absurd dieser Augenblick war, und erinnerte sich an die Vergangenheit, während er hörte, wie in der Ferne Eis brach und sich eine leichte Brise in den kahlen Zweigen von Birken und Kiefern, Eichen und Ulmen fing. Kethol hatte sich einmal, vor sehr langer Zeit, mit einem Jongleur angefreundet. Dieser war ein umherziehender Gaukler gewesen, der während eines der Kriege gegen Kesh und der Rebellionen der Ortsansässigen, wie sie im Tal der Träume beinahe an der Tagesordnung waren, in den Dienst für Lord Sutherland gepresst worden war. Die besagten Kriege und Rebellionen im Tal der Träume waren einer der Gründe, wieso Kethol, Durine und Pirojil das Tal stets als letzte Möglichkeit zur Verfügung stand; hier gab es immer Arbeit, obwohl es Kethol nichts ausgemacht hätte, nie wieder einer Truppe kriegswütiger Hundesoldaten aus Kesh gegenüberzustehen. Der Jongleur war von einem von Lord Sutherlands umherziehenden Aushebertrupps »rekrutiert« worden, als es zwischen Rebellenangriffen einmal eine kleine Pause gegeben hatte - das Königreich hatte Sklaverei schon Jahrzehnte zuvor für ungesetzlich 227 erklärt, aber Zwangsarbeit an der Front war immer noch üblich; Befestigungen mussten verstärkt werden, und Männer, die keine überzeugende Geschichte hatten, wieso sie die Grenze überqueren wollten, wurden als Rebellen betrachtet. Einige hatten einfach Pech, und ein paar von denen wurden vielleicht auch wieder freigelassen, wenn ein Feldwebel oder Hauptmann zu dem Schluss kam, dass der Mann harmlos war. Kethol hatte das immer für ein seltsames System gehalten; wenn er ein Spion aus Kesh wäre, würde er sich selbstverständlich als der freudigste Arbeiter und jedermanns bester Freund geben. Schließlich würde man ihn dann freilassen, und dann könnte er seine eigentliche Aufgabe erledigen. Die Männer, die zu fliehen versuchten und dabei getötet wurden, waren Idioten, und das war eigentlich der beste Beweis, dass sie keine Agenten sein konnten. Dazu waren sie einfach zu dumm. Der Jongleur war offensichtlich kein Spion, aber er hatte keinen überzeugenden Grund dafür angeben können, wieso er allein auf einem staubigen Pfad in den Bergausläufern unterwegs war und nicht mit einer Karawane oder zumindest mit einer ganzen Truppe seinesgleichen. Also war er bei den Zwangsarbeitern gelandet. Nach einem Monat hatte der zuständige Feldwebel ihn freigelassen, und entgegen jeglicher Logik hatte er beschlossen, in der Nähe zu bleiben. Vielleicht hatte ihm das Lageressen geschmeckt.
Kethols Kompanie war zu diesem Zeitpunkt für die Verteidigung zuständig, was bedeutete, ebenso die Zwangsarbeiter zu bewachen wie nach Hundesoldaten Ausschau zu halten. Er hatte den Jongleur kennen gelernt, und als Kami nach seiner Freilassung geblieben war, hatte Kethol den jungen Mann aus Gründen, die er sich selbst nie hatte erklären können, unter seine Fittiche genommen. Der Jongleur war mit Hilfe eines fragwürdigen Feldwebels, der Kethol einen Gefallen schuldig war, in die Söldnerkompanie eingetreten, in der Kethol diente. Wenn Kethol nicht gerade versuchte, für den armen, schon eindeutig vom Schicksal gezeichneten Kerl Schwertmeister zu spielen - man sollte nicht glauben, dass jemand, der so geschickt jonglieren konnte, so ungelenk mit einem Schwert war -, hatte 228 Kami ihm seine Philosophie erklärt, die sich zusammenfassen ließ zu: »Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu das, womit du dich am besten auskennst.« Was oberflächlich gesehen ganz vernünftig klang. Praktisch sah das so aus: Wenn seine Unfähigkeit, ein Schwert und einen Schild zu benutzen, Kami zu sehr frustrierte, ging er einfach ein paar Minuten in die Nacht hinaus, begann, mit allem zu jonglieren, was zu kriegen war - wenn sein Jonglierset nicht in der Nähe war, nahm er auch Steine und Kiesel -, und dachte dabei über die Dinge nach. Er war dann immer entspannt zurückgekehrt und bereit, weiterhin beim Unterricht sein Bestes zu geben, und obwohl es ihm nie gelungen war, auch nur die einfachsten Grundlagen der Schwertarbeit zu meistern, hatte er zumindest gut gelaunt daran gearbeitet, und Kethol hatte schließlich diese »Tu das, womit du dich am besten auskennst«-Philosophie zu bewundern gelernt, auch wenn er sich fragte, ob sie wirklich so praktisch war. Immerhin hatte der arme Kami ein schlimmes Ende genommen, als der erste Hundesoldat, mit dem er es zu tun bekam, zugeschlagen hatte. Sein Schwert war Kami aus den Fingern gefallen, während sein abgeschnittener Kopf durch die Luft geflogen und absurd aufrecht wieder gelandet war, mit einem überraschten Ausdruck auf dem toten Gesicht... Zumindest jedoch hatte diese Art zu denken ihm zuvor ein wenig Trost und Freude bereitet. Wenn man tat, womit man sich gut auskannte, oder das, womit man sich auskannte, nur ein wenig erweiterte ... dann konnte man wenigstens für den Augenblick ignorieren, dass man bis über beide Ohren in der Scheiße steckte. Und vielleicht war Kethol ja aus diesem Grund nun auf Brezeneden unterwegs und bewegte sich - dank Grodan, möge seine Familie blühen und gedeihen! - über den Schnee hinweg zum Norden der Stadt, einen Segeltuchbeutel über der Schulter. Auf diesen Brezeneden über den Schnee zu laufen war Kethol vollkommen neu, aber Spuren durch die Landschaft zu folgen war etwas Vertrautes, selbst wenn sie so tief waren wie die Pferdespu229 ren von Tom Garnetts Patrouille und sie demnach auch ein Blinder wortwörtlich hätte ertasten können. Er hatte den Geldumhang in seinem Spind in der Unterkunft gelassen und einen kleinen Lederbeutel mit Reals in der Ecke des Spinds halb versteckt, in der
Hoffnung, dass ein Dieb, der in der Unterkunft möglicherweise sein Unwesen trieb, einfach den Beutel nehmen und sich nicht weiter umsehen würde, und dann hatte er seinen weißen Winterumhang angelegt. Wenn er die Kapuze aufsetzte und sich hinhockte, selbst wenn er den Umhang nicht über sich und die dunkle Segeltuchtasche zog - die er in ein Betttuch gewickelt hatte, das beinahe so weiß war wie der frisch gefallene Schnee -, dann würde er nur wie eine kleine Schneeverwehung aussehen, die sich an einem Stein, einem Baumstumpf oder einem Zaunpfahl gebildet hatte. Vielleicht lag es an seinem Gespräch mit Grodan, oder er hatte zu lange das Glitzern der Sonne auf dem Schnee betrachtet, aber er kam langsam zu dem Schluss, dass die grauen Umhänge, die die Pfadfinder bevorzugten, in dieser Art Landschaft durchaus brauchbar waren. Die meisten Wintertage waren nicht so gleißend weiß wie heute, sondern grau und bewölkt, und es schneite; die Landschaft bildete selten ein solch strenges Relief von vollkommenem Weiß und schwarzen Schatten unter den Bäumen. Das neutrale Grau war eine gute Tarnung, ganz gleich, in welchem Wetter und in welcher Art von Landschaft man sich bewegte. Einen Augenblick fragte er sich, wo er wohl einen solchen Umhang finden könnte, dann kam er zu dem Schluss, dass ein dritter Umhang einfach zu viel wäre; außerdem würde er vermutlich mehr Geduld brauchen, als er hatte, um Durine und Pirojil zu erklären, wieso er sich diese neue Mode angewöhnt hatte. Nachdem er die erste Reihe windbrechender Bäume hinter sich hatte, an denen sich eine riesige Schneewehe aufgehäuft hatte, aus der nur noch auf der dem Wind abgewandten Seite ein paar grüne Zweige mit Kiefernnadeln herausragten, hatte er seinen Umhang auf dem Schnee ausgebreitet und sich ein paar Minuten hingelegt sich durch schenkelhohen Schnee zu bewegen, war schwe230 re, schweißtreibende Arbeit -, und als er endlich wieder zu Atem gekommen war, hatte er sich die Brezeneden an die Überschuhe geschnallt und sich auf den Weg gemacht. Jetzt verstand er den Ursprung des Namens der Brezeneden: »Ungeschickte Füße«. Das traf es ziemlich gut. Natürlich war er nach dem ersten Dutzend Schritte - bei denen er seine Füße sorgfältig beobachtet hatte - übermütig geworden und schneller gegangen. Sofort danach war er mit dem linken Brezeneden auf den rechten getreten, und als er den rechten Fuß gehoben hatte, hatte sich sein Stiefel aus den Lederschnüren losgerissen, und Kethol war kopfüber in den Schnee gefallen. Selbst nachdem er wieder auf die Beine gekommen war - was allein schon ein Kampf gewesen war -, hatte er mehrere lange, kalte Minuten gebraucht, die dicken Handschuhe auszuziehen und seinen rechten Stiefel wieder an den Brezeneden zu binden, bis er die Hand schließlich wieder in die gesegnete Wärme der Handschuhe stecken und weiterziehen konnte. Danach ging es besser - bis er das nächste Mal auf seine eigenen, plötzlich so breit gewordenen Füße getreten war, und obwohl die Schnüre diesmal gehalten hatten, war er dennoch in den Schnee gefallen. Nach einer Weile glaubte er schließlich, den Trick herauszuhaben, obwohl er annahm, dass es noch ein paar Einzelheiten bei
der Benutzung dieser Dinger gab, mit denen sich Grodan sehr viel besser auskannte, und er wünschte sich, der Pfadfinder hätte sie ihm verraten. Er fragte sich einen Augenblick, ob dieses Versäumnis Grodans auf Böswilligkeit oder auf Dummheit zurückzuführen war, aber er wusste, dass Pfadfinder nicht dumm waren. Grodan war ihm allerdings auch nicht besonders böswillig vorgekommen. Es war wohl schlicht unmöglich, alles in einem einzigen kurzen Gespräch zu erläutern. Oder vielleicht lag es an dem seltsamen Humor dieses Mannes. Kethol hatte schon Leute kennen gelernt, die noch erheblich seltsamere Dinge amüsant gefunden hatten. Dennoch, nach einer Weile lernten seine Füße langsam, einan231 der zu meiden, und er konnte sich mit einer unter diesen Umständen beinahe absurd hohen Geschwindigkeit bewegen. Die Spuren, die seine Brezeneden hinterließen, würden wahrscheinlich schon vom erstbesten anständigen Wind verwischt werden, und selbst wenn es keinen Wind gab, würde der Zweig, den Kethol hinter sich herzog, sie für alle, die nicht über die Fähigkeiten eines Pfadfinders verfügten, unsichtbar machen. Hinter einer Biegung fand er den Kadaver eines Pferdes. Blut aus der lang gezogenen Schwertwunde an der Kehle hatte den Schnee dunkelrot gefärbt. Die Spuren im Schnee machten deutlich, was geschehen war: Das Pferd war auf unter dem Schnee verborgenem Eis ausgerutscht, das freigelegt worden war, weil alle dem Vorreiter in der Spur gefolgt waren. Der Reiter war in eine nahe Schneeverwehung geschleudert worden, die ihn halb begraben hatte. Kethol erschauderte. Im Kopf konnte er beinahe hören, wie das Bein des Tieres brach, und er nickte zustimmend, als er an den Spuren erkannte, dass der Reiter trotz der wild zuckenden Hufe rasch zu seinem Tier zurückgekehrt war und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte, um die Schmerzen des gequälten Geschöpfs zu beenden. Um den Sattel abzunehmen, hatte es mindestens ein Dutzend Helfer gebraucht, wenn man den Spuren nach ging - die Steigbügel hatten sich wahrscheinlich unter dem Pferd verfangen, und mehrere Männer hatten das tote Tier hochheben müssen, um sie herauszuziehen. Bei all dem waren sie nicht gestört worden. Der Rauch, der in der Ferne in die träge Luft aufstieg, ließ vermuten, dass das nächste Bauernhaus mindestens eine Meile entfernt war, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand dort den relativ geringen Lärm gehört hatte. Kethol zog das Messer, legte seine Ausrüstung beiseite und kniete sich in den fest gestampften Schnee neben dem toten Tier. Es war klein für ein Pferd, was bedeutete, dass es immer noch mindestens sechsmal so viel wog wie das größte Stück Wild, das Kethol je erlegt hatte, und wahrscheinlich anderthalbmal so groß 232 war wie dieser Hirsch, von dem die ganze Kompanie in Donnerhölle eine Woche gelebt hatte. Das Tier ordnungsgemäß zu zerlegen hätte mehr gebraucht als die Kraft eines einzelnen Mannes: Kethol würde vielleicht, wenn er sich genügend anstrengte, das Brustbein brechen können, aber es würde zwei oder mehr Männer brauchen, die zusammenarbeiteten, um den Brustkorb auseinander zu ziehen.
Dennoch, das Pferd war noch nicht vollständig gefroren. Kethol keuchte und schwitzte zwar vor Anstrengung, nachdem er fertig war, aber es war ihm tatsächlich gelungen, Fell und Fleisch schnell zu durchtrennen und bis zum linken hinteren Hüftknochen zu gelangen. Er wünschte sich, er hätte eine kleine Lageraxt mitgenommen, um den Knochen aus der Pfanne zu brechen, aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er wieder durch den taillenhohen Schnee taumelte und dabei das Bein hinter sich her durch den Schnee auf einen Birkenhain zuzerrte, den das Unwetter nicht vollkommen unter Schnee begraben hatte. Der meiste Schnee war um die Bäume herumgefegt, und im Hain selbst war eine kleine, nach Osten gehende Senke geblieben, in der der Schnee kaum einen Fuß hoch lag. Dort räumte Kethol nun schnell ein Stück des eisigen Bodens frei. Ein schon vor langer Zeit umgestürzter Baum lieferte Zweige, die Kethol leicht abbrechen konnte, und als er sein inzwischen ziemlich stumpfes Messer einsetzte, bekam er ganze Brocken von Holz, aus denen er schnell ein Lagerfeuer baute. Das Feuer zu entzünden dauerte nur ein paar Minuten - er brauchte nicht einmal das Stück Birkenrinde, das er im Rucksack trug, da ihm die Birken ringsumher genug von diesem Material lieferten; also zog er einen großen Streifen von einem breiten Stamm ab und hatte nach ein paar Versuchen mit dem Feuerstein schon bald ein niedrig brennendes Lagerfeuer vor sich. Dann lief er zurück zu dem Pferdekadaver, um den Rest seiner Sachen zu holen und um noch mehr Fußspuren zu hinterlassen. Er hackte ein Stück Fleisch von dem Pferdebein ab, briet es auf der Messerspitze über dem Feuer und knabberte hin und wieder 233 daran, statt zu warten, bis alles durchgebraten war, mehr aus Ungeduld, als weil er es so eilig gehabt hätte. Selbst wenn es der Patrouille nicht gelang, die Stadt vollkommen zu umrunden, würde der Wind den Rauch wegpusten, und selbst wenn sie auf dem gleichen Weg zurückkehren mussten - wie er annahm -, würde er sie schon lange hören, bevor sie den ungeschickt zerfledderten Kadaver sahen, und er hätte Zeit genug, um zu fliehen und den größten Teil des Hains zwischen sich und jeden potenziellen Beobachter zu bringen. Das Fleisch war gar nicht übel, obwohl Kethol Pferdefleisch nicht sonderlich mochte. Ein Mann, den es besonders interessierte, was er aß, sollte sich lieber einen anderen Beruf aussuchen als Söldner, aber er war überrascht festzustellen, dass er ernsthaft hungrig war. Er aß ein ziemlich großes Stück und warf den Rest ins Feuer. Er legte mehr Holz auf, dann kehrte er zu dem Kadaver zurück, hackte so viel Fleisch ab, wie er konnte, und vergrub die Stücke an mehreren unterschiedlichen Stellen im Schnee. Er öffnete die Segeltuchtasche, holte die Stücke der Tsurani-Rüstung heraus, die er aus dem Lagerraum im Keller der Burg gestohlen hatte - zu Beginn des Krieges hatte man sich in LaMut offenbar wie überall im Königreich dafür interessiert, diese seltsamen Rüstungen zu sammeln und zu untersuchen - und verteilte sie auf der Lichtung. Das Tsurani-Schwert brach zufriedenstellend, nachdem er es aus der schwarzen Scheide geholt, die Spitze auf den Boden gestellt und mit dem Fuß auf die flache
Klinge getreten hatte, und er warf den größeren Teil der Waffe ebenfalls in den Schnee und steckte die Spitze wieder in die Tasche. Er spähte aus der Senke hervor und lauschte. Nichts. Nichts bis auf leichten Wind und das weit entfernte Zwitschern eines Vogels, der offenbar die ganze Welt wissen lassen wollte, dass er das Unwetter ebenfalls überlebt hatte. Er machte sich auf den Brezeneden auf den Weg und zog wieder den Zweig hinter sich her. Dabei hielt er nur einen Augenblick 234 inne, um die Schwertspitze in der Nähe des Pferdekadavers fallen zu lassen, und eilte rasch über die Anhöhe zurück zur Stadt. Es wäre wahrscheinlich das Beste, bis nach Einbruch der Dunkelheit vor der Stadt zu warten. Im Schutz der Nacht würde er sich dann wieder hinein-schleichen können. Er würde die Brezeneden im Schnee vor der Stadt vergraben müssen. Eine Schande. Aber da er nun wusste, wie es ging, würde er schnell neue herstellen können, wenn er so etwas jemals wieder brauchen würde - was, wie er innigst hoffte, nicht der Fall sein würde. Man tut, womit man sich am besten auskennt, hatte der verstorbene Kami gesagt. Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann tu, womit du dich am besten auskennst. Keine schlechte Philosophie. Kethol wusste nicht, wie er verhindern sollte, dass eine Schlägerei ausbrach, und schon gar nicht, wie er eine beenden sollte, ohne dass alle auf der anderen Seite tot waren oder im Sterben lagen - zumindest alle, die nicht fliehen würden. Und dass der Schwertmeister es ihm trotzdem befohlen hatte, hatte ihm nicht auf magische Art die Fähigkeit dazu verliehen. Er hätte es einfach Pirojil und Durine gleichtun und in die Stadt gehen können, um sich dort umzusehen, aber es brauchte nicht mehr als zwei Augen, um zu erkennen, dass es Probleme gab und dass alles nur noch schlimmer würde, da ein Dutzend zerstrittener Fraktionen in der Stadt eingesperrt war. Kethol hatte keine Ahnung, was man dagegen tun konnte. Es war für Adlige des Königreichs nicht ganz ungewöhnlich, geringeren Adligen ihre Ländereien wegen Unfähigkeit zu entziehen. Es geschah sogar, wenn jemand nicht einmal erwiesenermaßen inkompetent war und ungeachtet einer hohen Stellung, wie das Beispiel von Guy du Bas-Tyra und Prinz Erland in Krondor zeigte, wo sich Bas-Tyra auf Prinz Erlands angeblich schlechte Gesundheit berufen hatte. Wenn Graf Vandros hier gewesen wäre, hätte die offensichtli235 che Lösung darin bestanden, den zerstrittenen Baronen zu erklären, dass er die gegenwärtige Situation als Prüfung ihrer eigenen Führungseigenschaften betrachtete und jeden entfernen würde, der diese Prüfung nicht bestand. Und über die Frage, wer der nächste Graf von LaMut werden sollte, hätte man in diesem Zusammenhang ja auch sprechen können. Aber wenn der Schwertmeister das Gleiche versuchte, wäre es gut möglich, dass er genau die Situation herbeiführte, die er zu verhindern versuchte. Steven Argent hatte Recht, immer wieder zu erklären, dass er nicht der Graf war, und Adlige
lauschten häufig und stimmten zu, wenn ein höher Gestellter ein Argument vorbrachte, aber sie sträubten sich, wenn ein Mann von geringerem Rang das Gleiche sagte. Die Geschichtsschreibung würde wie üblich von den Siegern beeinflusst werden und behaupten, dass die Verlierer mit dem Kampf begonnen hatten und von den Truppen loyaler Barone und den Soldaten des Grafen gemeinsam besiegt worden waren, und jeder, der das Gegenteil hätte beschwören können, wäre ohnehin längst dabei, irgendwo in der Erde zu verfaulen, und würde nicht imstande sein, seine tote Stimme erklingen zu lassen. Wie gewöhnlich würde man dem Krieg an allem die Schuld geben; wenn der Krieg nicht wäre, wäre nicht der größte Teil der regulären Soldaten aus LaMut unterwegs gewesen, um gegen Tsuranis zu kämpfen: Sie wären hier in LaMut, und Barone, die zum Rat in der Stadt kämen, würden nur ihre eigene Leibwache mitbringen, sodass Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Elementen ein kleineres Problem gewesen wäre und keine ernsthafte Gefahr. Schlimmstenfalls würde es ein Duell geben, aber sehr wahrscheinlich würde nichts wirklich Dramatisches passieren. Nun konnte es zu einem ausgewachsenen Aufstand kommen oder, noch schlimmer, zu einem Kampf innerhalb der Stadt zwischen Soldaten mit jahrelanger Kampferfahrung und weniger Hirn, als die Götter den Salamandern gegeben hatten. Im Augenblick sah es so aus, als könnte schon eine Rauferei zwischen Lakaien einen Kampf zwischen den Baronen auslösen. 236 Kethol wusste einfach nicht, was er dagegen tun sollte. Aber er kannte sich mit ein paar anderen Dingen recht gut aus. Er wusste, wie man sich bewegte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er wusste, wie man ein Tier zerlegte - oder schnell ein Bein abhackte, wenn man nicht viel Zeit hatte -, und er wusste, wie man es erreichte, dass die anderen Spieler bei einem Glücksspiel abgelenkt waren, während man selbst den Blick weiterhin auf den Hauptgewinn richtete. Es würde so aussehen, als hätte sich ein Tsurani-Späher in diesem Birkenhain verborgen und beobachtet, wie die Patrouille aus LaMut vorbeigekommen war und das tote Pferd zurückließ. Der Tsurani hatte der Gelegenheit einfach nicht widerstehen können, seine mageren Rationen mit ein wenig frischem Pferdefleisch aufzustocken, und dann war er geflohen und hatte keine Fußspuren hinterlassen, weil er sich an die Spuren der Patrouillenpferde gehalten hatte. Wer wusste schon, ob der Mann nicht vielleicht sogar ein Späher für eine größere Truppe gewesen war? Die Tsuranis waren schlau, wenn es um Kriegsangelegenheiten ging, und vielleicht sogar schlau genug, um anzugreifen, wenn das Königreich es mitten im Winter am wenigsten erwartete. Kethol war nicht ganz sicher, ob es funktionieren würde, aber wenn sie Glück hatten, würde der Gedanke daran, dass Tsuranis hier draußen lauerten, die Soldaten der Barone vielleicht davon ablenken, sich gegenseitig umbringen zu wollen. Zumindest hoffte er das.
Gerüchte
Die ganze Sache gefiel Steven Argent überhaupt nicht.
Er zwang sich, sich wieder in seinen Sessel im Adlerhorst zu setzen, ließ das Glas Wein auf dem Beistelltisch stehen und konzentrierte sich stattdessen auf das blaue Keramikfragment in seiner Hand, und sei es nur, um Tom Garnett nicht ansehen zu müssen, der ihm gegenübersaß, Fantus streichelte und auf die Antwort des Schwertmeisters auf seinen Bericht wartete. Warum jeder andere - selbst dieser Söldner Kethol - den Feuerdrachen mochte, war ein immer wiederkehrendes, wenn auch geringfügiges Ärgernis für Steven Argent. Er war immer noch frustriert darüber, dass es ihm absolut nicht gelang, Fantus aus dem Adlerhorst fern zu halten, und er benutzte hin und wieder diese geringere Frustration als willkommene Ablenkung von wichtigeren und viel frustrierenderen Angelegenheiten. Wie zum Beispiel dieser scharfen blauen Keramikscherbe, die er da in der Hand hielt, den anderen Rüstungsteilen, die neben seinem Stuhl lagen, und Tom Garnetts Bericht darüber, wie und wo er sie gefunden hatte. Steven Argent war nicht überrascht gewesen, dass die Schneeverwehungen es Garnetts Patrouille unmöglich gemacht hatten, die Stadt vollkommen zu umrunden, selbst auf den Straßen, die ganz in der Nähe von LaMut verliefen. Das war zu erwarten gewesen, aber sie hatten es zumindest versucht, und sei es nur, um zu bestätigen, dass die Stadt tatsächlich vollkommen eingeschneit 238 war. Die einzige Überraschung bestand für den Schwertmeister darin, dass die Patrouille nur zwei Pferde verloren hatte - eins war auf dem Eis ausgerutscht und das andere war auf dem Rückweg lahm geworden -, wo er doch den Verlust von mindestens vieren erwartet hatte. Und Überraschungen ärgerten ihn. Es gab eine Regel im Soldatenleben, die er tief verinnerlicht hatte: Überraschungen sind immer unangenehm. Eine weitere Regel lautete jedoch, dass jede Regel irgendwann einmal gebrochen wurde. Er konnte allerdings die Anzahl der Fälle, bei denen es im Lauf dieses Krieges mit den Tsuranis zu einer angenehmen Überraschung gekommen war, an den Fingern einer Hand abzählen, und das galt sogar noch, wenn man die mehr als ein Dutzend Jahre seines Soldatenlebens vor dem Krieg mit einbezog. »Überraschung« bedeutete immer, dass die Kompanie, die einen ablöste, einen Tag zu spät kam und nur halb so stark war, wie man angenommen hatte - sie kamen nie einen Tag zu früh und waren doppelt so viele. Oder die feindlichen Truppen auf der anderen Seite der nächsten Anhöhe waren eine ganze Armee statt nur einer Kompanie, niemals jedoch nur eine Patrouille statt einer Kompanie. Es war allgemein bekannt, dass sich die Tsuranis mit Beginn des Winters hinter ihre Linien zurückzogen, um auf den Frühling und die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen zu warten, und nach allem, was Steven Argent geglaubt hatte, über ihre Anzahl und die Qualität der Soldaten, die sie ins Feld führen konnten, zu wissen, war ihre Angst davor, im Winter zu kämpfen -oder vielleicht vermieden sie es ja auch aus religiösen Gründen -, einer der wenigen Gründe, wieso sie Midkemia noch nicht von den Großen Nordbergen bis nach Süden zum Bitteren Meer überrannt hatten. Alle Berichte wiesen darauf hin, dass sich in der Heimatwelt der Tsuranis Armeen befanden, die um ein Vielfaches größer waren als jene, die sie
gegen das Königreich ausschickten. Ein Bericht von Prinz Arutha in Crydee an den Grafen über Dinge, die ein Tsurani-Gefangener verraten 239 hatte, wies darauf hin, dass dieser Krieg für die Tsuranis nur einen Teil einer massiven politischen Auseinandersetzung auf ihrer Heimatwelt darstellte. Politik fand Steven Argent sogar noch ärgerlicher als Überraschungen. Er hatte noch nie davon gehört, dass Tsuranis während ihres Rückzugs im Winter bewusst Späher hinter den königlichen Linien zurückgelassen hätten, und auch nicht von versprengten Tsuranis, die zu Spähern wurden statt zu versuchen, sich so schnell wie möglich wieder zu ihren eigenen Linien zurückzuziehen. Wenn das jetzt geschehen war, dann war das in der Tat eine Überraschung, und keine angenehme. Und wenn es aufgrund bewusster Politik geschehen war, war das doppelt ärgerlich. »Nun?«, fragte er. »Was denkt Ihr? Nur ein weiterer Versprengter?« »Nein.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Nicht, dass es unmöglich wäre - aber ich hätte eigentlich nicht von einem Tsurani erwartet, dass er gut genug vom Land leben könnte, um den Winter zu überstehen, und die wenigen Verzweifelten, die uns letzte Woche entkommen sind, waren in keinem guten Zustand. Dieser hier jedoch muss selbst nach dem Unwetter bei guter Gesundheit gewesen sein - er hat sich einen sehr guten Platz gesucht, um sich zu verstecken, und wenn man davon ausgeht, wie schnell und schwer der Schneesturm zugeschlagen hat, sagt mir schon die Tatsache, dass er überlebt hat, dass er sowohl gut ist als auch Glück hat. Er hat sich wahrscheinlich in diesem kleinen Gehölz versteckt und das Kommen und Gehen in der Stadt beobachtet. Er hat gewartet, beobachtet und dann Nutzen aus der Situation gezogen, und zwar nicht nur, um sich eine schnelle Mahlzeit zu verschaffen, sondern er hat so viel Fleisch mitgenommen, wie er tragen konnte - das sieht eigentlich mehr nach guter Ausbildung und Disziplin aus als nach Verzweiflung. Und er war schlau genug, nicht zu dieser Stelle zurückzukehren.« Der Schwertmeister war halbwegs ernsthaft der Ansicht, dass 240 sich die Intelligenz eines Mannes daran messen ließ, wie sehr dieser Mann mit den Einstellungen eines gewissen Steven Argent übereinstimmte, und er hatte Tom Garnett immer für besonders intelligent gehalten, obwohl der Hauptmann zweifellos in einigen Dingen nicht seiner Meinung war, das aber für sich behielt. Loyalität und Speichelleckerei waren nach Argents Einschätzung jedoch zwei vollkommen unterschiedliche Dinge. »Ja«, sagte er schließlich. »Es ist schlimm genug, glauben zu müssen, dass es Tsurani-Späher gibt, die ihnen helfen, sich auf die Frühjahrsoffensive vorzubereiten, aber wenn das bedeutet, dass die Tsuranis es nun vielleicht überhaupt nicht mehr vermeiden werden, im Winter zu kämpfen, ist das ein sehr schlechtes Zeichen.« Tom Garnett nickte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sie einen neuen Trick gelernt haben.« »Es gibt allerdings ein paar, die sie anscheinend nur sehr ungern lernen«, erwiderte Argent.
»Kavallerie.« Tom Garnett nickte zustimmend. »Allen Berichten zufolge scheint es mit ihrer seltsamen Auffassung von Ehre zusammenzuhängen, dass sie nicht reiten. Dafür bin ich wirklich dankbar. Sie haben auf jeden Fall genug von unseren Pferden erbeutet, um es probieren zu können, wenn sie wollten. Und ich kann mir nicht viele Dinge vorstellen, die auszuprobieren ein Tsurani nicht mutig genug ist.« Argent nickte zustimmend. Keiner, der gegen die Tsuranis gekämpft hatte, würde ihren Mut in Zweifel ziehen. »Ein paar Dinge haben sie tatsächlich von uns gelernt. Dennoch, selbst wenn wir aus diesem Fund schließen, dass sie nun anfangen, uns im Winter auszukundschaften, um im Frühling besser vorbereitet zu sein... es handelt sich um einen einzelnen Vorfall, und es würde nicht unbedingt bedeuten -« »Woher zum Teufel wisst Ihr denn, dass es nur ein einzelner Vorfall ist?«, fauchte Argent und hob dann zur sofortigen Entschuldigung die Hand. »Tut mir Leid, Tom; es scheint mir wirklich nicht gut zu tun, unter diesen absurden Bedingungen auf dem 241 Stuhl des Grafen zu sitzen. Ich bin angespannt wie eine Bogensehne.« Steven Argent hatte nie an das alte Wort geglaubt, man solle sich niemals entschuldigen und niemals etwas erklären. Wenn man einen Fehler machte, entschuldigte man sich, sonst hielten einen die Männer, die unter einem dienten, für einen Idioten, der nicht einmal bemerkte, dass man einen Fehler gemacht hatte. Tom Garnett akzeptierte mit einem Nicken sowohl die Kritik an seiner eigenen Äußerung als auch die Entschuldigung. »Das stimmt - wir können nicht wissen, ob es nur ein einzelner Vorfall war. Wie lange wird es dauern, eine Botschaft nach Yabon zu schicken?« Ihrem Vorgesetzten von diesen Dingen zu berichten schien das Offensichtliche zu sein, aber Steven Argent schüttelte den Kopf. »Ich werde den Vogelmann fragen, aber ich bezweifle, dass wir noch Tauben haben, die nach Yabon fliegen - der Graf wollte ein paar mit zurückbringen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe vor ein paar Tagen eine erhalten, die sein sicheres Eintreffen dort meldete, aber ich kann ihr ja wohl kaum sagen, dass sie zurückfliegen soll.« Graf Vandros hatte sich immer ein wenig über Steven Argents Sorge um die geringe Anzahl von Brieftauben in LaMut lustig gemacht, aber der Schwertmeister war über diesen Beweis, dass er nun doch Recht haben sollte, alles andere als erfreut. Nachdem vor der Generalstabssitzung in Yabon und dem Rat der Barone in LaMut Dutzende von Nachrichten buchstäblich hin und her geflogen waren, war der Vorrat an Tauben für seinen Geschmack viel zu gering. »Was machen wir also?« Tom Garnett runzelte die Stirn und fügte dann hinzu: »Verzeihung, Sir - ich wollte sagen: Wie lauten Eure Befehle?« Steven Argent zwang sich zu einem Lächeln. »Nun, mein erster Befehl lautet, mir einen Abend Zeit zu lassen, damit ich nachdenken kann, was zu tun ist, und für den Augenblick die Angelegenheit für Euch -« 242 »Äh.« Tom Garnett blinzelte. »Ich fürchte, zur Geheimhaltung ist es zu spät. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass meine Männer reden, hätte darin
bestanden, sie alle in der Unterkunft einzuschließen und Wachen aufzustellen, und selbst dann wäre ich nicht sicher, ob das Geheimnis geheim bleiben würde.« Und, brauchte er nicht hinzuzufügen, ich hatte keinerlei Befehle, genau die Männer, die ihr eigentlich draußen in der Stadt braucht, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, auch noch einzuschließen. Dagegen konnte Steven Argent nichts sagen. »Dann ist es also raus, und ich nehme an, auch die Barone werden bald davon erfahren, falls sie es nicht jetzt schon wissen. Ich sollte lieber nach unten gehen und ihre Fragen beantworten, bevor sie die Große Halle in Trümmer legen.« Er zwang sich, leise zu lachen. »Das Letzte war nur im übertragenen Sinn gemeint und unter den Umständen ein schlechtes Bild.« Er stand auf, und der Hauptmann stellte rasch sein Glas ab und erhob sich ebenfalls, aber Argent bedeutete ihm mit einer Geste, sich wieder hinzusetzen. »Bleibt ruhig sitzen und trinkt Euren Wein aus, Mann; den habt Ihr Euch verdient, und es ist eine Schande, ein halbes Glas von diesem guten Roten aus Rillanon zu verschwenden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir so schnell neue Vorräte davon bekommen werden.« Der Hauptmann setzte sich wieder und grüßte den Schwertmeister mit erhobenem Weinglas. »Danke, Sir. Ich kenne mich mit Wein kaum aus, aber ich habe selten einen besseren getrunken. Was allerdings die Barone angeht, so bin ich sicher, dass sie es schon wissen. Nach meiner Ansicht bewegt sich Klatsch immer schneller als selbst der schnellste Armbrustbolzen.« »Dann sollte ich mich lieber auf den Weg machen«, sagte der Schwertmeister. »Ihr habt nicht zufällig noch ein paar gute Nachrichten für mich?« »Tut mir Leid, nein.« Tom Garnett schüttelte den Kopf. »Gute Nachrichten sind derzeit anscheinend so knapp wie frisches Gemüse. Allerdings ...« 243 »Ja?« »Nun, als wir in die Stadt zurückkehrten, war die Luft eindeutig ein wenig wärmer geworden, und ich glaube nicht, dass mir das nur wegen all der Anstrengung so vorkam und weil wegen dieser Rüstung mein Herz so laut klopfte. Ich nehme an, jede Veränderung des Wetters ist eine gute Nachricht.« Er streckte die Hand aus, kraulte die Augenwülste des Feuerdrachen und lächelte, als das eidechsenartige Geschöpf den Kopf gegen seine Hand drückte. »Und ich glaube, Fantus mag mich.« Steven Argent lachte. Es war kein sonderlich heiteres Lachen -die Zeiten waren wirklich alles andere als erfreulich -, aber echt genug. Pirojil, dicht gefolgt von Durine, kam dem Schwertmeister auf der Treppe entgegen, weil sie auf dem Weg zum Adlerhorst waren, um ihm Bericht zu erstatten. Nachdem sie miteinander gesprochen hatten, war klar geworden, dass ihre Berichte ganz ähnlich sein und Argent unvermeidlich zu dem gleichen Schluss führen würden, den sie unabhängig voneinander bereits gezogen hatten: Die Situation in der Stadt stand kurz vor der Explosion, und trotz aller Bemühungen der Soldaten des Grafen, der Wache und der Hauptleute der Barone, den Deckel auf dem Topf zu halten, würde die ganze Chose wahrscheinlich demnächst überkochen.
Es war kein großer Zufall gewesen, dass sie einander auf dem Rückweg zur Burg begegnet waren. Sie wussten beide, dass der Schwertmeister sein Abendessen früh und allein zu sich nahm, und beide hatten verstanden, dass er mit seiner Äußerung, er wolle ihren Bericht »bei Tisch«, gemeint hatte, sie sollten in seine Gemächer kommen und ihm vertraulich Bericht erstatten und nicht später, wenn er sich zu den anderen Adligen in der Großen Halle gesellte. Pirojil hoffte, dass sie Steven Argent nun nicht noch beweisen müssten, dass sie seine ausdrücklichen Anordnungen tatsächlich befolgt und sich getrennt hatten, als sie in die Stadt gegangen wa244 ren. Vorsichtshalber begann er schon einmal damit, im Kopf eine Liste von Zeugen zusammenzustellen. Zumindest gab ihm das etwas Unwichtiges, worüber er sich Gedanken machen konnte - und was sollte Steven Argent schon tun, wenn er ihnen nicht glaubte? Ihnen ihre Hauptmannsabzeichen nehmen und sie damit gleichzeitig von der Verantwortung für diese explosive Situation befreien? Nach der Anspannung, die es Pirojil bereitete, sich wie ein Offizier benehmen zu müssen, wäre selbst ein ausgewachsenes Blutbad eine Erleichterung gewesen. Vorgesetzter zu sein war nervenaufreibend, und das war noch gelinde ausgedrückt. Nein, dass man ihnen diese Pflicht entzog, war noch ihre geringste Sorge. Aber wo, zum Beispiel, steckte Kethol? Kethol hatte Steven Argents Anweisungen anscheinend anders verstanden - Kethol war nach Pirojils Ansicht nicht immer sonderlich klug, vor allem, wenn er sich nicht in seinem Element befand, und eine eingeschneite Stadt war ganz bestimmt nicht Kethols Element. Andererseits konnte es durchaus auch sein, dass er einfach nur ein paar Minuten später dran war. Oder vielleicht lag er tot in einer Gasse, nachdem er sich zu sehr angestrengt hatte, eine Schlägerei zu beenden, und dabei schließlich entweder einem zu guten Schwertkämpfer oder zu vielen begegnet war. Steven Argent blieb ein paar Stufen über den beiden Söldnern stehen, schaute auf sie herunter und nickte. »Da seid ihr ja. Es war immer meine Politik, mich mit frisch ernannten Hauptleuten zum Abendessen zusammenzusetzen, aber man hat Spuren eines eventuellen Tsurani-Spähers gefunden, und -« Er hielt inne. »Nein, was in der Stadt passiert, ist wichtiger, zumindest im Augenblick.« Pirojil unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Ja, es war allerdings wichtiger. Diese Sache mit dem Späher konnte ja wohl kaum wichtiger sein, als dass offener Bürgerkrieg zwischen den Fraktionen in der Stadt nur eine Rempelei entfernt war. »Ich höre mir besser jetzt gleich euren Bericht an, und essen 245 können wir dann später«, sagte Steven Argent. »Aber bitte macht schnell.« Den Gesprächsfetzen nach zu schließen, die Durine über die Barriere des Tisches in der Mitte der Großen Halle hinweg hören konnte, sorgten sich die versammelten Adligen mehr wegen des Tsurani-Spähers als um die Probleme von Steuern und Erbfolge, und das stimmte sie untereinander entschieden freundlicher. Selbst Morray und Verheyen waren zu sehr damit beschäftigt, dem Schwertmeister zuzuhören, als dass ihnen noch viel Zeit für wütende Seitenblicke geblieben wäre,
wenn auch Edwin von Viztria immer noch abwechselnd höhnisch grinste oder mürrisch vor sich hin starrte und hin und wieder einen Kommentar fallen ließ, den Durine gar nicht hören wollte. Baron Viztria war einer der wenigen Männer, denen Durine je begegnet war, die es schon wegen ihrer schieren Unerträglichkeit verdienten, erwürgt zu werden. Wer immer dieser Tsurani-Späher war, er hatte eine nützliche Ablenkung geliefert. Durine hätte gern einen Trinkspruch auf ihn ausgebracht, solange seine Anwesenheit so weit im Süden nicht eine gewaltige Truppenbewegung der Tsuranis ankündigte. Und wenn er sich so die anderen Hauptleute anschaute, die sich um die Feuerstelle versammelt hatten, sah es ganz danach aus, dass er nicht der Einzige hier war, der dem armen Kerl, der sich da draußen den Arsch abfror, gerne ein Bier ausgegeben hätte. Alle, die sich in den plötzlich friedlichen Unterkünften umgesehen hatten, berichteten, dass die Männer nun erwarteten, demnächst gegen die Tsuranis zu kämpfen und nicht gegeneinander. Ja, er hätte diesem TsuraniSpäher gern ein Bier ausgegeben. Selbstverständlich hätte er ihm hinterher doch noch die Kehle durchgeschnitten. So weit ging die Dankbarkeit nun auch wieder nicht. Durine trank gerade sein zweites Glas Wein und überlegte, ob er danach nicht lieber zu Kaffee oder Tee übergehen sollte, als Haskell, der Vogelmeister, aus dem Dachstuhl oberhalb des Ad246 lerhorsts herunterkam und dem Schwertmeister etwas - wahrscheinlich eine Nachricht - überreichte. Argent entließ den Mann mit einem raschen Nicken und beendete, was er gerade zu Edwin von Viztria sagte, bevor er näher zu einer Laterne ging, um die Nachricht zu lesen. Steven Argent war nicht anzumerken, ob diese Nachricht eine Wirkung auf ihn gehabt hatte, und man konnte auch aus dem, was er als Nächstes tat, nichts schließen, denn er steckte das kleine Stück Pergament einfach in einen Beutel an seinem Gürtel und nahm das Gespräch mit Viztria wieder auf. Wahrscheinlich nichts Wichtiges, dachte Durine, aber als er einen Augenblick später wieder zu den Adligen hinsah, bemerkte er, dass Steven Argent, Lady Mondegreen und Baron Morray verschwunden waren und sich die Barone Folson und Langahan zu den übrigen Adligen auf der anderen Seite des Zimmers gesellt hatten. Auch weiterhin drehten sich die Gespräche überwiegend um den Späher und was das für den Frühling bedeuten mochte, und wenn Durine nicht nach ein paar Gläsern Wein tatsächlich zu Kaffee übergegangen wäre, wäre er wohl schon vollkommen betrunken gewesen, als Kethol lange nach Einbruch der Dunkelheit hereinkam und sich zu den anderen Hauptleuten gesellte, die sich um die kleine Feuerstelle in der Großen Halle versammelt hatten. Er sprach kaum ein Wort, was für Kethol recht ungewöhnlich war, der in Menschenmengen meist gerade genug redete, um nicht aufzufallen, weil er die Aufmerksamkeit ebenso ungern durch Schweigen wie durch Geschwätzigkeit auf sich lenken wollte. Durine zuckte mit den Achseln. Er konnte ihn ja später danach fragen und würde das wahrscheinlich auch tun.
Hauptmann Karris kam von draußen herein und stampfte auf den Marmorboden, um den Schnee von den Stiefeln zu schütteln, weil es ihm offenbar zuwider war, das draußen im kalten Vorraum zu tun. »Seid gegrüßt, Karl Karris«, sagte Tom Garnett. »Gibt's was Neues?« 247 »Neu?« Karris schnaubte und griff nach einem Becher. Er hockte sich vor die Kaffeekanne neben der Feuerstelle und wickelte die Hand in eine Umhangfalte, um den Griff anfassen zu können, statt den Lederhandschuh zu benutzen, der zu diesem Zweck auf dem Sims lag. »Die größte Neuigkeit im Augenblick ist tatsächlich die Ruhe, zumindest in den Unterkünften. Viele Männer schlafen sich aus, obwohl ein paar sich zu diesem Zweck erst noch besaufen mussten, und der Rest verbringt ungewöhnlich viel Zeit damit, die Ausrüstung zu flicken.« Er lachte leise, als er sich in den leeren Sessel zwischen Durine und Garnett fallen ließ. »Da draußen gibt es jetzt ein paar Schwerter, mit denen man sich rasieren könnte.« Kelly nickte. »Und alle, die nicht schlafen, verbringen mehr Zeit damit, aus den Fenstern zu schauen statt auf die Kehlen ihrer Kameraden, als könnten sie sogar durch die verdammten geschlossenen Läden noch sehen, ob Tsuranis über die Burgmauern stürmen.« Er grinste. »Was für ein Tag, wenn das Beste, was passieren konnte, das Gerücht über Tsuranis ist, die nun auch im Winter unterwegs sind.« »Ihr glaubt also nicht, dass es mehr als nur ein Gerücht ist?« »Ich? Ich hoffe es sogar - ich hoffe, dass eine ganze Legion von ihnen da draußen erfroren ist, zehn Meilen westlich von hier, aber ich glaube es nicht. Es würde ohnehin nicht viel ändern - es scheint unendlich viele von ihnen zu geben; sie strömen hier herein, wie Abwasser aus einem Abflussrohr läuft, und dieses Rohr endet in den Grauen Türmen. Sie könnten es sich durchaus leisten, eine ganze Legion zu verlieren, nur weil einer ihrer Kommandanten blöd genug ist, eine Armee in einem Schneesturm Aufstellung nehmen zu lassen. Aber sie sind nicht dumm genug, so etwas zu versuchen. Nein, ich schätze, die Tsuranis haben einfach nur eine neue Sehne zu ihrem Bogen hinzugefügt.« »Späher im Winter?« Karris verzog das Gesicht. »Der Gedanke behagt mir nicht sonderlich, aber ...« »Ja, falls es nur das sein sollte, ist es schon schlimm genug, aber nicht das Ende der Welt. Dennoch, wenn ich beim Generalstab in 248 Yabon wäre, würde ich genau darüber nachdenken, wie früh es nach diesem Winter wieder heiß werden könnte.« »Und das in mehr als nur einer Hinsicht.« Tom Garnett lächelte gequält. »Ja.« Karris dachte einen Augenblick darüber nach. »LaMut -auch Yabon selbst war in letzter Zeit eher ein Nebenschauplatz, und die wirklich wichtigen Kämpfe fanden in Crydee und Bergenstein statt. Ich bin verdammt froh darüber, aber falls sich das ändern sollte, hoffe ich nur, dass unsere Vorgesetzten endlich damit aufhören, noch mehr Verteidiger aus Yabon abzuziehen, um den Westen zu stärken.« »Was natürlich genau das sein könnte, was die Tsuranis uns mit diesem Späher nahe legen wollen«, sagte Kethol, und das war das erste Mal, dass er an diesem Abend
mehr als ein einsilbiges Wort gesprochen hatte. »Und dann verdoppeln sie einfach ihre Anstrengungen gegen ein weniger gut verteidigtes Crydee und gehen durch die Zwerge in Bergenstein wie ein Zeh durch eine abgetragene Socke, und -« »>Uns nahe legenJa, Mylord< und Selbstverständlich, MylordWenn du ein williges Pferd hast, dann peitsche eine weitere Meile aus ihm heraus.< Schickt nach ihnen.« Tom Garnett lächelte, als er aufstand. »Das habe ich bereits getan, Sir. Sie warten wahrscheinlich schon vor der Tür. Und wenn ich Pirojil richtig einschätze, lauscht er auch.« Er nahm Habachtstellung an. »Wenn Ihr keine anderen Befehle habt, Sir, dann gehe ich jetzt in den Kerker und bewache den Gefangenen.« »Ja, Ihr könnt gehen, Hauptmann. Schickt sie herein. Und möge Tith-Onaka uns alle beschützen.« Kethol schüttelte den Kopf. Der Adlerhorst war erfüllt von zornigen Blicken. Selbst das gleißend helle Licht der Abendsonne hatte etwas Unbarmherziges, und Durine und Pirojil starrten Kethol wütend an, wenn auch nur, weil er Fantus kraulte und auf nichts weiter achtete. Aber was sollte Kethol schon tun? Steven Argent hatte ihnen gerade diese Angelegenheit übertragen und war nach unten gegangen, um die verbliebenen Barone zu einer Beratung zusammenzutrommeln und zu verkünden, dass er sich entschlossen hatte, die Ermittlungen wegen des Mordes an Baron Morray und Lady Mondegreen den Hauptleuten Kethol, Pirojil und Durine anzuvertrauen. Alles in allem waren die letzten Befehle des Schwertmeisters gar nicht unvernünftig, aber ... Pirojil fasste es für ihn in Worte. »Es gibt nur ein Problem mit diesen Befehlen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir herausfinden sollen, wer das getan hat.« Durine nickte. »Wenn ich nach einer Schlacht wissen will, wer jemanden getötet hat, frage ich einfach - obwohl ich schwören würde, dass Mackin lügt, wenn er behauptet, dass er diesen Käfer ganz allein erledigt hat.« 279 »Den im Wald nahe den Grauen Türmen?« Durine zog die Braue hoch. »Behauptet er jetzt etwa, er hätte zwei erwischt? Ich dachte, er redet über diesen kleinen Zwischenfall im Wald von Yabon letzten Herbst.« »Könntet ihr beide euch bitte auf das Thema konzentrieren?«, flehte Kethol. »Ich weiß auch nicht, wie wir es machen sollen, und wie ihr bereits wisst, ist Denken nicht gerade meine Spezialität.« »Das ist offensichtlich«, stellte Pirojil mit einem finsteren Blick in seine Richtung fest. Kethol verkniff sich eine Erwiderung. Sein letzter Versuch, sich etwas auszudenken, war sehr erfolgreich gewesen - immerhin hatte er die Truppen der Barone abgelenkt und Lady Mondegreen vielleicht sogar die Gründe geliefert, die sie offensichtlich gebraucht hatte, um Verheyen und Morray miteinander zu versöhnen. Er hätte gerne noch die Gelegenheit gehabt, sie das zu fragen. Andererseits, wenn es denn so war - und Durine und Pirojil wären sicher dieser Ansicht -, dann hatte genau diese Ablenkung auch zu dem Angebot von Baron Morray geführt, und Pirojil und Durine waren immer noch wütend auf Kethol, weil er das Angebot nicht umgehend abgelehnt hatte.
Es war also das Beste, den Mund darüber zu halten, ob er nun dumm gewesen war oder nicht. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wie die beiden anderen das sehen würden. Inzwischen ... »Wie lange werden wir wohl Zeit haben?« »Ein paar Stunden«, erwiderte Pirojil. »Es sei denn, wir haben schrecklich viel Glück. Baron Morrays Leute sind ihm sehr ergeben, und es sind auch zu viele Mondegreens hier. Ihre Herrin liegt tot in ihrem Zimmer, und der Schuldige an beiden Verbrechen muss da unten in der Großen Halle sitzen.« »Tom Garnett hat die Morrays und Mondegreens ausgeschickt, um sich zum nächsten Dorf durchzuschlagen - das war eine gute Idee.« »Ja. Deshalb haben wir es noch nicht mit einer Schlacht zu tun, die überall in den Straßen tobt.« 280 Es wäre nicht das erste Mal, dass Fehden zwischen Baronen zu einem offenen Bürgerkrieg geführt hätten - man könnte ja mal die Bewohner der Verräterbucht darüber befragen. »Ich hoffe«, sagte Pirojil, »dass eine Gruppe nach Kernat im Norden oder Vendros im Süden durchkommt, aber diese Dörfer liegen meilenweit von der Stadt entfernt, und ich bezweifle, dass die Männer es schaffen, besonders, da sie unter dem taillenhohen Schnee wohl nicht mal die Straßen finden können.« Er starrte einen Augenblick ins Leere. »Wahrscheinlich wäre es das Beste, Tom Garnetts und Kellys Kompanien auszuschicken und die eine oder die andere Seite einfach niederzumetzeln - aber ich fürchte, der Schwertmeister wird sich weigern, einen solchen Befehl zu geben.« »Wäre auch ein schlechtes Vorbild«, sagte Durine. »Das könnte dazu führen, dass sie anfangen, Söldner zu töten statt sie zu bezahlen.« »Da hast du Recht. Aber diese Geschichte, dass Morray und Verheyen Frieden schließen wollten, wird den Männern ziemlich unglaubwürdig vorkommen -« »Glaubst du es etwa auch nicht?« »Ich schon, aber ich nehme nicht an, dass es auf die Männer von Morray und Mondegreen besonders überzeugend wirken wird, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie anfangen, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, oder die Männer des Grafen ihnen ein bisschen zu sehr zusetzen.« Einen Kampf anzufangen war leicht; ihn aufzuhalten, noch bevor er begonnen hatte, war schwierig; einen bereits begonnenen Kampf noch abzubrechen, war beinahe unmöglich. Kethol nickte. »Also sollten wir lieber machen, was man uns aufgetragen hat rausfinden, wer es war, und zwar schnell.« Durine nickte. »Womit wir wieder vor der Frage nach dem Wie stünden.« Kethol sah Pirojil an.» Wie ist für gewöhnlich deine Spezialität.« Pirojil hob abwehrend die Hände. »Bei so was? Das ist nicht meine Spezialität. Damit kennt sich überhaupt niemand aus.« Er 281 schloss einen Moment die Augen. Nach einer Weile sagte er: »Man könnte damit anfangen, sich mehr Informationen zu beschaffen.«
»Zum Beispiel«, sagte Durine, »könnten wir in der Burg herum- laufen und jeden fragen: entschuldigt bitte, Mylord, aber habt Ihr zufällig letzte Nacht ein paar Kehlen durchgeschnitten?Viztria< ist eine Zusammenziehung eines alten delkianischen Ausdrucks, der >dunkle Schlange< oder >schwarze Schlange< bedeutet, ein Spitzname des Gründers der Familie, der sich sowohl auf die relativ dunkle Hautfarbe dieses Mannes bezieht, die ich, der gegenwärtige Baron Viztria, nicht vollkommen geerbt habe, als auch auf andere beeindruckendere anatomische Charakteristika, die ich ganz sicher geerbt habe - danke der Nachfrage -, weshalb ich bei der Königlichen Heraldik-Gilde einen Antrag eingereicht habe, eine schwarze Python zu meinem Wappen hinzufügen zu dürfen!« Pirojil nickte schweigend. Nachdem er sich erleichtert hatte, war Viztria in sein Schlafzimmer gegangen und hatte sich schneller seiner Kleidung entledigt, als es selbst die fünfzehnjährige Tochter eines Adligen aus Rillanon mit ihrem ersten Ballkleid in einer geschlossenen Kutsche schaffen würde, und war eingeschla301 fen, sobald sein Kopf das Kissen berührte, und falls es nun keine weiteren beleidigenden Fragen gab, wäre es ihm sehr recht, wenn der Hauptmann nun einen anderen beleidigen würde ... Pirojil war ziemlich erleichtert, Viztria hinter sich lassen zu können, und winkte Milo und dem Zwerg zu, ihm in eine Nische der Großen Halle zu folgen. In der Nische stand ein Tisch, den die Diener benutzten, wenn der Graf einen Empfang veranstaltete, aber im Augenblick war sie ansonsten leer. »Du hast nach uns geschickt, Hauptmann?«, fragte Milo, als ob da noch eine Unklarheit bestünde. »Wenn er es nicht war, dann gibt es da einen Soldaten, dem demnächst ein paar Zähne fehlen werden«, sagte Mackin. »Ja, ich habe nach euch geschickt.« Pirojil lehnte sich gegen den Tisch. »Ich habe Zeit bis zum Mittag, um diesen Adligen Fragen zu stellen -« »Über die Morde?«, fragte der Zwerg.
»Nein, über ihre Lieblingsblumen.« Milo brachte seinen Kameraden mit einem kurzen Schlag auf den Hinterkopf zum Schweigen. Mackin wollte gerade gegen diese Behandlung Einspruch erheben, als Pirojil sagte: »Ja, über die Morde. Ihr habt also davon gehört?« »Scheiße, Hauptmann«, sagte Mackin, »das hat doch jeder gehört, sogar diese armen Schweine, die da draußen im Schnee rummarschieren, nachdem Kelly und seine Männer einen Trupp von ihnen heute früh aus dem Tor hinausgescheucht haben.« Milo nickte. »Ja. Wir haben gehört, dass sie dich und die beiden anderen damit beauftragt haben herauszufinden, wer die zwei ins Jenseits befördert hat.« Sein Lächeln schien beinahe echt. »Besser ihr als ich, wie?« »Ja, das habt ihr richtig gehört.« »Nun, es kommt mir so vor, als solltet ihr lieber schnell arbeiten, denn die Morrays kennen ihren Kandidaten bereits, und die Verheyens können sich noch nicht so recht entscheiden, ob sie sich in die Hose scheißen oder wütend werden sollen.« Er rieb Dau302 men und Zeigefinger gegeneinander. »Und ein paar andere haben ebenfalls eine tote Lady und einen toten Kämmerer zusammenzählen können und angefangen, sich Gedanken zu machen, ob unsere edlen Auftraggeber wohl zu dem Schluss kommen werden, dass es leichter ist, unsereinen umzubringen als auszubezahlen.« Pirojil hob die Hand. »Darüber braucht ihr euch keine Gedanken zu machen«, sagte er. »Darum kümmert sich jemand.« Ein Offizier musste in der Lage sein, seine Männer anzulügen und ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung war. Wie man mit dem Problem der Schatzkammertür umging und wer sich darum kümmerte, war im Augenblick für Pirojil zweitrangig, obwohl es schon praktisch wäre, wenn Kethol zufällig in Baron Morrays Gemächern den magischen Satz fände, der einem Zugang zur Schatzkammer verschaffte. Der Graf von LaMut und sein Vorgänger waren keine Idioten gewesen und hatten sicher Vorsichtsmaßnahmen für den Fall getroffen, dass die wenigen Mitwisser des Zauberspruchs getötet würden, und hatten sicher einen Plan, um mit solchen Situationen fertig zu werden. Pirojil gefiel seine eigene Theorie, dass der Zauberspruch irgendwo in Baron Morrays Gemächern aufbewahrt wurde, obwohl er ihn vermutlich nicht mal erkannt hätte, wenn er ihn direkt vor der Nase hatte, und er hätte ihn auch nicht ausprobieren wollen, selbst wenn er ziemlich sicher war, dass er den Richtigen erwischt hatte. , Wahrscheinlich würde der Schwertmeister wissen, wo sich dieser Spruch befand, aber es war noch wahrscheinlicher, dass Steven Argent es nicht sonderlich zu schätzen wüsste, wenn man ihn darauf ansprach, denn im Augenblick war das Bezahlen der Männer sicher nicht sein größtes Problem. Pirojil wandte sich an den Zwerg. »Mackin, ich möchte, dass du die Hauptleute zusammenbringst - alle - und dir von jedem in allen Einzelheiten beschreiben lässt, was sie gestern Abend und gestern Nacht gemacht haben.« »Geht nicht.« Mackin schüttelte den Kopf. »Vier von ihnen sind draußen vor der Stadt.« 303
»Dann hol den Rest zusammen, auf meinen Befehl - und jeder, der damit Probleme hat, kann direkt zum Schwertmeister gehen. Ich denke, das wird sie dazu bringen, sich anständig zu benehmen. Sie können runter zu dir in den Kerker kommen. Tom Garnett bewacht dort unten Erlic, und ich hätte sie gerne alle dort.« »Hauptleuten Befehle geben, wie?« Der Zwerg grinste übermäßig breit. »Daran könnte ich mich gewöhnen.« »Lieber nicht.« Milo neigte den Kopf leicht zur Seite. »Und ich?« »Warte einen Moment. Mackin, wieso steht du noch hier?« Der Zwerg warf Pirojil einen langen Blick zu, der förmlich heraus- schrie, dass sie darüber noch sprechen würden, später und unter vier Augen, und dass Pirojil die Ergebnisse dieser Diskussion nicht gefallen würden. Pirojil hatte genug leere Drohungen gehört, um nicht darauf zu reagieren. Mackin zuckte mit den Achseln und ging davon. In Pirojils Hinterkopf begann sich eine Idee herauszubilden. Aber zunächst musste er -. »Also?«, fragte Milo, nachdem der Zwerg weg war. »Wird Mackin alleine mit den Hauptleuten fertig?« »Woher soll ich das wissen?« Milo schüttelte den Kopf. »Es ist schließlich nicht so, als würde er sich mit diesen Dingen auskennen, Pirojil. Das Gleiche gilt auch für mich, und -« »Und ebenso für mich, Durine und Kethol. Du hast wirklich einen guten Blick für das Offensichtliche. Also: Zum einen kannst du zu Mackin gehen, ihm bei den Hauptleuten helfen und dafür sorgen, dass er keinen Streit anfängt. Bringt sie dazu, über das zu reden, was letzte Nacht passiert ist. Wenn du denkst, dass er den Bogen raus hat, kommst du wieder rauf und hilfst mir mit den Adligen - sieh zu, ob du aus Viztria noch etwas Nützliches herausholen kannst; mir ist das nicht gelungen.« Um die Mundwinkel des Söldners begann es zu zucken. »Also gut. Nicht, dass ich wüsste, was ich fragen soll.« »Glaubst du denn, ich weiß es?« Milo lächelte. »Man kann schließlich immer hoffen.« Das Lä304 cheln wurde dünner. »Du sagtest >zum einenIch habe Baron Morray und Lady Mondegreen umgebracht, ha ha haSpuren< gibt, oder du weißt jemanden, aus dem ich etwas herausprügeln könnte?« Kethol schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann los«, sagte Durine und machte eine fegende Bewegung mit den Fingern. »Ich muss noch zum Abort, und dann komme ich nach.« Er hob warnend den Finger.
»Du kannst Pirojil von den Brezeneden erzählen, aber sprich nicht über diese andere Sache«, sagte er. »Er hat schon genug im Kopf, und wir wissen, dass es da oben Geheimgänge gibt - die Wände könnten Ohren haben.« Kethol erwähnte die Sache mit dem Tsurani-Späher nicht, aber das hätte er ebenso gut gleich tun können, sobald er von den Brezeneden erzählte. Pirojil lehnte sich zurück, die Hände über dem Bauch gefaltet, und nickte dann. Sehr schlau, formte er mit den Lippen. Dann fügte er leise hin316 zu: »Wenn wir hier fertig sind, könntest du dann drei neue Paare herstellen? Und wie lange würde das dauern?« Durine hatte das Gleiche gefragt. Kethol nickte. »Nicht lange. Ein paar Stunden vielleicht.« Es gab unten im Keller, wo alle erdenklichen Dinge für den Fall einer Belagerung aufbewahrt wurden, sicher genug Holz und Leder, und falls er keine passenden Schnüre fand, konnte er sie immer noch aus einer Kuhhaut schneiden. Der Offiziersraum, den man ihnen nach ihrer Beförderung in der Unterkunft zugewiesen hatte, hatte eine kleine Feuerstelle, und der Teekessel würde genügend Dampf liefern, um das Holz zu biegen. Die Brezeneden würden vielleicht nicht so elegant sein wie die, die der Pfadfinder hergestellt hatte, aber es war möglich. Er brauchte nur die passenden Holzleisten, musste sie zurechtbiegen und dann das Netz aus Lederschnüren knüpfen. »Warum?« »Aus dem offensichtlichen Grund.« Pirojil nickte. »Ich denke, es wäre vielleicht eine gute Idee, LaMut zu verlassen, bevor der Schnee schmilzt, jetzt, da es warm genug ist, sich längere Zeit draußen bewegen zu können, und -« Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Aber ich lasse mich ablenken. Was hast du in Lady Mondegreens Zimmer gesehen?« Kethol erzählte es ihm so genau, wie er konnte. Pirojil unterbrach ihn nicht, außer um ihn zu bitten, etwas noch näher zu erklären. Nicht, dass es viel zu erklären gab: Die beiden Toten waren tot, sie waren von jemandem getötet worden, der schnell war und mit der Waffe umgehen konnte, und nichts, was Kethol gefunden hatte, erinnerte auch nur vage an eine Spur. Fantus schien den Bericht jedoch zu genießen; er war kurz nach Kethol aufgetaucht, und Kethol hatte nicht einmal gesehen, aus welcher Richtung er gekommen war. Nicht, dass das zählte; Kethol zog einfach sein Messer und kratzte damit die Augenwülste des Drachen, während er weitersprach, und Fantus reckte den Hals und schmiegte sich gegen Kethols kraulende Bewegung. Ein Feuerdrache war eigentlich recht angenehme Gesellschaft, obwohl Kethol nie zuvor von ei317 nem zahmen gehört hatte. Wenn sie jemals ihre Schänke zu den Drei Schwertern bekommen würden, würde er versuchen, einen zu fangen und zu zähmen. Aber die Gedanken an diesen noch weit in der Ferne liegenden Tag hielten ihn nicht davon ab, weiter Bericht zu erstatten. Erst, als es an der Tür klopfte, verstummte er. »Ja?«
Ereven kam mit einem Tablett herein. Wie er den Türknauf bediente, obwohl er die Hände voll hatte, war Kethol ein Rätsel, aber er fragte nicht. Jeder Beruf hatte das Recht auf ein paar Geheimnisse. »Ihr habt darum gebeten, das Mittagessen hier einzunehmen?«, fragte Ereven, und nur ein Hauch von Missbilligung darüber, dass diese Eindringlinge die Gemächer des Schwertmeisters wie ihre eigenen benutzten, schwang in seiner Stimme mit. »Ja, und ich habe auch nach Mackin geschickt.« »Der Zwerg, Sir?« »Ja, der Zwerg. Sorgt bitte dafür, dass er hier herauffindet.« »Jawohl, Sir.« Durine kam herein, als der Oberste Diener gerade wieder ging, und setzte sich neben die Feuerstelle. »An diese Bequemlichkeit könnte ich mich gewöhnen«, sagte er. »Schade.« »Ja.« Pirojil zwang sich zu einem Lächeln. »Wirklich schade.« Er griff nach einem Stück Brot mit Fleisch und kaute einen Augenblick nachdenklich. »Also gut, ich -« Es klopfte erneut an der Tür, und Mackin kam herein, ohne auf Erlaubnis zu warten. Er nickte Kethol und Durine knapp zu und baute sich dann vor Pirojil auf. »Ich gehe davon aus«, sagte Pirojil, »dass der Schwertmeister immer noch mit den anderen unten ist.« Mackin nickte. »Da er offensichtlich nicht hier ist, ist diese Schlussfolgerung kein sonderlich bestechender Beweis deiner Klugheit.« »Nein, aber dass ich außerdem noch weiß, dass du weißt, dass er nicht hier ist denn sonst wärst du nicht einfach so hier herein318 gestürmt -, ist schon überzeugender, oder?« Da Pirojil saß, war er beinahe auf Augenhöhe mit dem Zwerg. »Und Milo redet immer noch mit den Adligen?« Mackin nickte. »Ja. Er ... als ich ihn zum letzten Mal sah, war er gerade dabei, sich intensiv mit Folson zu unterhalten, der sich offenbar nicht so sehr an all diesen Fragen stört wie die anderen. Obwohl alle ziemlich angespannt sind. Als Milo ein Weinglas fallen ließ, war jeder einzelne Adlige auf den Beinen, und mehrere Wachen kamen angestürzt.« Der Zwerg lächelte. Ihm gefiel es, dass die Adligen so nervös waren. »Hast du irgendwas Nützliches rausgefunden?« »Nein. Aber ich wusste natürlich auch nicht, wonach ich fragen sollte, wenn man mal von >Habt Ihr zufällig letzte Nacht ein paar Kehlen durchgeschnitten?< absieht. Hattest du wirklich etwas erwartet?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber ich habe noch eine Aufgabe für dich. Etwas, was du ganz sicher tun kannst.« »Ja?« »Hol eine Schaufel und überprüfe die Misthaufen unter jedem Aborterker. Du brauchst nicht allzu tief zu graben.« »Soll das ein Witz sein?« Der Zwerg fand das gar nicht komisch. »Wonach soll ich denn suchen?« »Nach einem blutigen Lappen oder Tuch - vielleicht nach einem Hemd. Ein Stück Stoff mit ein paar langen Blutstreifen darauf.« »Und du glaubst, dass ich es dort finden werde?«
Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Aber du wirst danach suchen, und du wirst hinterher sagen können, dass du danach gesucht hast. Wenn du fertig bist, komm wieder her und erstatte mir Bericht.« Er hielt einen Augenblick inne, fügte dann rasch hinzu: »Und wasch dich ein bisschen, bevor du zurückkommst.« »Und dann?« »Und dann kommst du mit Milo wieder zu uns dreien, wenn 319 wir die Adligen um den Tisch in der Großen Halle versammeln, und ...« »Und?« »Und ich den Namen des Mörders nenne.« Mackin sah aus, als wollte er etwas sagen, aber er starrte Pirojil nur einen Augenblick an und grinste schließlich. »Und alles nur, weil es auf den Misthaufen keine blutigen Lappen gibt?« »Mag sein«, erwiderte Pirojil. »Sagst du mir, um was es geht?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sage es nicht einmal Kethol und Durine. Sie werden es zur gleichen Zeit erfahren wie du.« Wieder kurzes Schweigen. »Damit kann ich eventuell leben. Eine Schaufel, wie?« »Geh.« Mackin ging. Als er die Tür schon erreicht hatte, sagte Pirojil: »Und wasch dir den Dreck ab, bevor du zurückkommst.« Über die Schulter rief Mackin zurück: »Ich habe mich schon ein bisschen gewaschen!« Dann verschwand er. Pirojil schaute dem Zwerg hinterher und fragte sich, was seine Definition von »waschen« wohl beinhaltete. Er sah immer noch aus, als hätte er sich in einer Kohlengrube gewälzt, und stank wie ein Abflussrohr. Dann schnaubte Pirojil und kam zu dem Schluss, dass Mackin sich wirklich ein bisschen gewaschen haben musste, denn er hatte nicht schlimmer gestunken als sonst. Pirojil biss noch ein Stück Fleisch ab, dann wandte er sich an Durine. »Ich will, dass du mit Kethol in unser Quartier gehst, und dann könnt ihr an diesen ... diesen Schneeschuh-Dingern arbeiten, von denen er gesprochen hat. Mindestens drei Paar - besser fünf. Ich nehme an, es wird morgen früh ein wenig ungemütlich für uns werden, und wir sollten hier verschwinden, Sold hin oder her. Einverstanden?« »Scheiße, ja«, sagte Durine. »Eine Schande, dass wir das Geld zurücklassen sollen, aber ...« Er griff in sein Hemd und holte ei320 nen vertraut aussehenden Lederbeutel heraus. »Ich habe unseren Sold ohnehin vom Kämmerer geholt, und noch einen kleinen Aufschlag, weil wir solchen Arger hatten. Vielleicht hat Steven Argent andere Vorstellungen, aber ich habe nicht vor, nur wegen ein bisschen Wechselgeld hier zu bleiben.« Pirojil verzog das hässliche Gesicht zu einem Grinsen, aber Kethol war mehr als nur ein wenig angewidert. Er wusste nicht genau, wieso. Es wäre nicht das erste Mal, aber auch nicht das einundfünfzigste Mal, dass sie einem Toten Geld abgenommen hatten. Aber wenn man die Taschen einer Leiche durchkämmte, musste man sie zumindest ansehen ...
den Schreibtisch des Barons einfach zu plündern, war im Vergleich dazu beinahe widerwärtig sauber. Aber ein Mann, der als Söldner arbeitete, konnte sich solche Bedenken nicht leisten, und falls er wirklich sentimental geworden sein sollte, konnte Kethol das für sich behalten. Also nickte er nur. »Sicher«, sagte er. Durine nickte ebenfalls. »Eine letzte Runde im Abgebrochenen Zahn heute Abend?« Auch Pirojil nickte. »Gern.« Kethol schüttelte den Kopf. »Eine letzte Runde, ja. Das war unsere Tradition, immer wenn wir einen Ort hinter uns lassen -« »Außer, wenn wir uns beeilen mussten«, sagte Pirojil mit zustimmendem Nicken. »Ich habe es nicht unbedingt mit Traditionen. Dennoch, es hat uns bisher offenbar Glück gebracht, und ich würde nur ungern -« »Es ist noch genug Wein in der letzten Flasche, aus der der Baron und seine Lady das letzte Glas getrunken haben, und ich ... ich würde gerne an meinem letzten Abend in LaMut auf die beiden anstoßen. Und ich möchte, dass ihr beide euch anschließt.« Die anderen starrten ihn ausdruckslos an, und schließlich sagte Durine: »Also gut, Kethol. Wie du willst.« Er sah Pirojil an. »Wie sicher bist du, was den Mörder angeht?« Pirojil öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn dann wieder. »Ich würde sagen, die Chancen, dass alles so läuft, wie ich 321 möchte, stehen etwa sechzig-sechzig. Schlechter, wenn ich vorher zu viel darüber rede. Sogar mit euch beiden.« »Ach ja?« Durine hob die Augenbrauen. »Dann halt den Mund und tu, was du tun musst, und ich wette, es wird funktionieren.«
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Antworten
Es war still in der Halle. Zu still. Zumindest war Steven Argent dieser Ansicht, obwohl er es für sich behielt. »Ich möchte Euch bitten, Euch am Tisch niederzulassen, meine Herren«, sagte Pirojil. »Und gleich werde ich noch eine Bitte an Euch richten, und ich hoffe, dass alle ihr Folge leisten.« »Wenn Ihr etwas wisst, dann hört auf, um den heißen Brei herumzureden. Raus damit!«, fauchte Viztria und machte einen raschen Schritt auf Pirojil zu. Steven Argent trat dem Baron in den Weg. »Ich denke, Baron Viztria, dass es das Klügste wäre, zu tun, um was Hauptmann Pirojil Euch bittet - und sei es nur, weil seine Bitten im Augenblick meine Befehle sind, und bis Graf Vandros zurückkehrt, sind meine Befehle in dieser Burg das Gesetz.« Viztria sah aus, als wollte er etwas sagen, und Steven Argent hatte noch nicht entschieden, wie er damit umgehen würde, aber das brauchte er am Ende auch nicht, weil der kleine Mann mit dem Frettchengesicht schließlich doch den Mund zuklappte und sich wieder hinsetzte.
Die einzigen Geräusche, die die Stille störten, waren das Knistern des Holzes in der Feuerstelle und das Schleifen der Stühle auf dem Boden, als sich die versammelten Adligen an den langen Tisch setzten, wie Pirojil es wollte. 323 Steven Argent schaute von einem zum anderen und verspottete sich lautlos dafür, dass er einen Augenblick lang geglaubt hatte, dass sich vielleicht auf einem dieser Gesichter eine Spur von Schuldgefühlen abzeichnen würde. Pirojil setzte sich an den Kopf des Tisches und bat den Schwertmeister mit einer Geste, sich rechts neben ihm niederzulassen. Baron Langahan setzte dazu an, sich zu Pirojils Linker niederzulassen, aber der Söldner schüttelte den Kopf. »Es wäre mir lieber, wenn Ihr Euch weiter unten hinsetzt, Mylord. Wenn es Euch nichts ausmacht.« In der Großen Halle befanden sich nur Pirojil und die Adligen. Durine und Kethol waren anderswo - Pirojil hatte sich darüber nur vage geäußert -, und der Zwerg und dieser Söldner mit den wässrigen Augen, die Pirojil ausgeholfen hatten, waren unten im Kerker bei den Hauptleuten und den Wachsoldaten, die bis auf die Wachen auf den Mauern alle dort zusammengerufen worden waren. Selbst die Diener waren allesamt in die Küche geschickt worden, wo Ereven auf sie aufpasste und Befehl hatte, sie dort zu behalten, bis man nach ihnen schickte. Steven Argent wusste nicht genau, was Pirojil vorhatte, aber was immer es war, es wäre sicher das Beste, wenn niemand außerhalb dieses Raumes davon erfuhr, bis er die Gelegenheit gehabt hatte zu entscheiden, was darüber an die Öffentlichkeit gelangen sollte. »Der nächste Punkt...« Pirojil wandte sich Steven Argent zu. »Schwertmeister, wenn Ihr bitte so freundlich sein würdet, die Waffe zu ziehen. Ich fürchte, jemand könnte versuchen, mich zu unterbrechen, und ich überlasse es Euch zu entscheiden, ob Ihr das gestatten oder verhindern wollt.« »Ich bin überzeugt -«, begann Viztria, aber der Schwertmeister schnitt ihm das Wort ab. »Ich bin überzeugt, dass ich imstande bin, mit jeder Art von Unterbrechung zurechtzukommen«, erklärte Steven Argent, stand auf und zog sein Rapier. »Und falls jemand dumm genug ist, aufzuspringen und sich auf Hauptmann Pirojil zu stürzen, 324 werde ich den Betreffenden in Stücke schneiden, bevor er auch nur drei Schritte gemacht hat.« »Interessante Ausdrucksweise - >in Stücke schneiden«^ sagte Pirojil und nickte. »Gar nicht so einfach mit einem Rapier - obwohl ich noch keinen besseren Schwertkämpfer gesehen habe als Euch, Mylord, und ich bezweifle nicht, dass Ihr jeden hier aufspießen könntet, bevor er auch nur einen Schritt macht.« Argent nickte zustimmend. »Danke, Schwertmeister«, sagte Pirojil und wandte sich dann wieder an die versammelten Barone. »Wir werden eine Weile hier sein, und ich möchte, dass es sich alle bequem machen, obwohl ich glaube, dass jemand hier ist, der sich nicht allzu behaglich fühlt, und aus diesem Grund würde ich mich wohler fühlen, wenn
Ihr alle Eure Schwertgurte abnehmen und sie vor Euch auf den Tisch legen würdet. Jetzt gleich, wenn es Euch recht ist - oder sogar, wenn es Euch nicht recht ist.« Mehrere Barone schauten erst einmal Steven Argent an, aber dann schnallten alle ihre Schwertgurte ab, und schließlich lag ein Dutzend davon auf der Platte des alten Eichentischs. »Danke«, sagte Pirojil. »Ich werde einige Zeit reden müssen -ich denke, Ihr werdet alle bald verstehen, warum -, und es wird schneller gehen, wenn ich nicht unterbrochen werde, obwohl natürlich der Schwertmeister hier das Sagen hat und ich diese Ansprache nur halten darf, weil er es duldet. Fangen wir am Ende an und bewegen uns rasch rückwärts zum Anfang. Das Ende: In der vergangenen Nacht hat jemand Baron Morray und Lady Mondegreen umgebracht. Der Anfang: Vor etwas mehr als einer Woche hat Graf Vandros von LaMut drei Söldner - mich selbst und meine Kameraden Durine und Kethol - beauftragt, für die Sicherheit von Baron Morray zu sorgen, nachdem es zu einer Reihe seltsamer Unfälle gekommen war, die ein misstrauischer Mann vielleicht als eine Reihe von Mordversuchen hätte deuten können. Wir haben diesen Auftrag ausgeführt, und bis auf einen Hinterhalt der Tsuranis in Mondegreen ist nichts Außergewöhnliches passiert. 325 Ich denke, dass der Verdacht, den der Graf hatte, durchaus gerechtfertigt war, aber am Ende kam nichts dabei heraus. Während des Krieges hat Baron Morray viel Zeit in LaMut verbracht, und ich denke, wenn ihn jemand hier wirklich tot sehen wollte, hätte er das schon längst erledigt. Ich glaube nicht an eine Verschwörung, die nur aus ein paar fehlgeschlagenen Versuchen -ein Blumentopf, der von einer Fensterbank fällt, was genauso gut vom Wind verursacht sein könnte; Eis auf der Treppe, was im Winter nichts Ungewöhnliches ist; selbst sein Sattelgurt, der durchgescheuert war - und einem Tsurani-Angriff bestand. Also schloss ich, dass die Tsuranis überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten und die Unfälle, nun ja, eben Unfälle waren. Manchmal passiert so etwas eben. Aber es sieht so aus, als hätten die Unfälle und der Verdacht, der durch sie aufkam, jemanden auf eine Idee gebracht. Jemanden, der sehr schnell und sehr schlau ist.« »Das reicht jetzt, Mann! Wenn Ihr etwas zu sagen habt, dann spuckt es einfach aus.« Verheyens Lippen waren vollkommen blutleer. Bevor Steven Argent sich einmischen konnte, nickte Pirojil. »Oh, ich habe viel zu sagen, Mylord, und ich werde schneller dazu kommen, wenn man mich weniger unterbricht. Aber hier sitzen viele kluge Männer, von denen viele durch Baron Morrays Tod etwas zu gewinnen hatten.« Er wandte sich Baron Folson zu. »Nehmt Euch selbst einmal als Beispiel, Mylord. Einer Eurer Hauptleute - Hauptmann Ben Kelly ist, glaube ich, Befehlshaber Eurer Truppe? - glaubt, Ihr würdet einen sehr guten Grafen von LaMut abgeben, sobald Graf Vandros Herzog ist; und bis Baron Morray und Baron Verheyen gestern Abend Frieden geschlossen hatten, bestand für Euch immer noch eine Chance dazu.« Er hob die Hand, um Widerspruch abzuwehren, obwohl Argent bemerkte, dass Folson einfach ruhig sitzen blieb und gar nichts unternahm. »Das Gleiche trifft auch auf Baron Benteen zu und auf die
anderen hiesigen Barone, die alle, wie ich vermute, der Ansicht sind, dass sich Ihr edles Hinterteil recht gut auf dem Stuhl des 326 Grafen ausnehmen würde - und vielleicht in vielen Fällen aus gutem Grund.« »Das macht mich aber noch lange nicht zu einem Mörder«, sagte Benteen. »Nein, Mylord, selbstverständlich nicht. Es macht Euch jedoch zum Nutznießer eines Mordes, so wie viele hier Grund hatten, Baron Morray den Tod zu wünschen. Die meisten haben sich von diesem Wunsch offensichtlich nicht zu einer Tat hinreißen lassen, aber es ist immerhin vernünftig anzunehmen, dass der Mörder wirklich ebenfalls einen Grund hatte und nicht einfach nur mitten in der Nacht aufwachte und beschloss, zur Übung einmal zwei Kehlen durchzuschneiden. Wenn ich jetzt fortfahren dürfte?« Pirojil hörte keinen Einspruch und erklärte: »Baron Verheyen scheint der Einzige unter den hiesigen Baronen zu sein, der kein Motiv hatte - zumindest nicht mehr. Immerhin wissen wir alle, dass er und Baron Morray gestern Abend zu einer Übereinkunft kamen, und ich persönlich denke, dass Baron Morray zu seinem Wort gestanden und seinem ehemaligen Feind seine volle Unterstützung gegeben hätte, wie er geschworen hatte.« Verheyen lehnte sich zurück und nickte. »Ja, er war ein Mann, der zu seinem Wort stand; das ist eine Tatsache, der niemand widersprechen wird.« Pirojil lächelte. »Diese Äußerung ist wahrscheinlich eher eigennützig als großzügig von Euch, Mylord. Immerhin hättet Ihr glauben können, dass Baron Morray dem Grafen leise etwas anderes zuflüstern würde, als er öffentlich erklärt hatte ... das hätte Euch durchaus schaden können. Oder wenn Ihr glaubtet, dass Lady Mondegreen ihren zukünftigen Gemahl für einen besseren Kandidaten für den Titel des Grafen hielt - vergessen wir nicht, dass der Baron in ihrem Bett gefunden wurde -, dann hätte sie vielleicht ihre beträchtlichen Überzeugungskräfte bei Graf Vandros eingesetzt, und nicht zu Eurem Nutzen.« Er kniff für einen Moment die Augen zusammen, dann fuhr er fort: »Ich denke, wir sind uns einig, dass Lady Mondegreen sehr überzeugend sein konnte.« 327 Steven Argent hoffte, dass seine Ohren nicht so heiß und rot aussahen, wie sie sich anfühlten, aber alle starrten ohnehin Pirojil an und nicht ihn. »Also wollen wir Lord Verheyen als Verdächtigen noch nicht vollkommen ausschließen, wenn wir uns auch vorher den Baronen Viztria und Langahan zuwenden. Oder sollten wir uns erst um den Schwertmeister kümmern?« Er nickte, dann schaute er Steven Argent an. »Tun wir das. Jeder hier hat Gerüchte gehört, dass Steven Argent eine Affäre mit Lady Mondegreen hatte, und ich werde den Schwertmeister nicht in Verlegenheit bringen, indem ich frage, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprechen. Wenn er es abstreitet, würde das unter den Umständen vielleicht nicht geglaubt werden, da wir zweifellos von jemandem, der mordet, auch erwarten können, dass er lügt; und es zuzugeben würde ihn demütigen. Ein wahrer Edelmann spricht, soweit ich weiß, ohnehin nicht über solche Dinge.« »Ihr könnt doch nicht glauben, dass es der Schwertmeister war, oder Ihr seid sogar noch dümmer, als Ihr unverschämt seid«, höhnte Viztria. »Wenn Ihr Steven Argent
für den Mörder haltet, dann seid Ihr ein Idiot, ihm als Einzigem hier in der Halle seine Waffen zu lassen.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Oder ich will ihn vielleicht verlocken, mich anzugreifen und dadurch seine Schuld zu beweisen. Zu solcher Tücke bin ich durchaus fähig«, erklärte er. »Und was die Behauptung angeht, dass er der einzige bewaffnete Mann hier ist, bin ich da nicht so sicher.« Wo es hergekommen war, hätte Steven Argent nicht sagen können, aber Pirojil hatte plötzlich ein Messer in der Hand, und es sah aus wie ein Wurfmesser. »Wie dem auch sei«, fuhr der Söldner fort, schaute nach unten und fing an, sich mit der Messerspitze den Daumennagel zu säubern, »lassen wir uns nicht ablenken, und wenden wir uns den Baronen Viztria und Langahan zu, die allen Grund haben, jeden einzelnen Baron in LaMut in ein schlechtes Licht zu rücken - ebenso wie den Grafen selbst -, um den Einfluss und die Autorität des 328 Vizekönigs Guy du Bas-Tyra zu mehren, auf Kosten des Herzogs von Yabon, der nach Ansicht des Vizekönigs zu eng mit Herzog Borric von Crydee verbündet ist, dem Guy du Bas-Tyra, wie wir alle wissen, nun wirklich nicht zugetan ist. Wenn nun einer von Graf Vandros' Baronen von einem anderen Baron umgebracht wird, und das auch noch unter dem Dach des Grafen, und der Mörder nicht gefunden werden kann - würde das nicht bedeuten, dass der Graf nicht geeignet ist, Herzog zu werden, ganz gleich, wen er heiratet? Es ist durchaus schon vorgekommen, dass ein Herzog einem unfähigen Baron Titel und Amt nimmt, und obwohl ich mir vorstellen kann, dass ein Prinz oder Vizekönig nur ungern einen Herzog absetzt, könnte man durchaus erwarten, dass Guy du Bas-Tyra nie erlauben würde, dass Graf Vandros von LaMut jemals Herzog Vandros von Yabon wird, wenn man annehmen muss, dass einer seiner Barone ungestraft mit einem Mord davonkam.« Langahans Miene war ungerührt. »Irgendwann später, Hauptmann Pirojil, werden wir beide vielleicht Gelegenheit haben, Eure Respektlosigkeit gegenüber dem Vizekönig zu diskutieren, der das, was Ihr da andeutet, niemals gutheißen würde.« Pirojil zuckte mit den Achseln, ohne dabei den Blick von der Messerspitze abzuwenden, mit der er nacheinander all seine Fingernägel bearbeitete. »Vielleicht nicht. Wenn er davon wüsste. Aber er wäre tatsächlich ein seltsamer Herrscher, wenn er eine Gelegenheit nicht nutzen würde, die sich ihm bietet, oder?« Er blickte auf. »Also. Wir wissen, dass jeder in diesem Raum zumindest Grund hatte, sich von Baron Morrays Tod einen Vorteil zu erhoffen, und dabei haben wir noch nicht einmal darüber nachgedacht, dass das wirkliche Ziel der Morde auch Lady Mondegreen gewesen sein könnte und dass einer ihrer Geliebten - wenn sie denn tatsächlich andere Geliebte hatte - vielleicht der Ansicht war, sie wäre ihm tot lieber als warm und lebendig in den Armen eines anderen Mannes.« Argent schwieg und rührte sich nicht. Ja, seine Affäre mit Carla hatte durchaus intensive Augenblicke 329 gehabt, aber er hatte immer gewusst, dass er nicht der Einzige war, und so gern er sie gehabt hatte, es gab keinen Grund, ihr übel zu nehmen, dass sie sich für Morray entschieden hatte. Er hatte immer gewusst, dass es irgendwann dazu kommen
würde, und war andererseits nicht einmal sicher, ob ihre Beziehung mit ihrer Heirat mit Morray wirklich ein Ende gefunden hätte; Carla Mondegreen hatte der sehr östlichen Ansicht angehangen, dass Treue in der Ehe mehr eine Anregung als ein ehernes Gesetz darstellte. Und selbst wenn sie ihm gefehlt hätte, selbst wenn er nie wieder ihr Parfüm hätte riechen dürfen, während sie in seinen Armen lag, selbst wenn die Vorstellung, dass sie im Bett eines andern lag, ihn gepeinigt hätte - was nicht der Fall gewesen war -, hätte er sie dafür umgebracht? Niemals. »Also bewegen wir uns weiter, und bedenken wir die Frage der Gelegenheit. Lasst uns einmal vollkommen hypothetisch annehmen, dass es der Schwertmeister selbst war, der beschlossen hat, die beiden umzubringen, und sich also aus seinen Gemächern im Adlerhorst nach unten geschlichen hat, ein verborgenes Messer am Körper versteckt und Mord im Sinn. Dann wäre es doch ein recht seltsamer Zufall gewesen, dass der Wachposten gerade schlief, nicht wahr? Es sei denn, der Schwertmeister hat das selbst mit dem Mann arrangiert, und die Behauptung, dass Erlic eingeschlafen ist, war eine Verschwörung zwischen den beiden. Das ist jedoch nicht der Fall.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Mein Freund Durine hat seine ganz eigene Art, ebenfalls sehr überzeugend zu sein, und er ist sicher, dass Erlic, der im Augenblick unten im Kerker eingesperrt ist, so entsetzt über diese beiden Morde ist wie jeder andere. Nein. Es war im Gegenteil der schlafende Wachposten, der einen Wunsch zu einer Gelegenheit werden ließ, und dazu musste der Mörder zunächst einmal die Möglichkeit haben, diesen schlafenden Wachposten überhaupt zu sehen und schnell - sehr schnell; dazu komme ich gleich noch-diese seltene Gelegenheit zu nutzen. Erfüllt Steven Argent diese Voraussetzungen? Die Burg und 330 die gesamte Grafschaft unterstehen seinem Befehl, solange Graf Vandros unterwegs ist, aber es wäre dennoch sehr ungewöhnlich und vor allem auffällig, wenn er sich im Flur vor den Gästezimmern herumtriebe, mit welcher Begründung auch immer, und dabei eine einmalige Gelegenheit erhielte, weil ein Wachposten eingeschlafen ist. Baron Viztria hatte Recht - ich weiß, dass es nicht der Schwertmeister war, und ich bin tatsächlich mehr als dankbar, dass er der einzige andere Mann hier mit einer gezogenen Klinge in der Hand ist. Nein, der Mörder war einer von Euch Baronen, einer der Bewohner des Gästeflügels, einer, dessen Anwesenheit dort keine besondere Aufmerksamkeit erregt hätte, einfach weil er - wie Ihr alle - dort hingehörte.« Er nickte. »In meinem eigenen Beruf habe ich es immer für wichtig gehalten, überraschende Gelegenheiten zu nutzen, und ich muss aus diesem Grund beinahe bewundern, wie der Mörder das getan hat. Er konnte nicht sicher sein, dass der schlafende Wachposten weiterschlafen würde, also musste er bereit sein, auch ihn umzubringen, und zwar schnell, bevor der Mann Alarm geben konnte, und dann schnell in seinem eigenen Zimmer zu verschwinden, nur um dann wieder mit den anderen Baronen, die zu Bett gegangen waren, auf dem Flur zu erscheinen und sich
so überrascht zu geben, wie der Rest tatsächlich war.« Pirojil blickte auf. »Stellt es Euch also vor, meine Herren, wie ich es den ganzen Nachmittag lang getan habe: Der Mörder hört Morray in der Halle und späht in den Flur hinaus. Er sieht, wie der Baron das Zimmer der Baronin betritt. Er denkt über seine Möglichkeiten nach. Er weiß, dass die beiden allein und verwundbar sind. Er wartet. Später schaut er noch einmal nach draußen und bemerkt, dass der Wachposten eingeschlafen ist. Er ergreift die Gelegenheit, zieht sich rasch an -« »Zieht sich an?« Pirojil nickte. »Er kann nicht im Nachtgewand durch den Flur schleichen, nicht mit einem Messer in einer Hand und einem Schwert in der anderen - immerhin würde er das Schwert viel331 leicht brauchen, um den Wachposten auf dem Rückweg umzubringen, falls der Mann aufwachen sollte. Wenn er vor den Morden in so seltsamer Verfassung gesehen wird, wird klar sein, dass er blutige Absichten verfolgt, wenn auch vielleicht niemand genau wissen wird, welche Absichten das sind - und warum sollte er so etwas riskieren? Er ist ein elendes Stück Dreck, wenn ich das hier einmal sagen darf, aber er ist kein Idiot. Wie ich also sagte, er zieht sich an und nutzt die Gelegenheit, durch den Flur zu gehen und die Tür zu Lady Mondegreens Zimmer zu öffnen, nachdem er vielleicht einen Augenblick draußen gelauscht hat, ob sie tatsächlich schlafen. Und dann öffnet er die Tür, sieht sie schlafend im Bett liegen und geht ins Zimmer. Er schließt die Tür wieder hinter sich. Von diesem Punkt an kann er nicht mehr zurück, und er ist zwar schnell mit dem Messer - er wird das demonstrieren, wenn er an ihrem Bett steht -, aber er kann nicht vollkommen sicher sein, ob es ihm gelingen wird, erst eine Kehle und dann die andere durchzuschneiden, ohne dass die Bewegungen des ersten Opfers das zweite wecken. Also zieht er sein Schwert und hält die Spitze über den Kopf des zweiten Opfers, bereit, die Klinge ins Hirn des Opfers zu stoßen, um es zum Schweigen zu bringen, falls der Tod des ersten Opfers ein wenig gewaltsamer und dramatischer wird, als er hofft. Aber er ist nicht nur schnell und geschickt, sondern er hat auch Glück, sein Messer ist sehr scharf, seine Hand ruhig, und ein paar Sekunden später strömt Blut aus den Kehlen von Baron Morray und Lady Mondegreen. Und nun hat er es wirklich eilig. Er hat es getan, und nun muss er wieder in sein Zimmer zurückkehren. Er bläst die Lampe aus - wenn jemand etwas gehört hat und hereinkommt, will er, dass diese Person ihm im Dunkeln ins Schwert läuft; außerdem will er aus offensichtlichen Gründen, dass das Zimmer dunkel ist, wenn er die Tür öffnet und dann ist er wieder an der Tür, öffnet sie einen Spaltbreit, um nachzusehen, ob der Wachposten immer noch schläft, und er hat abermals Glück. 332 Also schleicht er den Flur entlang, das blanke Schwert in der Hand - vergesst nicht, der Wachposten könnte jederzeit aufwachen -, und zurück in sein Zimmer.« Pirojil blickte wieder auf. »Aber ich habe etwas ausgelassen, nicht wahr?«, fragte er lächelnd.
Er wandte sich Baron Langahan zu. »Entschuldigt, Mylord, wärt Ihr bitte so freundlich, Euren Schwertgurt herüberzuschieben?« Langahan tat es, obwohl er kurz zögerte und missbilligend die Stirn runzelte. »Was habt Ihr ausgelassen, Pirojil?«, fragte Steven Argent. »Nun, das Messer, Mylord«, sagte Pirojil und zog das Messer aus Langahans Gurt. Er hob es hoch. Es war die übliche Art von Messer, der Holzgriff vielleicht ein wenig kunstvoller verziert, als es Steven Argent zugesagt hätte, und die einschneidige Klinge glänzend vom Ol und vom Polieren. »Wenn eine Kehle durchgeschnitten wird - und ich kann Euch sagen, damit habe ich einige Erfahrung -, fließt das Blut nicht einfach nur so heraus, es sprudelt. Es wäre wirklich seltsam, wenn die Messerklinge nicht vor Blut getrieft hätte, und vielleicht auch noch die Hand des Mörders. Und er konnte ja wohl kaum mit einem bluttriefenden Messer in der Hand auf den Flur hinausgehen, oder? Wenn er es nicht so eilig gehabt hätte, hätte er ein paar Minuten dazu verwenden können, das Messer ordentlich zu säubern -vielleicht mit der Bettdecke, oder er hätte ein Stück vom Laken abreißen können, aber das hätte ein lautes Geräusch verursacht. Außerdem hat mein Freund Kethol das Zimmer sehr gründlich untersucht, und er hat berichtet, dass keine blutigen Lappen vorhanden waren - nur ein paar Flecken auf dem Laken, wo der Mörder das Messer vielleicht einmal schnell und oberflächlich abgewischt hat, so gut das in ein paar Sekunden eben ging. Stand er im Licht der Öllampe und hat die Klinge sorgfältig und ausführlich gereinigt, sich überzeugt, dass er auch alle Ritzen erreicht hat, und hat er das blutige Tuch dann eingesteckt und mitgenommen?« Pi333 rojil schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass er mit dem Schwert in der linken Hand und dem Messer hinter dem Rücken durch den Flur ging, weil das unweigerlich Flecken auf seiner Kleidung hinterlassen hätte. Er wollte doch sicher das Schwert in die rechte Hand nehmen und die Linke frei haben. Ich gehe also davon aus, dass er mit dem Messer einfach zweimal kurz über das Laken gewischt hat, im Dunkeln, und dann hat er es eingesteckt und es später sorgfältig - sehr sorgfältig, meine Herren - in seinem eigenen Zimmer gereinigt, bis zum letzten Blutfleck. Vielleicht hat er das Tuch, das er dazu benutzt hat, hinterher verbrannt, oder er hat die Klinge im Wasserkrug gereinigt und das blutige Wasser durch den Abort gegossen - oder es vielleicht sogar getrunken, so widerlich das klingt, um die Beweise zu vernichten. Blut ist so ... so schmutzig.« Steven Argent schüttelte den Kopf. »Aber ...« Pirojil nahm Baron Langahans Messer und begann, damit die Scheide aufzuschneiden. »Es tut mir Leid, Baron Langahan, dass ich diese Scheide ruinieren muss.« Er breitete das Leder aus. »Wenn es Baron Langahan gewesen wäre, würden wir hier jetzt Spuren von Blut sehen. Tatsächlich, wenn man sich diese braunen Flecken ansieht -«
»Die sind alt«, sagte Langahan. »Hat nicht jeder einmal ein Messer eingesteckt, obwohl es nicht ganz sauber war?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann mich erinnern, dass ich einmal vor vielen Jahren mit dem Vizekönig zur Jagd war. Wir haben einen Eber erlegt und -« »Ja, Mylord, es ist tatsächlich altes Blut, oder altes Irgendwas.« Pirojil wandte sich Viztria zu. »Ich denke, als Nächstes werde ich Eure Dolchscheide ruinieren, Mylord. Es sei denn, Ihr habt etwas dagegen?« Dieses eine Mal war Viztria sprachlos und schob einfach den Schwertgurt über den Tisch, und Pirojil wiederholte die Prozedur. 334 »Keine Flecken hier, Mylord. Baron Verheyen als Nächster.« Verheyen schnaubte, als er es Viztria gleichtat, und Pirojil schnitt seine Scheide auf, wie er es schon bei den anderen getan hatte. »Interessant, Baron Verheyen«, sagte er und breitete das Leder aus, sodass alle es sehen konnten. »Diese Flecken hier scheinen ziemlich ... frisch zu sein.« Ein höhnisches Grinsen breitete sich auf Pirojils dicken Lippen aus. »Du mörderisches Schwein.« Verheyen war aufgesprungen und riss das Rapier aus Folsons Gurt. »Du verlogener Sack -« »Bleibt, wo Ihr seid, Verheyen«, befahl Steven Argent. »Ihr steht unter Arrest, im Namen des Grafen von LaMut.« Verheyen schüttelte den Kopf. Er war vor Zorn rot angelaufen. »Ich bin unschuldig!«, brüllte er. »Ich bin nicht sicher, was der Mann vorhat, Argent, aber ich werde es schon herausfinden, nachdem ich ihn ein paar Mal verwundet habe.« Er stürzte auf Pirojil zu, der rasch aufgesprungen war und versuchte, sich auf die andere Seite des Tisches zu retten. Steven Argent sprang zwischen sie und schlug das Rapier des Barons mit seinem eigenen beiseite. Pirojil sah zu, wie sich die beiden Männer einander zuwandten, und wartete auf eine Gelegenheit, zur Tür zu rennen. Es war nicht Angst, was ihn dazu trieb, sondern Vorsicht, denn er hatte den Übungskampf zwischen Argent und Verheyen noch gut in Erinnerung, und er wusste, dass der Schwertmeister Glück haben würde, wenn er lebend aus diesem Konflikt herauskam. Sobald er an der Tür war, würde Pirojil nach den Wachen rufen, die den wütenden Baron überwältigen konnten. Das einzige Problem war, dass mehrere Barone zusammengedrängt zwischen Pirojil und der Tür standen. Um an ihnen vorbeizukommen, hätte er sich in Reichweite von Verheyens Schwert begeben müssen. Während er über seinen nächsten Zug nachdachte, ging der Kampf weiter. Pirojil war beeindruckt. Er hatte schon viele Kämpfe gesehen, 335 in Schänken und auf dem Schlachtfeld und mit jeder vorstellbaren Waffe, aber Baron Verheyen war der schnellste Schwertkämpfer, den er je gesehen hatte. Pirojil war sicher, wenn er dem Baron allein gegenübergetreten wäre, hätte er jetzt tot am Boden der Großen Halle gelegen. Er war nicht einmal sicher, ob er zusammen mit Durine und Kethol gegen ihn eine Chance gehabt hätte.
Argent und Verheyen tauschten die Schläge schneller aus, als Pirojil es für möglich gehalten hätte. Die konzentrierte Miene des Schwertmeisters machte deutlich, dass er sich überfordert fühlte. Dennoch bedrängte er seinen Gegner weiter. Er war vielleicht nicht ganz so schnell wie der Baron und auch nicht so geschickt mit der Klinge, aber er war erheblich geübter, und Erfahrung zählte viel, wenn es um Leben und Tod ging. Sie griffen an, wehrten ab und zogen sich wieder zurück, ohne sich dabei wirklich allzu weit von ihren ursprünglichen Positionen wegzubewegen; sie machten immer nur einen oder zwei Schritte in jede Richtung, und Pirojil hielt weiter nach einem geeigneten Augenblick Ausschau, um die Wachen zu holen. Drei hohe Angriffe von Verheyen wurden von Argent abgewehrt, der zweimal einen Gegenangriff versuchte, seinen wachsamen Gegner aber nicht treffen konnte. Dann begann der Schwertmeister mit einer scheinbar rasenden Attacke, nur um dank der geschickten Fußarbeit des Barons abermals zurückgeschlagen zu werden. Und nun spürte Pirojil eine Veränderung bei Argent. Offenbar hatte der Schwertmeister etwas bemerkt, was Pirojil entgangen war. Ein Muster bildete sich heraus, und plötzlich vergaß Pirojil, dass er eigentlich die Wachen holen wollte, und geriet stattdessen vollkommen in den Bann dieser Demonstration vollendeter Schwertkunst. Beide Männer waren inzwischen schweißgebadet, obwohl es nicht warm war, und die einzigen Geräusche im Raum waren das Stampfen von Lederstiefeln auf kaltem Steinboden, das Klirren von Stahl auf Stahl und das schwere Atmen der beiden Kämpfer. Angriff, Abwehr, Gegenstoß, Abwehr; das Duell ging weiter. 336 Dann erkannte Pirojil, was geschah. Argent bereitete eine Falle vor. Jedes Mal, wenn die beiden Männer die Schwerter kreuzten, blieben die Klingen ein wenig länger in Kontakt und übten ein wenig mehr Druck auf die Klinge des Gegners aus. Argent fiel beinahe in ein Muster, dreimal griff er hoch und einmal tief an, und er veranlasste Verheyen damit, in diesem Rhythmus nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten. Dann wechselte Argent zu zwei hohen Angriffen, dann wieder zu dreien, was den Baron bei seinem Gegenangriff verwirrte. Und nun bot Argent Verheyen die Klinge an. Als Verheyen blockierte, drängte er weiter vorwärts, und für einen Augenblick nahm Verheyen die Klinge an und hielt dagegen. Dann bewegte sich Argent nach links, nahm plötzlich die Waffe weg, und Verheyen überstreckte sich und war dadurch für einen winzigen Augenblick ohne Deckung. Eine Sekunde später beugte sich Steven Argent über einen toten Mann, und Verheyens Blut lief am Rapier des Schwertmeisters entlang. Argent blickte auf den toten Baron hinab, dann holte er sehr langsam und bedächtig ein Taschentuch heraus und säuberte seine Klinge sorgfältig, bevor er sie wieder einsteckte. »Du hattest schon angenommen, dass es so ausgehen würde, Pirojil«, stellte er fest. Der Söldner nickte. »Es bestand zumindest die Möglichkeit. Wenn man eine Ratte in die Enge treibt, wird sie kämpfen, und ich wollte, dass diese Ratte in die Enge getrieben wird, Mylord. Er hatte es verdient. Und es wäre mir auch lieber, nicht als jemand bekannt zu sein, der einen Adligen umgebracht hat, ganz gleich, wie gerechtfertigt das war. Baron Verheyen hat Verwandte und angeblich auch ein paar
Freunde, und ich bin sicher, sie werden eher mir die Schuld geben, weil ich ihn als Mörder entlarvt habe, als ihm für die Morde.« »Also hast du mich vorgeschickt, damit ich dich vor ihrer Rache bewahre?« Pirojil schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, Mylord, hatte ich so weit noch gar nicht gedacht.« Er zuckte mit den Achseln. 337 »Ich wusste einfach nur, dass ich es zwar im Feld allein oder mit meinen Freunden gegen beinahe jeden Gegner aufnehmen würde - das haben wir oft genug bewiesen -, aber ich bilde mir nicht ein, gegen einen Adligen in einem Duell bestehen zu können, und Ihr wart der Einzige hier, der gegen den Baron eine Chance hatte.« Mit einem Blick auf die Leiche fügte er hinzu: »Und dass ein Mörder seine Strafe erhalten hat, stört mich nicht im Geringsten.« Baron Viztria betrachtete ebenfalls Verheyens reglose Gestalt. Blut floss in den dicken Teppich auf dem Steinfußboden. »Aber warum?«, fragte er. »Mylord?« »Warum hat er Morray und Lady Mondegreen getötet? Morray hatte doch schon zugesagt, sich zu seinen Gunsten zurückzuziehen.« Pirojil zuckte mit den Schultern. »Nur, weil Morray etwas vorhat, musste das nicht auch geschehen. Ist eine Übereinkunft zwischen Baronen für den Grafen bindend ? Oder für den Herzog von Yabon? Oder für den König?« »Nein, selbstverständlich nicht«, sagte Viztria. »Aber es schien ganz logisch zu sein.« »Die vereinigten Ländereien von Mondegreen und Morray hätten zusammen die mächtigste Baronie im Herzogtum ergeben«, fügte Argent hinzu. »Und es ist durchaus möglich, dass gerade das selbstlose Zurücktreten Morrays zugunsten von Verheyen Graf Vandros veranlasst hätte, Morray als seinen Nachfolger zu empfehlen.« Pirojil sagte: »Verheyen konnte nach dem Friedensschluss offiziell behaupten, dass er keinen Grund mehr hatte, seinen Rivalen zu töten, und gerade deshalb wollte er dafür sorgen, dass Morray ihm nie wieder zum Rivalen werden könnte. Nach außen hin hatte er kein Motiv mehr, also glaubte er, dass ihn niemand verdächtigen würde.« Steven Argent sagte: »Das klingt alles so einfach.« Pirojil zog die Brauen hoch. »Schwertmeister, mit Eurer Erlaubnis?« 338 »Was?« »Ich möchte noch einmal mit den Baronen sprechen, nur für einen Augenblick.« Steven Argent nickte. »Selbstverständlich.« Pirojil wandte sich den anderen zu. »Ich möchte Euch für Eure freundliche Aufmerksamkeit danken und mich von Euch verabschieden. Wie ich schon sagte, ich bin nicht vollkommen sicher, dass niemand mir und meinen Freunden die Schuld am Tod von Baron Verheyen geben wird, ob er nun ein Mörder war oder nicht, also ziehen wir uns aus dem Dienst des Grafen von LaMut zurück und machen uns gleich morgen früh auf den Weg.« »Bei diesem Schnee?«, fragte Baron Viztria mit dem üblichen höhnischen Grinsen. »Schnee kann schmelzen, Mylord Viztria. Wir schaffen das schon.« Dann wandte er sich an den Schwertmeister. »Dürfen wir unser Zimmer in der Unterkunft noch
eine Nacht behalten, Mylord ? Oder sollen wir uns in der Stadt nach einer Unterkunft umsehen?« Steven Argent verstand das alles nicht. Diese Männer hatten unter den unangenehmsten Umständen bewiesen, was sie wert waren, und er hatte ihnen anbieten wollen, sie in die reguläre Armee zu übernehmen, immer vorausgesetzt, dass der Graf einverstanden war. Sie waren zwar nicht unbedingt klassisches Offiziersmaterial, aber Kompetenz und Loyalität sollten belohnt werden. Hier vor den Baronen und mit dem toten Verheyen zu seinen Füßen wusste er allerdings nicht so recht, was er sagen sollte, also schwieg er einfach und nickte. »Ich wünsche Euch allen einen guten Tag«, sagte der absurd hässliche Söldner. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ die Halle. Er warf keinen Blick zurück.
Wahrheit
Draußen war es dunkel. Aber das war draußen, und sie waren zum Glück drinnen, und die Öllampen machten das Zimmer angenehm hell. Die Geräusche aus dem Gemeinschaftsraum der Unterkunft waren gedämpfter als üblich. Pirojil konnte leise Gespräche und das Klappern der Würfel hören. Sie hatten sich um die Feuerstelle versammelt, und die Weinflasche aus Lady Mondegreens Zimmer stand auf einem Beistelltisch neben Kethol, der gerade Lederschnüre über einen Holzrahmen zog. Ihre geringe Habe schien in ihrer Zeit in LaMut angewachsen zu sein, und sie hatten vier weitere Rucksäcke aus dem Keller holen müssen, um das behalten zu können, was sie nicht wegwerfen wollten. Ein Packpferd wäre gut gewesen, aber Pirojil konnte sich ein Pferd auf Brezeneden nicht so recht vorstellen. Durine war skeptisch gewesen und wollte das Gepäck noch einmal durchgehen und etwas mehr wegwerfen, aber Kethol hatte rasch aus einer alten Tür, ein paar weiteren Latten und einem Seil eine Art Schlitten improvisiert, und dieses Ding sollte sich relativ leicht über den Schnee ziehen lassen, bis der Schnee dann schmolz, und das würde nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Noch ein paar Tage würden sie auf diesen seltsamen Brezeneden umherstolpern müssen, und dann ... Dann würden sie sich im nächsten Dorf ein paar Pferde kaufen, 340 obwohl sich das als schwierig erweisen könnte. Nun, selbst wenn sie zu Fuß bis nach Zun gehen mussten, um Reittiere zu erhalten, sie hatten immerhin genug Geld dafür. Sie konnten es sich leisten, ein bisschen wählerisch zu sein Nein, ein paar Klepper wären gut genug. Sie würden sie ohnehin in Ylith verkaufen müssen, und Männer, die ein Schiff nehmen wollten, das sie weit wegbrachte, so weit wie möglich, waren kaum in der besten Position zum Feilschen. Und sie würden wahrscheinlich fünf Pferde brauchen ... Kethol hatte bereits ein weiteres Paar Brezeneden fertig und arbeitete am nächsten, als es klopfte. Die Tür wurde dann ohne ein weiteres Wort aufgerissen, und Mackins unmöglich breites Gesicht spähte herein.
»Komm rein«, sagte Kethol. »Wir haben gerade über dich gesprochen.« »Milo sagte, wir kommen mit euch«, sagte der Zwerg. »Ihr könnt die Stadt gerne mit uns verlassen«, erwiderte Durine vorsichtig. »Obwohl wir ein paar Dinge klären müssen, wenn ihr mit uns dreien kommen wollt -« »Ja.« Das Grinsen des Zwergs wurde breiter, und er streckte die kräftigen Hände aus und knackte mit den Knöcheln. »Darauf freue ich mich schon.« »Und zwar, indem wir darüber reden. Wir regeln die Dinge mit Diskussionen und Abstimmungen und nicht, indem wir einander verprügeln. Das heben wir für Situationen auf, wenn wir dafür bezahlt werden.« Mackin zuckte mit den Achseln. »Darüber lässt sich reden. Wenn es nicht funktioniert, dann zieht ihr eben zu dritt weiter, und Milo und ich gehen unserer eigenen Wege. Solange ich dich nicht die ganze Zeit mit >Hauptmann< anreden und deine Befehle befolgen muss, könnte es klappen. Oder auch nicht. So was weiß man vorher nie.« »Ich bin kein Hauptmann«, sagte Kethol. Er war der Erste gewesen, der den grauen Offizierswaffenrock ausgezogen hatte. Die Jacken hatten immer noch die Rangabzeichen auf den Schultern, 341 aber sie lagen nun alle ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl an der Tür. »Und ich war nie ein besonders guter.« »Ich auch nicht.« Durine nickte. »Wir sind einfach nur drei Männer, die für Geld Leute umbringen«, sagte er, dann zuckte er mit den massigen Schultern und warf einen Blick zu Kethol und Pirojil. Vielleicht hatten sie inzwischen ja genug Geld beisammen, um einen Platz für die Schänke zu den Drei Schwertern zu suchen. Oder würden es jetzt Fünf Schwerter sein? Mackin nickte. »Wir werden sehen. Wir brechen also im ersten Morgenlicht auf?« »Wolfsschwanz«, sagte Pirojil. So nannte man diese Tageszeit drunten im Tal, das graue Licht vor der Dämmerung, das gut für ihre Zwecke geeignet war. Mackin nickte. »Dann sollte ich lieber noch ein paar Krüge Bier trinken und ein bisschen schlafen.« Er ging, ohne auf eine Antwort zu warten. »Glaubst du, es wird funktionieren?«, fragte Kethol. »Warum zwei Leute mehr?« »Wir können zu fünft ebenso leicht Arbeit finden wie zu dritt«, sagte Pirojil. »Und ich glaube, dass Milo gewisse Gründe hat, LaMut zu verlassen. Wir können morgen darüber reden, ja?« Kethol beugte sich über seine Arbeit. »In Ordnung.« Pirojil würde Milo und den Zwerg nicht als gleichrangig betrachten, nicht, bevor sie sich im Lauf der Zeit ihren Anteil mit Blut und Geld erkauft hatten, aber man wusste nie, wie viel Geld ein Söldner besaß, solange man ihn nicht ausführlich durchsucht hatte, und es war durchaus möglich, dass die beiden anderen schon genug für ihren Anteil hatten. Und es war auch bereits Blut vergossen worden, obwohl er im Augenblick nicht daran denken wollte und am liebsten nie darüber geredet hätte.
Aber die beiden dazuzuholen würde etwas sein, worüber man sprechen musste. Und sei es nur, um die Diskussion über andere Dinge zu vermeiden. 342 Geheimnisse, dachte er. Scheiße. Er und Milo hatten ein Geheimnis. Pirojil war überzeugt gewesen, dass Verheyen der Mörder gewesen war, und er hatte geglaubt, wenn er den Baron in die Ecke triebe - er wusste, dass Verheyen cholerisch war -, würde er etwas tun, das ihn verriet. Aber er war nicht vollkommen sicher gewesen, und Pirojil hatte viel für Sicherheiten übrig. Selbstverständlich konnte er dem Schwertmeister die Schuld geben, weil der ihn in eine unmögliche Position gebracht hatte. Oder er konnte sich selbst die Schuld geben, weil er seinen eigenen Instinkten und seiner Vernunft nicht gefolgt war. Oder er konnte einfach versuchen, die ganze Sache zu vergessen. Es klopfte abermals an der Tür, und diesmal wartete die Person draußen lange genug, bis Durine »Herein« gesagt hatte. Es war Milo, der fünf kleine Lederbeutel in den Händen trug. »Der Schwertmeister schickt mich mit eurem Sold.« »Unser Sold?« Kethol schaute ihn verdutzt an. »Wie sind sie denn in die Schatzkammer gekommen?« »Ich frage lieber nicht nach Schatzkammern«, sagte Milo und grinste einen Augenblick. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, hat Steven Argent bei den Baronen gesammelt, und die werden ihr Geld zurückerhalten, wenn der Graf zurückkommt. Es genügt nicht, um alle auszubezahlen, aber es reicht für uns fünf, also sollten die anderen lieber nichts davon erfahren.« Er steckte die beiden kleineren Beutel ein und reichte die anderen drei weiter. »Ihr wollt das Geld vielleicht zählen und noch mal mit dem Schwertmeister reden, nur für den Fall, dass ihr denkt, dass unterwegs etwas herausgefallen ist.« Durine nickte. »Wir werden es sicherlich zählen. Es wäre eine Schande, wenn wir gleich auf dem falschen Fuß anfangen, da ihr beiden, du und der Zwerg, mit uns kommen werdet.« »Ja«, sagte Milo, aber er sah dabei Pirojil an und nicht Durine. 343 »Es wäre eine Schande, wenn es Missverständnisse gäbe, also achten wir darauf, dass das nicht passiert.« »Immer mit der Ruhe.« Pirojil hob die Hand. »Wir werden keine Probleme haben. Oder wenn, dann geht ihr einfach euren Weg und wir unseren.« Milo nickte, dann ging er und schloss die Tür hinter sich. Kethol legte das letzte Paar Brezeneden auf den Stapel mit den anderen. »Nun, wenn wir morgen aufbrechen, sollten wir noch eine Runde schlafen. Verbarrikadieren wir die Tür, oder stehen wir Wache oder beides?« »Beides«, sagte Durine. Pirojil nickte. Das war auf jeden Fall vernünftig. In einer Burg verbreiteten sich Neuigkeiten schnell; die Barone würden mit ihren Hauptleuten sprechen, was bedeutete, dass man bald wissen würde, dass die drei Söldner eine Menge Geld
hatten - wenn auch niemand ahnen würde, wie viel es tatsächlich war -, und man war vor Dieben niemals wirklich sicher. »Ich nehme die erste, dann wecke ich dich«, sagte er zu Durine. Dieser nickte. Zumindest in dieser Hinsicht war alles wieder normal. »Ich weiß nicht.« Kethol warf einen sehnsüchtigen Blick zur Tür. »Ich würde gerne noch mal zum Adlerhorst gehen und mich von Fantus verabschieden.« Durine lachte. »Das wäre keine gute Idee. Der Schwertmeister würde wahrscheinlich versuchen, uns zum Bleiben zu überreden, und das würde bedeuten, dass du hier bliebest, weil ich hier unbedingt verschwinden will.« Pirojil nickte. »Ich ebenso. Außerdem hatte ich nie viel für Abschiede übrig, und du auch nicht.« »Ja, aber da ging es um Leute«, sagte Kethol, als würde das einen Unterschied machen. »Drachen sind etwas anderes. In einer anderen Welt hätte ich vielleicht gerne mal einen kennen gelernt.« »In dieser Welt hier solltest du, wenn du jetzt gehst, allerdings lieber nicht wiederkommen und uns sagen, dass wir bleiben«, erklärte Durine mit fester Stimme. 344 Kethol gab auf, aber es fiel ihm sichtlich schwer. »Noch eine Sache ...«, sagte er und goss die Reste des Weins aus der Flasche in ihre drei Becher. Er reichte den anderen die Becher und warf dann Pirojil einen erwartungsvollen Blick zu. »Du bist dran, denke ich.« »Wir alle haben den Baron recht gut gekannt, aber Lady Mondegreen schien eine besondere Vorliebe für dich zu haben, Kethol«, sagte Pirojil. Sie hatte auch auf ihm gespielt wie auf einer Laute, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass sie ihn offenbar gemocht hatte. Und Kethol hatte zweifellos Gefallen an ihr gefunden. Ebenso wie Pirojil es auf seine Art getan hatte. Nur, weil sie ihm eine Höllenangst eingejagt hatte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht gemocht hätte - er hatte es nur vorgezogen, sie aus der Entfernung zu mögen, wenn man bedachte, wie gut sie Menschen manipulieren konnte ... Was die Kehle der Lady langfristig nicht widerstandsfähiger gegenüber einem Schnitt gemacht hatte. Kethol dachte einen Augenblick darüber nach. »Auf Baron Morray und Lady Mondegreen: ein wahrer Edelmann und eine große Dame«, sagte er, dann trank er seinen Wein in einem Schluck, ebenso wie Durine. Pirojil nippte nur daran, weil er länger davon haben wollte. Es war nicht der schlechteste Wein, den er je getrunken hatte, obwohl er für seinen Geschmack ein bisschen bitter und säuerlich war. Nicht, dass ein Mann in seiner Branche allzu empfindlich sein sollte. Dennoch, es könnte sein, dass die Drei Schwerter - oder nun vielleicht die Fünf Schwerter - einen Weinkeller haben würden, ebenso wie gutes Zwergenbier und auch anständig gebrautes Menschenbier, und vielleicht sollte er sich ein wenig über diese Dinge informieren, selbst wenn er es sich bestimmt nie leisten könnte, allzu anspruchsvoll zu sein. Kethol blies die Öllampen aus, und er und Durine legten sich auf die Pritschen und schliefen beinahe sofort ein.
Pirojil nahm seinen Stuhl, lehnte ihn gegen die verriegelte Tür und schloss für einen Moment die Augen. 345 Ja, sie würden über vieles nachdenken und am Ende auch über das eine oder andere reden müssen. Aber er würde sich eine Weile Zeit lassen. Er trank noch einen Schluck Wein. Wirklich zu bitter. Vielleicht gab es hier etwas, was ihm immer noch entging. Er war sicher, dass ihm nicht viel entgangen war. Verheyen wäre wahrscheinlich mit dem Mord davongekommen, obwohl er am Ende nicht Graf von LaMut geworden wäre, nicht, wenn der Mord nicht aufgeklärt worden wäre und alle immer noch unter Verdacht gestanden hätten. Es wäre auch keiner der beiden Männer geworden, die der Vizekönig ins Rennen geschickt hatte, obwohl Guy du Bas-Tyra vielleicht am Ende von der Lage profitiert hätte, indem er einen anderen Vasallen in die Grafschaft gesetzt hätte. Vandros wäre kaum in der Situation gewesen, sich gegen den Druck des Vizekönigs zu wehren, nicht mit einem unaufgeklärten Mord an zwei Adligen im Hintergrund. Pirojil bedauerte beinahe, dass er Recht gehabt hatte. Er hatte gehofft, frisches Blut in Langahans Dolchscheide zu finden. Viztria war viel zu geckenhaft, um ein Mörder zu sein, aber Langahan war stiller und wahrscheinlich gefährlicher. Er trank noch einen kleinen Schluck. Nein, der Wein war nichts Besonderes, aber er konnte immerhin versuchen, ihn zu genießen. Es war also Verheyen gewesen. Verheyen hatte auf seine Weise ebenso großen Respekt vor Lady Mondegreen gehabt wie Pirojil. Es wäre nett gewesen, sich Verheyens Dolchscheide vorher ansehen zu können, aber das hätte nicht die gleiche Wirkung gehabt. Milo anzustiften, Verheyens Messer zu stehlen, sich in den Finger zu schneiden und den verwundeten Finger in Verheyens Dolchscheide zu stecken, bevor er das Messer wieder zurückgab, war genau das Richtige gewesen, und wenn Pirojil auch niemals mit absoluter Sicherheit wissen würde, ob Milos Blut das von Lady Mondegreen und Baron Morray verdeckt hatte, so konnte er doch durchaus damit leben. Vielleicht war Verheyen ja ein bisschen ordentlicher gewesen, als Pirojil gedacht hatte. Vielleicht auch nicht. Also hatte er dafür gesorgt, dass das Problem gelöst wurde. 346 Steven Argent hätte sicher gern gewusst, wie er es gelöst hatte, aber ... Zur Hölle mit ihm. Wenn man einem Soldaten befahl, ein Problem zu lösen, tat er das eben, und er tat es mit Stahl und Blut und tat sein Bestes, dass es nicht sein eigenes Blut war. Es war besser für den Schwertmeister und den Grafen, nicht zu wissen, wie Pirojil herausgefunden hatte, wer der Mörder war. Das traf auch für Kethol und Durine zu, zumindest im Augenblick, obwohl er es ihnen irgendwann sagen würde, wenn sie alle weit genug weg waren. Weit weg klang sehr gut.
Das Nächste, was Pirojil spürte, war ein grobes Rütteln, als Kethol ihn am nächsten Morgen weckte, während das graue Licht der Vordämmerung schon durch das fleckige Fensterglas hereinfiel. Und sobald er wach war, wusste er, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er stellte den Mörder in der Küche. Selbst um diese Tageszeit wimmelte es hier von Köchen und Helfern, und der Geruch nach Brot im Backofen war überwältigend. »Guten Morgen, Ereven«, sagte Pirojil. »Ich wünsche Euch auch einen guten Morgen, Hauptmann Pirojil«, erwiderte der Mann so verdrießlich wie immer. »Ich habe gehört, dass Ihr aufbrecht - soll ich Euch ein wenig Proviant mitgeben?« »Nein. Wir haben, was wir brauchen.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte mich allerdings einen Augenblick mit dir unterhalten. Ich denke, ich sollte mich von dir verabschieden. Und ich bin kein Hauptmann mehr und möchte auch keiner sein.« Ereven nickte. »Selbstverständlich, Hauptmann«, erwiderte er. »Worum geht es?« »Komm mit mir nach draußen, nur für einen Augenblick.« Der Paradeplatz war immer noch mit festgetrampeltem Schnee 347 bedeckt, aber das Zeug fing langsam an zu schmelzen und war stellenweise rutschig. »Ich weiß alles«, sagte Pirojil. Erevens Miene blieb ausdruckslos. »Ihr wisst was, Hauptmann?« »Ich weiß, dass der Wein, den du Baron Morray gegeben hast, mit Schlafmittel versetzt war. Und ich nehme an, das Gleiche galt für Erlies Abendessen.« »Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet.« »Oh, ich glaube, du weißt genau, wovon ich rede, Ereven. Ich könnte sogar raten, weshalb du es getan hast, aber das Wie ist auf jeden Fall klar genug. Und was den Täter angeht, so bin ich versucht anzunehmen, dass der verblichene Baron Verheyen zwei Mitverschwörer hatte, nämlich dich und deine Tochter Emma.« Das drang zu Ereven durch. »Hauptmann, ich -« »Aber ich weiß nicht einmal, ob Verheyen wirklich etwas damit zu tun hatte. Er hasste Morray, und er war klug genug, um Lady Mondegreens Pläne zu durchschauen, aber war er wirklich der Mörder, zusammen mit euch beiden?« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Und ich möchte es gerne wissen. Und wenn ich nicht sofort eine Antwort erhalte, wird der Brief, den ich hinterlassen habe - du brauchst nicht zu überlegen, bei wem -, dem Schwertmeister in ein paar Tagen übergeben werden. Dann wird er dir die gleichen Fragen stellen. Es sei denn ...« »Es sei denn?« »Es sei denn, du erklärst mir jetzt sofort, warum. Das Wie ist einfach, und ich hätte es längst erkennen sollen. Ein Soldat, der auf seinem Posten einschläft? Ein Mann, der bis vorletzte Nacht vollkommen zuverlässig war? Und dann ist er plötzlich während seiner Wache eingeschlafen? Sehr praktisch. Ein seltsamer Zufall. Es sei denn, dass sein Essen mit Schlafmittel versetzt war, ebenso wie der Wein, was auch erklärt, wieso du ihnen die Kehlen durchschneiden konntest, ohne sie zu wecken.
Ein gutes Küchenmesser, scharf geschliffen, wie es alle guten Küchenmesser sein sollten, hat das Zimmer von Lady Mondegreen auf einem zugedeckten Tablett verlas348 sen, nachdem du es auch auf einem zugedeckten Tablett hereingebracht hast, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden, während sie betäubt waren. Niemand fände es auffällig, wenn der Oberste Diener in der Küche ein Messer säubert.« Pirojil nickte. »Ich nehme an, deine Tochter hat dir geholfen.« »Sie weiß nichts davon. Bitte zieht sie nicht mit hinein. Es ist -« »Es ist nicht recht? Aber zwei Leuten die Kehle durchzuschneiden ist in Ordnung?« »Er hat sie behandelt wie ein Spielzeug«, erklärte Ereven, immer noch mit dieser ausdruckslosen Stimme. Ein ganzes Leben, in dem er jeden Ausdruck, Stimme und Miene beherrscht hatte, ließ sich auch jetzt nicht leugnen. »Er hat sie in sein Bett gelockt und ihr alle möglichen Versprechen gemacht - es ist nicht so ungewöhnlich, dass ein Adliger eine Gemeine zur Frau nimmt, und ein wahrer Edelmann erkennt zumindest seine Bastarde an.« »Aber das hat Baron Morray nicht getan.« »Nein. Er hat sie belogen, und sie glaubte, dass er sie liebt. Sie war ein braves Mädchen und hatte vor dem Baron nie einen Mann. Ich hatte gehofft, sie mit dem Sohn von Grigsby, dem Getreidehändler, verheiraten zu können. Er ist ein wohlhabender Mann, und sein Sohn wird eines Tages sein Geschäft übernehmen. Aber eine Schlampe mit dem Bastard eines Adligen? Mein Mädchen glaubte, in Morray verliebt zu sein, aber er hat nichts gesagt, als sie von seinem Kind immer dicker wurde. Ich glaube ...« Einen Augenblick versagte ihm die Stimme, aber dann riss er sich wieder zusammen. »Und dann eine andere Frau zu heiraten, die von ihm schwanger war - es ist ja kein Geheimnis, dass Baron Mondegreen krank war und seine Frau oft mit Morray zusammengekommen ist.« Erevens Stimme klang verbittert. »Welche Art von Mann leugnet denn seine eigenen Kinder? Erst gibt er nicht zu, dass er meine Tochter geschwängert hat, und dann lässt er einen anderen Mann ein zweites Kind mit der Frau, die er heiraten will, beanspruchen! Er und Lady Mondegreen waren schlechte Menschen.« Pirojil nickte. »Und das hier war deine letzte Gelegenheit, sie zu 349 bestrafen, nicht wahr? Verheyen hätte Morray nicht als Kämmerer behalten und hätte schon, bevor er Graf wurde, darauf gedrängt, dass man ihm die Graf schaftskasse anvertraute. Morray und Lady Mondegreen hätten sich auf ihre Ländereien zurückgezogen und ihr Bestes getan, so schnell nicht wieder nach LaMut zurückzukehren, aus Angst, dass Verheyen glaubte, sie würden sich wieder gegen ihn stellen, ganz gleich, was Morray geschworen hatte.« »Ja.« Pirojil nickte. »Dieses Mittel, das du in den Wein und ins Essen getan hast - hast du noch mehr davon?« Ereven zögerte einen Augenblick. »Ja.« »Dann habe ich einen Vorschlag. Er wird dich nicht retten, aber ...« »Aber meine Tochter?« Pirojil nickte. »Ich werde sie aus allem heraushalten, wenn du dich selbst heraushältst. Schlucke alles, was du von dem Zeug noch hast, und wenn du glaubst,
dass das nicht genügen wird, um dich wirklich umzubringen, dann finde etwas Sichereres und schlucke das ebenfalls. Spül es mit einer Flasche des besten Weins herunter, aber bevor du das tust, schreibst du einen Brief, in dem du erklärst, dass du Erlies Essen vergiftet hast - du kannst ja behaupten, du hättest es im Auftrag Verheyens getan, wenn du willst. Aber wenn du behauptest, dass ich dahinter stecke«, fügte er rasch hinzu, »dann wird alles herauskommen, darauf kannst du dich verlassen. Alles - auch, dass deine Tochter dich bestürmt hat, den Vater ihres Babys zu töten.« »Aber das hat sie nicht getan. Sie ahnt nicht einmal, dass ich es getan habe.« »Na und? Das Wort der Tochter eines geständigen Mörders wird gegen das des Hauptmanns stehen, der das Rätsel um die Morde an Lady Mondegreen und Morray gelöst hat. Wem wird der Graf glauben ? Im allerbesten Fall würden sie vielleicht warten, bis das Kind da ist, bevor sie deine Tochter hängen. Entscheide dich, Ereven. Aber entscheide dich jetzt, und sei klug. Es ist deine letzte Gelegenheit.« 350 Nun hatte Ereven seine ausdruckslose Miene wiedergefunden. »Euer Angebot ist akzeptabel, Hauptmann.« Er nickte. Dann fiel für einen Augenblick, nur für einen Augenblick, seine Maske. »Ihr werdet auch noch mein Blut an euren Händen haben, zusammen mit dem von Baron Verheyen.« Pirojil zuckte mit den Achseln. »Ich hatte schon viel Blut an meinen Händen, Ereven. Ich bin daran gewöhnt.« Pirojil hätte versuchen können, sich zu rechtfertigen. Immerhin war Verheyen trotz des Friedens, den sie geschlossen hatten, immer noch Morrays Feind gewesen, und Morray hätte nicht das Geringste gegen Verheyens Tod gehabt. Er hätte Steven Argent die Schuld geben können, weil der Schwertmeister ihn in eine Situation gebracht hatte, die ihn einfach überforderte. Aber das würde nicht funktionieren. Und wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, Blut wieder in eine Leiche zurückfließen zu lassen, dann hätte Pirojil sie schon viele Male zuvor genutzt. Erlies Blut jedoch war immer noch in seinem Körper, und Pirojil konnte zumindest den Schaden begrenzen. Ereven nickte. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Und wenn Ihr versprechen würdet, ein gutes Wort für meine Tochter einzulegen, werde ich behaupten, dass es Verheyen war.« Pirojil schüttelte den Kopf. »Keine Versprechen. Sollte ich jedoch jemals wieder in diese Gegend kommen - unwahrscheinlich, aber man weiß ja nie -, dann werde ich nach ihr sehen. Mehr kann ich nicht tun.« »Das genügt, Hauptmann.« Ereven richtete sich auf. »Wenn das alles war, dann werde ich jetzt...« »Ja, das war alles.« »Dann muss ich nun einen Brief schreiben und eine Flasche Wein suchen, mit der ich das Pulver herunterspülen kann, und ich sollte mich lieber beeilen, bevor Ihr es Euch anders überlegt.« »Genau.«
Ereven drehte sich um und kehrte in die Küche zurück. Pirojil ging ebenfalls wieder nach drinnen. Es gab noch viel zu tun, bevor die Leiche des Obersten Dieners und der Brief gefun351 den würden. Wenn Kethols Beschreibung der ... wie immer er sie auch nannte, diese Schneeschuhe ... zutraf, würde es eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt hätten und aus LaMut heraus wären. Und wenn man bedachte, dass ein vollkommen unschuldiger Baron - oder zumindest einer, der so unschuldig war, wie ein Baron eben sein konnte - sinnlos gestorben war, wollte Pirojil lieber nicht mehr in der Stadt sein, wenn das Gerede über die Morde begann und für Wochen Tischgespräch jedes Adligen im Herzogtum wurde. Es wäre ihm lieber, wenn man sich an ihn als »diesen wirklich hässlichen Hauptmann« erinnerte, als dass sich zu viele seinen Namen merkten. Selbst wenn niemand je die Wahrheit herausfinden würde, hatte Verheyen Freunde, die es vielleicht für eine Art von Gerechtigkeit hielten, Pirojil verschwinden zu lassen. Pirojil wollte aus LaMut verschwinden, aber zu seinen eigenen Bedingungen. Sie sollten sich so bald wie möglich auf den Weg machen, alle fünf. Als er eine Treppe hinaufeilte, warf Pirojil durch ein Fenster einen Blick auf die Stadt LaMut. Eigentlich keine üble Stadt. Er hatte schon viel schlimmere erlebt, und nur wenige bessere. Die Sonne war nun beinahe aufgegangen, und die Stadt erwachte zum Leben. Er fragte sich zerstreut, welche Fehler sie außerdem noch gemacht hatten. Nicht, dass das zählte. In ein paar Jahren würde ein neuer Graf in LaMut herrschen, Vandros würde Herzog von Yabon sein, und alles wäre vergessen. Die einzige Frage, die noch an ihm nagte, war, wie der Feuerdrache Fantus es immer wieder geschafft hatte, in die Räume des Schwertmeisters zu gelangen. Es musste irgendwo einen Geheimgang in dieser Burg geben, den nicht einmal der Oberste Diener kannte. Nun, das Leben war voller ungelöster Rätsel, und das hier war eines der kleineren. Pirojil warf einen Blick aus dem Fenster auf den neuen Tag und war froh, dass er noch lebte, um ihn genießen zu können. Irgendwo draußen bellte ein Hund.