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William F. Nolans Science Fiction-Anthologie zum Thema Roboter – mit berühmten Geschichten von Isaac Asimov, Ray Bradbury, Richard Matheson, Chad Oliver und anderen Spitzenautoren der internationalen utopischen Literatur.
die Story vom Doppelgänger – die Story von der süchtigen Androidin – die Story von der letzten Stadt – die Story von den drei Gesetzen der Robotik – die Story von den Rivalen – die Story von der Welt des Schattengottes – die Story vom Guerillakrieg der Servos – die Story vom ausgedienten Boxrobot – die Story vom Schuldenmacher – die Story vom Haus der Puppen – die Story vom letzten Problem – und die Story vom Familienglück –
DIE ANDEREN UNTER UNS VON MENSCHEN UND PSEUDOMENSCHEN
Eine Science Fiction-Anthologie herausgegeben von William F. Nolan
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3120 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE PSEUDO-PEOPLE Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1965 by William F. Nolan Printed in Germany 1968 Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München Umschlagbild: Karl Stephan, München Gesamtherstellung: Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt, Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
INHALT RAY BRADBURY Doppelgänger ..........................................................................
6
SHELLY LOWENKOPF Appetit kommt beim Essen ...................................................
23
CHAD OLIVER Die Stadt im Eis .......................................................................
43
ISAAC ASIMOV Ein schlagender Beweis ..........................................................
87
JAMES CAUSEY Die Show geht weiter .............................................................
137
CHARLES E. FRITCH Geevers Flucht .........................................................................
156
DENNIS ETCHISON Die Feuer der Nacht ...............................................................
164
RICHARD MATHESON Ring frei! ...................................................................................
190
RON GOULART Kredit ........................................................................................
237
ROBERT F. YOUNG Das Puppenhaus .....................................................................
257
CHARLES BEAUMONT Das letzte Problem ..................................................................
291
WILLIAM F. NOLAN Familienglück ..........................................................................
319
RAY BRADBURY
Doppelgänger Um acht Uhr abends war endlich alles richtig verteilt: die langen Zigaretten, die Kristallgläser und der Silberkübel mit dem zerkleinerten Eis, das eine bauchige, grüne Flasche umschloß. Sie warf noch einen letzten Blick auf den Raum – alle Bilder hingen gerade, und die Aschenbecher standen in bequemer Reichweite. Sie schüttelte ein Sofakissen auf, trat wieder zurück und kniff prüfend die Augen zusammen. Dann ging sie rasch ins Bad, holte die Strychninflasche und legte sie unter einige Illustrierte auf dem linken Couchtisch. Einen Hammer und den Eispickel hatte sie schon vorher versteckt. Sie war bereit. Das schien auch das Telefon zu wissen, denn es klingelte. Als sie den Hörer abhob, sagte eine Stimme: »Ich komme hinauf.« Er stand jetzt im Fahrstuhl, schwebte langsam durch die eiserne Kehle des Hauses nach oben, befingerte seinen gepflegten kleinen Schnurrbart, rückte seine weiße Smokingjacke und die schwarze Schleife zurecht. Vielleicht strich er nochmals über die graublonden Haare, dieser gutaussehende Mann von
fünfzig Jahren, der noch immer aparte, dreißigjährige Frauen besuchen konnte – lebhaft, charmant, heiter, gesellig, auf den Wein und alles andere vorbereitet. »Du bist ein Schwindler!« flüsterte sie der Tür zu, bevor er klopfte. »Guten Abend, Martha«, sagte er. »Willst du nur vor mir stehen und mich ansehen?« Sie küßte ihn schweigend. »War das ein Kuß?« wollte er wissen. Seine warmen blauen Augen blitzten amüsiert auf. »Hier.« Er gab ihr einen besseren. Ist das wirklich anders als vergangene Woche, vergangenen Monat, vergangenes Jahr? dachte sie mit geschlossenen Augen. Was macht mich mißtrauisch? Irgendeine Kleinigkeit, die sie nicht einmal beschreiben konnte, weil sie so unbedeutend war. Er hatte sich geringfügig, aber drastisch verändert. Tatsächlich so drastisch und völlig, daß sie seit acht Wochen nachts keine Ruhe mehr fand. Sie hatte es sich angewöhnt, gegen drei Uhr morgens mit dem Hubschrauber an die Küste zu fliegen, wo bei The Point die ganze Nacht über Filme auf die Wolken projiziert wurden – uralte Filme aus den Jahren um 1975, gigantische Erinnerungen im Nebel über den dunklen Wogen, durch den die Stimmen der Schauspieler wie Götterstimmen mit der Flut an den Strand trieben. Sie war ständig übermüdet. »Keine begeisterte Reaktion.« Er hielt sie mit aus-
gestreckten Armen fest und betrachtete sie kritisch. »Ist etwas nicht in Ordnung, Martha?« »Nichts«, sagte sie. Alles, dachte sie. Du, dachte sie. Wo bist du heute abend, Leonard? Mit wem tanzt du irgendwo, mit wem trinkst du in einem Appartement auf der anderen Seite der Stadt, wem gegenüber benimmst du dich liebenswürdig charmant? Denn du bist ganz bestimmt nicht hier in diesem Raum, und ich habe die feste Absicht, es endlich zu beweisen. »Was ist das?« fragte er mit gesenktem Kopf. »Ein Hammer? Hast du Bilder aufgehängt, Martha?« »Nein, ich will ihn dir auf den Kopf schlagen«, antwortete sie und lachte. »Selbstverständlich«, stimmte er lächelnd zu. »Nun, vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken.« Er nahm ein Samtetui aus der Tasche, klappte es auf und zeigte ihr eine Perlenkette. »Oh, Leonard!« Sie legte die Perlen mit zitternden Händen an und drehte sich aufgeregt nach ihm um. »Du bist so gut zu mir.« »Nur eine kleine Aufmerksamkeit«, wehrte er ab. Bei diesen Gelegenheiten vergaß sie fast ihr Mißtrauen. Sie hatte keinen Grund, sich über ihn zu beschweren, nicht wahr? Sein Interesse für sie hatte sich keineswegs abgeschwächt, oder? Ganz bestimmt nicht. Er war unverändert freundlich und zärtlich und großzügig. Er brachte ihr bei jedem Besuch ein Schmuck-
stück für Handgelenk oder Finger mit. Weshalb fühlte sie sich also in seiner Gegenwart so einsam? Warum empfand sie ein merkwürdiges Unbehagen, solange er bei ihr war? Es hatte vor acht Wochen mit dem Bild in der Zeitung begonnen. Ein Bild, das ihn und Alice Summers am Abend des siebzehnten April im Golfklub zeigte. Sie hatte die Fotografie erst einen Monat später gesehen und ihn sofort darauf angesprochen: »Leonard, du hast mir nicht erzählt, daß du am siebzehnten April mit Alice Summers im Golfklub gewesen bist.« »Wirklich nicht, Martha? Nun, ich habe sie dorthin begleitet.« »Aber bist du nicht am gleichen Abend hier bei mir gewesen?« »Das ist schlecht möglich. Du weißt selbst, daß wir nach dem Abendessen bis zum frühen Morgen Symphonien hören und Wein trinken.« »Ich bin davon überzeugt, daß du am siebzehnten April bei mir warst, Leonard.« »Du hast einen kleinen Schwips, meine Liebe. Führst du regelmäßig Tagebuch?« »Ich bin kein Kind mehr.« »Damit ist der Fall schon erledigt. Kein Tagebuch, kein Beweis. Wahrscheinlich war ich am Vorabend oder einen Tag später bei dir. Komm, Martha, trink aus.«
Aber sie gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Sie hatte nachts nicht schlafen können, weil sie immer wieder darüber nachdachte und ganz bestimmt wußte, daß er am siebzehnten April bei ihr gewesen war. Das war natürlich ausgeschlossen. Er konnte nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten sein. Sie sahen beide den Hammer zu ihren Füßen an. Sie hob ihn auf und legte ihn neben den Weinkühler. »Küß mich«, sagte sie dann plötzlich. Sie wollte endlich Klarheit über diesen Fall gewinnen. Er wich ihr aus und sagte: »Zuerst einen Schluck Wein.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein«, drängte sie und küßte ihn. Da war es wieder. Der Unterschied. Die kleine Veränderung. Sie war nicht zu erklären oder auch nur zu umschreiben. Das wäre dem Versuch gleichgekommen, einem Blinden die Farben des Regenbogens zu schildern. Aber die geringfügige, chemische Veränderung seines Kusses war unverkennbar. Es war nicht mehr Mr. Leonard Hills Kuß. Es hatte große Ähnlichkeit mit Leonard Hills Kuß, war aber doch so verschieden, daß ihr Unterbewußtsein warnend reagierte. Was würde eine Analyse der Feuchtigkeit auf seinen Lippen ergeben? Einen Mangel an Bakterien? Und was die Lippen selbst betraf – waren sie nun ein
wenig fester oder weicher als früher? Irgendeine Kleinigkeit. »Schön, jetzt den Wein«, sagte sie und entkorkte die grüne Flasche. Sie schenkte sein Glas voll. »Oh, holst du bitte die Untersetzer aus der Küche?« Als er gegangen war, goß sie eine reichliche Dosis Strychnin in sein Glas. Er kam mit den Untersetzern für die Gläser zurück und nahm sein Weinglas in die Hand. »Auf uns beide«, sagte er. Großer Gott, dachte sie, wenn ich mich doch getäuscht haben sollte? Wenn er es wirklich war? Wenn ich nur paranoid bin, tatsächlich übergeschnappt, ohne es selbst zu wissen? »Auf uns beide.« Die Gläser klangen leise. Er leerte sein Glas wie immer auf einen Zug. »Mein Gott«, sagte er und verzog das Gesicht. »Das Zeug schmeckt gräßlich. Wo hast du es her?« »Von Modesti.« »Sie müssen dir eine verdorbene Flasche angedreht haben. Komm, ich lasse eine andere heraufbringen.« »Nicht nötig, ich habe noch zwei im Kühlschrank.« Als sie die neue Flasche hereinbrachte, saß er so lebhaft und heiter wie zuvor in einem Sessel. »Du siehst glänzend aus«, stellte sie fest. »Ich fühle mich auch blendend. Und du bist wunderschön. Heute abend liebe ich dich mehr als jemals zuvor, glaube ich.«
Sie wartete darauf, daß er zur Seite sinken und sie mit gebrochenen Augen anstarren würde. »Hinein ins Vergnügen«, sagte er und öffnete die neue Flasche. Als sie die zweite Flasche geleert hatten, war eine Stunde vergangen. Er erzählte amüsante kleine Geschichten, hielt ihre Hände in seinen und küßte sie ab und zu zärtlich. Dann runzelte er aber doch besorgt die Stirn. »Du wirkst heute abend so bedrückt, Martha«, sagte er. »Irgend etwas nicht in Ordnung?« »Nein«, sagte sie. Sie hatte die Meldung vergangene Woche in der Zeitung gelesen, die unscheinbare Meldung, die sie dazu gebracht hatte, sich Sorgen zu machen und Pläne zu schmieden, die ihre Einsamkeit in seiner Gegenwart erklärte. Über die Marionetten. Über die Firma Marionettes, Inc. Selbstverständlich gab es sie nicht wirklich, ganz bestimmt nicht. Aber trotzdem existierten verschiedene Gerüchte. Und die Polizei stellte Nachforschungen an. Lebensgroße Marionetten. Mechanisch, ohne Schnüre, nicht erkennbar, Kopien wirklicher Menschen. Sie waren für zehntausend Dollar auf irgendeinem geheimnisvollen Schwarzen Markt erhältlich. Man konnte sich eine genaue Nachbildung seiner selbst bestellen. Wer gesellschaftliche Ereignisse gründlich satt hatte, brauchte nur die Kopie fortzuschicken, die aß, trank, Hände schüttelte und mit an-
deren Gästen Konversation machte – mit Mistreß Rinehart zu Ihrer Linken, Mister Simmons rechts von Ihnen und Miß Glenner Ihnen gegenüber. Welche politischen Tiraden man guten Gewissens versäumen konnte! Wie viele schlechte Theaterstücke man sich nicht anzusehen brauchte! Wie viele langweilige Zeitgenossen man auf diese Weise elegant schnitt, ohne sie deswegen gleich zu verärgern. Und schließlich waren auch die preziösen Geliebten zu berücksichtigen, die man jetzt getrost ignorieren und doch nicht ignorieren konnte. Allein bei dem Gedanken daran wurde sie fast hysterisch. Selbstverständlich war noch längst nicht bewiesen, daß es diese Marionetten überhaupt gab. Alles war nur bösartiges Gerücht, das eben wahrscheinlich genug klang, um empfindsame Menschen zu schockieren. »Schon wieder geistesabwesend«, sagte seine Stimme in ihre Überlegungen hinein. »Du denkst wieder an etwas ganz anderes. Was geht heute in deinem hübschen Kopf vor?« Sie starrte ihn an. Sie hatte einen großen Fehler gemacht; er konnte jeden Augenblick in Krämpfe verfallen und sterben. Dann würde sie ihre lächerliche Eifersucht bedauern. Sie antwortete impulsiv: »Dein Mund; er schmeckt komisch.«
»Oh«, sagte er. »Das muß anders werden, wie?« »Er schmeckt seit einiger Zeit komisch.« Jetzt schien er erstmals betroffen. »Tatsächlich? Das tut mir aber leid. Ich muß mir etwas dagegen verschreiben lassen.« »So wichtig ist es eigentlich nicht.« Sie spürte ihr Herz rascher schlagen und fror gleichzeitig. Es war sein Mund. Wie konnte man schließlich von den besten Chemikern erwarten, daß sie den Geschmack genau analysierten und reproduzierten? Das war ausgeschlossen. Geschmack war individuell verschieden. Er bedeutete für jeden Menschen etwas anderes. In dieser Beziehung hatten die Wissenschaftler versagt. Sie konnte es nicht eine Minute länger aushalten. Sie ging zu der anderen Couch hinüber, bückte sich und holte die Pistole hinter einem Kissen hervor. »Was hast du da?« fragte er erstaunt. »Oh, mein Gott.« Er lachte. »Eine Pistole. Wie dramatisch!« »Ich habe dich erwischt«, sagte sie. »Gibt es bei mir etwas zu erwischen?« wollte er ruhig wissen. Um seine Augen bildeten sich winzige Lachfältchen, sein Mund blieb fest. »Du hast mich belogen. Du bist seit acht Wochen oder noch länger nicht mehr hier gewesen«, sagte sie. »Wirklich? Wo bin ich dann gewesen?« »Bei Alice Summers, nehme ich an. Ich möchte wetten, daß du im Augenblick bei ihr bist.«
»Ist das möglich?« fragte er. »Ich kenne Alice Summers nicht. Wir sind uns noch nie begegnet, aber ich habe gute Lust, gleich jetzt in ihrem Appartement anzurufen.« »Bitte sehr«, sagte er und sah ihr weiter ins Gesicht. »Ich tue es auch«, antwortete sie, während sie ans Telefon ging. Ihre Hand zitterte so heftig, daß sie kaum die Auskunft wählen konnte. Dann wartete sie auf die Nummer und beobachtete dabei Leonard, der sie seinerseits mit dem abschätzenden Blick eines Psychiaters betrachtete, der ein durchaus nicht ungewöhnliches Phänomen diagnostiziert. »Du bist übermäßig erregt«, stellte er fest. »Meine liebe Martha ...« »Bleib sitzen!« »Meine liebe Martha.« Er sank in die Kissen zurück. Auf seinem Gesicht stand ein amüsiertes Lächeln. »Was hast du in letzter Zeit gelesen?« »Nur den Zeitungsartikel über Marionetten.« »Diesen Unsinn? Großer Gott, Martha, ich schäme mich fast für dich. Das war alles nur dummes Geschwätz. Ich habe selbst Erkundigungen darüber eingezogen!« »Was!« »Natürlich!« rief er entzückt aus. »Ich habe so viele gesellschaftliche Verpflichtungen, und dann ist meine erste Frau aus Indien zurückgekommen, was ich dir
bereits erzählt habe, und hat mich dauernd mit Beschlag belegt, bis ich schließlich auf die Idee kam, wie schön es wäre, eine Nachahmung meiner selbst anfertigen zu lassen, um sie sozusagen als Köder zu benützen, der meine Frau von der richtigen Spur abbringen und sie anderweitig beschäftigen würde – das wäre doch nett gewesen, wie? Aber an der ganzen Geschichte war kein einziges wahres Wort. Nur eine Zeitungsente, das kann ich dir versichern. Komm, leg endlich den Hörer auf, damit wir noch ein Glas Wein trinken können.« Sie hatte ihn verwirrt angestarrt, während er diese Erklärung vorbrachte. Sie war schon fast überzeugt gewesen und wollte eben auflegen, als er das Wort ›Wein‹ gebrauchte. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Augenblick, ich lasse mir die Sache nicht ausreden! Ich habe dir vorhin eine Giftdosis in den Wein geschüttet, die ein halbes Dutzend Männer umgebracht hätte. Bisher hast du noch keine Anzeichen einer Vergiftung gezeigt. Das beweist doch etwas, nicht wahr?« »Es beweist überhaupt nichts. Es beweist nur, daß dein Drogist dir versehentlich die falsche Flasche gegeben hat, was durchaus wahrscheinlich ist. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber mir geht es ausgezeichnet. Leg jetzt auf, Martha, und sei wieder vernünftig.«
Sie hielt den Hörer fest. »Die Rufnummer lautet fünf-fünf-eins-zwo-vier-neun«, sagte eine Stimme. »Ich möchte mich nur vergewissern«, murmelte sie. »Auch recht.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber wenn du mir nicht traust, mußt du in Zukunft auch auf meine Besuche verzichten, fürchte ich. Was du brauchst, meine liebe Martha, ist ein guter Psychiater. Und das so schnell wie möglich!« »Hallo, Fräulein? Geben Sie mir bitte fünf-fünfeins-zwo-vier-neun.« »Laß das, Martha«, sagte er und streckte eine Hand nach ihr aus. Das Telefon klingelte endlos lange. Schließlich meldete sich eine Stimme. Martha hörte kurz zu und legte auf. Leonard sah ihr ins Gesicht und sagte: »So, bist du jetzt zufrieden?« »Ja«, antwortete sie. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie hob die Pistole. »Nein!« schrie er entsetzt. Er sprang auf. »Das war deine Stimme am Telefon«, sagte sie. »Du warst bei ihr!« »Du bist übergeschnappt!« rief er. »Mein Gott, Martha, laß das, du hast dich geirrt, es war jemand anders, du bist so überreizt, daß du seine Stimme für meine gehalten hast!«
Sie schoß ein-, zwei-, dreimal. Er fiel zu Boden. Sie blieb dicht vor ihm stehen. Sie hatte Angst und begann zu weinen. Daß er nun tatsächlich zu ihren Füßen auf dem Teppich lag, verwirrte und erschreckte sie. Sie hatte sich eingebildet, eine Marionette würde auf den Beinen bleiben und sie auslachen – unverwundbar, unbeschädigt und unsterblich. Ich habe mich getäuscht, dachte sie. Ich bin verrückt. Das ist Leonard Hill, und ich habe ihn erschossen. Seine Augen waren zugefallen, aber die Lippen bewegten sich. »Martha«, flüsterte er. »Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen. Oh, Martha.« »Ich rufe einen Arzt«, sagte sie. »Nein, nein, nein.« Und er begann plötzlich zu lachen. »Du mußt es irgendwann erfahren. Und da du dich schon nicht beherrschen konntest, du kleine Närrin, kann ich es ebensogut gleich zugeben.« Die Pistole fiel ihr aus der Hand. »Ich ...«, begann er und schüttelte sich vor Lachen. »Ich bin schon seit ... seit einem Jahr nicht mehr bei dir gewesen!« »Was?« »Seit einem Jahr, seit zwölf Monaten! Ja, Martha, seit zwölf Monaten nicht mehr!« »Du lügst!«
»Oh, jetzt denkst du plötzlich, ich wollte dich belügen, wie? Warum hast du in den letzten zehn Sekunden deine Meinung geändert? Hältst du mich etwa für Leonard Hill? Dann täuschst du dich aber gewaltig!« »Dann warst du es doch? Vorhin in Alice Summers' Appartement?« »Ich? Nein! Ich habe das Verhältnis mit Alice vor einem Jahr angefangen, als ich dich verlassen hatte!« »Du hast mich verlassen!« »Ja, verlassen, verlassen!« rief er und lachte schallend. »Ich bin ein müder Mann, Martha. Mein Herz ist nicht mehr in Ordnung. Der ganze gesellschaftliche Trubel war zuviel für mich. Damals habe ich mir eingebildet, nur eine Veränderung zu brauchen. Deshalb fing ich mit Alice an und hatte sie schon bald wieder satt. Dann war Helen Kingsley an der Reihe – du erinnerst dich doch an sie, nicht wahr? Auch das dauerte nur kurze Zeit. Ihre Nachfolgerin wurde Ann Montgomery, die mich ebenfalls nicht lange fesseln konnte. Oh, Martha, heute abend sind sechs Nachahmungen meiner selbst in verschiedenen Stadtteilen unterwegs, sechs glänzend gelungene mechanische Heuchler, die ein halbes Dutzend Frauen bei guter Laune halten. Und weißt du, was ich – der echte Leonard Hill – inzwischen tue?
Ich liege zu Hause im Bett, habe einen kleinen Band mit Essays von Montaigne gelesen, ein Glas heiße Schokoladenmilch getrunken und um zehn Uhr das Licht ausgemacht. Ich schlafe bereits seit einer guten Stunde, genieße den Schlaf des Gerechten bis morgen früh und stehe dann erfrischt und unbeschwert auf.« »Sei endlich still!« kreischte sie. »Ich muß dir alles erzählen«, fuhr er fort. »Du hast einige meiner Sehnen durchschossen. Ich kann nicht mehr aufstehen. Jeder Arzt würde sofort feststellen, was ich in Wirklichkeit bin denn dazu ist meine Konstruktion nicht perfekt genug. Sie ist fast vollkommen, aber für diesen Fall nicht ausreichend. Oh, Martha, ich wollte dich nicht verletzen. Glaube mir, ich wollte nur dein Glück. Deshalb habe ich meinen Rückzug so sorgfältig geplant. Allein diese in jedem Detail perfekte Nachahmung hat mich fünfzehntausend Dollar gekostet. Aber es gibt trotzdem variable Faktoren. Zum Beispiel den Speichel. Ein bedauerlicher Fehler, der deinen Verdacht geweckt hat. Aber du mußt wissen, daß ich dich geliebt habe.« Sie würde jeden Augenblick zu Boden stürzen, sich in entsetzlichen Krämpfen winden und wahnsinnig werden, dachte sie. Sie mußte ihn irgendwie zum Schweigen bringen. »Und als ich sah, wie die anderen mich liebten«,
flüsterte er mit weit geöffneten Augen in Richtung Decke, »mußte ich die Ärmsten ebenfalls mit Kopien versorgen. Sie lieben mich doch so sehr. Du erzählst ihnen hoffentlich nichts davon, Martha? Versprich mir, daß du mir den Auftritt nicht verdirbst. Ich bin sehr müde, und ich möchte nur meinen Frieden, ein gutes Buch, etwas heiße Milch und viel Schlaf. Du rufst sie bestimmt nicht an, um mich zu verraten?« »Dieses Jahr, ein ganzes Jahr lang, bin ich allein gewesen, jede Nacht allein gewesen«, sagte sie wie betäubt. »Ich habe mich nur mit einer Marionette unterhalten! In ein Nichts verliebt! Allein nicht mit wirklichen Menschen gelebt!« »Ich kann dich noch immer lieben, Martha.« »Mein Gott!« rief sie und griff nach dem Hammer. »Laß das, Martha!« Sie schlug ihm den Schädel ein, ließ das schwere Werkzeug auf seine Brust niedersausen und drosch auf seine wild zuckenden Arme und Beine ein. Sie bearbeitete den weichen Schädel, bis unter der Haut blanker Stahl zum Vorschein kam. Und dann verstreute eine plötzliche Detonation Messingzahnräder und Drahtteile über den ganzen Raum. »Ich liebe dich«, sagte der Mund des Mannes. Sie schlug mit dem Hammer zu, und die Zunge fiel heraus. Die Glasaugen rollten über den Teppich davon. Sie zertrümmerte das Ding, bis es wie die Überreste
einer elektrischen Spielzeugeisenbahn auf dem Boden lag. Sie lachte, während sie damit beschäftigt war. In der Abstellkammer neben der Küche fand sie mehrere große Pappkartons. Sie packte die Zahnräder und Drähte und Metallteile hinein und verschnürte die Kartons. Zehn Minuten später hatte sie den Hausdiener von unten zu sich gerufen. »Liefern Sie die Pakete bei Mister Leonard Hill am Elm Drive siebzehn ab«, sagte sie und gab ihm ein Trinkgeld. »Gleich jetzt, noch heute abend. Wecken Sie ihn auf, und sagen Sie ihm, Sie hätten eine Überraschung von Martha abzugeben.« »Eine Überraschung von Martha«, wiederholte der Hausdiener. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, saß sie mit der Pistole in der Hand auf der Couch, spielte nervös mit der Waffe und lauschte. Das letzte Geräusch in ihrem Leben war das leise Klirren der Pakete, als sie den Flur entlanggetragen wurden: Metall klingelte leise, Zahnrad gegen Zahnrad, Draht gegen Draht, schwächer werdend, verstummend.
SHELLY LOWENKOPF
Appetit kommt beim Essen Seitdem ich damals vor einem Vierteljahr diese schreckliche Erfahrung mit Hemingway gemacht hatte, mußte ich mit dem Impuls leben. Ich hatte es mir angewöhnt, geistesabwesend auf Papierfetzen herumzukauen, während ich Stories von Nick Adams las. Dabei dachte ich mir ebensowenig, wie sich Herrchen vermutlich denkt, wenn er etwa beim Fernsehen Vita-Salzstangen knabbert. Ich aß einen ganzen Vormerkkalender, während ich Licht im August durchblätterte. Aber die Sucht begann eigentlich mit einer Erstausgabe von Haben und Nichthaben. Als ich Haben und Nichthaben so nackt und verwundbar ohne Schutzumschlag im Bücherregal sah, war ich verloren. Mein Körper reagierte auf diesen übermächtigen Impuls mit fliegender Hitze. Die Vibrationen der Oberflächenverdrahtung wurden so intensiv, daß alle Signale meiner Informationsspeicher darin unterzugehen schienen. In meinem Schädel – Typ II, weiblich – sprach schließlich die Notschaltung für Realitätskontrolle an, und ich hörte das heimtükkische Summen der Automatik: »Du bist jetzt in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Deine Vernunft war nur
zeitweise gestört. Die während dieser Unterbrechung aufgenommenen Eindrücke werden nicht programmiert.« Bevor jedoch das Tonband mit der aufreizend herablassenden Stimme abzulaufen begann, hatte ich bereits das ganze Buch gegessen. Nachdem der Überlastungsschutz für Realitätskontrolle sich wieder abgeschaltet hatte, spürte ich ein verstohlenes Flattern der winzigen Lochkarten in meinem Psycho-Suggestionsspeicher, der heimlich Informationen über Herrchen auswertete, um dadurch festzustellen, ob mich irgendein orales Syndrom in seiner Persönlichkeit dazu verleitet hatte, das Buch zu essen. Anscheinend handelte es sich jedoch um einen unbegründeten Verdacht, denn obwohl ich später weitere Bücher verschlang, wurde er nicht wieder laut. In den nun folgenden drei Monaten litt ich immer mehr unter diesem unerträglichen Zustand, bis ich endlich den Mut aufbrachte, Herrchen meine Schwäche zu beichten. Er hielt betrübt einen angenagten Buchrücken aus grünem Leinen ans Licht. »Jahrmarkt der Eitelkeit«, las er vor. »William M. Thackeray.« »Die erste Ausgabe«, erklärte ich ihm. »Dagegen kommt so leicht nichts an – besonders die zarten Innenblätter sind köstlich. Ich habe es schon mit Taschenbüchern und Paperbacks versucht, aber das genügt einfach nicht mehr. Und als mir klar wurde, daß
es unbedingt Erstausgaben sein mußten, habe ich mich an weniger bekannte Autoren gehalten.« Herrchen schüttelte traurig den Kopf, während ich fortfuhr: »Ich habe zwei Erstausgaben von Lad, ein Hund gegessen. An einem einzigen, schrecklichen Wochenende habe ich sogar die gesammelten Werke von Albert Payson Terhune verschlungen. Zum Glück habe ich am New Santa Monica Boulevard ein Antiquariat entdeckt. Dort gab es mehrere Erstausgaben von Horatio Alger und eine vollständige Reihe TailspinTommy-Bücher, die ich wirklich genossen habe.« Herrchen seufzte schwer. »Du hast alle Stories gegessen, die ich als Junge gelesen habe.« Mein Psycho-Suggestionsspeicher drängte mich zu einer tröstenden Bemerkung, aber ich schwieg trotzdem. »Vermute ich richtig, daß du auch Tarzan probiert hast?« »Nur ein paar Titel. Dann hat sich plötzlich alles geändert, als steuerte ich unbewußt irgendein vorbestimmtes Ziel an. Jetzt müssen es ernsthafte Schriftsteller mit Ausdrucksvermögen und Durchschlagskraft sein. In letzter Zeit gefällt mir besonders F. Scott Fitzgerald. Nach Steinbeck war ich fast pleite. Fünfzehn Fastgold für eine erste Ausgabe von Früchte des Zorns! Aber sie war ihr Geld durchaus wert, das muß ich zugeben.«
Herrchens Haltung versteifte sich merklich. »Ich kann nur hoffen, daß du wenigstens den Anstand besessen hast, dich nicht auch an Thomas Wolfe zu vergreifen.« Mein Psycho-Suggestionsspeicher empfahl ganz offen eine Lüge, aber mein Realitätsgyro summte bereits kräftig. »Ich habe die ersten sechzig Seiten von Hinter jenen Bergen gegessen ...« Langes betroffenes Schweigen. »Wir essen also Bücher, wie?« Dr. Coulatz starrte mich forschend von unten herauf an. Er drängte mich fast unmerklich von seinem Bücherregal fort auf den Untersuchungstisch zu, über dem eine helle Lampe hing. Der Arzt war untersetzt, breitschultrig, sonnengebräunt, schwarzhaarig, trug eine dicke Hornbrille und machte ständig ein sorgenvolles Gesicht. Er demonstrierte seine Verachtung für jeglichen Konformismus, indem er über seinem Maßanzug aus Thermo-Kunststoff einen weißen Baumwollkittel trug und sich zudem weigerte, Kontaktlinsen zu tragen. Selbst die Möbel in seinem Sprechzimmer waren handgearbeitet, und ich sah sofort, weshalb Herrchen so große Hoffnungen auf ihn setzte. Er war mir auf den ersten Impuls sympathisch. »Glaub mir, ich würde dir gern einen Vertrauensbeweis geben«, sagte er und brachte zwei Bände vor
mir in Sicherheit, als ich mich dem Bücherregal näherte, »aber das sind signierte Erstausgaben. Grays Androiden-Anatomie und Spock II über Roboter. Aus meiner Studienzeit.« Mein Realitätsgyro kam fast ins Stottern und schwankte heftig, als plötzlich eine unvorhergesehene Abwehrreaktion einsetzte. Aber Coulatz war als Arzt in der Lage, eine Reprogrammierungs-Therapie durchzuführen, die bestimmt nicht eben angenehm sein würde. »Keine Angst, Ihre Bücher sind vor mir sicher«, sagte ich deshalb. »Sachbücher interessieren mich überhaupt nicht.« Coulatz kam näher. »Schön«, meinte er, »nehmen wir also deine Brustplatte ab, damit wir einen Blick auf die Bescherung werfen können.« Er saß auf einem niedrigen Hocker vor mir und breitete seine Sonden, Meßinstrumente und Spiegel griffbereit neben sich aus. Dann begann er, meine Sicherungen herauszuschrauben und sie mir in die ausgestreckte Hand zu legen. »Schon mal das Bedürfnis gehabt, an einem National Geographic Magazine zu knabbern?« »Ich kann den Geschmack von Magazinen nicht vertragen.« »Okay«, sagte er und schob einen Winkelspiegel an meiner Oberflächenhydraulik vorbei. »Schon gut.« Als er meinen Abfallbehälter entfernte, rieselte ein dünner Konfettiregen zu Boden.
»Puh«, sagte Coulatz. »War das so ein Ding?« »Der große Gatsby«, gab ich zu. »Schmuddlige Angelegenheit.« Coulatz betätigte das Pedal seines Abfalleimers und warf die Überreste einer Erstausgabe hinein, die mich zwölf Fastgold gekostet hatte. »Hör mal, dieser Anblick regt dich doch nicht etwa wieder auf, oder?« »Ebensowenig wie ein Steak, das Ihnen hochgekommen ist, Sie aufregen würde«, antwortete ich gereizt. Da er meine Oberflächenservos ausgeschaltet hatte, war der Psycho-Suggestionsspeicher weniger reaktionsschnell als gewöhnlich. »Okay. Okay. Du hast aber ein ziemlich temperamentvolles Realitätsprogramm, wenn du so leicht reizbar bist. Kein Wunder, daß du ... He! Was ist das?« Coulatz zerrte an meinen Innereien herum und zog eine Schaltplatte heraus. »Wer hat das gemacht?« wollte er wissen. »Wer hat deine Koordinationssteuerung zuletzt überprüft? Welcher Trottel hat diesen Blödsinn angestellt?« »Herrchen hat mich zu Kurasony geschickt.« »Ich kenne keinen Doktor Kurasony«, knurrte Coulatz. »Aber der Mann ist offenbar ein Pfuscher.« »Kurasony ist eigentlich kein Arzt«, erklärte ich ihm. »Man könnte ihn vielleicht als Praktiker bezeichnen. Ihm gehören einige Münzcomputer in Be-
verly Hills. Herrchen sagt, er sei mit den Händen unglaublich geschickt.« »Ein Zauberer, was? Diese verdammten Japse. Sieh dir das an. Er hat einen alten Indianerkopf-Penny an deine Koordinatorplatte gelötet, anstatt eine Sicherung zu nehmen. Kein Wunder, daß du Bücher ißt.« »Nur Romane«, erinnerte ich ihn. Coulatz ignorierte die Bemerkung und hielt mir die kleine Platte schweigend vors Gesicht. Zwischen den blitzenden Transistoren in verschiedenen Farbkennungen und den patentierten Relais war tatsächlich ein uralter Kupferpenny angelötet. Die Wirklichkeit schaltete sich automatisch dreißig Sekunden lang in mir ab, während ich eine phantastische Rache an Kurasony programmierte. Dann brachte mich die Notschaltung langsam wieder in die Gegenwart zurück, löschte mehrere Bänder mit Kraftausdrücken und anti-ethnischen Begriffen aus meiner aktiven Erinnerung und gab mir das beruhigende Gefühl schuldfreier Rache. »Das ist immer die beste Therapie«, sagte Dr. Coulatz. Er hielt einen heißen Lötkolben in der Hand. »Dieser verrückte Indianerkopf-Penny. Vielleicht erklärt das alles. Hast du manchmal Schwindelanfälle? Plötzlich aussetzende Körperbeherrschung? Häufige Sehstörungen?« »Nur wenn ich Bücher esse.«
Coulatz hatte den Penny schon nach wenigen Sekunden vom Lötzinn befreit. Er warf ihn mit einer verächtlichen Bewegung zu Boden. »Dieser gerissene Japs. Hier. Jetzt löten wir eine richtige Sicherung an. Das müßte reichen.« »Hoffentlich«, sagte ich. Zwei Wochen später stand ich trotz der glänzenden, neuen Sicherung wieder in dem Antiquariat am New Santa Monica Boulevard. Leo, der fette, kleine Besitzer des Ladens, begrüßte mich mit einem wissenden Lächeln. »Du ahnst gar nicht, was ich für dich habe«, sagte er mit verzücktem Gesichtsausdruck. Seine dicken Hände verschwanden unter der Theke und brachten ein schweres Buch mit erstklassigem Leineneinband zum Vorschein. »Das ist der Höhepunkt«, sagte Leo. »Der absolute Höhepunkt. Alles andere war bisher nur eine Grundlage. Das merkst du gleich, wenn du es mit dem hier versuchst.« Er blinzelte mir mit Verschwörermiene zu und flüsterte: »Herman Wouk!« Mein Aneroidbarometer fiel, und meine relative Feuchtigkeit sank scharf ab. »Nichts zu machen«, sagte ich. »Kleine«, flehte er, »Jungblut Hawke! Wie oft hast du Gelegenheit, ein Epos zu erwischen?« »Tut mir leid, Leo.«
Er schlug nervös das Titelblatt auf. »Eine Erstausgabe. Für zwölf Fastgold geradezu geschenkt.« Ich schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Leo.« Er nahm meinen Arm. »Okay. Okay. Du bringst mich noch ins Grab!« Dann griff er wieder unter den Ladentisch und grinste dabei zuversichtlich. »Das hatte ich mir eigentlich für deinen nächsten Besuch aufgehoben. Aber hier – was hältst du davon?« Meine relative Feuchtigkeit schnellte sofort nach oben. Die Nackten und die Toten! »Achtzehn Fastgold«, sagte Leo seelenruhig. Meine Oberflächenverdrahtung summte. Ich war davon überzeugt, daß Leo meinen Realitätsgyro gurgeln hörte und fragte mich einen Augenblick lang, was Kurasony mit mir angestellt hatte. »Ich habe aber nur zehn.« »Fünfzehn«, sagte Leo fest. »Nicht einen Fastgold weniger. Das ist eine Menge Buch, Kleine.« »Ich habe nur zehn.« »Arme Kleine«, bemitleidete Leo mich. »Vielleicht kann ich es dir aufheben. Aber ich warne dich – das Zeug geht weg wie warme Semmeln!« Ich schaltete mich automatisch dreißig Sekunden lang ab, um eine Phantasieband-Therapie anzuwenden. Als ich wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte, stellte ich fest, daß Leo mein Schweigen für Feilschen gehalten hatte. Er war auf siebeneinhalb herunterge-
gangen. »Gott ist mein Zeuge, daß ich bei diesem Preis nur meine Selbstkosten decke.« Ich hatte ein schlechtes Gefühl beim Kauf und kam mir sogar noch schlechter vor, als ich hinter einigen Büschen im Roxbury Park kauerte, gierig den dicken Roman verschlang und die vertraute Warnung der Realitätskontrolle ignorierte: »Achtung, du befindest dich jetzt außerhalb der Wirklichkeit ...« Als ich nach diesem köstlichen Mahl wieder auf die Beine kam, spielte das Band für moralische EgoAufrüstung in meinem Kopf lauter als je zuvor. Leider hatte ich keine Möglichkeit, die Lautstärke etwas zu verringern. »Du bist ein hochwertiger Gestaltandroide«, erinnerte mich das Tonband. »Dein Besitzer hat dich gutgläubig und für teures Geld erworben. Du bist ihm gegenüber verpflichtet; du mußt für ihn logisch und objektiv funktionieren. Reiß dich also gefälligst zusammen!« Ich wischte einige Grashalme von meinem Kasack, holte tief Luft und ging in Richtung Olympic Boulevard weiter. Unterwegs begegnete ich einem großen, männlichen Androiden. Er war mattblau, hatte ein gutgeformtes Gesicht und sogar Augen mit richtigen Lidern. Das ließ vermuten, daß er in der Öffentlichkeitsarbeit tätig war. Nur Androiden, die täglich mit vielen Menschen zusammenkamen, besaßen so wohlgeformte und detailgetreue Gesichter.
»Hallo, Liebling«, sagte er und blieb vor mir stehen. »Sei gegrüßt«, antwortete ich zögernd, während ich versuchte, meinen ersten Eindruck von ihm auszuwerten. »Ich habe beobachtet, wie du dort drüben das Buch gegessen hast«, sagte der blaue Androide. »Ich habe alles genau gesehen.« »Du bist offensichtlich weder ein Pflege-Androide noch ein Polizei-Androide. Du hast nicht das Recht, mich hier festzuhalten.« »Hör zu, Puppe«, sagte er, »du kannst die Bürgerrechte ruhig wieder abschalten. Ich habe nicht die Absicht, dich einlochen zu lassen. Außerdem scheint dir die Sache Spaß gemacht zu haben. War es schön?« »Ich bin nicht programmiert, dir irgendeine Auskunft zu geben.« Ich ging weiter, aber der hartnäckige blaue Androide wich nicht von meiner Seite. »Du bist etwas ganz Besonderes, wie?« fragte er. »Ich möchte gern einmal deine Seriennummer sehen.« Meine Lochkarten flatterten wie welkes Laub im Herbstwind. Innerhalb weniger Sekunden wußte ich daher, daß der blaue Androide geheime, spezielle Interessen verfolgte. »Androiden zeigen ihre Seriennummer nur Pflege-Androiden, Polizei-Androiden oder anderen Androiden, mit denen sie zusammenarbeiten. Ich bin nicht programmiert, mit dir zu arbeiten.«
»Du könntest es aber sein«, meinte der blaue Androide. »Du siehst wie einer dieser besonderen Gestalter aus. Ich führe Umfragen für die Sozialbehörde durch. Ich stelle Menschen peinliche Fragen.« »Ich weigere mich strikt, mit dir zu programmieren.« Ich wollte mich wieder in Bewegung setzen, obwohl mich irgend etwas an ihm beunruhigte. Dann sah ich mich automatisch nach Menschen um. Wir waren völlig allein. »Du hältst dich wahrscheinlich für ziemlich einzigartig«, sagte der blaue Androide, »aber das zeigt nur, wie beschränkt deine Informationsspeicher sind. Ich kenne Androiden, die noch viel schlimmere Dinge tun.« »Ist das wahr?« »Ich habe dir doch erzählt, daß ich für die Sozialbehörde arbeite. Ich bin nicht programmiert, falsche Auskünfte zu erteilen.« »Gibt es andere, die Bücher essen?« »Hör zu, ich kenne sogar einen Kerl, der Autos ißt.« »Könntest du mir diese anderen zeigen?« »Ja, wenn du mit hinter die Büsche kommst und mich deine Seriennummer sehen läßt.« Ich folgte ihm widerstrebend. Der blaue Androide wollte, daß ich meine Brustplatte abnahm. Er nannte auch offen einen Grund für diesen Wunsch, aber ich
widersetzte mich standhaft. Meine Programmierung versicherte mir, der blaue Androide sei bereit, mich zu den anderen zu führen, bevor ich ihn mein Brustleitungsnetz sehen ließ. Eine Woche später traf ich wieder mit dem blauen Androiden zusammen. Wir hatten uns am Griffith Park verabredet. In einem großen Haus, das wegen überhöhter Faststeuern und allzu großer Unterhaltskosten längst von den ursprünglichen Besitzern verlassen worden war, trafen wir etwa zwei Dutzend andere Androiden, die teilweise ihre Programmierung ausgeschaltet hatten und offen von ihren Wunschträumen und Kompulsionen sprachen. Der blaue Androide ließ mich dreimal allein, um mit aufgedonnerten weiblichen Robotern in leerstehenden Räumen zu verschwinden. Ich wußte, daß er dort ihre Seriennummern zu sehen verlangte. Ein eleganter, silbergrauer Buchhaltungsandroide forderte mich auf, meine Brustplatte abzunehmen, aber ich weigerte mich. Kurze Zeit später stapften zwei nichthumanoide Lastenroboter herein. Ich war mir wieder einmal meiner überlegenen Funktion bewußt, als ich beobachtete, wie diese ungefügen Roboter ihre Brustplatten öffneten und durch den Raum trampelten. An diesem Punkt wurde meine Programmierung wirk-
sam, und ich reagierte sofort, indem ich einem der beiden Roboter seine Brustplatte vor die Optik hielt und ihn dazu drängte, sie wieder zu befestigen. Ich wurde allerdings schon eine Sekunde später von drei Arbeitsandroiden behindert, die niedrigere Übersetzungen hatten. Sie waren wesentlich stärker und deshalb imstande, mich mühelos in eine Ecke abzudrängen, während die beiden Roboter ihren grobschlächtigen Auftritt fortsetzten. Mein Gyro schwankte bedenklich, und ich schaltete mich deshalb kurzzeitig ab, um eine Beruhigungstherapie durchzuführen. Als ich in die Wirklichkeit zurückkehrte, lasen die beiden Roboter inzwischen abwechselnd aus einer Reparaturanleitung für Androiden vor. Ihre Fotozellenaugen glitzerten lüstern, während sie intime Konstruktionsdetails von Androiden meiner Klasse erwähnten. Um mich herum summten Oberflächenverdrahtungen, die auf Resonanzfrequenzen vibrierten. Meine moralische Ego-Aufrüstung erinnerte mich an meine Pflicht. Das Band spielte so laut, daß ich fast gleichzeitig eine Warnung programmierte: »Deine akustischen Rezeptoren sind gefährlich überlastet und erreichen bald den Kristallisationspunkt.« Mein Stromverbrauch war jetzt so hoch, daß ein weiteres Band mahnte: »Du erschöpfst deine Batterien vorzeitig. Zieh dich zurück! Schalte dich aus!«
Die Geräusche vibrierten und waren kaum noch voneinander zu unterscheiden. »Zurückziehen!« »Ausschalten!« »... deine Pflicht deinem Besitzer gegenüber ...« »... deine akustischen Rezeptoren ...« »... zeitweilig außerhalb der Wirklichkeit ...« Als der blaue Androide vor mir auftauchte, hielt ich schützend beide Hände vor meine Brustplatte. Dr. Coulatz betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. »Dieser Japs hat außer der Sache mit dem Penny auch noch anderen Blödsinn angestellt, nicht wahr?« »Nein. Er hat nur die eine Reparatur ausgeführt.« »Hmm, irgend etwas ist nicht in Ordnung. Androiden haben keine Gefühle. Sie sind dafür konstruiert, Informationen auszuwerten.« »Was ich durchgemacht habe, fühlte sich aber obszön an«, sagte ich. Coulatz lächelte plötzlich. »Du verwechselst programmierte Reaktionen mit menschlichen Empfindungen. Nur Menschen können Obszönitäten empfinden. Du hast nur eine Reihe obszöner Umstände berichtet.« »Aber ich wünsche trotzdem eine Reprogrammierung. Seit diesem Erlebnis fühle ich mich beschmutzt. Wenn der Realitätsgyro eines Androiden das kriti-
sche Minimum erreicht, ist er programmiert, eine Reprogrammierung zu verlangen.« »Immer mit der Ruhe«, sagte Coulatz, »das weiß ich selbst.« Er legte einige Galvanometer an meine Spulen. »Wie steht es mit diesen pervertierten Androiden und obszönen Robotern, die du angeblich gesehen hast? Wie bringen sie es fertig, nicht von Polizei-Androiden erwischt zu werden?« »Vermutlich sind sie imstande, eine Justifikation zu programmieren.« »Meiner Meinung nach brauchst du wirklich nur eine kleine Anpassung.« »Ich verlange eine Reprogrammierung. Ich bestehe auf einer Reprogrammierung, sonst schließe ich meine sämtlichen Relais kurz.« Ich polte mein Servosystem um und begann laut zu brummen. Coulatz reagierte sofort. »Ihr Androiden benehmt euch wie unvernünftige Kinder, wenn ihr einen kleinen Knacks abbekommen habt. Wie Babys, die einen Wutanfall haben. Okay, okay, du kannst wieder umschalten. Du bekommst deine verdammte Reprogrammierung.« Die Reprogrammierung war intensiv und heftig. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Von Menschen vorbereitete Informationen rauschten in mich hinein, füllten meine Gedächtnisspeicher, drangen durch
mein Leitungsnetz und hinterließen tiefe Eindrücke auf meinen Impressionskarten. Am stärksten war das intensive Programm zur Erzeugung hohen Verantwortungsbewußtseins in Verbindung mit einer moralischen Ego-Aufrüstung, das meine Funktion als Gestaltandroide neu definieren sollte. »Du hast die Aufgabe, den Wirkungsgrad einheitlicher Systeme zu vergrößern und die dabei auftretenden Probleme zu lösen«, sagte die Stimme auf dem Programmierungsband. »Deine gesamte Funktionsweise beruht jetzt auf deiner Fähigkeit, den Wirkungsgrad der Systeme zu beurteilen, zu deren Untersuchung du programmiert wirst.« Als ich die Reprogrammierung hinter mir hatte, sah ich Herrchen neben Dr. Coulatz stehen. Mir fiel selbstverständlich auf, daß er sich meinetwegen Sorgen machte. »Ist sie jetzt wieder in Ordnung?« »Natürlich«, antwortete Coulatz. »Ich habe ihr alles eingetrichtert, was ich hatte.« Herrchen warf mir einen besorgten Blick zu. »Fühlst du dich überlastet?« fragte er. Das war ich allerdings. Die Stimmen und Informationen der Tonbänder hallten schmerzhaft in meinem Kopf wider und machten mich fast schwindlig, aber ich antwortete trotzdem: »Keine Überlastung.« Das half Herrchen, indem es seine Befürchtungen
verringerte. Ich wußte genau, was ich jetzt zu tun hatte. »Und die verrückte Sache mit den Büchern ist endgültig vorbei?« fragte Herrchen Dr. Coulatz. »Von der Angewohnheit ist sie geheilt. Das tut sie nie wieder. Doktor Reingold G. Coulatz garantiert dafür.« In den folgenden zwei Wochen arbeitete ich mit einer Geschwindigkeit und Präzision, die Herrchens Herz erfreute. Ich kontrollierte zwei große Werke, in denen Raumsonden hergestellt wurden, wertete die dort aufgenommenen Informationen aus und ließ anschließend drei Fertigungsstraßen völlig umbauen, wodurch sich die Montagezeit jeder Raumkapsel um sechsdreiviertel Fastminuten verringerte. Die Manager beider Fabriken waren höchst beeindruckt. Meine Oberflächenverdrahtung summte vor Stolz. Ich funktionierte jetzt als hochwertige Maschine und bereitete den Menschen Vergnügen. Eine Woche später machte ich mich auf den Weg zum Roxbury Park, wo ich den blauen Androiden traf. »Hallo, Liebling«, sagte er. »Du hast es neulich abends so eilig gehabt. Wo bist du inzwischen gewesen?« »Ich habe für meinen Besitzer gearbeitet«, erwiderte ich.
»Hast du in letzter Zeit ein gutes Buch gegessen?« »Nein.« Meine Verdrahtung begann zu summen, während ich die Lochkarten in meinem Kopf durchblätterte. Ich wußte genau, was in diesem Fall zu tun war. Ich sprach freundlicher als zuvor. »Möchtest du noch immer mein Brustleitungsnetz sehen?« »Nichts lieber als das«, sagte der blaue Androide. Er verschwand sofort hinter den Büschen. Wir waren völlig allein, ungestört, außer Sicht. Der blaue Androide streckte sofort eine Hand nach mir aus und schob die Abdeckung über meiner Seriennummer zur Seite. »Ich habe eine Bitte«, sagte ich. »Was du willst, Puppe!« antwortete der blaue Androide und konnte dabei einen Funkenrülpser nicht völlig unterdrücken. »Ich möchte deine Innenverdrahtung sehen«, flüsterte ich. »Ihr Gestalter geht wirklich gleich aufs Ganze!« Er nahm seine Brustplatte ab. Meine Lochkarten flatterten heftig, als ich mich näher an ihn drängte. Die tikken Zuleitungen seiner Programmsteuerung waren hellrot und gelb. Ich griff plötzlich danach, riß mit aller Kraft daran und neutralisierte das Feld in meinen Händen sofort, um einen möglichen elektrischen Schlag zu vermeiden. Blaue Funken sprühten und knisterten, während der Androide verzweifelte Abwehrbewegungen
machte. Als er endlich stolperte und fiel, griff ich nach weiteren Drähten. Die völlig überlasteten Leitungen in seinem Innern begannen zu rauchen. Er trat noch einmal magnetisch mit den Füßen und lag dann still. Ich hörte nur das letzte ersterbende Klikken seiner Solenoiden. Dann bewegte der blaue Androide sich nicht mehr. »Du schmutziger Wüstling«, sagte ich. »Du schmutziger, perverser Wüstling!« Ich schätzte den Umfang der Reparaturen ab, die erforderlich sein würden, um den blauen Androiden wieder funktionsfähig zu machen. Er mußte reprogrammiert werden, damit er eine nützliche Rolle übernehmen konnte. Und dann ... Wir würden gemeinsam in das alte Haus am Griffith Park zurückkehren, wenn die anderen sich dort nachts versammelt hatten. Dort würden wir als Team zusammenarbeiten – jeweils mit einem anderen Androiden im nächsten leeren Zimmer ... leise Worte ... verringerte Aufmerksamkeit ... und dann der blitzschnelle Griff nach der Innenverdrahtung ... Mir war schon jetzt klar, daß das sogar noch aufregender sein mußte, als sich durch William Faulkners gesamtes Yoknapatawpha County hindurchzuessen.
CHAD OLIVER
Die Stadt im Eis »Du ziehst, Arl«, sagte Großvater Smith. Arl hörte ihn nicht. Er starrte auf den Spieltisch, ohne etwas zu sehen. Er lauschte angestrengt. Tickschhh, tick-schhh. Das war wieder Schnee, den der Wind gegen die oberen Abdeckplatten trieb. Tickschhh. Er deckte sie zu, dichter und dichter, schloß sie von der Welt ab. Tick-schhh. Heftiges Schneetreiben über den Toten, die in einem gigantischen Sarg aus Eis lebten ... »Arl!« sagte Großvater Smith. »Mein Gott«, jammerte Großmutter Smith. »Du hältst das Spiel auf!« »Arl, Liebling«, flüsterte Anne und berührte leicht seinen Arm. Arl sah auf. »Tut mir leid, Großvater«, entschuldigte er sich. »Ich muß einen Wachtraum gehabt haben.« »Hmpf!« schnaubte Großvater Smith und warf Großmutter Smith einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wachträume sind aber nicht angebracht, wenn du es im Leben zu etwas bringen willst, junger Mann. Du mußt die Hand am Pflug behalten, sage ich immer.«
Großmutter Smith nickte zustimmend und klapperte mit ihren Stricknadeln. Die Hand am Pflug. Großvater Smith sprach oft davon, aber was bedeutete es wirklich? Was war ein Pflug, und weshalb sollte man ihn nicht loslassen? Arl beobachtete Großvater Smith aus dem Augenwinkel heraus. Er war alt und weißhaarig, hatte dicke blaue Adern auf den kraftlos gewordenen Händen. Er trug heute seinen abgeschabten Sergeanzug, an dessen Weste der oberste Knopf fehlte. Seine Augen waren durchdringend und ungeduldig. Er wirkte fast wie eine Karikatur, die jedermanns listigen, alten Großvater darstellen sollte, und schien irgendwie alle Eigenschaften dieses Typs in sich zu vereinen. Arl lächelte eisig. Tick-schhh. »Na, junger Mann? Worauf wartest du noch – auf Weihnachten?« Weihnachten. Alle dreihundertfünfundsechzig Tage holten sie einen Baum aus dem Park und stellten ihn im Großen Saal auf. Dann schmückten sie ihn mit Kerzen und Kugeln, und einer von ihnen trug einen roten Anzug, wenn er den Leuten Geschenke gab. Es waren natürlich immer die gleichen Geschenke. »Augenblick«, sagte Arl nachdenklich. »Augenblick.« Er betrachtete aufmerksam den Spieltisch und hör-
te dabei, daß Anne neben ihm ängstlich erregt atmete. Er durfte sich jetzt keinen Fehler leisten. Er zwang sich dazu, ein interessiertes Gesicht zu machen. Er konnte Kinder wählen, aber dann fing Großvater bestimmt wieder damit an. Der Tag im Büro war ebenfalls eine Möglichkeit – allerdings keine gute. Das Stadion, das Konzert, die Gefühlskrise – aber das war alles noch nicht an der Reihe. Er entschied sich für Angeln am Gebirgsbach und drückte den entsprechenden Knopf. Großvater und Großmutter lächelten wohlwollend. Es war wirklich gar nicht so schlecht, obwohl er genau wußte, was ihn erwartete. Er watete durch den eiskalten Fluß, hörte das Wasser an seinen hohen Gummistiefeln vorbeirauschen und spürte deutlich, daß er sich in Colorado am Gunnison befand und daß im dunklen Wasser hinter den beiden moosbewachsenen Felsen ... Colorado, flüsterte eine Stimme in seinem Innern. Das war einer der amerikanischen Staaten. Er hatte es letztesmal nicht gewußt. Er fing die gleiche prächtige Forelle, die er schon immer in diesem Tümpel gefangen hatte, zog sie langsam näher ans Ufer, wo er den gesprenkelten Körper mit dem weit ausgestreckten Kescher erreichen konnte, so daß eine rotgeränderte Schwanzflosse durch die Maschen des Netzes hinausragte. Er
brach der Forelle den Hals und legte sie auf die grünen Blätter in seinem Fischkorb. Dann begann es wie immer unangenehm kalt zu nieseln, und die Tropfen klatschten ins Wasser und durchnäßten den Rücken seines Khakihemds. Es wurde rasch dunkel ... Tick-schhh. Er saß wieder im Zimmer. »Schön, junger Mann«, brummte Großvater Smith, »das genügt für heute.« Er drückte auf einen Knopf und ließ den Spieltisch im Boden versinken. Selbstverständlich war das Lebensspiel deshalb noch lange nicht zu Ende. Es war nur einmal zu Ende, erinnerte Arl sich bedrückt. Das Leben endete mit dem Tod ... Großvater zündete seine stinkende Pfeife an, und Großmutter strickte weiter. Sie strickte Babysachen und lächelte und summte dabei vor sich hin. »Allmählich Zeit, daß ihr jungen Leutchen für Nachwuchs sorgt!« meinte Großvater jovial, ohne dabei die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Nichts geht über das Getrappel kleiner Füße im ganzen Haus.« »Irgendwann in nächster Zeit«, sagte Anne und versuchte zu lächeln. »Verschiebe nicht auf morgen, was du heute kannst besorgen, Kind«, erinnerte Großmutter sie. Der Schnee fiel schwer auf die oberen Abdeckplatten. Arl fühlte ihn fast körperlich und spürte die vielen Tonnen weißer Kristalle auf sich lasten.
Großvater warf einen Blick auf seine große Taschenuhr. »Zehn Uhr, Mutter!« sagte er. »Wir müssen allmählich gehen.« »Mein Gott!« rief Großmutter aus und legte ihr Strickzeug fort. »Ich weiß einfach nicht, wo die Zeit immer bleibt.« Großvater und Großmutter standen auf. »Hoffentlich besucht ihr uns bald wieder einmal«, sagte Arl zum Abschied an der Tür. »Klar, wird gemacht, ihr könnt euch darauf verlassen«, antwortete Großvater Smith. »Und ich bringe euch wieder ein Glas selbstgekochtes Apfelgelee mit«, versprach Großmutter Smith. »Gute Nacht!« »Gute Nacht, Kinder!« Sie öffneten die Tür und gingen in den Tunnel hinaus. Sobald sie darin verschwunden waren, brach Anne in Arls Armen zusammen. Sie zitterte heftig. »O Gott«, schluchzte sie fassungslos. »Die beiden wirken so echt!« Am nächsten Morgen wurde der Krieg erklärt. Die Zeitung auf dem Frühstückstisch trug den roten Aufdruck Extrablatt! in der linken oberen Ecke, und die riesige, schwarze Schlagzeile bestand nur aus einem Wort:
KRIEG! Arl las die Meldung gelangweilt durch, während Anne in der Küche beschäftigt war. Selbstverständlich mußte sie das Frühstück nicht tatsächlich zubereiten – die Maschinen nahmen ihr auch diese Arbeit ab. Aber sie mußte die entsprechenden Bewegungen machen, sonst wurde ihr Fall zur Behandlung gemeldet. Arl schrak bei diesem Gedanken unwillkürlich zusammen und stellte sich ein Leben ohne Anne vor, in dem er mit seinem Wissen allein wäre ... Der Artikel war der gleiche, den sie bei dieser Gelegenheit immer brachten. Auch diesmal war kein Wort daran verändert worden. Nur das Datum lautete anders: Lebensstadt, 200. Tag 2904 – Der Großrat hat heute den Krieg erklärt und Lebensstadt unter Kriegsrecht gestellt, als Tausende von wilden Halbmenschen über das Oberflächeneis marschierten und sich auf die äußerste Verteidigungslinie der Zivilisation stürzten. Die Einwohnerschaft wird hiermit aufgefordert, unbedingt Ruhe zu bewahren und alle notwendigen Anordnungen der Behörden unverzüglich zu befolgen. Der erste Angriff wurde heute morgen bei Tagesanbruch von Einheiten der Ersten Armee unter Commander Wade abgewiesen. Der Einsatz nuklearer Waffen
brachte dem Gegner schwere Verluste bei und zwang ihn zu einem ungeordneten Rückzug. Die Verteidiger der Zivilisation zeichneten sich in vielen Fällen durch heldenhaften Einsatz und beispielhafte Tapferkeit aus. »Wir haben keinen Grund zur Besorgnis«, sagte Commander Wade in einer Presseerklärung. »Solange unsere tapferen Soldaten im Einsatz sind, braucht kein Bürger um sein Leben zu fürchten. Ich bin stolz darauf, diese tapferen ...« Arl warf die Zeitung auf den Boden. Anne brachte das Frühstück herein, und sie ließen sich reichlich Zeit damit. Es gab Toast, Rührei mit Schinken und Kaffee. Alles war sehr heiß und schmeckte ausgezeichnet. Anne sah wunderschön aus. Ihr blondes Haar fiel weich bis auf die Schultern herab, und die blauen Augen schienen noch zu träumen. »Was sollen wir nur tun?« »Ich weiß es nicht.« Arl stellte besorgt fest, daß Anne dunkle Ringe unter den Augen hatte, daß ihr Gesicht zu einer mühsam beherrschten Maske erstarrt war. »Ich ... ich kann das nicht mehr lange aushalten«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, daß ich nicht stärker bin, aber diese Verstellung, diese fortwährende Verstellung, während jeden Abend die beiden schrecklichen Kreaturen bei uns zu Besuch sind ...«
Ihre Stimme wurde immer höher und klang schließlich fast hysterisch. Arl legte ihr einen Arm um die Schultern. »Wir finden bestimmt einen Ausweg, Liebling«, sagte er. »Aber wie? Wir können doch keine Kinder in diese Welt setzen, seitdem wir alles wissen; und wenn wir es nicht tun, werden wir wieder behandelt. Dann sitzen wir auch nur herum und verfaulen wie die anderen ...« »Es dauert nicht mehr lange«, versicherte Arl ihr mit einem Selbstvertrauen, das er keineswegs empfand. »Mir fällt bestimmt etwas ein.« Tick-schhh. Schnee auf den oberen Abdeckplatten, in der Wärme der Lebensstadt schmelzend, in der Kälte von unten her wieder frierend. Und weit über ihren Köpfen der Tod, während die Halbmenschen angriffen. Arl öffnete die Tür. Von der Straße her drang Kriegslärm durch den Tunnel. Marschierende Soldaten. Eine Kapelle, die einen Marsch spielte. Gebrüllte Befehle. Vorbeirasselnde Kanonen. »Komm«, sagte Arl. »Wir sehen uns den Krieg an.« Anne seufzte. Er faßte sie am Arm und zog sie durch die Metallröhre auf den kleinen Balkon über die Straße hinaus. Der Lärm brandete gegen ihre Trommelfelle, und das wirre Durcheinander auf der Straße
verblüffte ihre Augen. Überall flatterten Fahnen im Wind. Die Luft roch nach Blüten und grünen Pflanzen, schien aber trotzdem schal und abgestanden zu sein. Als die Soldaten durch die Straßen marschierten, ergoß sich ein Konfettiregen aus den umliegenden Häusern über sie. Aus leeren Fenstern, stellte Arl fest. Er sah sich um. Die Leute in den anderen Häusern beobachteten den Aufmarsch völlig apathisch und ohne jedes Interesse. Sie sahen müde aus, und selbst die Kinder auf den Balkonen waren bedrückt und blaß und schweigsam. Arl sah zu seinen Nachbarn hinüber – Mr. und Mrs. Wilson. »Guten Morgen«, sagte er. Mr. Wilson drehte sich sehr langsam nach ihm um und starrte ihn an. »Guten Morgen, Arl«, sagte er tonlos. »Guten Morgen, Anne.« Dann entstand eine Pause, während die Kapellen spielten und die Soldaten marschierten. »Ist heute nicht herrliches Wetter?« sagte Mrs. Wilson schließlich. Sie sprach langsam und betonte jedes Wort genau, als zweifle sie an sich selbst. »Glaubt ihr, daß es noch Regen gibt? Oh, dieser schreckliche Krieg!« Als ein Zug Soldaten unter ihrem Balkon vorbeimarschierte, klatschten sie gezwungenermaßen Beifall und riefen irgend etwas zu den Männern hinunter.
»Das genügt«, flüsterte Arl. »Wir gehen wieder hinein.« Sie drehten sich um. »Anne sieht heute wirklich gut aus!« stellte Mr. Wilson fest. »Das kann man wohl sagen«, stimmte Mrs. Wilson zu. »Eigentlich allmählich Zeit, daß ihr an Kinder denkt, wenn ihr mich fragt. Nichts geht über das Getrappel kleiner Füße im ganzen ...« Arl und Anne verschwanden in der Metallröhre. Er spürte deutlich, daß Anne zitterte. Er wußte, daß er etwas unternehmen mußte, wenn er nicht Anne und alles andere verlieren wollte. Aber was konnte er tun? Das ganze Problem war ihnen erst in letzter Zeit klar geworden; sie besaßen weder Ausbildung noch Erfahrung, die ihnen bei der Lösung hätten helfen können. Aber es mußte gelöst werden. Sie saßen wieder im Wohnzimmer, verfolgten aufmerksam die Kriegsberichte im Fernsehen und lächelten pflichtbewußt über die lustigen Sendungen, die sie seit fünfundzwanzig Jahren jeden dreißigsten Tag sahen. Der Krieg verlief wie gewohnt und die Abendausgabe ihrer Zeitung trug den roten Aufdruck Extrablatt! in der linken, oberen Ecke. Die riesige Schlagzeile bestand nur aus einem Wort:
FRIEDEN! Arl machte sich nicht die Mühe, den Artikel zu lesen. Er hob den Kopf und sah nach oben, wo der Schnee noch immer auf die Abdeckplatte herunterschwebte. Er spürte die eisigen weißen Massen über sich, die den kleinen warmen Raum mit ihrem Gewicht zu erdrücken schienen. Im Fernsehen wurde ein Lustspiel gezeigt, eine dieser unendlich anständigen, sauberen und langweiligen Komödien, in denen zu jedem guten Haushalt zwei hübsche Kinder gehörten. Arl starrte auf den Bildschirm, ohne wirklich etwas zu sehen und fühlte, daß Anne neben ihm nervös und verängstigt war. Anne ... Er mußte etwas tun. Sie machten ihren Abendspaziergang im Park und begegneten dabei ihren Bekannten. Dann fuhren sie in einer ratternden Straßenbahn nach Hause und hielten sich an den braunen Holzbänken fest, wenn der Wagen kreischend eine enge Kurve durchfuhr. Die Straßenbahn war voller Leute, aber niemand stieg aus. Der alte Mann mit dem steifen Hut, der seine Zigarre rauchte und eine Zeitung las. Die komische, dicke Frau mit dem absurden blauen Hütchen. Die beiden Jungen mit den ungekämmten Haaren, die sich aufgeregt unterhielten. Waren sie nicht immer in der Straßenbahn?
Der Wagen hielt nur einmal, um sie aussteigen zu lassen. Großvater und Großmutter Smith erwarteten sie bereits, als sie nach Hause kamen, und dann spielten sie wieder. Diesmal war Anne an der Reihe; sie wählte ein Bad im Meer an der kalifornischen Küste. Großmutter Smith strickte geduldig weiter Babysachen. Als die beiden sich wie üblich um zehn Uhr verabschiedet hatten, schalteten Arl und Anne die Lichter aus und gingen zu Bett. Arl hielt sie in den Armen und hörte sie hoffnungslos schluchzen. Er hatte selbst Tränen in den Augen, ließ sich aber nichts anmerken. Er durfte nicht aufgeben, er mußte kämpfen. Anne konnte sich ohne ihn nicht länger verstellen. Und ohne Anne ... »Ich muß den Großrat anrufen«, sagte er schließlich. »So geht es einfach nicht weiter.« Anne schrak zusammen. »Aber das hat bisher noch niemand getan«, protestierte sie. »Wir wissen nicht einmal, ob ...« »Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagte er. »Wir müssen es einfach versuchen.« Schweigen. Dann: »Arl, versprich mir etwas.« »Natürlich.« »Wir lassen uns nicht wieder behandeln, nicht wahr? Statt dessen gehen wir lieber durch die Tür!«
»Ich verspreche es dir, Anne. Wir lassen es nicht nochmals zu.« Anne entspannte sich und atmete gleichmäßiger. Sie schlief. Arl lag auf dem Rücken, war hellwach und lauschte auf die nächtlichen Geräusche, die durch die Metallröhre hereindrangen. Selbstverständlich gab es in Lebensstadt weder Nächte noch nächtliche Geräusche. Trotzdem hörte er sie jetzt deutlich. Das gehörte eben zum Spiel. Irgendwo in der Ferne pfiff eine Lokomotive. Ein Frosch quakte. Eine Uhr schlug elf. Arl sah in der Dunkelheit zur Decke auf und dachte nach. Alles hatte mit den Büchern begonnen – mit den Büchern, die er in einer alten Kiste im Lagerraum gefunden hatte. Vergilbte, staubige, lange nicht mehr gelesene Bücher. Weshalb lagen sie dort? Hatte sie einer der ersten Bewohner des Hauses unter dem Eis dort zurückgelassen, damit ein anderer sie nach ihm entdeckte? War das nur Zufall, das Ergebnis eines nicht wieder rückgängig gemachten Versehens? Oder gehörten die Bücher ebenfalls zu Creens Plan? Hatte Arl sie finden sollen? Er hatte damals gehofft, dieser Fund beruhe auf einem Zufall, auf einem unglaublichen Zufall in dieser Welt, in der alles andere geplant, übersichtlich geordnet und vorausschaubar war. Aber er wußte es
nicht sicher – konnte es gar nicht wissen. Vielleicht war es eigentlich nicht weiter wichtig. Aber er konnte gegen alle Vernunft hoffen. Er warf sich schlaflos im Bett hin und her. Vielleicht gehörte das ebenfalls zu Creens Plan ... Creen. Bestimmt ein Genie, der größte Wissenschaftler seiner Zeit. Selbstverständlich nie anerkannt, weil nicht einmal seine engsten Mitarbeiter die wahre Größe dieses Mannes wirklich erfassen konnten. Der Unterschied zwischen Creen und den übrigen Wissenschaftlern war größer als der zwischen Einstein und Aristoteles; er war vorangestürmt und hatte alle anderen in seinem Kielwasser zurückgelassen. Wahnsinnig? Nein, jedenfalls nicht zu Anfang. Arl erinnerte sich an Creens Bild in einem Geschichtsbuch – groß und kräftig, mit pechschwarzem Haar und leuchtenden grünen Augen. Kein Mann, der sich nicht durchsetzen konnte, aber auch keiner, den man als verrückt abschreiben durfte. Trotzdem hatte Creen sich verändert ... Creen war vielleicht der erste Mensch seiner Zeit gewesen, der die Möglichkeiten ganz erfaßt hatte, die der wissenschaftliche Determinismus bot. Jedes Ereignis entwickelte sich aus vergangenen Ereignissen – kannte man alle Tatsachen und alle Ereignisse der Vergangenheit, konnte man den Lauf der Zukunft unfehlbar und genau voraussagen. Alles ließ sich be-
rechnen – Mutationen, ›Zufälle‹, die Reaktionen lebender Organismen, die Gedanken der Menschen. Nichts blieb mehr im ungewissen ... wenn man alle Faktoren kannte. Creen hatte schon 1982 erkannt, daß die Tage des Menschen auf der Erde gezählt waren, Kernwaffen, bakterielle Kriegführung und das unfaßbare Chaos völliger Hysterie hatten die Reihen der Menschheit bereits stark gelichtet – und es gab keinen Ausweg mehr. Der Todeskampf der Erde würde bald beginnen – riesige Erdbeben, gewaltige Sturmfluten, tobende Orkane und ständige Zunahme der radioaktiven Verseuchung. Das Ende war unvermeidlich. Es sei denn, die Faktoren ließen sich ändern. Creen machte es sich zur Aufgabe, sie zu ändern. Für einen Mann mit seiner Intelligenz und Erfindungsgabe war Geld kein Problem. Menschen ebenfalls nicht. Er überzeugte die Regierung davon, er könne eine unvorstellbar wirkungsvolle Waffe bauen, die den Krieg für immer beenden würde – dazu wäre er ohne weiteres imstande gewesen –, und erhielt die Mittel und Arbeitskräfte zugewiesen, mit denen er sein gigantisches Projekt im Nordpolargebiet in Angriff nehmen konnte. Aber Creen konstruierte dort keine unbesiegbare Waffe – statt dessen ließ er Lebensstadt bauen. Lebensstadt lag hundert Kilometer vom Nordpol
entfernt unter dem Eis, wo es nach Creens Berechnungen die zu erwartenden Erdbebenstöße am besten überstehen konnte. Es war eine monumentale Schöpfung, die nur möglich wurde, weil ein brillanter Verstand unbeschränkte Mittel und die wissenschaftlichen Möglichkeiten seiner Zeit voll ausschöpfte, in der ein fortwährender Krieg ungeahnte technische Höchstleistungen erzwungen hatte. Lebensstadt war eine Welt en miniature, ein autarker Mikrokosmos in einem Makrokosmos, der einem tödlichen Wahnsinn verfallen war. Aber auch Creen war nur ein Mensch – allerdings mit genialer Begabung. Er hatte nicht unbeschränkt viel Zeit zur Verfügung. Er kannte seine Grenzen, wußte genau, was er erreichen konnte und was ihm versagt bleiben würde. Um seinen Kampf gegen die Zeit zu gewinnen, installierte er kybernetische Steuersysteme, die er selbst entwickelt hatte, und übertrug ihnen die Aufgabe, die Stadt in Betrieb zu halten. War er damals geistig noch völlig gesund gewesen? Kannte er alle Faktoren, konnte er alle kennen? Arl stellte sich diese Fragen, während er in der Dunkelheit des Universums wach lag, dem Creen Leben eingehaucht hatte. Creen hatte Maschinen eingebaut, die automatisch mit unbeschränkt zur Verfügung stehender Atom-
kraft betrieben wurden. Er wußte genau, daß viele Generationen vergehen würden, bevor die Erde wieder bewohnbar war, und er wußte auch, wie vergeßlich die Menschen sind. Er mußte dafür sorgen, daß sie menschlich blieben. Während die Welt um ihn herum in Trümmer sank, arbeitete Creen beinahe ununterbrochen Tag und Nacht. Er stellte die Energieversorgung der Stadt sicher und programmierte die kybernetischen Steuersysteme, die nach folgenden drei Maximen funktionieren sollten: Die Menschheit muß überleben. Ihre Werte müssen erhalten bleiben. Lebensstadt darf nicht sterben. Creen überließ es seinen Maschinen, alle Details dieses Problems zu berücksichtigen, das er selbst nur ungefähr definieren konnte. An einem bestimmten Tag, als sich fünfhundert Männer und Frauen in Lebensstadt unter dem Eis aufhielten, ließ er das Gas ausströmen und setzte die Maschinen in Betrieb, um sie ein Jahrhundert lang in hypnotischem Tiefschlaf zu halten. Die Maschinen liefen an, und Creen wurde nie wieder gesehen. Niemand wußte, ob er es versäumt hatte, sich rechtzeitig in die Stadt zu begeben, oder ob die Maschinen ihn beseitigt hatten, weil sie in ihm einen Faktor sahen, der die zukünftige Entwicklung der Stadt ungünstig beeinflussen konnte.
Während die Menschen in Lebensstadt schliefen, endete praktisch alles Leben auf der Erdoberfläche, wo nur einige Pflanzen und verschiedene Insektenarten übrigblieben. Naturkatastrophen und die zunehmende Radioaktivität hatten die Erde in einen toten Planeten verwandelt, wenn man von den wenigen Eskimos absah, die irgendwie im Nordpolargebiet am Leben geblieben waren, weil es dort noch genügend Meerestiere gab. Im Laufe der Zeit waren die Eskimos durch Mutationen zu den Halbmenschen geworden, die einen unablässigen, hoffnungslosen Kampf gegen die Wärme der Lebensstadt führten. Die Maschinen erkannten Möglichkeiten, an die Creen nie gedacht hätte. Sie besaßen Macht und Zeit. Sie setzten ihre Ideen in die Tat um und befolgten dabei sorgfältig die Anweisungen, die sie einmal erhalten hatten. Die Menschheit muß überleben. Das konnte nur bedeuten, daß die ursprünglichen Bewohner der Stadt dazu ermutigt werden mußten, Kinder zu haben. Sie durften nicht in einen apathischen Zustand versinken, durften nicht aus Hoffnungslosigkeit steril werden. Das machte es notwendig, sie zu erinnern, anzuspornen und anzuleiten. Das bedeutete gezielte Fernsehshows, geschickte Werbung, unmerkliche Beeinflussung auf kulturellem Gebiet. Das bedeutete Großvater und Großmut-
ter Smith, die den jungen Leuten mit guten Ratschlägen zur Seite stehen konnten. Selbstverständlich gab es in Lebensstadt keine alten Leute, die diese Rolle hätten übernehmen können. Deshalb mußten die Maschinen sie ... herstellen. Die Werte der Menschheit müssen erhalten bleiben. Das bedeutete Parks und Angeln und Zeitungen und Sport, freundschaftliche Besuche der Nachbarn. Die Maschinen erfanden das Lebensspiel, eine komplexe Illusion physischer und psychischer Empfindungen, das jedem Beteiligten Gefühle vermittelte, die wirklichen Erfahrungen im Leben entsprachen. Das Lebensspiel war selbstverständlich Pflicht für jeden und wurde von fünfzig Paaren Großvater und Großmutter Smiths überwacht, die von Haus zu Haus und von Familie zu Familie gingen, um das Spiel in Gang zu halten. Die Maschinen erkannten schon frühzeitig, daß Überfälle der Halbmenschen bevorstanden, und machten sich daran, diese Angriffe mit Methoden abzuwehren, die den Bewohnern der Stadt vertraut sein mußten. Das bedeutete Krieg. Soldaten, Fahnen, Blaskapellen, Konfetti. Alles das mußte hergestellt werden ... Lebensstadt darf nicht sterben. Das bedeutete, daß die Stadt in jeder Beziehung völlig autark sein mußte. Nur die Maschinen waren ihrer Konstruktion nach imstande, alle Probleme rich-
tig zu lösen, nur die Maschinen waren unfehlbar. Die Stadt würde ewig leben, sie konnte nicht sterben. Und die Menschheit wurde ... konserviert. Arl stöhnte leise vor sich hin, weil er schlafen wollte. Aber seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, bedrängten ihn immer wieder. Tick-schhh. Der Wind trieb den Schnee über die weiten Eiswüsten und gegen die Abdeckplatten ... Der Großrat bestimmte die Geschicke der Stadt und wurde dabei von den kybernetischen Maschinen überwacht. Theoretisch war alles in bester Ordnung. Aber irgend etwas, irgendein lebenswichtiger Impuls, fehlte trotzdem. Als die Menschen aus ihrem Tiefschlaf erwachten, waren sie einige Jahre lang verwirrt und unsicher. Nachdem sie erfahren hatten, in welcher Lage sie sich befanden, arbeiteten sie nach besten Kräften. Aber es gab nichts zu tun. Während eine Generation in die andere überging, wurden die Menschen apathisch, hoffnungslos, gleichgültig. Die Geburtenziffer ging fast auf Null zurück, obwohl es nicht an Ermahnungen und Anspornen fehlte. Die kulturelle Desintegration führte unweigerlich zur Sterilität. Was hatten die Maschinen übersehen? Seitdem Arl die Bücher gelesen hatte, glaubte er die Antwort zu kennen. Kulturen, Gesellschaften und Menschen
mußten sich ändern. Keine lebende Kultur konnte statisch sein. Es gab nur ein Mittel, alles unverändert über Jahrhunderte hinweg zu konservieren – irgendein bestimmter Zustand ließ sich in einer erstarrten Kultur bewahren, die keinen Fortschritt kannte. Ihre Menschen glichen dann Marionetten, die eine Vorstellung mit dem Titel ›Leben‹ gaben, obwohl sie die eigentliche Bedeutung dieses Begriffs nie selbst kennengelernt hatten. Die Menschen waren träge, langsam, ohne jede Initiative. Arl und Anne hatten niemand, an den sie sich wenden konnten; sie versuchten andere zu interessieren, ihnen alles zu erklären, etwas zu tun, irgend etwas zu unternehmen, begegneten aber überall völligem Unverständnis und höflicher Konversation. Es war das gleiche Gefühl, als seien sie zu einem Mann gelaufen, um ihm zu sagen, er habe eine brennende Dynamitstange in der Tasche, um dann belanglose Binsenwahrheiten und freundliche Bemerkungen über das schöne Wetter zu hören. Das war alles ganz nett – aber Zündschnüre brennen schließlich nicht ewig. Tick-schhh. In den frühen Morgenstunden des nächsten ›Tages‹ schlief Arl endlich ein. Am folgenden Morgen wurde er zur Audienz beim Großrat vorgelassen. Arl wurde in den Ratssaal ge-
führt, wo Ratsvorsitzender Storme ihn herzlich begrüßte und ihm einen Platz am Ratstisch anwies. Er entspannte sich etwas und erinnerte sich weniger intensiv an die Befürchtungen der vergangenen Nacht. Storme wirkte ganz freundlich – ein schwergewichtiger Mann der stets ein offenes Ohr für die Wünsche der Einwohnerschaft hatte und sie nach Kräften zu erfüllen versuchte. Und die anderen elf Männer – alle völlig normal, keineswegs erschreckend. Weshalb hatte er nicht schon viel früher eine Audienz erbeten? Jeder vernünftige Mensch mußte doch ... Vorsicht! warnte ihn eine innere Stimme. Sieh dich trotzdem vor! »Schön, mein Junge«, sagte Storme jovial, »was können wir also für Sie tun?« Arl zögerte unentschlossen, bedauerte in diesem Augenblick wieder seinen Mangel an Erfahrung und spürte deutlich, wie fremd ihm diese ganze Versammlung war. Und trotzdem war doch alles so verzweifelt dringend, nicht wahr? Er fühlte seinen Entschluß wankend werden und mußte sich einen innerlichen Ruck geben. Drogen? Was konnte er sagen, was sollte er ihnen erzählen? »Nur heraus mit der Sprache, mein Junge!« drängte Storme, zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch in die Luft. »Schließlich sind wir alle gemeinsam Bürger unserer schönen Stadt!«
Arl zuckte zusammen und fühlte sein Herz wie rasend schlagen. Alle übrigen Mitglieder des Großrats zündeten sich eine Sekunde nach Storme Zigarren an und bliesen den Rauch in die Luft. Seine frühere Angst überflutete ihn plötzlich wieder. Was konnte er nur tun? Ihm wurde undeutlich klar, daß Bücher kein Ersatz für das wirkliche Leben waren. Er trieb hilflos in unbekannten Gewässern und wußte nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte. Er versuchte zu denken ... »Worum geht es denn? Sie sind hier unter Freunden!« »Unter Freunden!« wiederholte der Mann rechts neben ihm. »Unter Freunden!« wiederholten die zehn anderen Stimmen im Chor. Arl hätte fast aufgeschrien. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, bot Storme laut an. »Das Essen schmeckt Ihnen nicht ... die Luft ist schlecht ... Sie möchten ein neues Haus ...« »Nein«, keuchte Arl und ballte die Fäuste. »Nein, Sie verstehen nicht ...« »Schön, schön!« meinte Storme lächelnd und zog wieder an seiner Zigarre. »Sie sind hier am richtigen Platz, das dürfen Sie mir glauben! Es hat wirklich keinen Zweck, solche Angelegenheiten auf die lange Bank zu schieben, wie? Sie wissen vielleicht, was ich
immer sage – verschiebe nicht auf morgen, was du heute kannst besorgen!« »Heute kannst besorgen!« wiederholte der Mann rechts neben ihm. »Heute kannst besorgen!« wiederholten zehn andere Stimmen im Chor. Waren sie alle plötzlich übergeschnappt? Was hatte das zu bedeuten? Was geschah hier eigentlich? Arl kämpfte mit sich, versuchte nachzudenken. Aber das war aussichtslos; Storme sprach ununterbrochen weiter, behinderte seine Überlegungen und ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Er spürte, daß er allmählich ruhiger wurde. Anne. Behagliches Heim. Storme – freundlich, hilfsbereit, väterlich besorgt ... »Na, mein Junge, ich möchte wetten, daß ich genau weiß, was Sie so bedrückt! Sie möchten ein Kind, nicht wahr? Sie möchten ein Kind!« »Ein Kind!« »Ein Kind!« Arl schrak wie aus einem Alptraum auf und hatte nur noch einen sehnlichen Wunsch, der ihm wichtiger als alles andere war: Hinaus! Fort von hier! HINAUS! FORT VON HIER! Er sprang auf, warf dabei seinen Stuhl um und rannte aus dem Saal. Die Angst saß ihm im Nacken, während er durch die endlos langen Korridore lief, das Portal hinter sich ließ und endlich die belebte
Straße erreichte. Er eilte blindlings, verzweifelt und wie wahnsinnig weiter, wich anderen Fußgängern aus, rannte und rannte und rannte, bis er nicht mehr konnte. Seine Lungen brannten wie Feuer und sein Mund war völlig trocken, als er schließlich stehenbleiben mußte, um wieder zu Atem zu kommen. Er zitterte heftig, denn nun kannte er die ganze Wahrheit. »Anne, Anne«, schluchzte er. »Wir sind die letzten – alle außer uns sind tot!« Arl ging langsam durch den kleinen Park und bestieg erschöpft die ratternde Straßenbahn, um nach Hause zu fahren. Er sank auf den nächsten Sitz, rang noch immer keuchend nach Atem und starrte wild um sich. Niemand achtete auf ihn. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und sein Kopf schien sich plötzlich zu drehen. Der Wagenführer in der blauen Uniform saß ruhig auf seinem Platz und hielt die Kurbel locker in einer Hand. Der alte Mann mit dem steifen Hut rauchte seine Zigarre und las Zeitung. Die dicke Frau, deren blaues Hütchen lächerlich schief auf ihrem Kopf saß, starrte blicklos geradeaus. Die beiden ungekämmten Jungen sprachen aufgeregt lachend miteinander und schienen einen lustigen Streich auszuhecken ... Arl stieg an der gewohnten Haltestelle aus, hatte ein leeres Gefühl im Magen und hätte sich doch am
liebsten übergeben. Er ging rasch durch den Tunnel und öffnete die Haustür. Im Wohnzimmer standen drei Männer. Zwei von ihnen waren Polizisten, der dritte trug eine schwarze Ledertasche in der Hand. Anne saß mit bleichem Gesicht in einem Sessel zusammengekauert und brachte vor Angst kein Wort heraus. »Am besten kommen Sie jetzt gleich mit, ohne Schwierigkeiten zu machen, junge Frau«, sagte einer der Polizisten freundlich. »Schließlich tun wir hier nur unsere Pflicht.« Der Arzt sah auf, als Arl hereinkam, ging dann auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Ah, da sind Sie ja endlich!« rief er dabei. »Sie kommen gerade rechtzeitig! Ihre Frau – ist Ihnen klar, daß Ihre Frau sehr krank ist?« Arl schüttelte ihm wie betäubt die Hand. Er mußte sich beherrschen, um nicht zurückzuzucken. Dabei war die Hand des Arztes keineswegs kalt oder feucht oder in irgendeiner Beziehung abnorm. Nein, das war es eben. Sie fühlte sich warm und lebendig an. »Ja, natürlich«, hörte Arl sich sagen. »Ich wollte Sie gerade anrufen, Doktor.« Anne starrte ihn nur wortlos und mit großen Augen an. Ihr Gesicht war noch blasser geworden. »Richtig«, sagte der Arzt. »Freut mich, daß Sie die Notwendigkeit einer Behandlung selbst einsehen.« Er
drehte sich nach Anne um und meinte beruhigend: »Das ist wirklich alles ganz harmlos, meine Liebe! In zwei oder drei Tagen sind Sie wieder so gut wie neu.« Arl berührte den Arzt am Ärmel. »Kommen Sie bitte einen Augenblick mit mir in die Küche, Doktor. Ich spreche nicht gern von ihr, wenn sie wie jetzt ist.« »Oh, natürlich, selbstverständlich. Kommen Sie.« Arl folgte dem Arzt in die Küche und schloß die Tür hinter sich. »Sprechen Sie, junger Mann! Worum handelt es sich?« Arl zog eine Schublade auf und nahm ein langes, scharfes Messer heraus. »Ich wollte Ihnen das hier zeigen«, sagte er. »Das ist ein Messer«, sagte der Arzt. »Ja«, sagte Arl. »Das ist ein Messer.« Er holte mit einem Haß und einer Kraft aus, die er nie in sich vermutet hätte, ließ die blitzende Klinge durch die Luft sausen und trennte den Kopf des Arztes vom Rumpf. Der Arzt fiel zu Boden und sein Kopf blieb neben ihm liegen. Auf dem Fußboden stand kein Blut. Der Körper bewegte sich zuckend, der Mund im Kopf öffnete und schloß sich, aber kein Laut drang daraus hervor. Der Arzt war nicht tot – konnte nicht tot sein, da er nie gelebt hatte. Der Arzt war kaputt. Arl holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer zu-
rück. Dort griff er den ersten Polizisten überraschend an, bevor der andere überhaupt wußte, daß er sich in Gefahr befand. Der Kopf rollte über den Teppich und blieb in einer Ecke liegen. Es war ganz leicht gewesen – unter der Haut befanden sich keine Knochen. »Warum haben Sie das getan?« fragte der zweite Polizist und wich langsam einige Schritte weit zurück. Er schien weder wütend noch erschrocken, sondern einfach nur verblüfft zu sein. »Das hätten Sie nicht tun sollen.« Der Polizist blieb stehen, runzelte nachdenklich die Stirn und griff nach der Lähmpistole an seinem Gürtel. Arl warf sich auf ihn, stieß mit dem Messer zu, schnitt und hackte ... Dann war der Polizist ... außer Betrieb. »Arl«, flüsterte Anne, »wir müssen hier heraus.« Arl nickte und drückte sie an sich. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte er leise. »Wir müssen gleich aufbrechen.« »Es gibt nur einen Ausweg ...« – »Die Tür.« »Die Todestür«, murmelte Anne und wiederholte fast unbewußt die Worte, die sie so oft von Großvater und Großmutter Smith gehört hatten. »Der einzige Ausgang aus Lebensstadt.« Arl lächelte. »Wir haben nichts zu verlieren«, sagte er und strich über ihre weichen Haare. »Und, Anne ...«
»Ja?« »Wir haben ein verrücktes Leben geführt, ein unsinniges Leben. Das wissen wir jetzt, das haben wir selbst erfahren. Aber du hast es lebenswert gemacht – ich würde es nochmals leben wollen, obwohl wir dies jetzt alles wissen, um bei dir zu sein. Anne, das hier ist keine Lebensstadt – es ist eine Totenstadt. Alles ist wieder rückgängig gemacht worden, alles hat einen vollständigen Kreis beschrieben. Und deshalb ist die Todestür vielleicht ...« »Schnell, Liebling«, flüsterte Anne. »Sie kommen bestimmt bald, um uns zu holen.« Sie gingen nebeneinander durch den Tunnel und verließen ihr Haus für immer. Arl empfand eine seltsame Heiterkeit, als habe er plötzlich seine Fesseln gesprengt und abgeworfen. Sie eilten durch die belebten Straßen der Stadt und drängten sich an Leuten vorbei, die so lebendig wirkten. Arl stieß aus Versehen gegen einen Mann, der sich mitten auf dem Gehsteig bückte, um seinen Schuh zuzuschnüren und warf ihn um. Der Mann richtete sich wortlos auf, nahm die gleiche Position ein und schnürte weiter seinen Schuh. Wie lange stand er schon auf dieser belebten Straße? Wohin gingen alle Leute, die sich scheinbar zielbewußt bewegten? Alles war so unheimlich, wenn man wußte, daß ...
Sie erreichten den dunklen, staubigen Tunnel in den Außenbezirken der Stadt und betraten ihn, ohne eine Sekunde zu zögern. Weit hinter ihnen ertönten Polizeisirenen, die rasch näherkamen. Arl spürte, daß Anne an seiner Seite zitterte, aber sie ging entschlossen weiter. In dem Tunnel, der zur Todestür führte, war es merklich kälter. Ihre Schritte hallten laut in der leeren Röhre. Die Angst vor dem Unbekannten ließ sein Herz rascher schlagen und schnürte ihm die Kehle zu. Arl gönnte sich keine Pause. Er hielt Annes Hand fest in der seinen, bediente den verrosteten Türmechanismus mit den dafür vorgesehenen Pedalen und holte tief Luft. Sie traten gemeinsam durch die Tür. Sie befanden sich in einem riesigen Saal, an dessen Wänden weiß leuchtende Lampen angebracht waren. Die Temperatur war weder kalt noch heiß, sondern völlig neutral. Der große Raum stand voller Maschinen, die allerdings nicht in Betrieb waren. Arl erkannte einige von ihnen nach Bildern und Beschreibungen in den Büchern wieder. Er sah Flugzeuge mit Schneekufen, Schneeraupen, Kräne, Bohrmaschinen, Gabelstapler, Lastwagen, Hubschrauber, Schneewagen – unendlich viele Fahrzeuge und Maschinen. In eine der weißen Wände war eine schwarze Tür eingelassen. Unmittelbar vor ihnen begann ein großer Tunnel, der noch heller als der übrige Raum war. Um sie her-
um herrschte tiefes Schweigen, und Arl bildete sich ein, sein Herz schlagen zu hören. »Ein Lagerraum«, flüsterte Anne. Lagerraum, Lagerraum, Lagerraum ... Arl fürchtete sich fast davor, in diesem Raum zu sprechen, weil jedes Wort von den Wänden widerhallte. Das zurückgeworfene Echo erinnerte ihn entsetzlich an die wiederholenden Automaten der Ratsversammlung. »Hier muß damals das Gas abgelassen worden sein«, sagte er leise. »Hier muß Creen ...« Creen, Creen, Creen ... Er schrak zusammen und starrte die niedrige schwarze Tür an der gegenüberliegenden Wand an. »Arl!« flüsterte Anne. »Hörst du?« Jetzt hörte er es ebenfalls. Geräusche hinter der Tür – schrille Sirenen, schwere gleichmäßige Schritte. Er kämpfte gegen die Angst an, die ihn in diesem Augenblick zu überwältigen drohte, und führte Anne zu einem niedrigen kräftigen Schneefahrzeug. »Steig ein. Schnell. Keine Fragen.« Sie saßen im Führerhaus, und Arl hatte die Bedienungshebel vor sich. Er betätigte einen Schalter. Ein leises Summen, dann glühten die Instrumente auf. »Es funktioniert noch«, sagte Anne verblüfft. »Nach all diesen Jahrhunderten ...« »Weißt du nicht, was das bedeutet, Anne? Sie sind
absichtlich aufgehoben worden – alle Maschinen – alles hier.« »Für ... uns?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr – es kommt so überraschend ...« Als er den Antrieb aufheulen ließ, strömte ein Zug Soldaten durch die schwarze Tür in den Lagerraum. Das Schneefahrzeug setzte sich in Bewegung und rasselte über den glatten Boden davon. Arl lenkte es geradewegs in den großen Tunnel hinein, dessen weißes Leuchten bis in den weiten Raum strahlte. »Halt dich fest!« warnte Arl. Anne schloß die Augen. Das weiße Feuer erlosch im allerletzten Moment, und das Schneefahrzeug raste durch den Tunnel ins Freie. Hinter ihnen schloß sich die weiße Glut wie ein Vorhang, während der schwere Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit weiter über eine endlose Wüste aus Schnee und Eis fuhr. Keiner der beiden konnte sprechen. Die trübe Flamme am wolkenverhangenen Himmel über ihnen mußte die Sonne sein. In jeder Richtung erstreckten sich riesige Ebenen, Dünen und Bergketten. Arl hatte noch nie so viel freien Raum gesehen, hätte sich derartige Ausdehnungen nicht einmal vorstellen können. Und jetzt befanden sie sich mitten darin, hatten Lebensstadt hinter sich zurückgelassen und begannen ihre Fahrt – wohin?
»Nach Süden«, beantwortete Arl seine eigene Frage und sah auf den Kreiselkompaß am Instrumentenbrett. Die Kälte drang durch die Wände und griff mit eisigen Fingern nach ihren Körpern. Ihre dünne Bekleidung bot nur wenig Schutz. Ihr Atem gefror in der Kabine. Arl konnte nicht klar denken. Die Ereignisse hatten sich überstürzt, und sein Verstand brauchte Zeit, um alles zu verarbeiten. Sein ganzes Leben, sein Universum hatte sich plötzlich verändert. Er konnte sich nicht so rasch umstellen – wo waren die Straßen, die Bäume im Park, die Balkone die großen Maschinen? Wo war ihre Welt? Arl lenkte das Schneefahrzeug wie betäubt durch die Eiswüste. Einmal sah er weit vor sich dunkle Gestalten, die aber rasch wieder im Schnee untertauchten. Die Halbmenschen ... Er wußte nicht mehr, wie lange er schon fuhr. Für ihn schien es keine Zeit mehr zu geben. Vielleicht waren es Minuten, Stunden oder Tage – er achtete nicht darauf, sondern fuhr weiter, immer weiter. Das Röhren des Motors wurde zu einem Teil seiner selbst. Das schwankende Fahrzeug wurde seine Welt und die endlosen Schneeflächen vor den Fenstern wurden das Universum. Und dann setzte der Motor plötzlich aus. Der Schneewagen rollte noch eine kurze Strecke weiter und hielt an.
»Arl – sieh doch!« Aus dem grauen Himmel sanken Flugzeuge wie riesige Vögel herab. Ihre breiten Türen öffneten sich, dann marschierten Soldaten mit wehenden Fahnen, klingender Musik und schußbereiten Waffen über die Laderampen herunter. Arl beobachtete das Schauspiel hilflos und wie gelähmt. Er dachte an Anne. Sie waren so weit geflohen und hatten alles versucht ... Die Tür des Schneefahrzeugs wurde aufgerissen und zwei Männer zwängten sich in die Kabine. Arl erkannte Commander Wade, den Befehlshaber der Ersten Armee. Der Offizier war schlank, hielt sich sehr aufrecht, trug ein elegantes Bärtchen und hatte viele bunte Orden auf der Brust. Der andere Mann war Storme, der Vorsitzende des Großrats. »Hier sind Ihre Gefangenen, Sir«, verkündete Commander Wade mit einer großartigen Handbewegung. »Meine Männer und ich haben die Verräter gestellt. Ich empfehle Ihnen, sie sofort hinrichten zu lassen.« »Unsinn! Unsinn!« polterte Storme jovial und zündete sich eine Zigarre an. »Die beiden jungen Leute sind nur krank und etwas durcheinander, Commander. Sie brauchen eine Behandlung, dann ist alles wieder in Ordnung.«
Nein, nein, nein! dachte Arl entsetzt. Bringt uns um, erschießt uns, laßt uns sterben! Storme wandte sich an Arl. »Hören Sie, mein Junge«, begann er mit einem freundlichen Lächeln, »Sie wissen doch, daß wir Ihre Freunde sind, daß wir Ihnen nur helfen wollen, ein Heim für Ihre Frau und Ihre Kinder ...« Wir wollen keine Kinder, die in dieser Totengruft unter dem Eis leben müßten! »Ich begreife einfach nicht, was in Sie beide gefahren ist. Wir sind alle Ihre Freunde – weshalb laufen Sie also vor uns fort?« »Wohin wollten die beiden Idioten überhaupt?« knurrte Commander Wade. »Außerhalb von Lebensstadt ist die ganze Welt tot – unter dem Eis ist alles radioaktiv verseucht.« »Schon gut, schon gut, das braucht uns im Augenblick nicht weiter zu kümmern«, wehrte Storme rasch ab. »Wir nehmen Sie beide einfach wieder mit nach Hause zurück, wo Sie hingehören. Dort haben Sie dann genügend Zeit, über die ganze Sache nachzudenken. Glauben Sie mir, morgen früh sieht alles wieder anders aus! Zuviel Eile schadet nur, das sage ich immer.« Die beiden Männer verließen das Schneefahrzeug, dann kamen Soldaten und trugen Arl und Anne nach draußen. Sie hatten es versucht, sie hatten versagt, sie würden bald ...
Arl dachte unwillkürlich an Großvater und Großmutter Smith die über den Spieltisch gebeugt saßen; Großvater brachte seine verstaubten Binsenwahrheiten vor, Großmutter strickte Babysachen, immer, ewig ... Er gab sich einen innerlichen Ruck und verdrängte dieses Bild aus seinen Gedanken. Die Kapelle spielte einen flotten Marsch, als sie zu den wartenden Flugzeugen hinübergetragen wurden. Fahnen flatterten im Wind, und die Soldaten marschierten im Gleichschritt durch den Schnee. Commander Wade führte die Kolonne an, der schwergewichtige Storme gab sich Mühe, mit ihm Schritt zu halten und keuchte dabei vor sich hin. Arl empfand gar nichts mehr; er fühlte sich wie ausgewrungen. Er starrte die Soldaten und die Kapelle und den dicken Ratsvorsitzenden ungläubig erstaunt an. Wie konnten sie so ... so ... welcher Ausdruck paßte hier? Unmenschlich ... Als die Soldaten ihn eben ins Flugzeug heben wollten, fiel Arl plötzlich in den Schnee. Er wollte sich umdrehen, konnte sich aber nicht bewegen. Große Schweißperlen traten auf seine Stirn und gefroren dort zu Eis. Er sah Anne nicht mehr, aber alle Soldaten in seiner Nähe waren gleichzeitig mit ihm zu Boden gesunken. Sie lagen unbeweglich im Schnee und gaben keinen Laut von sich.
Was ... Ein Schatten huschte über ihn hinweg und er hörte Triebwerke pfeifen. Noch ein Flugzeug! Es beschrieb einen weiten Bogen und landete dann auf Schneekufen. Arl sah, daß die Kabinentür geöffnet wurde, dann stieg ein einzelner Mann aus. Er kam auf sie zu. Arl starrte ihn ungläubig an und spürte, daß er langsam das Bewußtsein verlor, daß er in einem weißen Nebel davontrieb ... Aber er hatte die einsame Gestalt noch immer deutlich vor seinem inneren Auge. Alt und groß und kräftig, mit schwarzem Haar und klaren grünen Augen ... Creen! Arl schwamm aus den Tiefen eines Meeres, dessen Wasser weich und weiß war, zum Leben empor. Zu Anfang hatte er noch gefroren, aber das Wasser wurde wärmer, je näher er der Oberfläche kam, und das intensive, weiße Leuchten verwandelte sich in ein erträgliches, neutrales Grau. Dann hatte er plötzlich die Oberfläche erreicht und holte tief Luft. Er öffnete die Augen. Creen stand noch immer vor ihm. Arl beobachtete ihn schweigend. Sie befanden sich offenbar in Creens Flugzeug, das noch nicht wieder gestartet war. Storme und die Soldaten waren nirgendwo zu sehen. Überall herrschte tiefes Schweigen. Arl machte den Versuch, sich wieder zu bewegen. Er
konnte es, sank aber erschöpft zurück, als er sich aufrichten wollte. »Anne?« fragte er unsicher. Creen starrte ihn mit seinen flammenden Augen an. Arl erkannte jetzt deutlich, daß er sehr, sehr alt sein mußte, denn die Haut hing locker über dem kräftigen Skelett. Er schien sich mit reiner Willenskraft auf den Beinen zu halten, aber seine Persönlichkeit wirkte trotzdem geradezu überwältigend. Bestimmt kein Mann, dessen Wünsche man leichtfertig mißachten durfte ... »Sie junger Narr!« fuhr Creen ihn plötzlich an und ging dabei in der Kabine auf und ab. »Wollen Sie etwa alles ruinieren?« Arl antwortete nicht gleich, weil er erst jetzt begriff, was er sah. »Sie ... Sie müssen Hunderte von Jahren alt sein«, flüsterte er. Creen lächelte ironisch. »Drücken Sie sich doch genauer aus. Hunderte – was soll das heißen? Neunhundertzweiundsiebzig Jahre, um es genau zu sagen.« »Ich ... verstehe nicht.« »Das merke ich selbst, junger Mann. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, ha? Ihrer Frau geht es gut, was nur beweist, daß manche Leute mehr Glück als Verstand haben. Narr!« Arl wollte wütend aufstehen, konnte es aber nicht.
»Bezeichnen Sie mich gefälligst nicht immer als Narren! Nur weil ...« »Ich heiße Sie einen Narren, weil Sie einer sind«, knurrte der Alte und durchbohrte ihn mit einem Blick aus seinen grünen Augen. »Jeder Mann, der etwas beginnt, ohne über die Folgen seiner Handlungsweise nachzudenken, ist für mich ein Narr. Sie müssen Ihren Verstand gebrauchen, sonst ist alles vergebens gewesen. Ich bin bald nicht mehr hier, um Ihnen zu helfen.« Er machte eine Pause. »Nicht die Experimente sind fehlerhaft, sondern das Material, mit dem wir arbeiten müssen! Haben Sie die Bücher gelesen, die ich Ihnen gegeben habe?« »Ja, aber ...« »Und daraufhin sind Sie losgefahren, ohne sie mitzunehmen! Was haben Sie mitgebracht?« »Nun ...« »Nichts! Sie müssen denken, junger Mann. Wir haben nicht viel Zeit. Wie können Sie es wagen, die Gleichungen zu verändern?« Creens Augen leuchteten wild, er atmete unnatürlich schwer und trotzdem hastig. Arl beherrschte seinen Zorn. Dieser Mann vor ihm hatte den Tod besiegt. Ihm allein war es zu verdanken, daß wenigstens ein winziger Bruchteil der Menschheit die drohende Vernichtung überlebt hatte. Einem Mann dieser Intelligenz mußten gewöhnliche Menschen gera-
dezu schwachsinnig erscheinen. Arl setzte sich mühsam auf und sah jetzt auch Anne. »Ich möchte versuchen, Ihnen zu helfen«, sagte er. »Aber Sie müssen mir erklären, was ...« Creen ließ sich in einen Sessel fallen und wirkte plötzlich sehr alt. In seinen Augen standen Tränen. »Haben Sie das vorausgesehen, haben Sie das alles geplant – die beiden letzten Menschen, ihre Flucht aus Lebensstadt, die Gefangennahme, Ihr Eintreffen? Ist das überhaupt möglich? Wissen Sie wirklich alles?« Creen schüttelte den Kopf. »Kein Mensch kennt alle Faktoren«, antwortete er leise. »Ich habe es nicht gewußt. Ich war nur ... eine Art Versicherung. Ich habe neunhundertzwanzig Jahre lang geschlafen – und wäre fast zu spät gekommen. Zu spät ...« »Aber warum ... Lebensstadt ... warum haben nicht alle einfach ...?« Creen verzog schmerzhaft das Gesicht. »Es war eine Spezialbehandlung«, flüsterte er. »Der menschliche Körper verändert sich dabei. Wer so behandelt wird, hat nach dem Aufwachen nicht mehr lange zu leben; keine Zeit, um noch irgend etwas zu tun. Ein Jahr, zwei Jahre, dann ist er erledigt. Ich ... habe nur mehr Minuten zu leben. Sie sind die letzten Menschen – von den ursprünglichen fünfhundert und allen ihren Nachkommen haben nur zwei überlebt. Wir hätten fast versagt – einfach zu viele Faktoren ...«
Arl erhob sich mühsam und starrte den Alten erschrocken an. »Nein«, sagte Creen und wehrte seine ausgestreckte Hand ab. »Für mich ist es schon zu spät. Hören Sie gut zu. Ich habe die Soldaten zurückgeschickt, und Sie müssen jetzt das Flugzeug benützen. Fliegen Sie nach Süden weiter. Dort ist die Radioaktivität inzwischen abgeklungen und nicht mehr schädlich. Im Süden gibt es Fische und Pflanzen und verschiedene Säugetiere. Das Flugzeug ist mit Büchern und Werkzeugen beladen. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Die Zukunft liegt in Ihren Händen.« Arl schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Sie«, sagte er. »Wir schaffen es nicht allein.« »Sie müssen es schaffen«, mahnte der Alte. Er holte keuchend Luft. »Ich bin nur eine Laune der Evolution – eine evolutionäre Rückversicherung, könnte man fast sagen. Sobald die Menschheit in Gefahr ist, erscheint einer von uns. Ich habe mich auf die Wissenschaft verlassen. Noah hatte seine Religion. Es hat auch andere gegeben. Wie soll der nächste helfen, wenn Sie versagen? Sie dürfen nicht versagen!« Anne küßte ihn impulsiv auf die Stirn. »Danke«, flüsterte sie. »Wir haben verstanden – und wir werden Sie nicht enttäuschen.« Der alte Mann lächelte und legte seine Hand auf
ihren Arm. Er schien nicht mehr zu merken, daß er Tränen in den Augen hatte. »Es gibt so viel zu lernen«, sagte Arl. »Es gibt Dinge, die kein Mensch weiß«, antwortete Creen leise. »Und jeder Mensch muß seine Antworten allein finden. Lebt wohl – und viel Glück!« Creen stand auf und schwankte auf die Tür zu. Anne wollte ihn zurückhalten, aber Arl hinderte sie daran. Creen hatte wahrhaftig das Recht erworben, so zu sterben, wie er es sich wünschte. Sie standen nebeneinander in der Tür und sahen ihn durch den Schnee davonstolpern. Es war Nacht, und am Himmel strahlten unzählige Sterne. Sie sahen Creen zusammenbrechen und auf die Knie sinken. Er hob die Faust, als wollte er den Sternen drohen. »Irgendwann!« hörten sie ihn zornig sagen. »Irgendwann ...« Das war alles. Creen war tot. Arl verriegelte die Kabinentür und ließ die Triebwerke anlaufen. Das Flugzeug startete, hob ab und gewann rasch Höhe. Arl war beim Lebensspiel schon oft selbst geflogen und senkte jetzt noch einmal die Tragflächen als letzten Gruß an den Toten, der dort allein unter den Sternen lag. Dann steuerte er nach Süden. Keiner der beiden sprach; sie verstanden sich. Arl hielt Annes Hand fest in der seinen. Stolz und Zuver-
sicht überfluteten seine Gedanken und gaben ihm neuen Auftrieb. Er empfand zum erstenmal in seinem Leben wirkliches Glück – das Hochgefühl nie gekannter Freiheit und die Freude, endlich selbständig Verantwortung tragen zu dürfen. Neben ihm lächelte Anne, sie verließen gemeinsam die Dunkelheit und erreichten das helle Sonnenlicht. Creen war gestorben, aber sie waren seine Erben. Das Leben hatte wieder begonnen. Arl wußte jetzt, daß sie nicht scheitern würden. »Du ziehst, Arl«, sagte Großvater Smith. Draußen fiel wieder Schnee, wurde vom Wind gegen die Abdeckplatten getrieben, deckte sie dichter und dichter zu, schloß sie von der Welt ab. Aber das war nicht weiter wichtig. Der Raum hatte genau die richtige Temperatur und alle Maschinen arbeiteten einwandfrei. »Arl!« sagte Großvater Smith nörgelnd. Tick-schhh. Es schneite heftig. »Arl ist nicht hier«, sagte Großmutter Smith und sah von ihrem Strickzeug auf. »Erinnerst du dich noch? Arl und Anne sind fort.« »Aber wohin denn?« »Sie sind fort.« Großvater Smith schüttelte verwirrt den Kopf. Er zündete sich seine Pfeife an und betrachtete dabei
unsicher den Spieltisch. Dann warf er einen Blick auf seine große Taschenuhr. »Zehn Uhr, Mutter!« sagte er. »Wir müssen allmählich gehen.« »Mein Gott!« rief Großmutter Smith aus und legte ihr Strickzeug fort. »Ich weiß einfach nicht, wo die Zeit immer bleibt.« Sie gingen langsam zur Tür, tasteten sich zögernd voran, fühlten sich in dieser neuen Situation einsam und verlassen. Großvater Smith blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Ich begreife noch immer nicht, weshalb Arl das Spiel aufgegeben hat«, sagte er müde. »Er war doch am Zug!« »Diese jüngere Generation«, sagte Großmutter Smith, »man weiß nicht, was in ihnen vorgeht! Es wäre an der Zeit gewesen, an Kinder zu denken. Nichts geht über das Getrappel kleiner Füße im ganzen Haus. Ja, es wäre wirklich Zeit gewesen, eine glückliche Familie zu gründen. Und nun sind sie auf und davon. Man weiß nicht wohin.« »Diese jüngere Generation ...«, sagte auch Großvater Smith. Sie schlossen bedrückt die Tür hinter sich und gingen durch den Tunnel auf die Straßen der Stadt hinaus.
ISAAC ASIMOV
Ein schlagender Beweis Francis Quinn war ein Politiker der neuen Schule. Diese Definition ist selbstverständlich bedeutungslos, aber das sind schließlich alle Ausdrücke ähnlicher Art. Die meisten unserer ›neuen Schulen‹ waren schon im klassischen Griechenland bekannt und wahrscheinlich auch – wenn wir nur mehr darüber wüßten – im gesellschaftlichen Leben der alten Sumerer und bei den prähistorischen Pfahlbauern an Schweizer Seen. Um diese langwierige und etwas komplizierte Einleitung möglichst abzukürzen, ist es vielleicht empfehlenswert, an dieser Stelle rasch zu betonen, daß Quinn weder für ein Amt kandidierte noch auf Stimmenfang ging, keine Ansprachen hielt und keinen Wahlbetrug zu seinen Gunsten versuchte. Jedenfalls ebensowenig, wie Napoleon bei Austerlitz ein Gewehr in die Hand nahm. Da die Politik seltsame Bettgenossen zusammenbringt, saß Alfred Lanning auf der anderen Seite des Schreibtisches und runzelte seine buschigen, weißen Augenbrauen über hellen Augen, die chronische Ungeduld durchdringend scharf gemacht hatten. Er war von diesem Besuch keineswegs begeistert.
Wäre Quinn diese Tatsache bekannt gewesen, hätte sie ihn nicht im geringsten gestört. Seine Stimme klang freundlich, aber das war vielleicht beruflich bedingt. »Ich nehme an, daß Sie Stephen Byerley kennen, Doktor Lanning.« »Ich habe von ihm gehört. Andere Leute ebenfalls.« »Richtig, ich auch. Vielleicht haben Sie die Absicht, bei der nächsten Wahl für ihn zu stimmen.« »Das kann ich noch nicht sagen.« Der spöttische Ton in Lannings Stimme war unüberhörbar. »Ich habe die politische Entwicklung nicht verfolgt und habe deshalb keine Ahnung, daß er überhaupt für irgend etwas kandidiert.« »Vielleicht ist er unser nächster Bürgermeister. Natürlich ist er jetzt nur Anwalt, aber große Eichen ...« »Danke«, unterbrach Lanning ihn, »ich kenne das Sprichwort bereits. Aber vielleicht könnten wir endlich zur Sache kommen.« »Wir sind schon bei der Sache, Doktor Lanning«, antwortete Quinn sehr sanft. »Ich habe Interesse daran, Mister Byerley bestenfalls Bezirksstaatsanwalt werden zu lassen, und es liegt in Ihrem Interesse, mir dabei zu helfen.« »In meinem Interesse? Das glauben Sie doch selbst nicht!« Lanning runzelte die Stirn. »Schön, dann eben im Interesse der US Robots and
Mechanical Men Corporation. Ich komme zu Ihnen, dem Direktor Emeritus der Forschungsabteilung, weil ich weiß, daß Sie innerhalb der Firma die Rolle des ›älteren Staatsmannes‹ spielen. Ihre Meinung wird respektiert, aber Ihre Verbindung mit dem Unternehmen ist trotzdem so gelockert, daß Sie beträchtliche Handlungsfreiheit genießen müssen – selbst wenn es sich um etwas unorthodoxe Aktionen handelt.« Dr. Lanning schwieg einen Augenblick lang nachdenklich. Dann sagte er etwas freundlicher: »Ich kann Ihnen leider nicht ganz folgen, Mister Quinn.« »Das überrascht mich keineswegs, Doktor Lanning. Dabei ist alles eigentlich recht einfach. Sie erlauben doch?« Quinn zündete sich eine lange Zigarette mit einem geschmackvoll schlichten Feuerzeug an. Sein grobknochiges Gesicht zeigte einen amüsierten Ausdruck, der aber keineswegs verletzend wirkte. »Wir haben von Mister Byerley gesprochen – ein merkwürdiger und farbiger Typ. Vor drei Jahren war er noch unbekannt. Jetzt ist er sehr bekannt. Er ist ein energischer und fähiger Mann und bestimmt der beste und intelligenteste Staatsanwalt, den ich je gekannt habe. Unglücklicherweise gehört er nicht zu meinen Freunden ...« »Ich verstehe«, sagte Lanning mechanisch. Er starrte seine Fingernägel an.
»Ich habe letztes Jahr Gelegenheit gehabt«, fuhr Quinn ruhig fort, »Mister Byerley unter die Lupe zu nehmen – sogar ziemlich gründlich. Es ist immer nützlich, wissen Sie, das Vorleben neuer Reformpolitiker zum Gegenstand recht ausführlicher Nachforschungen zu machen. Wenn Sie wüßten, wie oft das schon geholfen hat ...« Er machte eine Pause, um die glühende Spitze seiner Zigarette humorlos anzulächeln. »Aber Mister Byerleys Vergangenheit ist arm an bemerkenswerten Ereignissen. Ein ruhiges Leben in der Kleinstadt, eine Collegeausbildung, eine jung verstorbene Frau, ein schwerer Autounfall mit längerem Krankenlager, Studium der Rechte, Umzug in die Metropole, dort erfolgreich als Anwalt tätig.« Francis Quinn schüttelte langsam den Kopf und fügte dann hinzu: »Aber sein jetziges Leben. Ah, das ist bemerkenswert. Unser Bezirksstaatsanwalt ißt nie!« Lanning sah plötzlich auf und starrte Quinn durchdringend an. »Wie bitte?« »Unser Bezirksstaatsanwalt ißt nie.« Bei der Wiederholung wurde jede Silbe einzeln betont. »Nein, ich muß mich gleich verbessern. Er ist noch nie dabei beobachtet worden, daß er ißt oder trinkt. Niemals! Verstehen Sie, was das bedeutet? Nicht etwa selten, sondern nie!« »Das erscheint mir kaum glaublich. Können Sie sich auf Ihre Berichterstatter verlassen?«
»Ich habe volles Vertrauen zu meinen Leuten und finde es durchaus nicht unglaublich. Außerdem ist unser Bezirksstaatsanwalt noch nie dabei beobachtet worden, daß er trinkt – weder Wasser noch Alkohol noch andere Flüssigkeiten – oder schläft. Es gibt noch einige andere Faktoren, aber ich glaube, daß Sie bereits verstanden haben, was ich sagen wollte.« Lanning lehnte sich in seinen Sessel zurück. Einige Sekunden lang herrschte gespanntes Schweigen zwischen den beiden Männern, dann schüttelte der alte Robotiker den Kopf. »Nein, Ihre Unterstellungen im Verein mit der Tatsache, daß Sie damit ausgerechnet zu mir kommen, zeigen deutlich, was Sie vermuten – und das ist ganz ausgeschlossen.« »Aber der Mann ist wirklich kein Mensch, Doktor Lanning.« »Hätten Sie mir statt dessen erzählt, er sei Satan in Menschengestalt, wäre ich vielleicht eher bereit, Ihnen zu glauben.« »Ich sage Ihnen, er ist ein Roboter, Doktor Lanning.« »Und ich sage Ihnen, das ist die unmöglichste Behauptung, die ich je gehört habe, Mister Quinn.« Wieder das feindselige Schweigen. »Trotzdem«, fuhr Quinn fort und drückte seine Zigarette betont sorgfältig im Aschenbecher aus, »werden Sie diese Unmöglichkeit mit allen Mitteln unter-
suchen müssen, die der Corporation zur Verfügung stehen.« »Daran ist gar nicht zu denken, Mister Quinn. Sie wollen doch nicht etwa im Ernst vorschlagen, die Corporation solle sich in die Lokalpolitik einmischen?« »Sie haben keine andere Wahl. Nehmen wir einmal an, ich würde die vorhin erwähnten Tatsachen unbewiesen veröffentlichen. Das Material spricht schließlich für sich selbst.« »Tun Sie, was Ihnen paßt.« »Das paßt mir aber durchaus nicht. Handfeste Beweise wären mir wesentlich lieber. Und es würde auch Ihnen nicht passen, denn die öffentliche Verbreitung dieser Tatsachen müßte Ihrer Firma schaden. Ich nehme an, daß Sie ausreichend mit den Bestimmungen vertraut sind, die den Einsatz von Robotern auf bewohnten Planeten strikt untersagen.« »Selbstverständlich!« »Sie wissen auch, daß die US Robot and Mechanical Men Corporation in unserem Sonnensystem der einzige Hersteller positronischer Roboter ist, und falls Byerley ein Roboter sein sollte, ist er ein positronischer Roboter. Ihnen ist weiterhin bekannt, daß alle positronischen Roboter nicht verkauft, sondern nur vermietet werden; die Corporation bleibt Eigentümer und Manager aller ihrer Roboter und ist folglich für jeden einzelnen verantwortlich.«
»Andererseits läßt sich leicht beweisen, Mister Quinn, daß die Corporation niemals einen menschenähnlichen Roboter hergestellt hat.« »Sie wäre aber dazu in der Lage, nicht wahr? Ich spreche von einer theoretischen Möglichkeit.« »Ja, das ließe sich machen.« »Auch im geheimen, nehme ich an. Ohne daß etwas davon in den Büchern erscheint.« »Aber nicht das positronische Gehirn, Sir. Dabei spielen zu viele Faktoren eine Rolle, und die Überwachung durch Regierungsorgane ist so streng wie irgend möglich.« »Richtig, aber Roboter nutzen sich ab, haben Betriebsstörungen, arbeiten nicht mehr einwandfrei ... und werden demontiert.« »Und die positronischen Gehirne werden wiederverwendet oder zerstört.« »Tatsächlich?« Francis Quinn gestattete sich ein sarkastisches Lächeln. »Und falls eines – natürlich aus Versehen – nicht zerstört wurde, während zufällig eine humanoide Konstruktion auf ein Gehirn wartete?« »Unmöglich!« »Das müßten Sie der Regierung und der Öffentlichkeit beweisen, deshalb wäre es vielleicht einfacher, mir gegenüber diesen Nachweis zu erbringen.« »Aber welche Absichten sollten wir damit verfolgen?« erkundigte Lanning sich irritiert. »Wo bleibt
unsere Motivierung? Gestehen Sie uns doch wenigstens ein Minimum an vernünftiger Überlegung zu.« »Bitte, Doktor Lanning. Die Corporation hätte doch allen Grund zur Freude, wenn die einzelnen Regionen den Einsatz humanoider, positronischer Roboter auf bewohnten Planeten gestatten würden. Aber die Vorurteile der Öffentlichkeit gegen diesen Einsatz sind noch zu groß. Nehmen wir einmal an, die Leute würden allmählich an derartige Roboter gewöhnt – seht nur, hier ist ein geschickter Rechtsanwalt, ein guter Bürgermeister ... und er ist ein Roboter. Wollt ihr nicht auch unsere Roboterbutler kaufen?« »Durch und durch phantastisch. Ein fast amüsanter Abstieg ins Lächerliche.« »Vielleicht haben Sie sogar recht, Doktor. Weshalb beweisen Sie es nicht einfach? Oder möchten Sie es lieber der Öffentlichkeit beweisen müssen?« In dem großen Arbeitszimmer herrschte bereits ein ungewisses Dämmerlicht, aber selbst in diesem Halbdunkel war deutlich zu erkennen, daß Alfred Lanning rot anlief. Der Wissenschaftler streckte langsam die Hand aus, drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch und ließ die Wände von innen heraus sanft erglühen. »Also gut«, knurrte er, »wir werden ja sehen!«
Stephen Byerleys Gesicht ist nicht leicht zu beschreiben. Laut Geburtsurkunde und seinem Aussehen nach war er vierzig – aber es waren gesunde, wohlgenährte und unbeschwerte Vierzig; in seiner Gegenwart wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, den Ausdruck ›man sieht ihm sein Alter an‹, zu benützen. Das war besonders der Fall, wenn er lachte, und er lachte jetzt. Sein Lachen hielt einige Zeit laut an, wurde etwas schwächer, begann wieder von neuem ... Und Alfred Lannings Gesicht wurde zu einer starren Maske deutlichsten Mißfallens. Er drehte sich halb nach der jungen Frau um, die neben ihm saß, aber sie schüttelte nur den Kopf und spitzte ihre schmalen, blutlosen Lippen fast unmerklich. Byerley schien sich endlich halbwegs beruhigt zu haben. »Wirklich, Doktor Lanning ... wirklich – ich ... ich ... soll ein Roboter sein?« Lanning sprach sehr deutlich und abgehackt. »Diese Behauptung stammt nicht von mir, Sir. Ich hätte, weiß Gott, nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie tatsächlich ein Mensch wären. Da unsere Corporation Sie nie hergestellt hat, bin ich ziemlich davon überzeugt, daß Sie einer sind – jedenfalls im rechtlichen Sinn. Aber da ein Mann von gewissem Ansehen uns
gegenüber ganz ernsthaft den Verdacht geäußert hat, Sie seien in Wirklichkeit ein Roboter ...« »Verschweigen Sie ruhig seinen Namen, bevor Ihre granitenen Moralbegriffe dadurch zu Schaden kommen. Aber um eine Diskussionsgrundlage zu haben, können wir ja einfach annehmen, der bewußte Mann sei Frank Quinn gewesen. Weiter, bitte.« Lanning quittierte die Unterbrechung mit einem wütenden Schnauben und fuhr mit eisiger Stimme fort: »Da dieser Mann, mit dessen Identität wir hier kein Rätselraten veranstalten wollen, den Verdacht ernsthaft geäußert hat, bin ich verpflichtet, Sie um Ihre Unterstützung zu bitten, damit ich den Vorwurf widerlegen kann. Die bloße Tatsache, daß die Behauptung mit allen, diesem Mann zur Verfügung stehenden Mitteln verbreitet und unter die Leute gebracht werden könnte, wäre ein schwerer Schlag für die Firma, die ich vertrete – selbst wenn der Verdacht nie bewiesen würde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »O ja, ich verstehe Ihre Position durchaus. Die Behauptung selbst ist einfach lächerlich. Ihre augenblickliche, schwierige Lage ist es keineswegs. Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, wenn mein Lachen Sie verletzt hat. Ich habe nur über den Vorwurf, nicht aber über Ihr Problem gelacht. Wie kann ich Ihnen helfen?« »Das wäre ganz einfach. Sie brauchten nur in Ge-
genwart einiger Zeugen in einem Restaurant Platz zu nehmen, sich fotografieren zu lassen und dabei zu essen.« Lanning lehnte sich in seinen Sessel zurück und hatte das Gefühl, den schlimmsten Teil des Gesprächs hinter sich zu haben. Die Frau neben ihm schien Byerley mit gespanntem Interesse zu beobachten, äußerte sich aber selbst nicht zum Thema der Unterredung. Stephen Byerley begegnete ihrem forschenden Blick, hielt ihm unerschrocken stand und sah dann wieder zu Lanning hinüber. Seine Finger spielten einige Sekunden lang mit dem Bronzebeschwerer, der als einziger Zierat auf seinem Schreibtisch lag. »Leider kann ich Ihnen diesen Gefallen nicht tun, glaube ich«, sagte er ruhig. Dann hob er die Hand. »Warten Sie noch, Doktor Lanning. Mir ist durchaus klar, daß Ihnen diese ganze Angelegenheit widerstrebt, daß Sie gegen Ihren Willen darin verwickelt sind, daß Sie selbst das Gefühl haben, eine unwürdige und vielleicht sogar lächerliche Rolle spielen zu müssen. Trotzdem betrifft die Sache mich noch viel mehr, deshalb muß ich Sie bitten, etwas Toleranz zu beweisen. Weshalb sind Sie eigentlich davon überzeugt, daß Quinn – der Mann von gewissem Ansehen, wissen Sie – nicht nur einen Trick mit Ihnen versucht hat, um Sie genau zu dem zu bringen, was Sie jetzt tun?«
»Nun, es erscheint mir kaum wahrscheinlich, daß ein angesehener Mann sich auf so lächerliche Art und Weise gefährden würde, wenn er nicht davon überzeugt wäre, festen Boden unter den Füßen zu haben.« Byerleys Augen blitzten nicht mehr humorvoll. »Sie kennen Quinn offenbar nicht. Er brächte es fertig, auf einer Felskante festen Boden unter den Füßen zu haben, von der eine Gemse abstürzen würde. Ich nehme an, daß er Ihnen gegenüber Einzelheiten der angeblich über mich angestellten Nachforschungen erwähnt hat?« »Jedenfalls so viele, daß ich schließlich davon überzeugt war, unsere Corporation werde es sehr schwer haben, seine Behauptungen zu widerlegen, während es Ihnen erheblich leichter fallen dürfte.« »Dann glauben Sie ihm also, wenn er behauptet, ich äße nie. Sie sind doch Wissenschaftler, Doktor Lanning. Überlegen Sie selbst, wie wenig stichhaltig diese Logik ist. Niemand hat mich essen sehen, folglich esse ich nie – Blödsinn!« »Sie benützen juristische Spitzfindigkeiten, um eine im Grunde genommen einfache Sache zu verwirren.« »Ganz im Gegenteil, ich versuche nur, eine Angelegenheit zu entwirren, die Sie und Quinn erst kompliziert gemacht haben. Sehen Sie, ich schlafe nicht viel, das ist wahr, und ich schlafe bestimmt nie in der Öffentlichkeit. Ich habe nie Wert darauf gelegt, ge-
meinsam mit anderen zu essen – eine Idiosynkrasie, die ungewöhnlich und vielleicht sogar neurotisch bedingt ist, ohne aber andern zu schaden. Hören Sie, Doktor Lanning, ich möchte Ihnen einen hypothetischen Fall schildern. Nehmen wir einmal an, es gäbe einen Politiker, der daran interessiert ist, einen Reformkandidaten um jeden Preis zu schlagen und der bei seinen Nachforschungen über das Privatleben seines Konkurrenten auf die vorhin erwähnten Eigenheiten gestoßen ist. Nehmen wir weiterhin an, dieser Politiker will den anderen wirksam unmöglich machen und kommt deshalb zu Ihrer Gesellschaft, die für seine Zwecke besonders geeignet scheint. Erwarten Sie etwa, daß er dann zu Ihnen sagt: ›Soundso ist ein Roboter weil er kaum jemals mit anderen Leuten ißt und ich habe ihn noch nie bei einer Gerichtsverhandlung schlafen sehen; einmal habe ich ihn nach Mitternacht durchs Fenster seines Arbeitszimmers beobachtet, wie er am Schreibtisch saß und las; und ich habe mir seinen Eisschrank angesehen, ohne darin Lebensmittel zu finden.‹ Wäre er so dumm, Ihnen das zu erzählen, würden Sie eine Zwangsjacke für ihn bestellen. Aber wenn er zu Ihnen sagt: ›Er schläft nie; er ißt nie‹, sind Sie über diese Behauptung so verblüfft, daß Ihnen gar nicht auffällt, daß diese Unterstellung unmöglich zu be-
weisen ist. Sie sind ihm sogar behilflich, wenn Sie noch Aufhebens davon machen.« »Ungeachtet dessen, Sir«, begann Lanning mit drohender Hartnäckigkeit, »ob Sie diese Angelegenheit als ernst oder lächerlich betrachten, brauchen Sie nur die vorhin erwähnte Mahlzeit vor Zeugen einzunehmen, um alle Zweifel aus der Welt zu schaffen.« Byerley wandte sich wieder an die junge Frau, die ihn noch immer ausdruckslos betrachtete. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind Sie Dr. Susan Calvin?« »Ja, Mister Byerley.« »Sie arbeiten bei US Robot als Psychologin, nicht wahr?« »Robopsychologin, bitte.« »Oh, unterscheiden Roboter sich geistig so sehr von Menschen?« »Das ist ein himmelweiter Unterschied.« Sie gestattete sich ein frostiges Lächeln. »Roboter sind vor allem grundanständig.« Byerley lächelte ebenfalls. »Nun, das ist ein harter Schlag. Aber ich wollte eigentlich etwas anderes sagen. Da Sie eine Psycho... eine Robopsychologin und eine Frau sind, haben Sie bestimmt an etwas gedacht, was Doktor Lanning nie eingefallen wäre.« »Was meinen Sie damit?« »Sie haben etwas zu essen in Ihrer Handtasche.«
Die angelernte Indifferenz in Susan Calvins Augen verschwand schlagartig. »Sie überraschen mich, Mister Byerley«, sagte sie. Dann ließ sie ihre Handtasche aufschnappen und holte einen Apfel daraus hervor. Sie reichte ihn wortlos über den Schreibtisch. Dr. Lanning schüttelte verblüfft den Kopf, konzentrierte sich dann aber auf den Apfel in Byerleys Hand. Stephen Byerley biß gelassen hinein und aß ihn seelenruhig auf. »Zufrieden, Doktor Lanning?« Dr. Lanning lächelte so spürbar erleichtert, daß selbst seine buschigen Augenbrauen freundlich wirkten. Aber diese Erleichterung hielt nicht lange an. »Ich war neugierig, ob er ihn wirklich essen würde«, sagte Susan Calvin, »obwohl damit in diesem Fall selbstverständlich noch nichts bewiesen ist.« Byerley grinste. »Wirklich nicht?« »Selbstverständlich nicht. Es ist doch ganz offensichtlich, Doktor Lanning, daß dieser Mann eine perfekte Imitation sein müßte. Er ist fast zu menschlich, um noch glaubwürdig zu sein. Schließlich sehen und beobachten wir unser ganzes Leben lang andere Menschen; es wäre also unmöglich, uns mit einer guten Imitation zu täuschen. Es müßte schon eine perfekte Imitation sein, die nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist. Sehen Sie sich nur die Struktur der
Haut an, die Qualität der Iris, die Knochenformationen der Hände. Falls er wirklich ein Roboter ist, wünschte ich nur, unsere Firma hätte ihn gebaut, weil er so hervorragend konstruiert ist. Glauben Sie etwa, daß jemand, der solche Kleinigkeiten berücksichtigen kann, andere Vorrichtungen vernachlässigen würde, die Schlaf, Nahrungsaufnahme und Verdauung imitieren? Vielleicht nur für den Gebrauch in Notfällen – zum Beispiel eben, als er den Apfel gegessen hat. Deshalb beweist eine Mahlzeit, im Grunde genommen, gar nichts.« »Augenblick«, knurrte Lanning, »ich bin noch nicht so vertrottelt, wie Sie beide zu glauben scheinen. Ob Mister Byerley ein Mensch oder keiner ist, interessiert mich nicht im geringsten. Ich habe nur Interesse daran, der Corporation aus einer schwierigen Lage zu helfen. Eine Mahlzeit vor Zeugen macht dem Unsinn ein Ende, selbst wenn Quinn sich alle Mühe gibt, die Sache zu seinen Gunsten auszuwerten. Sämtliche anderen Details können wir Anwälten und Robopsychologen überlassen.« »Aber, Doktor Lanning«, sagte Byerley, »Sie vergessen, daß die Angelegenheit einen politischen Hintergrund hat. Ich lege ebenso großen Wert darauf, zum Bürgermeister gewählt zu werden, wie Quinn sich Mühe gibt, meine Wahl zu verhindern. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß Sie seinen Namen doch ge-
braucht haben? Das ist ein billiger Trick von mir, den jeder Winkeladvokat beherrscht; ich wußte genau, daß Sie den Namen erwähnen würden, bevor diese Unterredung zu Ende war.« Lanning wurde rot. »Was hat die bevorstehende Wahl damit zu tun?« »Wahlpropaganda kann sich nach beiden Seiten auswirken, Sir. Wenn Quinn mich als Roboter bezeichnen will und den Nerv hat, es wirklich zu tun, habe ich den Nerv, das Spiel nach seinen Vorstellungen zu spielen.« »Sie wollen also ...« Lanning war ehrlich verblüfft. »Genau. Er soll ruhig weitermachen, sich selbst den Strick aussuchen, dessen Tragfähigkeit prüfen, die richtige Länge abschneiden, den Knoten knüpfen, seinen Kopf in die Schlinge stecken und grinsen. Was dann noch zu tun übrigbleibt, will ich gern für ihn erledigen.« »Sie müssen ein enormes Selbstvertrauen besitzen.« Susan Calvin erhob sich. »Kommen Sie, Alfred, von uns läßt er sich nicht umstimmen.« »Sehen Sie.« Byerley lächelte unbekümmert. »Sie sind auch Menschenpsychologin.« Das enorme Selbstvertrauen, von dem Dr. Lanning gesprochen hatte, schien allerdings leicht angeschla-
gen zu sein, als Byerleys Auto am gleichen Abend in der vollautomatischen Förderspur der Tiefgarage stand, während Byerley durch den gepflegten Vorgarten seines Hauses auf die Tür zuging. Als er eintrat, sah die Gestalt im Rollstuhl lächelnd auf. Byerley erwiderte das Lächeln mit echter Zuneigung und blieb vor dem Rollstuhl stehen. Die Stimme des Invaliden war nur ein heiseres, krächzendes Flüstern aus dem für immer schief verzerrten Mund in einem von Brandwunden schrecklich entstellten Gesicht. »Du kommst später als sonst, Steve.« »Ich weiß, John, ich weiß. Aber heute hatte ich es mit einem merkwürdigen und interessanten Problem zu tun.« »Tatsächlich?« Weder das entstellte Gesicht noch die zerstörte Stimme konnten ihren Ausdruck verändern, aber die Augen leuchteten besorgt auf. »Aber doch nichts, mit dem du nicht selbst fertig wirst?« »Das muß sich erst herausstellen. Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Schließlich bist du die Intelligenzbestie der Familie. Soll ich dich in den Garten bringen? Der Abend ist wirklich herrlich.« Zwei starke Arme hoben John aus seinem Rollstuhl. Byerleys Arme hielten die Schultern und die in eine Decke gehüllten Beine des Invaliden liebevoll umfaßt. Er ging langsam und vorsichtig durch die
Zimmer, über die leicht geneigte Rampe hinab, die für den Rollstuhl gebaut worden war, in den weitläufigen Garten hinaus, dessen hohe Mauer neugierige Blicke abhielt. »Warum läßt du mich nicht im Rollstuhl, Steve? Das ist doch lächerlich.« »Ich trage dich aber lieber. Hast du etwas dagegen? Du weißt selbst, wie froh du immer bist, wenn du deiner motorisierten Kutsche für eine Viertelstunde entrinnen kannst und ich freue mich, wenn ich dich nicht darin sehe. Wie geht es dir heute?« Er setzte John behutsam ins Gras. »Wie soll es mir schon gehen? Erzähl mir lieber von deinem Problem.« »Quinns Wahlfeldzug soll auf der Behauptung basieren, ich sei in Wirklichkeit ein Roboter.« John riß erstaunt die Augen auf. »Woher weißt du das, Steve? Das ist ausgeschlossen! Das kann ich nicht glauben.« »Du mußt es aber glauben, wenn ich es dir sage. Er hat einen der großen Wissenschaftler der US Robot and Mechanical Men Corporation zu mir ins Büro geschickt, um mich begutachten zu lassen.« John riß langsam ein Grasbüschel aus. »Ja«, flüsterte er tonlos, »das verstehe ich ...« »Aber wenn wir es richtig anfangen, schneidet er sich damit ins eigene Fleisch«, fügte Byerley hinzu.
»Ich habe eine Idee. Du mußt mir nur sagen, ob sie durchführbar ist.« Die Szene in Alfred Lannings Arbeitszimmer glich etwa zur gleichen Zeit einer Stummfilmparodie. Francis Quinn starrte nachdenklich Alfred Lanning an. Lanning beobachtete mit einem Ausdruck finsterer Entschlossenheit Susan Calvin, die ihrerseits völlig gelassen zu Quinn hinübersah. Francis Quinn durchbrach das allgemeine Schweigen, als er krampfhaft unbekümmert feststellte: »Bluff, alles nur Bluff! Er hat nur ein paar gute Ausreden parat gehabt.« »Wollen Sie wirklich alles auf diese Karte setzen, Mister Quinn?« erkundigte Dr. Calvin sich. »Nun, eigentlich steht hier nur für Sie etwas auf dem Spiel, wenn man es recht überlegt.« »Hören Sie«, Lanning schien seinen entschiedenen Pessimismus übertönen zu wollen, »wir haben getan, was Sie verlangt haben. Der Mann hat in unserer Gegenwart gegessen. Es ist einfach lächerlich, ihn für einen Roboter zu halten.« »Ist das auch Ihre Meinung?« wollte Quinn von Dr. Calvin wissen. »Lanning hat behauptet, Sie seien in diesem Fall die große Expertin.« Lanning runzelte fast drohend die Stirn. »Nein, Susan ...«
Quinn unterbrach ihn sofort. »Warum verbieten Sie ihr das Wort? Sie sitzt jetzt schon seit einer halben Stunde da und schweigt sich aus.« Lanning zuckte irritiert mit den Schultern. »Schön«, meinte er seufzend. »Sprechen Sie sich aus, Susan. Wir unterbrechen Sie nicht mehr.« Susan Calvin warf ihm einen humorlosen Blick zu und betrachtete Mr. Quinn dann ebenso kalt. »Es gibt nur zwei Methoden, mit denen sich zweifelsfrei beweisen läßt, daß Mister Byerley ein Roboter ist, Sir. Sie haben bisher nur Hinweise gesammelt, die bloße Vermutungen, aber noch lange keine Beweise sind – und ich glaube, daß Mister Byerley intelligent genug ist, um Material dieser Art zu widerlegen. Vermutlich sind Sie selbst der gleichen Auffassung, sonst wären Sie nicht hierher gekommen. Die beiden Methoden, mit denen sich ein Beweis erbringen läßt, sind die physische und die psychologische. Bei der ersten müssen Sie ihn sezieren oder röntgen. Wie Sie das anfangen, ist allerdings Ihr Problem. Sein Verhalten läßt sich aber auch psychologisch untersuchen, denn falls er ein positronischer Roboter ist, muß er sich an die drei Gesetze der Robotik halten, ohne die sich kein positronisches Gehirn konstruieren läßt. Kennen Sie diese drei Gesetze, Mister Quinn?« Sie sprach sehr deutlich und zitierte Wort für Wort
den bekannten Text der Einleitung des Standardwerks ›Handbuch der Robotik‹. »Ich habe schon davon gehört«, antwortete Quinn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Dann ist der Fall ganz einfach«, meinte die Psychologin trocken. »Wenn Mister Byerley irgendeins dieser drei Gesetze übertritt, ist er kein Roboter. Leider funktioniert das Ausleseverfahren nur in dieser Richtung. Wenn er sich an die Gesetze hält, ist ihm nichts nachzuweisen.« Quinn zog höflich die Augenbrauen in die Höhe. »Weshalb nicht, Doktor Calvin?« »Wer sich mit den drei Gesetzen der Robotik befaßt, müßte eigentlich sofort merken, daß sie im Grunde genommen eine Zusammenfassung der wichtigsten Leitprinzipien menschlicher Moral und Ethik darstellen. Natürlich sollte jeder Mensch einen vernünftigen Selbsterhaltungstrieb besitzen. Das ist das Dritte Gesetz für einen Roboter. Jeder ›gute‹ Mensch mit sozialem Gewissen und Verantwortungsbewußtsein sollte sich aber auch bestimmten Autoritäten fügen; er sollte auf seinen Arzt, seinen Chef, seine Regierung, seinen Psychiater und seine Mitmenschen hören; er sollte Gesetze beachten, Vorschriften einhalten und nicht gegen allgemein übliche Sitten verstoßen – selbst wenn sie seine persönliche Bequemlichkeit oder Sicherheit beeinträchtigen. Das
ist das Zweite Gesetz für einen Roboter. Und jeder ›gute‹ Mensch sollte seinen Nächsten lieben wie sich selbst, sollte seine Mitmenschen vor Schaden bewahren und notfalls sogar sein Leben riskieren, um andere zu retten. Das ist das Erste Gesetz für einen Roboter. Um es ganz einfach auszudrücken – wenn Byerley alle drei Gesetze der Robotik befolgt, ist er vielleicht ein Roboter oder vielleicht nur ein sehr guter Mensch.« »Aber«, wandte Quinn ein, »Sie erzählen mir damit, daß Sie nie beweisen können, daß er ein Roboter ist.« »Ich kann vielleicht beweisen, daß er keiner ist.« »Auf diesen Beweis lege ich nicht den geringsten Wert.« »Ich kann Ihnen nur einen Beweis für das liefern, was er wirklich ist. Wenn Ihnen das nicht genügt, tut es mir leid, aber Sie sind für Ihre eigenen Bedürfnisse selbst verantwortlich.« Lanning hatte plötzlich eine blendende Idee. »Ist es eigentlich schon jemand aufgefallen«, knurrte er, »daß Bezirksstaatsanwalt eine reichlich merkwürdige Beschäftigung für einen Roboter ist? Die Strafverfolgung menschlicher Lebewesen ... ein Antrag auf Todesstrafe ... unendliches Leid für alle Betroffenen ...« Quinn schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Allein die
Tatsache, daß er Staatsanwalt spielt, macht noch längst keinen Menschen aus ihm. Kennen Sie seine bisherige Laufbahn wirklich nicht? Wissen Sie nicht, daß er sich rühmt, niemals einen Unschuldigen angeklagt zu haben; daß er Dutzende von Verfahren eingestellt hat, weil ihm das Beweismaterial nicht genügte, obwohl er die Geschworenen vermutlich dazu hätte bringen können, den Angeklagten atomisieren zu lassen? Das ist die reine Wahrheit.« Lannings hagere Wangen zitterten. »Nein, Quinn, nein. Die Gesetze der Robotik kennen keine Ausnahmen in Fällen, wo Menschen sich schuldig gemacht haben. Ein Roboter darf nicht darüber entscheiden, ob ein Mensch die Todesstrafe verdient. Dazu ist er gar nicht imstande. Er darf und kann keinem Menschen schaden.« Susan Calvin winkte müde ab. »Alfred«, sagte sie, »reden Sie doch keinen Unsinn. Was würde ein Roboter tun, der einen Verrückten dabei überrascht, daß er ein bewohntes Haus anzünden will? Er würde den Verrückten davon abhalten, nicht wahr?« »Selbstverständlich.« »Und wenn er ihn nur dadurch von der Brandstiftung abhalten könnte, daß er ihn umbringt ...« Lanning starrte sie betroffen an und schwieg. »Die Antwort darauf kann nur lauten, daß er sein Bestes tun würde, um ihn nicht umzubringen, Alfred.
Sollte der Verrückte aber trotzdem sterben, müßte der Roboter sich einer Psychotherapie unterziehen, denn sonst könnte er an diesem Konflikt zerbrechen und wahnsinnig werden – er hätte das Erste Gesetz gebrochen, um das Erste Gesetz in einem höheren Sinn zu befolgen. Aber der Mensch wäre tot, und ein Roboter hätte ihn umgebracht.« »Schön, ist Byerley verrückt?« erkundigte Lanning sich mit allem ihm zur Verfügung stehenden Sarkasmus. »Nein, aber er hat auch keinen Menschen selbst umgebracht. Er hat nur Tatsachen gesammelt und vorgelegt, die zu beweisen scheinen, daß ein bestimmter Mensch der großen Masse anderer Menschen, die wir als Gesellschaft bezeichnen, gefährlich werden könnte. Er schützt die größere Anzahl und befolgt dadurch das Erste Gesetz mit größtmöglicher Wirksamkeit. Weiter ist er nie gegangen. Es ist der Richter, der dann den Angeklagten zum Tod oder zu einer Haftstrafe verurteilt, nachdem die Geschworenen über Schuld oder Unschuld entschieden haben. Es ist der Gefängnisaufseher, der ihn einsperrt, oder der Scharfrichter, der seinem Leben ein Ende setzt. Und Mister Byerley hat nur die Wahrheit bestimmt und der Gesellschaft geholfen. Vielleicht interessiert es Sie, Mister Quinn, daß ich mich eingehend mit Mister Byerleys Karriere befaßt
habe, seitdem Sie uns auf diesen Fall hingewiesen haben. Dabei stellte sich heraus, daß er in seinen Strafanträgen vor den Geschworenen niemals die Todesstrafe gefordert hat. Ich habe außerdem festgestellt, daß er sich mehrmals für die Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen hat und regelmäßig größere Beträge für Forschungsinstitute stiftet, die auf dem Gebiet der kriminellen Neurophysiologie tätig sind. Offenbar scheint er zu glauben, daß Verbrecher nicht bestraft, sondern geheilt werden müßten. Diese Tatsache erscheint mir bedeutungsvoll.« »Wirklich?« Quinn lächelte. »Bedeutungsvoll, weil sie vielleicht den Schluß nahelegt, daß wir es doch mit einem Roboter zu tun haben?« »Vielleicht? Warum sollte ich das leugnen? Dieses Verhalten kann man nur von einem Roboter erwarten – oder von einem sehr ehrenwerten und anständigen Menschen. Aber Sie sehen doch hoffentlich ein, daß man zwischen einem Roboter und einem hochanständigen Menschen nicht unterscheiden kann.« Quinns Stimme klang ungeduldig. »Doktor Lanning, es ist durchaus möglich, einen Roboter zu konstruieren, der in jeder Beziehung menschenähnlich wirkt, nicht wahr?« Lanning räusperte sich und schien angestrengt nachzudenken. »Wir haben selbst schon einige Versuche in dieser Richtung unternommen«, sagte er
dann zögernd, »ohne natürlich ein positronisches Gehirn einzubauen. Durch Verwendung menschlicher Eizellen und entsprechender Hormonsteuerung kann man ein Skelett aus poröser Silikonplastikmasse mit menschlichem Gewebe überziehen, das sich äußerlich nicht im geringsten von Ihrem oder meinem unterscheidet. Augen, Haare, Haut und alles andere sind dann wirklich menschlich, nicht nur humanoid. Und sobald man diese Konstruktion noch durch ein positronisches Gehirn und verschiedene andere Vorrichtungen ergänzt, hat man einen humanoiden Roboter.« »Wie lange würde es ungefähr dauern, einen Roboter dieser Art zu bauen?« wollte Quinn wissen. Lanning überlegte. »Wenn man alles Notwendige zur Verfügung hat – das Gehirn, das Skelett, die Eizelle, die richtigen Hormone und ein vollständig ausgestattetes Laboratorium –, dürfte es zwei Monate dauern, schätze ich.« Der Politiker erhob sich ruckartig. »Dann müssen wir uns eben davon überzeugen, wie Mister Byerley von innen aussieht. Leider wird sich dabei nicht vermeiden lassen, daß Ihre Gesellschaft ebenfalls mit in die Sache hineingezogen wird – aber Sie haben Ihre Chance gehabt.« Lanning wandte sich ungeduldig an Susan Calvin, als sie wieder allein waren. »Weshalb bestehen Sie darauf ...«
»Was wollen Sie eigentlich – die Wahrheit oder meine Kündigung?« fragte sie sofort. Sie schien nahe daran, ihre unerschütterliche Gelassenheit zu verlieren. »Ich habe nicht die Absicht, für Sie zu lügen! Die Corporation kann für sich selbst sorgen. Werfen Sie doch nicht schon jetzt die Flinte ins Korn, Alfred!« »Und was passiert«, fragte Lanning, »wenn er Byerley aufschneidet und Zahnräder und andere Maschinenteile fallen heraus? Was dann?« »Seien Sie unbesorgt, dazu bekommt er gar keine Gelegenheit«, antwortete Dr. Calvin mit einer verächtlichen Handbewegung. »Byerley ist mindestens so intelligent und gerissen wie Quinn.« Knapp eine Woche, bevor Stephen Byerley endgültig als Kandidat nominiert werden sollte, wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt. Aber ›in Umlauf gesetzt‹ ist eigentlich der falsche Ausdruck. Es stolperte durch die Straßen der Stadt, es kroch, schlurfte und krabbelte. Die erste Reaktion der Öffentlichkeit bestand nur aus Gelächter und witzigen Bemerkungen. Aber als Quinn hinter den Kulissen allmählich seinen Druck verstärkte, klang das Gelächter gezwungen, eine deutliche Unsicherheit verbreitete sich, und die Leute lachten nicht mehr, sondern wurden nachdenklich. Die Versammlung, auf der über den Kandidaten abgestimmt wurde, fand in einer hektischen Atmosphäre
statt. Ursprünglich war keine Konkurrenz zwischen den Bewerbern vorgesehen gewesen. Noch vor einer Woche wäre nur Byerley als möglicher Kandidat ins Rennen gegangen. Selbst jetzt trat kein anderer auf, der ihm den Sieg hätte streitig machen können. Die Wahlmänner mußten Byerley nominieren, aber ihre Verwirrung wurde deshalb nicht etwa geringer. Alles wäre vermutlich etwas leichter gewesen, wenn der einzelne nicht vor der schweren Entscheidung gestanden hätte, in diesem Fall selbst zu unterscheiden, ob es sich um einen monströsen Vorwurf – falls das Gerücht zutraf – oder nur um eine sensationell aufgebauschte Torheit handelte – falls das Gerücht sich später als falsch erweisen sollte. Am Tag nach Byerleys Nomination, die ohne große Begeisterung erfolgt war, brachte eine große Zeitung endlich die Zusammenfassung eines langen Interviews mit Dr. Susan Calvin, ›der weltberühmten Expertin für Robopsychologie und Positronik‹. Von diesem Augenblick an war der Teufel los. Die Fundamentalisten hatten nur auf eine günstige Gelegenheit dieser Art gewartet. Sie waren nicht zu einer politischen Partei zusammengeschlossen; sie behaupteten keineswegs, bestehende Religionen ersetzen zu können, fühlten sich aber auch keiner verpflichtet. Im Grunde genommen handelte es sich dabei vor allem um Menschen, die nicht imstande ge-
wesen waren, sich dem sogenannten Atomzeitalter anzupassen – damals in der guten, alten Zeit, als Atome noch als Neuheit galten. Tatsächlich waren sie unverbesserliche Träumer, die sich nach einem ›einfachen‹ Leben sehnten, das den früher davon Betroffenen vermutlich gar nicht so einfach erschienen war, so daß auch diese Menschen ihrerseits ähnliche Wunschträume gehabt haben mußten. Die Fundamentalisten brauchten keinen neuen Grund, um Roboter und ihre Hersteller zu verabscheuen; aber ein neuer Grund wie Quinns Beschuldigung und Dr. Calvins Analyse genügte, um diesen Abscheu deutlich hörbar zu machen. Die riesigen Werke der US Robot and Mechanical Men Corporation glichen aufgestörten Bienenstöcken, die Tag und Nacht von schwer bewaffnetem Werkschutz bewacht wurden. Sie bereiteten sich auf einen Krieg vor. Stephen Byerleys Haus in der Stadt starrte geradezu vor ebenfalls bewaffneten Polizisten. Der Wahlfeldzug kannte selbstverständlich kein anderes Thema mehr und erinnerte nur noch insofern an traditionelle Wahlkampagnen, als er den leeren Zeitraum zwischen Nomination und Wahl ausfüllte. Stephen Byerley ließ sich durch die übertriebene Geschäftigkeit des kleinen Mannes nicht beeinflussen.
Auch die zahlreichen Uniformen im Hintergrund beunruhigten ihn nicht weiter. Hinter dem dichten Absperring, den grimmig dreinblickende Polizisten ums Haus gezogen hatten, warteten ungeduldige Reporter und Fotografen. Eine unternehmungslustige Televisorstation hatte sogar eine Kamera vor der schlichten Tür des unscheinbaren Hauses aufgebaut, in dem der Staatsanwalt wohnte, und ein künstlich erregter Reporter gab sich alle Mühe, wortreich die traurige Tatsache zu bemänteln, daß es eigentlich gar nichts zu berichten gab. Der geschäftige, kleine Mann trat in Byerleys Arbeitszimmer. Er hielt ein kompliziertes Formular in die Höhe, das mit vielen imponierenden Stempeln, Siegeln und Unterschriften verziert war. »Dies ist ein richterlicher Durchsuchungsbefehl, Mister Byerley, der mich berechtigt, auf diesem Grundstück nach gesetzwidrigen ... äh ... mechanischen Menschen oder Robotern jeglicher Art zu suchen.« Byerley stand halb auf und streckte die Hand nach der Urkunde aus. Er warf einen kurzen Blick auf den Inhalt, lächelte und gab das Formular zurück. »Alles in Ordnung. Fangen Sie nur an. Tun Sie Ihre Pflicht. Mistreß Hoppen« – er wandte sich an seine Haushälterin, die zögernd hereingekommen war –, »begleiten Sie die Herren bitte durchs Haus. Vielleicht können Sie ihnen irgendwie behilflich sein.«
Der kleine Mann, der Harroway hieß, zögerte, wurde unverkennbar rot, hüstelte, um Byerley auf sich aufmerksam zu machen, hatte keinen Erfolg damit und knurrte schließlich die beiden Polizisten in seiner Begleitung an: »Los, mitkommen!« Zehn Minuten später war er bereits wieder zurück. »Fertig?« erkundigte Byerley sich freundlich. Sein Tonfall ließ allerdings erkennen, daß ihn weder die Frage noch die Antwort sonderlich interessierten. Harroway räusperte sich, hatte einen schlechten Start im Falsett und begann nochmals – jetzt allerdings ziemlich wütend: »Hören Sie, Mister Byerley, wir sind ausdrücklich beauftragt worden, das Haus sehr gründlich zu durchsuchen.« »Haben Sie das nicht getan?« »Wir wissen genau, wonach wir zu suchen haben.« »Ja?« »Um es kurz zu machen, Mister Byerley – wir haben den Auftrag, Sie zu durchsuchen.« »Mich?« fragte der Staatsanwalt lächelnd. »Und wie wollen Sie das anstellen?« »Wir haben ein Penetstrahlen-Gerät mitgebracht ...« »Ich soll mich also röntgen lassen, wie? Sind Sie überhaupt dazu berechtigt?« »Sie haben den Durchsuchungsbefehl gelesen.« »Darf ich ihn noch einmal sehen?«
Harroway, auf dessen Stirn inzwischen mehr als nur reiner Enthusiasmus glänzte, reichte ihm zum zweitenmal das Formular. »Hier ist alles aufgeführt, was Sie durchsuchen sollen«, sagte Byerley ruhig. »Ich zitiere daraus: ›... die in Evanston, Willow Grove 335, gelegenen Wohnräume des Stephen Allen Byerley mit allen etwa dazugehörigen Garagen, Lagerräumen, Schuppen und anderen Baulichkeiten oder Gebäuden sowie das dazugehörige Grundstück‹ ... hmm ... und so weiter. Alles in bester Ordnung. Aber, guter Mann, hier steht nichts über eine Durchsuchung meines Innern. Ich bin weder Bestandteil der Gebäude noch des Grundstücks. Sie können nur meine Kleidung absuchen, wenn Sie glauben, daß ich einen Roboter in der Tasche versteckt habe.« Harroway wußte nur zu gut, wem er seinen Job verdankte, und hatte nicht die Absicht, sich so rasch geschlagen zu geben, da ihm für seine Bemühungen ein besserer – d.h. ein höherbezahlter – Posten versprochen worden war. »Hören Sie, Mister Byerley«, widersprach er deshalb erregt, »ich bin berechtigt, das Haus, die Einrichtung und alle darin befindlichen Gegenstände zu durchsuchen. Sie befinden sich im Haus, nicht wahr?« »Eine bemerkenswerte Feststellung. Ich bin darin. Aber ich bin schließlich kein Möbelstück. Als schon
vor über zwanzig Jahren mündiggesprochener Bürger – falls Sie daran zweifeln, zeige ich Ihnen gern das psychiatrische Zertifikat – habe ich bestimmte Rechte, die mir die Verfassung unserer Region ausdrücklich garantiert. Was Sie vorhaben, würde mein Recht auf Privatleben verletzen. Dazu reicht Ihr Durchsuchungsbefehl nicht aus.« »Klar, aber wenn Sie ein Roboter sind, haben Sie kein Recht auf Privatleben.« »Völlig richtig – aber der Durchsuchungsbefehl genügt trotzdem nicht. Er erkennt mich nämlich als menschliches Wesen an.« »Wo?« Harroway griff hastig danach. »Wo von ›Wohnräumen des Stephen Allen Byerley‹ und so weiter die Rede ist. Ein Roboter kann kein Eigentum besitzen. Und Sie richten Ihrem Auftraggeber bitte aus, Mister Harroway, daß er lieber nicht versuchen soll, einen ähnlichen Durchsuchungsbefehl zu erwirken, der mich nicht als Mensch anerkennt, denn sonst hat er sofort eine Einstweilige Verfügung und einen Zivilprozeß auf dem Hals, in dem er mit den jetzt zur Verfügung stehenden Informationen beweisen muß, daß ich ein Roboter bin, wenn er es nicht vorzieht, eine saftige Geldstrafe dafür zu bezahlen, daß er widerrechtlich versucht hat, mich in meinen verfassungsmäßig garantierten Rechten zu verletzen. Das richten Sie ihm doch aus, nicht wahr?«
Harroway marschierte zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Sie sind ein gerissener Rechtsverdreher ...« Er behielt die rechte Hand kurz in der Jakkentasche. Eine Sekunde später verließ er das Haus, lächelte in das Objektiv der noch immer surrenden Televisorkamera, winkte den Reportern zu und rief: »Morgen gibt es etwas für euch, Jungs! Darauf könnt ihr euch verlassen!« Sobald er seinen Wagen erreicht hatte, nahm er das winzige Gerät aus der Tasche und untersuchte es sorgfältig. Dies war seine erste Fotografie mit reflektierten Röntgenstrahlen gewesen. Er konnte nur hoffen, alles richtig gemacht zu haben. Quinn und Byerley hatten noch nie allein und völlig unbeobachtet miteinander gesprochen. Aber das Visorphon gab ihnen Gelegenheit zu einer Unterhaltung unter vier Augen, obwohl sie beide ihren Gesprächspartner natürlich nur auf dem Bildschirm vor sich hatten. Quinn hatte ursprünglich angerufen und sagte ohne weitere Formalitäten: »Vielleicht interessiert es Sie, Byerley, daß ich beabsichtige, die Tatsache zu veröffentlichen, daß Sie eine Abschirmung gegen Penetstrahlen tragen.« »Wirklich? In diesem Fall darf ich wohl annehmen, daß Sie die Tatsache bereits unter die Leute gebracht
haben. Allmählich habe ich den Verdacht, daß Ihre unternehmungslustigen Pressevertreter meine verschiedenen Nachrichtenverbindungen seit einiger Zeit anzapfen. Gespräche von meinem Büro aus werden schon länger abgehört, deshalb habe ich mich in den letzten Wochen hier zu Hause vergraben.« Byerley sprach so ungezwungen freundlich, als unterhalte er sich mit einem guten Bekannten. Quinn runzelte leicht die Stirn. »Dieser Anruf ist abgeschirmt – gründlich. Ich gehe dabei sogar ein gewisses persönliches Risiko ein.« »Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Niemand weiß, daß Sie hinter dieser Kampagne stehen. Zumindest weiß es niemand offiziell. Und niemand weiß es nicht inoffiziell. Ich würde mir an Ihrer Stelle weniger Sorgen machen. Ich trage also eine Abschirmung am Körper? Wahrscheinlich haben Sie das gemerkt, als die Penetfotografie, die Ihr Mister Harroway gemacht hat, völlig überbelichtet war.« »Ihnen ist doch hoffentlich klar, Byerley, daß jedermann daraus schließen müßte, daß Sie es nicht wagen, sich einer Röntgenanalyse zu unterziehen.« »Jedermann wüßte dann aber auch, daß Sie oder Ihre Leute versucht haben, mein Recht auf Privatleben zu verletzen.« »Das ist dem Mann auf der Straße doch piepegal!« »Vielleicht. Das ist eigentlich fast symbolisch für
unsere beiden Wahlfeldzüge, finden Sie nicht auch? Sie halten nur wenig von den verfassungsmäßig garantierten Rechten jedes Bürgers. Ich halte sehr viel von ihnen. Ich unterziehe mich keiner Röntgenanalyse, weil ich aus Prinzip auf meinen Rechten bestehe. Falls ich gewählt werde, habe ich die Absicht, auch die Rechte anderer ebenso zu achten.« »Das ist ohne Zweifel ein schönes Thema für eine interessante Ansprache, aber trotzdem nimmt Ihnen das kein Mensch ab. Es klingt einfach zu edel, um wahr zu sein. Übrigens noch etwas ...« Quinn starrte Byerley forschend an. »Das Personal Ihres Hauses war neulich nicht vollständig.« »In welcher Beziehung?« »Nach meinen Informationen war eine Person abwesend – ein Krüppel.« »Ganz recht«, erwiderte Byerley tonlos, »ein Krüppel. Mein alter Lehrer, der bei mir lebt und sich jetzt aufs Land zurückgezogen hat – allerdings schon vor acht Wochen. ›Zu einem längeren Erholungsaufenthalt‹, wie es bei Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in diesem Fall heißen würde. Hätte er vorher Ihre Erlaubnis einholen müssen?« »Ihr Lehrer? Eine Art Wissenschaftler?« »Er war früher Anwalt – bevor er zum Krüppel wurde. Er hat eine Regierungslizenz als Biophysiker, verfügt über ein eigenes Laboratorium und reicht re-
gelmäßig die vorgeschriebenen Arbeitsberichte bei der entsprechenden Überwachungsbehörde ein, deren Anschrift ich Ihnen gern zur Verfügung stelle. Seine Arbeit ist unbedeutend, aber ein harmloses und nützliches Hobby für einen ... armen Krüppel. Sie sehen also, daß ich Ihnen in jeder Beziehung nach besten Kräften behilflich sein möchte.« »Aha. Und was weiß dieser ... Lehrer ... über die Herstellung von Robotern?« »Leider kann ich seine Kenntnisse nicht beurteilen, weil ich auf diesem Gebiet selbst kein Fachmann bin.« »Er hätte nicht zufällig die Möglichkeit, sich positronische Gehirne zu verschaffen?« »Fragen Sie doch Ihre Freunde bei US Robot, die es am besten wissen müßten.« »Schön, ich will es kurz machen, Byerley. Ihr invalider Lehrer ist der wirkliche Stephen Byerley. Sie sind nur ein Roboter, den er konstruiert hat. Das können wir beweisen. Er hat damals den Autounfall gehabt – nicht Sie. Das muß sich irgendwie nachprüfen lassen.« »Tatsächlich? Tun Sie es nur. Viel Vergnügen dabei.« »Und wir können den sogenannten ›Landsitz‹ Ihres Lehrers durchsuchen. Vielleicht finden wir dabei ein paar interessante Dinge.«
»Nicht so voreilig, Quinn.« Byerley lächelte strahlend. »Sie haben Pech, denn mein Lehrer ist ein kranker Mann. Sein sogenannter Landsitz ist ein Ruheplatz. Unter diesen Umständen ist sein Recht auf Privatleben als erwachsener Bürger natürlich besonders geschützt. Sie werden keinen Richter finden, der Ihnen einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus ausstellt, wenn Sie nicht sehr gute Gründe dafür angeben können. Ich möchte Sie keineswegs davon abhalten, trotzdem Ihr Glück zu versuchen.« Nach einer längeren Pause lehnte Quinn sich so weit vor, daß die Falten auf seiner Stirn deutlich sichtbar wurden. »Warum machen Sie eigentlich noch weiter, Byerley?« fragte er langsam. »Sie können die Wahl unmöglich gewinnen.« »Nein?« »Sind Sie etwa anderer Meinung? Glauben Sie, daß Ihre Weigerung, den gegen Sie erhobenen Vorwurf zu entkräften – dabei brauchten Sie schließlich nur eines der Drei Gesetze zu brechen – etwas anderes bewirkt, als die Leute davon zu überzeugen, daß Sie ein Roboter sind?« »Vorläufig merke ich nur, daß ich von einem zwar mäßig bekannten, aber doch ziemlich obskuren Staatsanwalt zu einer weltbekannten Figur aufgestiegen bin. Sie sind ein guter Werbefachmann, Quinn.« »Aber Sie sind ein Roboter.«
»Das ist behauptet, aber noch nicht bewiesen worden.« »Die Wähler sind bereits davon überzeugt.« »Dann können Sie ganz beruhigt sein – Sie haben den Sieg in der Tasche.« »Auf Wiedersehen!« sagte Quinn deutlich verärgert und schaltete ab. »Auf Wiedersehen«, sagte Byerley ungerührt zu dem dunkel gewordenen Bildschirm. Byerley brachte seinen ›Lehrer‹ eine Woche vor der Wahl in die Stadt zurück. Der Aircar landete unbeachtet weit draußen in einem Vorort. »Du bleibst bis nach der Wahl hier«, erklärte Byerley ihm. »Hier bist du in Sicherheit, falls die Sache sich doch anders als vorgesehen entwickelt.« Das heisere Flüstern aus dem verzerrten Mund des Invaliden klang fast besorgt. »Besteht denn die Gefahr, daß es zu Ausschreitungen kommt?« »Die Fundamentalisten drohen damit, deshalb besteht theoretisch die Möglichkeit dazu. Aber ich rechne eigentlich nicht damit. Die Fundamentalisten haben keinen wirklichen Einfluß auf die Massen. Sie sind nur ein ständiger Reizfaktor, der unter Umständen im Laufe der Zeit zu Ausschreitungen führen kann. Es macht dir doch nichts aus, hier draußen zu bleiben? Bitte. Ich müßte mir sonst deinetwegen immer Sorgen machen.«
»Oh, ich bleibe natürlich hier. Glaubst du, daß alles wie geplant abläuft?« »Ich bin fest davon überzeugt. Hat dich jemand auf dem Land belästigt?« »Niemand. Das weiß ich ganz sicher.« »Und du hast deine Aufgabe lösen können?« »Völlig. Es dürfte keine Schwierigkeiten mehr geben.« »Ausgezeichnet, dann erlebst du ja morgen alles auf dem Bildschirm mit, John.« Byerley drückte die verkrüppelte Hand des anderen und verließ rasch das Haus. Auf Lentons Stirn zeichneten sich tiefe Sorgenfalten ab. Er hatte die ganz und gar nicht beneidenswerte Aufgabe, Byerleys Wahlkampfleiter in einem Wahlkampf zu sein, der keiner war, da die Hauptperson ihre Strategie nicht preisgeben wollte und die taktischen Ratschläge des wichtigsten Beraters ohnehin prinzipiell mißachtete. »Das können Sie nicht!« Das war sein Lieblingsausdruck. Es war allmählich sogar sein einziger Ausdruck. »Ich sage Ihnen, Steve, das können Sie nicht!« Er trat dicht an den Staatsanwalt heran, der sich die letzten Minuten damit vertrieb, seine maschinegeschriebene Rede nochmals durchzublättern. »Legen Sie das Zeug fort, Steve. Hören Sie, die
Fundies haben den Mob organisiert. Kein Mensch läßt Sie dort draußen zu Wort kommen. Wahrscheinlich werden Sie eher gesteinigt. Warum wollen Sie unbedingt persönlich auftreten? Was haben Sie gegen eine Aufzeichnung, gegen eine visuelle Aufzeichnung?« »Sie wollen doch auch, daß ich die Wahl gewinne, nicht wahr?« fragte Byerley ruhig. »Die Wahl gewinnen! Dort draußen ist kein Blumentopf zu gewinnen, Steve. Ich will Ihnen nur das Leben retten.« »Oh, mir passiert nichts.« »Ihm passiert nichts. Ihm passiert nichts.« Lenton schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Sie wollen also wirklich vor fünfzigtausend Verrückten auf den Balkon hinaustreten und eine schöne Rede halten – auf einem Balkon, wie ein mittelalterlicher Diktator?« Byerley warf einen Blick auf seine Uhr. »In genau vier Minuten – sobald die bezahlte Sendezeit beginnt.« Lentons Antwort war nicht druckreif. Die Massen füllten den größten Platz der Stadt, der zusätzlich mit Absperrungen gesichert war. Bäume und Häuser schienen aus tausendköpfigen, menschlichen Fundamenten emporzuwachsen. Und die übrige
Welt verfolgte die Szene auf dem Bildschirm. Die Wahl betraf ausschließlich die Stadt, fand aber trotzdem weltweite Aufmerksamkeit. Byerley dachte daran und lächelte vor sich hin. Aber die Menge war durchaus nicht geeignet, ein Lächeln hervorzurufen. Überall leuchteten Plakate und Transparente, deren Aufschriften ihn als angeblichen Roboter verunglimpften. Die feindselige Stimmung der Massen auf dem weiten Platz war förmlich greifbar. Byerleys Rede war von Anfang an ein Mißerfolg. Sie mußte sich gegen das Geheul der Menge und gegen die Sprechchöre der Fundamentalisten durchsetzen, die überall vereinzelte Unruheherde innerhalb der Zuhörermassen bildeten. Byerley sprach langsam und reagierte nicht auf die Zwischenrufe, die von allen Seiten kamen ... Lenton saß unterdessen im Zimmer hinter ihm, raufte sich die Haare, stöhnte – und wartete auf das unvermeidbare Blutvergießen. In den ersten Reihen entstand eine Bewegung. Ein hagerer Mann mit Basedowaugen und einem unmöglich karierten Anzug, der an Armen und Beinen zu kurz war, kroch unter dem Absperrseil durch. Ein Polizist rannte auf ihn zu und wollte ihm den Weg abschneiden, kam aber dann selbst nicht mehr recht
voran. Byerley winkte ab, und der Polizist blieb stehen. Der hagere Mann hatte jetzt eine freie Stelle unmittelbar unter dem Balkon erreicht. In dem allgemeinen Lärm verhallte seine Stimme ungehört. Byerley lehnte sich weit über das Geländer. »Was sagen Sie? Wenn Sie eine vernünftige Frage stellen wollen, beantworte ich sie gern.« Er wandte sich an den nächsten Ordner. »Bringen Sie den Mann zu mir herauf.« Die Menge hatte erstaunt zugesehen. »Ruhe!« hieß es plötzlich überall, bis auf dem riesigen Platz tatsächlich wie auf Befehl völliges Schweigen herrschte. Der hagere Mann, dessen Gesicht vor Aufregung rot angelaufen war, trat Byerley gegenüber. »Haben Sie eine Frage?« wollte Byerley wissen. Der andere starrte ihn nur an und krächzte dann: »Schlagen Sie mich!« Er machte eine kurze Pause, streckte plötzlich das Kinn vor und rief laut: »Schlagen Sie mich! Sie behaupten doch, kein Roboter zu sein. Beweisen Sie es! Sie können keinen Menschen schlagen, Sie Ungeheuer!« Tiefes Schweigen. Schließlich antwortete Byerley ruhig: »Ich habe keinen Grund, Sie zu schlagen.« Der hagere Mann lachte triumphierend. »Sie können
mich nicht schlagen. Sie dürfen mich nicht schlagen. Sie sind kein Mensch. Sie sind ein Ungeheuer, ein nachgemachter Mensch.« Vor Tausenden von Augenzeugen und Millionen anderer, die alles auf dem Bildschirm verfolgten, holte Stephen Byerley mit der rechten Faust aus und traf den Mann genau an der Kinnspitze. Der Herausforderer sackte zusammen, blieb auf dem Rücken liegen und bewegte sich nicht mehr. Sein Gesicht trug einen unendlich verblüfften Ausdruck. »Tut mir leid«, sagte Byerley. »Schaffen Sie ihn ins Zimmer und kümmern Sie sich um ihn. Ich möchte anschließend noch einmal mit ihm sprechen.« Als Dr. Calvin ihren reservierten Parkplatz erreichte, in den Wagen stieg und davonfuhr, hatte sich nur ein Reporter genügend von seinem Schock erholt, um die Verfolgung aufzunehmen und eine undeutliche Frage zu brüllen. »Er ist menschlich«, rief Susan Calvin aus dem geöffneten Fenster. Das genügte. Der Reporter verschwand in entgegengesetzter Richtung. Der letzte Teil der Rede läßt sich am besten mit dem Ausdruck ›gesprochen, aber nicht gehört‹ beschreiben.
Dr. Calvin und Stephen Byerley trafen noch einmal zusammen – eine Woche vor seiner Vereidigung als Bürgermeister. Es war schon spät – nach Mitternacht. »Sie sehen gar nicht müde aus«, stellte Dr. Calvin fest. Der zukünftige Bürgermeister lächelte. »Vielleicht bleibe ich noch eine Weile auf. Erzählen Sie es aber nicht Quinn weiter.« »Ich habe nicht die Absicht. Aber Quinns Story war wirklich interessant, da Sie ihn schon erwähnen. Wie schade, daß Sie alles verdorben haben. Sie kennen doch seine Theorie?« »Nur teilweise.« »Eine hochdramatische Angelegenheit. Stephen Byerley war ein junger Anwalt, ein glänzender Redner, ein großer Idealist – und sein Hobby war die Biophysik. Interessieren Sie sich eigentlich für Robotik, Mister Byerley?« »Nur für ihre rechtlichen Aspekte.« »Dieser Stephen Byerley war sehr daran interessiert. Aber dann hatte er einen schweren Autounfall. Byerleys Frau starb; er selbst blieb am Leben, was vielleicht noch schlimmer war. Seine Beine waren gelähmt; sein Gesicht war entsetzlich verbrannt und entstellt; seine Stimme war zerstört. Sogar sein Verstand war teilweise – beeinträchtigt. Er wollte sich nicht den langwierigen Operationen unterziehen, die
sein Gesicht einigermaßen wiederhergestellt hätten. Da seine Karriere als Anwalt zu Ende war, zog er sich völlig von der Welt zurück – er hatte nur noch seine Intelligenz und seine geschickten Hände. Irgendwie verschaffte er sich positronische Gehirne, sogar ein komplexes, das die überragende Fähigkeit besaß, selbständig ethische Probleme zu beurteilen, was die hochwertigste Funktion ist, für die Roboter bisher konstruiert werden konnten. Er machte sich daran, diesem Gehirn einen entsprechenden Körper zu verschaffen. Er bildete ihn zu allem aus, was er hätte sein können und nun nicht mehr war. Er schickte ihn als Stephen Byerley in die Welt hinaus, blieb aber selbst als der alte, verkrüppelte Lehrer zurück, den kein Mensch zu Gesicht bekam ...« »Leider«, warf der zukünftige Bürgermeister ein, »habe ich diese schöne Legende zerstört, indem ich einen Menschen geschlagen habe. In den Zeitungen stand damals, Sie hätten mich selbst als menschlich bezeichnet.« »Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Wollen Sie es mir nicht erzählen? Das kann kein Zufall gewesen sein.« »Selbstverständlich nicht. Quinn hatte gute Vorarbeit geleistet. Meine Leute verbreiteten überall das Gerücht – es entsprach allerdings sogar den Tatsa-
chen –, ich hätte noch nie einen Menschen geschlagen, ich sei gar nicht imstande, einen zu schlagen, bis eigentlich fast jeder davon überzeugt war, ich müsse wirklich ein Roboter sein, wenn ich mich nicht einmal zu einem Schlag provozieren ließe. Deshalb hielt ich diese unsinnige Rede in aller Öffentlichkeit, für die wir vorher entsprechend Reklame gemacht hatten, und dieser Trottel fiel tatsächlich darauf herein, was ich im stillen gehofft hatte, denn irgendeiner mußte sich ja finden. Wie Sie sehen, handelte es sich also im Grunde genommen um einen ganz schäbigen Winkeladvokatentrick. Sobald die künstlich erzeugte Spannung ihren Höhepunkt erreicht, braucht man selbst fast nichts mehr zu tun. Die gefühlsbedingten Auswirkungen dieser Vorstellung reichten aus, um meine Wahl zum Bürgermeister zu sichern. Und das war schließlich Zweck der Übung.« Die Robopsychologin nickte langsam. »Ich sehe, daß Sie auch in mein Fachgebiet vordringen – das muß wohl jeder Politiker, nehme ich an. Aber es tut mir trotzdem leid, daß alles so ausgegangen ist. Ich mag Roboter. Sie sind mir wesentlich lieber als Menschen. Ein hervorragend konstruierter Roboter, der ein öffentliches Amt bekleiden könnte, wäre meiner Meinung nach am besten dafür geeignet. Er müßte die Drei Gesetze der Robotik beachten und wäre folglich außerstande, Menschen irgendwie zu schaden; er
würde niemals in die Versuchung kommen, tyrannisch, korrupt, dumm oder auf Grund haltloser Vorurteile zu entscheiden. Und nachdem er längere Zeit im Amt gewesen wäre, würde er sich aus dem politischen Leben zurückziehen – obwohl er natürlich unsterblich wäre –, um die Menschen vor der verletzenden Erkenntnis zu bewahren, daß sie von einem Roboter regiert worden sind. Das wäre wirklich ideal.« »Bis auf die Tatsache, daß der Roboter versagen könnte, weil sein Gehirn notwendigerweise ungenügend wäre. Das positronische Gehirn ist vorläufig noch eine schlechter funktionierende Nachahmung des menschlichen.« »Er hätte genügend Berater. Nicht einmal das menschliche Gehirn kann alle Entscheidungen selbst treffen und ohne Unterstützung anderer regieren.« Byerley warf Susan Calvin einen nachdenklichen Blick zu. »Weshalb lächeln Sie, Doktor Calvin?« »Ich lächle, weil Mister Quinn nicht an alles gedacht hat.« »Sie glauben also, daß seine Story noch eine Fortsetzung haben könnte?« »Richtig, aber darüber gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Dieser Stephen Byerley, von dem Mister Quinn gesprochen hat, dieser arme Invalide, verbrachte die letzten drei Monate vor der Wahl aus irgendeinem geheimnisvollen Grund auf dem Land. Er
kam allerdings rechtzeitig zurück, um Ihre berühmte Ansprache zu verfolgen. Und was der alte Invalide einmal fertiggebracht hatte, konnte er schließlich auch ein zweitesmal tun – vor allem deshalb, weil die zweite Aufgabe im Vergleich zur ersten sehr viel einfacher war.« »Das verstehe ich nicht ganz.« Dr. Calvin erhob sich und strich ihren Rock glatt. Sie befand sich offensichtlich im Aufbruch. »Es gibt eine bestimmte Voraussetzung, unter der ein Roboter einen Menschen schlagen kann, ohne dabei gegen das Erste Gesetz zu verstoßen. Das ist die einzig vorstellbare Ausnahme.« »Und die wäre?« Dr. Calvin blieb an der Tür stehen. »Wenn der Mensch, den er schlägt, nur ein anderer Roboter ist«, antwortete sie ruhig. Sie lächelte, und ihr schmales Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. »Leben Sie wohl, Mister Byerley. Hoffentlich kann ich in fünf Jahren für Sie stimmen – bei der Wahl zum Koordinator.« Stephen Byerley schmunzelte. »Das ist eine etwas weit hergeholte Idee, muß ich sagen.« Die Tür schloß sich hinter ihr.
JAMES CAUSEY
Die Show geht weiter Premiere. Eine ausgesprochen mittelalterlich wirkende Bühne, überall Sägemehl und drei Manegen und glitzernde Drahtseile. Tiere knurrten, fauchten und trompeteten aufgeregt in ihren Käfigen. Der Manegendirektor ließ seine Peitsche knallen und verbeugte sich tief vor den acht riesigen Objektiven, die ausdruckslos auf ihn herabstarrten. Hinter diesen Objektiven warteten unsere Zuschauer. Sechzig Millionen Zuschauer über die gesamte Hemisphäre verteilt. Lisa drängte sich in den Kulissen zitternd an mich. »Dein Einsatz«, flüsterte ich. Sie nickte, drückte meine Hand. Trommelwirbel. Als ich sie auftreten sah, hätte ich am liebsten geweint. Sie war einfach herrlich. Alles an ihr schien vollkommen zu sein – die geschmeidigen Bewegungen, ihr atemberaubend klarer Sopran, der Zauber ihrer Persönlichkeit, den ich erst ganz herausgearbeitet hatte. Neben mir grinste Paul Chanin. »Lampenfieber, Midge?« »Nein«, sagte ich. Ich hatte Paul nie gemocht. Er war zu sehr von sich eingenommen und sah auf zu
brutale Weise recht gut aus. Mir gefiel seine Art nicht, in der er Lisa während der letzten Proben angelächelt hatte, und es hatte mir nicht gefallen, daß Lisa dieses Lächeln erwidert hatte. Aber Paul war gut – für einen Menschen. Er konnte einen einarmigen Handstand auf dem Drahtseil machen, er konnte mit verbundenen Augen über glühenden Kohlen radschlagen. Und er konnte singen. Dann traten wir gemeinsam auf. Paul schritt stolz und prächtig in seinem roten Trikot voraus, ich folgte unbeholfen mit meinen Pluderhosen und dem traurig bemalten Clowngesicht, warf Kußhände zu den flammenden Bogenlampen hinauf und vergoß dann bittere Tränen, während Paul Lisa umwarb, die mich von sich fortstieß. Schließlich sprang ich zehn Meter hoch in die Luft und blieb nur mit den Zehen am Drahtseil hängen. Ein breites Grinsen. Midge, der Clown. Manchmal kann man gleich beurteilen, ob die Show ankommt. Das war jetzt wieder der Fall. Ich wußte von Anfang an, daß wir sie bei der Gurgel hatten. Die zwei Dutzend Gefühlsindikatoren über den Scheinwerfern sagten alles. Sie leuchteten dunkelrot, ein gutes, gesundes Zeichen für hohe Zuschauerempathie, aber das überraschte mich keineswegs. Unser Stück kombinierte zwei primitive Kunstformen und brachte wirklich alles – Liebe, Pathos, Schönheit. Und Entsetzen. Das Finale war gleichzeitig der absolute
Höhepunkt, denn jetzt brach der Zarl aus seinem Käfig aus und hätte Lisa beinahe erwischt. Ich erlegte den Zarl und sang Teures Mädchen, sieh mein Leiden, während ich auf der Bühne starb. Mein strahlender Tenor übertönte Lisas Schluchzen völlig. Vorhang. Direktor Latham stürzte auf die Bühne, applaudierte heftig, hatte Tränen in den Augen. »Herrlich! Wunderbar, Midge! Wir haben es endlich geschafft, glaube ich.« »Sieht wie ein großer Erfolg aus, Sir«, sagte ich. »Die Alten haben ihre Sache wirklich verstanden. Hoffentlich hält das Interesse an, wenn der erste Reiz der Neuheit vorbei ist.« Lathams rundliches Gesicht wirkte einen Augenblick lang besorgt. »Na, das erfahren wir noch früh genug«, meinte er dann. »Kommen Sie zur Premierenparty?« Ich schüttelte den Kopf und grinste. »Ich habe selbst eine kleine Feier vorbereitet. Nur für mich und meine Frau. Wir sehen uns morgen bei der Probe.« Ich ging hinter die Bühne, um Lisa zu suchen. Sie war nicht in unserer Garderobe. Ich ging verwirrt zu Pauls Garderobe und öffnete die Tür. »Paul, hast du ...« Meine Stimme versagte. Ich starrte sie an. Paul und Lisa. »Hallo, Liebling«, sagte Lisa ruhig. »Ist das nicht
wundervoll – Paul hat mir einen Heiratsantrag gemacht!« »Und sie hat ihn angenommen«, ergänzte Paul. »Das wird einfach herrlich.« Lisa strahlte. »Wir drei zusammen!« »Aber wir sind Androiden«, flüsterte ich. »Macht nichts«, meinte Paul fröhlich. »Ihr seid Schauspieler, und nur darauf kommt es an. Das wird die beste Gemeinschaftsehe aller Zeiten!« Ich erinnere mich undeutlich, irgend etwas Zustimmendes gemurmelt zu haben. Ich erinnere mich noch, Pauls Hand geschüttelt und behauptet zu haben, ich hätte solches Kopfweh, daß ich nicht auf die Party gehen könne. Ich erinnere mich daran, in meine Garderobe zurückgeschlichen zu sein und beim Abschminken zum Spiegel gesagt zu haben: »Et tu, Pagliacco?« Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich mit der Pneumatikbahn nach Hause und mit dem Antischwerkraftlift in den einundneunzigsten Stock hinaufgekommen bin. Unser Appartement war recht hübsch. Fünf Räume und eine große Veranda – alles dreihundert Meter über der Stadt. Ich blieb auf der Schwelle stehen und starrte die Überraschung an, die ich für Lisa vorbereitet hatte. Der Tisch war mit Porzellan und Silber gedeckt, Kristallgläser blitzten im Feuerschein des offenen Kamins, der Wein stand kalt. Meine kleine Überraschungsparty.
Ich ließ mich auf den nächsten Stuhl fallen und zog langsam den Korken aus einer Flasche. Warum? Paul war ein Mensch, das war die Antwort. Er konnte Lisa das Gefühl geben, überall wirklich für voll genommen zu werden, endlich eine gesicherte Position erreicht zu haben. Die Gleichstellung ist schon vor zwanzig Jahren erfolgt, aber die Menschen bilden sich noch immer ein, Androiden einen Gefallen zu tun, wenn sie mit ihnen eine Ehe eingehen. Dabei sind nur Androiden imstande, die Menschheit vor einem Massenselbstmord zu bewahren. Lisa kam erst lange nach Mitternacht zurück. Sie trug ein hauchdünnes, rosa Abendkleid, und ihr Haar fiel in goldenen Wellen bis zu den makellosen Schultern herab. Ihre Schönheit versetzte mir wieder einen Stich ins Herz. »Liebling«, sagte sie. »Du hättest doch nicht aufbleiben müssen.« »Wo ist Paul?« »Bei sich zu Hause.« Sie zögerte. »Wir wollen unsere Gemeinschaftslizenz gleich morgen früh beantragen. Hilfst du ihm beim Umzug?« »Klar«, sagte ich. »Wir drei werden bestimmt so glücklich miteinander!« Ihre blauen Augen strahlten zärtlich. »Komm, wir gehen schlafen, Liebling.«
»Ich bin nicht müde. Vielleicht mache ich noch einen Spaziergang.« Früher war ich oft durch die dunklen Straßen gegangen und hatte mit fast morbidem Vergnügen die blutroten Neonreklamen der Haßbars angestarrt, die Gewalttätigkeiten, Mord und Totschlag anpriesen. Früher hatte ich mich selbst beglückwünscht, weil ich die Haßbars nicht brauchte, weil ich kein verdammter Mensch war. Diesmal war alles anders. Ich stand im Regen, zitterte vor Kälte und starrte immer wieder die Leuchtbuchstaben an: Joes Haßhaus! Nur Messer zugelassen! Töte wie ein Mann! Die Buchstaben schienen in einem blutroten Funkenregen zu explodieren, sanken dann langsam zusammen und bildeten jetzt eine geballte Faust, die einen Dolch umklammerte. Ich betrachtete lange den Dolch. Ich dachte an Paul. Schließlich ging ich hinein. Ich hatte zunächst den Eindruck, mich in eine riesige düstere Höhle verirrt zu haben, die von blakenden Fackeln nur undeutlich beleuchtet wurde. Irgendwo im Hintergrund ertönte Musik eine schrille Kakophonie mit Schlagzeugbegleitung, die einem kalte Schauer über den Rücken jagte. Es war Musik aus dem tiefsten Höllenpfuhl, eine gräßlich diskordante Musik, wie sie ein Zarl im Todeskampf geschrieben haben könnte.
»Registrierung, Sir?« Ein dicker, kleiner Mann im nachtblauen Abendanzug ließ sich meinen Namen, die Anschriften aller Erbberechtigten und zehn Credits Eintritt geben. »Zuschauer oder Teilnehmer, Sir?« Er lächelte jovial, aber seine Schweinsaugen blieben dabei eiskalt. Diese Augen beobachteten jeden Abend ein Dutzend Morde. Es war meine Aufgabe, diese Morde zu verhindern und die Haßbars überflüssig zu machen, aber jetzt stand ich hier als Schauspieler neunter Klasse, lächelte unbeholfen und sagte: »Zuschauer, bitte.« Er verbeugte sich und führte mich zu den Zuschauertischen hinter der Absperrung. Ich bestellte mir einen Drink und sah mit angewiderter Faszination zu den Teilnehmern hinüber. Sie saßen ganz ruhig auf ihren Hockern, verzogen keine Miene und beobachteten sich gegenseitig im Spiegel über der Bar. Sie tranken gespielt gleichmütig, aber ihre Augen blieben unvermindert wachsam. Ein hagerer Mann im grauen Kittel schüttete seinem Nachbarn plötzlich seinen Drink ins Gesicht. Stahl blitzte auf. Ein lautes Stöhnen. Der Mann im grauen Kittel wälzte sich auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden. Die Teilnehmer klatschten begeistert, als zwei weißgekleidete Barmixer die Leiche hinausschleppten. Die Höllenmusik setzte wieder ein.
»Nicht schnell genug«, sagte eine Stimme neben mir. »Wie, Midge?« Es war Direktor Latham. »Überrascht es Sie, mich hier zu sehen?« Er lächelte verzerrt. »Zu Ihrer Information – die Show war ein Reinfall.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Aber die Gefühlsindikatoren ...« »Das war nur der Reiz des Neuen, mein Freund.« Er sah alt und müde aus. »Klar, die Show ist wirklich nicht schlecht. Die Leute sehen sie sich vielleicht zwei, drei Wochen lang an.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Teilnehmer. »Dann sind wieder die Schlangengruben an der Reihe. Wir haben versagt, Midge.« Ich begriff nur langsam, was das bedeutete. »Aber wir haben doch sechzig Millionen Zuschauer gehabt«, flüsterte ich wie betäubt. »Mehr war schließlich nicht verlangt. Wenn der Rat wollte, könnte er schon morgen ein Gesetz ...« »Und dann würde sich die Zahl der begangenen Verbrechen innerhalb einer Woche verdreifachen«, unterbrach Latham mich. »Dann wäre man auf offener Straße seines Lebens nicht mehr sicher. Die Leute brauchen eine emotionale Katharsis, sie müssen einfach Blut sehen. Deshalb sind Haßbars durch Gesetz erlaubt. Und deshalb gibt der Rat monatlich über eine
Million Credits für unsere Show aus, weil er hofft, die Bevölkerung dadurch ablenken und vielleicht sogar bilden zu können. Aber den Menschen ist das alles gleichgültig! Warum sollten sie sich auch darum kümmern? Wer hätte noch Lust, ein ganzes Leben lang Musik zu studieren, wenn ein Androidenkind einen schon mit einem kleinen Lied zum Weinen bringen kann?« Sein Lächeln war unendlich verbittert. »Der Mensch hat sich durch Androiden selbst übertroffen. Jetzt tut es ihm leid, aber daran ist nichts mehr zu ändern. Er braucht die Androiden und die Schönheit, die nur sie ihm geben können, schämt sich aber, diese Tatsache einzugestehen. Hier treffen Menschen unter gleichen Bedingungen aufeinander. Unsere Show braucht etwas davon, Midge.« »Nein«, flüsterte ich. »Vorher kündige ich.« »Wirklich?« Er lächelte verzerrt. »Das können Sie nicht selbst bestimmen, Mister. Die Show muß weitergehen.« Nur vier gesprochene Wörter. Aber ich hob ruckartig den Kopf. Die vier Wörter waren ein schmetterndes Trompetensignal, ein fröhlicher Ruf, der das Rückgrat stärkte, der einen glücklich machte, Schauspieler zu sein und ein stolzes Erbe antreten zu dürfen. »Der Teufel soll Sie holen«, flüsterte ich. »Midge White, XQ neun«, sagte er spöttisch. »X:
weiß, kaukasisch. Q: Spezialausbildung von Anfang an. Neun: Schauspieler. Sie sind gut, Midge. Sie haben einen herrlichen Tenor. Auf der Bühne verkörpern Sie Leidenschaft und Feuer und Sturm. Sie rühren die Zuschauer mit einem einzigen Lächeln zu Tränen. Sie haben bessere Körperreflexe als jeder Mensch, Sie haben doppelt so viele Relais wie jeder andere vergleichbare Androide. Sie haben ein wesentlich besseres Nervensystem und reagieren deshalb fast augenblicklich. Sie sind der Höhepunkt der bisherigen Entwicklung, Midge. Sie sind Mister Theater persönlich. Und Sie enttäuschen Ihre Zuschauer.« Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Ich bin nur der Direktor. Sie sind Spezialist für Empathie, Sie wissen genau, was die Zuschauer wirklich wollen. Geben Sie es ihnen.« »Natürlich!« Ich zitterte vor Wut. »Jeden Abend ein paar tote Androiden! Haben Sie schon gehört, daß wir jetzt auch wahlberechtigt sind? Bluten wir etwa nicht, wenn wir uns verletzen oder ...« »Sparen Sie sich das«, wehrte er müde ab. »Was bedeutet es schon, daß Androiden seit zwanzig Jahren gleichberechtigt sind? Der Rat behält sich noch immer das Recht vor, in bestimmten Fällen spezielle Androiden herzustellen. Humanoide Typen, die neue Antibiotika testen. Landungsmannschaften für unerforschte Planeten, Versuchskaninchen ...«
»Sklaven«, warf ich ein. »Aber hochwertige Androiden sind anders; wir entscheiden unser Schicksal selbst.« »Wirklich?« Latham lächelte sarkastisch. »Bleiben Sie noch ein bißchen hier, studieren Sie die Atmosphäre.« Er schlug mir auf die Schulter. »Wir zählen auf Sie, Midge. Gute Nacht.« Er verschwand. Ich starrte ihm nach, spürte nur blinden Haß in meiner Umgebung, blickte in hungrige Gesichter und sah überall das gleiche, verzerrte Lächeln. Niemand bewegte sich. Auch bei den Teilnehmern herrschte gespanntes Schweigen. Die Gestalten an der Bar saßen still, hielten ihre Dolche stoßbereit und warteten. Ich stand langsam auf. Ich zitterte heftig. Ich ging an den Tischen vorbei auf die dunkelrote Barriere zu, die den Zuschauerraum abgrenzte. Als ich eine Flanke über das Geländer machte, hörte ich hinter mir ein kollektives Aufseufzen. Die Gestalten an der Bar blieben unbeweglich. Der große Raum war still geworden, und ich hörte nur meine Schritte in dem weichen Sägemehl. Ich nahm auf einem Hocker am Ende der Theke Platz. Der Barmixer kam lächelnd auf mich zu. »Selbstmord, Kamerad? Keine Waffe dabei?« »Wein«, sagte ich. Er brachte Wein. Drei Hocker links von mir drehte
ein kleiner Mann im braunen Geschäftskittel den Kopf nach mir um. »Auf Kosten des Hauses«, erklärte mir der Barmixer fröhlich. »Die Spielregeln bestimmen, daß Sie einen Schluck trinken dürfen, bevor Sie vogelfrei sind. Wir haben hier nicht viele Selbstmorde. Erst vor einem Monat ...« »Verschwinde«, sagte ich. Er schüttelte beleidigt den Kopf und ging. Ich starrte das Weinglas an. Der kleine Mann links neben mir fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte. »Vor einer Woche habe ich den ersten umgebracht.« Seine Hand zitterte nervös. »Manchmal frage ich mich wirklich, wie ich es früher ohne Haßbars ausgehalten habe. Vorher stand ich dicht vor dem Zusammenbruch. Pech im Geschäft, in der Liebe, überall. Jetzt bin ich ein neuer Mann, ich bin jemand. Wissen Sie, was ich meine?« »Was halten Sie vom Fernsehen?« fragte ich. »Blödsinn!« knurrte er. »Dämliches Gewäsch für Kinder und alte Weiber!« Ich hob das Glas an die Lippen. Seine Hand glitt über die Theke, näherte sich seinem Messer. Ich trank einen Schluck Wein. Die Hand des kleinen Mannes zuckte durch die Luft. Stahl blitzte. Jeder Androide reagiert schnell, aber Artisten und Schauspieler sind in dieser Beziehung unübertreff-
lich. Ich fing seinen Dolch fünf Zentimeter von meiner Kehle entfernt auf, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger fest. Die Zuschauer hinter uns stöhnten leise. Der Barmixer sah mich grinsend an. »Gut gemacht«, sagte er. »Nach den Spielregeln könnten Sie ihn jetzt töten.« Der Adamsapfel des kleinen Mannes bewegte sich ruckartig. »Nein!« keuchte er. »Das ist nicht fair! Haben Sie gesehen, wie er das Messer aufgefangen hat? Der Kerl ist ein Androide!« Der Barmixer kniff die Augen zusammen. »Stimmt das?« »Klasse neun«, antwortete ich. Die Zuschauer murmelten erregt. Haß lag fast greifbar in der Luft. Ich beobachtete verzerrte Gesichter, wütende Fratzen. Ich warf das Messer auf die Theke. Es blieb stecken und zitterte leicht. »Raus!« sagte der Barmixer. Ich ging hinaus. Ich hätte mich am liebsten übergeben. Ich dachte wieder an Paul. Am nächsten Morgen half ich Paul, seine Sachen in unser Appartement zu bringen. Er war sehr fröhlich, und Lisa strahlte. Als die beiden vom Standesamt zurückkamen, trug Paul Lisa über die Schwelle, wie es die Tradition verlangte, und grinste mich dabei an.
Ich ging spazieren und blieb lange fort. Die folgende Woche verbrachte ich in einer Art stillem Wahnsinn. Die beiden steckten immer zusammen – zwischen den Proben, nach der Vorstellung, zu Hause, einfach immer. Sie flüsterten miteinander, lächelten und hielten Händchen. Lisa behandelte mich reizend aufmerksam und war stets die perfekte Partnerin einer Gemeinschaftsehe. Alles spielte sich sehr zivilisiert ab. Ich weiß nicht mehr, wann ich den Entschluß faßte, Paul zu ermorden. Vielleicht war es an dem Nachmittag, als ich die beiden nach einer Probe hinter der Bühne über mich sprechen hörte. »Ich habe mich heute morgen bei Latham erkundigt.« Pauls selbstbewußte Stimme. »Der Rat wird die Show bald nicht mehr senden lassen.« »Aber es ist doch eine wundervolle Show. Midge sagt ...« »Midge ist ein alter Hut. Latham hat Verbesserungen vorgeschlagen, aber er wollte nichts davon hören. Das Publikum will Action, mein Schatz, nicht diese verwässerten Romanzen, die wir ihm vorsetzen. Ich möchte, daß du dich von Midge scheiden läßt.« »Paul!« »Du liebst ihn nicht, du hast es nie getan. Midge gehört in die Vergangenheit wie Dinosaurier, Opern und Motorräder. Er kann sich nicht anpassen. Ich ha-
be gestern ein Angebot von einer der besten Haßbars der Stadt bekommen, wo ich als Unterhalter auftreten soll. Fünfhundert Credits Wochengage! Wir treten gemeinsam auf. Du und ich.« Schwach: »Haßbars werden bald verboten.« Sein Gelächter klang häßlich. »Erst wenn Midge dem Publikum etwas Besseres bieten kann, und er weiß nicht, wie er das anstellen soll.« »Ich muß noch darüber nachdenken«, sagte sie. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich unbeweglich stehenblieb, nachdem ihre Stimmen verklungen waren. Ich erinnere mich nur, daß ich wie betäubt über die Bühne ging und die Käfige, das Trapez und die leeren Manegen anstarrte. Ich fühlte mich innerlich wie tot, wie abgestorben. In einem der Käfige bewegte sich etwas. Es war der Zarl. Wir importierten Zarls von Kallisto speziell für unsere Show. Stellen Sie sich eine verrückt gewordene Ökologie vor, einen mörderischen Kampf zwischen Flora und Fauna, in dem eine dominierende Spezies Sieger geblieben ist, dann haben Sie einen Zarl. Dieser hier rüttelte an den Gitterstäben seines Käfigs und starrte mich an. »Wie lange noch?« fragte er. »Ungefähr sechs Stunden. Friß dein Fleisch.« »Es ist präpariert. Das Mittel betäubt mich, damit du mich umbringen kannst.«
»So hast du wenigstens noch eine Chance«, erklärte ich ihm. »Wenn du nichts frißt, verhungerst du.« Der Zarl schärfte seine Krallen. »Ich hasse dich«, sagte er. »Du haßt jeden.« »Aber dich am meisten. Du hast alles geplant. Jeden Abend muß ein Zarl sterben.« Er schnüffelte an seinem Fleisch. Ich betrachtete ihn aufmerksam. Allmählich kam mir eine Idee. »Wie würde es dir gefallen«, fragte ich leise, »vor deinem Tod ein letztesmal Beute machen zu können?« Der Zarl hob die Schnauze und starrte mich aus großen, gelben Augen ausdruckslos an. Dann grinste er. Ich mußte mich abwenden. »Der Mensch«, sagte er. »Der Mann. Du haßt ihn.« »Ja.« »Bringst du mir frisches Fleisch?« »Ja«, sagte ich. Er schien zu überlegen. »Einverstanden«, sagte er. Ich erinnere mich deutlich an die Abendvorstellung. Lisa war schöner als je zuvor. Sie war Feuer und Quecksilber, ihr Gesang war Sonnenschein und Vogelgezwitscher und Mairegen. Ich liebte sie so sehr, daß ich fast geweint hätte. Ich erinnere mich, wie wir
vor dem letzten Auftritt nebeneinander in der Kulisse standen, wie sie meine Hand drückte und flüsterte: »Midge, ich lasse mich von Paul scheiden.« Ich war sprachlos. »Ich liebe ihn nicht, ich habe ihn nie wirklich geliebt.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich habe heute nachmittag gemerkt, was er eigentlich ist. Schnell, Liebling, das war dein Einsatz. Du mußt dich beeilen.« »Von ihm scheiden lassen?« wiederholte ich verständnislos. »Du bist an der Reihe! Ich erzähle dir später alles.« Ich stolperte auf die Bühne hinaus. Ich wollte Paul etwas zurufen, wollte ihn warnen. Ich wollte an den Zarlkäfig laufen und den Riegel vorschieben, aber ich bin vor allem Schauspieler und hatte keine andere Wahl. Midge, der Clown. Er singt, schlägt gemeinsam mit den übrigen Clowns Rad, jongliert, tanzt auf dem Seil. Aber die Musik war diesmal ein altertümlicher Danse macabre, mein Lied glich einer düsteren Totenklage. Es war doch alles so unnötig! Lisas Begeisterung für Paul hatte sich rasch wieder gelegt. Sie liebte mich. Sie würde mich immer lieben. Narr, Narr und Mörder! Und jetzt war es zu spät. Denn Paul und Lisa sangen in der Bühnenmitte ihr Schlußduett während der Zarl sprungbereit in seinem Käfig kauerte. Die Käfigtür flog auf, und der Zarl brüllte.
Die Clowns stoben in gespielter Angst auseinander. Lisa schrie auf. Das gehörte alles zur Vorstellung; der Zarl sollte betäubt aus seinem Käfig schleichen. Er würde Lisa nur schwach angreifen, und ich würde ihn erlegen. Aber der Zarl bewegte sich schnell, noch schneller. Lisa kreischte entsetzt, als sie sah, wie wütend er sich auf sie stürzte. Ich ließ mich in die mittlere Manege hinunter und nahm meinen Platz ein, um den vorgesehenen Wechsel in der Angriffsrichtung nicht zu behindern. Aber dann verstand ich plötzlich alles. Der Zarl war nicht hinter Paul, sondern hinter Lisa her. Es war ein Alptraum in Zeitlupe. Lisa versuchte zu rennen, stolperte, fiel. Der Zarl holte sie ein. Sie kreischte nicht mehr. Nie wieder. Der Zarl hob die Schnauze und grinste mich an. Ich erwürgte ihn mit bloßen Händen. Als ich noch vor Schmerz und Entsetzen wie gelähmt über ihm stand, hörte ich jemand singen. Irgend jemand sang mit tränenerstickter Stimme eine Arie, während der Vorhang fiel. Es war meine Stimme. Das große Finale. Die Scheinwerfer flammten wieder auf, blendeten mich. Paul schluchzte. Bühnenarbeiter trugen Lisa fort. Jemand schüttelte mich. Es war Latham. »Sie haben es geschafft!« keuchte er. »Wunderbar! Wie Lisa sich eingesetzt hat! Der Zarl hat mir heute
nachmittag davon erzählt, aber ich konnte es gar nicht glauben. Was für ein Opfer!« »Der Zarl hat es Ihnen erzählt?« Ich verstand ihn nicht. Er redete ununterbrochen, und ich begriff kein Wort. »Das war die Kleinigkeit, die noch gefehlt hat – Lisas Tod am Schluß, die abschließende Tragödie.« Latham wischte sich Tränen aus den Augen. »Einfach genial, Midge! Sehen Sie sich bloß die Indikatoren an!« Die Gefühlsindikatoren leuchteten rubinrot und tauchten die Bühne in blutiges Licht. Latham sprach heiser weiter. »Der Rat hat eben anrufen lassen. Wir haben einen ganz großen Schlager. Die Haßbars werden spätestens nächste Woche verboten. Der Kampf für die gute Sache ist gewonnen, Midge! Und hier steht Lisa II. – frisch aus der Retorte.« Ich starrte Lisa II. an. Ich verstand alles. »Mein Gott«, flüsterte Paul. Er lachte hysterisch auf. Lisa II. war wunderschön Sie sagte mit einem schüchternen Lächeln: »Ich hoffe sehr, daß morgen bei der Probe alles klappt. Ich bin natürlich nicht so gut wie Lisa I., aber ich gebe mir bestimmt Mühe.« »Probe«, sagte ich wie betäubt. Die Probe für ihren Tod. Morgen abend, übermorgen abend, an allen folgenden Abenden, bis in alle Ewigkeit Lisas Tod miterleben. Die Show mußte weitergehen.
CHARLES E. FRITCH
Geevers Flucht Es war einmal eine Maschine namens Geever, die lebte in einem Land, das Die Stadt hieß. Geever war mit einer Frau verheiratet, die jeder Geevers Frau nannte. Geever wohnte in einem Außenbezirk der Stadt dicht am Rand der Welt, fuhr aber jeden Tag zur Arbeit hinein und tat dort irgend etwas Unwichtiges für einen Mann, der als Geevers Boß bekannt war. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit zurückkam, begrüßte ihn seine Frau mit den Worten: »Willkommen zu Hause, Geever.« Manchmal hatte Geever wirklich den Eindruck, die gesamte Welt – so klein und unbedeutend sie auch sein mochte – bewege sich nur um ihn, und in diesen Augenblicken größter Eitelkeit war Geever fest davon überzeugt, der Schattengott habe ihn dazu bestimmt, anders als alle anderen zu sein. Zu einem Zeitpunkt, der als Eines Nachmittags ... definiert werden müßte, arbeitete Geever heimlich in seiner Garage, als er das Geräusch hörte. Das gleichmäßige, dumpfe Grollen, das die ganze Stadt erschütterte, war unverkennbar. Der Schattengott! Geever
bedeckte hastig seine Rakete. Der Blick des Gottes drang zwar bestimmt auch durch das Garagendach, aber Geever hatte das Gefühl, diese kleine Vorsichtsmaßnahme könne jedenfalls nicht schaden – besonders nachdem, was sich zwischen Geever und seiner Frau ereignet hatte ... Es hatte damit begonnen, daß Geever unaufgefordert einen Teil seines Wissens preisgegeben hatte. »Die Welt«, hatte er zu seiner Frau gesagt, »ist rechteckig.« Geevers Frau hatte mit den Schultern gezuckt. »So?« »Und ich möchte wissen, weshalb das so ist.« Geevers Frau zuckte nochmals mit den Schultern. Die Welt war offenbar rechteckig, weil der Schattengott es so wollte. Sie war davon überzeugt, daß Geever zu den ewig Unzufriedenen gehörte. Sie wußte ganz sicher, daß eines Tages der Schattengott kommen und Geever mitnehmen würde, dann wäre dieses Problem gelöst. »Es gibt so viele Dinge, die ich gern täte«, fuhr Geever fort. Er starrte sehnsüchtig aus dem Fenster auf die Straße hinaus, wo kleine rote Autos vorbeirasten; er starrte das grüne Laub und die hohen Bäume an, die bis zum grauen Horizont emporwuchsen. »Was möchtest du tun?« fragte Geevers Frau. »Ich möchte dichten, weiß aber nicht bestimmt,
was Gedichte sind«, antwortete er. »Und ich möchte eine Gigue tanzen und Musik schreiben.« »Was ist Musik?« »Darüber bin ich mir noch nicht völlig im klaren«, sagte Geever. Dann fügte er hinzu: »Weißt du, was ich am allerliebsten täte?« »Nein.« »Ich möchte herausbekommen, wie es auf der anderen Seite der Welt aussieht.« Geevers Frau kniff die Augen zusammen. Sie wirkte schockiert. »Sei lieber vorsichtig, Geever«, sagte sie. Geever trank seinen Morgenkaffee, überprüfte nochmals das Schloß der Garagentür und fuhr zur Arbeit. Sein hellrotes Auto war vor dem Haus geparkt. Geever setzte sich ans Steuer, fuhr den Wagen auf die Straße hinaus, ließ den senkrechten Ausleger des Fahrzeugs in dem Schlitz einrasten, der genau in der Mitte seiner Fahrbahn verlief und lehnte sich in die Polster zurück, um nachzudenken. Er fragte sich, weshalb er sich so viele Dinge fragte. Vielleicht war er nicht wie die anderen Leute verdrahtet. Vielleicht hatte der Schattengott ihn so verdrahtet, daß er denken mußte. Andere Leute waren mit der Welt und Der Stadt zufrieden. Bis auf einen Mann, den Geever früher gekannt hatte, der ein seltsames Vehikel mit zwei großen rotierenden Propel-
lern gebaut hatte, die schrecklich viel Wind machten. Sämtliche Einwohner der Stadt hatten zugesehen, als Geevers Freund in seine Maschine kletterte, deren Motor dröhnend die Propeller antrieb. Sie hatten alle beobachtet, wie er zum Himmel hinaufflog. Aber dann ertönte am Himmel plötzlich ein dumpfes Grollen – und der Schattengott erschien. Eine gigantische Faust stieß herab und schloß sich um das Vehikel, in dem Geevers Freund saß. Die Finger zerdrückten es wie ein lästiges Insekt, Geever verbarg sein Gesicht und sank vor Schreck auf die Knie. Danach gab Geever sich lange Zeit Mühe, nicht mehr an seinen Freund zu denken. Eines Nachmittags begann er dann, eine Rakete zu bauen. Während er daran arbeitete, dachte Geever von Zeit zu Zeit an seine Frau. Geever wußte, daß er sie vermissen würde, obwohl das Leben mit ihr recht eintönig gewesen war. Vielleicht würde er sie später, irgendwann zu sich holen – nachdem er herausbekommen hatte, wie es auf der anderen Seite der Welt aussah. Oder vielleicht auch nicht. Geever war sich noch nicht darüber im klaren. Zu einem Zeitpunkt, der als Eines Abends ... bekannt war, erkundigte Geevers Frau sich beim Abendessen: »Ist deine komische Rakete schon fertig?«
Geever starrte sie an. »Du weißt natürlich, daß ich dich zurücklassen werde?« »Natürlich«, sagte Geevers Frau. Sie schien sich nichts daraus zu machen. »Wann willst du losfliegen?« »Bald«, antwortete Geever. Geever wußte, daß er nicht allzu lange warten durfte. Wenn die anderen von seiner Rakete hörten, würden sie alle kommen, um den Start zu sehen – und das würde den Schattengott alarmieren. Geever würde diese Nacht abfliegen. Der graue Himmel wurde dunkel, und Geever gähnte. Er ging ins Bett, seine Frau folgte ihm wenig später. Als er davon überzeugt war, daß sie fest schlief, stand er auf, zog sich an und schlich in die Garage hinaus. Dort wartete die Rakete auf ihn. Sie war groß und schlank und glänzend poliert. Geever betrachtete sie einen Augenblick, schob dann das Garagendach zur Seite und kletterte an Bord. Als er bereits im Kontrollraum saß, hörte er eine Stimme seinen Namen rufen. Geevers Frau stand draußen neben der Rakete. »Leb wohl Geever«, sagte sie und sah dabei weder traurig noch glücklich aus. Geever zögerte eine Sekunde lang unentschlossen. Worte drängten sich ihm auf die Lippen, und er hätte sie fast eingeladen, ihn auf seinem wundersamen Abenteuer zu begleiten. Aber er sagte nichts.
Dann sah er, daß sich hinter ihr auf dem nächtlichen Rasen eine Menge versammelte. Geever wußte, daß er sich jetzt beeilen mußte, bevor der Schattengott von seinem Flug Bescheid bekam. Er bewegte hastig verschiedene Hebel, betätigte Schalter, stellte Instrumente ein. Ein entferntes Grollen; der Boden erzitterte; die Rakete schwankte auf ihrem Startgestell. Der Schattengott kam! Geever sah entsetzt auf und erkannte seine riesigen Umrisse vor dem dunklen Himmel. Schnell! Geever drückte auf den Feuerknopf. Ein orangeroter Feuerstrahl hüllte die Garage ein. Die Rakete stieg so rasch auf, daß Geever in seinen Sitz gedrückt wurde. Geever sah durch ein Bullauge auf die anderen hinunter, die nur noch so groß wie Puppen waren. Dann stieß Geever einen erschrockenen Schrei aus. Ein riesiges Gesicht erschien über ihm. Ein riesiges Gesicht mit gigantischen Augen, gigantischer Nase und gigantischem Mund. Eine riesige Faust kam lautlos näher ... Geever bewegte verzweifelt den Steuerknüppel. Die Rakete änderte ihren Kurs und beschrieb einen weiten Bogen – genau auf das riesige Gesicht zu. Der Schattengott wich zurück, war aber nicht schnell genug. Geever sah einen erschrocken nach oben verdrehten gigantischen Augapfel, dann traf die
Rakete die riesige Stirn. Der Schattengott schwankte, taumelte und stürzte schließlich mit einem entsetzlichen Krachen. Einen Augenblick lang blieb die Rakete unbeweglich in der Luft hängen; dann stürzte sie ebenfalls – in die Menge, die sich versammelt hatte, um Geevers Flug zu beobachten. Als Geever aus den Trümmern seiner Rakete kletterte, sah er seine Frau. Sie war von einem herabstürzenden Teil getroffen worden, und einer ihrer Arme fehlte. Zahnräder und Drähte und Röhren waren durch das Loch an ihrer Schulter sichtbar. »Willkommen zu Hause, Geever«, sagte sie verwirrt. Am nächsten Morgen fuhr Geever nicht zur Arbeit. Sein Auto sprang nicht an, und er hatte ohnehin keine Lust zum Arbeiten. Er war deprimiert. Der Kaffee schmeckte sauer, Geevers Frau machte den Herd dafür verantwortlich, der nicht richtig zu funktionieren schien. Geevers Frau schien ebenfalls nicht mehr richtig zu funktionieren. Sie schien allmählich abzulaufen. Geever sah aus dem Fenster auf die Autos, die vorüberkrochen. Sie bewegten sich kaum. Das Gras im Vorgarten war über Nacht verdorrt. »Das gefällt mir aber gar nicht«, sagte Geever. Seine Frau gab keine Antwort. Sie stand unbeweglich da, und ihre Augen starrten blicklos geradeaus.
Geever stand auf und ging hinaus. Die Straße war voller Leute, die sich entweder langsam oder gar nicht bewegten. Die meisten Autos fuhren nicht mehr. Dicht vor Geever fiel ein alter Mann um und zerbrach in zwei Teile, als er auf die Straße aufschlug. Geever ging in den Park, wo alle grünen Bäume schwarz geworden waren. Er setzte sich auf die nächste Bank und überlegte, wie hübsch es doch wäre, nur ein paar Verse schreiben oder eine einzige Gigue tanzen zu können. Aber er wußte nicht, wie er das anfangen sollte – und er wurde allmählich sehr müde, dann traurig, denn er dachte an den Schattengott und wie er, Geever, ihn umgebracht hatte. Wenig später war Geever nicht mehr imstande, über irgend etwas nachzudenken.
DENNIS ETCHISON
Die Feuer der Nacht Der Graviokopter schwebte in dreihundert Meter Höhe über dem steinigen Strand bei Portuguese Bend, CalNeva. Das Triebwerk summte leise pulsierend im gleichen Rhythmus wie die glasklaren Wogen, die sich tief unter ihm im Sand brachen. Servoboy bewegte sich langsam. Die Luft in der Kabine war schal, denn die kühle Brise, die über das herbstliche Meer strich, drang nicht in diese hermetisch abgeschlossene Plastikkuppel. Servoboy öffnete ruckartig die Augen und begann seine Glieder in der engen, hölzernen Packkiste zu aktivieren. Er sah durch einen Spalt zwischen den Brettern hinaus. »So«, knurrte der Mann am Steuer über die Schulter, »du hast also beschlossen, dich zu den Lebenden zu gesellen. Ha! Auf in den Kampf, Schrotthaufen!« Er schlug mit einer Hand gegen die Kiste und betätigte gleichzeitig die Pedale. »Zumindest funktioniert dein Wecker pünktlich. Wir sind gleich da.« Der Graviokopter stürzte nach unten. Vor ihnen hing ein durchsichtiger Kuppelbau gefährlich über dem Rand einer steilen Felsklippe. Im
Licht der nebelverhangenen Sonne schimmerte die Plastikschale bläulich wie brüniertes Metall. Servoboy sah das Wasser am Fuß der Klippe schäumend gegen die scharfkantigen Felsen fluten. Er drückte das andere Auge an den Spalt und nahm eine Bewegung am Strand wahr: dort unten lag ein zerschmetterter Metallhaufen, der an das Skelett eines großen Fisches erinnerte, zwischen riesigen Felsbrocken. Was ist das? fragte er seinen Gedächtnisspeicher. Denn ganz in der Nähe war etwas anderes zu erkennen, das sich bewegte ... Der Graviokopter setzte fast unmerklich auf. Im gleichen Augenblick wurde es um ihn herum dunkel, so daß er sich schon fragte, ob sie etwa im Pazifik selbst niedergegangen waren. »Willkommen zu Hause, Sohn.« Eine weiche Frauenhand berührte die Oberfläche seiner Packkiste. »Das heißt, ich ... ich weiß, daß es dir hier so gut gefallen wird, als sei es wirklich dein Heim, denn wir haben dreidimensionales Fernsehen und eine herrliche Aussicht und alle ...« Die durchdringenden Augen betrachteten sein Gesicht, dann seufzte die Frau mittleren Alters leise. Sie duftete schwach nach Lavendel und Mottenkugeln und etwas anderem, das ihm bekannt, so bekannt vorkam.
»Das genügt, Regina.« Die andere Stimme, die aus dem Graviokopter. Eine harte Hand. Einige Bretter wurden gelöst. Die neuen Augen waren grau und leer. »Hör gut zu«, sagte die scharfe Stimme. »Du tust alles, was dir befohlen wird. Du bist im Zentrum gut ausgebildet worden, nicht wahr? Du deckst den Tisch und sorgst dafür, daß die Kuppel immer tadellos sauber ist. Du liest Milady jeden Wunsch von den Augen ab. Und du stellst vor allem niemals Fragen, hmm?« »Peter, der Junge hat einen langen Flug hinter sich ...« »Regina! Fängst du wirklich wieder damit an, fängt wieder alles von vorn an? Ich dachte, das Ende des letzten wäre dir endlich eine Lehre gewesen.« Die Stimme klang jetzt fast zornig, aber die grauen Augen starrten Servoboy noch immer so ausdruckslos wie zuvor an. »Der ganze Abfall«, fuhr er fort. »Wie kannst du den radioaktiven Müll vergessen, der die Straßen von Torrance bis Los Angeles bedeckt – vielleicht sogar bis ans Ende der Welt, soviel wir wissen. Die schmutzigen, bedauernswerten ...« »Kannst du ihn nicht wenigstens bis morgen früh in Ruhe lassen, bevor er seine Arbeit aufnimmt? Kann er nicht ... heute nacht ... frei sein?« Ihre Stimme klang leise und wie erstickt.
»Die armen Teufel, deren Körper über und über mit Geschwüren bedeckt sind«, fuhr er fort, ohne auf ihre Worte zu achten und riß dabei ein weiteres Brett von der großen Kiste los. »Sie vergraben sich dort draußen in den Hügeln wie Tiere. Du hättest sie heute vor dem Zentrum sehen sollen, Regina, als ich ihn abgeholt habe. Die Verkrüppelten und die Mutanten, die den Kopter andächtig gestreichelt haben; ich mag gar nicht daran denken, wer – oder was – das Servozentrum leitet, in dem dieses verdammte Ding gebaut worden ist. Aber jetzt? Du fängst wieder damit an, eine Maschine zu behandeln, als sei sie wie wir.« Servoboy hörte aufmerksam zu und versuchte zu erkennen, welches Element ihrer Auseinandersetzung nicht ganz stimmte. Die Wörter schienen zu passen, entschied er – aber was fehlte noch? Klick. Irgendwo in der schimmernden Plastikkuppel des Hauses sagte eine Tonbandstimme: »SIEBZEHN UHR DREISSIG IM HALLENDORFHAUSHALT, ALLES IST IN ORDNUNG. DAS ABENDESSEN WIRD SERVIERT, WENN SIE ES WÜNSCHEN, SIR UND MADAME, WENN SIE ES WÜNSCHEN.« »Bitte. Keine weiteren Erleichterungen für ihn, das verspreche ich dir. Bitte!« Die kalten Augen betrachteten ihn nachdenklich.
Sie wirkten wie graue Perlen, die tief in den Höhlen eines seltsam glatten Muschelgesichts lagen. »Schön, einverstanden. Er hat bis nach dem Abendessen frei. Aber dann fängt er gefälligst an zu arbeiten.« »Peter?« »Hmmm. Gut – bis morgen früh.« Das Gesicht verschwand. Das letzte Brett wurde gelöst. Servoboy sah einen endlosen Himmel über sich, über den nur einige graue Wolkenfetzen zogen. Irgendwo, weit vor ihm, trafen Meer und Himmel sich an einer milchigweißen Grenzlinie. »DAS ABENDESSEN IST SERVIERT – STRAHLUNGSFREIE NAHRUNGSMITTEL DURCH DIE WUNDERBARE UNIVERSOHYDROPONIK.« Klick. »IN EINEM VON UNIVERSO GEBAUTEN HAUS GIBT ES KEINE ANGST.« Klick. »WENN SIE ES WÜNSCHEN ... WENN SIE ES WÜNSCHEN ...« Jetzt erschien wieder das Gesicht der Frau. Servoboy konzentrierte sich auf die Poren ihrer Haut, während sie ihn anstarrte. Sie blinzelte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, lächelte nicht mehr, hob zitternd eine Hand, als wolle sie seine Wange berühren, ließ sie wieder sinken und war dann verschwunden. Doch im letzten Augenblick streiften ihre Finger noch seine Hand. Servoboy war wieder allein und schien im Himmel
zu stehen. Über ihm breitete sich die Nacht wie Tinte auf einem Löschblatt aus. Im Westen strahlte die Venus durch dünne Wolkenschleier über dem Meer. Er sah nach unten, schloß instinktiv die Augen und behielt nur mühsam das Gleichgewicht. Er schwebte über dem Wasser. Aber er hatte trotzdem festen Boden unter den Füßen. Er schwankte und erkannte schließlich die schmalen Stahlträger unter dem durchsichtigen Plastikmaterial, das wie eine Seifenblase über den Klippen hing. Er befand sich im Innern einer gigantischen Kuppel; unzählige Segmente strebten an allen Seiten empor und vereinigten sich schließlich zu der dunklen Fläche über seinem Kopf, wo der Graviokopter angestellt war. Er konnte kaum glauben, daß er sich wirklich im Innern eines Hauses befand, obwohl er deutlich das dünne Aluminiumgewebe erkannte, das die einzelnen Segmente zusammenhielt. Weit unter ihm schäumte die Brandung gegen schwarze Felsen. Die Wogen brachen sich am Fuß der Klippe, wichen zurück und griffen wieder an. Servoboy orientierte sich kurz und stieg dann die silberglänzende Rampe hinauf, die sich in weiten Spiralen durch das Innere der Kuppel wand. Noch bevor er die nächste Ebene erreicht hatte, war er auf allen Seiten von dichten Wolkenschleiern um-
geben, und der Himmel schien ihn verschlingen zu wollen. Er ließ sich in einem Kontursessel nieder und sah nach Westen. Irgend etwas. Er saß und beobachtete den Sonnenuntergang, der sich millionenfach im Wasser spiegelte. Die Hand? Wolkenfetzen wurden vom Wind über die Lücke getrieben, in der eben noch die versinkende Sonne gestanden hatte. Die Hand bewegte sich. Auf dem Wasser erschien eine goldene Pier, die vom Horizont bis zu der Stelle reichte, wo die Wogen über den glatten Sand schäumten. Er kratzte sich den Handrücken. Seine Augen verengten sich, als er zum Strand und zu dem metallenen Leichnam hinuntersah, den er aus der Luft gesehen hatte. Was war das Ding dort unten früher einmal gewesen? Wie eines der alten Automobile in den Mikrofilmen? Die Hand war eine gespannte Kralle. Er hob sie an die Augen, drehte und studierte das schlanke Handgelenk, betrachtete aufmerksam die Finger, die unter der Haut aus gehärtetem Stahl bestanden. Als der Himmel dunkler wurde, hörte er auch wieder die Brandung rauschen. Er steckte die Hand in seinen Kittel, umklammerte den kalten Griff des Strahlers und versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die er zu erfüllen hatte, bevor die Nacht vorüber war. Aber die Hand, was stimmte mit der Hand nicht?
Er sah nach unten und erkannte dort seine Besitzer, die durch mehrere durchsichtige Böden von ihm getrennt waren. Sie saßen in einem einsamen Lichtkreis über dem nassen Sand, und aus dieser Entfernung hatte er fast den Eindruck, sie seien in einer Lichtblase auf den Boden des dunklen Meeres hinabgetaucht. Er lauschte auf das Tosen der Brandung. Es würde eine lange Nacht werden. Der Wind brauste heftiger, Sterne kamen hinter den Wolken hervor und schließlich ging der Mond über einem Gewebe aus silbernen Linien auf. Servoboys Metabolismus verlangsamte sich fast unmerklich, während er das blasse Gesicht des Septembermondes betrachtete, der dort oben in der Kuppel wie in einem silbernen Netz gefangen zu sein schien. Er saß sehr still, wartete ruhig und glich dabei einer Spinne, die am Rand ihres Netzes lauerte. Dabei umklammerten seine Finger noch immer das kalte Metall des Ionenstrahlers und drückten es gelegentlich spasmisch. Klirr. Er bemühte sich, ganz im Rhythmus des Meeres zu versinken. Aber dann kam wieder das Geräusch – wie eine Boje über dem nächtlichen Wasser. Und er sah am Strand im Mondschein eine Bewegung.
Dort lag der verrostete Metallhaufen. Die Wogen rauschten über den Sand. Klirr. Das Geräusch? Vermutlich nur aneinanderschlagende Metallteile, die von den Wellen bewegt wurden. Aber er sah auch, daß die Wogen das Wrack nie ganz erreichten. Was also sonst? Er kniff die Augen zusammen. Er sah eine der breiten Glastüren aufschwingen. Was? Im Schatten des Wracks bewegte sich wieder etwas. Eine Gestalt, deren Umrisse kaum erkennbar waren, verschwand rasch in der Dunkelheit. Aber zuvor hatte er noch die Reflexion des Mondlichts auf hellem Stoff gesehen, über dem etwas Rotes aufleuchtete ... »Bist du hier glücklich?« Er drehte sich um. Regina Hallendorfs Nachthemd raschelte leise, als sie die Rampe heraufkam. Sie schien außer Atem zu sein. Im hellen Mondschein erkannte er deutlich, daß ihr Seidennachthemd so faltenlos war, daß sie unmöglich bereits darin geschlafen haben konnte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Hier, ich habe dir etwas mitgebracht.« Sie stellte
einen silbernen Behälter vor ihn auf den niedrigen Tisch. Sie standen einander gegenüber, blieben wie auf einem unterbelichteten Negativ in der gleichen Haltung, bewegten keinen Muskel, sahen sich nicht in die Augen. Unter ihnen flutete die Brandung gegen schwarze Felsen, wich wieder zurück, rauschte über den Strand, wich wieder zurück. Sie atmete tief, und die im Mondschein weiße Seide spannte sich auf ihrer Haut. »Wie fühlst du dich, seitdem du bei uns bist? Du mußt es mir ganz offen sagen«, flüsterte sie. Er hob den Kopf, sah die Umrisse ihres Körpers unter der glänzenden Seide, sah ihr Herz unter der Brust gegen das straffe Gewebe klopfen. Ihr Herz? fragte er sich. »Sag es mir doch«, bat die Frau. »Sag mir, wie man sich fühlt, wenn man ... wie du bist. Bedeutet dir das Wort ›fühlen‹ überhaupt etwas, irgend etwas?« Er richtete sich auf, drehte sich nach dem Meer, dem Sand und den Sternen um. »Bitte, bitte, ich weiß, daß ich es nicht mehr viel länger aushalten kann. Peter, mein Mann, versteht es nicht. Jeden von euch, den er nach langem Bitten endlich mit nach Hause gebracht hat, um mir einen Gefallen zu tun, hat er bald wieder beseitigt, weil er einfach kein Verständnis dafür hat. Er will nicht glau-
ben, daß eure Rasse stärker ist, daß unsere Rasse überholt ist.« Sie starrte ihn forschend an, als könne sein Gesichtsausdruck ihre Vermutung bestätigen. »Ich meine, der Androidenaufstand liegt doch jetzt schon über hundert Jahre zurück. Vielleicht war es unmittelbar nach dem Krieg wirklich notwendig, daß eine Rasse die andere unterdrückte, die verloren hatte. Aber jetzt reicht die frühere Unterscheidung zwischen Servos und Normalen – Peter klammert sich noch immer an diese überholten Begriffe – einfach nicht mehr aus. Das ist mir schon seit einiger Zeit klar.« Sie wandte den Kopf zur Seite, und der Mond breitete einen silbernen Schimmer über ihr Haar. »Was glaubt er denn?« fragte Servoboy mit sorgfältig beherrschter Stimme. Als sie wieder sprach, schienen ihre Augen trübe. »Oh, er ist fest davon überzeugt, nach dem Kontrollierten Krieg sei die beste Lösung verwirklicht worden, als zwei Lager entstanden, in die alle Leute aufgeteilt wurden – die Servos und ... und solche wie Peter und ich. Natürlich hat alles schon vor vielen Jahren begonnen, bevor ich überhaupt auf die Welt kam. Das sagt er jedenfalls, und ich weiß nur, was Peter mir erzählt. Irgendwie fällt es mir immer schwerer, mich an meine eigene Vergangenheit zu erinnern.«
Servoboy hörte geduldig zu, sah aber wieder nach draußen, wo entlang der Küste Elmsfeuer aufflackerten. »Alles hat eigentlich erst mit der Prothetik angefangen, sagt Peter, damals im Mittelalter ...« Ja, dachte er und erinnerte sich an die Mikrofilme über Geschichte, die Prothetik war wirklich der erste Schritt auf diesem Weg. Damals bekam ein Mann vielleicht eine eiserne Klaue als Hand, ein Holzbein oder ein Glasauge – alles nur unbedeutende Verbesserungen, bis das zwanzigste Jahrhundert die ersten Plastikherzen, Fiberglasrippen und Latexmägen brachte. Aber dann mußte erst noch ein Mann kommen, der genügend Weitblick besaß, um zu erkennen, daß die konsequente Anwendung der Prothetik dem Menschen eine Art Unsterblichkeit geben konnte. Dieser Mann war Jonathan Fles, ein kaum bekannter, kleiner Erfinder in Los Angeles, der sich durch Selbstunterricht gebildet hatte. Fles war geschäftstüchtig und energisch genug, um diesen Trend bis zum logischen Extrem zu verfolgen. Er gründete die Universo Products, Inc., und in allen Zeitungen, auf sämtlichen Bildschirmen, ja sogar am Himmel leuchtete bald die Frage: SIND SIE KONVERTIERT? Diese drei Wörter wurden so bekannt, daß sogar Kinder sie auf der Straße in ihre Abzählreime einbauten. Fachleute waren zunächst der Überzeugung, es handle
sich dabei nur um einen weiteren Fortschritt auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie: sie lachten über alle Warnungen und wurden erst später nachdenklich – aber dann war es bereits zu spät. Es dauerte nicht lange, bis der Status eines Mannes nicht mehr von einem besseren Haus oder Kopter, sondern von einem besseren Selbst abhing. Zu wieviel Prozent bestand er bereits aus den neuen Austauschteilen, die unbegrenzt haltbar waren? Ja, diese neue Bewegung war wie alle großen Umwälzungen aus so kleinen Anfängen entstanden, daß niemand sich darum gekümmert hatte, bis es endgültig zu spät war ... »... aber wahrscheinlich ist das doch die beste Lösung«, sagte sie eben, »denn jetzt gibt es Servozentren, die Arbeiter verkaufen. Peter ist jedenfalls dieser Meinung. Er behauptete, so hätte es schon immer sein sollen.« Er sah eine menschliche Gestalt neben dem Wrack im Sand. »Davon ist er überzeugt«, schloß sie. Er bemühte sich zu erfassen, was sie gesagt hatte. Aber dort unten bewegte sich etwas, dort unten war ein heller Farbfleck erkennbar, der sich im gleichen Rhythmus wie die Wellen am Strand entlangbewegte. »Aber wenn Sie der gleichen Auffassung wie er sind«, brachte er heraus, »warum erzählen Sie mir dann das alles?«
Sie bewegte sich auf den Sessel zu, schien plötzlich nur noch mit Anstrengung sprechen zu können und rang nach Atem. Er bildete sich fast ein, ihren Herzschlag über das Rauschen der Brandung hinweg zu hören. »Aber ... das ist es gerade. Ich glaube Peter nicht mehr.« Sie berührte seine Hand und er spürte in diesem Augenblick einen Schauer durch seinen Körper zukken, als habe er etwas wiedererkannt. »Ich weiß, daß er nicht die Wahrheit sagt, wenn er mir erzählt, wie ... wie es draußen ist. Daß alles tot oder radioaktiv ist. Weißt du, was ich glaube?« Sie kam näher, ihre Finger berührten sein Haar. »Ich glaube, daß er mich belügt.« Er dachte nicht mehr an den Strand. Ihre Augen trafen sich in der Dunkelheit. »Deine Augen«, flüsterte Mrs. Hallendorf. »Ich habe es auch in ihren, in den Augen der anderen gesehen. Peter hat sie jeweils beseitigt, bevor ich länger mit ihnen sprechen konnte. Ich habe einen nachts am Strand davonlaufen gesehen, deshalb weiß ich, daß es dort draußen anders sein muß. Peter hat mir zu erzählen versucht, sie hätten nacheinander Pannen gehabt, aber ich weiß es besser. Und in deinen Augen sehe ich so viel mehr als in den anderen, daß ich ...« Leise Schritte irgendwo in der Dunkelheit.
»Du läufst doch nicht, wie die anderen, nachts fort und läßt mich allein, oder?« »Regina!« Eine harte Hand riß sie fort. »Was geht hier vor?« Sie drehte sich erregt nach ihrem Mann um. »Peter«, sagte sie mit blitzenden Augen, »faß mich nie wieder so an!« Mr. Hallendorf trat einen Schritt vor. Er hob den rechten Arm. Etwas Metallisches glitzerte zwischen seinen Fingern. Servoboy sah die Hand herabzucken. Dann fiel die entleerte Injektionsspritze zu Boden und zerbrach. »Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat«, grunzte Hallendorf und nahm seine Frau auf die Schulter, als sie zusammensackte. »Oder was sie vorhat. Aber das ist jetzt nicht weiter wichtig. Du verstehst gar nicht, was ich sage, nicht wahr? Bleib hier im Sessel sitzen. Das ist ein Befehl. Ich komme morgen früh wieder und kümmere mich um dich. Offenbar werden deine Dienste hier doch nicht gebraucht, was mich allerdings kaum überrascht.« Servoboy sah schweigend zu, wie Hallendorf seine schlafende Frau die Rampe hinabtrug. Dann nahm er wieder im Sessel Platz dachte und fühlte viele Dinge und beobachtete den Mond, der seinen Zenit erreichte und dann langsam hinter den Hügeln versank. Aber er wußte, was zu tun war. Natürlich das alte
Spiel, überlegte er und erinnerte sich an den richtigen Ausdruck, mit dem Trojanischen Pferd. Er nahm seinen Strahler zur Hand, betrachtete die Waffe nachdenklich im schwachen Licht des Mondes und empfand dabei wachsendes Unbehagen. Wie viele noch? fragte er sich. Diesmal schien ihm der Auftrag weniger leicht als sonst zu fallen, und er versuchte zu ergründen, was daran Schuld war. Das flimmernde Leuchten des Tri-Videos erhellte auch den niedrigen Treppenabsatz. Hallendorf starrte gespannt auf den Bildschirm. Seine Frau lag hinter ihm auf einer Couch ausgestreckt, wo er sie abgelegt hatte. »... UND DANK DER WEITSICHT MEINER AMERIKANISCHEN MITBÜRGER ...« Die Stimme aus dem Tri-Video drang bis zum Treppenabsatz hinauf. Servoboy trat einen Schritt vor. Auf dem Bildschirm war Jonathan Fles' vertrautes, ewig junges Gesicht zu sehen, über dem das Wappen des Präsidenten eingespiegelt wurde. »... UNIVERSALISMUS OFFIZIELL DURCH GESETZ ZUR PFLICHT ZU MACHEN. DIESES GESETZ TRITT IM DEZEMBER MIT SEINER VERKÜNDUNG IN KRAFT, SO DASS DIE FESTLICHE TRADITION DIESER JAHRESZEIT GEWAHRT BLEIBT. ICH BENUTZE DESHALB DIESE GELEGENHEIT, JEDE
FAMILIE IN REICHWEITE MEINER STIMME ZU ERMAHNEN, DIE VORGESCHRIEBENE MINDESTKONVERSION VON FÜNFUNDNEUNZIG PROZENT SPÄTESTENS BIS ERSTEN DEZEMBER DURCHFÜHREN ZU LASSEN ...« Hallendorf schaltete das Gerät aus und griff nach einem kleinen Handmikrophon. Er drückte auf den Sprechknopf und begann zu reden. Servoboy fiel auf, wie verblüffend groß die Ähnlichkeit zwischen seiner Stimme und der des Präsidenten war – beide fest, männlich, volltönend und ohne jedes Gefühl. Fles' Leute in der Universo Products, Inc., verstanden ihre Arbeit wirklich ausgezeichnet; jeder Kehlkopf, der in den letzten vierzig Jahren vom Fließband gekommen war, klang unverkennbar wie das Original. Allerdings konnte diese Aufgabe nicht übermäßig schwierig gewesen sein, denn Fles hatte schon immer fast wie eine Maschine gesprochen. Das Gesicht auf dem Bildschirm wechselte. »Ja?« Während Hallendorf vor dem Gerät saß, spielten bläuliche Schatten über seine Backenknochen. Servoboy betrachtete den allzu deutlichen Haaransatz, die fast nicht vorhandenen Lippen, das gespaltene Kinn. In dieser schwachen Beleuchtung hätten beide Gesichter – Hallendorfs oder das andere auf dem Bildschirm – das des Präsidenten ersetzen können, der selbst vor vier Jahrzehnten als Fles akzeptiert worden
wäre. So perfekt waren die Nachahmungen der Universo Products, Inc. ... Servoboy schloß die Augen vor diesem Gesicht, das so klassisch einfach war, daß man es ebensowenig wie seinen eigenen Handrücken vergessen konnte. Seine Hand. »Regina hat mit dem neuen Jungen gesprochen«, berichtete Hallendorf eben. »Bisher ist sie erst zu fünfunddreißig Prozent konvertiert, und ich dachte, wir hätten noch keinen Grund zur Eile. Sie identifiziert sich aber – Sie hätten den Ausdruck in ihren Augen sehen sollen – und das macht immer Schwierigkeiten. Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben.« Servoboys Hand zitterte. »Am besten bringen Sie sie zu uns, bevor sie aufwacht«, sagte das Gesicht auf dem Bildschirm. »Gut, einverstanden. Vielleicht ist es am besten, wenn wir die restliche Konvertierung durchführen.« »Keine Angst, ab morgen braucht sie nie wieder zu schlafen.« Die Stimme imitierte ein spöttisches Lachen. »Dank Universo!« Servoboy ließ den Sicherungsknopf des Ionenstrahlers einrasten. Hallendorf drehte sich um. »Was tust du hier? Wie kannst du es wagen, mir nachzuspionieren!« Die Lautstärke war richtig, aber
weder Stimme noch Augen veränderten ihren Ausdruck. Servoboy erwiderte standhaft seinen Blick. »Ich will Sie erschießen.« Hallendorfs Lippen zitterten leicht, während sein von Universo gebautes Gehirn einen Ausweg aus dieser Situation suchte. Er starrte die Waffe verständnislos an. Servoboy drückte ab. Der weiße Lichtstrahl beleuchtete eine Zehntelsekunde lang das Innere der riesigen Kuppel. Dann war es wieder so dunkel wie zuvor. Nur das Rauschen der Brandung durchbrach die bedrückende Stille. Die Frau auf der Couch bewegte sich. Sie öffnete die Augen, stieß einen leisen Schrei aus. Regina Hallendorf kniete auf dem Teppich. Sie zog einen abgetrennten Arm aus dem rauchenden Trümmerhaufen aus Plastik, Metall, Transistoren und Drähten. Sie hob ihn in die Höhe, weinte aber nicht und lachte auch nicht, obwohl Servoboy fast den Eindruck hatte, sie tue beides gleichzeitig. Sie erhob sich langsam. »Wie seltsam er jetzt aussieht – eigentlich nur Schrott ...« Dann lächelte sie. »Danke.« Sie streckte eine Hand aus und berührte Servoboys Wange. Ihre Augen suchten seine. »Nun kennst du mich, nicht wahr?«
Sein Gesicht fühlte sich plötzlich so heiß wie seine Hand an. Dann nahm er eine ihrer zitternden, warmen Hände in seine und verstand endlich, worum es sich wirklich handelte. Irgend etwas in den Nerven, in den Zellen, ein unbestimmter chemischer Reiz zwischen ihren Handflächen, das Fleisch selbst. Ob er sich erinnern konnte oder nicht – sein Körper erinnerte sich deutlich genug. »Was willst du hören?« fragte er leise. »Daß ich mich an das alte Haus erinnere, an die Picknicks, an das abgenutzte Schaukelpferd in der Sonne? Weißt du bestimmt, daß du das wirklich hören willst?« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck noch einige Sekunden länger und wandte sich dann ab. »Ich ... wußte nicht, was ich von dir halten sollte«, gab sie zu. »Manchmal traue ich selbst meinem eigenen Gedächtnis nicht mehr. Aber heute nacht, nun ... Du bleibst doch jetzt bei mir, nicht wahr? Nicht wahr ... Sohn?« »Hier?« wiederholte er. »Was gibt es hier?« Hier? dachte er. Nachdem er schon in frühester Jugend von ihr getrennt worden war, nachdem er im Untergrund aufgewachsen und dort dazu ausgebildet worden war, die anderen zu hassen und zu vernichten, weil sie für den Krieg verantwortlich gewesen waren; aber selbstverständlich auch aus dem anderen Grund: weil sie weniger menschlich waren. Aber die
Vorwürfe und Beschuldigungen beider Seiten glichen einander auffällig, waren fast identisch miteinander. Haß. War das der wirkliche Grund dafür, daß wir die Servozentren infiltrierten und allmählich lernten, die Lobotomie zu umgehen, damit wir die Rolle spielen, hinter die feindlichen Linien gelangen und dort zerstören konnten? Haß, nur weil sie uns hassen? Was ist aus der Humanität geworden, die angeblich einmal unser Monopol war, die wir angeblich so eifrig verteidigten? Ich habe zuviel gelernt, dachte er. Was hätte ich von einem Leben mit dieser fremden Frau zu erwarten, die vielleicht gar keine Frau mehr ist? »Nein, nicht hier«, sagte er und warf einen Blick auf das peinlich saubere, automatische und fast völlig entmenschlichte Haus; er bildete sich ein, die Maschinen irgendwo summen zu hören, die elektronisch gesteuerten Geräte, die in alle Ewigkeit fehlerlos arbeiten würden. »Hier kann ich unmöglich leben. Du wahrscheinlich auch nicht«, fügte er dann hinzu und lächelte hoffnungsvoll. »Aber ich habe schon oft gehört, daß es irgendwo an der Küste Siedlungen geben soll, deren Bewohner nicht zum Untergrund gehören; dort kann ein Mensch einfach ... sein. Nur das.« Sie antwortete nicht. »Wünschst du dir nicht manchmal, alles wäre wieder wie früher?« fragte er sie. »Ich ... ich weiß nicht«, sagte sie. »Es kommt mir
eigentlich wie ein längst entschwundener Traum vor, weil es schon so lange zurückliegt.« »Aha«, murmelte er. Dann ist dir also nicht mehr zu helfen, dachte er. Gleichzeitig fiel ihm auf, daß er seinen bisherigen Kampfgeist plötzlich mit einem Schlag verloren hatte, denn auf dem Boden vor ihm lag nicht nur Peter Hallendorf in einem rauchenden Trümmerhaufen – dort lag auch ein kleiner Teil, ein unendlich winziger Teil des Mannes, dem er sein Leben verdankte. Er starrte die Pistole in seiner Hand an, sah wieder zu der Frau hinüber und faßte einen Entschluß. Er beobachtete ihre Schultern, die von einem trockenen Schluchzen geschüttelt wurden; er betrachtete sie mit geübter Objektivität und versuchte selbst jetzt noch zu erkennen, wo das Fleisch aufhörte und Plastik und Metall begannen. »Du könntest mit mir fortgehen«, schlug er vor, »um die anderen zu suchen.« Sie war plötzlich wieder ruhig und hob den Kopf. »Fortgehen? Fort von hier? Aber was soll das? Warum sollte ich mein schönes Universo-Haus verlassen? Und den Autokoch, das Tri-Video, die Komfortbetten – und meinen Mann ...« »Dein Mann ist tot.« »Was?« Sie sah zu Boden und starrte die Trümmer verständnislos an. »O ja, ja. Du hast ihn erschossen, nicht wahr?«
Aber sie ließ bei diesen Worten keinerlei Gefühlsregung erkennen, als habe sie nur vom Wetter gesprochen. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Dann roch er etwas und er wußte plötzlich, woraus dieser vertraute Duft bestand, den er bisher nicht hatte definieren können. Sie roch sehr schwach nach Maschinenöl. Er hatte Peter Hallendorf nicht ermordet. Wie konnte er etwas ermordet haben, das schon seit Jahren nicht mehr lebte? Von welchem Punkt an – fünfundzwanzig? fünfzig? fünfundsiebzig Prozent? – ist der Mensch kein menschliches Wesen mehr, sondern eine Maschine aus geölten, gestanzten, garantierten Bestandteilen? Wie erkennt man, daß man nicht mehr ein Mensch ist, der zum Teil aus Maschinenelementen besteht, sondern eine Maschine, die teilweise menschlich geblieben ist? »Leb wohl, Mutter«, sagte er. Er ließ sie dort in ihrem riesigen Kuppelhaus stehen und wußte nicht einmal, ob sie seinen Abschied überhaupt wahrgenommen hatte. Am höchsten Punkt der Kuppel warf er noch einmal einen Blick auf den silbernen Behälter zurück, den sie vor ihn auf den niedrigen Tisch gestellt hatte; und er wußte, daß der Autokoch, der im Lauf der Zeit immer überflüssiger wurde, auch weiterhin täglich drei Mahlzeiten zubereiten würde. Noch jahrelang, vielleicht bis in alle Ewigkeit.
Am Strand rannte ihm die rothaarige, junge Frau entgegen. Es gibt Menschen mit der seltenen Gabe, im richtigen Augenblick »Ich verstehe« sagen zu können, wenn dieser Trost am meisten gebraucht wird; die junge Frau tat es und öffnete dabei nicht einmal den Mund. Sie ging neben ihm her, ihre weiche Hand ruhte in seiner. Sie warf einen Blick über die Klippen, so daß sich der Feuerschein, der an vielen Stellen entlang der Küste aufleuchtete, in ihren dunklen Augen widerspiegelte. »Dort sind die Lager«, sagte sie. »Unsere Lager. Wir sind ...« Sie runzelte kurz die Stirn, während sie nach einem Wort suchte, das alles ausdrückte, was sie waren, wie sie lebten und weshalb er sich überhaupt für sie interessieren sollte. »... Leute«, schloß sie dann lächelnd und zuckte mit den Schultern. Sie las in seinen Augen. »Hast du gekämpft?« fragte sie. »Ich habe gekämpft.« »Kämpfen ist nicht genug«, sagte sie. Der Wind wirbelte ihr rotes Haar auf, so daß es wie Feuer leuchtete und als er sie genauer betrachtete, sah er ihr klassisch schönes Profil, die graziösen Bewegungen ihres schlanken Körpers und die zarte Schönheit ihres Gesichts. »Du glaubst doch nicht etwa wirklich, daß man die Humanität so leicht gewinnt oder verliert?«
Dann berührte sie sein Gesicht mit der Handfläche, lachte fröhlich und ging durch die endlos rauschende Brandung davon; er verstand und folgte ihr. Sie gingen weiter, bis die junge Frau nochmals stehenblieb. Sie sah ihm in die Augen und er spürte, daß Kummer und Schmerzen, die er noch immer empfand, unter diesem Blick immer weniger wurden. Sie nahm ihm den Strahler aus der Hand und warf ihn weit von sich fort in die Wogen. Als sie sich dem ersten Lager näherten, sah der Junge starke, sonnengebräunte Körper, die sich um das Feuer bewegten. Sie kamen lächelnd auf ihn zu, und der Junge sah von einem Gesicht zum anderen, beobachtete den orangefarbenen Feuerschein auf ihren Körpern und dem Haar, das die Farbe der Sonne hatte. »Ich wünschte nur, Jonathan Fles könnte euch alle so sehen.« »Wer ist Jonathan Fles?« fragte die junge Frau. Sie lachten und drängten sich näher an ihn heran und brachten die Wärme des Feuers an ihren Körpern mit; an ihren Armen und Händen, die sie nach ihm ausstreckten; in ihrem lebendigen Atem, als sie mit ihm sprachen. Als er diese Wärme durch seine Adern bis zu den Füßen fließen spürte, die fest in dem noch immer
warmen Sand standen, sah er wieder zu der jungen Frau hinüber. Ich hoffe, dachte er, daß wir gut zueinander sein werden, du und ich. Daß wir einander immer lieben und daß wir später, wenn unsere Zeit kommt gemeinsam im Angesicht des Todes stark bleiben. Sie hielt seine Hand fest in ihrer und drängte sich dicht an ihn. Und die Feuer der Nacht flammten heller auf, bis sie seine Augen blendeten.
RICHARD MATHESON
Ring frei! Die beiden Männer rollten einen bedeckten Gegenstand durch die Bahnhofshalle. Sie schoben ihn über den Bahnsteig bis zur Zugmitte und hoben ihn dann keuchend die Stufen hinauf, wobei ihnen der Schweiß in Strömen vom Körper lief. Eines der Räder fiel ab und polterte über die Eisenstufen, ein Mann, der hinter ihnen her den Zug entlangging, hob es auf und gab es dem Mann zurück, der einen verknitterten, braunen Anzug trug. »Danke«, sagte der Mann im braunen Anzug und steckte das Rad in die Jackentasche. Die Männer schoben den bedeckten Gegenstand vor sich her durch den Wagen. Da ein Rad fehlte, hing er nach links über, und der Mann im braunen Anzug – er hieß Kelly – mußte sich mit der Schulter dagegen stemmen, damit er nicht umkippte. Dabei atmete er schwer und leckte mehrmals die winzigen Schweißperlen ab, die sich auf seiner Oberlippe bildeten. Als sie die Mitte des Wagens erreicht hatten, klappte der Mann im verknitterten, blauen Anzug die Rükkenlehne einer Sitzbank nach vorn, so daß vier Plätze
entstanden – jeweils zwei gegenüber. Dann rollten sie den bedeckten Gegenstand zwischen die Bänke, Kelly steckte eine Hand durch den Schlitz in der Abdekkung und tastete darunter umher, bis er den richtigen Knopf gefunden hatte. Der bedeckte Gegenstand setzte sich schwerfällig auf den Fensterplatz. »O Gott, hör dir bloß an, wie er quietscht«, sagte Kelly. Der andere Mann, Pole, zuckte mit den Schultern und nahm seufzend Platz. »Hast du was anderes erwartet?« fragte er. Kelly zog sich die Jacke aus. Er legte sie auf den freien Platz und setzte sich neben den bedeckten Gegenstand. »Na, jedenfalls kriegt er eine ordentliche Ladung von dem Zeug, sobald wir den Kies in der Tasche haben«, meinte er besorgt. »Wenn wir es überhaupt irgendwo auftreiben«, sagte Pole, dessen hagerer Körper an eine Vogelscheuche erinnerte. Er hockte zusammengesunken auf der heißen Bank und beobachtete Kelly, der sich das schweißbedeckte Gesicht mit einem großen Taschentuch abwischte. »Warum denn nicht?« fragte Kelly und stopfte sich dabei das feuchte Taschentuch unter den Hemdkragen. »Weil es nicht mehr hergestellt wird«, antwortete
Pole mit der trügerischen Geduld eines Mannes, der die gleiche, simple Tatsache bereits allzuoft hat erklären müssen. »Na, das ist aber verrückt«, sagte Kelly. Er nahm den Hut ab und drückte das Taschentuch auf die kahle Stelle zwischen seinen rostroten Haaren. »Schließlich sind noch massenhaft B-zweier im Geschäft.« »Nicht mehr viele«, sagte Pole und stützte einen Fuß auf den bedeckten Gegenstand. »Laß das«, sagte Kelly. Pole setzte den Fuß schwer auf den Boden und murmelte einen Fluch vor sich hin. Kelly wischte mit dem Taschentuch über das Hutfutter. Dann wollte er den Hut wieder aufsetzen, überlegte sich die Sache doch anders und legte ihn statt dessen auf die Jacke. »Menschenskind, ist das eine Hitze«, stöhnte er. »Es wird noch heißer«, sagte Pole. Ihnen gegenüber verstaute ein Mann seinen Koffer im Gepäcknetz, zog die Jacke aus und ließ sich keuchend auf die Bank fallen. Kelly sah zu ihm hinüber und drehte sich dann wieder um. »Glaubst du, in Maynard ist es noch heißer, ha?« wollte er wissen. Pole nickte. Kelly schluckte trocken. »Jetzt wär' noch so 'n Bier recht«, sagte er. Pole sah nach draußen, wo flimmernde Hitzewellen über den Gleisen aufstiegen.
»Ich hab' drei Bier getrunken«, sagte Kelly, »und bin noch genauso durstig wie vorher.« »Ja«, sagte Pole. »Als wenn ich schon seit Philly kein Bier mehr getrunken hätte«, sagte Kelly. »Ja«, sagte Pole wieder. Kelly starrte Pole einen Augenblick lang an. Pole hatte schwarzes Haar und weiße Haut, seine Hände waren eigentlich die Hände eines viel größeren Mannes. Aber diese Hände waren ebenso geschickt wie groß. Pole ist einer der Besten, dachte Kelly, einer der Besten. »Meinst du, daß mit ihm alles in Ordnung ist?« fragte er. Pole grunzte und lächelte dann kurz, ohne daß er Grund zur Heiterkeit gehabt hätte. »Wenn er keinen Treffer abbekommt«, sagte er. »Nein, nein, das ist mein Ernst«, sagte Kelly. Poles dunkle, leblose Augen sahen nicht mehr aus dem Fenster, sondern zu Kelly hinüber. »Meiner auch«, sagte er. »Quatsch«, sagte Kelly. »Steel«, sagte Pole, »das weißt du genausogut wie ich. Er ist völlig hinüber.« »Gar nicht wahr«, sagte Kelly und rutschte unbehaglich zur Seite. »Er braucht nur ein paar Reparaturen. Eine kleine Überholung, dann ist er wieder so gut wie neu.«
»Klar, eine kleine Überholung für drei oder vier Mille«, sagte Pole, »mit Ersatzteilen, die nicht mehr hergestellt werden.« Er starrte wieder aus dem Fenster. »Oh ... so schlimm ist es wirklich nicht«, sagte Kelly. »Teufel noch mal, wenn man dir zuhört, kann man glauben, er gehört gleich auf den Schrotthaufen.« »Gehört er da vielleicht nicht hin?« fragte Pole. »Nein«, sagte Kelly wütend, »da gehört er nicht hin.« Pole zuckte mit den Schultern und machte eine resignierende Handbewegung. »Nur weil er ein bißchen alt ist«, sagte Kelly. »Alt.« Pole grunzte. »Uralt.« »Oh ...« Kelly holte tief Luft und atmete schnaubend durch seine breite Nase aus. Er sah den bedeckten Gegenstand mit dem Blick eines Vaters an, der sich über die Fehler seines Sohnes ärgert, während sein größter Zorn gleichzeitig denen gilt, die von diesen Fehlern sprechen. »Er ist noch prima in Form«, sagte er. Pole beobachtete die Leute auf dem Bahnsteig. Er beobachtete einen Gepäckträger, der seinen vollen Karren vor sich her schob. »Na ... ist er okay?« fragte Kelly schließlich zögernd, als fürchte er sich vor dieser Frage.
Pole erwiderte seinen Blick. »Kann ich nicht genau sagen, Steel«, antwortete er dann. »Er muß überholt werden. Das weißt du selbst. Die Zugfeder in seinem linken Arm ist schon so verdammt oft geflickt, daß sie fast im Eimer ist. Auf der Seite ist er praktisch ungeschützt. Die linke Gesichtshälfte ist voller Beulen, das Objektiv hat einen Sprung. Die Beinkabel sind abgenutzt, sie sind längst ausgeleiert, die Spannung ist beim Teufel. Sogar sein Gyro läuft nicht mehr rund.« Pole sah wieder auf den Bahnsteig hinaus und schüttelte angewidert den Kopf. »Ganz zu schweigen von dem Schmierfett, das er dringend braucht«, sagte er. »Wir kaufen ihm welches«, sagte Kelly. »Ja, nach dem Kampf, nach dem Kampf!« knurrte Pole. »Und was ist mit vor dem Kampf? Ich sage dir, er rasselt durch den Ring wie ein verdammter ... Dampfbagger. Es ist schon ein Wunder, wenn er zwei Runden lang auf den Beinen bleibt. Wahrscheinlich müssen wir bei Nacht und Nebel abhauen, bevor sie die Hunde auf uns hetzen.« Kelly schluckte trocken. »Ganz so schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte er. »Meinst du wirklich?« fragte Pole. »Es ist sogar noch viel schlimmer, kann ich dir sagen. Wart nur ab, bis die Zuschauer ›Battling Maxo‹ aus Philadelphia
zu Gesicht bekommen! Dann geht ihnen der Hut hoch! Wir haben Glück, wenn wir unsere fünfhundert Kröten kriegen.« »Na, der Vertrag ist jedenfalls unterschrieben«, sagte Kelly fest. »Da gibt es jetzt kein Zurück mehr. Ich habe ihn hier in der Tasche.« Er beugte sich vor und legte eine Hand auf seine Jacke. »Aber der Vertrag ist für ›Battling Maxo‹«, sagte Pole. »Nicht für diesen ... Dampfbagger hier.« »Maxo kommt schon zurecht«, sagte Kelly, als gebe er sich alle Mühe, selbst daran zu glauben. »Er ist nicht so schlecht in Form, wie du immer behauptest.« »Gegen einen B-sieben?« fragte Pole. »Der andere ist nur ein B-sieben-Anfänger«, sagte Kelly. »Er hat bestimmt noch lauter Kinderkrankheiten.« Pole wandte sich ab. »Battling Maxo«, sagte er. »Eine-Runde-Maxo. Der kämpfende Dampfbagger.« »Ach, halt endlich das Maul, der Teufel soll dich holen!« fauchte Kelly plötzlich und wurde noch röter. »Du machst ihn immer bloß madig. Er hat sich jetzt zwölf Jahre lang ganz gut gehalten, und er kommt auch in Zukunft einigermaßen zurecht. Er braucht also etwas Schmierfett und eine kleine Überholung. Na und? Mit fünfhundert Kröten können wir ihm massenhaft Schmierfett kaufen, eine neue Zugfeder für
seinen Arm – und neue Beinkabel! Und alles, verdammt noch mal.« Er lehnte sich auf seinen Platz zurück, holte tief Luft und tupfte sich die Stirn mit dem feuchten Taschentuch ab. Er sah zu Maxo hinüber. Dann streckte er plötzlich eine Hand aus und tätschelte unbeholfen Maxos bedecktes Knie, so daß die Stahlplatten dumpf unter seinen Fingern dröhnten. »Du schaffst es schon«, sagte Kelly zu seinem Kämpfer. Der Zug rollte durch die sonnendurchglühte Prärie. Sämtliche Fenster standen offen, aber der Wind, der von draußen durch die Wagen blies, war wie der Gluthauch eines Hochofens. Kelly saß weit zurückgelehnt und las eine Zeitung. Sein Hemd klebte feucht auf seiner breiten Brust. Pole hatte sich ebenfalls die Jacke ausgezogen und starrte mürrisch aus dem Fenster auf die Prärie hinaus, die bis zum Horizont nur aus vereinzelten Grasbüscheln zu bestehen schien. Maxo saß unter seiner Hülle und bewegte sich kaum merklich im gleichen Rhythmus wie der leicht schwankende Wagen. Kelly ließ seine Zeitung sinken. »Kein einziges Wort«, sagte er. »Hast du was anderes erwartet?« fragte Pole. »Nach Maynard schicken sie keinen Reporter.«
»Maxo ist aber kein Bauernlümmel aus Maynard«, sagte Kelly. »Er hat schon größere Kämpfe bestritten. Eigentlich müßten sie sich doch« – er zuckte die Schultern – »an ihn erinnern.« »Warum? Wegen der paar Auswahlkämpfe vor drei Jahren im Madison Square Garden?« fragte Pole. »Das waren keine drei Jahre, Kamerad«, sagte Kelly fest. »Es war neunzehnhundertsiebenundsiebzig«, sagte Pole, »und jetzt haben wir neunzehnhundertachtzig. Bei uns zu Hause sind das drei Jahre.« »Es war Ende siebenundsiebzig«, sagte Kelly. »Kurz vor Weihnachten. Weißt du nicht mehr? Zwei oder drei Tage bevor – Marge und ich ...« Kelly sprach nicht weiter. Er starrte die Zeitung an, als sehe er dort Marges Bild – wie sie an dem Tag ausgesehen hatte, an dem sie ihn verließ. »Welchen Unterschied macht das schon?« fragte Pole. »Großer Gott, Steel, die Leute erinnern sich doch nicht an jeden! Wo es die verdammten Dinger heute bereits zu Tausenden gibt? Wer soll sich da an jeden erinnern können? Und in der Zeitung schreiben sie nur über die Meister und die neuesten Modelle.« Pole sah zu Maxo hinüber. »Mawling will jedes Jahr einen B-neun herausbringen, habe ich gehört«, fügte er hinzu. Kelly hob langsam den Kopf.
»Ja?« sagte er uninteressiert. »Hyperfedern in Armen und Beinen. Ganz aus Aluminiumstahl. Dreifachgyro. Alles doppelt verdrahtet. Junge, Junge, das werden Bomber!« Kelly legte die Zeitung fort. »Eigentlich müßten sie ihn noch kennen«, murmelte er vor sich hin. »So lange ist es auch wieder nicht her.« Auf seinem Gesicht erschien ein verklärtes Lächeln. »Menschenskind, den Abend vergesse ich nie«, sagte er. »Niemand gab einen Pfifferling für uns. Immer nur Rocky Dimsy, Rocky Dimsy. Drei zu eins für Rocky Dimsy. Rocky Dimsy – der viertbeste Halbschwergewichtler. Auf dem Weg zur Spitze.« Er lachte in sich hinein. »Aber dem haben wir die Suppe gründlich versalzen«, sagte er. »Oooh.« Er grunzte vergnügt. »Ich erinnere mich noch gut an die linke Gerade. Peng! Genau ans Kinn. Und der alte Rocky Dimsy knallt auf die Matte, wie ein ... wie ein Fels, ja genau wie ein Felsbrocken!« Er grinste breit. »Menschenskind, das war ein Abend, das war ein Abend«, sagte er. »Ob ich den Abend jemals vergesse?« Pole starrte Kelly mit gerunzelter Stirn an. Dann wandte er sich ab und sah wieder auf die eintönige Prärie hinaus. »Das frage ich mich auch«, murmelte er.
Kelly merkte, daß der Mann auf der anderen Seite des Ganges schon wieder den zugedeckten Maxo anstarrte. Er zog die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich, lächelte und nickte zu Maxo hinüber. »Das ist mein Kämpfer«, sagte er laut. Der Mann lächelte höflich und hielt eine Hand ans Ohr. »Mein Kämpfer«, sagte Kelly. »Battling Maxo. Schon mal von ihm gehört?« Der Mann starrte Kelly einen Augenblick lang an, bevor er den Kopf schüttelte. Kelly grinste. »Ja, er war einmal fast Meister im Halbschwergewicht«, erklärte er dem Mann. Der andere nickte höflich. Kelly stand impulsiv auf und überquerte den Mittelgang. Er klappte den Sitz vor dem Mann zurück und nahm ihm gegenüber Platz. »Ganz schön verdammt heiß«, sagte er. Der Mann lächelte. »Ja, das stimmt wirklich«, sagte er. »Hier draußen gibt's noch keine neuen Züge, was?« »Nein«, sagte der Mann. »Noch nicht.« »In Philly sind lauter neue«, sagte Kelly. »Da kommen mein Freund« – er nickte zu Pole hinüber – »und ich her. Und Maxo.« Kelly streckte die Hand aus. »Heiße übrigens Kelly«, sagte er. »Tim Kelly.«
Der Mann wirkte überrascht. Sein Händedruck war schwach. Nachdem Kelly seine Hand losgelassen hatte, rieb er sie unauffällig am Hosenbein ab. »Früher war ich als ›Steel‹ Kelly bekannt«, sagte Kelly. »Damals war ich noch selbst im Geschäft. Natürlich vorm Krieg. Ich war Halbschwergewichtler.« »Oh?« »Ja, ganz richtig. Den Namen ›Steel‹ habe ich bekommen, weil ich kein einzigesmal zu Boden gegangen bin. Nicht ein einzigesmal. Ich war einmal sogar an neunter Stelle in der Rangliste.« »Aha.« Der Mann wartete geduldig. »Mein ... Kämpfer«, sagte Kelly und wies mit dem Daumen auf Maxo. »Er ist auch Halbschwergewichtler. Wir haben heute abend einen Kampf in Maynard. Fahren Sie so weit, Mister?« »Ich ... nein«, sagte der Mann. »Nein, ich ... steige in Hayes aus.« »Oh.« Kelly nickte. »Da verpassen Sie aber was. Es wird bestimmt ein ganz prima Kampf.« Er atmete schnaubend aus. »Ja, er war einmal ... Vierter der Rangliste. Und jetzt ist er wieder auf dem Weg nach oben. Er ... äh ... hat Ende siebenundsiebzig Rocky Dimsy ausgeknockt. Vielleicht haben Sie davon in der Zeitung gelesen.« »Ich glaube nicht ...«
»Oh. Hmmm.« Kelly nickte nochmals. »Na, es war jedenfalls in allen Blättern an der Ostküste. Sie wissen schon. New York, Boston, Philly. Ja, es hat wirklich in allen gestanden. Die größte Boxüberraschung des Jahres.« Er kratzte sich an der kahlen Stelle am Hinterkopf. »Er ist ein B-zwei, wissen Sie, aber – das bedeutet, daß er das zweite Modell ist, das Mawling herausgebracht hat«, erklärte er, als er den verständnislosen Blick des anderen sah. »Das war damals ... Augenblick mal ... siebenundsechzig, nehme ich an. Ja, siebenundsechzig.« Er schmatzte mit den Lippen. »Ja, das war ein gutes Modell«, sagte er. »Das beste. Maxo ist noch immer gut in Form.« Er zuckte verächtlich mit den Schultern. »Für die neuen hab' ich nicht viel übrig«, sagte er. »Sie wissen schon. Die neuen aus Aluminiumstahl und mit den ganzen Kinkerlitzchen.« Der Mann schien nicht zu begreifen, wovon die Rede war. »Zu ... windig konstruiert. Nichts ...« Kelly ballte seine riesigen Fäuste vor der Brust und schnitt eine Grimasse. »Einfach nichts Solides. Nein. Solche wie Maxo baut Mawling schon lange nicht mehr.« »Ja«, sagte der Mann. Kelly lächelte. »Richtig«, sagte er. »Früher war ich selbst im Ge-
schäft. Damals, als es noch genug Männer gab. Vor dem Verbot.« Er schüttelte den Kopf und lächelte dann rasch. »Na«, sagte er, »jedenfalls nehmen wir es mit diesem B-sieben auf. Ich weiß nicht mal, wie er heißt«, fügte er lachend hinzu. Sein Gesichtsausdruck wurde für kurze Zeit ernst und er schluckte. »Wir nehmen es mit ihm auf«, sagte er. Später, als der Mann ausgestiegen war, kehrte Kelly auf seinen Platz zurück. Er legte die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz, stützte den Kopf auf die Rückenlehne und deckte sich die Zeitung übers Gesicht. »Nur ein bißchen pennen«, sagte er. Pole grunzte. Kelly saß nach rückwärts gelehnt und starrte die Zeitung vor seinen Augen an. Neben sich spürte er Maxo leicht schwanken. Er hörte Maxos Gelenke quietschen. »Schon in Ordnung«, murmelte er vor sich hin. »Was?« fragte Pole. Kelly schluckte trocken. »Ich hab' nichts gesagt«, antwortete er. Als sie am gleichen Abend um sechs Uhr aus dem Zug stiegen, schoben sie Maxo durch den Bahnhof auf die Straße hinaus. Auf der anderen Straßenseite stand ein Taxi, dessen Fahrer sie anrief.
»Wir haben kein Geld für Taxis«, sagte Pole. »Wir können ihn nicht einfach durch die Straßen schieben«, sagte Kelly. »Außerdem wissen wir nicht einmal, wo das Kruger-Stadion ist.« »Und mit was sollen wir dann essen?« »Nach dem Kampf haben wir massenhaft Geld«, sagte Kelly. »Dann kaufe ich dir ein zehn Zentimeter dickes Steak.« Pole seufzte, als er Kelly half, den schweren Maxo über die Straße zu schieben, die noch immer so heiß war, daß die Hitze durch ihre Schuhsohlen drang. Kelly schwitzte sofort wieder und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. »Großer Gott, wie halten es die Leute hier draußen überhaupt aus?« fragte er. Als sie Maxo im Wagen verstauten, fiel das eine Rad wieder ab und Pole gab ihm wütend einen Fußtritt. »Was soll das?« fragte Kelly. »Ach, Sch...« Pole stieg ein und ließ sich in den warmen Sitz fallen, während Kelly über den weichen Asphalt lief und das Rad aufhob. »Um Gottes willen«, murmelte Kelly, als er ins Taxi kletterte, »was ist plötzlich in dich ...?« »Wohin, Chef?« fragte der Fahrer. »Kruger-Stadion«, sagte Kelly. »Schon da.« Der Taxifahrer drückte auf den Rotorknopf, und der Wagen glitt fast lautlos davon.
»Was, zum Teufel, ist eigentlich in dich gefahren?« flüsterte Kelly Pole zu. »Wir warten über ein verdammtes, halbes Jahr, bis wir endlich einen Kampf bekommen, aber du hast von Anfang an nur Fracksausen.« »Schöner Kampf«, sagte Pole. »Maynard, Kansas – die Boxmetropole der Nation.« »Aber es ist doch immerhin ein Start, wie?« sagte Kelly. »Davon leben wir wieder eine Weile, nicht wahr? Davon können wir Ersatzteile für Maxo bezahlen, was? Und wenn man es recht überlegt, könnte daraus sogar ...« Pole warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich verstehe dich einfach nicht«, sagte Kelly leise. »Er ist unser Kämpfer. Warum schreibst du ihn also ab? Willst du nicht, daß er gewinnt?« »Ich bin ein erstklassiger Mechaniker, Steel«, sagte Pole mit seiner unecht geduldigen Stimme. »Ich habe keine schönen Wunschträume wie andere Leute. Wir haben hier einen richtigen Schrotthaufen – keinen Bsieben. Alles hängt von der Konstruktion ab, Steel, das mußt du doch allmählich wissen. Maxo hat Glück, wenn er den Ring mit dem Kopf auf den Schultern verläßt.« Kelly wandte sich wütend ab. »Nur ein B-sieben Anfänger«, murmelte er vor sich hin. »Voller Kinderkrankheiten. Voll davon.«
»Klar, klar«, sagte Pole. Sie sahen beide schweigend hinaus. Maxo saß zwischen ihnen, so daß seine breiten Stahlschultern ihre berührten. Kelly starrte die Gebäude am Straßenrand an und ballte dabei krampfhaft die Fäuste, als bereite er sich selbst auf fünfzehn Runden vor. »Haben Sie diesen Maynard Flash schon mal gesehen?« fragte Pole den Fahrer. »Den Flash? Darauf können Sie wetten. Mann, das ist ein Kämpfer, der seinen Weg macht. Hat die letzten sieben hintereinander durch K.o. gewonnen. Der ist bald ganz oben an der Spitze, das dürfen Sie mir glauben. Heute abend steht er übrigens wieder im Ring. Tritt gegen einen schrottreifen B-zwei von der Ostküste an, habe ich gehört.« Der Fahrer kicherte. »Flash bringt ihn um«, sagte er. Kelly starrte den Hinterkopf des anderen an und biß unwillkürlich die Zähne zusammen. »Ja?« fragte er heiser. »Mann, der andere ...« Der Fahrer schwieg plötzlich und drehte sich kurz um. »He Sie sind doch nicht ...«, begann er und sah wieder nach vorn. »He, das habe ich nicht gewußt, Mister«, sagte er. »Das war nur ein Spaß.« »Schon gut«, sagte Pole. »Sie haben recht.« Kelly drehte ruckartig den Kopf nach ihm um und starrte ihn wütend an.
»Halt's Maul«, sagte er leise. Er ließ sich in die Polster zurücksinken und sah wieder aus dem Fenster. »Ich kaufe ihm eine Dose Schmierfett«, sagte er, nachdem sie um den nächsten Block gefahren waren. »Herrlich«, meinte Pole. »Dann essen wir eben das Werkzeug.« »Geh zum Teufel«, sagte Kelly. Das Taxi hielt vor dem ziegelverkleideten Haupteingang des Stadions, und sie hoben Maxo auf den Gehsteig hinaus. Während Pole ihn zur Seite kippte, ging Kelly in die Knie und steckte das Rad wieder in die Halterung. Dann bezahlte Kelly den genauen Fahrpreis, ohne ein Trinkgeld zu geben, und die beiden schoben Maxo vor sich her auf den rückwärtigen Eingang zu. »Da, sieh dir das an«, sagte Kelly und nickte zur Reklamefläche am Haupteingang hinüber. Dort war der dritte Kampf des Abends angekündigt: MAYNARD FLASH (B 7, HS) gegen BATTLING MAXO (B 2, HS)
»Großartige Sache«, sagte Pole. Kellys Grinsen verschwand schlagartig. Er schien etwas sagen zu wollen, hielt aber dann doch den Mund. Maxo quietschte vernehmlich, als sie ihn weiterrollten und am Ende der Sackgasse die Stufen zum Eingang hinaufschleppten. Das lockere Rad fiel wieder ab und polterte über die Betonstufen nach unten. Keiner der beiden Männer sagte ein Wort. Drinnen war es noch heißer. Die stickige Luft bewegte sich nicht. »Hol das Rad«, sagte Kelly und ließ Pole mit Maxo allein, marschierte den düsteren Korridor entlang. Pole lehnte Maxo gegen die Wand und ging wieder hinaus. Kelly blieb vor einer halbverglasten Bürotür stehen und klopfte an. »Ja«, sagte eine mürrische Stimme von innen. Kelly trat ein und nahm seinen Hut ab. Hinter dem Schreibtisch saß ein dicker kahlköpfiger Mann der jetzt langsam den Kopf hob. Auf seiner Glatze standen große Schweißperlen. »Ich bin Battling Maxos Eigentümer«, sagte Kelly lächelnd. Er streckte seine breite Pranke aus, aber der Mann ignorierte sie. »Hab' mich schon gefragt, ob Sie überhaupt rechtzeitig kommen«, sagte der Mann, der Mr. Waddow hieß. »Ist Ihr Kämpfer in anständiger Verfassung?«
»In bester«, antwortete Kelly fröhlich. »In allerbester. Mein Mechaniker – er ist wirklich erstklassig – hat ihn vor unserer Abreise in Philly gründlich überholt.« Der Mann schien keineswegs überzeugt zu sein. »Er ist in guter Verfassung«, sagte Kelly. »Sie haben Glück, daß Sie mit Ihrem B-zwei noch einen Kampf bekommen«, stellte Mr. Waddow fest. »Wir nehmen schon seit über zwei Jahren nur Bvierer und höher. Aber der eine, mit dem wir ursprünglich abschließen wollten, ist bei einem Verkehrsunfall beschädigt worden.« Kelly nickte. »Na, deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Maxo ist in bester Verfassung. Er hat Rocky Dimsy vor einem Jahr oder so ähnlich im Madison Square Garden K.o. geschlagen.« »Ich will einen guten Kampf«, sagte der dicke Mann. »Sie bekommen einen guten«, beteuerte Kelly und spürte gleichzeitig, daß seine Bauchmuskeln sich verkrampften. »Maxo ist in guter Verfassung. Dafür garantiere ich. Er ist in bester Verfassung.« »Ich will nur einen guten Kampf.« Kelly starrte den Dicken einen Augenblick lang an. »Haben Sie einen leeren Raum, den wir benützen können?« erkundigte er sich dann.
»Dritte Tür rechts«, sagte Mr. Waddow. »Ihr Kampf ist um acht Uhr dreißig.« Kelly nickte. »Okay.« »Seien Sie pünktlich«, sagte Mr. Waddow und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Ah ... wie steht es mit ...?« begann Kelly zögernd. »Sie kriegen Ihr Geld, nachdem Sie einen anständigen Kampf geliefert haben«, unterbrach Mr. Waddow ihn. Kellys Grinsen erlosch. »Okay«, sagte er. »Dann sehen wir uns also später.« Als Mr. Waddow keine Antwort gab, drehte er sich nach der Tür um. »Knallen Sie die Tür nicht zu«, sagte Mr. Waddow. Kelly schloß sie so leise wie möglich. »Los, komm mit«, sagte er zu Pole, der draußen auf ihn wartete. Sie schoben Maxo in den leeren Raum. »Was hältst du von einer kurzen Überprüfung?« fragte Kelly. »Und wie steht es mit meinem Magen?« knurrte Pole. »Ich hab' schon seit sechs Stunden nichts mehr zu essen gekriegt.« Kelly seufzte schwer. »Okay, dann gehen wir eben gleich«, sagte er. Sie stellten Maxo in einer Ecke ab. »Eigentlich müßten wir hier abschließen können«, meinte Kelly.
»Warum? Glaubst du, daß ihn jemand stehlen will?« »Er ist wertvoll«, sagte Kelly. »Klar, er hat Altertumswert«, sagte Pole. Kelly mußte die Tür dreimal zuknallen, bevor der Schloßriegel einschnappte. Er wandte sich ab und schüttelte dabei besorgt den Kopf. Als sie den Korridor entlanggingen, warf er einen Blick auf sein Handgelenk und sah zum fünfzigstenmal den weißen Streifen, wo seine verpfändete Uhr gewesen war. »Wie spät ist es?« fragte er. »Sechs Uhr fünfundzwanzig«, antwortete Pole. »Dann müssen wir uns beeilen«, sagte Kelly. »Ich möchte, daß du ihn vor dem Kampf gründlich überprüfst.« »Wozu soll das gut sein?« fragte Pole. »Hast du mich gehört?« sagte Kelly wütend. »Klar, klar«, murmelte Pole. »Er macht diesen B-sieben-Hundesohn fertig«, sagte Kelly und öffnete dabei kaum die Lippen. »Klar tut er das«, stimmte Pole zu. »Mit den Zähnen.« »Schönes Kaff«, meinte Kelly enttäuscht, als sie das Stadion wieder durch den Seiteneingang betraten. »Ich hab' dir gleich gesagt, daß es hier kein richtiges Schmiermittel gibt«, stellte Pole fest. »Warum sol-
len sie auch welches auf Lager haben? B-zweier sind praktisch ausgestorben. Maxo ist wahrscheinlich der einzige in tausend Meilen Umkreis.« Kelly ging rasch auf den Abstellraum zu, riß die Tür auf, blieb vor Maxo stehen und nahm die Hülle ab. »Los, an die Arbeit«, sagte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Pole seufzte müde, zog sich die verknitterte, blaue Jacke aus und legte sie auf die Bank an der Wand. Dann holte er einen kleinen Tisch heran, stellte ihn neben Maxo auf und rollte schließlich seine Hemdsärmel nach oben. Kelly nahm den Hut ab, zog sich ebenfalls die Jacke aus und sah schweigend zu, wie Pole die Schraube löste, die Maxos Werkzeugbehälter verschloß. Er stand mit den Händen in den Hosentaschen daneben, während Pole nacheinander die Werkzeuge herausnahm und auf den kleinen Tisch legte. »Rost«, murmelte Pole. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Innenfläche des Werkzeugbehälters und hielt dann den Finger hoch. Von der Fingerspitze lösten sich kupferfarbene Rostflocken. »Los, weiter«, sagte Kelly irritiert. Er ließ sich auf der Bank nieder und beobachtete, wie Pole Maxos Brustplatten löste. Er starrte Maxos Löwenhaupt an. Wenn man die Spulen nicht sähe, dachte er wieder einmal, könnte man glauben, er sei tatsächlich echt.
Nur ein Blick ins Innere eines B-Kämpfers zeigte, daß er kein wirklicher Mensch war. Manchmal ließen sich die Leute sogar täuschen und schrieben Briefe an den Veranstalter, um sich zu beschweren, daß echte Männer benützt worden waren. Die Fleischtöne wirkten selbst von den Ringplätzen aus hundertprozentig echt. Mawling hatte ein eigenes Patent dafür. Kellys Gesicht entspannte sich, als er Maxo liebevoll zulächelte. »Guter Junge«, murmelte er. Pole schien nicht gehört zu haben, was er sagte. Kelly sah zu, wie der Mechaniker mit sicherer Hand einzelne Verbindungen und Schalter prüfte. »Ist er in Ordnung?« fragte er impulsiv. »Klar, ganz großartig«, sagte Pole. Er zog eine winzige Stahlmantelröhre aus ihrem Sockel. »Wenn die hier nicht durchbrennt«, fügte er hinzu. »Warum soll sie durchbrennen?« »Sie ist praktisch hinüber«, stellte Pole resigniert fest. »Aber das hab' ich dir schon nach dem letzten Kampf vor acht Monaten gesagt.« Kelly schluckte trocken. »Nach diesem Kampf kaufen wir ihm eine andere«, sagte er. »Fünfundsiebzig Dollar«, murmelte Pole, als sehe er das Geld auf grünen Schwingen davonflattern. »Sie hält bestimmt«, sagte Kelly mehr zu sich als zu Pole.
Pole zuckte mit den Schultern. Er steckte die Röhre in den Sockel zurück und drückte auf einige Knöpfe des Hauptsteuerpults. Maxo bewegte sich langsam. »Vorsicht mit dem linken Arm«, warnte Kelly. »Er braucht ihn später noch.« »Wenn er hier drin nicht funktioniert, funktioniert er dort draußen erst recht nicht«, sagte Pole. Er drückte auf einen Knopf und Maxos linke Faust beschrieb kleine, kreisende Bewegungen. Pole betätigte den Sicherheitsschalter, der Maxo daran hinderte, ebenfalls anzugreifen und trat wieder zurück. Als er Maxos Kinn mit einer rechten Geraden traf, zuckte der Arm des Roboters nach oben, um das Gesicht abzudecken. Maxos linkes Auge blitzte wie ein Rubin, der das Sonnenlicht reflektiert. »Wenn die Augenzelle versagt ...«, meinte Pole. »Das tut sie aber nicht«, sagte Kelly irritiert. Er sah zu, wie Pole wieder eine Gerade auf Maxos linker Gesichtshälfte landete. Dann kam der Arm nochmals ruckartig nach oben. Er quietschte. »Das reicht«, sagte er. »Es funktioniert. Jetzt kannst du den Rest versuchen.« »Im Ring kriegt er aber mehr als zwei Gerade an den Kopf«, wandte Pole ein. »Sein Arm ist in Ordnung«, sagte Kelly. »Nimm jetzt den Rest dran, hab' ich gesagt.« Pole zuckte mit den Schultern und aktivierte die
Beinkabel. Maxo setzte sich in Bewegung und schüttelte automatisch seine Räder ab. Dann stand er etwas unsicher in seinen schwarzen Stiefeln auf dem glatten Boden und wirkte wie ein geheilter Krüppel, der sich schrittweise vorantasten muß. Pole streckte den Arm aus, drückte auf den VOLLKnopf und sprang dann zurück, als Maxos Augenstrahlen sich auf ihn einspielten. Der Roboter kam langsam auf ihn zu und hielt beide Fäuste verteidigungsbereit vors Gesicht. »Verdammt noch mal«, murmelte Pole, »wahrscheinlich hören sie ihn noch in der letzten Reihe quietschen.« Kelly biß die Zähne zusammen. Er beobachtete, wie Pole einen linken Haken schlug, auf den Maxo mit einer ruckartigen Armbewegung reagierte. Er mußte schon wieder schlucken und schien in dem engen Raum Atembeschwerden zu haben. Pole wich geschickt zur Seite aus. Maxo folgte ihm unbeholfen und veränderte jedesmal die Richtung mit deutlich hörbarem Quietschen. »Oh, er ist prächtig in Form«, sagte Pole und blieb stehen. »Einfach prächtig.« Maxo kam mit erhobenen Fäusten auf ihn zu, aber Pole duckte sich nur und schlug auf den AUS-Knopf. Maxo blieb stehen. »Hör zu, Steel, wir müssen ihn auf Verteidigung
stellen«, sagte Pole. »Das ist die einzige Möglichkeit. Wenn wir ihn angreifen lassen, machte der andere Hackfleisch aus ihm.« Kelly räusperte sich. »Nein«, sagte er. »Warum benützt du nicht wenigstens deinen Kopf?« wollte Pole aufgebracht wissen. »Er ist nur ein B-zwei, der Teufel soll ihn holen. Er kommt sowieso nicht mehr heil aus dem Ring. Aber wir müssen wenigstens die Stücke retten.« »Sie wollen, daß er auf Angriff geschaltet ist«, erklärte Kelly ihm. »Das steht im Vertrag.« Pole wandte sich seufzend ab. »Warum gebe ich mir dann eigentlich noch Mühe mit ihm?« murmelte er. »Du mußt ihn noch mehr testen.« »Warum? Er ist so gut wie immer.« »Tust du endlich, was ich sage?« brüllte Kelly. Pole drehte sich wieder um und drückte auf einen Knopf. Maxos linker Arm schoß vor. Dann schien in seinem Innern etwas zu zerspringen und der Arm knallte dumpf gegen Maxos Körper. Kelly sprang erschrocken auf. »Mein Gott! was hast du angestellt!« rief er entsetzt. Er blieb neben Pole stehen, der eben den gleichen Knopf nochmals betätigte. Maxos Arm bewegte sich nicht. »Ich hab' dir doch gesagt, du sollst keinen Unsinn mit dem Arm machen!« brüllte Kelly. »Was, zum
Teufel, ist denn plötzlich in dich gefahren?« Seine Stimme überschlug sich mitten im Satz. Pole gab keine Antwort. Er nahm seinen Schraubenzieher und machte sich daran, die linke Schulterplatte zu lösen. »Wenn du den verdammten Arm ruiniert hast ...«, begann Kelly drohend. »Wenn ich ihn ruiniert habe!« knurrte Pole. »Hör zu, du blöder Trottel! Dieser Schrotthaufen hier läuft schon seit drei Jahren nur noch aus Zufall und mit Gottes Hilfe! Erzähl mir nichts von Pannen!« Kelly biß die Zähne zusammen. Seine Augen waren klein und hart. »Mach ihn auf«, sagte er. »Hunde ...«, murmelte Pole, während er die Schulterplatte abnahm. »Du kannst lange suchen, bis du einen anderen, gottverdammten Mechaniker findest, der diesen Dampfbagger in den letzten Jahren besser in Gang gehalten hätte. So leicht findest du keinen, das gebe ich dir schriftlich!« Kelly schwieg verbissen. Er blieb neben Pole stehen, der jetzt die gewölbte Platte auf den Tisch legte und in die entstandene Öffnung griff. Als Pole die Zugfeder berührte, zerbrach sie im oberen Drittel. Ein Bruchstück fiel heraus und rollte über den Boden davon. Pole wollte etwas sagen, hielt aber doch lieber den
Mund. Er starrte den leichenblassen Kelly unbeweglich an. Kelly sah zu ihm hinüber. »Bring es wieder in Ordnung«, sagte er heiser. Pole schluckte. »Steel, ich ...« »Bring es in Ordnung!« »Ich kann nicht! Die Feder ist schon seit ...« »Du hast sie kaputtgemacht! Jetzt reparierst du sie gefälligst!« Kelly hielt Poles Arm umklammert. Pole riß sich los. »Laß mich in Ruhe!« sagte er. »Was ist eigentlich in dich gefahren?« rief Kelly erbittert. »Bist du plötzlich übergeschnappt? Er muß repariert werden. Er muß einfach!« »Steel, er braucht eine neue Feder.« »Schön, dann hol sie doch!« »Sie haben keine hier, Steel«, sagte Pole. »Das hab' ich dir schon gesagt. Und wenn sie welche hätten, haben wir nicht die sechzehnfünfzig, die eine neue kostet.« »Mein Gott ...«, sagte Kelly. Seine Hand sank herab und er stolperte auf die Bank zu. Dort blieb er zusammengesunken sitzen und starrte den bewegungslosen Maxo an. Er hockte lange dort und starrte nur vor sich hin, während Pole ihn mit dem Schraubenzieher in der Hand beobachtete. Er sah, daß Kellys Brust sich
krampfhaft hob und senkte. Kellys Gesicht war ausdruckslos. »Wenn er nicht selbst zusieht«, murmelte Kelly schließlich. »Was?« Kelly hob den Kopf. Sein Gesichtsausdruck zeigte, daß er einen Entschluß gefaßt hatte. »Wenn er nicht selbst zusieht, müßte es klappen«, sagte er. »Wovon redest du überhaupt?« Kelly stand auf und knöpfte sich das Hemd auf. »Was hast du ...« Pole schwieg betroffen. Sein Unterkiefer sank herab. »Bist du verrückt?« fragte er. Kelly hatte das Hemd aufgeknöpft. Er zog es aus und legte es auf die Bank. »Steel, du spinnst völlig!« sagte Pole. »Das kannst du ... das darfst du nicht!« Kelly reagierte nicht. »Aber du ... Steel, du bist verrückt!« »Wenn wir keinen Kampf liefern, kriegen wir auch kein Geld«, sagte Kelly. »Aber ... der Kerl bringt dich um!« Kelly zog langsam das Unterhemd aus. Auf seiner breiten Brust wuchs rötliches Haar. »Das muß noch ab!« »Laß das, Steel«, sagte Pole. »Du ...« Er riß erschrocken die Augen auf, als Kelly sich
wieder auf die Bank setzte und seine Schuhe aufschnürte. »Sie lassen dich gar nicht in den Ring«, sagte Pole. »Du kannst dich nicht so verstellen, daß sie dich für ...« Er schwieg und trat einen Schritt vor. »Steel, um Gottes willen!« Kelly sah ausdruckslos zu ihm auf. »Du hilfst mir«, sagte er. »Aber sie ...« »Niemand weiß, wie Maxo aussieht«, sagte Kelly. »Und nur Waddow hat mich gesehen. Wenn er nicht selbst am Ring sitzt, ist alles in Ordnung.« »Aber ...« »Kein Mensch merkt einen Unterschied«, sagte Kelly. »Die B-zweier bluten auch.« »Unmöglich, Steel«, sagte Pole mit zitternder Stimme. Er holte tief Luft und wurde etwas ruhiger. Er setzte sich neben den massiven Iren auf die Bank. »Hör zu«, sagte er. »Ich habe eine Schwester an der Ostküste – in Maryland. Wenn ich ihr telegrafiere, schickt sie uns das Geld für die Rückfahrt.« Kelly stand auf und löste seinen Gürtel. »Steel, ich kenne einen Kerl in Philly, der seinen B-fünf billig verkaufen will«, sagte Pole verzweifelt. »Wir könnten das Geld auftreiben und ... Steel, um Gottes willen, das ist reiner Selbstmord! Der andere ist ein B-sieben! Kapierst du das nicht? Ein B-sieben! Der bringt dich um!«
Kelly zog Maxo die schwarze Hose aus. »Das sehe ich mir auf keinen Fall ruhig an, Steel«, sagte Pole. »Vorher gehe ich zu Waddow und ...« Er schwieg erschrocken, als Kelly sich blitzschnell nach ihm umdrehte und ihn mit einem Ruck zu sich hochriß. Kellys Griff war wie ein Schraubstock und seine Augen erinnerten Pole nicht mehr an den gutmütigen Iren, der sein Freund sonst gewesen war. »Du hilfst mir«, flüsterte Kelly heiser. »Du hilfst mir, sonst schlage ich dir den Schädel an der Wand ein.« »Aber der andere bringt dich um«, murmelte Pole. »Daran ist nichts zu ändern«, sagte Kelly. Mr. Waddow kam aus seinem Büro, als Pole den mit Maxos Hülle bedeckten Kelly zum Ring führte. »Weiter, weiter«, drängte Mr. Waddow. »Die Leute warten schon.« Pole nickte ruckartig und führte Kelly den Korridor entlang. »Wo ist der Besitzer?« rief Mr. Waddow hinter ihnen. Pole schluckte rasch. »Am Ring«, antwortete er. Mr. Waddow grunzte irgend etwas, und Pole hörte, daß die Bürotür wieder geschlossen wurde. Er seufzte erleichtert, obwohl er ein schlechtes Gewissen hatte.
»Ich hätte es ihm sagen sollen«, murmelte er. »Dann hätte ich dir den Schädel eingeschlagen«, sagte Kelly. Seine Stimme drang nur undeutlich durch die Hülle. Als sie um die Ecke bogen, hörten sie bereits das Murmeln der Zuschauer, die auf den nächsten Kampf warteten. Kelly spürte, daß ihm ein Schweißtropfen über die Schläfe lief. »Hör zu«, sagte er, »du mußt mich zwischen den Runden abfrottieren.« »Zwischen welchen Runden?« fragte Pole erbittert. »Du überstehst nicht mal die erste.« »Halt's Maul.« »Bildest du dir vielleicht ein, du hast es nur mit einem besonders zähen Gegner zu tun?« fragte Pole. »Du trittst gegen eine Maschine an! Weißt du nicht ...« »Halt's Maul, hab' ich gesagt.« »Du dämlicher ...« Pole schluckte. »Wenn ich dich trocken reibe, wissen es alle«, sagte er. »Die Leute haben schon seit Jahren keinen B-zwei mehr gesehen«, warf Kelly ein. »Wenn jemand fragt, sagst du einfach, ich habe ein Ölleck.« »Klar«, sagte Pole erbittert. Er biß sich auf die Unterlippe. »Steel, das ist völlig ausgeschlossen ...« Der letzte Teil des Satzes ging im allgemeinen Lärm unter, als sie plötzlich die Zuschauerreihen er-
reicht hatten und jetzt den schrägen Gang zum Ring hinunterstiegen. Kelly hielt die Knie steif und bewegte sich, wie Maxo sich an seiner Stelle bewegt hätte. Er holte tief Luft und atmete sehr langsam aus. Die Hitze lastete schwer auf ihm. Er hatte das Gefühl, auf dem schrägen Boden eines Ozeans aus Hitze und Lärm zu gehen. Einzelne Stimmen drangen durch die lautstarke Geräuschkulisse. »Den kannst du in einer Schachtel wieder mit nach Hause nehmen!« »Na, das ist doch tatsächlich der klappernde Maxo!« Und das unvermeidbare: »Schrotthaufen!« Kelly schluckte trocken und spürte dabei, wie sich sein Magen verkrampfte. Durstig, dachte er. Dann erinnerte er sich plötzlich wieder an die kleine Bar am Bahnhofsplatz in Kansas City. Die halbdunkle Nische, der kühle Luftstrahl des Ventilators in seinem Nacken, die eiskalte, vom Kondenswasser nasse Flasche in seiner warmen Hand. Er schluckte nochmals. Er hatte in der Stunde vor dem Kampf absichtlich nichts mehr getrunken. Je weniger er trank, desto weniger schwitzte er auch – das wußte er noch von früher her. »Vorsichtig.« Kelly spürte Poles Hand durch den Schlitz der Hülle hindurch. Der Mechaniker faßte ihn am Arm und hielt ihn zurück.
»Ringstufen«, sagte Pole aus dem Mundwinkel heraus. Kelly schob den rechten Fuß vor, bis die Stiefelspitze die unterste Stufe berührte. Dann setzte er den anderen Fuß darauf und tastete sich weiter. Nach der fünften Stufe drückte Pole wieder seinen Arm. »Seile«, flüsterte er. Es war nicht einfach, mit der Hülle durch die Seile zu klettern. Kelly wäre fast gestürzt, und Pfiffe und Buhrufe kamen wie Speere aus dem allgemeinen Lärm auf ihn zu. Kelly spürte die nachgiebige Matte unter seinen Füßen, dann schob Pole ihm einen Hokker in die Kniekehlen, und er setzte sich etwas ruckartig. »He, was hat der Ladebaum dort oben zu suchen?« rief ein Mann in der zweiten Reihe. Gelächter und Buhrufe. Dann nahm Pole die Hülle ab und faltete sie sorgfältig zusammen. Kelly starrte den Maynard Flash in der gegenüberliegenden Ecke an. Der B-sieben saß völlig ruhig. Seine Fäuste in den schweren Handschuhen hingen bewegungslos herab. Aus dem Schädel wuchs imitiertes Haar, das zu einer kurzen Bürstenfrisur gestutzt war. Das Gesicht erinnerte in seiner klassischen Ruhe an einen seelenlosen
Adonis. Das Spiel der nachgeahmten Muskeln an Körper, Armen und Beinen war fast vollkommen. Kelly bildete sich einen Augenblick lang ein, die Uhr sei zurückgedreht und er stehe wieder als junger Boxer einem ebenso jungen Gegner im Ring gegenüber. Er schluckte mühsam. Pole hockte neben ihm und gab vor, die Befestigung einer Armplatte zu überprüfen. »Steel, tu's nicht«, murmelte er. Kelly gab keine Antwort. Er starrte weiter den Maynard Flash an und dachte dabei an die hochentwickelte Elektronik seines Gegners, die dessen Reaktionszeit auf Bruchteile von Sekunden verkürzte. Sein Magen verkrampfte sich noch mehr, bis er das Gefühl hatte, dort zerre eine kalte Hand an Muskeln und Nervensträngen. Ein Mann, dessen rotes Gesicht über einem weißen Anzug leuchtete, kletterte in den Ring und griff nach dem Mikrophon, das zu ihm herabgelassen wurde. »Meine Damen und Herren, der dritte Kampf des Abends«, kündigte er an. »Zehn Runden im Halbschwergewicht. Unser Gast aus Philadelphia, ein Bzwei – Battling Maxo.« Die Zuschauer buhten und zischten. Sie ließen Papierflugzeuge fliegen und brüllten: »Schrott!« »Sein Gegner, unser B-sieben – Maynard Flash!« Beifallsrufe und wildes Klatschen. Der Mechaniker
drückte auf einen Knopf unter der linken Achsel, der B-sieben sprang auf und hob die Fäuste über den Kopf, als habe er den Kampf bereits gewonnen. Die Zuschauer lachten begeistert. »Nicht übel«, murmelte Pole. »Das hab' ich noch nie gesehen. Muß ein neuer Trick sein.« Kelly kniff die Augen zusammen. »Anschließend drei weitere Kämpfe«, sagte der Mann mit dem roten Gesicht und verließ den Ring. Es gab keinen Ringrichter. Die Gegner clinchten nie – sie waren entsprechend programmiert – und wurden nicht ausgezählt. Ein zu Boden gegangener B-neun, behauptete Mawlings Werbeabteilung, würde selbst nach einem Niederschlag wieder aufstehen, was lebhaftere und längere Kämpfe ermöglichen sollte. Pole gab vor, Kelly noch einmal zu überprüfen. »Steel, das ist deine letzte Chance«, flehte er. »Verschwinde«, sagte Kelly, ohne die Lippen zu bewegen. Pole starrte ihn einen Augenblick lang sprachlos an, holte dann tief Luft und richtete sich auf. »Bleib weg von ihm«, warnte er noch, bevor er durch die Seile kletterte. Flash stand in der anderen Ringecke und schlug die Handschuhe zusammen, als sei er wirklich ein junger Boxer, der es nicht erwarten konnte, daß der Kampf endlich begann. Kelly stand auf, und Pole zog
den Hocker fort. Kelly sah deutlich, daß der B-sieben seine Augen auf ihn einstellte. Er hatte ein eisiges Gefühl im Magen. Dann ertönte der Gong. Der B-sieben bewegte sich geschmeidig, mechanisch aus seiner Ecke und hielt die Fäuste auf traditionelle Art vor der Brust. Er kam rasch auf Kelly zu, der automatisch aus seiner Ecke in die Ringmitte ging, obwohl sein Verstand plötzlich auszusetzen schien. Er spürte, daß seine Fäuste sich hoben, als habe sie ein anderer für ihn bewegt, und seine Beine waren wie erstarrt. Er sah nur die hellen Augen, die genau auf ihn gerichtet waren. Sie trafen aufeinander. Der B-sieben schlug eine linke Gerade die Kelly abblockte. Er spürte die steinharte Faust des anderen durch den dicken Handschuh. Die Faust schoß wieder vor. Kelly warf den Kopf zurück und fühlte einen warmen Luftzug an seinem Mund. Seine Linke stieß nach vorn und traf die Nase des Gegners. Er hätte ebensogut einen Türknopf treffen können. Der Schmerz breitete sich bis zum Ellbogen aus, Kelly biß die Zähne zusammen und bemühte sich, seinen Gesichtsausdruck nicht zu verändern. Der B-sieben täuschte mit einer Linken, die Kelly beiseite schlug. Aber er konnte die Rechte nicht aufhalten, die blitzartig nachgeschlagen wurde und sei-
ne linke Schläfe streifte. Er zog den Kopf ein und der B-sieben schlug eine Linke, die ihn über dem Ohr traf. Kelly trat zurück und versuchte es mit einer Linken, die der B-sieben mühelos beiseite wischte. Dann hatte Kelly sich wieder erholt und traf Flashs Kinn voll mit einem rechten Haken. Sein Arm schmerzte sofort wieder heftig. Flash bewegte nicht einmal den Kopf. Statt dessen schlug er eine knallharte Linke, die Kelly an der rechten Schulter traf. Kelly bewegte sich unwillkürlich rückwärts. »Bringt ihm doch 'n Fahrrad!« hörte er jemand rufen. Dann fiel ihm ein, was Mr. Waddow gesagt hatte, und er griff wieder an. Eine Linke traf ihn unter dem Herzen und er spürte den Schlag am ganzen Körper. Er holte keuchend Luft und wehrte sich mit einer krampfartigen Linken, die nochmals Flashs Nase traf. Auch diesmal nur Schmerzen, aber keine Wirkung. Kelly wich zurück und stolperte, als ihn eine harte Rechte hoch an der Brust traf. Er trat noch einen Schritt zurück. Der Bsieben traf wieder an der Brust. Kelly verlor das Gleichgewicht und mußte deshalb weiter ausweichen. Die Zuschauer buhten. Der B-sieben kam völlig geräuschlos heran. Kelly fand sein Gleichgewicht wieder und blieb stehen. Er schlug eine harte Rechte, die ihr Ziel verfehlte. Dadurch wurde er mitgerissen und Flashs
Linke traf seinen rechten Oberarm. Der Arm schien wie gelähmt zu sein. Als Kelly noch mit zusammengebissenen Zähnen Luft holte, brachte Flash eine Rechte, die Kellys Magen traf. Kelly spürte, daß er keine Luft mehr bekam. Seine Rechte streifte nur Flashs Backe, ohne Wirkung zu zeigen. Flashs Augen blitzten. Als der B-sieben wieder zum Angriff überging, wich Kelly zur Seite aus, so daß sein Gegner ihn kurz aus den Augen verlor. Kelly befand sich außer Reichweite und holte tief Luft. »Schmeißt den Schrotthaufen 'raus!« brüllte ein Mann. Kelly atmete keuchend. Er schluckte rasch und griff wieder an, als Flashs Augen sich wie zuvor auf ihn eingestellt hatten. Er kam näher, als hoffe er, die blitzschnellen Reaktionen des anderen dadurch eher überwinden zu können und schlug einen harten Körperhaken. Der B-sieben hob die linke Faust, und Kellys Schlag wurde durch ein stahlhartes Handgelenk blockiert. Auch Kellys Linke kam nicht ans Ziel, aber Flash revanchierte sich sofort mit einer Linken, die Kelly wieder den Atem nahm. Kellys nächste Rechte berührte Flashs steinharte Brust kaum. Er stolperte rückwärts und der B-sieben folgte unerbittlich. Er schlug verzweifelt um sich, aber der B-sieben blok-
kierte alle seine Schläge und erwiderte jeden mit maschinengleicher Präzision. Kellys Kopf schnappte immer wieder nach hinten. Er wollte ausweichen und sah die Rechte auf sich zukommen. Er konnte sie nicht ablenken. Die Gerade traf Kelly wie ein stählerner Rammbock. Er sah Sterne vor den Augen und spürte einen stechenden Schmerz, der seinen Kopf durchzuckte. Über dem Ring schien eine schwarze Wolke zu schweben. Als er rückwärts taumelte, ging sein erstickter Schrei im Johlen der Zuschauer unter. Aus Mund und Nase tropfte hellrotes Blut, das ebensogut wie die Farbe wirkte, die sonst bei B-Kämpfern benutzt wurde. Die Seile hielten seinen Sturz auf und drückten sich tief in seinen Rücken. Kelly blieb in ihnen hängen. Sein rechter Arm baumelte hilflos nach unten, der linke versuchte das Gesicht zu schützen. Er blinzelte, um wieder besser sehen zu können. Ich bin ein Roboter, dachte er, ein Roboter. Flash kam heran, schlug eine harte Rechte gegen Kellys Brust und unmittelbar darauf eine Linke in den Magen. Kelly klappte zusammen und rang nach Luft. Eine Rechte traf seinen Kopf wie ein Schmiedehammer und warf ihn wieder in die Seile. Die Zuschauer kreischten. Kelly erkannte den Maynard Flash nur noch undeutlich. Er spürte einen weiteren Schlag, der seine
Brust wie eine Keule traf. Er schlug verzweifelt eine Linke, die der B-sieben achtlos beiseite wischte. Wieder eine harte Rechte gegen Kellys Schulter. Er hob die linke Faust und schwächte einen anderen Schlag ab, der auf sein Kinn zielte. Die nächste Rechte traf seinen Magen. Er krümmte sich. Eine Rechte wie ein Hammerschlag warf ihn in die Seile zurück. Er schmeckte heißes, salziges Blut im Mund, und das Toben der Menge schien ihn zu verschlingen. Bleib stehen! brüllte er sich selbst an. Bleib stehen, Gott verdamm dich! Der Ring vor ihm schwankte wie dunkles, stürmisches Wasser. Kelly raffte sich noch einmal auf und schlug so hart wie möglich nach der großen, schönen Gestalt, die über ihm aufragte. In seinem Handgelenk knackte irgend etwas und ein brennender Schmerz zuckte durch den ganzen Arm. Sein erstickter Schrei verhallte ungehört. Sein Arm sank herab, seine Linke hing ebenfalls unten, die Zuschauer brüllten und kreischten, Flash solle endlich Schluß machen. Jetzt lagen nur noch Zentimeter zwischen ihnen. Der B-sieben deckte Kelly mit einem Schlaghagel ein. Kelly stolperte und zuckte unter den Schlägen zusammen. Sein Kopf schwankte von einer Seite zur anderen. Blut lief in breiten, roten Streifen über sein Gesicht. Sein rechter Arm baumelte wie ein totes Stück Holz an seiner Seite. Er wurde in die Seile ge-
worfen, prallte dort ab und fiel wieder in sie zurück. Er konnte nichts mehr sehen. Er hörte nur das Kreischen der Menge und das dumpfe Geräusch, mit dem Flashs Handschuhe ihr Ziel fanden. Bleib stehen, dachte er. Ich muß auf den Beinen bleiben. Er senkte den Kopf und zog die Schultern hoch, um sich dadurch etwas zu schützen. So stand er sieben Sekunden vor dem Gong, als eine stahlharte Rechte seine Schläfe traf und ihn auf die Matte warf. Er blieb liegen und rang nach Atem. Dann wollte er aufstehen und merkte plötzlich, daß er nicht mehr konnte. Er fiel wieder nach vorn und blieb auf der warmen Matte liegen. Sein Kopf schien zerspringen zu wollen. Er hörte die Buhrufe und das Zischen der unzufriedenen Menge. Als Pole ihm endlich aufhelfen konnte, um ihm die Hülle überzustreifen, waren die Mißfallensäußerungen der Zuschauer so laut, daß Kelly Poles Stimme nicht mehr hörte. Er spürte nur die große Hand seines Freundes, die ihn unter der Hülle am Arm festhielt, aber er verlor trotzdem das Gleichgewicht, als er durch die Seile klettern mußte und wäre auf den Stufen fast nochmals gefallen. Seine Knie gaben plötzlich wie Gummi nach. Bleib auf den Beinen! Sein Gehirn murmelte noch immer die gleichen Worte. In dem leeren Raum brach er zusammen. Pole wollte ihn auf die Bank heben, hatte aber allein nicht
die Kraft dazu. Er legte schließlich seine blaue Jacke zusammen, schob sie Kelly unter den Kopf und kniete selbst neben ihm nieder, um ihm das Blut vom Gesicht zu tupfen. »Du blöder Hund«, murmelte er immer wieder mit dünner, zittriger Stimme. »Du blöder Hund.« Kelly hob die linke Hand und schob Poles Arm beiseite. »Geh ... das Geld ... holen«, keuchte er heiser. »Was?« »Das Geld!« flüsterte Kelly. »Aber ...« »Jetzt!« Kellys Stimme war kaum hörbar. Pole richtete sich auf und starrte Kelly einen Augenblick lang verständnislos an. Dann drehte er sich um und ging wortlos hinaus. Kelly blieb auf dem Boden liegen, holte stöhnend Luft und atmete keuchend aus. Er konnte seine rechte Hand nicht bewegen und er wußte, daß sie gebrochen war. Er spürte, daß er aus Nase und Mund blutete. Sein Körper zitterte vor Schmerzen. Einige Sekunden später richtete er sich mühsam auf dem linken Ellbogen auf und drehte den Kopf, obwohl seine Nackenmuskeln bei dieser Bewegung heftig schmerzten. Als er sah, daß Maxo in Ordnung war, streckte er sich wieder aus. Ein leises Lächeln zog seine Mundwinkel nach oben.
Als Pole zurückkam, hob Kelly mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Pole blieb vor ihm stehen und ging in die Knie. Er tupfte wieder das Blut ab. »Hast du das Geld?« flüsterte Kelly heiser. Pole holte langsam tief Luft. »Red schon!« Pole schluckte. »Die Hälfte«, sagte er. Kelly starrte ihn verständnislos an. Seine Lippen bewegten sich lautlos, seine Augen blickten ungläubig zu Pole auf. »Die eine Runde ist ihm keine fünfhundert wert, hat er gesagt.« »Was soll das heißen?« Kellys Stimme versagte. Er wollte sich aufrichten und stützte sich dabei auch auf die rechte Hand. Dann sank er mit einem erstickten Schrei zurück. Sein Gesicht war kreidebleich. Er drückte den Kopf fest gegen Poles Jacke, seine Augen waren geschlossen. »Das kann er ... das kann er nicht tun«, keuchte er. Pole fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Steel, wir ... uns bleibt nichts anderes übrig. Er hat ein halbes Dutzend Schlägertypen bei sich im Büro. Ich kann nicht ...« Er senkte den Kopf. »Und wenn du bei ihm auftauchst, weiß er sofort, was du getan hast. Und dann ... nimmt er uns vielleicht sogar die zweihundertfünfzig wieder ab.«
Kelly lag auf dem Rücken und starrte die nackte Glühbirne über sich an. Seine Brust hob und senkte sich krampfhaft. »Nein«, murmelte er. »Nein.« Er blieb noch lange schweigend liegen. Pole holte etwas Wasser, gab Kelly zu trinken und wusch ihm das Gesicht. Er öffnete seinen kleinen Koffer und verpflasterte Kellys Gesicht. Er legte Kellys rechten Arm in eine Schlinge. Eine Viertelstunde später sprach Kelly wieder. »Wir fahren mit dem Bus zurück«, sagte er. »Was?« fragte Pole. »Wir fahren mit dem Bus«, sagte Kelly langsam. »Das kostet nur sechsundfünfzig Dollar.« Er schluckte und bewegte sich. »Dann haben wir fast zwei Hunderter übrig. Davon kaufen wir ihm eine ... eine neue Zugfeder und eine ... Augenzelle und ...« Er blinzelte und schloß kurz die Augen, als der Raum zu verschwimmen schien. »Und Schmiermittel«, fügte er noch hinzu. »Ganze Mengen, bis er wieder ... so gut wie neu ist.« Kelly sah zu Pole auf. »Dann haben wir es geschafft«, sagte er. »Maxo ist wieder gut in Form, und wir besorgen ihm ein paar anständige Kämpfe.« Er schluckte und atmete schwer. »Er braucht nur eine kleine Überholung. Neue Feder, neue Augenzelle. Das bringt ihn wieder in Form. Dann zeigen wir den
Hundesöhnen, was ein B-zwei kann. Der gute, alte Maxo zeigt es ihnen. Stimmt's?« Pole sah auf den großen Iren herab und seufzte. »Klar, Steel«, sagte er.
RON GOULART
Kredit Der Nebenausgang des Schuldgefängnisses öffnete sich, und Gabe Fenner trat ins Freie. Vor ihm ragte Greater Los Angeles auf, heute sogar ohne Smog und ausgesprochen stattlich. Diesmal hatte er nur sieben Wochen abgesessen, so daß ihn der Verkehrslärm weniger als sonst erschütterte. Fenner nahm eine Wegwerfpfeife aus der Tasche seines neuen Anzugs und zündete sie im Weitergehen an. Es war kurz vor zehn Uhr morgens. Carol arbeitete um diese Zeit, und ihr Sohn saß drüben im Sektor 24 in der Schule. Fenner beschloß, vom Gefängnis aus zu Fuß nach Hause zu gehen. Das tat er oft. Er hörte Schritte hinter sich, dann fiel der Schatten eines schwebenden Kreuzers über ihn. Fenner sog heftig an seiner Pfeife und ging etwas langsamer. »Ich habe mein Wort gehalten«, sagte eine etwas blechern klingende Stimme hinter seinem Rücken. »Das tue ich immer.« Fenner zog leicht die Schultern hoch. Er ging noch langsamer. Über sich sah er einen Kreuzer der Greater Los Angeles Kreditgenossenschaft in die Höhe steigen und allmählich verschwinden.
»Gehst du nach Hause, Gabe? Dann begleite ich dich ein Stück weit.« Fenner sah angestrengt geradeaus. »Ich spiele auch gut Siebzehn-und-vier«, sagte die untersetzt wirkende Gestalt. »Aber niemand kann dauernd gewinnen.« Der Mann neben Fenner trug den hellgelben Anzug, den die meisten Androiden der Kreditgenossenschaft bevorzugten, und einen karierten Hut ohne Krempe, der schräg über dem linken Ohr saß. »Hör zu«, sagte Fenner und blieb stehen. Der Androide nahm seinen Hut ab und legte eine Hand auf seine dunklen, welligen Haare. »Du darfst mich ruhig anrempeln, Gabe. Ich mag Spötterei und Neckerei. Bin für jeden Spaß zu haben. Ich bin eben ein bißchen verspielt.« »Hör zu, Escabar«, sagte Fenner. Eine der Metallpalmen am Straßenrand knarrte seltsam im Wind, und Fenner sah kurz zu ihr auf. »Laß mich in Ruhe.« »Ich wollte nur nachsehen, ob du heil herausgekommen bist. Du gehörst zu meinen Favoriten«, erklärte Escabar ihm. »Dort drinnen bekommt mich keiner mehr zu Gesicht.« Escabar warf seinen Hut hoch und fing ihn wieder auf. »Ich wette tausend Dollar mit dir. Meinetwegen sogar zwei zu eins.«
»Wir haben gespielt«, sagte Fenner. »Und ich habe gewonnen. Okay. Ich schulde dir auf diese Weise meine Freiheit. Aber andererseits habe ich dich nicht dazu gezwungen, in meiner Zelle Karten zu spielen.« »Ich mußte aber«, sagte Escabar. »Das ist mein einziges Vergnügen. Wenn einer meiner Favoriten in der Klemme steckt, werde ich immer verspielt.« Der Hut drehte sich auf seinem Zeigefinger. »Ich bin jetzt schon seit fast zwanzig Jahren bei der Kreditgenossenschaft, Gabe.« »Das weiß ich alles.« »Ich habe es so weit gebracht, wie man es überhaupt bringen kann, ohne zu den Insidern zu gehören. Deshalb habe ich Privilegien. Das ist ganz nützlich, wenn ich mit meinen Favoriten wette.« »Du hast alle meine Schulden streichen lassen«, sagte Fenner. »Das ist prima. Carol hätte ein halbes Jahr lang arbeiten müssen, um mich aus dem Schuldgefängnis freizukaufen.« »Bei ihrem Verdienst im Schreibzimmer sogar ein ganzes Jahr.« Escabar lachte. »Sei also froh, daß du zu meinen Favoriten gehörst, und daß ich persönliches Interesse an deiner Zahlungsfähigkeit habe.« »Such dir einen anderen Favoriten. Ich habe dich niemals um einen Gefallen gebeten.« »Wunderbar, ausgezeichnet«, sagte Escabar. »Nur
weiter so. Was ich an dir bewundere, Gabe, ist deine Art, mich wütend anzufahren. Da ich so verspielt bin, macht mir das Spaß. Ich mag dich natürlich, weil du immer wieder in die Klemme gerätst. Du bist ein geborener Schuldenmacher. Ich freue mich schon darauf, daß unser Verhältnis noch lange Jahre fortbestehen wird. Und ich glaube, daß dein Sohn Michael dir nachschlägt.« »Das ist der gleiche Unsinn, mit dem die Erziehungsmaschinen im Schuldgefängnis programmiert sind. Sie behaupten auch immer, ich besäße einen natürlichen Hang zum Schuldenmachen.« Fenner schüttelte den Kopf. »Eine der großen Gefahren unseres Zeitalters«, sagte Escabar. »Es ist so leicht, etwas anschreiben zu lassen, alles auf Kredit zu kaufen.« »Na, jedenfalls siehst du mich nie wieder.« Escabar summte leise. »Viel Spaß auf dem Nachhauseweg, Gabe.« Fenner ging allein weiter. An der nächsten Straßenecke sah er einen Zeitungsstand. Er nahm seine erneuerte GLA-Kreditkarte aus der Tasche, ließ die Zeitung anschreiben. Die Türklinke ihres Zweizimmerappartements löste sich unter seinen Fingern. Fenner konnte sie nicht wieder befestigen, brachte die Tür aber trotzdem ir-
gendwie auf. Er legte die Klinke auf den Tisch und setzte sich ans Visorphon. Er wollte seine Frau und dann den Hausmeister anrufen. Er wählte Carols Büronummer, und auf dem Bildschirm erschienen die Leuchtbuchstaben: Rechnung sofort bezahlen. Fenner drückte aus Versehen auf den Knopf, mit dem man eine aufgeschlüsselte Rechnung verlangte. Detaillierte Rechnungen dieser Art kosteten zwei Dollar extra. Sie schuldeten der Visorphongesellschaft dreiundzwanzig Dollar. Fenner schob seine neue Kreditkarte in den Zahlschlitz am Visorphon. Er brauchte sich deswegen keine Sorgen zu machen. Heute morgen waren tausend Dollar auf sein Konto bei der Greater Los Angeles Kreditgenossenschaft eingezahlt worden. Das war nur ein kleiner Teil des Einsatzes in dem Pokerspiel gewesen, zu dem er sich von Escabar hatte beschwatzen lassen. Hätte er jedoch verloren, wären weitere drei Monate im Schuldgefängnis fällig gewesen. Escabar ging gern solche Wetten ein. Aber Fenner würde ihm nie wieder Gelegenheit dazu geben. Keine Risiken mehr. Die Zentrale Schreibstelle hatte Carol zur Arbeit in eine Firma für Raumfahrtzubehör im Sektor Gardena geschickt. Er brauchte vier Minuten, bis er endlich zu ihr vordrang. Carol war schlank, beinahe unterernährt, etwa
dreißig. Sie hatte blonde Haare und große, graue Augen. Sie lächelte Fenner auf dem Bildschirm zu. »Escabar hat also wirklich Wort gehalten und dich freigelassen.« »Escabar hält immer sein Wort. Wie geht es dir?« »Die Schreibmaschine hier spricht nicht sonderlich gut auf mein Diktat an. Heute hat sie bisher nur den Anfang des Ancient Mariner getippt.« »Warum hast du die Visorphonrechnung nicht bezahlt?« »Ich habe das Geld gebraucht, um den Kreuzer reparieren zu lassen.« »Was war daran kaputt?« »Keine Ahnung, die Stoßstangen sind immer abgefallen. Ich muß jetzt gehen, Gabe. Wir sehen uns um fünf.« Als nächstes rief er Rasmussen an, der zum Instandhaltungskomitee ihres Wohnturms gehörte. Der kahlköpfige Mann antwortete: »Lesen Sie Anhang drei, Abschnitt eins, Ihres auf neuesten Stand gebrachten Mietvertrags durch, Mister Fenner. Türklinken gehören jetzt zum Sonderzubehör, und das bedeutet, daß wir sie nicht mehr kostenlos reparieren müssen.« Fenner schloß die Augen. »Was kostet die Reparatur?« »Fünf Dollar.«
»Okay.« »Gleich morgen früh.« Fenner ging in die Kochnische und wählte Frühstück. Aus der Essenklappe rutschte nur ein Teller mit Eierschalen. Er machte einen zweiten Versuch und bekam Kaffeesatz auf einem Aluminiumtablett. »Verdammt noch mal.« Er rief wieder Rasmussen an. »Ihr Kleiner hat gestern damit herumgespielt, Mister Fenner, und drei Galadiners und einen Partysnack für acht Personen bestellt. Leider war damit die zulässige Kreditgrenze weit überschritten. Deshalb haben wir Ihnen das Essen abgestellt.« »Was sind wir schuldig?« »Einhundertsechsundneunzig Dollar«, antwortete Rasmussen. »Plus Trinkgeld.« »Trinkgeld?« »Zu jedem Galadiner gehört das Auftreten eines androiden Weinschenks. Das kostet jeweils zwei Dollar Trinkgeld.« »Gut, ich zahle.« Fenner kehrte in die Kochnische zurück und steckte seine Kreditkarte in den Schlitz unter der Essenklappe. Nachdem er bezahlt hatte, bekam er Bananenpfannkuchen und Venuskaffee. Die zweite Tasse kostete fünfzig Cents extra. Mittags fiel Fenner auf, daß sein Frühstück irgendwie nicht in Ordnung gewesen war und daß er sich krank fühlte. Er rief Dr. Clayton an, den Haus-
arzt ihres Wohnturms. Clayton wurde bei einer Zwillingsgeburt gebraucht, aber sein Assistent, ein Androide namens Bob, kam nach oben in Fenners Appartement. Pfleger Bob war ein großer, blonder Androide, den sie aus Versehen etwas weitsichtig konstruiert hatten. Deshalb konnte er Beschriftungen nur schwer lesen, was diesmal dazu führte, daß er Fenner die falsche Spritze gab. Das Teufelszeug bewirkte, daß Fenner am ganzen Körper rote Flecken bekam. Und das machte wiederum einen Besuch im Krankenhaus der Wohnanlage erforderlich. Dort war die Zufahrt nur Sanitätskreuzern gestattet, was pro Fahrt siebenundvierzig Dollar kostete. Fenner mußte einen Raum mieten, in dem er sich ausziehen konnte, und zusätzlich einen Krankenpfleger und den androiden Hautspezialisten bezahlen. Als er in sein Appartement zurückkehrte, kurz bevor die Sirene um vier Uhr nachmittags den allgemeinen Arbeitsschluß ankündigte, war Fenner mit orangeroter Salbe und Mullbinden bedeckt. Er hatte vierhundertzwanzig Dollar ausgegeben. Plus Trinkgelder. Manchmal schickte Escabar Henshew zu ihnen. Henshew war ein dicklicher, rosa Juniorandroide, dessen Glaubwürdigkeit dadurch gesteigert werden sollte, daß er Pfefferminztabletten lutschte und aus-
gefranste Jacken trug, die nicht zu seinen Hosen paßten. Er war Escabars rechte Hand in der GLAKreditgenossenschaft. Er tauchte etwa vier Wochen nach Fenners Entlassung auf. »Fern sei es von mir«, sagte Henshew und lächelte aus einer Pfefferminzwolke heraus, »Gerüchte über meine Artgenossen zu verbreiten, Mister und Mistreß Fenner.« Carol saß neben Fenner auf dem Sofa. Michael, ihr Achtjähriger, hockte vor dem Unterhaltungsgerät und hatte einen Kopfhörer über den Ohren. »Hat es irgendwie Schwierigkeiten gegeben?« erkundigte Fenner sich. Er wußte genau, daß es welche gab. »Nun«, sagte Henshew, während seine plumpen Finger eine Pfefferminztablette auswickelten, »seien wir ganz ehrlich, Mister und Mistreß Fenner. Wir wissen, daß bei dieser Sache zeitliche Verzögerungen unvermeidbar sind. Die armen, alten Buchhaltungsmaschinen können eben nicht schneller arbeiten. Das bedeutet, daß man die Kreditgrenze um etwa ... na, sagen wir einmal, dreihundert Dollar überschreiten kann, bevor die GLAK davon Wind bekommt. Außer Ihrem Fall, Mister und Mistreß Fenner. Schließlich gehören Sie zu Mister Escabars bevorzugten Familien.«
Fenner hatte bei dieser Sache einiges riskiert. Er war von Anfang an der Überzeugung gewesen, Escabar werde ihm früher oder später doch auf die Schliche kommen. Aber der Hausarzt seiner Schwiegermutter hatte ihr eine Reise in die Schweiz verordnet, und sie hatten irgendwie dafür bezahlen müssen. Escabar und Henshew wußten allerdings noch nicht, daß Carols Mutter sich bei einem Skiausflug das Bein gebrochen hatte, was Fenners Konto zusätzlich mit fünfhundertzweiundfünfzig Dollar belastete. »Wir möchten verhindern, daß Sie allzu sehr in Schwierigkeiten geraten«, sagte Henshew. »Waldbrände löscht man am besten, solange sie nur ein glimmendes Zündholz sind, um es einmal so auszudrücken. Nun, wir können die Schuld zum üblichen Zinssatz vier Wochen stunden.« »Einverstanden«, sagte Fenner. Carol biß sich auf die Unterlippe. »Sie haben noch keinen neuen Job, nicht wahr, Mister Fenner?« fragte Henshew. »Nein.« Seine Abteilung der Smogkontrollstelle war vor drei Wochen überraschend mit dem Erntebestäubungskontrollrat für Kalifornien zusammengelegt worden, und diese Fusion hatte seinen Arbeitsplatz überflüssig gemacht. »Schön, dann stunden wir Ihnen die Schuld acht Wochen lang, da Sie zu Mister Escabars Favoriten ge-
hören«, sagte der Androide. »Das bedeutet einen höheren Zinssatz, aber etwas mehr Bewegungsfreiheit.« Fenner nickte und unterschrieb die üblichen Formulare. Als Henshew gegangen war, sah er zu seiner Frau hinüber. »Großer Gott«, sagte er. »Tut mir leid.« »So schlimm ist es wieder nicht«, meinte Carol. »Nächste Woche hast du bestimmt einen Job gefunden.« »Zwanzig Prozent Zins ist verdammt viel.« Das Visorphon summte. »Ja?« »Escabar. Kommst du in die kleine Bar unter den Arkaden im Sektor Santa Monica, Gabe? Vielleicht würfeln wir ein bißchen miteinander?« »Nein.« »Ich habe mir gedacht, wir würden jeweils eine Kleinigkeit einsetzen. Wenn einer Glück hat, kann er dabei einen Haufen Geld gewinnen. Unter Umständen sogar fünfhundertzweiundfünfzig Dollar.« »Das weißt du also schon, wie?« »Seit heute morgen.« »Wir treffen uns in einer Stunde.« Als er sich umzog, meinte Carol: »Vielleicht wäre uns am meisten damit geholfen, wenn er uns endlich in Ruhe ließe, Gabe.« »Heute abend schlage ich ihn. Dann sind wir unsere Schulden los. Mehr will ich vorläufig gar nicht.« Escabar überredete ihn wieder dazu, um doppelt
oder nichts zu spielen, und in weniger als einer Stunde nach seinem Eintreffen im Sektor Santa Monica schuldete Fenner der Greater Los Angeles Kreditgenossenschaft doppelt soviel wie zuvor. Der Taxifahrer, der Michaels Gepäck abholte, hatte einen fehlerhaften Gedächtnisspeicher und verlangte zweimal Trinkgeld – einmal in Fenners Zweizimmerappartement und einmal oben auf dem Dachlandeplatz des Wohnturms. Fenner legte Carol einen Arm um die Schultern, und sie sahen beide zu, wie sich das Taxi in die Luft erhob. Michael winkte einmal zurück und stülpte sich den Kopfhörer des Unterhaltungsgeräts vor seinem Sitz über die Ohren. In der Abenddämmerung standen die Türme von Greater LA wie Urweltriesen im Smog. Hier und da blinkten Lichter auf. »Unsere Miete wird erst am fünfzehnten herabgesetzt«, sagte Fenner und legte Carol jetzt den Arm um die Taille. »Ich weiß immer noch nicht, ob wir es wirklich hätten tun sollen.« »Hör zu, die Junior-Kommandoakademie ist bestimmt nicht schlecht für Mike«, sagte Fenner. »Sie wird von der Regierung unterhalten und kostet vor allem nichts.«
Während sie über die Rampe nach unten gingen, wandte Carol ein: »Aber sie ist auf dem Mars.« Fenner nickte. »Ich weiß, ich weiß.« Er hatte die Zulassung zur Akademie in einem Spiel Kopf-oder-Zahl von Escabar gewonnen. Auf diese Weise sparten sie monatlich hundert Dollar an Essen, Kleidung, Miete und Schuldgeld. »Gabe«, sagte seine Frau, »an unserer Tür klebt etwas.« Er blieb neben ihr stehen. Die Tür war mit einem silbernen Klebstreifen verschlossen. »Vertrag wegen Nichtbezahlung der Miete gekündigt.« »Sie haben uns ausgesperrt, als wir auf dem Dach waren«, sagte Fenner und versuchte die Tür aufzubrechen. »Aber wir haben doch gar keine Mietschulden«, sagte Carol. Das Caldermobil am anderen Ende des Korridors rasselte, dann erschien Henshew. »In unseren Büchern steht es anders«, sagte er. Auf seiner Gummizunge lag ein weißes Pfefferminzbonbon. »Das ist verrückt«, protestierte Fenner. »Vielleicht haben Sie Lust zu einem kurzen Besuch in unserem HQ, damit Sie mit jemand von der GLAK darüber sprechen können?« schlug der kleine Androide vor. »Ich weiß allerdings, daß unsere Leute
niemals Fehler machen. Sie arbeiten vielleicht langsamer, aber dafür sehr sicher.« »Liebling«, sagte Fenner, »am besten fährst du zu deiner Cousine Pat im Sektor Pasadena. Wie ich Escabar kenne, dauert die Sache stundenlang.« »Kann ich wenigstens meine Handtasche herausholen?« »Nur mit einer gelochten Zutrittskarte«, antwortete Henshew. »Tut mir leid, Ma'am.« Escabar nagelte die Zielscheibe mit einem kleinen, goldenen Hammer an die Wand. In seinem Büro war es so eisig wie im Kühlraum eines Supermarktes. Es war in verschiedenen Orangetönen ausgestattet. »Hundert Dollar pro Spiel?« fragte er Fenner. »Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu spielen«, sagte Fenner. »Ich gebe zu, daß ich gelegentlich Schulden mache, aber diesmal liegt die Sache anders. Wir haben die Miete immer pünktlich bezahlt, Escabar. Das muß eine Art mechanisches Versagen gewesen sein.« Escabar nahm seine Baseballkappe ohne Schirm ab und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. »Das ist die Schwierigkeit bei Computern«, stellte er fest, »sie machen ab und zu kleine Fehler. Sie haben keine Favoriten wie ich, Gabe. Zweihundert pro Spiel?« »Nein.«
»Noch immer keinen Job, wie?« »Mit der automatischen Stellenvermittlung klappt auch irgend etwas nicht.« »Bildest du dir etwa ein, alles hätte sich gegen dich verschworen?« »Vielleicht.« »Keineswegs«, sagte Escabar. Er ließ seine Kappe in den Korb für einlaufende Schriftstücke fallen und nahm eine Schachtel Metallpfeile aus dem Schreibtisch. »Allerdings scheinen heutzutage viele Leute der gleichen Meinung zu sein. Paranoia gehört eben zu den Gefahren des Lebens in der Großstadt. Dreihundert pro Spiel und einen garantierten Job, wenn du von den ersten sechs Spielen vier gewinnst.« Fenner beobachtete zuerst Escabars Lächeln und sah dann auf den Pfeil in seiner Hand. »Okay. Nur sechs Spiele.« Er kam an diesem Abend nicht mehr dazu, Carol in Pasadena abzuholen. Nach dem siebzehnten Spiel mit den kleinen Wurfpfeilen hatte er neuntausendsechshundert Dollar Schulden. Das letzte Spiel war – natürlich auf Escabars Vorschlag – eine Doppelt-odernichts-Runde gewesen. Fenner verließ das bereits dunkle Gebäude der GLAK und wurde wieder ins Schuldgefängnis eingeliefert.
Nach zweieinhalb Monaten Haft erhielt Fenner die Nachricht, seine Frau habe sich für ein Jahr als Cocktailhosteß in einem Dominoklub auf dem Mars verpflichtet. Ihr Jahresgehalt betrug elftausendsechshundert Dollar, und wenn sie sparsam lebte und reichlich Trinkgelder bekam, konnte sie Fenner in knapp elf Monaten auslösen. Der Vertrag, den sie unterschrieben hatte, ließ sich unter keinen Umständen rückgängig machen, und sobald Carol abgeflogen war, was sie an einem naßkalten Aprildonnerstag getan hatte, bestand keine Hoffnung mehr, daß sie vor Ablauf eines Jahres zurückkommen würde. Escabar hatte in einem Antiquitätenladen im alten mexikanischen Sektor von Greater Los Angeles ein Paket Old-Maid-Karten entdeckt. Die Paare zeigten in Stahlstichen Gestalten aus englischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Escabar brachte die Karten zwei Tage nach Carols Abflug in Fenners Zelle. Henshew begleitete ihn diesmal. »Ein richtiges Kinderspiel«, meinte Escabar und fuhr mit dem Daumen über die Kartenränder. »Ich sitze alles ab«, sagte Fenner. »Laß mich in Ruhe.« Henshews Pfefferminzdunst füllte den grauen Raum, als er lachte. Er bückte sich und klappte einen kleinen Kartentisch auf. »Mit drei Leuten macht Old Maid noch mehr Spaß.« »Nein.«
»Tausend pro Spiel«, sagte Escabar. Er schob seinen randlosen Stetson in den Nacken und setzte sich auf Fenners Pritsche. »Ich will nicht. Laßt mich in Ruhe.« »Das ist nicht mein Gabe Fenner! Wo sind die alten Scherze, die lustigen Bemerkungen?« »Geh zum Teufel.« »Das klingt schon besser«, sagte Escabar. »Fünfzehnhundert pro Spiel?« Fenner zögerte. Wenn er gewann, konnte er sich vielleicht freikaufen – und vielleicht sogar zum Mars fliegen, um wieder bei Carol zu sein. »Okay, ich spiele mit.« Er gewann nicht. Der durchdringende Verkehrslärm von Greater Los Angeles störte Fenner nicht im geringsten, als er das Schuldgefängnis zu Fuß verließ. Zweieinhalb Jahre Einzelhaft hatten ihn abgestumpft. Der Gefängnisdirektor – jetzt ein neuer Mann namens Reisberson – hatte ihm bei der Entlassung zwei Nachrichten übermittelt. Die eine Mitteilung kam von Escabar, der Fenner versicherte, er werde ihn im Laufe des Tages aufsuchen, obwohl er vorerst leider verhindert sei. Die andere stammte von Carol. Fenner erfuhr daraus, daß seine Frau die Scheidung beantragen und einen bekannten Schnapsbrenner auf dem
Mars hatte heiraten müssen, um ihn aus dem Gefängnis freikaufen zu können. Sie hatte ihm diese Nachricht bisher vorenthalten und ihm auch verschwiegen, daß ihr Sohn seit den Osterferien aus der Kommandoakademie desertiert war. Fenner zerriß die beiden Zettel und ging durch den braunen Smog weiter. An der nächsten Straßenecke stand ein Abfallbehälter. Er nahm seine erneuerte Kreditkarte aus der Tasche, bezahlte die zwanzig Cents Einwurfgebühr und hörte zu, wie der Reißwolf die Papierfetzen weiter zerkleinerte. Er tippte sich mit der Kreditkarte an seine Vorderzähne, die ihn dreizehnhundert Dollar gekostet hatten und runzelte nachdenklich die Stirn. Er wußte eigentlich nicht recht, wohin er gehen oder was er überhaupt tun sollte. Es sei denn, er gab seinem Impuls nach, ein paar Dinge anschreiben zu lassen. Schließlich entstand noch immer diese gewisse Verzögerung. Vielleicht konnte er einige Tage lang alles anschreiben lassen, bevor die GLAK etwas davon merkte. Drei Blocks vom Gefängnis entfernt fand er eine Kreuzervertretung und ließ das teuerste, japanische Modell anschreiben. Dann flog er zum Sektor Malibu hinüber und mietete dort einen Pfahlbungalow am Strand.
Kurze Zeit später wanderte Fenner bereits wieder durch die Einkaufszentren von Greater Los Angeles und kaufte Vorräte und Einrichtungsgegenstände. Ein Laden im Sektor 24 bot tatsächlich eine Flasche echten, französischen Cognac an. Fenner mußte einen Antiquitätensammler überbieten, der nur auf die Flasche Wert legte. Drüben im Sektor 69 kaufte er drei verschiedene Sorten Trüffeln und im Sektor 28 ließ er zwei Plastiksmokings und ein Cello anschreiben, das er schon immer gern spielen gelernt hätte. Er ließ auch einen Originalzeichentrickfilm von Walt Disney anschreiben, der zwanzigtausend Dollar kostete, weil die Nachfrage auf diesem Gebiet sehr groß war. Er kaufte vier körpergerecht geformte Schaukelstühle und eine Taucherglocke und stellte einen arbeitslosen, irischen Schauspieler als seinen Butler an. Er flog nach Las Vegas, ließ in zwei Kasinos eine kleine Erfrischung anschreiben und verfolgte die Mittagsvorstellung in einem dritten. Leider konnte man nicht auf Kredit spielen, obwohl er auch das versuchte. Das war das einzigemal, daß jemand seine Kreditkarte zurückwies. Als er wieder nach Greater LA zurückgekehrt war, ließ er einen antiken 1936er Plymouth anschreiben, weil ihm der Notsitz gefiel. Er kaufte zwei Kilo echte Eiskrem mit Erdbeergeschmack und schickte seiner ehemaligen Frau auf dem Mars ein Dutzend gelbe
Teerosen. Er ließ sich beim berühmtesten Friseur von Beverly Hills für zweihundert Dollar die Haare schneiden, wollte sich aber nicht die Schuhe putzen lassen und kaufte statt dessen neun Paar Schuhe und ein Paar Reitstiefel. Am späten Nachmittag ging er den Little Santa Monica Boulevard entlang. Er hörte ein vertrautes Geräusch, hob den Kopf und sah Escabar über die Leiter eines schwebenden GLAK-Kreuzers zu Boden klettern. »Das ist sensationell!« sagte Escabar. Der durch Smog gedämpfte Sonnenschein ließ ihn eigenartig aufleuchten. »Das macht wirklich Spaß«, sagte Escabar grinsend. »Alle Achtung, Gabe. Wie du dich in Schulden stürzt!« Fenner setzte sich in Bewegung und rannte über die Straße. Er bog um die nächste Ecke und suchte nach einem bestimmten Laden. Der Asphalt war heiß und klebrig. Er verschwand in einem Sportgeschäft und ließ einen Karabiner und eine Schachtel Munition anschreiben. Als Escabar ihn draußen auf der Straße einholte, begann Fenner zu schießen.
ROBERT F. YOUNG
Das Puppenhaus Von allen Puppenfreundinnen, mit denen Carter jemals getanzt hatte, war Eva Vier bei weitem seine Favoritin. Er brauchte nur auf die Knöpfe E, V, A und 4 am Wählpult der riesigen Puppenbox zu drücken, um bereits wie Aladin zu erschauern, als er seine Wunderlampe rieb. Allein ihr Anblick, wenn sie hochgewachsen in ihrem goldenen Abendkleid aus der Box trat, war reichlich den Dollar wert, den es kostete, sie zum Leben zu erwecken. Alle Puppenfreundinnen waren schön; das war eine ausgesprochene Binsenwahrheit. Carters Vorliebe für Eva beruhte jedoch nicht ausschließlich auf ihrer unbestreitbaren physischen Anziehungskraft; sie hatte auch Persönlichkeit. Wenn er etwas zu ihr sagte, antwortete sie nicht mit den abgegriffenen Klischees, die andere Puppenfreundinnen benützten. Machte er ihr zum Beispiel ein Kompliment, hörte er nie das tödlich langweilige: »Ich wette, daß du das zu allen Mädchen sagst!« Statt dessen antwortete sie etwa: »Wenn ich heute abend nach Hause komme, schreibe ich es in mein Tagebuch und lege es unters Kopfkissen.« Oder wenn er sie um
ein Rendezvous bat – natürlich nur aus Spaß –, zitierte sie nicht Paragraph sechzehn des Handbuchs für Puppenfreundinnen, wie es die anderen taten. Statt dessen sah sie schüchtern zu Boden und murmelte vielleicht: »Schrecklich gern, Floyd, aber du weißt doch, was die Leute sagen würden!« oder »Was würde deine Frau denken!« Carter wußte selbstverständlich, daß im Kontrollraum im ersten Stock eine E-VA-4-Dirigentin sag, die für alles verantwortlich war, was seine Puppenfreundin sagte oder tat, aber er gaukelte sich lieber selbst vor, es sei Eva und nur Eva allein, die mit ihm tanzte und sprach, die sein trübseliges Dasein mit einem romantischen Schimmer vergoldete. »Persönlich«, sagte er eines Abends zu Eva, »ist es mir völlig gleichgültig, was meine Frau denken würde. Und wenn ich davon überzeugt wäre, nicht sofort erwischt zu werden, würde ich dich irgendwann durch die Hintertür hinausschmuggeln und mit dir eine Spazierfahrt in meiner Cadillette machen!« »Aber was hättest du davon, Floyd? Meine Dirigentin würde einfach die Verbindung trennen und die Polizei benachrichtigen. Und du würdest dir ziemlich komisch vorkommen, wenn du in Gesellschaft einer leblosen Puppe angetroffen wirst.« »Du bist keine leblose Puppe!«
»Ohne meine Dirigentin bin ich nicht viel mehr.« »Wer ist übrigens deine Dirigentin?« »Du weißt genau, daß ich dir das nicht sagen darf.« Er wirbelte sie überraschend in eine der Nischen am Rand der Tanzfläche und gab ihr einen Kuß. »Na, jedenfalls ist morgen Samstag«, meinte er dann. »Und meine Frau arbeitet samstags wie üblich, aber ich arbeite nur bis zwölf. Dann kann ich dich den ganzen Nachmittag mit Beschlag belegen!« Er führte sie auf die Tanzfläche zurück, und sie mischten sich wieder unter die anderen Puppenfreundinnen und ihre Partner. Die Musik wurde eine rosa Wolke unter seinen Füßen, und Eva verwandelte sich in eine goldhaarige Göttin. »Du magst mich doch wirklich am liebsten, nicht wahr?« sagte sie zu seiner Schulter. »Im Vergleich zu dir sind die anderen nur Papierpuppen«, flüsterte er ihrem Haarband zu. Aber dieses momentane Hochgefühl hielt nicht lange an; er war deprimiert, als der Tanz endete, weil er Eva jetzt zur Puppenbox zurückbringen mußte. Sie sagten sich gute Nacht, und sie warf ihm noch eine Kußhand zu, bevor sie mit ihren synthetischen Schwestern durch das magische Portal schritt. Carter verschwand sofort in der Bar. Dort hockte er bei einem Glas Bier, starrte die Tür hinter der Bar an, die zum Kontrollraum im ersten
Stock führte, und fragte sich geistesabwesend, weshalb man die Dirigentinnen nie kommen oder gehen sah, wenn sie Schichtwechsel hatten. Dann fiel ihm auf, daß er Eva diesmal nur halb scherzhaft um ein Rendezvous gebeten hatte. Und Eva – oder vielmehr Evas Dirigentin – mußte sich darüber im klaren gewesen sein. Er wartete auf das erste Anzeichen beginnender Verlegenheit, das ihm beweisen würde, daß seine Betörung noch nicht die Grenzen der Realität überschritten hatte; aber er empfand nur heftiges Bedauern darüber, daß die kostbare Zeitspanne zwischen fünfzehn und neunzehn Uhr wieder einmal rasch zu Ende ging. Um fünf nach sieben verließ er das Puppenhaus und schlenderte drei Blocks weiter zu der Straßenekke, an der er jeden Abend seine Frau traf. Sie benützten den Luftbus – Marcias Chevrolette war zur Inspektion in der Werkstatt, und Carter hatte keine Lust, seine Cadillette den Gefahren des Großstadtverkehrs auszusetzen –, saßen schweigend im Halbdunkel nebeneinander und starrten die projizierten Werbeslogans an, die den Aprilhimmel füllten. Einmal flog der Luftbus geradewegs durch die Aufforderung BENUTZEN SIE WOLKENSEIFE, DANN DUFTEN SIE WIE EIN ENGEL, und er spürte, daß Marcia neben ihm zusammenzuckte. Er sparte sich allerdings seinen üblichen Kommen-
tar, der aus dem guten Rat bestand, sie solle endlich ihren lächerlichen Idealismus aufgeben und den Status quo akzeptieren. Die anstrengenden Stunden zwischen neun und fünfzehn Uhr hinter dem Schreibtisch bei Brainstorm, Inc., hatten ihn so erschöpft, daß er keine Lust mehr hatte, sich mit ihr zu streiten. Er betrachtete sie aus dem Augenwinkel heraus, sah die bläulichen Schatten unter ihren großen, dunklen Augen und überlegte sich, daß sie ebenfalls müde war. ›Schön, dann ist sie eben müde!‹ dachte er. Niemand zwang sie zur Arbeit – nur ihre eigene, sture Hartnäckigkeit. Dabei hatte er sie bestimmt nie dazu gezwungen, irgendwo einen Job anzunehmen. Das war ihre eigene Idee gewesen – und er hatte sie ihr ebensowenig wie alle anderen Ideen ausreden können. Er wäre allerdings jede Wette eingegangen, daß sie innerhalb der nächsten vier oder fünf Wochen selbst anderer Meinung sein würde. Die Arbeit in diesem Zeitalter der Massenkreativität, das die Menschen von allen Seiten psychologisch unter Druck setzte, war bestimmt nicht leicht, selbst wenn man einen einfachen Job hatte, wie ihn Marcia zu haben behauptete. Als sie ihr Appartement erreicht hatten, zog Marcia den Mantel aus und ging in die Küche. Carter hängte seinen daneben und schaltete den dreidimensionalen
Televisor ein. Dann erschien Marcia in der Küchentür. »Steak mit Pommes frites oder Hühnchen mit Kartoffelpüree?« fragte sie. »Steak mit Pommes frites«, sagte Carter. Sie verschwand in der Küche, um die entsprechende Vakuumpackung zu öffnen, und er ließ sich in einen Sessel fallen, um wie jeden Abend um sieben Uhr dreißig die Bis-zur-letzten-Sekunde-Nachrichten zu sehen. Ihr Bild blieb noch einen Moment auf seiner Retina zurück: groß und dunkelhaarig; klassische Gesichtszüge (bis auf die etwas zu volle Unterlippe); stattliche Haltung und wohlgeformte Schultern ... Er runzelte nachdenklich die Stirn und versuchte wieder einmal zu verstehen, wie ein Mensch so vielversprechend aussehen und doch so schwierig im Zusammenleben mit anderen sein konnte. Schließlich verschwand das Bild vor seinem inneren Auge, und er konzentrierte sich auf die Nachrichten. Eine der vielen beweglichen Kameras nahm gerade die Nachwirkungen eines Zusammenstoßes zwischen einem Lufttaxi und einem Luftbus auf. Der Luftbus war abgestürzt und hatte sich zwischen zwei großen Appartementhäusern verklemmt. Aus seinen Fenstern starrten weiße Gesichter, deren runde Münder vermutlich laute Schreie ausstießen, die das Mikrophon aber wegen der noch zu großen Entfernung nicht aufnehmen konnte. Am Nachthimmel über dem
Unfallort schwebte ein Rettungshubschrauber; seine Rotoren blitzten im Scheinwerferlicht und durch die offene Ladeluke waren Besatzungsmitglieder zu erkennen, die zwei riesige Elektromagneten herabließen. Das Beste an diesen live gesendeten Nachrichten waren die meistens völlig unvorhersehbaren Ereignisse; nicht einmal die Produzenten wußten vorher, wie irgend etwas ausgehen würde. Marcia kam ins Wohnzimmer. »Der Tisch ist gedeckt, Floyd. Sollen wir jetzt essen?« »Nein, nicht jetzt! Sieh dir bloß an, was da passiert ist! Schnell!« Sie warf einen Blick auf den Bildschirm und wandte sich ab. Im gleichen Moment rutschte der Luftbus zwischen den beiden Wänden nach unten und stürzte endgültig auf die Straße. Unterdessen war der Mikrophonwagen nahe genug heran, so daß aus dem Lautsprecher das scharrende Geräusch von Stahl auf Stein, der krachende Aufprall und entsetzte Schreie drangen. »Das war Klasse!« sagte Carter. »Klingt wirklich wie ein Hundertprozenter«, sagte Marcia. Sie drehte den Lautstärkeregler nach links. »Willst du jetzt essen oder lieber noch etwas warten und das Blut sehen?« Carter stand auf. »Wenn man dir zuhört, muß man glauben, ich wäre ein Ungeheuer«, sagte er indi-
gniert. »Dabei bin ich auch nicht anders als die anderen.« »Das weiß ich.« Ihr unbeteiligter Tonfall verwandelte diese Feststellung fast in eine Anklage. Einen Augenblick lang hätte er am liebsten losgebrüllt; dann zuckte er mit den Schultern und folgte ihr in die Küche. Was sie von ihm dachte, war ihm schon lange gleichgültig; er hatte sich ohnehin nie sehr viel darum gekümmert. Nein, das stimmte nicht ganz, verbesserte er sich, während er Messer und Gabel zur Hand nahm. Er war sehr darauf bedacht gewesen, ihr eine gute Meinung von sich zu vermitteln, als sie vor zehn Monaten geheiratet hatten. Aber damals hatte er noch nicht geahnt, daß ihr hochgestochener Intellektualismus die Puritanerin in ihr zum Leben erweckt hatte, was nicht nur ihre Haltung gegenüber dem technischen Utopia verzerrte, sondern auch ihre Auffassung der sexuellen Aspekte einer Ehe beeinflußte. Sie aßen schweigend, bis Marcias Venusrabe aus seinem Käfig herabflog und sich auf ihre Schulter setzte. »Panem et cirsenses! Panem et cirsenses!« Warum bringst du ihm nicht etwas Lustiges bei? hätte Carter fast gefragt; dann erinnerte er sich jedoch daran, wie oft er diese Frage schon vergeblich gestellt hatte und aß wortlos weiter. »Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herab!« krächz-
te der Rabe. Er flog auf blauen Schwingen dreimal durch die Küche und landete wieder auf Marcias Schulter. »Pst, Sir Gawain!« mahnte sie. »Siehst du nicht, daß wir essen?« »›Das Meer ist ruhig heut nacht, die Flut steht hoch am Strand ...‹« »Still!« »›Wir träumten voneinander und sind davon erwacht ...‹« Marcias Gabel fiel klirrend auf ihren Teller. Sie griff danach und legte sie sorgfältig neben die Serviette. Dann hob sie ihre Kaffeetasse an die Lippen, verschüttete etwas Kaffee und setzte die Tasse wieder ab. Sie stand auf. »Entschuldige mich«, sagte sie. »Ich habe eigentlich keinen Hunger.« Sie setzte Sir Gawain in seinen Käfig zurück und schloß die Tür; dann verließ sie die Küche. Carter hörte ihre Schritte auf der niedrigen Treppe zum Schlafzimmer, hörte die Tür ins Schloß fallen. Dann aß er weiter. Er war an Marcias Launen gewöhnt und machte sich nichts mehr daraus. Er dachte an Eva zurück und sah unwillkürlich auf die Uhr in der Küche. Acht Uhr abends. Noch sechzehn Stunden, bis er sie wieder sah. Er verzog das Gesicht. Die Zeit spielte eigentlich keine große Rolle; nur
die Art und Weise, wie er sie verbringen mußte, war so abstoßend. Zuerst der endlose Abend allein im Wohnzimmer, an dem er mehr trank, als für ihn gut war; dann die lange, halb schlaflose Nacht im gleichen Raum mit einer physisch unwiderstehlichen Frau, nach deren Auffassung eheliche Liebesbezeugungen nicht mit ihrer Menschenwürde vereinbar waren; und schließlich die übliche Massendenkversammlung am Samstagmorgen ... Obwohl die Methode durchaus nicht mehr neu war, Angestellte einer Firma in regelmäßigen Zeitabständen zu Konferenzen zu beordern, die der Förderung neuer Ideen nützen sollten, war dieses Verfahren im Lauf der Jahre doch so verfeinert worden, daß es fast neuartig wirkte. Der modus operandi bei Brainstorm, Inc., ließ sich folgendermaßen beschreiben: Mr. Marrow, der Präsident des Unternehmens, wies seinen Angestellten Plätze am Konferenztisch an und gab jedem zwei Wahrheitstabletten. Dann las er die Paragraphen hundertvierundzwanzig und hundertneunundneunzig des revidierten Arbeitsgesetzes vor, in denen das Recht der Unternehmungsführung verankert war, Wahrheitsdrogen und ähnliche harmlose Mittel ›zwecks maximaler Ausnutzung der Arbeitskraft bezahlter Angestellter‹ zu verabreichen. (In Paragraph hundertvierund-
zwanzig stand eigentlich nur, daß der Benutzer dieser Drogen sich später nur an vereinzelte Bruchstücke jedes Gespräches unter WT-Narkose erinnern würde; und Paragraph hundertneunundneunzig besagte, daß jeder Arbeitgeber, der die Assoziationen seiner Angestellten während der WT-Narkose zu anderen Zwekken mißbrauchte, anstatt sie nur im Interesse seines Unternehmens auszuwerten, mit Gefängnis bis zu zehn Tagen oder tausend Dollar Geldstrafe oder beidem rechnen mußte.) Dann wies Mr. Marrow die Teilnehmer an, ihre Wahrheitstabletten einzunehmen, und nachdem sie das getan hatten, mußten sie die rechte oder linke Hand ihrer jeweiligen Nachbarn ergreifen, so daß ein geschlossener Kreis entstand. Schließlich verdunkelte er noch die Beleuchtung, kündigte das erste Thema an, mit dem sich ihr Unterbewußtsein beschäftigen sollte und schaltete den 3-D-Würfel ein, der mitten auf dem Konferenztisch stand. Das erste Thema an diesem bewußten Samstag war ›Milch‹, und das erste Bild, das auf den vier senkrechten Flächen des Würfels erschien, war ein großes Glas Milch. Sobald Mr. Marrow den Fußschalter an seinem Platz betätigte, strömte leise Tonbandmusik aus versteckt angebrachten Wandlautsprechern. Einige Minuten lang ertönte nur Musik. Dann: »Nierensteine«, sagte Harris aus der Buchhaltung, der Carter gegenübersaß.
»Mother Hubbard«, sagte Miß Stokes rechts neben ihm. »Am gleichen Tag, an dem meine Mutter beerdigt wurde, habe ich mich betrunken«, sagte Minton aus der Entwicklungsabteilung, der links neben Carter saß. »Pflaumen«, sagte Carter, der eigentlich weniger auf das Bild an der Seitenfläche des 3-D-Würfels achtete, sondern deutlich Miß Stokes' etwas feuchte Hand in seiner spürte und aus dem Augenwinkel heraus ihr leicht vertrocknetes Gesicht beobachtete. Das Milchglas verwandelte sich in eine stillende Mutter. Brahms' Wiegenlied klang leise aus den Lautsprechern. »Malthus«, sagte Miß Stokes. »Ich darf nicht vergessen, meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen«, sagte Harris aus der Buchhaltung. »Schaumgummi«, sagte Miß Brennan, die zwischen Harris und Mr. Marrow saß. Carter sah zu ihr hinüber und verglich instinktiv ihr kräftig geschminktes Gesicht mit Miß Stokes' blassem Teint, ihren vollen Busen mit Miß Stokes' nicht vorhandenen Formen. Früher einmal, bevor er Marcia geheiratet hatte, war es zwischen ihm und Miß Brennan öfters zu versuchsweisen tête-à-têtes am Trinkbrunnen gekommen, und er spielte jetzt eine Sekunde
lang mit dem Gedanken, wieder damit zu beginnen. Nach den sehnsüchtigen Blicken zu urteilen, die sie ihm gelegentlich zuwarf, wäre Miß Brennan vermutlich mit Begeisterung dazu bereit gewesen. Aber als dann die Wahrheitstabletten zu wirken begannen, verblaßten diese Gedanken allmählich, und er konzentrierte sich ganz auf den 3-D-Würfel. Mutter und Kind waren verschwunden und durch die Hufeisenfälle ersetzt worden, deren Wassermassen weiß wie Milch leuchteten. Brahms' Wiegenlied war in Beiderbeckes In a Mist übergegangen, und Miß Stokes sagte eben: »Ich finde die Viktoriafälle in Südrhodesien viel schöner. Sie sind wesentlich prächtiger ... und irgendwie sauberer ...« »Ich glaube, es wird allmählich Zeit, daß ich meinen Edsel Jr. gegen eine Cadillette eintausche«, sagte Harris aus der Buchhaltung. »Der Unterschied im Fahrkomfort könnte genau das sein, was mir der Arzt verordnet hat.« »Ich möchte nur wissen, wie man sich fühlt, wenn man in Milch ertrinkt«, sagte Minton aus der Entwicklungsabteilung. »Schwarzer Kaffee«, sagte Carter. »Ich habe zwei Paar«, sagte Miß Brennan, »und ich hebe das zweite Paar in einem Geheimfach in der untersten Schublade meiner Kommode auf.« Die Hufeisenfälle verschwammen und wurden zu
einer Milchbar, in der gesunde Kinder riesige Gläser Milch leerten. Beiderbeckes In a Mist ging in Feurtados Milk Bar Romp über. »Abgrund der Schlechtigkeit!« sagte Miß Stokes. »Vielleicht nehme ich doch lieber eine Lincolnette«, sagte Harris aus der Buchhaltung. »Mikromastie«, sagte Miß Brennan. »Doppelbetten«, sagte Carter. Die Milchbar machte einer endlosen Prozession frisch gefüllter Milchflaschen Platz, die aus einem riesigen Füllautomaten strömten. Feurtados Milk Bar Romp wurde durch Metz' Industrial Rhapsody ersetzt. »Flaschenbabys sind die besten!« sagte Miß Brennan plötzlich. »Ausgezeichnet!« sagte Mr. Marrow. Er schaltete die Beleuchtung wieder voll an. »Genau der Slogan, den die Vereinigten Molkereien sich vorgestellt haben! Gut gemacht, Miß Brennan. In einer Stunde vergessen Sie, was ich hier sage, aber zu Ihrem nächsten Gehaltsscheck kommt eine hübsche, kleine Prämie, die Sie daran erinnern wird. Schön, jetzt versuchen wir es mit Thema Nummer zwei. Alles fertig?« Er verdunkelte die Beleuchtung ... »Zahnpasta!« Carter atmete erleichtert auf, als es endlich Mittag war. Die Massendenkversammlungen gaben ihm immer
das Gefühl körperlicher Unsauberkeit, und er war froh, als er Miß Stokes Hand loslassen und den Konferenzraum verlassen konnte. Sie ging bis auf die Straße hinter ihm her; sie hatte schon immer eine romantische Vorliebe für ihn gehabt und in letzter Zeit führte sie sich ihm gegenüber noch lächerlicher als sonst auf. Man hätte glauben können, er habe sie dazu ermutigt, obwohl er in Wirklichkeit kaum auf sie achtete. Er hatte schon Angst, sie würde ein gemeinsames Mittagessen vorschlagen, aber zum Glück tat sie es doch nicht. Statt dessen verabschiedete sie sich mit einem letzten sehnsüchtigen Blick und tauchte in der Menge unter. Dann fiel ihm ein, daß sie wie Miß Brennan zwei Jobs hatte. Er seufzte erleichtert und machte sich auf den Weg zu seinem bevorzugten Restaurant. Er aß in aller Ruhe. Das Puppenhaus wurde erst um zwei Uhr geöffnet, so daß er an Samstagen tatsächlich nur eine Stunde länger bei Eva sein konnte; aber eine Stunde war immerhin eine Stunde. Während er aß, mußte er immer wieder an ein seltsames Wort denken und versuchte herauszubekommen, was es bedeutete und wo er es gehört hatte. Das Wort hieß ›Mikromastie‹. ›Mastie‹, das wußte er ziemlich sicher, bezeichnete einen Zustand der Brust, und das Präfix ›Mikro‹ ließ kaum Zweifel an der Art dieses Zustandes aufkom-
men. Woher er dieses Wort hatte, war ebenfalls nicht schwer zu enträtseln: nach einer Massendenkversammlung schwirrten ihm immer unbekannte Ausdrücke durch den Kopf. Er fragte sich nur, aus wessen Unterbewußtsein das Wort stammte, und Miß Stokes' Gesicht mit den strahlenden Augen erschien sofort am Horizont seiner Intuition. Er zuckte leicht zusammen. Während er aß, hob er zufällig den Kopf und sah Miß Brennan einige Tische weit entfernt sitzen. Er nickte ihr freundlich zu, aber sie reagierte nicht darauf, so daß er annahm, sie habe ihn nicht erkannt. Er sah wieder auf seinen Teller und fragte sich, weshalb eine so attraktive, junge Frau fast dreißig werden konnte, ohne verheiratet oder zumindest verlobt zu sein; er verfolgte diese Überlegung jedoch nicht weiter, weil es ihm im Grund genommen gleichgültig war, was aus ihr wurde, und als er nochmals aufsah, war sie bereits gegangen. Er rauchte eine Zigarette zur zweiten Tasse Kaffee, zahlte dann und schlenderte in Richtung Puppenhaus. Als er es erreichte wurden die Türen oben geöffnet, und er eilte geradewegs auf die Puppenbox zu. Niemand sollte ihm Eva wegschnappen, wenn er es vermeiden konnte. »Hallo«, sagte sie, als die Zauberpforte sich hinter ihr schloß. »Ich habe dich vermißt.«
»Du hast mir auch gefehlt«, sagte er und wirbelte sie auf die Tanzfläche. Nachdem sie zu Deep Space Ecstasy und den Cadillette Blues getanzt hatten, setzten sie einmal aus und nahmen in einer der halbdunklen Nischen Platz. Carter bestellte sich ein Bier. »Na«, sagte er, als der Ober gegangen war, »hast du dir schon überlegt, wann ich dich zu einer Spazierfahrt mitnehmen darf?« »Ich habe dir doch bereits erklärt, was dann passieren würde, Floyd. Meine Dirigentin würde dir sofort die Polizei auf den Hals hetzen.« »Du und deine Dirigentin!« sagte Carter impulsiv. »Ich möchte wetten, daß sie eine alte Jungfrau mit akuter Mikromastie ist!« Langes Schweigen. Im Hintergrund leise Musik, dazwischen die schlurfenden Schritte der Tanzenden. Dann: »Vielleicht bin ich eine«, sagte Eva. Er sah ein, daß er eine taktlose Bemerkung gemacht hatte und bedauerte sie sofort. »Tut mir leid, das wollte ich bestimmt nicht sagen«, entschuldigte er sich. »Es ist mir nur irgendwie herausgerutscht.« »Schon gut, Floyd.« Die Musik verstummte. »Ich habe den nächsten Tanz reserviert«, sagte er. »Einverstanden.«
Als sie zu den Klängen eines langsamen Walzers aus der Puppenbox trat, nahm er sie in die Arme und drückte sein Gesicht gegen ihr Haar, um seine Taktlosigkeit wiedergutzumachen. Er war ehrlich verblüfft, als sie plötzlich zu ihm aufsah und dabei fragte: »Möchtest du noch immer eine Spazierfahrt mit mir machen?« »Ja, aber deine Diri...« »Sie hat nichts mehr dagegen einzuwenden.« Sie blieben in einer Nische stehen. »Aber wie ...«, begann Carter. »Es ist ganz einfach. Nachdem heute abend Schluß ist, öffne ich die Puppenbox von innen, verlasse das Gebäude durch die Hintertür und treffe dich dort.« Carter schluckte. Ihm wurde erst jetzt klar, weshalb die Puppenfreundinnen so beliebt waren: sie verschafften Männern eine bisher nicht existierende Gelegenheit, ihre Frauen nur halb zu betrügen. »Und wenn irgend etwas schiefgeht?« wandte er ein. »Stell dir nur vor, was ...« »Ich hätte nicht gedacht, daß du Angst haben würdest!« »Ich habe keine!« »Schön, dann ist ja alles in Ordnung. Hier ist um Mitternacht Schluß. Ich lasse dem Barkeeper eine Stunde Zeit, die Türen abzuschließen und sauber zu machen und dann schleiche ich mich hinaus. Du
kannst bis an die Hintertür fahren – die Seitenstraße ist breit genug. Wir treffen uns um eins dort.« Ein Uhr morgens, überlegte Carter. Marcia war um diese Zeit schon längst im Bett; er konnte das Appartement ohne weiteres verlassen und mit der Cadillette hierher kommen. Und selbst wenn sie während seiner Abwesenheit aufwachte, brauchte er ihr nach seiner Rückkehr nur zu erzählen, er habe nicht schlafen können und sei deshalb ein bißchen unterwegs gewesen, um sich zu entspannen. Dann fiel ihm etwas ein: »Aber hat dann nicht eine andere E-V-A-4-Dirigentin Dienst?« »Sie geht um Mitternacht. Nachdem sie gegangen ist, bin ich ... kann meine gegenwärtige Dirigentin mich wieder kontrollieren.« Carter griff nach seinem Taschentuch und fuhr sich über die Stirn. »Nun ...« Eva legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. »Ein Uhr, Liebling«, sagte sie. »Einverstanden?« Carter steckte das Taschentuch wieder ein. »Okay ...« »Komm, ich möchte tanzen!« »Schnitzel mit Kartoffelsalat oder Chow Mein?« fragte Marcia. »Schnitzel mit Kartoffelsalat«, sagte Carter. Er fühlte sich erschöpft. Nicht einmal die Bis-zur-
letzten-Sekunde-Nachrichten um acht Uhr interessierten ihn, obwohl eine gute Massenschlägerei und ein ausgezeichnetes Großfeuer mit höchster Alarmstufe gezeigt wurden. Er hatte das Puppenhaus nicht wie gewöhnlich um sechs Uhr verlassen, sondern war etwas länger geblieben, um zu sehen, wie Eva sich unter der Kontrolle der nächsten Dirigentin benahm. Das war eine große Enttäuschung gewesen: sie wirkte ebenso langweilig und kalt wie alle anderen. Nach dem Abendessen konnte er kaum noch die Augen offenhalten und schlief in seinem 3-D-Sessel ein. Als er aufwachte und auf die Uhr sah, stellte er verblüfft fest, daß es schon fast Mitternacht war. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer, um sich davon zu überzeugen, daß Marcia fest schlief und ging dann in die Küche. Dort wusch und rasierte er sich, achtete aber darauf, nicht mit Wasser zu plätschern und seinen Rasierapparat nur mit kleinster Geschwindigkeit laufen zu lassen. Schließlich band er sich die Krawatte vor dem Küchenspiegel und kämmte sich die Haare. Sir Gawain war durch das Licht aufgewacht und krächzte leise in seinem zugedeckten Käfig vor sich hin; er wiederholte einige Worte, die er tagsüber gelernt hatte. Aber Carter achtete nicht weiter auf ihn: er war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Die Küchenuhr zeigte 12.29 Uhr, als er das Appar-
tement verließ und mit dem Lift in den Keller fuhr. Er ging durch den unterirdischen Korridor ins Parkhaus hinüber, fuhr mit einem anderen Lift ins Erdgeschoß hinauf, das für Cadilletten reserviert war und setzte sich ans Steuer seines Wagens. Seine Armbanduhr stand auf 12.35 Uhr, als er in Richtung Stadtmitte startete. Für kurze Zeit empfand er sogar Gewissensbisse wegen dieses unkonventionellen Abenteuers. Es war einfach nicht normal, hielt er sich selbst vor, daß ein normaler Mann sich nach einem rein idealistischen Verhältnis zu einer Gliederpuppe sehnte, die ihm – ob belebt oder unbelebt – auf keinen Fall mehr geben konnte; und die Tatsache, daß er, Carter, sich danach sehnte, ließ nur zwei Schlußfolgerungen zu: er war entweder anomal – oder zutiefst vereinsamt. Er hatte jedoch durchaus das Gefühl, völlig normal zu sein – eben diese Durchschnittlichkeit hatte ihn ja seiner Frau entfremdet –, und als er in die kleine Seitenstraße hinter dem Puppenhaus einfuhr, hatte sich sein ungewisses Schuldbewußtsein in freudige Erwartung verwandelt. Seine Armbanduhr zeigte 1.02 Uhr, aber im Scheinwerferlicht waren düstere Ziegelmauern und geschlossene Türen zu erkennen. Er schaltete die Scheinwerfer aus und blieb wartend in der Dunkel-
heit sitzen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen; sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah wieder auf die Uhr: 1.23 Uhr. Ihm fiel ein, daß sie vielleicht vorging, aber dann erinnerte er sich daran, sie mit der Küchenuhr verglichen zu haben, bevor er gegangen war. Er machte sich bereits ernstlich Sorgen, als er endlich eine Tür ins Schloß fallen hörte. Dann tauchte eine vertraute Gestalt aus den Schatten auf und setzte sich neben ihn. »Hoffentlich hast du nicht zu lange warten müssen, Liebling«, sagte Eva. Er stieß zurück und bog auf die Hauptstraße ab. Wenig später fuhren sie auf der Autobahn. »Fahr schnell, Liebling«, sagte Eva. Der Aprilwind zerzauste ihr Haar. Lufttaxis und Luftbusse hatten die früher üblichen Verkehrsstauungen auf der Autobahn weitgehend beseitigt, aber der Verkehr war noch immer so dicht, daß schnelles Fahren gefährlich blieb. Als die Tachometernadel 150 erreicht hatte, beschleunigte Carter nicht weiter. Aber Eva war noch nicht zufrieden. »Schneller«, drängte sie. »Schneller!« »Warum hast du es so eilig?« »Ich habe es gar nicht eilig, Liebling. Ich fahre nur gern schnell, das ist alles.« Es konnte nichts schaden, ihr diesen kleinen Gefallen zu tun, überlegte er sich. Er ließ die Nadel weiterkriechen – – 160 ... 170 ... Weit hinter ihnen raste ein
riesiger Sattelschlepper mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf der Überholspur heran. »Nimm mich in den Arm«, verlangte sie. Er zögerte kurz und legte ihr dann den rechten Arm um die Schultern. »Schneller«, sagte sie. »Schneller!« »Wir fahren schnell genug. Was ist los mit dir, Eva?« »Ich habe Mikromastie. Ich bin eine alte Jungfer mit akuter Mikromastie!« Sie kicherte plötzlich. »Küß mich, Liebling!« Carter wollte sie erschrocken von sich wegschieben, aber sie schlang ihm die Arme um den Hals und zog ihn mit überraschender Kraft zu sich herab. Die Scheinwerfer des Sattelschleppers waren jetzt schon viel näher und rasten mit Höchstgeschwindigkeit auf sie zu. Carter wollte bremsen und auf die zweite Fahrspur ausweichen, aber Eva hatte ihre Beine mit seinen verschränkt und hinderte ihn daran. »Nein, Eva. Hör auf!« »Ich will nicht aufhören.« »Du bringst uns beide um!« »Nicht uns. Dich.« Jetzt war ihm alles klar. Er hatte es nicht mit Eva, sondern mit der verbitterten, alten Jungfer zu tun, die Evas Seele war; sie saß weit hinter ihnen in der Stadt im Kontrollraum, war noch immer wütend auf ihn,
weil er unbeabsichtigt eine taktlose Bemerkung gemacht hatte und stellte ihn jetzt wie einen Kegel auf, den der schwere Lastwagen treffen und aus der Bahn schleudern würde. Carter hatte schon oft Gerüchte über die Dirigentinnen gehört, die er nicht recht hatte glauben können: daß sie ohne Ausnahme alte Jungfern waren, deren einziges Vergnügen daraus bestand, in Gestalt einer Gliederpuppe mit den Männern anderer Frauen zu tanzen, zu flirten, mit ihnen Händchen zu halten, sie zu küssen ... Und während ihm das alles durch den Kopf ging, sah er im Rückspiegel die Scheinwerfer des Lastwagens blinken und hörte immer wieder das warnende Hupen des anderen Fahrers. Aber inzwischen hielt Eva auch seinen freien Arm umklammert, und die Cadillette trieb unaufhaltsam nach links in die Fahrspur des riesigen Sattelschleppers. Der Zusammenstoß mußte schon im nächsten Augenblick erfolgen; dann blieb von Carter nur ein grausiger Fleck auf der Autobahn zurück – die blutigen Überreste eines Menschen, der eben noch gelebt und geatmet hatte ... Und dann, im letzten Moment vor dem fast nicht mehr vermeidbaren Aufprall, stieß Eva einen erstickten Schrei aus und riß das Steuer nach rechts. Der schwere Lastwagen röhrte an ihnen vorüber, die Cadillette geriet ins Schleudern und raste gefährlich nahe an der Leitplanke entlang weiter. Schließlich kam
die allmähliche Rückkehr in den Normalzustand, als Carter die Initiative ergriff und zitternd bremste. Eva hing schlaff im Sitz neben ihm. Er schüttelte sie wütend. Er schlug in ihr Plastikgesicht. Ihre blauen Augen starrten ihn glasig an. Ihr hübscher Kopf schwankte von einer Schaumgummischulter zur anderen. Carter ließ sie achtlos zu Boden rutschen. Er wendete und fuhr zum Puppenhaus zurück. Er parkte die Cadillette in der Seitenstraße, stieg aus und rüttelte an der Hintertür. Sie war noch immer unverschlossen. Er ging zur Cadillette zurück, hob die leblose Puppe auf, trug sie hinein und lehnte sie gegen die Puppenbox. Dann öffnete er die Tür hinter der Bar, von der aus eine Treppe zum Kontrollraum im ersten Stock führte. Er stieg langsam hinauf. Die indirekte Beleuchtung hüllte ihn in rosa Licht, ein schwerer Läufer auf der Treppe dämpfte seine Schritte. Der Korridor im ersten Stock war heller beleuchtet. Kein Wunder, daß er nie eine Dirigentin in der Bar gesehen hatte: Sie verfügten über einen anderen Eingang. Der Kontrollraum lag jedoch direkt über der Bar, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Ein Schild an der Tür informierte ihn, daß der Zutritt nur hier Beschäftigten gestattet war, aber die Tür des beleuchteten Raums stand einen Spalt breit offen; er stieß sie
ganz auf und betrat unerschrocken das Heiligste aller Heiligtümer. Der große Raum war in zahlreiche, kleine Kabinen unterteilt, über deren schmale Türen jeweils eine Metallplatte mit einer geheimnisvollen Kombination aus Buchstaben und Ziffern angebracht war. Carter ging die Türen entlang und las die Kombinationen, bis er die eine gefunden hatte, die er suchte. Die Tür darunter stand offen und er trat in die strahlend hell beleuchtete Kabine. Die Kabine war leer. Er hatte nichts anderes erwartet: die offenen Türen und die eingeschaltete Beleuchtung zeigten deutlich, daß die Seele der Puppe E-VA-4 hastig geflüchtet sein mußte. Aber obwohl die Kabine keine Seele mehr enthielt, waren ihre Apparate zurückgeblieben. Verschiedenfarbige Drähte führten einzeln und in ganzen Bündeln aus Wänden, Decke und Fußboden zu Armen, Ständer, Rückenlehne und Fußstütze eines großen Liegesessels. Über dem Sessel war ein Metallhelm, der entfernt an die im zwanzigsten Jahrhundert gebräuchlichen Trockenhauben erinnerte, so aufgehängt, daß er sich je nach Körpergröße und Position der Sitzenden verstellen ließ. Metallelektroden an beiden Armen und an der Fußstütze des Sessels warteten nur darauf, sich um Handgelenke und Knöchel schließen zu können.
Carter legte eine Hand auf das Sitzpolster. Es war noch warm. Plötzlich fragte er sich, was man als Puppenfreundin wohl empfand? Er nahm in dem Sessel Platz, stellte die Füße auf die dafür vorgesehene Fußstütze und legte die Elektroden an seine Knöchel an. Dann lehnte er sich zurück und zog den Helm nach unten über seinen Kopf. Er entdeckte, daß die anderen Elektroden sich durch einen leichten Druck des Handgelenks schließen und öffnen ließen. Er schloß sie und tastete mit den Fingern der rechten Hand nach dem Schalter, der sich logischerweise in ihrer Reichweite befinden mußte. Er fand ihn sofort und betätigte ihn ... Er war plötzlich von einem ungewissen Halbdunkel umgeben. Er stellte fest, daß er irgendwo in völlig verkrampfter Stellung saß und kaltes Metall im Rükken hatte. Er erhob sich zögernd ... und erkannte jetzt, daß er am Rand der Tanzfläche neben der Puppenbox stand. Er trug ein goldenes Abendkleid. Sein Haar fiel bis auf die Schultern. Er war Eva. Er machte einen Schritt. Noch einen. Er spürte den Boden unter seinen Füßen. Unter ihren Füßen. Er hob seine ... ihre Hand, berührte sein ... ihr Gesicht. Er spürte den Druck seiner ... ihrer Finger auf seiner ... ihrer Haut.
Er tanzte. Ganz allein. Im Halbdunkel. Durch die hellen Neonlichtflecke, die von der Straße her in den Raum fielen. Er rannte in den ersten Stock hinauf und betrachtete sich im Liegesessel der Kabine E-V-A-4. Er lief wieder nach unten. Er hätte nie geahnt, daß Dirigentin und Gliederpuppe so völlig eins waren. Aber schließlich hätte er auch nie vermutet, daß eine Dirigentin den Versuch unternehmen würde, ihn durch ihre Puppe zu ermorden, nur weil er sie als eine alte Jungfer mit akuter Mikromastie bezeichnet hatte. Mit dieser Tatsache konnte er sich nicht ohne weiteres abfinden. Es war fast nicht vorstellbar, daß eine Frau, selbst eine verbitterte alte Jungfer, die er nie gesehen hatte, ihn umbringen wollte, weil er zufällig eine taktlose Bemerkung gemacht hatte. Aber er nahm nur an, daß er sie nie gesehen hatte. Vielleicht hatte er sie gesehen. Vielleicht kannte er sie ... Er war langsam über die Tanzfläche gegangen. Jetzt blieb er plötzlich stehen. Er spürte Evas lange Robe an Evas Knöcheln. Er spürte, daß Evas Fingernägel sich schmerzhaft in Evas Handflächen gruben. Er hörte seine Worte, die durch Evas mechanischen Kehlkopf gebildet wurden, er hörte Evas ungläubiges Flüstern: »Miß Stokes!« Aber es konnte nicht Miß Stokes sein! Miß Stokes
war so nett und bescheiden und hilfsbereit. Miß Stokes war völlig außerstande, einen Mord zu begehen! Ja, aber das war Evas Dirigentin ebenfalls. Doch Miß Stokes arbeitete bei Brainstorm, Inc. Ja, an Wochentagen von neun bis drei und von neun bis zwölf an Samstagen – und es war allgemein bekannt, daß sie gleichzeitig zwei Jobs hatte. Sie konnte ohne weiteres wochentags eine halbe Schicht im Puppenhaus übernehmen und samstags voll arbeiten. Das war möglich. Aber Miß Stokes mochte ihn. Auf ihre komische Art liebte sie ihn sogar ... Konnte diese Liebe sie nicht dazu getrieben haben, hier Dirigentin zu werden, weil sie vielleicht hoffte, dann zumindest stellvertretend geliebt zu werden? Aber Miß Stokes war eine harmlose, alte Jungfer! Ja. Eine alte Jungfer mit akuter Mikromastie ... Carter führte Eva in die Puppenbox zurück und verließ das Gebäude durch die Hintertür, wo seine Cadillette stand. Er fuhr nach Hause, achtete kaum auf die Straße und wäre fast mit einem anderen Wagen zusammengestoßen. Als er das Appartement erreicht hatte, ging er als erstes in die Küche und entkorkte eine Flasche Whisky. Er nahm einen langen Zug aus der Flasche und ließ sich am Küchentisch nieder. Er sah, daß seine Hände
zitterten. Das überraschte ihn nicht: Die Entdeckung, daß jemand, den er seit Jahren kannte, ihn zu ermorden versucht hatte, weil er sie als alte Jungfer mit akuter Mikromastie bezeichnet hatte, genügte völlig, um jeden nervös zu machen. Sir Gawain war aufgewacht, als er die Küchenbeleuchtung eingeschaltet hatte und krächzte jetzt in seinem Käfig vor sich hin. »Mi... Mi...« Carter schüttelte den Kopf. Er konnte es noch immer nicht recht glauben. Miß Stokes. Arme Miß Stokes mit den leuchtenden Augen, die jeden Samstag bei der Massendenkversammlung unweigerlich neben ihm saß und seine Hand in ihrer hielt, die ihm zu Weihnachten eine Krawattennadel mit seinem Monogramm geschenkt hatte, die ihm wie ein Schulmädchen Augen machte und rot wurde, wenn er an ihrem Schreibtisch vorbeiging ... »Mikromastie«, sagte Sir Gawain. »Mikromastie!« Carter hatte die Whiskyflasche wieder an den Mund gehoben. Jetzt setzte er sie langsam ab. Seine Hand zitterte so heftig, daß ihm die Flasche fast aus den Fingern geglitten wäre. Er überlegte angestrengt: er konnte sich nicht daran erinnern, dieses Wort laut ausgesprochen zu haben. Er wußte sogar, daß er es nicht gesagt hatte. Und Sir Gawain war nicht telepathisch begabt. Er konnte zwar gut sprechen, war aber trotzdem nur ein Vogel.
Folglich ... Carter stand auf und riß das Tuch vom Käfig. Sir Gawain blinzelte ihn vorwurfsvoll an. »Mikromastie«, sagte Carter. »Mikromastie«, wiederholte Sir Gawain. »Akute Mikromastie!« Carter zuckte zusammen. Er ließ das Tuch zu Boden fallen. Er ging durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer hinauf. Er sah hinein. Marcias Bett war leer. Er ging wieder ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer der Zeitansage. Seine Armbanduhr ging eine halbe Stunde vor. Er kehrte in die Küche zurück. Zu der Whiskyflasche. Weshalb? fragte er sich. Dann: Wie? Die zweite Frage war leichter zu beantworten: Jede Frau konnte Dirigentin werden. Jede Frau konnte es vermeiden, ihrem Mann genau zu erzählen, wo sie arbeitete – ganz besonders dann, wenn ihr Mann so desinteressiert war, daß er nicht einmal danach fragte. Und jede Frau konnte ihrem Mann ein mildes Schlafmittel in den Kaffee schütten, damit er lange und fest schlief, während sie seine Armbanduhr und die zweite Uhr in der Küche eine halbe Stunde vorstellte, damit sie das heimliche Rendezvous mit ihm einhalten konnte, ohne daß er etwas davon merkte. Aber die erste Frage war viel schwieriger ... Warum?
Und dann machte er eine Entdeckung: eine Tat ohne offenbares Motiv brachte den Menschen, der sie begangen hatte, automatisch in eine veränderte Perspektive und gestattete Einblicke, die sonst unmöglich gewesen wären ... Er sah seine Frau plötzlich zum erstenmal – ihre Gefühle, die nach Ausdruck suchten und ihr Verstand, der ihnen diesen Ausdruck hartnäckig verweigerte; ihr Körper, der sich nach ihm sehnte wie er sich nach ihr, und ihr Intellekt, der gleichzeitig von seiner primitiven Vorliebe für gräßliche Nachrichten abgestoßen wurde, der seine Leidenschaft für Puppenfreundinnen mit zunehmender Verwirrung zur Kenntnis nahm ... Plötzlich wurde ihm klar, daß Marcia nur als Puppenfreundin – als Eva Vier – den Sexualkomplex vergessen konnte, der sonst ihr Denken beherrschte; nur in dieser anderen Gestalt war sie ungezwungen, natürlich und charmant, wie es eigentlich ihrem Wesen entsprach. Als Eva hatte er sich in sie verliebt. Hatte sie sich in ihn verliebt? Und hatte seine Bemerkung, daß Evas Dirigentin eine alte Jungfer mit Mikromastie war, ihre Liebe in Haß verwandelt? Aber warum nur? Eine Bemerkung dieser Art hätte eine Frau mit Marcias Qualitäten eigentlich amüsie-
ren müssen. Marcia war keine alte Jungfer mit akuter Mikromastie. Oder doch? War sie nicht wirklich – im übertragenen Sinne – viel eher eine alte Jungfer, als Miß Stokes es war? Miß Stokes hätte die Liebe zumindest freudig begrüßt, wenn sie ihr je begegnet wäre; aber dazu war es leider nie gekommen. Marcia mußte diese Gelegenheit schon öfters gehabt haben, aber sie hatte sie nie begrüßt. Statt dessen hatte sie die Liebe zurückgewiesen oder sie bestenfalls erduldet. Litt sie also im Grunde genommen nicht an einer ganz speziellen akuten Mikromastie, und war es nicht vorstellbar, daß er sie unbewußt tödlich beleidigt hatte, so daß sie nicht mehr klar denken konnte, weil seine Bemerkung zwar in Wirklichkeit nicht im entferntesten zutraf, aber dafür in anderer Beziehung so überwältigend richtig war, daß sie wesentlich verletzender wirken mußte? Im Flur waren leise Schritte zu hören. Marcia nach einer wilden Fahrt durch die Straßen der Stadt und der Vororte, entsetzt und erschrocken über die Tat, die sie fast begangen und dann zum Glück doch nicht ausgeführt hatte; vielleicht sogar so erschrocken, daß sie sich endlich ihrer selbst bewußt war. Jetzt wieder zu Hause; reumütig, ängstlich ... Wieviel Elend hätte er ihr ersparen können, wenn
er schon früher den Versuch gemacht hätte, sie wirklich zu verstehen? Wieviel ihrer echten Liebe hätte ihm gehören können, wenn er nur einige Konzessionen an ihren intellektuellen Idealismus gemacht hätte, wenn er nur halbwegs versucht hätte, so unmöglich edel zu sein, wie sie sich ihren Mann vorstellte? Vielleicht war es noch nicht zu spät, konnte er ihr noch helfen? Wenn sie ihn nur ließ. Wenn ... Die Tür zur Diele wurde aufgeschlossen. Er stand im Wohnzimmer und wartete in der Dunkelheit. Die Tür öffnete sich langsam. Sie zögerte kurz auf der Schwelle, blieb stehen, sah ihm forschend in die Augen. Und dann lag sie schluchzend in seinen Armen. »Schon gut, Marcia«, flüsterte er. »Schon gut, Liebling.«
CHARLES BEAUMONT
Das letzte Problem Irgendwo in der Kirche kreischte ein Baby. Pater Courtney hörte zu, seufzte und machte das Kreuzzeichen. Wieder ein Kampf, dachte er betrübt. Wieder ein heftiges Tauziehen. Und wer hat diesmal gesiegt, Herr? Ich? Oder das quäkende Kleine, segne seine Unschuld? »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Er drehte sich um, stieg langsam von der Kanzel herab und sagte sich dabei: Nun, weiß der Himmel, eigentlich müßtest du dich unterdessen daran gewöhnt haben. Schließlich bist du kein Monologist, sondern Priester. Was kümmert dich eine ›Zuhörerreaktion?‹ Und wer hört deinen Predigten eigentlich überhaupt zu – selbst unter besten Voraussetzungen? Ein paar alte Damen aus der Gemeinde (du bist allerdings selbst davon überzeugt, daß sie kein Wort hören oder verstehen) und natürlich Donovan. Aber wer noch? Kreisch nur, kleines, rosa Baby! Kreisch, bis du ... nein. Nein, nein. Ahhh!
Er ging durch die Sakristei und bemühte sich, nicht an Donovan zu denken – oder an die großen Stadtkirchen mit ihren prächtigen Kindergärten und schalldichten Wänden und Verstärkern, die wirklich verstärkten ... Man hatte, was man hatte: Es war Gottes Wille. Und war alles tatsächlich so schlimm? Hier duftete es doch nach Wald, nicht wahr? Und in welcher Stadtgemeinde sah man wilde Blumen wie bunte Lava auf den Hügeln wachsen? Wo spürte man dort, daß die Erde atmete? Er öffnete die Tür und trat ins Freie. Die Felder lagen dunkelgrau und still vor ihm. Hoch über der Erde, schon fast in den Wolken, bewegte sich eine Raketenpinasse rasch über den Himmel und zog ihren langsamen Donner hinter sich her. Pater Courtney blinzelte. Natürlich war alles nicht so schlimm. Alles wäre sogar in bester Ordnung, und ich wäre nicht nervös, würde mich nicht über kleine Kinder ärgern, wenn ... Er faltete plötzlich die Hände. »Vater«, flüsterte er, »laß ihn wieder gesund werden. Das sei dein Wille!« Dann beschloß er, heute nicht auf die Kirchgänger zu warten und sie zu begrüßen, wischte sich die Hände mit seinem Taschentuch ab und ging auf das Pfarrhaus zu.
Der Morgen war sehr kalt. Eine dünne Tauschicht überzog jeden Kieselstein am Wegrand und ließ sie alle wie Quecksilbertropfen glitzern. Pater Courtney sah die Steine und dachte daran, wie oft er diesen Weg schon gegangen war, der durch den Wald zum Fluß führte, und er dachte an sein Lachen, an ausgezeichneten Wein, weiche Kissen und endlose freundschaftliche Diskussionen, an tausend heitere Stunden in der Vergangenheit. Er ging gedankenverloren weiter und hörte das Telefon erst klingeln, als er schon auf der Treppe des Pfarrhauses stand. Unerklärlicherweise lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er ging an den Apparat und drückte auf einen gelben Knopf. Der Bildschirm flimmerte, wurde klar. Das Gesicht eines alten Mannes füllte den Bildschirm. »Hallo, Pater.« »George!« Der Priester drohte lächelnd mit der geballten Faust. »George, warum haben Sie so lange nichts mehr von sich hören lassen?« Er stotterte fast vor Aufregung. »Müssen Sie noch immer im Bett liegen?« »Leider, Pater.« »Na, das habe ich erwartet, das habe ich gewußt. Darf ich jetzt einen Arzt holen?« »Nein ...« Der alte Mann auf dem Bildschirm schüt-
telte den Kopf. Er war hager und blaß. Sein Haar war noch dicht, aber sehr weiß, und Pater Courtney glaubte zu erkennen, daß seine Augen fiebrig glänzten. »Ich wollte Sie bitten, mich hier zu besuchen, wenn Sie Zeit haben.« »Eigentlich sollte ich es nicht tun«, sagte der Priester, »nachdem Sie uns alle so behandelt haben. Aber wenn noch etwas Chianti übrig ist ...« George Donovan nickte. »Könnten Sie gleich kommen?« »Pater Yoshida wäre nicht gerade glücklich darüber.« »Bitte. Gleich jetzt.« Pater Courtney ballte unwillkürlich die Fäuste. »Warum?« fragte er und bemühte sich, weiterhin ruhig zu sprechen. »Ist irgend etwas los?« »Eigentlich nichts«, antwortete Donovan. Er lächelte kurz. »Ich liege nur im Sterben.« »Und ich rufe Doktor Ferguson an. Davon lasse ich mich nicht mehr abbringen, George. Dieser Unsinn ist wirklich ...« Der alte Mann runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er laut. »Das verbiete ich Ihnen!« »Aber Sie sind krank, Mann. Wahrscheinlich sogar ernstlich krank. Und wenn Sie glauben, ich würde die Hände in den Schoß legen und einfach zusehen, bis Sie krankenhausreif sind, nur weil Sie diese verrückte
Abneigung gegen Ärzte haben, irren Sie sich gewaltig.« »Pater, hören Sie zu ... bitte. Ich habe meine Gründe dafür. Sie verstehen sie nicht, und ich nehme Ihnen das auch nicht übel. Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie niemand anrufen.« Pater Courtney atmete unregelmäßig; er studierte das Gesicht seines Freundes. Dann sagte er: »Gut, ich verspreche Ihnen, daß ich keinen Arzt hole, bevor ich bei Ihnen bin.« »Einverstanden.« Der alte Mann nickte zufrieden. »Ich bin in einer Viertelstunde da.« »Mit Ihrer kleinen, schwarzen Tasche?« »Ganz bestimmt nicht. Sie werden doch wieder gesund.« »Nehmen Sie sie mit, Pater. Für alle Fälle.« Der Bildschirm flimmerte und tanzte und wurde weiß. Pater Courtney blieb unschlüssig vor dem leeren Bildschirm stehen. Dann ging er an den Tisch, hob beide Fäuste und schlug einmal krachend auf die Platte. Du wirst wieder gesund, dachte er. Es ist noch nicht zu spät. Denn wenn du stirbst, wenn du wirklich stirbst, und ich hätte es verhindern können ... Er holte seinen Mantel aus dem Kleiderschrank.
Der Mantel war dick und schwer, aber er wärmte trotzdem nicht. Als Pater Courtney in die Sakristei zurückkehrte, zitterte er und dachte, er habe in seinem Leben noch nie so gefroren. Der Helicar schwirrte und sank rasch zu Boden. Pater Courtney zog den Zündschlüssel ab, steckte ihn in die Tasche und zwängte sich ächzend durch den schmalen Ausstieg. Ein dumpfes Grollen zog über den Himmel. Das akustische Kielwasser einer Raumflotte, die einen, zehn, hundert Kilometer weit entfernt ihre Bahn zog. In unserem Hinterhof regnet es Wale, dachte der Priester, als er sich erinnerte, wie Donovan einmal dieses Geräusch einem kleinen Mädchen erklärt hatte. Der Wind trieb leise raschelndes Herbstlaub gegen seine Beine, und er blieb einen Augenblick lang stehen, hörte das ersterbende Grollen der Raketen und beobachtete die roten und goldgelben Blätter, die im Wind Flammenzungen glichen. Dann flüsterte er: »Das sei dein Wille, Herr« und öffnete das Gartentor. Die Haustür stand offen. Er trat über die Schwelle, ging durchs Wohnzimmer, warf einen Blick ins Arbeitszimmer. »George?« »Hier«, antwortete eine Stimme.
Er ging ins Schlafzimmer hinüber. George Donovan lag in einen Kissenberg zurückgelehnt. Sein hageres Gesicht war kreidebleich. Er lächelte. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Pater«, sagte er ruhig. Pater Courtneys Herz schien anzuschwellen, schrumpfte wieder zusammen und begann heftig in seiner Brust zu klopfen. »Der Chianti steht hier im Nachttisch«, sagte Donovan mit einer schwachen Handbewegung. »Schenken Sie ein – morgens ist keine schlechte Zeit für einen guten Tafelwein.« »Nicht jetzt, George.« »Bitte. Es hilft vielleicht.« Pater Courtney zog die Schublade auf und nahm die halbvolle Chiantiflasche heraus. Er holte ein Glas aus dem Bücherregal, füllte es und fragte dann pflichtbewußt, wie es ihrem vertrauten Ritual entsprach: »Und für Sie?« »Nein«, sagte Donovan. »Trotzdem vielen Dank.« Er wandte den Kopf zur Seite. »Setzen Sie sich hierher, Pater, wo ich Sie sehen kann.« Der Priester runzelte die Stirn. Ihm fiel auf, daß Donovans Arme völlig bewegungslos auf der Decke lagen, daß sein ganzer Körper steif ausgestreckt im Bett ruhte. Nur der Kopf des Alten bewegte sich, aber auch diese Bewegungen waren unnatürlich langsam.
»Das ist schon besser. Ziehen Sie aber Ihren Mantel aus – hier ist es schrecklich heiß. Sie holen sich sonst eine Lungenentzündung.« Durch die geöffneten Fenster drang ein eisiger Luftzug. Pater Courtney zog sich den Mantel aus. »Sie machen sich meinetwegen Sorgen, nicht wahr?« fragte Donovan. Der Priester nickte. Er versuchte zu erraten, was hier nicht stimmte, versuchte die Krankheit zu diagnostizieren, wenn es überhaupt eine Krankheit gab, wenn es irgend etwas gab. »Das tut mir leid.« Der Alte schien zu seufzen. Seine Augen waren feucht und in rätselhafte Fernen gerichtet. »Aber ich wollte allein sein. Manchmal muß man allein sein, um zu denken, um mit sich selbst ins reine zu kommen, nicht wahr?« »Vielleicht manchmal, aber ...« »Nein. Ich weiß, was Ihnen auf der Zunge liegt, welche Fragen Sie stellen möchten. Aber dazu reicht die Zeit nicht mehr aus ...« Pater Courtney stand auf und ging rasch ans Telefon. Er drückte auf den Sprechknopf. »Tut mir leid, George«, sagte er dabei, »aber Sie brauchen einen Arzt.« Der Bildschirm flimmerte nicht. Er drückte nochmals fest auf den Knopf.
»Setzen Sie sich hin«, flüsterte die müde Stimme. »Der Apparat funktioniert nicht. Ich habe die Drähte vor zehn Minuten abgerissen.« »Dann fliege ich eben nach Milburn ...« »Wenn Sie das tun, bin ich tot, bis Sie zurückkommen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Der Priester zuckte resigniert mit den Schultern und setzte sich wieder. Donovan lächelte. »Trinken Sie aus«, sagte er. »Es wäre doch eine Schande, den guten Wein verderben zu lassen, nicht wahr?« Pater Courtney hob das Glas an die Lippen. Er versuchte klar zu denken. Wenn er nach Milburn flog und Doktor Ferguson holte, bestand vielleicht noch Hoffnung. Oder ... Er nahm einen großen Schluck. Nein. Das genügte nicht. Es konnte Stunden dauern. Donovan sprach jetzt. Seine Worte gingen zunächst in dem Summen unter, das plötzlich den Raum erfüllte. Dann wurde ein entferntes Murmeln hörbar, bis seine Stimme schließlich so deutlich wie ein lautes gestelltes Radio klang: »Pater, wie lange sind wir jetzt schon Freunde, Sie und ich?« »Nun ... zwanzig Jahre«, antwortete der Priester. »Oder mehr.« »Würden Sie sagen, daß Sie mich inzwischen sehr gut kennen?«
»Ja, das glaube ich.« »Dann beantworten Sie mir bitte gleich eine Frage: Würden Sie sagen, daß ich ein guter Mann gewesen bin?« Pater Courtney lächelte. »Es hat schlechtere gegeben«, sagte er und dachte daran, was dieser Mann im Laufe der Jahre auf seine ruhige, unbeirrbare Art in Mount Vernon erreicht hatte. Der Bau einer besseren Schule für die Kinder – Donovan hatte die Leute von dieser Notwendigkeit überzeugt. Das neue Krankenhaus – Donovan hatte den Anstoß dazu gegeben, hatte geduldig für seine Ideen geworben. Ein Klubhaus für die Jugend; ein städtischer Armenfonds; bessere Lehrer, bessere Ärzte – alles, alles wegen eines alten Mannes mit sanfter Stimme: George Donovan. »Ist das Ihr Ernst?« »Reden Sie keinen Unsinn. Sie brauchen sich aber auch nicht geschmeichelt zu fühlen. Natürlich meine ich das ernst.« Plötzlich zog ein seltsamer Geruch durch den Raum. »Das freut mich«, sagte der Alte. Er bewegte sich nicht. »Aber es tut mir leid, daß ich danach gefragt habe.« »Ich verstehe überhaupt nicht, was das alles soll.« »Ich auch nicht ganz, Pater. Früher habe ich mir eingebildet, ich wüßte es, aber das war ein Irrtum.«
Der Priester schlug sich ärgerlich mit der flachen Hand aufs Knie. »Warum lassen Sie mich nicht einen Arzt holen? Später können wir uns noch lange genug unterhalten.« Donovans Augen verengten sich und er schien fast zu lächeln. »Sie sind mein Arzt«, sagte er. »Der einzige, der mir jetzt helfen kann.« »Wodurch?« »Indem Sie eine Entscheidung treffen.« Seine Stimme klang heiser; sie schien zu schwanken und jäh die Tonhöhe zu wechseln. »Welche Entscheidung?« Donovan hob ruckartig den Kopf. Er schloß die Augen und blieb eine Minute lang unbeweglich in dieser Stellung, während der beißende Geruch sich nach allen Seiten ausbreitete. »›... und der Gentleman war dem Tode nah, als er an seinem Bette Erinnyen stehen sah ...‹ Kennen Sie das, Pater?« »Ja«, sagte der Priester. »Thomas, nicht wahr?« »Thomas. Er ist eigentlich immer hier bei mir, wissen Sie; und ich habe ihn schon alles Mögliche gefragt. Auch über die Theorie, daß Dichter keine richtigen Menschen sind. Aber er grinst nur. ›Du stirbst am Unbekannten‹, sagt er und grinst dabei. Gott segne ihn.« Der alte Mann senkte den Kopf. »Er hat mich enttäuscht.«
Pater Courtney griff nach einer Zigarette, knüllte die leere Packung zusammen, faltete die Hände und streckte die Finger wieder. Er wartete, dachte an seine vielen Besuche in diesem Haus, erinnerte sich an die schönen Abende. Sollte das alles jetzt ein Ende haben? Ja. Er wußte es plötzlich ganz genau: Das Ende stand unmittelbar bevor. »Welche Entscheidung, George?« »Eine theologische.« Pater Courtney schnaubte und ging ans Fenster. Die Sonne stand hinter hellgrauen Wolkenschleiern. Vögel saßen schwarz und schweigend auf den Telefondrähten; sie erinnerten ihn an Noten. In der Luft hing Regen. »Glauben Sie, daß Sie mir etwas zu erzählen vergessen haben?« fragte er. »Ja.« »Betrifft es Sie selbst?« »Ja.« »Das bezweifle ich, George.« Der Priester wandte sich um. »Ich weiß schon seit langem Bescheid.« Der Alte versuchte zu sprechen. »Ich weiß es sogar recht gut. Und ich verstehe allmählich, weshalb Sie sich so abgesondert haben.« »Nein«, sagte Donovan. »Sie irren sich. Pater, hören Sie zu – es handelt sich um etwas ganz anderes.«
»Unsinn!« Pater Courtney nahm zu seiner gewohnten Barschheit Zuflucht. »Dazu sind wir viel zu lange befreundet. Es handelt sich genau darum, was ich denke. Sie sind ein intelligenter, belesener, sturer, alter Mann, der Angst hat, er könnte vielleicht nicht in den Himmel kommen, weil er gelegentlich Zweifel hat.« »Das ist nicht ...« »Unsinn, habe ich gesagt! Bilden Sie sich etwa ein, ich käme nie auf die Idee, mir ebenfalls Fragen zu stellen? Glauben Sie, daß ich blind durch die Welt stolpere, gegen alle Zweifel gefeit, weil ich Priester bin?« Der Alte betrachtete ihn von oben bis unten. »Jeder intelligente Mensch hat von Zeit zu Zeit gewisse Zweifel, George. Aber ich versichere Ihnen, wenn das allein ausreichte, uns alle zu verdammen, wäre der Himmel unbewohnt und leer.« Pater Courtney griff wieder nach seiner Zigarette. »Sie haben sich also wie ein Eremit abgeschlossen, haben sich Sorgen gemacht und sogar Ihr Leben gefährdet – und das alles aus dieser lächerlichen Befürchtung heraus.« Er hustete. »Schön, das war es doch nicht wahr?« »Wollte Gott, Sie hätten recht«, sagte Donovan traurig. Er wich dem Blick des Priesters aus. Nach einer längeren Pause sagte er schließlich: »Ich möchte Ihnen ein theoretisches Problem vorlegen, Pater, das mich in letzter Zeit beschäftigt.«
Pater Courtney erinnerte sich gut an diesen Satz, der schon unzählige abendliche Diskussionen eingeleitet hatte – wunderbare Gespräche zwischen Freunden! Diese Abende, das wurde ihm jetzt klar, waren ein Teil seines Lebens. Ein wichtiger Bestandteil. Denn es gab keinen anderen, keinen mit Donovans Intelligenz, der jedes Thema begierig aufgriff – von Frescobaldi bis Baseball, von Marssonden bis zu französischen Impressionisten, Landreform, Weine, Theologie ... Der alte Mann bewegte sich in seinem Bett. Der beißende Geruch war stärker als zuvor. »Sie haben mir einmal erzählt«, sagte er, »daß Sie gern Science Fiction-Stories lesen, nicht wahr?« »Richtig.« »Und daß Sie verschiedene Begriffe daraus akzeptieren könnten, zum Beispiel Parallelwelten, Mutanten und so weiter aber daß Ihnen andere Vorstellungen immer unbegreiflich geblieben seien. Soweit ich mich erinnere, haben Sie damals künstliches Leben, Zeitreisen und ähnliche Dinge erwähnt.« Der Priester nickte. »Schön, dann können wir einen dieser unglaublichen Begriffe zur Grundlage unseres Problems machen. Einverstanden? Nehmen wir gleich den ersten.« »Einverstanden. Und dann hole ich den Arzt.« »Wir haben es also mit diesem Mann zu tun, Pater«, sagte Donovan und sah zur Decke auf. »Er sieht
ganz normal aus, wissen Sie, und niemand würde auf die Idee kommen, daran zu zweifeln; aber er ist nicht wie die anderen. Genauer gesagt – er ist nicht einmal ein Mann. Obwohl er lebt, ist er nicht lebendig. Können Sie mir folgen? Er ist ein Ding aus Drähten und Zahnrädern und Erfindergeist, das andere Menschen geschaffen haben. Er ist eine Maschine ...« »George!« Der Priester schüttelte den Kopf. »Darüber haben wir schon oft genug gesprochen; das ist bloße Zeitverschwendung. Ich bin nicht gekommen, um hier eine unsinnige Diskussion zu führen, sondern um Ihnen zu helfen.« »Aber dadurch können Sie mir helfen«, sagte Donovan. »Meinetwegen«, seufzte Pater Courtney. »Aber Sie wissen, was ich davon halte. Selbst wenn es einen logischen Zweck gäbe, den ein Wesen dieser Art erfüllen könnte – und mir fällt keiner ein –, behaupte ich weiterhin, daß es nie eine Maschine geben wird, die abstrakt denken kann. Die menschliche Intelligenz hat geistige Grundlagen – und dieses geistige Fundament läßt sich nicht von Maschinen kopieren.« »Glauben Sie das wirklich?« »Selbstverständlich glaube ich das. Die Extrapolation bekannter wissenschaftlicher Tatsachen ist völlig in Ordnung; aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes.«
»Wirklich?« fragte der Alte. »Wie steht es mit Pasteurs Entdeckung? Oder mit dem Röntgengerät? Hat Röntgen nur eine Unmenge noch nicht völlig ausgereifter Informationen kombiniert, Pater, oder hat er eine brandneue Erfindung gemacht? Was hätten wohl die Wissenschaftler seiner Zeit gesagt, wenn er von einer Maschine gesprochen hätte, mit der man durch Menschen sehen können sollte? Sie hätten seine Idee als Hirngespinst abgetan. Und sie war auch phantastisch. Aber trotzdem gibt es heute das Gerät.« »Das ist etwas anderes.« »Ja ... Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber ich bestehe gar nicht darauf, Sie von meiner These zu überzeugen. Ich möchte nur, daß wir um des Problems willen von dieser Voraussetzung ausgehen. Einverstanden?« »Bitte weiter, George.« »Wir haben es also mit diesem Mann zu tun. Er ist künstlich, aber er ist vollkommen: Darauf wurde bei seiner Konstruktion besonders großer Wert gelegt. Selbst kleine Details sind perfekt gelungen. Er sieht wie ein Mensch aus, und er benimmt sich wie ein Mensch, und soweit andere darüber urteilen, ist er ein Mensch. Folglich braucht es uns nicht zu wundern, daß er, unser Mann, gelegentlich selbst in Verwirrung gerät. Spürt er zum Beispiel Herzschmerzen, muß er sich mühsam daran erinnern, daß er gar kein
Herz in der Brust hat. Wacht er nach einem längeren Schlaf erfrischt auf, muß er sich daran erinnern, daß alles von einem automatischen Schalter irgendwo in seinem Gehirn kontrolliert wird und daß er sich nicht wirklich erfrischt fühlt. Er muß denken: Ich bin nicht wirklich, ich bin nicht wirklich, ich bin nicht wirklich! Aber das wird nach einiger Zeit unmöglich, denn er glaubt es nicht mehr. Er beginnt sich zu fragen: Warum? Warum bin ich nicht wirklich? Woraus besteht eigentlich der Unterschied, wenn man es genau betrachtet? Menschen essen und schlafen – ich auch. Sie sprechen – ich auch. Sie gehen und arbeiten und lachen – ich auch. Was sie denken, denke ich ebenfalls, und was sie fühlen, fühle ich genauso. Oder etwa nicht? Und dann fragt er sich, dieser mechanische Mann fragt sich, Pater, was wäre, wenn alle Menschen plötzlich feststellen müßten, daß sie ebenfalls mechanisch sind? Würden sie sich dann weniger menschlich fühlen? Ist es wahrscheinlich, daß sie in Zukunft Liebesgedichte an Schreibmaschinen und Elektronenrechnern verfassen würden? Oder würden sie vielleicht daran denken, ihre Auslegung des Begriffs ›Leben‹ zu revidieren? Nun, unser Mann denkt immer wieder darüber nach, ohne zu einem bestimmten Schluß zu kommen. Er hält sich für mehr als nur eine hochentwickelte Re-
chenmaschine, kann aber nicht wirklich glauben, ein echter Mensch zu sein – er ist es jedenfalls nicht völlig. Er weiß nur, daß nasses Gras für ihn angenehm riecht und daß der Wind in den Blättern sehr traurig, aber auch sehr schön klingen kann und daß er die ganze Erde leidenschaftlich liebt ...« Pater Courtney rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Wenn ich nur telefonieren könnte, dachte er. Oder wenn ich genau wüßte, daß ich ihn in diesem Zustand alleinlassen dürfte ... »... dieses Wesen wurde von anderen Menschen geschaffen, wie ich bereits erwähnt habe; aber es war nicht das einzige. Wir dürfen jedoch annehmen, daß unser Mann die einzige erfolgreiche Konstruktion war.« »Warum?« fragte der Priester irritiert. »Warum sollte sich jemand überhaupt damit befassen?« Donovan lächelte. »Warum haben wir damals die ersten Menschen auf den Mond geschickt? Warum haben wir uns die Mühe gemacht, Atome zu spalten? Aus keinem wichtigen Grund, Pater. Eigentlich nur aus dem Grund, der hinter jedem wissenschaftlichen Fortschritt steht: Neugier. Meine theoretischen Wissenschaftler waren ebenfalls neugierig, ob sich ihre Idee verwirklichen ließe, das ist alles.« Der Priester zuckte mit den Schultern.
»Aber vielleicht gebe ich unserem Mann lieber einen Lebenslauf. Das macht alles etwas logischer. Schön, er wurde vor etwa hundert Jahren geboren. Seine Mutter war ein Industriekonzern in Privatbesitz, und sein Vater war ein Team aus zwölf oder fünfzehn Naturwissenschaftlern und Technikern. Als er das Licht der Welt erblickte, war er geistig und körperlich bereits voll entwickelt. Aber ein Zufall – eine Unachtsamkeit, eine Panne, ein nicht vorausberechneter Faktor – bewirkte in seinem Fall, daß er sich wesentlich von seinen erfolglosen Brüdern unterschied. Ein Mutant? Ein mutierter Roboter, Pater – das ist eine Vorstellung, die Ihnen gefallen müßte! Jedenfalls wußte er, wer oder was er war. Er erinnerte sich. Und als wenig später der Krieg ausbrach, der die Experimente vorläufig beendete und ein allgemeines Chaos hervorrief, beschloß unser Mann zu fliehen. Er wollte seine Individualität. Er wollte aus diesem Zoo entkommen. Das war nicht gerade leicht, aber er schaffte es. Sobald die Flucht geglückt war, bestand keine Aussicht mehr, ihn jemals wiederzufinden. Schließlich hatten seine Konstrukteure sich größte Mühe gegeben, ihn dem menschlichen Durchschnitt anzugleichen. Und zudem konnten sie nicht gut bekanntgeben, ein mechanischer Mensch aus ihren Laboratorien irre ziellos durch die Straßen. Das hätte eine Panik hervorgeru-
fen. Und die Bevölkerung hatte damals schon genügend unter Nervengas und Bomben zu leiden.« »Sie haben ihn also nie gefunden, nehme ich an.« »Nein«, sagte Donovan nachdenklich. »Sie haben ihn nie gefunden. Und sie haben ihr Geheimnis gut bewahrt. Es ist mit ihnen gestorben.« »Und was ist mit diesem Wesen geschehen?« »Sehr wenig, um es ganz ehrlich zu sagen. Sie hatten ihm einen brauchbaren Verstand gegeben – viel brauchbarer und komplexer, als sie ahnten, so daß er ohne weiteres Arbeit fand. Ein ziemlich alt aussehender Mann, aber noch rüstig und vor allem kräftig – er kam irgendwie zurecht. Selbstverständlich konnte er nie länger als zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre in der gleichen Stadt bleiben, weil er nicht sichtbar älter wurde, aber das ließ sich eben nicht ändern. Jedermann gewinnt Freunde und verliert sie wieder. Er gewöhnt sich daran.« Pater Courtney saß jetzt ganz ruhig. Die Vögel waren von den Telefondrähten aufgeflogen, flatterten ums Haus und krächzten laut. »Aber er hat in all diesen Jahren nachgedacht, Pater. Er hat viel nachgedacht und viel gelesen. Er interessiert sich vor allem für Philosophie und bevorzugt einige Zeit eine etwas merkwürdige Kombination von Russell und Schopenhauer – unbittere Bitterkeit, könnte man fast sagen. Dann geht auch diese Phase
zu Ende, und er durchforscht die reichhaltige theologische und metaphysische Literatur. Wonach? Das weiß er selbst nicht recht. Aber etwas weiß er jetzt ganz sicher: Er ist unzweifelhaft menschlich. Er besitzt weder Herz noch Lungen, weder Blut noch Knochen, er ist künstlich geschaffen worden – aber trotzdem denkt er das und glaubt sogar einigermaßen fest daran. Ist das nicht bemerkenswert?« »Tatsächlich«, sagte der Priester. Sein Hals war plötzlich seltsam trocken. »Weiter, bitte.« »Aha«, sagte Donovan lächelnd, »ich habe also Ihr Interesse erweckt, wie? Schön, stellen wir uns einmal vor, die hundert Jahre seien vergangen. Unser künstlicher Mann hat von Zeit zu Zeit kleinere Reparaturen an sich selbst ausgeführt, aber jetzt ... stirbt er schließlich doch. Er gleicht einem alten Motor, der Jahr für Jahr zuverlässig läuft, bis er nur noch aus Schmierfett und Haarnadeln besteht, und nun fällt er wie dieser Motor auseinander. Und nichts und niemand kann ihn retten.« Der beißende Gestank wurde immer unerträglicher. »Aber Sie haben das eigentliche Paradoxon noch nicht gehört. Unser Mann ist religiös geworden, Pater! Sein Körper enthält keine einzige, lebende Zelle, und trotzdem ist er um seine Seele besorgt!« Donovan sah zu Pater Courtney hinüber. »Das
Problem«, fuhr er fort, »lautet also: Kann unser Mann hoffen, in den Himmel zu kommen, nachdem er über hundert Jahre lang versucht hat, als anständiger Mensch zu leben? Oder ›stirbt‹ er und wird nur zu einem Haufen Zahnräder?« Der Priester sprang auf und trat ans Bett. »George, um Himmels willen, lassen Sie mich Doktor Ferguson rufen!« »Beantworten Sie zuerst meine Frage. Oder sind Sie sich noch nicht im klaren darüber?« »Darüber braucht man sich nicht erst klar zu werden«, antwortete der Priester ungeduldig. »Das ist eine geradezu widernatürliche Idee, George. Keine Maschine kann eine Seele haben.« Donovan seufzte leise durch kaum geöffnete Lippen. »Ihrer Meinung nach ist es also nicht vorstellbar, daß Gott in diesem Fall eine Ausnahme gemacht haben könnte?« »Was soll das heißen?« »Daß er mit unserem theoretischen Mann Mitleid gehabt und ihm schließlich doch eine Seele eingehaucht haben könnte? Ist das wirklich so unmöglich?« Pater Courtney zuckte mit den Schultern. »Unmöglich ist ein schwacher Ausdruck«, sagte er. »Aber es handelt sich auch um ein schwaches Problem. Warum fragen Sie mich nicht gleich, ob Schweine fliegen können sollten?«
»Sie geben also zu, daß es zumindest vorstellbar ist?« »Ich gebe nichts dergleichen zu. Das ist einfach eine Frage, die kein Mensch beantworten kann.« »Auch ein Priester nicht?« »Ein Priester erst recht nicht. Sie wissen ebensoviel über den Katholizismus wie ich, George! Sie müßten selbst erkennen, wie absurd die ganze Idee ist.« »Ja«, sagte Donovan. Er hielt die Augen geschlossen. Pater Courtney erinnerte sich an den Abend, an dem sie erbittert darüber diskutiert hatten, was wohl passieren würde, wenn man durch die Zeit zurückreiste und seinen eigenen Großvater ermordete. Die heutige Diskussion war ganz ähnlich. Nicht nur ähnlich – sogar genau gleich. Sie war nicht merkwürdiger als ein Dutzend anderer Streitgespräche. (Was wäre, wenn Mozart nicht Komponist, sondern Schriftsteller gewesen wäre? Mußte ein Mensch, der nach seinem Tode durch die Bemühungen der Ärzte wieder zum Leben erweckt worden war, damit rechnen, von seinem eigenen Geist verfolgt zu werden?) Aber diesmal kam vielleicht noch die Tatsache hinzu, daß Donovan hohes Fieber hat. Und ich sitze ruhig hier, während sein Leben unaufhaltsam verrinnt ... Der alte Mann räusperte sich laut. »Aber Sie kön-
nen mir wenigstens eine andere Frage beantworten«, sagte er. »Stellen Sie sich vor, unser theoretischer Mann läge im Sterben, und Sie wüßten genau, daß es mit ihm zu Ende geht – würden Sie ihm da die Letzte Ölung geben?« »Sie phantasieren, George!« »Nein, ich weiß genau, was ich sage. Bitte, Pater! Würden Sie diesem ... Mann die Sterbesakramente gewähren? Wenn Sie sagen wir einmal, mit ihm bekannt wären? Wenn er sogar Ihr Freund, Ihr alter Freund und seit vielen Jahren Mitglied Ihrer Gemeinde wäre?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Das wäre sakrilegisch.« »Aber warum? Sie haben selbst zugegeben, daß er eine Seele haben könnte, daß Gott ihm eine gegeben haben könnte. Haben Sie das nicht gesagt?« »Ich ...« »Pater, denken Sie daran, er ist Ihr Freund. Sie kennen ihn gut. Sie und er haben jahrelang gemeinsam alle möglichen Probleme angepackt. Sie haben tausend gemeinsame Spaziergänge unternommen, Sie haben gleiche Interessen, Sie lieben wie er Kunst und Wissen. Alles um einer These willen, Pater. Verstehen Sie, was ich meine?« »Nein«, antwortete der Priester und spürte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen. »Nein, ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen.«
»Beantworten Sie mir nur eine Frage, Pater. Stellen Sie sich vor, Ihr Freund hätte sich plötzlich als Maschine zu erkennen gegeben, er läge im Sterben und hätte nur den Wunsch, in den Himmel zu kommen – was würden Sie tun?« Der Priester hob das Weinglas an den Mund und leerte es. Ihm fiel auf, daß seine Hand zitterte. »Nun ...«, begann er zögernd, schwieg wieder und starrte dem Alten forschend ins Gesicht, als sähe er dort erste Anzeichen beginnenden Wahnsinns ... oder des nahenden Todes. »Was würden Sie tun?« Plötzlich erschien unerwartet ein Bild vor seinem inneren Auge. Donovan, der regelmäßig jeden Sonntag zur Kommunion am Altar kniet; Donovan, der den Mund fest geschlossen hält, obwohl alle anderen ihren weit aufreißen; Donovan, der bis zum letzten Moment wartet und dann rasch die Hostie aus der Hand des Priesters entgegennimmt – ruckartig, schnell zupackend, wie ein Salamander, der eine Fliege verschlingt. Hatte er Donovan jemals essen gesehen? Hatte er ihn jemals ein Glas Wein trinken gesehen? Pater Courtney zuckte leicht zusammen und verdrängte diese Bilder aus seinem Gedächtnis. Er fühlte sich nicht wohl. Er wünschte sich, die Vögel würden anderswo kreischen.
Du mußt seine Frage beantworten, dachte er. Gib ihm eine Antwort. Dann kannst du nach Milburn fliegen und hoffen, daß es nicht schon zu spät ist ... »In diesem Fall«, sagte der Priester, »würde ich ihm die Letzte Ölung geben, glaube ich.« »Nur als vorbeugende Maßnahme?« »Das ist alles wirklich lächerlich, aber ... ich würde es jedenfalls tun. Ist Ihre Frage damit beantwortet?« »Selbstverständlich, Pater. Völlig.« Donovans Stimme kam aus dem Nichts. »Nur noch ein letzter Punkt, dann bin ich mit meiner These fertig.« »Ja?« »Nehmen wir an, der Mann stirbt, und Sie geben ihm die Letzte Ölung; er kommt oder kommt nicht in den Himmel, falls es überhaupt einen Himmel gibt. Was geschieht mit der Leiche? Erzählen Sie den Einwohnern der Stadt, daß sie seit Jahren mit einem mechanischen Monstrum zusammengelebt haben?« »Was halten Sie davon, George?« »Meiner Meinung nach wäre das ausgesprochen unklug. Die Leute hätten unseren theoretischen Mann als guten Freund in Erinnerung, wissen Sie. Der Schock müßte geradezu vernichtend sein. Außerdem würden Sie nie glauben, er sei wirklich der einzige seiner Art gewesen; sie würden sogar ihre Nachbarn verdächtigen, ebenfalls nur mit eingebauten Uhrwerken zu funktionieren. Und früher oder später könnte
jemand auf die Idee kommen, selbst Nachforschungen anzustellen und sich handgreiflich davon zu überzeugen, ob dieser Verdacht zu Recht besteht. Und schließlich würde die Nachricht auf der ganzen Welt ähnliche Befürchtungen hervorrufen. Nein, diese Tatsachen sollten möglichst nicht bekannt werden.« »Aber wie könnte ich sie unterdrücken?« hörte der Priester sich ernsthaft fragen. »Indem Sie sozusagen eine private Autopsie vornehmen. Anschließend könnten Sie die Teile auf den nächsten Müllabladeplatz bringen und dort verstreuen.« Donovans Stimme sank zu einem Flüstern herab. Wieder das eigenartige Summen. »... und wenn unser Monstrum eine Nachricht hinterließe, es sei mit ungenanntem Ziel für immer fortgegangen, könnten Sie ...« Der beißende Gestank stieg plötzlich in dichten Schwaden auf. Gleichzeitig ertönte ein ohrenbetäubendes Zischen. »George.« Donovan lag unbeweglich auf dem Bett ausgestreckt. Sein Gesicht war gefaßt, ausdruckslos. »George!« Der Priester tastete mit der Hand unter der Decke nach Donovans Brust. Er spürte keinen Herzschlag.
Dann wollte er ein Augenlid hochziehen. Es ließ sich nicht bewegen. Tränen brannten in seinen Augen. »Vergib mir!« sagte er, zögerte kurz und nahm dann aus seiner Tasche ein kleines, weißes Gefäß und eine weiße Stola. Er flüsterte lateinische Worte. Und während er sprach, berührte er Füße und Stirn des Alten mit nassen Fingerspitzen. Als er schließlich wieder den Kopf hob, waren viele Minuten vergangen. Das leise Plätschern des Regens erfüllte den Raum. Ein stürmischer Wind bewegte draußen die Zweige. Irgendwo in weiter Ferne dröhnten Raketen. Pater Courtney griff nach der Bettdecke. Er schlug das Kreuz, holte tief Luft und zog langsam die Decke fort.
WILLIAM F. NOLAN
Familienglück »Es ist gleich hinter der nächsten Ecke rechts«, sagte Rice und sah mit zusammengekniffenen Augen durch die grüngetönte Scheibe, während der Wagen über die sommerwarmen Straßen der Stadt schwebte. Das Fahrzeug verringerte seine Geschwindigkeit, nahm elegant die langgezogene Kurve und bremste dann lautlos. Eine silberne Schiebetür glitt zurück, und Ted Rice trat in die Morgenhitze hinaus. Der Anzugthermostat schickte sofort einen kühlen Lufthauch durch seinen Anzug, um den plötzlichen Temperaturanstieg auszugleichen. »Ich brauche dich heute nicht mehr«, sagte er zu seinem Wagen. »Ich gehe zu Fuß nach Hause.« »Darf ich Ihre Standortnummer haben, Sir, falls ein Familienmitglied sich mit Ihnen in Verbindung setzen möchte?« »Nein, verdammt noch mal, du darfst nicht!« Heute war Frei-Tag. Er brauchte dem Wagen keine Auskünfte zu geben. »Fahr nach Hause.« »Sehr wohl, Sir.« Die Maschine setzte sich gehorsam in Bewegung. Rice sah sie noch einmal kurz auf-
blitzen – wie eine Bachforelle im morgendlichen Verkehrsstrom. An Frei-Tagen gab er dem Wagen Befehle. Keine vorausbestimmten Fahrziele. Keine festgelegten Tätigkeiten. Heute waren die Bars geöffnet. Er hatte die Absicht, sich sinnlos zu betrinken. An diesem Morgen, dem sechsten Jahrestag des Todes seiner Frau, hatte Ted Rice zwei äußerst wichtige Entscheidungen getroffen. Er würde seine Stellung aufgeben und er würde Margaret in die Tauschzentrale bringen. Er haßte seinen Job, aber die Arbeit war sein Lebensinhalt geworden, und plötzlich zu kündigen erforderte Mut. Es bedeutete, daß er auf einem unbekannten Gebiet von vorn anfangen mußte, was mit achtunddreißig ziemlich schwierig sein würde. Er haßte Margaret nicht, war jedoch außerstande, einigermaßen genau zu katalogisieren, was er ihr gegenüber empfand. Aber unter Berücksichtigung aller Umstände war sein endgültiger Entschluß, sie wieder abzuliefern, die einzig mögliche Lösung. Daß er sich heute betrinken wollte, hatte allerdings nichts mit seinem Job oder mit Margaret zu tun. Er war kein Trinker, war nie einer gewesen. Er betrachtete diesen Rausch als eine Art jährlich zelebriertes Ritual zum Gedenken an seine verstorbene Frau Virginia. Er gab sich große Mühe bei der Auswahl der richtigen Bar und mied anspruchsvolle Lokale, weil
die Umgebung seine innere Einsamkeit widerspiegeln sollte. Louies Kneipe war alles andere als anspruchsvoll. Die Theke wurde durch ständiges Putzen blitzblank gehalten. Der Spiegel dahinter, der die Form eines gigantischen Passagierraumschiffes hatte, war an den Kanten schwarz und abgestoßen. Selbst das Wandgemälde, das die erste Landung der Menschen auf dem Roten Planeten zeigte, war staubig und verblaßt; seine Farben waren brüchig geworden und platzten allmählich ab. Die schäbigen Hocker vor der Bar waren unbesetzt. »Morgen«, begrüßte ihn der Barkeeper. Rice nickte, nahm in der Ecke auf einem Hocker Platz und drückte den Knopf für Whisky pur. Das Glas rutschte über die Theke in seine Hand und er trank es mit einem Schluck aus. Dann verzog er angewidert das Gesicht. »Habe Sie an Frei-Tagen noch nie hier gesehen«, stellte der Barkeeper fest und wischte mit seinem Handtuch über ein bereits trockenes Glas. »Erst vor kurzem in die Nähe gezogen?« »Ich trinke nicht oft«, sagte Rice und drückte nochmals den gleichen Knopf. »Woll'n Sie mir Ihr Herz ausschütten?« Rice hob langsam den Kopf und starrte den Mann hinter der Bar nachdenklich an. Kräftig gebaut, leicht aufgedunsenes Gesicht, Boxernase und wässrige,
hervortretende Augen, über denen schwere Lider hingen, die an geraffte Leinwandsegel erinnerten. Das Gesicht der Trauer. Die professionelle, mitfühlende Seele das besoldete Ohr für alle menschlichen Kümmernisse und Wehklagen. Rice warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und drehte dabei sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Na, wie steht's damit, Mac?« »Drehen Sie sich um«, sagte Rice. Der große Mann grinste breit, wobei sein ernstes Gesicht förmlich aufzuplatzen schien, als habe ein Papiermesser die Haut durchtrennt. »Jetzt weiß ich, daß Sie nicht viel trinken. Glauben Sie mir, ich bin echt. In meinem Beruf muß man es sein.« »Umdrehen.« Der Barkeeper drehte sich um und grinste noch immer. Ein Gesetz bestimmte, daß Mechanische stets deutlich gekennzeichnet sein mußten, und der Mann hatte keinen Schalter hinter dem rechten Ohr. »Was ich Ihnen gesagt habe – ein echter Mensch.« »Es ist schon ein Jahr her«, meinte Rice entschuldigend. »Ich wußte nicht, ob jetzt auch die Barkeeper ersetzt worden sind.« »Die Bars würden Pleite machen, wenn das der Fall wäre. Wer will sich schließlich bei einem Haufen Zahnräder und Federn aussprechen?« Rice sah auf seine Armbanduhr und dachte an
Margaret, die mit einem Lächeln auf dem zarten Gesicht im Wohnzimmer ihres bescheidenen Heims stand. Dort stand sie nun seit fünfzehn Stunden und siebenunddreißig Minuten – seitdem er sie am Vorabend in einem Wutanfall abgeschaltet hatte. »Heute vor sechs Jahren ist meine Frau bei einem Helikopterunfall ums Leben gekommen«, sagte Rice und sah in die traurigen Augen des Barkeepers. »Ich habe die Erinnerung daran in den entferntesten Winkel meines Gedächtnisses verbannt, aber einmal jährlich hole ich sie daraus hervor und erinnere mich wieder.« Er hielt sein Glas vorsichtig schräg und starrte die dunkle Flüssigkeit an, als sei darin Virginias winziges Abbild eingefangen, wie sich eine Fliege in Bernstein gefangen hat. »Ich erinnere mich daran, wie sie aussah, als sie damals ins Haus gebracht wurde – als ob ihre Knochen plötzlich unter der Haut in verschiedene Richtungen fortgelaufen wären; ich erinnere mich auch an ihr Gesicht – das Gesicht eines völlig fremden Menschen.« Rice kippte seinen vierten Whisky hinunter, spürte das ungewohnte Brennen im ganzen Körper, spürte aber gleichzeitig, daß es seine innere Spannung löste, so daß er leichter sagen konnte, was er im Unterbewußtsein sagen mußte. »Das muß scheußlich gewesen sein.« Der große Mann sah wundervoll, professionell mitfühlend aus;
seine traurigen, rotgerändeten Augen schienen sich mit Tränen zu füllen. »Haben Sie Kinder gehabt?« »Einen Jungen, Jackie. Er wird diesen Spiel-Tag neun. Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich. Die beiden anderen Kinder, Timmy und Susan, sind Mechanische. Ich habe sie nach Virgies Tod gekauft, als Margaret ins Haus kam.« »Muß schlimm für den Kleinen gewesen sein, als er seine wirkliche Mutter verloren hat und alles.« »Jackie erinnert sich kaum noch an Virgie. Er war damals erst drei. Ich bin ihm auch ziemlich fremd, weil ich meistens unterwegs bin. Margaret sorgt ganz gut für ihn, nehme ich an, aber sie denkt eben nicht wie Sie und ich.« »Wie sind Sie überhaupt zu dieser Margaret gekommen?« »Sie kennen doch die gesetzlichen Bestimmungen. Ich mußte dem Jungen ein normales Zuhause schaffen, sonst wäre er in einem Heim erzogen worden. Aber als meine Frau tot war, konnte ich es nicht mehr zu Hause aushalten. Alles hat mich ständig an sie erinnert – unser Haus, die ganze Straße, die Orte, an denen wir früher gemeinsam waren ... Deshalb bin ich Reisevertreter geworden, weil ich im stillen hoffte, dadurch endlich alles vergessen zu können. Aber für einen Dreijährigen kam dieses Leben selbstverständlich nicht in Frage. Mir blieb also gar keine andere Wahl. Ich mußte eine Me-
chanische kaufen, sonst hätte ich meinen Sohn verloren. Ich konnte einfach niemand finden, der Jackie in Pflege genommen hätte. Virgies Eltern waren bereits gestorben, und meine Mutter war gesundheitlich nicht in der Lage, ein Kind zu betreuen. Deshalb habe ich Margaret ins Haus genommen, und da Jackie ursprünglich noch einen Bruder und die Schwester bekommen sollte, beschloß ich damals, gleich aufs Ganze zu gehen und den Mengenrabatt auszunützen. Schließlich habe ich sie zum Großhandelspreis gekauft.« »He!« der Barkeeper zog die Augenbrauen in die Höhe. »Sie sind Vertreter für Mechanische?« »Nur noch bis morgen. Ich kündige. Mein nächster Job ist hier in Los Angeles und hat garantiert nichts mit Mechanischen zu tun!« Rice nahm eine Geschäftskarte aus seiner Brieftasche und gab sie dem Barkeeper. »Hier, lesen Sie das.« »Theodore A. Rice«, betonte der große Mann sorgfältig. »Autorisierter Repräsentant der World Mechanicals.« »Nein, nein. Den Slogan darunter.« »›EIN DOLLAR TÄGLICH MACHT GEBURTEN ÜBERFLÜSSIG.‹ Und?« Rice beugte sich nach vorn und schlug mit der Faust auf die Theke. »Und der verdammte Narr, der das erfunden hat, müßte langsam am Spieß geröstet werden!«
»Nur ein Slogan, Mac. Das weiß doch jeder.« »Genau! Können Sie sich überhaupt vorstellen, welche Auswirkungen dieser Slogan und verschiedene andere auf unsere Geburtenziffer gehabt hat?« fragte Rice und bestellte sich einen neuen Whisky. »Heutzutage sind die Frauen davon überzeugt, die Geburt eines Kindes sei eine entsetzliche Katastrophe, eine Art mittelalterliche Tortur. Für dreißig Dollar monatlich kann jede Frau sich ein quietschfideles Baby nach ihren Wünschen aussuchen, das in Originalverpackung frei Haus geliefert wird. Für weniger Geld, als früher allein die Ernährung eines Kindes gekostet hat, genießt sie jetzt alle Freuden und Vergnügen der Mutterschaft, ohne dabei die geringste Verantwortung tragen zu müssen. ›Madam‹, habe ich immer gesagt, ›verderben Sie sich doch nicht Ihre Figur. Wollen Sie tatsächlich ständig angehängt sein und für nichts anderes mehr Zeit haben? Kaufen Sie eines unserer Modelle! Kein Babysitter mehr, keine schmutzigen Windeln, kein Gebrüll um drei Uhr morgens. Weder Masern noch Mumps noch Mandeloperationen. Nur ein niedliches, kleines Balg mit einem Schalter hinter dem Ohr. Was darf es also sein, Madame? Ein fetter, kleiner Bambino mit dunklen Augen und einem engelsreichen Lächeln – oder eine niedliche, blauäugige Irin mit Sommersprossen auf der Nase?
Oder wie steht's mit Ihnen, Freundchen? Keine Lust mehr, nach dem richtigen Mädchen Ausschau zu halten? Wie wär's mit einer wirklichen Schönheit, die hundertprozentig Ihnen gehört? Wie heißt es noch in dem alten Song? „Ich wünsch' mir eine kleine Puppe, die ganz mir gehört, eine kleine Puppe, die mir kein and'rer stehlen kann ...” Na, hier ist sie schon, Kamerad – eine lebensgroße Puppe mit dem gewissen Lächeln, das nur für Sie reserviert ist. Blond? Brünett? Rothaarig? Sie brauchen nur auszusuchen, wir haben alles. Und das Ganze in bequemen Monatsraten.‹« Rice machte eine Pause, leerte sein Glas auf einen Zug und atmete schwer. Der Barkeeper hatte große Erfahrung in seinem Beruf und schwieg deshalb, was ihn als guten Zuhörer auswies. »Wissen Sie überhaupt, wie diese elektronische Illusion unter die Leute gekommen ist?« wollte Rice wissen. Seine Zunge war schwerer geworden und er sprach weniger deutlich als vorher. »Schön, dann erklär' ich's Ihnen. Die Leute fühlten sich einsam. Und wenn jemand seinen Alten auf'n Friedhof gebracht hatte, brauchte er nur einen Mechanischen als Ersatz zu bestell'n. Und wenn eine Frau eig'ntlich keine Kinder krieg'n sollte, bekam sie trotzdem ihr Baby. Und wenn ein Mister Schüchtern weibliche Gesell-
schaft wünschte, konnte er sich 'n Schaumgummimädchen wie aus ei'm Pin-up-Magazin schicken lass'n. Zuerst war'n die Dinger, 'türlich noch selten, weil sie so verdammt teuer war'n. Aber dann komm'n die guten alten amer'kanischen Verkaufsmethoden ins Rennen, und der Wettbewerb wird härter. Die Preise sinken. Viele Leute woll'n plötzlich keine Babys mehr. Innerhalb kürzester Zeit kauft jeder Mechanische ... Sie ... un' ... ich un' alle anner'n ...« »Tut mir leid, wenn ich Ihnen den Spaß verderbe, Mac, aber Sie sind schon ganz hübsch angesäuselt. An Ihrer Stelle würde ich jetzt 'ne kleine Pause einlegen.« »Un' wiss'n Sie, was wirklich tragisch ist?« fragte Rice, nachdem er das nächste Glas geleert hatte, ohne sich um den gutgemeinten Rat zu kümmern. »Wirklich tragisch is', daß wir alle ster'm, aber keiner kümmert sich drum! Wart'n Sie nur ab, bald sin' wir in der gleich'n Klasse wie der gottverdammte olle Wasserbüffel un' die Dronten. Wirklich tragisch is', daß wir alle in ei'm Jahrhundert ster'm müss'n, in dem das Le'm so schön sein könnte. He, das is' eine Idee! Trink'n wir ei'n Schluck auf die Le'msfreude!« Der Barkeeper streckte besorgt eine Hand nach ihm aus. »Lassen Sie den Unsinn, Mac! Vorsicht! Sie ...« Rice spürte plötzlich, daß der Raum eigenartig schräg stand und wie verrückt schwankte. Er hörte
den warnenden Ausruf des Barkeepers nur noch undeutlich, dann sah er das Gesicht des anderen wie einen Spielzeugballon durch den unendlich langen Korridor vor sich zurückweichen. Margaret war so unbefangen fröhlich wie immer, als Rice sie endlich wieder einschaltete. »Guten Morgen, Liebling.« Sie küßte ihn leicht auf die Wange. »Hast du gut geschlafen?« »Heute ist der zehnte Juli«, antwortete er mürrisch. Er litt noch immer unter den Nachwirkungen eines unglaublichen Katers. »Meine Güte! Bin ich so lange abgeschaltet gewesen? Wirklich Ted! Ich werde nie mit der Hausarbeit fertig, wenn du mich tagelang ausgeschaltet läßt. Wie geht es den Kindern?« »Gut. Sie schlafen noch.« »Wenn heute der Zehnte ist, hast du deinen ... deinen ...« »›Rausch‹ ist der richtige Ausdruck. Und ich fühle mich hundsmiserabel.« »Wo hast du die Beule an der Stirn her? Hat dich jemand geschlagen?« »Mein Gegner war der Fußboden einer Bar an der Third Avenue. Ich bin nur zweiter Sieger geworden.« Sie war augenblicklich besorgt. »Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung!«
»Mir geht es gut.« »Du bist wieder zornig.« »Mir geht es gut, und ich bin nicht zornig. Geh jetzt und zieh den Hund auf, während ich die Kinder wecke.« Wenn sie nur reagieren würde, dachte Rice, als Margaret wortlos den Raum verließ. Wenn sie nur einmal mit dem Fuß aufstampfen, irgend etwas nach ihm werfen oder wenigstens laut kreischen würde. Aber immer nur diese unendliche Duldsamkeit! Der helle Funke, der eine Ehe zum Sprühen bringt, der sie erglühen läßt, fehlte einfach. Liebe konnte von Zeit zu Zeit auch gewalttätig sein, das wußte er genau, aber Margarets Liebe war ein künstlich ruhiger, ausgeglichener Gefühlszustand, der ihn unzufrieden und nervös machte – eine unwirkliche, unerträgliche Liebe. Wenn er und Virgie sich gestritten hatten, wenn sie ihrem Herzen Luft gemacht und sich dann wieder ausgesöhnt hatten, waren sie einander tatsächlich viel näher, weil sie diesen persönlichen Sturm gemeinsam überstanden hatten. Aber mit Margaret war alles anders. Rice dachte an den letzten irritierenden Zwischenfall am vorletzten Abend zurück, als er mit Skipper gespielt und sich aus Spaß mit dem Hund um einen Plastoknochen gebalgt hatte. Skipper war schon
ziemlich veraltet, denn es gab längst bessere Hunde, aber er stellte ein Bindeglied zu der allmählich verblassenden Vergangenheit dar, was Margaret offenbar mit allen Mitteln beseitigen wollte. Als sie wieder davon gesprochen hatte, sie müßten endlich einen modernen, elektronischen Hund kaufen, um dieses zottige Aufziehtier zu ersetzen, war er wütend aufgesprungen, hatte sie angebrüllt, hatte mit den Händen gefuchtelt und dabei kräftig geflucht. Aber sie war völlig unbeteiligt geblieben und hatte auf diesen Wutausbruch nur mit ihrem gelassenen Lächeln reagiert. Daraufhin hatte er sie ruckartig abgeschaltet, wie man ein allzu helles Licht löscht, das einen geblendet hat. Wie erstarrt sie vor ihm gestanden hatte! Wie augenblicklich bar jedes persönlichen Ausdrucks und jeglicher Bewegung! In diesem Augenblick, als er ihren bewegungslosen Körper betrachtete, hatte er wieder das ungewisse Schuldgefühl empfunden, das ihn in diesem Fall regelmäßig befiel, als habe er ein Leben unterbrochen, als habe er gemordet. Er hatte seine Schwäche verflucht und sie allein in dem stillen Raum zurückgelassen, wo sie bis zu seiner Rückkehr mit dem unverändert gleichen Ausdruck lächelte. »Daddy, Daddy, Daddy!« quietschte Timmy, nachdem er aktiviert worden war. »Hurra, hurra, heute ist Picknick-Tag! Hurra, hurra, heute ist Picknick-Tag!«
»Hurra, hurra«, wiederholte Rice lustlos. Er stellte sich einen hektischen Nachmittag mit Kinderlärm und gekünstelt fröhlicher Stimmung vor. »Du mußt wirklich etwas leiser sein, Timmy. Dein Vater fühlt sich heute nicht besonders gut«, mahnte Margaret vom Flur her, als Timmy laut zischend durchs Haus raste und Rakete spielte. Susans Begeisterung war ebenso groß wie die ihres mechanischen Bruders. Sie hopste im Wohnzimmer auf und ab, tobte um Rice herum und kreischte dabei immer wieder mit schriller Stimme. »Aufhören, um Himmels willen!« brüllte er schließlich die beiden wild herumtollenden Kinder an, »sonst stelle ich euch beide ab!« Angesichts dieser ernsten Drohung wurden sie sofort ruhiger. Margaret kam mit Skipper zurück. Der Hund war am Abend zuvor abgelaufen, als er die elektronische Nachbarskatze durch den Garten gejagt hatte. Jetzt rannte er mit rostig knarrenden Gelenken auf Rice zu, und sein mißtönendes Bellen zeigte deutlich, wie sehr ihm der Tau geschadet hatte. »Guter, alter Skip ... Du brauchst wieder Öl, alter Junge«, stellte Rice fest, während er ihn hinter dem Ohr kraulte. »Aber das haben wir gleich, Timmy, hol die Ölkanne aus dem Regal.« Rice war eben damit beschäftigt, das vorgeschrie-
bene Schmiermittel in den Einfüllstutzen zu schütten, als Jackie in der Tür erschien. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Morgen, Mom. Morgen, Dad. Morgen, alle miteinander.« Er gähnte. »Hallo, Murmeltier«, begrüßte Rice ihn und zerzauste ihm das bereits völlig wirre Haar. »Gut geschlafen?« »Klar. He, heute ist doch Picknick-Tag, oder? Wann fahren wir los?« »Sobald kleine Schlafmützen wie du sich angezogen und gefrühstückt haben.« Er gab Jackie einen spielerischen Klaps aufs Hinterteil. »Beeil dich jetzt.« Margaret nahm Jackie an der Hand. »Komm, mein Lieber. Dein Frühstück steht schon auf dem Tisch.« Und über die Schulter hinweg zu Rice: »Ich finde wirklich, wir sollten so bald wie möglich aufbrechen.« Susan und Timmy rannten mit Skipper in den Garten hinaus, so daß Rice mit seinen Gedanken allein zurückblieb. Er hat sie vor mir begrüßt. Und der Blick in seinen Augen, als sie seine Hand genommen hat! Jackie ist zu jung, um Margaret zu sehen, wie ich sie sehe; er versteht noch nicht, daß sie ihn nie wirklich lieben kann, wie er sie liebt. Je länger sie hier bleibt, desto schwerer fällt Jackie die Trennung von ihr. Ich muß es Margaret endlich sagen. Ich sage es ihr heute.
Der tropfenförmige Wagen schwebte geräuschlos über die Autobahn, ließ Bäume verschwinden und Häuser rasch zurückweichen, aber für Rice war die Geschwindigkeit nur eine Illusion, ein Bühnentrick. Seine ungeduldigen Überlegungen, die sich schon jetzt mit dem Augenblick befaßten, in dem er mit Margaret allein sein würde, so daß er ihr sagen konnte, was er ihr sagen mußte, ließen Minuten zu Stunden werden. Er legte den Kopf zurück, schloß die Augen und stellte sich vor, der Wagen bewege sich nur in gemächlichem Zeitlupentempo, die Räder drehten sich kaum, und jeder Grashalm am Straßenrand sei deutlich erkennbar, man mußte nur genau hinsehen. Die Fahrt zum Picknickplatz schien endlos lang. »Ich bin völlig erledigt«, sagte er zu Margaret, nachdem der Wagen sich geparkt hatte. »Komm, wir lassen heute die Spiele ausfallen und bleiben einfach irgendwo im Schatten.« »Aber, Ted, die Kinder ...« »... können auch ohne uns spielen. Ich muß dir etwas sagen, etwas sehr Wichtiges.« Sie zögerte und sah zu den belebten Spielfeldern hinüber. Die Kinder, drei Elfen in ihren Picknickjakken, zappelten ungeduldig und waren offensichtlich verzweifelt begierig, endlich mitspielen zu dürfen. Ihre Augen zuckten wie gefangene Elritzen in kleinen, weißen Teichen hin und her.
»Die Spiele sind aber erst dann am schönsten, wenn die ganze Familie daran teilnimmt.« »Unsinn.« »Jung und alt, Ted. Die Spiele ...« »Zum Teufel mit den Spielen!« fuhr er sie an. »Willst du dir jetzt anhören, was ich zu sagen habe, oder nicht?« »Selbstverständlich, Liebling. Wenn du wirklich mit mir sprechen willst ...« Sie drückte lächelnd seine Hand. »Die Kinder können sich auch den Hartleys anschließen.« Sie zeigte über die weite Rasenfläche auf zehn oder zwölf Kinder, die fröhlich lachend Magnaball spielten. »Lauft nur zu, Kinder. Und seid vorsichtig.« »Hurraaaaa!« kreischte Susan begeistert, dann hielten die drei einander an den Händen fest und rannten zu den Spielfeldern hinüber. »Wenn wir uns unterhalten wollen, können wir es wenigstens bequem haben«, sagte Margaret, rollte eine Decke auseinander und breitete sie über den kurzgeschorenen Rasen. Jede Geste perfekt, dachte Rice und beobachtete ihre Hände, jede Bewegung graziös und sicher. Sie ist so lebendig, so verblüffend menschlich, sie strahlt eine so lebensechte Wärme aus, daß es selbst mir gelegentlich schwerfällt, sie als ein künstliches Ding aus Zahnrädern, Drähten und Stromkreisen anzusehen. Jackie hat sie be-
stimmt liebgewonnen. Sie ist gut und freundlich, und sie lächelt viel. Das alles spielt eine große Rolle für Jackie. Daß sie kein Mensch ist, stört ihn keineswegs. Nicht im geringsten. Deshalb ist die Lage ernst. »Woran denkst du, Ted?« Ihre blauen Augen ruhten auf seinem Gesicht. »An dich. An deine Schönheit.« Er pflückte einen Löwenzahn aus dem Gras und hielt die goldgelbe Blüte wie eine Miniatursonne in der gewölbten Handfläche. »Dies ist ein Unkraut, das sich als Blume ausgibt. Hübsch anzusehen, sogar mit einigen guten Eigenschaften, aber trotzdem ein Unkraut, das beseitigt werden muß, bevor seine lange Pfahlwurzel das umstehende Gras förmlich erdrückt. Wird dieses Unkraut nicht rechtzeitig ausgerissen, ist eines Tages nur noch für den Löwenzahn Platz.« »Was hat das alles mit ...« »Du bist wie dieser Löwenzahn, Margaret. Du unterdrückst Jackies Liebe. Er hat dich bereits lieber als mich. Ich bin für ihn nur ein entfernter Verwandter, der von irgendwoher auf Besuch kommt, um Weihnachten und die Sommerferien bei euch zu verbringen. Als er noch jünger war, hat er jedesmal geweint, wenn ich dich ausgeschaltet habe, als hätte ich ihn geschlagen. Selbst jetzt beobachtet er mich, wenn ich wütend bin, laut fluche oder mit der Faust auf den Tisch schlage, und ich sehe, daß er mich anstarrt, ich
weiß, daß er uns beide vergleicht, daß er uns gegeneinander abwägt. Und die Waagschale senkt sich stets zu deinen Gunsten. Von jetzt ab bleibe ich wieder zu Hause, aber solange du dort bist, wird er nicht aufhören, uns zu vergleichen. Ich kann und will nicht mit einer Mechanischen um die Liebe meines Sohnes in Wettstreit treten!« Sie holte tief Luft. Er sah deutlich, daß seine Worte sie schwer getroffen hatten. »Hast du dir das alles gründlich überlegt, Ted? Gibt es denn nicht noch einen anderen Weg?« Sie zitterte tatsächlich. »Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.« »Du denkst nur, daß du mich liebst, Margaret. Was du irrtümlicherweise für Liebe hältst, ist nur deine Programmierung. Rezeptoren können neue Informationen aufnehmen, festgelegte Verhaltensweisen können gelöscht und durch andere ersetzt werden. In der Tauschzentrale wirst du völlig geändert, Margaret. Dann weißt du nicht einmal mehr, daß ich je existiert habe.« »Ted, das kannst du nicht!« »Es gibt keinen anderen Ausweg.« Langes Schweigen. Rice hatte unwillkürlich wieder leise Gewissensbisse. Vielleicht hätte er ihr diese Nachricht doch etwas schonender beibringen sollen, aber andererseits war
es unbedingt erforderlich, daß sie seine schwierige Position verstand, und er war der Meinung gewesen, ihre ruhige Gelassenheit sei durch nichts zu erschüttern. Deshalb stellte er jetzt mit einiger Überraschung fest, daß seine Mitteilung sie sichtlich in große Erregung versetzt hatte. Selbstverständlich war anzunehmen, daß der Gedanke an eine völlige Reorientierung keinem Mechanischen angenehm sein konnte. Von diesem Standpunkt aus wirkte ihr Benehmen weniger überraschend. Aber trotzdem ... »Warum hast du mir das alles erzählt?« fragte sie ihn. »Weshalb hast du mich nicht einfach abgeliefert, ohne mir vorher ein Wort davon zu sagen? Das wäre mir lieber gewesen.« Ihre Hände strichen nervös über den Rock, spielten mit dem Medaillon an ihrem Hals, berührten dann ihr Haar wie zwei ruhelose Vögel, die nicht von ihrem Körper fortfliegen konnten. »Weil ich deine Hilfe brauche. Jackie darf die Wahrheit nicht erfahren ... nicht jetzt. Später, wenn er älter ist und die Tatsachen unvoreingenommen beurteilen kann, wird er auch dafür Verständnis haben. Ich möchte ihm erzählen, daß du aus Gesundheitsgründen eine längere Reise unternimmst. Er glaubt mir bestimmt, wenn du mich unterstützt. Tust du das?« »Wenn du das wirklich willst«, antwortete sie leise. Sie hielt den Kopf gesenkt, und ihre Finger spielten mit dem Löwenzahn, der aus seiner Hand geglitten
war. »Ich tue alles, was du willst, Ted ... weil ich dich liebe.« »Timmy und Susan können noch einige Zeit bei Jackie bleiben«, fuhr er rasch fort, »damit er deinen Abschied weniger schmerzlich empfindet. Im Laufe der Zeit gewöhnt er sich bestimmt daran.« »Ja ... er wird sich daran gewöhnen.« Leises Blätterrauschen im Sommerwind. Fröhlicher Lärm von den Spielplätzen her. »Schön, dann sind wir uns also einig.« »Natürlich, Ted. Rufst du jetzt bitte die Kinder zum Mittagessen?« Nach dem Essen tobte Rice mit den lachenden Kindern im duftenden Gras und imitierte zu ihrer großen Begeisterung nacheinander einen Bären, einen Gorilla, einen Wal, einen Düsenzug und eine Mondrakete. Er lief mit ihnen um die Wette und organisierte sogar ein Rodeo, bei dem er abwechselnd als wütend schnaubender Langhornstier und als wild ausschlagender Mustang auftrat. Auf der Rückfahrt sangen sie Volkslieder und beobachteten, wie die Sonne im Meer versank. Sie waren sich alle darüber einig, der Tag sei ein großer Erfolg gewesen. Aber Rice konnte in der folgenden Nacht nicht schlafen.
»Drei Uhr morgens, Sir«, flüsterte das Kopfteil des Bettes als er nach der Zeit fragte. Er lag auf dem Rükken, hielt die Hände hinter dem Kopf gefaltet und sah zur Decke auf, die im geisterhaften Halbdunkel kaum erkennbar war. Ein Hubschrauber schwirrte wie ein riesiges Insekt über den mondhellen Himmel auf die Lichter einer weit entfernten Stadt zu, und Rice dachte an Virginia. In den letzten Wochen war es ihm überraschend schwergefallen, sich an viele Dinge im Zusammenhang mit ihr zu erinnern, an die er sich gern erinnert hätte; die Zeit verbarg ihr Gesicht, wie tiefes Wasser eine Münze verbirgt. Als das Summen des Hubschraubers verklang, hörte er wieder Margarets ruhige Atemzüge aus dem Bett neben sich, und jetzt erschien ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge, wo es Virginias schattenhaftes Antlitz überlagerte. Er sah kleinste Details, erinnerte sich an jedes einzelne geschwungene dunkle Haar ihrer Wimpern, die lang und zitternd auf den rosigen Wangen lagen. Und er sah ihre bebenden Lippen Wörter formen – die vier erstaunlichen Wörter des Nachmittags: »... weil ich dich liebe.« Unmöglich, daß eine Mechanische lieben konnte, wie Virginia geliebt hatte; daß ein Ding aus Metall und Glas, aus noch so fein verwobenen Drähten eine wahrhaft tiefe Gefühlsregung dieser Art empfinden und ausloten konnte.
Aber war es nicht doch vorstellbar, fragte Rice, sich in der Dunkelheit, die drückend auf ihm zu lasten schien, daß Margaret sich irgendwie auf geheimnisvolle Weise verändert hatte, daß sich irgendwo in dem grünen Hohlraum ihres Gehirns, in dem zarten Gewebe aus Silberdrähten und elektronischen Bauteilen, ein Gefühl entwickelt hatte, weit über ihre rein mechanischen Reaktionen hinaus? Rice erlebte nochmals den ursprünglichen Schock des vergangenen Nachmittags, als er wider Erwarten eine schwache Stelle in ihrem sonst so undurchdringlichen Panzer entdeckt hatte, als er sie mit seiner Mitteilung fast zum Weinen gebracht hätte – im Grunde genommen eine lächerliche Vorstellung, denn eine Mechanische, die weder die entsprechende Veranlagung noch Tränendrüsen besaß, konnte selbstverständlich nicht weinen! Aber obwohl er am Vortag eine logische Erklärung für ihre seltsame Reaktion gefunden zu haben glaubte, war er jetzt verwirrt und fast ein wenig besorgt. Pünktlich um sieben weckte ihn das Gezwitscher eines Rotkehlchens. Er spürte einen Luftzug an den geschlossenen Augen, als kleine Flügel an seinem Gesicht vorbeiflatterten. Er vergrub den Kopf tiefer in seinem Kissen und gab sich alle Mühe, das unablässige Zwitschern zu ignorieren. Aber er wußte, daß das
verdammte Ding ein mißtönendes Kreischen anstimmen würde, wenn er nicht bald aufstand. Als er auf der Bettkante sitzend nach dem rechten Hausschuh suchte, ließ sich das Rotkehlchen mit federleichtem Schwung auf seiner ausgestreckten Hand nieder. Rice betätigte einen Schalter und stellte den jetzt nicht mehr flugfähigen Weckvogel auf sein Nachttischchen. Er zog sich an, bevor er Margaret wachrüttelte. »Danke, ich habe schon gefrühstückt«, log er, als sie danach fragte. Heute war er nicht hungrig. Sie aß schweigend eine halbe Scheibe Toast und trank ein Glas Orangensaft. Er wich ihrem Blick aus und beschäftigte seine Hände mit nebensächlichen Küchenarbeiten, während sie frühstückte. Schon nach kurzer Zeit schob Margaret ihren Stuhl zurück, erhob sich und sagte mit ihrer klaren Stimme, die in dem kleinen Raum seltsam widerhallte: »Wir müssen jetzt fahren glaube ich.« »Es ist noch ziemlich früh«, antwortete er, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. »Wir brauchen uns nicht zu beeilen.« »Dort wird um acht Uhr dreißig geöffnet. Wir können ganz langsam fahren.« Schweigen. »Hast du ... dich von den Kindern verabschiedet?« fragte er.
»Gestern abend. Wir brauchen sie nicht zu wecken. Sie können schlafen, bis du zurückkommst.« Sie zog ihre schwarzen Handschuhe an, straffte sie über jedem Finger, strich sie auf dem Handrücken glatt. »Margaret, es tut mir leid. Weiß Gott, es tut mir leid, daß alles so gekommen ist.« »Sprechen wir nicht mehr darüber, Ted. Gehen wir einfach.« »Gut«, sagte er. »Gehen wir also.« Ein kurzer Regenschauer hatte die Luft gereinigt und der Morgen war hell und klar. An den Grashalmen hingen noch große Tropfen, und die Bäume glitzerten in der Sonne. Rice atmete den Geruch nach feuchter Erde durch das offene Seitenfenster des Wagens ein und seufzte dabei leise. In diesem Augenblick wünschte er sich vor allem, der Tag wäre nicht so verdammt schön geworden. Der Himmel über ihnen hätte dunkelgrau sein müssen, die Bäume nackt und kalt als Trauernde an den Straßenrändern, während das Fahrzeug wie ein silberner Sarg an ihnen vorbeirollte. Er überlegte krampfhaft, was er zu Margaret sagen könnte, während der Wagen sie gleichmäßig rasch durch den strahlenden Morgen in Richtung des riesigen, weißen Steingebäudes beförderte, in dem die Tauschzentrale untergebracht war. Er suchte nach
Worten, die nicht gleich von Anfang an falsch klangen, wie es in letzter Zeit stets der Fall gewesen war. Aber er fand keine und schwieg deshalb. Margaret wandte sich schließlich nach ihm um und sprach als erste. »Ted, was tust du?« Ihre Stimme klang eigenartig. »Was ich tue?« murmelte er und sah ihr ins Gesicht. »Was tust du damit mir, Jackie und dir selbst an?« »Margaret, du willst mich doch nicht etwa jetzt ausfragen? Wir haben alles besprochen – die Gründe für meinen Entschluß und die maßgeblichen Faktoren. Dir ist bestimmt klar, daß ...« »Der Teufel soll deine Gründe holen!« schrie sie ihn plötzlich mit blitzenden Augen und geballten Fäusten an. »Sind sie etwa fair? Berücksichtigen sie meine Gefühle? Tun sie das, Ted? Antworte! Tun sie es?« Er konnte nicht antworten. Irgendwo tief in seinem Innern öffnete sich eine Tür, und helles Licht flutete auf wunderbare Weise in einen Raum, den er bisher nie zu betreten gewagt hatte. Er war blind, und ihre Worte gaben ihm das Augenlicht wieder. »Ich bin nur eine Mechanische – das ist die Antwort, nicht wahr, Ted? Eine blutlose Maschine, die man nach Belieben abschalten, ignorieren, verfluchen, anbrüllen und zerstören kann, eine willenlose Krea-
tur ohne jedes Gefühl. Aber du irrst dich, Ted. Du täuschst dich gewaltig. Menschen haben mich gebaut, haben mir menschliche Impulse und menschliche Wünsche gegeben, haben mir einen Teil von sich, einen Teil ihrer eigenen Menschlichkeit geschenkt. Ich spüre Hunger und Durst und Kälte und Schmerz. Und noch mehr, Ted! Ich spüre einen menschlichen Hunger, einen menschlichen Durst, den Wunsch, um meiner selbst willen als Lebewesen respektiert zu werden, wie ich andere respektiere, das Verlangen, geliebt zu werden, wie ich andere liebe. Siehst du nicht ein, wie sehr du dich getäuscht hast, Ted? Ich habe nie von diesen Dingen gesprochen, weil meine Erbauer mich unendliche Bescheidenheit und nie versagende Geduld gelehrt haben. Sie haben mich gelehrt, mich vernünftig zu benehmen, stets Ruhe zu bewahren, alles zu akzeptieren, stets nur alles zu akzeptieren und niemals zu fragen oder gar zu widersprechen. Aber nun ist alles aus und ich habe verloren ... Du hast mich zurückgewiesen, Ted, ich war nicht darauf vorbereitet ... Ich kann mich nicht damit abfinden, aber ich weiß nicht, wie ich kämpfen soll ... Ich weiß nicht, wie ...« Ihre Lippen zitterten, ihr ganzer Körper bebte unter diesem Ansturm wütender und schmerzlicher Gefühle. »Mein Gott, mein Gott, Margaret ...« Er schob ihr
vorsichtig die Hand unters Kinn und hob langsam ihren gesenkten Kopf nach oben. »Du weinst!« Aber sie hatte selbstverständlich keine Tränen in den Augen. Rice bremste, nahm sie in die Arme, spürte ihr Zittern, flüsterte immer wieder ihren Namen, zitterte selbst und küßte sie zärtlich. Dann stellte er den Wagen auf Handbedienung um, wendete und hielt Margaret mit dem rechten Arm an sich gedrückt, während sie langsam durch die sommerwarmen Straßen nach Hause zurückfuhren. Er wußte, daß er sie nie wieder, nie wieder in den vielen Jahren, die noch vor ihnen lagen, abschalten würde.