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Die Hexen sind unter uns Titel des Originals : THE WITCHING HOUR
Gruselstories von James E. Gunn Aus dem Amerikanis...
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Die Hexen sind unter uns Titel des Originals : THE WITCHING HOUR
Gruselstories von James E. Gunn Aus dem Amerikanischen übertragen von Elisabeth Simon Deutsche Erstveröffentlichung Copyright1970 by James E. Gunn Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Abigail, die Hexe (THE RELUCTANT WITCH) Die Schaumgeborene (THE BEAUTIFUL BREW) Die Zauberkünstler (THE MAGICIANS)
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Abigail, die Hexe Matt traute seinen Augen nicht. Der Reifen sauste davon. »Stop!« schrie er und rannte hinterher. Wie aus Schadenfreude machte der Reifen einen Satz in die Luft, kam wieder auf und rollte noch schneller über die Straße. Nach ungefähr hundert Metern hatte Matt den Reifen eingeholt und warf ihn auf die Seite. Und da lag er dann. Matt beäugte ihn mißtrauisch. Der Schweiß lief ihm über den Rücken. Lachte da jemand? Matt sah hoch. Außer dem jungen Ding, das barfuß über die staubige Straße schlurfte, keine Menschenseele. Matt wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn. Die Hitze dieses Junitags in Missouri war eine Zumutung. Und dann noch die Autopanne. Matt rollte den Reifen zu seinem Wagen zurück. Mit rechten Dingen ging das nicht zu. Matt hatte extra auf einer geraden Strecke angehalten, um den platten Reifen auszuwechseln. Er hatte den Ersatzreifen aus dem Kofferraum geholt und auf die Straße gelegt. Und plötzlich hatte sich der Reifen aufgerichtet und war davongerollt, als ginge es einen steilen Abhang hinunter. Ausgerechnet auf dieser verdammten Nebenstraße hatte es passieren müssen, keine zwanzig Meilen von der Hütte entfernt. Aber er hatte sich ja in die Einsamkeit zurückziehen wollen und Guys Angebot dankend angenommen. Die Jagdhütte war ihm als ideales Plätzchen vorgekommen. Er brauchte absolute Ruhe, um das Buch zu schreiben. Wenn er allerdings seine Zeit damit vertrödeln mußte, primi3
tivste Existenzprobleme zu lösen, dann sah das schon wieder weniger erfolgversprechend aus. Matt bockte den Wagen auf, schraubte den defekten Reifen ab, nahm ihn herunter und wuchtete den Ersatzreifen auf die Radbolzen. Erleichtert atmete er auf. Genau in dem Moment bekam er den nächsten Schlag verpaßt. Die Radkappe begann zu tanzen, die Muttern, die er hineingelegt hatte, sprangen heraus und rollten unter den Wagen. Matt fluchte wie ein Droschkenkutscher. Tote Objekte mit Eigenleben – das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber manchen Menschen ging es pausenlos so: der Kuchen fiel ihnen auf den Teppich, die Gläser zersprangen ohne ersichtlichen Grund, ihre Golfbälle flogen ins Dickicht und so weiter und so fort. Und andere wiederum freundeten sich geradezu mit den Gegenständen, die sie umgaben, an. War das Glück? Oder Geschick? Oder Erfahrung? Nein, es mußte etwas anderes sein. Gab es Menschen, die derlei Mißgeschick geradezu heraufbeschworen? Wenn ja, dann gehörte er absolut dazu. Und wieder Gelächter. Direkt hinter ihm. Matt fuhr herum. Das Mädchen, das gelacht hatte, war kaum einsfünfundsechzig groß, in einem ausgebeulten, verwaschenen Kleid. Die langen Zöpfe waren mausgrau. Blaue Augen in einem sonst recht langweiligen Gesicht. Matt schätzte sie auf dreizehn. »Und warum lachst du?« fuhr Matt die Kleine an. 4
»Weil Sie so komisch sind«, sagte das Mädchen. »Findest du!« Matt unterdrückte seine Wut, kniete sich auf die Straße und sah unter das Auto. Drei Muttern erreichte er, für die vierte mußte er sich flach auf den Bauch legen. Als er sich wieder aufrichtete, war das Mädchen immer noch da. »Und worauf wartest du noch?« fragte er unfreundlich. »Auf nichts«, antwortete die Kleine. Matt zog die Muttern an, setzte die Radkappe auf und wischte sich die staubigen Hände an der Hose ab. »Und warum gehst du nicht heim?« fragte er. »Weil ich nicht kann.« Matt ließ den Wagen herunter. »Warum kannst du nicht?« fragte er. »Weil ich ausgerissen bin.« Die Augen wurden feucht, eine Träne rollte über das schmutzige Gesicht. Bloß kein Mitleid, dachte Matt, packte den Reifen in den Kofferraum und schlug den Deckel zu. Die Sonne sank immer tiefer, und auf dieser miserablen Landstraße brauchte er vielleicht eine geschlagene Stunde für die zwanzig Meilen. Er setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Noch einen schnellen Blick auf die kleine Gestalt, dann legte er den Gang ein. »Mister! He, Mister!« Matt streckte den Kopf aus dem Fenster. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
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»Nichts. Sie haben bloß den Wagenheber vergessen.« Matt zog die Bremse. Er stieg aus, lud den Wagenheber ein und schlug den Deckel ein zweitesmal zu. »Und wo willst du jetzt hin?« fragte er. »Nirgends.« »Was heißt nirgends? Hast du denn keine Verwandten?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Oder Freunde?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Dann geh wieder heim, wo du hingehörst.« Er rutschte auf den Sitz und schlug die Tür zu. Das Mädchen ging ihn nichts an. Wenn sie Hunger hatte, würde sie schon nach Hause gehen. Außerdem war er nicht die Caritas. Er öffnete die Tür. »Los, steig ein«, rief er. Nicht in die Erdfurchen zu geraten, war mühsam genug, daß aber das Madchen obendrein vor Vergnügen auf dem Sitz herumhüpfte und quietschte, ging Matt auf die Nerven. »Vorsicht!« sagte er und deutete auf den Aktendeckel mit den Notizen dazwischen. »Da steckt ein Jahr Arbeit drin.« Er nahm ihn und legte ihn auf die Reiseschreibmaschine, die zwischen einem Sack Mehl und einem Korb mit Eiern auf dem Rücksitz stand. »Ein Jahr Arbeit?« »Ja. Für ein Buch, das ich schreibe.« »Sie schreiben Geschichten?« »Nein, ein Buch. Ein psychologisches Thema. Über das Phänomen von Poltergeistern und dergleichen.« »Was sind denn Poltergeister?« »Unruhestifter.« 6
»Aha«, sagte das Mädchen, als sei ihm alles klar. »Das ist natürlich Aberglaube«, sagte Matt. »Als sich die Menschen ungewöhnliche Ereignisse noch nicht erklären konnten, machten sie die Geister dafür verantwortlich. Es gibt keine Geister, die Tische verrücken oder Gegenstände werfen und Krach machen. Wenn so etwas passiert, dann gibt es immer einen logischen Grund dafür, und das werde ich in meinem Buch beweisen. Aber du interessierst dich wahrscheinlich nicht für Bücher.« »Doch, ich mag Bücher gern.« »Ich meine wissenschaftliche Bücher.« »Wenn sie von Geistern handeln schon.« »Meinetwegen«, sagte Matt gereizt. »Und wo wohnst du?« Die Fröhlichkeit wich aus ihrem Gesicht. »Ich kann nicht heimgehen.« »Warum nicht? Sag bloß nicht, weil du ausgerissen bist.« »Weil mich mein Vater sonst wieder schlägt.« »Dein Vater schlägt dich?« »Nicht mit den Fäusten. Wenigstens nicht oft. Er nimmt immer den Gürtel. Schauen Sie.« Sie zog den Rock und das eine Bein eines Schlüpfers in die Höhe, der aus irgendeinem gräßlichen Stoff war. Ein Blick, und Matt sah weg. Auf einem Schenkel ein großer blauer Fleck. Für ein Mädchen von dreizehn auffallend wohlgeformte Beine. Matt runzelte die Stirn. »Warum schlägt er dich?« »Weil er bösartig ist. « »Er muß doch einen Grund haben.« »Das ist so«, sagte das Mädchen. »Wenn er betrunken ist, schlägt er mich, weil er betrunken ist. Und 7
wenn er nicht betrunken ist, schlägt er mich, weil er nüchtern ist.« »Und was sagt er dann?« Sie sah ihn scheu an. »Das kann ich nicht wiederholen.« »Nein, ich meine, was paßt ihm nicht?« »Ach so!« Sie überlegte. »Daß ich nicht verheiratet bin. Ich soll mir einen kräftigen Kerl angeln, der dann bei uns wohnt und seine Arbeit macht. Ein Mädchen bringt kein Geld heim, sagt er, wenigstens kein anständiges.« »Aber du bist doch noch zu jung zum Heiraten.« Sie sah ihn von der Seite her an. »Ich bin sechzehn. Die meisten in meinem Alter haben schon Kinder. Oder wenigstens eines.« Sie runzelte die Stirn. »Heiraten! Heiraten! Als ob ich nicht gern verheiratet wäre. Es ist doch nicht meine Schuld, wenn mich keiner will.« »Das ist mir ein Rätsel«, sagte Matt spöttisch. Sie lächelte ihn an. »Sie sind nett.« Wenn sie lächelte, war sie fast hübsch. »Wieso kommt es denn nicht zum Heiraten?« fragte Matt. »Einmal wegen meines Vaters«, sagte sie. »Mit dem will keiner etwas zu tun haben. Vor allem aber, weil ich eben kein Glück habe.« Sie seufzte. »Mit einem bin ich fast ein Jahr gegangen. Er hat sich dann das Bein gebrochen. Mein nächster Freund ist fast ertrunken, als er in den See gefallen ist. Ich soll daran schuld gewesen sein.« »Du?« Sie nickte. »Die Leute sagen, wer mit mir geht, geht mit dem Unglück. Deshalb kommt keiner mehr. Einer hat sogar gesagt, daß er eher einen 8
Puma heiraten würde als mich. Sind Sie verheiratet, Mister .. .« »Wright«, sagte Matt. »Matthew Wright. Nein, ich bin nicht verheiratet.« Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf und nickte. »Wright«, sagte sie langsam. »Abigail Wright. Das klingt hübsch.« »Abigail Wright?« Sie war die Unschuld in Person. »Habe ich das gesagt?« fragte sie. »Das ist aber komisch. Ich heiße nämlich Jenkins.« Matt schluckte. »Du gehst wieder nach Hause«, sagte er streng. »Entweder du erklärst mir den Weg, oder du steigst sofort aus. »Aber mein Vater ...« »Hast du vielleicht gedacht, ich nehme dich mit?« »Ja.« »Das geht nicht. Außerdem gehört es sich auch nicht.« »Wieso?« Matt trat auf die Bremse. »Gut!« sagte das Mädchen schnell. »An der nächsten Abzweigung bitte rechts.« Hühner flatterten über den Hof. Aus einem Lattenverschlag hörte man das Grunzen von Schweinen. Die jämmerliche Holzhütte mit der Veranda davor war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Auf der Veranda saß in einem Schaukelstuhl ein großer, dunkler Mann mit Vollbart und einem Wust von Haaren auf dem Kopf. »Das ist er«, flüsterte das Mädchen. Matt war nicht sonderlich wohl in seiner Haut, aber der Vater des Mädchens schaukelte weiter, als wür9
de seine Tochter täglich von Fremden zurückgebracht. »Da wärst du wieder zu Hause«, sagte Matt leicht nervös. »Ich steige aber nicht eher aus, bis ich weiß, ob er mich haut«, sagte das Mädchen. »Reden Sie erst mit ihm.« »Ich denke nicht daran«, sagte Matt schnell. »Ich habe dich heimgebracht, und das reicht.« »Sie sind nett und sehen sehr gut aus. Ich sage meinem Vater ungern, daß Sie die Situation ausgenützt haben. Wenn er eine Wut hat, ist er grauenvoll.« Matt sah Abigail entsetzt an. Als sie den Mund aufmachte, stieß er die Tür auf und stieg aus. Langsam ging er auf die Hütte zu und stellte einen Fuß auf die Veranda. »Ich«, sagte er, »ich habe Ihre Tochter auf der Landstraße aufgelesen.« Jenkins schaukelte weiter. »Sie wollte weglaufen«, sagte Matt. »Ich habe sie zurückgebracht.« Jenkins schaukelte und schwieg. Matt machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem Auto und holte eine Flasche Gin aus dem Handschuhfach. »Hoffentlich sehe ich dich nie wieder«, sagte er Er ging zur Veranda zurück. »Mögen Sie einen Schluck?« Jenkins griff sofort nach der Flasche, setzte sie an und trank fast die Hälfte auf einen Zug. »Reichlich schwach«, sagte er, dachte aber nicht daran, die Flasche zurückzugeben. 10
»Ich habe Ihre Tochter wiedergebracht«, sagte Matt. »Und warum?« »Weil sie nicht wußte wohin. Schließlich ist sie doch hier zu Hause.« »War«, sagte Jenkins. »Sie ist weggelaufen.« »Es ist mir klar, daß Mädchen in dem Alter mühsam sind. Ich kann Sie gut verstehen, aber sie ist doch trotzdem Ihre Tochter.« »Da habe ich meine Zweifel.« Matt holte tief Luft und startete den nächsten Versuch. »Ein Zusammenleben erfordert immer Kompromisse. Ihre Tochter reizt Sie sicher manchmal bis aufs Blut, aber sie zu schlagen, damit kommen Sie auch nicht weiter. Wenn Sie zum Beispiel -« »Sie schlagen?« Jenkins stand auf und deutete mit der Flasche auf die Tür, die in die Hütte führte. Wohl oder übel folgte ihm Matt. »Ich habe sie noch nie geschlagen«, sagte Jenkins und zündete eine Petroleumlampe an. »Aber sehen Sie sich das an.« In der Mitte des Raumes lag ein umgestürzter Holztisch und streckte drei Beine in die Luft. Das vierte lag daneben. »Was ist das?« fragte Matt. »Das ist noch gar nichts«, sagte Jenkins mit zitternder Stimme. »Sie sollten erst das andere Zimmer sehen.« »Aber wie ... Ich meine, warum?« »Ich behaupte ja gar nicht, daß Abe es gewesen ist«, sagte Jenkins und schüttelte den Kopf. »Aber wenn sie wütend oder unglücklich ist, dann passiert 11
eben so etwas. Und sie war verdammt unglücklich, wie dieser Duncan ihr gesagt hat, daß er nichts mehr von ihr wissen will. Die Stühle sind in die Luft geflogen und wieder auf den Boden heruntergesaust, der Tisch ist umgestürzt, und es hat Teller und Tassen geregnet. Und schauen Sie sich das an!« Er beugte den Kopf, machte die Haare auseinander und zeigte Matt eine dicke Beule. »Wie der junge Duncan ausschaut, möchte ich nicht wissen.« Matt starrte den Mann entgeistert an. »Aber sie schlagen?« fuhr Jenkins fort. »Ich? Eher würde ich die Hand in ein Schlangennest legen.« »Wollen Sie damit sagen, daß das alles von allein passiert ist?« »Genau. Ich würde es ja selber nicht glauben, wenn es das erstemal gewesen wäre. Aber seltsame Sachen passieren, seit Abe vor fünf oder sechs Jahren in das Alter gekommen ist – Sie wissen schon, was ich meine.« »Aber das Mädchen ist doch erst sechzehn.« »Sechzehn?« Er schielte zur Tür und senkte die Stimme. »Sagen sie ihr bloß nicht, daß ich es Ihnen gesagt habe, aber Abe ist eine alte Jungfer. Über achtzehn ist sie!« Ein Teller sprang von einem Regal und zerplatzte vor Jenkins’ Füßen in tausend Scherben. Er sprang zur Seite und fing an zu zittern. »Sehen Sie?« jammerte er. »Der Teller ist eben runtergefallen«, sagte Matt. »Nein, verhext ist sie«, sagte Jenkins, rollte die Augen und setzte die Flasche an. »Vielleicht bin ich ihr nie ein guter Vater gewesen«, fuhr er fort und wischte sich mit dem Ärmel über 12
den Mund. »Seit ihre Mutter tot ist, ist sie so und hat lauter so merkwürdige Gewohnheiten. Ganz so schlimm war es nicht immer. Ich habe zum Beispiel jahrelang kein Wasser holen müssen. Die Tonne neben der Veranda ist immer voll. Aber seit sie in dem Alter ist, und ihr die Burschen immer schon nach kurzer Zeit nicht mehr gefallen, seitdem hält man es kaum aus mit ihr. Inzwischen läßt sich schon keiner mehr blicken. Alles hüpft und tanzt in der Gegend herum, man traut schon dem Stuhl nicht mehr, auf dem man sitzt. Das geht einem an die Nieren. Man kann schließlich nicht alles aushalten.« Die Augen des Mannes wurden feucht. »Ich habe schon lange keine Freunde mehr. Wenn man bei uns auf dem Land ganz allein ist, dann ist das hart. Noch dazu, wenn man wie ich am Morgen vor Rückenschmerzen oft kaum aus dem Bett kommt. Sehen Sie, Sie stammen aus der Stadt und sehen richtig sympathisch aus. Sie sind gebildet und gefallen Abe. Warum nehmen Sie das Mädchen denn nicht mit? Wenn sie sich zurechtmacht, kann sie ganz passabel aussehen und kochen tut sie prima. Sie brauchen sie ja nicht gleich zu heiraten, wenn Ihnen nicht danach ist.« Matt war blaß geworden. Er schüttelte entsetzt den Kopf. »Sie sind wohl verrückt«, sagte er. »Sie können Ihre Tochter doch nicht einfach so abgeben wollen.« Er war schon an der Tür, als sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte. »Mister«, sagte Jenkins. »Wenn in unserer Gegend ein Mann mit einem Mädchen länger als zwanzig Minuten allein ist, dann erwartet man von ihm, daß 13
er das Mädchen auf der Stelle heiratet. Sie sind fremd hier, also bestehe ich nicht darauf. Aber als Abe mich verlassen hat, von dem Moment an war sie nicht mehr meine Tochter. Niemand hat Sie gebeten, sie mir wiederzubringen. Die ißt ja mehr als ich.« Matt griff in die Tasche, zog fünf Dollar heraus und hielt sie Jenkins entgegen. »Hier«, sagte er, »Sie können das Geld sicher brauchen.« Jenkins widerstand der Versuchung. »Nein«, wehrte er ab. »Das ist die Sache nicht wert. Sie haben sie zurückgebracht und jetzt können Sie sie wieder mitnehmen.« Matt sah zu dem Mädchen hinaus. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Er zog noch einmal fünf Dollar aus der Tasche. Jenkins fing an zu schwitzen. Seine Hand zuckte. Plötzlich griff er nach dem Geld und ließ es in der Hosentasche verschwinden. »Okay», sagte er. »Zehn Dollar – da sieht die Sache schon anders aus.« Matt lief zu seinem Auto, als sei er dem Beelzebub gerade noch einmal ausgekommen. Er riß die Tür auf und setzte sich hinter das Steuer. »Steig aus«, sagte er. »Du bist daheim.« »Aber mein Vater -« »Tut dir nichts.« Matt griff an ihr vorbei und machte die Tür auf. »Adieu.« Abigail stieg langsam aus. Sie ging um den Wagen herum zur Veranda. Jenkins, der im Türrahmen stand, zog ängstlich den Kopf ein. »Ekliger alter Kerl«, sagte das Mädchen.
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Jenkins zuckte zusammen. Als Abigail in der Hütte verschwunden war, wollte er die Flasche ansetzen, aber diese machte nicht an seinem Mund halt, sondern stieg weiter in die Höhe und kippte plötzlich um. Der Gin floß Jenkins über den Kopf. Jenkins fluchte, und Matt ließ den Motor an und brauste los. Eine optische Täuschung, versuchte er sich einzureden. Die Blockhütte hätte eigentlich auf Anhieb zu finden sein müssen. Guy hatte Matt den Weg genau aufgezeichnet. Trotzdem fuhr Matt ganze zwei Stunden durch die Gegend und kannte sich schließlich überhaupt nicht mehr aus. Er war müde und sein Magen knurrte. Zum viertenmal fuhr er nun schon an einer Blockhütte vorbei, auf die alle Angaben paßten. Nur etwas stimmte nicht: es brannte Licht. Matt entschloß sich, wenigstens zu fragen. Schon draußen vor der Tür roch er es. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Ausgelassener Speck. Er klopfte. Vielleicht lud man ihn zum Essen ein. Die Tür ging auf. »Sie haben aber lang gebraucht.« »Nein!« stöhnte Matt. »Alles, bloß das nicht. Was machst du denn hier? Woher weißt du denn . ..« Abigail zog ihn in die Hütte. Alles sah hell, freundlich und sauber aus. Der Fußboden war frisch gescheuert. In einer Ecke stand ein Reisigbesen. Die beiden unteren Betten, die an gegenüberliegenden Wänden standen, waren bezogen. Der Tisch war für zwei gedeckt. Auf dem Herd dampften die Töpfe. »Mein Vater hat es sich anders überlegt«, sagte Abigail. 15
»Das finde ich ganz schön hinterlistig«, sagte Matt. »Ich meine, ich habe ihm schließlich ...« »Moment«, fiel ihm Abigail ins Wort und griff in die Tasche ihres jämmerlichen Kleides. »Hier!« Sie gab ihm zwei zerknitterte Fünfdollarnoten und Kleingeld im Wert von einem Dollar und siebenunddreißig Cent. »Mehr hat er leider nicht, soll ich ausrichten«, sagte Abigail. »Dafür hat er mir Eier und Speck, Mehl und noch so ein paar Sachen mitgegeben.« Matt ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber du hast doch gar nicht wissen können ...« »Ich war im Finden schon immer groß«, sagte Abigail und strahlte. »Wie bist du denn hierhergekommen?« »Geritten.« Matt streifte den Besen mit einem mißtrauischen Blick. »Mein Vater hat mir den Esel gegeben«, sagte Abigail. »Ich habe ihn wieder heimgeschickt. Er findet den Weg auch allein.« »Aber du kannst nicht hierbleiben. Unmöglich!« »Mr. Wright«, sagte Abigail. »Mit leerem Magen soll man keine Entscheidungen treffen – das ist einer der Sprüche von meiner Mutter. Jetzt kommen Sie erst einmal zu sich. Das Essen ist fertig. Sie müssen doch fast am Verhungern sein.« »Keine Entscheidung treffen!« Matt konnte nur noch den Kopf schütteln. Er sah zu, wie Abigail auftrug. Dicke Scheiben gebratenen Speck, eine sämige Soße, Maiskolben, frisches Brot, Butter, selbstgemachte Marmelade und dampfenden Kaffee. Abigail hatte rote Backen und machte einen
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restlos zufriedenen Eindruck. Sie sah fast hübsch aus. »Ich bringe keinen Bissen hinunter«, sagte Matt. »Unsinn!« Abigail lud ihm den Teller voll. Matt schnitt ein Stück Speck ab und steckte es in den Mund. Es schmeckte so köstlich, daß er plötzlich mit einem Appetit aß, als habe er selten etwas Besseres bekommen. Die Soße war ein Gedicht. Alles war so, wie er es mochte. Als er alles aufgegessen hatte, zündete er sich eine Zigarette an, und Abigail goß ihm Kaffee ein. Matt fühlte sich zufrieden. »Wenn die Zeit gereicht hätte, hatte ich noch einen Hefezopf gebacken«, sagte Abigail. »Das kann ich gut.« ..Nein!« rief Matt plötzlich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es geht nicht. Du kannst nicht hierbleiben. Was denken denn da die Leute.« »Das ist doch egal. Mein Vater macht sich bestimmt nichts daraus. Außerdem kann ich ja sagen, daß wir verheiratet sind.« »Um Gottes willen!« rief Matt. »Bloß nicht!« »Bitte, Mr. Wright. Lassen Sie mich doch für Sie kochen und den Haushalt machen. Ich falle Ihnen nicht zur Last, Mr. Wright. Bestimmt nicht.« »Hör zu, Abigail.« Er nahm ihre Hand. Sie war zart und weich. Das Mädchen stand folgsam neben seinem Stuhl, die Augen zu Boden geschlagen. »Du bist ein nettes Mädchen, und ich mag dich gern. Du kochst phantastisch und wirst einmal eine gute Ehefrau. Du willst dir doch nicht deine Chancen verderben. Du kannst nicht bei mir bleiben. Du mußt zu deinem Vater zurück. Und zwar noch heute.« 17
Alle Fröhlichkeit wich von ihr. »Gut«, sagte sie leise. Damit hatte Matt nicht gerechnet. Erstaunt stand er auf und ging zur Tür. Das Mädchen folgte ihm. Er spürte fest, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie gingen in die warme Nacht hinaus. Matt machte die Autotür auf und ließ sie einsteigen. Dann setzte er sich hinter das Steuer. Abigail hatte die Schultern hochgezogen und sah ihn nicht an. Sie tat Matt plötzlich wieder leid. Er kam sich vor, als hätte er ein Kind geschlagen. Das arme kleine Ding, dachte er, riß sich aber im selben Moment zusammen und schüttelte diese Gedanken ab. Bloß nicht weich werden! Er wollte den Motor anlassen, er sprang jedoch nicht an. Matt versuchte es ein zweitesmal. Der Motor heulte auf und starb wieder ab. Ein dritter Versuch. Ohne Erfolg. Er sah Abigail mißtrauisch an. Unmöglich, dachte er. Sie war nicht am Auto gewesen. Litt er vielleicht plötzlich an Verfolgungswahn? Er konnte das Mädchen doch nicht für alles verantwortlich machen, was schief ging. Er gab es auf, bevor die Batterie vollends leer war. »Gut«, sagte er. »Dann schläfst du eben die eine Nacht hier.« Schweigend folgte sie ihm in die Hütte. Schweigend half sie ihm, Wolldecken zwischen die Matratzen der oberen Betten zu stopfen. Damit waren die unterstehenden Betten wie durch einen Vorhang verschlossen. Ihre Nähe machte Matt irgendwie nervös. Sie hatte einen angenehm weiblichen Geruch an sich. Wenn
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sie ihn zufällig streifte, empfand er es als angenehm. Als die Decken hingen, wollte sich Abigail das Kleid einfach über den Kopf ziehen. »Halt!« rief Matt. »Wofür haben wir uns denn die Mühe gemacht?« Er deutete auf das linke Bett. »Du ziehst dich da drin aus.« Sie ließ den Rocksaum fallen und kroch brav hinter die Decke. Matt atmete auf, stieg in sein Bett, zog sich aus und schlüpfte unter die Decke. Verdammt, dachte er. Er hatte vergessen, das Licht zu löschen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und hörte, wie nackte Füße über den Boden huschten. Die Lampen gingen aus. Dann noch ein Rascheln und anschließend Dunkelheit und Stille. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Matt machte die Augen auf. Draußen mußte es schon hell sein. Matt schob die Wolldecke zur Seite und spähte hinaus. Alles, was er im Auto mitgebracht hatte, war ausgeladen und ordentlich aufgeräumt. Auf einem kleinen Tisch am Fenster stand die Schreibmaschine. Daneben der Aktendeckel mit seinen Aufzeichnungen und der Packen Papier. Matt zog sich an und kroch aus dem Bett. Abigail deckte gerade den Frühstückstisch und summte dabei vor sich hin. Sie hatte ein anderes Kleid an, aus groben braunem Stoff, der ihre Haare noch stumpfer erschienen ließ. Aber das Kleid paßte ihr wenigstens und unterstrich ihre schlanke, weibliche Figur. 19
Wie sie wohl aussieht, wenn man sie richtig herausputzt, dachte Matt. Er verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn auf dem Tisch lockten Rühreier, die gerade so zubereitet waren, wie er sie gern mochte. Seltsam, wie genau Abigail seinen Geschmack erriet. Er verschlang sein Frühstück mit einer Gier, als habe er tagelang nichts in den Magen bekommen. »So«, sagte er, nachdem er sich die erste Zigarette angezündet hatte. Abigail sah weg. Matt holte tief Luft und überlegte es sich anders. Er konnte das Mädchen ja auch noch am Abend heimfahren. »So«, wiederholte er, »und jetzt an die Arbeit.« Abigail sprang auf und räumte den Tisch ab. Matt setzte sich vor die Schreibmaschine und spannte ein Blatt ein. Gerade der richtige Arbeitsplatz. Der Tisch hatte genau die Höhe, die ihm angenehm war, das Licht war perfekt. Matt starrte auf das leere Papier, dann blätterte er seine Notizen durch. Am liebsten wäre er aufgestanden und hin- und hergegangen, aber er zwang sich, sitzenzubleiben. Er schlug ein Bein über das andere und kratzte sich am Kinn. Er hatte absolut keine Lust zu arbeiten. Schließlich tippte er wenigstens die Überschrift: DAS PHÄNOMEN POLTERGEIST Psychologische Aspekte dieses Aberglaubens Weiter kam er nicht. Er konnte sich nicht konzentrieren. Nicht daß Abigail zu laut gewesen wäre. Sie ging auf Zehenspitzen, und das war schlimmer. Mit ei20
nem Ohr hörte er ihr zu. Sie wusch das Frühstücksgeschirr ab, stellte es weg, und dann wieder Stille. Schließlich drehte sich Matt um. Abigail saß am Tisch und flickte das Loch in seiner Hosentasche. Wie ein Kind, das Hausfrau spielt, dachte er. Dann wandte er sich wieder seiner Schreibmaschine zu, aber die Inspiration blieb aus. Nach einer Weile drehte er sich wieder um. »Wer hat das ganze Geschirr zerschlagen und den Tisch umgestoßen?« fragte er. »Libby«, antwortete Abigail. »Libby? Wer ist denn Libby?« »Mein anderes Ich«, sagte Abigail. »Meistens lasse ich sie tief drinnen, aber wenn ich traurig oder unglücklich bin, dann schaffe ich es einfach nicht. Dann kommt sie raus und tobt. Ich kann nichts gegen sie machen.« Großer Gott, dachte Matt. Schizophrenie! »Und seit wann existiert diese Libby für dich?« fragte er. »Seit dem Tag, an dem ich zur Welt gekommen bin. Ich hatte eine Zwillingsschwester, aber die war tot. Meine Mutter hat gesagt, daß ich stärker war und ihr einfach das Leben weggenommen habe. Wenn ich irgend etwas angestellt habe, dann hat meine Mutter immer gesagt, daß Libby das nie getan hätte, daß sie nie böse oder gemein gewesen wäre. Wenn dann etwas passiert ist, habe ich immer gesagt, Libby hat es getan. Ich habe zwar trotzdem meine Prügel bekommen, aber es war mir lieber so.« »Und weiter?«
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»Weiter?« Abigail überlegte. »Mit der Zeit habe ich dann geglaubt, daß Libby die bösen Sachen tatsächlich gemacht hat, aber ich die Ohrfeigen dafür kriege. Deshalb habe ich immer geschaut, daß sie tief drinnen bleibt. Und wie ich dann älter geworden bin, und alles so komisch war, da war es dann oft sehr praktisch, daß ich Libby hatte.« »Kannst du sie denn sehen?« fragte Matt. »Nein, natürlich nicht. Sie existiert doch nicht wirklich. Wenn ich traurig oder wütend bin, dann passieren die Sachen eben, und ich kann nichts dagegen machen. Aber nachdem man ja immer eine Erklärung braucht, nehme ich einfach Libby dafür.« Matt seufzte. Verrückt war das Mädchen nicht. Und dumm erst recht nicht. »Und kontrollieren kannst du es nicht?« fragte er. Abigail zuckte mit den Schultern. »Höchstens ein wenig. Das mit dem Gin zum Beispiel, das habe ich mit Absicht gemacht, weil ich eine Wut hatte.« »Und wie steht es mit dem davonrollenden Autoreifen?« Abigail lachte. »Sie haben vielleicht komisch ausgesehen, Mr. Wright.« »Tatsächlich?« Matt drehte sich wieder um. Die Ereignisse der letzten achtzehn Stunden schienen auf physischen Tatsachen zu beruhen. Abigails Erklärungen waren theoretisch möglich. Aber – glaubte er tatsächlich, daß Abigail mittels irgendwelcher unbekannter Kräfte Gegenstände bewegen konnte? Vielleicht durch erhöhte Konzentration? Nein, er glaubte es nicht. Oder doch? Wer oder was war Libby? Eine nicht faßbare, aber benutzbare Seele? 22
Man sprach von Telekinese. Die Definition lautete: angebliches Eintreten einer mechanisch unerklärbaren Bewegung von Gegenständen in Abhängigkeit von einem Medium. Abigail hatte die Hose weggelegt und sah aus dem Fenster. Matt stand auf und ging zu ihr. Sie sah zu ihm hoch und lächelte. »Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Wright?« fragte sie. Matt zog die Nähnadel aus der Fadenrolle und steckte sie in die Tischplatte. »Mach, daß sie sich bewegt«, sagte er. Abigail starrte ihn entgeistert an. »Aber warum denn?« fragte sie. »Weil ich es will.« »Aber ich will nicht«, sagte das Mädchen. »Ich will nie. Alles passiert immer von selbst.« »Versuche es.« »Nein, Mr. Wright«, sagte Abigail. »Es hat mir immer nur Ärger gebracht. Meine ganzen Verehrer sind vor Angst davongelaufen, und mein Vater hat deshalb auch schon niemanden mehr. Jemand, der so etwas kann, ist nicht beliebt. Wenn es nach mir ginge, wünschte ich mir, daß nie wieder etwas passierte.« »Wenn du hier bleiben willst«, sagte Matt, »dann mußt du gehorchen.« »Bitte, Mr. Wright«, flehte Abigail. »Zwingen Sie mich nicht. Es macht alles kaputt. Es ist schlimm genug, wenn man es nicht verhindern kann. Aber mit Absicht - das ist Sünde und rächt sich bitter.«
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Matt sah das Mädchen nur an. Es senkte den Blick, biß sich auf die Unterlippe und fixierte die Nähnadel. Seine junge Stirn umwölkte sich. Nichts geschah. Die Nadel zitterte nicht einmal. Abigail holte tief Luft. »Es geht nicht, Mr. Wright«, sagte sie mit kläglicher Stimme. »Ich kann nicht.« »Warum nicht?« fragte Matt. »Ich weiß es selbst nicht«, antwortete Abigail und strich völlig unbewußt über die Hose, die noch auf ihrem Schoß lag. »Vielleicht, weil ich glücklich bin.« Sie hatten den ganzen Morgen herumprobiert, aber Matt war nicht zufrieden. Er hatte Abigail eine ganze Reihe von Gegenständen hingelegt: die Fadenrolle, einen Füller, einen Radiergummi, eine Postkarte, einen Geldschein und eine Flasche. Sogar den Reifen hatte er aus dem Kofferraum geholt und neben den Wagen gelegt. Alles war erfolglos geblieben. Schließlich holte Matt eine Tasse aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. »Hier«, sagte er. »Du kannst doch so gut Geschirr zerschmeißen. Also los.« Abigail stöhnte und starrte auf die Tasse. Ihr Gesicht sah bekümmert aus und war richtig eingefallen. »Ich kann nicht«, jammerte sie nach einer Weile. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« äffte Matt sie nach. »Und ich kann dein ,kann nicht’ schon nicht mehr hören, verdammte Pest!« Ihre großen blauen Augen füllten sich mit Tränen. Sie legte den Kopf auf die Arme und schluchzte bitterlich.
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Matt schüttelte den Kopf. Hatte er sich alles nur eingebildet? War er das Opfer optischer Täuschungen gewesen? Oder zeigte sich dieses Phänomen nur unter gewissen Umständen? Mußte Abigail unglücklich sein, um verborgene Kräfte wirken lassen zu können? Es entbehrte nicht einer gewissen Logik. Neurotische Kinder spielten eine beachtliche Rolle in der Geschichte der Hexenkunst. Tausende von Menschen waren im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, weil sie nach Aussage von Kindern unerklärliche Dinge getan hatten. Kinder litten oft an übersteigerter Phantasie, waren außerdem leicht beeinflußbar und hatten zum Teil ein immenses Geltungsbedürfnis. Noch einmal die Frage: mußte Abigail unglücklich sein, um verborgene Kräfte wirken lassen zu können? Matt überlegte. Wenn es sich so verhielt, war es hart für Abigail, aber nicht zu ändern. Matt konnte es ihr nicht ersparen. »Pack deine Sachen zusammen«, sagte er streng. »Du gehst zu deinem Vater zurück.« Abigail hob den Kopf. Ihre Augen glühten. »Nein«, sagte sie. »O doch!« »Nein, nein, nein!« Plötzlich segelte die Tasse auf Matts Kopf zu. Instinktiv streckte Matt die rechte Hand aus. Die Tasse flog direkt hinein. Wie benommen sah Matt erst die Tasse an, dann Abigail. Ihre Hände lagen im Schoß. »Du hast es geschafft!« rief Matt. »Es stimmt!«
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Abigail lächelte. »Muß ich jetzt nicht zu meinem Vater zurück?« Matt überlegte kurz. »Wenn du mir hilfst, nicht.« Abigail runzelte die Stirn. »Genügt einmal nicht, Mr. Wright? Jetzt wissen Sie ja, daß ich es kann. Können wir es nicht dabei belassen? Es bringt kein Glück. Es passiert sicher etwas Schreckliches. Ich fühle es.« Sie sah sein unerbittliches Gesicht. »Wenn Sie darauf bestehen, dann tue ich es eben.« »Es ist so wichtig für mich«, sagte Matt freundlich. »Also, wie war dir zumute, bevor die Tasse durch die Luft gesegelt ist?« »Ich war wütend.« »Nein, ich meine körperlich, nicht gefühlsmäßig. Hast du etwas gedacht?« Abigail bekam eine tiefe Falte zwischen den Brauen. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, Mr. Wright. Ich hatte plötzlich den Wunsch, den nächstbesten Gegenstand zu nehmen und damit zu werfen, und dann war es schon von allein passiert. Das hatte nichts mit meiner Hand zu tun, sondern mein ganzer Körper machte mit.« Matt stellte die Tasse wieder auf den Tisch. »Versuche noch einmal genauso zu empfinden.« Abigail konzentrierte sich. Ihr Gesicht zog sich zusammen und wurde ganz klein. Schließlich ließ sie die Schultern sinken. »Es geht nicht. Ich empfinde nicht so wie eben.« »Dann mußt du eben doch zurück!« Die Tasse wackelte. »Na also!« rief Matt. »Versuch’s, bevor du es wieder vergißt.« Die Tasse rotierte. 26
»Los!« Die Tasse schwebte in die Höhe, senkte sich aber sofort wieder. Abigail seufzte. »Das haben Sie nur so gesagt, oder?« fragte sie. »Sie schicken mich nicht wirklich zurück.« »Nein, aber du wirst dir noch wünschen, daß ich es getan hätte. Du mußt arbeiten und üben, bis du absolute Kontrolle über diesen Zustand hast.« »Gut«, sagte Abigail. »Aber es ist sehr anstrengend, wenn einem nicht danach ist.« »Das kann schon sein, aber du versuchst es jetzt trotzdem noch einmal.« Abigail übte bis zum Mittagessen. Mehr als die Tasse über dem Tisch schweben zu lassen, erreichte sie nicht, aber das klappte schließlich wie am Schnürchen. »Woher kommt nur die Energie?« murmelte Matt vor sich hin. »Das weiß ich nicht«, sagte Abigail. »Aber ich habe wahnsinnigen Hunger.« »Dann machen wir eine Pause«, sagte Matt. »Wie viele Sandwiches wollen Sie, Mr. Wright?« Matt zuckte mit den Schultern. »Vielleicht zwei?« Matt nickte. Als die Brote vor ihm standen, aß er sie wortlos in sich hinein. Seine Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Es stimmte also doch. Abigail verfügte über unerklärliche Kräfte, aber sie mußte unglücklich sein, um sie benutzen zu können. »Versuche es mit dem Senf«, sagte er. Das Glas wackelte nur und fiel um. 27
»Ich bin so satt«, sagte Abigail zufrieden. Sie hatte drei Sandwiches verdrückt. Den Nachmittag über war Matt sehr nett zu Abigail. Er erzählte ihr von sich und seinen Studien an der Universität von Kansas. Er sprach über sein Buch und erklärte ihr, daß die Forschung zum Leben eines Professors gehört. »Die Psychologie«, sagte er, »ist eine Wissenschaft, die immer noch recht stiefmütterlich behandelt wird. Das kommt daher, daß man sich in der Psychologie auf relativ wenig Fakten berufen kann. Nur durch Versuche kommt man zu diesen Fakten, und die Versuche sind schwer durchzuführen, denn dazu braucht man Menschen. Die Wissenschaft an sich ist ein skrupelloses Geschäft. Es werden Feststellungen gemacht und Theorien aufgestellt, die dann in Laboratorien untersucht und bewiesen werden. Physiker zum Beispiel können vom Atom bis zu ganzen Inseln alles zerstören. Biologen können Tiere untersuchen, Anatomen sezieren Leichen. Aber Psychologen stehen keine echten Laboratorien zur Verfügung. Sie müssen bei ihren Untersuchungen sehr vorsichtig vorgehen, da sie Versuche am Menschen machen. Und mit Leichen können sie nicht arbeiten.« Matt brach ab. Abigail war ein guter Zuhörer. Er hatte völlig vergessen, daß er mit einem einfachen Mädchen aus der Provinz sprach. »Erzählen Sie doch weiter, Mr. Wright«, bat sie. Sie wollte wissen, was die Studenten in der Vorlesung anhatten und wie sie angezogen waren, wenn sie zum Tanzen gingen. Ihre Augen wurden immer größer. 28
»Und wie weit lassen die Mädchen einen Freund gehen — ich meine, wenn sie verlobt sind?« fragte sie. Matt lächelte. »Das hängt von dem jeweiligen Mädchen ab, würde ich sagen.« Abigail nickte. »Aber ich verstehe nicht, warum sie überhaupt zur Universität gehen.« »Weil sie genau wie die Männer eine Ausbildung haben wollen.« »Und was machen sie dann?« »Manche suchen sich dann einen Job.« »Heiraten sie gar nicht?« fragte Abigail entsetzt. »Doch, die meisten schon.« »Dann gehen sie also zur Universität, um sich dort einen Mann zu suchen.« »Zumindest wird das oft behauptet«, sagte Matt und lachte. »An der Uni wimmelt es von jungen Männern. Sechs- bis siebentausend.« »Wenn die Mädchen vier Jahre da herumsitzen, bis sie sich endlich einen Mann geangelt haben, dann müssen sie ja recht häßlich sein. Ich würde nicht so lange warten wollen. Und wenn man schon so lange warten muß, dann kann man doch auch zu Hause warten.« Die Naivität des Mädchens faszinierte Matt. Er machte ihm kleine Komplimente, und Abigail freute sich und wurde rot. Er lobte das Abendessen und schwor, nie so gute Pfannkuchen gegessen zu haben. Und es stimmte. Abigail war nie glücklicher gewesen. Sie hüpfte zwischen Tisch und Herd hin und her und strahlte. Nach dem Essen saßen sie zusammen auf der Veranda. Die Hütte stand auf einem Hügel. Es war 29
dunkel, der Mond stand groß und gelb am Himmel, und sie konnten weit über das Tal sehen. Der See unter ihnen glitzerte silbern. Der Tag war heiß gewesen, doch jetzt strich ein kühles Lüftchen durch die Nacht. »Ist das nicht wunderschön?« sagte Abigail und seufzte auf vor Glück. Matt spürte ihre Nähe. In seinem Innern kribbelte es. Wie viel ehrlicher und echter doch die Einstellung dieses Mädchens zum Leben war, als das überspannte, anmaßende Gehabe der Frauen, mit denen er bisher zu tun gehabt hatte. Abigail wußte wenigstens, was sie wollte und welchen Preis sie dafür bezahlen würde. Ihre Wünsche waren einfach und unkompliziert, und sie war bereit, alles zu geben, was sie hatte. Sie würde ihren Mann glücklich machen. Sie würde für ihn kochen, ihm den Haushalt führen und ihm gesunde Kinder schenken. Sie würde schweigen, wenn er nachdenklich war, und nicht sprechen wollte, sie würde aufgeweckt und fröhlich sein, wenn er gute Laune hatte und würde leidenschaftlich sein, wenn er es war. Matt zündete sich eine Zigarette an. Im Schein des Streichholzes sah er ihr Gesicht. Sie sah über das Tal hinweg. »Wenn hier ein junger Mann und ein junges Mädchen verliebt sind, was machen sie dann?« fragte Matt nach einer Weile. »Ach, manchmal gehen wir spazieren«, sagte Abigail verträumt, »und reden dabei und schauen uns die Sachen gemeinsam an. Manchmal ist im Schulhaus auch Tanz. Wenn der Junge ein Boot hat, dann kann man auch auf den See fahren. Aber meistens 30
sitzen wir, wenn der Mond scheint, auf der Veranda und halten uns an der Hand.« Matt nahm Abigails Hand in seine. Sie war kühl und kräftig. Sie wandte ihm den Kopf zu. Ihre Augen suchten sein Gesicht in der Dunkelheit. »Mögen Sie mich ein bißchen, Mr. Wright?« fragte sie mit weicher Stimme. »Nicht zum Heiraten, aber wie Freunde?« »Ich glaube, du bist die echteste Frau, die mir je begegnet ist«, sagte Matt. Und es stimmte. Mit unglaublicher Selbstverständlichkeit lehnten sie sich aneinander. Seine Lippen suchten ihren blassen Jungmädchenmund, er küßte sie zärtlich und leidenschaftlich und spürte, wie sich ihre Lippen teilten und ihre Zunge scheu über seine Lippen strich. Matt hatte einen Arm um Abigails Schultern gelegt. Das Mädchen kuschelte sich an ihn. »Ich glaube, ich würde alles tun, was Sie von mir wollen, Mr. Wright«. sagte es. »Ich verstehe nicht, daß du nicht längst verheiratet bist«, sagte Matt. »Daran bin ich schuld«, sagte Abigail. »Ich war nie so richtig verliebt. Ich bin immer gleich wütend geworden und dann ist etwas Schlimmes passiert. Schließlich wollte keiner mehr etwas von mir wissen. Vielleicht habe ich in den Männern immer etwas gesehen, was gar nicht da war. Ich bin froh, daß ich keinen geheiratet habe.« Sie seufzte. »Was ist denn mit deinen Freunden passiert?« fragte Matt. »Ich meine, hattest du etwas damit zu tun?« »Die Leute haben es behauptet«, antwortete Abigail, eine Spur Bitterkeit in der Stimme. »Sie sagen, 31
daß ich das Böse Auge habe. Aber meine Augen sind doch normal, oder?« Sie sah zu ihm auf. Ihre Augen waren groß und tiefblau und der Mond glitzerte in ihnen. »Sie sind wunderschön«, sagte Matt. Und es stimmte. »Ich finde nicht, daß es meine Schuld gewesen ist«, fuhr Abigail fort. »Ich gebe ja zu, daß ich zu Hank gesagt habe, man könnte meinen, daß er auf Krücken geht, wie er an dem Abend so spät gekommen ist. Kurz darauf hat er Schindeln angenagelt, ist vom Dach gefallen und hat sich das Bein gebrochen. Aber er war schon immer so unvorsichtig. Und Gus war so gefühllos und kalt, daß ich einmal in meiner Wut gesagt habe, er soll doch in den See fallen zum Aufwärmen. Aber jemand, der dauernd beim Angeln ist, der fällt eben auch einmal ins Wasser.« »Sicherlich«, sagte Matt und fror leicht. »Sie zittern ja, Mr. Wright«, sagte Abigail. »Ich hole Ihnen schnell eine Jacke.« »Laß«, sagte Matt. »Es ist sowieso Zeit, schlafen zu gehen. Geh einstweilen rein und zieh dich aus. Morgen fahren wir nach Springfield zum Einkaufen.« »Wirklich? Ich war noch nie in Springfield.« Abigail tanzte hinein. Matt blieb noch einen Moment sitzen und dachte nach. Seltsam, was mit den Jungs passiert war, die Abigail enttäuscht hatten. Wirklich seltsam. Als er sich eine Zigarette anzündete, zitterte seine Hand. Vier verschiedene Abbies kannte Matt bereits: das ausgelassene kleine Mädchen mit den Zöpfen, das vor Vergnügen auf dem Autositz hin und her rutsch32
te, die glückliche, zufriedene Hausfrau mit glühenden Bäckchen, das unglückliche Mädchen, das seltsame Kräfte besaß, die sie nur widerstrebend wirken ließ und das Mädchen mit den leidenschaftlichen Lippen in der mondüberfluteten Nacht. Am nächsten Morgen sollte Matt die fünfte Abigail kennenlernen. Sie war gestriegelt und geschniegelt, die Zöpfe hatte sie in einem Kranz um den Kopf gewunden. Sie trug ein Kleid aus einem blauen glänzenden Stoff. Es war am Hals ein bißchen ausgeschnitten und lag eng an ihrem Körper an. An der einen Hüfte eine Kunstblume. Ihre nackten Füße steckten in Lacksandalen. Großer Gott, dachte Matt. Ihr Sonntagskleid! Und so soll ich mit ihr nach Springfield fahren. Er mußte sich zwingen, ihr nicht wenigstens die gräßliche Blume abzumachen. »Na?« sagte er. »Fertig?« »Fahren wir denn wirklich nach Springfield, Mr. Wright?« fragte Abigail aufgeregt. »Natürlich. Wenn das Auto anspringt.« »Das springt bestimmt an«, sagte Abigail zuversichtlich. Matt sah sie nachdenklich an. Nach einem herzhaften Frühstück stiegen sie ins Auto. Es sprang sofort an. Die Strecke von gut fünfzig Meilen ging zum größten Teil über holprige Landstraßen. Abigail saß zufrieden und schweigsam neben Matt und sah aus dem Fenster. Als sie nach Springfield kamen, glänzten die Augen des Mädchens vor Verwunderung. Sie starrte die Häuser an, als seien sie extra für sie aufgestellt 33
worden. Dann betrachtete sie die Passanten, vor allem die Frauen. Matt merkte plötzlich, daß Abigail wie versteinert dasaß. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. »Was ist denn los?« fragte Matt. »Ich glaube .. . ich glaube, ich sehe ziemlich komisch aus. Sie schämen sich sicher mit mir. Wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Wright, dann bleibe ich lieber im Auto sitzen.« »Unsinn!« sagte Matt. »Du siehst gut aus. Außerdem mußt du ein paar Kleider anprobieren.« »Kleider?« rief Abigail. »Sie wollen mir Kleider kaufen, Mr. Wright?« Matt nickte. Er parkte vor dem größten Warenhaus und half Abigail beim Aussteigen. Für einen Moment waren ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinen. Den Blick, den er darin sah, wagte Matt nicht zu analysieren. An seinen Arm geklammert ging Abigail mit ihm in das Warenhaus. Matt spürte ihr Herz klopfen. Sie fuhren in den ersten Stock hinauf. Matt wollte direkt zur Abteilung für Damenkonfektion gehen, aber Abigail blieb bei den Küchenartikeln stehen und war nicht weiter zu bekommen. Sie betrachtete die Töpfe und Pfannen, die Seier, Hobelgeräte und Schöpfkellen, als seien sie Juwelen. Abigail faßte alles an und stieß einen Seufzer nach dem anderen aus. Matt zog sie schließlich weg. Sie waren schon fast bei den Kleidern angelangt, als Matt auffiel, daß Abigail etwas gegen die Brust, gedrückt hielt. Er blieb stehen und traute seinen Augen nicht. Das Mädchen hatte eine kleine Bratpfanne bei sich. 34
»Wo hast du die her?« fragte er. »Von da hinten.« Sie machte ein unschuldiges Gesicht. »Sie haben so viele davon. Daß eine fehlt, fällt ihnen doch gar nicht auf.« »Das kannst du doch nicht machen!« Matt schüttelte den Kopf. »Stehlen nennt man das!« »Wenn die so viel haben und ich so wenig, dann ist das nicht gestohlen.« »Die Pfanne wird zurückgegeben.« Matt wollte sie Abigail abnehmen, aber das Mädchen wehrte sich. »Bitte nicht!« flehte es. Matt spähte nervös um sich. Bis jetzt schien noch niemand auf sie aufmerksam geworden zu sein. »Halt bloß den Mund!« zischte er. »Bleib hier stehen und rühre dich nicht von der Stelle.« Er ging in die Küchenabteilung zurück und schnappte sich die erstbeste Verkäuferin. »Wieviel kosten diese Pfannen?« fragte er und deutete auf das Regal, auf dem sie standen. »Vier Dollar fünfzig. Soll ich Ihnen eine einpacken, Sir?« »Vier Dollar fünfzig!« »Ja, Sir. Wir haben auch noch billigere aus Aluminium.« »Nein«, sagte Matt schnell und zog die Brieftasche. »Geben Sie mir eine Quittung und eine Tüte.« Die Verkäuferin nahm eine Pfanne vom Regal. »Nein, ich will keine«, sagte Matt. »Lediglich eine Quittung und eine Tüte.« »Aber Sir, Sie sagten doch .. .« »Bitte, eine Quittung und eine Tüte.«
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Die Verkäuferin tippte die Summe in die Kasse, riß den Zettel ab, steckte ihn in eine Tüte und gab sie Matt. »Noch etwas, Sir?« fragte sie automatisch. »Ich hoffe nicht«, sagte Matt und machte sich davon. Die Verkäuferin starrte kopfschüttelnd hinter ihm her. Abigail hatte sich nicht vom Fleck gerührt. »Steck die Pfanne da rein«, sagte Matt. Sie sah bewundernd zu ihm auf. »Das war aber schlau von Ihnen, Mr. Wright«, sagte sie. Matt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er packte sie am Arm und zog sie weiter. Sie fuhren in den zweiten Stock hinauf, und dort starrte Abigail entgeistert auf die vielen Stangen mit Kleidern, Röcken und Blusen. »Ich habe gar nicht gewußt, daß es auf der Welt so viel zum Anziehen gibt«, sagte sie. Eine Verkäuferin kam auf sie zu. Matt zog sie zur Seite. »Das Mädchen da«, sagte er. »Ich wollte Sie bitten, daß Sie sich ihrer annehmen. Auch Haare schneiden und waschen. Und Wimpern auszupfen und Makeup. Aber bloß keine Dauerwelle. Und dann suchen Sie ihr bitte Kleider aus und auch Wäsche. Wären Sie so freundlich?« Die Verkäuferin strahlte. »Von so einem Auftrag träumen wir immer«, sagte sie. Wieder zückte Matt die Brieftasche und sah hinein. Er zog zweihundert Dollar heraus. Damit blieben ihm dreihundert für den Rest des Sommers. 36
»Wenn etwas übrig bleibt, habe ich nichts dagegen«, sagte er. »Natürlich«, meinte die Verkäuferin. »Ihre Verlobte?« »Großer Gott – nein!« antwortete Matt. »Sie ist.. . Meine Nichte ist sie. Sie hat heute Geburtstag.« Er ging zu Abigail. »Die Frau da drüben«, sagte er, »sie kümmert sich um dich.« »Ja, Mr. Wright«, sagte Abigail mit einem Gesicht, als öffne sich ihr das Paradies. Matt wandte sich ab. Ihm war halb schlecht. Die Zeit verstrich langsam. Matt lief durch das Warenhaus und endete schließlich in der Wäscheabteilung. »Sir?« fragte ihn eine ältliche Verkäuferin. »Was kann ich für Sie tun?« Matt sah sie nicht an. »Ich möchte ein Nachthemd kaufen.« Seine Stimme war belegt. »Welche Größe?« Matt zuckte mit den Schultern. ,,Ungefähr einsfünfundsechzig groß und sehr schlank.« Die Verkäuferin ging hinter einen Ladentisch. »Wünschen Sie eine bestimmte Farbe?« »Vielleicht. .. schwarz.« Matt schluckte. Die Verkäuferin breitete ein Nachthemd vor ihm aus, das sehr schwarz und sehr durchsichtig war. Matt starrte es an. »Das ist aber sehr dunkel«. »Wir haben auch noch andere.« Die Verkäuferin faltete das Nachthemd wieder zusammen. »Ach, ich nehme es trotzdem«, sagte Matt schnell. Als er aus der Wäscheabteilung kam, das Päckchen unter dem Arm, war er schweißgebadet. 37
Eine Stunde war vergangen. Matt ging zum Auto, legte das Päckchen hinein und steckte noch eine Münze in die Parkuhr. Wieder strich er durch das Warenhaus und erstand schließlich eine Stange Zigaretten. Zwei Stunden waren vergangen. Wieder fütterte er die Parkuhr. Langsam bekam er Hunger. Er stellte sich neben die Rolltreppe und beobachtete die Frauen, die herunterkamen. Keine davon war Abigail. Hoffentlich hat sie nicht wieder etwas geklaut und ist erwischt worden, dachte er plötzlich. Nie wieder mit einer Frau einkaufen gehen! Wo zum Teufel blieb Abigail? »Mr. Wright.« Matt fuhr herum. Das Mädchen, das vor ihm stand, war nicht wiederzuerkennen. Das Haar blond, kurz geschnitten und gelockt. Es rahmte ein atemberaubend hübsches Gesicht ein. Die weibliche Figur war in ein schwarzes Kleid gehüllt, das durch seine Schlichtheit bestach. Seidene Strümpfe an den schlanken Beinen und schwarze Schuhe mit hohen Hacken. »Mein Gott, Abigail!« rief Matt. »Was haben sie denn mit dir gemacht?« »Gefalle ich Ihnen nicht?« Das hübsche Gesicht bewölkte sich. »Doch. Du siehst wundervoll aus. Aber deine Haare haben sie gebleicht.« Abigail strahlte. »Nein, die Frau hat gesagt, daß es nur eine Spülung ist. Sie hat gesagt, daß das meine natürliche Farbe ist, und ich die Haare alle zwei Tage waschen muß. Und nicht mit Kernseife.« Sie seufzte. »Ich habe gar nicht gewußt, daß man mit 38
seinem Kopf so viel machen kann. Ich muß noch viel lernen. Die Frau hat auch gesagt...« Und so plapperte Abigail weiter, während Matt sie pausenlos ansehen mußte. Mit dem selben Mädchen hatte er in einer kleinen Hütte geschlafen? Dieses Mädchen hatte für ihn gekocht und seine Hose geflickt? Dieses Mädchen hatte er im Mondschein geküßt, und es hatte gesagt, daß es alles tun würde, was er von ihm wollte. Ob er je wieder so reagieren würde? Abigail trug die neuen Sachen mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit und ging auf den hohen Schuhen, als habe sie nie andere getragen. Sie gab sich, als sei sie auf der Welt, um schön zu sein. Sie machte eine kleine schwarze Handtasche auf und holte fünf Dollar und zweiunddreißig Cent heraus. »Das soll ich Ihnen von der Frau geben«, sagte sie. Matt steckte das Geld in die Tasche, zuckte mit den Schultern und lächelte Abigail an. »Was man mit Geld alles machen kann. Hast du jetzt alles, was du brauchst?« Sie trug ein großes Paket unter dem Arm, in dem ihre alten Sachen sein mußten. Matt nahm es ihr ab. Die Tüte mit der Pfanne gab sie nicht her. »Das da«, sagte sie, griff in ihre Handtasche und zog einen Strumpfhalter aus Spitze heraus, »habe ich gleich wieder ausgezogen. Es war mir zu unbequem.« »Steck das Ding bloß wieder ein«, sagte Matt und sah nach beiden Seiten. »Hast du Hunger?« »Ich könnte eine ganze Sau verdrücken.«
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Dieser Satz aus dem Mund eines so schönen Mädchens! Matt konnte nur noch den Kopf schütteln. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte Abigail ängstlich. »Nein«, sagte Matt und führte sie lächelnd auf die Straße. »Sie müssen es mir sagen, Mr. Wright, wenn ich etwas Falsches sage. Ich weiß schon, ich hätte nicht Sau, sondern Schwein, und nicht verdrücken, sondern essen sagen sollen. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich jetzt immer zusammennehme.« Matt ging mit Abigail ins teuerste Restaurant von Springfield. Seine Spezialität waren Fische und Krustentiere. Abigail sollte etwas zu essen bekommen, von dem sie noch nicht einmal den Namen kannte – das hatte sich Matt vorgenommen. Er bestellte Shrimpcocktail, Salat mit Roquefort angemacht, gekochten Hummer mit frisch geschlagener Mayonnaise, Crepes Suzettes und Kaffee. Das Essen war ausgezeichnet, und Abigail aß mit Genuß und großen, verwunderten Augen. Sie starrte den Ober und die anderen Gäste an und merkte gar nicht, wie alles nach ihr schielte. Der Ober faszinierte sie ganz besonders. »Er bringt die Sachen bloß und räumt die Teller wieder weg, und mit dem Kochen hat er gar nichts zu tun?« fragte sie. »Genauso ist es«, sagte Matt. »Das ist aber ein leichter Job«, meinte Abigail. Matt lächelte. »Und jetzt versuch bitte, den Salzstreuer zu bewegen«, sagte er. Abigail fixierte den Salzstreuer.
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»Es geht nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe es wirklich versucht, aber es geht nicht. Ich tue gern alles, was Sie wollen, Mr. Wright, aber das gelingt mir nicht.« »Ist auch nicht weiter schlimm«, sagte Matt. »Ich wollte bloß wissen, ob du es fertigbringst.« Anschließend führte er Abigail noch in eine Discothek. Matt bestellte zwei Gin Tonic, aber Abigail nippte nur einmal an ihrem Glas, verzog das Gesicht und rührte es nicht mehr an. Abigail tanzte graziös und federleicht. Sie ging Matt gerade bis zum Kinn. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schmiegte sich an ihn. Matt genoß die Wärme ihres Körpers, und Abigail schien im Siebten Himmel zu sein. Aus Angst, der Zauber könnte plötzlich brechen, wagte sie nicht einmal zu sprechen. Während der Fahrt nach Hause stellte sie nur eine Frage. »Leben diese Leute immer so?« »Nein«, antwortete Matt. »Nicht immer. Es sei denn, sie haben sehr viel Geld.« Abigail nickte. »Das ist auch richtig so.« Als sie angekommen waren, holte Matt das Päckchen vom Rücksitz. »Was ist denn das?« fragte Abigail. »Mach es auf.« Abigail war fassungslos. Sie hielt das Nachthemd hoch und sah Matt mit glückseligen Augen an. »Bitte, warten Sie einen Moment hier draußen«, sagte sie. Nach ein paar Minuten ein Flüstern. »Sie können hereinkommen, Mr. Wright.«
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Matt machte die Tür auf und blieb wie angenagelt auf der Schwelle stehen. Nur eine Lampe brannte. Die neuen Sachen lagen ordentlich über einer Stuhllehne. Abigail hatte das Nachthemd an, sonst nichts. Ihre Haut schimmerte durch den dünnen Stoff, und sie war das Ebenbild der Verführung. Plötzlich kam sie auf Matt zu, schlang beide Arme um seinen Nacken und küßte ihn leidenschaftlich. »Ein Mädchen wie ich«, flüsterte sie, »kann Sie für einen solchen Tag nur auf eine Weise belohnen. Für die schönen Sachen und das Essen und das Tanzen und dafür, daß Sie so nett sind, Mr. Wright. Ich hätte nie gedacht, daß mir so etwas passieren könnte. Aber wenn man jemand gern hat, ist es bestimmt nicht schlimm, und ich habe Sie wahnsinnig gern, Mr. Wright. Ich bin so froh, daß mich die Frau hübsch gemacht hat, und wenn ich Sie glücklich, einen Moment glücklich -« Vorsichtig nahm Matt ihre Hände von seinen Schultern. »Du hast mich völlig falsch verstanden«, sagte er. »Wahrscheinlich wirst du mir jetzt sehr böse sein, aber die Kleider und das Nachthemd sind für ein anderes Mädchen. Sie sind für meine Verlobte. Sie hat deine Größe, und da habe ich gedacht... Du hast alles falsch verstanden, und ich .. .« Er brach ab. Das genügte. Abigail war innerlich total zusammengebrochen. Das Glühen war von ihrem Gesicht gewichen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. »Das macht nichts«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Vielen Dank, daß Sie mich eine Weile haben denken lassen, daß das alles für mich ist. Ich werde diesen Tag nie vergessen.« 42
Sie drehte sich um, stieg in ihr Bett und ließ die Wolldecke herunterfallen. Matt schlief in der Nacht keine Sekunde. Das Schluchzen war so leise, daß er sich anstrengen mußte, es zu hören. Das Frühstück am nächsten Morgen war entsetzlich. Woran es genau lag, konnte Matt selbst nicht sagen. Alles war so zubereitet wie bisher. Nur hatte es keinen Geschmack. Matt würgte es hinunter und mied Abigails Blick. Abigail trug wieder das ausgewaschene, unförmige Kleid, in dem er sie aufgelesen hatte. Sie stocherte auf ihrem Teller herum, aß aber keinen Bissen. Sie sah blaß aus, keine Spur mehr von Lidschatten und Wimperntusche, geschweige denn Lippenstift. Selbst das Haar war stumpf. »Wo ist denn die neue Pfanne?« fragte Matt schließlich, um irgend etwas zu sagen. »Noch in der Tüte«, sagte Abigail. »Wollen Sie sie wiederhaben?« »Nein«, sagte Matt schnell. »Es war nur eine Frage.« Dann wieder Stille. Matt rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Abigail das Geschirr spülte und wegstellte. »Soll ich jetzt Sachen bewegen?« fragte sie, als sie fertig war. »Heute geht es bestimmt gut.« Jetzt erst sah Matt den Stapel Päckchen in einer Ecke. Die neuen Kleider waren weg. Er riß sich zusammen. »Woher weißt du das?« fragte er. »Ich spüre es.« »Macht es dir etwas aus?« 43
»Nein. Mir macht nichts etwas aus.« Sie setzte sich. »Sehen Sie.« Der Tisch zwischen ihnen schwebte plötzlich in die Höhe, drehte sich, kippte über ein Bein und fiel auf die Seite. »Was hast du dabei gefühlt?« fragte Matt aufgeregt. »Kannst du die unbekannte Kraft steuern? War das Absicht oder Zufall?« »Es ist, als wäre sie ein Teil von mir«, sagte Abigail. »Wie meine Hand. Aber ich habe nicht genau gewußt, was sie macht.« »Hebe den Tisch auf und stelle ihn auf seine Beine.« Nach einigen mißglückten Versuchen gelang es Abigail, den Tisch wieder zwischen sie beide zu stellen. »Denke immer an das Gefühl, das du dabei hast«, sagte Matt. »Im Kopf und im Körper. Jetzt laß den Tisch schweben. Bis hierher.« Sie übten eine Stunde lang mit dem Tisch. Dann hatte Abigail volle Kontrolle darüber. Sie konnte ihn einen Zentimeter hochheben und genauso gut bis an die Decke steigen lassen. Oder sie kippte ihn auf ein Bein und ließ ihn rotieren wie einen Kreisel. Entfernungen schienen für Abigail kein Problem zu sein. Von jeder Ecke des Raumes aus war ihre Kraft gleich wirksam. Sie konnte sogar die Hütte verlassen und hundert Meter den Weg entlang gehen, und der Tisch tat immer noch, was sie wollte. »Woher weißt du, wo der Tisch ist und was er gerade macht?« fragte Matt. »Das spüre ich.« »Womit? Siehst du es? Oder fühlst du es? Wenn wir die ganzen Sinne ...« »Sie sind alle beteiligt«, fiel ihm Abigail ins Wort. »Und noch etwas. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, 44
Mr. Wright, würde ich mich gern hinlegen. Ich habe Kopfweh.« Sie legte sich mit dem Gesicht zur Wand auf ihr Bett und rührte sich nicht mehr, aber Matt wußte, daß sie nicht schlief. Als sie mittags nicht aufstand, öffnete Matt eine Büchse Erbsensuppe, machte sie warm und versuchte, Abigail zu überreden, wenigstens ein paar Löffel zu essen. »Nein, danke«, sagte sie. ..Ich habe keinen Hunger.« Am Abend stand Abigail auf, machte etwas zu essen, nahm sich aber selbst nichts davon. Nachdem sie abgewaschen hatte, legte sie sich wieder ins Bett und ließ die Wolldecke herunterfallen. Auch am nächsten Morgen hatte sie keinen Appetit. Außerdem sah sie müde aus. Matt beobachtete sie nachdenklich. Dann jedoch schüttelte er diese Gedanken ab und ließ sie arbeiten. Schon nach ein paar Minuten konnte Abigail die Übungen vom Tag vorher mit noch viel mehr Raff messe ausführen. »Jetzt wollen wir die Energiequellen isolieren«, sagte Matt. »Versuche, es mit dem Kopf allein zu machen. Hebe den Tisch an.« Matt machte sich Notizen. Nach einer halben Stunde hatte er folgendes Ergebnis: Kopf allein – negativ. Körper allein – negativ. Gefühl allein – negativ. Matt war nicht zufrieden. Es würde Monate dauern, bis Abigail die drei Komponenten total trennen konnte. Er war doch ziemlich sicher, daß’ telekinetische Fähigkeiten ein Komplex von diesen drei Kom45
ponenten und vielleicht noch anderen war, von denen er nichts wußte und die Abigail nicht beschreiben konnte. Aber wenn keine von den drei hauptsächlichen Komponenten beteiligt war, dann konnte Abigail keinen Brotkrümel bewegen – davon war Matt überzeugt. Zwei davon konnten gesteuert werden. Die dritte war ein Produkt der Umgebung und der Umstände. Abigail mußte unglücklich sein. Matt trug Abigail auf, mehr als einen Gegenstand zu bewegen. Er sah plötzlich eine Tasse in die Höhe schweben. Die Tasse kippte um, nicht ein Tropfen Kaffee fiel nach unten. Dann richtete sie sich wieder auf, senkte sich langsam und setzte sich auf die Untertasse, die ihr entgegengekommen war. Matt stand auf, nahm die Tasse, trank einen Schluck und stellte sie wieder auf die Untertasse, die nicht einmal wackelte. Abigails Fähigkeiten waren Grenzen gesetzt. Ganz gleich von welcher Größe, konnte sie drei verschiedene Gegenstände gleichzeitig manipulieren. Bei gleichen Gegenständen brachte sie es auf fünf. Wenn sie fleißig übte, konnte sie sich vielleicht auch noch verbessern. »Mein Gott!« rief Matt. »Du könntest als Zauberin ein Vermögen verdienen.« »So?« sagte Abigail interesselos. Sie klagte wieder über Kopfschmerzen und ging ins Bett. Matt beschwerte sich nicht. Sie hatten fast zwei Stunden gearbeitet. Matt verbrachte den Rest des Tages damit, genaue Aufzeichnungen zu machen. Er beobachtete die kleine, schmale Gestalt auf dem Bett. Langsam 46
wurde ihm immer klarer, welche Möglichkeiten in dem Mädchen steckten, und er bekam es mit der Angst zu tun. Welche Rolle spielte er selber in dem Ganzen? Abigail weigerte sich, noch einmal aufzustehen und aß den ganzen Tag keinen Bissen. Als sie am nächsten Morgen aus dem Bett kroch, erschrak Matt. Abigail war nicht mehr schlank, sondern dürr. Ihr Gesicht sah alt und ausgemergelt aus. Ihr Haar war glanzlos und hing schlaff herab. Matt hatte Frühstück gemacht, aber Abigail aß lediglich zwei Gabeln Rührei und legte dann die Hände in den Schoß. Matt bat und flehte, aber ohne Erfolg. »Es ist doch egal«, sagte sie. »Vielleicht bist du krank.« Matt war beunruhigt. »Wir gehen zum Arzt.« Abigail schüttelte den Kopf. »Da kann ein Arzt auch nicht helfen.« An dem Morgen erlebte Matt, wie eine Büchse Backpulver durch seine Brust drang. Abigail hatte die Büchse mehrmals nach ihm geworfen, und Matt hatte sie aufgefangen, wenn Abigail sie nicht auf halber Strecke zurückgeholt hatte. Aber plötzlich war die Büchse wie eine Kugel auf ihn zugeschossen gekommen, und Matt hatte nicht schnell genug reagiert. Er hatte gesehen, wie die Büchse eindrang ... Abigails Augen waren groß und erschreckt gewesen. Matt hatte sich umgedreht und sich mit zitternden Fingern an die Brust gegriffen. Die Büchse war gegen die Wand geprallt und auf den Boden gefallen. »Sie ist durchgegangen«, sagte Matt. »Ich ha47
be es mit eigenen Augen gesehen und nichts gespürt. Was war los, Abigail?« »Ich konnte sie nicht aufhalten«, sagte sie leise. »Deshalb habe ich mir in meiner Not gewünscht, daß sie gar nicht existiert. Für einen Moment hat sie ja auch nicht existiert.« So fanden sie heraus, daß Abigail Gegenstande durch einen Widerstand transportieren konnte, ohne einen der beiden zu beschädigen. Die Größe des Gegenstands spielte keine Rolle. Die Entfernung offensichtlich auch nicht. »Und wie steht es mit lebenden Dingen?« fragte Matt. Abigail konzentrierte sich, und plötzlich huschte eine Feldmaus über den Küchentisch. Sie lief direkt auf Abigail zu, zögerte einen Moment und sprang ihr dann mit einem Satz auf die Schulter. Abigail schrie und reagierte sofort. Die Maus wirbelte durch die Luft und war verschwunden. Matt sah in die Höhe, und der Mund blieb ihm offen stehen. Abigail hing einen Meter unter der Decke. Langsam kam sie wieder auf ihren Stuhl herunter. »Es geht also auch mit Menschen«, sagte Matt. »Versuche es noch einmal. Mit mir.« Matt spürte plötzlich, wie ihm schwindlig wurde. Der Raum um ihn herum erzitterte. Er schwebte einen Meter über seinem Stuhl, dann drehte er sich langsam um die eigene Achse. Er hielt nach Abigail Ausschau, konnte sie aber nicht sehen, weil sie hinter ihm hing. Langsam schwebte sie in sein Blickfeld. »Das genügt«, sagte Matt mit schwacher Stimme.
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Abigail sah zufriedener aus als seit Tagen. Sie lächelte fast. Matt rotierte immer schneller. Der Raum flitzte wie ein Kaleidoskop an ihm vorbei. Er schluckte. »Laß mich runter!« rief er. »Das reicht jetzt.« Plötzlich drehte er sich nicht mehr und fiel nach unten. Der Magen rutschte ihm in die Kehle. Sehr unsanft plumpste er auf seinen Stuhl und stöhnte vor Schmerz. »Au!« rief er. »Das hast du mit Absicht gemacht!« Abigail setzte eine Unschuldsmiene auf. »Ich habe lediglich getan, was Sie gesagt haben, Mr. Wright.« »Schon«, sagte Matt. »Aber von jetzt an spiele ich nicht mehr das Versuchskaninchen.« Abigail sah ihn fragend an. »Und jetzt?« »Übst du mit dir selbst.« »Ja, Mr. Wright.« Abigail schwebte in die Höhe. »Das ist herrlich.« Sie streckte und räkelte sich, als läge sie im Bett. Nach einer Weile kam sie wieder auf ihren Stuhl herunter. Sie lächelte. »Ich habe das Gefühl, daß ich jetzt alles tun kann. Was soll ich machen, Mr. Wright?« Matt überlegte einen Moment. »Kannst du dich selbst irgendwo hinschicken?« fragte er. »Wohin denn?« »Ach, irgendwohin«, sagte Matt ungeduldig. »Es spielt keine Rolle.« »Irgendwohin?« wiederholte Abigail. In ihren Augen lag ein Blick, den Matt nicht enträtseln konnte. Und dann verschwand sie. Matt starrte auf den leeren Stuhl. Abigail war nicht mehr da. Er durchsuchte den Raum, was schnell 49
geschehen war. Keine Spur von dem Mädchen. Dann ging er nach draußen. Die Nachmittagssonne strahlte ihm entgegen. Alles war in ein grelles Licht getaucht. »Abigail!« rief Matt. »Abigail!« Er wartete, aber es kam keine Antwort. Fünf Minuten lang strich er um die Hütte und rief ihren Namen, dann gab er es auf. Er ging wieder hinein, setzte sich und stierte auf Abigails Bett. Wo war sie? Hatte sie sich in ihren eigenen Kräften verfangen und konnte nicht zurück? War ihr etwas passiert? Matt machte sich plötzlich die bittersten Vorwürfe. Wie hatte er das Mädchen zu diesen Dingen benutzen können. Wahnsinn war es, was er unter dem Deckmantel der Wissenschaft angestellt hatte. Der Drang nach Wissen hatte ihn dazu getrieben, ein unschuldiges Mädchen leiden zu lassen. Der Erfolg heiligte eben doch nicht die Mittel. Auf lange Sicht gab es weder Erfolg noch . . . In dem Moment tauchte Abigail wieder auf. Wie ein Bote aus dem Schlaraffenland, mit einem Tablett in beiden Händen, stand sie plötzlich strahlend vor ihm. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. »Wo bist du denn um Gottes willen gewesen, Abigail?« »In Springfield.« »In Springfield?« Matt traute seinen Ohren nicht. »Das ist doch eine Strecke von über fünfzig Meilen.« Abigail stellte das Tablett auf den Tisch. »Ich war im Handumdrehen da«, sagte sie. 50
Und jetzt traute Matt seinen Augen nicht. Das Tablett war beladen mit den köstlichsten Speisen: Shrimpcocktail, Hummer mit Mayonnaise, Salat mit Roquefort angemacht und Crepes Suzettes. Abigail lächelte. »Ich habe auf einmal Hunger bekommen.« »Du warst in dem Restaurant und hast dir das Essen einfach genommen«, sagte Matt vorwurfsvoll. »Weil ich plötzlich Hunger bekommen habe.« »Aber das ist gestohlen!« stöhnte Matt. Jetzt erst wurde ihm voll bewußt, was er getan hatte. Nichts war mehr sicher. Kein Geld, keine Juwelen, keine Geheimnisse. Nichts. »Die merken bestimmt nichts«, sagte Abigail. »Außerdem hat mich niemand gesehen.« Wenn es an ihre persönlichen Bedürfnisse ging, kannte Abigail also keine Moral. Wie alle Frauen, dachte Matt. Es gab lediglich eine schwache Hoffnung: er mußte vermeiden, daß sie sich ihrer Möglichkeiten bewußt wurde. Wenn ihm das nicht gelang, war alles verloren. »Bestimmt nicht«, wiederholte Matt. Abigail aß mit Genuß, aber Matt hatte keinen Appetit. Er sah ihr zu. »Wie hast du dir das Essen denn geholt?« fragte er. »Das war nicht ganz einfach«, sagte Abigail. »Der Koch war nämlich allein in der Küche. Ich habe es gesehen.« »Gesehen?« »Ja, ich war zwar draußen, aber trotzdem habe ich es irgendwie gesehen. Schließlich habe ich einfach seinen Namen gerufen, und er ist herausgekommen. Na ja, und ich war im selben Moment drinnen, habe alles auf das Tablett geladen und bin ver51
schwunden. Der Koch hat damit gerechnet, daß ihm jemand herausruft.« »Woher hast du das gewußt?« »Weil ich es gedacht habe«, sagte Abigail. Sie konzentrierte sich einen Moment, und er wußte plötzlich, wie sie es meinte. Panik erfaßte ihn. Hatte sie etwa auch diese Fähigkeit? Es gab Dinge, die sie nicht wissen sollte. Und weil er so krampfhaft versuchte, sie in seinem tiefsten Innern zu verbergen, drängten sie sich an die Oberfläche. Er sprang fast vom Stuhl. Telepathie! Er sah in ihre Augen und wußte, daß es stimmte. Ihre Augen wurden groß, der Blick mißtrauisch. Etwas Hartes und grausam Kaltes legte sich wie eine Maske auf ihr Gesicht. »Du ... du Teufel!« zischte sie. »Für jemand, der dazu fähig ist, ist nichts schlimm genug.« Ich bin ein toter Mann, dachte Matt. »Du mit deiner Nettigkeit und deinem gutaussehenden Gesicht und deinen Stadtmanieren!« sagte Abigail mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. »Wie hast du das tun können? Du hast gewußt, daß ich dich lieber mag als sonst jemanden auf der Welt und hast mich in dich verliebt gemacht. Aber das war ja nicht weiter schwer, oder? Du hast dem kleinen Mädchen nur die Hand halten müssen im Mondschein und ihm einen Kuß geben und schon war das kleine Mädchen bereit, mit dir ins Bett zu springen. Du hast dich lustig gemacht über das Mädchen aus der Provinz und hast deine Pläne geschmiedet.« Jetzt erst merkte Matt, daß Abigail ihn in ihrer Wut duzte. Vorbei war es mit Mr. Wright. 52
»Du läßt mich in dem Glauben, daß du mich so gern magst, daß du mir neue Kleider kaufst und eine neue Frisur und alles. Aber das ganze ist bloß ein Trick. Von Anfang an war alles ein Trick. Und in dem Moment, wo ich dann fast zerspringe vor Glück, nimmst du mir alles wieder weg. Warum hast du mich denn nicht mitten ins Gesicht geschlagen? Das arme Mädchen aus der Provinz, der Trampel, denkt, daß du ihn magst, daß du ihn heiraten willst. Nicht einmal mein Vater war so gemein zu mir. Er hat nie etwas so gezielt getan wie du.« Matt wurde immer blasser. »Du denkst, du kannst mich hintergehen«, fuhr Abigail fort. »Irgendwann vergißt sie es schon wieder, denkst du und willst mir dann einreden, daß ich mich getäuscht habe. Aber das wird dir nicht gelingen. Du brauchst es erst gar nicht zu versuchen. Ich weiß nämlich, was du denkst.« Was hatte er gedacht? Hatte er mit dem Gedanken gespielt, sie zu heiraten? Er fror. Die Hölle wäre das. Man stelle sich eine Ehefrau vor, die alles weiß, alles bewerkstelligen kann, der man nie entgehen kann, die man nicht anlügen und zum Schweigen bringen kann. Man stelle sich eine Ehefrau vor, die ein Zimmer innerhalb von Sekunden zertrümmern kann, die Geschirr, Stühle. Milchflaschen zerschmeißen kann und immer ihr Ziel trifft. Man stelle sich eine Ehefrau vor, die immer gegenwärtig sein kann, ganz gleich, wo man sich befindet. Die durch Wände gehen und Gedanken lesen kann, die einem Kopfschmerzen oder ein gebrochenes Bein wünschen kann.
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Schlimmer als die Hölle wäre die Ehe mit einer solchen Frau. Das Fegefeuer wäre das Himmelreich verglichen mit so einer Katastrophe. Abigail schob das Kinn in die Höhe. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. »Eher würde ich eine Klapperschlange heiraten. Sie warnt einen wenigstens, bevor sie zubeißt.« »Bringe mich doch um«, sagte Matt in seiner Verzweiflung. »Mache, daß ich tot umfalle.« Abigail lächelte. »Das wäre zu mitleidsvoll für dich. Ich denke mir schon noch etwas aus, was mir gefällt. Jetzt gehe und laß mich allein.« Matt wollte die Hütte verlassen, doch ehe er es sich versah, war er draußen. Die sinkende Sonne blendete ihn. Ein kalter Film lag auf seiner Haut. Nach einer Weile setzte er sich auf die Veranda und zündete eine Zigarette an. Es mußte doch einen Ausweg aus diesem Dilemma geben. Eine Lösung gab es immer. Aus der Hütte hörte er das Plätschern von fließendem Wasser. Fließendes Wasser! Er wollte hineingehen und nachschauen. »Ich will meine Ruhe haben!« rief Abigail im selben Moment. Matt fühlte sich wie im Fieber. Seine Stirn glühte. Er mußte sich zusammenreißen und klar denken. Ganz gleich unter welchem Vorwand, er hatte etwas Grausames getan und war nun der Rache dieses Mädchens ausgesetzt. Es stellte sich jetzt die Frage, für welche Form von Rache sie sich entscheiden würde. Wenn er das erst wußte, würde er schon eine Möglichkeit finden, sich ihr zu entziehen. Einfach
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dasitzen und abwarten, das kam für ihn nicht in Frage. Die unüberwindbare Schwierigkeit dabei war, daß Abigail jeglichen Plan seinerseits im voraus oder zumindest in dem Moment wußte, wo er darüber nachdachte. Die Konsequenz – er mußte aufhören zu denken. Aber wie macht man das? Wie hört man auf zu denken? Mann, höre endlich auf zu denken! Vielleicht kam ihm plötzlich die rettende Idee, aber wenn er daran dachte, war sie in der selben Sekunde schon wieder wertlos. Und wenn er nicht nachdenken konnte ... Ein Circencus viciosus. Es gab nur eine Möglichkeit – Ein Männlein steht im Walde – tief Luft holen – ganz still und stumm – bloß nicht denken – es hat vor lauter Purpur – sich auf den Instinkt verlassen - ein Mäntlein um. Ein Männlein steht . . . »Nun, Mr. Wright, bist du fertig?« Matt fuhr zusammen. Neben ihm auf dem Boden hochhackige Schuhe, dann kamen seidene Strümpfe an schönen, schlanken Beinen, ein einfaches schwarzes Kleid und ein hinreißend schönes Gesicht mit kirschroten Lippen, großen Augen und blonden Locken. Wie hübsch dieses Mädchen war. Ein Jammer, daß es einen so seltsamen Charakter hatte. »Ich nehme an, daß es deiner Verlobten nichts ausmacht, wenn ich die Sachen trage«, sagte Abigail freundlich. »Deiner nicht vorhandenen Verlobten. Bist du fertig?« »Fertig?« fragte Matt, und sein Blick streifte über die zerbeulte Arbeitshose und das alte Hemd mit
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dem ausgefransten Kragen und den abgestoßenen Manschetten. »Wozu denn?« »Du bist fertig«, sagte Abigail. Plötzlich wurde Matt schwindlig und der Magen drehte sich ihm. Er machte die Augen zu. Und dann war auf einmal alles wieder vorbei. Als er die Augen öffnete, kannte er sich im ersten Moment nicht aus. Er war auf der Tanzfläche der Discothek in Springfield. Abigail schmiegte sich an ihn. »Komm«, sagte sie, »tanz mit mir.« Matt bewegte automatisch die Beine. Die Leute starrten, als seien er und Abigail durch ein Loch aus der Decke gefallen – was vielleicht sogar stimmte. Die anderen Paare hörten der Reihe nach auf zu tanzen, die Augen fielen ihnen fast aus dem Kopf. Auch an der Bar hatten alle den Kopf umgedreht. Ein Ober in einem weißen Jackett kam auf sie zu. Seine Miene war alles andere als freundlich. Plötzlich machte die Musikbox in der Ecke des Lokals einen Satz zur Seite. Abigail schien es völlig normal zu finden und wiegte sich in Matts Armen. Der Ober tippte Matt auf die Schulter. Matt seufzte erleichtert auf und blieb stehen. Aber nur eine Sekunde. Schon in der nächsten drehte er sich wieder wie ein Kreisel. Abigail hatte offensichtlich keine Lust, aufzuhören. Der Ober trabte hinterher. »Stehenbleiben!« rief er. »Ich weiß nicht, aus welcher Kohlenkiste Sie kommen, aber hier können Sie in dem Aufzug nicht bleiben. Bei uns ist Krawattenzwang.« »Ich kann nicht. . . nicht stehenbleiben«, stotterte Matt. 56
»Und ob Sie stehenbleiben können!« sagte der Ober drohend und trabte immer noch hinterher. »Leider eben nicht«, sagte Matt und legte den Mund an Abigails Ohr. »Hör auf!« flehte er. »Sag dem Kerl, er soll weggehen«, flüsterte sie zurück. »Ich glaube, es ist besser, Sie lassen uns in Ruhe«, sagte Matt zu dem aufgebrachten Mann. »Wie bitte?« fauchte der Ober. »Sie verlassen auf der Stelle das Lokal.« Matt spürte, wie Abigail sich konzentrierte. »Bitte!« flehte er den Ober an. ,.Gehen Sie weg.« »Wenn Sie nicht sofort das Lokal verlassen . ..« Der Ober packte Matt am Arm. Plötzlich war er verschwunden. Matt suchte ihn verzweifelt. Der Ober hockte auf der Musikbox. Abbie schmiegte sich an Matt. Er tanzte mechanisch weiter. Der Ober, weiß wie sein Jackett, rutschte von der Musikbox und warf sich in die Brust. Ein zweiter Kellner und der Barkeeper schlössen sich ihm an. Dann kam auch der Geschäftsführer. Sie umstellten Matt und Abigail. »Wenn Sie nicht sofort das Lokal verlassen«, sagte der Geschäftsführer, der peinlich an eine Bulldogge erinnerte, »werden wir die nötigen Maßnahmen ergreifen.« Matt zweifelte nicht eine Sekunde daran. Er wollte aufhören, aber seine Beine machten nicht mit. »Ich kann mit dem besten Willen nicht«, jammerte er. »Ich würde liebend gern gehen, aber ich kann nicht.« 57
Der Geschäftsführer glotzte ihn mit großen blutunterlaufenen Augen an. »Er kann nicht«, äffte er Matt nach. »Dann wollen wir ihm ein wenig nachhelfen, was, Jungs?«»Vorsicht!« warnte der erste Ober. »Die haben einen Trick auf Lager.« Die Männer kamen näher und wieder spürte Matt, wie Abigail sich konzentrierte. Wie Kerzen, die ausgeblasen werden, verschwand einer nach dem anderen. Matt sah mit ängstlichen Augen zur Musikbox hinüber. Da saßen sie, wie die Bremer Stadtmusikanten, einer im Schoß des anderen. Aber nicht lang. Schon nach einem Moment purzelten sie in alle Richtungen. Sie rappelten sich auf und rieben sich Nasen, Schienbeine, Ellenbogen und den Allerwertesten. Der Barkeeper ballte die Hände zu Fäusten und wollte sich auf die Tanzfläche stürzen, aber der Geschäftsführer hielt ihn zurück. Die Männer steckten die Köpfe zusammen und berieten, dabei schielten sie nach Abigail und Matt. Schließlich griff der erste Ober mit überlegener Miene hinter die Musikbox und zog den Stecker heraus. Stille. Die regenbogenfarbenen Lichter gingen aus. Die vier schoben sich wie eine Mauer auf die Tanzfläche. Da gingen die Lichter wieder an, und die Musik spielte weiter. Die Männer fuhren wie von der Tarantel gestochen herum. Der Geschäftsführer bückte sich und hob die Schnur mit dem Stecker auf. Er betrachtete sie fassungslos, als sie sich plötzlich zu bewegen begann. Er warf sie entsetzt von sich, doch sie blieb nicht 58
liegen. Wie eine Kobra bäumte sie sich auf, den Stecker nach vorn gestreckt, und vollführte einen bedrohlichen Tanz. Der Geschäftsführer war wie gelähmt. Plötzlich schnellte der Stecker nach vorn. Mit einem Aufschrei machte der Mann einen Satz zur Seite und hielt sich schützend den Arm vor das Gesicht. Der Stecker senkte sich, kroch am Boden entlang, zog die Schnur hinter sich her und sprang in die Dose. Die Musik spielte wieder, und Matt tanzte mit bleiernen Beinen. Abigail strahlte. Plötzlich tauchte der Barkeeper mit einem Beil auf und holte zum Schlag aus – und schrie. Mit weit aufgerissenen Augen sah er nach unten. Die Schnur hatte sich um seine rechte Fessel gewickelt und zog sich zu. Wie ein Besessener hackte der Barkeeper auf die Schnur ein und zerteilte sie schließlich. Die Musik brach ab, die Lichter gingen aus, das lose Ende der Schnur wand sich in letzten Zuckungen. Abigail hörte auf zu tanzen. »Gehen wir«, flehte Matt. »Schnell.« Abigail schüttelte den Schopf. »Ich möchte mich hinsetzen.« Sie ging an einen Tisch, der eben fluchtartig verlassen worden war. »Du hast sicher Lust auf einen Drink«, sagte sie. »Ich würde lieber gehen«, sagte Matt. Sie setzten sich. Abigail rief den Ober. Er kam vorsichtig zum Tisch. Abigail sah Matt fragend an. »Worauf hast du Lust?« »Gin«, sagte Matt in seiner Verzweiflung. »Pur.«
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Im Handumdrehen war der Ober mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. »Der Chef hat gesagt, daß Sie gleich zahlen müssen.« Matt suchte vergebens in seinen Taschen. »Ich habe kein Geld dabei«, sagte er schließlich. »Das macht nichts«, meinte Abigail lachend. »Lassen Sie die Flasche hier.« »Nein, Madam. Ich . . .« Der Ober fiel fast in Ohnmacht, als das Tablett aus seinen Händen segelte und sich langsam auf den Tisch setzte. Wortlos trollte er sich davon. Abigail stützte das Kinn in die Hand und überlegte. »Eigentlich war ich recht garstig zu meinem Vater«, sagte sie nach einer Weile. »Es würde ihm bestimmt hier gefallen.« »Nein!« rief Matt. »Alles, nur das nicht! Es ist so schon schlimm genug.« Und schon saß Jenkins auf dem dritten Stuhl. Er blinzelte kurz, dann hatte er die Flasche entdeckt und leckte sich über die Lippen. Matt griff sofort danach und füllt die Gläser randvoll. Er nahm eines und goß einen Riesenschluck in sich hinein. Der Gin brannte ihm in der Kehle. Matt stellte das Glas wieder auf den Tisch. Es war noch genauso voll wie vorher. »Abbie!« sagte Jenkins. »Was machst du denn hier? Und ganz anders siehst du aus. Du hast wohl einen Kerl mit Geld gefunden?« Abigail ignorierte die Frage. »Jetzt trink erst einmal«, sagte sie, »und dann wollte ich dich um einen Gefallen bitten.« »Immer«, sagte Jenkins, setzte die Flasche an und ließ den Gin in sich hineinlaufen. Als er ihn wieder 60
auf den Tisch stellte, war die Flasche noch randvoll. Jenkins wischte sich zufrieden mit dem Ärmel über den Mund. »Was soll ich denn für dich machen?« fragte er. »Du sollst Mr. Wright die Nase einschlagen. Machst du das?« »Klar mache ich das«, sagte Jenkins und ballte die rechte Hand zur Faust. »Jetzt gleich?« »Nein, ich sage es dir dann schon.« Matt genehmigte sich noch einen Schluck, aber nicht ein Tropfen Gin erreichte seinen Magen. Nur wieder das Brennen in der Kehle. Er mußte an Tantalus denken. »Polizei!« rief Jenkins plötzlich, packte die Flasche am Hals und schob die Schultern nach vorn. Matt sah hoch. Der Barkeeper kam auf den Tisch zu, drei Polizisten im Schlepptau. »Bitte!« flehte Matt das Mädchen an. »Nicht mit der Polizei!« Abigail gähnte. »Es ist schon nach zwölf«, sagte sie. »Ich bin müde.« Und dann schlug Jenkins zu. Wie eine Lokomotive ging er auf die Polizisten los. Der erste brach zusammen – und das Lokal verschwand. Matt blinzelte. Sie waren wieder in der Blockhütte, Abigail und er. »Und dein Vater?« fragte Matt. »Er prügelt sich für sein Leben gern«, antwortete sie, »und ich bin wirklich müde.« Sie stieg aus den Schuhen, schlüpfte ins Bett und ließ die Wolldecke herunterfallen. Matt ging langsam zu seinem Bett.
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Ein Männlein steht im Walde – er setzte sich und zog die Schuhe aus. Steht im Walde – er kroch hinein und holte die Decke herunter. Ganz still und stumm – er machte den Gürtel auf, zog aber die Hose nicht aus. Es hat von lauter Purpur – er lauschte: tiefes, regelmäßiges Atmen aus dem anderen Bett. Ein Mäntlein um . .. Zwei qualvolle Stunden vergingen. Matt setzte sich vorsichtig auf. Er tastete nach seinen Schuhen, hob sie auf und schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür. Er öffnete sie einen Spalt, quetschte sich durch und schob sie wieder zu. Eine Planke auf der Veranda knarrte. Matt erstarrte und wartete. Nichts. Auf Strümpfen schlich er über den Kies. Jetzt langsam und vorsichtig die Wagentür. Er setzte sich hinter das Steuer. Zum Glück ging es bergab. Matt löste die Handbremse und ließ das Auto rollen. Endlich auf der Straße! Das Auto rollte den Hügel hinunter. Die Geschwindigkeit wurde immer größer. Nach der ersten Kurve schaltete er die Scheinwerfer ein und legte den ersten Gang ein. Als er eine Meile von der Hütte entfernt war, stellte er den Motor an. Die Flucht war gelungen! Beim Morgengrauen bog Matt in die Tankstelle ein. Der herannahende Tag war bereits heiß. Matt war staubig und verschwitzt, aber er konnte atmen. Die Freiheit war mehr wert als alles. Ein verschlafener Tankwart kam auf ihn zu, und mit ihm die ernüchternde Feststellung, daß er ja kein Geld bei sich hatte. Verzweifelt begann Matt, in sei62
nen Taschen zu kramen. Ohne Geld war er verloren. Seine Brieftasche hatte er wie alle anderen Sachen in der Blockhütte zurücklassen müssen. Und dann berührten seine Fingerspitzen etwas in seiner Hosentasche. Erstaunt zog er seine Brieftasche heraus. Er machte sie auf. Vier Dollar und weitere dreihundert in Travellerschecks. »Voll, bitte«, sagte er zu dem Tankwart. Matt hätte schwören können, daß er die Brieftasche in der anderen Hose gehabt hatte. In der Hose des Anzugs, den er in Springfield angehabt hatte. Er hatte schon wieder ein komisches Gefühl im Magen. Oder war es der Hunger? Seit Abigails Tischleindeck-dich am Nachmittag vorher hatte er nichts mehr gegessen. »Wo kriegt man denn hier etwas Ordentliches in den Magen?« fragte er den Tankwart. Der alte Mann in seinem Overall deutete die Straße entlang. »Sehen Sie die geparkten Lastwagen da vorn? Da können Sie gut essen. Wo die Fernlastfahrer hingehen, da fällt man nie rein. Lola’s heißt die Raststätte.« Matt parkte neben einem der Laster. Lola’s? Mit angeekeltem Gesicht stieg er aus dem Auto. Frauen? Fürs erste hatte er genug davon. Das Lokal hatte einen langen Tresen, aber nicht ein Platz war frei. Müde setzte sich Matt an einen der Tische. Eine Kellnerin ließ ihre Bewunderer am Tresen stehen und kam hüftenschwingend auf Matt zu. Eine hübsche Person, was sie auch wußte. Kurze dunkle Haare, bernsteinfarbene Augen und tomatenrote Lippen. Der hautenge Rock und die tiefausgeschnit63
tene Bluse ließen der Phantasie wenig Spielraum. In ein paar Jahren würde sie auseinandergehen, aber im Moment war sie noch sehr sexy. »Was darf’s sein?« fragte sie. Ihre Stimme war rauchig. »Zwei Paar Würstchen«, sagte Matt. Die Kellnerin lächelte. »Und Kaffee?« »Bitte«, sagte Matt und lächelte ebenfalls. Nicht schlecht, die Kleine, dachte er. Zu jedem anderen Zeitpunkt... »Au!« rief sie plötzlich und machte einen Satz. Sie rieb sich den prallen Hintern und bedachte Matt mit einem vorwurfsvollen Blick. »Was glauben Sie denn, wen Sie vor sich haben?« sagte sie. »Ich bin schließlich die Besitzerin.« Damit stolzierte sie davon und verschwand hinter dem Tresen. Lola hatte ihm ein Glas Wasser auf den Tisch gestellt, und Matt trank es gierig auf einen Sitz leer. Es brachte jedoch keine Erleichterung. Er war noch genauso durstig und fühlte sich leer. Er hatte das Glas noch nicht wieder auf den Tisch gestellt, als Lola auch schon mit seinem Kaffee kam. Plötzlich stolperte sie über etwas Unsichtbares, verlor das Gleichgewicht, die Tasse flog im hohem Bogen durch die Gegend, und Matt hatte das ganze Hemd voll Kaffee. Matt sprang auf und zog sich den naßheißen Stoff von der Brust. Lola griff nach einem Stoß Papierservietten und tupfte ihn ab. »Mein Gott, Süßer, das tut mir aber leid«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, wie das passiert ist.« »Ist schon gut«, sagte er und machte einen Schritt zurück. »Es war ja wohl keine Absicht.« »Nein, ganz gewiß nicht.« 64
Die Fernlastfahrer grinsten. Matt setzte sich schnell wieder an seinen Tisch. »Mir brauchst du erst gar keinen Kaffee aufs Hemd zu schütten, Lola!« rief einer. »Ich stehe auch so auf dich.« Alles grölte vor Lachen. »Ach, hört doch auf!« rief Lola und wandte sich wieder an Matt. »Sind Sie mir auch wirklich nicht böse?« »Nein, nein«, sagte Matt und sah weg. »Wenn ich jetzt meine Würstchen bekommen könnte.« Es gibt eben Menschen, denen so etwas pausenlos passiert, dachte er. Ein Mißgeschick, weiter nichts. Sein Blick schweifte ängstlich durch das Lokal. Außer Lola waren nur Männer hier. Die Würstchen waren heiß. Lola brachte sie zu seinem Tisch, aber einfach war das nicht. Die Dinger rutschten und hüpften auf dem Teller herum, daß der Senf nur so spritzte. Lola war so damit beschäftigt, die kurze Strecke unfallfrei zurückzulegen, daß sie völlig vergaß, mit den Hüften zu wackeln. Im Grunde war es grotesk. Lola jonglierte mit dem Teller und machte gleichzeitig Hüpfer, die kabarettreif waren. Aber das Lachen verging Matt vollends, als sich die vier Würstchen plötzlich ineinander verhakten und in Lolas Ausschnitt hüpften. Lola schrie vor Entsetzen. Sie griff sich in den Ausschnitt und suchte verzweifelt nach den Würstchen. Matt sah zu, die Fernlastfahrer sahen zu, als plötzlich der Senf vom Teller flog und sich einem der Männer auf das Auge klatschte.
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»Jetzt reicht’s aber!« schrie der Mann, wischte sich den Senf mit dem Zeigefinger ab und schmierte ihn seinem Nachbarn ans Revers. Matt versuchte aufzustehen, aber der Tisch klemmte sich ihm in den Magen. Er stieg in seiner Not auf den Stuhl. Lola hatte endlich die Würstchen eingefangen und zog sie aus dem Ausschnitt, da sausten sie auch schon durch den Raum und flogen in den Mund des Fernlastfahrers, der den Senf aufs Auge bekommen hatte und sich gerade auf Matt stürzen wollte. Der Mann erstickte fast. Eine Tasse flog an Matt vorbei und zerbrach an der Wand. Matt zog den Kopf ein. Wenn er doch wenigstens die Tür hätte erreichen können, aber seine Füße waren wie an den Sitz des Stuhls genagelt. Alle schrien wütend durcheinander. Lola umklammerte Matts Knie. »Beschützen Sie mich!« kreischte sie. Die Luft war voll von Wurfgeschossen. Matt bückte sich und riß Lolas Hände von seinen Knien. Der Fernlastfahrer, der am übelsten traktiert worden war, spuckte gerade das letzte Würstchen aus. Mit dem Aufschrei eines Wahnsinnigen schlug er mit der Faust nach Matt. Matt warf den Oberkörper zurück. Ein Klirren, und eine Fensterscheibe ging zu Bruch. Matt hing mit den Kniekehlen über der Stuhllehne, unfähig, in die Höhe zu kommen oder Lolas Klammergriff abzuschütteln. Er machte die Augen zu. Und dann, von irgendwoher ein silberhelles Lachen. In der nächsten Sekunde war Matt draußen. Wie – das wußte
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er nicht. In der Hand hielt er einen Fetzen Stoff. Er stammte von Lolas Bluse. Matt rannte zu seinem Auto. Der Motor sprang sofort an. Nach zwei Sekunden war er auf der Straße, nach zwanzig Sekunden zeigte der Tacho sechzig Meilen. Er sah zurück zur Raststätte und hätte fast die Kontrolle über das Steuer verloren. Auf dem Rücksitz lagen seine Kleider. Daneben die Schreibmaschine und der Aktendeckel mit den Notizen. Als Matt in Clinton anhielt – er hatte unterwegs in einem eiskalten Bach gebadet, sich anschließend rasiert und die Kleider gewechselt – war er hundemüde und hatte einen Bärenhunger. Aber besser das, dachte er, als Abigail. Für seine Sachen und die Schreibmaschine gab es sicher eine ganz einfache Erklärung. Wahrscheinlich hatte das Mädchen gemerkt, daß er sich aus dem Staub machen wollte, und hatte ihm alles einfach auf den Rücksitz gepackt. Im Grunde ihres Herzens war sie eben doch ein freundliches Ding. Das Ärgerliche an der Erklärung war nur, daß Matt nicht daran glaubte. Er zuckte mit den Schultern. Es gab im Moment dringlichere Dinge. Geld, zum Beispiel. Der Benzintank war fast leer, und er mußte etwas in den Magen bekommen. An der Ecke war eine Bank. Dort konnte er einen Travellerscheck einwechseln. Aber irgendwie hatte Matt ein ungutes Gefühl. Er ging in die Bank und steuerte auf den Kassenschalter zu. Dort unterschrieb er den Scheck und schob ihn dem Bankbeamten hin. Der kleine un67
scheinbare Mann verglich die Unterschriften und drehte sich zu dem Tisch um, auf dem die Banknoten gestapelt waren. Vier Zwanziger, einen Zehner, einen Fünfer und fünf einzelne Dollar zählte er vor Matt ab. »Bitte, Sir«, sagte er höflich und drückte Matt das Geld in die ausgestreckte Hand. Matt nahm es nur, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Entsetzt beobachtete er, wie ein Bündel Zwanzigdollarnoten langsam in die Höhe stieg und über die Gitterstäbe segelte. »Was ist denn, Sir?« fragte der Kassierer erschreckt. »Ist Ihnen nicht gut?« »Doch, doch«, sagte Matt schnell und trat einen Schritt zurück. »Bestimmt? Sie sind plötzlich so blaß.« Das Herz blieb Matt fast stehen, als etwas in die rechte Tasche seines Jacketts kroch. Er griff hinein und hatte das Paket Dollarnoten in der Hand. Matt bückte sich schnell und kam wieder hoch, das Geld in der Hand. »Sie haben das da fallen lassen«, sagte er. Der Kassierer warf einen Blick auf den Tisch mit den Banknoten, dann auf das Bündel Zwanziger. »Ich verstehe gar nicht – mein Gott, vielen Dank. Aber so etwas Komisches.« Matt schob das Geld unter den Gitterstäben durch. »Also, dann auf Wiedersehen.« »Nochmals -vielen Dank.« Matt zog die Hand zurück, das Geld rutschte nach, als klebe es an seinen Fingern. »Verzeihen Sie«, sagte er mit schwacher Stimme. »Es hat so den Anschein, als würde ich das Geld 68
nicht los.« Er schüttelte die Hand, das Bündel hing fest. Er schüttelte die Hand noch heftiger, ohne jeden Erfolg. »Sehr komisch«, sagte der mickrige Mann, lächelte aber nicht. Er griff unter den Gitterstäben durch und packte das Bündel. »Lassen Sie los! Sie sollen loslassen!« Matt versuchte, die Hand wegzuziehen. »Ich kann nicht!« stöhnte er. Der Kassierer zog, Matt zog. »Loslassen!« zischte der mickrige Mann. »Ich will das Geld doch gar nicht«, sagte Matt. »Sie sehen aber doch selbst, daß es festklebt.« Er spreizte die Finger. Der Kassierer packte das Bündel mit beiden Händen und stemmte sich mit den Füßen ab. »Lassen Sie endlich los!« schrie er. Matt zog aus Leibeskräften. Plötzlich ließ die Spannung in seinem Arm nach. Seine Hand flog zurück. Der Kassierer verschwand unter dem Schalter. Ein dumpfes Geräusch. Matt sah seine Hand an. Das Geld war weg. Begleitet von Ächzen und Stöhnen tauchte der Kassierer auf, das Bündel Geld in der Hand. »Sind Sie immer noch da?« fragte er wütend und knallte das Bündel auf den Tisch. »Verlassen Sie diese Bank. Und wenn Sie sich je wieder hier blicken lassen, hole ich die Polizei. Hausfriedensbruch ist das – jawohl, Hausfriedensbruch!« »Keine Angst«, sagte Matt. »Ich lasse mich nicht wieder blicken.« Er wurde blaß. »Stop!« rief er und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Zurück!« Der Kassierer starrte ihn völlig entgeistert an. 69
Das Bündel Banknoten schwebte schon wieder über dem oberen Rand der Gitterstäbe. Matt griff automatisch nach dem Geld. Ein Gedanke jagte den anderen. Wenn er nicht in die peinlichsten Schwierigkeiten kommen wollte, gab es nur eine Möglichkeit. Er mußte den Spieß umdrehen. Mit wütendem Gesicht wedelte er dem Kassierer mit dem Geld vor der Nase herum. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?« brüllte er. »Ich lasse mir doch von Ihnen das Geld nicht ins Gesicht schmeißen!« »Ins Gesicht?« wiederholte der Mann mit schwacher Stimme. »Von mir?« »Wie kommt es denn sonst in meine Hand?« Jetzt erst begriff der Kassierer. »Nein!« stöhnte er. »Ich habe gute Lust, mich beim Direktor dieser Bank zu beschweren!« fauchte Matt und knallte das Geld auf den Schalter, während er ein Stoßgebet zum Himmel schickte. »Kassierer, die mit Dollars um sich werfen!« Er zog die Hand weg. Das Geld blieb liegen. Mit zitternden Fingern griff der Bankangestellte danach. Das Geld rutschte zur Seite. Er tapste hinterher. Die Scheine glitten unter seinem Arm durch und waren plötzlich hinter den Gitterstäben. Matt trat von einem Fuß auf den anderen. Er war so fasziniert, daß er zusehen mußte. Wie ein betrunkener Schmetterling torkelte das Bündel Banknoten im Kassenschalter durch die Luft. Der Kassierer, die Augen weit aufgerissen und einer Ohnmacht nahe, versuchte es zu erhaschen, griff aber jedesmal daneben.
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»Großer Gott!« stöhnte er. »Was mache ich da? Ich habe den Verstand verloren!« Er packte die fein säuberlich gestapelten Scheine auf seinem Tisch und warf sie wie Konfetti durch die Luft. »Geld! Geld! Geld!« schrie er hysterisch. Matt ergriff die Flucht. Bankangestellte und Kunden, alle rannten auf den Kassenschalter zu. »Um Gottes willen -einen Arzt!« schrie jemand. Und irgendwo ein silberhelles Lachen. Als Matt aus der Stadt raste, bestand für ihn kein Zweifel mehr: Abigail war hinter ihm her. Nicht eine Sekunde hatte sie ihn aus ihren Fängen gelassen. Sie würde ihn nie wieder freigeben. Hungrig, durstig und halb tot vor Müdigkeit fuhr er Richtung Kansas City. Hoffnung besaß er keine mehr. Violette Schatten verdunkelten den Horizont, als Matt Lawrence erreichte. In Kansas City hatte er nicht einmal angehalten. Die Unruhe und vielleicht ein letzter Hoffnungsschimmer hatten ihn weitergetrieben. Als er dann fünf Meilen außerhalb der Stadt das Universitätsgelände vor sich liegen sah, wußte er, warum er sich keinen Moment Rast gegönnt hatte. Hier war sie, die Zitadelle des Wissens, die Festung der Wahrheit, die gegen die schwarzen Wellen der Ignoranz und des Aberglaubens abschirmte. Hier, an einem Ort des Studiums, der Reflektion und der Logik, hier – wenn überhaupt – konnte er den Spuk abschütteln. Hier konnte er klar denken und vielleicht Hilfe finden, um sich von dem Dämon der Rache zu befreien.
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Die Glieder bleischwer, die Augen rot umrändert, fuhr er durch die Massachusetts Street. Der Hunger quälte ihn schon lange nicht mehr. Nur ein dumpfes Gefühl im Magen war zurückgeblieben. Der Durst allerdings war mehr als unangenehm. Irgendwo – wo, das hatte er vergessen – hatte er etwas gegessen und getrunken, aber weder Hunger noch Durst waren dabei gestillt worden. Gibt es denn keinen Ausweg, überlegte er. Natürlich, es gibt immer einen Ausweg. Ein Männlein steht im Walde ... Er parkte den Wagen. Jetzt wurde erst einmal gegessen und getrunken – komme, was da wolle. Er ging in die Mensa. An den Tischen wurde geschwätzt und gelacht. Junge Männer in Jeans und karierten Hemden, junge Mädchen in bunten Sommerkleidern und flachen Sandalen. Matt kam sich plötzlich alt vor. Voll von Selbstmitleid setzte er sich an einen Tisch neben der Tür. Als die Serviererin neben ihm stand, sah er nicht einmal auf. »Eine Tagessuppe und ein Glas Milch«, sagte er. »Gern«, sagte die Serviererin. Die Stimme kam Matt bekannt vor. Auf dem Tisch stand ein Krug mit Wasser. Matt goß sich ein und trank gierig. Das Wasser floß in seinen Magen und breitete sich wohltuend aus. Er atmete erleichtert auf. Der Hunger regte sich wieder. Hätte ich doch ein Steak bestellt, dachte Matt. Die Suppe wurde gebracht. Matt aß einen Löffel, schluckte und spürte die Wärme in seinem Magen. »Geht es Ihnen jetzt wieder besser, Mr. Wright?« fragte die Serviererin. 72
Matt sah auf. Sein Atem stockte. Es war Abigail. Er rang nach Luft und keuchte. Die Studenten drehten sich um, starrten ihn an. Alle Mädchen sahen aus wie Abigail. Matt sprang auf und rannte zur Tür. Die Klinke in der Hand, blieb er wie angewurzelt stehen. Durch die Glasscheibe starrten ihn blutunterlaufene Augen an. Breite Schultern und wirre Haare. Matt stieß einen gequälten Schrei aus. Mit weichen Knien schwankte er zum rückwärtigen Ausgang der Mensa. Er kam auf einen Hof, stieß gegen eine Mülltonne. Fluchend und humpelnd schleppte er sich weiter. An der Ecke der schmalen Straße, die hinter dem Gebäude lag, der beruhigende Schein der Laterne. Matt lief keuchend darauf zu. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals hinauf. Plötzlich sah er die Gestalt mit den breiten Schultern und den wirren Haaren. Matt machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die andere Richtung. Kein Alptraum konnte schlimmer sein. Die Ecke kam näher und näher . . . Ein Schatten löste sich von der Mauer. Matt blieb stehen. Der Schatten kam auf ihn zu und stand plötzlich wie ein Berg vor ihm. Breite Schultern, wirre Haare. Kräftige Arme umfaßten Matt, er wurde an eine massive Brust gepreßt. »Mann!« stöhnte Jenkins. »Das erste bekannte Gesicht seit Tagen!« Matts Herz fing wieder an zu schlagen. Er machte sich frei. »Ich begreife überhaupt nichts mehr«, jammerte Jenkins und schüttelte den Kopf. »Aber wenn Sie
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mich fragen -da steckt Abbie dahinter. Genau wie bei der Prügelei. Mann, wo bin ich denn bloß?« »In Lawrence.« »Und wo ist dieses Lawrence?« »In Kansas.« »In Kansas?« Jenkins schüttelte den Kopf, daß der Bart nur so wackelte. »Da soll es doch so trocken sein. Aber so trocken wie meine Kehle kann Kansas gar nicht sein. Und keinen Cent in der Tasche! Ich sterbe vor Durst. Da muß etwas passieren. Da steckt doch Abbie dahinter, oder?« Matt nickte. »Mann!« fuhr Jenkins fort. »Ich bin einfach zu alt für so etwas. Ich will vor meinem Haus sitzen, in meinem Schaukelstuhl, und wenigstens ein Glas Bier in der Hand. Das Mädchen treibt mich zum Wahnsinn. So geht das nicht weiter. Es muß etwas geschehen.« »Dafür ist es zu spät, fürchte ich«, sagte Matt. »Das ist es ja«, meinte Jenkins. »Vor sechs Jahren war es schon zu spät. Mann, Sie sind doch gebildet und haben was gelernt. Was machen wir denn nur« »Das weiß ich auch nicht«, sagte Matt. »Ich kann mir nicht einmal etwas ausdenken, weil es ja doch nicht klappt. Aber wenn Sie mich verprügeln wollen – bitte schön. Ich bin nämlich schuld daran.« Jenkins legte Matt seine schwere Hand auf die Schulter. »Ich will Sie doch gar nicht verprügeln, Mann. Wenn Sie es nicht gewesen wären, dann wäre es ein anderer gewesen. Wenn Abbie sich einen einbildet, dann ist nichts zu machen. Und der Kerl, der sie glücklich machen kann, der existiert nicht. Wenn sie 74
wütend ist, ist sie schlimmer als alle Hexen dieser Welt zusammen.« Matt griff in die Brieftasche und gab Jenkins fünf Dollar. »Hier«, sagte er. »Damit Sie nicht verdursten. Und versuchen Sie, nicht mehr daran zu denken.« »Sie sind ein guter Mensch«, sagte Jenkins. »Überstürzen Sie bloß nichts.« Ein Männlein steht im Walde ... Jenkins machte auf dem Absatz kehrt und ging. Matt sah ihm nach. Er hatte plötzlich den Eindruck, mutterseelenallein zu sein auf dieser Welt. Langsam ging Matt in die Massachusetts Street zurück. Etwas mußte er noch versuchen. Als er in seinem Auto saß, spürte er Abigails Nähe. Wie kleine Staubpartikelchen, die man nur im Schein einer Lampe sieht, die aber überall sind, so schien auch Abigail überall zu sein: halb Engel, halb Teufel, halb Liebe, halb Haß. Mit dieser Mischung zu leben, war einfach unmöglich. Die Spannungen, die daraus entstanden, waren zu groß. Matt seufzte. Abigail war nicht schuld daran. Die Wissenschaft hatte ihn in diese Situation getrieben. Aber die Wissenschaft ist einer Frau gegenüber ohnmächtig. Sie kann befreien, aber nicht verstehen. Abigail war zur Frau geworden und besaß die Kräfte einer Göttin. Gegen ihren Willen. Sie hatte lediglich einen Wunsch -verheiratet zu sein. Sie sehnte sich nach einem Mann, doch Matt hatte sie enttäuscht und sie gezwungen, ihre unerklärlichen Kräfte in Anwendung zu bringen. Seine Schuld war es, und er war derjenige, der dafür büßen mußte.
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Es war bereits dunkel, als Matt die Seventh Street entlang fuhr. Die Nacht war warm, Insekten schwirrten um die Straßenlaternen. Matt hielt vor einer alten Villa, die von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Matt klingelte. Nach einem Moment wurde aufgemacht. Professor Franklin, der Dekan von Matts Fakultät, sah den späten Besucher erstaunt an. »Matt!« rief Professor Franklin. »Ich habe Sie im ersten Moment gar nicht erkannt. Schon so früh zurück? Sagen Sie bloß, Sie sind mit Ihrem Buch schon fertig.« »Nein«, antwortete Matt. »Aber ich würde Sie gern kurz sprechen – falls Sie Zeit haben.« »Aber sicher, kommen Sie herein. Ich sitze gerade über der Korrektur einer Klausur.« Professor Franklin ging in das von Büchern überladene Arbeitszimmer vor und bot Matt Platz an. Er setzte sich die Brille auf und sah Matt fragend an. Professor Franklin war ein auffallend großer Mann mit leicht gebeugten Schultern und grauen Haaren, die ihm immer in alle Richtungen standen. »Sie sehen aber gar nicht gut aus, Matt«, sagte er. »Waren Sie krank?« »Wie man’s nimmt«, entgegnete Matt. »Man könnte es so nennen. Es fragt sich nur, welche Heilmethoden es gibt. Wie würden Sie jemanden behandeln, der an psychische Phänomene glaubt?« Professor Franklin zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele Menschen, die daran glauben und trotzdem ernst zu nehmen sind.« »Ich kann sie aber beweisen«, sagte Matt. 76
»Halluzinationen? Dann wird die Sache schon ernster. Da hilft nur noch psychiatrische Behandlung. Vergessen Sie nicht, daß ich Dozent bin und kein behandelnder Arzt. Sie wollen aber doch nicht behaupten . . .« »Doch«, fiel Matt ihm ins Wort. »Ich kann es beweisen, will aber nicht, denn damit wäre keinem gedient.« »Der Wahrheit schon, aber Sie wollen doch nicht allen Ernstes .. .« »Es ist mein heiliger Ernst«, sagte Matt. »Angenommen, ich kann beweisen, daß tote Gegenstände tatsächlich durch die Luft schweben, daß es Telepathie und dergleichen wirklich gibt . . .« »Matt, Sie sind nicht mehr ganz bei Trost!« »Angenommen«, fuhr Matt unbeirrt fort, »angenommen, Ihre Brille macht sich selbständig und setzt sich mir auf die Nase – was sagen Sie dann?« »Dann rate ich Ihnen dringend, einen Psychiater aufzusuchen.« Der Professor hatte eine besorgte Miene aufgesetzt. Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als seine Brille auch schon über den Schreibtisch schwebte und vorsichtig auf Matts Nase landete. »Matt!« rief der Professor und zwickte die Augen zusammen. »Ich finde das gar nicht komisch.« Matt seufzte und gab ihm die Brille zurück. Professor Franklin setzte sie wieder auf. »Angenommen«, sagte Matt, »ich schwebe plötzlich in der Luft?« Noch während er sprach, spürte er, wie es ihn aus dem Sessel hob.
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Professor Franklin sah zu Matt hinauf. »Sie kommen sofort da herunter!« befahl er. Matt senkte sich langsam wieder in den Sessel. »Diese Tricks überzeugen mich nicht im Geringsten«, meinte Professor Franklin kopfschüttelnd. »Gehen Sie zum Arzt, Matt, und zwar schnell.« Matt stöhnte. »Ich hätte es mir denken können«, sagte er. »Abigail?« Der Professor sah ihn entgeistert an. »Ja, Mr. Wright?« Die weiche, freundliche Stimme kam von irgendwoher aus der Luft. Professor Franklin sah sich um, wie jemand, dem der Teufel im Nacken sitzt. »Vielen Dank, Abigail«, sagte Matt. »Sie verlassen sofort dieses Haus!« schrie der Professor. Matt stand auf und ging zur Tür. »Ich fürchte, Professor Franklin glaubt nicht an dich, Abigail«, sagte er und drehte sich noch einmal zu dem alten Herrn um. »Auf Wiedersehen, Professor Franklin. Das, was mir anhängt, kann auch kein Arzt wegbringen.« Als er gegangen war, durchsuchte der Professor das ganze Zimmer. Matt stellte den Wagen auf dem freien Platz hinter dem Appartementhaus ab. Hinter seinen Fenstern war zum Glück kein Licht. Guy, mit dem er die Wohnung teilte, war also nicht zu Hause. Matt schloß die Tür auf. Niemand da. Er knipste im Wohnzimmer eine Lampe an. Die übliche Unordnung. Kleidung lag herum und die Sessel waren voll mit Büchern. 78
Matt ging in die dunkle Küche, stieß gegen die Gasheizung und fluchte. Er rieb sich das Knie. Ein Männlein steht im Walde .. . Irgendwo mußte doch ... Was Matt noch hochhielt, wußte er selbst nicht. Er hätte längst vor Erschöpfung und Hunger zusammenbrechen müssen. Aber bald würde er ja ruhen können. Lange, ewig lange. Ganz still und stumm ... Endlich! Da war er ja, der Zucker. Der Zucker. Blauen Zucker hatte er schon immer besonders gern gemocht. Er fand ein Paket Cornflakes und holte Milch aus dem Kühlschrank. Mit einem scharfen Messer schnitt er das Paket auf. Eine Ladung Cornflakes in einem Teller, Milch darüber und den Zucker obendrauf. Den blauen Zucker. Es hat von lauter Purpur .. . Matt war sehr schläfrig. Er schob einen Löffel Cornflakes in den Mund, kaute einen Moment und schluckte. Nichts erreichte seinen Magen. Er griff nach dem Messer, um es sich in die Brust zu stoßen. Plötzlich war das Messer verschwunden. Er war jetzt hundemüde. Sein Kopf fiel nach unten. Doch plötzlich war er wieder wach. Das Zischen hatte aufgehört. Schon seit geraumer Zeit. Matt knipste Licht an und sah, daß der Gasofen, gegen den er absichtlich gerempelt war, abgestellt war. Nichts hatte gewirkt. Weder das blaue Insektenvertilgungsmittel, noch das Messer, noch das Gas.
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Matt war verzweifelt. Es hatte keinen Zweck. Es gab keinen Ausweg. Er ging ins Wohnzimmer, warf die herumliegenden Kleider auf den Boden und setzte sich auf die Couch. Auch die letzte Hoffnung hatte sich zerschlagen. Trotzdem war er irgendwie froh, daß seine Versuche fehlgeschlagen waren. Nicht, weil er noch am Leben war, sondern weil er sich wie ein Feigling verhalten hatte. Von Anfang an hatte er sich gedrückt, die einzig mögliche Lösung zu akzeptieren. Doch jetzt blieb ihm keine andere Wahl. Es war hart. Kein schneller Tod, aber er war es der Welt schuldig. Er mußte sich auf dem Altar opfern, den er selbst errichtet hatte. Er mußte sich dem Messer ausliefern, das er selbst gewetzt hatte. »Gut,. Abigail«, sagte er entschlossen und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Ich heirate dich.« Die Worte hingen in der Luft. Matt wartete, von Angst und Hoffnung geplagt. War es zu spät? Kannte Abigail nur noch Rache? Aber plötzlich lag Abigail in seinen Armen, kaum größer als ein Kind, aber warm und weich wie eine Frau. Sie war noch viel schöner als in Matts Erinnerung. »Wirklich, Mr. Wright?« flüsterte sie. »Wollen Sie mich wirklich heiraten?« »Gott helfe mir – ja«, sagte Matt. Er küßte sie. Ihre Lippen waren süß und leidenschaftlich. Obwohl er es nicht verdient hatte, hatte Matthew Wright das große Los gezogen.
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Die Braut war hübsch, aber was noch viel wichtiger und von größerer Bedeutung war Die Braut war glücklich.
Die Schaumgeborene Eine Schaumkrone, daß einem der Atem stockte. Doris ging mit dem leeren Tablett an Jerry Blitz vorbei. Sie war ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen. Jerry legte ihr eine Hand auf den Arm. »Haben Sie was von Dion gehört?« fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf und warf noch schnell einen prüfenden Blick über den Tisch: Jeder hatte eine Flasche Bier und ein Glas vor sich stehen. Doris ging hinaus. Jerry seufzte und sah in sein Glas. Das Bier war ein voller Erfolg. Das klare, blasse Gelb leuchtete wie flüssiges Gold; winzige Bläschen stiegen an die Oberfläche. Auf dem schwitzenden Glas sammelte sich die Feuchtigkeit zu Tröpfchen, die in kleinen Rinnsalen nach unten rieselten. Jerry sah die Fernsehreklame bildlich vor sich. Über dem Glas lediglich ein Wort: BLITZ. Und darunter: Der beste Durstlöscher. Durch die Buchstaben, die hohl wie Neonröhren waren, würde Bier fließen. Ein Schaudern lief Jerry über den Rücken. Eine Sensation würde das sein. Aber – wie viele der Fernsehzuschauer würden Lust haben, dieses Bier zu trinken?
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Der Schaum auf dem Glas hatte sich in der Mitte zusammengezogen und die Form eines wunderschönen Mädchens angenommen. Von der Taille an aufwärts. Die Hände waren erhoben und schienen über das lange Schaumhaar zu streichen. Das Mädchen warf sich für Jerry in Pose. Jerry ließ den Blick über die unveränderten Gesichter der anderen streifen. Sahen sie das Mädchen denn nicht? Ganz vorsichtig drehte er das Glas. Das Mädchen schwamm im Kreis herum, um vor Jerry zu bleiben. Die anderen hatte es gemerkt. Baldwin war ein alter Mann. Er schluckte. Sein Gesicht war eine Maske. Er besaß eine ganze Reihe von Masken: den interessierten Zuhörer, den soliden Geschäftsmann, den verläßlichen Freund. Im Moment hatte er den sturen Materialisten aufsitzen. Und wo war der echte Arthur Baldwin? Wo war der Mann, der sich vor Lachen auf die Schenkel schlug, der stöhnte vor Leidenschaft und dem von Kummer die Tränen über das Gesicht liefen? Jerry musterte die anderen: Reeves, Williford, Woodbury, Alberg ... Nur Bill Alberg machte den Eindruck, als habe er das Schaummädchen gesehen. Er versuchte krampfhaft, nicht hinzusehen. Aber er war ja auch noch blutjung und mußte erst noch seine Erfahrungen machen. Die typische Aufsichtsratssitzung. Reeves machte sich Notizen. Baldwin redete. Irgendwie schienen sie sich alle verschworen zu haben, das Mädchen nicht zu erwähnen. Sie sprachen von der »ungewöhnlichen Schaumbildung« und der Schaumtätigkeit. Daß etwas Wundervolles mit im Raum war, ignorierte sie. 82
Was war nur mit ihnen los? Glaubten sie nicht mehr an Wunder? Alles mußte seinen guten Grund haben. Ein Motiv. Aus reinem Vergnügen taten sie nichts. Was hatten sie hier eigentlich zu suchen? Direktoren bei der Bundesbahn hätten sie sein sollen, aber nicht Direktoren einer Brauerei. Das Braugewerbe lebt von der Tradition und dem Zauber. Mischen, kochen, altern, das sind die Grundvorgänge. Die einzelnen Zugaben konnten keiner festen Kontrolle unterworfen werden. Präzision zu verlangen, war sinnlos. Eine Aufsichtsratssitzung dient dazu, Dollars herauszuquetschen. Sie hat mit dem Braugewerbe nicht das Geringste zu tun. Wer ihm nicht mit Leib und Seele verfallen war . .. Das Sudhaus, zum Beispiel. Das zur Würzebereitung geschrotete Malz wurde hier mit Wasser zur Maische gemischt, was man maischen nannte. Allein der Geruch versetzte den leidenschaftlichen Bierbrauer in Entzücken. »Wieviel haben wir eigentlich von diesem Bier?« fragte Baldwin und riß damit Jerry aus seinen Gedanken. »Neunzehntausendachthundert Lagerfässer«, antwortete Jerry. Mein Gott, wo ist nur Dion, dachte er. »Wie bitte?« rief Baldwin entsetzt. »Dann ist die Situation ja weitaus gravierender, als ich dachte.« Im Braugewerbe war alles gravierend: das Mälzen, die Herstellung der Würze, die Vergärung. Das Läutern der Lösung und dann das Kochen der Lösung mit Hopfen.
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»Ich muß um eine Abstimmung ersuchen«, sagte Baldwin steif. »Moment!« rief Jerry. »Sie können ein Bier doch nicht beurteilen, wenn Sie es nicht einmal probiert haben. Der Geschmack ist.. .« »Das ist nicht nötig«, fiel ihm Baldwin ins Wort, warf einen kurzen Blick auf das Glas vor Jerry und sah sofort wieder weg. »Ich – äh – trinke kein Bier. Und der Anblick allein genügt für mich, um mit Sicherheit sagen zu können, daß dieses Bier unverkäuflich ist.« »Mag sein, daß Sie kein Bier trinken«, sagte Jerry, »ich muß Sie aber trotzdem bitten, eine Ausnahme zu machen. Als Direktor einer Brauerei müssen Sie das Produkt kennen, das dort hergestellt wird. Jeder von Ihnen hat eine offene Flasche und ein Glas vor sich stehen. Wenn Sie beim Einschenken das Bier an der Wand des Glases entlanglaufen lassen, entsteht kein Schaum.« Übervorsichtig, mit fast angeekelter Miene, goß Baldwin einen Schluck in sein Glas, hob es unter die Nase, roch daran und ließ das Bier schließlich über die gerollte Zunge laufen. Seine Augen wurden groß. Er goß sich den Rest ein und leerte das Glas mit einem Zug. Ein Ausdruck absoluter Seligkeit breitete sich auf seinem alten Gesicht aus. Er leckte sich über die Lippen und stellte das Glas auf den Tisch. »Das ist Bier?« fragte er. »Die Krönung des Biers«, sagte Alberg schwärmerisch. »Der Champagner unter den Bieren. Seit Jahrhunderten ein Traum eines jeden Braumeisters. Das ist kein ordinäres Bier. Nektar ist das!« 84
Jerry traute seinen Ohren nicht. Von Bill hatte er keine Unterstützung erwartet. »Ein Jammer«, meinte Baldwin, »daß es wegen der Schaumqualität nicht auf den Markt gebracht werden kann.« »Ich finde, man sollte das Beste daraus machen«, meinte Jerry, stand aber offensichtlich allein da mit seiner Meinung. Mit Leib und Seele dabei. Wie gern stand Jerry am Läuterbottich, auf das Geländer gestützt, und sah hinunter. Hier wurden die Rückstände abgesetzt und die Würze abfiltriert. »Ach was!« rief Baldwin. »Das ist doch unmöglich.« »Bei gezielter Werbung ist alles möglich«, sagte Jerry unbeirrt. »Man kann Frauen dazu bringen, Säcke zu tragen, und Männer, sich Glatzen scheren zu lassen. Es kommt nur auf die Werbung an. Überlegen Sie doch: Blitz, das Bier mit dem exotischen Schaum.« »Ja!« rief Alberg aufgeregt. »Das zieht bestimmt.« Baldwin schüttelte den Kopf. »Wenn wir das Bier auf den Markt bringen, ruinieren wir eventuell den Namen unserer Firma. Das Risiko ist zu groß.« Risiko! Baldwin war der typische Rückversicherer. Er hatte es zu etwas gebracht und wollte nichts aufs Spiel setzen. Das Irre daran war, daß er sich ausgerechnet auf das Braugeschäft eingelassen hatte, denn Bierbrauen war immer mit einem Risiko verbunden. »Alberg«, sagte Baldwin. »Nun frage ich Sie: wie wird die biertrinkende Bevölkerung auf diese – äh – ungewöhnliche Schaumbildung reagieren?«
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»Tja«, sagte Alberg und lächelte verlegen. »Zumindest ist das eine Neuheit.« »Neuheit, Neuheit«, äffte Baldwin ihn nach. »Wenn die Neuheit erst einmal ein alter Hut ist, schert sich keiner mehr darum. Der Durchschnittsmensch will bei Nahrungsmitteln und Getränken keine Neuheiten. Dieses Bier rührt er unter Garantie nicht an, Alberg.« »Schon möglich«, sagte Bill kleinlaut. »Aber man könnte doch eine Art Gebrauchsanweisung mitliefern«, sagte Jerry. »Vorsichtig eingießen, damit Kohlensäure nicht verlorengeht. Um echten Geschmack genießen zu können, Schaumkronen vermeiden. Oder ...« »So ein Unsinn!« fiel ihm Baldwin ins Wort. »Wir sind nicht eine der ganz großen Brauereien und können uns eine Werbekampagne dieser Art nicht leisten.« Mein Gott, Dion, dachte Jerry. Warum bloß? Der Hopfen oder die Hefe? Zweihundertzwanzig Pfund Hefe und eine wilde Zelle genügte. Die Hefe verwandelt unter Gärung einen Teil des in der Würze vorhandenen Zuckers in Alkohol und in schaumgebendes Kohlendioxyd .. . »Wenn Sie mich bitte einen Moment entschuldigen«, sagte Jerry. »Ich bin gleich wieder da.« Draußen lehnte er sich gegen die Tür und machte die Augen zu. Er war ein junger, schlanker Mann mit sensiblen Zügen. Sein Vater hätte seinen Gegnern nie die Gelegenheit gegeben, sich während seiner Abwesenheit schnell gegen ihn zu verschwören, aber er war eben nicht sein Vater – das wurde immer offensichtlicher. 86
»Doris«, sagte Jerry zu dem Mädchen im Vorzimmer des Konferenzraums. »Haben Sie immer noch nichts von Dion gehört?« »Nein, Mr. Blitz«, sagte Doris und machte ein besorgtes Gesicht. »Am Telefon meldet er sich nicht, und der Hausmeister hat ihn seit einer Woche nicht gesehen.« »Versuchen Sie es weiterhin. Ich brauche ihn dringend. Wenn er mir nicht helfen kann, ist die Brauerei beim Teufel.« »Wieso denn das?« fragte Doris entsetzt. »Ich denke, Sie wissen Bescheid?« »Ich habe keine Ahnung.« »Folgendes«, sagte Jerry, »Baldwin hat meinem Vater Geld für das neue Bier geliehen. Als Sicherheit hat mein Vater sein Aktienpaket geboten. Die Erbschaftssteuern sind so hoch, und ich hatte durch den Todesfall derartige Ausgaben, daß ich keinen Cent aufbringen kann. Wenn Baldwin seinen Kopf durchsetzt, und das neue Bier gar nicht erst auf den Markt kommt, kann er die Aktien verlangen.« »Aber damit hat er ja dann über fünfundfünfzig Prozent.« »Genau«, sagte Jerry. »Dann gehört ihm die Brauerei.« »O Gott!« stöhnte Doris. »Sie brauchen Dion wirklich dringend. Ich habe es auch schon bei allen Krankenhäusern, im Leichenhaus für Unbekannte und auf dem Polizeipräsidium versucht.« »Und in den Bars?« fragte Jerry. Das Mädchen sah ihn erstaunt an. »Dion ist meine letzte Rettung«, sagte Jerry. »Wenn er von der seltsamen Schaumbildung weiß, 87
dann kann er den Schaden vielleicht beheben. Irgendwo muß er doch stecken. Sagen Sie in den Bars, man soll ihm ausrichten, daß er sich sofort bei mir melden soll – falls er irgendwo auftaucht.« »Ja, glauben Sie denn, daß er trinkt?« fragte Doris. »Wieso soll er denn nicht trinken?« fragte Jerry zurück und ging wieder in den Konferenzraum. »Übrigens«, empfing ihn Baldwin, »wo steckt eigentlich Ihr neuer Braumeister? Sie sollten ihn zuziehen.« Das Herz fiel Jerry in die Hosentasche. »Dion?« sagte er. »Er ist – er ist in Urlaub.« Baldwin grinste in sich hinein. Er wußte also, daß Dion verschwunden war und wahrscheinlich auch, wie lange schon. Vielleicht wußte er sogar, wo Dion steckte. Jerry holte tief Luft. Das ging alles einfach zu weit. »Aber er ist doch erst seit einigen Monaten bei der Brauerei«, sagte Baldwin. »Nach so kurzer Zeit schon Urlaub?« »Ja«, sagte Jerry. »Hm-mm.« Baldwin schüttelte den Kopf. »Ein merkwürdiger Mann. Wo haben Sie ihn eigentlich aufgetrieben? Warum haben Sie den alten Braumeister hinausgeworfen? Er hatte schließlich die Erfahrung von vierzig Jahren.« »Mr. Gerhard wurde nicht hinausgeworfen«, sagte Jerry. »Er wurde pensioniert. Mein Vater hat hinterlassen, daß Dion die Stelle übernehmen sollte.« »Ihr Vater hat auch einen großen Berg Schulden hinterlassen«, sagte Baldwin trocken. »Na ja, nachdem wir uns die Meinung des Experten nicht anhö-
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ren können, müssen wir eben einen anderen fragen.« Er stand auf, ein kleiner, aufrechter Mann, und ging zur Tür. Jerry sah in sein Glas. Der Schaum war zusammengefallen. Baldwin machte die Tür auf und winkte einen großen, weißhaarigen Mann herein. »Mr. Gerhard?« rief Jerry erstaunt. »Guten Tag, Mr. Blitz«, sagte der alte Braumeister. Er war Deutscher und hatte einen starken Akzent. »Was machen Sie denn hier?« fragte Jerry. »Dieser Ruhestand«, sagte Gerhard, »ich bin es nicht gewöhnt, den ganzen Tag nichts zu tun. Und meine Frau ist auch schon völlig verzweifelt, daß ich immer im Haus bin. Als mir jetzt Mr. Baldwin gesagt hat, daß ich wieder arbeiten kann, da war ich richtig erleichtert. Ich bin hier, um zu helfen.« Helfen, dachte Jerry. Es fragt sich nur – wem. »Ich habe Mr. Gerhard um seine Hilfe gebeten«, sagte Baldwin und ließ den Blick über die leeren Flaschen schweifen. »Wir brauchen noch eine Runde zum Probieren.« »Und bitte die Brauunterlagen«, sagte Gerhard. Jerry seufzte und nickte. »Ich lasse sie durch unseren Chefchemiker kommen«, sagte er, drückte auf einen Knopf der Sprechanlage und bat Doris, George Fennell zu holen. Der Chemiker kam, mit einer Flasche Bier und den Unterlagen bewaffnet. Fennell war groß und hager und hatte das zu seiner Figur passende Gesicht. »Na, George?« fragte Gerhard. »Was macht das neue Bier?«
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»Ich weiß auch nicht so recht«, meinte Fennell und zuckte mit den Schultern. Jerry nahm Fennell die Flasche ab, machte sie auf, hielt ein Glas schräg und goß vorsichtig ein. Es entstand nur ganz wenig Schaum. Gerhard nahm das Glas und hielt es gegen das Licht. »Die Farbe ist gut«, sagte er. »Sehr gut sogar. Aber was ist denn mit dem Schaum los?« »Probieren Sie doch erst einmal«, forderte Jerry ihn auf. Gerhard zuckte mit den Schultern und setzte das Glas an den Mund. Als er es wieder senkte, leuchteten seine stahlblauen Augen. »Ah!« sagte er mit einem Stöhnen. »Das nenne ich Bier. Perfekt. Kann ich einmal die Unterlagen sehen?« Gerhard blätterte durch die Akte, die ihm Fennell vorgelegt hatte. »Das verstehe ich nicht«, sagte er nach einer Weile. »Da ist doch nichts Ungewöhnliches dabei. Der Alkohol 3,63. Ich hätte gedacht, daß der Alkoholgehalt höher ist.« »Ich denke, er soll fünf Prozent sein«, sagte Baldwin mißtrauisch. »Ist er auch«, sagte Jerry. »Alles, was weniger als fünf Prozent und mehr als 3,2 Prozent hat, wird fünfprozentiges Bier genannt.« »Die chemische Analyse«, sagte Fennell, »ist das einzige, wofür ich meine Hand ins Feuer legen kann.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Baldwin. Fennell machte ein scheinheiliges Gesicht. »Dion hält nicht viel von schriftlichen Unterlagen. Er hat 90
es glatt abgelehnt, sich die Mühe zu machen. Ich habe ihn noch darauf aufmerksam gemacht, daß man vielleicht dieses oder jenes überprüfen wird, aber er hat nur gelacht. Das Bier wird einwandfrei, hat er gemeint, und ich könne mir ja die Finger wundschreiben, wenn ich Lust dazu hätte.« »Und Sie haben das einfach so hingenommen?« fragte Baldwin. »Selbstverständlich«, sagte Fennell. »In einer Brauerei ist der Braumeister nun einmal der absolute Gott.« Nett, dachte Jerry. Einer nach dem anderen läßt mich im Stich. Verdammt, Dion, alter Freund, warum hast auch du mich im Stich gelassen? Bist du eigentlich Dionysos getauft? Kein schlechter Name für einen Brauer. Gott der Fruchtbarkeit und des Weinbaus. Das Volk trinkt heutzutage keinen Wein mehr, sondern Bier, und Dionysos, der immer ein Gott des Volkes war, wird Braumeister. Dion, verfluchter Kerl, wo steckst du nur? »Demnach kann dieses Bier also nicht nachgebraut werden«, sagte Baldwin mit vorwurfsvoller Miene. »Selbst wenn man die Sache mit dem Schaum in Ordnung bringen könnte, würde nie derselbe Geschmack zustande kommen.« »Dion ist dazu in der Lage«, sagte Jerry. »Er hat es schließlich in dreißig Brauvorgängen bewiesen.« »Vielleicht«, gab Baldwin zu, »aber er ist ja nicht da. Wer weiß, wann er wieder auftaucht. Die Betriebsleitung läßt sehr zu wünschen übrig.« Zustimmendes Gemurmel am Tisch.
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Jerry biß sich auf die Unterlippe. »Und doch ist das beste Bier dabei herausgekommen, das je gebraut worden ist«, sagte er. »Aber verkauft werden kann es nicht. Und nachgebraut werden erst recht nicht.« Baldwin wandte sich an Gerhard. »Habe ich recht?« Gerhards Blick ging zwischen Jerry und Baldwin hin und her. »Das ist schwer zu sagen«, meinte er. »Bierbrauen ist kein technischer Vorgang, sondern Kunst. Während des Mälzens, der Herstellung der Würze, des Läuterns und des Fermentierens passieren die seltsamsten Dinge, und man ist immer ...« »Moment«, fiel Fennell dem alten Braumeister ins Wort. »Bier besteht aus gewissen Zutaten, die in genau festgelegter Menge zum richtigen Zeitpunkt und bei richtiger Temperatur miteinander vermischt werden. Organische Katalysatoren spielen dabei die wichtigste Rolle.« »Das mag alles richtig sein«, sagte Baldwin ungeduldig, »aber jetzt erst einmal wieder zu dem Bier zurück, das wir hier haben.« Er nahm die halbvolle Flasche und kippte den Inhalt in Gerhards Glas. Das Bier gluckste aus der Flasche und lief schäumend in das Glas, während sich aus dem Schaum das nackte Mädchen erhob, sich räkelte und streckte und Jerry mit Schaumaugen ansah. »Oh!« rief Gerhard. »Das ist vielleicht ein Schaum!« Die kleinen Luftbläschen modellierten den Körper des Schaummädchens, das fast lebendig wirkte. »Können Sie sich das erklären?« fragte Baldwin den alten Braumeister. »Für diese Schaumbildung muß es doch einen Grund geben.« 92
»Dafür kann es eine ganze Reihe von Gründen geben«, sagte Gerhard. »Die Malzqualität, die Temperatur der Maische – nein, die Hefe muß es sein. Immer, wenn ich Schwierigkeiten habe, ist die Hefe daran schuld.« »Was meinen Sie dazu?« fragte Baldwin den Chefchemiker. »Wir verwenden seit Jahren dieselbe Hefe«, antwortete Fennell, betrachtete das Schaummädchen und leckte sich über die Lippen. »Ich kann immer wieder nur betonen, daß meiner Meinung nach das Kohlendioxyd mit den Wänden der Lagerfässer eine Verbindung eingegangen ist und dadurch ...« »Unsinn!« schnitt Jerry dem Chemiker das Wort ab. »Ihre Analysen haben es doch klar bewiesen. Außerdem sind die Fässer nicht neu und Kohlendioxyd war schon immer im Bier. Keiner von Ihnen hat recht. Die Erklärung ist simpel. Es handelt sich ...« »Um ein völlig normales, natürliches Phänomen, was?« fragte Baldwin giftig. »Genau«, sagte Jerry. »Und Dion wird Ihnen die richtige Erklärung dafür abgeben.« In dem Moment flog die Tür auf, und ein Mann in einem weißen Overall stand auf der Schwelle.»Mr. Blitz!« rief er. »Kommen Sie schnell. Im Abziehkeller ist der Teufel los.« Im Abziehkeller wurde das Bier von den Lagerfässern auf Verfrachtungsfässer abgezogen. Vier Mann arbeiteten hier unter Aufsicht eines Vorarbeiters. An diesem Tag jedoch stand alles untätig herum und gaffte. Vier Verfrachtungsfässer waren voll und schäumten, daß Jerry normalerweise das Herz übergegangen 93
wäre. In dem Schaum jedoch tanzten und wiegten sich vier vielleicht sechzig Zentimeter große, wunderschöne und splitternackte Schaummädchen. Den Arbeitern fielen schier die Augen aus dem Kopf. Jerry fuhr zu dem Vorarbeiter herum. »Wer hat Ihnen gesagt, daß Sie das neue Bier abziehen sollen?« fragte er wütend. »Niemand«, antwortete der Mann. »Aber wir hätten sonst nichts zu tun gehabt.« Jerry schnappte sich den Gummihammer, mit dem die Zapfen in die Spundlöcher geschlagen wurden. Mit vier kräftigen Schlägen war der Fall erledigt, und die Schaummädchen sackten in sich zusammen. »So«, sagte er. »Es wird erst wieder abgezogen, wenn ich den Auftrag dazu gegeben habe.« Als Jerry wieder in den Konferenzraum wollte, prallte er in der Tür mit Baldwin zusammen. »Ach, gut, daß Sie schon wieder da sind«, sagte Baldwin mit einem fiesen Lächeln. »Wir haben gerade abgestimmt. Wenn dieser pornografische Schaum nicht beseitigt werden kann, muß das Bier weggegossen werden. Daß diese Maßnahme eine Veränderung in der Betriebsleitung nach sich zieht, brauche ich wohl nicht zu betonen.« Jerry nickte. »Wie lange habe ich Zeit?« fragte er. »Jede verschwendete Minute ist verlorenes Geld«, sagte Baldwin. »Wir müssen neu brauen. Sie haben Zeit bis morgen früh.« Alle drückten sich an ihm vorbei, keiner sah ihn an: Baldwin, Reeves, Williford, Woodbury, Alberg. Bill Alberg blieb stehen und zog Jerry zur Seite. »Es tut mir leid, Jerry, aber .. .« 94
»Schon gut«, sagte Jerry. Als sie gegangen waren, war es plötzlich sehr still. Jerry stand im Türrahmen und sah Doris an. »Und Sie?« fragte er. »Lassen Sie mich auch im Stich?« »Ganz bestimmt nicht, Sir«, sagte das Mädchen. »Ich bleibe, bis man mir kündigt.« Jerry atmete auf. Wenigstens ein Mensch, der ihm treu blieb. Nein, zwei – da war ja auch noch Joan. »Haben Sie Dion erreicht?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe mit zwei Barbesitzern gesprochen, die ihn kennen. Sie haben versprochen, es ihm auszurichten.« »Dann trinkt er also doch, was?« »Allem Anschein nach sogar ganz ordentlich. Aber die beiden Männer haben gesagt, daß sie ihn noch nie betrunken gesehen haben. Beide haben sie betont, daß das ganz selten ist.« »Vielleicht ist er schon durch seinen Beruf immun gegen Alkohol«, sagte Jerry. »Verdammt, der Mann war mir so sympathisch.« »Ich begreife aber etwas nicht, Mr. Blitz. Wie konnten Sie denn jemand anstellen, von dem Sie praktisch nichts wissen?« »Nicht ich, sondern mein Vater hat ihn angestellt«, sagte Jerry. »Kurz vor seinem Tod. Dion und mein Vater müssen gute Freunde gewesen sein. Sie haben zusammen getrunken und ihren Spaß gehabt. Meinem Vater ging es schon lange nicht gut, aber Dion hat ihn immer aufgeheitert und zum Lachen gebracht. Eines Abends, mein Vater trank gerade eine Flasche Bier, auf der noch nicht einmal ein Etikett war, da hat er mit der Faust auf den Tisch ge95
schlagen und gesagt: ,Ich mach’s.’ Und dann hat er sich an mich gewandt. ,Falls mir etwas passiert’, hat er gesagt, ,machst du’s. Der Mensch muß außer Geld auch noch etwas anderes hinterlassen’.« »Was hat Ihr Vater denn gemeint?« fragte Doris. »Das habe ich ihn auch gefragt«, sagte Jerry. »Dion als neuen Braumeister anstellen’, hat er geantwortet. ,Er wird uns das beste Bier brauen, das in diesem verdammten Land je ausgeschenkt worden ist’.« »Und das hat er ja auch getan«, sagte Doris. »Ja, er hat es getan«, sagte Jerry. »Mein Vater konnte es leider nicht mehr probieren. Dion hat gearbeitet wie ein Pferd. Wochenlang ist er nicht aus der Brauerei herausgekommen. Er hat alles selbst gemacht. Vom Ansetzen der Maische bis zum Versetzen der Würze mit Hefe. Dann ist er plötzlich ruhelos geworden und eines Tages nicht mehr gekommen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.« »Ein merkwürdiger Mann«, sagte Doris nachdenklich. »Aber ich bin überzeugt davon, daß er einen triftigen Grund hat.« »Vielleicht«, meinte Jerry. »Auf jeden Fall hat mich dieser triftige Grund ruiniert.« »Das hat diese Frau doch gewußt«, sagte Doris plötzlich. »Welche Frau?« »Verzeihen Sie, Mr. Blitz. Ich meine Miß Blessing, Ihre Verlobte. Sie war vorhin hier und hat das abgegeben.« Sie holte einen Ring aus der Schreibtischschublade und drückte ihn Jerry in die Hand. Jerry konnte nur noch den Kopf schütteln. 96
»Jetzt regen Sie sich bitte nicht auf, Mr. Blitz«, sagte Doris schnell. »Sie ist es nicht wert. Sie war doch nur an Ihrem Geld interessiert. Sie hat gesagt, daß ihr der Name Blitz schon immer zuwider war. Und kaum haben Sie Schwierigkeiten – aus und vorbei. Sie haben eine bessere Frau verdient. Eine, die Sie liebt und nicht das Geld.« »In meiner momentanen Situation laufe ich da kaum ein Risiko«, sagte Jerry verbittert. »Aber wie steht es denn mit Ihnen, Doris? Ist Ihnen der Name Blitz auch zuwider?« »Nein, weiß Gott nicht. Aber ich bin doch verlobt.« »Natürlich«, sagte Jerry und steckte den Ring in die Tasche. »Wie konnte ich das vergessen. Ich gehe jetzt hinauf ins Penthouse. Lassen Sie mir alles, was von dem neuen Bier schon in Flaschen abgefüllt ist, nach oben schicken, bitte.« Jerry ging zum Lift. All seine Illusionen hatte er verloren. Seine Verlobte ebenfalls. In ein paar Stunden würde er dann auch noch das neue Bier und die Brauerei verloren haben. Das beste Bier, das je gebraut worden war. Also – warum nicht das Beste daraus machen? Nur in dem großen Wohnraum des Penthouses brannte eine Lampe. Auf dem niedrigen Tisch stand ein Bierkrug. Aus dem Schaum erhob sich ein hübscher Kopf und ein noch hübscherer Busen. Jerry saß in einem Sessel. Er hatte sich Bier in ein zweites Glas gegossen und trank dem Schaummädchen zu. Es hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Jerry rülpste. Ein zufriedenes Lächeln ging über sein Gesicht.
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»Dieses Bier ist einfach perfekt«, sagte er zu sich selbst. »Vielleicht eine Spur zu warm.« Er sah das Schaummädchen an. »Deshalb kommst du auch nicht weiter heraus, was?« Jerry nahm die Flasche, hielt sie hoch und ließ das Bier neben dem Mädchen in den Krug laufen. Das Mädchen wuchs zu voller Größe heran und richtete sich auf. »Na, siehst du«, sagte Jerry und strahlte über das ganze Gesicht. Er stand vorsichtig auf und ging wie auf Eiern in die Küche. Sein Alkoholpegel war schon beachtlich. Mit zwei eiskalten Flaschen bewaffnet kam er zurück. Er goß sein Glas voll und stellte die leere Flasche neben die Batterie, die schon auf dem Fußboden stand. Er hatte einige Mühe, die Flaschen zu zählen. »Dreizehn«, sagte er schließlich. »Phantastisch. Und jede einzelne entspricht einem doppelten Whisky.« Das Schaummädchen schien zustimmend zu nicken. » .. .fektes Bier«, lallte Jerry. »Ich und betrunken? Im Leben nicht. Prima . . . prima fühle ich mich.« Das Mädchen nickte und lächelte. »Ganz prima. Die Zukunft ist doch mir egal.« Jerry schnalzte mit den Fingern. »Die Zukunft soll sich gefälligst um sich selber kümmern.« Er goß etwas von seinem Glas in den Krug. »Wie man nur etwas gegen dich haben kann, Süße. Du bist der beste Trinkgenosse, den man sich denken kann. Hübsch, verständnisvoll und schweigsam. Was kann ein Mann denn mehr von einer Frau verlangen? Und was mehr von einem Bier? Sag doch selbst.«
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Er hob das Glas und trank einen ordentlichen Schluck. Als er es wieder auf den Tisch stellte, wurden seine Augen groß. »Dion!« rief er. Der Mann im Türrahmen war von durchschnittlicher Größe. Er hatte mittelbraunes Haar und ein Gesicht, das weder hübsch noch häßlich war. Ein ganz gewöhnlicher Mensch – bis auf seine Kleidung. Seine Krawatte war lila, sein Hemd gelb, sein Jackett königsblau, seine Hose grasgrün, seine Socken scharlachrot und seine Schuhe weiß. Aber selbst sein Aufzug verblaßte neben seinem Gesichtsausdruck. Die Lebensfreude schien ihn wie ein Heiligenschein zu umrahmen. Wer mit ihm zusammen war, hatte den Wunsch zu lachen, zu singen, zu tanzen, zu lieben und alle Dinge zu tun, die sich vielleicht nicht immer schicken, aber glücklich machen. Dion sah aus, als habe er überhaupt kein Alter. Manchmal, wie an diesem Abend, schien er jünger zu sein als das frischeste Bier, das in die Lagerfässer abgefüllt wurde, manchmal wieder sah er um Jahrhunderte älter aus als die Brauerei selbst. »Sie haben das neue Bier abziehen, lassen?« rief er und deutete auf den Krug. »Nymphen und Satyre! Was ist denn das?« »Das«, sagte Jerry und zog die Augenbrauen zusammen, »ist mein Ruin.« »Was so alles Ruin genannt wird.« Dion lachte. »Manches Mädchen hat schon die Erfahrung gemacht, daß der sogenannte Ruin das Sprungbrett zu einem ausgefüllteren Leben gewesen ist. Schauen wir uns die Angelegenheit doch einmal etwas 99
genauer an.« Er setzte sich in einen Sessel und betrachtete das Schaummädchen. »Ein Traum! Diese Lieblichkeit! Wie schmeckt denn das Bier?« »Perfekt!« sagte Jerry stolz. »Wundert mich nicht. Aber diese Kreatur ist für den Verkauf schlecht, was?« »Allerdings«, sagte Jerry und schilderte die Situation. »Und wo waren Sie, als ich Sie dringend gebraucht hätte?« fragte er, als er geendet hatte. »Ich mußte einem dringenden Bedürfnis Abhilfe schaffen«, sagte Dion. »Und anschließend war ich ganz schön geschafft. Wie Sie im Moment.« »Ich ? Ich bin doch nicht geschafft«, protestierte Jerry. »Mir geht es blendend. Aber Sie, wo sind Sie gewesen?« »Der alte Baldwin ist schlauer, als Sie denken. Er hat mich zu einer Party eingeladen, die eine Woche lang dauerte. Tag und Nacht. Die Mädchen und der Alkohol waren vor mir erschöpft, und da bin ich wieder. Wenn wir das Mädchen nicht aus dem Bier treiben können, sind Sie die Brauerei los, und das lasse ich nicht zu. Hat sich jemand das Phänomen erklären können?« »Gerhard hat es auf die Hefe geschoben«, antwortete Jerry, »und Fennell auf die Kombination von Kohlendioxyd und ...« »Diese Ketzer!« rief Dion. »Diese freudlosen, materialistischen Ketzer. An alles denken sie, nur nicht an den Katalysator. Sie wollen Brauer sein und haben keine Ahnung von Katalysatoren! In was für einem traurigen Zeitalter leben wir! Es hat immer noch nicht begriffen, was der wichtigste Katalysator ist.« 100
Jerry runzelte die Stirn. »Nämlich?« »Der Mensch!« rief Dion. »Sie kennen doch die Definition: ein Katalysator ist eine Substanz, die eine Reaktion beschleunigt, und dabei selbst unverändert bleibt. Trifft das auf den Menschen etwa nicht zu?« »Doch«, sagte Jerry ernst. »Der Mensch sieht immer wieder ein Stück Realität, aber er kann die Stückchen nicht zu einem ganzen zusammenfügen. Natürlich hat der Mensch nie einen direkten Beweis seiner katalytischen Aktion. Die Dinge geschehen auf eine gewisse Weise, wenn er dabei ist. Und wenn er nicht dabei ist, dann kann er auch nicht sehen, daß die Dinge auf andere Weise passieren. Der Mensch hat die Wahrheit in der Hand, kann sie aber nicht erkennen. Er spricht von Glück und Vorahnung, von Talent und Mißgeschick, von Leuten, die vom Pech verfolgt sind und der Perversion lebloser Gegenstände. Wenn sich der Mensch je der Studie seiner katalytischen Aktion hingeben würde, würde er Gott werden. Denn das war schließlich das Geheimnis der Götter.« »Wirklich?« fragte Jerry ungläubig. Dion nickte. »Aber der Mensch nennt es Aberglaube. Unsere Vorfahren wußten Bescheid: der Brauer ist wichtiger als die Zutaten. Nehmen wir eine moderne Brauerei. Sie bietet phantastische Genauigkeit im Abmessen von Quantität, Temperatur und Zeit, und mikroskopische Kontrolle der Qualität. Warum aber ist das Bier dann nicht halb so gut wie das, das in mittelalterlichen Klöstern gebraut wurde?« »Ich gebe es auf«, sagte Jerry und stöhnte. 101
»Alles wird kontrolliert, nur der Brauer nicht. Die alte Weisheit ist verlorengegangen. Der Brauer gibt seinem Bier die eigene Persönlichkeit. Er vererbt sie. Er muß daher während des Brauvorgangs an erster Stelle enthaltsam und keusch sein. Ich weiß doch, wie es mir bei diesem Bier ergangen ist.« Dion deutete auf den Krug. »Gegen Ende zu hatte sich meine Enthaltsamkeit zu höchster Erregung fermentiert. Ich mußte mir Erleichterung verschaffen, sonst wäre ich geplatzt.« Dion öffnete die Flasche, die noch auf dem Tisch stand, setzte sie an und trank einen großen Schluck. »Ah!« rief er mit einem genüßlichen Stöhnen. »Eine wahre Tochter des Malzes. Die Welt muß dieses Bier genießen können. Ganz gleich, was wir tun, es wird die Mühe wert sein.« »Ach was«, sagte Jerry mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Trinken wir und versuchen wir, glücklich zu sein.« »Um morgen die Brauerei zu verlieren?« fragte Dion entsetzt. »Kommt nicht in Frage, denn dann ist dieses Bier für die Welt verloren, und ich bin meinen Job los. Selbst ein Katalysator muß essen. Ich, für meine Person, finde diesen Schaum bezaubernd, aber ich kann mir vorstellen, daß es nicht jedem so geht wie mir. Wir stehen also vor folgendem Problem: woher kommt diese Schaummaid und wie werden wir sie wieder los?« »Jawohl«, sagte Jerry. »Wie?« »Versuchen wir, logisch zu denken«, sagte Dion. »Der katalytische Prozeß ist nicht kontrollierbar. Wir
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müssen uns also vom materiellen Denken abwenden und immaterielle Aspekte in Betracht ziehen.« »Geister, zum Beispiel«, sagte Jerry trocken. »Bravo!« rief Dion und klatschte die Hände zusammen. »Sie haben mich verstanden. Wir haben in unserem Bier einen alkoholischen Geist. Unser Bier ist von einem Geist befallen, und diesen Geist müssen wir austreiben.« Jerry sprang auf. »Wir müssen den Geist bannen, ohne den Alkohol zu verbannen.« Er tanzte im Zimmer herum und freute sich wie ein Kind. Plötzlich blieb er jedoch völlig ernüchtert stehen. »Und wie machen wir das?« fragte er. »Mit Knoblauch, Mistel, Wolfsgarbe, Quecksilber, Weihwasser oder einem Kruzifix?« »Nein!« rief Dion entsetzt. »Das ist doch alles dummer Aberglaube.« »Was dann?« »Die Schaummaid schaut Sie pausenlos an. Ob Sie nun stehen oder sitzen. War das schon immer so?« »Jetzt, wo Sie mich fragen, fällt es mir auch auf«, sagte Jerry. »Sie sieht immer mich an, das stimmt.« »Und warum?« fragte Dion. »Das weiß ich nicht.« »Weil Sie der Grund sind.« Jerry schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich bin kein Grund.« »O doch!« sagte Dion. »Ich bin derjenige, der die Möglichkeit geschaffen hat. Das Tor sozusagen. Das Ziel sind Sie. Der Geist will Sie ansehen.« »Mich?« fragte Jerry. »Ich kann es nicht glauben.«
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»Geister sprechen nur auf sehr starke Gefühle an«, sagte Dion. »Und Gefühle«, setzte Jerry hinzu, »werden nur durch starke Geister hervorgerufen.« »Liebe und Haß«, sagte Dion. »Sie haben nichts getan, um Haß auf sich zu ziehen, also muß es Liebe sein.« »Ah!« sagte Jerry und ließ sich wie benommen in einen Sessel sinken. »Geliebt zu werden, ist das schönste, was es gibt. Aber von einem Geist? Ich weiß nicht so recht. Was soll ich denn machen? Ihr sagen, daß sie verschwinden soll?« »Vorsicht!« mahnte Dion. »Geister sind einfache Geschöpfe. Und die Liebe ist die Mutter des Hasses.« »Hat mich die Liebe schon ruiniert«, stöhnte Jerry, »wie wird es dann erst mit dem Haß?« »Wir müssen sie herauslocken.« »Wie einen Fisch?« »So ungefähr.« »Und was nehmen wir als Köder?« »Den besten Köder für diese Art von Fisch«, sagte Dion und grinste . »Einen Mann – Sie!« »Heiliger Neptun!« jammerte Jerry. »Fragt sich bloß«, sagte Dion, »wo wir Sie auslegen.« Jerry war plötzlich zu allem entschlossen. »Los«, sagte er. »Kommen Sie.« Sie fuhren in den Lagerkeller hinunter. Kalte Luft schlug ihnen entgegen, doch Jerrys Stirn glühte. Er fühlte sich, als schwebe er dreißig Zentimeter über dem Boden. Er führte Dion in den Nebenraum, in
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dem das Bier in Verfrachtungsfässer abgezogen wurde. »Hier!« sagte Jerry und schlug mit der flachen Hand auf eines der vier Fässer, die während der Aufsichtsratsitzung gefüllt worden waren. Wie jemand, der nicht mehr ganz bei Trost ist, zog er blitzschnell aus allen vier Fässern die Zapfen heraus und sah mit fasziniertem Blick zu, wie das Bier aus den Fässern schoß und sich schäumend über den Fußboden ergoß. Ein prickelnder, hopfengeschwängerter Geruch erfüllte den Raum. Auf honiggelben Lachen bildeten sich Schaumkronen. Die Schaumkronen vereinigten sich, und es entstand ein Mädchen, das die Arme weit ausgebreitet hatte. Das Mädchen wuchs und wuchs. Als es ungefähr einsfündundsechzig groß war, schlug Jerry schnell die Zapfen wieder ein. Sie wuchs noch ein paar Zentimeter, dann blieb sie stehen. Jetzt sah Jerry sie zum erstenmal in voller Schönheit und Nacktheit von Kopf bis Fuß. Sie war fast lebendig, ein Kunstwerk. Sie war wie eine Marmorstatue, die mit solcher Liebe geschaffen war, daß sich der kalte Stein warm anfühlte. Der Schaum bewegte sich leicht und es war, als atme sie. Jerry drehte sich zu Dion um. »Und jetzt?« fragte er. Dion zuckte mit den Schultern. »Lassen Sie sich von Ihren Instinkten leiten«, sagte er. Zögernd streckte Jerry eine Hand aus und berührte den Schaum. Das Mädchen bewegte sich. Jerry zog die Hand zurück und rieb sich die Finger. 105
»Das fühlt sich komisch an.« Er holte tief Luft und versuchte es noch einmal. Jetzt schien die Schaumhand seiner Hand entgegenzukommen. Das Mädchen stieg aus der gelben Bierlache. Seine Brust hob und senkte sich. Es schlug die Lider nach oben. Seine Augen waren so blau wie ein Gebirgssee. »Venus aus dem Schaum«, murmelte Dion. Jerry zog die Hand zurück. »Das ist kein Schaum«, sagte er schwach. »Das ist Haut. Sie ist warm.« »Die Macht der Liebe«, sagte Dion. Das Mädchen öffnete die Lippen. »Liebe«, flüsterte es. Seine Lippen waren rot, sein Haar war lang und blond und umspielte seine Schultern. Seine Haut war weiß und weich wie Samt. Es stand vor ihnen, nackt und nicht beschämt. »Vollmundig, wie das Bier«, sagte Dion fast andächtig. »Darf ich?« fragte Jerry wie im Rausch und streckte die Hand aus. »Bitte, tu es«, hauchte das Mädchen und wand sich ihm entgegen. Jerry zog die Hand schnell wieder zurück. »Lieber nicht«, sagte er. »Bitte!« flehte das Mädchen und sah ihn mit verzückten Augen an. »Ich liebe dich doch schon so lange.« »Seit wann denn?« fragte Dion interessiert. »Seit ich mit der Gerste hier angekommen bin«, gestand das Mädchen, das Dion erst jetzt bemerkt zu haben schien. »Ich war nämlich die Gersten-
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braut. Sie wissen schon, die letzte Ähre, die geschnitten wurde.« »Ach so!« sagte Dion. »Sie haben aber große Schwierigkeiten verursacht.« Ihre Augen wurden groß. »Wirklich?« fragte sie. »Aber ich konnte Jerry doch nicht anders auf mich aufmerksam machen.« »Du hast es geschafft, Baby«, murmelte Jerry. »Du hast es geschafft.« »Alle waren so gemein zu Jerry«, sagte das Mädchen mit den funkelnden Augen. »Vor allem diese Joan.« Allein den Namen zu hören, war wie eine kalte Dusche für Jerry. Er holte tief Luft. »Wenn es dir nichts ausmacht«, sagte er, »dann gehe ich jetzt.« »Nein, es macht mir gar nichts aus«, sagte das Mädchen und trat neben ihn. »Wohin gehen wir denn?« »Wir?« fragte Jerry erschreckt. »Du verstehst mich nicht. Ich will allein sein.« »O ja!« rief das Mädchen erfreut. »Tun wir es.« Jerry sah sie mit entsetzten Augen an. »Ich möchte mit mir allein sein!« »Das ist aber nicht nett von dir«, sagte das Mädchen und zog eine Schnute. »Und fair ist es auch nicht. Du hast mich in diese Welt gelockt, jetzt mußt du dich auch um mich kümmern. Du gehörst nämlich mir.« »Großer Gott – nein!« stöhnte Jerry. Joan hatte ihn besitzen wollen, und jetzt auch dieses Mädchen, das aus dem Schaum stammte. Es war einfach zu viel. »Ich will niemand gehören.«
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Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte durch den Lagerkeller und auf den Lift zu. »Aber wir gehören zusammen!« hörte er das Mädchen hinter sich rufen. Er drehte sich um. Das Mädchen verfolgte ihn auf bloßen Füßen. Wie vom Leibhaftigen gejagt rannte Jerry am Lift vorbei und die Treppe hinauf. Er mußte sich in den zweiten Stock retten. Hier befand sich nur eine Art Laufsteg, der um das ganze Brauhaus herumlief. Nein, dachte er, lieber ins Labor im dritten Stock. Oder noch besser . . . Jerry duckte sich hinter einer Kühlanlage zusammen. Hoffentlich ... In dem Augenblick mußte er nießen. Er sprang wieder auf und rannte in den vierten Stock hinauf. Trapp, trapp, trapp – nackte Füße liefen hinter ihm her. Jerry versuchte, den Frachtaufzug zu erreichen, bevor ihn das Mädchen eingeholt hatte, gab es jedoch auf halbem Weg auf. Es hatte keinen Sinn. Er konnte seinem Schicksal nicht entfliehen. Dion brauchte seine Zeit, bis er die beiden fand. Und als er sie gefunden hatte, wußte Jerry bereits, daß es außer Besitzgier noch andere Gründe gab, warum man einen Menschen unbedingt haben wollte. Er warf dem Mädchen einen leeren Gerstensack zu. »Bedeck dich damit, Darling«, sagte er. »Nein«, sagte es und warf ihm den Sack zurück. »Aber du mußt lernen, Kleider zu tragen.« »Wieso denn?« »Weil das ... Weil das sonst unanständig ist.« 108
»Unanständig? Das Wort gefällt mir nicht.« »Aber niemand läuft nackt herum«, sagte Jerry verzweifelt. »Zumindest nicht in der Öffentlichkeit.« »Meinetwegen«, sagte das Mädchen. »Wenn ich muß, dann muß ich wohl. Aber wenn ich schon etwas anziehen muß, dann möchte ich weiche, flauschige Sachen tragen. Seide und Pelze und so.« Jerry stöhnte. »Ich spüre jetzt schon, daß du mich teuer zu stehen kommst. Außerdem brauchst du einen Namen und eine Geburtsurkunde. Mein Gott, du brauchst so viel.« »Wenn man liebt«, sagte Dion, »ist alles möglich.« »Liebt?« wiederholte Jerry und sah das Mädchen prüfend an. Im selben Moment erschrak er. »Ist dir nicht gut, Darling?« fragte er. Sie war sehr blaß. »Doch, wieso?« »Weil du in dich zusammensackst.« »Ich stehe doch ganz gerade.« Es stimmte, aber trotzdem wurde sie immer kleiner. Jerry fuhr zu Dion herum. »Können Sie denn nichts tun?« flehte er. Dion zuckte mit den Schultern. »Die Götter geben und die Götter nehmen.« »Nein!« protestierte Jerry. »Das lasse ich nicht zu. Sie kann mich nicht wieder verlassen. Ich habe sie doch erst gefunden.« Eine Träne lief über die Wange des Mädchens. Sie wischte sie weg und nahm Jerry an der Hand. »Wenn uns nur so wenig Zeit gegönnt ist«, sagte sie, »dann laß sie uns wenigstens nutzen.« Er zog seine Hand wütend zurück.
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»Nein!« rief er. »Ich gebe nicht auf. Es besteht nicht der geringste Grund, daß sie sich in nichts auflösen muß. Es gibt kein Gesetz dafür. Weder natürlich noch übernatürlich.« »Richtig«, stellte Dion fest. »Also besteht doch ein Grund dafür, und wir werden ihn herausfinden und etwas dagegen unternehmen. Warum schrumpft sie zusammen?« »Vielleicht, weil sie Flüssigkeit verliert?« meinte Dion. »Der menschliche Körper besteht schließlich zu siebzig Prozent aus Wasser.« »Ich habe Durst«, sagte das Mädchen. »Es erhebt sich jedoch die Frage: hat sie einen menschlichen Körper?« »Ich habe Durst«, wiederholte das Mädchen. »Aber menschliche Körper schrumpfen nicht«, sagte Dion nachdenklich. »Zumindest nicht so schnell. Bier jedoch besteht aus einundneunzig Prozent Wasser.« »Ich habe Durst«, sagte das Mädchen. »Das ist es!« riefen Jerry und Dion wie aus einem Mund. »Sie ist ein Mensch«, fuhr Jerry fort, »hat jedoch Eigenschaften wie Schaum. Wenn man nicht Bier nachgießt, fällt er zusammen. Wir müssen ihr Bier geben.« »Ich habe Durst«, stöhnte das Mädchen, Es war nur noch einen Meter groß. Jerry packte es an der Hand und riß es mit sich zum Lift. Dion rannte hinterher. Oben im Penthouse standen noch vier Flaschen Bier im Kühlschrank. Sie waren die Rettung. Alles nahm ein sehr glückliches Ende. 110
Das Mädchen bekam eine Geburtsurkunde. Falsch natürlich, aber was die Liebe nicht schafft, schafft manchmal wenigstens das Geld. Und einen Namen bekam das Mädchen auch: Mrs. Gerald Blitz. Das genügte vorerst. Das Mädchen – beziehungsweise die junge Frau war glücklich. Jerry bereute nichts. Das Bier war wirklich rundherum perfekt. Er hatte eine Frau, die hübsch war, unverdorben und naiv. Obwohl sie dreimal pro Nacht geweckt werden und man ihr eine Flasche Bier verabreichen mußte, hörte ihn nie jemand klagen. Außerdem, was ist schon dabei, wenn eine Frau gern Bier trinkt? Jerrys Probleme vereinfachten sich natürlich durch die Tatsache, daß er eine Brauerei besaß. Dion blieb Braumeister, und Jerry gewöhnte sich daran, daß er in regelmäßigen Abständen für eine gewisse Zeit verschwand. Obwohl Dion bei diesen Ausflügen nie betrunken wurde, wurden es die anderen um ihn herum und hatten einen Mordsspaß. Jerry fragte ihn nie, ob sein Taufname tatsächlich Dionysos war. Er machte auch nie eine Andeutung, daß es ihn nicht wundern würde, wenn der Gott, der den Griechen den Wein geschenkt hatte, heute der Welt das Bier schenkte. Auch die Menschen hatten etwas davon. Sie konnten perfektes Bier trinken und wurden dabei nicht durch eine Schaummaid aus der Fassung gebracht. Was im Grunde ein Jammer war.
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Die Zauberkünstler Ich grinste. Kaum ein Kinoplakat, kaum eine Hoteltafel ohne Fehler. Ich ließ den Blick durch die Halle schweifen. Mein Mann war noch nicht da. Irgendwie hatte ich ein ungutes Gefühl. Der Job gefiel mir nicht. Nicht, daß er kompliziert zu werden versprach. Zu einfach war das alles, und die alte Dame zahlte zuviel. Das war der Grund, warum ich mich von tausend Augen beobachtet fühlte, und ein Privatdetektiv neigt von Natur aus zu Neurosen. Verdammt! Warum machte jemand tausend Mäuse locker, nur um den Namen eines Typen herauszubekommen? Ich ging zum Empfang und lehnte mich gegen den Tresen. Ich mußte schließlich den Eingang im Auge behalten. Der Portier sah auf. Jeder kennt den Typ: hager, Mitte dreißig, verbittert und Glatze, die noch mehr glänzt als der gewienerte Fußboden. Nach oben kriechend, nach unten tretend. Zu meinem Pech kannte ich ihn auch noch. »Hallo, Charlie«, sagte ich. »Casey«, meinte er mißtrauisch. »Was verschafft uns die Ehre?« »Geschäfte.« »Mach bloß keinen Ärger, Casey, sonst lasse ich dich hinauskomplimentieren.« »Ich mach keinen Ärger.« »Wird sich zeigen.« »Wer hat denn das auf die Tafel geschrieben?« fragte ich und deutete hin. 112
»Ich. Wieso?« Er sah auf die Tafel, dann in mein Gesicht. »Stimmt doch.« »Ich wollte schon immer einmal an einer Versammlung teilnehmen«, spottete ich, doch plötzlich blieb mir mein üblicher Sarkasmus im Hals stecken. Laut ausgesprochen hatte das Wort etwas Unheimliches an sich, und ein Schaudern lief mir über den Rücken. »Er hat extra darauf bestanden«, sagte Charlie und grinste. »So ein Zufall – da kommt er gerade.« Ich fuhr zusammen. Ein großer Mann mit schwarzen Haaren und grauen Schläfen. Gertenschlank und im Abendanzug. An seinem Revers ein fünfzackiger Stern in Gold. Die Beschreibung paßte. Kein Zweifel – mein Mann. Ich ging hinterher. »Casey!« rief Charlie. Ich kümmerte mich nicht weiter um Charlie und folgte dem steifen, schwarzen Rücken zum Lift. Er stieg hinein, drehte sich um, die Tür glitt zu. Er hatte mir direkt in die Augen gesehen. Sein Blick war tief, schwarz und glänzend. Ich hatte den Eindruck, daß er mich noch durch die Stahltür ansah, Ich beobachtete den Anzeiger über dem Lift. Bei drei blieb er stehen. Ich nahm den anderen Aufzug. »Drei bitte«, sagte ich zu dem Liftboy. Wir glitten lautlos nach oben. Im dritten Stock hielt der Lift. Ich stieg aus. Der Flur mit Teppich ausgelegt. Die Wände beige gestrichen. Dem Lift gegenüber ein goldener Pfeil nach rechts. Darüber in goldenen Lettern KRISTALLSAAL. Ich drehte den Kopf. Eine Doppeltür, aber nur ein Flügel geschlossen. Durch den offenen ging gerade 113
der steife, schwarze Rücken. Neben der Tür ein junger Mann. Er verbeugte sich respektvoll. Ein Türsteher. Geschlossene Gesellschaft. Im Kristallsaal fand eine Versammlung statt. Wieder ein Schaudern über den Rücken. In dem Saal ein namenloser Mann, dessen Namen tausend Dollar wert war. Ein Mann mit Augen wie polierte schwarze Dolche. Ich schob den flachen Revolver in meinem Achselhalfter in eine bequemere Lage und stiefelte hinter dem Mann her, der am Morgen einen Abendanzug trug. Ein kumpelhaftes Lächeln für den Türsteher, der ein freundliches, sonnenverbranntes Gesicht und kurz geschorene Haare hatte. Ich wollte durch die Tür gehen und blieb plötzlich stehen, als sei ich in eine Glaswand hineingerannt. Ich rieb mir die Nase. »Ihr Namensschild, bitte«, sagte der Türsteher. »Namensschild?« wiederholte ich und schnalzte mit den Fingern. »Verflixt, die ganze Zeit weiß ich schon, daß ich etwas vergessen habe. Aber Sie kennen mich doch. Casey aus Kansas City. Ich war letztes Jahr auch hier. Können Sie sich nicht an mein Gesicht erinnern?« Er runzelte die Stirn. »Wie soll ich mich denn an Ihr Gesicht erinnern können?« Au weh! dachte ich. Das heißt, daß er sich nicht erinnern kann, weil er mein Gesicht noch nie gesehen hat. »Vielleicht habe ich das Schild doch in der Tasche«, sagte ich und kramte in meinem grauen Flanellanzug herum.
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Da bleibt nur ein eleganter Rückzug, dachte ich und spürte plötzlich etwas Glattes, Rechteckiges zwischen meinen Fingern. Ich zog es aus der Tasche. Es war ein Namensschild. Der Türsteher warf einen Blick darauf und nickte. »Gabriel«, sagte er. »Stecken Sie es an. Es ist Pflicht.« »Klar«, sagte ich und ging vorsichtig in den Saal, aber es gab keine unsichtbare Wand mehr. Drinnen betrachtete ich als erstes das Schild. In der Mitte war ein rundes Siegel. Wer mich nicht Gabriel nennt, zahlt fünf Dollar, war quer darüber gedruckt. Das war zwar recht komisch, aber noch komischer war die Tatsache, daß ich dieses Schild plötzlich in meiner Tasche gefunden hatte. Gabriel, dachte ich. Einer der Erzengel. Fliegender Bote und Trompetenspieler. Das war vielleicht ein Name. Versammlung. Augen in der Lifttür, unsichtbare Wände, Engel. Das dritte Schaudern. Der Kristallsaal war vielleicht nicht der größte Raum, den das Hotel zu bieten hatte, aber dafür der eleganteste. In der Mitte hing ein riesiger Kristallüster von der Decke, links und rechts davon zwei kleinere. Decke und Wände waren altrosa gestrichen. Der Boden war mit burgunderrotem Teppich ausgelegt. Die geschliffenen Glastropfen der Lüster nahmen das Rosa und das Rot in sich auf und gaben die Farben vermischt wieder. An einem Ende des Raums war eine Bühne aufgebaut. Das Podium war mit schwarzem Samt verkleidet, die Rückwand bildete ein schwerer schwarzer Samtvorhang. Davor standen in einer ordentlichen 115
Reihe Stühle, vor den Stühlen wiederum ein Rednerpult. Zwischen dem Eingang und der Bühne Reihen von Holzstühlen. Ich zählte dreizehn zu jeweils dreizehn. Ein paar Plätze waren schon besetzt, die meisten Besucher standen jedoch noch in Gruppen herum und unterhielten sich. Meinen Mann sah ich nicht. Die Szene war typisch. Für hunderte von Meetings in hunderten von Hotels quer über das Land verstreut. Einmal im Jahr treffen sich Männer und Frauen, um ihre gemeinsamen Interessen zu diskutieren, um fachzusimpeln, um die letzten Neuerungen kennenzulernen, um den Fortschritt voranzutreiben. Und – um gleichzeitig zu trinken, zu intrigieren und zu flirten. Die Männer hier waren alle gepflegt gekleidet, allerdings nicht einer im Abendanzug. Die Frauen – sie waren in der Minderheit – waren samt und sonders jung und hübsch. So viele hübsche Frauen hatte ich noch nie auf einem Haufen gesehen. Aber, weshalb traf man sich? Welchen Beruf hatten diese Leute? Waren sie Lehrer, Mediziner, Juristen – was waren sie eigentlich? Wenn ich mich ein paar Schritte weiter nach rechts stellte, konnte ich die Rothaarige besser sehen. Ich ging ein paar Schritte weiter nach rechts und stolperte. Ich kippte nach vornüber und suchte nach Halt. Meine Arme umklammerten etwas weich gerundetes. Ich schnappte nach Luft und sah in tiefblaue Augen, in denen der Schalk saß. Ich lag in innigster Umarmung mit einer Figur, von der jeder normale Mann träumt.
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»Rothaarige«, sagte eine weiche, verführerische Stimme, »haben eben immer Pech. Sie können ruhig loslassen. Sie fallen bestimmt nicht mehr.« Ich ließ die Arme sinken. »Ich muß über etwas gestolpert sein«, sagte ich und ließ den Blick über den Teppich schweifen, aber nichts, über das man hätte stolpern können. »Besser stolpern als hinfallen«, sagte die Rothaarige. »Vor allem für La Voisine, die alte Hexe.« Jetzt sah ich sie mir genauer an. Sie war zwar auch hübsch, aber nicht in dem Maß, wie die anderen Frauen im Raum. Die tiefblauen Augen und die roten Haare ergaben einen interessanten Kontrast, aber die Züge waren nicht perfekt. Die Augen waren zu groß, die Nase zu klein und zu gebogen. Der Mund war zu sinnlich, das Kinn zu energisch. Ihre Haut jedoch war makellos, und die Figur – siehe oben. Sie war Anfang zwanzig, also zehn Jahre jünger als ich. Die anderen Frauen sahen auch nicht viel älter aus, aber irgendwie reifer. Die Jugend der Rothaarigen zeigte sich in einem schelmischen Grinsen. Sie wurde von den anderen beobachtet, aber das schien sie nicht zu stören. Sie lachte. »Hier, ein Programm, Gabriel.« Sie nahm eine Art Broschüre von dem Stapel neben sich und gab sie mir. Ich nahm sie und fragte mich, ob sie wohl ungewöhnlich gute Augen hatte. Ich hielt das Namensschild nämlich immer noch in der Hand. Ich beugte mich nach vorn, um den Namen von dem Schild abzulesen, das am Ausschnitt ihres aufregenden weißen Strickkleids steckte. 117
Wer mich nicht Ariel nennt, zahlt fünf Dollar, stand darauf. »Ariel?« fragte ich. »Wo ist Prospero?« »Er ist tot«, antwortete sie. »Oh«, sagte ich. Wenn man nicht eingeweiht ist, macht man unter Garantie die falsche Bemerkung. »Vielen Dank für das Programm, Ariel. Und für die Stütze.« »Jederzeit«, sagte sie. Ich wollte gehen, aber ein großer Mann mit weißen Haaren versperrte mir den Weg. »Ariel«, sagte er über meinen Kopf hinweg, »das mit deinem Vater hat uns alle sehr getroffen. Die Gesellschaft wird ihn sehr vermissen.« Sie murmelte etwas, während ich auf das Schild an der breiten Brust sah. Der Mann wollte Samuel genannt werden. »Ich finde es entwürdigend, daß du hier wie eine Neubekehrte Programme verteilst«, sagte Samuel. »Auf die Bühne gehörst du.« »Ach was«, antwortete Ariel. »Ich habe mich freiwillig dazu gemeldet. Ich bin doch noch ein blutiger Lehrling.« »Unsinn!« sagte Samuel. »Wenn es je jemand gegeben hat, der von vornherein alles beherrscht hat, dann bist du es. Du nimmst es doch mit jedem einzelnen von uns auf.« »Entschuldigen Sie«, sagte ich und wollte mich verziehen. »Samuel«, sagte Ariel. »Das ist Gabriel.« Der weißhaarige Mann inspizierte mich.
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»So, so, Gabriel«, sagte er. »Ich habe schon tolle Sachen von Ihnen gehört. Man erwartet große Dinge von Ihnen. Wirklich große Dinge.« Er hatte von mir gehört? »Nichts haben Sie gehört«, sagte ich, »wenn Sie mich nicht gehört haben, wie ich Trompete spiele.« »Genau, genau.« Er wandte sich wieder an Ariel. »Wie ist dein Vater denn gestorben, mein Kind?« »Tja«, antwortete Ariel, »er ist einfach langsam dahingeschwunden.« »Langsam dahingeschwunden?« Der weißhaarige Mann wurde blaß. »Du meine Güte – einfach langsam dahingeschwunden.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist traurig. Sehr traurig. Aber wir müssen ja alle einmal abtreten. Also dann, auf Wiedersehen, mein Kind.« Ariel starrte hinter dem Mann her, der sich schnell aus dem Staub gemacht hatte. »So ist es immer«, sagte sie. Genau in dem Moment tauchte mein Mann plötzlich auf. Er stieg auf das Podium. »Wer ist denn das?« fragte ich. »Wenn ich das wüßte«, antwortete Ariel. »Vielleicht ein Fremder?« Ich tat entsetzt. »Nein, natürlich nicht.« »Sondern?« »Er ist der Magus.« »Der Magus?« »Ja, so nennen wir unseren Vorsitzenden.« »Und wie heißt er?« »Er nennt sich Solomon.« »Aha«, sagte ich. »Bis dann, Ariel.«
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Die Plätze waren inzwischen fast alle besetzt. Nur in der letzten Reihe saß niemand. Da nahm ich Platz. Die Kristallüster bewegten sich leicht, und die Glastropfen klirrten, obwohl sich nicht das leiseste Lüftchen regte. Ich war nicht zufrieden mit mir. Wie ein Nilpferd hatte ich mich benommen. Das rothaarige Mädchen wußte jetzt, daß ich nicht dazu gehörte. Allerdings schien es ihr egal zu sein. Und wer wußte es noch? Alles hatte so einfach ausgesehen. Zumindest anfangs. Hier sind tausend Piepen. Nur den Namen des Mannes. Was ist schon ein Name? Gabriel, Ariel, Prospero, Samuel, La Voisine – und wie ist die eigentlich hereingekommen? Und dann natürlich Solomon, der Magus. Das hätte ich der alten Dame sagen sollen: was ist schon ein Name? In meinem Büro war ich gehockt und hatte nach altgewohnter Weise mit mir selbst geredet. Und mit einem Fünfundzwanzigcentstück – meinem letzten – hatte ich gespielt. »Einen anderen Job solltest du dir suchen, du Esel. Oder willst du verhungern?« »Halt’s Maul!« »Privatdetektiv -daß ich nicht lache! Aber dir kann man ja alles einreden.« »Erinnere mich nicht daran.« »Wer verdient denn heutzutage noch sein Geld als Lehrer? Nimm doch endlich am Leben teil. Da, wo die Kohlen sind, da spürst du den Pulsschlag der Welt.« »Von wegen!« 120
»Ehrlich! Teilhaber – was willst du mehr?« »Okay, okay.« »Und jetzt? Alles beim Teufel. Das mühsam zusammengesparte Geld auch. Ein kompletter Reinfall. Los, ziehe deine Konsequenzen daraus, suche dir einen Job. Arbeite wieder als Lehrer.« »Jetzt mitten im Schuljahr?« »Dann eben nicht als Lehrer. Knochenarbeit, da brauchst du wenigstens kein Hirn. »Das gemeinsame Bankkonto abgeräumt, und der Herr Teilhaber in Afrika oder Südamerika. Einfach abgehauen . . .« Ich hatte hochgesehen. Die alte grauhaarige Dame hatte völlig verloren ausgesehen in dem großen Sessel, dem einzig respektablen Möbelstück in meinem Büro. Außer dem Schreibtisch natürlich, der allerdings ganz schön verkratzt war von meinen Absätzen. Und der Kuckuck klebte auch darauf. Ich mußte ein ziemlich dummes Gesicht gemacht haben. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören. »Ich habe geklopft, aber keine Antwort bekommen«, hatte sie gesagt und mit den blaßblauen Augen geblinzelt. »Ich wollte etwas Geschäftliches mit Ihnen besprechen.« »Geschäftliches?« »Ja, ich möchte Sie bitten, jemand für mich ausfindig zu machen. Einen Mann.« »Wen denn?« »Wenn ich das wüßte, brauchte ich keinen Privatdetektiv, oder?« Die Bemerkung war recht spitzig gewesen. »Der Mann wird morgen zwischen neun Uhr dreißig und zehn Uhr in das Hotel an der Ecke 121
kommen. Sie erkennen ihn auf den ersten Blick. Ich bin überzeugt davon, daß er groß sein wird und schlank. Unter Garantie dunkle Haare, graue Schläfen und im Abendanzug.« »Um zehn Uhr morgens?« »Ja. Und am Revers wird er einen fünfzackigen Stern tragen.« »Einen was?« »Einen fünfzackigen Stern aus Gold mit eingravierten Symbolen.« Ich hatte genickt, als sei mir das durchaus ein Begriff. »Sie sagen ,unter Garantie’? Wie meinen Sie das? Haben Sie den Mann noch nie gesehen?« »Doch, doch. Erst gestern habe ich ihn gesehen, und ich bin überzeugt davon, daß er sich nicht die Mühe macht. Sich zu verändern, meine ich.« »Sich?« fragte ich. »Kleidung oder das Gesicht?« »Beides. Ich sehe schon, jetzt habe ich Sie völlig durcheinander gebracht. Dabei wollte ich das gar nicht.« Natürlich nicht! Da sollte sich einer auskennen. Gleich in dem Moment hätte ich den Kram hinschmeißen sollen – aber nein. Mein Blick war auf mein letztes Fünfundzwanzigcentstück gefallen, und was war daneben gelegen? Ein Tausender. Ich hatte ihn in der Hand gedreht. Was für ein angenehmes Rascheln. Und echt war er mir auch noch vorgekommen. Ich hatte die kleine alte Dame angesehen. »Meinen Sie, das reicht?« hatte sie gefragt. »Für den Anfang schon.« Es hatte ein Späßchen sein sollen. »Der Mann kommt also gegen zehn in
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die Hotelhalle, ich sehe ihn und gehe hinter ihm her.« »Aber er darf es nicht merken. Unter keinen Umständen. Das könnte nämlich gefährlich werden.« »Aha – gefährlich.« Ich hatte auf den Schein gestarrt. Vielleicht war das Honorar doch nicht so großzügig. Nicht, daß ich die Gefahr fürchte, aber ich reiße mich nicht darum. Und schon gar nicht um Gefahr im Gegenwert von tausend Dollar. »Ich beschatte ihn also – und dann?« »Dann bringen Sie seinen Namen heraus.« »Seinen Namen?« »Ich verstehe. Er versteckt sich hinter einem Pseudonym.« Sie zögerte. »So könnte man es nennen. Sie dürfen nicht vergessen, daß er im ... im Verkleiden sehr geschickt ist. Wenn Sie ihn in ein Auto steigen sehen und nach zwei Blocks eine total andere Person aussteigt, dürfen Sie sich nicht wundern. Aber wie gesagt, ich will nur seinen Namen wissen.« »Wird erledigt.« Den Auftrag hatte ich mit dem besten Willen nicht ablehnen können. Ich hatte mir folgendes überlegt: die Alte tickt nicht richtig, aber wenn ich den Auftrag nicht annehme, schiebt ein anderer den Tausender ein, speist sie mit irgendeinem Namen ab und damit basta. »Wo kann ich Sie erreichen, Miß ...« »Mrs.!« hatte sie mich verbessert. »Mrs. Peabody. Gar nicht.« Sie war aus dem Sessel gehüpft. »Ich werde mich wieder bei Ihnen melden.« Noch ein Zwinkern und weg war sie gewesen.
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Ich war aufgesprungen und mit drei Sätzen an der Tür gewesen. Ich hatte sie aufgerissen und nach beiden Seiten gespäht. Keine Menschenseele. Solomon. Na und? Es gab eine Menge Leute, die Solomon hießen. Ich kannte sogar einen. Mein Flickschneider hieß Solomon mit Vornamen. Aber er hatte natürlich auch einen Nachnamen. Ich betrachtete das Programm. Es war in schwarzes Glanzpapier gebunden. In der Mitte eine Art Siegel aus zwei konzentrischen Kreisen, die eine geometrische Figur einschlossen, die an den Plan einer ägyptischen Pyramide erinnerte. Und dann noch irgendwelche Schriftzeichen, die ich nicht entziffern konnte. Das Siegel war das gleiche wie das auf meinem Namensschild. Ich blätterte durch das Programm. Es war voll von Reklame. Ich las die Texte mit Interesse. Durch sie konnte ich etwas mehr Einblick in diesen Verein bekommen. PENTAGRAMME VON GARANTIERTER WIRKSAMKEIT stand da zum Beispiel. Geweiht – bei Versagen Geld zurück. Pentagramme? Ich hatte keine Ahnung, was das ist, aber wenn ich je ein Pentagramm brauchte, dann wußte ich jetzt wenigstens, wo ich es mir besorgen mußte. 100 Zaubersprüche für alle Gelegenheiten. Verbesserte Auflage mit mathematischen und verbalen Äquivalenten in Gegenüberstellung. Bei Versagen Geld zurück. Zaubersprüche? Ich runzelte die Stirn.
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Eine Seite weiter kam eine lange Liste von Büchern, die man in der Thaumaturgischen Buchhandlung erstehen konnte. Die Preise waren beeindruckend. Unter hundert Dollar wurde nichts angeboten. Und erst die Titel! D. Joh. Faust: Geister und Höllenzwang D. Joh. Faust: Der Große und Gewaltige Höllenzwang Schwarzer Heißhunger Magia Naturalis De Officio Spirituum Und so weiter und so fort. Als letzter Titel wurde etwas besonders Preiswertes angeboten: Der Wahre Schlüssel Solomons von Clavicula Solomonius, handschriftliches Manuskript des Autors – zehntausend Dollar. Ich überblätterte das Tagesprogramm und widmete mich weiter der Reklame. Man ahnt ja gar nicht, was es alles zu kaufen gibt. Und dann stößt man plötzlich rein zufällig auf eine einschlägige Broschüre und ist fasziniert. Magische Ruten (aus jungfräulichem Haselstrauch geschnitten), Federkiele (von der dritten Feder des rechten Flügels eines Gänserichs). Kummethölzer (in Maulwurfblut getränkt), schwarze Hennen und Hasen, Nägel (aus dem Sarg eines Hingerichteten), Friedhofstaub (mit Garantie) . . . Es war wirklich faszinierend. Was diese Leute miteinander verband, hatte ich jetzt auch begriffen. Sie waren Zauberkünstler und die Namen, die sie benutzten, waren ihre Künstlernamen. Die Dinge, die hier feilgeboten wurden, waren ihr Handwerkszeug. 125
Ich nahm mir das Tagesprogramm vor: 30. Oktober 10.30 Zauberspruch und Begrüßung durch den Magus 10.45 Hexerei 10.50 Sicherheit in Zahlen 11.00 Die Grundelemente der Kunst 11.30 Ansteckung -warum Zaubersprüche wirken 12.00 Imitation – Die seriöseste Form der Zauberei 12.30 Calculus – der Weg zu besseren Formeln 13.00 Pause 15.00 Praktische Übungen 16.00 Alexander Hamiltons Rabe 17.00 Lykanthropie – Eine Demonstration Der kalte Schweiß brach mir aus. Was Lykanthropie bedeutet, wußte ich: die Verwandlung in einen Werwolf oder dergleichen. Und das wollen sie demonstrieren? Verrückt waren sie alle miteinander. Drei Kreuze würde ich schlagen, wenn ich da wieder draußen war. »Sie gehören nicht hierher«, sagte plötzlich jemand neben mir. Ich sah auf. Ariel saß neben mir, den Kopf ganz nah an meinem. Normalerweise hätte mich das nicht gestört. Im Gegenteil. Aber unter den gegebenen Umständen wurde mir gleich ganz mulmig. »Wieso?« fragte ich. »Weil man das merkt. Solomon war Ihnen kein Begriff. Sie benehmen sich wie jemand, der keine Ahnung hat, und ich weiß auch zufällig, daß Gabriel nicht mehr lebt.« »Schwand er etwa dahin?« fragte ich mit zitternder Stimme. 126
»Nein, er wurde überfahren. Aber ich glaube, es weiß niemand.« Ich hatte also das Namensschild eines Toten! »Jetzt reicht’s mir«, sagte ich. »Ich gehe.« Ich wollte aufstehen, aber Ariel drückte mich auf den Stuhl zurück. »Sie können jetzt nicht gehen«, flüsterte sie. »Das würde auffallen. Sie werden mißtrauisch, die anderen, und Risiken gehen sie keine ein. Ich verrate Sie schon nicht. Warten Sie bis zur Mittagspause, wenn alles geht.« Ich deutete auf das Tagesprogramm. »Aber diese . . . diese...« Sie sah mich mit großen unschuldigen Augen an. »Das ist doch alles bloß Zauberei.« »Zauberei«, wiederholte ich, »bloß Zauberei.« »Natürlich«, sagte Ariel. »Was haben Sie denn gedacht?« Zum Glück blieb mir eine Antwort erspart, denn der Mann, der Solomon genannt werden wollte, stand plötzlich hinter dem Rednerpult und bat mit einer gebieterischen Handbewegung um Ruhe. Alles schwieg. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war tief und klar, und ich verstand kein einziges Wort. Seine Hände flatterten wie weiße Geistervögel. Er beendete den ersten Teil seiner Rede, lächelte und ging zur Begrüßung über. Ariel rückte noch näher an mich heran. »Das erste war ein ägyptischer Zauberspruch«, flüsterte sie. »Er hat darum gebeten, daß wir täglich gesegnet sein mögen.« »Wie nett von ihm«, sagte ich. 127
Die ersten fünf Redner waren so trocken und humorlos, wie Spezialisten eben sind. Die Zuhörer gähnten und ließen die Ausführungen gelangweilt über sich ergehen. Und ich, ich war baß erstaunt. Ein solches Maß an Pedanterie war mir selten begegnet. Dazu kam der pragmatische Glaube an die Zauberei und ihre Existenz als Mittel zum Zweck. Fachausdrücke schwirrten durch den Saal, praktische Beispiele wurden gezeigt, Zaubersprüche, Riten, gewundene Rauchsäulen, aus denen übermenschliche Fratzen grinsten. Der letzte Redner des Vormittags, ein kleiner Mann mit roten Wangen und einer leuchtenden Glatze, kam mit einem dicken, handgebundenen Manuskript auf die Bühne. Er ließ einen hoffnungsvollen Blick über sein Publikum schweifen und fing damit an, ein paar einleitende Worte mit hoher, schriller Stimme zu sprechen. Er vertrat die Theorie, daß durch die Entwicklung in der Hohen Mathematik zum erstenmal seit Menschengedenken physische Phänomene kontrollierbar gemacht worden seien. Die hier versammelte Gesellschaft müsse es sich zur Aufgabe machen, meinte er, die Theorie zu einer Wissenschaft umzufunktionieren und dürfe sich nicht weiterhin mit Lappalien abgeben. Gemurmel im Saal. Man brachte dem kleinen Mann wenig Wohlwollen entgegen. »Wer ist das denn?« fragte ich Ariel im Flüsterton. Sie saß sehr aufrecht da und beobachtete die anderen. 128
»Uriel«, antwortete sie und seufzte. Wie ursprünglich geplant, fuhr Uriel fort, habe er seine Forschungen weiter betrieben und erlaube sich nun, seine Ergebnisse kurz aufzuzeigen. Er bat um eine Tafel. Sie wurde hinter ihm aufgestellt, wollte aber um alles in der Welt nicht stehenbleiben. Sie hüpfte und tanzte, und Uriel hatte seine liebe Mühe, etwas darauf zu schreiben. Das Publikum kicherte. Uriel behielt die Nerven. Wie ein vielgeplagter Lehrer schlug er die Augen zur Decke. »Ein Witzbold ist doch immer dabei«, stellte er gelassen fest. »Aber das haben wir schnell. Die dafür nötige verbale Formel kennen Sie alle. Sie wirkt manchmal, meistens jedoch nicht. Mathematisch entspricht sie folgendem . . .« Er zeichnete zwei Pfeile, deren Spitzen nach unten zeigten, auf die Tafel. Darüber schrieb er eine komplizierte Formel mit Wurzeln, Klammern und Quadraten, mit griechischen Buchstaben und arabischen Zahlen. Er hatte kaum den letzten Strich getan, als die Tafel auch schon ruhig stand. »So«, sagte er. »Und jetzt wollen wir fortfahren.« Leider verstieg er sich jetzt in die Geschichte der höheren Analyse, zitierte Newton und Leibnitz und langweilte so seine Zuhörer. »Der Vorteil der höheren Analyse«, schloß er, »liegt auf der Hand. Sie drückt klar und deutlich aus, was das Verbale nur andeutungsweise darstellen kann. Genauigkeit sollte unser erstes Gesetz sein. Genauigkeit und Begrenzung. Ein Glas aus der Küche ins Wohnzimmer zu wünschen, um dann Scherben auf dem Tisch zu haben – so etwas lehne ich 129
grundweg ab. Genauigkeit und Begrenzung, das fordere ich. Wer seine Formeln verbessern will, muß sich in der höheren Analyse auskennen.« Dann drehte er sich zur Tafel um, schrieb eine Formel darauf, und die Tafel verschwand. Sie verschwand einfach. Ohne Rauch, schwarze Vorhänge oder Gaukelei. Alle Anwesenden applaudierten. Uriel bedankte sich mit einem Nicken und verließ die Bühne. Ariel, neben mir, war begeistert. »Das hat den anderen aber nicht sonderlich gefallen«, sagte ich. »Weil sie zu faul sind, etwas Kompliziertes zu lernen«, sagte Ariel. »Dabei ist er eine so große Hilfe. Der gute Uriel. Jahr für Jahr kommt er und versucht, sie auf den richtigen Weg zu bringen, aber alles lacht nur über ihn.« Diejenigen, die sich nicht schon während Uriels Ausführungen aus dem Staub gemacht hatten, standen auf und verließen den Saal. Ich ging mit Ariel hinaus. Ich war wie benommen und versuchte, mich davon zu überzeugen, daß ich den ganzen Spuk nicht glaube. Aber ich hatte es ja mit eigenen Augen gesehen. Diese Leute waren keine Wanderzirkuszauberer, sie waren echte Zauberer. Und das mitten im 20. Jahrhundert. Sie übten die Zauberei aus, hatten Erfolg damit und hielten Treffen ab wie Tierärzte, Apotheker, Juristen und weiß der Kuckuck wer. Und dabei waren sie weniger suspekt als jeder normale Bürger.
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»Ariel«, rief ich. »Ariel!« Sie wollte mich stehen lassen, dabei war sie doch meine einzige Brücke zur Wirklichkeit. »Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Umsonst ist der Tod«, sagte sie. »Und der kostet das Leben.« »Was verlangen Sie?« »Ein Steak. Und zwar ein dickes.« »In Ordnung«, sagte ich. Am Lift warteten an die fünfzig Menschen. »Gehen wir zu Fuß«, schlug Ariel vor. Wir taten es. »Wer will mich eigentlich davon abhalten, alles auszuplaudern?« fragte ich. »Würde man Ihnen denn glauben?« fragte Ariel dagegen. »Nein«, sagte ich. »Aber man könnte Millionen damit verdienen. Denken Sie nur einmal an Regen.« Ariel lächelte. »Sie stellen sich das alles so einfach vor.« »Schon, aber. . .« Mir blieb der Satz im Hals stecken. Wir waren schon eine ganze Zeit die Treppe hinuntergegangen, aber sie hörte einfach nicht auf. Eine Stufe nach der anderen, bis sie in der Ferne schließlich im Dunst verschwanden. Ich drehte mich um und sah hinauf. Genau das gleiche. Endlose Stufen. »Wo sind wir denn um Gottes willen?« fragte ich, Panik in der Stimme. »Ach du meine Güte«, sagte Ariel und sah sich um. »Das sieht ganz nach einer Falle aus.« »Nach einer Falle?« schrie ich. »Einer Art Labyrinth.« Sie tätschelte meine Hand. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren. Der Fall ist 131
ganz einfach. Wir müssen uns nur hinsetzen, bis ich meinen Einfluß geltend machen kann. Natürlich sind Menschen in einer solchen Situation schon verhungert, aber es besteht wirklich keine Gefahr – es sei denn, Sie verlieren die Nerven.« Ariel setzte sich auf die Treppe, und ich mich neben sie. Sie zog ein paar Klammern aus den Haaren und bog sie irgendwie zurecht. »Sie können ruhig reden«, sagte sie. »Mich stören Sie nicht.« »Wie lange können Menschen denn schon dererlei Dinge tun?« fragte ich zittrig. »Noch nicht sehr lang. Eigentlich erst seit mein Vater und Uriel mit der mathematischen Auslegung alter Zaubersprüche zu experimentieren begannen. Uriel wollte die Ergebnisse in einer Fachzeitschrift veröffentlichen, aber mein Vater hat ihm davon abgeraten. Er meinte, sie würden dann an die Öffentlichkeit herantreten, wenn genug Versuchsmaterial vorlag. Mit einigen vertrauenswürdigen Freunden zusammen haben sie diese Gesellschaft gegründet und . . .« »Reizende Freunde«, fiel ich ihr ins Wort und deutete die endlose Treppe hinunter. »Die Gesellschaft wuchs und wuchs«, sagte Ariel. »Ein Mitglied nach dem anderen setzte sich dafür ein, daß dieser oder jener Kollege aufgenommen wurde. Außerdem hat es schon immer eine gewisse Anzahl von ausübenden Zauberern und Hexen gegeben. Das sind natürlich keine Meister ihres Fachs – verstehen Sie mich nicht falsch – aber auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn. Sie haben herausbekommen, daß die Gesellschaft existiert und 132
haben verlangt, aufgenommen zu werden. Mein Vater fand, daß es besser sei, sie nicht abzulehnen. Er wollte sie wenigstens im Auge behalten.« Sie brach ab. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich gab ihr mein Taschentuch. Sie wischte sich die Augen trocken und lächelte. »Es war leider ein Fehler«, fuhr sie fort. »Bald hatten die anderen die Oberhand und stellten neue Regeln auf. Heute ist die Gesellschaft lediglich noch ein Verein von Leuten, die keine echte Macht haben und die Zauberkunst dazu benutzen, sich Vorteile zu schaffen. Im letzten Jahr hat mein Vater dann als damaliger Magus verlangt, daß man an die Öffentlichkeit herantritt, die Versuchsergebnisse vorlegt und versucht, durch Beteiligung der Öffentlichkeit die Zauberkunst noch weiter voranzutreiben. Sein Antrag wurde abgelehnt. Er hat daraufhin ein Ultimatum gestellt. Ein Jahr Bedenkzeit hat er den anderen gelassen. Wenn sie nach Ablauf dieses Jahres immer noch dagegen seien, hat er gesagt, würden Uriel und er eigenmächtig handeln.« »Und dann?« fragte ich. »Einen Monat später starb er.« »War es Mord?« »Er schwand einfach dahin.« Sie stand auf. »Kommen Sie.« Ariel hatte ein V-förmiges Gebilde in der Hand, das sie aus den Klammern gemacht hatte. Sie hielt es an den beiden Enden, murmelte etwas und ging steif ein paar Stufen hinauf. Sie blieb wieder stehen und drehte sich einer Wand zu. Ich stolperte hinterher und sah gerade noch, wie sie durch die Wand ging. Dann war ich allein. 133
Eine Sekunde später kam eine weiße Hand aus der Wand, packte mich und zog mich nach vorn. Einen halben Meter vor der Wand machte ich die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, war ich in der Hotelhalle. Ich drehte mich um. Die Treppe führte zu einem Absatz und von dort aus in den Zwischenstock. Ich sah Ariel an. Meine Knie zitterten, aber ich konnte meine Stimme beherrschen. »Und was wäre passiert, wenn wir weiter nach unten gegangen wären?« fragte ich. Sie weigerte sich, mir zu antworten. Ariel bekam ihr Steak und aß mit einem Appetit, daß es eine Freude war. Mir gefiel das Mädchen immer besser. Es war hübsch, talentiert und natürlich. O Gott — Talent, dachte ich und fing schnell an zu reden. »Menschen schwinden nicht einfach dahin«, sagte ich. »Kurz vor seinem Tod hat mein Vater seinem Freund Uriel erzählt, daß jemand eine Messe für ihn gelesen hat. Aber da war sein Geist schon am Wandern.« »Eine Messe?« »Ja, eine schwarze Messe. Mein Vater hat seinen Fehler eingesehen. Er hätte die Kunst der Welt zugänglich machen sollen. Zumindest von dem Moment an, wo er Beweise hatte.« »Oder die Beweise verbrennen«, meinte ich. »Das haben sie sich auch überlegt«, sagte Ariel. »Aber jemand wäre ja doch darauf gekommen. Je-
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mand mit weniger Skrupeln. Einer von denen, die sich in die Gesellschaft eingeschlichen haben.« »Sind sie denn dazu in der Lage?« fragte ich. »Ich meine, jemand dahinschwinden zu lassen?« Ariel zuckte mit den Schultern. »Vater war immer übervorsichtig. Abgeschnittene Fingernägel, ausgekämmte Haare – er hat alles verbrannt. Mit dererlei Dingen zu experimentieren haben wir nicht gewagt, Gabriel. Aber . . .« »Ich heiße nicht Gabriel«, unterbrach ich sie. »Ich heiße...« »Pst!« Ariel sah ängstlich um sich. »Sie dürfen Ihren echten Namen nicht sagen. Wer ihn kennt, hat Macht über Sie. Das war es wohl auch, was Vater passiert ist. Einige kannten seinen Namen, und jemand muß ihn erwähnt haben.« »Wem gegenüber?« »Solomon«, flüsterte sie und sah sich wieder um. »Er war von eh und je der Rivale meines Vaters. Er war der Anführer der Gruppe, die gegen die Veröffentlichung waren. Und nach dem Tod meines Vaters hat sich Solomon zum Magus gemacht. Jetzt wird natürlich niemand mehr den Antrag stellen und darauf drängen, daß die Öffentlichkeit eingeweiht wird.« »Aber Uriel und Sie, Sie könnten doch der Presse ...« Sie wurde blaß. ..Unmöglich! Sie ahnen ja nicht, wozu Solomon in der Lage ist. Nur mein Vater hätte ihm Widerstand entgegensetzen können, aber er ist nicht mehr. Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie schlecht Uriel ausgesehen hat? Ich habe Angst, Gabriel.
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Wenn Uriel eines Tages nicht mehr da ist, bin ich ganz allein.« »Wenn Sie seinen Namen wüßten«, sagte ich langsam, »hätten Sie eine Waffe gegen ihn. Er könnte Ihnen nichts anhaben.« »Sie haben recht«, sagte Ariel aufgeregt. »Können Sie seinen Namen in Erfahrung bringen, Gabriel? Ich bezahle Sie. Ich würde alles . . .« Ich runzelte die Stirn. »Was glauben Sie denn, was ich bin?« Ariel überlegte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie ruhig. »Was sind Sie?« »Privatdetektiv«, antwortete ich. »Und ich habe bereits einen Auftraggeber.« »Aber doch nicht Solomon, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Solomon.« »Dann könnten Sie es doch für mich tun. Was will denn der andere Auftraggeber von Ihnen?« »Dasselbe wie Sie.« »Dann macht es doch bestimmt nichts aus, wenn Sie mir den Namen auch sagen, oder? Bitte, Gabriel.« Sie sah mich mit flehenden Augen an. »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich. Sie atmete auf. »Wer ist denn der andere Auftraggeber?« »Eine Mrs. Peabody. Eine kleine, alte Dame. Kennen Sie eine Mrs. Peabody?« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann jeder sein. Wir benutzen alle Decknamen, und die meisten verändern auch noch ihr Aussehen, um ja unerkannt zu bleiben.« Ich erschrak.
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»Soll das heißen, daß Sie in Wirklichkeit anders aussehen?« fragte ich. »Ich doch nicht.« Ariel lächelte unschuldig. »Mich kennt jeder.« »Was die Sache mit Solomon nur noch schwieriger macht. Kein Name, kein Gesicht. Wenn wir annehmen, daß er Amerikaner männlichen Geschlechts und erwachsen ist, können wir unter sechzig Millionen Menschen wählen.« Ich schnalzte plötzlich mit den Fingern und stand auf. »Was ist denn jetzt los?« fragte Ariel. »Ich habe eine Idee.« Ich lief durch die Halle zur Rezeption. Charlie setzte sein verbindliches Gesicht auf, sah auf und legte es sofort wieder ab. »Der Typ«, sagte ich, »der angeordnet hat, daß der Anschlag da an die Tafel gepinnt wird, wohnt der im Hotel?« Charlie runzelte die Stirn. »Willst du mich irgendwie reinlegen?« »Nein, Ehrenwort!« »Dann meinetwegen. Er hat das Penthouse gemietet.« »Und sein Name?« »Solomon Magus«, sagte er. Sauber, dachte ich. Das nenne ich Frechheit. Er ist so überzeugt von der Dummheit der anderen, daß er es nicht mehr nötig glaubt. Er kann sich das leisten. Läßt Rückschlüsse auf seinen Charakter zu. Das kann ihm das Genick brechen.
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»Danke«, sagte ich und ging wieder zu Ariel. »Was sollte diese Falle bedeuten?« fragte ich sie. »Warum haben Sie das getan?« »Es war eine Warnung«, meinte Ariel. »An dich oder an mich?« »Ich habe gedacht, an mich. Aber jetzt. . .« »Ja«, sagte ich. »Benimm dich anständig, sonst!« »Und was wollen Sie jetzt unternehmen?« fragte Ariel. »Ich mag Warnungen nicht«, sagte ich. Ariel und ich trennten uns, nachdem wir übereingekommen waren, daß es besser war, wenn man uns nicht zusammen sah. Ich quälte mich allein durch das Programm des Nachmittags. Der Unterschied zum Vormittag war mehr als spürbar. Ich paßte erstens mehr auf und hatte zweitens mehr Angst. Zauberei! Alles echt und prosaisch und das Letztere war das Schlimmere. Einer zum Beispiel erzählte von Hausgeistern und deren Anwendung. Eine unsichtbare Hand blätterte die Seiten seines Manuskripts um. Ein Wasserglas schwebte von selbst an seinen Mund. Man kann es auch mit weniger Aufwand mit der eigenen Hand tun, dachte ich gerade, als sich jemand aus dem Publikum empörte. »Beweise will ich sehen!« rief derjenige. Solomon stand sofort neben dem Redner. »Würden Sie bitte aufstehen und sich zeigen!« rief er in den Saal hinein. Ein kleiner Mann stand auf. Es war Uriel. Seine Glatze glänzte.
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»Welchen Beweis hat der Redner?« fragte er. »Ich meine, daß Hausgeister wirklich existieren? Woher kommt diese mysteriöse Intelligenz?« »Aber Sie haben doch gerade selbst gesehen . . .« Der Redner deutete auf das Glas und das Manuskript. »Reine Telekinese«, sagte Uriel. »Das kann jeder. Die Behauptung, daß es sich um das Wirken von Hausgeistern handelt, ist nicht stichhaltig.« Die Seiten des Manuskripts flatterten wie in einem Windkanal. Das Glas schwebte in die Höhe, verweilte über dem Rednerpult und senkte sich wieder. »Ein kindischer Trick«, sagte Uriel. »Was wollen Sie darauf sagen?« fragte Solomon. »Ich will nichts sagen, sondern gegen die generelle Linie dieser Versammlung protestieren -wie Sie sich auszudrücken pflegen. Wo bleibt hier die wissenschaftliche Arbeit? Das ist doch alles reiner Aberglaube.« Ein Murmeln ging durch den Saal. »Demnach glauben Sie nicht an die Geisterwelt?« fragte Solomon mit einem bösen Zug um den Mund. »Allerdings nicht!« sagte Uriel. »Und an schlampige Untersuchungen und wilde Behauptungen ohne wissenschaftliche Basis glaube ich erst recht nicht. Ich bitte um Abstimmung. Das Programm muß abgebrochen werden.« Solomon fixierte das Publikum mit kaltem Blick. »Unterstützt jemand den Antrag?« fragte er. »Ja«, rief jemand, und es war natürlich Ariel. »Ich!« Ich hielt die Luft an und wartete. Es meldete sich sonst niemand mehr.
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Solomon lächelte. »Der Antrag«, sagte er, »scheint abgelehnt zu sein.« Bei Alexander Hamilton und seinem Raben schaltete ich total ab. Als dann jedoch anschließend das Thema Lykanthropie durch Solomon angekündigt wurde, war ich voll konzentriert. Der Redner brachte seltsam geformte Strahler mit. Sie wurden angeschlossen, aber nicht eingeschaltet. Ein dunkelhäutiger junger Mann mußte auf einem Stuhl neben dem Rednerpult Platz nehmen. Nach einleitenden Worten über die Geschichte der Lykanthropie und die geografische Verbreitung des Mythos kam der Redner auf seine diesbezüglichen Versuche zu sprechen. Er hatte sie an einem Kollegen vorgenommen, der häufig von seltsamen Gelüsten und noch seltsameren Träumen heimgesucht wurde. Eines Abends, im Licht des Vollmonds, habe sich dieser Kollege dann vor seinen Augen verwandelt. Diejenigen Strahlen, die im Mondlicht die Veränderung der Zellen bewirken, habe er, der Redner, in den Strahlern gebündelt. Er befahl dem jungen Mann aufzustehen. »Und jetzt die Demonstration!« rief er in den Saal und schaltete die Strahler ein. Der junge Mann war kaum in das silbrige Licht getaucht, als Uriel auch schon aufsprang und protestierte. Seine Worte gingen im Gemurmel des Publikums unter. Alle starrten wie gebannt auf die Bühne. Der junge Mann veränderte sich bereits. Das Gesicht wurde noch dunkler, die Züge schärfer. Der Unterkiefer schob sich gräßlich nach vorn, Arme und Beine schrumpften zusammen. Er ließ 140
sich auf alle Viere fallen, Haare wuchsen ihm. Er schüttelte sich die Kleider vom Leib, das breite Maul mit der spitzigen Schnauze ging auf, und eine lange Zunge kam zwischen den scharfen Zähnen zum Vorschein. Die Augen glühten rötlich in dem weißen Licht. Seiner Kehle entrang sich eine Art Bellen. Er zog den Schwanz ein. Eine Frau schrie auf. Mit einem Satz sprang das Biest von der Bühne und lief auf Uriel zu. Die Leute sprangen auf und kreischten. Stühle fielen um. Uriel stand aufrecht und furchtlos da, ein kleiner Mann, der mutig und einsam wirkte. Er deutete auf das Untier und murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Das Ungetüm prallte gegen eine unsichtbare Wand, brach zwischen den Stühlen zusammen, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, knickte aber in der linken Hinterhand ein. Der Wolf winselte und leckte sich. Er war ein Bild des Jammers. Uriel beugte sich über das Tier und zeichnete rings um seinen Körper Symbole auf den Fußboden. Plötzlich war der Wolf verschwunden. An seiner Stelle lag der junge Mann, nackt und das Gesicht schmerzverzerrt. Uriel kniete sich neben ihn, zeichnete eine unterbrochene Linie auf den Boden und schrieb eine Formel darüber. Ein Ausdruck endloser Erleichterung machte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes breit. Er strich sich über das Bein. Es war geheilt. Uriel half dem jungen Mann auf, flüsterte ihm etwas ins Ohr und deutete zur Tür. Die Schultern vor
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Angst hochgezogen, verließ der junge Mann den Saal. Als sich Uriel zum Podium umdrehte, war sein Gesicht hart. Alle Anwesenden hielten den Atem an. »Damit dürfte wohl klar bewiesen sein, wes Geistes Kind der Vorstand dieser Gesellschaft ist«, sagte er. »Morbide Teufelei – man rührt nicht daran, wenn man auch nur eine Spur Charakter hat. Die heiligen Rechte des Individuums sind eben auf ketzerische Weise verletzt worden. Kostbare Talente und Wissen degradiert. Lykanthropie! Ein psychologischer Zustand, gepaart mit Hysterie. Ein pathologischer Zustand, gepaart mit abnormen Gelüsten. In dem eben gezeigten Fall übersteigert durch Hypnose und Hexerei. Aber dieser junge Mann wird nie mehr in seinem Leben gequält werden – dafür lege ich die Hand ins Feuer.« Uriel drehte sich zum Publikum um. »Oder stimmen Sie dem vielleicht auch nicht zu?« Die Zuhörer rutschten auf den Stühlen hin und her, aber niemand wagte etwas zu sagen. Solomon lehnte am Rednerpult und sah gelassen über die Köpfe hinweg. Uriels Zeigefinger schoß auf Solomon. Dieser fuhr vor Schreck zusammen, und Uriel lachte. »Sie brauchen nicht in Panik zu geraten«, sagte Uriel. »Ich benutze meine Macht nicht, um gegen einen Kollegen anzugehen. Es sei denn, aus Notwehr. Sie halten sich für weise, aber Sie sind ein Narr. Sie bilden sich ein, alles zu wissen, dabei wissen Sie nichts. Als Mitbegründer dieser Gesellschaft lehne ich den Vorstand ab, wie ich auch die Gesellschaft selbst ablehne. Und eines können Sie sich 142
merken: ich lasse es nicht zu, daß die Kunst dazu benützt wird, Böses zu tun.« Damit drehte er sich um und verließ den Saal. Ariel sprang auf und folgte ihm. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Feiglinge!« rief sie in das Publikum hinein. Bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, sah sie mir tief in die Augen. Die Versammlung löste sich auf. Redend und in Gruppen gingen die Leute zur Tür. Um Solomon drängten sich die besonders eifrigen. Die rothaarige La Voisine war auch dabei. Sie hatte eine blendende Figur und ein selten hübsches Gesicht. Allerdings reizten mich diese Vorzüge nicht, denn ich begeisterte mich immer mehr für ein Mädchen, das zwar nur normal hübsch, aber dafür echt war. Leider erst zu spät merkte ich, daß ich allein im Zuschauerraum saß. Deshalb zu spät, weil Solomon seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hatte und mich mit neugierigem Blick fixierte. »Sir«, sagte er. »wir würden uns geehrt fühlen, wenn Sie sich zu uns gesellen würden.« Das hatte mir gerade noch gefehlt. Gesellen auch noch! Es blieb mir aber nichts anderes übrig. »Die Ehre«, sagte ich, »liegt auf meiner Seite.’’ Vier Männer und eine Frau starrten mir entgegen, als ich auf sie zuging. »Aha, Gabriel«, sagte Solomon, als er mein Schild gelesen hatte. La Voisine zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich dachte .. .« Sie brach ab. Catherine La Voisine stand auf ihrem Schild. Der Name sagte mir nichts. 143
»Was haben Sie gedacht, meine Liebe?« fragte Solomon. »Ich habe mir Gabriel ganz anders vorgestellt«, sagte sie ausweichend und betrachtete mich mit erotischem Interesse. »Nun, Gabriel?« fragte Solomon. »Was halten Sie von den Demonstrationen des Nachmittags?« »Ich fand sie hochinteressant«, sagte ich. »Aber hoffentlich nicht so unverbindlich wie Ihre Antwort.« Solomon lächelte. »Die Fronten haben sich klar gezeigt. Der Kern der Gesellschaft gegen einen alten Mann und ein junges Mädchen. Es erhebt sich die Frage, wo Sie stehen.« »Da, wo ich schon immer gestanden bin.« »Für wen sind Sie?« fragte La Voisine. Ich sah sie an und lächelte. »Für mich, natürlich.« »Natürlich«, wiederholte Solomon. »Und aus Selbstinteresse sollten Sie sich auf die Seite schlagen, die gewinnen wird. Daß wir das sind, liegt klar auf der Hand. Eine Zwischenposition gibt es nicht. Wer nicht für uns ist, ist automatisch gegen uns.« Ich zuckte mit den Schultern. »Verständlich«, sagte ich. »Aber im gegebenen Fall muß betont werden, daß höhergestellte Mitglieder nicht mit größerer Macht identisch sind. Wie der Fall ausgeht, liegt für mich noch nicht klar auf der Hand.« »Ihrem Namen nach müßten Sie auf der Seite der Engel stehen«, sagte Solomon, »aber Namen bedeuten heutzutage nichts mehr. Meine Bewunderung für Ihre Unabhängigkeit käme in große Bedrängnis, müßte ich gegen Sie vorgehen. Aber vielleicht geben Sie uns ja Grund, Ihnen zu vertrauen.« »In welcher Form?« fragte ich. 144
Solomon tat so, als überlege er. »Wie wär’s denn, wenn Sie uns Ihren richtigen Namen nennen?« »Selbstverständlich«, sagte ich und lächelte. »Unter der Voraussetzung, daß Sie auch mir Grund geben, Ihnen zu vertrauen. Fangen wir doch am besten . ..«, ich sah von einem zum anderen -, »mit Ihnen an, Magus.« Solomon lachte. »Sie sind ein schlauer Mann, Gabriel. Und dreist obendrein. Ich hoffe, Sie wählen die richtige Seite. Es wäre ein Jammer, Sie zu verlieren.« »Wenn die Zeit gekommen ist«, sagte ich, »werden Sie feststellen, daß ich auf der Seite der Gewinner bin.« Ich verabschiedete mich mit einem Nicken und ging. Ich machte die Tür auf, stieg über die Schwelle und war draußen. »Gabriel?« Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken. Ich drehte mich um. Catherine La Voisine kam wie eine Galionsfigur auf mich zugeschwebt. »Gabriel.« Sie blieb in Tuchfühlung vor mir stehen. »Gabriel, Sie interessieren mich, denn Sie haben so etwas Echtes und Maskulines an sich. Sind Sie vielleicht ohne Maske?« Sie kam noch näher. »Vielleicht«, sagte ich und rang nach Luft, denn zwei feste Busen preßten sich an meine Brust. »Du gefällst mir, Gabriel«, hauchte sie und ihr Mund kam immer näher. Ihre Lippen waren wie dicke, rote Schnecken, und ich sah in meiner Not in ihre Augen. Sie waren grundlos wie dunkelblaue Seen.
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Sie preßte mir die Lippen auf den Mund. Ihre Zunge schob sich gierig nach vorn. Meine Arme schlangen sich wie von selbst um ihren Körper. Ich spürte, wie ihre Hand über meinen Nacken in meine Haare kroch. Nach einer Ewigkeit ließ sie von mir ab. Ihr Blick war schwer und schläfrig. »Und was war das?« fragte ich. Sie ging den Gang entlang. »Eine Kostprobe«, sagte sie. Die Lifttür glitt auf. Sie ging hinein, die Tür glitt zu. Ihr Blick ruhte immer noch auf mir. Ihr Lächeln war triumphierend. Ich fühlte mich unsauber, griff nach meinem Taschentuch und wischte mir den Mund ab. Die drei Männer, die noch bei Solomon gewesen waren, kamen aus dem Saal. Mit einem wissenden Grinsen gingen sie an mir vorbei. Ich wartete ein paar Minuten, aber Solomon tauchte nicht auf. Ich warf einen Blick in den Saal: leer. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ging hinter das Podium. Ebenfalls leer. Ein Kleiderständer, sonst nichts. Ich schob den Kleiderständer zur Seite und fand eine Rückfahrkarte nach Washington, am Tag vorher ausgestellt. Ich zuckte mit den Schultern. Möglich war alles. Ich steckte sie in die Tasche und ging zurück in den Saal. Dann stieg ich auf das Podium und suchte dort herum. Mit Erfolg. Hinter dem rückwärtigen Vorhang fand ich ein handgeschriebenes Manuskript. Es war voll von Formeln. Es gehörte Uriel, ich erkannte es wieder.
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Mit dem Manuskript unter dem Arm fuhr ich in die Halle hinunter. Solomons Mißtrauen war geweckt, also konnte ich mir auch ein Zimmer hier nehmen. Weglaufen hatte keinen Zweck mehr. Mein Freund Charlie war zum Glück nicht mehr da. Der Kollege, der ihn abgelöst hatte, gab mir Zimmer 707. Ich fuhr in den siebten Stock hinauf und ging zu meinem Zimmer. Ich schloß die Tür auf, ging hinein und fiel in ein schwarzes, endloses Loch ... Meine Arme und Beine suchten vergebens nach Halt. Ich schwebte durch das finstere Nichts. Alles nur Einbildung, versuchte ich mich zu beruhigen. Du stehst in deinem Zimmer und mußt nur Licht machen, dann ist alles vorbei. Ich tastete nach dem Schalter, knipste ihn an und stand in einem ganz normalen Hotelzimmer. Ich fragte mich, wie ich mir so etwas einbilden konnte. Dann sah ich die Glasscheibe auf dem Teppich. Sie war ungefähr sechzig mal sechzig Zentimeter groß und lag direkt an der Schwelle. Ich stellte sie auf. Die Rückseite war mit schwarzer Lackfarbe angestrichen. Mein Gesicht spiegelte sich wieder. Ich kam mir fremd und fast wie jemand anderer vor. Am Rand waren irgendwelche Schriftzeichen in die Farbe gekratzt. Sie glichen denen auf der Broschüre. Ich zog sie aus der Tasche. Tatsächlich! Dieselben Zeichen, allerdings in anderer Reihenfolge. Ich lehnte die Scheibe an die gegenüberliegende Wand, die beschichtete Seite mir zugedreht. Nach ein paar Minuten ließ das Zittern nach. Müder denn je ließ ich mich in einen Sessel fallen. Das Spinnennetz von Hexerei und Zauberkraft, in 147
dem ich mich verfangen hatte, schien sich immer mehr zusammenzuziehen. Wenn ich mich retten wollte, mußte ich herausfinden, wer die Spinnen waren und wo sie sich versteckt hielten. Wer war diese Mrs. Peabody, die mich in diese Lage gebracht hatte? Wer waren Ariel und Uriel? Und wer diese rote Hexe, die sich Catherine La Voisine nannte? Und wer war Solomon? Ich kämpfte gegen Schatten. Sollte der schwarze Spiegel eine weitere Warnung sein? Ich hatte es plötzlich satt, im Dunkeln zu tappen. Ich brauchte Licht. Ich brauchte Wissen. Ich zog das Jackett aus und warf es auf das Bett. Meinen Achselhalfter hing ich über eine Stuhllehne, schnappte mir das Manuskript und schaltete auf volle Konzentration. Nach drei Stunden harter Arbeit hatte ich die Grundidee von Uriels Theorie begriffen: sie stützte sich auf einen Energiestau, der unserer Welt normalerweise nicht zugänglich ist. Dieser Energiestau war nur mathematisch zu erfassen und konnte zur Not ein »Koexistentes Universum« genannt werden. Also ein Universum, das parallel zu unserem existierte. Die Idee war nicht absurd. Die Theorie kontinuierlicher Kreation war nur dann haltbar, wenn irgendwo ein solcher Energiestau existierte. Diese Energie stand also zur Verfügung, war aber nicht durch einen physischen Akt verwertbar, sondern konnte nur durch die Mathematik in Bahnen gelenkt werden, die sie unserer Welt zuführten. Die jeweilige mathematische Formel bewirkte, daß das gewünschte Resultat erreicht wurde. 148
Und dann ging es ans Üben. Ich holte tief Luft und sagte die Gleichung laut in den Raum hinein. Anschließend nahm ich meine ganze Konzentrationskraft zusammen. »Bourbon mit Soda«, sagte ich. »Bourbon mit Soda, komm zu mir, komm zu Casey Kingman, der in Zimmer Nummer siebenhundertsieben sitzt.« Plötzlich stand ein Glas in dem Kreis. Ich traute meinen Augen nicht. Ich hatte es geschafft. Ich hatte gezaubert – oder zumindest war mir ein Versuch geglückt, der zu einem neuen Zweig der Wissenschaft gehörte. Mit zitternder Hand führte ich das Glas an den Mund, ließ mir einen Schluck über die Zunge laufen und spuckte ihn im selben Moment wieder aus. Der Bourbon war miserabel, das Sodawasser war pures Wasser und das auch noch heiß. Ich war also doch noch ein Stümper. Ich mußte mit jemandem sprechen, ich brauchte jemanden, der mir meine Fragen beantwortete. Ariel war die einzige, die das tun würde. Aber ich wußte ja nicht einmal, ob sie überhaupt im Hotel war, und wenn ja, in welchem Zimmer. Ob ich es schaffte? Ich konnte es zumindest versuchen. Ich brauchte eine Verbindung zu ihr. Ich überlegte, und dabei streifte mein Blick das Jackett auf dem Bett. Vielleicht war ein Haar von ihr in dem Flanell hängengeblieben. Natürlich fand ich Haare. Ein langes rotes, das ich zur Vorsicht in einen Briefumschlag steckte und in meiner Tasche verschwinden ließ. Dann kurze blon-
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de, aber die waren von mir. Und schließlich ein schwarzes. Ich hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Diesmal durfte kein Fehler passieren. Bei der Idee, daß aus Versehen Catherine La Voisine vor mir auftauchen könnte, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Nur kein Risiko eingehen, dachte ich, holte die Seife aus dem Bad und hatte nach fünfzehn Minuten eine recht passable Figur daraus geschnitzt. Sie sah Ariel zwar nicht ähnlich, aber darauf kam es nicht an. Ich feuchtete den Kopf der Figur an und drückte Ariels Haar hinein. Jetzt zeichnete ich einen Kreidekreis auf den Teppich, stellte das Seifenfigürchen hinein und schrieb die entsprechende Gleichung um den Kreis. Ich stand auf und verglich mit Uriels Aufzeichnungen. Alles korrekt. »X steht für Ariel’’, murmelte ich. »Y für diesen Fleck in diesem Raum.« Dann wiederholte ich die Gleichung. »Ariel, wo auch immer du bist, komm zu mir. Komm in diesen Kreis. Ariel, komm zu mir, ich brauche dich . . .« Ein Luftzug strich an meinem Gesicht vorbei. Ich stierte in den Kreis und sah plötzlich zwei schmale, nackte Füße. Ich hob den Kopf. Ariel sah mich mit großen, erschreckten Augen an. Erschreckt deshalb, weil ich sie offensichtlich aus der Dusche geholt hatte. Sie war lediglich mit einem hastig umgeschlungenen Handtuch bekleidet. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ ich mich in einen Sessel fallen.
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»Vielen Dank, daß du gekommen bist«, sagte ich. »Ich brauche dich so dringend. Es macht dir doch hoffentlich nichts aus, wenn ich du zu dir sage, oder?« »Das nicht«, sagte sie, »aber daß du mich hier stehen läßt, das macht mir schon etwas aus. Laß mich heraus.« »Dich herauslassen?« fragte ich erstaunt. Sie deutete nach unten. »Aus dem Kreis. Ich kann nicht heraus, wenn du ihn nicht aufmachst.« Ich stand auf und wischte mit dem Schuh einen Teil des Kreises ab. Ariel kam heraus. Da mir plötzlich der Schweiß auf der Stirn stand, zog ich mein Taschentuch aus der Tasche, kam aber nicht dazu, mich trocken zu wischen. Ariel riß es mir aus der Hand und deutete vorwurfsvoll auf die roten Flecken. »Diese verfluchte Catherine!« schimpfte sie. »Du bist zu ihnen übergelaufen!« Sie warf sich auf das Bett und schluchzte. »Ich ... ich kann dir alles erklären«, stotterte ich. »Ich hatte nicht das geringste damit zu tun. Sie hat mich in eine Ecke gedrängt.« »Das glaube ich dir nicht.« Ariel schluchzte wie ein Kind. Ich setzte mich auf den Bettrand und streichelte ihre Schulter. »Von mir aus würde ich sie nicht mit der Feuerzange anfassen«, sagte ich tröstend. »Das eine Mal reicht mir vollkommen. Außerdem ist sie gar nicht mein Typ.« Ariel entzog sich meiner Hand. »Faß mich nicht an«, fauchte sie. »Und wer ist dein Typ?« 151
»Ein Mädchen mit dunklen Haaren, blauen Augen und -eben ein Mädchen wie du.« Ariel setzte sich auf und wischte sich mit dem Handtuchzipfel die Tränen ab. »Wirklich?« fragte sie. Ich nickte. »Ja.« Sie lächelte. »Hast sie dich wirklich in eine Ecke gedrängt?« »So wahr ich hier sitze. Aber sag mir, was will Uriel denn jetzt machen?« »Er bleibt. Der Kunst zuliebe. Er ist fest entschlossen, Salomon das Handwerk zu legen. Die Sache mit dem Werwolf, das war ein großer Fehler.« »Wie meinst du das?« »Wenn es nicht so offensichtlich gewesen wäre, daß sie Uriel haben umbringen wollen, hätte er bestimmt nichts unternommen. Uriel ist ein freundlicher Mensch, der niemand etwas zuleide tun würde. Er haßt Schwierigkeiten und will in Ruhe gelassen werden, um konzentriert arbeiten zu können. Er ist der beste von allen. Niemand kann ihm auch nur das Wasser reichen.« »Aber ihr seid doch nur zu zweit.« Sie nickte. »Leider.« »Bei der Übermacht?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob das gut geht. Aber ich bin ja schließlich auch noch da.« Sie sah mich dankbar an. »Ja, du bist auch noch da. Ich muß dir übrigens gratulieren. Du scheinst talentiert zu sein. Mich einfach in dein Zimmer zu holen! Nicht schlecht für den Anfang. Hast du übrigens über Solomon schon etwas in Erfahrung gebracht?« Ich schüttelte den Kopf. 152
In dem Moment bekam Ariel einen stieren Blick. Voll Entsetzen deutete sie auf die Glasscheibe, die ich an die Wand gelehnt hatte. »Ich bin darauf getreten, wie ich in dieses Zimmer gekommen bin«, sagte ich. »Es war ein ganz komisches Gefühl.« »Du mußt dich sehr in acht nehmen«, sagte Ariel ernst. »Ich habe schon von schwarzen Spiegeln gehört, aber noch nie einen gesehen. Jemand will dich aus dem Weg schaffen.« »Ach was«, sagte ich. »Ich vermute, es soll wieder einmal eine Warnung sein. Als ich Licht anknipste, war das komische Gefühl mit einem Schlag vorbei.« Ariel schüttelte den Kopf. »Du bist entweder sehr stark gewesen, oder du hast enormes Glück gehabt. In einem schwarzen Spiegel ist die Zeit bedeutungslos. Ein paar Sekunden können wie die Ewigkeit sein. Du hättest verrückt werden können. Es heißt, daß man stirbt, wenn der Spiegel zerbricht, solange man darin gefangen ist.« »Wie haben sie das nur gemacht«, sagte Ariel wie zu sich selbst. »Kennen sie deinen Namen?« Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich schnalzte Ariel mit den Fingern. »Die alte Hexe!« rief sie. »Hat sie dir durch die Haare gestrichen, als sie dich geküßt hat?« »Moment – ja, ich glaube schon. Aber da ist doch nichts dabei.« »Ihr ahnungslosen Männer! Du hast dir sicher eingebildet, daß es deine männliche Ausstrahlung ist. Weißt du, was sie getan hat, das Luder?« Sie fuhr mir durch die Haare. »Sie hat dir ein paar Haare ausgerissen.« 153
»Dann sind wir ja quitt«, sagte ich gelassen. »Wieso?« fragte Ariel. »Weil ich von ihr auch ein Haar habe«, sagte ich und zog den Umschlag aus der Tasche. Ariels Augen wurden schmal. »Kann ich es haben?« fragte sie. »Bitte«, sagte ich und gab ihr den Umschlag. Sie ging damit in den Kreis, nahm die Kreide, zog ihn wieder zu und lächelte. Bevor ich etwas sagen konnte, war sie verschwunden. »Halt!« rief ich. »Warte doch. Ich weiß ja nicht einmal, wo du zu finden bist. Und ich liebe dich doch.« Typisch ich. Immer zu spät. Das Klingeln des Telefons riß mich aus tiefstem Schlaf. »Ja, bitte?« Ein Flüstern drang an mein Ohr. »Gefahr droht! Man hat eine Nachricht für Sie hinterlassen. Richten Sie sich danach.« »Wer ist denn da?« Keine Antwort. »Wer da ist, habe ich gefragt.« Nichts. Ich legte auf und nahm im selben Moment wieder ab. Die Telefonistin meldete sich. »Von wo aus bin ich eben angerufen worden?« fragte ich. »Ich habe kein Gespräch zu Ihnen durchgestellt, Sir.« »Dann verzeihen Sie«, sagte ich. »Geben Sie mir bitte die Rezeption.« Ich wurde durchgestellt. »Ich höre, Sie haben eine Nachricht für siebenhundertsieben«, sagte ich. 154
»Einen Moment, bitte.« Ich wartete. »Sir?« »Ja. Lesen Sie bitte vor.« »Es steht lediglich eintausendeinhundertelf auf dem Zettel, Sir.« »Vielen Dank.« Ich legte endgültig auf. Ich fuhr in den elften Stock hinauf. 1111 war ein Eckzimmer. Ich holte tief Luft, drückte die Klinke nach unten und stieß die Tür auf. Ich starrte eine ganze Weile in das sonnenüberflutete Zimmer, bis ich begriffen hatte, was hier vor sich ging. Ariel war noch im Nachthemd. Sie saß mit gekreuzten Beinen auf dem Bett und hielt eine kleine Wachsfigur in der Hand. Die Haare, die sie mir ausgerissen hatte – angeblich, um mir zu zeigen, wie raffiniert La Voisine gewesen war – waren in den Kopf der Figur eingeknetet. Auf dem Fensterbrett in der Sonne standen zwei weitere Figuren. Eine war aus einem dunkleren Material, die andere war halb geschmolzen. »Das darf doch nicht wahr sein!« rief ich entsetzt. »Bitte, Gabriel, laß es dir erklären.« Ariel sah mich mit schuldbewußtem und gleichzeitig flehentlichem Blick an. »Da gibt es nichts zu erklären«, sagte ich. »Du wolltest mich umbringen.« Ich deutete auf die geschmolzene Figur. »Dich umbringen, Gabriel?« Ariel lachte. »Im Leben nicht! Es ist ein Liebeszauber. Die Figur, die in der Sonne immer härter wird, soll dein Herz hart machen gegen Catherine La Voisine.« 155
»Aber wozu das Ganze?« fragte ich. »Das war doch nicht nötig. Ich hätte dir auch so geholfen.« »Verstehst du denn nicht, Gabriel. Ich will dich vor der Hexe schützen. Sobald sie merken, daß ihr Trick mit dem schwarzen Spiegel fehlgeschlagen ist, versuchen sie es mit dem Liebeszauber zwischen dir und Catherine. Ich mußte ihnen zuvorkommen.« Ich stand immer noch auf dem selben Fleck und merkte erst, als Ariel etwas murmelte, daß ich mich nicht hatte rühren können. »So, jetzt kannst du wieder gehen«, sagte sie. Ich drehte mich zur Tür um. Ich drehte mich langsam um. Ariel saß immer noch auf dem Bett und sah mich mit großen, ernsten Augen an. Ich ging ganz ruhig auf sie zu, nahm sie in die Arme und küßte sie leidenschaftlich. Sie wehrte sich, aber nicht lange, und ich mußte feststellen, daß sie den ältesten Zauber der Welt perfekt beherrschte. Sie verhexte mich total, und ich wurde zum Sklaven der Leidenschaft. »Du wunderschöne Hexe«, sagte ich, als wir beide erschöpft auf dem Bett lagen. »Du hast genau gewußt, was passiert. Deshalb hast du die Nachricht an der Rezeption hinterlegt.« Ariel saß mit einem Ruck aufrecht im Bett. »Das war nicht ich«, sagte sie. »Das waren die anderen, und jetzt habe ich Angst, Gabriel.« »Du brauchst keine Angst zu haben, meine geliebte Hexe. Sie wollten uns vielleicht trennen, aber dabei haben sie den zweiten großen Fehler gemacht. Jetzt sind wir erst recht nicht mehr zu schlagen. Aber wir brauchen Uriel. Kannst du ihm sagen, daß er in ei-
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ner halben Stunde in mein Zimmer kommen soll? Ich habe sieben null sieben.« Sie nickte. Ich zog sie zu mir herunter und küßte sie. »Ich liebe dich, Ariel«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Und ich habe dich schon vor deinen Wachspüppchen geliebt.« »Ich liebe dich auch, Gabriel. Und den Liebeszauber lösche ich wieder aus. Nicht deinetwegen, sondern meinetwegen. Ich möchte sicher sein, daß unsere Liebe echt ist, daß du mich liebst, weil ich ich bin.« »Du wirst dich unterstehen!« rief ich. »Glaubst du, ich gehe das Risiko ein, dieses Gefühl zu verlieren? Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich wie mit dir. Aber tue mir einen Gefallen, meine kleine Hexe: laß die Püppchen nicht herumliegen. Ich möchte nicht, daß sie in falsche Hände fallen.« Nachdem ich sie noch einmal zärtlich geküßt hatte, ging ich. Ich war so selig, daß ich mein Mißtrauen gegen Treppen vergaß und wie ein junger Geißbock die Stufen hinuntersprang. Als ich meine Zimmertür aufsperren wollte, konnte ich den Schlüssel nicht einmal einen Millimeter drehen. Ich grinste. Meine Vorsichtsmaßnahmen wirkten sogar gegen mich. Ich zog die Kreide aus der Tasche und schrieb die auflösende Gleichung an die Tür. Mit der an der Innenseite addiert ergab sich Null. Die Tür sprang auf. Ich wischte beide Gleichungen ab, machte die Tür zu und hängte die Kette ein. Das Zimmer war genauso, wie ich es verlassen hatte. Ich legte mich flach auf das Bett und dachte an Ariel. Warme Wellen durchfluteten meinen Körper. 157
Der Traum aller Träume war für mich in Erfüllung gegangen. Aufpassen, Casey, dachte ich plötzlich. Du hast noch so manches zu erledigen, bis du dich auf dein rosa Wölkchen setzen und glücklich vor dich hinträumen kannst. Den Kopf unter kaltes Wasser, damit du wieder zu dir kommst. Das Wasser war eisig. Ich hielt den Kopf unter den Hahn, bis mir fast die Luft ausging. Blind griff ich nach einem Handtuch. Im selben Moment erinnerte ich mich an das ungute Gefühl, das ich beim Betreten des Badezimmers gehabt hatte. Jetzt wußte ich warum, aber es war schon zu spät. Als ich das Zimmer verlassen hatte, waren die Handtücher benutzt gewesen. Jetzt war das Bad aufgeräumt und frische Handtücher hingen über der Stange. Es war jemand hier gewesen. Zu spät! Das Handtuch glitt mir aus der Hand und wickelte sich wie eine Schlange um meinen Hals. »Na, junger Mann«, sagte jemand. »Wachen Sie endlich auf, oder muß ich Sie ertränken?« »So ist’s recht.« Es war eine Frauenstimme. Ich drehte den Kopf. »Sie?« Es war Mrs. Peabody. Ich setzte mich auf. »Wie sind Sie denn hereingekommen?« fragte ich. »Nicht, daß ich mich beschweren möchte, aber interessieren würde es mich doch.« »Wie die anderen auch«, sagte sie. »Die Tür haben Sie zwar verriegelt, aber das haben Sie vergessen.« Sie deutete auf den Kreidekreis auf dem Teppich.
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»Dann habe ich das Geld also zum Fenster hinausgeworfen«, sagte sie, als habe sie es nicht anders erwartet. »Moment«, protestierte ich. ..Ich beschäftige mich schließlich erst vierundzwanzig Stunden mit dem Fall.« »Lang genug.« Die kleine alte Dame stapfte im Zimmer auf und ab. »Hören Sie mal. Mrs. Peabody«. sagte ich gereizt, »ohne ein Wort der Erklärung bringen Sie mich in diese Situation und glauben auch noch ...« »Hätten Sie mir geglaubt, wenn ich Sie eingeweiht hätte?« »Nein.« Ich mußte es zugeben. »Aber Sie lassen es zu, daß ich herumgeschubst werde und zwei- oder dreimal fast ins Gras beiße.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß die Sache gefährlich ist.« Sie lachte. »Wollen Sie aussteigen?« Ich überlegte. Schließlich zog ich die Brieftasche aus dem Jackett. »Sie bekommen Ihr Geld wieder«, sagte ich. »Abzüglich Spesen und Honorar für einen Tag.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Nichts überstürzen, junger Mann. Ich habe das Geld doch gar nicht erwähnt. Außerdem können Sie mich nicht einfach im Stich lassen. Was haben Sie herausgefunden?« »Ich sage Ihnen doch - nichts!« »Also keinen Namen?« »Nein, keinen Namen.« »Und auch keine Anhaltspunkte?« »Lediglich einen Flugschein, Washington – New York -Washington.« 159
»Aha.« »Aber ich weiß nicht einmal, ob er von ihm ist. Mir ist es lieber, Sie nehmen Ihr Geld zurück.« Die alte Dame musterte mich mißtrauisch. »Lieber?« fragte sie. »Sie haben wohl einen anderen Klienten?« »Vielleicht«, sagte ich. »Und wen?« »Das ist meine Sache.« »Sie sind ein recht undankbarer Kerl«, meinte die alte Dame und schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich rette Ihnen das Leben und anstatt sich zu bedanken, geben Sie mir schnippische Antworten.« »Verzeihen Sie. Vielen Dank.« »Na also!« rief die alte Dame. »Warum stellen Sie sich dann so an? Allergisch gegen Geld sind Sie doch hoffentlich nicht, oder?« »Nein, das bin ich nicht«, sagte ich und legte die tausend Dollar auf den Tisch. »Tut mir leid, Mrs. Peabody, ich arbeite nicht für jemand, dessen richtigen Namen ich nicht einmal weiß.« »Wissen Sie den richtigen Namen der jungen Frau?« fragte sie und lachte. »Gut, junger Mann, wenn Sie es so wollen.« »Das heißt, daß Sie mir Ihren richtigen Namen nicht sagen?«fragte ich. Sie schüttelte den Kopf, nahm das Geld vom Tisch und ging zur Tür. Sie hakte die Kette aus und drehte sich noch einmal zu mir um. »Sie können der jungen Frau von mir ausrichten, daß sie mehr Glück als Verstand hat.« Ich lächelte, sah zur Seite und erstarrte zu Stein. Die Glasplatte, die ich mit der beschriebenen Seite 160
nach außen gegen die Wand gelehnt hatte, war umgedreht worden. Die kleine alte Dame hatte sich darin spiegeln müssen, aber es war nicht sie, die ich sah. Aus dem schwarzen Spiegel sah mir Ariel entgegen. Mein Blick ging zwischen dem Ebenbild der Schönheit und der Jugend und der alten, kleinen Dame hin und her. Zwischen Engel und Hexe. Und ich liebte das Mädchen, das ich im Spiegel sah! »Ariel!« stöhnte ich. »Wer bist du nun wirklich?« In dem Moment ging die Tür auf, und Uriel kam herein. Er hatte die Situation mit einem Blick erfaßt. Ein Seufzer entrang sich der Kehle der alten Dame. »Weißt du denn das nicht selbst?« fragte sie mit Ariels Stimme. »Woher soll ich es denn wissen.« Ich war der Verzweiflung nahe. »Jeder ist jemand anders. Niemand ist er selbst. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht.« Die alte Dame brach weinend in einem Sessel zusammen. »Du liebst mich nicht mehr«, schluchzte sie. »Schau in den Spiegel, mein Sohn«, sagte Uriel. Ich tat es und sah ihn, so wie er war. »Was soll ich daraus schließen?« fragte ich. »Daß Sie nicht verwandelt sind?« »Genau. Der Spiegel zeigt die Menschen nämlich so, wie sie in Wirklichkeit sind.« Er ging zu dem Spiegel und drehte ihn zur Wand. Jetzt entdeckte er die Schriftzeichen an den Rändern und inspizierte sie. »Interessant«, sagte er und wurde nachdenklich.
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Ich drehte mich zu Ariel um – und es war Ariel. Mrs. Peabody war verschwunden. Mit tränenfeuchten Augen sah sie zu mir auf. »Und wie alt bist du wirklich?« fragte ich. »Zweiundzwanzig«, sagte sie. »Nicht gelogen?« »Also gut – dreiundzwanzig.« »Und warum hast du das getan?« »Überlege doch, Gabriel«, sagte Ariel mit ängstlicher Stimme. »Niemand durfte wissen, daß ich über Solomon Nachforschungen anstellte, und woher sollte ich denn wissen, daß ich dir vertrauen kann.« »Gut, anfangs konntest du es nicht wissen, aber dann hattest du Gelegenheit genug, es mir zu sagen.« »Das stimmt, aber ich hatte Angst, dich zu verlieren, Gabriel.« »Nenne mich nicht immer Gabriel«, rief ich gereizt. »Du weißt ganz genau, daß ich .. .« »Bitte!« Ariel legte mir einen Finger auf den Mund. »Sprich es nicht aus.« Ich schlang beide Arme um sie. »Meine kleine Hexe«, flüsterte ich. »Dann bin ich dir also doch nicht gleichgültig.« Ich küßte sie lange und leidenschaftlich. »Kinder«, meldete sich schließlich Uriel zaghaft. »Wir müssen uns an die Arbeit machen. Und Ariel, dir muß ich sagen, daß du in Zukunft besser aufpassen mußt.« »Ach, du meine Güte«, sagte Ariel und sah an Mrs. Peabodys Kleidern herunter. ..Entschuldigst du mich bitte einen Moment.«
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Sie sprang in den Kreis und war verschwunden. Uriel und ich sahen uns kopfschüttelnd an. Zwei Minuten später war sie wieder da. Diesmal in einem enganliegenden schwarzen Kleid, das ihr so gut stand, daß es mir fast die Augen verdrehte. Sie strahlte mich an. ,,Gabriel!« rief sie gutgelaunt. »Hier bin ich wieder.« »Wer war eigentlich dieser Gabriel?« fragte ich. »Der beste Schüler meines Vaters. Er kam ums Leben. Auf der Straße überfahren.« Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihr und Uriel von der Bemerkung, die Catherine La Voisine herausgerutscht war. »Also haben sie ihn ermordet«, rief Ariel entsetzt. »Und dir trachten sie auch nach dem Leben. Der schwarze Spiegel und das verhexte Handtuch sind der Beweis. Sie wollen uns alle aus dem Weg räumen. Uriel, du bist in letzter Zeit auch nicht gut beieinander.« »Ach, Unsinn«, sagte Uriel und hüstelte. Jetzt erst fiel mir auf, daß seine roten Wangen kein Zeichen von Gesundheit waren, sondern fiebrig glühten. »Also gut«, sagte Ariel. »Dann machen wir uns an die Arbeit. Gabriel, du . . .« »Moment!« unterbrach ich sie. »Da fällt mir eben etwas ein. Du kannst mich ruhig Casey nennen, und Uriel auch, ich habe mich nämlich an der Rezeption mit meinem richtigen Namen eingeschrieben.« Beide sahen mich entsetzt an. »Aber Ihren Namen kennen sie doch sicher auch, oder?« fragte ich Uriel.
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»Ja«, antwortete er. »Als Professor Reevers, Ariels Vater, und ich die Gesellschaft gründeten, benützten wir noch keine Decknamen.« »Dann wissen sie auch deinen Namen, Ariel?« fragte ich. »Ja«, sagte sie. »Aber sie kennen ihn doch nicht.« »Sie wissen ihn, aber sie kennen ihn doch nicht?« »Laß uns nicht darüber sprechen. Bitte, Casey.« »Aber worum geht es nun eigentlich?« Ich ließ nicht locker. »Um den Vornamen oder um den Nachnamen?« »Um den Taufnamen«, sagte Uriel. »Ja dann!« rief ich. »Casey ist natürlich nicht mein Taufname.« »Gott sei Dank«, sagte Ariel, nahm meine Hand und drückte sie. In diesem Moment kam mir die Eingebung. Ich riß den Hörer von der Gabel und ließ mich mit einer Presseagentur in Washington verbinden. Kurz darauf hatte ich meinen Freund Jack Duncan am Apparat. »Hallo, altes Haus!« begrüßte er mich. »Was darf’s diesmal sein?« »Du mußt mir sagen, wer der Mann ist, der vom Glück geradezu verfolgt wird, und den jeder zum Teufel wünscht.« »Davon gibt es eine ganze Reihe, Casey.« »Aber einer muß doch die Nummer eins sein auf der Liste«, sagte ich. »Denke in Ruhe nach.« Stille am anderen Ende der Leitung. Mein Freund Duncan dachte. »Mann!« brüllte er mir plötzlich ins Ohr. »Ich glaube, ich hab’s! Da kommt bloß einer in Frage. 164
Braucht nie Geld, seine Rivalen sind vom Pech verfolgt, aber er hat immer eine weiße Weste. Einer nach dem anderen, von seinen Gegnern meine ich, kratzt ab oder muß aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt werden.« »Mensch, sag mir doch den Namen, Jack.« Ich verlor langsam die Geduld. »Nur wenn du mich nicht verrätst und dich an die alte Spielregel erinnerst.« »Ehrensache!« »Er heißt Rotanes«, flüsterte Jack in den Apparat. »Hält er sich zur Zeit in Washington auf?« wollte ich noch wissen. »Moment, mein Junge.« Wieder Stille. Nach einem Moment: »Bist du noch da?« »Ja.« »Der Typ wurde heute früh hier gesehen. Hoffentlich ist das keine schlechte Nachricht für dich.« »Doch«, sagte ich. »Trotzdem – vielen Dank.« Enttäuscht legte ich auf und sah die anderen beiden an. »Und?« fragte Ariel. »Fehlzündung«, sagte ich. »Der Mann, auf den mein Freund tippt, wurde heute früh in Washington gesehen.« »Na und?« Ariel sah mich verständnislos an. »Hast du noch nie etwas von einem Phantom gehört?« »Doch, aber in herkömmlichem Sinn. Meinst du eine Art Double?« Sie nickte. »Dann haben wir ihn!« rief ich.
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»Wir haben aber keine Beweise«, sagte Uriel. »Wir können nicht riskieren, den falschen Mann anzugreifen.« »Was ist denn dabei verloren?« fragte ich. »Casey!« sagte Ariel in vorwurfsvollem Ton. »Soll er euch vielleicht die Geburtsurkunde vorlegen?« fragte ich. »Für einen Zauberer und eine Hexe seid ihr ganz schön schrullig, muß ich sagen. Aber bitte -ich bin ja erst ein Anfänger.« »Du verstehst das nicht, Casey«, sagte Ariel. »Je größer die Macht, mein Sohn, desto größer die Verantwortung«, sagte Uriel. »Ich kenne eine andere Version«, sagte ich. »Je größer die Macht, desto größer die Korruption. Aber ich will mich nicht mit euch streiten. Unternehmen wir lieber etwas.« »Ja«, stimmte Uriel zu. »Wir müssen ihn durch einen Trick dazu zwingen, daß er sein wahres Gesicht zeigt.« »Wenn’s weiter nichts ist«, sagte ich und deutete auf den schwarzen Spiegel. »Wie wäre es denn damit?« »Natürlich!« rief Uriel. »Aber wohin damit? Im Kristallsaal können wir uns nicht blicken lassen.« »Dann kommt der Spiegel eben in seine Suite.« »In seine Suite?« fragte Ariel. »Ja, im Penthouse.« »Ich weiß nicht, was wir ohne dich täten, mein Sohn«, sagte Uriel. »Aber wenn er oben ist?« gab Ariel zu bedenken. Uriel zog das Tagesprogramm aus der Tasche, und ich überflog es. Die Tagung endete mit einem Bankett um zwanzig Uhr. Anschließend war für dreiund166
zwanzig Uhr eine Invokation angesetzt. Ort der Handlung: Penthouse. »Was ist denn eine Invokation?« fragte ich und sah auf die Uhr. Es war halb elf. Uriel und Ariel sahen sich schweigend an. Antwort bekam ich keine. Dann eben nicht, dachte ich. Halb elf erst? Laut Programm mußte im Moment eine Diskussion über die Auswirkungen der Walpurgisnacht stattfinden. Solomon war also unter Garantie im Kristallsaal. Um ganz sicher zu gehen, rief ich jedoch dort an und verlangte den Magus. Er könne jetzt nicht an den Apparat kommen, hieß es. Ob er mich zurückrufen könne? »Nicht nötig«, sagte ich und legte auf. Ich sah Ariel und Uriel an. »Also, dann hinauf zum Penthouse.« Ich tat zwar mutig, aber meine Knie zitterten. »Ich muß noch einige Vorbereitungen treffen«, sagte Uriel. »Ihr beide müßt das allein erledigen. Stellt den Spiegel so auf, daß er ihn erst im letzten Moment sieht. Und durchsucht die Räume. Vielleicht findet ihr irgendeinen Hinweis.« Ich zog den Revolver aus dem Halfter und überprüfte ihn. Ariel runzelte die Stirn. »Das Ding nützt dir nichts, Casey’’, sagte sie. »Daß du dich nicht täuschst«, sagte ich. »Es kann Solomon vielleicht nichts anhaben, aber mir stärkt es auf alle Fälle die Nerven.« Auf dem Flur gedämpfte Beleuchtung und absolute Stille. Ich legte die Hand auf die kalte Klinke und drückte sie nach unten. Die Tür war verschlossen. Ich sah Ariel fragend an. 167
Sie murmelte etwas und berührte dabei die Klinke. Nichts passierte. Ariel runzelte die Stirn und biß sich auf die Unterlippe. »Es liegt ein Zauberspruch darauf«, sagte sie. Ich überlegte krampfhaft und zog schließlich die Kreide aus der Tasche. Ich glaubte mich an die entsprechende Gleichung erinnern zu können. Ich zeichnete einen Kreis um die Klinke, malte ein Kreuz über das Schlüsselloch und schrieb die Gleichung daneben. Die Tür glitt auf. »Ich bin richtig stolz auf dich«, flüsterte Ariel. Der Wohnraum war mindestens hundert Quadratmeter groß und machte den Eindruck, als hätte nie jemand den Fuß hineingesetzt. Alles völlig steril. Kein persönlicher Gegenstand, kein Stäubchen auf einem Möbelstück. Zwei Türen, die in die Schlafzimmer führten. »Fange du schon an zu suchen«, sagte ich zu Ariel. »Ich schaue, wo ich den Spiegel am besten unterbringen kann.« Sie verschwand hinter einer der Türen. An der Innenseite der Fenster waren Jalousien angebracht. Eine davon war nur halb heruntergelassen. Ich machte das Fenster auf und stellte den Spiegel in den Fensterrahmen. Der untere Rand der Jalousie hinderte ihn daran herauszukippen. Wenn Solomon erst spät abends zurückkam, würde er den Spiegel nicht entdecken. Oder zumindest erst dann, wenn es bereits zu spät war. Ariel kam mit leeren Händen aus dem ersten Schlafzimmer. »Nichts«, flüsterte sie. »Rein gar nichts.« 168
»Dann durchsuchst du jetzt.. .« Weiter kam ich nicht. Die Tür ging auf und Solomon stand auf der Schwelle. Er reagierte im Bruchteil einer Sekunde. Sein Zimmerschlüssel flog durch den Raum, der Spiegel zerbrach in tausend Scherben. Aber auch ich hatte im Bruchteil einer Sekunde reagiert. Ich hatte das wahre Gesicht des Mannes gesehen, der Solomon genannt werden wollte. Jack Duncan hatte auf den Richtigen getippt. »Die hübsche Hexe und der Privatdetektiv«, sagte Solomon und schob die Tür hinter sich zu. »Wie zuvorkommend, daß Sie mir die Sucherei nach Ihnen ersparen. Ich wollte Sie nämlich zu meiner kleinen Party heute abend einladen. Besonders Sie, meine liebe Ariel. Wir brauchen eine Jungfrau für die Zeremonie, und Jungfrauen sind heutzutage so selten.« Mein Revolver flog wie von selbst in meine Hand. »Keine Bewegung!« sagte ich. »Sonst schieße ich.« »Daran zweifle ich nicht eine Sekunde«, sagte Solomon lächelnd. »Aber wenn Ariels Zaubersprüche schon nutzlos sind, dann dieses lächerliche Spielzeug erst recht.« Er sah Ariel an und zog spöttisch eine Augenbraue in die Höhe. »Sie können aufhören mit Ihrem Gemurmel. Hier sind Sie machtlos, meine Liebe. Ich habe viele Stunden darauf verwendet, die Räume zu präparieren.« Ich versuchte es trotzdem, aber keine Kugel verließ den Lauf. »Na sehen Sie«, sagte Solomon mit fast väterlichem Ton. »Und jetzt lege ich Sie beide bis heute abend auf Eis.«
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Die Nacht legte sich wie Blindheit auf mich. Als die Erlösung aus der Finsternis endlich kam, und ich das Gefühl hatte, ein Schleier würde von meinen Augen gezogen, tat mir das Licht weh. Ich lag auf einem Bett und konnte mich nicht rühren. Nicht einmal den Kopf konnte ich bewegen. Irgendwo ging eine Tür auf und langsam wieder zu. Dann folgte Stille. Ich kämpfte gegen die unsichtbaren Fesseln, bis mir der Schweiß auf der Stirn stand und ich so erschöpft war, daß ich es aufgeben mußte. »Ariel!« stöhnte ich. »Wo bist du nur?« Hier, antwortete eine kühle, ruhige Stimme in meinem Kopf. Es war Ariels Stimme. Telepathie! Kannst du das schon immer? Nein, erst seit du nach mir gerufen hast. Wo bist du? Im zweiten Schlafzimmer. Hat er dir nichts getan? Nein. Kann er uns hören? Nein, er ist weg. Kannst du etwas unternehmen? Nein, ich habe schon alles versucht. Dann sind wir gefangen. Ja, aber Uriel wird uns befreien. Aber Solomon ist doch auch hinter ihm her. Das weiß Uriel, und er ist ein sehr weiser Mann. Ariel? Ja? Wie heißt du wirklich? Bitte, sag es mir. Ich heiße Ariel. Ich bin so getauft, und das vermuten sie nie. 170
Ich liebe dich, Ariel. Mein Taufname ist Kirk. Und ich liebe dich, Casey. Uriel muß uns retten, Ariel. Er wird .. . Sie brach ab. Ich hörte eine Tür aufgehen. »Legt ihn da hin«, sagte die verhaßte Stimme des Mannes, der Solomon genannt werden wollte. Ich spürte, wie ein Luftzug mein Gesicht streifte. Ein paar Schritte, die Tür wurde wieder geschlossen. Ist Uriel bei dir, Casey? Ja. Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber ich habe einen Luftzug gespürt. Ich kann seine Gedanken nicht erreichen, Casey. Was haben sie mit ihm gemacht? Ich weiß es nicht. Was hat Solomon gemeint, wie er von den Jungfrauen sprach ? Keine Ahnung. Ich spürte, daß Ariel nicht die Wahrheit gesagt hatte. Wir lagen da und sahen zu, wie die Schatten immer dunkler wurden und warteten auf die Nacht. Die Nacht kam, brachte aber nicht den schwächsten Schein von Sternenlicht. Seit geraumer Zeit Stimmen aus dem großen Wohnraum. Ariel, was wird passieren ? Etwas Schlimmes. Etwas Teuflisches. Solomon zielt schon lange darauf hin. Wir hätten wissen müssen, warum er ausgerechnet dieses Datum gewählt hat. Wie meinst du das? Die Nacht vor Allerheiligen. O Casey! Die Tür geht auf. Sie holen mich. 171
Ariel schrie auf. Ich kämpfte vergeblich gegen die entsetzliche Lähmung. Nicht einmal einen Finger konnte ich rühren. Ariels Gedankenfetzen drangen zu mir vor und hilflos mußte ich miterleben, wie das Teuflische Wirklichkeit wurde. Ariel wurde von zwei Männern in den großen Raum getragen, in dem große Kerzen brannten. Hinter einem schwarzen Altar wartete Solomon auf sie. Es waren auch noch andere Menschen im Raum. Ihre dunklen Gesichter konnte Ariel nicht deutlich erkennen. Nur eines sah sie klar und deutlich, das von Catherine La Voisine. Auf einem Dreifuß vor dem Altar eine Kupferschale, in der ein Kohlenfeuer brannte. Solomon, ganz in weiß gekleidet, hob die Hand. Drei Männer rissen daraufhin Ariel die Kleider vom Leib und legten sie auf den Altar. Casey! Erst tödliche Stille, dann hörte ich plötzlich die kalte, böse Stimme des Magus. » ... in der geforderten Anzahl versammelt, rufen wir dich an, Prinz und Herrscher der Dunkelheit, Herr des Bösen. Wir bitten dich, unser Opfer anzunehmen. Wir bitten dich beim Namen des Gottes der Götter, des Herrn der Herren, Adoney, Tetragrammaton, Jehova, Tetragrammaton, Adoney, Jehova, Othcos, Athanatos, Ischyros. Agla. Pentagrammaton, Saday, Saday. Saday, Jehova, Othcos, Athanatos, a Liciat, Tetragrammaton, Adonay, Ischyros, Athanatos, Saday, Saday, Saday, Cados, Cados, Cados, Eloy, Agla, Agla, Adonay, Adonay ...« Casey! Er hat ein Schwert. Ich spüre, wie es näher kommt! 172
Ich spürte ihre lautlosen Schreie und machte einen letzten verzweifelten Versuch. Die Fesseln rissen, ich sprang auf und riß die Tür auf. Alles in dem Raum erstarrte zu einem gräßlichen Zerrbild. Aber nicht ich hatte den Befehl ausgesprochen. Jemand ging auf den Altar zu und trat in den Kreis flackernden Lichts. Es war Catherine La Voisine. Ihr Haar glühte wie das Feuer in der Kupferschale. Dann war die rote Hexe plötzlich verschwunden, und an ihrer Stelle stand Uriel. »Flieht, ihr Schatten«, rief er und deutete auf Solomon und den Altar. Ein Lichtstrahl schoß aus seinem Zeigefinger. »Flieht, ihr Schatten, wie ihr immer vor dem Licht fliehen müßt.« Sein Körper schien in der Dunkelheit zu glühen. »Entstellte Gestalten entstellten Denkens, verschwindet in das Nichts, aus dem ihr gekommen seid.« Er ratterte eine Reihe von Gleichungen herunter. Ich spürte, wie ein frischer Wind durch den Raum wehte und Spinnweben vor sich hertrieb. Ariel regte sich. Der Schatten hinter Solomon wurde immer kleiner und schien sich hinter seinem Rücken zu verstecken. »Verschwinde!« befahl Uriel. Solomon wachte wie aus einem Traum auf. »Die Nacht beherrscht den Tag!« rief er mit Donnerstimme. »Die Finsternis beherrscht das Licht. Die Macht zwingt die Menschen, sich ihr zu beugen. Beuge dich!« Das Schwert, das Solomon immer noch hoch über den Kopf erhoben hielt, zitterte.
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Sein satanisches Gesicht wurde zu einer häßlichen Fratze. Die beiden Männer kämpften gegen unsichtbare Kräfte. Langsam sank das Schwert nach unten. »Senator!« schrie ich. Das verzerrte Gesicht Solomons richtete sich auf mich. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. »Licht!« rief Uriel. »Das Licht soll die Finsternis verjagen!« Plötzlich war es taghell. Uriel hielt Solomon die gespreizten Finger der rechten Hand vor das Gesicht und murmelte eine Beschwörungsformel. Energie erfüllte den Raum, ein Donnerschlag zerriß die Luft. Das Schwert fiel zu Boden. Es gab keine Hände mehr, die es hielten. Das leere weiße Gewand des Magus sank nach unten. Solomon war verschwunden. Eine Tür wurde aufgerissen, Schritte flohen, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich war mit einem Satz am Altar, riß Ariel in meine Arme und küßte sie. Sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. »Casey«, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen gefaßt hatte. »Ich wußte, daß du mich rettest.« »Ich war es nicht«, sagte ich. »Es war Uriel.« Ich drehte mich halb um. Uriel stand neben uns. Sonst war niemand mehr in dem Raum. Die anderen waren geflohen. »Ich mußte mich diesmal leider auch mit Tricks behelfen«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Um Solomon zu verwirren. Hier.« Er machte die Hand auf und zeigte mir die kleine Taschenlampe, 174
die er darin verborgen hatte. »Daher der geheimnisvolle Lichtstrahl. Meine Kleider habe ich mit einer phosphoreszierenden Flüssigkeit getränkt. Das Schwierigste war, La Voisine zu immobilisieren. Diese Frau ist sehr wild.« »Und Solomon?« fragte Ariel. »Der ist weg«, antwortete Uriel. »Wo er sich jetzt aufhält, weiß ich nicht, aber das ist auch egal, weil er sowieso nicht mehr auftaucht. Sein Phantom in Washington wird in ein paar Tagen aus dem Leben scheiden. Woher wußten Sie übrigens, daß er Senator ist, Casey?« »Mein Freund von der Presseagentur hat mir den Tip gegeben. Wir haben eine gemeinsame Abmachung: wenn es die Sicherheit verlangt, werden Namen rückwärts ausgesprochen. ,Rotanes’ sei der Mann, den ich suche, hat er zu mir gesagt und er hatte recht. Ich habe sein wahres Gesicht im Spiegel gesehen.« »Und wie bist du im letzten Moment freigekommen, Uriel?« fragte Ariel. Der alte Mann lächelte. »Ich war nie in seiner Gewalt«, sagte er. »Solomon war nicht der einzige, der sich eines Phantoms bediente. Der Mann ist so von sich überzeugt, daß er sich nicht einmal fragte, wieso ich so leicht zu fangen war. Aber du erinnerst mich an etwas, Ariel. Ich muß mein Phantom freilassen. Entschuldigt mich einen Moment.« Er verschwand in dem Schlafzimmer, in dem ich gefangen gehalten worden war. Ich schloß Ariel noch fester in die Arme.
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»Ich frage mich nur«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »wie man sich fühlt, wenn man mit einer Hexe verheiratet ist.« »Gut, daß du das Thema anschneidest«, sagte Ariel und lachte verschmitzt. »Du hast nämlich gar keine andere Wahl. Du wirst ein sehr treuer und anschmiegsamer Ehemann sein.« »Wieso?« fragte ich. »Weil ich deinen echten Namen kenne.« Ich seufzte und fügte mich meinem Schicksal. Schließlich ist jeder Mann mit einer Hexe verheiratet – ob er es nun weiß oder nicht.
Ende
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