Simone Scherger Destandardisierung, Differenzierung, Individualisierung
Simone Scherger
Destandardisierung, Differen...
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Simone Scherger Destandardisierung, Differenzierung, Individualisierung
Simone Scherger
Destandardisierung, Differenzierung, Individualisierung Westdeutsche Lebensläufe im Wandel
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation am Fachbereich für Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin 1. Gutachter: Prof. Dr. Martin Kohli 2. Gutachter: Prof. Dr. Heiner Ganßmann Tag der Disputation: 16.10.2006
1. Auflage August 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15513-5
Danksagung
Eine ganze Reihe von Personen hat zur Entstehung und Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen. Größter Dank gilt meinem Betreuer Martin Kohli, der den Schreibprozess mit unbestechlichem Urteilsvermögen, verlässlich und kritisch begleitet hat und für Fragen auch vom fernen Florenz aus immer zur Verfügung stand. Harald Künemund hat die erste Anregung zum hier erarbeiteten Thema gegeben. Von ihm habe ich in den vergangenen Jahren einen guten Teil meines begrenzten Wissens über das Handwerk empirischer Forschung erworben. Unter den weiteren Kollegen sind vor allem Helen Krumme, Claudia Vogel, Sabine Radtke und Kai Brauer zu nennen, die mir mit wichtigen Ratschlägen geholfen und mich in meiner Arbeit stets ermutigt haben. Meinem Zweitgutachter Heiner Ganßmann, Ulrike Schultz und Rainer Diaz-Bone danke ich für ihre Unterstützung in der Promotionskommission. Barbara Buchholz und Ruth Scherger haben mit sorgfältiger Korrekturarbeit den Text erst lesbar gemacht und sind mir damit eine sehr wertvolle Hilfe gewesen. Nils Blüthgen war unverzichtbar dabei, die Abbildungen zu erstellen, meine Statistikkenntnisse zu erweitern und Druckprobleme zu lösen. Ihm danke ich außerdem für die liebevolle Geduld, mit der er sämtliche Höhen und Tiefen des Schreibprozesses begleitet hat. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern, ohne deren (biographisch frühes) Zutun ich sie nicht hätte schreiben können.
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen ........................................................................................10 Verzeichnis der Tabellen ................................................................................................11
1 Einleitung .....................................................................................................................13 2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung ......................................17 2.1 Entstehungszusammenhang der Lebenslaufforschung in Deutschland ..................17 2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs .................................................................19 2.2.1 Die Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli) .......................................20 2.2.2 Der durch Institutionen geregelte Lebensverlauf (Mayer)...........................24 2.2.3 Der Lebenslauf als Statusbiographie (Levy)................................................27 2.3 Lebenslauf und Individualisierung..........................................................................29 2.3.1 Becks Individualisierungsthese....................................................................30 2.3.2 Individualisierte Lebensläufe? .....................................................................32
3 Zentrale Diskussionspunkte ....................................................................................37 3.1 Der Lebenslauf als Mikro-Makro-Link...................................................................37 3.1.1 Das Problem gesellschaftlicher Ordnung.....................................................37 3.1.2 Die Spannung zwischen Handeln und Struktur ...........................................38 3.1.3 Biographie und Lebenslauf ..........................................................................40 3.1.4 Biographisches Handeln und Entscheiden...................................................43 3.2 Identität und Sozialisation.......................................................................................45 3.3 Lebensläufe von Männern und Frauen....................................................................49 3.4 Der Lebenslauf als Institution .................................................................................53 3.4.1 Zum Institutionenbegriff ..............................................................................53 3.4.2 Der Lebenslauf als ganzheitliches Muster ...................................................56 3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung ..................................63 3.5.1 Gesellschaft und Zeit....................................................................................64 3.5.2 Lebensläufe als Problem zeitlicher Koordination und Integration ..............67
4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs .............75 4.1 4.2 4.3 4.4
Begriffe ...................................................................................................................75 Beschreibungsdimensionen von Übergängen im Lebenslauf .................................77 Gatekeeping und Gatekeeper ..................................................................................78 Sequenzen und Verläufe .........................................................................................80
8
Inhalt
5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs ........83 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Die kulturelle Ebene: Altersnormen, Geschlechterrollen, Zeitkultur .....................84 Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen struktureller Art............................86 Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Sozialpolitik ...................................................87 Organisationen, informelle Beziehungen und Lebenslauf-Verflechtungen ...........88 Die individuelle Ebene............................................................................................89 Forschungsperspektiven..........................................................................................90
6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen ...............................................93 6.1 Die Destandardisierungsthese .................................................................................93 6.2 Begriffe ...................................................................................................................96 6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe.......................101 6.3.1 Die kulturelle Ebene: Wandel von Normen und Werten ...........................101 6.3.2 Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen struktureller Art...............104 6.3.3 Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat..................................105 6.3.4 Organisationen ...........................................................................................107 6.3.5 Familie und verknüpfte Leben ...................................................................108 6.3.6 Individuelle Pfadabhängigkeiten und natürlicher Rahmen........................109 6.3.7 Individualisierung als Quelle von Destandardisierung? ............................109 6.3.8 Wandel biographischer Deutungsmuster ...................................................114 6.4 Die Interpretation der Veränderungsdynamik: Relationen jenseits einfacher Kausalität ...............................................................115 6.5 Aktuelle Destandardisierungsprozesse im historischen und räumlichen Vergleich .....................................................................................116 6.6 Dimensionen der (De-)Standardisierung des Lebenslaufs....................................119
7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse ................................................................123 7.1 7.2 7.3 7.4
Problemstellung und Leitfragen............................................................................123 Die betrachteten Übergänge im Vergleich............................................................125 Das Sozio-ökonomische Panel..............................................................................127 Methoden...............................................................................................................130
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf .................................................................................133 8.1 Forschungsstand und Diskussion ..........................................................................134 8.2 Befunde .................................................................................................................140 8.3 Einordnung und Folgen.........................................................................................151
9 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie ................................................155 9.1 Auszug aus dem Elternhaus ..................................................................................155 9.2 Erste Eheschließung ..............................................................................................159 9.3 Erste Elternschaft ..................................................................................................164
Inhalt
9
9.4 Sequenzen .............................................................................................................169 9.4.1 Die Abfolge familialer Übergänge.............................................................169 9.4.2 Die Abfolge von familialen und beruflichen Übergängen.........................172 9.5 Zwischenfazit ........................................................................................................178
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte .............181 10.1 Der Auszug des letzten Kindes .............................................................................181 10.2 Der Tod des letzten Elternteils..............................................................................187 10.3 Der Übergang in den Ruhestand ...........................................................................191 10.4 Der Tod des Ehepartners.......................................................................................199 10.5 Einordnung der Ergebnisse ...................................................................................206
11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte .....................................................................................209 11.1 Methoden und Variablen.......................................................................................209 11.2 Vorbemerkung: Die Logik familienbiographischer Entscheidungen ...................213 11.3 Der Auszug aus dem Elternhaus ...........................................................................215 11.3.1 Stand der Forschung...................................................................................215 11.3.2 Befunde ......................................................................................................218 11.4 Erste Eheschließung ..............................................................................................229 11.4.1 Stand der Forschung...................................................................................229 11.4.2 Befunde ......................................................................................................234 11.5 Erste Elternschaft ..................................................................................................250 11.5.1 Stand der Forschung...................................................................................250 11.5.2 Befunde ......................................................................................................254
12 Schluss .........................................................................................................................273 12.1 Zusammenfassung der Ergebnisse ........................................................................273 12.2 Folgerungen und Ausblick ....................................................................................280
Literaturverzeichnis ......................................................................................................291 Anhang ..............................................................................................................................317 Anhang A1: Nach Kohorten, Geschlecht und anderem differenzierte Fallzahlen .......317 Anhang A2: Daten und Operationalisierung ................................................................323 Anhang A3: Ergänzende Abbildungen .........................................................................332 Anhang A4: Ergänzende Tabellen ................................................................................336
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 8.1: Abb. 8.2: Abb. 8.3: Abb. 8.4: Abb. 8.5: Abb. 8.6: Abb. 8.7: Abb. 8.8: Abb. 9.1: Abb. 9.2: Abb. 9.3: Abb. 9.4: Abb. 9.5: Abb. 9.6: Abb. 9.7: Abb. 9.8: Abb. 9.9: Abb. 9.10: Abb. 9.11: Abb. 9.12: Abb. 9.13: Abb. 9.14: Abb. 9.15: Abb. 9.16: Abb. 10.1: Abb. 10.2: Abb. 10.3: Abb. 10.4: Abb. 10.5: Abb. 10.6: Abb. 10.7: Abb. 10.8: Abb. 10.9: Abb. 10.10: Abb. A3.1: Abb. A3.2: Abb. A3.3: Abb. A3.4: Abb. A3.5: Abb. A3.6: Abb. A3.7:
Alter bei Beendigung des Schulbesuchs........................................................................ 140 Alter beim letzten Ausbildungs- oder Studienabschluss ............................................... 142 Alter bei erster Erwerbstätigkeit (Voll- und Teilzeit).................................................... 144 Anteil der Teilzeittätigkeiten an erster Erwerbstätigkeit ............................................... 145 Alter bei erster Vollzeit-Erwerbstätigkeit...................................................................... 146 Alter bei erster Erwerbstätigkeit nach Schulabschluss.................................................. 147 Alter bei erster Vollzeit-Erwerbstätigkeit nach weiterführendem Abschluss ............... 148 Abfolge letzter Ausbildungs-/Studienabschluss und erste Erwerbstätigkeit ................. 150 Alter beim Auszug aus dem Elternhaus......................................................................... 158 Alter beim Auszug aus dem Elternhaus nach Schulabschluss....................................... 159 Alter bei erster Eheschließung....................................................................................... 161 Alter bei erster Eheschließung nach Schulabschluss..................................................... 162 Anteil geschiedener Erstehen (nach null bis zehn Jahren Ehe) ..................................... 163 Alter bei der ersten Elternschaft .................................................................................... 166 Alter bei der ersten Elternschaft nach Schulabschluss .................................................. 167 Alter bei letzter Geburt (nur Frauen) ............................................................................. 168 Sequenz Auszug aus dem Elternhaus – erste Eheschließung ........................................ 169 Sequenz Auszug aus dem Elternhaus – erste Eheschließung, nach Schulabschluss ..... 171 Sequenz erste Eheschließung – erste Elternschaft......................................................... 172 Sequenz erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft...................... 173 Sequenz erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft, nach Schulabschluss ...................................................................................................... 174 Sequenz Auszug aus dem Elternhaus, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft ........................................................................................................... 175 Sequenz Auszug aus dem Elternhaus, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft, nach Schulabschluss ........................................................................ 176 Sequenz Schule, Ende Ausbildung/Studium, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft ......................................................................... 177 Alter beim Auszug des letzten Kindes........................................................................... 185 Alter beim Auszug des letzten Kindes nach Schulabschluss......................................... 186 Alter beim Tod des letzten Elternteils ........................................................................... 189 Alter beim Tod des letzten Elternteils nach Schulabschluss ......................................... 190 Alter bei Eintritt in den Ruhestand ................................................................................ 197 Alter bei Eintritt in den Ruhestand nach Schulabschluss .............................................. 199 Alter bei Verwitwung (nur Frauen) ............................................................................... 202 Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand ............................................................................................... 204 Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand (inkl. Rechtszensierter, wenn mind. ein Übergang erfolgt)......................... 205 Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand (inkl. Rechtszensierter, wenn mind. ein Übergang erfolgt)......................... 206 Sequenz 1. Erwerbstätigkeit – letzter Abschluss, nach Schulabschluss........................ 332 Sequenz 1. Erwerbstätigkeit – letzter Abschluss, nach weiterführendem Abschluss.... 332 Alter bei erster Eheschließung nach weiterführendem Abschluss ................................ 333 Alter bei letzter Geburt nach Schulabschluss (nur Frauen) ........................................... 333 Alter bei letzter Geburt nach weiterführendem Abschluss (nur Frauen)....................... 334 Sequenz erste Eheschließung – Geburt des ersten Kindes, nach Schulabschluss ......... 334 Alter bei Eintritt in den Ruhestand nach weiterführendem Abschluss.......................... 335
Verzeichnis der Tabellen Tab. 6.1: Tab. 11.1: Tab. 11.2: Tab. 11.3: Tab. 11.4: Tab. 11.5: Tab. 11.6: Tab. 11.7: Tab. 11.8: Tab. 11.9: Tab. 11.10: Tab. 11.11: Tab. 11.12: Tab. 11.13: Tab. 11.14: Tab. 11.15: Tab. 11.16: Tab. 11.17: Tab. 11.18: Tab. 11.19: Tab. 11.20: Tab. 11.21: Tab. 11.22: Tab. 11.23: Tab. 11.24: Tab. 11.25: Tab. 11.26:
Dimensionen zeitlicher (De-)Standardisierung im Lebenslauf ..................................... 120 Beispiel eines gesplitteten Datensatzes ......................................................................... 210 Auszug aus dem Elternhaus mit Alter, Geschlecht, Geburtskohorte und Interaktionen (discrete-time models)...................................................................... 219 Auszug aus dem Elternhaus mit zeitabhängigen Variablen (discrete-time models) ................................................................................................... 221 Auszug aus dem Elternhaus mit zeitabhängigen Variablen (discrete-time models für einzelne Geburtskohorten) ................................................... 223 Auszug aus dem Elternhaus mit Interaktion Geschlecht-Bildungsbeteiligung (discrete-time models für einzelne Geburtskohorten) ................................................... 225 Auszug aus dem Elternhaus mit Interaktion Alter-Schulabschluss (discrete-time models für einzelne Geburtskohorten) ................................................... 226 Auszug aus dem Elternhaus – Übergang in die Erwerbstätigkeit (discrete-time models für einzelne Geburtskohorten) ................................................... 227 Erste Eheschließung mit Alter und Geburtskohorte (discrete-time models) ................. 235 Erste Eheschließung mit Interaktion Alter-Geburtskohorte (discrete-time models) ..... 237 Erste Eheschließung mit zeitabhängigen Variablen (discrete-time models) ................. 239 Erste Eheschließung mit zeitabhängigen Variablen (multivariat, discrete-time models)................................................................................ 241 Erste Eheschließung und letzter Ausbildungsabschluss (einzelne Kohorten, discrete-time models).................................................................... 243 Eheschließung und Übergang in erste Erwerbtätigkeit (einzelne Kohorten, Männer, discrete-time models) ..................................................... 245 Erste Eheschließung und Übergang in erste Erwerbtätigkeit (einzelne Kohorten, Frauen, discrete-time models)....................................................... 246 Erste Eheschließung, Bildungsbeteiligung und Bildungsniveau (einzelne Kohorten, Männer, discrete-time models) ..................................................... 247 Erste Eheschließung, Bildungsbeteiligung und Bildungsniveau (einzelne Kohorten, Frauen, discrete-time models)....................................................... 249 Erste Elternschaft mit Alter und Geburtskohorte (discrete-time models) ..................... 255 Erste Elternschaft, Interaktion von Alter und Geburtskohorte (discrete-time models) ................................................................................................... 256 Erste Elternschaft mit Schulabschluss und zeitabhängigen Variablen (Männer, discrete-time models)..................................................................................... 258 Erste Elternschaft mit Schulabschluss und zeitabhängigen Variablen (Frauen, discrete-time models) ...................................................................................... 260 Erste Elternschaft und Übergang in die erste Erwerbtätigkeit (discrete-time models) ................................................................................................... 261 Erste Elternschaft und letzter Ausbildungsabschluss (discrete-time models, einzelne Kohorten, Männer) ..................................................... 264 Erste Elternschaft und letzter Ausbildungsabschluss (discrete-time models, einzelne Kohorten, Frauen)....................................................... 265 Erste Elternschaft, Bildungsniveau, Bildungsbeteiligung und erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Männer) ..................................................... 266 Erste Elternschaft, Bildungsniveau, Bildungsbeteiligung und erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Frauen)....................................................... 268 Erste Elternschaft und Übergang in erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Männer) ..................................................... 269
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Verzeichnis der Tabellen
Tab. 11.27: Erste Elternschaft und Übergang in erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Frauen)....................................................... 270 Tab. A1.1: Fallzahlen der Übergänge von der Schule in den Beruf ................................................ 317 Tab. A1.2: Fallzahlen der Übergänge von der Schule in den Beruf (nach Bildung differenziert) .. 318 Tab. A1.3: Fallzahlen der familialen Übergänge in der ersten Lebenshälfte .................................. 319 Tab. A1.4: Fallzahlen der familialen Übergänge in der ersten Lebenshälfte (nach Bildung differenziert) .......................................................................................... 320 Tab. A1.5: Fallzahlen zu Sequenzen der familialen Übergänge in der ersten Lebenshälfte ........... 320 Tab. A1.6: Fallzahlen zu Sequenzen der familialen und beruflichen Übergänge in der ersten Lebenshälfte (teilweise nach Bildung differenziert) ........................................... 321 Tab. A1.7: Fallzahlen der Übergänge in der zweiten Lebenshälfte................................................. 321 Tab. A1.8: Fallzahlen der Übergänge der zweiten Lebenshälfte (nach Bildung differenziert) ....... 322 Tab. A1.9: Fallzahlen zu Sequenzen der zweiten Lebenshälfte ...................................................... 322 Tab. A4.1: Auszug aus dem Elternhaus (discrete-time model nur mit Alter) ................................. 336 Tab. A4.2: Auszug aus dem Elternhaus, Interaktionseffekt Alter-Geschlecht (discrete-time models für einzelne Geburtskohorten) ................................................... 337 Tab. A4.3: Erste Eheschließung (discrete-time model nur mit Alter) ............................................. 338 Tab. A4.4: Erste Elternschaft (discrete-time model nur mit Alter) ................................................. 339 Tab. A4.5: Erste Elternschaft und Interaktion Ausbildungsabschluss/erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Männer) ..................................................... 340 Tab. A4.6: Erste Elternschaft und Interaktion Ausbildungsabschluss/erste Erwerbstätigkeit (discrete-time models, einzelne Kohorten, Frauen)....................................................... 341
1 Einleitung
Der Ablauf menschlichen Lebens ist sozial strukturiert. Übergänge im Lebenslauf werden durch gesellschaftliche Vorgaben und Rahmenbedingungen mitbestimmt und unter anderem über das Bildungssystem und den Wohlfahrtsstaat organisiert. Sie werden durch individuelle Akteure gedeutet, welche sich dabei sich dabei an bestimmten Werten und Normen orientieren. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind Veränderungen, welche die zeitliche Struktur der solcherart organisierten und gedeuteten Lebensläufe betreffen. Mit dem Begriff der Destandardisierung ist die Verwischung der temporalen Regelmäßigkeiten des Lebenslaufs gemeint. Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, den theoretischen Stellenwert und Zusammenhang der populären These der Destandardisierung von Lebensläufen zu klären, sie zu überprüfen, zu präzisieren, gegen weitere gängige Thesen (wie die der Differenzierung und Individualisierung) abzugrenzen und die Bedingungen zu analysieren, unter denen es zu den gemeinten Veränderungen kommt. Damit wird eine Dimension sozialen Wandels soziologisch hinterfragt, die auf der Ebene der alltäglichen Lebenswelt einen selbstverständlichen Topos darstellt. „Viele Menschen haben durch die modernen Lebensverhältnisse ihren individuellen biografischen Faden verloren“ – so lautet etwa die Diagnose eines einschlägigen Ratgebers (van der Brug & Locher 1997), der dann dabei hilft, den Faden wiederzufinden, und zwar mit dem Ziel, beruflich erfolgreicher und zufriedener zu werden. An anderer Stelle wird der Leser dazu angeleitet, den „roten Faden im Lebenslauf“ (Wais 1996) zu erkennen und zum „kreativen Mitgestalter“ seiner Biographie zu werden. Das Bezugsobjekt ist hier zunächst der gesamte Lebenslauf. Diese sowohl theoretisch als auch empirisch breite Perspektive wird eingenommen, obwohl damit eine gewisse Unschärfe der Argumentation sowie notwendigerweise Unvollständigkeiten verbunden sind. Nichtsdestotrotz ist dieser breite Ansatz fruchtbar, unter anderem, weil so die unterschiedlichen „Abschnitte“ des Lebenslaufs hinsichtlich ihrer Standardisiertheit verglichen werden können. Mittels empirischer Analysen mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) wird im zweiten Teil der Arbeit die Relevanz der zunächst nur theoretisch umrissenen Destandardisierungsthese für Westdeutschland geprüft. Im Einzelnen gehe ich wie folgt vor: Im zweiten Kapitel wird zunächst das theoretische Feld der deutschen bzw. deutschsprachigen Lebenslaufforschung erschlossen. Ausgangpunkt ist nach einigen skizzenhaften forschungshistorischen Anmerkungen zum Entstehungszusammenhang dieses Ansatzes (2.1) die relativ textnahe und detaillierte Erörterung dreier theoretischer Konzepte des Lebenslaufs, nämlich derjenigen von Martin Kohli, Karl Ulrich Mayer und René Levy (2.2). Obwohl diese in einer gewissen Konkurrenz zueinander stehen und in wichtigen Punkten divergieren, weisen sie jeweils Stärken auf, die sie in der konkreten Betrachtung von Lebensläufen als einander ergänzend erscheinen lassen. Um die Unterschiede zwischen den drei Ansätzen genauer zu fassen, werden sie im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels (2.3) daraufhin untersucht, ob und wie sie Individualisierungsprozessen eine Bedeutung für die Dynamik von Lebensläufen zumessen; dazu
14
1 Einleitung
wird vorab (2.3.1) die These eines zweiten Individualisierungsschubs vorgestellt, wie sie insbesondere Ulrich Beck geprägt hat. Im dritten Kapitel erörtere ich zentrale Diskussionspunkte der Lebenslaufforschung, die in Hinsicht auf die spätere Analyse von Destandardisierungsprozessen elementar sind. Dabei geht es erstens (3.1) um das Lebenslaufkonzept als potentielles Verbindungsstück zwischen soziologischen Ansätzen der Mikro-Ebene und solchen der Makro-Ebene. Zweitens (3.2) wird diskutiert, was die Lebenslaufperspektive in Bezug auf Sozialisationsprozesse und die Herausbildung personaler Identitäten impliziert. Dabei wird unter anderem auf das Konstrukt der „Selbstsozialisation“ zurückgegriffen. In Abschnitt 3.3 wird eine der kontroversen Debatten aus der Literatur wiedergegeben: Zwar herrscht Einigkeit darüber, dass das Geschlecht eines der herausragenden Merkmale darstellt, nach denen die Struktur von Lebensläufen differenziert ist. Unklar ist allerdings, wie dies theoretisch zu fassen sei – dafür wird am Ende des Abschnitts ein Lösungsvorschlag angeboten. Einen weiteren Anlass für Auseinandersetzungen stellt die Vorstellung des Lebenslaufs als Institution dar (3.4), die ich nach einer ausführlicheren Diskussion des Institutionenbegriffs und einiger Forschungsergebnisse befürworte. Abschnitt 3.5 beleuchtet den Lebenslauf aus einer zeitsoziologischen Perspektive, aus der er die Funktionen der Koordination und Integration von Lebenszeit mit bzw. in gesellschaftliche(n) Zeitstrukturen erhält. Das vierte Kapitel ist dem Konzept des Übergangs gewidmet, das für die folgenden Analysen als theoretisches Handwerkszeug dient. Dabei wird neben begrifflichen Klärungen auch das Verhältnis von Übergängen zu den komplexeren Sequenzen und Verläufen thematisiert. Im fünften Kapitel, das ein Zwischenfazit bildet, beschreibe ich zusammenfassend die wichtigsten gesellschaftlichen Einflüsse auf die Struktur von Lebensläufen. Dabei bearbeite ich die verschiedenen Einflussebenen von der Makroebene ausgehend bis zur Ebene des handelnden Individuums und ende mit einigen Schlussfolgerungen für konkrete Forschungsperspektiven. Im sechsten Kapitel wird die These der Destandardisierung von Lebensläufen expliziert (6.1) und „Destandardisierung“ gegen andere Terminologien abgegrenzt (6.2), etwa gegen jene, die im Titel der Arbeit genannt werden. Im dritten Abschnitt des Kapitels (6.3) nehme ich die in Kapitel 5 behandelten Einflüsse auf den Lebenslauf noch einmal auf und beziehe sie genauer auf die als Destandardisierung bezeichneten Prozesse. Abschnitt 6.4 unternimmt den Versuch, die möglichen Relationen zwischen Lebensläufen und den sie bedingenden Faktoren präzise zu bestimmen. Das Problem der historischen Vergleichsfolie, das sich bei jeder Analyse gesellschaftlicher Veränderungen stellt, wird in Kapitel 6.5 angegangen. Abschließend führe ich die gefundenen Dimensionen von Destandardisierung systematisch auf (6.6). Der zweite Teil der Arbeit (Kapitel 7 bis 11) dient der empirischen Überprüfung, Beschreibung und genaueren Analyse von Destandardisierungsprozessen. Dabei steht der Vergleich der verschiedenen Geburtskohorten im Mittelpunkt. In Kapitel 7 werden zunächst die für die Analyse notwendigen Vorarbeiten geleistet: Ich formuliere noch einmal die inhaltliche Problemstellung und beziehe sie auf die unterschiedlichen Übergänge, stelle mit dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) die Quelle der verwendeten Daten dar und erläutere ihre Auswahl und Operationalisierung sowie die im deskriptiven Teil verwendeten Methoden. Die folgenden drei Kapitel (8 bis 10) sind der deskriptiven Analyse jeweils eines Übergangskomplexes gewidmet. An erster Stelle (8) wird das Timing der unter-
1 Einleitung
15
schiedlichen Schritte von der Schule in die Erwerbstätigkeit untersucht, in Kapitel 9 der Auszug aus dem Elternhaus, die erste Eheschließung sowie die Geburt des ersten Kindes. Da auf den letztgenannten Übergängen der Schwerpunkt der tiefer gehenden Analysen liegt, gehe ich auf die einzelnen Übergänge ausführlicher und getrennt voneinander ein (9.1 bis 9.3). In Kapitel 9.4 werden außerdem unterschiedliche Sequenzen dieser Übergänge in ihren Veränderungen betrachtet. Kapitel 10 stellt einige deskriptive Befunde zu wichtigen Übergängen dar, die gewöhnlich in der zweiten Lebenshälfte erfolgen: Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Übergang in den Ruhestand und Tod des Partners. Nach einer Vorstellung des Forschungsstands werden die Befunde zum jeweiligen Übergang im Einzelnen erörtert sowie am Ende noch einmal zusammengefasst und eingeordnet. Da ein zentrales Ergebnis der deskriptiven Analysen darin besteht, dass die Destandardisierungsthese vor allem für die familialen Übergänge der ersten Lebenshälfte relevant ist, werden diese in Kapitel 11 jeweils einer genaueren Analyse unterzogen. Mittels discrete-time models, die im Prinzip logistischen Regressionen entsprechen, wird für jeden der drei Übergänge der Einfluss des Alters im Zusammenhang mit anderen Einflussfaktoren untersucht. Dabei liegt der Fokus auf den jeweils anderen Übergängen nicht nur des familialen Bereichs, sondern auch des beruflichen, die als unabhängige, zeitabhängige Variablen konzipiert werden. Auf diese Weise wird die Verknüpfungslogik verschiedener Übergänge im Lebenslauf genauer erfasst. Kapitel 12 bildet den Abschluss der Arbeit: Hier fasse ich zunächst wichtige Befunde zusammen und formuliere offene Forschungsfragen (12.1). Im zweiten und letzten Abschnitt (12.2) wird zum einen die Relevanz der Befunde für sozialpolitische Diskussionen erörtert, zum anderen zeige ich auf, inwiefern die Debatte um Destandardisierung in Struktur und Inhalt derjenigen um andere soziologische Entstrukturierungsdiagnosen ähnelt. Zur Eingrenzung des Themas gehört auch der Hinweis auf die bewusst und notwendigerweise gesetzten Grenzen der Bearbeitung des Gegenstands. Angesichts der unüberblickbaren Fülle von Beiträgen zur Lebenslaufforschung bleibt die Literaturgrundlage mehr als vielleicht bei anderen Themen zwangsläufig unvollständig. Dies gilt insbesondere in Bezug auf den zweiten, empirischen Teil der Arbeit: Zu jedem der thematisierten Lebensereignisse gibt es eine Fülle von Literatur, von der jeweils nur ein Bruchteil rezipiert wird. Trotzdem werden bei jedem Ereignis wichtige Ansätze und Forschungsbeispiele genannt. Ziel der Arbeit ist es unter anderem, Veränderungen im Überblick und im Gesamtkontext der theoretischen Debatten um die Einordnung der Veränderungen darzustellen. Diese Perspektive lässt einzelne Details verschwimmen oder gar nicht erst erscheinen. Entsprechend werden die anfänglichen forschungshistorischen Überlegungen skizzenhaft und auf die deutsche Forschung beschränkt bleiben. Dies geschieht nicht aus einer Missachtung insbesondere der angloamerikanischen Lebenslaufforschung heraus, sondern weil bestimmte grundlegende Diskussionen, wie z. B. die um Individualisierung, bisher eher im deutschen Sprachraum geführt werden und es mehr Zeit und Raum kostete, eine Verbindung zu anders ansetzenden Konzepten herzustellen. Die Beschränkung der empirischen Analysen auf Westdeutsche dient der größtmöglichen Konzentration auf eine Vergleichsebene, nämlich die der Kohorten. Mit dem Einbezug Ostdeutschlands in die Analysen käme eine ganz neue, besondere Dimension in die Untersuchung, nämlich diejenige historischer Umwälzungen und ihrer Auswirkungen auf Lebensläufe, die zugunsten der genauen Beschreibung einer „normalen“, langsam und
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1 Einleitung
stetig verlaufenden Entwicklung ausgeblendet wird. Ähnliches gilt für in Deutschland lebende Ausländer, die ebenfalls von den Betrachtungen ausgeschlossen werden, da hier wieder andere Einflussbedingungen gelten. Die Einschränkung der multivariaten Analysen auf familiale Übergänge der ersten Lebenshälfte ist inhaltlich begründet, da hier die Destandardisierungsthese deskriptiv am eindeutigsten belegt wird. Vor allem die deskriptiven Analysen zur zweiten Lebenshälfte werden nicht vertieft, da die betreffenden Übergänge eine ganz andere zeitliche Struktur aufweisen, für welche die Gegenüberstellung von Standardisierung und Destandardisierung weniger relevant ist (mit Ausnahme des Übergangs in den Ruhestand). Aber allein das ist angesichts der häufig verallgemeinernden Diagnose der „Destandardisierung des Lebenslaufs“ ein wichtiger Befund. Die Strukturierungsleistungen des modernen Lebenslaufregimes, das einen Mechanismus zur Positionierung im Gefüge sozialer Ungleichheit darstellt, kommen ebenfalls nur am Rande zur Sprache (beispielhaft Mayer & Hillmert 2004; O’Rand 1996b; Berger 1995; Berger 1990; Mayer & Blossfeld 1990). Ebenso werden bei der Betrachtung Gruppen vernachlässigt, die keinen der dargestellten Übergänge durchlaufen (etwa Männer ohne Schul-, Ausbildungsabschluss und ohne jede Familie). Die Darstellung konzentriert sich auf diejenigen Übergänge, die für die meisten Personen, aber nicht für alle zum Normal-Lebenslauf gehören.
2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
Als Grundlage für die spätere Diskussion werden im Folgenden theoretische Perspektiven und grundsätzliche Positionen der Lebenslaufforschung einer vergleichenden Analyse unterzogen, da die Interpretation historischer und aktueller Veränderungen von Lebensläufen eng mit ihrer theoretischen Konzeptualisierung zusammenhängt. Am Beginn steht ein kurzer Überblick über den inhaltlichen Entstehungshintergrund der deutschen Lebenslaufforschung, d. h. über einige Forschungsbereiche, welche die soziologische Beschäftigung mit Lebensläufen im engeren Sinne angeregt oder beeinflusst haben. Diese wenigen Beispiele geben eine Idee davon, in welchem Kontext dieser Forschungszweig entstanden ist, erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit und reichen nicht weit in die Vergangenheit zurück. Fast alle der genannten Quellen sind immer noch vitale Forschungsbereiche, die in die soziologische Lebenslaufforschung hineinragen, sie immer wieder befruchten oder umgekehrt von ihr beeinflusst werden.
2.1 Entstehungszusammenhang der Lebenslaufforschung in Deutschland Nach Schmeiser (2004; vgl. auch Kohli 1981b) sind die allerersten Anfänge der Lebenslauf- und Biographieforschung auf der einen Seite in der beginnenden Sozialberichterstattung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, auf der anderen Seite in der zunächst vor allem historischen, psychologischen und erst in zweiter Linie soziologischen Beschäftigung mit Biographien auch von nicht historisch relevanten Einzelpersonen zu sehen. Eine empirisch orientierte soziologische Lebenslaufforschung im engeren Sinne entstand jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst wurden soziale Regelmäßigkeiten der Lebensläufe von Personen aus bestimmten sozialen Gruppen untersucht, Gemeinsamkeiten, die in der besonderen Prägung einzelner Geburtskohorten z. B. durch besondere historische Umstände (Ryder 1965; Elder 1974; Elder & Rockwell 1978; Müller 1978) oder allein durch ihre Größe begründet waren. Dieser Strang der Forschung ist eine ertragreiche Grundlage für empirische Analysen geblieben. In engem Zusammenhang dazu steht die Beschäftigung mit historischen Generationen (klassisch: Mannheim 1928; vgl. auch Kohli & Szydlik 2000): Eine Auswirkung der besonderen historischen Verortung von Lebensläufen kann ein gemeinsamer Erfahrungs- und Deutungshintergrund von Individuen sowie die Formierung kollektiver Akteure sein. Die zeitliche Lagerung des individuellen Lebenslaufs wird hier zu einer wichtigen Bedingung der Vergesellschaftung des Individuums. Die Theorie der Altersschichtung (Riley et al. 1972; Riley et al. 1999) stellt das Lebensalter und damit die aktuelle Position im Lebenslauf in den Mittelpunkt, welche die jeweils wirksamen Altersnormen und Altersrollen bestimmt (Foner 1978; Neugarten et al. 1978). Lebensalter wird innerhalb eines strukturfunktionalistisch orientierten theoretischen Rahmens als ein entscheidender Faktor der gesellschaftlichen Stratifizierung betrachtet – und überbewertet, so die häufige Kritik. Internalisierte Altersnormen und -rollen stellen die
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
kulturelle Seite dieser Altersschichtung dar, über die Individuen ihr Verhalten regulieren und das Verhalten anderer typisieren. An den Ergebnissen ethnologischer Studien z. B. zu Altersklassengesellschaften kann die normative Rahmung der Altersstufen und des Alternsprozesses, wie sie in modernen westlichen Gesellschaften erfolgt, gemessen werden (Foner & Kertzer 1978; Fosbrooke 1978; Elwert et al. 1990). Auch neuere Entwicklungen in der Sozialisationsforschung, in deren Zuge Sozialisation als lebenslanger Prozess (Kohli 1976; Hurrelmann 1976; Kohli 1991) konzipiert wird, überschneiden sich thematisch mit lebenslaufbezogener Forschung. Hier gingen einige Impulse von der Lebenslaufforschung aus, in deren Folge sich die Sozialisationsforschung weiterentwickelte. Die gesellschaftliche Prägung des Individuums, in klassischen Ansätzen der Sozialisationstheorie (und nicht nur in strukturfunktionalistischen) häufig als relativ einseitig und am Ende des Jugendalters größtenteils abgeschlossen betrachtet, wird in der neueren Sozialisationsforschung aufgebrochen zugunsten einer Perspektive, welche die Wechselseitigkeit und die Dynamik dieses Verhältnisses und seine Veränderung über den Lebenslauf hinweg fokussiert. Auf diese Weise rückt zum einen die Sozialisation Erwachsener ins Zentrum des Interesses (Brim & Wheeler 1974; Kohli 1995), zum anderen impliziert das Wechselverhältnis insbesondere in der Phase des Erwachsenenlebens auch Sozialisationsimpulse, die vom nun nicht mehr als passiv verstandenen Individuum selbst ausgehen und die mit dem Begriff „Selbstsozialisation“ (Heinz 2000; Hoerning 2000a; Heinz 2002) umschrieben werden. Die Entwicklung der Lebenslaufforschung ist ebenso kaum denkbar ohne interdisziplinäre Anregungen. Die aus dem Interesse am Zusammenspiel zwischen Persönlichkeit und Lebenslauf erwachsene Lebensspannen-Entwicklungspsychologie („(developmental) life span psychology“) (z. B. P. Baltes et al. 1977 und Baltes 1997; Brandtstädter 1990; Faltermaier et al. 1992; Brandstädter & Lerner 1999) ist aus der Kritik an der klassischen Entwicklungspsychologie hervorgegangen und setzt sich u. a. mit der Wirkung von kritischen Ereignissen und Wendepunkten im Lebenslauf auseinander (z. B. Krause 2005). Sozialgeschichte und historische Demographie haben wichtige Informationen zur Veränderung von Lebensläufen im Zuge der Modernisierung beigetragen (Imhof 1981, 1984, 1990), ebenso wie die historische Darstellung der Herausbildung bestimmter Lebensphasen (z. B. Ariès 1975/1994). Eine Vielzahl empirischer Studien zu einzelnen Lebensereignissen, zum Familienzyklus und zu den Rahmenbedingungen des Alters kommt aus der demographischen Forschung (z. B. Höpflinger 1997), der Sozialanthropologie und der Ethnologie. Es zeigt sich in diesen knappen Andeutungen, wie reichhaltig und multidimensional die soziologische Lebenslaufforschung orientiert ist.1 Die Forschungsbereiche, aus denen sie Anregungen, Konzepte oder Material bezieht, sind durch mindestens eine der folgenden Eigenschaften gekennzeichnet: Erstens ist ihr Blick oft zentriert auf die Betrachtung des Individuums und seiner Vergesellschaftung, die als prinzipiell wechselseitiger Prozess
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Für weitergehende ordnende Überblicke über Wurzeln und Entwicklung der Lebenslaufforschung vgl. beispielsweise Mayer (2004: 167ff), Heinz und Krüger (2001), Blossfeld und Huinink (2001), Mayer (2000), Ecarius (1996), Mortimer und Shanahan (2003), MacMillan 2005 (5ff) und Schmeiser (2004) mit Schwerpunkt auf der Biographieforschung. Mayer (2000) unterzieht insbesondere die „Erfindung“ der Längsschnittstudien und die damit verbundenen methodischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte einer kritischen Begutachtung.
2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs
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aufgefasst wird. Dieses Problem steht auch im Kern der deutschen Individualisierungsdebatte (beispielhaft Beck 1986; Beck & Beck-Gernsheim 1994; Friedrichs 1998). Das Individuum ist in anderen Forschungsbereichen zwar sehr wohl Gegenstand theoretischer Überlegungen – hier jedoch gewinnt es in seiner gesellschaftlich bedingten Individualität ein Eigengewicht, das es lange so nicht hatte, da es in den Augen der Soziologen in der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen aufging. Individuelle Akteure erscheinen nunmehr nicht nur als in gesellschaftliche Strukturen eingebunden, sondern wirken umgekehrt mit ihrem Handeln potentiell auch auf diese ein. Eine zweite Innovation2, die einige der hier genannten Ansätze gemeinsam haben, besteht darin, dass sie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht statisch fassen, sondern dass Zeit als dynamischer Faktor z. B. in Form von Alter, Geburtskohorte oder historischem Hintergrund des Lebens in die Betrachtung eingeht (für einen frühen Überblick vgl. Kohli 1978). In welcher Weise sich diese beiden Akzente der Lebenslaufforschung, der Fokus aufs Individuum und der Einbezug von individueller und gesellschaftlicher Zeit, in der Lebenslaufforschung niederschlagen, wird im folgenden Kapitel deutlich, in dem drei bedeutsame Konzepte des Lebenslaufs vorgestellt werden.
2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs Wenn hier verkürzend von „der“ Lebenslaufforschung die Rede ist, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Sammelbecken unterschiedlicher Perspektiven handelt. Diese haben jedoch gemeinsam, dass sie Lebensläufe einzelner Personen im Kontext derjenigen Gesellschaft betrachten, in der sie leben. In dieser Hinsicht kann die Lebenslaufforschung als Paradebeispiel einer am Individuum ansetzenden Soziologie gelten, obwohl die verschiedenen Ansätze dies unterschiedlich stark betonen. Außerdem besteht zumeist der Anspruch, nicht auf der Mikroebene des individuellen Lebenslaufs stehen zu bleiben, sondern eine Einbettung in Meso- und Makrostrukturen zu leisten, d. h. die Ebenen der Institutionen und Organisationen sowie ganzer Gesellschaften einzubeziehen. Die letztgenannte Erweiterung ermöglicht auch den internationalen Vergleich. In den nachstehenden Absätzen werden beispielhaft drei unterschiedliche Perspektiven auf den Lebenslauf beschrieben.3 Dabei wird deutlich, dass es auch von der theoretischen Herangehensweise abhängt, welche Ursachen für Veränderungen in den Blick genommen werden (können) und welche außerhalb der jeweiligen Perspektive liegen – die Interpretation von empirischen Befunden ist deswegen nie ohne (mindestens impliziten) Rückgriff auf theoretische Vorentscheidungen möglich. Keineswegs schließen diese Konzepte einander 2
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Hierbei handelt es sich nicht um Innovationen in dem Sinne, dass diese Ideen noch nie gedacht wurden – dem ist nicht so, wie das Studium soziologischer Klassiker ergäbe. Vielmehr ist hier gemeint, dass eine bestimmte Perspektive – hier die besondere Betonung zeitlicher Aspekte der sozialen Einbindung von Individuen – eine größere Verbreitung erfährt und zunehmend Gegenstand von Studien wird, die das Feld auch methodisch innovativ bearbeiten. Die hier vorgestellte Einteilung theoretischer Ansätze bezieht sich nur auf die deutschsprachige Forschung. Sie ergibt sich nicht zwangsläufig aus den Ansätzen selber und wird auch von den jeweiligen Autoren nur teilweise in dieser abgrenzenden Weise vertreten. Mit anderen Ordnungskriterien käme man zu anderen Einteilungen (für ein weniger überzeugendes Beispiel vgl. z. B. Ecarius 1996).
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
unbedingt aus; sie differieren unter anderem hinsichtlich ihres Erklärungsanspruchs auf den unterschiedlichen Ebenen, was wiederum folgenreich für den Umgang mit empirischen Befunden ist. Zunächst werden die These der Institutionalisierung des Lebenslaufs und ihre Implikationen vorgestellt, wie sie Kohli (1985, 1986a) vertritt. Mayer (1986, 1987, 1988a, 1990, 2001; Mayer & Müller 1986) setzt einen Akzent auf die staatlichen Regelungen des Lebenslaufs; Levy (1977, 1996) vertritt in gewisser Weise eine Zwischenposition, mit der ich mich in vergleichsweise knapper Form auseinandersetze. Die zeitliche Entwicklung der drei Perspektiven wird in der folgenden Darstellung nicht im Einzelnen verfolgt.4
2.2.1 Die Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli) Im Kern dieses Ansatzes steht die These, der Lebenslauf habe in modernen Gesellschaften die Form einer Institution angenommen: Er wird verstanden als „Regelsystem[…], das einen zentralen Bereich oder eine zentrale Dimension des Lebens ordnet“, und damit als „eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension“ (Kohli 1985: 1). Dieses Lebenslaufregime, in welchem dem Lebenslauf der Charakter einer Institution zukommt, ist ein spätes Ergebnis der Modernisierung westlicher Gesellschaften, welche hier vornehmlicher Bezugspunkt sind. Die Institution des Lebenslaufs zeichnet sich Kohli zufolge erstens durch eine Verzeitlichung aus: Die Vorstellung, dass die (Lebens-)Zeit stetig verfließt, ist zentral für die Regelung des Ablaufs des individuellen Lebens. Im Gegensatz dazu entsprach Alter in vergangenen Lebenslaufregimes eher einem kategoriellen Status, über den das Individuum unterschiedlichen Altersgruppen zugeordnet wurde und der sich nicht stetig, sondern in Stufen veränderte. Die Tatsache, dass Vergesellschaftung nicht mehr über die Zuordnung zu Altersgruppen erfolgt, sondern über das chronologische Alter, wird zweitens mit dem Stichwort der Chronologisierung gefasst. Drittens wird der Lebenslauf so zu einem „Vergesellschaftungsprogramm, das an den Individuen als eigenständig konstituierten sozialen Einheiten ansetzt“ (Kohli 1985: 3) und damit die Herauslösung des Einzelnen aus ständischen und lokalen Bindungen, sprich Individualisierung ermöglicht. Viertens gehen zentrale Impulse der Organisation des modernen Lebenslaufregimes vom Erwerbssystem aus, das den Lebenslauf grob in eine „Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase“ (Kohli 1985: 3) gliedert. Für Kohli ist der Lebenslauf eine Kerninstitution der Arbeitsgesellschaft (auch Osterland 1990). Fünftens lässt sich der institutionalisierte Lebenslauf wie alle Institutionen
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Dieses anspruchsvolle Unterfangen wäre mit mehreren Problemen behaftet. In Bezug auf die Position Kohlis verkürzt die obige Darstellung die Entwicklung über die Zeit am wenigsten, da sich der Fokus der Publikationen Kohlis mit der Zeit auf andere Fragen verschiebt, die den grundsätzlichen Ausführungen aus den 1980er Jahren und früher aber weder widersprechen noch sie relativieren. Bei Mayer wäre es schwierig, eine systematische Weiterentwicklung zu belegen und nachzuzeichnen, da er scheinbar unsystematisch und in Abhängigkeit von Kontext und empirischer Fragestellung unterschiedliche Akzente setzt, frühere Gedankengänge fallen lässt, andere wieder aufgreift etc. – so wird in einem seiner neuesten Texte (Brückner & Mayer 2005) und im Gegensatz zu sämtlichen früheren Äußerungen der Wertewandel als eine Bedingung der aktuellen Lebenslaufdynamik zumindest erwähnt. Bei Levy wird hier ganz bewusst der Schwerpunkt auf seine neuere Publikation gesetzt, die in Hinsicht auf die verfolgte Fragestellung anschlussfähiger und insgesamt überzeugender ist.
2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs
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zum einen betrachten aus der objektiven Perspektive der Regelungen, die ihn als Ablauf bestimmter Sequenzen und Karrieren konstituieren, zum anderen aus der subjektiven Perspektive des Individuums, das ihn in seiner Lebenswelt als normativen Orientierungsrahmen seines Handelns erlebt.5 Die letztere, im engeren Sinne biographische Perspektive, ist diejenige der Biographieforschung, die die subjektive Konstruktion von Biographien innerhalb des Orientierungsrahmens thematisiert. Vielförmige Befunde können diese Veränderungen im Lebenslaufregime illustrieren. Eine Grundbedingung für dessen Herausbildung ist die Erhöhung des Sterbealters und die Konzentration des Todesereignisses auf das höhere Lebensalter (Kohli 1985: 3ff). Erst aufgrund der so gewonnenen zeitlichen Stabilität werde der Lebenslauf zu einer vorhersehbaren Größe, mit der das Individuum „rechnen“ und die nicht jederzeit durch den überraschend eintreffenden Tod beendet werden könne. Beim Familienzyklus (Kohli 1985: 6ff) ist z. B. mit der wegen geringerer Sterblichkeit abnehmenden Fluktuation der Familienmitglieder sowie mit abnehmender Varianz des Heiratsalters eine Tendenz zu einem Normallebenslauf festzustellen, den es in dieser Form zuvor nicht gab: Es finden sich bestimmte zeitliche Muster z. B. der Familiengründung, die von einem Großteil der Gesellschaftsmitglieder verwirklicht werden, und diese Muster werden immer seltener beispielsweise durch den Tod des Ehepartners in einer frühen Familienphase unterbrochen. Des Weiteren entsteht ein System öffentlicher Rechte und Pflichten, die über das Alter geregelt werden und die u. a. die schon genannte Dreiteilung des Lebenslaufs in eine auf die Erwerbsarbeit vorbereitende Lebensphase, eine Erwerbsphase und eine nachberufliche Lebensphase bewirken (Kohli 1985: 8ff). Als Beispiele können die Regelungen des Schul- und Alterssicherungssystems, die Bestimmungen zur zivil- und strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder das Wahlrecht genannt werden. Mit diesen strukturellen, z. B. von sozialstaatlichen Institutionen gerahmten Veränderungen gehen weitere in den biographischen Perspektiven einher, also in den subjektiven Orientierungen des Lebenslaufs: Die Institution des Lebenslaufs strukturiert auch die lebensweltlichen (Zeit-)Horizonte der Individuen. Kohli nennt dies die soziale „Pragmatik der Altersgrenzen“ (1985: 10, Hervorhebung im Original), die den subjektiven Umgang mit den durch Altersgrenzen an das Individuum gestellten Anforderungen meint, für den es gelernte Standard-Antworten gibt. Eine Voraussetzung dafür, dass Individuen nicht nur spontan und impulsiv auf an sie gestellte Anforderungen reagieren, sind laut Kohli die z. B. von Elias und Foucault beschriebenen Zivilisationsprozesse. In diesen wird die Kontrolle durch Kleingruppen, in denen das Individuum lebt, zunehmend ersetzt durch eine Affektkontrolle, die es selbst zu leisten hat. Diese Affektkontrolle ermögliche erst eine langfristige, reflexive Lebensplanung. Doch Kohli bleibt nicht bei diesem Blick auf die Veränderungen des Lebenslaufs, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Institutionalisierung des Lebenslaufs im Zuge von Modernisierungsprozessen notwendig gemacht haben. Er macht vier gesellschaftliche Grundprobleme aus, auf welche die Institution des Lebenslaufs eine 5
Schmeiser (2006) zeigt anhand historischen Materials auf, wie sich die Institutionalisierung des Lebenslaufs subjektiv und objektiv vollzogen hat. Als Beispiele dienen ihm die Durchsetzung des Jahrgangsklassensystems in Schulen, die Verbreitung von Tagebüchern und Lebenserinnerungen, die Diffusion der Kenntnis des eigenen Lebensalters und die entsprechende Praktik des Feierns von Geburtstagen.
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
Antwort darstellt (1985: 13ff) und bei denen wiederum Wechselwirkungen des Lebenslaufs mit dem Erwerbssystem und dem Wirtschaftssystem entscheidend sind. Erstens ist die Verregelung des Lebenslaufs als Teil eines Rationalisierungsprozesses deutbar. Der Lebenslauf muss regelhaft und berechenbar werden, indem bestimmte Probleme lebenszeitlich aus der Haupterwerbsphase des Lebens (dem Erwachsenenalter) ausgegliedert werden und indem auch das Individuum selbst in seiner Lebensführung sich mehr und mehr rationalen Standards unterwirft – der klassische Gewährsmann für diese Entwicklung ist Max Weber mit seiner Analyse der protestantischen Ethik der Lebensführung (Weber 1905/1966). Hier ist die Rationalisierung des Lebenslaufs (!) Teil des gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesses von Subsystemen, die sich im Lebenslauf widerspiegeln: Die Erwachsenenphase entspricht dabei dem ausdifferenzierten Subsystem der Wirtschaft und des Erwerbs. Zweitens dient die Institutionalisierung des Lebenslaufs der sozialen Kontrolle. Über Altersnormen z. B. wird diese Kontrolle mehr und mehr ins Individuum verlagert, da die Lokalgesellschaft diese Aufgabe immer weniger übernimmt – der Lebenslauf vergesellschaftet das Individuum und nicht mehr ganze Gruppen, über die vormals die entsprechende Kontrolle organisiert war. Drittens fallen in modernen Gesellschaften familiale und ökonomische Nachfolgeregelungen nicht mehr zusammen. Der institutionalisierte Lebenslauf ist nun ein Mittel, über das Sukzession entweder auf dem freien Arbeitsmarkt oder auf internen Arbeitmärkten geregelt wird. Viertens wird über den Lebenslauf die Integration der früher in der Einheit des ganzen Hauses zusammenfallenden Lebensbereiche Familie und Erwerbssystem geleistet. Während sich Übergänge früher aus der Produktion und Reproduktion eben dieses ganzen Hauses ergaben, rückt mit dem neuen Regime der Lebenslauf als eigene Ebene in den Vordergrund, über den das Verhältnis der beiden Bereiche teils synchron, teils diachron geregelt werden muss – der Lebenslauf ist eine Institution, „die verschiedene Teilbereiche des Handelns als integriertes Gesellschaftsprogramm zusammenfaßt“ (Kohli 1986a: 183). Die Gestaltung dieses Verhältnisses ist heute einer der Schwerpunkte der Forschung. Kohli macht beim Lebenslauf die für Institutionen wesentliche Janusgesichtigkeit aus, einerseits ein festes Gerüst der Handlungsorientierung im Bereich der Lebensführung darzustellen und somit von Handlungsdruck zu entlasten, andererseits im Prinzip freies Handeln einzuschränken und, gemessen am kontingenten Handlungsraum, auf wenige Möglichkeiten festzulegen (Kohli 1985: 19f). Sie schlägt sich in Bezug auf den Lebenslauf als Spannung zwischen der Ebene der objektiven Regelungen und der biographischen Orientierung nieder. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene entspricht diese Spannung der Frage danach, wie System- und Handlungstheorie zueinander in Beziehung zu setzen sind. Als Lösung dieser Spannung sind nach Kohli auf theoretischer Ebene verschiedene Formen des Verhältnisses von objektiver Lebenslaufregelung und subjektiver Lebenslaufkonstruktion denkbar (1985: 20f): Zum Ersten kann diese Spannung aufgelöst werden, indem den regelnden Institutionen der theoretische Vorrang gegeben wird vor dem biographischen Spielraum auf der Handlungsebene, der sozusagen wegdefiniert wird. Zum Zweiten kann argumentiert werden, dass objektives Programm und subjektiver Orientierungsrahmen sich ergänzen. In diesem Fall fänden sich die objektiven Regelungen eins zu eins auf der kulturellen Deutungsebene wieder (ohne dass dies hieße, sie würden im Handeln immer perfekt erfüllt). Dies ist mit einer Auflösung der Spannung gleichzusetzen. Das dritte Modell schließlich – näher am zweiten als am ersten zu verorten – verneint nicht etwa ein solches Entsprechungsverhältnis von individueller Orientierung und gesellschaftlicher
2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs
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Institution, postuliert aber, dass damit die Spannung keineswegs aufgelöst sei. Vielmehr behalte individuelles Handeln einen Eigensinn, habe immer den „Charakter des offenen Entwurfs“ und weise damit „ein Moment von Emergenz und Autonomie“ (1985: 21) auf. Die Dynamik, mit der sich hier Individualität entfalte, gehe eben nicht im institutionalisierten Lebenslauf auf. Damit sind auch schon die Veränderungen angedeutet, die Kohli, am Ende seiner Betrachtungen in Gegenwart und Zukunft umschwenkend, beschreibt. Diese werden weiter unten nach der Skizzierung der anderen grundlegenden Perspektiven auf den Lebenslauf thematisiert. Für die Konzeptionalisierung der in dieser Arbeit angesprochenen Destandardisierungsprozesse hat das von Kohli postulierte Verhältnis von LebenslaufStandardisierung und Individualisierung besondere Folgen, die aber erst später in der Zusammenschau mit den anderen zu diskutierenden Ansätzen erörtern werden. Kohlis Ausführungen zur Institutionalisierung des Lebenslaufs sind nicht nur eine der klassischen Referenzen in der Lebenslaufforschung, sie haben auch Widerspruch hervorgerufen. An dieser Stelle beschränke ich mich auf zwei wichtige Kritikpunkte. Schnell fällt auf, dass Kohlis Idee vom Normallebenslauf stillschweigend typische männliche Lebensläufe zum Modell nimmt. Kohli wird vorgeworfen, empirisch einfach die Hälfte der gelebten Lebensläufe zu übersehen, damit auch den Bereich des Erwerbslebens übermäßig zu betonen und denjenigen der Familie auszuklammern (Born & Krüger 2001b: 13f). Kohli selbst reagiert auf diesen Vorwurf mit der Anmerkung, dass der überwiegende Bezug auf den männlichen Normallebenslauf implizit darauf verweist, dass Frauen im traditionellen Modell der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, dem des männlichen Ernährers, über ihre Ehemänner vergesellschaftet sind und auch in ihrer Lebenslaufgestaltung nicht nur ökonomisch von diesen Männern abhängen. Mit der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit löse sich diese Abhängigkeit aber auf und Frauen hätten selbst am Programm des Normallebenslaufs teil. Kohli hat es aber zumindest versäumt, dies in der klassischen Formulierung seiner Thesen explizit auszuführen. Außerdem konzediert er mit Hinweis auf Allmendinger (1994), dass Frauen selbst bei einer Beteiligung am Erwerbssystem „zu einer weniger günstigen lebenszeitlichen Bilanz und damit auch zu einem anderen Verhältnis des Ertrags von Investitionen in Arbeitsmarkt und Elternschaft“ kämen als Männer (Kohli 2003: 531f). Dem zugrunde liegt die normative Dominanz des männlichen Normallebenslaufs, die bei Frauen zu einer schlechteren Planbarkeit, schlechterer Absicherung und zu größerer biographischer Unsicherheit führt. Borns und Krügers Kritik, dass dem Bereich der Familie, in den Frauen mehr Lebenszeit als Männer investieren, zu wenig Bedeutung beigemessen werde, kann entsprechend beantwortet werden: Die sozialpolitische Gestaltung von Lebensläufen ist in Deutschland lange entweder auf den männlichen, kontinuierlichen Erwerbsverlauf zugeschnitten gewesen oder eben auf die Ehefrau, die vor allem Aufgaben im Reproduktionsbereich übernimmt und dann über den männlichen Lebenslauf vergesellschaftet wird. Erst in den letzten Jahrzehnten übt die wachsende Frauenerwerbstätigkeit einen gewissen Druck aus, die entsprechenden sozialpolitischen Vorgaben zu verändern. Insofern spiegelt Kohlis Akzentuierung des Erwerbsbereichs die Tatsache wider, dass dieser Sphäre in den sozialpolitischen und anderen Regelungen eine größere Bedeutung zukommt als derjenigen der Familie. Dass die Familie de facto einen wichtigen Gestaltungsfaktor weiblicher Lebensläufe darstellt, wäre jedoch eine ausführlichere Erörterung wert gewesen. In der späteren empirischen Analyse dient das Geschlecht deswegen als eine grundlegende Dimension der Differenzierung.
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
Ein zweiter Vorwurf lautet, dass Kohli jenseits der formalen Bestimmung der dem modernen Individuum aufgegebenen eigenen Lebensführung implizit auch eine inhaltliche vornehme, die orientiert sei an hierarchischen Modellen der Entwicklungspsychologie und Prinzipien wie Selbstverwirklichung und Entfaltung der Persönlichkeit beinhalte. Anders ausgedrückt weise die von Kohli beschriebene Chronologisierung ein teleologisches Moment auf (Wohlrab-Sahr 1992: 11). Tatsächlich benutzt Kohli insbesondere dann, wenn er das Verhältnis des Lebenslaufs zum Individualisierungsprozess beschreibt, Begrifflichkeiten wie „Emergenz“, „Weiterentwicklung“ (Kohli 1985: 21) oder „Entwicklung im Sinn von ‚Wachstum’“ (1985: 24), um die interne Logik der Institution des Lebenslaufs zu beschreiben. Wohlrab-Sahr sieht diese Tendenz zur Teleologie deswegen als problematisch an, weil gerade die Entwicklung zur De-Institutionalisierung auch eine Auflösung der dem institutionalisierten Lebenslauf innewohnenden Teleologie bedeuten könne. Dieser Einwand geht meines Erachtens jedoch ins Leere: Eine Auflösung dieser Tendenz zur Teleologie muss nicht bedeuten, dass es vorher im verbreiteten Modell des Ideal-Lebenslaufs nicht etwa ein solches teleologisches Moment gegeben habe, wenn auch nur als Norm, als Ideal der inhaltlichen Gestaltung des Lebens sowie als wichtiges biographisches Interpretationsmuster und nicht als de facto bei allen vorhandenes Entfaltungsmuster der Persönlichkeit.
2.2.2 Der durch Institutionen geregelte Lebensverlauf (Mayer) Wenn Kohli (1985) verschiedene Modelle diskutiert, mit der Spannung zwischen Systemund Handlungsebene theoretisch umzugehen, erwähnt er als erste Option die Möglichkeit, die Handlungsebene ganz auszublenden. Dabei bezieht er sich auf einen Text von Mayer (1986). Die von Mayer hier geschilderten historisch-demographischen Befunde sind die gleichen wie die von Kohli angeführten, jedoch betont er eine ganz andere Perspektive auf den Lebenslauf und kommt zu anderen Schlussfolgerungen. Dies geschieht schon mittels der sprachlichen Einschränkung des Ansatzes. Sein Gegenstand sind explizit Lebensverläufe, und zwar individuelle Lebensverläufe als „eine Abfolge von Aktivitäten und Ereignissen in verschiedenen Lebensbereichen und verschiedenen institutionalisierten Handlungsfeldern“ (Mayer 1990: 9). Mayer fokussiert hier das Verhältnis zwischen makrostrukturellem Rahmen und individuellen Lebensverläufen. Diese Akzentsetzung ist darin begründet, dass er die Frage nach dem Verhältnis von System und Handeln in der Konstitution von individuellen Lebensläufen mit dem Hinweis auf die alles andere überdeckende Kraft der Strukturen beantwortet, womit er explizit eine Gegenposition zur amerikanischen Lebenslaufforschung der frühen 1980er Jahre einnimmt: „Quite to the contrary of a point of view claiming a sharply reduced degree of social regulation of life courses, we should like to stress their overwhelming structural embeddedness“ (Mayer 1986: 166, Hervorhebung S. Sch.). Entschieden wendet sich Mayer dagegen, sich zu lange mit den auf den Lebenslauf bezogenen Handlungen der Individuen aufzuhalten, da in einer solchen Betrachtungsweise die Gefahr liege, die tatsächlichen Einflussfaktoren zu verschleiern: „Eine soziologische Betrachtungsweise, die nun in dominanter Weise auf Individuen, deren Handlungsressourcen, Motive, Entscheidungen, Einstellungen, Lebensgeschichten und Ungleichheiten ausgerichtet ist, muß daher zwangsläufig Gefahr laufen, sich in Epiphänomenen zu verlieren. Wesentlich ist dabei, daß zwar die an Individuen beobachtbaren Ergebnisse gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse registriert werden können, aber die deren Zustandekommen
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zugrunde liegenden generierenden Institutionen und Mechanismen verdeckt bleiben“ (Mayer 1988a: 24). Mayer möchte die Analyse von Lebensverläufen eingebunden wissen in diejenige des gesamtgesellschaftlichen Wandels. Die Gestalt des modernen Lebenslaufs ist für ihn ein Ergebnis gesellschaftlichen Wandels und genau dieses Verhältnis gilt es zu analysieren. Wie Kohli argumentiert er, dass sich im modernen Lebensverlauf die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären widerspiegele – diese bilde sich in den einzelnen Lebensabschnitten diachronisch und den einzelnen Lebensbereichen synchronisch ab (Mayer 1988a: 31): Die Trennung von Familie und Lohnerwerbsbereich findet ihre Entsprechung beispielsweise in der Trennung der Erwerbsphase von den sie vorbereitenden bzw. den auf sie folgenden Lebensabschnitten. Diesem Argument wird sehr viel stärkeres Gewicht verliehen als bei Kohli. Gesellschaftliche Differenzierung erscheint als Bestimmungsgrund für die Struktur moderner Lebensverläufe, so dass es notwendig wird, den jeweiligen Zusammenhang zwischen den lebenszeitlichen Strukturen von Individuen und den jeweiligen historischen Formen von gesellschaftlicher, vor allem wirtschaftlicher Organisation genauer zu untersuchen (Mayer 1988a: 36f; ebenso Mayer & Müller 1986). Mayer folgt dieser Vorentscheidung zugunsten einer Betrachtung der Strukturen konsequent. Insbesondere staatliche, genauer gesagt wohlfahrtsstaatliche Regelungen sieht er als den individuellen Lebensverlauf formende Kräfte und unterzieht sie einer ausführlicheren Analyse. Besonderes Augenmerk richten Mayer und Müller (1986: 230ff) auf die altersstratifizierende Wirkung bestimmter Regelungen sowie auf die standardisierenden Effekte bestimmter sozialrechtlicher Ansprüche. Demgegenüber sei die Wirkung von Altersnormen sowie von „Wissensschemata über Lebensstadien und Normalbiographie“ sekundär (Mayer 1987: 60). Neben diesen direkten staatlichen Einwirkungen sind es vor allem zwei weitere Wirkungsmechanismen, die Mayer als Lebensläufe prägend anerkennt: Zum einen die Abfolge von Geburtskohorten, die z. B. aufgrund ihrer Größe oder ihres Hineingeborenseins in bestimmte historische (günstige oder ungünstige) Bedingungen den Ablauf bestimmter Übergänge im Lebenslauf formen können (Mayer 1990: 11; auch Mayer 1981 und Ryder 1965). Im Rahmen dieses Zweigs der Lebensverlaufsforschung ist es gelungen, Alters-, Periodenund Kohorteneffekte auf den Lebenslauf voneinander zu trennen (Blossfeld 1986; Mayer & Huinink 1990). Zum anderen ist der Lebensverlauf für Mayer ein „endogener Kausalzusammenhang“ (Mayer 1987: 60), d. h. die verschiedenen gesellschaftlich geprägten Abschnitte und Übergänge sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten, sondern beeinflussen einander. Vor allem bestimmen vergangene Lebensverlaufsprozesse aktuelle, und zwar in den Augen Mayers in weitaus größerem Ausmaß als die Zugehörigkeit zu irgendwelchen Altersgruppen (1987: 60). Als Beispiele können hier die langfristige Wirkung verlängerter Bildungswege oder bestimmter Familienzyklus-Karriere-Konstellationen angeführt werden. Entsprechend macht Mayer zwar für jeden Lebensabschnitt bzw. für jedes Segment eines bestimmten Punktes im Lebensverlauf eine eigene Logik der individuellen Handlung aus. Es handelt sich jedoch jeweils um eine Logik, die sich aus der wohlfahrtsstaatlichen und weiteren institutionellen Gestaltung des jeweiligen Segments bzw. Abschnitts speist. Mit Berufung auf Luckmanns Begriff der institutionellen Rationalität gehen Mayer und Müller (1986: 236) davon aus, dass sich das Individuum genau dieser Rationalität entsprechend verhält, auf bestimmte Anreize reagiert und eine individualistisch-ökonomische Rationalität einsetzt. Diese stehe im Gegensatz zu den Normen und Regeln familialer und
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
lokaler Bindungen, die in vormodernen Gesellschaften bestimmte Entscheidungen des Lebensverlaufs geprägt haben. Die Gestaltung von Übergängen im Lebenslauf ist also ein „Mischprodukt […] aus kollektiven, institutionellen und ‚privaten’ Entscheidungen“ (Mayer & Müller 1986: 62). So entstehen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Pfadabhängigkeiten, die internationale Unterschiede in den Lebenslaufregimes trotz konvergierender Entwicklung und Globalisierung erklären (Mayer 2001). Die Rationalität der den Lebenslauf prägenden Institutionen wirkt indirekt, aber umso nachhaltiger auf individuelle Orientierungen und Entscheidungen. Gleichzeitig erteilen Mayer und Müller dem Versuch eine Absage, Lebensläufe (auch) mit Hilfe langfristiger biographischer Orientierungen der Akteure zu erklären:„[…] it seems unlikely that individuals are able to form comprehensive and long-term life designs. […] there seems to be structural support for a logic of the present situation rather than a logic of a persistent individual life design [...]” (Mayer & Müller 1986: 236). Völlig „privat“ und individuell erscheinende Entscheidungen sind für sie immer schon institutionell gerahmt und durch Anreize, Sanktionen etc. bedingt. Biographieforschung sei in diesem Zusammenhang vielleicht nicht überflüssig, aber könne in ihren Ergebnissen entweder immer nur die Einflüsse gesellschaftlicher Strukturen auf den Lebenslauf darstellen oder insofern ideologisch sein, als diese Einflüsse überdeckt werden von der Idee einer individuellen Handlungskompetenz. Die Aussagen Mayers, die im Kern seines Konzepts stehen, bilden den größten Ansatzpunkt für Kritik: Er konzentriert sich zu sehr auf die Systemebene und klammert die Handlungsebene aus, weil er sie ja in letzter Konsequenz für wirkungslos und deswegen vernachlässigenswert hält. Es ist zu bezweifeln, dass die Ebene individueller Handlungen und Entscheidungen als allenfalls unbedeutsamer Restfaktor der Gestaltung von Lebensläufen einfach wegdefiniert werden kann. Mayers empirische Analysen sind trotzdem fruchtbar und anregend, weil sein Entwurf zumindest bezogen auf sozialstrukturelle Effekte auf den Lebenslauf ein gutes theoretisches Instrumentarium darstellt. Seine Beschränkung auf nur eine Ebene der Wirkung scheint dann Konsequenzen zu zeitigen, wenn es um das Verhältnis zwischen institutioneller Rahmung des Lebenslaufs und Individualisierung geht, das, so Wohlrab-Sahr (1992: 7), mit seinem theoretischen Handwerkszeug nicht mehr adäquat begriffen werden könne. Die unterschiedliche Logik der Ansätze Mayers und Kohlis liegt damit erstens in den voneinander abweichenden Perspektiven begründet: Während für Kohli die Institution des Lebenslaufs Forschungsgegenstand ist und er dieser eine gewisse Eigenlogik zugesteht, ist für Mayer der Lebenslauf nur soweit interessant, wie er gesellschaftlich strukturiert wird. Kulturelle Deutungsmuster, z. B. „Altersnormen und kulturell vermittelte Vorstellungen über biographische Ordnungen“ haben allenfalls die Funktion „sozialisatorische[r] Verstärker“ (Mayer 1990: 10) der den Lebensverlauf regelnden Institutionen, ihnen kommt aber weder ein eigenständiger Stellenwert noch eine eigenständige Wirkung zu. Daraus ableitbar besteht zweitens ein entscheidender Unterschied zwischen den Konzeptionen Mayers und Kohlis darin, dass ersterer den Lebenslauf nicht wie letzterer als eigenständige Institution begreift. Deswegen kann der Lebenslauf bei Mayer keine eigene Dynamik entfalten, die mehr oder etwas anderes wäre als die Summe der Wirkungen der ihn prägenden Institutionen. Nur diese müssen in ihren Konsequenzen auf individuelles Handeln untersucht werden, um den Veränderungen von Lebensläufen empirisch auf den Grund zu gehen.
2.2 Theoretische Konzepte des Lebenslaufs
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Drittens kommt bei Mayer dem individuellen Handeln keine eigenständige, das Lebenslaufregime mitgestaltende Wirkung zu wie bei Kohli. Individuelles Handeln geht für Mayer auf in einer kurzfristigen, auf die rahmenden (insbesondere wohlfahrtsstaatlichen) Institutionen bezogenen ökonomischen Rationalität. Bei Kohli gibt es ein Moment der Individualität, das mit dem modernen Lebenslauf institutionalisiert wurde und paradoxerweise auf Dauer gegen die mit dem Lebenslauf entstehenden Standardisierungen wirkt (vgl. Kapitel 2.3 und 6.3.7), womit sich eine zusätzliche Perspektive auf empirische Befunde des Wandels von Lebenslaufmustern eröffnet. Was die strukturelle Bedingtheit von Lebensläufen und des modernen Lebenslaufregimes angeht, lassen sich jedoch auch viele Gemeinsamkeiten finden. So erscheinen die beiden Ansätze weniger als einander ausschließende. Vielmehr bleibt Mayer mit seinen auf die objektiven, strukturellen Prägungen konzentrierten Ausführungen bei den leichter messbaren Phänomenen. Ohne dass er deswegen die von Mayer postulierten strukturellen Einflüsse leugnen würde, begibt sich Kohli dagegen mit der Behauptung von Emergenz und Autonomie auf ein Terrain, das messbaren Daten weniger zugänglich ist. Bevor ich jedoch zu einer Bewertung hinsichtlich der hier behandelten Fragestellung komme, beleuchte ich, wie René Levy den modernen Lebenslauf konzeptualisiert.
2.2.3 Der Lebenslauf als Statusbiographie (Levy) Levys (1977, 1996) Konzept des Lebenslaufs ist zwischen dem Kohlis und dem Mayers zu verorten. Für ihn ist der Lebenslauf eine „Statusbiographie”6 (1977), oder genauer: „a person’s specific sequence of participation-position-role configurations” (Levy 1996: 83). Diese im Laufe des Lebens erfolgende Bewegung durch die Sozialstruktur wird subjektiv interpretiert und kann objektiv nachgezeichnet werden. Levy betrachtet Lebensläufe also ähnlich wie Mayer aus der Makro-Perspektive der gesellschaftlichen Gesamtstruktur, setzt dabei aber stärker als Mayer einen Akzent bei den von Individuen errungenen Positionen im Ungleichheitgefüge. Dabei ist mit Status bzw. Position der objektiv-strukturelle Aspekt der individuellen Lagerung gemeint, mit Rollenkonfiguration der kulturelle und interaktionale Aspekt (Levy 1977: 91). Im Rahmen der Lebenslaufforschung sind zum einen StatusRollen-Konfigurationen an bestimmten Zeitpunkten im Lebenslauf interessant, zum anderen die Abfolge dieser Konfigurationen. Levy schließt also relativ eng an die Ungleichheitsforschung an, die von der Lebenslauf-Perspektive erweitert und dynamisiert wird. In seiner Arbeit von 1977 wird diese strukturelle Perspektive akzentuiert; in der fast 20 Jahre jüngeren Präsentation des Konzepts bezieht Levy im Gegensatz dazu individuell-subjektive Komponenten als viel eigenständigere und damit nachhaltiger wirkende mit ein. Ich konzentriere mich ab hier auf eben diese neueren Überlegungen, in denen die Grundidee des
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Der Titel von Levy (1977) lautet dementsprechend „Der Lebenslauf als Statusbiographie“. Indem er ihn in seinem zweiten hier analysierten Text (1996) allenfalls noch in Anführungszeichen verwendet, stellt er in Rechnung, dass es inzwischen Konvention ist, den Begriff „Biographie“ für Forschungsansätze zu verwenden, in deren Mittelpunkt das subjektive Erleben und Deuten von Lebensläufen steht. Der Begriff „Biographie“ für Levys auch stark strukturell orientierten Ansatz wäre insofern irreführend und wird hier nur noch stellenweise gebraucht, weil er ihn selbst so benutzt hat.
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
Lebenslaufs als Statusbiographie beibehalten wird. Zunächst analysiert Levy hier (1996) in relativ statischer Sichtweise Möglichkeiten der Statusinkonsistenz und daraus resultierende Spannungen. Dabei bleibt der Bezug zur Bewegung durch die Sozialstruktur, d. h. zum Lebenslaufaspekt, zunächst nur punktuell und oberflächlich. Im Weiteren wird aber eine Theorie des institutionalisierten Lebenslaufs vorgelegt, die den Anspruch hat, die Mikro- mit der Makro-Perspektive zu verbinden. Der Dualismus zwischen objektiven Strukturen des Lebenslaufs und subjektiven Orientierungen und Deutungen wird dabei über den Konstruktivismus Bergers und Luckmanns aufgelöst. Levy hält es explizit für wenig ergiebig und präzise, den Lebenslauf selbst als soziale Institution zu bezeichnen (Levy 1996: 91). Mit „Institutionalisierung“ des Lebenslaufs oder dem „institutionalisierten“ Lebenslauf sind hier also immer die Wirkungen der den Lebenslauf strukturierenden Institutionen gemeint. Dennoch versteht Levy in Anlehnung an Berger und Luckmann die Macht von Institutionen über Lebensläufe nicht wie Mayer als einseitigen Prozess, in dem Lebensläufe durch Institutionen geprägt werden und nicht umgekehrt. Die objektive Formung der Lebensläufe durch Institutionen ist ohne entsprechende subjektive Konstruktionen nicht denkbar. Darüber hinaus ist für ihn außer dem „top-down effect“ der Institutionen auf Lebensläufe auch ein „bottom-up influence“ von Lebensläufen auf Institutionen denkbar: Lebenslaufmuster können sich unabhängig von den sie strukturierenden Institutionen wandeln und mit diesem Wandel auf die Institutionen wirken (Levy 1996: 92; vgl. auch O’Rand 1996a: 74ff). Voraussetzung für Effekte der letzteren Art, die nach Levy nicht notwendigerweise bestehen müssen, ist die Reflexivität von Lebensläufen („life course consciousness“, Levy 1996: 92), die kollektives Handeln „gegen“ die bestehenden Strukturen ermöglicht. Hier käme, wenn auch in vorsichtigerer und eingeschränkter Formulierung, ein ähnliches Prinzip zum Tragen wie das der Emergenz und Autonomie bei Kohli. Allerdings tendiert Levy zu der Ansicht, dass solche Abweichungen vom durch Institutionen geprägten Lebenslauf nicht der Normalfall sind und nur unter bestimmten Bedingungen die vorgegebenen Strukturen tatsächlich dauerhaft ändern können. Levy unterscheidet die strukturelle Institutionalisierung – die objektiven Regelungen, welche die Abfolge bestimmter Statuskonfigurationen im Lebenslauf bedingen – von der kulturellen Institutionalisierung des Lebenslaufs, womit er sich auf lebenslaufrelevante Repräsentationen, Ideologien und Vorstellungen bezieht, die in mannigfacher Form verbreitet und Gegenstand von Sozialisationsprozessen sind. Zum Verhältnis von kultureller und struktureller Institutionalisierung des Lebenslaufs merkt Levy nur an, dass normative Modelle des Lebenslaufs dann weitestgehend wirken, wenn sie sowohl strukturell als auch kulturell verankert sind. Dem entgegen setzt er Modelle, die nur kulturell, aber nicht strukturell institutionalisiert sind und die deswegen weniger Chancen auf Durchsetzung haben. Der umgekehrte Fall, dass ein Modell des Lebenslaufs strukturell, aber nicht explizit normativ gesichert ist, der im Vergleich zu Mayers Überlegungen interessant wäre, wird hier leider nicht thematisiert, so dass das Verhältnis der beiden Ebenen nicht abschließend geklärt wird. Levy konstatiert außerdem, dass zur gleichen Zeit unterschiedliche Lebenslaufmodelle normativ verbreitet sein können und analysiert als Beispiel diejenigen von Frauen und Männern. Die kulturelle und/oder strukturelle Geltung bestimmter Lebenslaufmuster darf nicht mit ihrer faktischen überwiegenden Verbreitung gleichgesetzt werden. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs bedeutet für Levy nicht zwangsläufig, dass Lebensläufe in irgendeiner Weise einheitlich und integriert geregelt werden. Vielmehr
2.3 Lebenslauf und Individualisierung
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unterscheidet er vereinheitlichende („unifying“) von fragmentierter („fragmented“) Institutionalisierung (Levy 1996: 96) – fragmentiert meint hier die Tatsache, dass bestimmte Regelungen jeweils unterschiedlich auf gewisse Personengruppen wirken. Als Beispiel für fragmentierte Institutionalisierung führt er die indirekte und distinkte Wirkung an, die bestimmte Ordnungen der Alltagszeit (Schul-Stundenpläne, Ladenöffnungszeiten etc.) auf die Lebensläufe von Frauen und Männern haben. Damit ist auch das andere Kriterium genannt, mit dem Levy auf den Lebenslauf wirkende Institutionen klassifiziert: Die Tatsache, ob Institutionen direkt (wie z. B. Einschulung, Rentenregelungen) oder indirekt (z. B. alltagszeitliche Ordnungen) auf Lebensläufe wirken. Schließlich entwickelt Levy eine Reihe von Indikatoren, mit denen der Grad der Institutionalisierung von Lebensläufen beschrieben werden kann und die für einen empirischen Zugang wichtig sind. An diesem Punkt seiner Argumentation nennt Levy zwei Perspektiven, von denen aus man die Institutionalisierung von Lebensläufen charakterisieren kann: Zum einen die Ebene der Lebensläufe selber, auf der Muster und Wirkungen der Institutionalisierung gefunden werden können; zum anderen die Ebene der strukturierenden Institutionen, deren Veränderungen Rückschlüsse auf ihre Lebenslauf-Effekte zulassen. Die größte Schwäche von Levys (1996) Ansatz besteht darin, dass sein Konzept der Status- und Rollenkonfigurationen in nur loser Verbindung zu den detailliert beschriebenen Dimensionen der Standardisierung und Destandardisierung des Lebenslaufs steht. Wie genau die Querschnittsanalyse der Ungleichheitskonfigurationen mit dem Ablauf der Lebenszeit verbunden werden kann, bleibt unklar. Insgesamt ist die Position Kohlis auch im Vergleich zu der von Levy diejenige, die am offensten ist für die verschiedenen Einflussebenen- und -richtungen und die zudem Vermutungen darüber anstellt, wie diese zusammenwirken können. Einige der Ausführungen Mayers und Levys lassen sich dabei integrieren. Für die empirische Analyse schlussfolgere ich, dass das Verhältnis von Handlungs- und Strukturebene nicht statisch und als einseitiges Dominanzverhältnis gedacht werden sollte. Kohlis Ausführungen sind aber genauso wenig als Votum für beliebige Annahmen über das Zusammenwirken von Struktur und Handlung zu lesen. Vielmehr formuliert er präzise Vorstellungen darüber, wie dieses zu fassen sei. Dabei spielt der Begriff der Individualisierung eine entscheidende Rolle.
2.3 Lebenslauf und Individualisierung Alle drei gerade erörterten Ansätze lassen sich jeweils durch einen spezifischen Umgang mit dem Individualisierungstheorem kennzeichnen; in diesem Punkt sind die unterschiedlichen Perspektiven am wenigsten miteinander vereinbar. Individualisierung stellt eine mögliche (Teil-)Erklärung der weiter unten beschriebenen Destandardisierungsprozesse dar. Von der Positionierung zum Begriff der Individualisierung, seiner Aufnahme oder Ablehnung, hängt es unter anderem ab, wie der empirisch feststellbare Wandel interpretiert wird. In diesem Kapitel wird ein Überblick über die Positionen der gerade dargestellten Ansätze in der Individualisierungsdebatte gegeben. Zuvor wird deren Gegenstand am Beispiel des aktuell einflussreichsten Individualisierungsbegriffs zusammengefasst. Inwieweit das Individualisierungstheorem tatsächlich bei der Erklärung oder Interpretation der empirisch feststellbaren Veränderungen im Lebenslauf tragen kann, wird an späterer Stelle diskutiert (Kapitel 6.3.7).
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
2.3.1 Becks Individualisierungsthese Die neuere Individualisierungsdiskussion entzündet sich insbesondere an der These von Beck, dass die Menschen „auf dem Hintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten […] in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionalen Klassenbindungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles (Arbeitsmarkt-)Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen [wurden]“ (Beck 1983/1994: 44). Während sich frühere Individualisierungsschübe vor allem auf das Bürgertum bezogen, werden nun alle Klassen und Schichten von Individualisierung erfasst.7 Beck behauptet nicht, wie häufig moniert, dass sich die Sozialstruktur Deutschlands und westlicher Gesellschaften entschieden verändert hätte, vielmehr konstatiert er objektiv eine erstaunliche Kontinuität: „[…] die Abstände in der Einkommenshierarchie und fundamentale Bestimmungen der Lohnarbeit sind, allgemein betrachtet, gleichgeblieben“ (Beck 1983/1994: 45). Jedoch seien diese Ungleichheitslagen nicht mehr strukturbildend in dem Sinne, dass mit ihnen bestimmte Lebenslagen, soziokulturelle Erfahrungsformen und Potentiale der Bildung kollektiver Akteure verbunden wären. Es geht Beck also nicht um die Auflösung von Ungleichheiten, sondern „ständisch gefärbter, klassenkultureller Lebenswelten“ (Beck 1983/1994: 44) und um die Freisetzung aus traditionalen Bindungen. Oder, wie es P. Berger (1996: 58ff) fasst: Die Idee der Individualisierung ist gegen unreflektierte Großgruppenbegriffe gerichtet, in denen ein direkter und inzwischen unzutreffend gewordener Schluss von der sozialstrukturellen Positionierung der Menschen auf ihre Erfahrungen angelegt sei. Neben der Freisetzung macht Beck zwei weitere Dimensionen von Individualisierung aus: Zum Zweiten sind mit den traditionalen Bindungen auch traditionale Formen der Handlungssicherheit verloren gegangen, die auf eindeutigen und unreflektierten sozialen Normen und Wissensbeständen beruhten („Stabilitätsverlust“, „Entzauberungsdimension“). „Statusunsicherheit und Erfahrungsvielfalt“ (P. Berger 1996) lassen traditionelle Handlungsrezepte zu starr und unflexibel werden. Und zum Dritten sind neue Formen der gesellschaftlichen Einbindung entstanden, die die alten ersetzen („Reintegrations“- oder „Kontrollfunktion“) (Beck 1986: 206 f). Diese drei Dimensionen ließen sich einerseits auf der objektiven Seite der Lebenslagen wiederfinden, andererseits ebenso auf der Seite des subjektiven Erlebens und der Identität der Individuen. Becks Theorem baut auf der Spannung zwischen der ersten und der dritten Dimension von Individualisierung sowie auf der Spannung zwischen objektiven und subjektiv wahrgenommenen Einbindungen auf. In Bezug auf den Lebenslauf heißt das, dass das Individuum zum „Planungsbüro“ (Beck 1986: 217) seines Lebens werden muss, da aufgrund der Freisetzung aus Standes- und Klassenbindungen kaum Entscheidungen mehr vorgegeben sind und stets eine große Zahl von Wahlmöglichkeiten besteht: Biographien werden selbstreflexiv. 7
Markante Auseinandersetzungen mit dem Individualisierungsbegriff erfolgen schon viel früher, beispielsweise bei Marx, Simmel, Weber oder Adorno (vgl. z. B. Ebers 1995; Schroer 2000; Kron 2000). Ich gehe hier allein auf die von Beck ausgelöste Debatte ein.
2.3 Lebenslauf und Individualisierung
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Beck fasst den Individualisierungsprozess von Vornherein als ambivalenten, in sich widersprüchlichen Prozess. Auf den Lebenslauf angewandt bedeutet das, dass der Einzelne zwar mehr Freiheiten hat, als seine Vorfahren jemals hatten. Jedoch besteht gleichzeitig ein Zwang zur Wahl und zur Entscheidung, dem niemand ausweichen kann – denn auch NichtEntscheidungen zeitigen entsprechende Folgen. An die Stelle der alten, primären Institutionen wie Stände treten „sekundäre Vergesellschaftungsinstanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten macht“ (Beck 1986: 211, Hervorh. i. O.). Individualisierung kann also auch die Subjektivierung von Problemlagen meinen, die eigentlich gar nicht in der Entscheidungsmacht des Akteurs liegen. Individualisierung geht für Beck mit neuen Standardisierungen einher, womit er insbesondere die institutionelle Strukturierung von Lebensläufen meint (Beck 1986: 211ff). Im Mittelpunkt der neuen, sekundären Vergesellschaftungsinstanzen steht für Beck der Arbeitsmarkt, der gleichzeitig einen Motor des jüngsten Individualisierungsschubs darstellt. Individualisierung und Standardisierung, Biographisierung und institutionelle Prägung von Lebensläufen sind also zwei Seiten desselben Prozesses. Wohlrab-Sahr (1997) charakterisiert Individualisierung8 auf struktureller Ebene als Differenzierung und Pluralisierung, auf der kulturellen Ebene als Veränderung des gesellschaftlichen Zurechnungsmodus, d. h. als „eine qualitative Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und ein damit einhergehendes Deutungsmuster, das Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbst-Steuerung akzentuiert“ (Wohlrab-Sahr 1997: 28). Ereignisse im Leben eines Individuums werden ursächlich eher den Entscheidungen und Aktivitäten des Individuums zugerechnet als irgendwelchen gesellschaftlichen Strukturen oder gar übergeordneten Mächten; das gilt sowohl für auf andere bezogene Zuschreibungen als auch für die Wahrnehmung des eigenen Handelns. Individualisierung als Zurechnungsmodus sowohl in subjektiver Erfahrung und Zurechnung als auch in Institutionen verankert, die „diesen Prozeß der Verinnerlichung und individualisierten Zurechnung“ fördern (1997: 31) – als Beispiele nennt Wohlrab-Sahr so verschiedene Einrichtungen wie Beichte und Psychotherapie, neue biographische Phasen wie die Postadoleszenz, in denen Selbstreflexion erwünscht und gefordert wird, die moderne Ehe oder den modernen Rechts- und Sozialstaat. Entscheidend ist dabei die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander, Differenzierung und Pluralisierung auf der einen, Veränderung des Zurechnungsmodus auf der anderen Seite. Wohlrab-Sahr sieht kein Bestimmungsverhältnis in die eine oder die andere Richtung, sondern zwar nicht beliebige, aber ebensowenig von Vornherein festgeschriebene Kombinationsmöglichkeiten. So ist Voraussetzung für das kulturelle Zuschreibungsmuster von Individualisierung, dass strukturell gewisse Wahlmöglichkeiten vorliegen; und diesen wiederum liegen Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse zugrunde. Dies gilt jedoch allein im Sinne von Wahrscheinlichkeiten. Ob diese Wahlmöglichkeiten tatsächlich realisiert werden, ist eine andere Frage: Vorstellbar ist, dass sie nur prinzipiell bestehen und dass über Mechanismen anderer Art keine wirkliche Wahlmöglichkeit existiert. Dem entspricht der Hinweis von Behrens und Voges (1996: 30f), dass eine Pluralisie8
Vgl. auch die bei Junge (1996) zu findende Präzisierung des Individualisierungsbegriffs. Junge benutzt allerdings eine andere zeitliche Einteilung und kommt im Ergebnis zu drei Individualisierungsschüben.
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
rung von Lebenslaufmustern eben nicht mit gestiegenen Wahlmöglichkeiten gleichzusetzen sei. Ein Auseinanderfallen von Zurechnung und Realisierungschancen bringt wahrscheinlich Probleme der gesellschaftlichen Integration mit sich (Wohlrab-Sahr 1997; in ähnlicher Weise Diewald 2004: 114; Corsten & Hillmert 2003: 559). Auch zwischen den verschiedenen Ebenen des individualisierten Zurechnungsmodus (kulturell, institutionell, individuell) sind unterschiedliche Relationen denkbar. Gerade für die Lebenslaufforschung bieten die Beckschen Ausführungen eine Fülle von Anregungen. Im folgenden Absatz wird erarbeitet, in welchem Verhältnis die hier diskutierten Perspektiven der Lebenslaufforschung zur Beck’schen These der Individualisierung stehen.
2.3.2 Individualisierte Lebensläufe? Kohlis Verständnis von Individualisierung, ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt wie der Beck’sche Individualisierungsbegriff, steht diesem inhaltlich nahe. Die Frage nach dem Verhältnis von System- und Handlungsebene im modernen Lebenslaufregime löst Kohli wie oben bereits angedeutet, indem er behauptet, die subjektiv konstruierte Biographie gehe nie ganz auf in der fremdbestimmten Realität objektiver Regelungen zum Lebenslauf, so dass individuelles Handeln immer den „Charakter des offenen Entwurfs“ und damit „ein Moment von Emergenz und Autonomie“ (1985: 21) aufweise. Die Offenheit des Entwurfs gründet in einer Subjektivität, die „auf Weiterentwicklung drängt“ (Kohli 1985: 21). Und genau diese Subjektivität sei es auch, die Individualisierungsprozesse in Gang bringt, indem sie wiederum das Abweichen vom institutionalisierten Lebenslauf befördert – es handelt sich „um eine verzeitlichte Individualität mit entwicklungsgeschichtlicher Dynamik […], die gerade durch diese Dynamik gegen das chronologische Korsett drückt, in das sie durch das institutionelle Programm des modernen Lebenslaufs eingebunden ist“ (Kohli 1985: 21). Diese Dynamik ist im institutionalisierten Lebenslaufregime angelegt: Wie Beck argumentiert Kohli, dass das Ablaufprogramm mit seinen flankierenden sozialstaatlichen Institutionen erst die Sicherheit und Kontinuität schafft, vor deren Hintergrund eine Ablösung von diesem Programm und die Individualisierung biographischen Handelns möglich wird. An Belegen nennt Kohli hier zum einen Veränderungen familialen Verhaltens wie die Abnahme der Heiratsneigung, die aufgeschobene Geburt von Kindern oder den Verzicht auf diese; zum anderen bezieht er sich auf die abnehmende Verbreitung des Normalarbeitsverhältnisses, eine Veränderung, die sich 1985 allenfalls andeutet. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs ist somit zunächst ein Ergebnis des Individualisierungsprozesses, da mit ihr das Individuum nun nicht mehr über lokale Kleingruppen in Gesellschaft eingebunden ist, sondern über seinen individuellen Lebenslauf, mit dem es im Zeitablauf ein gesellschaftliches Programm von Normen verwirklicht. Gleichzeitig werden 9
„So könnten ‚anomische Überlastungen’ individueller Biographien gerade dann auftreten, wenn zwar ‚semantisch’ ein Modell der radikalen Individualisierung und kulturellen Pluralisierung die subjektiven Karriereorientierungen beherrscht, jedoch auf der ‚faktischen’ Verlaufsebene nach wie vor endogene Selektivitätsmechanismen über die biographische Akkumulation von Ressourcen und Zertifikaten (Humankapital) stattfinden würden“ (Corsten & Hillmert 2003: 55).
2.3 Lebenslauf und Individualisierung
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über den Lebenslauf neue, zusätzliche Individualisierungspotentiale institutionalisiert, die wiederum ihre eigene Grundlage, den „Normallebenslauf“ erodieren. Institutionalisierung des Lebenslaufs und Individualisierung stehen damit, wie Wohlrab-Sahr (1992: 9) zusammenfasst, in einem „Steigerungsverhältnis […], das zunehmend in ein Widerspruchsverhältnis umschlägt“ (ähnlich Fischer-Rosenthal 2000b: 113). Weiterführende Individualisierungsprozesse sind in der Institutionalisierung des Lebenslaufs bereits angelegt und scheinen zu den Destandardisierungsprozessen beizutragen, die auch Thema dieser Arbeit sind. Bei Mayer findet sich ein anderer Umgang mit dem Individualisierungsbegriff: Für ihn gibt es Individualisierung allenfalls als biographische Illusion. Zunächst einmal ist es erwähnenswert, dass die Individualisierungsdebatte in vielen Veröffentlichungen Mayers überhaupt nicht thematisiert wird (z. B. Mayer 1986; Mayer & Müller 1986; Mayer 1987; Mayer 2001), obwohl sie in der sonstigen Diskussion um Lebensläufe allein gemessen an der Zahl ihrer Erwähnungen eine wichtige Rolle einnimmt. Dort, wo sich Mayer auf die Individualisierungsthese bezieht, nennt er sie stets als Gegensatz zu der eigenen Überzeugung, die die Strukturierung von Lebensläufen betont (z. B. Mayer & Blossfeld 1990: 311f). So werden Becks Ausführungen an vielen Stellen auf die Dimension der Auflösung und Freisetzung reduziert, die aber nur eine der drei von Beck beschriebenen Dimensionen der Individualisierung darstellt. Gleichzeitig wird Beck vorgeworfen, dass er seine Thesen gegen empirische Überprüfung immun machen wolle, wenn er neue Formen der Strukturierung und der ungleichen Chancenverteilung beschreibt. Mayer fasst demnach Individualisierung und gesellschaftliche Strukturierung als einander ausschließende Interpretationsmöglichkeiten gegenwärtiger Veränderungen des Lebenslaufsregimes, wie auch WohlrabSahr (1992: 4) anmerkt. Für ihn ist mit einer Steigerung der individuellen Verfügbarkeit per se auch eine Verringerung des institutionellen Einflusses verbunden und umgekehrt (Mayer 1981: 493). Die Möglichkeit eines komplexeren Begriffs von Individualisierung, der ein Steigerungsverhältnis beinhaltet, nimmt er nicht in den Blick. Eine Verkürzung der Beck’schen Ausführungen auf Entstrukturierung greift jedoch zu kurz: Beck betont gerade das Entstehen neuer Strukturen sozialer Ungleichheit, die sich jedoch auf der lebensweltlichen Ebene nicht mehr gleichermaßen stabil wiederfinden wie ehemals Klassen und Stände. Mayers Vorwürfe (Mayer & Blossfeld 1990: 313) an Beck – dessen Theoreme seien ohne empirische Fundierung, er lasse sich in eine Reihe überholter geschichtsphilosophischer Konstruktionen einordnen, die jeweils einen Umbruch prognostizierten, und er überschätze wie viele andere Theoretiker die Autonomie des Individuums – sind meines Erachtens zu einem anderen Teil durchaus berechtigt; dies gilt insbesondere für Becks Umgang mit der Empirie.10 Der Grund für Mayers Verkürzung des Individualisierungsbegriffs liegt in der Überbetonung der Strukturiertheit von Lebensläufen in seinem Modell, das den Handelnden keine tatsächlich wirksame Autonomie zugesteht, sondern sie als mit einer „rein utilitaristischen Orientierung“ ausgestattet betrachtet, „die bis zur Ausschließlichkeit durch heterogene 10
Wenn Beck sich jedoch der plakativen Übertreibung schuldig macht, die immerhin dazu beitrug, anregende Diskussionen anzufachen, lässt sich an Mayer und Blossfeld (1990) ihre nicht minder plakative, polemische Abwertung Becks kritisieren, die einem sachlichen Umgang mit den Argumenten der einen oder anderen Seite nicht zuträglich ist.
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
institutionelle Logiken sowie durch Opportunitätsstrukturen und Anreizsysteme des Wohlfahrtsstaates bestimmt ist“ (Wohlrab-Sahr 1992: 5). Für die Widersprüchlichkeit und die Ambivalenz der Individualisierung von Lebensläufen, wie Beck und Kohli sie beschreiben, besteht kein Raum. Individualisierung ist für Mayer allenfalls als Ideologie möglich, die den Individuen vorgaukelt, sie hätten zumindest teilweise Handlungsspielräume – tatsächlich könne dieser Spielraum vernachlässigt werden, da seine Wirkung minimal sei. Freilich hat Mayers Verzicht darauf, individuelle Handlungsspielräume einzubeziehen, zur Folge, dass sein Konzept sehr viel leichter empirisch umzusetzen ist, da er allein strukturierende Einflüsse vor allem des Staates analysiert. Da Ambivalenzen und Widersprüche innerhalb von Handlungen und zwischen Handeln und Struktur empirisch nur sehr schwer zu untersuchen sind, insbesondere wenn die Untersuchung standardisiert und mit großer Reichweite erfolgen soll, setzen sich Beck und Kohli in Bezug auf die Operationalisierbarkeit ihrer Thesen der Kritik aus. Sie nehmen jedoch die Befunde ernster, die – zumeist auf qualitativer Ebene – die Entscheidungsleistungen, die biographische Reflexivität und die autonomen Entwürfe individuellen Handelns beschreiben. Selbst wenn in diesen zum Teil eine Ideologie der Individualisierung zutage tritt, die die „wahre“ gesellschaftliche Bedingtheit von Ereignissen im Lebenslauf verdeckt, scheint bei beiden mehr oder minder die Möglichkeit der Handlungsautonomie auf. Bei Levy nimmt der Individualisierungsbegriff als mögliche Beschreibung gegenwärtiger Veränderungen der Sozialstruktur keine eigenständige Stellung ein, weder als positive Referenz, noch als negative Folie, gegen die er sich abhebt.11 Er erwähnt Beck in Bezug auf dessen makrostrukturelle Aussagen (Levy 1996: 102) der Entstrukturierung. Diese Entstrukturierung oder Differenzierung sozialer Ungleichheitsstrukturen könne auf kultureller Ebene die Verbreitung von Individualismus nach sich ziehen. Ob es eine eigenständige Dynamik der Individualisierung geben könnte, wird nicht erläutert. Levy unterscheidet zwar, wie schon oben ausgeführt, eine kulturelle von einer strukturellen Ebene der Institutionalisierung. Ihr Verhältnis jedoch charakterisiert er nicht abschließend. Zweitens konzediert er, dass es unter bestimmten Bedingungen „bottom-up“-Einflüsse von individuellen Lebensläufen auf gesellschaftliche Strukturen geben könne, dass individuelles Handeln also potentiell strukturbildende Kräfte entfalte – er spricht von Lebensläufen als Phänomenen, die „structurally determined and structure-generating“ sind (Levy 1996: 84). Aber rein individuellen, im Aggregat allenfalls in Spuren auffindbaren Innovationen spricht er weitaus weniger Wirkungsmacht zu als kollektiven Abweichungen, in deren Folge strukturelle Zwänge gemeinsam interpretiert und evtl. bekämpft werden. Das entspricht nicht der Argumentation Kohlis, der in individuellen Innovationen von Lebensläufen den Ausgang einer Entwicklungsdynamik sieht. So beschreibt Levy Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen als vor allem strukturell induziert. Darauf deutet auch schon der von ihm gebrauchte Begriff der DeInstitutionalisierung hin. Immerhin jedoch macht Levy, ohne dies näher zu begründen, gleichzeitig Tendenzen zunehmender und abnehmender De-Institutionalisierung aus (Levy 11
Bezug ist hier der neuere Text von 1996. In Levy (1977) wird „Individualisierung“ in einem anderen Sinne gebraucht, nämlich abwertend für den (kognitiv-wissenschaftlichen) Prozess der Charakterisierung bestimmter Zustände, Ereignisse und Gefühle als rein individueller, obwohl doch nach Levy jeweils institutionelle Ursachen zugrunde liegen – er versteht darunter hier also die Ideologie der Individualisierung.
2.3 Lebenslauf und Individualisierung
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1996: 97/Fußnote 23, 104). Wie bei Mayer wird insgesamt gleichwohl deutlich, dass der von Strukturen ausgehende Blick mögliche von Individuen ausgehende Impulse zum Aufdrücken des Lebenslauf-„Korsetts“, die in seiner Institutionalisierung schon angelegt sind, kaum sieht. Das Individualisierungskonzept ist insbesondere in seiner Spielart bei Beck vielfach und auf vielfältige Weise kritisiert worden. Ein zentraler Anlass der Kritik ist die Frage, inwieweit seine Thesen empirisch überprüfbar sind (beispielhaft Friedrichs 1998). Dass sich immer noch starke strukturierende Effekte der sozialen Herkunft von Individuen ausmachen lassen und sich die Sozialstruktur weiterhin in Klassen, Schichten oder ähnliches einteilen lässt, ist in den Augen vieler Autoren ein Beleg gegen die Ideen Becks. Damit wird aber die eigentliche Aussage verfehlt, die eben nicht lautet, dass Klassen und Schichten sich aufgelöst hätten, sondern dass ihre Wirkmacht auf die normativen Orientierungen und die Lebenswelt geschwächt worden sei. Beck hat indes durch eine oft plakative, bisweilen übertreibende und teilweise missverständliche Darstellungsweise, welche die Dimension der Freisetzung betont und diejenige der „Reintegration“ zu wenig füllt, manche der fehlgehenden Interpretationen provoziert. Gerade die beiden Momente der Freisetzung einerseits und der Reintegration andererseits legen nahe, dass die These der Individualisierung im Prinzip nicht falsifizierbar sei. Dies erweist sich bei genauerem Blick als falsch. Das Individualisierungsverständnis Martin Kohlis und die Präzisierung Wohlrab-Sahrs geben deutlichere Hinweise als Becks Ausführungen darauf, worin das Problem der Operationalisierung des Individualisierungsbegriffs besteht: Dieser bezieht sich auf Phänomene unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen, die jeweils für sich genommen gut nachgewiesen werden können: Zum einen die Zunahme von prinzipiellen Wahlmöglichkeiten auf struktureller Ebene, zum anderen der Bedeutungsgewinn eines individuellen Zurechnungsmusters auf kultureller Ebene. Wie aber der Zusammenhang der beiden – sekundäre Institutionen vergesellschaften Individuen, indem sie ihnen im direkten Zugriff biographisches Handeln abfordern und es gleichzeitig einschränken – im Zeitverlauf empirisch zu fassen und nachzuweisen ist, stellt eine noch nicht ausreichend gelöste Frage dar. Das gilt vor allem, wenn sich dieser Zusammenhang bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich stark ausprägt oder wenn er in sich widersprüchlich ist, d. h. wenn stark eingeschränkte Realisierungschancen von Handlungsmöglichkeiten prinzipiell zunehmenden Wahlmöglichkeiten widersprechen. Selten werden die beiden einbezogenen Ebenen überhaupt zusammen erforscht, was unter anderem daran liegt, dass sich zur Erfassung von Strukturveränderungen eher quantitative Methoden eignen, für den Wandel auf kultureller Ebene und auf der des biographischen Handelns eher interpretative Verfahren, mit denen der Sinn von Handlungen und Diskursen erfasst wird. Selbst wenn diese beiden Ebenen direkt zusammengeführt werden, liegt die Frage der Interpretation ihres Verhältnisses zum Teil im Ermessen des Forschers, der aufgrund theoretischer Vorentscheidungen Widersprüche anerkennen kann oder dann doch ein Dominanzverhältnis einer Wirkmacht über die andere postulieren, beispielsweise Sinn- und Deutungsstrukturen biographischen Handelns als biographische Illusion abtun kann. Individualisierung ist ein begrifflicher Rahmen, innerhalb dessen gesellschaftliche Veränderungen nur graduell beschrieben werden können. Prinzipielle Möglichkeiten der Handlungswahl bestehen für unterschiedliche Gesellschaften sowie innerhalb dieser Gesellschaften in unterschiedlichen Segmenten mehr oder weniger stark, genauso wie individualisierte Zuschreibungsmuster mehr oder weniger durchgesetzt sind und stets mit anderen
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2 Theoretische Perspektiven der Lebenslaufforschung
konkurrieren. Auch deswegen ist die abschließende Interpretation von Befunden relativ und niemals theoriefrei. Da sich die vorliegende Arbeit auf Befunde der strukturellen Ebene konzentriert, ist auch hier keine abschließende und befriedigende Darstellung von Individualisierungsprozessen möglich. Es wird aber demonstriert, dass „Individualisierung“ sich sehr wohl zur Interpretation der strukturellen Veränderungen von Lebensläufen eignet, wenn auch nicht als alles erklärendes Prinzip, sondern nur unter bestimmten Einschränkungen und im Zusammenhang mit anderen Faktoren.
3 Zentrale Diskussionspunkte
Die vorgestellten grundsätzlichen Perspektiven auf Lebensläufe und ihr jeweiliges Verhältnis zum Individualisierungsbegriff im Hintergrund, fasse ich im Folgenden einige wichtige Punkte dieser Diskussionen zusammen und entwickle sie weiter. In jedem der nachstehenden Abschnitte werden mögliche Antworten auf zentrale theoretische Fragen zum Lebenslauf erörtert, die auch für die späteren empirischen Analysen relevant sind.
3.1 Der Lebenslauf als Mikro-Makro-Link In den letzten Abschnitten ist deutlich geworden, dass ein entscheidendes Problem der Lebenslaufforschung das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie dasjenige von Handeln und Struktur ist. Dabei lässt sich das Optieren für die eine oder die andere Position – entweder wird dem Handeln oder dem System Vorrang eingeräumt oder ein Wechselverhältnis angenommen – beim gegenwärtigen Stand der Forschung in keiner Weise zwingend aus der Theorie oder der Empirie ableiten.12
3.1.1 Das Problem gesellschaftlicher Ordnung Für Weymann (1989a) ist das genannte Problem eng mit dem gesellschaftlicher Ordnung verbunden, das im Laufe der Geistesgeschichte unterschiedlich beantwortet wurde. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, verstanden als Teil der gesellschaftlichen Ordnung, kann zunächst aufgefasst werden als ungeplante Folge der utilitaristischen Assoziation freier Individuen. Indem der Einzelne seine Interessen verfolgt, so die Argumentation bei Adam Smith, entstehen erst ein freier Markt und gesellschaftliche Institutionen wie der Wohlfahrtsstaat; die Institutionalisierung des Lebenslaufs ist Begleitfolge der damit verbundenen „Minimalfunktion“ des Staates, der vor allem den freien Markt sichert. Ein verwandter Gedankengang findet sich nach Weymann bei Max Weber, der ebenso wie Smith keine expliziten Sozialisationsagenten kennt und bei dem der Lebenslauf vor allem als vernünftiges Organisationsprinzip rational handelnder Akteure erscheint. Als Kronzeugen einer ganz anderen Auffassung führt Weymann so unterschiedliche Theoretiker wie Hobbes, Freud, Durkheim oder Parsons an. Für sie alle ist der institutionalisierte Lebenslauf nicht unintendierte Nebenfolge der Kooperation freier, nutzenorientierter Individuen, sondern Teil der notwendigen Einschränkung und Kontrolle menschlicher 12
Für eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit diesem Problem aus Sicht der Philosophie der Sozialwissenschaften vgl. Hollis (1995).
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Trieb- und Entfaltungsbedürfnisse. Ohne diese Kontrolle sehen alle vier Theoretiker in je verschiedenen Versionen die Gefahr des Zusammenbruchs der Gesellschaft und des Ausbruchs von Chaos. Sozialisation wird verstanden als notwendige Bändigung menschlicher Freiheitsbedürfnisse und anderer potentieller Bedrohungen der stabilen Gesellschaft. Die dritte, im weitesten Sinne interaktionistische Auffassung (Mead, Goffman), historisch in ihrer Entfaltung die jüngste, fasst „Institutionalisierung handlungstheoretisch als ganzheitlichen Konstitutionsprozeß von Gesellschaft und Person“ (Weymann 1989a, Hervorh. i. O.). Erst durch individuelles Handeln entstehen Institutionen, die dem Individuum in objektivierter Form gegenübertreten, und die dieses durch Momente der Autonomie und Emergenz wiederum verändern kann: Die Institution des Lebenslaufs beschränkt biographisches Handeln und wird von ihm gleichzeitig immer wieder neu erzeugt. Charakterisieren lassen sich die drei Ansätze durch ihr Verhältnis zur leitenden Idee der Handlungsspielräume (so auch der Titel des Essays von Weymann). Während bei Smith und Weber diese Handlungsspielräume als gegeben angenommen und positiv bewertet werden – ihre Nutzung führt zur Konstitution gesellschaftlicher Ordnung – , sehen die Theoretiker, die die Kontroll- und Sozialisationsfunktion von Lebensläufen betonen, in allzu großen Handlungsspielräumen eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung. Im interaktionistischen Ansatz sind Handlungsspielräume mit dem Lebenslauf institutionalisiert und prägen das Verhältnis von Individuum und (moderner) Gesellschaft. Auch wenn die Größe dieser Handlungsspielräume hier überbewertet oder überbetont wird, scheint dieses Konzept das spannungsreiche Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft am ehesten zu erfassen und gut mit der Vorstellung von Autonomie und Emergenz im Lebenslauf(-Handeln) vereinbar zu sein.
3.1.2 Die Spannung zwischen Handeln und Struktur Da es bei der Frage nach gesellschaftlicher Ordnung um die Macht gesellschaftlicher Strukturen geht, bezeichnen diese grundlegenden Konzepte ebenso bestimmte Vorstellungen des Verhältnisses zwischen Struktur und Handlung. In der ersten Fassung des Problems entsprechen Struktur und Handlung einander ganz selbstverständlich, wobei der Handlungsebene das natürliche Primat zukommt und die Strukturebene eine Nebenfolge darstellt. In der zweiten Auffassung hat die Strukturebene normativ eine Vorrangstellung und die Effekte der Handlungsebene haben meist den Charakter von bedrohlichen Störfaktoren. In der dritten Auffassung besteht ein Wechselverhältnis, in dem beide Ebenen sich gegenseitig konstituieren. Von diesen drei historischen Antworten kann mit gewisser Vorsicht ein Bogen zu den oben besprochenen Möglichkeiten der Spannungsauflösung zwischen Handlungs- und Systemebene geschlagen werden: Institutionen wie den Lebenslauf als Nebenfolge des freien Zusammenschlusses von Individuen zu begreifen, entspräche am ehesten der Annahme, objektives Lebenslaufprogramm und biographischer Spielraum gingen sowieso perfekt ineinander auf, womit die Spannung zwischen System- und Handlungsebene sich „von selbst“ auflöst bzw. gar nicht wirklich bestünde. In der von Weymann geschilderten Perspektive leitet sich dieses Entsprechungsverhältnis aus einem Primat der Handlung ab – es sind aber weitere Varianten denkbar, wie beispielsweise ein einfaches Gleichgewicht
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zwischen Handlung und Struktur, das jedoch statisch wäre und sozialen Wandel nur schwer erklären könnte. Das von Weymann zuletzt beschriebene konstruktivistisch-interaktionistische Wechselverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft erhält dagegen die Spannung zwischen System- und Handlungsebene im Sinne eines dynamischen Gleichgewichts, wie Kohli es für das dritte, von ihm favorisierte Modell beschreibt.13 Wohlrab-Sahrs Formel der „Kohärenz- und Widerspruchsverhältnisse“ (1997: 31), die sich auf Individualisierungsprozesse bezogen hatte, trifft auch hier: Zunächst einmal bezeichnet sie nur die Variabilität der Relation zwischen Struktur- und Kulturebene, was aber auf das Verhältnis von Struktur und Handlung übertragbar ist. In dieser Formel ist zumindest die Möglichkeit einer Wirkung von der kulturellen Ebene in Richtung der strukturellen angelegt, d. h. von den Bedeutungen des Handelns – und hier ist potentiell innovatives Handeln eingeschlossen – zur Struktur der Handlungsmöglichkeiten. Zwar sind strukturelle Veränderungen die Voraussetzung des Aufkommens kultureller Individualisierungstendenzen und damit individueller Handlungszurechnung;14 jedoch eher im Sinne einer notwendigen denn einer hinreichenden Bedingung. Umgekehrt ist nicht gesagt, dass zumindest Impulse zur weiteren Entwicklung auch aus individuellem Handeln erwachsen können. Die Koppelung der Struktur- und der Kulturebene ist also keine direkte und unidirektionale – es kann nicht einfach von den gesellschaftlichen Strukturen auf die Gestaltung individuellen Handelns geschlossen werden oder umgekehrt. Das negative Menschenbild der dritten von Weymann geschilderten Fassung des Problems gesellschaftlicher Ordnung, in der Institutionen als zur Bändigung tendenziell destruktiver menschlicher (Trieb-)Regungen notwendig erachtet werden, gäbe, ontologisch gewendet, den Institutionen den Vorrang. Dieser Schluss von normativen Aussagen auf ontologische ist nicht zwingend und meines Erachtens auch nicht überzeugend, wird aber implizit immer wieder gezogen. Mayer verzichtet zwar auf den normativen Impetus, sein Ansatz lässt sich hier aber anschließen: Auch er spricht der Strukturebene eine Vorrangstellung zu, jedoch im rein faktischen Sinne. Indem er sich gegen eine Betonung der Handlungsspielräume wendet und diese als zu optimistisch bewertet, lässt er einem allerdings nur theoretischen Ideal von Handlungsautonomie einen gewissen Wert zukommen. Zudem kann seine Entscheidung auch als strategische bewertet werden: Da er die eine Wirkungsrichtung für die einzig entscheidende hält, sind alle Wirkungen in die andere allenfalls minimal und zu vernachlässigen. Es ist zwar theoretisch in gewisser Weise elegant, sich so auf eine der Wirkungsrich-
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Als neuere einflussreiche Variante dieser Position kann Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung (1995a) genannt werden – Giddens beschreibt, wie Strukturen zum einen durch Handlungen konstituiert werden, andererseits Handlungen durch Strukturen bedingt sind. Leider würde es zu weit führen, seine Position hier im Einzelnen zu erläutern und auf die Lebenslauf-Thematik zu übertragen, weswegen ich mich auf die oben nur angedeuteten klassischen Referenzen beschränke. Dies ist durchaus auch die Auffassung Becks (1983/1994: 46): Wenn er den Arbeitsmarkt als „Motor der Individualisierung“ ausmacht, sieht er den Impuls zur Veränderung tatsächlich auf struktureller Ebene – ein Umstand, den viele seiner Kritiker übersehen. Keineswegs ist es so, dass bei ihm mit Individualisierungsprozessen strukturelle Wirkungen (z. B. sozialer Ungleichheit) außer Kraft gesetzt wären. Zugute halten kann man den Kritikern allerdings, dass Beck die strukturellen Veränderungen, die Voraussetzungen für Individualisierungsprozesse darstellen, viel weniger klar und plakativ beschreibt als ihre kulturellen Folgen.
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tungen zu konzentrieren. Indes wird für die vorliegende Arbeit die Strategie gewählt, so weit wie möglich in beide Richtungen offen zu bleiben und die Systemebene nicht gegen die Handlungsebene auszuspielen. Dahinter steht die Überzeugung, dass (biographisches) Handeln und (Lebenslauf-) Struktur nur analytisch trennbar und de facto immer ineinander verschränkt sind: Die Strukturen ermöglichen und beschränken das Handeln; das Handeln und seine Deutungen konstituieren und reproduzieren die Strukturen (Jost 2003: 88f). Auf diese Weise gibt es eine Wechselwirkung zwischen biographischer Konstruktion und subjektiven Deutungsmustern von Normen auf der einen und von institutionellen Regelungen auf der anderen Seite. Die Frage nach dem Mischverhältnis oder der Dominanz einer der beiden Wirkungsrichtungen wird beim gegenwärtigen Stand der Methoden ungeklärt bleiben oder zumindest niemals in einem klaren (z. B. zahlenmäßigen) Verhältnis angebbar sein. Empirisch ist es schwierig, beide in einem Schritt zu untersuchen, so dass schon mit einer bestimmten Forschungsfrage und methodischen Herangehensweise die Konzentration auf die eine oder andere Ebene erfolgt. Es wäre jedoch zu einfach, deswegen die jeweils andere für irrelevant zu erklären. Diese Entscheidung für ein Offenhalten der Theorie in beide Richtungen, die auch die empirischen Analysen weiter unten prägt, kann als pragmatisch-strategische verstanden und muss nicht aufgeladen werden als unangemessene Dramatisierung oder Ideologie des Individuums oder gar als theoretische Beliebigkeit. Beschränkungen der Perspektive liefert die empirische Forschung zu Genüge, so dass je nach Forschungsansatz der Blick bewusst verengt werden kann, um sich auf bestimmte Effekte zu konzentrieren. Das tatsächliche Gewicht individueller Entscheidungsfreiräume ist nicht nur historisch wandelbar, sondern variiert auch innerhalb einer Gesellschaft zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Lebensabschnitten. Auf dieser weniger allgemeinen Stufe muss der theoretische Zugang zum Zusammenspiel von Struktur und Handeln jeweils präzisiert werden.
3.1.3 Biographie und Lebenslauf Dieser Gang der Argumentation lässt sich noch ausdrücklicher auf die theoretische Fassung von Lebensläufen übertragen: Wenn Biographien tatsächlich selbstreflexiv werden, dann steigt damit das Potential, dass Auslegungsspielräume bewusst werden. Das veränderte Zurechnungsschema der Individualisierung bewirkt, dass mehr Entscheidungen individuell getroffen und auch als individuelle Entscheidungen begriffen werden – der Einzelne wird zum „Planungsbüro seiner selbst“ (Beck 1986: 217). Diese Entscheidungen sind jedoch immer sozial vorstrukturiert. Die Größe des tatsächlichen Auslegungsspielraums variiert, da es sich um einen Freiraum handelt, der nur bestehen kann, wenn er auch vom handelnden Subjekt als solcher wahrgenommen und gefüllt wird. Dies wiederum hängt mit dem Grad der strukturell bedingten Reflexivität der Biographie zusammen: Die Fähigkeit zur Reflexion und zur Distanzierung von vorgegebenen Lebenslaufregelungen, kurz zum „doing biography“ ist ungleich verteilt (Heinz 2002; auch Burkart 1998). Wenn das Verhältnis von institutionellen Regelungen und biographischer Konstruktion so gefasst wird, ist das folgenreich für das Verhältnis von Lebenslauf- und Biographie-
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forschung;15 erstere verstanden als Untersuchung der objektiven Strukturen des Lebenslaufs, zweitere als Analyse der „sozialweltlichen Orientierungsmuster“, die auf die objektiven Strukturen bezogen sind und zur Deutung dieser innerhalb normativ vorstrukturierter Spielräume beitragen (Fischer & Kohli 1987: 26). Biographieforschung mit offenen, nichtstandardisierten Erhebungsverfahren kann nachvollziehen, wie Individuen bestimmte Regelungen deuten, sich mit ihnen auseinandersetzen, mit Handlungsspielräumen umgehen und das Gesamt dieser Deutungen zu einer kohärenten Geschichte, ihrer Geschichte machen, die beispielsweise um wichtige Übergänge („Knoten“, Kruse 2000) herum organisiert ist. In dieser „biographischen Gesamtkonstruktion“ mischen sich Elemente der „autonomen Konstitution“, d. h. der eigenständigen, vom Subjekt produzierten Eigen- und Fremderwartungen, mit solchen „heteronomer biographischer Produktion“, welche für die Einpassung des Individuums und seines Lebenslaufs in institutionelle Regelsysteme sorgen (Fischer 1982/1986: 157). Biographieforschung kann genauer als jeder quantitative Ansatz beschreiben, wie normative Regelungen mit Leben gefüllt oder nicht gefüllt werden. Dieses Interesse beschränkt sich nicht darauf, Korrelate institutioneller Regelungen aufzufinden – es geht um den Eigensinn der biographischen Geschichten, die eine eigene Dynamik entfalten, welche auf Strukturen zurückwirken kann. Deswegen sind Ergebnisse der Biographieforschung auch für die Lebenslaufforschung insofern anregend, als bestimmte objektive Veränderungen in ihrer Entstehung besser oder umfassender verstanden werden können. Dies muss nicht heißen, dass ein Großteil der objektiven Veränderungen aufgrund von Impulsen auf der subjektiven Handlungsebene erfolgt. Umgekehrt gilt selbstverständlich: Lebenslaufforschung muss die objektiven Veränderungen in institutionellen Regelungen des Lebenslaufs einbeziehen. Aus diesem Grund werden Erträge der Biographieforschung nicht aus dieser Arbeit ausgeklammert und auch bei der Interpretation der empirischen Befunde berücksichtigt, auch wenn ihr Schwerpunkt woanders liegt. Biographieforschung ist folglich mehr als ein Anhängsel der Lebenslaufforschung. Ergebnisse der Biographieforschung spiegeln nicht nur institutionelle Regelungen wider, gehen in ihnen auf oder stellen den Nachvollzug rein ideologischer Diskurse individueller Verantwortlichkeit dar. Die Möglichkeit solcher ideologischen Diskurse ist indessen genauso wenig bestreitbar. Biographische Diskurse spiegeln institutionelle Regelungen auch wider und stellen teilweise deren „Übersetzung“ in Normen sowie lebensweltliches Orientierungswissen dar. Aber das kann nicht heißen, dass biographische Orientierungen eins zu eins aus institutionellen Regelungen ableitbar seien. Vielmehr entwickeln sie nach der bzw. über die „Übersetzung“, „Übertragung“ hinaus – die je bereichsspezifisch in einem anderen Verhältnis zu den institutionellen Ausgangspunkten steht – eine eigene Dynamik: Die Übertragung normativer Regelungen ist innerhalb eines gewissen Rahmens kontingent. Es bestehen Auslegungsspielräume und die objektiven, den Handelnden gegenübertretenden Strukturen bilden „lediglich das Material […], das einzelne ‚Biographieträger’ modifizierend zu übernehmen haben“ (Fischer 1982/1986: 166). 15
Eine interessante, auf die wichtigsten Argumente reduzierte Auseinandersetzung um die beiden Konzepte findet sich in Mayer et al. (1988). Fuchs-Heinritz (2000) gibt einen Überblick über Praxis und Methoden der Biographieforschung, und eine Diskussion um den „biographical turn“ in den Sozialwissenschaften. Beispielhaftes empirisches Material bieten Chamberlayne et al. (2000).
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An diesem Punkt kann der Bogen zur Individualisierungsthese geschlagen werden: Mit der Freisetzung aus traditionalen Bindungen ändert sich der Modus, mit dem das Individuum in Gesellschaft integriert ist: Über Institutionen wie beispielsweise den Lebenslauf wird es direkter und nicht mehr über den Zwischenschritt „bewusstseinsbildender“ Kleingruppen eingebunden. Dies hat die Folge, dass der Anteil entscheidungsoffener Situationen im Lebenslauf wächst (Beck 1986: 216). Genau diese relative Entscheidungsoffenheit, diese Handlungsspielräume sind mit dem Lebenslauf institutionalisiert. Entscheidungen sind deswegen nicht frei von strukturellen Einflüssen, vielmehr sind sie auf neue Art und Weise abhängig insbesondere von der Einbindung in (Arbeits-)Märkte. Die bisherigen Ausführungen können am Beispiel der partnerschaftlichen Lebensformen verdeutlicht werden. Strukturell hat sich der Handlungsspielraum für eine 25jährige Frau prinzipiell vergrößert: Im Gegensatz zu vormodernen Verhältnissen ist für fast alle 25jährigen Frauen außer einer Ehe oder einer Anstellung z. B. als Hausmädchen auch das Leben in einer nichtehelichen Partnerschaft oder allein möglich. Der Handlungsspielraum hat sich also erweitert. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene kann von einer Diffusion der „neuen“ Lebensformen gesprochen werden. Das heißt aber nicht, dass die Entscheidung für die eine oder andere Lebensform völlig unbeeinflusst von Strukturen wäre. Je nach Milieu (Burkart & Kohli 1992), sozialer Herkunft und aktueller Position im Gefüge sozialer Ungleichheit – um nur drei wichtige Beispiele herauszugreifen – ist die nichteheliche Lebensgemeinschaft als dauerhafte Lebensform mehr oder minder akzeptiert bzw. ist das Alleinleben beispielsweise in Hinblick auf finanzielle Ressourcen leichter zu verwirklichen oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Entscheidung variiert je nach Position im sozialen Gefüge, da die Entscheidungskontexte variieren; jedoch haben sich diese Unterschiede relativiert. Tatsächlich gab es mit dem Kuppelei-Paragraph bis 1974 ein Gesetz, welches das Zusammenleben Unverheirateter (bzw. die Ermöglichung eines solchen Zusammenlebens) rechtlich sanktionierte.16 Dieses Beispiel zeigt, wie von individuellem Handeln Impulse zur Veränderung institutioneller Strukturen ausgehen – das System, welches das Zusammenleben von erwachsenen Paaren regelte, geriet auf Grund von im Aggregat zahlreich auftretenden, jedoch genuin individuellen Handlungen unter Veränderungsdruck. Auf der kulturellen Ebene müssen sich die betreffenden Normen gelockert haben. Ein ähnlich gelagertes Beispiel stellt die Akzeptanz homosexueller Lebensgemeinschaften dar, die juristisch inzwischen ebenso Niederschlag gefunden hat. Es wäre schwierig, diese Entwicklungen rein auf der Systemebene zu begründen. Selbst wenn sich empirische Veränderungen strukturtheoretisch gut erklären lassen, können sich verändernde Handlungsspielräume die Rahmenvorgaben bilden, unter denen dieser Zusammenhang erst zustandekommt.
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Interessanterweise gab es auch vorher schon vielfach akzeptierte Ausnahmen, wenn beispielsweise Kriegswitwen ihren neuen Partner nicht heirateten, um die Einkünfte aus ihrer Witwenrente nicht zu verlieren („Onkel-Ehe“). Ähnliches praktizieren heutzutage ältere Frauen, die sich für ihre aus den gleichen Gründen eigentlich uneheliche Partnerschaft immerhin den Segen eines Pfarrers geben lassen, ohne zu heiraten. Umgekehrt gibt es unverheiratete ältere Frauen, die mit einer Freundin eine (eigentlich homosexuellen Paaren vorbehaltene) eingetragene Partnerschaft eingehen, um sich abzusichern und ohne dass beide tatsächlich ein Paar wären.
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3.1.4 Biographisches Handeln und Entscheiden Ein mit der Spannung zwischen System und Handeln zusammenhängendes Problem ist die Struktur individueller Entscheidungen. Der genaue Ablauf von individuellen Entscheidungsprozessen ist (soziologisch) jedoch nur in Annäherung zu klären. Wenn wir beim biographischen Handeln von Entscheidungen sprechen, so herrscht schon Uneinigkeit in der Frage, inwieweit denn angesichts der bestimmenden Macht sozialer Strukturen überhaupt von Entscheidungen die Rede sein kann. Dieses Problem erörtert Burkart (1998) für den Zusammenhang zwischen Individualisierung und Elternschaft. Zur Untermauerung seiner Kritik an der Individualisierungsthese führt er z. B. den Befund an, dass in den USA immer noch knapp ein Drittel aller Schwangerschaften unerwünscht seien, und schließt im historischen Vergleich, dass es „früher schon mehr Planung, Aufschub, eheliche Fruchtbarkeitskontrolle, usw. [gab], als die unvorsichtige Gleichsetzung von ‚traditional = kulturelle Selbstverständlichkeit’ und ‚modern = individuelle Entscheidung’ nahelegt“ (1998: 116). Das Problem seiner Kritik besteht in eben dieser dichotomisierenden Gegenüberstellung. Fruchtbarer erscheint es, die mit dem Individualisierungsbegriff angesprochene Veränderung als relative, nämlich mit Weymann (1989a) als Erweiterung von sozial strukturierten Handlungsspielräumen zu begreifen – dennoch sind natürlich auch biographische Handlungen denkbar, denen keine Entscheidung oder keine bewusste Entscheidung vorweg geht (Burkart 1995: 71ff). Burkart (1995) legt einen Versuch einer Theorie biographischer Entscheidungen vor, der sich bewusst von der klassischen Theorie rationaler Handlungen absetzt. Seines Erachtens ist ihr Entscheidungskonzept viel zu artifiziell und losgelöst von konkreten (vor allem sozialen und biographischen) Handlungskontexten. Er entwirft ein theoretisches Modell einer besonderen Art von Entscheidungen, nämlich biographischer, das eben diese Defizite nicht aufweisen soll. Zunächst einmal versteht er Entscheidungen als Lösungen eines Handlungsproblems, das darin besteht, dass zwei Handlungsmöglichkeiten nicht gleichzeitig realisiert werden können. Entscheidungen seien in Anlehnung an Luhmann dadurch strukturiert, dass sie an eine Erwartung gekoppelt sind – durch die „Erwartungsstruktur [ist] […] der Raum möglicher Optionen eingeschränkt“ (Burkart 1995: 71). Für ihre Beschreibung ist dann nicht die Leitdifferenz rational/nicht-rational ausschlaggebend, sondern diejenige erwartungskonform/abweichend. Burkarts Analysemuster für konkrete Entscheidungen lautet auf dieser Grundlage wie folgt: „Die jeweils getroffene Entscheidung hängt dann von drei Faktorenkomplexen ab: von der biographischen Logik (den ‚weil’-Motiven im Kontext der Identität und der Kontinuität der Lebensgeschichte); von der sozialen Logik (normative Erwartungen und sozio-kulturelle Rahmenbedingungen); und schließlich von der situativen Logik kalkulierter Handlungsfolgen“ (Burkart 1995: 72) – letztere entspricht am ehesten dem, was in klassische rational-choice-Theorien Eingang gefunden hat.17 Mit Kontinuität
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Eine ähnliche Kategorisierung findet sich bei Geissler (2004: 114). Diese ist theoretisch jedoch weniger streng verortet, indem es nicht um Entscheidungsfaktoren, sondern um Dimensionen der Lebensplanung geht, die jedoch am empirischen Material entwickelt werden; außerdem stehen sie im Kontext der Analyse der wohlfahrtsstaatlichen Strukturierungen von Lebensläufen und Biographien. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Dimensionen der Lebensplanung: Die Exploration der externen Bedingungen, die Wahrnehmung institutioneller Zeitstrukturen, die kritische Evaluation der eigenen Interessen und Voraussetzungen,
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und Identität der Lebensgeschichte können dabei immer nur im Zeitverlauf wandelbare Konstruktionen gemeint sein und keineswegs ein unverrückbarer, einmal gefasster biographischer „Masterplan“ (Behrens & Voges 1996: 26); diese Wandelbarkeit der biographischen Konstruktion ist gleichwohl nicht mit völliger Beliebigkeit gleichzusetzen. Burkarts Begriff von Entscheidung, der damit nur angerissen ist, bietet eine gute Grundlage zum Nachvollzug biographischer Entscheidungen und ist offen genug, verschiedene Arten der Entscheidung, auch zweckrationale, einzubeziehen. Das von ihm kritisierte Modell rationalen Handelns und Entscheidens indes hat einige Erweiterungen erfahren, in denen auch die Orientierung an Normen oder Traditionen sowie das begrenzte Wissen über Nutzenerträge von Handlungen berücksichtigt wird, welches auf vergangenen biographischen Erfahrungen beruht. Diese und andere Voreinstellungen des Entscheidenden bilden den Rahmen (frame) der Handlung, der je nach Förderlichkeit für eine eindeutige Entscheidung auch gewechselt werden kann (für eine Übersicht über das u. a. von Esser entwickelte Modell mit Beispielen aus dem biographischen Kontext: Huinink 1995: 57-83). Allerdings, so merkt Blossfeld (1996: 185) an, bleiben mit dem frame individuelle „Voreinstellungen“, gesellschaftliche Traditionen und sich wandelnde gesellschaftliche Zwänge der eigentlichen Theorie exogen: Sie werden jeweils als „gegeben“ und die Nutzenerwartungen strukturierend vorausgesetzt, selbst aber nicht thematisiert. Blossfeld setzt dem ein Plädoyer für spezifischere, weniger abstrahierte Hypothesen entgegen, die an empirischen Problemen orientiert sein und die vor allem die Entscheidungskontexte (Normen, Traditionen, strukturelle Zwänge, historische Situation etc.) sowie deren Wandel ebenso thematisieren sollen; seines Erachtens trachte auch die erweitere Theorie rationalen Handelns immer noch zu sehr danach, abstrakte, zeitunabhängige Regeln für Handeln aufzustellen. Eine den historischen Kontext einschließende Bildung von Hypothesen über biographisches Handeln gewinne umso mehr an Bedeutung, je komplexer dieses werde und je mehr es sich unter Bedingungen der Unsicherheit vollziehe – in diesen Fällen habe die klassische Theorie rationalen Handelns nur noch sehr wenig Erklärungskraft. Die Unsicherheit betrifft nicht nur mögliche Handlungsfolgen, sondern die überhaupt zur Wahl stehenden Handlungsoptionen, die darüber zu sammelnden Informationen und manchmal sogar auch die eigenen (zukünftigen) Präferenzen (Blossfeld 1996: 187). Im biographischen Handeln verschärfen sich diese Unsicherheitsprobleme, da mit Entscheidungen teilweise langfristige Bindungen eingegangen werden und da besonders familiale Entscheidungen hochgradig mit den Orientierungen relevanter Anderer verknüpft sind. Blossfeld (1996: 187) optiert indes nicht für eine Aufgabe des Rationalitätsbegriffs, den er in einer erweiterten Form als Annäherung an die Regularitäten sozialen Handelns weiterhin für sinnvoll hält. Letztendlich geht es bei der mit diesen Begriffen verbundenen Auseinandersetzung darum, ob die von Blossfeld (und anderen) als rational beschriebenen Handlungen noch einem strengen Begriff der Rationalität genügen (Burkart 1995: 66). Diesem terminologischen Problem wird hier nicht erschöpfend nachgegangen. Auf den ersten Blick sprechen zwar wenige Gründe dagegen, den Begriff der Rationalität durch andere zu ersetzen, wirkliche begriffliche Alternativen sind aber schwer denkbar.
die Bilanzierung der eigenen Biographie und das Hintergrundwissen über Institutionen des Wohlfahrtsstaates.
3.2 Identität und Sozialisation
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Für diese Arbeit und ihre empirischen Analysen sind in erster Linie drei der gerade vorgestellten Überlegungen festzuhalten: Erstens darf biographische Rationalität nicht auf kurzfristig orientiertes zweckrationales Handeln reduziert werden, das nur auf gegebene Anreize und Sanktionen reagiert, obwohl diese auch eine Rolle spielen. Zweitens ist der von Burkart angemahnte Einbezug einer langfristigen biographischen, auch in die Vergangenheit gerichteten Perspektive notwendig, um biographisches Handeln in seinen sozialen Strukturen zu verstehen. Die betreffenden Akteure wägen Sinn und Nutzen möglicher biographischer Handlungen mit Bezug auf ihre bisherigen Erfahrungen ab. Die mit biographischen Entscheidungen verbundenen Deutungsprozesse können im Einzelnen zwar nur mit interpretativen Methoden nachvollzogen werden; die äußeren Koordinaten der biographischen Erfahrung sind jedoch leicht in umfangreiche quantitative Studien einbeziehbar, sofern die entsprechenden Daten vorhanden sind. Drittens kann die Zeitabhängigkeit der meisten Bestimmungsgründe (biographischen) Handelns mit Blossfeld nicht genug betont werden. Das gilt auch und besonders für normative Einstellungen, das Wissen über mögliche Handlungsoptionen und Ansichten über die potentiellen Ergebnisse von Handlungen. Das Ziel eines solchen Ansatzes, der so die Komplexität individuellen Handelns in Rechnung stellt, wäre die „dynamische Integration von Mikro- und Makro-Perspektiven“ (Blossfeld 1996: 191).
3.2 Identität und Sozialisation Biographische Kontexte spielen auch innerhalb der Sozialisationsforschung eine bedeutsame Rolle. Die klassische Sozialisationsforschung beschäftigt sich damit, wie aus Individuen im Laufe von Kindheit und Jugend handlungsfähige, gesellschaftlich integrierte Subjekte mit stabiler Identität werden (Tillmann 1999). Die Lebenslaufforschung reflektiert das Aufbrechen dieser Perspektive in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird das Sozialisationskonzept partiell in den theoretischen Rahmen des Lebenslaufs einbezogen (Heinz 2000: 44), indem Sozialisation forthin als lebenslanger Prozess begriffen wird, der eben auch im Erwachsenenalter anhält, wenn auch in einer im Vergleich zu Kindheit und Jugend veränderten Form. Zum anderen werden personale Identitäten immer weniger als Substanzen und immer mehr als Prozesse verstanden. Lebenslaufforschung bezieht sich in unterschiedlichster Weise auf Konzepte personaler Identität. Strukturorientierte Ansätze wie der von Mayer geben diesem Themenkreis kaum Raum im Gegensatz zu solchen, die in phänomenologisch-konstruktivistischer Tradition argumentieren. In der Biographieforschung wiederum spielt personale Identität eine zentrale Rolle, da sie Gegenstand der biographischen Konstruktion ist: „In der ‚biographischen Gesamtkonstruktion’ (Lebensgeschichten) sind autonome und heteronome Konstrukte zu Identitäten aufgebaut, die die Gegenwartsperspektive mit spezifischen Horizonten der Vergangenheit und Zukunft im Rahmen der Lebenszeit konstituieren“ (Fischer 1982/1986: 157, Hervorh. i. O.). Mit einem solchermaßen umrissenen Begriff von Identität ist jedoch schon das Ergebnis der theoretischen Entwicklung genannt.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
Ausgangspunkt der philosophischen Beschäftigung um personale Identität ist das sich seiner selbst völlig gewisse Selbst Descartes’, das als Kern von beständigen Eigenschaften zum Individuum gehört (Scherger 2000: 236). Es ist Teil der res cogitans, die der physischen Welt (res extensa) gegenübergestellt wird. Die weitere Verbreitung18 der Vorstellung personaler Identität und ihre Verankerung in den (biographischen) Deutungsstrukturen von Individuen ist sozial bedingt: Mit der funktionalen Differenzierung von Gesellschaften geht das Individuum samt seiner Identität nicht mehr in einem sozialen Aggregat auf, sondern bewegt sich mit wechselnden sozialen Rollen durch verschiedene soziale Kreise. Erst eine persönliche Identität ermöglicht es zum einen ihm selbst, sich trotzdem durchgängig als dieselbe Person zu begreifen, zum anderen seinen Interaktionspartnern, ihm Verantwortung für seine Handlungen zuzuschreiben jenseits der sozialen Position, in der es ihnen begegnet. Insofern kann man die Ausbildung einer personalen Identität als funktionales Erfordernis moderner Gesellschaften auffassen (Schimank 1985, 2002). Meyer (1986) beschreibt, in welcher Weise gleichzeitig mit dem Lebenslauf die individuelle Identität („self“) institutionalisiert wird. Der Lebenslauf als individualisierende und universale Institution findet in der individuellen Identität sein Pendant, beide verweisen aufeinander und sind ohne einander nicht angemessen denkbar (Meyer 1986: 205f). Dabei tritt das Konzept der persönlichen Identität wiederum in zwei Aspekten auf, die in ähnlicher Weise wie Meyer auch Kohli (1988: 34f) unterscheidet. Die Allgemeinheitsindividualität ist nach Kohli der eine dieser beiden Gesichtspunkte. Sie ist ein Produkt von Aufklärung und Moderne und konzipiert das Individuum als Inhaber bestimmter Rechte und Pflichten, bestimmter Freiheiten und Zwänge – diese sind im Prinzip für alle Mitglieder der Gesellschaft gleich. Hierin andererseits schon angelegt ist die Möglichkeit des unterschiedlichen Umgangs mit den eröffneten Möglichkeiten und Zwängen: die Besonderheitsindividualität, die das Individuum jeweils zu einem unverwechselbaren mit besonderen Eigenschaften, einer einzigartigen Kombination von sozialen Rollen etc. macht. Im institutionalisierten Lebenslauf sind mit universalen Rechten, Ansprüchen und Regelungen auf der einen und Freiräumen zur individuellen Differenzierung und Abweichung auf der anderen Seite diese beiden Aspekte von Individualität angelegt. Individualitäts- und Identitätsdiskurse sowie die Steigerung der Reflexivität persönlicher Identitäten sind Folgen der oben beschriebenen Individualisierungsprozesse. Vor dem Hintergrund des von Beck ausgemachten neuesten Individualisierungsschubs bedarf die Herstellung von reflexiver (Besonderheits-)Individualität immer neuer Anstrengungen (auch Brose & Hildenbrand 1988). In der soziologischen Theorie wird personale Identität häufig als Kehrseite der sozialen Identitäten verstanden, womit die sozialen Rollen eines Individuums gemeint sind. Je nach theoretischer Tradition werden in diesem Zusammenspiel der prägende Charakter der Gesellschaft oder die Performanz des individuellen Akteurs betont. In der Aufnahme kognitionspsychologischer Ansätze19 entwickeln Döbert et al. (1980) aufbauend auf letzterer Perspektive eine Sozialisationstheorie, in der personale Identität als Syntheseleistung ver18 19
Für eine (relativ oberflächliche) Beschreibung der historischen Herausbildung des Individualitäts-Diskurses vgl. van Dülmen 1997. Auf psychoanalytische (Freud, Erikson) und kognitionspsychologische (Piaget, Kohlberg) Ansätze kann in diesem groben und gegenwartszentrierten Überblick nicht näher eingegangen werden. Für einen Überblick vgl. Tillmann (1999).
3.2 Identität und Sozialisation
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standen wird, mit der ein Individuum die Vorstellung von Kohärenz und Kontinuität seiner Person und seines Handelns herstellt, und zwar synchron über seine verschiedenen Handlungsfelder sowie diachron über seinen Lebenslauf hinweg. Adressat ist dabei nicht allein sein Selbstbild, sondern sind ebenso seine aktuellen und potentiellen Interaktionspartner (Kohli 2000a: 115). Im Gegensatz zur cartesianischen Auffassung von Identität als Substanz wird sie hier als Prozess begriffen – sie muss immer wieder neu hergestellt, gestaltet (Scherger 2000), inszeniert und stabilisiert werden. Diese Vorstellung wird in aktuellen Debatten noch weiter getrieben: Die postmoderne Identität ist fragmentiert (Bauman 1995a) oder verschwindet gar, wenn auch (bei Foucault) nur zeitweise (Bürger 1998: 12ff, 237). Dieser Abzweig der Debatte erweist sich in soziologischer Hinsicht als wenig fruchtbar (Kohli 2000a: 116). Für die aktuelle Lebenslauf-, Biographie- und Sozialisationsforschung ist die Idee der interaktiv und performativ immer neu prozessierten Identität prägend und ausschlaggebend. Eine solche Identität muss nicht unbedingt mit inhaltlicher Widerspruchsfreiheit einhergehen. Wie Zinn und Eßer (2003: 60f) zeigen, würde eine Festlegung von Identitäten auf Konsistenz dazu führen, davon abweichende biographische Konstruktionen als in jedem Fall defizitär oder problembehaftet zu betrachten. Eine solche Verengung der Vorstellung davon, was eine stabile, „gesunde“ oder „richtige“ Identität ausmacht, soll hier vermieden werden.20 Dies steht nicht im Widerspruch zu der Behauptung, dass konventionelle Biographien nichtsdestotrotz an Vorstellungen von Kontinuität und Bruchlosigkeit orientiert sind – die Herstellung dieser weit zu fassenden Prinzipien kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, welche auch die ReIntegration von Widersprüchen und Brüchen einschließen. Die Debatten um Identität und Individualisierung fanden Eingang in die Sozialisationsforschung. Die Betonung der Prozesshaftigkeit personaler Identität und der individuellen biographischen Gestaltungsfähigkeit haben mit zur Auseinandersetzung um Selbstsozialisation beigetragen. Schon die in der Sozialisationsforschung prägende Leitidee des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurrelmann 1983, 1986) betont im Vergleich zu früheren Vorstellungen den aktiven Beitrag des Individuums zu seiner Vergesellschaftung. Mit „Selbstsozialisation“ wird diese Blickrichtung weiterentwickelt. Selbstsozialisation meint zunächst ganz einfach „den Eigenanteil […], den eine Person zu ihrer Sozialisation leistet“ (Zinnecker 2000: 281).21 Zinnecker (2000: 280) nennt drei Beispiele für die Form, in der sich Selbstsozialisation abspielen kann: Sie kann erstens verstanden werden als Selbstinitiation, in der Statuspassagen inklusive der dazugehörenden Riten von den sie durchlaufenden Personen selbst gestaltet werden, z. B. in jugendlichen GleichaltrigenGruppen oder bei religiösen Konversionen. Zweitens erfolgt im Falle der Selbstkultivierung eine „eigentätige Auseinandersetzung mit kulturellen Objekten und Umwelten“. Als drittes Beispiel dient Zinnecker die „Erzeugung seiner eigenen Entwicklungsumwelten“; das Individuum steuert hier Sozialisationsprozesse, indem es seine Umwelt selbst formt oder ent-
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Diese Frage verdiente eine genauere Klärung. Zinn und Eßer deuten meines Erachtens überzeugende inhaltliche Gründe dafür an, die Vorstellung einer widerspruchsfreien Identität kritisch zu hinterfragen (zumindest wenn von Widerspruchsfreiheit oder Konsistenz im engeren Sinne die Rede ist). Eine zweite, meines Erachtens irreführende, da den (sozialisationstheoretischen) Kern des Konzeptes nicht treffende Deutung wäre die als Sozialisation des Selbst (Zinnecker 2000: 281). Zu den psychologischen Bedingungen von intentionalen Modifizierungen (nicht: Sozialisation) des Selbst vgl. Kiecolt & Mabry (2000).
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3 Zentrale Diskussionspunkte
scheidet, welchen Umwelten es sich aussetzt. Diese Beispiele geben einen Eindruck davon, wie sehr der Begriff der Selbstsozialisation schillert. Ein großer Teil der Auseinandersetzung um ihn dreht sich entsprechend um seine Reichweite und seine Bezugsobjekte (Geulen & Zinnecker 2002). Relativ einvernehmlich wird es abgelehnt, den Begriff der Sozialisation ganz allgemein durch den der Selbstsozialisation zu ersetzen (Hurrelmann 2002). Eine weitere Präzisierung muss angesichts des Vorwurfs des „strukturlosen Subjektzentrismus“ (Bauer 2002: 130) vorgenommen werden. Konzediert man, dass mitnichten alle Sozialisationsprozesse solche der Selbstsozialisation sind und dass außerdem eine aktive Rolle des Individuums in Sozialisationsprozessen nicht bedeutet, dass es völlig autonom und ohne Einfluss von Handlungsstrukturen agiert, wird dieser Vorwurf gegenstandslos und beruht ähnlich wie in der Individualisierungsdebatte auf einer zu weitgehenden Lesart des Konzepts. Zudem wird kritisch gefragt, was denn mit „Selbstsozialisation“ erfasst werden kann oder soll, das nicht schon im Begriff des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ mitgedacht wird. In diesem liegt die Betonung auf der Realitätsverarbeitung. In allen drei oben genannten Beispielen Zinneckers klingt etwas darüber Hinausgehendes an, nämlich dass sich Individuen unter bestimmten Bedingungen und bei bestimmten Gelegenheiten ihre soziale Realität selbst erschaffen oder sie entscheidend modifizieren. Allerdings muss dabei immer im Auge behalten werden, in welcher Weise diese Bedingungen und Gelegenheiten sozial strukturiert sind. Für die Lebenslaufforschung und den Kontext dieser Arbeit ist eine Form der Selbstsozialisation besonders interessant, die unter dem Stichwort „Biographie als Selbstsozialisation“ (Heinz 2000) oder „biographische Selbstsozialisation“ (Hoerning 2000a und 2000b) diskutiert wird.22 Über im Laufe des Lebens gesammelte Erfahrungen geht von der eigenen Biographie eine sozialisatorische Funktion aus: „Das Individuum als biographischer Akteur setzt sich mit den Handlungsoptionen im Lebenslauf nicht allein auf der Grundlage subjektiver Nützlichkeitserwägungen und sozialer Normen auseinander, sondern bezieht diese vielmehr auf seine biographischen Wissensbestände und Selbstverpflichtungen. Damit wird die biographische Gestaltungspraxis und -kompetenz (agency) als Kern von Lebenslaufentscheidungen, des timing und Verlaufs von Übergangsentscheidungen angesprochen“ (Heinz 2000: 177; Hervorh. i. O.). O’Rand (1996a und 1996b) sieht im agency-Konzept23 die Möglichkeit der Überwindung der theoretischen Lücke zwischen sozialen Strukturen und persönlicher Entwicklung und betont damit, dass es die Strukturen, in die es gebettet ist, schon impliziert. Der Einsatz des biographischen Wissens und biographischer Selbstverpflichtungen darf also keineswegs mit aus jeder Struktur losgelöster Autonomie verwechselt werden – die Handlungsspielräume und Fähigkeiten zu dieser Art von Selbstsozialisation sind unterschiedlich verteilt. Heinz erläutert die Implikationen seines Konzepts am Beispiel des Übergangshandelns Jugendlicher zwischen Ausbildung und Beruf. Die mehr oder minder bewusst eingesetzten Formen des Übergangshandelns („strategisches Übergangshandeln“, 22 23
Giegel (1988) beschreibt mit der „reflexive[n] Steuerung der eigenen Lebensgeschichte“, die im Gegensatz zur konventionellen Steuerung steht, eine Art der vom Individuum selbst ausgehenden Veränderung der eigenen Identität und Biographie, die Heinz’ Charakterisierung von Selbstsozialisation ähnelt. Mir ist kein deutscher Begriff bekannt, der „agency“ ähnlich prägnant und kurz ins Deutsche übertragen würde – es schwingt mehr in ihm mit als nur „Handeln“ oder „Handlungsfähigkeit“. Heinz’ Umschreibung „Gestaltungspraxis und -kompetenz“ ist für den hier vorliegenden Kontext angemessen, aber sicher nicht in allen Zusammenhängen.
3.3 Lebensläufe von Männern und Frauen
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„Schritt-für-Schritt-Übergangshandeln“, „risikobereites Übergangshandeln“, „‚Mal seh’n-, was kommt’-Übergangshandeln“, Heinz 2000: 180) stehen für ganz unterschiedliche Kombinationen von Aktivität und Abwarten, von Selbstinitiative und Schicksalsergebenheit beim Berufseinstieg. Deutlich wird hier, dass das Bezugsobjekt dieser Art von „Selbstsozialisation“ tendenziell nicht Kinder sind – eine mögliche Kritik an Zinnecker (2000) wäre insofern, dass er mit seinen vorwiegenden Verweisen auf Kinder und Jugendliche einen unangemessenen Schwerpunkt setzt. In strukturorientierte Analysen, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen werden, können Befunde zur biographischen Gestaltungspraxis nur schwer direkt einbezogen werden. Sie tragen aber zur Interpretation quantitativ-struktureller Befunde bei, indem sie beispielsweise eine Vorstellung davon geben, wie Strukturen mit Handeln und Deutungen gefüllt werden, deren Ergebnisse auf den weiteren biographischen Umgang mit strukturellen Vorgaben zurückwirken.
3.3 Lebensläufe von Männern und Frauen Um das schon angedeutete Problem divergierender Lebensläufe von Männern und Frauen und seine theoretische Beschreibung zu diskutieren, nehme ich noch einmal den Zusammenhang zwischen Institutionalisierung und Individualisierung von Lebensläufen auf. Wie oben beschrieben wird Kohli vorgeworfen, er beziehe sich mit seinem Modell des Normallebenslaufs (Kohli 1985) nur auf Männer – nur bei diesen, so die Kritik, sei tatsächlich der Arbeitsmarkt der Strukturgeber und spiele die Familie eine nachgeordnete Rolle, dieser Normallebenslauf entspreche jedoch nicht dem Leben der Mehrzahl von Frauen (Born & Krüger 2001b: 13f). Kohli beantwortet diesen Vorwurf mit der These, dass im traditionell institutionalisierten Lebenslaufmodell Frauen über ihre Männer und vor allem über deren Erwerbstätigkeit vergesellschaftet werden. Darauf deutet auch hin, dass die traditionellen sozialstaatlichen Versorgungsmodelle auf genau eine solche männliche Normalbiographie zugeschnitten sind. Frauen kommen in diesem System nur dann mit ähnlichen Ansprüchen ausgestattet aus der Arbeitswelt, wenn sie keine familienbedingten Auszeiten genommen haben oder wenn sie wie im Modell des männlichen Alleinernährers über ihren ganz in das Erwerbssystem involvierten Ehegatten versichert sind. Dies ist nicht nur in den Sozialversicherungssystemen, sondern ebenso übers Steuersystem verankert (Dingeldey 2000). Krüger stellt in diesem Zusammenhang eine Verbindung zur Individualisierungsdebatte her: Sie bezeichnet die Ansätze Kohlis und auch Mayers als „individualisierungsaffin“ (Krüger 2001: 257f) und stellt ihnen Levy sowie einen amerikanischen Ansatz gegenüber, bei dem es um die Charakteristika von Zeitspannen im Lebenslauf geht (Hagestad & Neugarten 1985). Diese haben in ihren Augen den Vorteil, dass sie das Augenmerk auf „Beziehungsstrukturierungen zwischen Lebensläufen“ lenken (Krüger 2001: 258) – und das qualifiziere sie als Ansätze, die eben nicht individualisierungsaffin seien. Auf Basis der oben gemachten Ausführungen (vor allem 2.3.3) ist erstens zu bezweifeln, dass der Ansatz Mayers dem Individualisierungstheorem nahesteht – vorausgesetzt, es handelt sich um ein Verständnis von Individualisierung, das demjenigen Becks entspricht. Der Begriff von Individualisierung, auf den Krüger sich hier bezieht, wird jedoch nicht näher expliziert. Der Eindruck, dieser werde (mindestens) verkürzt interpretiert, verstärkt sich zweitens dadurch,
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3 Zentrale Diskussionspunkte
dass Individualisierungsaffinität eines theoretischen Ansatzes gleichgesetzt wird mit der theoretischen Setzung, die Verflechtung von Lebensläufen spiele keine Rolle. Hier klingt eine Fehlinterpretation des Individualisierungsbegriffes an, die unter anderem eine relative Bedeutungslosigkeit sozialer Beziehungen, insbesondere von Paarbeziehungen beinhaltet; Individualisierung wird scheinbar interpretiert als Bewegung in Richtung Atomisierung oder Vereinzelung. Dies entspricht jedoch in keiner Weise dem eigentlichen Inhalt des (Beck’schen) Individualisierungsbegriffes, welcher die Dimensionen der Freisetzung aus traditionalen Bindungen, des Stabilitätsverlusts und der neuartigen Integration in Gesellschaft beinhaltet. Die Individualisierungsthese eignet sich jedoch sehr wohl als Hintergrund der Beschreibung von Verflechtungen moderner Lebensläufe. Wenn sie die traditionale Einbindung in Stände und Klassen (vielleicht überzeichnet) als Gegenfolie zur modernen, individualisierten Sozialstruktur darstellt, dann sind traditionale Geschlechterbeziehungen im Rahmen der Regelungen, die in den jeweiligen lokalen Gruppierungen für sie gelten, immer mitgemeint. Wenn Individuen aus diesen traditionalen Bindungen freigesetzt werden, schwinden damit auch selbstverständliche Normen im Bereich der familialen Bindungen, ohne dass deswegen letztere selbst an Bedeutung verlieren. Die Institution des Lebenslaufs enthält insofern ein traditionales Moment, als sie im Prinzip ein Modell des männlichen Normallebenslaufs zum Maßstab nimmt, der um eine Erwerbsbiographie herum zentriert ist. Der weibliche Lebenslauf ist, wenn er sich den mit dem männlichen AlleinernährerModell implizierten Normen anpasst, aus dem männlichen ableitbar, da seine sozialstaatliche Absicherung über ihn erfolgt. Diese Vergesellschaftung von Frauen über ihre Ehemänner reicht bis in sprachliche Bezeichnungen für den Stand einer Frau, die beispielsweise als „Arztfrau“ oder „Frau Doktor“ bezeichnet wird. Die männliche Erwerbsbiographie ist der Struktur(weiter)geber auch für den weiblichen Lebenslauf. In den institutionalisierten Lebenslauf zumindest westdeutscher Prägung sind indirekt und abgeschwächt die das Geschlechterverhältnis regelnden Normen, wie sie vom Bürgertum ausgingen, inkorporiert und materialisiert in sozialrechtlichen Regelungen. Mit Allmendinger (1994: 197) könnte auch gesagt werden: „Die Sozialpolitik betont die Individualität des Mannes und die Vergemeinschaftung, die Gruppenbezogenheit der Frau.“ Diese Konstruktion geht gerade von einer ganz bestimmten Verflechtung von männlichen und weiblichen Lebensläufen aus.24 Wenn Kohli diese Tatsache in seinen früheren Texten nicht erwähnt und den Lebenslauf für universal hält, sitzt er im Prinzip dieser indirekten Konstruktion auf und versäumt es, die zugrunde liegenden Normalitätsvorstellungen zu reflektieren (Krüger 1991: 688) – dieser Vorwurf erscheint durchaus berechtigt, auch an viele andere Studien in diesem Bereich. Jedoch ist dieses Geschlechterverhältnis nicht etwa explizit im Lebenslauf festgeschrieben im Sinne von Bestimmungen, die Frauen grundsätzlich aus dem Erwerbsleben ausschlössen. Insofern ist die moderne Institution des Lebenslaufs in ihrer Anlage durchaus universal. Das Geschlechterverhältnis wird vielmehr indirekt auf eine bestimmte Weise festgeschrieben (vgl. Holst 2001: 17). Das findet seinen Ausdruck im bis 1976 gültigen Familienrecht, das der Frau vor allem die Rolle der Haushaltsführung zuschrieb und eine
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Für die Entstehungsbedingungen des zugrunde liegenden (alltags)wissenschaftlichen Konstrukts einander entgegensetzter Geschlechtscharaktere vgl. Hausen 1976.
3.3 Lebensläufe von Männern und Frauen
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Berufstätigkeit nur erlaubte, wenn diese mit den Aufgaben in der Familie vereinbar war (Plett 1997).25 Der Unterschied zwischen Kohlis und Krügers (und auch Levys) Konzeptionen wird relativiert, wenn man sich ihre verschiedenen Ausgangspunkte vor Augen hält, die einen Vergleich eigentlich obsolet werden lassen. Kohli entwirft einen idealtypischen männlichen Lebenslauf, der als Leitmodell (des konservativen Wohlfahrtsstaats) normativ und sozialpolitisch verankert ist und in dem der an ihn gekoppelte weibliche Lebenslauf schon mitgedacht wird. Die Vorstellung des institutionalisierten Lebenslaufs, der auf den Mann zugeschnitten ist, aber implizit Normen für den weiblichen Lebenslauf enthält, kann sehr wohl Verflechtungen männlicher und weiblicher Lebensläufe erklären und insbesondere die Dynamik näher charakterisieren, der diese Verflechtungen unterliegen. Krügers Kritik entzündet sich an den empirisch vorfindbaren Typen (entsprechend den Ausführungen Levys) von Lebensläufen. Da es bei Kohli nicht um eine rein empirische Typisierung geht, ist der empirisch vorfindbare weibliche Normallebenslauf in dem von ihm erarbeiteten „Idealtyp“ nicht auffindbar, an dem aber der weibliche Lebenslauf gemessen wird. Tatsächlich wäre es ebenso möglich, von einem männlichen und einem weiblichen Normallebenslauf zu sprechen. In diesem Fall müsste die (im männlichen Lebenslauf verankerte) gegenseitige Abhängigkeit weiblicher und männlicher Lebensläufe jedoch mit genannt werden. Das männliche Modell ist dasjenige, welches als normativer und sozialrechtlicher Maßstab dient, nicht das weibliche. Kohli hat damit das theoretisch voraussetzungsreichere und anspruchsvollere Konzept, da es die Logik der Institution des Lebenslaufs erfasst. Für die sich abzeichnenden Veränderungen ist aber möglicherweise von der Ablösung des von ihm beschriebenen Modells zu sprechen. In dieser Hinsicht ist eine Analyse flexibler, die sich an empirisch vorfindbaren Typen orientiert. De facto entwickelte sich schon vor den Veränderungen auf kultureller Ebene der typisch weibliche Lebenslauf von einem Zwei-Phasen-Modell (Levy 1977), in dem spätestens nach der Geburt des ersten Kindes die Erwerbsarbeit aufgegeben wird, in Richtung eines Drei-Phasen-Modells mit einem beruflichen Wiedereinstieg der Frau, wenn die Kinder das Haus verlassen haben, und von einer Alternativrolle damit zur Doppelrolle der Frau (Myrdal & Klein 1956/1971; Eckart et al. 1979). Widergespiegelt und auf der subjektivnormativen Ebene verankert wird dies durch die „doppelte Vergesellschaftung“ (BeckerSchmidt 1987) von Frauen für Familie und Beruf. Mit den Entwicklungen, die Beck als Individualisierungsschub beschreibt, vor allem mit der Bildungsexpansion in Westdeutschland, gehen Veränderungen einher, die zum Teil auch Frauen aus eben diesem indirekt festgeschriebenen Lebenslauf freisetzen. Die Frauenbewegung gibt Impulse für Ansprüche auf mehr Gleichberechtigung insbesondere im Bereich der Erwerbsarbeit, gleichzeitig weisen im Zuge der Bildungsexpansion immer mehr Frauen auch die formalen Voraussetzungen für eine stärkere Einbindung ins Erwerbsleben und für entsprechende Karrieren auf; außerdem gab es zeitweise einen entsprechenden Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften (Holst 2001: 17). Die Expansion der Frauen-Erwerbsarbeit hatte aber noch kaum Veränderungen in Bezug auf die familiale Arbeitsteilung zur Folge, womit Frauen mehr denn je „doppelt verge25
Eine explizite dienstrechtliche Bestimmung zwang Lehrerinnen immerhin bis 1951 (in Baden-Württemberg bis 1956, in der Schweiz bis 1962), nach einer Heirat ihre berufliche Tätigkeit aufzugeben (Hodel 2003).
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3 Zentrale Diskussionspunkte
sellschaftet“ sind und den damit verbundenen Zwängen unterliegen. Zwar ist das Verhältnis der Partner im Zuge der Individualisierung prinzipiell aus normativen Vorgaben frei- und der partnerschaftlichen Verhandlung ausgesetzt, grundsätzlich also entscheidungsoffener als zuvor. Jedoch behindern ein Hinterherhinken der institutionellen Regelungen, eine neue Abhängigkeit von bestimmten Mechanismen des Marktes zum einen und die erstaunliche Persistenz überkommener normativer Vorstellungen zum anderen eine wirkliche Aufteilung auch der so genannten Reproduktionsarbeit (Burkart & Kohli 1992: 198ff; Ostner 1993; Streckeisen 1993; Gather 1993; Born 1993a und 1993b). Der Einbezug von Frauen in die Erwerbsarbeit ist einer der entscheidenden dynamischen Faktoren in der Entwicklung individueller Lebenslaufmuster (Lewis 2002; Kohli 2003). Letztendlich wird die Dynamik durch eine sich verändernde Verteilung der Ressource Zeit bedingt, die eben nicht unerschöpflich zur Verfügung steht: Während Frauen im klassischen Modell des männlichen Alleinernährers vor allem Aufgaben im Reproduktionsbereich zugeschrieben werden, stellt die Organisation der Verbindung familialer Aufgaben mit Erwerbsarbeit sowohl alltagszeitlich als auch lebenszeitlich eine Gratwanderung dar (Geissler & Oechsle 1996). Selbst wenn Frauen ihre beruflichen Ansprüche auf Individualisierung verwirklichen, ist immer noch die Tendenz zu erkennen, dass sie sich eher den Lebenslaufentscheidungen der Männer anpassen als umgekehrt (z. B. Solga & Wimbauer 2005; Blossfeld et al. 2001). Betrachtet man die Verteilung von Alltagszeit und Lebenszeit als ein Nullsummenspiel, so bestehen Lösungen dieses Problems der Doppelbelastung von Frauen – die deswegen auch immer noch in ihren Karrieren behindert sind – zum einen im Ausbau (z. B. sozialstaatlicher) Systeme der Kinderversorgung, zum anderen in einer noch stärkeren Beteiligung der Männer an Reproduktionsaufgaben (Rabe-Kleberg 1993). Der um das Erwerbssystem herum zentrierte männliche Normallebenslauf kann nur deswegen verwirklicht werden, weil die private Reproduktionsarbeit vorwiegend unbezahlt von den (Ehe-)Frauen übernommen wird – zählt man Familiengründung und die Geburt von Nachwuchs zum männlichen Normallebenslauf hinzu, so ist die Unabhängigkeit und Individualität des Alleinernährers nur Schein, da er gerade aufgrund seiner Vollzeittätigkeit auf eine sorgende Gattin und Mutter angewiesen ist: Seine scheinbare Unabhängigkeit baut auf ihrer Abhängigkeit und Familienorientierung auf. Die Generalisierung des institutionalisierten Lebenslaufs auf Frauen hat im Zusammenhang mit anderen Faktoren paradoxerweise zur Folge, dass die Norm des weiblichen Normallebenslaufs seltener als früher erfüllt wird: Viele, zumal hochqualifizierte Frauen entscheiden sich angesichts der angedeuteten Gratwanderung zwischen Beruf und Familie gegen die typisch weibliche Normalbiographie und die Familiengründung, und damit tendenziell für die „männliche“ Normalbiographie. Dies sollte, folgt man der Logik der gerade dargelegten Argumentation, eigentlich auch zu einer Erosion des typisch männlichen Lebenslaufs führen, da die betroffenen Frauen weniger Ehen schließen, geschweige denn Kinder bekommen. Versteht man den institutionalisierten Lebenslauf inklusive der in ihm angelegten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als das Lebenslaufregime, das die Moderne kennzeichnet (Kohli 1985), dann ist es auch irreführend, diese Veränderungen in Lebensläufen von Frauen als Schließen eines „Modernisierungsgap“ zu fassen (Born 2001; vgl. auch Born & Krüger 1993). Zumindest gäbe es ein Etikettierungsproblem, da im modernen männlichen Normallebenslauf die genannte Modernisierungslücke schon angelegt ist bzw. der moderne männliche Normallebenslauf auf dem beschriebenen, davon abweichenden weiblichen Normallebenslauf basiert. Diese vom männlichen Lebenslauf abwei-
3.4 Der Lebenslauf als Institution
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chende und gleichzeitig an diesen gekoppelte Lebenslaufgestaltung von Frauen ist demnach Kennzeichen der „klassischen“ Moderne, die in dieser Hinsicht weniger modern ist als gedacht, weil sie eine sehr spezifische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern impliziert. Die Veränderungen, die im empirischen Teil der Arbeit beschrieben werden, verweisen darauf, dass dieses eindeutige Muster abgelöst wird.
3.4 Der Lebenslauf als Institution Die Frage, ob der Lebenslauf selbst als Institution zu fassen sei oder nicht, wird kaum explizit diskutiert. Einige indirekte Hinweise finden sich etwa bei Mayer (1996: 48f).26 Während „Institutionalisierung“ bei vielen Lebenslaufforschern nur die Rahmung des Lebenslaufs durch sozialstaatliche Institutionen bezeichnet, bestehen Autoren wie Kohli (1985, aber auch 2003) darauf, den Lebenslauf als Institution und als ganzheitliches Muster zu fassen, das einen Komplex eigener, miteinander zusammenhängender gesellschaftlicher Regelungen generiert.
3.4.1 Zum Institutionenbegriff Mit der Auffassung des Lebenslaufs als Institution geht ein weiter Begriff von Institutionen einher, der in einer gängigen Auffassung „jegliche Form bewusst gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen [bezeichnet], die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich ‚gelebt’ werden“ (Hillmann 1994: 375). Organisationen bedienen sich dieser „gesellschaftlich reproduzierte[n] Programme“ (Struck 2001: 42), und reduzieren mit ihrer Hilfe Handlungskomplexität und -unsicherheit. Institutionen sind also nicht (wie in der Alltagssprache) zu verwechseln mit Organisationen, d. h. konkreten sozialen Aggregaten. Mit einigen Eigenschaften von Institutionen kann der Institutionencharakter des Lebenslaufs konkretisiert werden. In der philosophischen Anthropologie wird die Entstehung von Institutionen begründet mit der typisch menschlichen „Weltoffenheit“, „Instinktarmut“ und Plastizität (Gehlen 1940/1974). Bei Tieren werden sowohl ihre Beziehung zur dinglichen Welt als auch ihre Beziehungen untereinander durch relativ invariable ReizReaktions-Schemata geregelt und festgelegt. Beim Menschen sind Instinkte und die dazugehörigen Schemata weitaus schwächer ausgeprägt, ihre Wahrnehmung ist relativ losgelöst von ihren körperlichen Instinkten. Außerdem verfügt der Mensch im Gegensatz zu den Tieren über eine „exzentrische Positionsform“, die es ihm ermöglicht, aus sich selbst herauszutreten: „Er lebt und erlebt nicht nur, sondern erlebt sein Erleben“ (Plessner 1928/1975: 292), das heißt, er verfügt über die Fähigkeit der Selbstreflexion. In diese prinzipielle Offenheit menschlichen Handelns treten nun die Institutionen – menschliche Exis26
Da es Mayer weniger um das Problem des Institutionenbegriffs geht, sondern um die Vorstellung des Lebenslaufs als ganzheitlichem Muster, das mit Altersnormen verbunden ist, wird auf seine Kritik erst im nächsten Abschnitt genauer eingegangen.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
tenz ist sowohl bei Plessner als auch bei Gehlen per se gesellschaftliche Existenz. Institutionen ersetzen die Instinkte in gewissem Maße, da sie vorgefertigte Lösungen für Handlungsprobleme offerieren und so die Weltoffenheit wieder einschränken ohne das Verhalten so stark festzuschreiben wie Instinkte. Dies kann auch als die Entlastungsfunktion von Institutionen bezeichnet werden (Lipp 2000: 149). Obwohl sie den Menschen gerade dann entlasten, wenn sie unhinterfragt funktionieren und vorgefertigte Reaktionsmuster anbieten, bleibt auch in Institutionen mit der grundsätzlichen Reflexionsfähigkeit des Menschen ein Moment der Offenheit erhalten.27 Außerdem sind sie hochgradig kulturell variabel – für ein und dasselbe Handlungsproblem kann es unterschiedlichste Lösungen geben. In Bezug auf den Lebenslauf sind wenige genaue Handlungsvorgaben für den zeitlichen Ablauf des Lebens auszumachen. Lange war das auch kaum nötig, da die direkte Einbindung in kleinere Gruppen – das ganze Haus, das Dorf, ein bestimmtes Milieu – und die in der Primärproduktion gegebenen Zeitordnungen für die nötige Handlungsorientierung und -kontrolle sorgte. Mit der Herauslösung aus diesen Gruppen bzw. schon mit der Tatsache höherer Mobilität zwischen den Gruppen wird der Handlungsrahmen weiter. Nach und nach tritt der auf das Individuum zugeschnittene Lebenslauf an die Stelle der Handlungsregulierungen von außen und passt den Zeitablauf des individuellen Lebens an bestimmte Erfordernisse moderner, industrialisierter Gesellschaften an. Der institutionalisierte Lebenslauf als Vergesellschaftungsform, die direkt am Individuum ansetzt, übernimmt so teilweise die Funktion der traditionalen, kollektiven Vergesellschaftungsformen über die Einbindung in die Dorfgemeinschaft, eine Klasse etc. und entlastet von Handlungsdruck: „Durch die Normierung handlungsbezogener Erwartungen vermittelt sich über die Institution des Lebenslaufs eine Form der sozialen Konstruktion von Sicherheit“ (Wohlrab-Sahr 1993: 63), die zum Teil an wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen rückgebunden ist (zur Biographie als Konstruktion der Sicherheit Zinn & Eßer 2003). Folgt man der konstruktivistischen Auffassung Berger und Luckmanns (1966/1999), die den Entstehungsprozess spezifischer Institutionen näher zu erklären beanspruchen, so sind Institutionen geronnene Formen habitualisierten Handelns. Sie werden über Typisierungen im Wissensvorrat der Handelnden verankert und treten in späteren Entwicklungsphasen den Handelnden als objektivierte Wissensbestände und Regelungen gegenüber, wodurch ihr sozialer Entstehungszusammenhang verdeckt wird. Der Lebenslauf wäre so zu verstehen als eine Synthese solcher Handlungstypen und kognitiver Typisierungen, die nicht etwa alle gleichzeitig entstanden sind, sondern sich nach und nach als adäquate Lösungen für bestimmte Handlungsprobleme herausgebildet haben. So war z. B. die allgemeine Schulpflicht, im 18. Jahrhundert in deutschen Territorien eingeführt, aber erst 1870 in Preußen tatsächlich verpflichtend als Schulzwang, also als Unterweisung in einer Schule umgesetzt, eine Antwort auf das Problem höherer Disziplin- und Ausbildungsanforderungen in der gerade entstandenen und weiter expandierenden Industrie. Die Einführung einer Invalidenrente durch Bismarck 1889, Vorläuferin der gesetzlichen Rentenversicherung, ist eine standardisierte Lösung für einen ganzen Komplex von Problemen auf struktureller und individueller Ebene: Nicht nur gab es immer mehr Ältere, die z. T. erheblich von Armut 27
Dieser mit der exzentrischen Positionsform Plessners begründbare Aspekt steht bei Gehlen eher im Hintergrund. Er sieht in Institutionen vor allem die notwendige Regulation von triebhaften Affekten. Daraus leitet er die normative Forderung nach „starken“ Institutionen ab, die meines Erachtens jedoch problematisch ist.
3.4 Der Lebenslauf als Institution
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betroffen waren; zudem wurde in der Konsequenz eine weitere Stärkung der sozialdemokratischen Bewegung befürchtet, die mit dem Anwachsen der sozialen Probleme an Zulauf gewann. Hier ist gut zu erkennen, dass Institutionen ebenso Lösungen für Integrationsprobleme liefern, die als Widersprüche zwischen unterschiedlichen Gruppen, Weltanschauungen etc. oder in Form von z. B. rechtlichen Vakua für bestimmte Problemstellungen auftreten können. Die Institution des Lebenslaufs löst das Problem, alle diese unterschiedlichen Regelungen in einen Rahmen einzubinden, der vergleichsweise unabhängig von der Integration des Individuums in konkrete Gruppen wirkt und in dezentraler Form organisiert ist: Eine Vielzahl von (Einzel-)Organisationen und Institutionen regeln den Lebenslauf konkret und im Einzelnen. Diese sind zwar in vielfacher Weise miteinander verknüpft, aber gleichzeitig relativ flexibel und einer dynamischen Entwicklung unterworfen. Gut übertragbar auf den Lebenslauf ist Schelskys (1970: 17f) Argumentation, dass es Institutionen unterschiedlichen Grades gibt: Institutionen ersten Grades stellen zunächst Antworten auf vitale Grundbedürfnisse des Menschen dar, wobei sich ein einfacher monokausaler Schluss von den vitalen Grundbedürfnissen auf Institutionen verbietet, da eine Institution immer mehrere Bedürfnisse28 erfüllt und ein Bedürfnis immer von mehreren Institutionen erfüllt wird. Aus den Institutionen ersten Grades entstehen abgeleitete Bedürfnisse ersten Grades, welche durch entstehende Institutionen zweiten Grades erfüllt werden. Ausgehend von diesen bilden sich dann wiederum Bedürfnisse zweiten Grades, die zur Bildung von Institutionen dritten Grades führen etc. (Schelsky 1970: 20). In dieser Hierarchie der Bedürfnisse und Institutionen, deren Aufbau gleichzeitig auf die Entstehungsgeschichte von Institutionen verweist (und in der damit Institutionen höheren Grades die jüngeren sind), stellt der Lebenslauf eine Institution relativ hohen Grades dar. Das Bedürfnis nach Sicherheit im Zeitablauf wurde früher durch die vergesellschaftenden Kleingruppen erfüllt, die jedoch mit der Modernisierung an Stellenwert eingebüßt haben. Der Lebenslauf stellt eine neue, von konkreten Gruppen unabhängigere Konstruktion von Sicherheit dar (Wohlrab-Sahr 1993), die entsprechende Bedürfnisse beim Individuum erfüllt und außerdem die Vielzahl sozialstaatlicher und anderer Regelungen auf der Ebene der normativen Bedeutung zu einem mehr oder minder einheitlichen Muster verwebt. Wenn Schelsky die „Bedürfnisse der Reflexionssubjektivität des Individuums“ als „‚Bedürfnisse letzten Grades’ unserer eigenen Kultur“ annimmt (Schelsky 1970: 21), dann kann der institutionalisierte Lebenslauf bzw. sein Gegenstück, die reflexive Biographie, als eine Antwort auf dieses relativ neue Bedürfnis begriffen werden. Gleichzeitig unterschätzt Schelsky aber auch die funktionalen Erfordernisse der bereits bestehenden Institutionen, die ebenfalls zur ganz spezifischen Form des institutionalisierten Lebenslaufs beitragen, und zwar durch den Eigensinn der Struktur, d. h. der in ihnen zugrunde gelegten Regelungen selbst, die weitere Rationalisierungs- und Institutionalisierungserfordernisse nach sich ziehen, ohne dass sich dies auf der Ebene individueller Bedürfnisse widerspiegeln müsste. Durch das Zusammenspiel beider Ebenen, der individuellen und der strukturellen, entstehen eben jene höheren Synthesen von Institutionen wie der Lebenslauf eine darstellt.
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Dabei möchte Schelsky auch den Begriff des Bedürfnisses nicht rein biologistisch als Trieb o. ä. verstanden wissen (Schelsky 1970: 14f).
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3 Zentrale Diskussionspunkte
In diesem Sinne fasst der Lebenslauf als Institution höheren Grades die Anforderungen und Handlungsangebote verschiedener anderer Institutionen ans Individuum zusammen und bündelt sie. Das entstehende Muster beinhaltet möglicherweise auch Widersprüche. Dennoch folgt es einer einheitlichen, aufs Individuum zugeschnittenen Logik. Dabei sind unterschiedliche Dynamiken im Spiel, die auf komplexe Weise zusammenwirken.
3.4.2 Der Lebenslauf als ganzheitliches Muster Nachdem die formalen Eigenschaften des Lebenslaufs als Institution damit beschrieben sind, bleibt nun die Frage nach ihrem Inhalt und insbesondere danach, ob sich der „Klammer“-Charakter des Lebenslaufs, also die Existenz eines zusammenhängenden Musters, empirisch untermauern lässt. Auf der objektiven Ebene des Ablaufs der Lebensereignisse ist ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Lebenslauf-Übergängen auch für strukturorientierte Vertreter der Lebenslaufforschung nicht von der Hand zu weisen: „Ereignisse, Phasen, Übergänge und Lebensabschnitte können nicht […] isoliert und situativ betrachtet werden: Der Lebensverlauf ist auch ein endogener Kausalzusammenhang. Spätere Ereignisse, aber auch Zielsetzungen und Erwartungen, sind zu verstehen und zu erklären aus Bedingungen, Entscheidungen, Ressourcen und Erfahrungen der vorausgegangenen Lebensgeschichte“ (Mayer 1990: 11). Aus diesen hauptsächlich objektiven Wechselwirkungen zwischen den Übergängen im Lebenslauf erklärt Mayer an anderer Stelle (1996: 48) auch sämtliche Altersgradierungen von Übergängen, die für Kohli Ausdruck des institutionalisierten Lebenslaufs sind: „Die Verzeitlichung und Chronologisierung ist also keine unmittelbare Erscheinung, sondern leitet sich mittelbar ab aus den institutionellen Regelungen und Prozessen. Altersstrukturen sind daher in den allerhäufigsten Fällen primär keine direkt normierten Tatbestände, sondern empirisch nachgeordnete Folgen“. Mayer reduziert die nicht-objektive Seite des institutionalisierten Lebenslaufs auf Altersnormen, und mit der Idee von deren eigenständiger Wirkung lehnt er in der Konsequenz auch die „holistische“ Vorstellung des Lebenslaufs ab. Diese Reduktion auf Altersnormen ist unangemessen, da diese längst keine so zentrale Rolle für die Idee der Institutionalisierung des Lebenslaufs spielen wie von Mayer unterstellt. Außerdem setzt Mayer (1996: 49f) die Unterstellung der Ganzheitlichkeit von Lebenslaufmustern gleich mit ihrer Einheitlichkeit, gar Widerspruchsfreiheit. Jedoch hat die Lebenslaufforschung der von ihm kritisierten Spielart gar nicht den Anspruch, lineare, einheitliche Trends zu diagnostizieren, sondern bezieht ein, dass Strukturen und Normen einander widersprechen können, ja, dass sich der Wandel zum Teil auch über diese Widersprüche vollzieht, die Spannungen erzeugen zwischen Handeln, subjektiven Deutungen und strukturellen Regelungen. Wie findet sich die Ganzheitlichkeit des institutionalisierten Lebenslaufs nun auf der kulturellen Seite wieder? Auf der Ebene von Normen und Deutungen ist die Institution des Lebenslaufs eine „Ordnung ‚richtiger Zeit’ und ‚richtigen Zusammenhangs’“ (WohlrabSahr 1992: 12). Als Ordnung richtiger Zeit beinhaltet sie Altersnormen, Alterstypisierungen oder auch normativ geprägte Vorstellungen über die persönliche Entwicklung im Lebenslauf (Neugarten et al. 1978; Heckhausen 1990), die für bestimmte Ereignisse im Lebenslauf bestimmte Zeiten festschreiben oder als Ideal setzen. Auf der Ebene objektiver Regelungen schlägt sich dies nieder in bestimmten Gesetzen oder Vorschriften, wann bestimmte Ereig-
3.4 Der Lebenslauf als Institution
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nisse oder Tätigkeiten zu erfolgen haben (Schulpflicht, Strafrecht etc.), aber auch in der Setzung von Anreizen oder Sanktionen für bestimmte Lebenslauf-Entscheidungen; so wäre die Entscheidung, ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit 50 Jahren das Erwerbsleben zu beenden, mit finanziellen Einbußen verbunden, da zu diesem Zeitpunkt keine Altersrenten gezahlt werden (auf den Fall der Erwerbsminderung wird hier nicht eingegangen). Nach der neuesten Gesetzeslage sind in den meisten Fällen eines Rentenbeginns vor dem Alter von 65 Jahren Abschläge in Kauf zu nehmen; und sogar für den verfrühten Ausstieg mit Abschlägen gibt es Altersgrenzen. Die Widersprüchlichkeit von Ruhestandsregelungen besteht darin, dass ein solcher Austritt aus dem Berufsleben in vielen Fällen gefördert wird, wenn nämlich die Alternative, eine weiter andauernde Arbeitslosigkeit, noch nachteiliger ist als eine in diesen Fällen dann oft mit relativen finanziellen Anreizen versehene Altersrente nach Arbeitslosigkeit oder in ähnlicher Weise nach Altersteilzeit. Auch eine Vielzahl betriebs- und branchenspezifischer Arrangements fördern bzw. förderten den frühen Ausstieg zumindest in Zeiten drohenden Arbeitsplatzverlusts (jedoch werden fast alle der gesetzlichen Regelungen des früheren Ausstiegs langfristig abgeschafft).29 Entgegen der Tendenz, vor allem einzelne Übergänge im Lebenslauf zu betrachten, hängen verschiedene Ereignisse in ihrem Timing30 zusammen. Das liegt nicht immer allein in der Logik der Abfolge begründet (um eine Ausbildung zu absolvieren, muss ich zunächst die Schule beenden), sondern auch in normativen und strukturellen Aspekten: Lange war es verpönt, zunächst ein Kind zu bekommen und dann zu heiraten; um bestimmte wohlfahrtsstaatliche Ansprüche (z. B. in der gesetzlichen Rentenversicherung) wahrnehmen zu können, gibt es Anwarts- bzw. Wartezeiten (für Beispiele vgl. Clemens et al. 2003: 43). Diese unterschiedlichen Aspekte sind in ihrer Entstehung und Wirkung nur schwer voneinander zu entwirren. Komplexer und deswegen schwieriger zu erfassen ist die Perspektive auf den Lebenslauf als „Ordnung des richtigen Zusammenhangs“. Hier geht es um Regeln und Normen, die einen bestimmten inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Übergängen im Lebenslauf herstellen. Die zeitliche Verknüpfung der Ereignisse ist ohne diese inhaltlichen Zusammenhänge kaum zu verstehen. Ihre Vernachlässigung ist zum Teil begründet in einer mangelhaften Verbindung von Ergebnissen der Lebenslaufforschung mit denen der Biographieforschung. Nach Kohli (1981a: 504ff) kann „biographische Thematisierung“, also das Erzählen einzelner Episoden oder des gesamten bisherigen Lebensablaufs unterschiedliche Funktionen im Rahmen des Fremdverstehens, der Selbstdarstellung und des Selbstverstehens aufweisen: Beim Fremdverstehen geht es um den reinen Verstehensprozess („Sinnbe29 30
Auf die Vielzahl älterer und schon länger abgeschaffter Modelle des früheren Rentenbeginns (z. B. das Vorruhestandsgesetz, das nur von 1984 bis 1988 galt) kann hier nicht eingegangen werden. Für ausführlichere Informationen zu den Regelungen vgl. auch Kapitel 10.3. Leider ist es nicht gelungen, ein deutsches Wort zu finden, das gleichermaßen treffend wie der englische Ausdruck auf die zeitliche Struktur von Ereignissen abhebt, d. h. ihre zeitliche Lage, ihre Dauer etc. Deswegen wird hier ausnahmsweise nur die englische Formulierung verwendet. Abzugrenzen ist dieses Begriffsverständnis von Timing von demjenigen Broses et al. (1993: 41), die Timing (vor allem der Produktionssteuerung im wirtschaftlichen Bereich) als Gegensatz zur Standardisiertheit von Zeit verstehen. Der hier verwendete Begriff des Timing meint allein die zeitliche Gestaltung von Vorgängen, diese kann standardisiert sein oder auch nicht.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
reicherung“) oder auch um die Ableitung einer Handlungsorientierung. Bei der Selbstdarstellung ist das Ziel die Erklärung des eigenen Verhaltens oder eine Anspruchsbegründung. Das Selbstverstehen kann wiederum in den Spielarten der reinen Selbstvergewisserung oder der Handlungsplanung auftreten. Die Biographieforschung belegt innerhalb eines solchen theoretischen Rahmens, dass Individuen das Bedürfnis haben, ihr Leben als eine zusammenhängende, quasi-logische Geschichte zu erzählen, in der selbst Brüche als Konsequenzen vorausgegangener Ereignisse erscheinen, in der es bestimmte Tendenzen schon immer gab etc. Bei diesem diskursiven „doing biography“ (Heinz 2002) kommen also bestimmte Regeln der Verknüpfung biographischer Ereignisse zur Anwendung. Diese impliziten Annahmen spielen sowohl bei der Thematisierung der eigenen Biographie als auch bei der Einschätzung der Biographien anderer eine Rolle. Kohli (1981a) sieht in den Prinzipien der Konstanz und der Kontinuität zentrale Annahmen, die bei jeder biographischen Thematisierung eingesetzt werden: Mit Konstanz ist dabei die Konstanz des Handelns gemeint (wenn jemand einmal in einer bestimmten Weise handelt, so wird er dies aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen); mit Kontinuität ist eine schlüssige Folge von Zuständen gemeint, die „nach einer allgemeinen Regel“ (Kohli 1981a: 513) ineinander übergehen – als Beispiel können hier Berufskarrieren dienen. Die Darstellung von Kontinuität und Konstanz dient letztendlich dem „Nachweis der Normalität“ (Fuchs-Heinritz 2000: 72). Im Prinzip gleichen solche Erzählstrategien denjenigen, die Goffman (1975) für „beschädigte Identitäten“ und die Biographien der (z. B. straffällig gewordenen) Identitätsträger aufzeigt, nur dass letztere in viel auffälligerer Form darauf angewiesen sind, Brüche zu kitten, Lücken im Lebenslauf zu füllen etc. Auch für die Darstellung von Lebensläufen, die nicht in sich selbst geschlossen und konsistent sind, gibt es Auslegungsregeln, die einen sinnhaften Zusammenhang herstellen. So ist beispielsweise eine religiöse Konversion zwar ein Beispiel für einen Bruch, kann aber als Ergebnis einer inneren Veränderung durchaus als konsistentes Handlungsmuster (Kohli 1981a) verstanden werden; diskontinuierliche Erwerbsverläufe sind in eine biographische Erzählung integrierbar und werden so „normalisiert“ (z. B. Mutz et al. 1995: 155ff). Selbst dort, wo Abstand von solchen Idealen des „logischen“ Lebenszusammenhangs genommen wird, geschieht das meist im Bewusstsein der Existenz eines solchen normativen Musters. Gemessen an einem solchen Muster können Akteure scheitern oder erfolgreich sein (Wohlrab-Sahr 1993: 289ff, 325ff; Schütze 1981). Für subjektiv-biographische Zusammenhänge ist ein solches Ideal-Muster empirisch gut zu belegen. Zinn und Eßer (2003: 51) zeigen beispielsweise in einer Studie, in der es um die Konstruktion biographischer Sicherheit sowohl auf der Deutungs- als auch auf der Handlungsebene geht, dass alle fünf von ihnen gefundenen Handlungslogiken „sich auf kulturell verfügbare Modelle des richtigen Lebens oder Normalitätsvorstellungen […], etwa der Erwerbsarbeit oder der Partnerschaft“ (Hervorh. i. O.) beziehen. Von hier aus kann auf Typisierungen geschlossen werden, mit Hilfe derer Akteure sich gegenseitig oder sich selbst als erfolgreich oder weniger erfolgreich klassifizieren (für das Beispiel der Altersnormen vgl. Heckhausen 1990). Eine zentrale Frage ist das Verhältnis dieser immer wieder variierten biographischen Erzählungen zum „tatsächlichen“ Lebenslauf31 und den individuellen Bewegungen durch 31
Die tatsächlich erlebte Geschichte ist niemals „vollständig“ oder „korrekt“ hinter der erzählten Geschichte auffindbar (Rosenthal 1995) – dies beginnt mit der Frage, welche Elemente unbedingt dazugehören und
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die Sozialstruktur, die den Lebenslauf kennzeichnen. Die biographische Konstruktion des Subjekts wird durch den tatsächlichen eigenen Lebenslauf zum einen ermöglicht, zum anderen beschränkt (Jost 2003: 88). Die Ablaufstrukturen des Lebenslaufs geben das Material vor, auf dessen Basis die biographische Erzählung erfolgt, die deswegen aber nicht völlig beliebig ist. Gleichzeitig hat letztere selbst einen Einfluss auf die faktischen Ereignisse des Lebenslaufs, indem sie insbesondere zukünftiges biographisches Handeln beeinflusst: Die Interpretation vergangener Erfahrungen prägt gegenwärtige und zukünftige Handlungsorientierungen. Auch die biographische Vergangenheit kann immer wieder uminterpretiert werden; das konkrete Geschehen ist im Nachhinein nicht veränderbar. Biographische Erzählungen erfolgen also eingebunden in die Realitätsstrukturen, werden aber nicht von ihnen determiniert. Gleichzeitig können auch Erzählweisen über das Handeln die Strukturen des Lebenslaufs beeinflussen. Der Begriff der „biographischen Strukturierung“ (Fischer-Rosenthal 2000a und b; Fischer 2002) gibt eine treffende Beschreibung dieser Verquickung zwischen Lebenslauf-Struktur und ihrer Deutung und meidet die Überbetonung und Überschätzung der Eigenständigkeit des biographischen Subjekts (auch Jost 2003), wie sie z. B. in der „Bastelexistenz“ (Hitzler & Honer 1994) anklingt. Biographische Strukturierung als subjektive Konstruktion des Lebenslaufs ist in ihrer Funktion eng an die vielschichtige Struktur des „objektiven“ Lebenslaufs gebunden: „Biographical structuring as a special practice and form of temporalisation allows both the individual and society to deal with more contingency, maintain complex social structures and balance more options“ (Fischer-Rosenthal 2000b: 117). Biographische Konstruktionen oder biographische Strukturierung sind also zwar Prozesse von eigener Dynamik (oder mit anderen Worten ein „autopoietic process“, Fischer-Rosenthal 2000b: 116), bleiben jedoch an die Normen des institutionalisierten Lebenslaufs rückgebunden. Lässt sich dies auf die strukturelle Ebene übertragen? Werden Ideale von LebenslaufGesamtzusammenhängen auch über faktische Regelungen vermittelt und institutionell gefördert, bzw. entsprechend abweichende Lebenslaufmuster sanktioniert? Hier sind wiederum zwei Ebenen der Wirkung zu unterscheiden: Zum einen die sehr indirekt in tatsächlichen Regelungen z. B. wohlfahrtsstaatlicher Art festgeschriebenen idealen Reihenfolgen und Zusammenhänge. Sie sind in wenig expliziter Form und als (nicht immer vorhandene) Gemeinsamkeit oder Konvergenz verschiedenster Regelungen erfassbar. So ist es zum Beispiel eindeutig, dass die gesetzliche Rentenversicherung in ihrer traditionellen Anlage ein Lebenslaufmuster strukturell favorisiert, in dem auf eine Ausbildungsphase eine lange Erwerbsphase folgt, die idealerweise weder durch Kinderpflegezeiten noch durch Arbeitslosigkeit unterbrochen wird. An diesen männlichen Lebenslauf strukturell gekoppelt ist eine weibliche Variante, die längere Auszeiten mit weniger Nachteilen versieht, wenn der Norm des männlichen Alleinernährers gefolgt wird, und mit mehr Nachteilen, wenn etwa eine Scheidung und alleiniges Erziehen von Kindern vorzufinden ist. Diese Mechanismen welche nicht. Selbst scheinbar völlig objektive Beschreibungspraktiken wie die der Wissenschaft unterliegen bestimmten gesellschaftlich normierten Regeln, die variabel sind. Dennoch soll einem völligen Relativismus hier kein Raum gegeben werden. Ausgegangen wird stattdessen von einer Wechselwirkung zwischen tatsächlicher, schwer als solcher beschreibbarer Handlungsgeschichte und der erzählten Lebensgeschichte. Als annähernde Beschreibung des „realen“ Lebenslaufs einer Person kann beispielsweise eine innerhalb einer Gruppe von Wissenschaftlern intersubjektiv erarbeitete Version des Lebenslaufs gelten. Zu den unterschiedlichen Positionen in dieser Frage vgl. auch Sackmann und Wingens (2001: 29).
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wirken unabhängig von individuellen Akteuren, einmal abgesehen von denjenigen, die sie irgendwann einmal in Form von Verwaltungsvorschriften, Gesetzen etc. beschlossen haben. Zum anderen gibt es die Ebene der Gatekeeper32 (vgl. Kapitel 4.3), die über die Zuteilung bestimmter Leistungen, die Anwendung bestimmter Regelungen etc. entscheiden und dabei je nach Bereich zum Teil einen erheblichen Auslegungsspielraum haben. Einen solchen großen Auslegungsspielraum haben beispielsweise Personalverantwortliche im Erwerbsbereich, die unter anderem anhand von schriftlich verfassten Lebensläufen33 und in Vorstellungsgesprächen entscheiden, welche Bewerber für eine bestimmte Position in die engere Wahl genommen werden. Hier ist der schriftliche Lebenslauf oder die erzählte (Erwerbs-)Biographie, in denen unter Umständen Lücken oder Brüche verdeckt werden müssen, nur eines von einigen Kriterien zur Bewertung des Bewerbers. Dabei kommt der Bewerber mit der präsentierten Version seiner Lebensgeschichte den von ihm hier vermuteten Normen sozusagen entgegen, wenn er beispielsweise eine lange Weltreise als Projekt zur Erweiterung der eigenen Sprachkenntnisse etikettiert, um ihre Deutung als Teil und nicht etwa Bruch einer kontinuierlichen Erwerbskarriere nahezulegen. Bei der Bewertung durch die als Gatekeeper fungierenden Personalverantwortlichen geht es nicht unbedingt nur um fachliche Kompetenzen, sondern ebenso um den Gesamteindruck der Person, der auch aus dem Lebenslauf abgeleitet wird. Hohn und Windolf (1988: 206) schließen für ihre Studie, dass „Lebensführung, biographische Merkmale […] zu Signalen“ werden für bestimmte Arbeitsorientierungen jenseits der rein fachlichen Kompetenzen. Dabei können die entscheidenden Kriterien je nach geforderter Qualifikation unterschiedlich sein. Nach Hohn und Windolf wird besonderer Wert auf eine kontinuierliche Erwerbskarriere gelegt – was für Männer stärker als für Frauen gilt – sowie auf geordnete private Verhältnisse. Auffällig ist, dass sowohl bei Unqualifizierten als auch bei leitenden Angestellten erwartet wird, dass die Ehefrau nicht oder nur in Teilzeit berufstätig ist. Dabei handelt es sich in den meisten der von Hohn und Windolf beschriebenen Fälle um ein Ausschlusskriterium, das die normative Relevanz des weiter oben beschriebenen institutionalisierten Lebenslaufs vor Augen führt, der für einen männlichen Alleinernährer mit einer von ihm abhängigen Ehefrau gilt. Die Norm des Normallebenslaufs dient der Rationalisierung der Selektion von Mitarbeitern: Der erzählte Lebenslauf dient als Zeichen für in keiner Weise zertifizierte oder überhaupt zertifizierbare Arbeitsorientierungen. Das Datenmaterial der Studie von Hohn und Windolf stammt vom Beginn der achtziger Jahre. Die betrieblichen Rekrutierungsprozessen zugrunde liegenden Normen haben sich vermutlich inzwischen zumindest teilweise verändert. Unter Umständen kann es in bestimmten Branchen und Positionen vorteilhaft sein, einen eben nicht ganz geradlinigen 32 33
Dieser Begriff („Torhüter“ oder „Torwächter“) kann leider nicht angemessen und mit den gleichen (fachsprachlichen) Konnotationen ins Deutsche übertragen werden. Es wäre spannend, die Textgattung der Lebensläufe in diesem Kontext detaillierter zu untersuchen. Bis auf den stichwortartigen und wenig elaborierten Entwurf von Schrage (1999), der größtenteils auf eigenen Erfahrungen beruht, wurde dieser Gegenstand noch nicht näher erschlossen. Nach Kohli (1985: 15) baut der für den Arbeitgeber schriftlich verfasste Lebenslauf auf der Chronologie des institutionalisierten Lebenslaufs auf und dient der Bilanzierung im Bereich der Fremdtypisierung: Erforderlich ist hier ein möglichst lückenloser, schriftlich verfasster Lebenslauf, „der von Arbeitgebern als Beleg dafür verlangt wird, daß der Einstellungskandidat sich den Forderungen der wirtschaftlichen Rationalität bisher bruchlos unterzogen hat.“
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und „langweiligen“ Lebenslauf aufweisen zu können. In der Studie von Hohn und Windolf wird eine solche Erwartung an Bewerber schon bei einem Teil der Auswahlprozesse für höhere Angestellte geäußert (Hohn & Windolf 1988: 202). Ein weiteres Beispiel für die normative Wirkung eines zusammenhängenden Lebenslaufprogramms, das von Gatekeepern bei ihren Entscheidungen als Maßstab eingesetzt wird, findet sich in einer qualitativ angelegten Studie zu straffällig gewordenen Jugendlichen (Panter et al. 2001). Diese zeigt unter anderem, dass strafrechtliche Urteile über Jugendliche milder ausfallen, wenn zumindest bis zu diesem Zeitpunkt das Programm des institutionalisierten Lebenslaufs erfüllt wurde, und zwar insbesondere in erwerbsbiographischer Hinsicht: „In solchen Situationen haben (männliche) Jugendliche, deren Berufsverlauf sich an normalbiographischen Erwartungen orientiert, deutliche Vorteile gegenüber denen, die nicht erwerbstätig sind oder Diskontinuitäten in der Berufsbiographie aufweisen: Während bei ersteren im vorliegenden Material die allgemeine Lebenssituation grundsätzlich positiv in die Sozialprognose aufgenommen wurde, wurden bei letzteren zum Teil so genannte schädliche Neigungen unterstellt, zum Teil jedoch aber auch angenommen, dass die Taten eher Resultate einer problematischen Lebenssituation waren“ (Panter et al. 2001: 182). Indem die Gatekeeper die bisherige berufliche Karriere teilweise für eine Prognose heranziehen, die auch das Urteil beeinflusst, wird der institutionalisierte Lebenslauf zu einem Kriterium bei der Einschätzung der Integrationsbereitschaft eines Individuums. Der institutionalisierte Lebenslauf als Norm ist wirksam, zumindest als ein Ideal, auch wenn er nicht automatisch und unreflektiert als Bezugsfolie dient. Erfüllt jemand den Standard eines Normallebenslaufs nicht oder weniger, dann wird davon ausgehend negativ auf beständige und schwer änderbare Charaktereigenschaften geschlossen. Es deutet sich in der genannten Studie darüber hinaus an, dass bei Mädchen nicht der gleiche Maßstab der Normalbiographie verwendet wird, sondern dass bei ihnen die Erfüllung von Aufgaben in der Familie positiv vermerkt und mangelndes berufliches Engagement unter Umständen einfach übersehen wird – hier wird implizit ein an den verdienenden Mann gekoppelter weiblicher Lebenslauf erwartet. Diese Beispiele weisen nicht nur auf die enge Verknüpfung normativ-kultureller Normen des „richtigen“ Lebenszusammenhangs mit strukturell wirksamen Regelungen hin, sondern auch auf den Kreislauf von Selbstdarstellung (im schriftlichen Lebenslauf oder in der biographischen Erzählung), Interpretation durch andere und Wirksamwerden bestimmter Regeln. Nicht zufällig spielt bei den genannten Beispielen der Erwerbsbereich eine zentrale Rolle. Er ist bei der Entstehung des institutionalisierten Lebenslaufs der entscheidende Impulsgeber und bleibt es auch in vielerlei Hinsicht bei Interpretationen desselben. Bei Betrachtung der entsprechenden Befunde, Lebensereignisse etc. wird häufig gegen die Idee des institutionalisierten Lebenslaufs eingewandt, dass dieser empirisch kaum zu erkennen sei in dem Sinne, dass individuelle Lebensläufe so vielfältig seien wie die Individuen selbst. Damit wird aber die Geltung einer Institution empiristisch überbewertet. Fasst man mit Luhmann Institutionalisierung als einen Prozess, der dazu „dient […], Konsens erfolgreich zu überschätzen“ (Luhmann 1970: 30), so bringt das auch eine gewisse Unschärfe der mit der Institution verbundenen Normen mit sich. Konsens ist in Hochzeiten des institutionalisierten Lebenslaufs allenfalls die Idee eines bestimmten Lebenslaufmusters gewesen, das es anzustreben galt, auch wenn im Einzelnen die Vorstellungen darüber divergierten. Die Tendenz, dass normative Vorstellungen und z. B. wohlfahrtsstaatliche Regelungen immer noch in einem bestimmten Lebenslaufmuster konvergieren, ist auch empi-
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risch zu erkennen – aber eben nur als Tendenz. In Bezug auf konkrete Altersnormen wird die Meinung der anderen zumeist für restriktiver gehalten als die eigene – der Konsens wird überschätzt (Hagestad & Neugarten 1985). Osterland spricht vom „Normalarbeitsverhältnis“ als Fiktion (Osterland 1990: 351), Heckhausen (1990: 353) vom Lebenslauf als (internalisierter) „Standardreferenz“ zur Bewertung anderer und zur Einschätzung des eigenen Lebenslaufs (auch Kohli 2003: 527); Kohli nennt den Lebenslauf eine „Kontinuitätsidealisierung“ (Kohli 1986a: 191), die der von Schütz und Luckmann für die Alltagszeit beschriebenen entspricht. Dass es sich um Idealisierungen handelt, impliziert, dass Abweichungen von der Norm schon immer die Regel waren, jedoch das verbreitete Ideal des Normalarbeitsverhältnisses bzw. des institutionalisierten Lebenslaufs strukturbildende Kräfte hatte, die sich durchaus in einer Prävalenz bestimmter Muster niederschlagen. Prävalenz heißt eben nicht, dass die entsprechenden Ideale von allen geteilt und in Handeln umgesetzt werden – im Gegenteil, deren Existenz macht eine „sinnvolle“ Abweichung erst möglich34 (Heckhausen 1990: 368). Die Tatsache, dass individuelle Lebensläufe de facto einmalig wie Fingerabdrücke sind (Sackmann & Wingens 2001: 33), widerlegt die Existenz eines Idealmodells des Lebenslaufs nicht. Das institutionalisierte Lebenslaufprogramm ist insgesamt als Anspruch und Leitnorm zu verstehen. Es handelt sich immer schon eher um „Normalitätsunterstellungen“ als um empirisch ganz und gar durchgesetzte Normal-Lebensläufe (Behrens & Voges 1996: 20).35 Die faktische Verbreitung eines Normalmodells vom Lebenslauf muss unterschieden werden von seiner normativen Verankerung,36 die wiederum nicht absolut identisch sein muss mit den sozialpolitisch „bevorzugten“ oder „benachteiligten“ Modellen. Zwischen normativer und struktureller Verankerung besteht jedoch meist ein enger Zusammenhang, der seinen Ausdruck in einer relativ weiten Verbreitung eines oder mehrerer Lebenslauf-Modelle findet. In gewissem Ausmaß liefert die Institution Lebenslauf außerdem bestimmte Regeln mit, unter welchen Umständen die Abweichung von bestimmten normativen Regeln legitim ist und wie damit umgegangen wird. Die Unschärfe der mit dem Lebenslauf verbundenen Normen auf der einen und ihrem sozialpolitisch institutionalisierten Niederschlag auf der anderen Seite macht auch die Erforschung dieser Institution als ganzer anspruchsvoll. Wie die meisten anderen Studien können auch die hier vorgenommenen empirischen Analysen immer nur einen Ausschnitt aus dieser Institution betrachten, der aber in vielen Fällen auf ihr Ganzes verweist. 34
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Heckhausen (1990: 368): „Nur wo die zeitbezogene Regulierung des Alltagslebens eine allseits akzeptierte Maxime des Handelns ist, ist die Unpünktlichkeit als beschreibende Dimension des Verhaltens eines einzelnen überhaupt definiert und kann so womöglich sogar für das Individuum identitätsstiftende Funktion erhalten. Analoges ließe sich über individuelle Abweichungen von einer gesellschaftlich normierten Normalbiographie annehmen.“ Behrens und Voges (1996) führen überzeugend aus, dass die Frage danach, was zuerst da war – faktisch verbreitete Normalbiographien oder die entsprechenden (z. B. sozialpolitischen) Regelungen, unsinnig sei. Ihr Konzept der Normalitätsunterstellungen habe den Vorteil, dass mit ihm der komplexe Wechselprozess von gesetzlicher Verankerung, normativ-kultureller Verbreitung und faktischer Prävalenz bestimmter Lebenslaufmuster treffender beschrieben werden könne als mit der alleinigen Referenz auf den vieldeutigen Begriff der Normalbiographie. Elchardus und Smits (2006) zeigen (für ein belgisches Sample) auf, dass hinsichtlich der Idealvorstellungen zum Timing einzelner Übergänge ein großer Konsens herrscht; dieser steht im Kontrast zu den auch in Belgien bestehenden Veränderungen faktischer Lebenslaufmuster.
3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung
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3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung Die Regeln, über die der Lebenslauf institutionalisiert ist, sind vor allem solche des zeitlichen Ablaufs: Normativ vorgegeben können beispielsweise die zeitliche Lage einer Sequenz in einem begrenzten Zeitfenster, die Reihenfolge und die Mindest- oder HöchstDauer bestimmter ihr zuzurechnender Übergänge sein. In dieser Weise sind nicht nur einzelne Sequenzen, sondern Lebensläufe als ganze zeitlich geregelt. Zeit im Allgemeinen ist sowohl Gegenstand als auch methodisches Problem soziologischer Forschung und in beiderlei Hinsicht lange unterbelichtet gewesen. Die Analyse sozialen Wandels und der Strukturen sozialer Systeme ist selbst eng mit bestimmten Vorstellungen von Zeit verknüpft (Waldmann 1971), die einen abstrakt-physikalischen Zeitbegriff voraussetzen und unreflektiert geblieben sind. Klassische Strukturanalysen und Beschreibungen sozialen Wandels können mit einem präziseren Begriff von Zeit hinterfragt werden (Giddens 1981 und Giddens 1979: 198-233). Eine ähnliche Zeitvergessenheit findet sich in den verwendeten Methoden. In der Sozialstrukturanalyse dominierte z. B. lange die relativ statische Querschnittsanalyse; die meisten Längsschnittstudien sind nicht älter als 20 Jahre. Die Lebenslauflaufforschung ist eine per se zeitbewusste soziologische Disziplin, da ihr ja die Zeit, und zwar die individuelle Lebenszeit, zum Problem wird: „The current life course state or stage of the individual is a reflection of cumulative past events and an anticipation of their future life trajectory” (Mills 2000: 92). Dennoch gibt es selbst hier blinde Flecken des Zeitbewusstseins, die im schlechtesten Fall zu inhaltlichen Fehlschlüssen führen können: Mills (2000) macht für die empirische Forschung zum Beispiel das Timing der Datenerhebung oder Gedächtnisprobleme bei den Befragten als mögliche Fehlerquellen aus und attestiert der Lebenslaufforschung außerdem eine partielle Missachtung gerade des sozialen Aspekts von Zeit;37 Blossfeld (1996: 191ff) fordert für die empirische Lebenslaufforschung (unter anderem) den Einbezug zeitabhängiger Bedingungsfaktoren sowohl auf individueller als auch auf MakroEbene, da die interdependenten Prozesse der gesellschaftlichen Formung von Lebensläufen nur so angemessen beschreibbar seien. Im Folgenden werden einige wichtige der vielfältigen Anknüpfungspunkte zwischen Lebenslaufsoziologie und einer allgemeinen Soziologie der Zeit entwickelt.
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Die Beispiele, die sie hier nennt (etwa einen Geburtenanstieg um die Jahrtausendwende, da alle Eltern gerne das „Millennium-Baby“ gehabt hätten), beziehen sich vor allem auf Effekte der „rein“ sozialen Zeit, für die kein natürliches oder anderes Korrelat gefunden werden kann. Die von ihr genannten Beispiele sind exzeptionelle Effekte, deren Zustandekommen bei einigermaßen reflektiertem Vorgehen ohne großen Aufwand erklärt werden kann. Eine Stärke der meisten Studien in der Lebenslaufforschung ist es gerade, die nachhaltigen Effekte sozialer Zeitstrukturen z. B. in Form (längerfristig wirkender) historischer Umbrüche zu beschreiben und zu analysieren (wie etwa den Geburteneinbruch in Ostdeutschland nach der Wende). Mills’ generelle Annahme, dass soziale Zeit als Erklärungsfaktor zu häufig außer Acht gelassen werde, teile ich nicht. Allein die Tatsache, dass dieser Faktor nicht richtig benannt wird, gibt Anlass zur Kritik.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
3.5.1 Gesellschaft und Zeit Der institutionalisierte Lebenslauf, der sich durch die Merkmale Verzeitlichung und Chronologisierung auszeichnet, kann als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung aufgefasst werden, in die er eingebettet ist. Zeit kann verstanden werden „als symbolische Sinnstruktur […], mit deren Hilfe die Welt begriffen und geordnet werden kann. Sie ist soziologisch als eine intersubjektive Konstruktion der Wirklichkeit anzusehen, mit deren Hilfe wir natürliche und soziale Ereignisse ordnen“ (Bergmann 1981: 92). Die Zeitperspektive, die in modernen westlichen Gesellschaften vorherrscht, manifestiert sich z. B. im Gebrauch von Uhren und Kalendern, in der Art, wie wir über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachdenken oder auch einfach in der präzisen Kenntnis des eigenen Alters. Kennzeichnend ist dabei eine abstrakte, von allen konkreten Zusammenhängen losgelöste Vorstellung von Zeit, eine höherstufige Begriffssynthese (Elias 1997: 70). Dieses differenzierte Zeitbewusstsein stellt das Ergebnis eines generationenübergreifenden kollektiven Lernprozesses dar, der Teil der von Elias beschriebenen Entwicklung der Zivilisation ist: Äußere Zwänge auch zeitlicher Art werden vom Individuum internalisiert (Elias 1997: 142ff). Am Ende dieses nicht überall gleichzeitig ablaufenden und ebensowenig gleichmäßigen Prozesses ist nach Rammstedt die zeitliche „Herrschaft als die Zwang ausübende Verinnerlichung der Zeitrechnung, der Uhrzeit, in den Menschen selbst eingewandert“ (Rammstedt 1975: 55). Diese Verinnerlichung der Zeitordnung muss von jedem Individuum im Laufe seiner Sozialisation neu vollzogen werden, indem „der natürlichen Zeitlichkeit seines Organismus die Zeitstruktur der Gesellschaft auferlegt wird“ (Berger & Luckmann 1966/1999: 194). Soziale Zeit ist in unterschiedlicher Weise kategorisierbar. Erstens können mit Lewis und Weigart (1981: 80ff) verschiedene Ebenen von Zeitbewusstsein und -praxis differenziert werden. Sie unterscheiden „self-time“, „interaction-time“, „institutional-time“ und „cultural-time“. Insbesondere die „self-time“ ist selbst wiederum ein Sammelbegriff für verschiedene Stufen des Zeitbewusstseins.38 Persönliche, interaktive, institutionelle und kulturelle Zeit existieren nicht unabhängig voneinander, sondern sind ineinander gebettet („time-embeddedness“) (Lewis & Weigart 1981: 82), beeinflussen sich also gegenseitig. Brose et al. (1993: 25) bezeichnen das Verhältnis dieser „Zeitschichten“ auch als „Durchdringung“ oder „Aufschichtung“, ohne genauer bestimmen zu können, in welchem Verhältnis diese Schichten zueinander stehen. Sie machen allerdings allgemeine Eigenschaften von Zeitstrukturen aus, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese sich gegen konkurrierende Zeitmuster durchsetzen. Zu diesen potentiell einflusssteigernden Eigenschaften gehören u. a. lange Dauer, kontinuierliche Wiederkehr und normative Abstützung (Brose et al. 1993: 26f). Aufgrund ihrer engen Verflechtung sind die verschiedenen Schichten sozialer Zeit schwer isoliert voneinander zu betrachten. Kulturelle und institutionelle Zeit bilden Rahmen und Hintergrund für die zeitliche Struktur der alltäglichen Lebenswelt, in der Individuen und ihre Interaktionen aufgehoben sind und die beispielsweise in der phänomenologi38
Die mikrosoziologische Ebene macht nur einen Aspekt der „self-time“ aus; sozusagen unterhalb ihrer findet die psychologische Auseinandersetzung mit Zeit statt: Die Frage nach den kognitiven Funktionen von Zeitbewusstsein (vgl. Zerubavel 1981: 12ff) und ihrer Ausbildung in der onto- wie phylogenetischen Entwicklung steht dabei (z. B. bei Piaget) im Zentrum. Vgl. Bergmann (1981: 67ff).
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schen Soziologie untersucht wird (Schütz & Luckmann 1979/1994: 61-73). Die Kategorisierung von Lewis und Weigart beruht auf einer – sehr groben und analytischen – Einteilung der zeitlichen Regelungen danach, auf welcher Ebene sie praktiziert, durchgesetzt und welchem sozialen Aggregat sie, was die letztendliche Kontrolle über sie angeht, zuzurechnen sind: einer Kultur (oder Teilkulturen einer Gesellschaft), bestimmten Institutionen,39 Interaktionsgemeinschaften oder einzelnen Individuen. Die Öffnungszeiten eines Amtes werden auf der Ebene der Organisation geschaffen und durchgesetzt. Hier werden aber einerseits die Rahmenvorgaben der höheren Ebenen eingehalten (z. B. die festgeschriebenen arbeitsfreien Feiertage), andererseits diejenigen der in ihm arbeitenden Einzelpersonen (deren Arbeitskraft bestimmte, etwa physische Grenzen zeitlicher Art gesetzt sind). Gegen größere Widerstände, mit mehr Aufwand und evtl. gegen einen Preis z. B. in Form unerwünschter Nebenfolgen können diese Rahmenvorgaben durchbrochen werden. Insbesondere Veränderungsimpulse von einer niedrigeren Ebene in Richtung einer höheren sind aber nur schwer durchsetzbar, wenn z. B. ein (einzelnes) Individuum die Zeitstrukturen eines Betriebes zu ändern versuchte. Die Koordination der verschiedenen zeitlichen Ebenen ist für die Integration von Individuen und gesellschaftlichen Subsystemen sehr bedeutsam: „In short, all social experiences and actions of individuals are linked to institutions and large subsystems by means of specific temporal orders“ (Fischer-Rosenthal 2000b: 114) – „multiple clocks“ (Mills 2000: 94) müssen in Einklang gebracht werden (vgl. auch Brose et al. 1993: 25ff). Die Weite des Zeithorizonts ist ein zweiter Beschreibungsmaßstab für soziale Zeit: Auf allen Ebenen sind Regelungen oder Normen denkbar, die auf Zeitabfolgen beispielsweise weniger Minuten und andere, die auf Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte bezogen sind. Dabei ist die Weite des Horizonts durch die Lebensdauern der jeweiligen Bezugsobjekte (Individuen, Interaktionsgemeinschaften, Organisationen, Gesellschaften) begrenzt. Alltagszeit und Lebenszeit unterscheiden sich nicht nur durch die Weite des mit ihnen implizierten Zeithorizonts, sondern ebenso dadurch, dass Lebenszeit durch Linearität geprägt ist, während das Konzept des Alltags ein stark zyklisches Moment aufweist. Die beiden Dimensionen sind jedoch nicht identisch, da Alltagszeit ebenso lineare und Lebenszeit zyklische Elemente aufweisen können. Ein bestimmter Alltag kann sich bis ans Lebensende wiederholen, jedoch ist damit die Idee des immer wieder Gleichen verbunden und nicht diejenige des „Fortschreitens“ wie bei der Lebenszeit. Deswegen gehen die beiden Horizonte der Alltags- und der Lebenszeit nicht ineinander auf in dem Sinne, dass die Lebenszeit die Summe der Alltagszeiten sei (Fischer 1982/1986: 159). Drittens überwiegt in unterschiedlichen Zeitordnungen jeweils entweder der Vergangenheits-, der Gegenwarts- oder der Zukunftsbezug. Moderne Gesellschaften sind durch einen starken Gegenwarts- und Zukunftsbezug charakterisiert, so dass die Vergangenheit viel weniger als in vormodernen Gesellschaften als Quelle der Legitimation sozialer Ordnung dient. Eine weitere, weniger plausible Einteilung wird (neben anderen, impressionistisch orientierten) von Mills (2000: 96) präsentiert. Sie unterscheidet „natural, cosmic, and biologi39
Entgegen der Verwendung in der vorliegenden Arbeit ist der hier verwendete Begriff von Institution eher (oder: auch) einer, der Institutionen als soziale Aggregate fasst und damit in der Nähe des Organisationsbegriffs steht.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
cal“ von „symbolic, imagined, socially and culturally manufactured [time]“. Diese allzu naturalistische Unterscheidung40 übersieht, dass auch Gesellschaften, die in ihrer Zeitgestaltung noch stark von natürlichen Rhythmen abhängen und deren Wirkungen kaum durch technische Hilfsmittel beeinflussen können, diese Zyklen kulturell überformen, d. h. mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen belegen. Dies ist für übergeordnete Zeitordnungen interkulturell sowie im historischen Vergleich ebenso gut belegt (z. B. Wendorff 1980; Zoll 1988) wie für den individuellen Lebensablauf (z. B. Elwert et al. 1990; Elwert 2002). Die Koppelung sozialer Zeit an natürliche, kosmische oder biologische Rahmenbedingungen ist tatsächlich schwächer geworden, da medizinischer Fortschritt und technische Entwicklungen – von Düngemitteln und Pestiziden zur Maximierung der landwirtschaftlichen Erträge bis zu elektrischem Licht und Heizung – diese Bedingungen ausgeschaltet oder beherrschbar gemacht haben. Nichtsdestotrotz kann die Zeitordnung der von diesen Rhythmen stärker abhängigen Gesellschaften nicht mit den natürlichen Rhythmen gleichgesetzt werden, weil sie dazu zu stark zwischen den Gesellschaften variiert. Charakteristisch für moderne westliche Gesellschaften ist die Vorstellung einer abstrakten, von allen konkreten Zusammenhängen losgelösten, linear verlaufenden Zeit mit offener Zukunft (Rammstedt 1975; Schmied 1989). Nicht alle zyklischen Elemente der Zeitordnung sind jedoch verschwunden. Sie finden sich insbesondere in der Alltagszeit z. B. mit der Tageseinteilung, der Wocheneinteilung und wiederkehrenden „peak-periods“ (Rinderspacher 1994). Die Idee einer linear verlaufenden Zeit mit offener Zukunft, symbolisiert durch den nach rechts ins Unendliche verlaufenden Zeitstrahl, kam erstmals in den frühen städtischen Hochkulturen auf und verbreitete sich in der westlichen Welt mit dem Handelskapitalismus, modernen Städten und der Geldwirtschaft (vgl. Wendorff 1980; Zoll 1988; Nuß 1996). Aufbauend auf dieser Entwicklung wird die methodische, rationale Lebensführung des Einzelnen zum normativen Ideal, dessen Entstehung Weber (1905/1966) in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ beschreibt. In der Prädestinationslehre calvinistischer Sekten gilt eine mit beruflich-wirtschaftlichem Erfolg belohnte Lebensführung als ein Zeichen der göttlichen Auserwähltheit eines Menschen. Dabei ist das „Verständnis vom sinnvollen Leben im puritanischen Arbeitsethos fast identisch mit der sinnvollen Verwendung der Zeit“ (Rinderspacher 1985: 53), denn diesem Ethos gemäß ist „Zeitvergeudung [...] die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden“ (Weber 1905/1966: 167). Zeit darf nicht mit Vergnügungen verschwendet werden, sondern muss nach Maßgabe der Nützlichkeit gestaltet sein. Im Mittelalter war die zeitliche Rationalisierung des Alltags bereits in den Klöstern in Form strenger Zeitpläne verbreitet. Während jedoch Mönche die methodische Lebensführung in Abgeschiedenheit von weltlichen Vorgängen umsetzten, wird im puritanischen Protestantismus „das Ethos einer rationalen Lebensführung radikal verweltlicht“ (Neumann 1988: 165). Dies ist nicht allein auf die Alltagszeit beziehbar, in der Pünktlichkeit zur „Kardinaltugend“ (Neumann 1988: 163) wird, sondern ebenfalls auf den Lebenslauf: Längere Fristen, gar das eigene Leben werden nun Gegenstand der Planung und der Pflichterfüllung.
40
Noch irreführender ist es in meinen Augen, religiöse Zeit (zusammen mit natürlicher und biologischer Zeit) der sozial konstruierten Zeit gegenüberzustellen (Mills 2000:122) – denn was sollte religiöse Zeit denn anderes sein als sozial konstruierte Zeit? Allenfalls wäre sie von anderen Formen sozialer Zeit differenzierbar.
3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung
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Mit der funktionalen Ausdifferenzierung im Zuge der Modernisierung, d. h. mit der Entstehung voneinander unterscheidbarer gesellschaftlicher Subsysteme, differenzierte sich auch die temporale Ordnung aus (Bergmann 1981: 198ff). Im Mittelalter lieferte die Religion die alles integrierende Welt- und Zeitordnung. Diese Einheit ist mit dem aufkommenden „pluritemporalism“ (Novotny 1992: 442) verloren gegangen. Daraus erwachsen für das sich durch die gesellschaftlichen Subsysteme bewegende Individuum vielfache Koordinationsprobleme.
3.5.2 Lebensläufe als Problem zeitlicher Koordination und Integration Der institutionalisierte Lebenslauf ist eingebettet in die Zeitordnung moderner Gesellschaften. Er liefert ein normatives Gerüst dafür, individuelle Lebenszeit mit Gesellschaftszeit zu koordinieren (Kohli 1986a), nachdem diejenigen Koordinationsmechanismen, die über die Vergesellschaftung in kleineren Gruppen laufen, immer weniger wirksam sind. Diese Koordination erfolgt sowohl auf der objektiv-pragmatischen Ebene als auch auf der Ebene der Deutungen. Dass der Lebenslauf zu einer „der wesentlichen Vermittlungsinstitutionen zwischen Gesellschaftsstruktur und Individuum“ (Kohli 1986a: 186; vgl. auch Brose et al. 1993) geworden sei, gilt damit auch und besonders für seine zeitliche Dimension. Dabei stellt er als Mittel der Vergesellschaftung und als Komplex von Normen und Deutungen umfassende Anforderungen an das Individuum, die sich nicht in der notwendigen Affektkontrolle erschöpfen. Die kognitive Repräsentation eines individuellen Lebenslaufs impliziert die Linearität von Zeit (Rammstedt 1975; Schmied 1989) – wie oben gesehen, ist diese Vorstellung voraussetzungsvoll und Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses. Die ursprünglich eng mit der protestantischen Lebensführung verknüpfte rationale Lebensplanung ist eine Voraussetzung dafür, dass der Normallebenslauf Teil der lebensweltlichen Orientierungen von Individuen wird: Besäßen diese kein differenziertes Bewusstsein von Zeit und keine Idee von Zukunft, wären sie nicht in der Lage, langfristig zu planen und diese Planungen zu realisieren. Für Weymann (2004: 156ff) schlägt sich der immer rationalere Umgang mit der Lebenszeit in einer „Ökonomie des modernen Lebenslaufs“ und einer „Ökonomie der Lebenszeit“ nieder, das heißt in einem immer rechenhafteren Umgang mit der Lebenszeit. Es werden Zeiten in Bildung investiert, und der Preis der Zeit berechnet sich aus ihrer Knappheit und ihren Opportunitätskosten.41 Auch in biographischer Hinsicht spielt Zeit eine entscheidende Rolle. Die biographische Erzählung dient als Medium der Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Kohli 1994b), wobei diese jeweils auf den beiden anderen Zeitperspektiven beruhen: Zukünftiges Handeln wird auf der Grundlage vergangener Erfahrungen und der gegenwärtigen Situation entworfen (Burkart 1995); die Vergangenheit wird ebenso vor dem 41
Der Ökonomie der Lebenszeit entspricht die von Mayer (1996: 58) verwendete Darstellung von „Lebenszeitbudgets“, die zeigen, wie viel Zeit im Leben von Männern und Frauen jeweils hauptsächlich mit Familienarbeit, Erwerbstätigkeit, Bildung etc. verbracht wurde. Diese Darstellungsweise ist ein anschauliches Instrument, dessen Ergebnis aber jeweils im gesellschaftlichen Kontext bewertet werden muss. Die Interpretation wird umso unklarer, je stärker verschiedene Aktivitäten innerhalb einer Lebensphase gemischt werden, wie es weiter unten beschrieben wird. Der Einsatz der Lebenszeit gleich damit immer weniger einem Nullsummenspiel.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
Hintergrund der Gegenwart und der Zukunft (immer wieder neu) gedeutet (z. B. Voges 1987; Fischer 1982/1986: 169; Kruse 2000).42 Für Øian (2004) besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen linearen Zeitvorstellungen und modernem Individualismus, der unter anderem auf einem immer wieder neu in die Zukunft gerichteten Selbstentwurf beruht. Fischer (1982/1986: 157f) weist darauf hin, dass die biographische Gesamtkonstruktion sich mitnichten auf die Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs reduzieren lässt. Die von ihm für das Zeiterleben chronisch Kranker aufgestellte These, dass die Linearität des biographischen Gesamtkonstrukts durch zyklische Zeitstrukturen und -perspektiven überdeckt werde, ist auf Gesunde übertragbar, auch wenn das genaue Verhältnis von Zyklizität und Linearität bei ihnen von dem chronisch Kranker abweicht. Allerdings sind in der Lebenszeit wenige langfristige Rhythmen auszumachen, weshalb der lineare Charakter für den weiten Zeithorizont bestimmend ist. Das Verhältnis zwischen Zeitordnung und subjektiver biographischer Zeit ist auf verschiedene Weisen interpretierbar (1987: 132): Das strukturfunktionalistische „Integrationstheorem“ unterstellt eine „Kongruenz zwischen sozialen Zeitstrukturen und individuellen Zeitvorstellungen sowie Bedürfnis- und Handlungsdispositionen“. Im „Decisiontheorem“ wird Zeit als knappe Ressource begriffen, über die in rationalen, nutzenmaximierenden Entscheidungsprozessen verfügt und verhandelt wird. Die Summe dieser Entscheidungen konstituiert die gesellschaftliche Zeitordnung, woraus wiederum eine Deckungsgleichheit der gesellschaftlichen und der subjektiven Zeitstrukturen folgt. Das „Interpretationstheorem“ schließlich postuliert, dass gesellschaftliche Zeitstrukturen nur „vielfach gebrochen“ in individuellen Zeitperspektiven wiederzufinden sind und dass sich „eine gemeinsame Handlungsperspektive […] durch wechselseitige Interpretation handlungsleitender subjektiver Vorstellungen [konstituiert]“. Ein Unterschied zwischen dem zweiten und dem dritten Interpretationsansatz besteht darin, dass der Maßstab bei der Aushandlung und Interpretation im zweiten Ansatz von Vornherein klar und nicht Gegenstand derselben ist; er wird reduziert auf die individuelle Nutzenmaximierung. Das Interpretationsparadigma, das in einen interaktionistischen Rahmen einzuordnen ist, lässt dagegen auch die Aushandlung ganz anders begründeter Ansprüche zu. Zwar ist diese Einteilung von Theorien zum Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Zeit nicht erschöpfend und könnte z. B. für die von Lewis und Weigart beschriebenen temporalen Ebenen präzisiert werden. Sie bietet aber eine grobe Konzeptionalisierung des Verhältnisses von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen beim Umgang mit Zeit und lässt sich gut an die oben (Kapitel 3.1.2) diskutierten theoretischen Ansätze zur Spannung zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlicher Struktur anbinden. In der knappen Beschreibung von Voges bleibt offen, wie es zur Objektivierung von zunächst nur in direkten Aushandlungs- und Interpretationsprozessen konstituierten Zeitstrukturen kommt. Hier sind die oben skizzierten Überlegungen zur Institutionalisierung (vgl. Kapitel 3.4) anwendbar: Interpretations- und Aushandlungsprozesse sind als letzte Ursache von stärker objektivierten Zeitstrukturen zu betrachten. Für Probleme der zeitlichen Koordination gesellschaftlicher Sphären haben sich im Laufe der Geschichte zunächst habitualisierte und später objektivierte Lösungen herausgebildet, die in Form von Typisie42
In kollektiven Erinnerungsprozessen ist die Konstruktion von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ähnlicher Weise miteinander verknüpft (vgl. Halbwachs 1967).
3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung
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rungen und Normen in den gesellschaftlichen und individuellen Wissensvorrat gelangen. Beispiele dafür sind so unterschiedliche Regelungen wie Kalender (mit Wochen- und Monatsrhythmus, bestimmten Feiertagen usw.), das Konzept der Uhrzeit, Alterstypisierungen oder bestimmte Altersgrenzen. Die Institution des Lebenslaufs als Bündel von Normen und Regelungen, die auf die Lebenszeit bezogen sind, ist angesiedelt auf der Ebene individueller Zeit. Was die Weite des Horizonts angeht, ist damit der für das Individuum weiteste Zeithorizont43 angesprochen. Mit den beiden Dimensionen Zeitebene und Weite des zeitlichen Horizonts lässt sich aufzeigen, wie vielfältig die Institution des Lebenslaufs zu anderen Institutionen bzw. deren temporalem Aspekt in Beziehung steht. Die benutzten Klassifikationen dienen dabei allein der systematisierenden Analyse und sind nicht als solche vorfindbar. Der Lebenslauf integriert individuelle Lebenszeit und die temporalen Strukturen von Interaktionen, Institutionen und Organisationen sowie der Gesamtgesellschaft bzw. Gesamtkultur in synchroner oder diachroner Weise. Die diachrone Abfolge von Generationen (in welchem Begriffsverständnis auch immer) erfolgt über die Position im Lebenslauf. Je nachdem, welche Kohorten in bedeutsame Funktionen vorrücken, verändert sich damit die Gesamtgesellschaft (vgl. auch Mannheim 1928). So wäre auch der Wertewandel beschreibund erklärbar (Foot & Stoffman 1996). Die Nachfolge in Organisationen wird mit der individuellen Lebenszeit verknüpft (Kohli 1986b: 278f). Je nach Lebens- oder Dienstalter rücken Individuen in bestimmte Positionen nach, wie die des Schülers, bestimmter Ämter usw. Für andere Institutionen hat der Lebenslauf eine Koordinationsfunktion, indem er ein Muster dafür anbietet, in welcher Reihenfolge sie diachron (z. B. Ausbildung, Ehe und Elternschaft) zu durchlaufen bzw. wie sie synchron kombinierbar sind. Die Öffnungszeiten von Einrichtungen, um ein eher zyklisches und alltagszeitliches Element der temporalen Struktur von Organisationen zu nennen, bestimmen darüber, welche Phasen im Lebenslauf mit wie viel Aufwand synchron durchlebt werden können – augenfälliges Beispiel sind Laden- oder Kindergartenöffnungszeiten Die Integration von Individuen in die Zeitstrukturen von Interaktionen läuft allenfalls sehr indirekt über den Lebenslauf: Innerhalb bestimmter Lebensphasen gibt es unterschiedliche Zeitfenster für die Teilnahme an informellen Interaktionsgemeinschaften – dies wird beim Vergleich der informellen Interaktionen eines Studierenden mit denen eines in Vollzeit Berufstätigen offensichtlich. Da moderne Gesellschaften und ihr Lebenslaufregime sich ständig verändern, sind Integrations- und Koordinationsprobleme der verschiedenen zeitlichen Ebenen eher die Regel als die Ausnahme. Gelöst werden solcher Probleme durch die Anpassung der individuellen Handlungsmuster, der vorgegebenen Zeitstrukturen oder von beiden. So stellt sich für Männer und Frauen, die berufstätig sein und Kinder haben wollen, das Problem der zeitlichen Koordinierung von Beruf und Kinderbetreuung. Die Antwort des westdeutschen Lebenslaufregimes der 50er und 60er Jahre besteht darin, dass die Pflege der Kinder als Aufgabe der Frau definiert wird, die allenfalls in Teilzeit berufstätig sein kann. In diesem temporalen Integrationsmodus sind Kinderbetreuungseinrichtungen vor allem für Kleinkinder 43
In vormodernen Gesellschaften mit verbreitetem Glaube an Wiedergeburt und ähnliches ginge der weitestgehende individuelle Zeithorizont zumindest auf der Ebene der Interpretation über die Länge des individuellen Lebens hinaus.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
nicht zwingend notwendig. Die Zunahme der (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit von Frauen hat zeitliche Integrationsprobleme zur Folge, die nur gelöst werden können, indem mehr Möglichkeiten zur nicht-häuslichen Kinderbetreuung geschaffen werden, indem Männer sich hier stärker beteiligen und entsprechend weniger berufstätig sind oder indem auf die Geburt von Kindern verzichtet wird (Onnen-Isemann 2003); natürlich sind auch Kombinationen denkbar. Obwohl hier nicht dem oben beschriebenen Decisiontheorem gefolgt werden soll, nach dem die gesellschaftliche Zeitordnung allein Ergebnis des rationalen Handelns der Akteure ist, spielt Zeit hier die Rolle einer endlichen Handlungsressource, über die innerhalb bestimmter, institutionell vorgeprägter Handlungsspielräume entschieden wird. Selbst wenn Zeit in gewisser Weise sozial „dehnbar“ ist und dadurch vertieft werden kann, dass Tätigkeiten schneller, verdichtet oder gleichzeitig ausgeführt werden oder dass bisher verschonte temporale Ressourcen angebrochen werden (Nachtschlaf, Freizeit), so ist diese Dehnung nicht beliebig fortsetzbar. Auf allen genannten Ebenen müssen außerdem Alltagszeit und Lebenszeit des Individuums miteinander koordiniert werden. Nach Voges (1987: 128) gestalten Individuen ihr Leben immer „aufgrund einer Synchronisation zwischen diesen beiden Zeitebenen“. Der individuelle Lebenslauf als das den weitesten Zeithorizont betreffende Regelsystem muss mit den engeren, mittel- und kurzfristigen Zeithorizonten in Einklang gebracht werden, sowohl was Handlungen angeht als auch deren Interpretationen. Für die Handlungsebene bedeutet dies, dass langfristigere normative Vorgaben bzw. Ziele oder gar ein mögliches Lebensziel in mittel- und kurzfristigere Ziele zu übersetzen sind, mit anderen Worten der Lebenslauf in ein Lebensmuster (Voges 1987: 129). Der Lebenslauf als Regelsystem tritt zwar nur punktuell in Erscheinung, gleichwohl steht das Gesamt bei vielen Regelungen im Hintergrund: Das Rentensystem baut beispielsweise auf kontinuierlicher Erwerbsarbeit auf. Selbst wenn die Handlungslogik im Lebenslauf also tatsächlich eine punktuelle und kurzfristige wäre, wie Mayer und Müller behaupten (vgl. Kapitel 2.2.2), steckt in den Regelungen selbst ein Postulat der Kontinuität, mithin der langfristigen Perspektive und Planung. Die Fähigkeit44 und die Gelegenheitsstrukturen45 für solchermaßen langfristig orientiertes Handeln mögen unterschiedlich verteilt sein, ein wenn auch diffuses Ideal dieses Handelns ist aber kaum von der Hand zu weisen. Psychologische Forschung zeigt auf, wie komplex persönliches Handeln und Planen zeitlich aufgebaut ist. Mit Perspektive auf langfristige Ziele schaffen sich Handelnde Hierarchien von Projekten und Zielen, die wiederum auf kleinere und kurzfristigere Alltagshandlungen heruntergebrochen werden. Das Modell der hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation, das aus der (arbeitspsychologischen) Handlungsregulationstheorie stammt, gibt wieder, wie sich über viele Zwischenschritte langfristige aus kurzfristigeren Zielen, diese aus noch kleineren Aufgaben und diese aus konkreten Tätigkeiten zusammen44
45
Mit dem „deferred gratification pattern“ beschreiben Schneider und Lysgaard (1953) die Fähigkeit, kurzfristige Befriedigung zugunsten langfristiger Ziele zurückzustellen. Diese sprechen sie der Unterschicht ab und den Mittelschichten zu. Diese relativ simple These hat eine rege Debatte ausgelöst (vgl. Bergmann 1981: 192ff) und wurde noch in den 50er Jahren in dieser Undifferenziertheit widerlegt. Zu unterschiedlichen Zeitperspektiven in verschiedenen Milieus vgl. Burkart (1992). Die relative ökonomische Stabilität moderner Gesellschaften, die seit dem Zweiten Weltkrieg keine großen Kriege, keine Naturkatastrophen, Epidemien o. ä. mehr erlebt haben, bildet eine wesentliche, schnell vergessene Hintergrundbedingung für diese langfristige Handlungsorientierung.
3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung
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setzen (Volpert 1987; Hoff & Ewers 2002: 224-231; Cranach 1994: 83f). Letztere sind dann zum Teil im zyklisch strukturierten Alltagshandeln wiederzufinden. So ist beispielsweise das langfristigere Ziel, einen Doktorgrad zu erlangen, in kurzfristige Teilziele übersetzbar (erste Literaturrecherche, Daten aufarbeiten und rechnen, den Text der schriftlichen Arbeit erstellen, Vortrag im Kolloquium, Korrekturgänge usw.), die jeweils in den zyklisch strukturierten Arbeitsalltag integriert werden müssen. Die Verwirklichung „persönlicher Projekte“ (P. Beck 1996) insbesondere beruflicher Art, aber auch im privaten Bereich, ist in ihrer zeitlichen Organisation höchst anspruchsvoll. Von soziologischer Relevanz ist hier vor allem zweierlei: Zum einen sind die so genannten persönlichen Projekte häufig Teil des Lebenslaufprogramms, zum anderen sind sowohl die temporalen wie auch die nichttemporalen Bedingungen ihrer Verwirklichung oder ihres Scheiterns nicht zuletzt auch soziale. Biographische Studien thematisieren die Koordinationsstrategien oder auch -probleme der Handelnden. Biographische Erzählungen müssen Widersprüche zwischen kurz- und langfristigen Lebensplänen gegebenenfalls auflösen oder durch plausible Erklärungen überdecken. Alltägliches Deutungsmuster ist das Verschieben in die als offen konzipierte Zukunft: Bestimmte Bedürfnisse, biographische Pläne oder diffuse Träume werden in Konfrontation mit einem Alltag, der ihre Verwirklichung unrealistisch erscheinen lässt, in die fernere Zukunft des „Irgendwann“ verschoben. In der von Brose et al. (1993: 174-223) erarbeiteten Typologie46 des Deutungszusammenhangs von biographischer Zeitperspektive und zeitbezogenem Handeln im Alltag entspricht dies am ehesten den Typen der Passion (Brose et al. 1993: 191) und der Idealisierung (ebd.: 184). In diesen Fällen wird der gegenwärtige Alltag mit starkem Bezug zur Zukunft gedeutet. Andere Typen zeichnen sich dagegen durch eine stärkere Betonung der alltäglichen Rhythmen aus und deuten die Zukunft allein innerhalb des Rahmens eines immer so weiter laufenden Alltags. Fischer (1982/1986: 167ff) beschreibt eindrücklich die Strategien von vor allem jüngeren Dialyse-Patienten, die um ihren auf etwa zwölf Jahre beschränkten Lebenshorizont wissen und diese veränderte Perspektive in ihr alltägliches Handeln einbeziehen. Vor allem die Patienten, die sich noch am Beginn ihrer Berufslaufbahn oder der Familiengründung befinden, müssen Pläne in diesen Bereichen an ihren veränderten Zeithorizont anpassen, entweder, indem sie sie aufgeben zugunsten eines Lebens in der Gegenwart, oder, indem sie ihre beschränkte Lebenserwartung einfach ausklammern und so tun, als lebten sie doch „für immer“. Je nachdem, ob ein weiter Lebenshorizont überhaupt in die eigenen Handlungsperspektiven miteinbezogen wird – und Mayer und Müller (1986, 1989) haben insofern Recht, als dies nicht bei allen Akteuren angenommen werden kann – ist hier mehr oder weniger Arbeit an der biographischen Konstruktion vonnöten. Das Verhältnis der Zeithorizonte von Alltag und Lebenszeit variiert also in der biographischen Deutung. Unter anderem hängt die Gestalt dieses Verhältnisses von der gegenwärtigen Situation und den bisher gemachten Erfahrungen ab, jedoch ebenso vom Kontext, in dem biographische Deutungen (im Extrem in strategischer Absicht) präsentiert werden. Es ist offensichtlich, dass eine soziologische Beschäftigung mit Zeit diese nicht auf den wissenschaftlichen Begriff abstrakter, gleichmäßig verlaufender Zeit reduzieren darf
46
Die Typologie wurde anhand von 60 Interviews mit Zeitarbeitern entwickelt.
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3 Zentrale Diskussionspunkte
(Brose et al. 1993: 18). Für soziale Zeit ist vielmehr ihr qualitativer Charakter47 kennzeichnend: Bestimmten Zeiträumen und -punkten wird jeweils ein unterschiedlicher Sinn zugeschrieben. Verschiedene Zeitspannen können daher, auch wenn sie objektiv gleich lang sein mögen, unterschiedliche Qualitäten aufweisen und verschieden lang erscheinen:„[...] social time [...] is qualitative and not purely quantitative; [...] these qualities derive from the beliefs and customs common to the group and [...] they serve further to reveal the rhythms, pulsations, and beats of the societies in which they are found“ (Sorokin & Merton 1937: 623). Vor allem die punktuell genannten Befunde aus der Biographieforschung geben einen Eindruck dieser Eigenheit von sozialer Zeit. Wenn in Bezug auf die Lebenszeit von Individuen von „lebenszeitlichen Strängen“ (Fischer 1982/1986), „Themen“ und „Projekten“ (von Cranach 1994) die Rede ist, so sind es genau diese Lebensinhalte, hinter denen die Zeitstrukturen in der subjektiven Erfahrung verschwinden. Deswegen und wegen der Zyklizität auch individueller Zeit lässt sich der Umgang mit Lebenszeit nur in speziellen Fällen auf eine den Akteuren bewusste „Ökonomie des Lebenslaufs“ (Weymann 2004: 156) reduzieren. Gerade für die konflikthafte Verknüpfung verschiedener Lebensbereiche, wie sie besonders in den Lebensläufen vieler Frauen zutage tritt, ist eine rein rechnerische Lösung von Koordinationsproblemen für die Handelnden oft nicht denkbar und möglich. Die von und in der Zeit konstituierten Inhalte werden nur dann thematisiert, wenn diese zeitliche Konstitution problematisch wird (wie z. B. bei chronisch Kranken). Eine Aufgabe der Lebenslaufforschung besteht darin, diese zeitliche Konstituierung zu analysieren, ohne dabei allein auf den physikalisch-abstrakten Zeitbegriff zu rekurrieren,48 der blind ist für die von Individuen, Gruppen und Gesellschaften erlebte Zeit. In die empirischen Analysen dieser Arbeit kann diese Perspektive der erlebten Zeit nur unter Rückgriff auf die entsprechende, biographisch orientierte Literatur einbezogen werden, da die hier verwendeten Daten keine direkten Informationen zur subjektiven Konstruktion von (Lebens-)Zeit zulassen. Aus den hier vorgestellten Diskussionen ergeben sich für die empirischen Analysen wichtige Folgerungen: Zwar liegt der Fokus der Analysen, bedingt durch die zur Verfügung stehenden Daten, auf der Strukturbedingtheit von Übergängen. Es wäre aber kurzsichtig, deswegen die biographische Konstruktion von Handlungsspielräumen und die Mechanismen, aufgrund derer diese mit individuellen Entscheidungen gefüllt werden, auf individuelle Kosten-Nutzen-Erwägungen zu reduzieren. Strukturveränderungen allein erklären die Dynamik des aktuellen Lebenslaufregimes nicht. Unter dieser Annahme wird indirekt geprüft, was Forschungsergebnisse zum biographischen Handeln, in dem Prozesse der Selbstsozialisation zum Tragen kommen, zur Erklärung des Wandels von Lebensläufen beitragen können. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf das Verhältnis der Geschlechter und seine 47 48
Im Griechischen gibt es mit kairos einen eigenen Begriff für diesen qualitativen Aspekt von Zeit: Während sich chronos auf die mit Uhren messbare Zeit bezieht, die kontinuierlich verstreicht, bezeichnet kairos den richtigen, günstigen Moment z. B. für bestimmte Tätigkeiten. Dies ist meines Erachtens kein Widerspruch zu der obigen Aussage, dass Zeit als knappe Ressource begriffen werden kann. Zwar scheint diese Sichtweise auf den ersten Blick an den abstrakt-physikalischen Zeitbegriff angelehnt; dieser kann jedoch begriffen werden als eine Deutungsweise von Zeit, die ebenso wenig neutral oder abstrakt ist wie alle anderen Deutungsweisen. Zum anderen weist die Idee von Zeit als Ressource – auch in dieser Weise in neueren Ansätzen der Sozialstrukturanalyse verwendet (vgl. Wotschack 1997) – auf die Rahmenbedingungen der Verwendung von Zeit hin, welche in natürlicher Weise begrenzt ist.
3.5 Der Lebenslauf als Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung
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Dynamik, die als Rahmenbedingung nicht unhinterfragt bleiben darf. Eine Annäherung an den Lebenslauf als Institution, die einen Teil der gesellschaftlichen Zeitordnung bildet, erfolgt in den empirischen Analysen, indem besonderes Augenmerk auf die Verknüpfungslogik zwischen verschiedenen Übergängen gerichtet wird; auch hier wird der gesamte Lebenshorizont der Handelnden allenfalls indirekt einbezogen.
4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs
In diesem Kapitel werden mit Übergang, Gatekeeping, Sequenz und Verlauf Konzepte präsentiert, die innerhalb der Lebenslaufforschung eine wichtige Rolle spielen und begriffliches „Handwerkszeug“ darstellen.
4.1 Begriffe Lebensläufe als ganzheitliche Muster sind wie oben diskutiert nicht direkt vorfindbar. Zu beobachten sind nur Personen in bestimmten Lebensphasen oder Übergängen, d. h. das Timing verschiedener Übergänge im Lebenslauf und die Dauer einzelner Zustände. Erst die Gesamtheit der Übergänge, Ereignisse oder Statuspassagen bildet das Lebenslaufmuster. In Anlehnung an Kutscha (1991) definieren Sackmann und Wingens (2001: 22) Übergänge als „in gesellschaftliche Übergangsstrukturen eingebettete Statuswechsel […], die – unterschiedlich umfangreich – sozial normiert und mit einem individuell zu bewältigendem [sic!] Wechsel von Identitätssegmenten verbunden sind […]“. Im Zuge von Übergängen erfolgen Zustandsveränderungen in dem Sinne, dass eine soziale Position oder Eigenschaft gewechselt wird – eine Heirat impliziert etwa die Aufgabe des Ledigenstatus, die Aufnahme einer Vollzeitstelle das Ende einer Phase der Arbeitslosigkeit oder einer Ausbildung. Gesellschaftliche Übergangsstrukturen können diese Wechsel in allen möglichen Formen regulieren, beispielsweise durch gesetzlich festgeschriebene oder informelle Altersnormen, Normen der Sequenzierung, Zeitpläne für Übergangsschritte, Selektion der zum Übergang zugelassenen Personen auf Basis bestimmter Voraussetzungen etc. Der Raum möglicher Zustände und ihrer Verknüpfung ist gesellschaftlich vorgegeben; je nach Forschungsfrage wird er in konkreten Studien jedoch mehr oder weniger genau gefasst und unterschiedlich akzentuiert (Sackmann & Wingens 2001: 23). Da Übergänge sich über längere Zeiträume hinziehen können, sind sie nicht unbedingt einem konkreten Zeitpunkt zuordenbar. Aus der Perspektive der Soziologie sozialer Ungleichheiten verdienen die mit Übergängen verbundenen Veränderungen der sozialen Position besondere Aufmerksamkeit, d. h. die objektiv messbaren Vorteile und Nachteile, die aus einem bestimmten (neuen) Status erwachsen. Auch wenn nicht mit jedem Übergang eine deutliche Erhöhung oder Verringerung des Status einhergeht, ist der Lebenslauf für Sozialstrukturforscher das Gesamt individueller Bewegungen im bzw. durch das Gefüge sozialer Ungleichheit. In Statuspassagen manifestieren sich die Muster vor allem intragenerationeller sozialer Mobilität einer Gesellschaft.
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4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs
Dem Übergangsbegriff nahestehend sind die Ausdrücke „Statuspassage“ und „Ereignis“. Die klassische Konzeption von Statuspassagen stammt von Glaser und Strauss (1971).49 Sie entwerfen in ihrem gleichnamigen Werk ein grobes Beschreibungsraster von Positionswechseln in der Sozialstruktur und von den damit für Individuen verbundenen Erfahrungen. Diese Beschreibungsdimensionen sind problemlos auf Übergänge übertragbar, was die Nähe der beiden Konzepte zueinander unterstreicht. Dennoch wird hier der weitere Begriff der Übergänge vorgezogen, da Statuspassagen sich – zumindest wenn man dem konventionellen soziologischen Sprachgebrauch folgt – zu sehr auf unilineare Zustandswechsel beziehen. So lassen sie wenig Deutungsspielraum für Kombinationen von Status(-veränderungen) in verschiedenen Bereichen. Mit Statuspassagen verbunden ist die Vorstellung vom Lebenslauf als „universal escalator on which everyone rides“ (Glaser & Strauss 1971: 171), tatsächlich fahren wir jedoch (synchron oder diachron) immer auf mehreren Rolltreppen durch das gesellschaftliche Gefüge, d. h. Statuswechsel sind in verschiedenen Lebensbereichen (Familie, Erwerbskarriere) möglich (Behrens & Voges 1996: 16; vgl. auch Struck 2001: 31). Anders formuliert sind Statuswechsel als ein möglicher Aspekt von Übergängen. Da die Perspektive der vorliegenden Arbeit sich nicht auf diesen Aspekt beschränkt, wird hier vor allem von Übergängen die Rede sein. Die Umschreibung, die Heinz (1996: 58) für Statuspassagen im Sinne von Glaser und Strauss anbietet, gilt ebenso für Übergänge: „Status passages link institutions and actors by defining time-tables and entry as well as exit markers for transitions between social status configurations“. Dadurch, dass Heinz von Statuskonfigurationen und nicht allein von Status spricht, vermeidet er die im klassischen Begriff der Statuspassagen angelegte Eindimensionalität. Die Bezeichnung „(kritische50) Lebensereignisse“ (z. B. Hoerning 1987) ist im Kontext (sozial-)psychologischer Forschung gebräuchlicher (z. B. Filipp 1981). „Ereignisse“ stoßen jedoch tendenziell unbeteiligten Individuen eher zu und sind weniger deutungsoffen für das Zusammenwirken von Struktur und individueller Gestaltung als „Übergänge“. Auch muss es sich nicht unbedingt um Ereignisse handeln, die in bestimmter Weise sozial gerahmt sind, sie müssen alleine große Bedeutung für die individuelle Entwicklung haben. Die meisten Lebenslauf-Übergänge stellen auch kritische Lebensereignisse dar, die in der biographischen Deutung des Handelnden die Rolle von „Knoten“ spielen können (Kruse 2000). Es sind aber Ereignisse denkbar, die nicht den Charakter von institutionalisierten Lebenslauf-Übergängen haben.
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Weiter zurückgehend findet man mit van Gennep (1999, französisches Original 1909) einen ethnologischen Ursprung der Beschäftigung mit Statuspassagen. Das Adjektiv „kritisch“ wird auch häufig zusammen mit „Übergang“ gebraucht. Dabei ist seine doppelte Bedeutung hervorzuheben. Zum einen ist es im Sinne einer Bedrohung oder einer Gefährdung deutbar, da nämlich Übergänge potentiell die Identität des Handelnden schwächen und (aus der Sicht der Entwicklungspsychologie) Ereignisse darstellen, die verarbeitet werden müssen. Da dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall ist, stellt die zweite, alltagssprachlich verschüttetere Bedeutung „trennen, scheiden“ (hier von zwei Zuständen) die mindestens genauso maßgebliche semantische Komponente dar.
4.2 Beschreibungsdimensionen von Übergängen im Lebenslauf
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4.2 Beschreibungsdimensionen von Übergängen im Lebenslauf Übergänge im Lebenslauf sind mehr oder weniger institutionell reguliert, dauern unterschiedlich lang und können als belastend oder befreiend erlebt werden. Manche Übergänge werden von allen Mitgliedern einer Gesellschaft vollzogen, andere nur von einigen wenigen. Übergänge unterscheiden sich also erheblich voneinander. Heinz (1996: 59ff) stellt in Anlehnung an Glaser und Strauss eine Klassifizierung von Statuspassagen vor, die sich meines Erachtens mit leichten Modifizierungen51 auf Übergänge übertragen lässt. Er nennt vier Kontinua, auf denen sich Übergänge jeweils zwischen zwei einander entgegengesetzten Polen einstufen lassen. Auf diese Weise werden sie besser beschreib- und vergleichbar. Die erste Ebene der Klassifizierung ist die Kontrolle über Beginn, Ende und die (u. a. zeitliche) Gestaltung des Übergangsprozesses. Diese sind besonders dann, wenn der Übergang mit dem Eintritt oder Austritt aus formellen Organisationen einhergeht (z. B. Schule), stark standardisiert und kaum individuell kontrollierbar. Heinz (1996: 60) vermutet, dass „completely scheduled status passages“ in fortgeschrittenen modernen Gesellschaften an Bedeutung verlieren, indem etwa bestimmte zeitliche Anteile des Übergangs der individuellen Gestaltung geöffnet werden; als Beispiele nennt er in Teilzeit arbeitende Studierende oder Mütter. Je weniger ein Übergang institutionell kontrolliert wird, desto eher ist ein Individuum in der Lage, ihn intentional zu planen zu durchlaufen. Die zweite Dimension der Bewusstheit des Übergangs („awareness context“, Heinz 1996: 60) hängt damit eng zusammen. Hier geht es darum, was der Handelnde über die Regelungen, den Ablauf und das Ergebnis des Übergangs weiß. Je breiter dieses Wissen ist, desto eher ist eine bewusste, abwägende Entscheidung möglich. Ist der Übergang zwar im Prinzip entscheidungsoffen, verfügt der Handelnde jedoch über kein oder wenig entsprechendes Wissen, kann das nach Heinz in ungeplantem Handeln nach einem Versuch-undIrrtum-Muster sowie unerwünschten Konsequenzen resultieren. Das dritte Kontinuum erfasst die Interdependenz eines einzelnen Übergangs oder Verlaufs von anderen Übergängen oder Verläufen. Übergänge können füreinander jeweils unterstützende oder konkurrierende Funktion haben – die Aufnahme einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit ist für den Auszug aus dem Elternhaus förderlich, während die Geburt von Kindern bei Frauen in Konkurrenz zur Berufstätigkeit steht. Die vierte Beschreibungskomponente besteht in der Reversibilität und Wiederholbarkeit von Übergängen. Sackmann und Wingens (2001: 27) weisen darauf hin, dass die Reversibilität von Übergängen immer nur relativ in dem Sinne sei, dass zwar einige Folgen des Übergangs rückgängig, der Übergang selbst aber nie „ungeschehen“ gemacht werden könne. Eine Scheidung beispielsweise habe abermaliges Alleinleben zur Folge, der Status einer geschiedenen sei jedoch ein anderer als der einer ledigen Person; zudem würden solche Übergänge, die vorherige wieder aufheben, zumeist sanktioniert.52 51
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Die hier vorgenommenen Modifikationen liegen nicht direkt in der Übertragung auf den Übergangsbegriff begründet, sondern in der zu großen Überschneidung zwischen Heinz’ erster und zweiter Beschreibungskategorie von Statuspassagen. Hier wurde eine Komponente des zweiten Kontinuums dem ersten zugeschlagen, wodurch die Einteilung an Klarheit gewinnt. Sackmann und Wingens schlagen deswegen vor, den Begriff der Reversibilität durch den des Richtungswechsels zu ersetzen. Meines Erachtens schwingt hier jedoch schon zu sehr eine (mögliche) objektive und/oder subjektive Bedeutung des Übergangs mit, die mit dem technischeren Ausdruck „Reversibilität“ vermieden wird.
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4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs
Heinz ordnet jeweils einem Pol der vier Kontinua die individuelle Handlungsfähigkeit (agency), dem anderen die Struktur zu. Damit ist gemeint, dass der individuelle Handlungsspielraum umso größer ist, je geringer die Kontrolle durch Institutionen und Organisationen, je höher der Bewusstseinsgrad, je geringer die Interdependenz zu anderen Statuspassagen und je größer das Ausmaß der Reversibilität von Übergängen sind. Dagegen ist bei Übergängen mit hoher institutioneller Kontrolle, geringem Bewusstheitsgrad, hoher Interdependenz und geringer Reversibilität davon auszugehen, dass die Wirkung der Strukturen entscheidender ist als die der individuellen agency. Übergänge neigen aber nicht immer in allen vier Kategorien der gleichen Richtung zu. Es sind ebenso Kombinationen von einander entgegengesetzten Ausprägungen denkbar. Ein hoher Bewusstseinsgrad geht z. B. häufig mit großen institutionellen und geringen individuellen Kontrollmöglichkeiten einher.
4.3 Gatekeeping und Gatekeeper Bei der Kontrolle über bestimmte Übergänge und ihre Gestaltung spielen Gatekeeper eine Schlüsselrolle. Sie stehen am Schnittpunkt von Individuum und Institution (Heinz 1992a) und entscheiden über „Gestaltung, Beurteilung, Gewährung und Nicht-Gewährung von Statuskontinuität und Übergang“ (Struck 2001: 30). Anders ausgedrückt stellen sie im institutionalisierten „Übergangssystem“ (ebd.) das Scharnier dar, an dem allgemeine Regelungen auf den Einzelfall angewandt werden. In Gatekeepern bekommen die so amorphen „Strukturen“, von denen hier immer wieder die Rede ist, ein Gesicht und eine konkrete Praxis. Jedoch: Bei einer weiten theoretischen Fassung von Übergängen gilt, dass nicht jeder wichtige Übergang auch mit Gatekeeping-Prozessen verbunden ist, wie das Beispiel des Auszugs aus dem Elternhaus (sowohl als Übergang für die Kinder als auch für die Eltern) vor Augen führt. Manchmal beschränkt sich Gatekeeping auf die Prüfung bestimmter Rahmenbedingungen, die zum Durchlaufen des Übergangs erfüllt sein müssen, übt aber nur eine schwach selektierende Funktion aus, wie etwa bei eheschließenden Standesbeamten oder bei der Geburt von Kindern. Nach Struck (2001) haben Gatekeeper die Aufgabe, knappe oder knapp gewordene Güter zu verteilen. Diese Güter können in finanziellen oder materiellen Zuwendungen, in einem rechtlichen Status (verheiratet, geschieden)53, in beruflichen Positionen, in Ausbildungsplätzen oder Titeln und Zertifikaten bestehen. Gatekeeping hat im Zuge der Ausdifferenzierung von Gesellschaften an Bedeutung gewonnen, da Übergänge immer seltener in Form von kollektiven, wenig selektiven Ritualen vollzogen werden. Die funktionale Differenzierung und immer stärkere Spezialisierung sozialer Rollen (z. B. im beruflichen Bereich) erfordern stärkere Selektion von Individuen für bestimmte soziale Positionen. Der Bedeutungszuwachs von Gatekeeping-Prozessen ist auch als Teil der oben beschriebenen Individualisierungsprozesse beschreibbar: Es handelt sich um einen Mechanismus, der 53
Dieses Beispiel macht deutlich, dass „Güter“ hier weit gefasst werden muss. Die Knappheit eines bestimmten rechtlich gültigen Familienstandes folgt zum einen aus der Knappheit potentieller Ehepartner, zum anderen daraus, dass nur bestimmte Stellen diesen Familienstand erteilen können. In diesem Beispiel war das betreffende Gut in früheren Zeiten (als der Eintritt in die Ehe an einen bestimmten materiellen Status geknüpft war) weitaus knapper.
4.3 Gatekeeping und Gatekeeper
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Individuen als einzelne direkt und ohne Zwischenschritt über Kleingruppen vergesellschaftet, indem ihnen bestimmte Leistungen, Ansprüche, Defizite, Pflichten oder Rechte individuell und nach festgelegten Kriterien zugerechnet werden. Mit Struck und gegen Behrens und Rabe-Kleberg (2000) werden als Gatekeeper hier nur „Schlüsselpersonen mit Entscheidungsautorität in der Vermittlung von Individuum und Organisation“ verstanden, die als „ ‚Zugangswärter’ […] an den Grenzen gesellschaftlicher Teilräume die Anforderungen zum Durchschreiten dieser Räume durchsetzungsstark und definitionsmächtig repräsentieren“ (Struck 2001: 37). Davon unterschieden werden müssen nach Struck vor allem Personen, welche als „Sozialisationshelfer“ (Hervorh. im Original) diejenigen begleiten, die den Übergang durchlaufen sollen. Obwohl die Funktionen des Gatekeepings und der auf Übergänge vorbereitenden oder sie begleitenden Sozialisation oft in einer Person vereinigt sind –etwa bei Lehrern oder Professorinnen, die Stoff vermitteln und auch Prüfungen abnehmen –, müssen sie deutlich auseinander gehalten werden. Gatekeeping läuft wie Übergänge im Allgemeinen unterschiedlich stark formalisiert ab. Dabei wird zwischen den Interessen der Organisation, die die gewünschten Leistungen, Güter etc. bietet, und ihrer einzelnen Abteilungen, Mitglieder oder Initiatoren sowie denen der Übergangsklienten vermittelt. Auch bei einem hohen Formalisierungsgrad der Regelungen dazu, wer unter welchen Bedingungen zugelassen wird, verfügen Gatekeeper über nicht zu unterschätzende Ermessensspielräume (Struck 2001: 38f). Oben wurden mit Richtern und Personalverantwortlichen Beispiele dafür gegeben, in welcher Weise Normen des institutionalisierten Lebenslaufs in diesen Spielräumen ausschlaggebend sein können. Hier kommt das Spezialwissen der Gatekeeper zum Zuge, das sie zur Selektion befähigt und legitimiert. Viele Positionen des Gatekeeping zeichnen sich durch starke Professionalisierung aus, wie die Beispiele der Lehrer, Professoren (Sørensen 1992) und der psychologischen oder juristischen Gutachter54 illustrieren. Trotz der hohen Spezialisierung gelten beim Gatekeeping allgemeine normative Kriterien, die Struck (2001: 44f) unter den beiden Leitnormen Gerechtigkeit und Effizienz zusammenfasst. Diese Leitnormen werden in der Praxis nie vollständig erfüllt (Stone 1991: 204).55 Dennoch legitimieren Gatekeeper ihre Position dadurch, dass sie sie anstreben. Behrens’ und Rabe-Klebergs (2000) Typologie von Gatekeepern wird zwar mit der gerade geschilderten engen begrifflichen Fassung hinfällig. Dennoch beschreiben die die von ihnen ausgemachten Kriterien für Gatekeeper – Formalisierung und Dichte der Interaktion (2000: 111) – Unterschiede zwischen verschiedenen Arten des Gatekeeping. Dieses erfolgt häufig hoch formalisiert, weil damit sowohl eine größere (Verfahrens-)Gerechtigkeit als auch eine höhere Effizienz verbunden ist. Andererseits gibt es Qualifikationen und Selektionskriterien, die mit formalisierten Verfahren nur schwer zu erfassen sind. Ebenso sind Kombinationen denkbar, bei denen (z. B. in Bewerbungsverfahren) auf Basis hoch formalisierter Prozeduren mit geringer Interaktionsdichte zunächst eine Vorauswahl an Über54 55
Für entsprechende Beispiele vgl. Heinz (1992b), Struck (1998), Stone (1991). Stone stellt die These auf, dass bei Gatekeeping-Prozessen ein Ideal „klinischer Vernunft“ angestrebt werde, indem (scheinbar) wie bei ärztlichen Entscheidungen vorgegangen wird. Dies gilt in meinen Augen so eindeutig nur in Bezug auf die Klasse des Gatekeeping, in der bestimmte Problemsituationen und Abweichungen gesellschaftlich verarbeitet werden, wie es zum Beispiel bei vorübergehender oder dauerhafter Arbeitsunfähigkeit, bei verhaltensauffälligen Kindern o. ä. der Fall ist. Für sehr weit verbreitete Übergänge wie z. B. denen ins Ausbildungssystem passt diese Leitidee weniger.
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4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs
gangsaspiranten getroffen wird, um aus dieser Gruppe in weniger formalisierter Weise und im direkten Gespräch eine Person auszuwählen, die gut in ein Team passt. Auch bei Lehrern sind beide Komponenten zu finden: Klausuren stellen zwar ein formalisiertes Verfahren zur Leistungsbewertung dar, gleichzeitig fließen dabei aber (bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt) auch zwangsläufig Erfahrungen und auf diesen basierende Typisierungen des Schülers in die Beurteilung mit ein. Ein weiterer Einflussfaktor sind neben dem professionellen Wissen des Gatekeepers, seinem Ermessensspielraum und seiner Orientierung an Leitnormen die Rahmenbedingungen des Gatekeepings. Hier beeinflussen Organisationskulturen und -interessen sowie variierende strukturelle Beschränkungen und Ressourcen das Gatekeeping (Struck 2001: 47) – ein Personalverantwortlicher kann beispielsweise nur eine vorgegebene Zahl von Stellen besetzen oder manchmal auch gar keine. Zum Teil sind diese Rahmenbedingungen aus früheren Gatekeeping-Entscheidungen zu erklären: Der Bedarf einer Organisation an neuen Mitgliedern kann zum Beispiel durch vergangene „großzügige“ Entscheidungen mit geringerer Selektivität fürs Erste gedeckt sein. Vor dem Hintergrund der hier geschilderten Bedeutung von Gatekeepern ist es erstaunlich, wie selten sie empirisch untersucht werden (vgl. den Überblick von Heinz 1992a und 1992b; Struck 2001). Gerade ihre Vermittlungsrolle kann das Zusammenspiel zwischen Struktur und Handeln illustrieren, denn: „Gatekeeper strukturieren und sind eingebunden in Strukturen“ (Struck 2001: 47).
4.4 Sequenzen und Verläufe Die subjektive und objektive Bedeutung eines einzelnen Übergangs ist meist nur im Kontext anderer, mit ihm direkt oder indirekt verbundener Übergänge begreifbar. Oft finden frühere Übergänge Eingang in den Gatekeeping-Prozess, beispielsweise in Form von Zeugnissen. Den Zusammenhang verschiedener Übergänge fokussieren die Begriffe Sequenz und Verlauf. Sequenzen des Lebenslaufs bestehen aus mehreren Übergängen, Verläufe aus mehreren Sequenzen. Die beiden Konzepte sind also zwischen dem Gesamt-Lebenslauf und einzelnen Übergängen zu verorten. Sequenzen sind im Vergleich zu Verläufen relativ klar bestimmbar: Sie beinhalten mindestens zwei Übergänge. Sozialpolitische Regelungen richten sich, so Sackmann und Wingens (2001) eher auf Sequenzen als auf Gesamtverläufe, so dass die Analyse einzelner Sequenzmuster hier besonders fruchtbar ist. Mit Hilfe der Sequenzmusteranalyse wird die Abfolge von Zuständen auf Regelmäßigkeiten untersucht. Die methodische Erweiterung des optimal-matching-Verfahrens bezieht darüber hinausgehend die Dauer der betrachteten Zustände ein (Erzberger 2001). Die Vielzahl möglicher Sequenzen, d. h. möglicher Verknüpfungen von Übergängen ist mit Hilfe von Typologien reduzier- und klassifizierbar. Dabei muss die Bedeutung der einzelnen Sequenztypen vorher theoretisch geklärt werden, um empiristische Beschreibungen zu vermeiden. Sackmanns und Wingens’ heuristische Typologie enthält fünf Sequenztypen, die jeweils zwei oder drei Zustände umfassen (wobei die Großbuchstaben jeweils einen Status bezeichnen): Zwischenstatus (A-B-A), Wechselstatus (A-B-C), Brückenstatus (A-AB-B), Folgestatus (A-BAB), Statusbruch (A-B). Der Vergleich des ersten und des letzten Typs zeigt, dass die Typen sich nicht gänzlich ausschließen, sondern dass bestimmte Übergänge in Abhängigkeit
4.4 Sequenzen und Verläufe
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von der Länge der betrachteten Sequenz und dem theoretischen Kontext unterschiedlich typisiert werden können – deswegen muss Betrachtung theoriegeleitet erfolgen. Sequenzen sind also künstlich isolierte Teilstücke von Lebensverläufen, deren Vorgeschichte jeweils nicht ausgeklammert werden darf. Sie ist im Prozessgedächtnis der Sequenz bzw. der einzelnen Zustände in Form von „Erfahrungen, Identitäten sowie […] angesammelten Ressourcen (z. B. Humankapital, Netzwerke)“ enthalten (Sackmann & Wingens 2001: 36) und wird etwa beim Gatekeeping relevant. Ebenso wie die Verweildauer ist die erwartete zukünftige Dauer der Zustände in der Analyse zu berücksichtigen, da diese bei der biographischen Planung eine Rolle spielt. Die weitere Einordnung von Sequenzen in den sozialen Kontext erfolgt über den Rückbezug beispielsweise auf Altersnormen: Sequenzen können in Hinsicht auf „die richtige Zeit“ und „den richtigen Zusammenhang“ als abweichend oder nicht-abweichend beschrieben werden. Als strukturelle Rahmen sind außerdem die Zeitfenster wichtig, die für den Vollzug bestimmter Sequenzen (z. B. der Ausbildung und Bildung) vorgegeben sind. Verläufe sind im Vergleich zu Sequenzen schwerer inhaltlich abzugrenzen. Ein Verlauf ist eine Gesamtheit von Übergängen, die ein bestimmtes Muster oder eine bestimmte Richtung aufweist. Diese grobe Umschreibung wird unterschiedlich gefüllt, je nachdem, welche Bedeutung einzelnen Übergängen beigemessen wird. Sackmann und Wingens (2001: 23f) unterscheiden drei verschiedene Ansätze: Die erste Gruppe nimmt an, dass die Gestalt eines Verlaufs entscheidend durch ein prägendes Ereignis geformt wird. Diese Idee liegt schon dem Mannheimschen Generationenbegriff zugrunde (Mannheim 1928) und lebt in einigen Ansätzen der Sozialisationsforschung sowie in Kohortentheorien verschiedener Couleur fort. In klassischen Studien der Lebenslaufforschung (Elder 1974) wird beispielsweise die prägende Kraft historischer Ereignisse untersucht. Andere Arbeiten betonen die bestimmende Wirkung von Übergängen in den Bildungsbereich und aus ihm heraus – diese Passagen haben den Charakter von „sensiblen Phasen“ des Lebenslaufs oder auch von Weichenstellungen (z. B. Mayer 1988b; Blossfeld 1989, 1990; Scherer 2004). Die Prägekraft dieser Phasen hängt eng mit den institutionellen Arrangements zusammen: So ist etwa die formative Wirkung der Ausbildungsphase in einem stark standardisierten Ausbildungssystem wie dem deutschen größer als anderswo. Die genannten Studien machen voneinander divergierende Aussagen dazu, inwieweit beschriebene Prägungen unwiderrufbar oder reversibel sind. Erklärt werden kann die formgebende Kraft unter Rückgriff auf eines der vier Systematisierungskriterien für Übergänge (Heinz 1996): Je größer die Interdependenz eines Übergangs ist, desto wahrscheinlicher wird er von einem oder mehreren früheren Übergängen geprägt. Weniger deterministisch als die Idee der verlaufsprägenden Ereignisse ist das Wendepunktkonzept, das Sackmann und Wingens als zweite theoretische Möglichkeit nennen, das Verhältnis von Übergängen und Verläufen zu denken. Hier werden die Reversibilität von Übergängen oder „Richtungswechsel“ (Sackmann & Wingens 2001: 27) explizit einbezogen. Gegen die Idee eines einzigen prägenden Ereignisses wird angenommen, dass meist eine Kombination von Übergängen den Gesamtverlauf formt. Wendepunkte können sowohl nach objektiven als auch nach subjektiven Kriterien ausgemacht werden. Dies macht den Begriff sowie die Lokalisierung von Übergängen jedoch unpräzise. Die dritte Konzeption für das Verhältnis von Übergängen und Verläufen geht „forschungslogisch von der Priorität der Gesamtgestalt eines Verlaufs aus“ (Sackmann & Wingens 2001: 28). Dieser Vorrang wird unterschiedlich akzentuiert, wenn von Trajekten,
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4 Übergänge als Kristallisationspunkte des normierten Lebenslaufs
Karrieren oder Biographien die Rede ist. Unter Trajekt bzw. Verlaufskurve versteht Schütze (1981) einen Verlauf, in dem ein Verlust der Handlungskompetenz erlebt wird (z. B. bei Alkoholikern) – es handelt sich also um einen speziellen Fall. Allgemeiner formuliert sind Lebensläufe auch durch Abfolgemuster von Kontrollzyklen charakterisierbar, in denen jeweils ein Kontrollgewinn oder -verlust über die Steuerung der eigenen Biographie erlebt wird (Heinz & Krüger 2001: 35). „Karrieren“ benennen im Kontrast zum alltäglichen Sprachgebrauch nicht allein durch Statusgewinn gekennzeichnete Berufsverläufe, sondern auch die zusammenhängende Abfolge von Ereignissen im familiären Bereich oder Devianz-Verläufe. Biographien schließlich bestehen – wie oben schon erläutert – in der um Kohärenz bemühten Deutung des Lebenslaufs durch das Individuum. Sackmann und Wingens nennen kein Konzept, das einen umfassenden Verlauf in objektiver Weise charakterisierte. Die Vorstellung des institutionalisierten Lebenslaufs bezieht sich auf Gesamtverläufe und geht davon aus, dass die in ihnen enthaltenen Übergänge in komplexer Weise zusammenwirken. Dabei wird nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass einzelne Übergänge den gesamten Verlauf prägen; jedoch liegt der Akzent auf der (empirisch schwer umsetzbaren) Betrachtung des Verlaufs als ganzheitlichem Muster. Die Einteilung der unterschiedlichen Verlaufskonzeptionen von Sackmann und Wingens ist insofern problematisch, als die möglichen Beziehungen zwischen Verlauf und Übergang als einander ausschließend dargestellt werden. Für verschiedene Bereiche des Lebens, für verschiedene historische Zeiten oder für verschiedene Personengruppen sind aber jeweils unterschiedliche Kombinationen von Verhältnissen denkbar. Nur in einer solch weiten Perspektive kann die Dynamik von Lebenslaufregimes in den Blick kommen.56
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Das käme der „holistischen“ Kritik an der Lebenslaufforschung entgegen, die Sackmann und Wingens (2001: 30ff) am Beispiel Andrew Abbotts illustrieren. In dieser Diskussion, die hier nicht im Einzelnen verfolgt wird, geht es auch um das methodische Problem der Erfassung von Gesamtverläufen.
5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs
In allen bisher diskutierten Theorien und Studien geht es unter anderem darum, das Timing von Übergängen zu erklären. Timing meint hier allein die zeitliche Gestaltung von Lebensläufen durch wen oder was auch immer. Es bleibt also offen, wovon diese Formung ausgeht, d. h. es handelt sich dabei oft nicht um die intentionale Gestaltung durch Individuen. Dieses Timing kann standardisiert sein oder auch nicht.57 In diesem Kapitel werden zusammenfassend die wichtigsten Bedingungen erläutert, die Übergänge zeitlich und in sonstiger Hinsicht formen und damit die zeitliche Struktur von Lebensläufen verändern können. Das Eintreten oder Nicht-Eintreten eines Übergangs kann aus den einander ergänzenden „Push-Faktoren des Ausgangszustands“ und „PullFaktoren des Zielzustands“ erklärt werden (Struck 2001: 31). Da sie später in Bezug auf einzelne Übergänge konkreter behandelt werden, bleibt die Darstellung der Einflussfaktoren relativ grob. Ausgehend von den bisherigen Ausführungen wird so ein Analyserahmen geschaffen, der nicht mit einem empirisch überprüfbaren Modell gleichzusetzen ist: Dazu sind die Einflussbereiche zu schlecht voneinander abgegrenzt. Zudem ist die Darstellung zu wenig detailliert und notwendigerweise unvollständig. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die im Folgenden zusammengefassten Einflussfaktoren zu ordnen.58 Ihre Darstellung entspricht einem Durchgang durch die Makro-, Meso- und Mikro-Ebene, wobei die kulturelle Ebene (5.1) alle anderen durchdringt. Ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Ordnungskriterium ist die Frage, wie weit das den Lebenslauf durchlaufende Individuum Einfluss auf oder gar Kontrolle über die genannten Kräfte ausüben kann, d. h. ob sie seiner bewussten und intentionalen Gestaltung offen stehen. Diese Kontrollmöglichkeiten sind auf der Mikroebene größer als auf der Makroebene – dies gilt jedoch allein der Tendenz nach, wie die Beispiele der individuellen natürlichen Rahmenbedingungen und der individuellen Pfadabhängigkeiten zeigen werden. Einige Einflussfaktoren wirken jenseits der subjektiven Deutungen der Individuen, andere können von den subjektiven Konstruktionen beeinflusst werden und wieder andere werden von ihnen konstituiert. Einzelne Übergänge und ihr Timing können jeweils mit einer Mischung der unten dargestellten Einflussfaktoren erklärt werden. In diesem Mix ist das Gewicht der unterschied-
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Im Widerspruch zu Brose et al. (1993: 43) wird in dieser Arbeit „Timing“ damit nicht als Gegensatz zu Standardisiertheit begriffen. So unterscheidet Mayer (2004: 164ff) institutionelle Effekte entsprechend Punkt 5.3, die interne Dynamik des individuellen Lebenslaufs (Punkt 5.5) sowie Kohorteneffekte (teilweise Überschneidung mit Punkt 5.2). Die in Abschnitt 5.4 genannten Einflüsse kommen bei ihm nicht vor. Vgl. auch die eher stichwortartige, aber ähnlich gelagerte Einteilung bei Heinz und Krüger (2001).
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5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs
lichen Einflüsse jeweils unterschiedlich groß. In bestimmten Lebensphasen spielen sie eine dominierende, in anderen gar keine Rolle. Zusammen bilden sie die generative Grammatik (Heinz & Krüger 2001: 39) des Lebenslaufs, d. h. das Gesamt der Regeln und Mechanismen, welche ihn in seiner jeweiligen Gestalt hervorbringen. Spinnt man diese Metapher des Lebenslaufs als Text weiter, so tauchen bestimmte Satzbausteine und semantische Motive immer wieder auf, nämlich die normativen Komplexe von Alter, Geschlecht und (am wenigsten explizit) Umgang mit Zeit. Bevor ich in Abschnitt 5.2 bis 5.5 zu den einzelnen Einflussebenen komme, welche die generative Grammatik des Lebenslaufs ausmachen, werden diese auf allen Stufen wirksamen Normen zusammenfassend erläutert.
5.1 Die kulturelle Ebene: Altersnormen, Geschlechterrollen, Zeitkultur Fast alle weiter unten aufgeführten Institutionen und Einflussbereiche sind eingebettet in die kulturelle Ebene der handlungs- und wahrnehmungsleitenden Normen und Werte. Diese kommen dort zur Entfaltung, wo die jeweiligen Institutionen individuelle Lebensläufe regeln – sie finden Niederschlag in gesetzlichen und anderen Vorschriften, in der Praxis der Gatekeeper, in den Leitbildern institutioneller Steuerung (Leisering et al. 2001b) und nicht zuletzt in der individuellen Entscheidungspraxis. Bei Übergangsentscheidungen wirken Normen und Werte neben anderen Mechanismen zum einen oft selektierend: Unter Rückgriff auf sie wählen Individuen einen oder einige wenige aus einer Vielzahl von möglichen Pfaden aus. Zum anderen haben alle früheren Entscheidungen selbst wiederum einen Effekt auf normative Überzeugungen, indem sie sie verstärken oder zu einer Abwendung von ihnen führen (Lesthaeghe & Moors 2002: 1). Der institutionalisierte Lebenslauf als bündelnde Institution fasst die betreffenden Normen und Werte zusammen und „unterfüttert“ sie z. B. über typische biographische Deutungsmuster. Schon diskutiert wurden Zuschreibungsmuster individueller Verantwortlichkeit: Das Vorhandensein und die Ausgestaltung dieses Wertekomplexes bestimmen, ob der individuelle Akteur selbst als Gestalter seines Lebenslaufs oder ob er als den Verhältnissen, dem Schicksal oder den Göttern ausgeliefert betrachtet wird. Des Weiteren sind Altersnormen, Geschlechterrollen und Normen für den Umgang mit Zeit die wichtigsten normativen Komplexe – womit längst nicht alle genannt sind, die einen Einfluss ausüben.59 Alle spielen im bisherigen westdeutschen Lebenslaufregime eine hervorragende Rolle, allerdings nicht als widerspruchsfreie Einheit, sondern als einander teilweise ergänzendes oder unterstützendes, teilweise widersprechendes Geflecht von Vorgaben. Altersnormen (Neugarten et al. 1978; Riley 1986) geben Spielräume dafür vor, zu welchen Zeiten im individuellen Lebenslauf welche Aktivitäten und Übergänge legitim oder geboten sind. Starke Abweichungen werden sanktioniert bzw. sind schlicht nicht möglich. Das chronologische Moment des institutionalisierten Lebenslaufs (Kohli 1985) macht das in Kalenderjahren gemessene Alter zu einem der Hauptkriterien, über welches das Indivi59
Zuschreibungsmuster individueller Verantwortlichkeit werden in den Abschnitten zu Individualisierung ausführlicher beschrieben (vor allem in 2.3); andere einflussreiche Komplexe sind etwa Leistungsstreben und Pflichterfüllung.
5.1 Die kulturelle Ebene: Altersnormen, Geschlechterrollen, Zeitkultur
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duum vergesellschaftet wird.60 Dies ist nur der Endpunkt eines historischen Prozesses, in dessen Zuge sich etwa die Kenntnis des eigenen Geburtstages und Lebensalters nach und nach durchgesetzt haben (Schmeiser 2006). Der Grad der Sanktionen bei Abweichungen von Altersnormen variiert und geht in vielen Bereichen nicht über eine gewisse Missbilligung hinaus, z. B. bei nicht altersgemäßer Kleidung oder anderen Formen nicht altersgemäßen Verhaltens. Über die Bedeutung und Reichweite von Altersnormen wird gestritten – andere normative Regelungen, wie z. B. solche der sequentiellen Ordnung wirken sich zumindest gegenwärtig deutlicher und folgenreicher als Altersnormen (Mortimer et al. 2005) aus. Am wenigsten systematisch untersucht ist bisher der Einfluss von Normen des Umgangs mit Zeit auf die Gestalt von Lebensläufen (Voges 1987; Oechsle & Geissler 1993). Altersnormen bilden, genau genommen, eine wichtige Untergruppe dieses Komplexes. Arbeitsmarkt, Bildungssystem und der Wohlfahrtsstaat setzen einen bewussten, planenden Umgang mit Zeit voraus, der an Maßstäben der Effektivität orientiert ist – insofern hat sich das Zeitverwendungsmuster der protestantischen Ethik mit dem institutionalisierten Lebenslauf voll entfaltet. Während Altersnormen ein Muster dafür vorgeben, welches Alter das beste für bestimmte Übergänge ist, bieten Normen des Umgangs mit Zeit Maßgaben dafür, wie lange bestimmte Zustände idealiter dauern, z. B. wie schnell man Ausbildungen abgeschlossen haben sollte, in welchem Rhythmus und mit welchen Begründungen berufliche Auszeiten legitim sind usw. Selbst für Lebenszyklen, die durch (tendenziellen) Kontrollverlust gekennzeichnet sind, gibt es ideale Dauern; wenn diese überschritten werden, sind beispielsweise bestimmte wohlfahrtsstaatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld ausgeschöpft und es erfolgt ein Statuswechsel etwa von krankheitsbedingt verminderter Erwerbsfähigkeit zur Rente. Es besteht eine gewisse Verwechslungsgefahr zwischen Normen der Verweildauer in bestimmten Zuständen und (damit potentiell überbewerteten) Altersnormen (Behrens & Voges 1996: 27): Sind vorhergehende Übergänge altersmäßig standardisiert, so sind bei starker Verankerung von Normen für Verweildauern in bestimmten Zuständen auch spätere Übergänge auf einen engen Alterszeitraum konzentriert, ohne dass deswegen entsprechende Altersnormen bestehen müssten. Schließlich wirken Geschlechternormen, die teilweise über den Lebenslauf verankert sind, sozusagen in Brechung mit den anderen normativen Komplexen (z. B. Born & Krüger 1993, 2001a; Krüger 1991, 2001; außerdem: Wetterer 1995; Hagemann-White 1994; Gildemeister & Wetterer 1992). Geschlechternormen verdichten sich zu einer Geschlechterkultur. Diese wiederum findet ihren Ausdruck in konkreten Regelungen, der Geschlechterordnung (Pfau-Effinger 2000). Erziehungsaufgaben werden z. B. Frauen zugeschrieben, so dass Erwerbsunterbrechungen aufgrund solcher Aufgaben bei Frauen akzeptierter als bei Männern sind. Gleichzeitig ist das ökonomische Leitmodell das männliche mit einer fortlaufenden Erwerbstätigkeit, so dass ein typisch weiblicher Lebenslauf mit kindbedingten Unterbrechungen durch finanzielle Nachteile indirekt sanktioniert wird – es sei denn, dies wird durch die Kopplung an den Lebenslauf eines in Vollzeit erwerbstätigen Ehepartners ausgeglichen.
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Bei Riley et al. (1972) ist damit außerdem noch die Vorstellung einer nach Alter stratifizierten Gesellschaft verbunden. Für eine solch rigide Altersstratifizierung finden sich jedoch kaum Belege.
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5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs
Diese und andere normativen Komplexe schlagen sich in verschiedensten Formen, d. h. als Gesetze, informelle Regelungen, Typisierungen etc. in mindestens einigen der Einflusssphären nieder, die in den nächsten Abschnitten beschrieben werden. Sie gehen indes nicht in den hier beschriebenen Sphären auf, sondern sind in weiteren verankert – man denke etwa an ihre mediale Verbreitung. Je nachdem, in welcher Form sie dies tun, sind sie offener oder weniger offen für individuelle oder interaktive Deutung und Gestaltung. Alle sind außerdem Veränderungen unterworfen, die in Kapitel 6 diskutiert werden.
5.2 Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen struktureller Art Vor allem Kontinuitätsbrüche wie der Zweite Weltkrieg, die Transformation der ehemaligen Ostblockstaaten oder starke Rezessionen stellen vom Individuum kaum kontrollierbare Einflüsse dar, die die Gestaltung von Lebensläufen durchgreifend verändern. Die Wirkung solcher Kontinuitätsbrüche wird vor allem über den Vergleich der Lebensläufe verschiedener Kohorten nachvollzogen (Mayer 1990, 1995; Blossfeld 1990: 129). Oft sind Umwälzungen noch Jahrzehnte später in die Lebensläufe der entsprechenden Geburts-, Ausbildungs- oder Heiratsjahrgänge eingeschrieben, manchmal werden entsprechende Effekte auch ausgeglichen (Elder 1974). Eine besondere Gruppe dieser Einflüsse auf das Timing von Lebensläufen sind demographische. So entscheiden etwa die Größe von Geburtsjahrgängen oder ihr Geschlechterverhältnis mit darüber, welche Chancen diesen später im Ausbildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Heiratsmarkt zukommen. Sehr geburtenstarke Jahrgänge sind bei gleichbleibender Anzahl von Ausbildungs- oder Arbeitsplätzen unter bestimmten weiteren Bedingungen einer größeren Konkurrenz als andere Kohorten ausgesetzt (Sackmann 1998: 89-149; Blossfeld 1989: 28). In ähnlicher Weise haben Verrentungsprozesse einen Einfluss auf das Angebot an Arbeitsplätzen (Sackmann 1998: 150-176). Ein direkter Schluss von demographischen Strukturen auf die Chancen einzelner Generationen ist nicht zulässig, da alle weiteren, vermittelnden Einflussfaktoren ebenso wie die demographischen Strukturen selbst einem ständigen Wandel unterworfen sind. Viele gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen sind indes weitaus unauffälliger als die gerade beschriebenen, wie etwa technische Innovationen. Diese verbreiten sich jedoch nur über den Filter der Kultur, die letztlich über die Art ihres Gebrauchs entscheidet. Die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirken meist indirekt auf die zeitliche Gestaltung von Lebensläufen, obwohl auch direkte Effekte nicht auszuschließen sind. Dieser Einfluss kann normativ untermauert sein oder auch nicht. Beispielsweise war die Erwerbstätigkeit von Frauen während der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs faktisch sehr verbreitet. Offenbar war damit jedoch kein dauerhafter normativer Wandel einhergegangen.
5.3 Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Sozialpolitik
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5.3 Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Sozialpolitik Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen wirtschaftlicher oder demographischer Art wirken vor allem indirekt, vermittelt über die institutionelle Trias Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat. Institutionalisierte (Aus-)Bildungssysteme sowie Arbeitsmärkte sind zentrale Charakteristika moderner Industriegesellschaften, für den Wohlfahrtsstaat61 im engeren Sinne gilt das in eingeschränktem Maße. Martin Kohli (1985) macht in der Entstehung moderner Industrie- und Erwerbsgesellschaften eine der Hauptwurzeln des institutionalisierten Lebenslaufs aus und konstatiert, dass dieser um das marktförmige Erwerbssystem herum organisiert sei, welches deswegen einen der wichtigsten Strukturgeber für die Institution des Lebenslaufs darstelle (Kohli 1985, 1994a). Vom Erwerbssystem gehen maßgebliche Impulse für das jeweilige Bildungssystem und den Wohlfahrtsstaat aus. Der freie Arbeitsmarkt sowie interne Arbeitsmärkte beeinflussen mit ihrer Struktur, aus der sich Einstellungen, Entlassungen und Arbeitslosigkeit (vgl. Windzio 2001), Beförderung, Verdienst und Senioritätsregelungen ergeben, das Timing von Übergängen im Lebenslauf – und zwar nicht nur von solchen der Erwerbskarriere (für das Beispiel der Familiengründung Schaeper & Kühn 2000). Auch alltagszeitliche Charakteristika des Erwerbssystems, z. B. Arbeitszeitregelungen, die nicht direkt in Lebenszeit „übersetzbar“ sind, behindern oder befördern möglicherweise andere, etwa familiale Übergänge (Krüger 2001: 280). Das Bildungssystem, in Deutschland mit dem dualen Ausbildungssystem hoch standardisiert (Hillmert 2001), bereitet auf das Erwerbssystem vor und wird von diesem geprägt. Die Übergänge sind hier oftmals an Alterskriterien geknüpft.62 Erfolgreiche oder gescheiterte, frühe oder späte Übergänge vor allem zu Beginn der Karriere entscheiden mit über den weiteren Lebenslauf in allen Aspekten (Blossfeld 1990: 129). Einen Schwerpunkt der empirischen Lebenslaufforschung bildet die Untersuchung des Übergangs vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt (z. B. Person et al. 2005; Bolder & Witzel 2003; Hillmert 2001; Konietzka 1998 und 1999; Heinz 1991; Buchmann & Sacchi 1995; Buchmann 1989a). Sozialpolitik ist immer Lebenslaufpolitik (Leisering & Leibfried 1999: 24): Sie übt maßgeblichen Einfluss auf Lebensläufe und ihre zeitlichen Strukturen aus (Leisering 2003; Leisering et al. 2001a; Weymann 1996b; Mayer & Müller 1986, 1989). Bei wohlfahrtsstaatlichen Institutionen lassen sich alters- oder lebensphasenabhängige Ansprüche und Regelungen wie Renten oder Kindergeld von solchen unterscheiden, die unabhängig vom Lebensalter sind, wie z. B. Grundsicherung für Arbeitssuchende, Hilfe zum Lebensunterhalt oder Leistungen aus der Unfallversicherung. Während erstere an bestimmte Lebensphasen geknüpft sind oder diese wie im Falle des Ruhestands, des Mutterschutzes, des Erziehungsurlaubs bzw. der Elternzeit (Brückner & Mayer 2005: 29, Bird 2001) konstituieren, können zweitere zwar zu jedem Zeitpunkt in Anspruch genommen werden, üben aber nichtsdestotrotz eine prägende Kraft auf Übergänge aus (Marstedt et al. 2001; Milles 2000). Beide Arten von Leistungen wirken durch ein je spezifisches Gelegenheits-, Anreiz- und Sanktionssystem auf individuelle Handlungen und Entscheidungen ein. Behrens und Voges 61 62
Obwohl den Begriffen Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat und Sozialpolitik unterschiedliche begriffliche Traditionen (vgl. z. B. Lessenich 2000: 40) zugrunde liegen, werden sie hier synonym gebraucht. Zur Herausbildung des Jahrgangsklassensystems in Schulen vgl. Schmeiser 2006.
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5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs
(1996: 18f) stellen heraus, dass sozialpolitische Interventionen individuelle Lebensläufe nicht erst dann positiv oder negativ beeinflussen, wenn sie etwa zur vorübergehenden Überbrückung bestimmter Notlagen eingesetzt werden durch sie konstituierte Abschnitte einläuten. Die „sozialpolitische Primärprägung“ von Lebensläufen sorgt vielmehr dafür, dass entsprechende Regelungen auch dann auf Lebensläufe einwirken, wenn sie noch nicht oder gar nicht zum Einsatz kommen, beispielsweise indem Individuen sie schon lange vor einem möglichen Bedarfsfall in ihre Handlungsperspektiven einbeziehen. Im Gegensatz zu Bildungssystem und Arbeitmarkt findet sich hier keine alltagszeitliche Ebene. Allenfalls behindern oder unterstützen bestimmte wohlfahrtsstaatliche Leistungen die Bewältigung alltagszeitlicher Koordinationsprobleme. Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat unterliegen nur in sehr geringem Grad der individuellen Kontrolle, da Gatekeeper über die entsprechenden Übergänge wachen. Das Individuum wählt allenfalls zwischen verschiedenen vorgegebenen Übergängen oder entschließt sich dazu, bestimmte Übergänge gar nicht zu durchlaufen. Nur in Ausnahmefällen kann es die Struktur der ihm vorgegeben Möglichkeiten gestalten. Die Handlungsspielräume bei der zeitlichen Gestaltung einzelner Übergänge und Zustände variieren. Während beispielsweise in der Schule nach vorgegebenen Zeitrhythmen gelernt wird, bestehen in vielen Studiengängen gewisse Freiheiten, was Intensität, Rhythmus, Dauer und zum Teil auch Ende der Lerntätigkeiten betrifft. Mit den Institutionen Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat sind die wichtigsten Politikbereiche benannt, die das Timing von Übergängen von der Makroebene aus beeinflussen. Aus dieser Perspektive ist der Lebenslauf immer als Ergebnis konkreter Politiken zu verstehen (Leisering & Leibfried 1999: 23). Sie bilden auch die wichtigsten Erklärungskomplexe beim internationalen Vergleich von Lebenslaufregimes, da sie innerhalb einzelner Nationalstaaten relativ einheitlich sind. Mit der Regulierung oder Deregulierung von Arbeitsmärkten, der Standardisiertheit oder Nicht-Standardisiertheit von Bildungssystemen sowie dem Grad und der Art der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung variieren auch Gestaltung und Timing von Übergängen im Lebenslauf (Mayer 2001).
5.4 Organisationen, informelle Beziehungen und Lebenslauf-Verflechtungen Unterhalb der Trias von Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Bildungssystem befinden sich Bedingungen des Timings von Lebensläufen, die weniger zwischen Arbeitsmärkten-, Bildungs- und Wohlfahrtssystemen, sondern eher zwischen Organisationen, kleineren Gruppen und interindividuell variieren. Vor allem informelle Gruppen und Beziehungen sind im Vergleich zu Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat und Bildungssystem relativ offen für die Gestaltung und Deutung durch den Akteur, wenn auch gerahmt und begrenzt von den angedeuteten Makro-Bedingungen (Dornseiff & Sackmann 2003). Die Organisationsebene ist im Vergleich zum Bereich informeller Beziehungen enger an die genannten Institutionen geknüpft. Da sich hier jedoch viele wichtige GatekeepingVerfahren abspielen, ist ihr Einfluss nicht zu unterschätzen. Auf dieser Ebene werden die allgemeinen Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat ausgelegt und auf einzelne Personen bezogen, wobei es fast immer Auslegungsspielräume gibt. Die Auslegung der äußeren Bestimmungen des Gatekeepings ist jedoch nicht dem Gutdünken einzelner Personen (wie Lehrern, Personalbeauftragten, Professoren, Arbeitsamtangestell-
5.5 Die individuelle Ebene
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ten, Ärzten, Gutachtern etc.) allein überlassen, sondern wird durch die aktuelle Situation und Kultur der Organisation mitbestimmt: So gibt es beispielsweise anspruchsvolle und weniger strenge Schulen; die aktuelle wirtschaftliche Lage eines Einzelunternehmens bestimmt mit darüber, wie viele Personen neu eingestellt werden; oder es bestehen wie in Arztpraxen bestimmte Rahmenbudgets, deren Überschreitung aufgrund einer ungünstigen Patientenstruktur mit Nachteilen verbunden ist, was Einzelentscheidungen des Arztes beeinflusst. Andere Beispiele sind verschiedene Unternehmenspolitiken der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die differierende Verbreitung von Kinderbetreuungseinrichtungen und deren Angebot (z. B. Öffnungszeiten). Die Strukturierung von Lebensläufen erfolgt hier größtenteils vermittelt über formelle persönliche Beziehungen, die von Vornherein auf einen bestimmten Zweck festgeschrieben sind. Davon zu unterscheiden sind informelle persönliche Beziehungen wie die zu Freunden und Verwandten. Die stärkste Wirkung geht hier von Partnern und der Familie aus: Berufliche und familiale Übergänge werden beispielsweise zwischen Partnern abgestimmt und ausgehandelt (Han 2005; Solga & Wimbauer 2005; R. Müller 2001; Blossfeld & Drobniþ 2001). Dies gilt auch für den Rentenzugang (Allmendinger 1990; Wagner 1996; Moen et al. 2005). Dabei kann auf in der Institution der Familie verankerte und durch das Wohlfahrtsstaat- und Arbeitsmarktregime positiv sanktionierte Muster der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zurückgegriffen werden. Aber auch die Lebensläufe von Kindern und Eltern sind miteinander verknüpft, beispielsweise wenn kleine Kinder oder alte Eltern der Pflege bedürfen oder die Beziehung zu den Eltern mit darüber entscheidet, wann ein Heranwachsender aus dem Elternhaus auszieht (Goossens 2001: 30). Der Grad der Verknüpftheit des eigenen Lebenslaufs mit dem der anderen ist – so die durchgängigen Befunde – bei Frauen höher als bei Männern; die Lebensläufe von Frauen reagieren eher als diejenigen von Männern auf Elternschaft, Übergänge von Partnern oder von Kindern (Blossfeld et al. 2001). Auch Peergroups (Nazio & Blossfeld 2003: 52), kleinräumige Milieus und andere informelle Interaktionssphären wie Vereine oder Arbeitsplatzkontakte formen die zeitliche Struktur des Lebenslaufs. Hier finden sich Vorbilder für die Gestaltung von Übergängen, hier werden entsprechende Information ausgetauscht, gedeutet und verhandelt, erfolgen Typisierungen und Zuschreibungen und werden abweichende Sequenzen möglicherweise informell sanktioniert. Auf dieser Ebene nimmt die Verbreitung vieler LebenslaufInnovationen ihren Ausgang. Von der Familie einmal abgesehen, ist die genaue Rolle dieser informellen Interaktionssphären jenseits von Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat schlecht erforscht.
5.5 Die individuelle Ebene Den größten Handlungsspielraum hat der Lebensläufer hinsichtlich eigener Präferenzen, Situationsdeutungen und Erwartungen, die er vor dem Hintergrund seiner bisherigen biographischen Erfahrungen und seiner Pläne für die Zukunft ausbildet (Fischer-Rosenthal 2000; Fischer 2002). Sie entstehen nicht im gesellschaftsfreien Raum, sondern unterliegen allen oben genannten Einflussfaktoren, die an biographischen Übergängen vielfach mehr oder weniger bewusst in den Entscheidungsprozess einbezogen werden und bei Bedarf
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5 Zwischenfazit: Bedingungen der zeitlichen Struktur des Lebenslaufs
teilweise verändert werden können (etwa durch Auswanderung, Wechsel des Arbeitsplatzes, des Wohnortes etc.). Individuelle Präferenzen und Muster zur Deutung der bisherigen biographischen Erfahrungen, etwa gescheiterter Übergangsversuche, werden zum Teil in Sozialisationsprozessen erworben. Sogar intentionale Abweichungen beinhalten eine Orientierung an gelernten Normen (Wohlrab-Sahr 1993). Obwohl jeder mit unterschiedlichen Handlungsressourcen in Form von Wissen, Kontakten und Kompetenzen etc. ausgestattet ist, beinhaltet das „doing biography“ (Heinz 2002) nicht unbeträchtliche, wenn auch begrenzte Gestaltungsspielräume (Jost 2003). Die Fähigkeit, sein Leben zu planen, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu bewältigen, von Goossens (2001: 34f) als „planful competence“ bezeichnet, setzt sich zusammen aus psychischer Zuverlässigkeit und Stabilität, intellektuellen Kompetenzen und Selbstvertrauen. Sie ist gleichwohl nicht der einzige Einflussfaktor, der aus einer (entwicklungs-)psychologischen Perspektive heraus relevant sein kann für das Timing von Übergängen im Lebenslauf. Daneben wirken auch andere Dispositionen der Persönlichkeit auf einen unterschiedlichen Umgang mit den Gestaltungsmöglichkeiten hin, etwa Schüchternheit oder Stimmungsschwankungen (Goossens 2001: 36f). Einige dieser Prägungen hängen wiederum eng mit der Beziehung und den Interaktionen mit den Eltern zusammen, also mit dem Klima in der Familie. Auch diese Einflüsse sind nicht isoliert zu verstehen, sondern nur unter Einbezug ihrer Wechselverhältnisse mit etwa institutionellen Vorgaben. Natürlich-biologische Bedingungen individueller Art rahmen die zeitliche Struktur von Übergängen auf ganz eigene Art, etwa die viel beschworene biologische Uhr. Dazu gehört im Bereich des familialen Zyklus z. B. eine abnehmende Fruchtbarkeit insbesondere von Frauen, aber auch von Männern, die den Übergang in die Elternschaft im Laufe des Erwachsenenalters erschwert. Manche Krankheiten führen zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Marstedt & Mergner 1993; Fischer 1982/1986). Nur in Ausnahmefällen wie dem letzten sind körperliche Rahmenbedingungen tatsächlich übergangsbestimmend. Aber selbst in diesem Fall besteht ein gewisser Gestaltungsspielraum. Nicht zu vernachlässigen sind schließlich Determinanten unabhängig von der subjektiven Deutung, die vom Charakter des Lebenslaufs als endogenem Kausalzusammenhang (Mayer 1987: 60) herrühren. Das Timing einzelner Übergänge wird immer von früheren oder gleichzeitigen Übergängen mitbestimmt. Frühere Übergänge bestimmen die Struktur der aktuellen Übergangsmöglichkeiten, meist ohne dass der Handelnde die Wirkung ersterer aufheben könnte. Diese Pfadabhängigkeiten sind dem Individuum bewusst und werden von ihm in bestimmter Weise erfahren, oder sie wirken gänzlich hinter seinem Rücken und jenseits seiner Interpretationen. Trotz möglicher Verbindungen ist von keinem Entsprechungsverhältnis dieser „objektiven“ Effekte und den im vorherigen Punkt angesprochenen subjektiven Konstruktionen auszugehen.
5.6 Forschungsperspektiven Der geschilderte, damit eigentlich viel zu simple und statische Analyserahmen erlaubt ganz unterschiedliche Vergleichsebenen. Übergänge oder Lebensphasen innerhalb eines einzigen Lebenslaufregimes sind hinsichtlich des sie beeinflussenden Faktoren-Mix’ miteinander vergleichbar. Über Kohorten kann die Wirkung verschiedener demographischer und histo-
5.6 Forschungsperspektiven
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rischer Rahmenbedingungen erfasst werden. Der internationale Vergleich lässt die Auswirkungen der Institutionen-Trias Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat sichtbar werden, der Vergleich von Organisationen oder Organisationseinheiten verschiedene Organisationskulturen des Umgangs mit Lebenslauf und Altern, d. h. unterschiedliche Praxen des Gatekeepings. Verschiedene Milieus oder andere kleinräumige, informell organisierte soziale Aggregate zeichnen sich durch verschiedene Antworten auf das Problem der „verknüpften Leben“ (linked lives), typische Pfadabhängigkeiten und objektive Interdependenzen zwischen mehreren Übergängen auf. Von den beiden Vergleichsdimensionen Zeit und soziales Aggregat ist die erste aufgrund ihres dreifachen Aspekts besonders komplex: Gegenwärtige Unterschiede zwischen Gruppen können durch gegenwärtige Bedingungen hervorgerufen werden oder durch vergangene; bezieht man biographische Perspektiven mit ein, kommt der Zukunftsaspekt hinzu. In der Organisation des individuellen Lebenslaufs sind individuelle Zeit, Interaktionszeit, institutionelle und historische Zeit so miteinander verquickt, dass sie schwer voneinander zu trennen sind. Die Unterscheidung von Kohorten, Alters- und Periodeneffekten (Blossfeld 1986 und 1996; Mayer & Huinink 1990) spiegelt nur einen Teil des Problems methodisch wider. Auch dass die oben dargestellten Einflüsse einander nicht nur bedingen, sondern als Einflussebenen ineinander gebettet sind, stellt ein theoretisches und methodisches Problem dar, das eigentlich nur mit Mehrebenen-Analysen gelöst werden könnte. Es kann als theoretische Stärke der Lebenslaufforschung aufgefasst werden, dass sie in derart integraler Weise die Verbindungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen individuellen Lebensläufen und gesellschaftlichem Wandel aufzeigt und den Lebenslauf somit als „continuous, multilevel process“ (O’Rand 1996b) versteht. Gleichzeitig ist die empirische Forschung auf eine Beschränkung der jeweiligen Fragestellung angewiesen, die möglichst den Gesamtzusammenhang mitdenkt.
6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
In diesem Kapitel wird das in Kapitel 5 zusammengefasste Material daraufhin befragt, was es zu einer Erklärung der Destandardisierung von Lebensläufen beiträgt. Zuallererst gilt es aber zu klären, was in dieser Arbeit unter „Destandardisierung“ verstanden wird (6.1), um im Weiteren andere, verwandte Begriffe dazu ins Verhältnis zu setzen (6.2). „Destandardisierung“ kann sich auf alle möglichen zeitlichen Regelungen beziehen. Hier soll das Bezugsobjekt allein der Lebenslauf sein; später wird auf den Kontext anderer Entstrukturierungsdiagnosen eingegangen.
6.1 Die Destandardisierungsthese Ein Charakteristikum von Zeitordnungen, deren Teil der institutionalisierte Lebenslauf darstellt, ist das Ausmaß und die Art, in denen sie gesellschaftliche Prozesse standardisieren, d. h. in dem sie zum einen das Auftreten bestimmter Aktivitäten, zum anderen deren Beginn, Ende, Dauer, Abfolge und Rhythmus festschreiben. Standardisiertheit weist damit erstens den Aspekt der Universalität auf (Brückner & Mayer 2005: 32), bei dem es um die allgemeine Verbreitung von Zuständen und Übergängen geht, also um die Frage, ob bestimmte Elemente des Lebenslaufs bei fast allen, nur bei wenigen usw. auftreten. Universale Zustände und Übergänge werden von sehr vielen Gesellschaftsmitgliedern erlebt, auch wenn Standards nicht gänzlich durchgesetzt sein müssen, um Geltung zu haben. Abnehmende Universalität findet ihren Niederschlag nicht nur darin, dass einzelne Übergänge immer weniger verbreitet sind, sondern ebenso in der wachsenden Bedeutung von Zuständen, welche bestimmte Übergänge rückgängig machen (z. B. Scheidungen) oder wiederholen (z. B. Zweitausbildungen). Die Umkehrung früherer Übergänge degradiert bestimmte Zustände zu Zwischenstatus. Die Wiederholung von Übergängen ist mit Sackmann und Wingens (2001) als Folgestatus (A-B-AB) beschreibbar, wenn der vorherige Zustand weitergeführt wird, wie es etwa bei fortgesetzter Berufstätigkeit während einer Zweitausbildung der Fall ist. Ab einem bestimmten Punkt können Übergänge, die frühere Übergänge umkehren oder wiederholen, universal werden. Der zweite Aspekt der Standardisierung individueller Lebensläufe ist derjenige ihrer festgelegten zeitlichen Form, die Uniformität (Brückner & Mayer 2005: 32) des Timings von Übergängen, Zuständen, Sequenzen und Lebensläufen. Uniformität zeigt sich in deutlich erkennbaren, klar definierten Zeitpunkten oder Zeiträumen im Lebenslauf, in denen einzelne Aktivitäten erfolgen, d. h. in typischen Altersstufen für Übergänge. Geringere Uniformität bedeutet nicht nur, dass das Alter, in dem Zustandswechsel erfolgen, stärker streut, sondern ebenso, dass Übergänge weniger klar definiert sind und dass längere Übergangszeiten oder regelrechte Zwischenzustände entstehen, die von Sackmann und Wingens (2001) als Brückenstatus (mit der Statusfolge A-AB-B) bezeichnet werden. Das Ausfransen
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
der Übergänge kann in die Ausdifferenzierung neuer, uniformer Phasen (und entsprechender Übergänge) umschlagen, wenn sie einen gewissen Grad der Verbreitung erreichen. Für den Zusammenhang von mehreren Übergängen und Zuständen sind Universalität und Uniformität weniger klar zu trennen. Standardisiertheit zeigt sich etwa in der festgelegten Reihenfolge verschiedener Übergänge, genauer in der diachronen sowie der synchronen Verknüpftheit von Übergängen oder Zuständen zu Sequenzen und ganzen Lebensläufen. Bei hoher Uniformität stellen Sequenzen oder Lebensläufe relativ feste Muster dar. In dem Befund der Standardisiertheit von Lebensläufen schwingt oft die Bedeutung mit, dass der Normallebenslauf als normatives Muster in den Wissensvorräten von Individuen und in bestimmten Regeln der gesellschaftlichen Organisation verankert sei. Das hieße etwa, dass Individuen sich an diesem normativen Muster in ihren Handlungen orientieren, bei der Bewertung der Handlungen anderer auf es zurückgreifen und dass Abweichungen sanktioniert werden. Wie schon angedeutet wird „Standardisierung“ in dieser Arbeit jedoch enger gefasst. Die gerade angesprochene normative Verankerung von Lebensläufen erklärt die Standardisiertheit faktischer Lebensverläufe bereits, und zwar, wie im Kapitel zur Theorie Kohlis diskutiert, durchaus überzeugend: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs hat zur Standardisierung von faktischen Lebensverläufen geführt, erstere schlägt sich in letzterer nieder. Auch eine umgekehrte Argumentation ist denkbar: Die faktische Destandardisierung von Lebenslaufmustern treibt die De-Institutionalisierung des Lebenslaufs voran. Institutionalisierung und Standardisierung von Lebensläufen sind jedoch nicht das gleiche – auch wenn die beiden Prozesse im historischen Verlauf schwer zu trennen sind. Zwei Aspekte sind also strikt zu unterscheiden: Derjenige der faktischen zeitlichen Struktur des Lebenslaufs auf der einen Seite, und der der Bedeutung und Verankerung, mithin des institutionalisierten Lebenslaufs als normativem Modell auf der anderen. Destandardisierung bildet den Gegensatz von Standardisierung. Dabei handelt es sich im hier vorliegenden Kontext um keinen absoluten und qualitativen, sondern einen graduellen, relativen und quantitativen Gegensatz: Die Lebensläufe verschiedener Gesellschaften, verschiedener Gruppen und verschiedener historischer Zeiten sind nur im Vergleich zueinander standardisiert oder destandardisiert. Destandardisierung bezeichnet eine Verringerung oder Lockerung der zeitlichen Standards des Lebenslaufs: Erstens variieren das Alter bei bestimmten Übergängen und ihre Dauer stärker; zweitens nimmt der Verbreitungsgrad, sprich die Universalität von Übergängen, Sequenzen und Verläufen ab, während diejenige von weniger klar definierten Zwischenzuständen sowie von Wiederholungs- und Umkehrzuständen zunimmt; drittens wächst die faktische Vielfalt von Sequenzen und Verknüpfungen, zu denen Übergänge und Phasen verbunden sind. Für Martin Kohli (1985, 1986a) deutete sich zu Anfang der 1980er Jahre insbesondere im Familienzyklus, d. h. bei Heiratsalter, Heiratsneigung und Alter bei erster Elternschaft ein Wandel an. Dessen Symptome beschränkten sich jedoch auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ein durchgreifender Umschwung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht auszumachen. Dies galt umso mehr für den Arbeitsmarkt, auf dem zwar vielfältige Destandardisierungen und Flexibilisierungen registriert und vor allem diskutiert wurden. Diese resultierten aber bis dahin in den Augen Kohlis nicht in einem Ende des Normalarbeitsverhältnisses oder gar der Arbeitsgesellschaft (Offe 1983). Die soziologische Diskussion der Destandardisierung von Lebensläufen dreht sich um die Frage, ob sich diese ersten Anzeichen eines Wandels verstärkt haben und ob sich inzwischen, 20 Jahre später, die Trendwende eindeutiger abzeichnet.
6.1 Die Destandardisierungsthese
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Doch welche sind die zeitlichen und räumlichen Vergleichshorizonte der so oder mit ähnlichen Begrifflichkeiten umschriebenen Veränderungen? Betrachtet man die Institutionalisierung des Lebenslaufs als angemessene theoretische Erklärung seiner Standardisierung, so ergibt sich daraus auch der wichtigste historische Vergleichszeitraum: Die Standardisierung von Lebensläufen hat Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht – damit bieten sie sich als Vergleichsfolie an. Sie erscheinen als eine Zeit, in der die moderne Industriegesellschaft und das dazugehörige Lebenslaufmuster sich voll entfaltet haben. Die Destandardisierung des Lebenslaufs, die Anfang der 70er Jahre ihren Ausgang nimmt, ist gleichbedeutend mit der wachsenden Abweichung vom Normallebenslauf. Bezieht man jedoch das Lebenslaufregime der Zwischenkriegszeit mit ein, so sind entgegen der gängigen Lesweise die 50er und 60er Jahre auf den ersten Blick eine Ausnahme (ausführlicher vgl. Abschnitt 6.5). Der zeitliche Bezug auf diese beiden Jahrzehnte herrscht in der Debatte um Lebenslauf-Destandardisierung vor und ist in der Literatur relativ einheitlich zu finden. Ein Grund dafür besteht darin, dass dieser Zeitraum in den meisten der betrachteten westlichen Länder durch politische Stabilität und eine historisch einmalige ökonomische Prosperität gekennzeichnet ist. Geht es in allgemeiner Weise um die historischen Veränderungen von Lebenslaufmustern, so werden wie bei Kohli (1985) auch weitere Vergleichshorizonte gewählt. Mayer (2001) unterscheidet so beispielsweise mit präzisen Jahresangaben vier verschiedene aufeinanderfolgende Lebenslaufregimes. Damit wäre auch der räumliche Bezug eingegrenzt: Die Destandardisierungsdebatte wird in verschiedenen Ausprägungen für Länder der westlichen Welt geführt. Institutionell bedingt weisen verschiedene Gesellschaften voneinander abweichende Formen und Grade der Standardisierung auf. Deswegen nehmen Beschreibung und Diskussion dieser Tendenzen in unterschiedlichen Ländern jeweils einen ungleichen Stellenwert ein (Mayer 2004; Brückner & Mayer 2005). Die Entwicklungen des Lebenslaufs werden in Ländern, die von jeher ein weniger strukturiertes Ausbildungssystem besitzen, anders erklärt als z. B. in Deutschland. Einen Sonderfall, der hier nicht behandelt wird, bilden die Lebenslaufregimes in den osteuropäischen Ländern. Ihre sozialistische Vergangenheit und ihre innerhalb weniger Jahre vollzogene Transformation bringen sowohl eine andere Ausgangssituation als auch eine andere Veränderungsdynamik der Lebenslaufmuster mit sich als in den Ländern des westlichen Kapitalismus (z. B. Sydow 1995; Sackmann et al. 2000; Sackmann 2000; Breckner et al. 2000). In dieser Arbeit werden die Veränderungen der Lebenslaufmuster in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht. Damit wird der internationale Vergleich – von punktuellen Bemerkungen abgesehen – ausgeklammert zugunsten des historischen Vergleichs über verschiedene Geburtskohorten hinweg. Auch der Ausschluss des Sonderfalls Ostdeutschland geschieht zum Zweck größtmöglicher Konzentration auf eine Vergleichsebene. Diese Konzentration erlaubt es, den Gegenstand des Vergleichs mit verschiedenen Übergängen des gesamten Lebenslaufs relativ breit anzulegen und die Analyse erst im letzten Schritt auf einen einzigen Komplex von Übergängen beschränken. Aufgrund der eben ausgeführten Probleme der Interpretation historischer Gegenüberstellungen wäre eine Erweiterung des Vergleichszeitraums auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wünschenswert, die Datenlage ist für diesen Zweck jedoch größtenteils zu dünn.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
6.2 Begriffe Die Diskussion um die Destandardisierung von Lebensläufen wird mit sehr unterschiedlichen Begriffen geführt. Einige von ihnen werden in diesem Abschnitt vorgestellt. In der Vielfalt der Konzepte, die aktuelle Veränderungen von Lebenslaufregimes fassen, sind zwei sich überschneidende inhaltliche Schwerpunkte auszumachen. Der erste bezieht sich auf die Uniformität des Timings von Lebensläufen. Hier ist nicht nur von Destandardisierung (MacMillan 2005; Kohli 1985, 1986a, 2003; Guillemard 1991; Siebers 1996: 28; Heinz 2002: 49; Konietzka & Huinink 2003), sondern ebenso von der DeInstitutionalisierung (Held 1986; Levy 1996: 103; Kohli 2003: 529), Entstrukturierung (Amrhein 2004; Hurrelmann 2003) oder Flexibilisierung (Amrhein 2004: 157) des Lebenslaufs die Rede. Lebensläufe zeichnen sich zudem durch „increasing fluidity“ (Heinz & Krüger 2001: 45) und erhöhte Diskontinuität aus (Heinz & Krüger 2001: 36), wodurch sie postfordistische (Myles 1992; Mayer 2001, 2004) oder – noch weitergehend – postindustrielle Lebensläufe (Mayer 2001, 2004) werden. Manchmal stellt auch die Individualisierung des Lebenslaufs das Gegenteil seiner Standardisierung (Buchmann 1989a; Weymann 1989b) dar; am Ende dieses Abschnitts wird dies gesondert diskutiert. Einige der genannten Begriffe haben mit Destandardisierung eine relative Auflösungsperspektive gemeinsam: Standards, Strukturen, der institutionelle Charakter des Lebenslaufs oder der Einfluss von Institutionen auf den Lebenslauf lockern sich, werden schwächer, lösen sich auf – nur das Objekt der Auflösung variiert. Die Bezeichnung DeInstitutionalisierung verweist, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erläutert, auf etwas ganz anderes als auf objektiv-zeitliche Destandardisierungstendenzen von Lebensläufen, nämlich auf die Auflösung der Institution des Lebenslaufs. Zum oben erläuterten Destandardisierungsbegriff verhält sich De-Institutionalisierung inhaltlich wie eine mögliche Erklärung oder wie eine weitergehende Folge. Verwendete man die beiden Diagnosen in identischer Weise, würde das ein deterministisches Verhältnis zwischen den normativen, gesetzlichen und organisationellen Regelungen und Strukturen der Institution des Lebenslaufs und dem tatsächlichen zeitlichen Ablauf individueller Leben63 implizieren: Die Auflösung der Institution des Lebenslaufs wäre notwendige Ursache oder Konsequenz der Destandardisierung. Dieses enge Entsprechungsverhältnis ist jedoch nicht zwangsläufig gegeben: Empirische Destandardisierungen der Lebenslaufmuster können mit einem Fortbestehen der normativen Orientierung am institutionalisierten Lebenslauf einhergehen (Brose et al. 1993: 170). Daneben ist De-Institutionalisierung nach wie vor eine gewisse Doppeldeutigkeit zu eigen, da entsprechend den Bedeutungen von Institutionalisierung nicht nur die Auflösung der Institution des Lebenslaufs damit gemeint sein kann, sondern ebenso eine Verringerung der Einflüsse von Institutionen auf den Lebenslauf (so gebraucht von Levy 1996).
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Brückner und Mayer (2005: 32) setzen De-Institutionalisierung mit der Auflösung vormals institutionell gerahmter und damit klar voneinander geschiedener Lebensphasen gleich. Auch hier werden Ursachen und Wirkungen vermischt, da immerhin denkbar wäre, dass Lebensphasen durch andere Mechanismen als Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat weiterhin strukturiert werden. In der Perspektive Mayers, die einen Akzent auf die drei genannten Strukturgeber setzt, ist diese Vermischung jedoch konsequent.
6.2 Begriffe
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Der von Amrhein (2004) und Hurrelmann (2003) gebrauchte Ausdruck Entstrukturierung ist dem der Destandardisierung am ähnlichsten. Bezugspunkt sind hier die zeitlichen Strukturen des individuellen Lebensablaufs, die einer Lockerung oder Auflösung unterliegen: Die verschiedenen Lebensphasen sind nicht mehr so klar wie zuvor voneinander geschieden, es gibt mehr und länger andauernde Übergangszustände, beispielsweise zwischen Abschluss der Ausbildung und Beginn der ersten Vollzeit-Erwerbstätigkeit. Der Bezug auf Strukturen legt jedoch ebenso eine Lesart in Richtung Ungleichheitsforschung nahe, etwa in dem Sinne, dass die Gestalt des individuellen Lebensablaufs weniger als früher mit der jeweiligen Position im Gefüge sozialer Ungleichheit zusammenhinge und dass vertikale soziale Mobilität verstärkt auftrete.64 Damit legt sich diese Spezifierung der Destandardisierungsthese auf ein bestimmtes Muster der Destandardisierung fest. Der Vorstellung der zeitlichen Entstrukturierung des Lebenslaufs sehr nahe liegt der Terminus Entdifferenzierung des Lebenslaufs, wie ihn Brückner und Mayer (2005: 33) andeuten. Auch er bezieht sich auf miteinander verschmelzende Lebensphasen, nachdem die Hochphase der Wohlfahrtsstaaten durch eine Ausdifferenzierung und klare Trennung wohlfahrtsökonomisch definierter Abschnitte gekennzeichnet war. Mayer und Brückner betonen allerdings, dass sie für Entdifferenzierung kein Beispiel und keinen Beleg finden. Die Diagnose der Entdifferenzierung oder Entstrukturierung ist schwer von derjenigen der Differenzierung zu trennen: Handelt es sich bei den verlängerten Übergangszeiten zwischen Ausbildung, Studium und Beruf um die Verwischung und Verschmelzung ehemals voneinander getrennter Zustände oder entsteht damit eine neue, klar abgegrenzte Phase? Eine ähnliche Diskussion wird auch in Bezug auf das höhere Lebensalter geführt, das sich nach Ansicht einiger Autoren in eine frühe, durch stabile Gesundheit gekennzeichnete Stufe und eine späte ausdifferenziert, also in ein „drittes“ und „viertes“ Lebensalter (Neugarten 1974; Kondratowitz 1998). Lenkt man den Blick von der diachronen Verknüpfung von Ereignissen und Phasen im Lebenslauf auf ihre synchrone Verbindung, so stößt man auf die auch für den Lebenslauf relevante Diskussion über die Entdifferenzierung von zentralen Lebensbereichen, nämlich von Beruf bzw. Arbeitswelt und Familie bzw. Privatleben (Hochschild 1997). Diese Auseinandersetzung um die „Entgrenzung von Arbeit und Leben“ (Gottschall & Voß 2003) mündet in die arbeits(zeit)politische Debatte um work-life-balance. Die etwas seltener gebrauchte Bezeichnung Desintegration (Konietzka 1999: 133) kann sich sowohl auf die synchrone als auch auf die diachrone Verbindung verschiedener Übergänge und Lebensabschnitte beziehen. In diesem Sinne desintegrierte Lebensläufe zeichnen sich durch eine beliebigere Reihenfolge von Zuständen und eine diversifizierte Verknüpfung von Übergängen aus. Hier schwingt zum einen das Moment der oben charakterisierten De-Institutionalisierung mit, zum anderen die negative Konnotation, dass solche desintegrierten Lebensläufe eine schlechtere soziale Einbettung der betroffenen Individuen bedeuten und diesen größere Koordinationsleistungen abverlangen. Zunehmende Flexibilisierung ist ein in Politik und Sozialwissenschaften häufig diskutierter Tatbestand. Dieses Schlagwort schillert semantisch noch mehr als die vorangegangenen: Die Flexibilisierung der Arbeitszeiten (z. B. Garhammer 1994; Hielscher & Hilde-
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Mayer & Hillmert (2004: 134) finden keine überzeugenden Beweise für diese These.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
brandt 1999) kann als ein Teil der Flexibilisierung65 der Arbeitsmärkte gesehen werden, und von dieser geht auch eine Flexibilisierungswirkung auf Lebensläufe aus: Der Umgang mit bisher streng gehandhabten, oftmals auf Zeit bezogenen Regulatorien wird gelockert bzw. diese werden aufgehoben, damit Einstellungen, Kündigungen, Arbeitszeiten etc. stärker an anderen, meist kurzfristiger schwankenden Kriterien ausgerichtet werden können als an diesen Vorschriften. Diese neuen Maßgaben sind nicht auf solche der Wirtschaftlichkeit, der Konkurrenz oder der Nachfrage beschränkt, sondern können individuellen Bedürfnissen entgegenkommen, die im Rahmen der bisher vorgegebenen Regeln nicht erfüllbar waren – diese Chance wird zumindest für Arbeitszeiten immer wieder betont (z. B. Hörning et al. 1998). Die Folgen der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte werden z. B. von Sennett (1998) negativ bewertet. Er sieht die personale Identität des flexiblen Arbeitnehmers66 und die Beziehungen zwischen den Menschen, ja den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch (Arbeitsmarkt-)Flexibilisierung gefährdet. Empirisch fundierte Studien kommen meist zu einer zumindest ambivalenten Bewertung von flexibilisierten Arbeitszeiten und -arrangements (z. B. Zilian & Flecker 1998). Flexibilisierung suggeriert, dass die Erklärung der Veränderungen des Lebenslaufs vor allem in der Dynamik von Arbeitsmärkten zu suchen sei. Deswegen, wegen seiner variierenden Bezugsobjekte, von denen der Lebenslauf nur eines darstellt, und seiner starken Wertbehaftetheit ist Flexibilisierung schlechter als Destandardisierung dazu geeignet, die hier untersuchte Dynamik zu benennen. In die inhaltliche Diskussion um die Bedingungen der Destandardisierung von Lebensläufen wird das Konzept dagegen mit Gewinn aufgenommen. Die Metapher, dass Lebensläufe sich durch steigende Fluidität (Heinz & Krüger 2001) auszeichnen, bezieht sich auf bereits beschriebene Aspekte der zeitlichen Destandardisierung von Lebensläufen. Verlängerte Übergangsstadien zwischen zwei oder das häufigere Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Zuständen verwischen deren Grenzen zueinander – früher klar voneinander geschiedene Stadien „verflüssigen“ sich damit. Das Modell des postfordistischen (Myles 1992; Mayer 2001 und 2004) oder postindustriellen Lebenslaufs (Mayer 2001, 2004) wiederum beinhaltet noch stärker als der Begriff des flexibilisierten Lebenslaufs die Annahme, dass der institutionalisierte (fordistische67) Lebenslauf an ein bestimmtes Entwicklungsstadium von Industriegesellschaften bzw. der postfordistische an dessen Ende geknüpft sei. Obwohl diese Annahme plausibel ist, schränkt sie den Erklärungskontext von Vornherein ein. Darüber hinaus sind graduelle Veränderungen mit dem Gegensatzpaar fordistischer vs. postfordistischer Lebenslauf nur schwer beschreibbar. Zwar gewinnt eine historisch verdichtete Beschreibung durch Vereinfachungen (Kohli 2003: 526), bei der Betrachtung eines aktuellen Wandels sind solche Kontrastierungen indes gewagt.68 Schreibt man aktuelle Trends in die Zukunft fort und diagnostiziert 65 66 67 68
Einen guten Überblick über die Dimensionen von Arbeitsmarkt-Flexibilisierung geben z. B. Keller und Seifert (2002: 91). Vgl. dazu auch die Kritik von Heinz (2002: 48). In der Mayerschen Typologie sind fordistischer und wohlfahrtsstaatlicher Lebenslauf gleichgesetzt, das industrielle Lebenslaufregime bezeichnet eine noch frühere Phase (ausführlicher vgl. 6.5). Beck (z. B. 1986) wird dies im Falle seiner Individualisierungsthese teilweise zu Recht vorgeworfen. Indem er die Veränderungen überzeichnet, verfällt er (stellenweise) in eine Epochenbruch-Rhetorik, die inhaltlich nicht gerechtfertigt ist.
6.2 Begriffe
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darauf aufbauend eine Trendwende oder gar einen Epochenbruch, ist die Gefahr von Fehlinterpretationen groß: Aktuelle Veränderungen können auf nur kurzfristigen Ausbuchtungen einer ansonsten stabilen und trägen Entwicklung beruhen (Kohli 1985: 23). Deswegen bietet sich der Gebrauch von begrifflichen Maßstäben an, die im Gegensatz zu dem Begriffspaar (post-)fordistischer Lebenslauf ebenso die Beschreibung gradueller Entwicklungen zulassen. Im internationalen (Querschnitts-)Vergleich dagegen können solche Begriffe, die auf die polit-ökonomischen Makrobedingungen der Struktur von Lebensläufen abzielen, mit geringerer Gefahr der Verkürzung angewandt werden, da ihre Implikationen sowie ihre Schwächen leicht überprüfbar sind (vgl. auch 6.5). Eine zweite Gruppe von Konzepten, die aktuelle Veränderungen individueller Lebensläufe erfassen, spezifiziert die zweite Dimension der Standardisierung von Lebensläufen: ihre Universalität. Mit Pluralisierung, Differenzierung und Diversifizierung sind jeweils bestimmte Muster gemeint, nach denen sich die Verteilung bestimmter LebenslaufÜbergänge, -zustände, -sequenzen und -verläufe innerhalb der Bevölkerung vollzieht. Es geht also um eine genauere Beschreibung der Diffusion von „neuen“ Lebenslaufmustern. Der Ausdruck Pluralisierung (Brückner und Mayer 2005: 33) ist vor allem in der Familienforschung gebräuchlich, wo damit die Vervielfältigung der tatsächlich gelebten Beziehungsformen (Ehe, nichteheliche Partnerschaft hetero- oder homosexueller Art, Wohngemeinschaft etc.) gemeint ist (z. B. Huinink & Wagner 1998; Klein 1999a; Wagner & Franzmann 2000; Peuckert 1999). Ebenso wie Diversifizierung (Buchmann 1989a; Konietzka 1999: 133) und Vervielfältigung hebt Pluralisierung nicht nur auf die gewachsene Heterogenität von Zuständen ab, sondern ebenfalls auf die Vervielfältigung ihrer diachronen Kombination, also von Verläufen (P. Berger 1995, 1996). Pluralisierung und Diversifizierung verweisen auf eine prinzipiell nicht begrenzte Vervielfältigung von Zuständen und Verläufen. Ist dagegen von (Aus-)Differenzierung die Rede, so wird die Zahl der „neu“69 entstehenden Lebensformen als begrenzt und in irgendeiner Weise sozial strukturiert gedacht – man denke an das schon genannte Beispiel der Ausdifferenzierung eines dritten und vierten Lebensalters. In Bezug auf die Diffusion von Lebenslaufmustern heißt das, dass diese sich nicht beliebig und zufällig pluralisieren, sondern dass sich z. B. in bestimmten Bildungsgruppen abweichende, aber in sich relativ homogene Lebenslaufmuster etablieren (z. B. Buchmann & Sacchi 1995). Beim Überblick über eine Gesamtgesellschaft entsteht so zunächst der Eindruck stark gewachsener Heterogenität. Eine nach Gruppen differenzierte Betrachtung von Lebensläufen trägt dazu bei, das dahinter liegende Verbreitungsmuster genauer zu beschreiben und wachsende Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen nicht mit einer insgesamt vergrößerten Heterogenität von Lebensläufen zu verwechseln (z. B. Kohli 1986a: 199).70 Die Grenze zwischen größerer Heterogenität und reiner Ausdifferenzierung in sich homogener Muster ist fließend. Pluralisierung und Differenzierung sind nicht unbedingt begriffliche Alternativen zu Destandardisierung, sie stellen vielmehr Spezifizierungen dar.
69 70
Tatsächlich sind die meisten der „neuen“ Lebensformen schon immer vorhanden – sie entwickeln sich nur von der anteilsmäßig völlig zu vernachlässigenden Ausnahme zum Normalfall. Noch gefährlicher wäre der direkte Schluss von pluralisierten Verlaufsmustern auf gestiegene biographische Wahlmöglichkeiten (Behrens & Voges 1996: 30f).
100
6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
Als Gegensatz zu Standardisierung und damit ähnlich wie Destandardisierung wird schließlich häufig der Individualisierungsbegriff gebraucht (Buchmann 1989a; Weymann 1989b).71 Dies steht im Widerspruch zur These Kohlis (1985), dass der institutionalisierte Lebenslauf, auf dem die Standardisierung faktischer Lebensläufe beruht, individualisierend wirke. In diesem Sinne ist der standardisierte Lebenslauf ein Vergesellschaftungsmechanismus, der Individualisierungstendenzen zum Ausdruck bringt bzw. zu Individualisierung beiträgt, indem er die Menschen aus der traditionellen Vergesellschaftung über Kleingruppen herauslöst. Standardisierung und Individualisierung werden also zusammen gedacht. Die individualisierende Wirkung des standardisierten Lebenslaufs weckt darüber hinaus Ansprüche auf Individualisierung und individuelle Abweichung, die sich in der weiteren Entwicklung gegen die Standardisierung des Lebenslaufs wenden. In diesem Sinne können weiter reichende Individualisierungsprozesse Teil einer Erklärung von Destandardisierungsprozessen sein, sie sind jedoch nicht mit ihnen gleichzusetzen. Begreift man in Verzerrung und Reduzierung des hier vertretenen Begriffsverständnisses Individualisierung allein im Sinne eines Kontrollgewinns von Individuen über ihr Leben (Brückner & Mayer 2005: 33), so ergäben sich wiederum andere Argumentationslinien (ausführlicher vgl. Abschnitt 6.3.7). Zwar sind alle oben genannten Begriffe insofern miteinander verwandt, dass sie potentiell miteinander verbundene Prozesse bezeichnen. Da die jeweils bezeichneten Veränderungen jedoch keineswegs dieselben sind und sich in manchen Fällen wie (mögliche) Ursache und Wirkung zueinander verhalten, können sie in überraschenden Kombinationen auftreten. So haben sich nichteheliche Lebensgemeinschaften zu einer nahezu universal verbreiteten Phase vor dem ehelichen Zusammenleben entwickelt (Brückner & Mayer 2005: 32). In diesem Fall geht die Pluralisierung von Lebensformen einher mit der Standardisierung eines neuen Lebensabschnitts. Überdies können unterschiedliche Übergänge ungleichen oder sogar konträren Trends ausgesetzt sein. Eine verallgemeinernde Diagnose genereller Trends der Destandardisierung von Lebensläufen kann nur mit großer Vorsicht getroffen werden. Bevor im Abschluss des Kapitels 6 die oben angedeuteten Dimensionen von Destandardisierung für den empirischen Teil noch einmal präzisiert werden, wird im Folgenden das Bedingungsgefüge näher beschrieben, innerhalb dessen sich die aktuellen Destandardisierungstendenzen abspielen.
71
Im Titel des Schwerpunktheftes „Selbstsozialisation“ der Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (22/2002, vgl. Hurrelmann 2002; Zinnecker 2002; Bauer 2002) wird der Gegensatz Institutionalisierung und Individualisierung eröffnet, der in ähnlicher Weise irreführend ist wie der oben dargestellte. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs hat zu zunächst einmal zu weitergehenden Individualisierungstendenzen geführt, die nun (wahrscheinlich) die Institution des Lebenslaufs in ihrem Charakter verändern und unter Umständen auch zu ihrer Auflösung führen könnten. Auch Behrens und Voges (1996: 17, 22) beleuchten diesen „falschen“ Gegensatz kritisch.
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
101
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe Aufbauend auf Kapitel 5 werden hier die Bedingungen dargestellt und zueinander in Bezug gesetzt, welche die Dynamik von Lebenslaufmustern ausmachen. Thematisch wird dabei angeknüpft an die Übergänge, die auch in der Literatur schwerpunktmäßig behandelt werden. Aktuellere Studien konzentrieren sich insbesondere auf das Jugendalter und das frühe Erwachsenenalter mit den Übergängen aus dem Ausbildungs- in das Erwerbssystem, denjenigen im Bereich Familie und Partnerschaft sowie den Verknüpfungen zwischen beiden Bereichen (z. B. Buchmann 1989a; Mills & Blossfeld 2003; Marbach & Tölke 1996; Konietzka 1999; Hillmert 2001; Konietzka & Huinink 2003; Hurrelmann 2003). Einen weiteren Schauplatz der Diskussionen stellen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Berger & Konietzka 2001; Föste et al. 2001; Sennett 1998; Willke 1998) und der Rentenzugang dar (z. B. Clemens et al. 2003; Künemund 2001: 51ff; Kohli & Künemund 2000; Kohli 2000c; Szydlik & Ernst 1996; Guillemard 1991). Am Ende und zusammenfassend wird mit der Individualisierungsdebatte noch einmal das Problem der Spannung zwischen Handeln und Struktur aufgegriffen (6.3.7) und die Frage veränderter biographischer Perspektiven behandelt (6.3.8).
6.3.1 Die kulturelle Ebene: Wandel von Normen und Werten Alters-, Geschlechter-, Zeit- und andere Normen sind immer wiederkehrende Motive, aus denen die „generative Grammatik“ des Lebenslaufs aufgebaut ist. An ihnen orientieren sich Individuen in ihren eigenen Handlungen oder bei der Bewertung anderer; sie sind in Organisationen und Institutionen über Anreize und Sanktionen verankert.72 Dass in den westlichen Gesellschaften ein Wertewandel stattgefunden hat, kommt einem soziologischen Gemeinplatz nahe. Allein über Richtung und Gestalt des Wandels im Einzelnen wird gestritten. Während Klages (1988: 56ff) eine abnehmende Bedeutung von Pflicht- und Akzeptanzwerten zugunsten von Selbstentfaltungswerten ausmacht, steht für Inglehart (1989) die Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten im Vordergrund. Beides lässt sich mit den im vorliegenden Kontext bedeutsamen normativen Mustern in Zusammenhang bringen. Es finden sich kaum Studien über die Entwicklung von Altersnormen im Zeitverlauf. Allein Kohortenunterschiede sind deutlich festzustellen: Ältere Befragte neigen zu einer etwas strengeren Deutung von Altersnormen als jüngere (Neugarten et al. 1978). Dahinter kann ein Alterseffekt stecken. Plausibler ist aber die Annahme, dass sich über die Kohorten ein Wandel vollzieht, in dessen Zuge der Deutungsspielraum von Altersnormen wächst bzw. konkurrierende Maßstäbe an Bedeutung gewinnen (Kohli 1985: 23 für den Anfang der 80er Jahre). Laut aktuelleren Studien, die allerdings keinen Zeitvergleich einschließen, wirken Altersnormen eher als flexible Leitlinien denn als strenge Regelungen und ihre Verletzung wird schwach oder gar nicht sanktioniert (Settersten & Hagestad 1996b: 610f; Heckhausen 1990: 367f; Settersten & Hagestad 1996a). Sie fungieren demzufolge nicht als 72
Biographische Deutungsmuster sind ebenso der kulturellen Ebene zuzuordnen. Da sie komplexer sind als die hier vorgestellten Normen, wird ihnen weiter unten ein eigener Abschnitt gewidmet (6.3.8).
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
übergreifende, zwingende und direkte Maßstäbe, sondern als situationsabhängige Deutungsangebote und werden meist in Kombination mit dem Bewertungskriterium der Dauer bestimmter Zustände angewandt (Behrens & Müller 1994; vgl. auch Lawrence 1996) bzw. manchmal mit ihm verwechselt (Behrens & Voges 1996: 27). Altersnormen wirken also in Kombination mit Zeit- und Leistungskriterien, die zum Alter ins Verhältnis gesetzt werden oder gar Vorrang haben: Der Lebenslauf einer Person, die beispielsweise mit 25 Jahren ein Studium beginnt, jedoch vorher bereits eine Ausbildung abgeschlossen und gearbeitet hat, wird anders bewertet als derjenige eines 23jährigen Studienanfängers ohne Ausbildung und Berufserfahrung.73 Selbstentfaltungswerte, so kann man in diesem Kontext argumentieren, implizieren das Absehen von den je für die Lebensphase spezifischen Pflichten (z. B. eines Familienvaters oder einer Mutter) und sind somit altersunabhängiger als Pflicht- und Akzeptanzwerte. Postmaterialistische Werte führen zur Abweichung von vorgegeben Lebenszeit-Gerüsten, indem sie etwa eine kontinuierliche Karriere als nur noch eines von vielen möglichen Lebenszielen erscheinen lassen und so zur Verlängerung von Bildungs- oder anderen NichtErwerbsphasen beitragen. Bildung wird in diesem Fall weniger als Mittel zum Zweck denn als Wert der Selbstentfaltung aufgefasst. Kohli (2000c: I/17) weist darauf hin, dass feste Altersnormen mit starren Altersgrenzen nicht nur dem in modernen Gesellschaften verankerten Wert der individuellen Entfaltung („Wahlfreiheit“) widersprechen, sondern ebenso dem der Gleichbehandlung aller Altersgruppen. Die entsprechende politische Diskussion um Altersdiskriminierung („ageism“) ist in den USA weiter gediehen als in Deutschland. Gleichzeitig gibt es Anzeichen dafür, dass in bestimmten Institutionen und auf dem Arbeitsmarkt aufgrund strukturell-finanzieller Engpässe das Auswahlkriterium Alter wieder wichtiger wird, und zwar weniger mit inhaltlich begründet, sondern vor allem als Mittel der Selektion von Beschäftigten und von Personen, die Ausbildungen durchlaufen. Behrens und Voges (1996: 28) vermuten, dass die Bedeutung von Alter und Verweildauern in bestimmten Status als Typisierungs- und Selektionskriterien zugenommen hat, weil sie leichter als z. B. individuelle Leistung messbar sind und weil andere Maßstäbe der Auswahl wie Geschlecht oder Hautfarbe immer weniger legitim sind. Noch stärker beeinflussen die genannten Engpässe die normative Begrenzung der Dauer bestimmter Aktivitäten und die Normen des Umgangs mit Zeit im Allgemeinen. Mit dem Geld wird in bestimmten Organisationen des Bildungswesens oder des Wohlfahrtsstaats auch die Zeit knapper, die den sie jeweils durchlaufenden Individuen gegeben wird. Dieser relativen Ressourcen-Knappheit in Organisationen steht wiederum der allgemeine Wertewandel gegenüber: Mit den Werten der Pflichterfüllung haben auch zeitliche Normen, wie z. B. Pünktlichkeit, Einhaltung kollektiver Rhythmen etc. an Bedeutung verloren zugunsten der Betonung individueller Zeitpräferenzen. Diese Veränderung ist zunächst auf der alltagszeitlichen Ebene zu verorten, passt aber mit dem obigen Beispiel ebenso zur lebenszeitlichen: Eine Verlängerung der eigenen Bildungsphase aus Gründen der Selbstentfaltung setzt sich über das pflichtgemäße, in einen bestimmten zeitlichen Rahmen eingebundene Absolvieren eines Studiums hinweg. Gleichzeitig nehmen in diesem Bereich „un73
In Bezug auf allgemeine Vorstellungen des idealen Zeitpunkts bestimmter Lebenslauf-Übergänge finden Elchardus und Smits (2006) bei belgischen Befragten indes einen erstaunlich starken Konsens – solche Idealvorstellungen wirken also (weiterhin), auch ohne dass sie eingehalten oder streng angewandt werden.
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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zeitgemäße“ Zusatzausbildungen zu, wie z. B. ein Studium erst in höherem Alter. Es ist allerdings schwierig, zwischen individuell gewünschter und äußerlich erzwungener zeitlicher Flexibilisierung zu unterscheiden – man denke an das Beispiel der „Zeitpioniere“ (Hörning et al. 1998; vgl. auch das Beispiel der Medienberufe bei Betzelt & Gottschall 2004), vieler anderer, außerhalb von Normalarbeitsverhältnissen Beschäftigter oder an frühzeitige Verrentungen. Diese Widersprüche sind zum Teil durch eine genauere zeitliche Einordnung der verschiedenen Tendenzen auflösbar: Die Werte wandeln sich seit den späten 60er Jahren, während neue, durch Knappheiten bedingte (zeitliche) Zwänge sich erst später, etwa seit den 90er Jahren voll entfalten. Sie haben sich in der Zeitkultur bisher nicht gänzlich durchgesetzt und erfahren vielfältige Gegenbewegungen (etwa Rinderspacher 2002; Geißler 1988; Virilio 1987; Wulf 1987).74 Die markantesten und eindeutigsten Veränderungen sind bei den Geschlechternormen zu verzeichnen. In der klassischen weiblichen Variante des Normallebenslaufs spielte Erwerbsarbeit nur eine untergeordnete Rolle. Mit dem Bedeutungsgewinn von Selbstentfaltungswerten, der Expansion der Bildungssysteme und der Frauenbewegung wächst der Anspruch von Frauen auf eine eigene Erwerbskarriere (Zollinger Giele 2004; Burkart & Kohli 1992: 38ff; Sørensen 1990). Dies ist als Generalisierung des Wertes der Erwerbsarbeit auf Frauen und zumindest ansatzweise des Wertes von Familien- und Pflegeaufgaben auf Männer lesbar (Zollinger Giele & Holst: 2004: 15; Lewis 2002). Damit näherte sich nicht nur der weibliche Lebenslauf an den der Männer an, sondern es nähme gleichzeitig die Verlaufsvielfalt bei letzteren zu. Allerdings bestehen alte Orientierungsmuster in abgewandelter und abgeschwächter Form fort, wenn beispielsweise Frauen ihre Karriere- und Familienentscheidungen eher an der beruflichen Karriere ihrer Ehemänner ausrichten als umgekehrt (Born 2001; Born & Krüger 2001; Krüger 2001; Koppetsch & Fischer 1998). Wie man diesen normativen Wandel hinsichtlich der Spannung zwischen Struktur und Handlung deutet, ist indes offen: Zwar wird überwiegend die Handlungsfähigkeit und Autonomie des Individuums betont (Zollinger Giele 2004); der normative Wandel ist jedoch ebenso als Anpassung an strukturelle Erfordernisse interpretierbar (Zollinger Giele & Holst 2004). „Neue“ Normen und Werte verbreiten sich in verschiedenster Weise, auf allen im Weiteren beschriebenen Ebenen und darüber hinaus. Einen wichtigen Beitrag zu normativen Akzeptanz von Lebenslaufinnovationen leisten die Medien, in denen z. B. nichteheliche Lebensgemeinschaften (Nazio & Blossfeld 2003: 51) fiktional vorgelebt oder reale Beispiele für diese Praxis gegeben werden.
74
Diese wenigen Beispiele stammen nur aus dem sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen oder solchermaßen informierten Bereich; auch anderswo finden sich zahlreiche kritische Auseinandersetzungen mit aktuellen Tendenzen der Zeitkultur – vgl. z. B. das stichpunktartige Manifest der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (Mückenberger 2003).
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
6.3.2 Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen struktureller Art Wenn der Lebenslauf als Teil einer ausdifferenzierten gesellschaftlichen Zeitordnung verstanden wird, müssten Veränderungen in diesen Strukturen auch solche in den individuellen lebenszeitlichen Abläufen nach sich ziehen: Ein wie auch immer im Einzelnen aussehender Prozess der Entdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme kann eine dem entsprechende Wirkung auf die Struktur des Lebenslaufs ausüben. Zwar wird für Berufs- und Privatleben in einer neueren Diskussion von „Entgrenzung“ gesprochen (Gottschall & Voß 2003; auch Hochschild 1997). Jedoch geht es bei Gottschall & Voß (2003) vor allem um die Entgrenzung der im Arbeitsleben vorherrschenden ökonomischen Prinzipien in Richtung Privatleben (auch Moldaschl & Voß 2002). Destandardisierungsprozesse des Lebenslaufs gelten in diesem Kontext als Flexibilisierung oder Anpassung von Lebensläufen an die Prinzipen des (Arbeits-)Marktes, für den eine allzu starke Standardisierung hemmend ist (Kohli 2000c: I/17). Gleichzeitig geht eine stärkere Marktförmigkeit von Lebensläufen mit neuen Standards einher, die nicht mehr nur in sich selbst begründet sind. Beispielsweise ist eine lange Bildungsphase eine Zeitlang als ein für sich wertvolles Gut begriffen worden; die nun vielfach geforderte Verkürzung der Schul- und Studiumszeiten ist dagegen eine Reaktion auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes sowie die veränderten sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Destandardisierungsprozesse allein als vom Arbeitsmarkt ausgehende Flexibilisierung von Lebensläufen zu deuten, wäre allerdings sehr voreilig. Kohli (1986a: 201) sieht Anzeichen für eine Infragestellung gesellschaftlicher Differenzierung bei den sozialstaatlichen Dienstleistungen, für die „eine Rückkehr zur Lebenswelt“ durch Förderung der Selbstorganisationsfähigkeiten von Individuen verlangt wird; prinzipiell ähnlich entwickeln sich in seinen Augen auch Wissenschaft und Ästhetik. Aktuell wird vor allem die stärkere Anlehnung von Sozialstaat, Bildungssystem und Wissenschaft an marktwirtschaftliche Prinzipien diskutiert. Zaghafte Anzeichen einer tatsächlich größeren Durchdringung marktfremder Subsysteme durch die Wirtschaft sind allerdings erst in den letzten Jahren zu beobachten, beispielsweise mit der Einführung von Studiengebühren, dem Einbezug von privaten Arbeitsagenturen in die Vermittlung Arbeitsloser oder einem mehr als früher am Wettbewerb orientierten gesetzlichen Krankenversicherungswesen. Auch wenn diese den Veränderungen in den Lebenslaufmustern in gewisser Weise entsprechen und sie vielleicht weitertreiben, sind sie als hauptsächlicher Auslöser für Destandardisierungsprozesse nicht plausibel. Abgesehen von dieser stärkeren Anlehnung gesellschaftlicher Subsysteme insbesondere an marktwirtschaftliche Prinzipien finden sich kaum Belege für eine grundsätzliche Entdifferenzierung im Sinne der Verschmelzung von ehemals getrennten Subsystemen (vgl. auch Gerhards 1993). Im vorangegangenen Abschnitt war schon von Veränderungen der Zeitkultur durch einen sich verstärkenden ökonomischen Druck die Rede. Eine Hintergrundbedingung für den Erfolg und die starke Verbreitung des institutionalisierten Lebenslaufs nach dem Zweiten Weltkrieg besteht im „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984). Inzwischen wächst die Wirtschaft wenn überhaupt schwächer und ist einem Strukturwandel unterworfen; die Lage der öffentlichen Haushalte hat sich insgesamt verschlechtert. Dies prägt die Entwicklung des Arbeitsmarktes, des Wohlfahrtsstaats und des Ausbildungssystems in den letzten zwei Jahrzehnten. Eine Teilerklärung verschlechterter wirtschaftlicher Bedingungen sind (wirtschaftliche) Globalisierungsprozesse (Mills & Blossfeld 2003 und 2005; Brückner & Mayer 2005: 30), die zu verschärftem internationalen Wettbewerb führen.
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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Technische Innovationen stellen weitere gesellschaftliche Rahmenbedingungen dar, die gefiltert etwa über die kulturelle Ebene auf Lebenslaufmuster einwirken (Corijn 2001: 4) – Beispiele sind hier etwa Kontrazeptiva, ohne die der Rückgang der Fertilität schwerlich denkbar gewesen wäre, oder Entwicklungen im Bereich des Verkehrs, die das Mobilitätsverhalten verändern. Wie genau sich insbesondere die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf faktische Lebenslaufmuster auswirken, wird deutlicher, wenn man die diese Bedingungen filternden Institutionen des Erwerbssystems, des Wohlfahrtsstaats sowie des Bildungssystems betrachtet.
6.3.3 Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Wohlfahrtsstaat In der Diskussion um Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen spielt der Arbeitsmarkt ein zentrale Rolle – die zeitlichen Strukturen, die der institutionalisierte Lebenslauf durch ihn erlangte, werden unter anderem unter seinem Einfluss wieder unterhöhlt. Die „Erosion des Kontinuitätsparadigmas“ im Wirtschaftssystem (Brose et al. 1993: 37), mit der sich die auf kontinuierliches Wachstum gerichtete Perspektive auflöst, wirkt sich auf den Arbeitsmarkt aus. Die flexibilisierten Zeiten und der ökonomische Imperativ des Wirtschafts- und Erwerbssystems übertragen sich auf Erwerbsbiographien und prägen damit auch den Lebenslauf (Brose 1982: 387). In der flexibilisierten ökonomischen Zeitordnung gewinnen Prinzipien wie das der Gleichzeitigkeit, der Reversibilität, der Diskontinuität, des Zeit- und des Entscheidungsdrucks gegenüber denen der Sequenzialität, der Irreversibilität, der Kontinuität und der langfristigen Planung (Brose et al. 1993: 38-46)75 stark an Boden.76 Der Einsatz von Arbeitskräften folgt mehr und mehr den neuen Prinzipien und ist dem schnelleren Wandel der Qualifikationserfordernisse unterworfen, was sich insbesondere in neuen (zeitlichen) Organisationsformen von Arbeit manifestiert, etwa in Zeitarbeit (Brose et al. 1993), diskontinuierlichen alltäglichen Arbeitszeiten (mit Schichtarbeit, Teilzeitarbeit, Tele-Heimarbeit u. ä.), Projektarbeit, häufigeren Arbeitslosigkeitsepisoden und Jobwechseln. Alle diese Arbeitsformen treten spätestens seit den 1980er Jahren vermehrt auf, was auch (aber nicht allein) auf die zunehmende Tertiarisierung der Wirtschaft zurückzuführen ist (Klijzing 2005). Alle diese Befunde verdichten sich zu der Diagnose der beginnenden Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses (Dostal 2001; Brose 2000; Schulze Buschoff 2000; Brose et al. 1993: 46), der „Entstandardisierung der Erwerbsarbeit“ (Beck 1986: 220f) und zu dem Schlagwort des individualisierten Arbeitskraftunternehmers (Voß & Pongratz 1998; Pongratz & Voß 2001). Noch sind dies indes nicht die dominierenden Formen von Erwerbsarbeit. Einige der Auflösungszeichen, z. B. Arbeitslosigkeit, kumulieren 75
76
Die Autoren nennen noch weitere Prinzipien. Eine weitere von ihnen gebrauchte Dichotomie ist „Timing vs. standardisierte Zeit“ (Brose et al. 1993: 41). Mit der unglücklich gewählten Formulierung „Timing“ ist nichts anderes gemeint, als dass die zeitliche Gestaltung von Produktionsabläufen nicht mehr an feststehenden Zeitmustern orientiert, sondern nach Maßgabe zeitökonomischer Kriterien situationsgebunden optimiert, sprich flexibilisiert wird, wie etwa in der „Just-in-time“-Produktion. Die Schlussfolgerung, dass sich damit eine nicht mehr lineare Zeitordnung durchzusetzen beginnt (1993: 54), halte ich für vorschnell. Es handelt sich eher um eine Fortführung linearer Zeitkonzeptionen, die an multiplen (gleichwohl durchgängig linearen) Maßstäben orientiert sind und damit „zerstückelt“ werden, woher auch die Erfahrung der Diskontinuität rührt.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
bei Geringqualifizierten; andere, etwa atypische Arbeitszeiten und Projektarbeit, konzentrieren sich in Branchen wie derjenigen der Kommunikations- und Informationstechnologie, der Medien- und Kulturberufe, des Weiterbildungssektors und der Organisationsberatung (Pongratz & Voß 2001: 49). Dass diese Branchen im Allgemeinen als zukunftsträchtig angesehen werden, unterstreicht die empirische und kulturelle Relevanz ihrer Arbeitsformen. Feste Altersgrenzen für den Einsatz von Arbeitskräften widersprechen zunehmend den Erfordernissen von Arbeitsmarkt und Sozialversicherungssystemen, da sie zum „Brachliegen von Humankapitalressourcen“ führen, den bestmöglichen Einsatz von Arbeitskräften stören und die Rentensysteme belasten (Kohli 2000c: I/17). Längere Urlaube, Sabbaticals und ähnliche freiwillige Phasen des Austritts (Pfahl & Reuyß 2002; Sittl 1992) aus dem Erwerbsleben werden zwar oft in diesem Zusammenhang diskutiert, sind aber empirisch bisher kaum relevant (Kohli 2000b: 381). Das Bildungssystem hat seit Mitte der 60er Jahren mit dem Ausbau des Schulwesens der Sekundarstufe II (Gymnasien) und vor allem der Hochschulen eine historisch einmalige Expansion durchlaufen (Blossfeld 1985b). Gründe dieses Ausbaus sind wirtschaftliche Erwägungen, neue Qualifikationserfordernisse und politischer Druck in Richtung Öffnung des höheren Bildungswesens für größere Bevölkerungsteile. In der Folge wächst die Gruppe von jungen Erwachsenen stark an, die nicht nur die Hochschulreife erlangt, sondern auch studiert. Während niedrigere soziale Schichten entgegen der offiziellen Politik kaum davon profitieren (Hartmann 2002; Rodax 1995), stellen Frauen die eindeutigen Gewinner dieser Expansion dar (Blossfeld 1985b: 117ff). Zum einen kommen auf diese Weise die wachsenden Ansprüche von Frauen auf (berufliche) Selbstentfaltung zum Ausdruck, zum anderen werden diese Ansprüche durch entsprechende Investitionen in Humankapital erst geweckt bzw. verstärkt. Lenhardt (1992) widerspricht der These, dass die Bildungsexpansion zu Engpässen besonders im Übergang vom Bildungssystem auf den Arbeitsmarkt beiträgt. Zwar erfolge in ihrem Zuge eine relative Entwertung von Bildungszertifikaten; jedoch würden diese Prozesse in der Arbeitsmarktentwicklung eine nur geringe Rolle spielen. Ein weiterer auffälliger Befund in diesem Bereich besteht darin, dass Mehrfachausbildungen immer häufiger werden (Jacob 2004). Dies ist entweder mit der Verlängerung der Bildungsphase verbunden oder mit weiteren Bildungsphasen z. B. jenseits des Lebensalters von 30 Jahren. Fasst man Bildungsprozesse im gesamten Lebenslauf in den Blick und nicht nur in der frühen Erwachsenenphase, so stößt man auf die politische Forderung nach lebenslangem Lernen (Dobischat 2001; Friedenthal-Haase 2001; Barkholdt 2004). Diese beinhaltet nichts anderes als die Idee einer (positiv bewerteten) Destandardisierung von Bildungsprozessen, indem im gesamten Lebenslauf immer mal wieder Phasen der (Weiter-)Bildung eingeschoben werden. Anzeichen einer weiter gehenden Umsetzung dieser Idee sind indes bisher nicht auszumachen. Die sozialstaatliche Sicherung ist trotz der schlechten Lage öffentlicher Haushalte lange in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben, so dass Arbeitsmarkt- und andere Risi-
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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ken meist gut abgefedert sind. Der Wohlfahrtsstaat (konservativer Prägung)77 sorgt dafür, dass auch in Risikolagen die Kontinuität des individuellen Lebenslaufs gesichert ist; der im internationalen Vergleich immerhin mittlere Dekommodifizierungsgrad in Deutschland, d. h. die einigermaßen gut ausgeprägte Möglichkeit eines Lebens unabhängig vom Arbeitsmarkt, unterstreicht dies. Vor dem Hintergrund einer solchen Kontinuität konnten potenziell destandardisierende Selbstverwirklichungsansprüche sowie Individualisierungstendenzen erst zur vollen Entfaltung kommen (Leisering 1997, 1998, 1999). Erst aktuell und unter ökonomischem Druck wird beispielsweise mit der Gesundheitsreform und den Reformen auf dem Arbeitsmarkt („Hartz-Gesetze“) diese Absicherung reduziert. Feste Altersgrenzen werden als Teilursache der sich verschärfenden Finanzierungsprobleme des Rentensystems diskutiert (Kohli 2000c: I/17). Gleichzeitig zielen viele Reformvorhaben darauf ab, mit Leitkonzepten wie „aktivierender Sozialpolitik“ (Schwarze 2001) oder „Selbststeuerung (Schulz & Kahrs 2001) individuelle Handlungsfähigkeit zu stärken – oder werden zumindest unter Aufgriff individualisierungsnaher Diskurse eingeführt. Die Folgen für die Lebenslaufsgestaltung sind noch nicht endgültig abzusehen. Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Bildungssystem sind die deutlichsten, direktesten und umfassendsten makrosozialen Kräfte, die auf Lebensläufe einwirken. Dennoch sind je nach betrachtetem Bereich viele weitere Einflüsse denkbar, die nicht in solch klar abgrenzbaren Institutionen aufgehen. Blossfeld und Nazio (2003: 56) machen beispielsweise den Wohnungsmarkt in Italien als einen ausschlaggebenden Faktor dafür aus, dass junge Paare viel seltener als etwa in Deutschland nichteheliche Lebensgemeinschaften eingehen. Außerdem zeigt sich daran, dass der Einfluss von Makro-Institutionen nicht nur ein positiver, bedingender, sondern ebenso ein behindernder sein kann, der die Entfaltung bestimmter (neuer) Muster hemmt.
6.3.4 Organisationen Es ist schwierig, genuin von der Organisationsebene ausgehende Veränderungen auszumachen, die in Richtung Destandardisierung wirken. Vielmehr werden viele der im vorangehenden Abschnitt dargestellten Bedingungen hier in Gatekeeping-Prozesse übersetzt, allerdings nicht in deterministischer Weise. Engpässe in öffentlichen Haushalten werden über das Bildungssystem weitergeleitet und etwa von Universitäten in Form von Studiengebühren an Studierwillige weitergegeben – oder auch nicht. Auf erhöhten Konkurrenzdruck reagieren manche Unternehmen mit Entlassungen oder Standortverlagerungen, andere finden alternative Strategien des Umgangs damit. Gleichstellungspolitik scheitert oftmals auf der organisationalen Ebene, weil hier andere Probleme Vorrang haben oder das Schlüsselpersonal kein Interesse an ihrer Durchsetzung hat. Hier entscheidet sich, ob politisch angesteuerte Veränderungen sich durchsetzen, welche unintendierten Folgen sie haben oder ob die Persistenz alter Strukturen von Vornherein überwiegt.
77
Die Argumentation müsste in Hinsicht auf verschiedene Typen des Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen 1990) differenziert werden. Einige Hinweise zu solchen Maßstäben für den räumlichen Vergleich finden sich in Abschnitt 6.5.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
6.3.5 Familie und verknüpfte Leben Insbesondere in großstädtischen akademischen oder (ehemals) alternativen Milieus kommt der oben beschriebene Wertewandel zum Tragen. Ausgehend von diesen Milieus findet das Modell einer gleichberechtigten oder gar „individualisierten“ Partnerschaft immer weitere Verbreitung (Diewald 1993: 295; Burkart & Kohli 1989, 1992). Bei der Diffusion „neuer“ Lebensformen ist die Rolle der Vorgängerkohorten, aber vor allem von Peergroups kaum zu unterschätzen (Nazio & Blossfeld 2003: 50ff), die Lebenslaufinnovationen vorleben und Informationen über ihre Vor- und Nachteile liefern.78 Ob ein partnerschaftliches Modell der (Haus-)Arbeitsteilung verwirklicht wird und ob junge Paare zunächst unverheiratet zusammenziehen, um dann später oder gar nicht zu heiraten, ob Kinder zu Welt gebracht werden ist in zunehmendem Maße den Verhandlungen der Partner ausgesetzt. Der Pluralisierungsprozess der Lebensformen kann sich erst auf dieser Ebene verwirklichen: Die normative Schwächung der Institution der Ehe in ihrer traditionellen Form ist nur eine Voraussetzung, die erst in alternative Lebensformen umgesetzt werden muss – der entstehende Freiraum muss gefüllt werden, und zwar zusammen mit anderen Akteuren. Nicht nur in Beziehungen zu Partnern werden wichtige Übergänge und ihre Form verhandelt, ebenso nehmen (Schwieger-)Eltern Einfluss auf die Heiratsentscheidung ihrer Kinder, können volljährige Kinder ausziehen, wenn die Beziehung zu den Eltern schlecht ist (Goossens 2001: 31ff) oder werden berufliche Entscheidungen aufeinander abgestimmt: Das Modell des Zwei-Verdiener-(Ehe-)Paars, in dem berufliche Schritte koordiniert werden müssen, löst das des männlichen Brötchenverdieners nach und nach ab (Blossfeld & Drobniþ 2001), bei dem von Vornherein klar ist, dass die Mobilität der Familie eng mit der beruflichen Entwicklung des Mannes verknüpft ist. Auch die anderen genannten Entscheidungen sind stärker als früher Verhandlungen zwischen den Akteuren geöffnet, was nicht nur durch den normativen Wandel, sondern (wie etwa beim Auszug der Kinder) auch durch größeren Wohlstand der Familien oder den ausgebauten Wohlfahrtsstaat (z. B. BAFöG) bedingt ist. Das Modell egalitärer Partnerschaften erfährt des öfteren Gegenbeweise oder zumindest starke Relativierungen. Jedoch sind die Lebensformen zumindest potentiell offener geworden für individuelle Lösungen und Verhandlungen. Diese werden weiterhin strukturiert durch die beschriebenen Bedingungen auf institutioneller Ebene oder in konkreten Organisationen. So finden etwa die Höhe des Einkommens von Frauen und Männern oder die Ausstattung mit Einrichtungen zur (Klein-)Kinderversorgung Eingang in Entscheidungen zur Arbeitsteilung im Haushalt. Umgekehrt geht von den privaten Lebensformen auch ein Druck in Richtung von Organisationen, Institutionen oder Rahmenbedingungen aus (wie z. B. bei der rechtlichen Rahmung homosexueller Partnerschaften offensichtlich wird),
78
Nazio und Blossfeld (2003: 49) definieren in Anlehnung an Strang (2001) Diffusion am Beispiel von nichtehelichen Lebensgemeinschaften wie folgt: „The term diffusion is used in this article to refer to an individual-level process where prior adoption of cohabitation before entry (if ever) into first marriage in a population alters the probability of adoption for the remaining non-adopters in the phase of family formation over time.” Hier wird Diffusion in einem weiteren Sinne im Sinne von Verbreitung gebraucht, wovon diese Definition einen Spezialfall darstellt.
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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ohne dass dieser immer Ergebnisse im Sinne konkreter Veränderungen zeitigt. Veränderte (familiale) Verknüpfungen von Lebensläufen, so lässt sich zusammenfassen, verstärken Destandardisierungstendenzen insgesamt eher als dass sie sie abschwächten. Interindividuelle Aushandlungsprozesse ergeben eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die flexibler und weniger standardisiert ist als früher.
6.3.6 Individuelle Pfadabhängigkeiten und natürlicher Rahmen Als objektive, individuell variierende Einflüsse auf das Timing von Lebensläufen waren oben zum einen natürliche Grenzen des individuellen Organismus beschrieben worden, zum anderen individuelle Pfadabhängigkeiten, die auch ohne Bewusstsein von ihnen wirken. Die individuell-biologischen Rahmenbedingungen haben sich zwar als solche kaum verändert. Da aber viele Frauen und Männer den Zeitpunkt der Familiengründung nach hinten verschieben, wird die physisch bedingte zeitliche Begrenztheit der Fertilität immer mehr zum Problem. Das Dilemma, zwischen Voll-Erwerbskarriere und Familiengründung entscheiden zu müssen, verschärft sich mit diesem zeitlichen Druck. Infolgedessen wächst das Bedürfnis, die biologisch vorgegebene Phase der Fruchtbarkeit bzw. Zeugungsfähigkeit mit Hilfe medizinischer Eingriffe nach hinten auszudehnen. Individuelle Pfadabhängigkeiten gewinnen nicht als solche an Gewicht, sondern vor allem im Zuge der schon geschilderten veränderten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem. Pfadabhängigkeiten vor allem in der Erwerbskarriere lassen sich damit erklären, dass es mit steigenden Risiken und Kosten im Sinne von Zeit oder ökonomischen Ressourcen verbunden ist, den einmal eingeschlagenen Pfad zu verlassen und einen anderen einzuschlagen – beispielsweise im mittleren Erwachsenenalter den bisherigen Beruf aufzugeben und noch einmal eine Ausbildung zu beginnen. Diese Pfadabhängigkeiten sind in einem stark standardisierten Bildungssystem wie dem deutschen, wo die berufliche Platzierung eng an Bildungszertifikate gebunden ist, besonders ausgeprägt. Dadurch, dass die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wächst und die öffentliche Unterstützung im Bildungsbereich eingeschränkt wird, steigen die individuellen Kosten, die mit einem Pfadwechsel (und damit mit der Auflösung von Pfadabhängigkeiten) verbunden sind. Häufig sind diese in Pfadabhängigkeiten begründeten Einschränkungen den Individuen auch bewusst, was auf der Ebene subjektiver und alltäglicher Planungen zur Herausbildung einer bewusst kalkulierenden „Ökonomie des Lebenslaufs“ (Weymann 1996a) beiträgt.
6.3.7 Individualisierung als Quelle von Destandardisierung? Weiter oben war die prinzipielle Möglichkeit von Akteuren, Kontrolle über die zeitliche Gestaltung von Übergängen auszuüben, als Ordnungskriterium äußerer Einflüsse auf das Timing des Lebenslaufs genannt worden. Individuelle Kontrollmöglichkeiten sind demnach umso größer, je näher die jeweilige Einflussbedingung dem Mikrobereich liegt. Diese systematisierende Annahme gilt auch hier: Darüber, wer in der Familie die Versorgung eines kleinen Kindes übernimmt, hat der Akteur eher Kontrolle als über das Angebot an Arbeitsplätzen – und beides bestimmt den Übergang in das oder aus dem Erwerbsleben mit. Allerdings wird der in der individuellen Sphäre in vielen Bereichen vorhandene Spielraum von
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
Einflüssen höherer Ebenen stark eingeschränkt, so dass von der prinzipiellen Kontrolle unter einer „Übermacht“ von in eine Richtung drängenden Push- und Pull-Faktoren nicht unbedingt viel übrig bleibt. Dieses Problem der Zurechenbarkeit individueller Entscheidungen ist ein weiterer Schwerpunkt des Destandardisierungsdiskurses. Eines der wichtigsten Deutungsmuster ist hier das des Individualisierungsprozesses. Wie oben erläutert, ist es irreführend, Individualisierung als Gegenteil zu Standardisierung zu begreifen. Als mögliches Erklärungsmuster von Lebenslauf-Destandardisierungsprozessen drängt sich Individualisierung jedoch auf – oder als ihre Folge. Viele der oben vor allem als strukturell bedingt beschriebenen Veränderungen insbesondere im Bereich der Erwerbsbiographie erscheinen auf den ersten Blick als Ergebnisse veränderter Präferenzen. Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsnormen werden zu wichtigen Orientierungsmustern im Lebenslauf, Selbstreflexion wird über das Bildungssystem institutionalisiert und die „konventionelle Steuerung“ der Lebensgeschichte wird von ihrer „reflexiven Steuerung“ abgelöst (Giegel 1988). Vor diesem Hintergrund erfolgt nach Osterland (1990: 361) „ein Überdenken überkommener biographischer Normalitätsvorstellungen in der jüngeren Generation“, für die in der Folge die lebenslange Berufsarbeit immer weniger Bedeutung hat. Einer solchen Erklärung der Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen widersprechen strukturtheoretisch orientierte Lebenslaufforscher mit Nachdruck. Die zentrale Unstimmigkeit wird von Brose et al. (1993: 35) so formuliert: „Sollten die unterstellten Veränderungen im Bereich des Lebenslaufs […] tatsächlich ein ‚Unterlaufen’ der modernen Zeitstrukturen rigider Kopplung und Fernsynchronisation zu deuten sein, oder wäre umgekehrt von der Annahme auszugehen, dass diese Veränderungen auf der Ebene der Lebensläufe auch eine im Gesellschaftssystem, womöglich auch in Organisationssystemen zu verzeichnende Veränderung der Temporalstrukturen zum Ausdruck bringen?“ „Individualisierung“ als Erklärungsmuster wird von seinen Befürwortern regelmäßig im Sinne der ersten Erklärungsvariante verstanden, nämlich als intentionales Unterlaufen vorgegebener Zeitstrukturen. Damit wird übersehen, dass Individualisierung ein ideologisches Zuschreibungsmuster darstellen kann, in dem eine bestimmte Form des individuellen Lebenslaufs als Folge von individuellen Handlungsentscheidungen betrachtet wird, obwohl dem keine tatsächlichen Handlungsspielräume entsprechen: Die Diskontinuität aktueller Erwerbsbiographien kann von den betroffenen Individuen oder ihrer Umwelt als Folge sich wandelnder individueller Präferenzen gedeutet werden, obwohl ihnen strukturell keine andere Möglichkeit wirklich offen steht. Tatsächlich scheint das Wechselverhältnis zwischen den (strukturell bedingten) Möglichkeiten und den individuellen Entscheidungen komplizierter. Individualisierung allein im Sinne eines Zuwachses von Autonomie und Handlungsvielfalt zu verstehen, entspricht wie ausgeführt einer Verkürzung dieses Begriffs. Der von Beck beschriebene zweite Individualisierungsschub ist einhergegangen mit der zunehmenden Vergesellschaftung des Einzelnen über den Lebenslauf, d. h. über eine Institution, die ohne Zwischenschritt über kontrollierende Kleingruppen direkt auf das Individuum zugreift. Leisering nennt dies den Übergang von primären zu sekundären Institutionen (Leisering 1998: 66). Erstere geben direkte Handlungsregeln vor und bieten dafür Sicherheit. Zweitere, für die der Sozialstaat Leiserings wichtigstes Beispiel ist, sind durch unpersönliche Beziehungen gekennzeichnet, geben keine Handlungsvorgaben, sondern schaffen nur Handlungsvoraussetzungen und erhö-
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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hen damit sowohl Handlungsfreiheit als auch -zwang. Der Grad der Handlungskontrolle von außen nimmt also nicht ab, es ändert sich nur die Struktur dieser Kontrolle. Die Bedingungen, die den individuellen Handlungsspielraum beschränken, werden zwar in vielen Fällen im Sinne der von Burkart (1995) beschriebenen situativen Logik kalkulierter Handlungsfolgen oder der sozialen Logik in den individuellen Entscheidungsprozess einbezogen und dort reflektiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Individuum diese Bedingungen kontrolliert. Auf der Deutungsebene wird das, was dem Individuum im Lebenslauf widerfährt, ihm gleichwohl als direktes oder indirektes Ergebnis seiner Handlungen und Entscheidungen zugeschrieben, selbst wenn die Ursachen struktureller Art sind: Der Handelnde ist als „Planungsbüro seiner selbst“ (Beck 1986: 217) für sein Leben verantwortlich. Darüber hinausgehend wird sogar ein Steigerungsverhältnis von Individualisierung und Institutionalisierung behauptet: Für Struck (2001: 29f) bedeutet der „Verlust externer Zeitstrukturierungen“ und „die Entwicklung […] vergrößerter Handlungsspielräume […] nicht den Verlust rahmender Gestaltungs- und Schutzfunktionen (De-Institutionalisierung), sondern – man denke etwa an die zeitliche Flexibilisierung von Berufseinstiegen und Verrentung – häufig eine erhebliche Zunahme differenzierter rechtlicher und […] vertraglicher Regelungen (Re-Institutionalisierung).“ Auch Fischer-Rosenthal (2000b: 113) sieht ein solches Steigerungsverhältnis, welches auf der Deutungsebene viele Ambivalenzen und Ambiguitäten hervorbringe. Da das differenzierte institutionelle Geflecht keine einheitliche Vergesellschaftung mehr leistet, muss das Individuum sie selber leisten und dabei auch die Widersprüche der institutionellen Ebene „ausbaden“. Im Vergleich zu früheren Zeiten werden ihm damit auch größere geistige und psychische Kompetenzen abverlangt (Goossens 2001: 29). Für Martin Kohli (1985: 24) ist dieses Steigerungsverhältnis von Institutionalisierung und Individualisierung der Grund dafür, dass die ehemals feste chronologische Ordnung des Lebenslaufs sich in den Lebenslaufmustern immer weniger wiederfindet: „Die Institutionalisierung des Lebenslaufs ist die Grundlage, auf der sich jetzt die individualisierende Abkehr von der Chronologie vollzieht.“ Mit dem Lebenslauf werden Handlungssicherheiten nicht nur sozialstaatlicher Art geschaffen, die Individualismus zu einem positiv besetzten Wert machen und vor deren Hintergrund sich Ansprüche auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung insbesondere von Frauen erst bilden. Ihre Verwirklichung führte zu einer stärkeren Abweichung vom Normallebenslauf. Nimmt man an dieser Stelle die Begriffsbestimmung von Wohlrab-Sahr (1997) wieder auf, die Individualisierung strukturell als Ausdifferenzierung der möglichen Handlungsoptionen, auf der Deutungsebene als Veränderung des Zuschreibungsmodus begreift, so ist die herrschende Konfusion weiter auflösbar. Individualisierung als Zuschreibungsmodus hat sich in der Lebenswelt entfaltet, (Besonderheits-)Individualität (Kohli 1988: 34f) und Authentizität sind zu einem einflussreichen kulturellen Deutungsmuster geworden. Auch die strukturelle Komponente von Individualisierung, nämlich die Zunahme von Handlungsoptionen, wird im Prinzip nicht bestritten. Allerdings ist sie enger an die objektiven Rahmenbedingungen geknüpft und unterliegt deren wechselnden Einflüssen; dies gilt insbesondere für den erwerbsbiographischen Strang von Lebensläufen. Vor allem in Hinsicht auf Erwerbsbiographien lassen sich mit Brückner und Mayer (2005: 30) die beiden Erklärungskomponenten für den historischen Zeitablauf kombinieren: Wertewandel, Frauenbewegung, Bildungsexpansion sowie kontinuierlich steigende Löhne und Wohlfahrtsstandards, also eine „curious mixture of value changes, opportunities and
112
6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
adaptive constraints […] fostered the topoi of the ‚postponed generation’ […], and ‚individualized’ or ‚patchwork’ biographies […].“ Zwar werden die Termini aus der Individualisierungsdebatte mit distanzierenden Anführungszeichen verwendet, doch wird dem normativ-kulturellen Wandel zumindest eine gewisse Rolle zugestanden. Spätestens zu Beginn der 90er Jahre verändert sich die Situationsdeutung: „What some viewed in the 1970s and 1980s as a widening of life pathways due to new options were reinterpreted in the 1990s as difficult adaptations to external constraints […]“ (Brückner & Mayer 2005: 30). Brückner und Mayer sprechen nur von einer Reinterpretation, die in ihren Augen vermutlich (da unausgesprochen) der tatsächlichen Dynamik eher entspricht als die erste Deutung. Hier wird im Gegensatz dazu davon ausgegangen, dass mit der Verschärfung der Arbeitsmarktlage und mit der beginnenden Deregulierung eine Veränderung der Lebenslaufdynamik selbst erfolgt (und nicht nur ihrer Interpretation): (Erwerbs-)Biographien werden erzwungenermaßen diskontinuierlicher, wo zuvor wachsende Optionenvielfalt zur Pluralisierung der (beruflichen) Lebenswege geführt hatte – gleichwohl ist dies eher als Akzentverschiebung denn als Wechsel des die Dynamik prägenden Prinzips zu verstehen. Die Argumentation ist für verschiedene Lebensbereiche und für verschiedene Zeiten zu präzisieren: Wie sich Handlung und Struktur beim Zustandekommen der aktuellen Destandardisierungsprozesse des Lebenslaufs zueinander verhalten, kann nicht eindeutig und pauschal geklärt werden. Der erwerbsbiographische Strang von Lebensläufen und seine Standardisiertheit sind stärker an bestimmte ökonomische Rahmenbedingungen geknüpft. Die Verlängerung der Bildungsphasen, weniger pflichtorientierte und materialistische sowie stärker selbstreflexive erwerbsbiographische Entscheidungen passen gut in das Erklärungsmuster, welches mit der Individualisierungsthese angeboten wird. Insbesondere die seit mindestens einem guten Jahrzehnt zunehmende Diskontinuität von Erwerbsbiographien widerspricht dem nicht unbedingt, lässt aber das Moment des Entscheidungszwanges und drucks stärker hervortreten, da der Erwerbsbereich stärker und schneller auf makroökonomische Knappheiten reagiert als das (einmal gut ausgebaute) Bildungssystem, das erst jetzt deutliche Krisenerscheinungen zeigt. Die ökonomischen Zwänge im Erwerbsbereich werden sowohl subjektiv als auch in entsprechenden gesellschaftlichen Debatten79 nicht unbedingt als Handlungsgrenzen erkannt – das individualisierte Zuschreibungsmuster wirkt weiter, selbst wenn die strukturellen Bedingungen sich verändert haben. Dies wird dadurch befördert, dass der Zwang nicht in direkter normativer Kontrolle besteht, indem beispielsweise Verbote oder Gebote ausgesprochen werden. Stattdessen werden in sekundären Institutionen wie Wohlfahrtsstaat und Arbeitsmarkt Handlungsmöglichkeiten geschaffen (Leisering 1998). Die soziale Kontrolle, der (mögliche) Zwang besteht darin, dass diese Aktionsmöglichkeiten eventuell so begrenzt und strukturiert sind, dass zwar im Prinzip alle Möglichkeiten offen stehen, dass aber die individuellen Kosten einzelner Optionen in Zeit, Geld oder Aufwand gemessen so hoch sind, dass keine wirkliche Wahl existiert. Das individualisierte Zuschreibungsmuster verwirklicht sich etwa in flexibilisierten Arbeitszeiten und formen: Der „Arbeitskraftunternehmer“ mit Gleitzeit, selbstorganisierter Heimarbeit oder 79
Dahme und Wohlfahrt (2002: 19, 24) attestieren dem „aktivierenden Staat“ etwa, dass er die Ursachen der Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen in zumindest teilweise unberechtigter Weise als Folge des Fehlverhaltens („ungenügender persönlicher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit“) der betroffenen Individuen begreift und damit die strukturellen Ursachen etwa von Arbeitslosigkeit ausblendet.
6.3 Bedingungen der Destandardisierung westdeutscher Lebensläufe
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Projektarbeit auf Honorarbasis ist mehr denn je auf sich selbst gestellt und für den Erfolg seiner Arbeit selbst verantwortlich. Deswegen nehmen die Zwänge von außen nicht ab, im Gegenteil. Sie werden zwar zunächst weiter als zuvor in das Individuum verlegt, verdichten sich aber am Ende dann zu einer Ergebniskontrolle (Voß & Pongratz 1998; Pongratz & Voß 2001). Ähnliches gilt für neue sozialpolitische Leit- bzw. Sparkonzepte wie „aktivierende Sozialpolitik“ (Dahme & Wohlfahrt 2002; Schwarze 2001), „Selbststeuerung“ (Schulz & Kahrs 2001) oder Ich-AGs (Diewald 2000), die strukturelle Ursachen von z. B. Arbeitslosigkeit teilweise verdecken, indem sie die Stärkung individueller Handlungsfähigkeit betonen und anstreben. Individualisierte Zuschreibungsmuster wirken bei gleichzeitig zunehmendem strukturellen Zwang aus verschiedenen Gründen weiter: Gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ideologien, welche die eigentlichen Zwänge verdecken, da dies im Interesse einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen liegt, kommen ebenso infrage wie das psychische Bedürfnis nach biographischer Selbstdeutung, die auf der Überzeugung der Kontrolle über das eigene Leben aufbaut. Flexibilisierte (Lebens-)Arbeitszeiten beispielsweise können tatsächlich den schon immer gehegten Wünschen von Beschäftigten entsprechen, können aber auch Folge struktureller Zwänge sein und hinterher als individuellen Präferenzen entgegenkommend verbrämt werden (Pongratz & Voß 2001: 60). Zumeist trifft beides zu: Flexible Erwerbsbiographien eröffnen Individuen mit der entsprechenden Präferenz von Abwechslung und Vielfalt neue Möglichkeiten, für andere wiederum stellen sie einen Zwang dar. Für den familialen Strang des institutionalisierten Lebenslaufs ist diese Argumentation minder überzeugend, da verschiedene Lebensformen weniger deutlich an ökonomische Rahmenbedingungen geknüpft sind. Rein strukturelle Erklärungen sind in einigen Fällen kontrafaktisch; hier kommen wiederum kulturelle Einflüsse zum Tragen, zu denen auch Individualisierungsprozesse gehören können (ausführlicher vgl. Kapitel 11). Die Diskussion kann für das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Familienformen fortgesetzt werden. Das klassische Verhältnis der beiden Lebensstränge hat tendenziell ausgedient80: Frauen, besonders hochqualifizierte, distanzieren sich mehr und mehr von der ihnen klassischerweise zugeschriebenen Rolle in der Familie und entwickeln ein stärkeres Interesse an der Erwerbsarbeit – bei ihnen gewinnt also die Erwerbsarbeit an Orientierungskraft für den Lebenslauf. Männer, erwartet man im Gegenzug, entwickeln ein stärkeres Interesse am Engagement in der Familie. Dies ist jedoch bisher in weitaus geringerem Maße der Fall. Individualisierungsprozesse tragen sehr wohl zur Erklärung aktueller Destandardisierungstendenzen von Lebensläufen bei, wenn man denn Individualisierung nicht allein als Gewinn an Handlungsautonomie versteht, sondern als Umstellung des Systems sozialer Kontrolle auf individualisierte Mechanismen. Vor allem ein genauer Blick auf die Veränderungen struktureller Handlungseinschränkungen ist notwendig, um hier Verschiebungen im Verhältnis von Handeln und Struktur präzise erfassen und erklären zu können.
80
Zu den in der Folge zunehmenden Zielkonflikten zwischen Berufs- und Privatleben vgl. Hoff und Ewers (2002).
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
6.3.8 Wandel biographischer Deutungsmuster Biographische Deutungsmuster, Teil der kulturellen Ebene, haben sich im Zuge von Individualisierungsprozessen pluralisiert und sind selbstreflexiver geworden. Über die zunehmende (biographische) Selbstreflexion wird die individuelle Abweichung vom Normallebenslauf in die bisherige Lebensgeschichte und zukünftige Pläne eingebettet, begründet und – insbesondere unter Berufung auf Selbstentfaltungsansprüche – legitimiert. Insofern vollzieht sich die Destandardisierung von Lebensläufen zum Teil über veränderte biographische Deutungsmuster vor allem des Familienzyklus, aber eingeschränkt auch des Bereichs von Bildung und Erwerbsarbeit. Wie beschrieben erklären auch strukturelle Zwänge Destandardisierungsprozesse plausibel. Grundlegende Selbstverständlichkeiten wie das Normalarbeitsverhältnis, die Normalerwerbsbiographie und die Normalfamilie zerfließen zum Teil ohne Zutun individueller Akteure. Diese stehen vor der Herausforderung, diese diskontinuierlicheren, bruchstückhafteren Teile seines Lebenslaufs zu einer biographischen Erzählung zusammenzufügen, die ein Mindestmaß an Kohärenz aufweist. Das Material, aus dem die biographische Erzählung besteht, Abfolgen von Übergängen und Lebensphasen, ist unhandlicher geworden und es erfordert mehr erzählerisches Geschick und neue Motive der Verknüpfung, um es zu einem Ganzen zusammenzufügen. Widersprüche, Unstimmigkeiten und Brüche mussten auch früher „gekittet“ werden, so dass die biographische Erzählung hergestellte, in sich kohärente Identität schon immer den Charakter einer Konstruktion hatte. Dennoch sind die Bedingungen dieser Konstruktionsleistung heute vergleichsweise erschwert und erfordern beim Individuum größere psychische Kompetenzen als früher (Goossens 2001: 29). In ähnlicher Weise ist die biographische Koordination der verschiedenen zeitlichen Ebenen und Horizonte behindert, da Standard-Lösungen des institutionalisierten, auf Kontinuität angelegten Normallebenslauf immer weniger adäquat oder immer schwieriger durchzuhalten sind. Die Untersuchung von Brose et al. (1993), die sich mit der Vereinbarung von Alltagszeit und Lebenszeit in der biographischen Deutung von Zeitarbeitern beschäftigt, also einer Gruppe, deren Erwerbsbiographien diskontinuierlicher verlaufen als die anderer Personenkreise, gibt dazu interessante Anhaltspunkte. Zinn und Eßer (2003: 51) führen die Schwierigkeiten aktueller biographischer Konstruktionen deutlich vor Augen, wenn sie anhand von 60 Interviews mit Personen im mittleren Erwachsenenalter eine „Typologie sinnhafter Handlungslogiken“ erarbeiten, die der Herstellung biographischer Sicherheit dienen. Diese Sicherheitskonstruktionen zeichnen sich durch den jeweiligen Umgang mit Normen, die jeweilige Wahrnehmung von Zeit und von Unsicherheit insbesondere angesichts der Zukunft sowie durch die Art der Letztbegründung von biographischen Handlungen aus. Sie enthalten sozial vorgeprägte Deutungsschemata, die der jeweiligen individuellen Situation angepasst werden können.81 So
81
Vgl. ähnlich auch Fischer (1982/1986: 166): Für ihn ist es unangemessen, „[…] aus der alltagsweltlichen Annahme, Biographien seien vor allem etwas Individuelles, zu schnell Konstitutionsleistungen des einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Es kann nun keineswegs bestritten werden, dass die zuvor genannten Schemata lediglich das Material bilden, das einzelne ‚Biographieträger’ modifizierend zu übernehmen haben. Solche Strukturen sind vor allem dort notwendig, wo die gegebenen Strukturen lückenhaft und daher orientierungs- und handlungsbedrohend sind“.
6.4 Die Interpretation der Veränderungsdynamik: Relationen jenseits einfacher Kausalität
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unterscheidet sich beispielsweise die biographische Sicherheitskonstruktion „Tradierung“ von der der „Kontextualisierung“ dadurch, dass in ihr der Bezug auf Normen mit dem auf die zu reproduzierende Tradition gleichzusetzen ist, während im zweitgenannten Typus normative Begründungen aus der Situation heraus entwickelt werden (Zinn & Eßer 2003: 59). Damit weist die „Tradierung“ einen geschlossenen Zeithorizont auf, während „Kontextualisierung“ durch die Vorstellung einer offenen Zukunft der Projektzeit charakterisierbar ist. Diese beiden Typen stellen nur die Extreme der fünf gefundenen biographischen Sicherheitskonstruktionen dar. „Kontextualisierung“ ist dabei der Typus biographischer Deutung, welcher der reflexiven Moderne mit destandardisierten Lebenslaufmustern entspricht, da in ihm „Kohärenz, Identität und Sicherheit als […] Fiktionen entlarvt“ sind (Zinn & Esser 2003: 60). Die Diskontinuität von Lebenslaufmustern schlägt sich so in den biographischen Deutungsmustern nieder, und zwar nicht als rein defizitäre Erfahrung, sondern auch als Quelle biographischer Sicherheit. Zinn und Eßer betonen, dass alle fünf von ihnen beschriebenen Deutungstypen biographische Sicherheit erfolgreich herstellen können – der traditionellste ebenso wie der im Vergleich zu traditionellen Identitätskonzepten defizitär erscheinende Modus der Kontextualisierung. Eine Schwäche ihrer Typologie besteht darin, in interdisziplinärer Blindheit die psychischen Grenzen der Variabilität von biographischen Deutungen und Identitätskonstruktionen möglicherweise zu überschätzen. Im Modus der Kontextualisierung kann eine Fiktion oder gar eine Ideologie stecken, nämlich diejenige der nahezu grenzenlosen Flexibilisierbarkeit biographischer Deutungen und Identitätskonstruktionen (vgl. Sennett 1998, dessen erheblichem Pessimismus man deswegen nicht gänzlich folgen muss). Insgesamt geben die hier beschriebenen biographischen Deutungsprozesse eine Idee davon, dass auch diskontinuierliche Lebensläufe mit komplexem Übergangshandeln verbunden sind. Deswegen verbietet es sich, bestimmte Entscheidungen allein als „Reflexe“ auf strukturelle Zwänge zu betrachten. Die abschließende Bewertung der Diskontinuitäten hängt nicht nur aus der Perspektive der Individuen davon ab, wie und mit welchem Sinn die vorgegebenen Handlungsspielräume gefüllt werden (Witzel 1993: 47, 53; auch Zinn 2000).
6.4 Die Interpretation der Veränderungsdynamik: Relationen jenseits einfacher Kausalität Bisher und auch weiterhin wird undifferenziert von Bedingungen, Ursachen oder Erklärungen von Lebenslaufmustern und ihren Veränderungen gesprochen. Neben der Annahme einfacher Kausalitäten (auf welche die meisten der hier gebrauchten Begriffe verweisen) kommen andere Muster des Zusammenhangs infrage. Für die Beziehungen zwischen den Veränderungen von Lebenslaufmustern und Institutionen machen Corsten und Hillmert (2003: 56ff) mindestens vier verschiedene Deutungsmöglichkeiten aus: Die hinter den hier oft gebrauchten Begriffen „Ursache“ und „Erklärung“ steckende Idee einer kausalen Dominanz der Bedingungen über Lebensläufe wäre (alternativ oder zusätzlich) auch umgekehrt denkbar, indem beispielsweise sich individualisierende Lebensläufe als (zurück-)wirkend auf Bedingungen der Erwerbstätigkeit gedacht werden. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die beschriebenen Faktoren und Lebensläufe einander im Sinne einer Homologie, einer Formenverwandtschaft, entsprechen, ohne dass die eine Ebene die andere be-
116
6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
stimmt. Die Entwicklungen von Lebensläufen, Institutionen und weiteren Einflüssen weisen in die gleiche Richtung und sind miteinander verknüpft. Eigentlich auf mehrere potentielle Einflussebenen bezogen sind die weiteren beiden Relationsmöglichkeiten, die gleichzeitig Annahmen über die Folgen für gesellschaftliche Integrationsprozesse beinhalten: Bei „anomischer Desintegration“ besteht kein eindeutiges Dominanzverhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen, allerdings entsprechen diese einander nicht in ihrer Entwicklungsrichtung, sondern widersprechen sich, wie etwa im Fall der Verbreitung eines individualisierten Zuschreibungsmusters auf kultureller Ebene bei stärkerer struktureller Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten – hier könnte also auch von Heterologie gesprochen werden. Die vierte mögliche Relation besteht schließlich in einer „konfligierenden Integration“, die im Prinzip die drei zuvor genannten Möglichkeiten dynamisch vereint: Je nach Situation dominiert die eine die andere Ebene, entwickeln sich diese gleichgerichtet oder widersprechen einander – für das Beispiel von Corsten und Hillmert kommt dies einer „problem- und situationsabhängigen Modernisierung moderner Gesellschaften und Lebenslaufmuster“ gleich (2003: 56). In Abhängigkeit von der Art, in der die beschriebenen Einflüsse Lebensläufe formen, bestehen mehr oder minder große Handlungsspielräume für individuelles Handeln, von dem unter bestimmten Umständen auch Impulse für die ihn beeinflussenden Institutionen ausgehen. Der Wandel von Lebensläufen geht nicht immer im Wandel der ihn beeinflussenden Bedingungen auf, sondern das Verhältnis zwischen beiden unterliegt selbst einem steten Wandel. Diese Perspektive verzeitlicht die oben angedeutete Idee des Wechselverhältnisses von individuellem Akteur, Lebensläufen und den sie beeinflussenden Institutionen. Angesichts der Vielfalt und Verschiedenheit bis hierhin zusammengetragenen Faktoren scheint die Annahme einfacher Kausalitäten oder Entsprechungsverhältnisse tatsächlich zu einfach. Auch wenn in Bezug auf einzelne Einflüsse vielfach einfache Kausalitäten vorliegen, wird Kausalität zu leicht mit der Reihenfolge des Auftretens verschiedener Ereignisse „verwechselt“82 (auch Konietzka & Huinink 2003: 288). Gerade was die Verflechtungen der verschiedenen Bedingungen angeht, ist aber die Annahme einer teilweise auch widersprüchlichen Entwicklung hilfreich. Diese Annahme muss jedoch empirisch untermauert werden (vgl. Kapitel 8 bis 11).
6.5 Aktuelle Destandardisierungsprozesse im historischen und räumlichen Vergleich Die bisher angedeuteten Destandardisierungsprozesse werden verschieden interpretiert. Im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren erscheinen die sich seit Beginn der 70er Jahre verbreitenden Diskontinuitäten der Lebenslaufmuster als Bruch. Der Zweite Weltkrieg bildet aufgrund der exzeptionellen Rahmenbedingungen ohnehin eine Phase sehr unregelmäßiger Lebenslaufmuster. Unter Einbezug der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erscheinen 82
Folgendes Beispiel unterstreicht die Problematik unter Einbezug biographischer Perspektiven: Wenn eine bisher kinderlose Frau ein Kind bekommt und einige Monate später heiratet, so wird angenommen, die Geburt des Kindes stelle das Motiv und die Handlungsursache der Heirat dar. Tatsächlich kann aber der Heiratswunsch bereits vor der Geburt des Kindes bestanden und zu dieser geführt haben. Finale Handlungsmotive sind mit Begriffen von Kausalität also schwer zu handhaben (genauer Blossfeld & Rohwer 2002: 28f).
6.5 Aktuelle Destandardisierungsprozesse im historischen und räumlichen Vergleich
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dennoch die 50er und 60er Jahre mit ihrem relativ stabilen Lebenslaufregime als Ausnahme und die tendenzielle Destandardisierung als Rückkehr zur Normalität (Berger & Sopp 1992: 179). Hinter den Ähnlichkeiten von heute und aus der Vorkriegszeit verbergen sich nach Auffassung Kohlis (1986a: 202) gleichwohl unterschiedliche „Tiefenstrukturen“. Die relativ destandardisierten Lebensläufe der Vorkriegszeit seien eher in Mechanismen des Zwangs begründet, die „neuen“ Entstrukturierungen dagegen in individuellen Entscheidungsprozessen und veränderten Präferenzen. Auf Basis der bisherigen Ausführungen muss relativiert werden, dass zwar der Anteil, den individuelle Entscheidungsprozesse und veränderte Präferenzen an aktuellen Destandardisierungsprozessen haben, größer ist als in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, dass aber auch heute noch oder wieder strukturelle Zwänge zur Destandardisierung von Lebenslaufmustern beitragen. Indes unterscheiden sich diese Zwänge in ihrer Wirkungsweise deutlich von früheren, indem sie weniger auf direkter Kontrolle (durch Familie, Dorfgemeinschaft oder Klasse), sondern vielmehr auf indirekter Kontrolle durch sekundäre Institutionen (wie Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat) beruhen. Auf den ersten Blick stehen heutigen Akteuren in diesen Institutionen fast alle Möglichkeiten offen; jedoch wirkt Zwang etwa dadurch, dass die individuellen Kosten einzelner Optionen (in Zeit, Geld oder Aufwand gemessen) so hoch sind, dass sie die Wahl manchmal stark einschränken. Im Falle familialer Lebensformen trägt der sehr indirekte Zwang ökonomischer Unsicherheit zusammen mit strukturell pluralisierten Möglichkeiten des Zusammenlebens dazu bei, dass sich der Übergang in die Ehe bzw. die Elternschaft verzögert. Die Bedingungen, die aktuelle und frühere Lebensläufe bestimmen, fasst Mayer (2001: 92ff) mittels der Unterscheidung vier verschiedener Lebenslaufregimes zusammen.83 Im traditionellen, das bis ca. 1900 gilt, ist die Familie die wichtigste Vergesellschaftungseinheit; in der Familie wird die Arbeit organisiert und zwischen Männern und Frauen (und älteren Kindern) geteilt, was zu engen persönlichen Abhängigkeiten führt. Große Bevölkerungsteile genießen zu dieser Zeit allenfalls rudimentäre Schulausbildung. Nur ein Teil der Menschen kann es sich leisten zu heiraten, die Fruchtbarkeit ist bei gleichzeitiger ständiger Präsenz des Todes sehr hoch. Eine Altersrente gibt es nur bei Invalidität, im Alter ist Abhängigkeit von anderen, zumeist von der Familie, die Regel. Im industriellen Lebenslaufregime (von ca. 1900 bis ca. 1955) bestimmt das Modell des Lohnarbeiters die Lebensläufe, die charakterisiert sind durch Zyklen von Armut und Diskontinuität. Frauen tragen als angelernte Arbeiterinnen zusätzlich zum Familieneinkommen bei. Bildungsphasen gehen nun öfter über die elementare Schulausbildung bis auf ein mittleres Niveau hinaus. Der Bereich der Erwerbsarbeit ist geprägt durch Lohnarbeit, einen gewissen Betriebspaternalismus sowie immer neue Phasen der Arbeitslosigkeit. Die Familiengründung wird oft hinausgeschoben, was eine starke Abnahme der Fertilität zur Folge hat. Es besteht Anspruch auf eine relativ niedrige Erwerbsrente, der bei Erwerbsunfähigkeit oder Überschreitung einer Altersgrenze eingelöst wird.
83
Für den empirischen Kontext dieser Arbeit müssten die Phasen in Geburtsjahrgänge „übersetzt“ werden. Am stärksten geprägt vom jeweiligen Regime werden die Geburtsjahrgänge, die knapp 20 bis 50 Jahre vor dessen Kernzeit geboren wurden; ihre Erwerbskarrieren entsprechen am ehesten den für diese Zeit typischen. Insbesondere für diejenigen, die ihre frühe oder späte Karriere in der Zeit des Übergangs zwischen verschiedenen Lebenslaufregimes erleben, ist dies jeweils mit ganz bestimmten Chancen und Risiken verbunden. Ähnlich wie Mayer unterscheiden Pongratz und Voß (2001: 48) vier historische Typen von Arbeitskraft.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
Das fordistische oder wohlfahrtsstaatliche Lebenslaufregime, das Mayer dem Zeitraum von 1955 bis 1973 zuordnet, ist dasjenige der oben schon beschriebenen starken Standardisierung und Kontinuität von Lebensläufen. Dort ist der männliche Alleinernährer und über diesen seine Familie die Einheit der Vergesellschaftung. Frauen sind zumeist Hausfrauen oder streben dieses Ideal zumindest an. Sekundäre und tertiäre Bildungseinrichtungen sowie das duale Ausbildungssystem erfahren eine Expansion, im Arbeitsbereich herrschen lebenslange Beschäftigung, Aufwärtsmobilität sowie ein steter Einkommenszuwachs über Lebens- und historische Zeit hinweg vor. Das Muster früher Heiraten und früher erster Geburten setzt sich bei mittlerer Gesamtfertilität durch. Ab einem bestimmten Alter besteht mindestens für den männlichen Alleinernährer ein Anspruch auf Rente, mit der im Normalfall der bisherige Lebensstandard gehalten werden kann. Das aktuelle, seit 1973 (erster Ölschock) vorherrschende Lebenslaufregime wird von Mayer als das postfordistische bzw. postindustrielle bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt kommt „Unordnung“ in den Lebenslauf, der als destandardisiert und diskontinuierlich erscheint. Vergesellschaftungseinheit ist nun das Individuum, dessen Bildungsphase sich fast bis auf Lebenslänge ausgedehnt hat und häufiger unterbrochen wird. Auch Frauen erheben Anspruch auf eine berufliche Karriere. Der Eintritt in die Erwerbsarbeit von Männern und Frauen erfolgt verspätet, die Mobilität zwischen Arbeitgebern und Berufen nimmt zu, während das Einkommenswachstum gering ist. Arbeitslosigkeitsepisoden werden zur Regel. Bei insgesamt sinkender Heiratsneigung wird immer später im Lebenslauf geheiratet, Lebensformen pluralisieren sich und die Fertilität sinkt. Im Gegenzug bestehen hohe Scheidungsraten und das Muster der sequentiellen Monogamie setzt sich durch. Die Renten werden niedriger, damit einher geht ein Trend zum frühen Ruhestand und zu immer größerer Langlebigkeit bei häufig auftretenden chronischen Krankheiten. Dieser kursorische Durchlauf gibt noch einmal einen Eindruck davon, welchem Geflecht von Bedingungen das Timing individueller Lebensläufe ausgesetzt ist. Mayers stichwortartige Unterteilung der historischen Entwicklung von Lebenslaufregimes legt eine Dominanz von makrostrukturellen Bedingungen (vor allem wirtschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Art) auf Lebensläufe nahe. Dem wird hier nur mit Einschränkungen gefolgt – besonders die aktuelleren Veränderungen, so hier die Annahme, werden nicht allein von den von Mayer herausgestellten Bedingungen ausgelöst. Darüber hinaus vereinfacht die Einteilung die tatsächlichen Lebenslaufmuster stark – insbesondere in der letzten Phase erscheinen die Unterschiede zur vorherigen Phase als überzeichnet. Im Widerspruch dazu muss der graduelle und in sich widersprüchliche Charakter vor allem der gegenwärtigen Veränderungen betont werden. Als historisch vereinfachende Beschreibung und unter Anerkennung der Tatsache, dass andere Formen etwa des industriellen Lebenslaufregimes denkbar wären, ist die Einteilung indes anschaulich und plausibel. Trotz der möglichen Widersprüchlichkeit von Veränderungen muss die oben vertretene Perspektive auf den Lebenslauf als ganzheitliches Muster nicht aufgegeben werden. Selbst wenn faktische Lebenslaufmuster sich immer weniger durch Standardisiertheit und Kontinuität auszeichnen, heißt das nicht, dass der Lebenslauf nicht noch als zusammenhängendes Muster institutionell verankert ist und normativ wirken kann: „[…] die empirische Erosion der Regelmäßigkeiten des Lebenslablaufs [muß] nicht zu Auflösung normativer Orientierungen führen, die weiterhin an der kontrafaktischen Aufrechterhaltung des Modells eines durch Kontinuität geprägten Lebensentwurfs festhalten können“ (Brose et al.
6.6 Dimensionen der (De-)Standardisierung des Lebenslaufs
119
1993: 170). Von einer De-Institutionalisierung des Lebenslaufs kann (noch?) nicht die Rede sein. Für den internationalen Vergleich sind Einteilungen mit Hilfe von Begriffen der politischen Ökonomie unproblematischer als für den (zeitnahen) historischen Vergleich, möglicherweise weil der Variantenreichtum innerhalb verschiedener Kategorien sofort ins Auge fällt und die nicht allein makrostrukturelle Bedingtheit von Lebensläufen leichter zu fassen ist. Neben Esping-Andersens (1990) populärer Klassifizierung wohlfahrtsstaatlicher Regimes, die wiederholt erweitert und präzisiert wurde (z. B. Lessenich 1994), wäre ebenso eine Anlehnung an die Typisierung unterschiedlicher Varianten des Kapitalismus (Hall & Soskice 2001) möglich. Der Fokus liegt bei beiden Ansätzen darauf, wie in unterschiedlichen Gesellschaften die beiden Makro-Institutionen der Marktwirtschaft (insbesondere der Arbeitsmarkt) und des Systems sozialer Sicherung organisiert und ausbalanciert werden. Die Art und Weise, wie verschiedene Interessengruppen diesen Ausgleich verhandeln und organisieren, ist historisch gewachsen und durch politische Institutionen vermittelt. Auch das Bildungssystem, die Familie und eben der Lebenslauf erhalten so jeweils eine ganz bestimmte Prägung. Deutschland wird von Hall und Soskice den koordinierten Marktökonomien zugerechnet, deren Wettbewerbsfähigkeit zu größeren Anteilen als in liberalen Marktökonomien auf geplanter und ausgehandelter Kooperation beruht. Eine Folge dessen ist das stärker formalisierte Bildungssystem, das Lebensläufe zum einen zeitlich stark strukturiert, zum anderen – im deutschen Beispiel – die spätere individuelle Position im sozialen Ungleichheitsgefüge früher und stärker als anderswo vorbestimmt. Der deutsche Wohlfahrtsstaat war lange so gut ausgebaut, dass auch Arbeitslose ihren Lebensstandard zunächst halten und Brüche im Lebenslauf überbrücken konnten. Gleichzeitig war das strukturell favorisierte Modell familialer Arbeitsteilung dasjenige des männlichen Alleinernährers, was zu einem deutlicheren Kontrast zwischen männlichen und weiblichen Lebensläufen geführt hat als in liberalen Marktökonomien. Dort setzt die Koordination des Arbeitsmarkts vor allem über Marktprinzipien Anreize für den schnelleren Wiedereinstieg von Müttern in die Erwerbsarbeit. Das davon wiederum verschiedene Verhältnis der genannten Institutionen in Wohlfahrtsstaaten sozialdemokratischer Prägung (die ebenfalls den koordinierten Marktökonomien zuzurechnen sind) führt zu einem anderen Ergebnis, etwa einer hohen Erwerbsbeteiligung von Müttern aufgrund eines politisch begünstigten großen Marktes für Teilzeitarbeit. Diese Beispiele geben eine Idee davon, in welcher Weise der räumliche Vergleich von Lebensläufen von politökonomischen Perspektiven profitiert. 84
6.6 Dimensionen der (De-)Standardisierung des Lebenslaufs Als (zeitliche) Destandardisierung werden alle Veränderungen bewertet, die die Bestimmung eines zeitlich klar gegliederten Normallebenslaufs erschweren. Diese behelfsmäßige Abgrenzung wird präziser, wenn man verschiedene Dimensionen zeitlicher Destandardisierung voneinander unterscheidet. Wohlrab-Sahr (1992: 12) bezeichnet den institutionalisierten Lebenslauf als „Ordnung ‚richtiger Zeit’ und ‚richtigen Zusammenhangs’“; dabei ist 84
Diese Andeutungen müssten weiter vertieft werden. Dabei wäre auch das Verhältnis der beiden genannten (hier vermischten) Typologien zueinander interessant.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
letzterer zum einen als rein zeitlicher Zusammenhang (Reihenfolge, Verknüpfung und Gleichzeitigkeiten) verschiedener Übergänge oder Phasen, zum anderen als Sinnzusammenhang, also als Komplex von Deutungs- und Legitimationsmustern der Übergänge zu verstehen. Tabelle 6.1 gibt einen Überblick über die Dimensionen zeitlicher Standardisierung und Destandardisierung.
Tabelle 6.1: Dimensionen zeitlicher (De-)Standardisierung im Lebenslauf Dimension
Starke Standardisierung Starke Destandardisierung Messung durch Einzelne Übergänge Universalität: Verbrei- Übergang/Zustand von Übergang/Zustand nur von Verbreitung von Übergäntung des Übergangs (bzw. allen durchlebt wenigen durchlebt gen der jeweiligen Zustände) (1) Reversibilität und Wie- Geringe Reversibilität von Große Reversibilität von Häufigkeit der Reversibiderholbarkeit: Verbrei- Übergängen, keine Wie- Übergängen, Umkehrzu- lisierung und Wiederhotung der Reversibilisie- derholungen stände und wiederholte lung von Übergängen rung und Wiederholung Zustände häufig (auch in von Übergängen (entForm von Zwischenstatus: spricht Verbreitung von A-B-A) Umkehrzuständen und wiederholten Zuständen) (2) Eindeutigkeit von Über- Genaue zeitliche Lokali- Längere Übergangspha- Verbreitung von Zwigängen (entspricht Ein- sierung eines Übergangs sen, größere Verbreitung schenstatus; Bestimmung deutigkeit von Zuständen) an einem Zeitpunkt von Brückenstatus (A-AB- der Länge von Über(3) B) gangsphasen Uniformität: Zeitpunkt Altersgradierung Alter bei Übergängen Streuungsmaße (Varianz, des Übergangs (4) beliebig Quartilsabstände) Zusammenhang zweier oder mehrerer Übergänge (Sequenzen, Verläufe) Diachrone Verknüpfung verschiedener Übergänge in Sequenzen und Verläufen: Reihenfolge verschiedener Übergänge (5) Diachrone Verknüpfung verschiedener Übergänge: Zeit zwischen zwei Übergängen (bzw. Dauer bestimmter Zustände) (6)
Prävalenz bestimmter, Reihenfolge von Über- Verbreitung und Vielfalt festgelegter Reihenfolgen gängen beliebig; große von Sequenzmustern Vielfalt an Sequenzmustern
Dauer genau festgelegt; einheitliche Altersdifferenzen verschiedener Übergänge (z. B. immer große oder immer geringe Zeitabstände) Synchrone Verknüpfung Übergangsraten (in einem verschiedener Übergän- Bereich) stark abhängig ge (bzw. Zustände) (7) von bestimmten Zuständen (in einem anderen Bereich)
Dauer beliebig; stark Streuung der Altersdiffevariierende Altersdifferen- renzen; Varianz von zen zwischen verschiede- Zustandsdauern nen Übergängen
Unabhängigkeit von Zustandsbedingte Übergängen aus verschie- gangsraten denen Bereichen
Über-
(auf der Basis von Konietzka & Huinink 2003: 287; vgl. außerdem Levy 1996; Brückner & Mayer 2005)
Standardisierte zeitliche Strukturen des Lebenslaufs zeichnen sich hinsichtlich einzelner Abschnitte und Passagen dadurch aus, dass diese stark oder gar nicht verbreitet sind. Bei
6.6 Dimensionen der (De-)Standardisierung des Lebenslaufs
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geringer Standardisiertheit gibt es keine eindeutige Prävalenz bestimmter Übergänge, dagegen treten solche häufiger auf, die vorherige wieder aufheben (z. B. Scheidungen) oder wiederholen (z. B. Zweitausbildungen); letzteres tritt häufig in der Form der Statusfolge AB-A mit B als Zwischenstatus auf. Diese Aspekte können als Universalität (1), Reversibilität und Wiederholbarkeit (2)85 von Übergängen bezeichnet werden – es geht darum, dass bestimmte Übergänge verbreitet auftreten. Eine weitere, damit verbundene Dimension der Standardisierung ist die Eindeutigkeit (3). Ist sie gering ausgeprägt, treten Brückenstatus mit der Statusfolge A-AB-B häufiger und länger auf, wobei AB einen Status darstellt, der weder eindeutig A noch eindeutig B ist. Die Uniformität (4) von Übergängen, also die Einheitlichkeit der Form ihres Auftretens, manifestiert sich in einer starken Altersgradierung von Übergängen („richtige Zeit“). Universalität und Uniformität sind nur in Bezug auf das Aggregat zu messen. Reversibilität, Wiederholbarkeit und Eindeutigkeit von Übergängen können zwar rein auf Individuen bezogen bestimmt werden; die jeweilige Definition des Zustandsraums, anhand derer Reversibilisierung, Wiederholung und Eindeutigkeit erst bestimmt werden können, enthält aber notwendigerweise einen Bezug zur Aggregatebene, d. h. dazu, welche Zustände und Lebensläufe „normal“ und „typisch“ sind. Zudem verweisen die unterschiedlichen Dimensionen aufeinander. Die Standardisierung oder Destandardisierung des zeitlichen Zusammenhangs („richtiger Zusammenhang“) mehrerer Übergänge oder Phasen ist nur noch im Aggregat messbar. Hinsichtlich der diachronen Verknüpfung sind die Reihenfolge (5) von Übergängen und die Zeitabstände zwischen verschiedenen Übergängen („richtige Zeit“) interessant. Die synchrone Verknüpfung von Übergängen und Zuständen verschiedener Lebensbereiche (6) findet in Übergangsraten ihren Ausdruck, die von anderen Zuständen abhängen. Wenn zwei Übergänge einander ausschließen oder zwei Phasen nie gleichzeitig durchlebt werden, wäre das ein Beleg für eine negative Verknüpfung. Die Parallelen zu den oben beschriebenen Schemata der zeitlichen Ordnung im Wirtschafts- und Arbeitsleben (vgl. Abschnitt 6.3.3; Brose et al. 1993: 38ff) sind deutlich: Auch im individuellen Lebenslauf stellen Simultaneität (z. B. in Form des Überlappens bestimmter Zustände, d. h. verlängerter Übergänge), Reversibilität (einzelner Übergänge) und Diskontinuität (des Zusammenhangs von Übergängen) mögliche Aspekte von Destandardisierung dar. Die mit diesem Überblick vorgestellte Schematisierung soll möglichen normativen Veränderungen, die mit faktischen Destandardisierungsprozessen einhergehen, nicht vorgreifen. Damit wird der Empfehlung von Behrens und Voges (1996) gefolgt, einen direkten Schluss von tatsächlichen Verlaufsmustern auf geltende Normen oder kulturelle Muster (oder gar deren Gleichsetzung) zu vermeiden. Trotzdem sind zu den meisten Dimensionen der Standardisierung normative oder strukturelle Korrelate denkbar, zur Uniformität (4) 85
Reversibilität und Wiederholbarkeit sind hier nicht synonym: Mit Reversibilisierung eines Übergangs meine ich ein Rückgängigmachen, das mit einem besonderen neuen Status einhergeht, der dem vor dem Übergang nicht entspricht (z. B. Ledigsein und Geschiedensein); die Wiederholung eines Übergangs ist dagegen nicht mit einem Rückgängigmachen eines früheren Status und deswegen auch nicht mit einem besonderen Umkehrstatus verbunden (z. B. Zweitausbildung; Rückzug ins Elternhaus und erneuter Auszug). Im Prinzip ist der Übergang von Reversibilisierung zu Wiederholung fließend und von der sozialen Definition der Übergänge bzw. des Zustandsraums abhängig.
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6 Destandardisierungsprozesse von Lebensläufen
z. B. Altersnormen, zur Reihenfolge verschiedener Übergänge (5) der institutionalisierte Lebenslauf oder zur Zeit zwischen zwei Übergängen (6) Warte- oder Anwartszeiten in der Sozialversicherung. Diese Beispiele von Entsprechungen sind nicht erschöpfend für die jeweilige Standardisierungsdimension und sie sind ebensowenig zwangsläufig mit ihnen verknüpft. Es handelt sich vielmehr um ein nicht-notwendiges Wechselverhältnis (im Sinne der Weberschen Wahlverwandtschaft), das unterschiedliche Gestalten annehmen kann. Grundsätzlich können alle Standardisierungen auch Ergebnis allein rationaler Nutzenkalküle von Individuen sein oder Nebeneffekte ganz anderer Bedingungen. Obschon die Klassifizierung der Dimensionen von Standardisierung auf den ersten Blick quantitativ anmutet, stecken in ihr nicht nur quantitative Aspekte von Zeit. Zum einen werden die Zustandsbestimmungen nicht einfach vorgefunden, sondern übernehmen mehr oder minder genau die Strukturierungen des Zustandsraums der sozialen Wirklichkeit. Die soziale Definition von Zuständen ist immer potentiell uneindeutig. Gesellschaftliche Veränderungen verstärken diese Uneindeutigkeiten des Zustandsraums weiter. Im Umgang mit den Daten müssen für diese Uneindeutigkeiten bestimmte Entscheidungen getroffen werden: Wird das Eingehen z. B. einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einer eingetragenen Partnerschaft als eigener Zustand begriffen? Wo sind ABM-Maßnahmen zu verorten, sind sie mit Erwerbstätigkeit gleichzusetzen oder mit Arbeitslosigkeit? Für die folgenden Analysen ist der Zustandsraum durch die Daten vordefiniert. Es ist aber deutlich geworden, dass diese Abgrenzungen teilweise anfechtbar sind und anders aussehen könnten. Augenfällig wird die eigentliche Untrennbarkeit von der Bedeutungsebene ebenso im Aspekt der Reversibilität. Eine Scheidung wird gängigerweise als die Aufhebung einer Ehe begriffen – was wäre aber, wenn Scheidungen universal wären? Damit ginge eventuell ihr heutiger „Sinn“, nämlich das Scheitern und die Aufhebung der Ehe, verloren – eine Scheidung wäre ein eigener, neuer Übergang. Die Ausprägungen der Übergänge dürfen nicht mit natürlich gegebenen Tatbeständen verwechselt werden. Methodisch entspricht das der Schwierigkeit, Zustände eindeutig voneinander zu unterscheiden. Das Auftreten von Brückenstatus des Musters A-AB-B (z. B. Ausbildung – Teilzeitarbeit bei fortgeführter Ausbildung – Vollzeitarbeit) setzt voraus, dass A und B eindeutig voneinander unterscheidbar sind und dass AB eine Art Mischform zwischen beiden darstellt. Ab wann „AB“ als Status eigener Qualität begriffen werden kann, ist allein unter Rückgriff auf seine soziale Bedeutung zu klären.
7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
In diesem Kapitel fasse ich die zentralen Erkenntnisinteressen dieser Arbeit zusammen (7.1) und vergleiche die für den empirischen Teil relevanten Übergänge vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen miteinander (7.2). Anschließend werden die Datenbasis der folgenden Analysen, das Sozio-ökonomische Panel (7.3), sowie die für die Deskription verwendeten Methoden (7.4) vorgestellt.
7.1 Problemstellung und Leitfragen Im Mittelpunkt der deskriptiven empirischen Betrachtungen steht die Frage, ob und für welche Stränge des Lebenslaufs die These der Destandardisierung empirisch haltbar ist, und zwar bezogen auf die Entwicklung in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Da, wo es möglich ist, wird die Ereigniszeit vor dem Zweiten Weltkrieg einbezogen, die Datenbasis lässt hier jedoch allenfalls vorsichtige Schlüsse zu. Von der präziseren empirischen Betrachtung ausgeschlossen ist damit zum einen der internationale Vergleich, zum anderen der Sonderfall Ostdeutschland, dessen historische Entwicklung zu größerer Diskontinuität von Lebensläufen geführt hat, zumindest seit Wende und Vereinigung im Jahr 1990 (z. B. Sackmann et al. 2000; Sackmann 2000; Sydow 1995). Ausgehend von der Annahme, dass sich der vermutete Wandel (hier: die Destandardisierung von Lebensläufen) über Geburtskohorten vollzieht, wird die zeitliche Entwicklung mittels des Vergleichs verschiedener Geburtskohorten erfasst. Damit wird der Idee des Lebenslaufs als eines ganzheitlichen Zusammenhangs Rechnung getragen: Geburtskohorten sind im Verlauf ihres Lebens ähnlichen Einflüssen ausgesetzt und deswegen als Einheiten der Beschreibung gut geeignet. Weil diese Betrachtungsweise auch in den meisten anderen empirischen Studien verwendet wird,86 eröffnen sich zudem vielfache Vergleichsmöglichkeiten. Der empirische Teil dieser Arbeit liefert Antworten auf drei Fragenkomplexe: Erstens geht es darum, die allgemeine These der Destandardisierung von Lebensläufen zu präzisieren. Welche Übergänge sind, wenn überhaupt, Destandardisierungsprozessen im oben beschriebenen Sinne ausgesetzt? Lassen sich solche Prozesse auch für Übergänge in der zweiten Lebenshälfte nachweisen? Ausgehend von obigen Ausführungen (Kapitel 3.3) ist anzunehmen, dass die Geschlechter in unterschiedlicher Weise von Veränderungen betroffen 86
Eine Alternative bestünde darin, Ereigniskohorten und die Streuung ihres Alters zu betrachten – etwa das mittlere Alter (seine Streuung etc.) derer, die in den 1950er Jahren geheiratet haben, mit demjenigen zu vergleichen, die in den 1960er Jahren geheiratet haben usw. So könnte beispielsweise der Einfluss historischer Umwälzungen genauer untersucht werden als aus Kohortenperspektive. Für die Analyse derjenigen Fälle, die den Übergang nicht durchlaufen, wäre ein solches Vorgehen jedoch (noch) problematischer als das im Folgenden gewählte.
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7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
sind. Alle behandelten Übergänge sind einmalig bzw. werden als einmalige konzipiert, indem bei möglichen Mehrfachübergängen (wie mehreren Ausbildungs- oder Studiumsabschlüssen oder mehrfachen Aus- und Rückzügen aus dem bzw. in das Elternhaus) der jeweils letzte oder erste zum Referenzübergang wird. Um Übergangsstrukturen verschiedener Kohorten detaillierter zu vergleichen, etwa Erwerbskarrieren oder wohlfahrtsstaatliche Karrieren, fehlt die Datenbasis, da die retrospektiv erhobenen Informationen zu grob sind. Zweitens wird – die Vorstellung des Lebenslaufs als Institution im Hintergrund – die Destandardisierungsdiagnose nicht nur in Hinsicht auf einzelne Übergänge, sondern auch auf ihre Verknüpfung geprüft: Lässt sich nachweisen, dass die Vielfalt der Sequenzen zunimmt? Sind bestimmte Übergänge im Kohortenvergleich mehr oder weniger als früher miteinander verknüpft? Drittens haben die deskriptiven empirischen Analysen zum Ziel, die Diagnose der zeitlichen Destandardisierung einzugrenzen und gegen alternative oder spezifischere Deutungen der Befunde abzusichern: Stecken hinter den Destandardisierungsprozessen im Aggregat womöglich nur zeitliche Verschiebungen oder verschwinden scheinbare Destandardisierungsprozesse, wenn das Timing von Übergängen nach bestimmten Merkmalen differenziert wird? Eine mögliche Differenzierung von Lebensläufen ist vor allem für die Ungleichheitsforschung relevant und würde die Strukturbedingtheit des Timings von Übergängen in Lebensläufen unterstreichen. Eventuell steigt die Heterogenität eines Übergangs, beispielsweise in Form seiner zeitlichen Streuung, nur im Aggregat und verschwindet ganz oder teilweise, wenn bestimmte Gruppen getrennt voneinander betrachtet werden. Die Annahmen der Differenzierung und Destandardisierung schließen sich dabei nicht aus, relativieren einander jedoch. Ich konzentriere mich wie das Gros der entsprechenden Studien auf den Faktor Bildung als Kriterium der Differenzierung (z. B. Hillmert 2001; W. Müller 2001; Sacher 1998; Metz-Göckel 1992; Blossfeld 1989 u. v. a. m.). Ein ganzes Bündel von Erklärungen untermauert die Relevanz von Bildung inhaltlich: Für familiale Übergänge wird argumentiert, dass verlängerte Bildungsphasen (vor allem Hochschulbildung) zum Aufschub der Familiengründung und manchmal zur Aufgabe von Kinderwünschen führen (beispielhaft Onnen-Isemann 2003; Goebel 1997). Auf der biographischen Ebene begünstigt eine hohe Bildung die Fähigkeit zur Reflexion und zur geplanten Abweichung von normativ vorgegebenen Lebenslaufmustern. Die Argumentation muss zusätzlich für die Dimension des Geschlechts differenziert werden, welche mit Bildung interagiert. Veränderungen präzise zu beschreiben ist eine Voraussetzung dafür, ihren Ursachen genauer auf den Grund zu gehen. Wird die Annahme widerlegt, dass sich LebenslaufDestandardisierungen hauptsächlich als Differenzierungsprozesse beschreiben lassen, öffnet sich das Feld für andere strukturorientierte Erklärungen, die nicht oder nur am Rande mit Bildung zusammenhängen. Zu denken ist hier vor allem an den Strukturgeber Arbeitsmarkt, der nicht nur Erwerbs-Übergänge prägt, sondern auch familiale Übergänge beeinflusst. Aus den obigen Ausführungen zur Spannung zwischen Handeln und Struktur im Lebenslauf (vgl. Kapitel 3.1.2) folgt, dass dieses Verhältnis erst dann als ein reines Dominanzverhältnis gefasst werden darf, wenn sich ein solches eindeutig nachweisen lässt. Ich gehe davon aus, dass auch da, wo Strukturen das Timing von Lebenslauf-Übergängen prägen, Handlungsspielräume individuell mit Deutungen, Selbstentwürfen und Entscheidungen gefüllt werden (müssen), die nicht von Vornherein feststehen. Dies gilt im besonderen Maße in den Fällen (von Übergängen, gesellschaftlichen Gruppen etc.), in denen Individualisierungsprozesse oder Wertewandel die strukturellen Gegebenheiten modifiziert haben.
7.2 Die betrachteten Übergänge im Vergleich
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7.2 Die betrachteten Übergänge im Vergleich Bis zu diesem Punkt wurde die Annahme der Destandardisierung trotz des Versuchs, immer wieder konkrete Beispiele einzubeziehen, in allgemeiner Weise diskutiert. Spätestens unter Rückgriff auf empirische Befunde wird aber schnell deutlich, dass von der Destandardisierung des Lebenslaufs eigentlich nicht gesprochen werden darf. Deswegen versuche ich in diesem Abschnitt, die weiter unten betrachteten Übergänge miteinander zu vergleichen. So wird die zu starke, schlagwortartige Verallgemeinerung der Entwicklungen, die etwa Mayer und Brückner (2005) an der entsprechenden Literatur kritisieren, so weit wie möglich vermieden. In dieser Arbeit werden folgende Übergänge untersucht: Das Ende des Schulbesuchs, der Auszug aus dem Elternhaus, das Ende des Studiums oder der Ausbildung, der Beginn der ersten Erwerbstätigkeit, der Eintritt in die erste Ehe, die erste Elternschaft, der Auszug des letzten Kindes, der Tod des letzten Elternteils, der Eintritt in den Ruhestand sowie der Tod des Ehepartners. Nur die familialen Übergänge der ersten Lebenshälfte (Auszug, erste Eheschließung, Geburt des ersten Kindes) werden später (im 11. Kapitel) multivariaten Analysen unterzogen. Schon auf den ersten Blick fallen zwei Kriterien der Einteilung auf: Erstens beinhaltet die Aufzählung Übergänge, die sich auf den Bereich von Bildung und Erwerbsleben beziehen, und solche, die den Familienzyklus oder allgemeiner private Lebensformen betreffen – es können also verschiedene Stränge des Lebenslaufs ausgemacht werden. Zweitens lässt sich auch eine chronologische Unterteilung vornehmen in Übergänge aus der ersten und solche aus der zweiten Lebenshälfte, wobei die Zäsur (in der obigen Aufzählung) am ehesten nach der Geburt des ersten Kindes gesetzt werden muss, da nach diesem Zeitpunkt durchschnittlich die zeitliche Mitte des individuellen Lebens erreicht wird. Die meisten Übergänge der zweiten Lebenshälfte unterscheiden sich darüber hinaus in ihrem Charakter von denen der ersten Lebenshälfte. Nur der Eintritt in den Ruhestand wird in der Lebenslaufforschung überhaupt in ähnlicher Weise untersucht wie Statuspassagen des Jugend- und des frühen Erwachsenenalters. Gemäß der oben verwendeten weiten Definition von Übergängen87 lassen sich aber keine Gründe anführen, den Auszug des letzten Kindes, den Tod des letzten Elternteils sowie den Tod des Partners nicht als wichtige Übergänge zu betrachten. Die Merkmale des Statuswechsels, des Wechsels von Identitätssegmenten und der sozialen Normiertheit sind für alle drei erfüllt, auch wenn der Statuswechsel nicht so eindeutig ausgeprägt und reglementiert ist wie bei früheren Übergängen oder dem Übergang in den Ruhestand. Dass die genannten Wechsel nicht planbar sind und dass sie einem eher „zustoßen“, ist zwar inhaltlich richtig, stellt jedoch im Rahmen der vorgestellten Definition keinen gültigen Einwand dar. Hier werden sie zunächst in die deskriptiven Analysen aufgenommen, um sie überhaupt einmal mit anderen, häufiger untersuchten Übergängen vergleichen und die zeitliche Struktur der zweiten Lebenshälfte beschreiben zu können – auch wenn die zugrunde liegenden Daten noch sehr bruchstückhaft sind.
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Ich folge Sackmann und Wingens (2001: 22); sie definieren Übergänge als „in gesellschaftliche Übergangsstrukturen eingebettete Statuswechsel […], die – unterschiedlich umfangreich – sozial normiert und mit einem individuell zu bewältigendem [sic!] Wechsel von Identitätssegmenten verbunden sind […]“.
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7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
Heinz (1996) unterscheidet wie oben (Kapitel 4.2) erläutert vier Kriterien des Vergleichs von Übergängen: Die Kontrolliertheit des Übergangs durch Institutionen und Organisationen, seine Bewusstheit, das daraus folgende Wissen über den Übergang und damit seine Planbarkeit, seine Abhängigkeit von anderen Übergängen sowie seine Reversibilität. Diese vier Kriterien ordnet er in ein Kontinuum von Struktur und Handeln ein. Was die Kontrolliertheit durch Institutionen und Organisationen angeht, muss die erste Kategorie präzisiert werden: Der Grad der Kontrolle darüber, ob ein Übergang eintritt, muss von demjenigen der zeitlichen und anderen Ausgestaltung des Übergangs unterschieden werden. Zwar ist zu vermuten, dass in beiderlei Hinsicht ein ähnlicher Grad an Kontrolle auftritt, das ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Dass eine Ehe eintritt, unterliegt nur in sehr geringem Ausmaß der institutionellen Kontrolle; wie dieser Übergang indes organisiert wird, abläuft und was aus ihm folgt, ist genau geregelt. Parallel zu Heinz’ Feststellung, dass Lebenslauf-Übergänge in modernen Gesellschaften immer seltener in vorgegebene Zeitpläne eingebunden sind, finden sich ebendort nur sehr wenige Übergänge, die tatsächlich von allen Gesellschaftsmitgliedern durchlaufen werden. Die Position einzelner Übergänge auf den von Heinz beschriebenen Beschreibungskontinua ist nicht statisch, sondern ständigem Wandel unterworfen. Zudem kann die subjektive Einschätzung dieser Handlungsspielräume von ihrer objektiven Bedeutung abweichen. Letztendlich sind die Positionen der Übergänge auf den von Heinz beschriebenen Kontinua theoretisch nie exakt bestimmbar, es sei denn, man betrachtete konkrete Übergänge und die Bedingungen, unter denen sie sich vollzogen haben. Die abstrahierenden Verallgemeinerungen erfüllen den heuristischen Zweck, für die genannten Übergänge Unterschiede, Gemeinsamkeiten und ihre Position im Vergleich zueinander zu erarbeiten. Da es den Rahmen sprengen würde, alle Zustandswechsel einzeln miteinander zu vergleichen, werden zunächst die genannten Gruppierungsmöglichkeiten aufgegriffen. Berufliche Übergänge und solche in das oder aus dem (Aus-)Bildungssystem heraus sind sowohl in ihrem Eintreten (oder Nicht-Eintreten) als auch in ihrer Ausgestaltung hochgradig durch Institutionen und Organisationen reguliert. Der Eintritt in eine bestimmte Ausbildung, ein Studium oder in eine berufliche Tätigkeit ist insofern immer reversibel, als durch neue Übergänge in eine andere Ausbildung, berufliche Tätigkeit etc. die direkten Konsequenzen früherer Schritte, wie etwa Verdienst und Status, aufhebbar sind, auch wenn sie als Erwerbsbiographie nicht ungeschehen gemacht werden können. Die individuelle Kontrolle und Planbarkeit solcher Übergänge ist insgesamt im mittleren Bereich anzusiedeln. Am schlechtesten pauschal einzuschätzen ist ihre Abhängigkeit von anderen Statuspassagen, die grundsätzlich immer bestehen kann, aber nicht bestehen muss. Interdependenz im Sinne der Wirkung früherer Übergängen auf (viel) spätere, also im Sinne von Pfadabhängigkeit, nimmt mit der Zeit zu, da frühere Weichenstellungen immer schwerer rückgängig gemacht werden können. In Vergleich dazu bieten familiale Übergänge ein disparates Bild. In der ersten Lebenshälfte sind sie in hohem Maße individuell kontrollierbar, insbesondere in Hinsicht darauf, ob sie eintreten oder nicht. Ihre Gestaltung ist teilweise reguliert (Ehe), teilweise weniger oder gar nicht (Auszug aus dem Elternhaus). Bis auf die Geburt des ersten Kindes sind alle familialen Statuswechsel der ersten Lebenshälfte reversibel, auch wenn ihre Folgen unterschiedlich weit reichen. Für die Übergänge der zweiten Lebenshälfte gilt, dass sie der Kontrolle des Individuums stärker entzogen sind, jedoch weniger, weil sie institutionell reguliert wären, sondern weil es sich um ungeplant und tendenziell unerwünscht eintretende
7.3 Das Sozio-ökonomische Panel
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Ereignisse handelt (Tod der Eltern oder des Partners) oder weil sie in hohem Maße von Entscheidungen anderer abhängen (Auszug des letzten Kindes). Allein der Eintritt in den Ruhestand ist institutionell stark reguliert und zumindest in seiner zeitlichen Gestaltung in einigen Fällen individuell beeinflussbar oder sogar kontrollierbar. Die langfristige Abhängigkeit von anderen Übergängen ist insbesondere beim Auszug des letzten Kindes hoch, der unter anderem mit dem Zeitpunkt seiner Geburt zusammenhängt. Dass die Übergänge der zweiten Lebenshälfte (bis auf den Eintritt in den Ruhestand) wenig vergleichbar mit denen der ersten erscheinen, liegt vor allem daran, dass sie nur in geringem Maß institutioneller Kontrolle ausgesetzt sind. Zudem unterscheiden sie sich in der gängigen biographischen Deutung von den früheren Übergängen: Sie werden als Verlust eines zuvor erreichten Status interpretiert, nach dessen Eintreten man z. B. nicht mehr die Position von Eltern mit Kindern im Haushalt, eines Arbeitnehmers oder einer verheirateten Person innehat. Dass es sich dabei jedoch um im Prinzip variable Deutungen handelt, dass diese Übergänge deutungsoffen sind und sehr unterschiedlich erlebt werden, ist einer der Erträge der neueren Alternsforschung (für jeweils verschiedene Übergänge im Alter z. B. Hollstein 2002; Künemund 2000a und 2001; P. Baltes 1998; M. Baltes & Montada 1996). Von Vornherein weisen Übergänge folglich ein bestimmtes Destandardisierungspotential auf: Je stärker sie etwa institutionell reguliert sind, desto deutlicher sind sie zeitlich standardisiert. Mit einer geringen Reguliertheit geht aber nicht zwangsläufig eine geringe Standardisiertheit einher. Für die Übergänge der zweiten Lebenshälfte ist zu erwarten, dass sie mit Ausnahme des Übergangs in den Ruhestand weitaus weniger zeitlich standardisiert sind als die meisten Übergänge der ersten Lebenshälfte. Besonders die familialen Übergänge der zweiten Lebenshälfte und ihre zeitliche Struktur sind bisher nicht häufig soziologisch untersucht worden. Die darauf bezogene Darstellung erfüllt mit ihrem fast rein beschreibenden Charakter so die Funktion einer noch bruchstückhaften Zeit-Karte der zweiten Lebenshälfte im Gesamtkontext des Lebenslaufs.
7.3 Das Sozio-ökonomische Panel Die in dieser Arbeit verwendeten empirischen Daten stammen aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP), einer Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland, die seit 1984 jährlich im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung durchgeführt wird.88 Im Erhebungsjahr 2003 wurden knapp 24.000 Personen in mehr als 12.000 Haushalten befragt. Das SOEP dient der langfristigen Erfassung des gesellschaftlichen Wandels ökonomischer, politischer und sozialer Art. Nicht nur objektive Lebensbedingungen von Individuen und Haushalten, sondern auch subjektive Einschätzungen etwa zu Lebensqualität und gesellschaftlichen Veränderungen werden umfänglich erfasst. Abgefragt werden so bei88
Ab 1990 wurde das Gebiet der ehemaligen DDR einbezogen und ab 1994/95 gibt es eine Stichprobe von Zuwanderern; Erweiterungs- und Auffrischungsstichproben erfolgten außerdem 1998, 2000 und 2002 (Hocheinkommens-Stichprobe). Für einen ausführlicheren Überblick über das SOEP vgl. SOEP group (2001).
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7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
spielsweise Haushaltszusammensetzung, Wohnsituation, Erwerbs- und Familienbiographien, aktuelle Erwerbsbeteiligung und Mobilität, Einkommen, Gesundheit, gesellschaftliche Partizipation und Lebenszufriedenheit. Darüber hinaus erfolgen jährlich wechselnde Schwerpunktbefragungen z. B. zu Zeitverwendung, Weiterbildung oder zur sozialen Sicherung. Neben dem Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland und demjenigen zwischen Deutschen und Ausländern ermöglicht das SOEP für bestimmte Untersuchungsbereiche internationale Vergleiche, da es in das Europäische Haushalts-Panel (European Community Household Panel – ECHP) eingebunden ist. Die hier verwendeten Daten stammen aus verschiedenen Quellen innerhalb des SOEP: Jährlich werden Haushaltszusammensetzung, aktuelle Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Bezug von Sozialleistungen, familiale Ereignisse und vieles andere mehr erhoben. Zudem wird jeder Teilnehmer unter anderem in gesonderten Biographiefragebögen einmalig und oft retrospektiv beispielsweise nach seinem letzten Ausbildungsabschluss, seiner ersten Erwerbstätigkeit, seiner Jugend und ähnlichem gefragt. Aus diesen beiden Quellen speisen sich die immer weiter fortgeschriebenen Aktivitäts-, Familienstands- und Geburtsbiographien, die in Form von Spelldaten89 aufbereitet sind, sowie die abgeschlossenen, ebenso teilweise retrospektiv erhobenen Informationen zur Jugend sowie zur ersten und ggf. letzten Erwerbstätigkeit (ausführlicher vor allem Frick & Schneider 2005).90 Sofern sie in den Erhebungszeitraum und das Jahr davor (1983) fallen, liegen Informationen über den Zeitpunkt einzelner Übergänge in Monatsabständen vor, alle weiter zurückliegenden Übergänge wurden nur als Jahresangaben erfragt. Deshalb werden alle hier verwendeten Übergangszeitpunkte allein als Jahresangaben verwendet, auch die, für die eigentlich genauere Angaben vorliegen. Da die früher geborenen Kohorten wichtige Übergänge lange vor dem Beobachtungszeitraum durchlebt haben, wäre ohne die retrospektiven Informationen zur Lebensspanne vor 1984 kein weiter reichender Vergleich zwischen Kohorten möglich. Ein Vergleich von genaueren Angaben (in Monaten) mit ungenaueren (in Jahren) könnte die Ergebnisse verzerren. Die hier vorgenommene grobe Kontrastierung mittels Jahresangaben stellt ein verlässliches Instrument zur Erfassung möglicher Destandardisierungstendenzen dar: Sind letztere schon auf dieser ungenauen, für kleinere Schwankungen unempfindlichen Ebene nachweisbar, spricht das deutlich dafür, dass sie nicht zufällig sind. Viele der Fragen aus den unterschiedlichen Teilquellen sind nicht allen Befragten gestellt worden oder zeigen hohe Ausfallquoten, die eine Vielzahl von Ursachen haben können (z. B. Rendtel 1995: 205ff). Daraus ergibt sich, dass stichhaltige Informationen zu den einzelnen Übergängen teilweise nur für sich wenig überschneidende Personengruppen vorliegen, die zudem nicht plausibel gewichtet werden können.91 Bei der Interpretation ist 89
90 91
Das sind Daten, in denen die Informationen für eine Person in mehrere Fälle gesplittet werden, die den einzelnen Zuständen entsprechen. Für eine erstmalig verheiratete Person gäbe es entsprechend zwei Fälle: Einen Split für den Zeitraum, in dem sie ledig war; in diesem sind die Informationen (Beginn, Ende, Art des Zustands) für eben diese Episode enthalten. Der Beginn des zweiten Spells entspricht dem Zeitpunkt der ersten Eheschließung. In ähnlicher Weise gibt es auch Episodendaten, die einen Spell für jeden Monat oder jedes Jahr im Beobachtungszeitraum liefern (vgl. Kapitel 11.1). Das entspricht (in dieser Reihenfolge) den Datensätzen pbiospe, biomarsy, biobirth, biobirthm, biosoc und biojob. Mit dem SOEP sind Längsschnittgewichte erstellbar, die sich aus dem Produkt der Hochrechnungsfaktoren der einzelnen Erhebungsjahre ergeben. Damit werden Verzerrungen der Stichprobe ausgeglichen und es sind
7.3 Das Sozio-ökonomische Panel
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deswegen große Vorsicht geboten, insbesondere auch, wenn es um den Zusammenhang mehrerer Übergänge geht. Einige Fragen bleiben aufgrund dieser Struktur der Daten von Vornherein unbeantwortet. Für Einkommensangaben und subjektive Zufriedenheit z. B. haben Frick und Grabka (2003) nicht zufällig verteilte fehlende Angaben nachgewiesen und entsprechende Korrekturinstrumente beschrieben; für biographische Informationen gibt es kaum entsprechende Untersuchungen, geschweige denn mögliche Korrekturinstrumente, die nachträglich anwendbar wären.92 Da die fehlenden Angaben zu bestimmten Übergängen teilweise schlecht ausgewiesen sind, ist die Frage danach, welche Übergänge mit Sicherheit noch nicht stattgefunden haben, zum Teil schwieriger zu beantworten als diejenige nach dem Zeitpunkt des jeweiligen Ereignisses. Wie mit diesem Problem im Einzelnen umgegangen wird, ist Gegenstand der den jeweiligen Übergang behandelnden Kapitel (bzw. der entsprechenden Anhänge), ebenso wie die Operationalisierung der einzelnen Übergänge und anderer Variablen immer dort erläutert wird, wo diese erstmals gebraucht werden. Retrospektiv erhobene Daten können dem autobiographischen Erinnerungsprozess geschuldeten Fehlern und Verzerrungen ausgesetzt sein (allgemein vgl. Brückner 1990; Künemund 1990). Dies ist mit Hilfe von Paneluntersuchungen, die Informationen zum gleichen Zeitraum mehrfach und mit unterschiedlichen Abständen erheben oder bei denen (wie in manchen Fällen beim SOEP) der gleiche Tatbestand sowohl in retrospektiven Biographiefragebögen als auch in den auf die Gegenwart bezogenen Fragen erhoben wird, gut nachgewiesen. In Bezug auf Partnerschaftsverläufe werden z. B. einzelne Trennungen zeitlich falsch eingeordnet (Fischer-Kerli & Klein 2003); im Rückblick auf die eigene Erwerbskarriere (Reimer 2003, 2004, 2005) werden kürzere Episoden z. B. der Arbeitslosigkeit häufig übersehen. Diese Erinnerungsfehler sind nicht zufällig, sie lassen sich zumindest teilweise mit dem oben beschriebenen Versuch erklären, die eigene Biographie möglichst bruchlos und kohärent zu konstruieren. Neben diesen Fehlern (oder zusätzlich zu ihnen), die der häufig unbewussten „Glättung“ des eigenen Lebenswegs dienen, sind Verzerrungen denkbar, die in der Interviewsituation (Zeitpunkt des Interviews, Geschlecht des Interviewers, Anwesenheit des Partners) ihre Ursache haben oder in noch spezielleren Einflüssen – beispielsweise erinnern sich Beamte schlechter an ihre berufliche Laufbahn als Beschäftigte des privaten Sektors (Becker 2001). Jede Art von Erinnerungsfehler, unabhängig davon, ob er bewusst oder unbewusst motiviert ist, wird umso wahrscheinlicher, je weiter der zu erinnernde Zeitraum zurückliegt. Dem wird in dieser Arbeit mittels der Beschränkung auf Jahresangaben in gewisser Weise entgegengekommen; trotzdem ist anzunehmen, dass die Angaben der früher geborenen Kohorten etwa zu ihrem Berufeinstieg
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Schlüsse auf die Gesamtbevölkerung möglich. Nimmt ein Befragter ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr teil oder fällt für ein Jahr aus, so erhält er für die betreffenden Jahre einen Hochrechnungsfaktor von Null – womit auch das Längsschnittgewicht Null wird und der Befragte damit aus den Berechnungen herausfällt. Auf diese Weise gingen bei Gewichtung die meisten der hier verwendeten Daten verloren, da die einzelnen Informationen aus unterschiedlichen Jahren stammen (zur Frage der Gewichtung vgl. HaiskenDeNew & Frick 2003: 137ff). Eine ausführliche Analyse von Ausfällen, Ausfallwahrscheinlichkeiten und Folgen für die Repräsentativität am Beispiel der ersten Jahre des SOEP vgl. Rendtel 1995. Für das von ihm analysierte Beispiel der Langzeitarbeitslosigkeit kommt Rendtel nach eingehender Analyse jedoch zu dem Schluss, dass die gefundenen Verzerrungen nicht gravierend seien (323ff).
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7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
weniger verlässlich sind, sei es, dass der Zeitpunkt von Übergängen falsch erinnert wird oder dass einzelne Sequenzen nicht angegeben werden. Auch dieses Problem muss bei der Interpretation der Befunde berücksichtigt werden.
7.4 Methoden In den folgenden Abschnitten geht es zunächst um die zeitliche Uniformität von Übergängen. Diese Dimension der Destandardisierung ist unterschiedlich erfassbar. Survivalanalysen zeigen ebenso wie alle Arten von Streuungsmaßen (etwa die Standardabweichung), ob und wie sehr ein Übergang auf eine bestimmte Altersstufe konzentriert ist. Die hier verwendeten Quartilsabstände geben wieder, welcher Abstand (gemessen in ganzen Lebensjahren) zwischen dem Alter besteht, in dem 25 Prozent der Personen einer Geburtskohorte, und demjenigen, in welchem 75 Prozent einen Übergang vollzogen haben. Diese Art der Messung hat den Nachteil, dass die Enden der Verteilung, das heißt die „frühesten“ und die „spätesten“ 25 Prozent nicht mehr sichtbar sind, wenn sie auch in die Berechnungen mit eingehen. Stattdessen die 20- und 80-Prozent-Grenzen (Quintile) oder gar die 10- und 90Prozent-Grenzen (Dezentile) anzugeben, um einen größeren Teil der Prozesse abzubilden, wäre indes keine Alternative: Einige der Übergänge (etwa Heirat und Elternschaft) wurden überhaupt nur von maximal 80 Prozent der einbezogenen Personen erlebt, so dass keine oberen Quartils- oder Dezentilsgrenzen angebbar wären. Die hier angegebenen Quartilsabstände beruhen auf Survivalanalysen, die mittels des Produkt-Limit-Verfahrens von Kaplan und Meier geschätzt werden (Blossfeld und Rohwer 2002: 71; Kleinbaum 1996: 45ff; Hillmert 2001: 149f). Im Gegensatz zu Quartilsabständen, die nur auf tatsächlich erfolgten Übergängen beruhen, bietet das hier verwendete Verfahren den Vorteil, auch die in den rechtszensierten Fällen enthaltene Information miteinzubeziehen. Bei diesen ist bis zum Ende des Beobachtungszeitraums kein Übergang eingetreten bzw. ab einem bestimmten Zeitpunkt sind keine Informationen mehr verfügbar, weil der Befragte etwa unbekannt verzogen ist oder die Antwort verweigert hat. Zwar ist in diesen Fällen nicht bekannt, wann ein Übergang erfolgt ist oder erfolgen wird. Bis zum Zeitpunkt oder Alter der Rechtszensierung ist jedoch gesichert, dass der Übergang nicht stattgefunden hat. Entsprechend geht ein solcher Fall bei der Kaplan-Meier-(Produkt-Limit-)Schätzung bis zum Zeitpunkt seines Ausscheidens in das Risikoset derjenigen Fälle ein, die dem Risiko des Übergangs ausgesetzt sind, weil sie ihn noch nicht erlebt haben. Diese Berechnungsgrundlage muss beachtet werden, wenn man die hier gezeigten Quartilsabstände mit solchen vergleicht, die nicht auf Survivalanalysen beruhen und bei denen nur Fälle berücksichtigt werden, die das betreffende Ereignis tatsächlich durchlaufen haben. Da zum Zwecke einer möglichst großen Datenbasis alle Erhebungsjahre einbezogen werden, führt der über die Erhebungsjahre kumulierte Ausfall auch zu einer Anhäufung rechtszensierter Fälle, für die allein die Information vorliegt, dass sie einen bestimmten Übergang noch nicht durchlaufen haben. Dies macht in einigen Fällen die Darstellung der Übergänge mit Quartilsabständen schwierig. Nur für einige wenige ist aufgrund der sehr vollständigen Erfassung von Übergängen und Nicht-Übergängen eine verlässliche Grundlage gegeben – dabei handelt es sich um die ausbildungsbezogenen und beruflichen Übergänge der ersten Lebenshälfte, die im anschließenden Kapitel 8 behandelt werden. Für die problematischen Übergänge werden nur diejenigen rechtszensierten Fälle weiter verwendet,
7.4 Methoden
131
für die bis zum letzten Erhebungszeitpunkt (2004)93 feststeht, dass sie den betreffenden Übergang noch nicht durchlaufen haben oder deren endgültige Rechtszensierung durch ihren zwischenzeitlichen Tod gesichert ist (im Einzelnen siehe unten). Im Prinzip wird mit diesem Verfahren eine Verzerrung, hervorgerufen durch die Ansammlung von Ausfällen, durch eine andere ersetzt. Die eigentlichen Ergebnisse werden dadurch jedoch, so zeigen Vergleiche der beiden Varianten, nur geringfügig verändert; sie werden vor allem in den jüngeren Kohorten nur besser darstellbar. Außerdem wird aus diesem Grund mit wenigen Ausnahmen darauf verzichtet, die Universalität von Übergängen auszuweisen, also darauf, die Anteile derer anzugeben, die einen bestimmten Übergang durchlaufen haben. Mit den Quartilsabständen werden die Kohorten nicht nur darin verglichen, wie zeitlich uniform sie Übergängen durchleben. Gleichzeitig beeinflusst die Universalität, d. h. die generelle Verbreitung von Übergängen das Ergebnis. Zudem wird soweit möglich deskriptiv geprüft, wie verbreitet weniger klar definierte Zwischenzustände, Umkehrzustände und Wiederholungen von Übergängen bei den verschiedenen Kohorten sind. Wegen der oben ausgeführten zentralen Rolle des Geschlechts wird stets nicht nur nach Geburtskohorten, sondern auch nach Geschlecht differenziert. Es werden diejenigen Kohorten betrachtet, bei denen die entsprechenden Übergänge nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgen. Die Ereigniszeit reicht in vielen Fällen bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück; die ältesten Kohorten sind aber teilweise nur mit geringen Fallzahlen vertreten. Neben der zeitlichen Streuung einzelner Übergänge wird die Verlaufsstandardisierung verschiedener Gruppen von Übergängen untersucht, vor allem in Abschnitt 9.4. Es gibt drei unterschiedliche Lösungen für das sich auch hier stellende Problem, dass besonders in den jüngeren Kohorten viele Personen die betrachteten Übergänge nur teilweise oder gar nicht durchlaufen haben. Erstens könnten sämtliche Missings einbezogen werden, da es natürlich auch aussagekräftig ist, wie viele Personen bestimmte Schritte noch nicht vollzogen haben. Zweitens könnten alle die einbezogen werden, bei denen mindestens für eins der betrachteten Ereignisse ein Zeitpunkt und für die übrigen Ereignisse Zeitpunkte der Rechtszensierung vorliegen, aus denen oft Schlüsse für die Reihenfolge gezogen werden können: Wenn etwa der Zeitpunkt der Rechtszensierung des einen Ereignisses nach demjenigen eines bereits erfolgten Ereignisses liegt, steht deren Reihenfolge eigentlich schon fest. Drittens können auch einfach nur diejenigen Personen betrachtet werden, die alle Übergänge bereits vollzogen haben; diese Darstellungsweise ist vor allem bei mehr als zwei oder drei Ereignissen klarer als andere. Deswegen wurden nur dann, wenn ein anderes Vorgehen irreführend wäre, rechtszensierte Fälle berücksichtigt. Insbesondere bei den in Abschnitt 9.4 behandelten längeren Sequenzen werden die rechtszensierten Fälle aus Gründen der Übersichtlichkeit meist ausgeschlossen. Im Folgenden werden die verschiedenen Übergänge grob gegliedert nach drei Bereichen beschrieben: Zunächst untersuche ich Übergänge aus der ersten Lebenshälfte, die mit (Aus-)Bildung und Beruf verbunden sind (Kapitel 8), danach familiale Übergänge aus der ersten Lebenshälfte (9) und schließlich Übergänge aus der zweiten Lebenshälfte (10). Während in Kapitel 8 und 10 die einzelnen Analyseschritte (Darstellung des Forschungsstands, 93
Es wurden die Daten des SOEP bis einschließlich Welle u (Datenlieferung 2005) verwendet. Dabei handelt es sich um die (Mitte des Jahres) 2004 gewonnenen Informationen, so dass im besten Fall Informationen bis Ende 2003 vorliegen; in vielen Fällen ist dieser Zeitraum aber weiter reduziert.
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7 Vorarbeiten zur empirischen Analyse
der Daten und ihrer Operationalisierung, Befunde und Schlussfolgerungen) für die drei oder vier betrachteten Übergänge gleichzeitig erfolgen, untersuche ich die familialen Übergänge der ersten Lebenshälfte jeweils gesondert, da sie im weiteren Verlauf der Arbeit im Mittelpunkt stehen.
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Die Zahl der Zustandswechsel ist im Lebenslauf unterschiedlich stark gestreut (Sackmann & Wingens 2001, Corijn 2001). Eine Konzentration folgenreicher Übergänge und Rollenwechsel findet sich vor allem in der ersten Lebenshälfte. So erfolgen die meisten der in der Lebenslaufforschung (aber auch in der demographischen Literatur) häufig betrachteten Übergänge etwa zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr. Zusammen bilden sie den Übergang ins Erwachsenenalter, der durch ökonomische Unabhängigkeit vom Elternhaus, eigene Erwerbstätigkeit (bzw. die des Partners) und die Gründung einer eigenen Familie gekennzeichnet ist. Damit verbunden ist ein Umbau von Rollen und Identitäten, der den Heranwachsenden vor große biographische Herausforderungen stellt: Er muss eine Vielzahl von neuen, externen Anforderungen erfüllen, folgenreiche Entscheidungen treffen und alle damit verbundenen Veränderungen bewältigen. Konietzka und Huinink (2003) unterteilen diesen Übergangskomplex in die Erwachsenenphase weiter: Die Zeit zwischen Ausbildungsbeginn und Auszug stellt für sie die Startphase dar, während sie die Zeit zwischen endgültigem Auszug und Heirat (evtl. auch Familiengründung) als Ankunftsphase bezeichnen (Konietzka & Huinink 2003: 300). Der (endgültige) Auszug aus dem Elternhaus stellt das Scharnier dar, über das die Loslösung aus dem Elternhaus auch organisatorisch endgültig vollzogen wird, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, eine nichteheliche Lebensgemeinschaft oder eine Ehe einzugehen. Goossens (2001: 29) unterteilt den Übergangskomplex ins Erwachsenenalter in die Erlangung psychosozialer Unabhängigkeit und praktischer Unabhängigkeit. Letztere wird erst mit eigenem Einkommen erreicht.94 In der Literatur werden die jüngsten Veränderungen dieses Übergangskomplexes als Verlängerung und/oder Destandardisierung beschrieben. Diese haben zur Herausbildung der in sich widersprüchlichen Phase der Postadoleszenz geführt: Die Erlangung psychosozialer Unabhängigkeit und vollständiger praktischer Unabhängigkeit fallen im Kontrast zum klassischen Regime des Normallebenslaufs immer weiter auseinander (Corijn 2001: 3; Buchmann 1989a und 1989b).
94
Andere und genauere Unterteilungen sind denkbar (vgl. etwa Papastefanou 1997: 29).
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8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
8.1 Forschungsstand und Diskussion Der im Titel genannte Übergang von der Schule in den Beruf umfasst ein ganzes Geflecht von Übergängen aus der Schule in das Ausbildungssystem oder in die Hochschulbildung und von dort wiederum in die Erwerbsarbeit. Hier werden das Ende des Schulbesuchs, der Erwerb des letzten Ausbildungs- oder Studienabschlusses und der Beginn der ersten Erwerbstätigkeit näher untersucht.95 Der Übergang von der Schule in weiterführende Bildung wird für die Abgänger in das duale Ausbildungssystem als erste Schwelle bezeichnet (z. B. bei Konietzka 1999). Die zweite Schwelle führt vom Ausbildungssystem in den Arbeitsmarkt; sie wird in der hier vorliegenden Analyse in zwei Schritte gegliedert, den Erwerb eines Ausbildungsabschlusses und den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Die Bedeutung dieser Übergänge für den weiteren Lebenslauf ist nicht zu unterschätzen. Zum einen prägen sie die weitere Erwerbskarriere (Blossfeld 1985a; Scherer 2004; für Frauen Born 2000), zum anderen führen sie in eine selbständige ökonomische Existenz und in die Unabhängigkeit vom Elternhaus – also zur Erlangung des Status eines Erwachsenen (z. B. Buchmann 1989a und b). Lebensläufe zwischen Schule und Erwerbssystem haben sich unter mehreren Aspekten verändert: Die Übergangszeit hat sich im Vergleich zu früher verlängert und die möglichen Wege durch Bildung und Ausbildung jenseits der allgemeinbildenden Schulen haben sich diversifiziert bzw. differenziert (z. B. Konietzka 2002, 1999, 1998; P. Berger 1996). Zudem nimmt die Bedeutung atypischer, instabiler Zugangspfade zu, vor allem beim Einstieg in die Erwerbsarbeit (z. B. Lauterbach & Sacher 2001; Sacher 1998; Berger & Sopp 1992). Doch es lohnt, die einzelnen Etappen differenziert zu betrachten. Das Spektrum der zu diesem Zweck untersuchten Daten umfasst die Deutsche Lebensverlaufsstudie des MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, die Daten des Sozio-ökonomischen Panels und Beschäftigungsstichproben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Für den ersten Schritt der „ersten Schwelle“ wird hier allein der Zeitpunkt des Endes des Schulbesuchs einer näheren Betrachtung unterzogen.96 In den Daten des SOEP ist damit nicht eindeutig der Erwerbs eines Schulabschlusses verbunden, wir wissen jedoch, dass im Jahre 2002/2003 gut 90 Prozent der Schulabgänger einen solchen erhalten haben (Statistisches Bundesamt 2004b).97 Da der Anteil der Abiturienten und derjenigen mit Fachhochschulreife an den Schülerkohorten zugenommen hat, wird die Schule immer später beendet, nämlich von ungefähr einem Drittel der Schulabgänger erst im Alter von 18 oder 19 Jah-
95
96 97
Für die ebenso interessante erste Übergangsschwelle von der Schule in die Ausbildung oder das Studium liegen leider keine Angaben für den breiten Kohortenvergleich vor. In der Aktivitätsbiographie (pbiospe) bilden Schule und Studium unglücklicherweise eine Spellart, weswegen der Übergang zwischen beiden nicht differenziert werden kann. Damit ist der Besuch allgemeinbildender Schulen gemeint. Wenn keine gymnasiale Oberstufe besucht wird, schließt sich an die neun- oder zehnjährige Vollzeit-Schulpflicht (im Alter von 15 oder 16 Jahren) die Berufsschulpflicht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres an (Avenarius 1995: 111). 1965 waren knapp 20 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss (Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1974). Dieser Anteil sank bis Mitte der 80er auf unter zehn Prozent und schwankt seitdem mit minimaler Tendenz nach oben (Statistisches Bundesamt 2004b).
8.1 Forschungsstand und Diskussion
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ren98 (Bundesministerium für Bildung und Forschung & HIS 2004: 86f, eigene Berechnungen).99 Der häufige Befund der wachsenden Streuung dieses ersten Übergangs lässt sich auf die steigende Zahl der Abiturienten zurückführen, die im Kohortenvergleich ihren Niederschlag findet. Diese Zunahme der Abiturienten bzw. die Abnahme der Personen mit Hauptschulabschluss oder ohne jeden Schulabschluss ist nicht zufällig verteilt, sondern hängt kaum weniger stark als vor der Bildungsexpansion mit der sozialen Herkunft zusammen (z. B. Rodax 1995) – das Gefüge sozialer Ungleichheit hat sich in dieser Hinsicht eher verschoben als grundsätzlich verändert. Der zweite Schritt der ersten Schwelle besteht in der Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung im dualen System, an einer Berufsfachschule o. ä.100 Bei vielen Männern erfolgt dieser nach Zivil- oder Wehrdienst, auch bei einigen Frauen gibt es eine Zwischenphase, welche mit einem freiwilligen sozialen Jahr (Wüstendörfer & Becker 2000), Reisen oder ähnlichem gefüllt wird. Die institutionalisierteren Formen von Freiwilligendiensten für Frauen bestehen etwa seit Anfang der 80er Jahre und sind damit trotz ihrer insgesamt geringen quantitativen Relevanz Teil der Diversifizierung früher Übergänge. Frauen sind bei der Aufnahme eines Studiums immer noch etwa ein Jahr jünger als ihre Kommilitonen (Heine 2002: 91). Insgesamt ist das Alter der Studienanfänger aber kaum gestiegen und stagniert bei 21 bis 22 Jahren. Im Vergleich von der Mitte der 1990er zum Jahr 2000 sind sie über alle Hochschulformen hinweg durchschnittlich sogar etwa ein halbes Jahr jünger (Heine 2002: 91). Studienanfänger an Fachhochschulen sind über die letzten Jahrzehnte hinweg immer älter gewesen als diejenigen an Universitäten. Zwischen den frühen 1980er Jahren und den beginnenden 1990ern stieg ihr Durchschnittalter sogar: Sie waren am Ende im Schnitt über zwei Jahre älter als ihre Kommilitonen an Universitäten (Leszczensky & Ostertag 1993: 102). Da der Anteil der Abiturienten an Fachhochschulen wieder steigt und derjenige von Personen mit bereits abgeschlossener Berufsausbildung sinkt, hat sich dieser Trend inzwischen umgekehrt. Der Unterschied zwischen Universitäten und Fachhochschulen lag im Wintersemester 2000/2001 nunmehr bei etwa eineinhalb Jahren (Uni: 21, 1, FH: 22, 7, Heine 2002: 91). Die Aufnahme eines Studiums bleibt von der Struktur der Schulabgänger nicht unbeeinflusst: Im Zeitvergleich nehmen immer mehr Schulabsolventen ein Studium auf. Gleichzeitig wird jedoch die Zusammensetzung der Auszubildenden heterogener, weil mehr Abiturienten zunächst oder endgültig nur eine Ausbildung absolvieren und weil weitere Zugangswege (Berufsfachschulen, Berufsvorbereitungsjahr etc.) an Bedeutung gewinnen (Konietzka 1999: 94). Da sich im Kohortenvergleich die Phase der schulischen Bildung verlängert hat, passieren die zuletzt geborenen Kohorten die erste Schwelle später als alle 98
Die meisten der hier aus der Bildungsstatistik angeführten Kennziffern beziehen sich, soweit sie aus der Zeit nach 1989 stammen, auf Gesamtdeutschland, da es sehr aufwändig gewesen wäre, die Ergebnisse nur aus den alten Ländern zusammenzufassen. Ostdeutschland fällt anteilsmäßig weniger ins Gewicht und ändert deshalb die Mittelwerte nur geringfügig. Wegen der kürzeren Schulzeit von zwölf Jahren sind Ostdeutsche beim Abitur, beim Studien- oder Ausbildungsbeginn und auch beim ersten weiterführenden Abschluss etwas jünger als Westdeutsche. 99 Buchmann (1989a und b) stellt eine parallele Entwicklung für die USA dar. 100 Der direkte und ausschließliche Übergang in eine un- oder angelernte Erwerbstätigkeit fällt empirisch kaum ins Gewicht.
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8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
zuvor. Im dualen Ausbildungssystem verdrängen Abiturienten vor allem Absolventen mit Hauptschulabschluss (Konietzka 1998: 109), die immer eindeutiger die schwierigste Ausgangsposition innehaben. Konietzka (1999: 337) zeigt mit den Daten der Westdeutschen Lebensverlaufsstudie außerdem, dass der Zeitpunkt des Übergangs in die berufliche Ausbildung im Vergleich der Geburtskohorten, die ihn nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, immer stärker streut, was die Heterogenisierung der Zugangswege in die Ausbildung zeitlich widerspiegelt. Aber auch im Vergleich zu den beiden älteren Kohorten weisen die 1939 bis 1941 Geborenen den standardisiertesten Übergang in die berufliche Ausbildung auf. Nicht allein der Einstieg in die Ausbildungs- oder Studienphase, ebenso ihr zeitlicher Verlauf ändert sich. Zu nennen ist hier vor allem die zunehmende Neigung zu Mehrfachausbildungen, d. h. die Tatsache, dass nicht allein nur ein Studium oder eine Ausbildung durchlaufen wird. Die „klassische“ Mehrfachausbildung, wenn man betriebliche Aufstiegsfortbildungen ausklammert, besteht in einer Ausbildung vor Aufnahme eines Studiums (Jacob 2004: 90, 115ff). Diese Option wurde von immerhin 13 Prozent der Abiturienten der Geburtskohorten 1964 und 1971 aus der Westdeutschen Lebensverlaufsstudie gewählt, womit sie nach Absolvieren nur eines Studiums oder nur einer Ausbildung die dritthäufigste darstellt (Jacob 2004: 144). Vor allem Herkunftseffekte sind laut dieser Untersuchung an beiden Entscheidungsschwellen insofern wirksam, dass eine akademische Bildung der Eltern die Wahrscheinlichkeit erhöht, nach dem Abitur oder nach dem Zwischenschritt der Ausbildung noch ein Studium zu beginnen. Andere Mehrfachqualifizierungen bestehen in Ausbildungen nach einem erfolgreichen oder abgebrochenen Studium, mehrfachen Studienabschlüssen, postgradualen Studienabschlüssen (Zusatz- und Aufbaustudiengänge, Promotionen), mehrfachen Ausbildungen usw. (für einen Überblick über die häufigsten Formen vgl. Jacob 2004: 90). Auch Konietzka (1999: 175, 285) konstatiert im Vergleich über die Kohorten einen Zuwachs derer, die mehr als einen Ausbildungsschritt unternehmen, sei es vor oder nach bereits erfolgtem Übergang in die Erwerbstätigkeit. Der Übergang in den Arbeitsmarkt besteht aus dem Beenden einer Ausbildung oder eines Studiums einerseits und der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit andererseits. Im Normallebenslauf fallen diese beiden Schritte zeitlich nahezu zusammen: Nach oder während des Erwerbs eines Abschlusses wird ein Arbeitsplatz gesucht und schnell gefunden. Mögliche Destandardisierungen sind nicht nur verlängerte Suchphasen zwischen diesen Übergängen, sondern ebenso ein Beginn der ersten Erwerbstätigkeit vor dem eigentlichen Abschluss. Der Erwerb eines qualifizierenden Ausbildungs- oder Studienabschlusses hat sich mit der Verschiebung der früheren Übergänge auch nach hinten verschoben.101 Das mittlere Alter der deutschen Studierenden, im internationalen Vergleich mit 24,4 Jahren (2003; Isserstedt et al. 2004: 51) berüchtigt hoch, ist in den letzten Jahrzehnten leicht gestiegen, wozu unter anderem die mehrfach Ausgebildeten beitragen. Das durchschnittliche Alter der Absolventen von Fachhochschulen und Universitäten ist von 1977 bis 1999 um etwa ein 101 Es gibt in der Literatur kaum genauere Angaben zum mittleren Alter beim Ausbildungsabschluss, da zumeist der Beginn der Erwerbskarriere von größerem Interesse ist. In Analyse der Beschäftigtenstichprobe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nennen Franz und Zimmermann (1999: 16) ein durchschnittliches Alter der Ausbildungsabsolventen von 19 Jahren.
8.1 Forschungsstand und Diskussion
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Jahr von ungefähr 27 auf 28 Jahre gestiegen (Leszczensky & Filaretow 1990: 338; Heine 2002: 212).102 Hullen (2001: 158) findet mit den Daten des Fertility and Family Survey im Vergleich der Geburtskohorten 1956 bis 1960, 1961 bis 1965 und 1966 bis 1970 (Männer und Frauen) einen Anstieg des Median-Alters bei Ende der Ausbildung oder des Studiums von zwei Jahren. Überdies hat sich die Obergrenze des dritten Quartils immer weiter nach hinten verschoben, auch und besonders bei den Frauen. Der Übergang in den Arbeitsmarkt ist von allen hier besprochenen Übergängen der am besten untersuchte. Der einheitlichste Befund der Literatur ist derjenige der Erhöhung des Alters bei der ersten Erwerbstätigkeit, der mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panels (Sacher 1998: 172; P. Berger 1996: 87ff) und des Family and Fertility Survey (Hullen 2001: 158) für alle Erwerbstätigen, mit denen der Westdeutschen Lebensverlaufsstudie (Konietzka 1999: 149) und denen aus IAB-Beschäftigtenstichproben für Berufstätige in Ausbildungsberufen (Konietzka 2002: 655; Konietzka & Seibert 2001: 149) beschrieben wird. Diese Verschiebung des Alters, zumeist über Mittelwerte entweder verschiedener Geburtskohorten oder verschiedener Übergangskohorten gemessen, beträgt je nach Reichweite und Bezugsgruppe des Vergleichs ein bis drei Jahre.103 Die zeitliche Streuung des Übergangs nimmt bei den Männern der jüngeren Kohorten zumeist leicht zu (Konietzka 1999: 150; P. Berger 1996: 89, 96), wobei hier die Absolventen der verschiedenen Bildungsgänge (Ausbildung oder Studium) genau unterschieden werden müssen. Bei Frauen ist die Entwicklung weniger eindeutig und die Streuung des Übergangs schwankt stärker: Während im und kurz vor dem Krieg geborene Männer ihre Ausbildung in der frühen Bundesrepublik in relativ homogenen Zeitmustern durchliefen, war dieser Übergang bei Frauen wesentlich heterogener gestaltet (Konietzka 1999: 150; P. Berger 1996: 87ff), was auf die „weibliche ‚Phasenbiographie’“ (P. Berger 1996: 98) zurückzuführen ist, in der die Erwerbstätigkeit durch eine meist längere Phase der Kindererziehung unterbrochen bzw. auf eine Teilzeittätigkeit reduziert wird. Mit der Zeit erfolgte auch bei den Frauen eine stärkere Standardisierung, die aber nie derjenigen bei Männern gleichkam. Zuletzt haben sich die zeitlichen Verteilungen des Übergangs einander angenähert. Verzögert wird der Übergang von der Ausbildung in die Beschäftigung vor allem durch die zunehmende Arbeitslosigkeit von Berufsanfängern (Konietzka & Seibert 2001; Konietzka 2002; Scherer 2001; Berger & Sopp 1992). Zudem nehmen im Vergleich der Kohorten Teilzeitbeschäftigung, befristete Beschäftigung u. ä. beim Erwerbseinstieg zu (Sacher 1998; Scherer 2001; Lauterbach 2001). Auch sonst werden die Erwerbsverläufe direkt nach dem Einstieg immer diskontinuierlicher, wenn die Aufenthaltsdauern in der 102 Die Zahlen sind nur bedingt vergleichbar, da 1977 noch Zweitstudien und Promotionen enthalten waren, aber 1999 nicht mehr. Tatsächlich dürfte der Unterschied also noch größer sein. 103 Ein widersprechender Befund findet sich bei Sacher (1998): Bei seinem Vergleich von fünf Berufseinstiegskohorten steigt bei den Abiturienten das mittlere Alter beim Berufseinstieg zunächst an, um dann später wieder zu sinken. Zwei Erklärungen kommen infrage: Erstens nimmt vielleicht der Anteil derjenigen Abiturienten zu, die zunächst kein Studium, sondern eine Ausbildung absolvieren und nach dieser in den Beruf einsteigen. Tatsächlich ist mit dem Anstieg der Zahl der Abiturienten der Anteil von ihnen, die (in den ersten vier Jahren nach dem Abitur) ein Studium aufnehmen, von ca. 90 Prozent im Jahr 1976 auf ungefähr 70 Prozent 1998 gesunken (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004: 153). Leider differenziert Sacher seine Befunde nicht weiter, so dass zweitens eine weitere Deutung möglich ist: Schon vor Ende des eigentlichen Studiums nehmen immer mehr Studierende eine Nebenerwerbstätigkeit auf, die insbesondere in der Aktivitätsbiographie des SOEP dann als erste Erwerbstätigkeit erscheint.
138
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
ersten Vollzeittätigkeit sinken (P. Berger 1996: 111f), immer mehr Personen in Ausbildungsberufen schon früh Betrieb und/oder Beruf wechseln (Konietzka 2002) und immer mehr Zeit zwischen der ersten und der ersten stabilen Erwerbstätigkeit verstreicht, bei gleichzeitigem Anstieg der entsprechenden Mittelwerte (auch Mayer & Hillmert 2004: 143, 158). Auch für die Struktur der frühen Berufstätigkeit weisen die in den 30er und frühen 40er Jahren geborenen Männer die stärkste Standardisierung auf, also diejenigen, die in den 50er und frühen 60er Jahren auf den Arbeitsmarkt kamen. Die Reihenfolge und ungefähre zeitliche Verortung der einzelnen Schritte, also die Grobstruktur des Übergangs, haben sich nicht in umwälzender Weise verändert, so können die Befunde der Literatur zusammengefasst werden. Die in ihren Messinstrumenten genaueren Studien finden jedoch vermehrte Uneindeutigkeiten und Diskontinuitäten. Diese sind nicht als Auflösung der zeitlichen Struktur zu sehen, sondern als tendenzielle Aufweichung von Grenzen und immer stärkere Überlappung von Phasen. Im internationalen Vergleich, etwa mit Großbritannien (Hillmert 2001; Golsch 2001; Blossfeld et al. 2005) oder Spanien (Golsch 2004), weist die erste Berufstätigkeit in Deutschland gleichwohl immer noch die größte Stabilität auf. Wenn die Vergleiche überhaupt so weit zurückreichen (wie die Daten des SOEP und diejenigen der Westdeutschen Lebensverlaufsstudie), dann ist der Höhepunkt der Standardisierung in etwa bei der 1935 bis 1940 geborenen Geburtskohorte sowie kurz davor und danach zu finden. Der eindeutigste, kontinuierlichste Berufseinstieg glückte also denjenigen, die zu Zeiten des Wirtschaftswunders in das Erwerbssystem gelangten. Betriebswechsel sowie vertikale Mobilität im frühen Erwerbslebens nehmen (bis zu den 1964 geborenen Kohorten) leicht zu (Hillmert et al. 2004: 82) – nur Arbeitslosigkeit am Beginn der Erwerbskarriere wird deutlich häufiger. Die zunehmenden Diskontinuitäten sind in einer bestimmten Weise über die Absolventen der verschiedenen Bildungsgänge verteilt, ohne dass sich eindeutige und eindimensionale Zusammenhänge ausmachen lassen: Die Verschiebung des Übergangs in ein höheres Alter betrifft vor allem Abiturienten und Studienabsolventen. Besonders bei letzteren ist auch die Streuung des Übergangs in den Beruf und die Heterogenität der Zugänge gestiegen (Berger & Sopp 1992). Im Vergleich zu anderen Gruppen durchlaufen nach Scherer (2001) diejenigen mit hohen Bildungsabschlüssen aber weiterhin die kontinuierlichsten frühen Erwerbskarrieren. Innerhalb der Gruppe der Ausbildungsabsolventen sind Abiturienten und diejenigen in bestimmten Branchen (z. B. Bankkaufleute) weniger, andere Gruppen (ErzieherInnen, Handelskaufleute) dagegen überdurchschnittlich von instabilen Übergängen betroffen (Konietzka 2002). 104 Am häufigsten haben Personen ohne Ausbildung oder ohne Schulabschluss Probleme beim Übergang in den Arbeitsmarkt (z. B. Kurz et al. 2005: 63f; Solga 2003) – sie werden in den meisten der hier erwähnten Studien nur am Rande betrachtet. Das duale Ausbildungssystem hat seine Wurzeln in den 20er Jahren und wurde im Nationalsozialismus ausgebaut. Da es erstaunliche Kontinuitäten aufweist, gingen von ihm (im
104 Fasst man auch befristete Verträge als problematischen Übergang in die Erwerbstätigkeit auf, ist die Situation unübersichtlicher, da etwa auch Personen mit Universitätsabschluss oder solche in höheren Dienstleistungen überdurchschnittlich oft befristete Arbeitsverträge haben (Kurz et al. 2005: 63f).
8.1 Forschungsstand und Diskussion
139
Gegensatz zum Schul- und Hochschulwesen) kaum Veränderungen aus (Konietzka 1999: 49ff).105 Auch für die weitere Erwerbskarriere und über die Zeit des Berufseinstiegs hinaus sind vielfältige Destandardisierungen in Form häufigerer Arbeitslosigkeitsepisoden und atypischer Beschäftigung jeder Couleur gut belegt. Diese sind aber trotz ihres Bedeutungsgewinns nicht der Regelfall (für einen Überblick Klijzing 2005; Müller & Scherer 2004; Berger & Konietzka 2001; Kohli 2000b; P. Berger 1996; Mutz et al. 1995). Entsprechend gibt es kritische Stimmen, welche die in den letzten 20 Jahren relativ stabile Beschäftigungssicherheit hervorheben und davor warnen, das erhöhte Arbeitslosigkeitsrisiko zu überschätzen (Erlinghagen 2004 und 2005, Grunow et al. 2005). Außer den soziostrukturell klar verteilten Risiken, welche Frauen, Berufsanfänger, Geringqualifizierte und Ältere besonders treffen (für Frauen Born 2001; Born & Krüger 1993; für Ältere Clemens et al. 2003; Blossfeld et al. 2006), sind keine weiteren zeitlichen Muster angebbar, nach denen Erwerbsbiographien destandardisiert werden. Mit bestimmten (zeitabhängigen) Veränderungen der privaten Lebensform ist vor allem bei Frauen ein besonderes Risiko einer destandardisierten Erwerbskarriere festzustellen, das aber schon immer bestand. Laut dem „Paradox von Stabilität und Heterogenität“ von P. Berger (1996: 198) kann wachsende Stabilität, d. h. eine größere Zahl von Personen mit stabilen Verläufen, mit zunehmender Heterogenität in der Gruppe mit instabilen Verläufen einhergehen: Es sind also widersprüchliche Entwicklungstendenzen denkbar und die Dynamik von Standardisierung und Entstandardisierung folgt nicht unbedingt einer einzigen Richtung. Im Folgenden wird anhand von SOEP-Daten gezeigt, in welcher Weise sich das Timing der einzelnen Übergangsschritte von der Schule in den Beruf über die Kohorten verändert hat. Eindeutiger Befund aus der Literatur ist die Verschiebung aller Übergänge in ein höheres Alter, die sich so auch hier wiederfinden sollte. Die grobe Übergangsstruktur, d. h. die Reihenfolge der relevanten Übergänge, hat sich dagegen vermutlich nicht oder nur wenig gewandelt. Erst bei genauerer Betrachtung einzelner Übergänge sollten diese diffuser erscheinen. Diese zunehmende Diffusität und Mischung einzelner Zustände müsste zudem der Differenzierung nach erworbenen Zertifikaten entgegenwirken. In der Literatur gibt es keine Hinweise darauf, dass und warum die (schon immer bestehende) Differenzierung der Übergangsstrukturen zugenommen hätte; der steigende Anteil der Abiturienten unter den Ausbildungsabsolventen spricht zusammen mit der zunehmenden Diffusität eher dafür, dass der Grad der Differenzierung vor allem des Übergangs in die Erwerbstätigkeit gleichbleibt oder abnimmt. Von den im Folgenden betrachteten Übergängen ist der in die Erwerbstätigkeit am ehesten derjenige, für den nach Durchsicht der Literatur eine zunehmende Streuung plausibel ist.
105 Mit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 wurde zwar der Einfluss der öffentlichen Hand rechtlich festgeschrieben; dies ging jedoch mit keiner grundlegenden Veränderung der Struktur des Systems beruflicher Bildung einher. Eine Neuordnung der Ausbildungsberufe erfolgt nach und nach seit den 80er Jahren – diese ist aber eher als (längst notwendige) Anpassung an die veränderten Erfordernisse des Arbeitsmarktes zu sehen denn als grundsätzlicher Strukturwandel.
140
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
8.2 Befunde Zunächst werden die Ergebnisse für den allerersten Schritt der Übergangskette, das Beenden der Schule, betrachtet (Abbildung 8.1).106 Die durchgezogenen Linien beziehen sich auf die Männer, die gestrichelten auf die Frauen; das Kreuz markiert den Median, also das Alter, in dem 50 Prozent der Kohorte den Übergang hinter sich hatten. Einbezogen sind auch diejenigen, die die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen haben.107 Abbildung 8.1: Alter bei Beendigung des Schulbesuchs 20 19
Alter
18
Männer
17 Frauen
16 15 14 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 -1924 -1929 -1934 -1939 -1944 -1949 -1954 -1959 -1964 -1969 -1974 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=8271
Das mittlere Alter, in dem die Schule beendet wird, ist über die Kohorten hinweg stetig angestiegen, ebenso wie das Alter, in dem jeweils 25 Prozent bzw. 75 Prozent einer Kohorte die Schule beendet haben. Die Grenzen der Quartile stellen nur ungefähre Altersangaben dar: Die Werte der jüngsten Kohorte der 1975 bis 1979 Geborenen besagen, dass 25 Prozent dieser Jahrgänge die Schule in dem Jahr beendet haben, in dem sie das 17. Lebensjahr
106 Die nach Geschlecht und Kohorten differenzierten Fallzahlen finden sich in Anhang A1, das gilt auch für alle folgenden Abbildungen. 107 Zu den genauen Quellen der Daten im SOEP und den (teilweise voraussetzungsreichen) Transformationen, die für die obige Darstellungsweise notwendig waren, vgl. Anhang A2.1. Für die Interpretation wichtige Beschränkungen, die sich aus den Transformationen ergeben, werden auch im Haupttext erwähnt.
8.2 Befunde
141
vollendet haben, d. h. nicht alle dieser Personen waren bei der Beendigung der Schule bereits 17 Jahre alt.108 Der Anstieg des mittleren Alters ist wie oben ausgeführt vor allem darauf zurückzuführen, dass mehr Schüler eine längere Schulbildung durchlaufen, d. h. die Realschule oder das Gymnasium besuchen.109 Der Anstieg der untersten (25 Prozent-)Grenze wird außerdem beeinflusst durch die in den 60er Jahren erfolgte Anhebung der Vollzeit-Schulpflicht auf mindestens neun Jahre.110 Bei den vor 1950 geborenen Kohorten sind im Vergleich zwischen Männern und Frauen die Quartilsabstände der Männer durchweg größer.111 Mehr Männer hatten als Realschüler oder Gymnasiasten Teil an höherer Schulbildung, zudem wurde diese bei den Ältesten durch die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs teilweise verzögert. Erst in der jüngsten betrachteten Kohorte haben sich Männer und Frauen einander angeglichen und zwar nicht nur im mittleren Alter beim Schulabgang, sondern ebenso in der Geschwindigkeit, in der die Kohorte diesen durchläuft. Von dieser Verschiebung abgesehen ist eine Destandardisierung im Sinne einer eindeutigen Vergrößerung des Quartilsabstands nicht auszumachen – er beträgt mit wenigen Ausnahmen stets drei oder vier Jahre. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Schulabgänge werden durch die Vorgaben des Schulsystems stark standardisiert. Zwar gibt es einige Wege zur (Fach-)Hochschulreife auch außerhalb der allgemeinbildenden Schulen für Jugendliche (etwa Abendgymnasien, Fachgymnasien oder andere berufliche Schulen), aber diese durchläuft nur ein kleiner Teil der später Studienberechtigten. Auch der Bedeutungsgewinn dieser Zugangswege (der im Zeitraum von 1980 bis 1999 deutlich zu erkennen ist, Heine 2002: 14, 18) hat zur Erhöhung der Mediane beigetragen.112 Für die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums liegen nicht für alle Kohorten eindeutige Angaben vor, insbesondere, weil Schule und Studium in der Aktivitätsbiographie nicht voneinander unterschieden werden. Die oben dargestellten Befunde aus der Literatur deuten auf eine dem Schulabgang entsprechende Verschiebung des Alters bei Beginn dieser zweiten Phase der Bildung hin.
108 Wenn das Schuljahr regulär im Sommer vollendet wird, hat etwa die Hälfte das 17. Lebensjahr vollendet. 109 Der Anteil von Personen ohne Schulabschluss hat sich zwischen 1960 und 2000 von etwa 20 auf gut 10 Prozent halbiert. Während in den 60er Jahren zwei Drittel der Schüler die Hauptschule besuchten, sind es heute nur noch ein knappes Drittel, mit abnehmender Tendenz. Der Anteil der Gymnasiasten hat sich dagegen von unter 10 Prozent auf ungefähr ein Drittel verdreifacht (Bundesministerium für Bildung und Forschung & HIS 2004; Statistisches Bundesamt 2004b; Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft & Statistisches Bundesamt 1974). Die Hauptschulen haben im vergangenen Jahrzehnt vor allem von den Gesamtschulen Konkurrenz bekommen und werden auf lange sicht von ihnen abgelöst werden. 110 Mit dem 1964 verabschiedeten Hamburger Abkommen einigten sich die Länder auf eine relative Vereinheitlichung des zuvor völlig ungeordneten Schulwesens. Volksschulen wurden in der Folge zu Hauptschulen, außerdem gelten seitdem neun Jahre Vollzeit-Schulpflicht; nur in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen (sowie heute Brandenburg) sind es zehn. In den meisten der anderen Länder kann aber freiwillig die zehnte Klasse der Hauptschule besucht werden (Heckel & Avenarius 2000: 20, 458ff). 111 Bei den 1935 bis 1939 geborenen Frauen sind die Grenzen des 25-Prozent-Quartils und des Medians identisch, d. h. das zweite Viertel dieser Kohorte hat den Übergang innerhalb eines Lebensjahres vollzogen. 112 Solche Formen des Schulbesuchs könnten bei der Frage nach dem Zeitpunkt des Abgangs von der Schule teilweise enthalten sein. Die Frageformulierung („In welchem Jahr haben Sie zuletzt die Schule besucht?“), eigentlich auf alle allgemeinbildenden Schulen bezogen, lässt einen gewissen Spielraum bei der Antwort zu.
142
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Abbildung 8.2 zeigt die Quartilsabstände für das Alter beim letzten Ausbildungs- oder Studienabschluss. Damit sind alle weiterführenden Abschlüsse jenseits der allgemeinbildenden Schulen gemeint (z. B. solche von betrieblichen Ausbildungen, von berufsbildenden Schulen des Gesundheitswesens, von Beamtenausbildungen usw.). Im Biographiefragebogen des SOEP wird das Alter beim zuletzt erworbenen Bildungsabschluss erfragt. Dahinter steckt die implizite Annahme einer einzigen Bildungsphase mit einem weiterführenden Abschluss – nur bei Zutreffen dieser Annahme sind die Ergebnisse nicht abhängig vom Erhebungszeitpunkt.113 Dass ältere Kohorten eine längere Risikozeit dafür aufweisen, einen weiteren Abschluss zu erwerben, muss bei der Interpretation der Ergebnisse besonders im Vergleich zu den jüngsten Kohorten berücksichtigt werden. Abbildung 8.2: Alter beim letzten Ausbildungs- oder Studienabschluss
28 27 26 25 Männer
Alter
24 23 22
Frauen
21 20 19 18 17 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 -1924 -1929 -1934 -1939 -1944 -1949 -1954 -1959 -1964 -1969 -1974 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=6845
Auch hier ist eine deutliche Verschiebung zu erkennen: Vor allem das Alter, in dem 25 Prozent einer Kohorte den letzten Bildungsabschluss erworben haben, verschiebt sich eindeutig nach oben. Bei den ältesten hier dargestellten Jahrgängen ist der Unterschied zwi-
113 Schon bei direktem Aufeinanderfolgen mehrerer aufeinander aufbauender Abschlüsse (z. B. Berufsausbildung und Fachhochschulstudium) hängt es vom Zeitpunkt der Erhebung der Biographiefragen ab, ob der Abschluss der Berufsausbildung oder der des Studiums in die Variable eingeht. Noch problematischer sind in dieser Hinsicht erst später im Lebenslauf erworbene Abschlüsse.
8.2 Befunde
143
schen Männern und Frauen am höchsten; die Frauenkohorten absolvieren sehr schnell ihren letzten Abschluss, Männerkohorten dagegen über einen Zeitraum von über zehn Jahren (1920 bis 1924) hinweg. Die niedrigen Fallzahlen gebieten Vorsicht bei der Interpretation; der Zweite Weltkrieg führte aber offensichtlich dazu, dass ein Teil der Männer seine Ausbildung oder sein Studium unterbrach und später fortführte, während die entsprechende Frauenkohorte, wenn sie überhaupt weitere Bildung durchlief, dies innerhalb weniger Jahre tat. Auch Median und obere Quartilsgrenze verschieben sich bei beiden Geschlechtern nach oben, sehr ausgeprägt bei den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Frauen, die von der Bildungsexpansion profitieren. Mit der höheren Bildungsbeteiligung der Frauen wächst die Streuung ihres Alters bei Abschluss des letzten Bildungsabschlusses stetig. Bei den Männern ist der große Abstand zwischen den ersten und den letzten 25 Prozent mit erreichtem letzten Abschluss erstaunlich beständig, er beträgt acht oder neun Jahre. Hier sind jedoch auch später nachgeholte Abschlüsse eingeschlossen, man denke etwa an eine Meisterausbildung in Handwerksberufen. Dass in den letzten beiden, in den 70er Jahren geborenen Kohorten Median und 75-Prozent-Grenze wieder sinken, ist möglicherweise auf den oben genannten Effekt der Fragestellung zurückzuführen: Diese jüngsten Kohorten hatten kaum Zeit, weitere Abschlüsse in einem etwas fortgeschrittenen Alter zu erwerben. Die Verschiebung nach oben bei den Frauen ist deswegen umso auffälliger. In der letzten betrachteten Kohorte, die 1975 bis 1979 geboren wurde und in der noch keine 75 Prozent der Befragten einen weiterbildenden Abschluss erworben haben, gleicht sich das Timing von Abschlüssen bei Frauen und Männern an. Hinter der Verschiebung des Timings des Ausbildungs- oder Studiumsabschlusses steckt vor allem der steigende Anteil an Fachhochschul- oder Hochschulabsolventen. Zudem tragen diejenigen unter den Abiturienten dazu bei, die sowohl eine Ausbildung als auch ein Studium absolvieren.114 Die Informationen zum Alter bei der ersten Erwerbstätigkeit, das als nächstes dargestellt wird, stammen teilweise aus dem retrospektiv erhobenen Biographiefragebogen, teilweise aus dem allgemeinen Personenfragebogen. In beiden Fällen ist ganz allgemein von einer Erwerbstätigkeit die Rede, unabhängig davon, ob für diese eine Ausbildung erforderlich ist oder ob es sich um eine Vollzeit- oder Teilzeit-, eine Haupt- oder Nebenbeschäftigung handelt. Einige dieser Details zur ersten Erwerbstätigkeit werden jedoch mit zusätzlichen Fragen erhoben. Die folgende Darstellung bezieht sich (zunächst) auf die erste Erwerbstätigkeit ganz allgemein, ohne differenzierende Charakteristika zu berücksichtigen. Es ergibt sich ein Bild (Abbildung 8.3), das dem des letzten Ausbildungsabschlusses ähnelt: Das Alter bei der ersten Erwerbstätigkeit streut bei den Männern schon immer stärker. Die Streuung nimmt allerdings im Zeitverlauf eher ab als zu. Bei beiden Geschlechtern haben sich das mittlere Alter sowie dasjenige erhöht, in dem 25 Prozent der Kohorte eine erste Tätigkeit aufgenommen haben. Lebenszeitlich am stärksten streut der Berufseinstieg bei den Männern, die vor dem Krieg geboren wurden, Anfang der 1940er Jahre um die 20 114 Bei Jacob (2004: 105), die mit Daten der MPI-Lebenslaufstudie arbeitet, deutet sich im Vergleich der Geburtskohorten 1964 und 1971 ein Zuwachs des Anteils derer an, die eine Zweitausbildung beginnen, und zwar von knapp 30 auf knapp 36 Prozent. Entsprechend wird die Zusammensetzung derer, die eine betriebliche Ausbildung absolvieren, in Hinsicht auf ihren Schulabschluss heterogener (Pollmann-Schult & Mayer 2004).
144
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Jahre alt waren und häufig noch im Krieg eingesetzt wurden. Während die ältesten der betrachteten Frauen früher als die Männer der gleichen Kohorten ihrer ersten Beschäftigung nachgingen, nähern sich die jüngeren Kohorten den Männern an: In der letzten Kohorte sind die Abstände wiederum identisch. Abbildung 8.3: Alter bei erster Erwerbstätigkeit (Voll- und Teilzeit)
24 23 22 Männer
Alter
21 20 19
Frauen
18 17 16 15 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 -1924 -1929 -1934 -1939 -1944 -1949 -1954 -1959 -1964 -1969 -1974 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=21.261
Insgesamt ist bei beiden Geschlechtern keine eindeutige Zunahme der Streuung des Alters beim Erwerbseinstieg zu finden. Die Frage nach der Destandardisierung dieses Übergangs kann jedoch präzisiert werden: Handelt es sich beim ersten Job in allen Kohorten gleichermaßen um eine reguläre Vollzeittätigkeit? Abbildung 8.4 basiert auf entsprechenden Informationen zum Umfang der Tätigkeit und zeigt, dass in dieser Dimension bei Frauen und Männern gleichermaßen eine Tendenz zur Destandardisierung besteht: In der jüngsten betrachteten Kohorte üben nur noch knapp drei Viertel der erstmals Erwerbstätigen eine Vollzeittätigkeit aus, während es bei den in den späten 1930er, den 1940er und den in der ersten Hälfte der 1950er Jahren geborenen Kohorten nie weniger als 90 Prozent waren. Frauen sind in allen Kohorten stärker von Teilzeittätigkeiten betroffen, mit der allgemeinen Zunahme des Erwerbseinstiegs in Teilzeit wird der Unterschied zwischen den Geschlechtern freilich geringer.
145
8.2 Befunde
Abbildung 8.4: Anteil der Teilzeittätigkeiten an erster Erwerbstätigkeit
35 30
Männer Frauen
Prozent
25 20 15 10 5
19 20 -2 19 4 25 -2 19 9 30 -3 19 4 35 -3 19 9 40 -4 19 4 45 -4 19 9 50 -5 19 4 55 -5 19 9 60 -6 19 4 65 -6 19 9 70 -7 19 4 75 -7 9
0
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=20.646
In einer zweiten Variante wird der Erwerbseinstieg mit Daten aus der Aktivitätsbiographie erfasst (Abbildung 8.5). Dargestellt ist der Zeitpunkt einer in der Aktivitätsbiographie erstmalig angegebenen Vollzeit-Erwerbstätigkeit, rechtszensiert sind alle, die noch nicht oder noch nicht in Vollzeit gearbeitet haben.
146
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Abbildung 8.5: Alter bei erster Vollzeit-Erwerbstätigkeit 36 34 32
Alter
30
Männer
28 26
Frauen
24 22 20 18 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 -1924 -1929 -1934 -1939 -1944 -1949 -1954 -1959 -1964 -1969 -1974 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=21.734
Es ergibt sich ein ebenso uneindeutiges Bild. Allenfalls in den jüngsten Kohorten zeichnet sich eine erneute Destandardisierung ab, die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre Geborenen haben diesen Übergang allerdings erst zu 50 Prozent durchlaufen. Der Beginn der Erwerbsbiographie von Frauen erfährt auch in dieser Betrachtungsweise eine eindeutige Anpassung an den der Männer. Die ältesten Geburtskohorten der Frauen weisen eine sehr starke zeitliche Streuung der ersten Vollzeit-Erwerbstätigkeit auf: Offensichtlich sind einige dieser Frauen erst nach der Familiengründung jemals in Vollzeit erwerbstätig gewesen. Diese Geburtskohorten haben teilweise ein Alter von weit über 30 Jahren erreicht, bevor nur 75 Prozent von ihnen erstmals einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit nachgingen. Wie erörtert stellen die im Verlauf dieses Übergangskomplexes erworbenen Bildungszertifikate das wichtigste Unterscheidungsmerkmal dar, über das auch ein großer Teil des Geschlechterunterschieds erklärt wird. Da es wenig Neuigkeitswert hat, dass die Länge von Schulbildung und weiterer Ausbildung mit den dabei erworbenen Abschlüssen zusammenhängt, konzentriert sich die Betrachtung im Folgenden auf den Berufseinstieg: Wie schlägt sich die längere oder kürzere (Schul-)Ausbildung im Zeitpunkt der ersten Erwerbstätigkeit nieder? Die bisherigen Graphiken haben gezeigt, dass von einer Destandardisierung kaum die Rede sein kann, sondern nur von einer Verschiebung – wie findet sich diese Verschiebung in einzelnen Bildungsgruppen im Kohortenverlauf wieder?
147
8.2 Befunde
In Abbildung 8.6 werden die Quartilsabstände für die erste Erwerbstätigkeit (Teil- und Vollzeittätigkeiten, vgl. Abb. 8.3) derjenigen Personen mit und derjenigen ohne Abitur oder Fachhochschulreife115 einander gegenübergestellt, getrennt nach Geschlecht. Über die Kohorten hinweg gleichen sich Abiturienten und übrige Schulabgänger tendenziell einander an, ohne dass sie identisch würden: Die Quartilsabstände der Abiturienten, insbesondere der männlichen, werden geringer und der Übergang in die Erwerbstätigkeit erfolgt in jüngeren Kohorten früher; der Übergangsprozess derjenigen mit Realschul-, Hauptschul- oder keinem Schulabschluss verschiebt sich in ein höheres Alter und verlängert sich etwas. Abbildung 8.6: Alter bei erster Erwerbstätigkeit nach Schulabschluss
27 Männer
26 25
ohne Abitur
24
Alter
23
mit Abitur
22 21 Frauen
20 19
ohne Abitur
18 17
mit Abitur
16 1920 -1929
1930 -1939
1940 -1949
1950 -1959
1960 -1969
1970 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=21.153
Die Erklärung für diese Bewegung aufeinander zu ist in beiden Gruppen zu suchen: In der Gruppe der Nicht-Abiturienten steigt der Anteil der Realschüler über die Kohorten an, die in den meisten Bundesländern ein Jahr länger zur Schule gehen als viele Hauptschüler; ebenso nehmen in den Bundesländern, in denen nicht sowieso zehn Jahre Schulpflicht bestehen, mehr Hauptschüler die Option auf ein zusätzliches Schuljahr wahr. Ab der Kohorte 115 Personen mit Abitur oder Fachhochschulreife werden denjenigen gegenübergestellt, die einen Haupt-, Realschul- oder gar keinen Schulabschluss haben. Basis ist der höchste im Beobachtungszeitraum angegebene Schulabschluss. Es ist prinzipiell möglich, dass dieser höchste Schulabschluss (z. B. ein auf dem zweiten Bildungsweg erworbenes Abitur) erst nach dem hier dargestellten Erwerbseinstieg erreicht wurde; tatsächlich kommt dies jedoch nur in einigen wenigen Einzelfällen vor.
148
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
1950 bis 1959 schlägt sich die Erhöhung der Pflichtschuljahre nieder. In den jüngsten Kohorten sind außerdem längere Suchphasen etwa nach einem Ausbildungsplatz als weitere Ursache der Verschiebung plausibel. Bei den immer zahlreicheren Abiturienten steigt der Anteil derjenigen, die statt eines Studiums eine Ausbildung aufnehmen. Ausbildungen führen schneller zu einer ersten Erwerbstätigkeit, selbst wenn später noch ein Studium folgt. Eine entsprechende Auszählung untermauert dies: Bei den männlichen Abiturienten der Geburtsjahrgänge 1940 bis 1949 erwerben mehr als vier Fünftel (bei den Frauen gut drei Viertel) einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss; in den Jahrgängen 1960 bis 1969 sind es nur knapp zwei Drittel (bei den Frauen sogar weniger als 50 Prozent).116 Absolut betrachtet wird die Gruppe der Universitätsabsolventen indessen größer. Außerdem schlägt hier der steigende Anteil der Studierenden zu Buche, die nebenher eine Erwerbstätigkeit in Teilzeit ausüben (auch Heine 2002: 163). Abbildung 8.7 zeigt schließlich die Quartilsabstände der ersten Vollzeit-Berufstätigkeit differenziert nach Personen mit und ohne Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Da für die in den 70er Jahren geborene Kohorte die Information, ob ein Hochschulabschluss erworben wurde, noch nicht verlässlich ist, wird diese von der Betrachtung ausgeklammert. Abbildung 8.7: Alter bei erster Vollzeit-Erwerbstätigkeit nach weiterführendem Abschluss
Männer
34 32
ohne Hochschulabschl.
30 mit Hochschulabschl.
Alter
28 26
Frauen
24 ohne Hochschulabschl.
22 20
mit Hochschulabschl.
18 1920 -1929
1930 -1939
1940 -1949
1950 -1959
1960 -1969
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=18.701 116 Über die in den 1970ern Geborenen lässt sich diesbezüglich noch keine gesicherte Aussage machen. Der sinkende Anteil der Universitätsabsolventen unter den Abiturienten ist jedoch eindeutig.
8.2 Befunde
149
Für die erste Vollzeit-Erwerbstätigkeit ist zumindest bei den Männern eine ähnliche Entwicklung erkennbar wie schon beschrieben: Personen ohne weiterführenden Bildungsabschluss oder Absolventen anderer Bildungsgänge als eines Hochschulstudiums sind bei ihrer ersten Vollzeit-Erwerbstätigkeit immer älter, bei fast stabilem Quartilsabstand. Die Streuung des Übergangs der (Fach-)Hochschulabsolventen weist dagegen keine eindeutige Entwicklung auf, der Median steigt leicht und der Abstand zwischen dem schnellsten und dem langsamsten Viertel vergrößert sich. Die Veränderungen bei den Frauen sind weitaus markanter: In beiden Gruppen, vor allem aber bei den Nicht-(Fach-)Hochschulabsolventinnen ist eine eindeutige Angleichung an die Männer zu erkennen. Vor allem bei den älteren Kohorten der bildungsärmeren Gruppe variiert der Zeitpunkt des Übergangs in die erste Vollzeit-Erwerbstätigkeit sehr stark. Die Hochschulabsolventinnen früherer Generationen vollzogen den Übergang in die Berufstätigkeit teilweise schneller als ihre männlichen Altersgenossen. Zusammengefasst ist für den Übergang von der Schule in den Beruf in zeitlicher Hinsicht nicht von zunehmender Differenzierung zu sprechen. Eher hat er sich bei allen Bildungsgruppen in ein höheres Alter verschoben; dabei hat sich sein Tempo in den verschiedenen Gruppen angeglichen. Trotzdem bestehen deutliche Differenzierungen fort. Da die „langsamsten“ 25 Prozent der jeweiligen Alterkohorten bzw. diejenigen, die den Übergang gar nicht erfolgreich vollziehen, hier nicht einbezogen sind, können über das Bisherige hinaus keine Aussagen zur Prekarisierung und den „Verlierern“ dieses Übergangskomplexes gemacht werden. Ein letzter Blick gilt der diachronen Verknüpfung einzelner Übergangsschritte. Die typischsten Sequenzen lassen sich über die Kohorten hinweg in ihrer Häufigkeit vergleichen. Dabei werden hier auch solche Fälle eingeschlossen, die eines der Ereignisse oder beide noch nicht durchlaufen haben, für die aber jeweils der Zeitpunkt der Rechtszensierung vorliegt, denn daraus können in den meisten Fällen Rückschlüsse für die Reihenfolge der Übergänge gezogen werden.117 In der Logik des Übergangskomplexes folgt die erste Erwerbstätigkeit auf den letzten Ausbildungsabschluss, eventuell liegt eine Suchphase dazwischen. Ein Studium oder eine Ausbildung nach Aufnahme der ersten Erwerbstätigkeit abzuschließen, entspricht nicht den Regeln des institutionalisierten Lebenslaufs. In Abbildung 8.8 wird (wiederum für die Geschlechter getrennt) die Reihenfolge von letztem Ausbildungsabschluss und erster Erwerbstätigkeit (sowohl Vollzeit als auch Teilzeit) betrachtet. Selbst in den ältesten Kohorten entsprechen nur gut zwei Drittel dem „normalen“ Verlaufsmuster, bei dem die erste Erwerbstätigkeit im Jahr des letzten Ausbildungsabschlusses aufgenommen wird oder danach, bei den Frauen sind es etwas mehr als bei den Männern. Das deutet darauf hin, dass Männer sowohl eher zu Weiter- und Mehrfachausbildungen als auch zum Hochschulstudium neigen: Durchweg ist bei ihnen der Anteil derjenigen höher, die schon vor dem Erwerb ihres letzten Abschlusses gearbeitet haben (hellgrauer Balken). 117 Liegt der Zeitpunkt der Rechtszensierung des Erwerbs eines weiterführenden Bildungsabschlusses nach dem bereits erfolgten Erwerbseinstieg, kann ein solcher Abschluss nicht mehr vor dem ersten Job erreicht werden. Außer den drei aufgeführten Sequenztypen findet sich ein kleiner Rest weiterer Kombinationsmöglichkeiten, der in den meisten Kohorten gar nicht und in den anderen mit einem Anteil von unter einem Prozent vertreten ist (in Andeutung sichtbar bei den in den 60ern geborenen Männern).
150
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Abbildung 8.8: Abfolge letzter Ausbildungs-/Studienabschluss und erste Erwerbstätigkeit 100 90 80
Prozent
70 beide rechtszensiert
60
1. Job vor
50
letztem Abschluss
40
(od. Rechtszensierung)
30
1. Job (od. Rechtszensierung)
20
nach letztem Abschluss
10
oder im gleichen Jahr
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Männer
Frauen Geburtskohorte
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=6628
Der Anteil derer, die im Jahr ihres letzten Abschlusses oder danach erstmals arbeiten, sinkt bis zur jüngsten Kohorte eindeutig, und zwar bei beiden Geschlechtern um etwa 15 Prozent. Für die in den 70er Jahren geborene Kohorte kann noch keine endgültige Aussage getroffen werden: Hier gibt es fünf Prozent Befragte, die weder den einen noch den anderen Übergang bisher erlebt haben und die deswegen noch keinem der Sequenzmuster eindeutig zuzuordnen sind. Zudem ist die Risikozeit für weitere Abschlüsse nach begonnener Erwerbstätigkeit noch nicht lang. Es wäre möglich, dass die vorher angedeutete Verschiebung sich in dieser Kohorte markanter fortschreibt (aber auch, dass sie sich abschwächt). Die Vermutung, dass die Tendenz zur Umkehrung der Reihenfolge auf häufigere Weiterbildungen, Mehrfachausbildungen und die höhere Zahl von Studierenden zurückzuführen ist, wird durch eine nach Schulabschluss differenzierte Betrachtung indirekt bestätigt (Abbildung A3.1 im Anhang): Im Vergleich zu anderen Schulabgängern weisen Abiturienten häufiger eine solche Umkehrung auf; beim Vergleich von Universitäts- und Fachhochschulabsolventen mit anderen (Abbildung A3.2 im Anhang) ist der Unterschied noch augenfälliger. Hochschulabschlüsse werden immer häufiger nach der Absolvierung einer Ausbildung und einer ersten Erwerbstätigkeit erworben. Zudem trägt Erwerbstätigkeit neben dem Studium zu diesem Ergebnis bei. Allerdings erleben Hochschulabsolventen ihren Erwerbseinstieg in allen Kohorten häufiger vor ihrem letzten Abschluss – ein guter Teil der Verschiebungen bei den Sequenzhäufigkeiten ist also schlicht auf den steigenden Anteil von Hochschulabsolventen zurückzuführen. Alles in allem zeigen sich auch hier keine dramatischen Veränderungen, sondern deutet sich ein „Ausfransen“ der Übergänge an; Ausbildung und erste Erwerbstätigkeit greifen verstärkt ineinander bzw. überlappen einander.
8.3 Einordnung und Folgen
151
8.3 Einordnung und Folgen Die Verlängerung der Bildungsphase beruht vornehmlich auf der veränderten Struktur der Bildungsbeteiligung, die mit der Bildungsexpansion ihren Anfang genommen hat und von der vor allem Frauen profitieren. Dahinter steht wiederum ein Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt, der mehr höher Qualifizierte braucht, seien es nun Absolventen von dualen Ausbildungsgängen oder (Fach-)Hochschulen. Inwieweit eine Verlängerung der Bildungsphase auch dadurch bedingt ist, dass sich Beruf und Arbeit „normativ subjektivieren“ (Witzel 1993: 52) ist mit den hier verwendeten Methoden kaum zu erfassen. Trotzdem ist dieser Zusammenhang nicht unplausibel: Die mit dem expandierten Bildungssystem transportierten Werte der Selbstreflexion und Selbstentfaltung verstärken den Trend zur verlängerten Bildungsphase noch, indem sie zur größeren und allgemeiner verbreiteten Wertschätzung von Bildungsprozessen und -zertifikaten beitragen – und das nicht im ökonomischen Sinne. Als nicht zu vernachlässigende Hintergrundbedingung ermöglicht erst eine stabile ökonomische Situation, gekennzeichnet durch die Gebührenfreiheit des Studiums, durch Eltern mit regelmäßigem Einkommen und durch Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung (BAFöG), eine längere Bildungsphase. Ein weiterer Anhaltspunkt für die (andere Einflüsse ergänzende) Wirksamkeit eines normativen Wandels sind die zunehmenden Korrekturen der Berufsentscheidung in Form von Mehrfachausbildungen, Studiums- und Ausbildungsabbrüchen etc. Der Untertitel von Jacob (2004) („Karriere, Collage, Kompensation?“) deutet an, dass die Ursachen dieses Trends sowohl auf struktureller als auch auf individueller Ebene anzusiedeln sind: Höhere oder veränderte Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarkts lassen Mehrfachqualifikationen erwünscht erscheinen; diese verbessern bei verstärkter Konkurrenz auf dem engen Arbeitmarkt die eigene Ausgangsposition. Individuell zielt der Erwerb einer zusätzlichen Qualifikation z. B. auf die Vermeidung drohender Arbeitslosigkeit ab, die mit der Aufnahme eines (weiteren) Studiums abgewendet werden kann – dieses kann aber ebenso (oder auch) der Selbstentfaltung und der Verwirklichung individueller beruflicher Präferenzen dienen. Eine Reduzierung der Erklärung auf den Mehrertrag von zusätzlichen Ausbildungsschritten erscheint nicht plausibel, da dieser Mehrertrag nicht einmal eindeutig bzw. über die Erwerbskarriere konstant gesichert ist (Büchel 1997). Mehrfachausbildungen haben zumeist auch den Charakter von Korrekturen früherer Bildungsentscheidungen, welche die Passung zwischen individuellen Interessen und Arbeitsanforderungen erhöhen sollen. Qualitative Studien erarbeiten passend dazu beispielsweise verschiedene Typen der berufsbiographischen Gestaltung (Witzel 1993; Witzel & Kühn 2000; Zinn 2000), die jeweils ganz unterschiedlich mit vorgegebenen Handlungsspielräumen, -begrenzungen und Diskontinuitäten der Erwerbstätigkeit umgehen – allenfalls eine sehr kleine Gruppe von Berufsanfängern reagiert gänzlich passiv auf sie. Beim Einstieg in die Erwerbsarbeit nach einem Studium oder nach einer Ausbildung ist offensichtlich vor allem die Situation auf dem Arbeitmarkt bestimmend, die wiederum eng mit der konjunkturellen Lage verknüpft ist (Erlinghagen 2005).118 Obwohl sich vor 118 Erlinghagens (2005) Feststellung, dass es neben der durch die schlechte konjunkturelle Lage bedingten Zunahme arbeitgeberseitiger Entlassungen keinen allgemeinen Trend zu mehr Flexibilisierung durch Entlassungen gebe, stellt zwar eine wichtige Präzisierung des Zusammenhangs dar. Dass die zunehmenden Unsi-
152
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
allem die Situation von deutschen Ausbildungsabsolventen im internationalen Vergleich119 z. B. der Arbeitslosigkeitsquoten bei Jugendlichen immer noch günstig darstellt, ist im postfordistischen bzw. postindustriellen Lebenslaufregime (vgl. 6.5) der Trend zu diskontinuierlichen Einstiegen eindeutig, und zwar ebenso bei Hochschulabsolventen wie bei Geringqualifizierten; erstere sind seltener von Arbeitslosigkeit, aber überdurchschnittlich oft von atypischen Beschäftigungsformen betroffen. Obwohl immer mehr Beschäftigte gerne in Teilzeit arbeiten würden, ist nicht davon auszugehen, dass dies bei den jungen, meist noch kinderlosen Erwachsenen ausschlaggebend ist. Bei Frauen haben sich die bildungs- und erwerbsbezogenen Übergänge der ersten Lebenshälfte am eindeutigsten verändert. Ihr durchschnittliches Bildungsniveau gleicht sich dem der Männer an, womit auch ihr Timing der Statuspassage von der Schule in den Beruf dem der Männer immer ähnlicher wird. Gleichzeitig sind sie vom Trend größerer Diskontinuität mindestens genauso betroffen wie Männer. Gerade bei Frauen überzeugen nur über die Erfordernisse des Arbeitsmarktes argumentierende Erklärungen nicht: Hier hat ein Wertewandel stattgefunden, der den Anspruch von Frauen auf gleichberechtigte Bildungsbeteiligung normativ untermauert. Von der strukturellen Seite ist die Expansion des Bildungssystems eine notwendige Voraussetzung der Erfüllung dieses Anspruchs. Aus der diskontinuierlicheren Kopplung von Bildung und Erwerbstätigkeit kann nicht geschlossen werden, dass auch ihre inhaltliche Kopplung geringer würde. Die Tatsache, dass bestimmte Gruppen von Diskontinuität mehr, andere weniger betroffen sind, weist auf das Gegenteil hin. Untersuchungen zum Verhältnis von Bildung und Beruf, von Abschlüssen und beruflicher Platzierung im Laufe der Erwerbskarriere zeigen vielmehr eine gleichbleibend starke oder sich sogar verstärkende Strukturierung von Erwerbshierarchien (z. B. gemessen in Einkommen oder Prestige) nach Bildungszertifikaten (Grunow et al. 2005; W. Müller 2001; Butz 2001). Auch der These, dass über Schulabschlüsse hinausgehenden Bildungszertifikate (vor allem Hochschulabschlüsse) unter anderem durch ihre Inflationierung entwertet werden, wird widersprochen (für Ausbildungen: Pollmann-Schult & Mayer 2004). Die Verlängerung der Bildungsphase zeitigt für den weiteren Lebenslauf Folgen, indem etwa die Familiengründung aufgeschoben oder gar nicht erst angegangen wird oder indem die Basis für die soziale Sicherung im Alter schwindet. Für die Zukunft sind zwei gegenläufige Entwicklungen zu erwarten: Da die individuellen Kosten von Bildungsinvestitionen insbesondere im Hochschulbereich mit Einführung von Studiengebühren mindestens für Langzeitstudierende steigen, ist zumindest für den Hochschulbesuch von einer Stagnation oder einer leichten Verkürzung der Bildungszeiten auszugehen. Die im Rahmen des Bologna-Prozesses erfolgende Umstrukturierung der Studiengänge und -abschlüsse (in Bachelor- und Masterstudiengänge) weist in eine ähnliche Richtung. Obschon die Doppelqualifikation Ausbildung plus Studium in den frühen 90er Jahren ihren anteiligen Höhepunkt hatte, könnte die Vielzahl neu entstehender Zusatzstudiengänge, die an eine ein-
cherheiten auf dem Arbeitsmarkt aber wirtschaftlichen Ursprungs sind, macht diesen Trend nicht weniger gültig oder bemerkenswert. 119 Für einen knappen internationalen Überblick über Bildungsbeteiligung und atypische Beschäftigungsformen, geordnet nach Wohlfahrtsstaattypen, vgl. Klijzing (2005).
8.3 Einordnung und Folgen
153
schlägige Ausbildung oder ein entsprechendes Studium angeschlossen werden, diesen zeitlichen Trend konterkarieren. Direkte Folgen der Verlängerung von Bildungszeiten betreffen vor allem die weitere Erwerbskarriere. Der spätere Berufseinstieg als solcher ist nicht per se als günstig oder ungünstig zu werten. Zumeist geht er mit höheren, sich oft positiv auf die berufliche Position auswirkenden Qualifikationen einher. Konietzka und Seibert (2001) zeigen, dass sich zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit oder durch Betriebswechsel gekennzeichnete, also im engeren Sinne diskontinuierliche Übergänge bei Ausbildungsabsolventen nachteilig auf die weitere Laufbahn auswirken. Scherer (2004) findet negative Folgen vor allem für unterwertige Beschäftigung beim Erwerbsteinstieg, während befristete oder sehr kurze Beschäftigung zwar die Gefahr einer gewissen Instabilität der folgenden beruflichen Karriere mit sich bringen, aber darüber hinaus keine langfristigen negativen Effekte haben. Der Ertrag von Mehrfachqualifikationen und wieder aufgenommenen Bildungsphasen ist weder aus individuell-biographischer noch aus individuell-ökonomischer Perspektive pauschal und abschließend bewertbar. Nicht nur erweist sich die Kombination von Ausbildung und Studium nicht unbedingt als ertragreicher als nur einer der beiden Schritte (Büchel 1997). Überdies kann eine bessere Entsprechung von beruflicher Tätigkeit und individuellen Neigungen, die durch eine zusätzliche Ausbildung erreicht wurde, mit einem Verlust an Einkommen einhergehen. Die Konsequenzen der Veränderungen des Übergangs von der Schule in den Beruf sind also selbst auf der individuellen Ebene potentiell widersprüchlich. Dabei spielt es aus individueller Sicht eine entscheidende Rolle, ob Unterbrechungen, Verzögerungen u. ä. als Folge eigener Entscheidungen oder struktureller Zwänge wahrgenommen werden. Die Verlängerung der Bildungsphase ist zumindest auch Resultat individueller Entschlüsse, unabhängig davon, ob diese auf Basis einer biographischen, einer sozialen oder einer situativen Logik kalkulierter Handlungsfolgen (Burkart 1995) getroffen werden. Betriebs- oder Berufswechsel können geplant und gewünscht, aber ebenso erzwungen sein, während Arbeitslosigkeit zumeist unfreiwillig eingegangen wird. Insbesondere diese Form des Kontinuitätsbruchs ist eindeutig negativ einzuschätzen, da sie mit dem Verlust von bisherigem Einkommen, von Selbstvertrauen, Anerkennung und Wertschätzung verbunden ist, der weiteren beruflichen Karriere schadet und die Sicherungsbilanz am Ende der Erwerbstätigkeit verschlechtert. Auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive ist sie die Form der Destandardisierung, die am stärksten negativ bewertet wird. Mit dem Ziel ihrer Vermeidung sind viele andere Formen der zeitlichen und organisatorischen Destandardisierung implementiert worden. Die davon ausgehende und in politische Fragen hineinragende Diskussion entzündet sich daran, ob und wie genau der von gestiegener (globaler) Konkurrenz ausgehende Flexibilisierungsdruck gesteuert werden kann, inwieweit betriebsinterne Flexibilisierungen betriebsexterne ersetzen können oder wie flexiblere Arbeitsmärkte institutionell und wohlfahrtsstaatlich so gerahmt werden, dass nicht allein den betroffenen Individuen die Kosten und Risiken aufgebürdet werden (z. B. Keller & Seifert 2002; Diewald 2004: 126f). Selbst oder erst recht wenn allenthalben vor einer Dramatisierung der Veränderungen gewarnt wird, sind Überlegungen zur Abfederung oder Abmilderung individueller Risiken insbesondere beim Übergang in die Erwerbsarbeit geboten, damit sich die Wirkung von Brüchen, von Verzögerungen etc. nicht verfestigt.
154
8 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter I: Von der Schule in den Beruf
Obwohl keine weitgehende Auflösung des bisherigen Erwerbsregimes feststellbar ist, nimmt die Standardisierung des Beginns (wie auch des Endes, vgl. Kapitel 10) von Erwerbskarrieren ab. Auch für die Zeit danach finden sich vielgestaltige Destandardisierungsanzeichen. Dieser Trend ist jedoch längst nicht so stark wie in der These des Endes des Normalarbeitverhältnisses postuliert, oder zumindest ist die Debatte der tatsächlichen Entwicklung um einiges voraus (Diewald 2004: 122).
9 Deskriptive Befunde zum Übergang in das Erwachsenenalter II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Neben dem Übergang von der Schule über Ausbildung und Studium in das Erwerbsleben machen das Verlassen der Herkunftsfamilie, d. h. der Auszug aus dem Elternhaus, das Eingehen einer ersten Ehe und die Geburt des ersten eigenen Kindes die Statuspassage in das Erwachsenenleben aus. Zusammen mit anderen (Teil-)Übergängen (wie etwa der hier nicht betrachteten Gründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft) bilden diese Übergänge entscheidende, miteinander verbundene Schritte in Richtung psychischer und praktischer, besonders ökonomischer Unabhängigkeit vom Elternhaus und in Richtung einer eigenen Familie. Für die Frage nach der Destandardisierung ist nicht nur interessant, wann bestimmte Übergänge vollzogen werden, sondern auch, ob sie überhaupt erfolgen. Ebenso stellt die Verknüpfung der Übergänge, ihre zeitliche Aufeinanderfolge und ihre gegenseitige Bedingtheit, eine Dimension von (De-)Standardisierung dar, auf die später eingegangen wird. Zunächst werden sie aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt voneinander dargestellt, wobei auf einführende Bemerkungen die Wiedergabe bisheriger Ergebnisse aus der Literatur und schließlich die Darstellung der eigenen Befunde folgt. Am Ende dieses Kapitels (9.4) wird näher untersucht, in welchem zeitlichen Zusammenhang sie stehen. Da alle drei Ereignisse im elften Kapitel tiefergehenden multivariaten Analysen unterzogen werden, bleibt die Darstellung von Theorien und Befunden hier auf die für die Deskription relevanten Punkte beschränkt und wird erst dort vertieft.
9.1 Auszug aus dem Elternhaus Mit dem Auszug aus dem Elternhaus beschäftigt sich (deutsche) soziologische Forschung erst seit den 80er Jahren. Ein grundsätzliches Problem aller empirischen und theoretischen Zugänge besteht darin, dass es sich bei diesem Übergang um einen prinzipiell reversiblen Prozess handelt, dessen einzelne Schritte eigentlich genau differenziert werden müssten. Ziegler und Schladt (1993) sind in der Lage, empirisch zwei Aspekte dieses Prozesses zu unterscheiden, nämlich erstens, wann die befragten (ehemaligen) Gymnasiasten erstmals längere Zeit nicht mehr bei den Eltern gelebt haben, und zweitens, wann sie einen eigenen Hausstand gegründet haben. Das Problem bei der Erfassung des Auszugsprozesses besteht darin, dass diese Zeitpunkte nicht identisch sein müssen: Insbesondere viele Männer verlassen anlässlich ihres Wehrdienstes zwar für längere Zeit den Haushalt ihrer Eltern, aber begeben sich nur in Kasernenunterbringung. Damit gleich setzen Ziegler und Schladt (1993) (ebenso wie Mayer & Wagner 1989) die Unterbringung in Studentenwohnheimen, was bei genauerem Hinsehen jedoch nicht (mehr) plausibel ist: Diese entspricht unter bestimmten Umständen der Gründung eines eigenen Haushalts, da Studierende in Wohnhei-
156
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
men sich in ihrer Wohnform kaum noch von ihren Kommilitonen in eigenen Haushalten oder Wohngemeinschaften unterscheiden (allenfalls in der Miethöhe und der Zusammensetzung der anderen Hausbewohner). Entscheidender ist, wie häufig Studierende (sowie Wehr-, Zivildienstleistende und Absolventen eines freiwilligen sozialen Jahres) in den Haushalt der Eltern zurückkehren, welche Dienstleistungen ihnen dort geboten werden (z. B. Wäsche waschen und Versorgung mit Lebensmitteln) und wo sich der Lebensmittelpunkt mit den wichtigsten Freunden befindet. Ein Verhalten des Pendelns (Mayer & Wagner 1989: 25), bei dem jedes Wochenende und die vorlesungsfreie Zeit zu großen Teilen bei den Eltern verbracht wird, ist wiederum nicht nur für Bewohner von Wohnheimen typisch. Es gibt einige Heranwachsende, bei denen der eigene, neu gegründete Haushalt und das Elternhaus eine Zeitlang gleichermaßen den Lebensmittelpunkt bilden. Dieses Problem ist mit den gängigen Datensätzen kaum lösbar; die Annäherung der von Ziegler und Schladt verwendeten Daten stellt die präziseste dar (ähnlich Wagner & Huinink 1991: 39). Immerhin ergibt ihre Analyse, dass bei etwa zwei Dritteln der befragten Gymnasiasten die erste längere Entfernung vom elterlichen Haushalt und die Gründung eines eigenen Hausstandes zeitlich zusammenfallen (Ziegler & Schladt 1993). Die Problematik eines in mehreren Schritten erfolgenden Auszugsprozesses bzw. mehrfacher Aus- und Rückzüge relativiert sich damit, da sie eine Minderheit von Personen betrifft. Zunehmendes Pendeln zwischen Herkunfts- und eigenem Haushalt sowie vermehrte Rückzüge ins Elternhaus z. B. bei zeitweiliger Arbeitslosigkeit (da Vanzo & Kobrin Goldscheider 1990) sind Destandardisierungserscheinungen, die empirisch nur mit sehr ausgefeilten Instrumenten erfasst werden können.120 Die aus den 1980ern stammenden frühesten Studien über Auszüge in (West-) Deutschland konstatieren einhellig, dass sich das Auszugsalter nach dem Zweiten Weltkrieg leicht nach oben verschoben hat – zumeist sind die Ausziehenden nun mindestens 18 Jahre alt – , dass aber gleichzeitig immer weniger junge Menschen sehr lange zu Hause leben. Das Auszugsalter ist also in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre einer stärkeren Altersgradierung ausgesetzt (Mayer & Wagner 1989: 17f): So liegen bei Mayer und Wagner (1989: 25) die beiden mittleren Quartile des Auszugsalters der Geburtskohorte 1949 bis 1951 bei den Frauen zwischen knapp 20 und gut 24, bei den Männern zwischen gut 21 und 27 Jahren; im Vergleich zu den 1929 bis 1931 und 1939 bis 1941 geborenen Kohorten konzentriert sich das Alter des Auszugs viel stärker (vgl. auch Mayer & Wagner 1986). Seit den 70er Jahren hat sich dieser Trend zur Konzentration immer deutlicher umgekehrt: Junge Männer und Frauen sind beim Auszug im Mittel immer älter als die vor ihnen geborenen Kohorten; außerdem streut ihr Alter immer stärker. Dies ist mit unterschiedlichen Daten gut belegt, wie etwa denen der Lebensverlaufsstudie des MPI in Berlin (Brückner & Mayer 2005: 43; Hillmert 2005: 163), des DJI-Familien-Survey (Konietzka & Huinink: 2003), der Family and Fertility Surveys (Rusconi 2004, 2006 für Italien und Deutschland; Hullen 2001 für Deutschland), der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS, Weick 2002), sowie des Sozio-ökonomischen Panels (Lauterbach & Lüscher 1999). Die Befunde für Deutschland entsprechen dem Trend bzw. der aktuellen 120 Wie hier mit dieser Unschärfe genau umgegangen wurde, wird in der folgenden Fußnote angedeutet und im Anhang A2.2 ausführlich erläutert.
9.1 Auszug aus dem Elternhaus
157
Situation vieler anderer europäischer Länder (Klijzing 2005: 40ff; Corijn & Klijzing 2001a; Aasve et al. 2002a und Kluve 2004 mit dem European Community Household Panel). Bei gleichbleibendem Geschlechterunterschied ziehen in ganz Europa besonders einige Männer erst mit Ende 20 zu Hause aus. Insgesamt ist für die folgende Präsentation der deskriptiven Befunde also zu erwarten, dass der Auszug über die Kohorten stärker streut und dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern dabei ungefähr gleichbleibt. Hinsichtlich der Differenzierung des Auszugsverhaltens nach Bildung widersprechen die durchgesehenen Studien einander – der späte Auszug von besser gebildeten jungen Menschen wird nur manchmal und dann eher für Männer bestätigt; hier muss genauer nach Kohorten und Bildungsabschlüssen differenziert werden. Abbildung 9.1 vergleicht die Quartilsabstände von Männern und Frauen unterschiedlicher Geburtskohorten beim Auszug aus dem Elternhaus.121 Es zeichnen sich deutlich sowohl eine Destandardisierung als auch eine Verschiebung des Alters ab: Die nach dem Zweiten Weltkrieg und bis 1959 geborenen Männer und Frauen sind beim Auszug aus dem Elternhaus am jüngsten und vollziehen diesen außerdem am schnellsten – dies gilt sowohl im Vergleich zu den Vorgängern als auch zu den nachgeborenen Kohorten. Bei den Frauen streut der Zeitpunkt des Auszugs im Vergleich zu dem der Männer in allen Geburtskohorten weniger stark. Von den 1950 bis 1954 geborenen sind die mittleren 50 Prozent innerhalb von nur drei Lebensjahren ausgezogen; bei den Männern beträgt der Abstand mindestens vier Jahre. Für die Geburtskohorten ab 1960 erhöht sich das mittlere Alter des Auszugs für jede Kohorte um mindestens ein Jahr und wiederum bei den Männern stärker. Der Quartilsabstand zwischen „Nestflüchtern“ und „Nesthockern“ verdoppelt sich fast. Männer und Frauen unterscheiden sich in allen Geburtskohorten deutlich und zunehmend. Erst bei den in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geborenen Personen verringert sich der Abstand zwischen den Geschlechtern; auch die Streuung des Alters beim Auszug nimmt hier bei den Frauen zu, der „halbe“ Quartilsabstand übertrifft den der Männer. Die oben geschilderten Befunde der Literatur bestätigen sich der Richtung nach. Im Einzelnen gehen die hier präsentierten Ergebnisse bei der Vergrößerung der Quartilsabstände und der Erhöhung der Mediane in ihrer Stärke über die der meisten anderen Befunde hinaus, was aber zum Teil der groben Erfassung des Alters in ganzen Jahren geschuldet ist.
121 Bei den älteren Kohorten (deren Auszugsalter im Jahr 1985 retrospektiv erhoben wurde) gehe ich davon aus, dass es sich um den endgültigen Auszug aus dem Elternhaus und die Gründung eines eigenen Haushalts handelt, obwohl darüber keine genaueren Angaben vorliegen. Für die nach 1984 ausgezogenen, deren Auszugstermin ich über den Vergleich von Haushaltsnummern ermittele (genauer im Anhang A2.2), ergibt sich ein Anteil von knapp unter zehn Prozent, der zwei- oder mehrmals den elterlichen Haushalt verlässt; hier wurde jeweils der früheste Auszugstermin übernommen. Damit werden unvermeidlich unterschiedliche Schritte des Auszugsverhaltens miteinander verglichen, ein Fehler, der insgesamt aber wenig ins Gewicht fallen dürfte. Ausgeschlossen von den Betrachtungen sind Auszüge von unter 18jährigen.
158
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Abbildung 9.1: Alter beim Auszug aus dem Elternhaus 31 29
Alter
27
Männer
25 Frauen
23 21 19 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 -1924 -1929 -1934 -1939 -1944 -1949 -1954 -1959 -1964 -1969 -1974 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=7527
Destandardisierung und Aufschub des Auszugs aus dem Elternhaus gehen bei den jüngsten Kohorten sogar über das Ausmaß hinaus, das die ältesten Geburtskohorten aufweisen. Die Bedeutung dieser Entwicklung im historischen Vergleich wird weiter unten in diesem Kapitel thematisiert. Abbildung 9.2 zeigt, diesmal für Zehn-Jahres-Kohorten zusammengefasst, das Alter beim Auszug nach Geschlecht für zwei verschiedene Gruppen: Diejenigen, die Abitur oder Fachhochschulreife erlangt haben auf der einen, und diejenigen mit Volks-, Haupt- oder Realschulabschluss oder ohne Schulabschluss auf der anderen Seite. Bis zu den in den 50er Jahren geborenen Kohorten ergeben sich zwischen diesen beiden Gruppen geringe Unterschiede. Die Männer ohne Abitur ziehen im Mittel später aus als diejenigen mit, während sich bei den Frauen kaum Unterschiede finden. Allein bei den ab 1940 geborenen ziehen die mit Abitur im Mittel ein Jahr später aus. Erst in den letzten Kohorten verlassen die höher Gebildeten eindeutig später das Elternhaus als die anderen – die Auszugsmuster differenzieren sich also tatsächlich. Gleichzeitig nimmt jedoch in allen Gruppen sowohl das Auszugalter als auch seine Streuung zu, so dass die Differenzierung zwischen Abiturienten und anderen Schulabgängern allenfalls einen Teil der zeitlichen Destandardisierung erklärt.
159
9.2 Erste Eheschließung
Abbildung 9.2: Alter beim Auszug aus dem Elternhaus nach Schulabschluss
29 Männer
27
ohne Abitur
mit Abitur
23
Frauen
Alter
25
ohne Abitur
21
mit Abitur
19 1920 -1929
1930 -1939
1940 -1949
1950 -1959
1960 -1969
1970 -1979
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=7489
Auch in dieser Perspektive bleibt der Unterschied zwischen den Geschlechtern sehr stabil, vor allem bei denjenigen ohne Abitur. Allein in der letzten Kohorte zeichnet sich bei den Frauen eine markante Vergrößerung des Quartilsabstands ab.
9.2 Erste Eheschließung Veränderungen beim Eintritt in die Ehe sind eines der wichtigsten und meistdiskutierten Themen in der Lebenslaufforschung, der Familiensoziologie und der Demographie.122 Eine Heirat war für die älteren der hier betrachteten Kohorten die einzige Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen. Im historischen, aktuelle Veränderungen relativierenden Vergleich wird der sich wandelnde Charakter ehelicher Verbindungen herausgestellt: Ehen wurden lange hauptsächlich aus familienökonomischen Erwägungen geschlossen, die wenig mit dem modernen, bürgerlichen Ideal der zweckfreien Liebe zwischen Partnern gemein hatten. Das Ehepaar und seine Kinder waren vor allem eine wirtschaftliche Einheit. Die Heirat setzte bereits eine gewisse wirtschaftliche Position voraus. Mangelnde Zunei122 Aus der Fülle an Literatur wird hier sowohl hinsichtlich der theoretischen Überlegungen als auch der Befunde nur ein kleiner Ausschnitt betrachtet, in dem es um die für den Zusammenhang dieser Arbeit wichtigsten Diskussionsstränge geht.
160
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
gung zwischen Gatten wurde dementsprechend nicht als legitimer Grund für die Auflösung einer in die gesellschaftliche und religiöse Ordnung eingefügten ehelichen Verbindung aufgefasst (Beck & Beck-Gernsheim 1994: 20ff; Beck-Gernsheim 1989). Eng verknüpft mit dieser Ordnung ist auch eine bestimmte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Obwohl dieser idealen Arbeitsteilung letztendlich nie alle Paare folgen konnten, hat sie sich doch vom Bürgertum ausgehend immer weiter verbreitet:123 Männer ernähren mit ihrer Erwerbstätigkeit die Familie, während Frauen vorwiegend Reproduktionsaufgaben übernehmen. Dem entspricht die Zuweisung des Mannes zur öffentlichen, der Frau zur privaten Sphäre (Hausen 1976). Das bürgerliche Ideal der Liebesehe, das erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kam, betont im Gegensatz dazu, dass eine Ehe auf starken positiven Gefühlen der Partner füreinander beruhen und nicht allein aus ökonomischen Erwägungen heraus eingegangen werden sollte. Nicht nur anhand von Heiratsquote und Heiratsalter kann der Standardisierungsgrad dieses Übergangs gemessen werden. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und Scheidungen sind Formen der Destandardisierung des Lebenslaufs, nichteheliche Lebensgemeinschaften als in der klassischen Normalbiographie nicht vorgesehener Zustand, Scheidungen als Reversibilisierung des Übergangs in die Ehe. Letztere münden manchmal in Wiederverheiratungen124, die oft außerhalb des für Erstehen üblichen Timings erfolgen. Obwohl im Sozio-ökonomischen Panel für die Zeit vor 1984 Informationen über die Formierung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften fehlen und deshalb keine entsprechenden Analysen durchgeführt werden können, muss die entsprechende Diskussion so weit einbezogen werden, wie sie mit der um die Eheschließung zusammenhängt. Mit der Pluralisierung der Lebensformen verliert die Institution der Ehe an Bedeutung, so die gängigste Beschreibung des Wandels der letzten Jahrzehnte. Ehen werden seltener und immer später geschlossen; im Gegenzug treten nichteheliche Lebensgemeinschaften häufiger auf (Bien & Marbach 2003; Brüderl & Klein 2003; Marbach 2003; Weick 2002; Hullen 2001; Müller 2000; Müller et al. 1999; Diekmann & Weick 1993). Immer öfter und länger leben wiederum besonders junge Paare auch nicht in einem gemeinsamen Haushalt (Schneider & Ruckdeschel 2003).125 Die Streuung des Alters bei der Eheschließung hat stark zugenommen (z. B. Diekmann 1996). Besonders späte und wenige Ehen werden, wie die Differenzierung nach Bildungsgruppen zeigt, von höher Gebildeten geschlossen (etwa Diekmann 1996: 163; Hullen 2001: 163f). Für die erste Eheschließung sollten sich in den 123 Vgl. Pfau-Effinger (1998) zum „soziologischen Mythos von der Hausfrauenehe“, die vor allem die Notwendigkeit der engen Verknüpfung zwischen Industrialisierung und Alleinernährermodell bestreitet. 124 In der Zeit vor der Hoch-Zeit des institutionalisierten Lebenslaufs waren Wiederverheiratungen (und späte Erstehen) sehr häufig, was vor allem auf Verwitwungen zurückzuführen ist. Auch in diesem Punkt ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eher Ausnahme denn Regel; heute treten Wiederverheiratungen allerdings besonders aufgrund von Scheidungen vermehrt auf und seltener aufgrund von Verwitwungen. 125 Unter Einbezug dieser Paare („living apart together“) ist der viel beschworene Trend zur Single-Gesellschaft nicht festzustellen: Die Bindungsquote, d. h. der (für das Alter kontrollierte) Gesamtanteil derjenigen, die einen Partner haben, ist eher gestiegen als gesunken (Klein 1999a, auch Brüderl 2004). Betrachtet man alle Partnerschaften ab der Dauer von einem Jahr und unabhängig davon, ob die Partner zusammenwohnen oder nicht, ist außerdem eine Verschiebung des Alters bei der ersten Partnerschaft in jüngere Jahre festzustellen (Marbach & Tölke 1996: 120), allerdings keine über die Kohorten wachsende Streuung. Diskontinuität nimmt aber insofern zu, als jede Kohorte im Alter von 30 Jahren schon mehr Partner hatte als die Vorgängerkohorte (ebd.: 125).
161
9.2 Erste Eheschließung
folgenden Darstellungen also sowohl eindeutige Destandardisierungs- als auch Differenzierungsprozesse ergeben. Die erste Eheschließung ist auch in der Betrachtung mittels des SOEP126 einer deutlichen Destandardisierung ausgesetzt (Abbildung 9.3): Sowohl Männer als auch Frauen der zwischen 1935 und 1944 geborenen Kohorten durchlaufen den uniformsten Übergang in die Ehe. Bei den Frauen beträgt der Abstand zwischen den frühesten 25 Prozent und den spätesten 25 Prozent nur vier, bei den Männern fünf Jahre. In der Kohorte der 1965 bis 1969 geborenen, der jüngsten, in der bereits knapp über 75 Prozent der Befragten geheiratet haben, hat sich der Abstand jeweils verdoppelt. Damit wird bei Männern wie Frauen die Streuung der in den 1920ern Geborenen übertroffen. Abbildung 9.3: Alter bei erster Eheschließung
34 32
Alter
30
Männer
28 Frauen
26 24 22 20 1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
1940 -1944
1945 -1949
1950 -1954
1955 -1959
1960 -1964
1965 -1969
1970 -1974
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=17.192
Bei beiden Geschlechtern sinkt in den nach 1944 geborenen Kohorten das mittlere Alter bei Beginn der ersten Ehe; der niedrigste Median beträgt bei den Frauen 22 Jahre (1945 bis 1954 geborene), bei den Männern 25 Jahre (1940 bis 1954 geborene). Danach steigen alle Werte kontinuierlich und bis in die jüngsten Kohorten ungebrochen an. Der Abstand zwischen Männern und Frauen der gleichen Geburtskohorten bleibt dabei ungefähr gleich: er beträgt (bezogen auf den Median) meist drei, mindestens aber zwei Jahre. Bei den jüngsten 126 Für die im Falle der Eheschließung unproblematischen Datentransformationen vgl. Anhang A2.3.
162
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Kohorten, für die Werte vorliegen (1970 bis 1974) übertrifft das Alter, in dem 25 Prozent der Personen verheiratet waren, den Median der am schnellsten und frühesten heiratenden Kohorten um ein Jahr – die Verschiebung ist eindeutig. Auf die starke Standardisierung, deren Höhepunkt bei den im Krieg geborenen Kohorten erreicht ist, folgt also in der Ereigniszeit der 60er Jahre eine eindeutige Destandardisierung und ein Aufschub der ersten Eheschließung. Diese Verschiebung des Erstheiratsalters nach oben ist sowohl bei Personen mit als auch bei solchen ohne Abitur zu finden (vgl. Abbildung 9.4).127 Etwas deutlicher als beim Auszug aus dem Elternhaus ist der Zeitpunkt der ersten Eheschließung in allen Kohorten nach Schulabschluss differenziert. Abbildung 9.4: Alter bei erster Eheschließung nach Schulabschluss 36 Männer
34 32
ohne Abitur
Alter
30
mit Abitur
28 Frauen
26 24
ohne Abitur
22
mit Abitur
20 1920 -1929
1930 -1939
1940 -1949
1950 -1959
1960 -1969
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=15.994
Personen mit einem anderen Schulabschluss als dem Abitur oder keinem heiraten sehr viel früher als solche mit Abitur. Allerdings überschneiden sich die Übergangsprozesse der beiden Gruppen immer noch stark. In beiden Bildungsgruppen hat der Abstand zwischen der unteren und der oberen Quartilsgrenze zugenommen, bei den Männern und Frauen mit
127 Auf die Darstellung der in den 70er Jahren geborenen Kohorte wird verzichtet, da hier der Anteil nicht Verheirateter noch zu groß ist.
163
9.2 Erste Eheschließung
Abitur ist dieser Trend aber besonders ausgeprägt.128 Alles in allem destandardisiert und verschiebt sich das Alter bei der ersten Heirat in beiden Bildungsgruppen – die Destandardisierung lässt sich nicht auf eine Differenzierung reduzieren. Ob nichteheliche Lebensgemeinschaften bei dieser Verschiebung die Rolle eines strukturellen Äquivalents zur Ehe spielen, ist leider nicht zu beantworten, da im SOEP die Vergleichsbasis fehlt. Dabei wäre entscheidend, ob sich im Ergebnis eine geringere Verschiebung und Streuung des Alters der ersten Lebensgemeinschaft ergäbe, wenn man darunter eine Ehe oder eine nichteheliche Lebensgemeinschaft verstünde. Hier nicht gezeigte Berechnungen mit den jüngeren Geburtskohorten sprechen dagegen, da auch die ersten nichtehelichen Lebensgemeinschaften meist nicht so früh eingegangen werden wie früher die erste Ehe. Abbildung 9.5: Anteil geschiedener Erstehen (nach null bis zehn Jahren Ehe)
20 Männer Frauen
Prozent
15
10
5
0 1920-29
1930-39
1940-49
1950-59
1960-69
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=13.850
Mit Scheidungen werden Eheschließungen rückgängig gemacht. Für alle Kohorten wird in Abbildung 9.5 der Anteil derjenigen angegeben, deren Erstehe in den zehn Jahren nach der 128 Eine ganz ähnliche Darstellung ergibt sich beim Vergleich von (Fach-)Hochschulabgängern und den Absolventen anderer Bildungsgänge (Anhang A3.3 im Anhang). Die Unterschiede zwischen den Männern der verglichenen Gruppen sind dabei etwas geringer als zwischen Abiturienten und anderen Schulabgängern; bei den Frauen sind die Abweichungen zwischen (Fach-)Hochschulabsolventinnen und Frauen mit anderer oder keiner Ausbildung eher größer als bei Differenzierung nach Schulabschluss.
164
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Heirat geschieden wurde: Mit jeder Kohorte steigt dieser Anteil deutlich an. Auch in dieser Dimension destandardisiert sich der Übergang in die Ehe.129
9.3 Erste Elternschaft Die Geburt von Kindern, mindestens ebenso intensiv erforscht wie Eheschließungen, steht stärker als diese im Blickpunkt öffentlichen Interesses, da der Geburtenrückgang insbesondere für die sozialen Systeme folgenreich ist. Mit der Geburt des ersten Kindes erfolgt die eigentliche Familiengründung, mit der sich für Mutter und Vater ihre Rolle und Identität in der Familie, ihr alltägliches Leben, die weitere Lebensplanung, die Erwerbssituation etc. einschneidend verändern. Viele Frauen erleben diesen Übergang subjektiv so als eine Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens (Aasve et al. 2004).130 Seit den 70er Jahren sind die Geburtenzahlen in Westdeutschland nahezu kontinuierlich rückläufig (z. B. Höhn & Dorbritz 1990: 157), d. h. es werden weniger Kinder geboren und immer mehr Paare verzichten ganz darauf, Kinder zu bekommen. Als Gründe dafür werden wie schon diskutiert Wertewandel und die veränderte Rolle von Frauen, deren höhere Bildung und vermehrte Erwerbstätigkeit sowie verbesserte Techniken der Kontrazeption (etwa mit der Einführung der hormonellen Verhütung 1961) genannt. Die Argumentation ist aber für den Aufschub von Geburten und den gänzlichen Verzicht auf Kinder jeweils im Einzelnen zu präzisieren. Weitere Formen der Destandardisierung sind Geburten von Kindern außerhalb von Ehen oder Partnerschaften, also uneheliche oder Ein-ElternGeburten (zu ersterem etwa Konietzka & Kreyenfeld 2005; Huinink & Konietzka 2003). Deren Vorkommen hängt mit neuen Lebensformen zusammen, d. h. mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Scheidungen, Trennungen nichtehelicher Partner und Sexualkontakten außerhalb von Partnerschaften. Ich konzentriere mich hier auf Veränderungen des Timings der ersten Geburt und auf den Verzicht auf Kinder. Der im Aggregat auftretende Geburtenrückgang ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Zeitpunkt der ersten Geburt immer weiter hinausgeschoben wird: So ist der Median des Erstgeburtsalters bei Frauen im Vergleich der Geburtskohorten 1931 bis 1940 und 1951 bis 1960 um etwa eineinhalb Jahre von knapp 25 auf gut 26 Jahre gestiegen (Klein 1993a: 304, mit Daten des SOEP), im Family and Fertility Survey (Hullen 2001: 158) hat sich der Median schon im Vergleich der Geburtskohorten 1956 bis 60 und 1961 bis 1965 um ein Jahr von 28 auf 29 Jahre erhöht.131 Im Querschnitt hat sich das Alter erst129 Der krude Anteil von Geschiedenen unter den Befragten wäre eine unangemessene Bezugsgröße, da die verschiedenen Kohorten und Personen dem Risiko einer Scheidung unterschiedlich lange ausgesetzt sind. Deswegen werden in allen Kohorten nur Ehen einbezogen, die mindestens zehn Jahre bestanden haben können (also spätestens 1993 geschlossen wurden); diese werden nur bis zum zehnten Bestehensjahr betrachtet. Da die meisten der in den 70er Jahren geborenen Personen bis 1993 noch nicht geheiratet haben, wird diese Kohorte hier ausgeschlossen. Fälle, in denen in den ersten zehn Jahren nach der Heirat eine Verwitwung erfolgte, werden ausgeschlossen; Fälle mit einer Scheidung oder einer Verwitwung nach über zehn Jahren Ehe zählen zu den nicht geschiedenen Erstehen. 130 Aasve et al. (2004) zeigen, dass diese Beeinträchtigung in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten weitaus schwächer ausgeprägt ist als in konservativen und südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. 131 Es ist nicht ersichtlich, wie es zu diesen stark voneinander abweichenden Werten für die Kohorte 1951 bis 1960 (SOEP, siehe auch Abbildung 9.6) und 1956 bis 1960 (Family and Fertility Survey) kommt; selbst
9.3 Erste Elternschaft
165
gebärender Frauen zwischen 1991 und 1999 von knapp 27 auf fast 29 Jahre erhöht (Hullen 2003: 32). Für das Alter der Männer sind kaum vergleichbare Daten vorhanden. Für sie deutet sich aber eine ähnliche Entwicklung wie bei Frauen an, nur um etwa vier Jahre nach oben verschoben (Hullen 2003). Die Streuung der Erstgeburten, etwa in Form der Quartilsabstände, hat sich dagegen kaum verändert: Der Altersabstand zwischen dem ersten Viertel und dem letzten Viertel der Männer bei der ersten Geburt ist über alle Kohorten recht groß, bei Hullen (2003: 31; auch Hullen 2001: 158) beispielsweise beträgt er etwa zehn Jahre – männliche Fertilität ist nach oben weniger begrenzt als die von Frauen. Befunde zu endgültiger Kinderlosigkeit müssen mit Vorsicht genossen werden, da davon erst gesprochen werden kann, wenn Frauen bis zur Menopause kein Kind bekommen haben, bei Männern ist eine endgültige Bestimmung noch schwieriger. Zumindest der Trend ist hier ebenso eindeutig wie bei der Ehe. Der Frauenjahrgang 1950 blieb zu etwa 15 Prozent kinderlos, bei den Frauen, die ab 1960 geboren sind, liegt der Anteil Kinderloser laut Bevölkerungsstatistik bei etwa 28 Prozent oder mehr (Dorbritz 1999; Dorbritz 2001). Der Familien-Survey des Deutschen Jugend-Instituts (Hullen 2003: 32) kommt im Gegensatz dazu für die in den 60er Jahren geborenen Kohorten zu leicht niedrigerer Kinderlosigkeit als für die Vorgängerkohorten. Auch aktuelle Schätzungen ohne Kohortenvergleich kommen je nach Datenbasis zu divergierenden Ergebnissen (für Akademikerinnen vgl. Scharein & Unger 2005 mit SOEP und Mikrozensus). Zumeist sind diese Divergenzen darauf zurückzuführen, dass mit den späten Geburten jüngerer Kohorten in den Schätzungen unterschiedlich umgegangen wird und eine endgültige, nicht von der Art der Schätzung abhängige Aussage über Kinderlosigkeit erst möglich ist, wenn die jeweiligen Frauenjahrgänge Mitte 40 sind.132 Nach Scharein und Unger (2005) sind es letztlich etwa ein Drittel der Akademikerinnen, die kinderlos bleiben.133 Die Trennung zwischen geplanter, gewollter Kinderlosigkeit und ungewollter ist vor allem im Nachhinein problematisch und wird durch den Aufschub der Geburten immer schwieriger: Zeitweise geplante Kinderlosigkeit kann zu ungewollter werden, da mit einem höheren Alter der Frau (und auch des Mannes) die Fertilität sinkt (Nave-Herz 1988: 34f).134 In den nun folgenden deskriptiven Betrachtungen müssten also das Alter der ersten Elternschaft und seine Streuung eindeutig zunehmen. Das biographische Timing sollte zudem deutlich nach Bildung differenziert sein; diese Differenzierung nimmt wahrscheinlich der Tendenz nach zu.
wenn eine gewisse Verschiebung nach oben für die zweite „Hälfte“ der 10-Jahres-Kohorte plausibel ist, ist der Unterschied von eineinhalb Jahren doch sehr groß. 132 Hullen (2003) warnt deswegen davor, von einem mit dem Aufschub der Geburten einhergehenden verlangsamten Tempo der familialen Reproduktion allzu direkt auf ein vermindertes Quantum zu schließen. Seines Erachtens wird der Geburtenrückgang insbesondere überschätzt, weil sich der Aufschiebeprozess der Geburten über die Kohorten noch fortsetzt. Ähnlich vgl. auch einen informativen Artikel aus der „Zeit“ Schwentker (2005a) und die nachfolgende kontroverse Diskussion mit einem Vertreter des Statistischen Bundesamtes. 133 Laut Dorbritz et al. (2005) ist der Wunsch nach Kindern bei 20- bis 39jährigen einem noch deutlicheren Rückgang unterworfen. 134 Für eine deutliche Zunahme organisch bedingter ungewollter Kinderlosigkeit (jenseits des Aufschubeffekts) lassen sich 1988 keine eindeutigen Belege finden (Nave-Herz 1988: 31f).
166
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Das Alter bei der Geburt des ersten Kindes ist selbst in den Kohorten, die zwischen 1935 und 1954 geboren sind, nicht so uniform wie das bei der ersten Eheschließung (Abbildung 9.6). Der Quartilsabstand beträgt minimal sechs Jahre bei den Frauen und sieben bei den Männern, vorher und nachher maximal neun oder zehn Jahre. Deutlich abzulesen ist die Verschiebung des Alters bei der ersten Geburt zunächst in jüngere Jahre: Während bei den 1920 bis 1924 geborenen Frauen der Median bei 27 liegt, beträgt er in der Kohorte 1945 bis 1949 nur 24 Jahre, um danach wieder anzusteigen, und zwar auf ein Niveau, das über dem der früheren Kohorten liegt: Für die letzte betrachtete Kohorte von Frauen, von denen erst zwischen 50 und 75 Prozent überhaupt ein Kind bekommen haben, liegt der Mittelwert schon bei 29 Jahren. In den meisten Kohorten vollzieht das zweite Viertel der Frauen, die ein erstes Kind bekommen, den Übergang schneller als das dritte Viertel. Abbildung 9.6: Alter bei der ersten Elternschaft 35 33 31
Alter
Männer
29 27
Frauen
25 23 21 1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
1940 -1944
1945 -1949
1950 -1954
1955 -1959
1960 -1964
1965 -1969
1970 -1974
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=15.722
Bei den Männern streut das Alter bei der ersten Elternschaft in den meisten Kohorten etwas stärker als bei den Frauen. Dieser Unterschied ist jedoch nicht sehr groß, was unter anderem daran liegt, dass in den hier zugrunde liegenden Daten verheiratete Männer, und zwar nur einmalig verheiratete, überrepräsentiert sind (genauer im Anhang A2.4135). Wie bei den 135 Für die Frauen sind mit den Geburtsbiographien verlässliche Informationen vorhanden. Bei Männern dagegen werden Geburtsbiographien erst seit 2001 erhoben, so dass diese sehr spärlichen Angaben mit Übertra-
167
9.3 Erste Elternschaft
anderen bis hierher in diesem Kapitel betrachteten Übergängen sind Männer bei der Geburt ihres ersten Kindes im Mittel einige Jahre älter als Frauen, weil der Mann zumeist älter ist als seine Partnerin. Auch das Alter von Männern bei der Geburt des ersten Kindes verschiebt sich nach oben und der entsprechende Quartilsabstand nimmt zu. Die im Krieg und kurz davor geborenen Jahrgänge bilden weiter die vergleichsweise standardisierte Ausnahme. Von den Männern, die in der ersten Hälfte der 60er Jahre geboren sind, haben in einem Alter von 35 Jahren drei Viertel ein Kind; für die darauf folgenden Kohorten ist dieser Anteil noch gar nicht erreicht. Abbildung 9.7: Alter bei der ersten Elternschaft nach Schulabschluss 37 Männer
35 33
ohne Abitur
Alter
31
mit Abitur
29 Frauen
27 25
ohne Abitur
23
mit Abitur
21 1920 -1929
1930 -1939
1940 -1949
1950 -1959
1960 -1969
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=14.644
Das Timing des Übergangs in die Elternschaft ist von den in diesem Kapitel bisher betrachteten Übergangen am deutlichsten nach Bildung differenziert, wie Abbildung 9.7 zeigt, die Personen mit und ohne Abitur unterscheidet. Sowohl Frauen als auch Männer mit Abitur bekommen ihr erstes Kind im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit anderen Abschlüssen (oder keinem) immer später. Allerdings schieben auch Personen ohne Abitur diesen Übergang auf: Bei ihnen erhöhen sich sowohl das mittlere Alter als auch die 25- bzw. 75Prozent Schwelle um jeweils ein bis drei Jahre, zudem wird der Quartilsabstand größer. gungen der Angaben von Frauen auf ihre Gatten ergänzt werden, wenn das Kind während der (einzigen) Ehe des Mannes geboren wurde (ausführlicher in Anhang A2.4).
168
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Wie viele Frauen und Männer endgültig kinderlos sind und wie viele Kinder sie im Laufe ihres Lebens bekommen, kann besonders für die jüngeren Kohorten nicht abschließend verglichen werden, in denen die Frauen ihre Kinder teilweise sehr spät bekommen. Eindeutig sinkt die Zahl der Kinder pro Frau und steigt der Anteil der Kinderlosen. Trotz diesbezüglicher Einhelligkeit in der Literatur sind genaue, verlässliche und übereinstimmende Daten dazu kaum erhältlich (vgl. Schwentker 2005a in der „Zeit“). Abbildung 9.8: Alter bei letzter Geburt (nur Frauen) 39 37
Alter
35 33 31 29 27 25 1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
1940 -1944
1945 -1949
1950 -1954
1955 -1959
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=6168
Eine Vorstellung davon, wann Frauen ihr letztes Kind bekommen, gibt Abbildung 9.8. Das mittlere Alter bei der letzten Geburt ist bis in die Geburtskohorten der 40er Jahre hinein stetig zurückgegangen, da die mittlere Kinderzahl besonders im Zuge der Einführung neuer Verhütungsmethoden gesunken ist. Wegen dieser sinkenden Kinderzahl verkürzt sich die Gesamtzeit intensiver Erziehung kleiner Kinder. Weiterhin steigt das Alter bei der Geburt des letzten Kindes in etwa parallel zu dem bei der ersten Mutterschaft an. Über den Geburtsjahrgang 1959 hinaus kann keine Aussage zur letzten Geburt gemacht werden, weil die betreffenden Frauen noch Kinder bekommen können. Das Alter von Abiturientinnen bzw. Akademikerinnen bei der Geburt des letzten Kindes übertrifft dasjenige der anderen Frauen um einige Jahre und liegt teilweise bei über 40 Jahren (Abbildungen A3.4 und A3.5 im Anhang).
169
9.4 Sequenzen
9.4 Sequenzen Im Folgenden wird die Verlaufsstandardisierung der ersten Lebenshälfte untersucht, zunächst nur für familiale Übergänge, dann für familiale und Bildungs- bzw. Erwerbstätigkeitsübergänge zusammen. Wie in Kapitel 7.4 ausführlicher beschrieben, werden rechtszensierte Fälle der Übersichtlichkeit halber von den Betrachtungen ausgeschlossen.136
9.4.1
Die Abfolge familialer Übergänge
Um mehr über die Bedeutung der beschriebenen Verschiebung und Destandardisierung zu erfahren, lohnt ein Blick auf die Reihenfolge, in der die Übergänge durchlebt werden. Am deutlichsten ablesbar sind die Veränderungen, wenn man jeweils Zweier-Kombinationen von Übergängen betrachtet. Aus der Literatur lassen sich nur wenige Veränderungen der Reihenfolge von Übergängen schließen, einer davon ist die Zunahme nichtehelicher Geburten. Bei keiner Sequenz ist eine gänzliche Umkehrung der Reihenfolge der Zustände oder ähnliches zu erwarten. Abbildung 9.9: Sequenz Auszug aus dem Elternhaus – erste Eheschließung 100 90 80
Prozent
70 60 50 40 30
Auszug nach 1. Heirat
20
beide im gleichen Jahr
10
Auszug vor 1. Heirat
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte Männer
Frauen
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=5442
136 Nach Kohorte, Geschlecht und ggf. Abschluss differenzierte Fallzahlen finden sich in den Tabelle A1.5 und A1.6 im Anhang.
170
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Abbildung 9.9 zeigt, ob der Auszug aus dem Elternhaus in den Jahren vor dem Beginn der ersten Ehe, im gleichen Jahr oder erst danach erlebt wird, und zwar differenziert nach Geschlecht und nur für Fälle, die bereits ausgezogen sind und geheiratet haben. In den älteren Kohorten fielen diese beiden Übergänge bei der Hälfte der Befragten (bei Frauen etwas mehr, bei Männern etwas weniger) in das gleiche Jahr: Zwischen der Zeit im Elternhaus und dem Zusammenleben mit dem Ehepartner gab es keine (längere) Phase des Alleinlebens. In den folgenden Kohorten verliert dieses Muster stark an Bedeutung zugunsten desjenigen, bei dem der Auszug eindeutig vor der Ehe erfolgt: Vor den Beginn der Ehe schiebt sich eine Phase des längeren Alleinlebens oder des nichtehelichen Zusammenlebens mit dem Partner. Frauen verwirklichen dieses neue dominante Muster ausgehend von einem niedrigeren Niveau von etwa einem Viertel in den jüngsten Kohorten zu fast zwei Dritteln. Früher geborene Männer realisieren eine Phase des Alleinlebens häufiger als Frauen; allerdings fällt der Zuwachs danach geringer aus, so dass inzwischen weniger Männer als Frauen zuerst ausziehen und dann heiraten. Während die älteren Kohorten in immerhin zehn bis 20 Prozent der Fälle auch nach der Heirat weiter bei den Eltern wohnen, und zwar häufiger bei den Eltern der Frauen und vermutlich zusammen mit dem Ehepartner, verliert dieses Sequenzmuster in den jüngsten Kohorten fast jegliche Relevanz. Nur in der Gruppe der in den 70er Jahren Geborenen steigt der Anteil dieser Kombination wieder leicht: Allerdings ist dies möglicherweise ein Selektionseffekt: In dieser Kohorte sind erst vergleichsweise wenige Personen eine Ehe eingegangen und die dargestellten früh heiratenden Partner leben evtl. häufiger als die noch nicht erfassten späteren bei den Eltern im Haus. Gleichzeitig begünstigen großzügigere Wohnverhältnisse (z. B. mit Einliegerwohnungen) dieses Muster. Insgesamt setzt sich das Muster „Auszug vor Ehe“ bei zwei Dritteln der Personen durch. Diese höhere Konzentration auf einen einzigen Sequenztyp entspricht bei Männern einer stärkeren Standardisierung; bei Frauen wird eine vorherrschende Sequenz durch eine andere abgelöst, so dass der Grad der Standardisierung insgesamt etwa gleich bleibt (für eine vertiefte Analyse vgl. Kapitel 11). Es geht schon aus diesem Befund eindeutig hervor, dass die oben gesehene verminderte zeitliche Standardisierung des Auszugs bei den ältesten Kohorten einen ganz anderen Hintergrund aufweist als die bei den jüngsten: Bei ersteren ist der Auszug stark an die erste Eheschließung gekoppelt, während zweitere zunächst allein einen Haushalt gründen – der Übergang hat somit jeweils eine ganz eigene biographische Bedeutung. Abbildung 9.10 stellt die Abfolge dieser beiden Übergänge nach Schulabschluss (Abitur versus andere Schulabgänge) differenziert dar. Es zeigt sich, dass Personen mit Abitur in allen Kohorten den Auszug meist vor Beginn der ersten Ehe vollziehen. Die Gruppe mit anderen Schulabschlüssen (oder keinem) verhält sich erst ab der in den 60er Jahren geborenen Kohorte mehrheitlich so und zieht zuvor meist erst im Jahr der Eheschließung aus. Die Veränderungsrichtung ist jedoch in beiden Gruppen die gleiche, nämlich hin zu einem Muster, in dem der Auszug stets vor dem Eintritt in die Ehe erfolgt.
171
9.4 Sequenzen
Abbildung 9.10:
Sequenz Auszug aus dem Elternhaus – erste Eheschließung, nach Schulabschluss
100 90 80
Prozent
70 60 50 40 30
Auszug nach 1. Heirat
20
beide im gleichen Jahr
10
Auszug vor 1. Heirat 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte ohne Abitur
mit Abitur
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=5424
Abbildung 9.11 gibt die Anteile für die häufigsten Sequenzen von erster Eheschließung und erster Elternschaft wieder. Ausnahmsweise wird dabei nicht nach Geschlecht getrennt, da Männer und Frauen sich hier nur wenig unterscheiden. Etwa drei Viertel der Fälle, Tendenz über die Kohorten abnehmend, realisieren das häufigste Muster, in dem auf die Eheschließung frühestens im Jahr danach die Geburt des ersten Kindes erfolgt. Bei zwischen zehn und 20 Prozent erfolgen beide Übergänge im gleichen Jahr. Das drittwichtigste Muster, in dem das erste Kind vor einer Eheschließung geboren wird, gewinnt an Bedeutung und ist in den jüngsten beiden Kohorten bei fast zehn Prozent zu finden. Etwas häufiger wird hier auch eine Ehe im Jahr der Geburt des ersten Kindes geschlossen, was darauf hindeutet, dass die Heirat immer häufiger erst aus Anlass einer bestehenden Schwangerschaft (oder einer Geburt) erfolgt. Allerdings ist die Gesamtzahl der Fälle in der Kohorte der 1970 bis 1979 geborenen geringer, da ein hoher Anteil von ihnen bisher weder geheiratet noch Kinder bekommen hat. Es ist unklar, in welche Richtung sich die Verteilung in dieser Gruppe entwickeln wird. Unter Einbezug der Fälle, bei denen bereits ein Kind geboren, aber noch keine Ehe geschlossen wurde, aber noch keine Eheschließung, erhöht sich in den letzten beiden Kohorten der Anteil abweichender Sequenzen.137 137 Geht man davon aus, dass früh vollzogene Übergänge (im Verhältnis zu anderen Mitgliedern einer Kohorte) häufiger abweichende Muster aufweisen, verringert sich das Gewicht dieser abweichenden Muster mit der Zeit wahrscheinlich und am Ende läge eine geringere Veränderung im Vergleich zu den Vorgängerkohorten vor. Andersherum stammen möglicherweise diejenigen, die diese Übergänge spät vollziehen, eher aus (akademischen, alternativen…) Milieus, in denen abweichende „Minderheiten“-Muster häufiger vollzogen wer-
172
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Abbildung 9.11: Sequenz erste Eheschließung – erste Elternschaft 100 90 80
Prozent
70 60 50 40 30 1. Heirat nach 1. Kind
20
beide im gleichen Jahr
10
1. Heirat vor 1. Kind 19 70 -7 9
19 60 -6 9
19 50 -5 9
19 40 -4 9
19 30 -3 9
19 20 -2 9
0
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=12.985
Differenziert man die Betrachtung nach Schulabschluss (Anhang A3.6), so finden sich unter denjenigen mit Abitur mehr Personen, bei denen die erste Elternschaft eindeutig nach dem Beginn der Ehe erfolgt. Umgekehrt heiraten Personen ohne Abitur häufiger in dem Jahr, in dem auch das erste Kind geboren wird bzw. erst danach. Der nicht sehr beträchtliche Unterschied wird über die Kohorten geringer. Über seine Ursachen kann hier nur spekuliert werden: Möglicherweise ist bei Personen ohne Abitur der Beginn einer Ehe enger mit dem Wunsch nach einem Kind verknüpft als bei solchen mit Abitur, da bei letzteren im jungen Erwachsenenalter zunächst die berufliche Entfaltung beider Partner stärker im Vordergrund steht. Andersherum könnte eine bestehende Schwangerschaft in bildungsferneren Schichten häufiger einen zwingenden Grund für eine Ehe darstellen, da dort uneheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern weniger verbreitet und akzeptiert sind bzw. waren.
9.4.2
Die Abfolge von familialen und beruflichen Übergängen
Als letztes wird in diesem Kapitel aufgezeigt, in welcher Weise die Übergänge der beiden betrachteten Lebensbereiche Bildung/Beruf und Familie zeitlich miteinander verbunden sind. Auch für diese Sequenzen ergibt sich aus der Literatur nicht die Annahme umwälzender Veränderungen. Allenfalls sind bestimmte Verschiebungen und ein Bedeutungsgewinn von Mustern plausibel, die jeweils nur wenige verwirklichen – die Vielfalt der Sequenzen den, so dass diese am Ende quantitativ relevanter sind. Auf Basis der oben diskutierten Literatur spricht mehr für die mit der letzten Argumentation verbundene Prognose, der zufolge sich der Anteil abweichender Muster weiter erhöht.
173
9.4 Sequenzen
sollte also leicht zunehmen. Da es sehr unübersichtlich und aufgrund sich wenig überschneidender Gruppen der Betrachtung138 schwer möglich ist, alle Übergänge in einer Gesamtsequenz zusammenzufassen, werden hier nur drei kurze Sequenzen genauer untersucht und zwischen den Kohorten verglichen. Zunächst (Abbildung 9.12) geht es um die Reihenfolge von erster Erwerbstätigkeit, erster Ehe und Geburt des ersten Kindes. In die Betrachtung einbezogen werden nur Fälle, in denen für alle drei Übergänge ein Zeitpunkt vorliegt; dies gilt auch für die folgenden zwei Abbildungen. Da in der letzten Kohorte der 1970 bis 1979 geborenen viele Personen mit Rechtszensierungen herausfallen, sind die Befunde zu dieser Kohorte vorläufig. Abbildung 9.12: Sequenz erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft 100 90
andere Muster
80
1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind vor 1. Job
Prozent
70 60
1. Heirat vor 1. Job vor 1. Kind
50 40
1. Job vor 1. Kind vor 1. Heirat
30
1. Job vor 1. Heirat vor 1. Kind (od. jeweils im gl. Jahr)
20 10 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte Männer
Frauen
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=12.677
Es wird ein besonders typisches Muster der Abfolge sichtbar: In sämtlichen Kohorten und bei beiden Geschlechtern wird eine erste Ehe erst nach oder im gleichen Jahr der Aufnahme einer ersten Erwerbstätigkeit geschlossen, und erst danach bzw. im gleichen Jahr wird das erste Kind geboren. Durchweg wird dieses Muster bei Frauen seltener realisiert als bei Männern, dafür wird ein erstes Kind bei ihnen etwas häufiger vor dem Beginn einer Ehe geboren. Dieses Ungleichgewicht ist damit begründbar, dass nichteheliche Kinder zumeist bei den Müttern aufwachsen, vor allem in den älteren Kohorten, in denen die Eltern keine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingegangen sind und die entsprechenden Kinder von 138 Insbesondere der Auszug aus dem Elternhaus ist für Personen erfasst worden, für die nur wenige Informationen zu Schulabgang, Ausbildungs- und Studienabschluss vorliegen. Deswegen können diese drei Übergänge nicht gleichzeitig betrachtet werden.
174
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Männern nicht angegeben werden bzw. mit dem hier (teilweise) angewandten Verfahren nicht zu ermitteln sind (siehe Anhang A2.4). Andere Sequenztypen als der dominante gewinnen erst in den letzten betrachteten Kohorten an Gewicht, aber keiner von ihnen erreicht einen Anteil von über zehn Prozent. Eine Ausbildung oder ein Studium und die Gründung einer Familie schließen sich also aus. Erst in letzter Zeit werden diesbezügliche Ausnahmen häufiger. Differenziert man die Betrachtung dieser Sequenzmuster nach Bildung (Abbildung 9.13), so ergibt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Personen mit und denen ohne Abitur, vor allem bei den mittleren der dargestellten Kohorten. Abbildung 9.13:
Sequenz erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft, nach Schulabschluss
100 90
andere Muster
80
1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind vor 1. Job
Prozent
70 60
1. Heirat vor 1. Job vor 1. Kind
50 40
1. Job vor 1. Kind vor 1. Heirat
30
1. Job vor 1. Heirat vor 1. Kind (od. jeweils im gl. Jahr)
20 10 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte mit Abitur
ohne Abitur
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=12.642
Diejenigen mit Abitur heiraten häufiger vor der Aufnahme einer ersten Erwerbstätigkeit; bei den in den 50ern Geborenen sind es immerhin über 15 Prozent. Dagegen heiraten sie seltener als andere nach Beginn der ersten Erwerbstätigkeit und bekommen dann das erste Kind. Das korrespondiert mit dem oben beschriebenen Befund, dass Personen mit Abitur seltener im gleichen Jahr heiraten und das erste Kind bekommen: Offensichtlich wird in diesen Fällen öfter geheiratet, obwohl der Übergang in die erste Erwerbstätigkeit noch nicht erfolgt ist, so dass nach der Eheschließung zunächst dieser vollzogen wird, ehe die Geburt von Kindern in den Horizont der Lebensplanung rückt. Yamaguchi beschreibt ein ähnliches Ergebnis (1991: 29f) als Konflikt zwischen einer Altersnorm und der Norm der richtigen Reihenfolge der Übergänge. Eine solche Interpretation ist auch hier plausibel: Als das Alter bei der ersten Heirat am stärksten standardisiert war, etwa bei den Geburtskohorten der 40er und 50er Jahre, übte dies auf die ihre Ausbildung später vollendenden Abiturienten einen gewissen normativen Druck aus, sodass sie
175
9.4 Sequenzen
heirateten, obwohl sie noch studierten oder anderweitig in Ausbildung waren. Damit wurde die Norm der „richtigen“ Reihenfolge zugunsten derjenigen des „richtigen“ Alters gebrochen. Dies kann aber nur in einer historischen Situation geschehen, in der mit einer höheren Qualifikation auch sichere biographische Aussichten verbunden sind, besonders diejenige, nach dem Abschluss des Studiums ohne langen Übergang eine Beschäftigung zu finden. Späteren Kohorten fehlt genau diese Aussicht, weshalb die „richtige“ Reihenfolge gegenüber dem „richtigen“ Alter wieder an Gewicht gewinnt; zudem entfaltet sich inzwischen ein dem entgegenkommender normativer Wandel. Abbildung 9.14:
Sequenz Auszug aus dem Elternhaus, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft
100 90
Prozent
80 70
andere Muster
60
1. Job vor 1. Heirat vor Auszug vor 1. Kind
50
1. Job vor 1. Auszug vor 1. Heirat vor 1. Kind (od. jeweils im gl. Jahr)
40 30
Auszug vor 1. Job vor 1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind
20 10 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte Männer
Frauen
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4162
Typischerweise folgt auf den Auszug aus dem Elternhaus die erste Erwerbstätigkeit, dann die erste Heirat und schließlich das erste Kind. Dieses Muster ist bei Männern häufiger als bei Frauen zu finden (Abbildung 9.14).139 Bemerkenswert ist, dass das Elternhaus nur selten vor einer ersten Erwerbstätigkeit endgültig verlassen wird; allerdings passiert eben dies in den letzten Kohorten häufiger. In einer vor allem von den in den 1920er Jahren geborenen Frauen nicht selten gelebten Sequenz erfolgt der endgültige Auszug aus dem Elternhaus nach dem Beginn der Ehe und vor der Geburt des ersten Kindes (hellgrauer Balken). Im 139 Die in den 70er Jahren geborene Kohorte ist mit 60 Männern und gut 100 Frauen sehr schwach vertreten. Die Kategorie der anderen Muster enthält eine Vielzahl anderer möglicher Kombinationen, die jeweils nur sehr schwach vertreten sind und nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Die Zahl der ohne Überschneidungen 24 (!) möglichen Kombinationen erhöht sich dadurch, dass sich Übergänge über die oben einbezogenen Gleichzeitigkeiten hinaus im gleichen Jahr ereignen.
176
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
Zusammenhang mit den oben diskutierten Ergebnissen zur Abfolge von Auszug und Ehe lässt sich vor allem für Frauen schließen, dass Signalgeber für das Verlassen des Elternhauses immer weniger der Beginn einer Ehe oder gar erst die Geburt eines Kindes ist und immer mehr das Ende einer Ausbildung. Frauen weichen in vielfältigerer Weise vom Normallebenslauf ab, indem einige sehr kleine Teilgruppen verschiedene abweichende Muster realisieren. Damit ist die Zahl der verwirklichten Muster bei ihnen größer (was in der Abbildung nicht sichtbar wird, da diese „Restmuster“ im weißen Balken zusammengefasst sind). Bei Differenzierung nach Schulabschluss (Abbildung 9.15) zeigt sich, dass Personen mit Abitur sehr viel häufiger vor einer ersten Erwerbstätigkeit das Haus verlassen als Personen ohne Abitur, von denen in fast allen betrachteten Kohorten über 80 Prozent erst im Jahr ihrer ersten Erwerbstätigkeit oder danach ausziehen. Es sind vor allem Studierende, die vor ihrer ersten Erwerbstätigkeit ausziehen. Jedoch geht der Anteil dieses Musters bei den in den 1960ern Geborenen schon wieder zurück, worin sich der Anstieg des entsprechenden Alters vor allem bei Männern widerspiegelt. Abbildung 9.15:
Sequenz Auszug aus dem Elternhaus, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft, nach Schulabschluss
100 90
Prozent
80 70
andere Muster
60
1. Job vor 1. Heirat vor Auszug vor 1. Kind
50
1. Job vor 1. Auszug vor 1. Heirat vor 1. Kind (od. jeweils im gl. Jahr)
40 30
Auszug vor 1. Job vor 1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind
20 10 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte mit Abitur
ohne Abitur
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4152
Das letzte Beispiel (Abbildung 9.16) unterscheidet sich von den anderen insofern, als es hier die Männer sind, die das insgesamt dominante Muster (Schule, Ende Ausbildung bzw.
177
9.4 Sequenzen
Studium, 1.Job, 1. Ehe, 1. Kind) seltener verwirklichen als Frauen:140 Sehr viel häufiger erwerben sie ihren letzten Ausbildungs- oder Studiumsabschluss nach einer ersten Erwerbstätigkeit oder gar nach einer Familiengründung. Darin zeigt sich zum einen die bei Männern lange weiter verbreitete Studierneigung – während eines Studiums wird häufiger schon gearbeitet –, zum anderen ihre deutlich größere Neigung zur höherer beruflicher Qualifizierung nach Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und nach der Geburt eines Kindes. Abbildung 9.16:
Sequenz Schule, Ende Ausbildung/Studium, erste Erwerbstätigkeit, erste Eheschließung, erste Elternschaft
100 andere Muster
90
Ende Schule vor 1. Job vor 1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind vor Ende Ausb./Stud.
80
Prozent
70 60
Ende Schule vor 1. Job vor Ende Ausb./Stud. vor 1. Heirat vor (od. im gl. Jahr wie) 1. Kind
50 40 30
Ende Schule vor Ende Ausb./Stud. vor 1. Job vor 1. Heirat vor 1. Kind (od. jeweils im gl. Jahr)
20 10 19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
19 20 -2 19 9 30 -3 19 9 40 -4 19 9 50 -5 19 9 60 -6 19 9 70 -7 9
0
Geburtskohorte Männer
Frauen
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4657
Bei Frauen steigt allerdings über die Kohorten hinweg der Anteil derer, die ihren letzten Abschluss nach einer ersten Erwerbstätigkeit erlangen; der Anteil derer, die dies nach der Geburt eines ersten Kindes tun, bleibt verschwindend gering. In diesem Befund offenbart sich die ausnahmsweise höhere Flexibilität des männlichen Lebenslaufs in Hinsicht auf (Weiter-)Bildungsprozesse, an die sich weibliche Lebensläufe vor allem wegen der Belastung durch Familienaufgaben erst teilweise annähern konnten.
140 Auch die sonstigen Kombinationen, die in der Kategorie der anderen Muster gesammelt sind, werden von Männern häufiger verwirklicht als von Frauen. Alle diese Kombinationen weisen nur sehr geringe Anteile auf. Ohne Überschneidungen ergeben sich insgesamt 60 mögliche Reihenfolgen der Übergänge, bezieht man die Fälle mit ein, in denen Ereignisse im gleichen Jahr auftreten, erhöht sich die Zahl der Möglichkeiten weiter.
178
9 Deskriptive Befunde II: Von der Herkunftsfamilie zur eigenen Familie
9.5 Zwischenfazit Insgesamt zeigen sich bei Auszug und Eheschließung für die jüngsten Kohorten eindeutige Destandardisierungstendenzen, bei der Geburt von Kindern weniger deutlich. Der Verlauf entspricht einer schiefen U-Form – damit handelt es sich um eine Rückkehr zu destandardisierteren Mustern, wenn auch die Streuung der Übergänge bei den jüngsten Kohorten die bei den ältesten klar übertrifft. Alle drei Ereignisse haben sich im Mittel in ein höheres Lebensalter verschoben: Der Auszug aus dem Elternhaus erfolgt oft erst in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts, Eheschließung und Geburt oft erst jenseits der 30. Der Zustandsraum hat sich um einige prinzipiell mögliche und quantitativ relevante Lebensformen erweitert, allerdings handelt es sich nicht um eine beliebige Pluralisierung. Ähnlich differenziert muss für die Sequenzmuster argumentiert werden: Während sich in der Sequenz von Auszug und Ehe ein dominantes Muster erst in den letzten Jahrzehnten herausbildet, hat die Verlaufsvielfalt von erster Eheschließung und Geburt des ersten Kindes zugenommen, allerdings bisher nur der Tendenz nach. Für das Verhältnis nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Ehen ist es sinnvoll, von einer Ausdifferenzierung möglicher Phasen und Übergänge zu sprechen. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind in fast allen Milieus zur Standardantwort auf eine bestimmte biographische Situation geworden. Sie werden in ebenso klar bestimmbaren biographischen Situationen (Geburt eines Kindes, gesicherte Erwerbstätigkeit) mit hoher Wahrscheinlichkeit und in den meisten Milieus in Ehen überführt. Bei der letzten „Begründung“ der Dynamik des Übergangs in das Erwachsenenalter landet man immer wieder bei der verlängerten Bildungsphase, mit der sich die Postadoleszenz ausdifferenziert hat, eine Phase relativer Handlungsunabhängigkeit bei oft fortbestehender ökonomischer Abhängigkeit vom Elternhaus. Bestimmte Zustände schließen einander immer noch deutlich aus, es bestehen also starke Regeln der Sequenzierung (vgl. Mortimer et al. 2005). Ein Studium oder eine Ausbildung ist für die meisten immer noch nicht die „richtige“ Zeit, um eine Familie zu gründen. In dieser Hinsicht hat sich das Programm der Institution des Lebenslaufs weniger verändert als auf den ersten Blick vermutet. Verschiebung und Destandardisierung können gleichwohl nicht in einer Differenzierung nach Bildungsgruppen aufgelöst werden, da sie im Prinzip in allen Bildungsgruppen zu finden sind, wenn auch stärker ausgeprägt bei Personen mit Abitur oder Hochschulabschluss. Dies weist auf eine Vorreiterfunktion dieser Gruppen hin, von denen ausgehend sich neue biographische Muster verbreiten. Die Differenzierung nach Geschlechtern besteht fort, auch wenn bei qualifikationsbezogenen und erwerbsbiographischen Übergängen eine Angleichung sowohl des Alters als auch seiner Streuung zu erkennen ist. Aus demographischer Perspektive ist der zentrale Übergang in diesem Komplex von Übergängen die Gründung einer eigenen Familie, insbesondere die Geburt von Kindern. Die beschriebenen Veränderungen werden als zweiter demographischer Übergang zusammengefasst (Corijn 2001: 3), der durch drei Arten von Einflüssen ermöglicht wird: Durch Veränderungen in ökonomischen und sozialen Strukturen, kulturelle Veränderungen (vor allem den Wertewandel) und technische Innovationen (ebd.: 4). Darüber hinaus besteht aber eine eigene Dynamik, die sozusagen Kettenreaktionen im Timing des Lebenslaufs auslöst. Mills et al. (2005: 439) kritisieren den Anspruch der These des zweiten demographischen Übergangs, den demographischen Trend allgemein für alle (westlichen) Ländern zu beschreiben. Sie setzen dem einen Ansatz entgegen, der in den durch nationale Institu-
9.5 Zwischenfazit
179
tionen gefilterten Globalisierungstendenzen den wichtigsten Impuls sieht: Diese würden biographische Unsicherheit erzeugen, auf die mit Aufschub der Familiengründung reagiert werde. Die Annahme eines von allen gleichermaßen durchlaufenen Wertewandels werde mit dieser alternativen Sichtweise obsolet. Mit Mayer (vgl. 6.5) und in anderer Akzentsetzung könnte von den Auswirkungen des postfordistischen bzw. postindustriellen Lebenslaufregimes gesprochen werden. Die Sicherheiten des wohlfahrtsstaatlichen (fordistischen) Lebenslaufregimes brechen weg. Sie hatten eine wichtige Hintergrundbedingung dafür gebildet, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre die mittleren Kohorten langfristig bindende Entscheidungen früh im Lebenslauf treffen konnten. Die Kritik an der Pauschalität der Diagnose des zweiten demographischen Übergangs ist berechtigt, indes den Wertewandel ganz aus der Erklärung für den Fertilitätsrückgang auszuschließen, ist nicht sinnvoll: Damit biographische Unsicherheit, die mehr oder weniger stark aus der jeweiligen Situation auf dem Arbeitsmarkt entsteht, überhaupt in verändertem Handeln resultieren kann, indem etwa nichteheliche Lebensgemeinschaften statt Ehen eingegangen werden, müssen erstere allgemein akzeptiert sein. Auch dieser kulturelle Wandel verläuft national pfadabhängig und in Widerspruch oder Einklang mit den jeweiligen nationalen Institutionen. Mit der Anerkennung der eigenen Dynamik des Lebenslaufs wird dieser als Institution und nicht allein als Abhängige anderer, größerer Veränderungen ernst genommen. Um diese Dynamik besser fassen zu können, werden die gerade besprochenen Übergänge im übernächsten Kapitel (11) multivariaten Analysen unterzogen.
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Übergänge der zweiten Lebenshälfte sind mit Ausnahme des Eintritts in den Ruhestand soziologisch weniger erforscht als die Übergänge bis etwa zum 40. Lebensjahr, zumindest was eine Fokussierung auf die Übergänge selbst (und nicht ihre Folgen) angeht. Während sie in der Entwicklungs- und Lebensspannenpsychologie breit diskutiert werden, kommen sie in der Soziologie am Rande anderer Kontexte vor. In diesem Kapitel wird in beschreibender, das Feld aufschließender Weise die typische zeitliche Struktur der einbezogenen Übergänge erarbeitet, sofern eine solche existiert. Es gibt keine überzeugenden Gründe dafür, die im Folgenden thematisierten Übergänge nicht als veritable Lebenslauf-Übergänge zu betrachten, selbst wenn sie sich von den bisher besprochenen unterscheiden. Beispielsweise sind sie – auch das gilt nicht für den Übergang in den Ruhestand – weitaus weniger institutionell gerahmt als etwa eine Hochzeit oder die Geburt eines Kindes. Aber auch von den wichtigen Übergängen der ersten Lebenshälfte sind einige, etwa der Auszug aus dem Elternhaus, weniger formalisiert. Die Übergänge der zweiten Lebenshälfte sind sozialstrukturell weniger folgenreich (wenn auch nicht folgenlos), da wichtige Weichen des Lebenslaufs schon gestellt sind und diese Festlegungen im höheren Erwachsenenalter selten rückgängig gemacht werden. Die in den nächsten Kapiteln diskutierten Lebensschritte haben mehr (Tod des letzten Elternteils, Tod des Partners) oder weniger eindeutig (Auszug des Kindes, Beginn des Ruhestands) die Bedeutung von Verlusten. Sie sind teilweise weniger antizipierbar, vor allem die Todesereignisse, und unterliegen nicht der individuellen Kontrolle. Dies macht sie jedoch nicht weniger bedeutungslos. Außer den nachfolgend besprochenen Übergängen gibt es weitere, deren Betrachtung lohnen könnte, z. B. die erste Großelternschaft, den Verlust von Geschwistern, Beginn und Ende von privaten Pflegetätigkeiten oder den Beginn der eigenen Pflegebedürftigkeit.
10.1 Der Auszug des letzten Kindes Der Auszug des letzten Kindes aus dem Haushalt aus Sicht der Eltern wird in der soziologischen Literatur selten behandelt. In der familiensoziologischen und der entwicklungspsychologischen Literatur firmiert er als Beginn der sogenannten „empty-nest“-Phase, die die nachelterliche („postparentale“) Lebensspanne der Eltern erwachsener Kinder einläutet. Bei der Erfassung dieses Übergangs bestehen die gleichen Probleme der Abgrenzung wie beim Auszug der Kinder aus deren Perspektive (vgl. Kapitel 9 und Anhang A2.2). Der Auszug des letzten Kindes vollzieht sich oft nicht abrupt, sondern fließend, indem etwa das Kind zunächst jedes Wochenende nach Hause kommt, seine Wäsche dort wäscht oder sogar noch einmal gänzlich in den elterlichen Haushalt zurückkehrt. Hat ein Paar mehrere Kinder, vollzieht sich die Ablösung ohnehin in mehreren Schritten und der Auszug des letzten Kin-
182
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
des bzw. das „empty nest“ stehen am Ende eines längeren Ablösungsprozesses (Papastefanou 1992: 226), dessen genaue Grenzen klar definiert werden müssten. Das Kriterium etwa, dass das letzte Kind sämtliche Kleidung aus dem Elternhaus entfernt haben und von diesem finanziell unabhängig sein muss (Papastefanou 1997: 63) erscheint sehr streng und würde den Auszug vieler Kinder sehr weit nach hinten schieben. Die völlige praktische Unabhängigkeit von den Eltern und von Dienstleistungen des elterlichen Haushalts wie etwa Kleiderwäsche sowie der überwiegende Aufenthalt im eigenen Haushalt (bei evtl. fortbestehender finanzieller Abhängigkeit) sind die sinnvollsten Kriterien, die aber mit den wenigsten empirischen Datensätzen präzise erfasst werden. Gehäuft in den elterlichen Haushalt zurückkehrende Kinder stellen wiederum ein eigenes Forschungsproblem dar (z. B. Clemens & Axelson 1985; Schnaiberg & Goldenberg 1989), das entwicklungspsychologisch unter dem Stichwort des „crowded nest“ thematisiert wird. Die Bezeichnung „empty nest“ deutet darauf hin, dass diese Phase lange mit einer ganz bestimmten entwicklungspsychologischen Schwerpunktsetzung betrachtet wurde: Die vor allem für Mütter mit ihr verbundenen Entwicklungsprobleme und -krisen standen im Vordergrund. Unter dem „empty-nest-Syndrom“ wurden beispielsweise Depressionen und ähnliche Beschwerden von Müttern zusammengefasst, die unter dem Auszug des letzten Kindes litten, weil sie sich zuvor sehr auf die Mutterrolle konzentriert hatten. Die negativen Folgen wurden jedoch überschätzt, nur bei einem Bruchteil der Mütter kommt es tatsächlich zu Depressionen, zumal sich auf ihre Mutterrolle konzentrierende und über Jahrzehnte gar nicht arbeitende Frauen seltener werden (Papastefanou 1992: 227). Entwicklungs-, familienpsychologische und familiensoziologische Forschung sind sich inzwischen soweit einig, dass der Auszug des letzten Kindes für Mütter und Väter einen ambivalenten Prozess darstellt, der mit neuen Freiräumen, jedoch auch mit Trauergefühlen einhergeht und der verarbeitet werden muss. Er stellt also einen Rollenwechsel dar, der als Entwicklungsaufgabe, nicht aber einseitig als Rollenverlust oder -gewinn konzipiert werden kann (Papastefanou 1997: 69ff). Aufgrund der größeren Verantwortung von Frauen für die Kinder finden sich systematische Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auch die Paarbeziehung zwischen den Eltern wird oft neu organisiert und anders erlebt, so dass es in dieser Zeit nach lang andauernder Ehe wieder häufiger zu Scheidungen kommt. Insgesamt überwiegen nach einer gewissen Übergangszeit jedoch positive Bilanzierungen. Das gilt auch für die Beziehung zu den erwachsenen Kindern, die in vielen Fällen eng ist und positiv bewertet wird (Papastefanou 1997: 115ff; Kohli et al. 2000a; Hoff 2006). Die eigentliche „empty-nest“-Phase ist also nach ein bis zwei Jahren abgeschlossen. Im Folgenden werden nur noch die Begriffe „postparentale“ oder „nachelterliche“ Phase verwendet, die sich in neutraler Weise auf die mit dem Auszug des letzten Kindes eingeläutete Zeit bezieht, in der die Eltern nunmehr allein leben. Nach diesem Übergang verändern sich wie angedeutet die Schwerpunkte im individuellen Rollenset: Das elterliche Verantwortungsgefühl wird geringer, aber auch bei völliger Unabhängigkeit der Kinder selten aufgegeben; es wird vom Ende der „aktiven Elternschaft“ gesprochen (Papastefanou 1997: 64), auch wenn sich dabei die Frage aufdrängt, was denn das Gegenstück „passive Elternschaft“ genau bezeichnet. In zeitlicher und psychischer Hinsicht entstehen Freiräume, von denen vor allem die immer noch eher mit Erziehungsaufgaben betrauten Mütter profitieren.
10.1 Der Auszug des letzten Kindes
183
Während sich die Wohnsituation mit dem Auszug verbessert, sind seine finanziellen Folgen uneindeutig.141 Manchen bringt der Auszug des Kindes finanzielle Vorteile – wenn dieses gleichzeitig ökonomisch unabhängig wird – und manchen Nachteile – wenn Unterhaltskosten gezahlt werden oder wenn das Kind zum Haushaltseinkommen beigetragen hat. Der Auszug des Kindes ist so Teil der Statusveränderungen, die mit dem Gesamtübergang in das Alter verbunden sind. Die nachelterliche Phase als eine, die fast alle Erwachsenen mit Kindern erleben, ist historisch erst spät entstanden. Sie ist eng mit der Steigerung der Lebenserwartung sowie mit der Konzentration des Todesereignisses in einem höheren Lebensalter verknüpft. Vor Herausbildung des institutionalisierten Lebenslaufs wurden auch im mittleren Lebensalter von Frauen mehr Kinder geboren, so dass sich der Auszugsprozess schon deswegen länger hinzog. Sowohl Mütter und Väter starben außerdem oft schon, bevor Kinder selbständig wurden. Das Alter der ausziehenden Kinder war zudem weniger standardisiert als im institutionalisierten Lebenslauf: Zum Teil zogen sie sehr früh und vor ihrer Volljährigkeit aus, um erwerbstätig zu werden, zum Teil sehr spät oder gar nicht, wenn sie ledig oder auch verheiratet bei den Eltern wohnen blieben und diese später pflegten. Zusammen mit dem modernen Ruhestand (Kohli 1998) bildet die nachelterliche Phase einen Abschnitt, der strukturell erst etwa Mitte des 20. Jahrhunderts eindeutig und von fast allen erlebt wird. Insofern gewinnt sie (wiederum in ähnlicher Weise wie der Ruhestand) den Charakter eines eigenständigen Lebensabschnitts. Auch wenn kein Beleg dieses Prozesses mit länger zurückreichenden Daten möglich ist, ist die Annahme einer solchen Standardisierung plausibel. Im Gegensatz zu den oben behandelten Übergängen gibt es nur wenige empirische Ergebnisse dazu, wann der Auszug des letzten Kindes erfolgt. Papastefanou (1997: 65) verortet ihn irgendwann im mittleren Erwachsenenalter, zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr. Mayer und Wagner (1989: 28) führen zwar nur das Alter der Eltern beim Auszug irgendeines und nicht des letzten Kindes an; ihre Übersicht weist aber darauf hin, dass der Median des Alters beim Auszug des letzten Kindes für beide Geschlechter eher jenseits des 50. Lebensjahres liegt.142 Unter Berücksichtigung der gestiegenen Lebenserwartung ist die Zeit, die die Eltern nach dem Auszug des letzten Kindes bis zu ihrem Tod erleben, inzwischen fast genauso lang wie die Zeit aktiver Elternschaft, manchmal sogar länger. Nach den Berechnungen Mayers und Wagners ist das elterliche Alter beim Auszug der Kinder zusammen mit dem Auszugsalter der Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst 141 Kluve (2004) vergleicht in einer internationalen Zusammenschau das Wohlbefinden von Eltern mit bereits ausgezogenen und noch zu Hause wohnenden Kindern und konzentriert sich dabei auf den Zusammenhang der Zufriedenheit zum finanziellen Bereich und zur Wohnsituation. Dabei findet er nur wenige signifikante Effekte, aber einige Unterschiede vor allem zwischen südeuropäischen und nordeuropäischen Ländern (Deutschland ist nicht enthalten). 142 Die Befunde des Alters-Survey weisen für die aktuelle Situation in eine ähnliche Richtung: Während noch etwa drei Viertel der 40- bis 54jährigen, die Kinder haben, mit mindestens einem dieser Kinder zusammenleben, sind es in der Gruppe der 55- bis 69jährigen nur noch etwa ein Viertel der Personen (Kohli et al. 2000a: 185). In der Gruppe der 70- bis 85jährigen geben immerhin noch knapp neun Prozent an, eigene Kinder im Haushalt zu haben. Für die zweite Welle des Alters-Survey finden sich nur Angaben, die auf alle Personen bezogen sind und nicht nur auf diejenigen, die Kinder haben (Hoff 2006: 260). In Bezug auf alle Befragten geht der Anteil ohne Kinder lebender Personen in der jüngsten (40 bis 54) und mittleren Altersgruppe (55 bi 69) deutlich um mehr als fünf Prozent zurück.
184
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
gesunken. Die Übersicht reicht nur bis zu den 1949 bis 1951 geborenen Kindern. Ausgehend von einer Erhöhung des Auszugsalters der Kinder bei gleichzeitig aufgeschobenen Geburten muss sich das Alter beim Auszug des letzten Kindes nach hinten verschoben haben. Das Alter bei Beginn der nachelterlichen Phase hängt somit vom Timing anderer Übergänge ab, nämlich von demjenigen bei der Geburt des Kindes und demjenigen des zuletzt ausziehenden Kindes beim Auszug. Dies ist ein markanter Unterschied zu den Übergängen der ersten Lebenshälfte. Mit Verschiebungen in der ersten Lebenshälfte ist unter fortbestehenden sonstigen Bedingungen die Verschiebung der nachelterlichen Phase in ein höheres Alter verbunden. Damit rückt diese an den Übergang in den Ruhestand heran. Weiter unten werden bestimmte Bedingungen beschrieben, die den Auszug von Kindern aus dem Elternhaus verzögern oder beschleunigen. Diese können auch auf den Auszug des (letzten) Kindes als Teil des Lebenslaufs der Eltern bezogen werden. Eltern von Einzelkindern sind früher und schneller in der postparentalen Phase als Eltern von mehreren Kindern. Dies gilt aber nur, wenn Einzelkinder nicht später geboren werden als mehrere Geschwister, deren spacing eine zusätzliche Rolle spielt. Bei einem eindeutig geringeren Auszugsalter von Frauen sind Eltern von Mädchen und ohne Söhne mit großer Wahrscheinlichkeit lebenszeitlich früher in der postparentalen Phase als Eltern von Jungen. Während Mayer und Wagner (1989, ähnlich 1986) kaum Einflüsse des elterlichen Haushalts auf das Auszugsverhalten der Kinder finden, berichten andere ältere Studien sehr wohl von solchen Effekten: So ziehen etwa Söhne von Müttern, die erwerbstätig sind (Ziegler & Schladt 1993: 78), junge Erwachsene mit mehreren Geschwistern (Ziegler & Schladt 1993: 67; Weick 1993) und solche, die schwere Spannungen zu ihren Eltern erleben, früher aus als die jeweiligen Referenzgruppen. Die sozioökonomische Struktur des Elternhauses hat zumeist nur einen sehr kleinen und oft gar keinen signifikanten Effekt auf den Auszugszeitpunkt der Kinder. Bei Weick (1993) befördert der Hochschulabschluss einer der beiden Elternteile einen früheren Auszug von Kindern, woraus wiederum ein früherer Eintritt in die nachelterliche Lebensphase folgt. In neuen Studien bestätigt sich allein der den Auszug beschleunigende Effekt der Geschwisterzahl (Rusconi 2006). Für Kinder geschiedener oder verwitweter Eltern(-teile) finden sich widersprüchliche Tendenzen: Bei Rusconi (2006) ziehen sie früher aus, bei Lauterbach und Lüscher gehören sie eher zu den Spätausziehern. Lauterbach und Lüscher (1999: 220) beschreiben zudem eine aufschiebende Wirkung einer großzügigeren Wohnsituation. Kaum einer der gerade genannten Einflüsse wird von allen Studien bestätigt, und nur einige fallen signifikant und eindeutig aus. Deren Wirkungsgrad ist im Vergleich zu demjenigen wichtiger Lebenslauf-Übergänge der Kinder gleichwohl gering. Normative Rahmungen bestehen allenfalls in Bezug auf das Alter der Kinder beim Auszug, nicht auf jenes ihrer Eltern. Der Auszugstermin von Kindern hängt damit unterm Strich weniger von Gegebenheiten des Elternhauses ab, so dass hier auch nur von wenigen Faktoren eine dynamisierende oder standardisierende Wirkung ausgehen kann. Bei sowieso geringerer Standardisiertheit fallen leichte Verschiebungen nach oben in Folge von immer späteren Auszügen weniger ins Gewicht. Außer einer solchen leichten Verschiebung des Übergangs in ein höheres Alter lassen sich auf Basis bisheriger Studien keine stichhaltigen Annahmen darüber aufstellen, wie sich das Timing über die Kohorten im Einzelnen verändert hat oder in welcher Weise es differenziert ist. Abbildung 10.1 zeigt das Alter beim Auszug des letzten Kindes; dabei sind nur Personen mit Kindern einbezogen. Vor allem für Männer stellen die hier verwandten Daten nur
185
10.1 Der Auszug des letzten Kindes
eine Annäherung an die tatsächlichen Gegebenheiten dar, da die Jahresangaben von Frauen teilweise auf ihre Gatten übertragen werden, um das Alter beim Auszug des letzten Kindes für Männer überhaupt bestimmen zu können. Auch sonst lassen sich Unschärfen kaum vermeiden, da hier Angaben aus mehreren Quellen verwendet werden (ausführlicher im Anhang A2.5).143 Abbildung 10.1: Alter beim Auszug des letzten Kindes
65 63 61 Männer
Alter
59 57 55
Frauen
53 51 49 47 1910 -1914
1915 -1919
1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
1940 -1944
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=2895
Nur bis zur Geburtskohorte 1940 bis 1944 sind über 75 Prozent der Frauen bereits in der nachelterlichen Phase, bei den Männern sind es in dieser Kohorte um die 70 Prozent. Frauen sind im Mittel jünger, wenn das letzte Kind das Haus verlässt, nämlich knapp unter 55 Jahren. Bei Männern geht der Median schon deutlich Richtung 60 Jahre. Der Übergang der mittleren 50 Prozent in das leere Nest vollzieht sich in fast allen Kohorten über einen langen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren, d. h. im Extrem haben die einen noch Kinder im
143 Für Männer liegen zum einen keine retrospektiven Angaben über Auszüge von Kindern vor, zum anderen sind die Angaben aus den Geburtsbiographien so mangelhaft, dass die Zahl der registrierten ausgezogenen Kinder nur in einigen wenigen Fällen mit der Zahl der geborenen Kinder abgeglichen werden kann. Neben Personen ohne Kinder sind diejenigen unter 34 Jahren ebenfalls von der Betrachtung ausgeschlossen, um tatsächlich nur Auszüge erwachsener Kinder zu erfassen und die Zahl anderer, fälschlicherweise einbezogener Auszüge (z. B. in ein Heim oder zu Pflegeeltern) zu minimieren.
186
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Vorschulalter, während bei den anderen der erwachsene Nachwuchs bereits den Haushalt verlässt. Eindeutige Verschiebungen oder Trends sind auf Basis eines solch knappen Kohortenvergleichs kaum auszumachen. In allen Kohorten sind wegen des Altersunterschieds zwischen Eheleuten Frauen jünger als Männer, wenn das letzte Kind auszieht. Der Tendenz nach hat die Streuung ab den in den 1920er Jahren geborenen Kohorten zugenommen, was den entsprechenden Prozessen beim Auszugsalter der Kinder (Kapitel 9) entspricht. In den nächsten Kohorten wird sich die Grenze der Phase des leeren Nests nach oben verschieben, da nicht nur das Alter bei der ersten Elternschaft ansteigt, sondern ebenso das Auszugsalter der jungen Erwachsenen. Der Übergang ist in seinem Timing ein Echo auf die früher im Leben stattfindende Familiengründung und gleichzeitig eng mit dem Verhalten der direkten Familienmitglieder verknüpft. Abbildung 10.2: Alter beim Auszug des letzten Kindes nach Schulabschluss 66 Männer
64 62
ohne Abitur
Alter
60 mit Abitur
58 56
Frauen
54 ohne Abitur
52 50
mit Abitur
48 1910 -1919
1920 -1929
1930 -1939
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=2310
Dieses Echo ist auch in Abbildung 10.2 abzulesen: Sowohl bei Männern als auch bei Frauen mit Abitur beginnt die Phase des leeren Nests einige Jahre später als bei denjenigen ohne Abitur, nur die älteste Kohorte, die allerdings schwächer besetzt ist, bildet dabei eine Ausnahme. Der Unterschied zwischen den Bildungsgruppen verstärkt sich bei den Männern sogar noch. Er ist nicht nur der späteren Familiengründung der Eltern zuzuschreiben: Die Kinder höher gebildeter Personen durchlaufen mit größerer Wahrscheinlichkeit als die der anderen längere Bildungsprozesse, was sich auf den Auszug aus dem „Hotel Mama“ oft verzögernd auswirkt. Zudem weisen die besser gebildeten Eltern im Schnitt höhere Ein-
10.2 Der Tod des letzten Elternteils
187
kommen auf, die eine großzügigere Ausstattung mit Wohnfläche begünstigen – wie Lauterbach und Lüscher (1999) zeigen, wirkt auch dieser Faktor verlängernd auf den Aufenthalt Heranwachsender im Elternhaus.
10.2 Der Tod des letzten Elternteils Der Tod der Eltern oder die endgültige Verwaisung (Doehlemann 1987) ist als bedeutsamer Übergang in der zweiten Lebenshälfte weniger erforscht als der Auszug des letzten Kindes; die spärliche Literatur ist entwicklungspsychologischer, familienpsychologischer oder (seltener) familiensoziologischer Art. Historisch hat er eine ähnliche Entwicklung durchlaufen wie der Auszug des letzten Kindes aus dem Elternhaus. Erst durch die Konzentration des Todesereignisses im Lebensalter nach 70 Jahren wird eine lange Phase mit lebenden Eltern zur Normalität. Die Zeit, in die der Tod der Eltern fällt, ist in den meisten Fällen klarer bestimmbar und vorhersehbarer, so dass der Verlust des letzten Elternteils „has become increasingly recognized as a transition in socially shared views of expectable life paths“ (Hagestad 1987: 155): Er fällt im Mittel in die Zeit des mittleren Erwachsenenalters von etwa 35 oder 40 bis 60 Jahren (Schaller 1992: 248; Doehlemann 1987: 178). Befunde aus der zweiten Welle des Alters-Survey, nach denen drei Viertel der 40- bis 54jährigen und ein Fünftel der 55- bis 69jährigen noch eigene Eltern haben (aber nur noch ein Prozent der 70- bis 85jährigen), untermauern diese grobe zeitliche Verortung (Hoff 2006: 243, 270; vgl. auch Kohli et al. 2000a: 183). Die Konzentration dieses Übergangs im mittleren Erwachsenenalter führt dazu, dass unzeitgemäße, verfrühte Todesfälle der Eltern, etwa in Kindheit und Jugend, als umso schmerzlicher erlebt werden (Hagestad 1987: 154). Zumeist erfolgt der Tod des letzten Elternteils inzwischen nach dem Auszug des letzten Kinds, also in der postparentalen Phase144 (Hagestad 1987: 155; Schaller 1992: 238). Biographisch wird der Tod eines Elternteils – zumal bei den häufig engen Beziehungen zwischen den Generationen – als Verlust erlebt. Er veranlasst dazu, die Endlichkeit des eigenen Lebens zu überdenken (Schaller 1992: 249). Oft spiele dabei der Gedanke eine Rolle, der nächste in der Reihe derjenigen zu sein, die sterben müssen, so Doehlemann (1987: 188). Er (1987: 180) konstatiert ein häufiges zeitliches Zusammenfallen dieses „unauffälligen Entwicklungspunktes“ mit anderen Übergängen, mit dem Beginn der nachelterlichen Phase, der „midlife-crisis“ und ersten Anzeichen des einsetzenden Alters. Der Tod der eigenen Eltern stellt damit wie der Auszug des letzten Kindes aus dem Elternhaus eine Chance der persönlichen Entwicklung dar. Schaller (1992: 249) geht fälschlicherweise davon aus, dass hier ein „letzter Status- und Rollenwechsel“ erfolge – mit der Verwitwung, dem Übergang in den Ruhestand oder dem in die Großelternschaft gibt es aber einige weitere, von denen nicht klar ist, welcher jeweils als letztes erlebt wird.
144 Die Begriffe mittlere Generation oder auch „sandwich“-Generation bezeichnen die Zeit vor dem Tod des letzten Elternteils. In dieser Lebensphase häufen sich die Verpflichtungen auf der einen Seite den Eltern, auf der anderen Seite den eigenen Kindern und evtl. Enkelkindern gegenüber. Ob eine solche Belastung der mittleren Generation tatsächlich verbreitet und dauerhaft vorkommt, wird indes empirisch infrage gestellt (Künemund 2002).
188
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Die Entwicklungschance ist begründet in dem ergebnisoffenen Ende einer Rolle: Die Position des erwachsenen Kindes geht endgültig verloren, zumindest als eine, die in realen Interaktionen gelebt wird (Doehlemann 1987: 182). Gleichzeitig können aus dem Tod des letzten Elternteils neue Verantwortungen für ein Erbe, die Verwaltung einer Immobilie oder das Weiterführen eines Namens erwachsen, im Extremfall auch ein neuer Status in einem Familienunternehmen (Büttner 2002). Diese Beispiele verweisen auf den sozialen Kontext des Todes des letzten Elternteils. In den meisten Fällen wird die finanzielle Situation der Kinder mit dem Tod des letzten Elternteils (weiter) stabilisiert, diese Wirkung wird eventuell verstärkt durch den Wegfall von Pflege- oder/und Unterkunftskosten. Jedoch werden auch Schulden vererbt; in besonderen Fällen muss vom Erbe das an den Elternteil ausgezahlte Arbeitslosengeld II dem Sozialamt zurückerstattet werden (Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2004: 110). War der Vater oder die Mutter schwer erkrankt und wurde von einem Kind gepflegt, kann sein oder ihr Tod zusätzlich eine zeitliche und psychische Entlastung darstellen. Außer dass der Tod der Eltern bzw. des letzten Elternteils für immer mehr Menschen zum „Normalereignis“ erst im mittleren Lebensalter geworden ist, finden sich wenige konkrete Angaben zum Alter bei diesem Übergang und wie es sich verändert haben könnte. Einzelkinder, die oft später geboren werden als Kinder mit vielen Geschwistern,145 und jüngere Kinder in der Geschwisterfolge sind beim Verlust ihrer Eltern jünger als andere (Hagestad 1987: 155). Zumeist ist es die Mutter, die als letzte stirbt. Die Daten des SOEP reichen nicht weit genug zurück, um empirische Aussagen über eine eventuelle Dynamik über die Kohorten zu treffen. Das Alter bei der endgültigen Verwaisung (Doehlemann 1987) ist von den hier betrachteten der am stärksten streuende Übergang, mit einem Quartilsabstand von teilweise fast 20 Jahren (Abbildung 10.3). Etwa die Hälfte der dargestellten Personen verliert den letzten Elternteil bis zum Alter von etwa 50 Jahren und damit oft vor dem Auszug des letzten Kindes. Die letzten 25 Prozent, die ihre Eltern verlieren, erleben dies erst in einem Alter um und teilweise jenseits der 60 – also in einem Alter, in dem sie selbst schon in den Ruhestand eintreten. In zwei Dritteln bis drei Vierteln der hier betrachteten Fälle – der Anteil schwankt über die Kohorten – ist es der Vater, der zuerst stirbt. Das heißt umgekehrt, dass meist die Mutter als verwitwete im höheren Alter alleinstehend zurückbleibt und möglicherweise der Aufmerksamkeit und der Pflege durch ihre Kinder bedarf.
145 Andererseits, so argumentiert Hagestad, ist eine späte Geburt oft in einer langen Bildungsphase der Eltern oder eines Elternteils begründet; und besser Gebildete haben wiederum größere Chancen, länger zu leben, so dass der Effekt der späten Geburt ausgeglichen werden könnte.
189
10.2 Der Tod des letzten Elternteils
Abbildung 10.3: Alter beim Tod des letzten Elternteils
58 56 54
Alter
52
Männer
50 48 Frauen
46 44 42 40 38 1910 -1914
1915 -1919
1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
1940 -1944
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=5441
Die Schwankungen der Abstände und des Medians folgen keinem besonderen Muster.146 Der auffällige Sprung sowohl des Medians als auch der unteren Quartilsgrenzen bei den in den 20er Jahren geborenen Personen ist mit der stetig verlaufenden Steigerung der Lebenserwartung nicht plausibel erklärbar; möglicherweise haben einige der in den 1910er Jahren geborenen Personen ihre Väter im Ersten Weltkrieg verloren, was die Verteilung nach unten schiebt. Dass das Alter der endgültigen Verwaisung bei den in den 30er Jahren Geborenen zurückgeht, könnte in ähnlicher Weise mit dem Zweiten Weltkrieg begründet werden. Hier hatte ein Viertel der Befragten mit 40 keine lebenden Eltern mehr. Von den nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, die hier nicht mehr abgebildet sind, haben erst gut die Hälfte beide Elternteile verloren. Die 25-Prozent-Grenze sowie der Median, die schon bestimmt werden können, zeigen einen deutlichen und sprunghaften Anstieg von drei bis vier Jahren. Es ist zu erwarten, dass sich diese Verschiebung des Alters, in dem man typischerweise seinen letzten Elternteil verliert, deutlich fortsetzt. Bei einer nach Schulabschluss (mit Abitur – ohne Abitur, Abbildung 10.4) differenzierten Betrachtung zeigt sich bei den Geburtskohorten ab 1920 ein deutlicher und leicht zunehmender Unterschied zwischen Abiturienten und ihren Altersgenossen ohne Abitur:
146 Zu den für diese Darstellung notwendigen Datentransformationen und den verwendeten Datenquellen vgl. Anhang A2.6.
190
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Letztere verlieren, den Median als Maßstab genommen, ihre Eltern zwei bis fünf Jahre früher als erstere. Abbildung 10.4: Alter beim Tod des letzten Elternteils nach Schulabschluss
58 Männer
56 54
ohne Abitur
Alter
52 mit Abitur
50 48
Frauen
46 44
ohne Abitur
42 mit Abitur
40 38 1910 -1919
1920 -1929
1930 -1939
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4354
Oben war für jüngere Geburtskohorten gezeigt worden, dass diejenigen mit höherer Bildung später als andere eine Familie gründen und Kinder bekommen. Angenommen, dies gilt auch für früher Geborene, und Prozesse intergenerationaler Bildungs- und Statustransfers im Hintergrund, müsste das eigentlich dazu führen, dass besser gebildete Kinder ihre Eltern früher verlieren, weil diese älter sind. Über die Ursachen des hier gezeigten gegenteiligen Befunds kann nur spekuliert werden: Eine plausible Erklärung stellt der Zusammenhang zwischen Bildung, Beruf, Wohlstand und Mortalität dar, der sich kurz auf die Formel „Ärmere und weniger Gebildete sterben früher“ bringen lässt (z. B. Helmert et al. 2000; Klein 2001b; Jungbauer-Gans 2002). Dass sich ein dem entsprechendes Ergebnis trotz einer (möglichen) entgegengesetzten Wirkung des biographischen Timings von Elternschaft ablesen lässt, spricht für die Stärke des Zusammenhangs zwischen Mortalität und Position im Ungleichheitsgefüge. Auch im höheren Alter lassen sich also biographische Übergänge nicht auf Echoeffekte früherer Übergänge (im eigenen Leben oder dem der Eltern) reduzieren, sondern werden durch intervenierende, teilweise entgegenlaufende soziale Einflüsse mitbestimmt.
10.3 Der Übergang in den Ruhestand
191
10.3 Der Übergang in den Ruhestand Der Übergang in den Ruhestand ist neben den Übergängen der ersten Lebenshälfte ein weiterer Forschungsschwerpunkt der Lebenslaufforschung. Zudem ist er zentral für die Alters- und Alternsforschung. Nicht zuletzt steht er im Mittelpunkt aktueller sozialpolitischer Debatten um Altersgrenzen und die Finanzierungsprobleme der Rentenversicherungen. An ihm werden die den Lebenslauf strukturierenden Regelungen des Wohlfahrtsstaates sichtbar. Ähnlich wie der Auszug aus dem Elternhaus und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit den endgültigen Eintritt in das Erwachsenenalter ausmachen, markiert der Ruhestand den Beginn eines neuen Lebensabschnitts, des Alters: „Als Gradmesser des Alterns der Gesellschaft gilt gewöhnlich der Anteil der Bevölkerung, der eine bestimmte Altersgrenze überschritten hat, im allgemeinen 60 oder 65. Eine solche Grenze hat natürlich weniger mit den biologischen Prozessen zu tun als vielmehr mit der grundlegendsten Veränderung in der sozialen Partizipation, die in diesem Alter für die meisten Männer – aber zunehmend auch für Frauen – stattfindet: dem Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand“ (Kohli 1993: 178). Es beginnt eine Lebensphase, die inzwischen einen eigenständigen Charakter hat, der den einer „Rest-Lebenszeit“ überschreitet. Dies gilt schon hinsichtlich der Länge der Zeit nach Eintritt in den Ruhestand: Die bedingte Lebenserwartung für 60jährige Männer beträgt im Jahr 2002 noch knapp 20, für Frauen sogar noch fast 24 Jahre (Statistisches Bundesamt 2004a: 39). Historisch ist die Herausbildung einer lang andauernden Ruhestandsphase eine relativ neue Errungenschaft (Kohli 1998), an welcher das Gros der Bevölkerung erst im Laufe des 20. Jahrhunderts Teil hatte. Im Laufe der Verbreitung des modernen Ruhstands über alle Bevölkerungsteile wurden die Grenzen, ab denen Anspruch auf staatliche Rentenleistungen besteht, beständig herabgesetzt. Bei der Institutionalisierung des Lebenslaufs und seiner Differenzierung bzw. Dreiteilung in eine Vorbereitungsphase, eine Erwerbsphase und eine nacherwerbliche Phase spielt die wohlfahrtsstaatliche Garantie eines Auskommens im Alter eine entscheidende Rolle (für die historischen Hintergründe Ehmer 1990): Der moderne Ruhestand ist einer der „Angelpunkte der gesellschaftlichen Konstruktion des Lebenslaufs“ (Kohli 1993: 179). Nach Kohli (2000c: 16) weist er strukturell eine Arbeitsmarkt- und eine sozialpolitische Funktion auf, in den individuellen Deutungen hat er eine moralische Funktion als verdiente Belohnung für ein Arbeitsleben sowie eine kognitive, indem er zur Orientierung bei der Lebensplanung beiträgt. Der Übergang in den Ruhestand lässt sich in zwei Schritte unterteilen: Das faktische Ende der Erwerbstätigkeit sowie der Beginn von Zahlungen aus der Rentenversicherung.147 In den letzten Jahrzehnten fallen diese beiden Teilschritte, die im Übergang in den Ruhestand idealerweise zusammentreffen, zeitlich immer weiter auseinander, d. h. es entsteht eine immer längere und immer differenziertere Übergangsphase (Clemens et al. 2003: 47; Guillemard 1991: 625 für verschiedene europäische Länder). Institutionell ermöglicht wur147 Der Einfachheit halber wird hier nur auf die gesetzliche Rentenversicherung eingegangen, die für ca. 85 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung die wichtigste Absicherung ist (Berkel & Börsch-Supan 2003: 2). Für andere Formen der Absicherung im Alter – quantitativ am bedeutsamsten ist die Beamtenversorgung – müsste die Argumentation jeweils angepasst werden.
192
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
de dies durch verschiedene Regelungen, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, als es die Altersgrenze eigentlich vorsieht. Vor allem wenn in die Zeit zwischen den beiden Übergangsschritten Arbeitslosigkeit fällt, wird von einer Prekarisierung des Übergangs in den Ruhestand gesprochen (etwa Barkholdt 2001). Einer Flexibilisierung oder Destandardisierung kann der Ruhestandsbeginn theoretisch in mindestens zweierlei Hinsicht unterliegen (Kohli 1993: 181; Guillemard 1991: 620): Zum einen kann sein Zeitpunkt im Aggregat verstärkt variieren, wenn er individuell mal vorgezogen, mal nach hinten verschoben wird, weil z. B. die entsprechenden Regelungen aufgeweicht werden. Zum anderen wird der Übergang individuell flexibilisiert, wenn etwa eine längere Übergangsphase besteht, in der Teilzeit gearbeitet wird, so wie es z. B. das Altersteilzeitgesetz von 1996 (erste Fassung 1988) vorsah.148 Schließlich stellt die Reversibilisierung des Übergangs in den Ruhestand, d. h. eine erneute Aufnahme von Erwerbstätigkeit nach bereits vollzogenem Ausstieg und erfolgten Rentenzahlungen, eine dritte Destandardisierungserscheinung dar, die in Deutschland empirisch bislang kaum relevant ist. Zum angemessenen Verständnis der Verschiebungen im Rententeintrittsalter ist es zunächst notwendig, die Veränderungen der gesetzlichen Regelungen nachzuvollziehen, die sich auf den Eintritt in den Ruhestand mit Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Die allgemeine Grenze für die Regelaltersrente liegt seit 1916 (Ehmer 1990: 116) bei 65 Jahren. Die Möglichkeit eines frühen Ausstiegs besteht für Frauen seit 1957. Ab 1973 haben sich eine Vielzahl von Pfaden des früheren Ausstiegs ergeben, von denen vor allem die Renten wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit149 aktuell noch bedeutsam, wenn auch im Auslaufen sind. Beide beinhalten eine herabgesetzte Altersgrenze von 60 Jahren, ab der Rentenbezug möglich ist. Altersteilzeit ermöglicht Rentenversicherten unter bestimmten Bedingungen (Wartezeit von 15 Jahren, mindestens drei Jahre Beschäftigung in den letzten fünf Jahren) mindestens in den letzten zwei Jahren vor Rentenbezug einen partiellen oder gänzlichen Ausstieg aus der Erwerbsarbeit, indem in dieser Zeit maximal die halbe übliche Arbeitzeit gilt. Ohne Tarifvertrag darf die entsprechende Zeitspanne höchstens drei Jahre betragen; bei entsprechenden tarifvertraglichen Vereinbarungen auch bis zu sechs Jahren. Zumeist wird Altersteilzeit geblockt, d. h. an (mindestens) ein Jahr Vollzeitarbeit schließt sich ein Jahr Freizeit an, wobei das reduzierte Arbeitsentgelt sowie die Rentenversicherungsbeiträge unter bestimmten Bedingungen vom Arbeitsamt durch einen Aufstockungsbetrag ergänzt werden. Bei der früheren Altersgrenze für Renten nach Altersteilzeit wurde bei Blockung so ein faktisches Ende der Erwerbstätigkeit im Alter von 59 Jahren oder früher (ohne Tarifvertrag frühestens 58½, mit Tarifvertrag frühestens 57 Jahre) ermöglicht. Auch für die Altersrente nach Arbeitslosigkeit galt eine Grenze von 60 Jahren. Sie wurde gezahlt, wenn nach einem Alter von 58½ eine Arbeitslosigkeit von mindestens einem Jahr vorlag.150 148 De facto wurde diese Form der Altersteilzeit kaum genutzt. Stattdessen zogen es die meisten Teilzeitrentner vor, die „Teilzeit“-Phase in einen Block Vollzeit-Erwerbstätigkeit und einen Block Freizeit einzuteilen, die Regelung also im Sinne eines früheren Ausstiegs aus der Arbeit zu nutzen. 149 Eine erste Version des Altersteilzeitgesetzes löste 1988 das Vorruhestandsgesetz ab, 1996 erfolgte seine Novellierung und im Weiteren wurde es mehrfach geändert (zuletzt 2003 durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt). 150 Hier wird nur der letzte Stand der Regelungen wiedergegeben. Wenn man zeitlich weiter zurückgeht, gelten teilweise von den dargestellten unterschiedliche Grenzen und Fristen.
10.3 Der Übergang in den Ruhestand
193
Langjährig Versicherte (35 Jahre Beitragszeit) konnten nach den früheren Regelungen ab einem Alter von 63 Jahren Rente beziehen, die Altersrente für Frauen konnte unter bestimmten Bedingungen (15 Jahre Wartezeit, zehn Jahre Beiträge nach der Vollendung des 40. Lebensjahres) ab einem Alter von 60 Jahren in Anspruch genommen werden. Schwerbehinderte erhielten ab einem Alter von 60 Jahren Rente; außerdem gibt es weiterhin Renten nach teilweiser oder vollständiger Erwerbsminderung (früher: Erwerbs- und Berufsunfähigkeit), die allein an eine gewisse Mindestwartezeit (Beitragszeit) gebunden sind. Zudem bestanden und bestehen vielfältige Regelungen des Vorruhestands auf der Ebene einzelner Betriebe und Branchen (z. B. Schwahn 1988 und Graf 1988). Zumeist beinhalten diese Vereinbarungen eine vollständige oder teilweise Ausgliederung aus der Erwerbsarbeit bei teilweiser Lohnfortzahlung bis zum gesetzlichen Ruhestandsalter oder bei größeren Abfindungen. Aktuell (im Jahr 2006) ist die 1992 bzw. 1999 beschlossene Anhebung der Altersgrenzen für fast alle Rentenarten abgeschlossen: Renten für langjährig Versicherte, nach Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit sowie für Frauen sind nur noch mit Abschlägen (von 0,3 Prozent pro Monat) vor der allgemeinen Altersgrenze von 65 Jahren beziehbar, unter Inkaufnahme der Abschläge ist in diesen Fällen ein Rentenbezug ab 63, für Frauen ab 60 Jahren möglich. In Bezug auf Rente nach Altersteilzeit bedeutet das, dass nach der alten Regelung mit Tarifvertrag frühestens in einem Alter von 60 Jahren die Erwerbstätigkeit faktisch beendet werden kann, ohne Tarifvertrag frühestens ab 61½ Jahren. Das Rentenalter für Schwerbehinderte wird von 60 auf 63 Jahre angehoben. Während die Grenze, ab der der Bezug einer verminderten Rente möglich ist, für langjährig Versicherte (35 Beitragsjahre) bis 2012 auf 62 Jahre abgesenkt wird, entfallen Renten für Frauen, wegen Arbeitslosigkeit und nach Altersteilzeit langfristig ganz – ab den Geburtsjahrgängen 1951 (2012) besteht auf diese kein Anspruch mehr, so dass neben Erwerbsminderungsrenten nur noch die Regelaltersrente, die Rente für langjährig Versicherte sowie diejenige bei Schwerbehinderung in Anspruch genommen werden können. Für Versicherte, die über das Alter von 65 Jahren hinaus arbeiten, ergibt sich pro Monat aufgeschobener Rente ein Zuschlag von 0,5 Prozent zu den Rentenzahlungen (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2005).151 Die beschriebenen Umstellungen dienen dem Ziel, die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung sowie möglichst der Arbeitslosenversicherung zu entlasten. In Zukunft wird die Rentengrenze auf 67 Jahre angehoben; diese Anhebung wird, wie aktuell (Februar 2006) beschlossen, ab dem Rentenzugang des Geburtsjahrgangs 1964 abgeschlossen sein. Über eventuelle Ausnahmen jenseits des weiter bestehenden früheren Zugangs für langjährig Versicherte wird noch diskutiert. Weitere Änderungen des letzten Jahrzehnts sind die Anpassung der Renten nicht mehr an die Brutto-, sondern an die Nettolohnentwicklung bzw. sogar das vorübergehende Aussetzen jeglicher Anpassung und die staatliche Förde-
151 Sämtliche Angaben stammen aus der genannten Broschüre des VdR. Tiefergehender kann in diesem Kontext auf die letzten Reformen sowie die aktuelle Gesetzeslage nicht eingegangen werden. Für entsprechende Überblicke vgl. weiter Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (2005), Lampert & Althammer (2004: 266-294), Börsch-Supan & Wilke (2003) sowie Viebrock (2001).
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10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
rung privater und betrieblicher Vorsorge fürs Alter („Riester-Rente“).152 Bei einem höheren Hinzuverdienst von Rentnern wird zukünftig nur ein Teil der Rente ausgezahlt. Die nach dem Übergang in den Ruhestand bezogene Rente ermöglicht ihren Beziehern bisher nicht nur, ihren Lebensstandard im Ruhestand zu halten, sondern spielt zudem die Rolle einer Bilanzierung des Erwerbslebens (Viebrock 2001: 231): Nicht nur spiegelt sie im Zuge der Beitrags- und Leistungsäquivalenz die relative Position im Einkommensgefüge zu Zeiten der Erwerbstätigkeit wider, auch vermindert jede Lücke der Beitragszahlung den Rentenbetrag. Das zeigt sich unter anderem in den niedrigen Renten westdeutscher Frauen. Auch mit Kindererziehungszeiten werden Rentenansprüche und Beitragspunkte erworben, d. h. diese Zeiten werden nicht nur der Wartezeit zugerechnet, sondern zum Teil auch so gewertet, als habe die Versicherte in dieser Zeit Beiträge geleistet (Lampert und Althammer 2004: 272f). Jedoch kompensiert diese teilweise Anrechnung den Beitragsausfall durch Karrierepausen (bisher) nicht (Allmendinger 1994; Lampert & Althammer 2004: 286). Das Rentensystem ist immer noch auf eine kontinuierliche Erwerbsbiographie ausgerichtet, wie sie lange familienernährenden Männern vorbehalten war, so dass Frauen auch im Ruhestand bzw. nach der Verwitwung über Witwenrenten vom Mann mitversorgt werden. Sowohl das faktische Ende der Erwerbstätigkeit als auch das Rentenzugangsalter sind in den letzten Jahrzehnten gesunken, wobei die Kluft zwischen den beiden Teilübergängen seit den 1970er Jahren stetig wächst. So ist etwa jede der im Alters-Survey betrachteten Altersgruppen früher aus dem Erwerbsleben ausgeschieden als die vorherige (Kohli 2000c: 19, auch Engstler 2006). Der Anteil der Erwerbspersonen unter den 60- bis 64jährigen betrug im Jahr 2000 in Westdeutschland etwa ein Drittel, davon war wiederum ein Fünftel arbeitslos gemeldet (Clemens et al. 2003: 48, 52). 1970 zählten in dieser Altergruppe noch über zwei Drittel der Männer zu den Erwerbspersonen. Im Vergleich der Kohorten erreicht das durchschnittliche Rentenzugangsalter der westdeutschen Männer (inklusive Erwerbsund Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung) beim Jahrgang 1925 seinen Tiefpunkt von 59 Jahren (Kruse 2001: 36). Zwischenzeitlich hat der Anteil der Regelaltersrenten wieder zugenommen und es ist wie in anderen Ländern ein Aufwärtstrend zu beobachten; die Zeit zwischen Erwerbsaustritt und Renteneintritt vergrößert sich aber gleichzeitig (Büttner & Knuth 2004; Büttner et al. 2005). Zur Erklärung zum einen des faktischen Erwerbsendes, zum anderen des Rentenbeginns bieten sich neben den wohlfahrtsstaatlichen Regelungen die Arbeitsmarktsituation, betriebliche, familiäre und individuelle Bedingungen an. Die wohlfahrtstaatlichen Rahmenbedingungen geben vor, in welchem Alter sich welche Möglichkeiten der Verrentung überhaupt eröffnen. Innerhalb dieses Zeitfensters trifft der Erwerbstätige dann unter weiteren Einflüssen eine Entscheidung für einen bestimmten Zeitpunkt des Übergangs. Diese Einflüsse sind in Push- und Pull-Faktoren unterteilbar. Dass die wohlfahrtsstaatlichen Vorgaben allein einen Spielraum vorgeben und das Timing nicht determinieren, wird durch internationale Vergleiche unterstrichen, die zeigen, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen großzügigen Rentenzugangsregeln und etwa dem frühen Ruhestand gibt (Kohli & Rein 1991: 9; für einzelne Länder Kohli et al. 1991). Anreize, die von institutionellen Rahmenbedingungen für die frühe Verrentung gesetzt werden (wie etwa ein früher Rück152 Für die ausführlichere Diskussion verschiedener Ansätze und Reformvorhaben vgl. den Sammelband von Barkholdt (2001).
10.3 Der Übergang in den Ruhestand
195
zug aus dem Arbeitsleben ohne Abschläge auf die Rentenzahlungen), stellen pull-Faktoren dar (Ebbinghaus 2006). Push-Faktoren sind vor allem auf der Organisationsebene der Arbeit zu finden: Seit den 1970er Jahren wächst in den meisten Industrienationen die Arbeitslosigkeit mehr oder weniger stetig an, womit der in vielen Ländern seit dieser Zeit herrschende Trend zum früheren Ruhestand einhergeht (Kohli & Rein 1991: 10; Ebbinghaus 2006). Dieser ebenso wenig perfekte Zusammenhang ist nicht nur durch den stärkeren Wettbewerb zwischen Arbeitnehmern zu erklären, in dem jüngere die älteren verdrängen. Zusätzlich tragen flankierende Gerechtigkeitsnormen dazu bei, dass den jüngeren Arbeitnehmern ein Vorrecht auf Arbeitsplätze vor den älteren eingeräumt wird (Kohli & Rein 1991: 13). Letztere übernehmen dieses Deutungsmuster sogar teilweise und legitimieren ihren früheren Ruhestand damit nicht nur, sondern geben ihm als moralisch begrüßenswertem Entschluss und als Form intergenerationaler Solidarität einen eigenen Wert (Schürkmann et al. 1987: 126f), auch wenn dies bei der eigenen Entscheidung vermutlich nicht den Ausschlag gibt. Die allgemeine Arbeitslage interagiert in ihrer Wirkung mit der Ebene der wirtschaftlichen Branche153 und der Situation und Beschäftigtenpolitik des jeweiligen Betriebes (Wübbeke 1999 und 2005), da Branchen und Betriebe unterschiedlich von wirtschaftlichen Krisen oder erhöhtem Konkurrenzdruck betroffen sind. Diese Bedingungen auf Makro- und Meso-Ebene begrenzen den Handlungs- und Entscheidungsspielraum, den ein Arbeitnehmer bei der Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit und beim Beginn seiner Rentenzahlungen hat. Der individuelle Übergang selbst wird unter Einbezug einiger dieser Bedingungen häufig mit Modellen der rationalen Wahl beschrieben (Knaus 2003; Kohli & Rein 1991: 8; Arnds & Bonin 2003), die jedoch den Wandel des Entscheidungsspielraums selbst nicht einbeziehen. Über rein ökonomische Kosten-NutzenErwägungen hinaus erweist sich die Erwerbstätigkeit (oder Nicht-Erwerbstätigkeit) des Partners als den Zeitpunkt des Übergangs mitbestimmend. Zumindest Frauen richten ihre Ruhestandsentscheidung unter bestimmten Bedingungen an ihrem Partner aus. Sie geben ihre Erwerbstätigkeit eher auf, wenn dieser auch schon verrentet ist (Drobniþ & Schneider 2000; Wagner 1996; Allmendinger 1990; Moen et al. 2005). Abgesehen von Männern mit einer sehr viel jüngeren Frau, die signifikant später aus dem Erwerbsleben aussteigen (Drobniþ & Schneider 2000: 214f), findet sich ein solcher Zusammenhang nur bei Frauen. Bildung, Erwerbsstatus und Gesundheitszustand sind weitere individuelle Merkmale, welche die Übergangsentscheidung beeinflussen (z. B. Radl 2007), auch wenn einige dieser Zusammenhänge nicht in allen Studien bestätigt werden. Personen mit gesundheitlichen Problemen tendieren zu einem früheren Übergang und Selbständige arbeiten eindeutig länger als Angestellte oder Arbeiter. Bei höher Qualifizierten und Gutverdienern deutet sich ein vergleichsweise verzögerter Übergang an, was unter anderem auf ihre bessere Position auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen ist (ebd.). Bei Drobniþ und Schneider (2000: 214) verschwindet dieser Effekt der Bildung, wenn für das Haushaltseinkommen kontrolliert wird. Dieses beeinflusst den Ausstieg von Männern in nicht-linearer Weise, so dass diese 153 Mit der Makro-Variante dieses Zusammenhangs beschäftigen sich Jacobs et al. (2001: 94): Wenn, wie angenommen wird, der frühe oder vorgezogene Übergang in den Ruhestand in bestimmten („alten“) Industrien besonders verbreitet ist, muss es in Ländern, in denen diese Industrien ein großes Gewicht haben, einen im Mittel besonders frühen Übergang in den Ruhestand geben. Dieser Zusammenhang wird zwar dem Prinzip nach bestätigt, jedoch ist er nur moderat und allein im Zusammenspiel mit anderen Größen zu verstehen.
196
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
mit steigendem Einkommen ihre Erwerbstätigkeit zunächst früher beenden, die Rate sich bei noch höheren Einkünften aber wieder verringert. Bei Frauen ist diese Beziehung dagegen linear: Je höher das Haushalteinkommen ist, desto früher hören sie auf zu arbeiten. Beide Geschlechtern schieben den Ruhestand desto länger auf, je größer der eigene Beitrag zum Haushaltseinkommen ist (Drobniþ und Schneider 2000: 213f). Das Zusammenspiel der verschiedenen Bedingungen lässt eine einfache Steuerung des Rentenalters durch politische Vorgaben unrealistisch erscheinen. Die bisherigen Änderungen von Seiten der Sozialpolitik haben (noch?) nicht zu einer durchschlagenden Erhöhung des faktischen Verrentungsalters geführt, auch wenn theoretische Simulationen auf Basis eines ökonomischen Modells einen Aufschub der Verrentung um etwa zwei Jahre vorhersagen154 (Knaus: 2003), mit dem vor allem die zu erwartenden Abschläge vermieden werden. Die institutionalistische Sichtweise greift auch in der Praxis zu kurz und müsste mindestens durch in den Betrieben ansetzende Arbeitmarktpolitik ergänzt werden (Wübbeke 1999, 2005; für Beispiele praktischer Maßnahmen vgl. Clemens 2003). Die meisten bestehenden Maßnahmen, die die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer fördern sollen, sind jedoch wenig bekannt und werden kaum genutzt. Für effektivere Steuerungsversuche muss die Frage genauer beantwortet werden, welche Personengruppen unter welchen Bedingungen ihre Verrentung aufschieben. Zentrale Voraussetzung dafür, auch in einem Alter von über 60 Jahren noch arbeiten zu wollen, ist indes ein Arbeitsplatz; die prekäre Arbeitsmarktlage älterer Personen ist das größte Hindernis für eine Stabilisierung oder Erhöhung des Renteneintrittsalters. Alles in allem sollten die folgenden Beschreibungen zumindest bei den Männern eine eindeutige Verschiebung des Alters beim Übergang in den Ruhestand nach unten ergeben, die bei den jüngsten zum Stillstand kommt oder sich umkehrt. Bei den Frauen ist ein weniger eindeutiges Bild zu erwarten. Die zeitliche Destandardisierung des Übergangs kann sich in den hier verwendeten, zeitlich sehr groben Daten allenfalls andeuten. Außerdem sind laut Literatur nur für Männer Tendenzen einer Differenzierung des Übergangsgeschehens nach Bildung plausibel. Abbildung 10.5 stellt das Alter beim Übergang in den Ruhestand im Sinne des Beginns von Rentenzahlungen dar. Einbezogen sind nur Personen, die jemals erwerbstätig waren, Übergänge und Rechtszensierungen jenseits des Alters von 70, die besonders bei Frauen vorkommen, werden ausgeschlossen. Die Datengrundlage erlaubt keine Differenzierung von Altersrenten und Renten wegen Erwerbsminderung – beide sind in die Betrachtungen eingegangen (genauer in Anhang A2.7).155 154 Während die längere Lebenserwartung in dieser Simulation keinen Einfluss auf die Ruhestandsentscheidung hat (Knaus 2003: 122), verzögert eine steigende Einkommensunsicherheit den Renteneintritt, allerdings nicht sehr stark (ebd.: 112): Bei größeren Schwankungen im Einkommen warten Individuen länger, bis ihr kumuliertes Renteneinkommen (egal ob in Rentenpunkten der gesetzlichen Rentenversicherung oder privater Vorsorge) optimiert ist. Auch diese Perspektive ist insofern einseitig, als sie eine freie Entscheidung unterstellt. 155 Für diejenigen, die diesen Übergang im Erhebungszeitraum (ab1984) erlebt haben, sind Zahlungen von Altersrenten, Pensionen, Renten wegen Erwerbunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung sowie wegen Berufsunfähigkeit eingeschlossen (nicht aber: Witwenrenten). Wie in Anhang A2.7 genauer beschrieben, handelt es sich insbesondere für die Übergänge vor 1984 nur um eine Annäherung an den tatsächlichen Verrentungsprozess: Da die Kategorie „Ruhestand“ in der Aktivitätsbiographie sehr offen für Interpretationen ist, kann für den retrospektiven Teil der Antworten nicht ausgeschlossen werden, dass das Ende der Erwerbstätigkeit
197
10.3 Der Übergang in den Ruhestand
Insbesondere für die ältesten beiden Kohorten kann ein Selektionseffekt nicht ausgeschlossen werden. Die Befragten sind bei Beginn des Erhebungszeitraums schon 64 bis 74 Jahre alt, so dass ein Teil dieser Geburtskohorten schon verstorben ist. Dabei handelt es sich vermutlich um diejenigen Personen, die etwa aufgrund chronischer Krankheiten überdurchschnittlich früh in den Ruhestand gegangen sind. Deswegen liegt das tatsächliche Alter des Übergangs in die Rente für diese Kohorten vermutlich etwas niedriger als hier errechnet. Das Übergangsalter in den Ruhestand sinkt bei Männern ab der Geburtskohorte 1910. Bei den beiden zuletzt betrachteten Kohorten stagniert der Zeitpunkt: Im Alter von 61 Jahren ist die Hälfte dieser Männer in den Ruhestand gegangen,156 zwei Jahre davor und danach sind es 25 bzw. 75 Prozent. Diese Statuspassage wird damit im Vergleich zu den anderen Übergängen im Alter von den Kohorten am schnellsten durchlaufen und weist den höchsten Standardisierungsgrad auf. Abbildung 10.5: Alter bei Eintritt in den Ruhestand
65 64
Alter
63
Männer
62 61
Frauen
60 59 58 1910 -1914
1915 -1919
1920 -1924
1925 -1929
1930 -1934
1935 -1939
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4173 mit dem Beginn der Rentenzahlungen „verwechselt“ wird, wenn beide Teilschritte nicht zusammenfallen, wie es z. B. bei Altersteilzeit-Regelungen meist der Fall ist. Vor 1984 ist das Auseinanderfallen der beiden Teilschritte des Übergangs jedoch seltener als danach. Auch bleibt die Art der bezogenen Renten offen. 156 Diese Werte liegen etwas höher als die Angaben zum durchschnittlichen Rentenbeginn der Kohorten bei Kruse (2001: 36). Kruse gibt allerdings das für die Linksschiefe der Verteilung (in diesem Fall: die früheren Renten wegen Erwerbsminderung) empfindlichere arithmetische Mittel an, was die Unterschiede zusammen mit der Grobheit der von mir verwendeten Jahresangaben erklären könnte.
198
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Bei Frauen schwankt der Zeitpunkt des Rentenbeginns stärker und ist mit einem größeren Quartilsabstand insgesamt weniger standardisiert. Obwohl es die (frühere) Altersrente für Frauen seit 1957 gibt, liegt der Median bis zur Kohorte 1920 bis 1924 bei 61 Jahren. Danach sinkt er um ein Jahr ab, um bei den in den 30er Jahren geborenen Frauen wieder auf 61 Jahre anzusteigen. Bei den letzten Kohorten zieht sich der Übergangsprozess der Frauen bei gleichem Median länger hin als der der Männer, d. h. erstere gehen teilweise später in den Ruhestand als die meisten Männer: Bis zu dem Jahr, in dem sie 65 werden, sind erst 75 Prozent der Frauen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Dieser Befund stimmt mit dem von Kruse (2001: 36) überein. Der lange bestehende Trend zum früheren Ruhestand ist deswegen bei Frauen nicht so ausgeprägt, weil ihre zunehmende Erwerbstätigkeit ihm entgegenläuft, so dass die beiden Entwicklungen sich gegenseitig verdecken. Möglicherweise setzt die Aufbesserung niedrigerer Renten einen Anreiz für Frauen, länger zu arbeiten. Zudem ist die Anhebung der Regel-Altersgrenze für Frauen inzwischen abgeschlossen, so dass frühere Ausstiege mit Abschlägen auf die sowieso schon im Mittel niedrigeren Rentenzahlungen verbunden wären. Mehr und mehr Frauen – in diese Richtung weisen die Befunde bisher nur in Andeutung – werden in Zukunft die Bedingungen der Regelaltersrente erfüllen. Institutionell entspricht dem, dass nach 2012 die frühere Altersrente für Frauen nicht einmal mehr mit Abschlägen möglich sein wird. Der Trend zum frühen Ruhestand ist in den letzten Jahren sowohl in Deutschland als auch anderswo vielfach gebrochen worden und hat sich teilweise umgekehrt. Dies wird in der hier verwendeten Darstellungsweise kaum sichtbar, da die zuletzt in den Ruhestand gegangenen Jahrgänge noch nicht vollständig enthalten sind. In der Kohorte der 1940 bis 1944 Geborenen müsste dies deutlicher zutage treten. Bei der Differenzierung nach Schulabschluss (Abbildung 10.6) bestätigt sich der in der Literatur teilweise belegte Zusammenhang zwischen höherer Bildung (hier: Abitur) und einem späteren Erwerbsausstieg: Median und Quartilsgrenzen derjenigen mit Abitur sind in den meisten Kohorten um mindestens ein Jahr nach oben verschoben, nur bei den in den 20er Jahren geborenen Frauen findet sich ein gegenteiliger Trend. Bei ihnen scheidet das zweite Quartil auffälligerweise innerhalb von kürzester Zeit aus dem Erwerbsleben aus, nämlich mit 60 Jahren. Für das spätere Ausscheiden vor allem der besser gebildeten Männer finden sich zwei Gründe: Erstens sind bei ihnen die physischen Arbeitsbelastungen im Schnitt geringer bzw. wirkt sich eine schlechtere physische Belastbarkeit weniger negativ auf Erfüllung der beruflichen Pflichten aus. Mit größerer Autonomie und potentieller Selbstentfaltung dürften insgesamt auch die psychischen Belastungen über ein langes Arbeitsleben geringer ausfallen. Zweitens ist der Arbeitsmarktdruck in den Bereichen mittlerer und geringerer Qualifizierung tendenziell höher, in denen Ältere deswegen häufiger mit Ausnahmeregelungen (Altersteilzeit etc.) aus dem Arbeitsleben ausgegliedert werden. Dies ist vor allem eine plausible Erklärung für den großen Unterschied bei den in den 30er Jahren geborenen Männern, der sich auch bei einer Differenzierung nach Personen mit und ohne Hochschulabschluss wiederfindet (vgl. auch Anhang A3.7).
199
10.4 Der Tod des Ehepartners
Abbildung 10.6: Alter bei Eintritt in den Ruhestand nach Schulabschluss
65
Männer
64 ohne Abitur
Alter
63 mit Abitur
62 61
Frauen
60 ohne Abitur
59 mit Abitur
58 1910 -1919
1920 -1929
1930 -1939
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=4162
Viele der vergangenen Änderungen des stark reglementierten Rentenzugangs finden sich in den Befunden wieder, mehr oder minder gebrochen durch andere Prozesse gesellschaftlichen Wandels wie etwa der Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen. Insgesamt lässt sich für den Übergang in den Ruhestand von einer gewissen Destandardisierung sprechen. Bei Frauen ist er schon immer weniger standardisiert als bei Männern. Im Hintergrund der Veränderungen stehen die durch rentengesetzliche und arbeitsmarktpolitische Regelungen gerahmte immer frühere Ausgliederung bestimmter Gruppen älterer, besonders männlicher Erwerbstätiger aus dem Arbeitsmarkt und bei Frauen die Zunahme der Erwerbsbeteiligung. Geht es nach den letzten Reformvorhaben, soll die immer frühere Ausgliederung älterer Personen aus dem Arbeitsmarkt jedoch zum Stillstand kommen und sich in ihr Gegenteil verkehren.
10.4 Der Tod des Ehepartners Der Tod des Ehepartners ist der letzte Übergang, der hier beschrieben wird. Er erfolgt in den meisten Fällen in höherem Alter und betrifft vor allem Frauen: Ende 2002 waren in Deutschland etwa ein gutes Drittel der 70- bis 75jährigen, die Hälfte der 75- bis 80jährigen und knapp drei Viertel aller über 80jährigen Frauen verwitwet. Männer der entsprechenden Altersstufen sind nur zu zehn Prozent, 17 Prozent und einem Drittel Witwer (Statistisches Bundesamt 2004c: 43; auch Kohli et al. 2000b: 79). Insgesamt sind zwischen sieben und
200
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
acht Prozent der Bevölkerung verwitwet, unter drei Prozent der Männer und zwölf Prozent der Frauen (Statistisches Bundesamt 2004c: 43, eigene Berechnungen). Die Langlebigkeit von Frauen, die im Alter von 60 Jahren eine um vier Jahre höhere Lebenserwartung als Männer haben (Statistisches Bundesamt 2004a: 39), sowie der Altersabstand zwischen Ehepartnern – Männer sind in den meisten Fällen älter – tragen damit zur „Feminisierung“ des (hohen) Alters bei (Höpflinger 2000: 66). Außerdem heiraten im Alter verwitwete Männer häufiger als ältere Witwen wieder. Auch in den ersten 60 Lebensjahren weisen Männer eine höhere Sterblichkeit als Frauen auf, so dass es schon früher im Lebenslauf mehr verwitwete Frauen als Männer gibt, von denen wiederum weniger als bei den jungen Witwern erneut heiraten. Schwerpunkt in diesem Abschnitt ist jedoch die Verwitwung im Alter, die wegen der Konzentration des Todesereignisses im höheren Alter und trotz ihrer Unerwünschtheit und Nicht-Planbarkeit einen im Prinzip erwartbaren Übergang darstellt – besonders für Frauen. Die Verwitwung ist in ähnlicher Weise wie der Verlust der Eltern vor allem Gegenstand sozial- und familienpsychologischer Literatur. Diese beschreibt den Prozess des Trauerns in seinen Phasen und die individuelle Auseinandersetzung der Witwe bzw. des Witwers mit dem Verlust und seinen Folgen (Stroebe & Stroebe 1987; Howe 1992; Schlaffer & Benard 1978; Niederfranke 213ff; für einen Überblick über ältere Literatur: ShamgarHandelmann 1989). Thematisiert werden zudem die Unterstützungsleistungen von Nahestehenden und Verwandten sowie Maßnahmen mit dem Ziel, der oder dem Betroffenen neuen Lebensmut zu geben. Die psychischen Belastungen nach der Situation des Partnerverlusts sind folgenreich. Insbesondere Witwer sind in der Zeit nach ihrer Verwitwung verstärkt dem Risiko von Krankheit und Tod ausgesetzt (Geuß 1992; Stroebe & Stroebe 1987), in ähnlicher, aber schwächerer Weise wie nach einer Scheidung (Brockmann & Klein 2002). Die Lebenserwartung verwitweter ist geringer als die verheirateter Personen, ein Unterschied, der bei Männern sehr viel stärker ausgeprägt ist als bei Frauen157 (Vaskovics & Buba 1988: 49f). Sämtliche psychischen Krisenerscheinungen sowie die Erhöhung von Morbidität und Mortalität sind sehr viel stärker ausgeprägt, wenn die Verwitwung in einem jüngeren Alter erfolgt (Geuß 1992: 114). Hier deutet sich die Rolle der Erwartbarkeit des Übergangs für dessen Erleben an: Stirbt der Partner unerwartet und unzeitgemäß, wird dies als gravierender erlebt als sein Tod in einer späten Phase des Lebens, obwohl die Folgen des Verlusts im früheren Leben besser revidierbar sind, z. B. durch eine erneute Familiengründung. Neben der bei Frauen ohnehin höheren Lebenserwartung ist die erhöhte Mortalität von Männern nach der Verwitwung ein Grund dafür, dass die Phase der Witwenschaft bei Frauen viel länger dauert als bei Männern (Vaskovics & Buba 1988: 50f). Zwischen 70 und 80 Prozent der Verwitweten leben alleine in einem Haushalt (Hollstein 2002: 68; Vaskovics & Buba 1988: 91). Dieser Anteil hat über die letzten Jahrzehnte zugenommen. Im höheren Alter ziehen wegen Pflegebedürftigkeit mehr Verwitwete zu Verwandten oder in ein Heim.
157 Alleinlebende weisen ebenso eine höhere Mortalität als Verheiratete auf und auch hier besteht ein Unterschied zwischen den Geschlechtern; der größte Mortalitätsunterschied zwischen den Geschlechtern ist aber derjenige bei Verwitweten. Für mögliche Erklärungen vgl. Alber 2005.
10.4 Der Tod des Ehepartners
201
Die psychischen Folgen der Verwitwung158 werden breit diskutiert. In der Soziologie ist die Verwitwung als für die Betroffenen „absolut[...] neue[...] soziale[…] Realität“ (Shamgar-Handelmann 1989: 429) und als Statuspassage (Hollstein 2003: 168) ein randständiges Thema; aus der Querschnittsperspektive wird die wachsende Gruppe der Verwitweten bislang kaum als spezifische soziale Gruppe beschrieben (mit Ausnahme von Vaskovics & Buba 1988). Auch dieser Übergang ist jedoch mit gesetzlichen Witwenrenten oder Erbschaftsregelungen deutlich (z. B. rechtlich) normiert. Der Tod des Partners stellt soziologisch den Verlust einer sozialen Rolle dar, nämlich der des Ehepartners oder der Ehepartnerin; für Frauen ist diese implizit mit den Aufgaben der Familienversorgung und der Haushaltsführung verbunden. Die Krise wird umso stärker erlebt, desto weniger alternative Rollenbezüge bestehen. Da älteren Männern der zentrale Rollenbezug der Erwerbstätigkeit meist bereits abhanden gekommen ist und Frauen Bezüge zur eigenen Familie, zu Freunden und Bekannten stärker pflegen und bei ihnen die Erwerbsarbeit weniger im Mittelpunkt steht, fällt ihnen die Vertiefung anderer Rollen leichter (Hollstein 2002: 67).159 Hollstein (2002, 2003) beschreibt, wie sich nach der Verwitwung die sozialen Netzwerke der Verwitweten ändern, in welcher Weise Freundschaften und Freizeitaktivitäten neu organisiert oder gepflegt werden. Der Verlust des Partners löst viele Veränderungen der persönlichen Beziehungen aus, und zwar nicht nur derjenigen, in die auch der Partner involviert war – das Kraftfeld des persönlichen Netzwerks verändert sich durch den Wegfall des Partners sozusagen. Obwohl die Typen von Veränderungen, die Hollstein ausmacht, sehr individuell scheinen, erleichtert eine gute Ausstattung mit materiellen Ressourcen und Bildung den Umgang mit der Umstrukturierung des Netzwerks deutlich (Zopata 1973). Im Querschnitt haben Verwitwete etwas weniger Sozialbeziehungen als Verheiratete, was vor allem mit zunehmendem Alter gilt; für Vaskovics und Buba (1988: 13) ist dies die „kumulative Wirkung von Verwitwung und zunehmendem Alter“. Hinsichtlich der sozialen Partizipation sind zwischen Verwitweten und Verheirateten dagegen kaum Unterschiede auszumachen (Vaskovics & Buba 1988: 14; auch Künemund 2001: 120). Der Übergang in die Witwenschaft ist für Frauen nicht mehr mit so großen materiellen Risiken verbunden wie noch vor einigen Jahrzehnten. Zwar besteht für einen kleinen Anteil und mit steigendem Alter und Pflegerisiko immer noch die Gefahr der Verarmung (Vaskovics & Buba 1988), die meisten von ihnen sind dank Witwenrenten und anderer sozialpolitischer Maßnahmen aber finanziell gut gestellt.160 In der langfristigen Rückschau hat sich der Übergang in die Witwenschaft am Ende des Lebens konzentriert. Er gehört zumindest für die meisten Frauen zum institutionalisierten Normallebenslauf. In früheren Jahrhunderten gehörte die Verwitwung viel häufiger auch zum Familienzyklus des frühen und mittleren Erwachsenenalters (Vaskovics & Buba 1988: 57). Wiederverheiratungen von Verwitweten waren dementsprechend bei beiden Geschlechtern sehr viel häufiger. In Folge der steigenden Lebenserwartung erfolgt zum 158 Shamgar-Handelmann (1989: 428) weist darauf hin, dass die Trauerphase nach der Verwitwung nicht nur individuell unterschiedlich verläuft, sondern einen sozial genormten (und damit historisch variablen) Tatbestand darstellt. 159 Diese Beschreibung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen scheint anachronistisch, für die aktuell Verwitweten trifft sie der Tendenz nach aber noch zu. 160 Teilweise sind sie sogar besser gestellt als Verheiratete. Motel und Wagner (1993: 446) heben allerdings hervor, dass dieser Befund stark mit dem verwendeten Einkommensmaß zusammenhängt.
202
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
einen der Übergang in die Witwenschaft immer später, zum anderen dauert sie immer länger (Vaskovics & Buba 1988: 62). Haben sich die wachsende Raten von Scheidungen, Wiederverheiratungen sowie nichtehelicher Lebensgemeinschaften161 in Zukunft bis in das höhere Alter durchgesetzt, ist auch hier mit einer steigenden Pluralisierung von Lebensformen zu rechnen. In die subjektiven Lebensperspektiven findet die eigene Phase der Witwen- bzw. Witwerschaft kaum Eingang, trotz aller Erwartbarkeit lässt die Unerwünschtheit des Ereignisses Planungen für die Zeit danach unangemessen erscheinen (im Gegensatz zum Übergang in den Ruhestand). In den hier betrachteten Daten überleben gut drei Viertel der Frauen ihren Partner, entsprechend erleben nur ungefähr ein Viertel der Männer den Verlust ihrer Ehepartnerin. Letztere sind meist überdurchschnittlich alt, oft älter als 80 Jahre. Das Alter bei der Verwitwung ist über die Kohorten angestiegen und hat sich in breiter historischer Rückschau konzentriert; darüber hinaus gibt es kaum Aussagen über die Veränderungen des Timings dieses Übergangs oder über seine Differenzierung. Abbildung 10.7: Alter bei Verwitwung (nur Frauen) 82 80 78 76
Alter
74 72 70 68 66 64 62 60 58 1900 -1904
1905 -1909
1910 -1914
1915 -1919
1920 -1924
1925 -1929
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n=1588
161 Ein gewisser Anteil der älteren Verwitweten lebt schon lange in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zusammen, damit insbesondere die Frauen ihre Witwenrente nicht verlieren. Zu diesem Phänomen der „Onkel-Ehe“ liegen aber keine Zahlen vor.
10.4 Der Tod des Ehepartners
203
In Abbildung 10.7 werden nur verheiratete Frauen betrachtet (neben Ledigen sind auch Geschiedene ausgeschlossen; genauer zu den Daten in Anhang A2.8). Für das erste Quartil der Kohorten beginnt der Übergang in die Witwenschaft in einem Alter um die 60 Jahre, das mittlere Alter beträgt 70, und dem letzten Viertel ist es vergönnt, erst mit 80 oder mehr Jahren den Partner zu verlieren. Die Quartilsgrenzen sowie der Median unterliegen einem klaren Aufwärtstrend, in dem sich die verlängerte Lebenserwartung der Männer widerspiegelt. Mit Vorsicht sind die Befunde der beiden ältesten Kohorten zu interpretieren: Da die Erhebung des SOEP 1984 begann, unterliegen die Daten einer starken Selektion162, da nur noch lebende, teilweise über 80jährige Frauen dieser Kohorten, die nicht in Heimen leben, überhaupt befragt werden konnten. Aufgrund von Bildungshomogamie und aufgrund der positiven Beziehung zwischen Bildung und Morbidität bzw. Mortalität ist es plausibel anzunehmen, dass die Lebenserwartungen von Partnern miteinander zusammenhängen. Deswegen haben in diesen frühen Jahrgängen vermutlich auch die Partner überdurchschnittlich lange gelebt. Dies erklärt das höhere Alter der ältesten Frauen beim Verlust des Partners, das nicht den Erwartungen entspricht. Zudem sind die mittleren der hier betrachteten Jahrgänge vom verfrühten Verlust des Partners im Krieg betroffen163. Dass sich trotzdem ein klarer Aufwärtstrend abzeichnet, spricht wiederum für die Stärke des Alterungsprozesses.164 Auch bei der zeitlichen Abfolge der Übergänge der zweiten Lebenshälfte gibt es zum einen Regelmäßigkeiten, zum anderen eine deutliche Entwicklungsrichtung. Um das beschriebene Problem des Einbezugs oder eben Nicht-Einbezugs rechtszensierter Fälle in die Betrachtung von Sequenzen (vgl. Abschnitt 7.4) zu verdeutlichen, werden hier die Ergebnisse beider Vorgehensweisen gezeigt. Zunächst werden nur diejenigen betrachtet, die den Auszug des letzten Kindes, den Tod des letzten Elternteils und den Eintritt in den Ruhestand schon hinter sich haben (Abbildung 10.8).165
162 Nur für den Übergang in den Ruhestand ist von einer ähnlich verzerrenden Selektion auszugehen. Diese dürfte aber weitaus schwächer ausfallen als bei der Verwitwung, da für den Ruhestand (wie auch für die anderen Übergänge der zweiten Lebenshälfte) nur Geburtsjahrgänge ab 1910 in die Analysen einbezogen werden. In Bezug auf den Auszug des letzten Kindes sowie den Tod des letzten Elternteils scheint ein systematischer und damit die Ergebnisse (deutlich) verzerrender Zusammenhang des früh erfolgten Todes bestimmter Gruppen zum Timing der Übergänge eher unwahrscheinlich. 163 Um die zehn Prozent der bis 1914 geborenen Frauen und etwa 6 Prozent der 1915 bis 1919 geborenen Frauen haben ihren Mann in den Jahren 1939 bis 1945 verloren und nicht wieder geheiratet (bei den Wiederverheirateten geht ggf. nur die spätere Witwenschaft in die Darstellung ein). Der Anteil der Kriegswitwen ist damit zwar nicht sehr hoch, aber ihr geringes Alter bei der Verwitwung dürfte die oben dargestellte Verteilung deutlich nach unten geschoben haben. 164 Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch eine Differenzierung nach Bildung. Da jedoch sehr wenige Frauen der hier dargestellten Jahrgänge ein Abitur oder gar ein Studium absolviert haben, unterbleibt eine solche Differenzierung. 165 Der Tod des Partners wird hier ausgeschlossen, weil er zu wenigen und fast nur Frauen widerfahren ist.
204
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
Abbildung 10.8:
Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand
100 90
andere Muster
80
Auszug le. Kind vor Tod le. Elternteil vor Ruhestand
Prozent
70 60
Tod le. Elternteil vor Ruhestand vor Auszug le. Kind
50 40 30
Tod le. Elternteil vor Auszug le. Kind vor Ruhestand (od. jew. im gleichen Jahr)
20 10 0 1910-19
1920-29
1930-39
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n= 983
Das prävalente Muster ist eindeutig: Der Eintritt in den Ruhestand erfolgt als letzter Übergang auf den Tod des letzten Elternteils und den Auszug des letzten Kindes – dies ist in 50 bis 60 Prozent der Fall, Tendenz steigend. Von zunehmender Bedeutung ist auch dasjenige Muster, in dem sich der Auszug des letzten Kindes aus dem Elternhaus auf die Zeit nach dem Eintritt in den Ruhestand verschiebt (weißer Balken); das dritte betrachtete Muster (mit dem Auszug des letzten Kindes als erstem Ereignis) weist dagegen einen über die Kohorten abnehmenden Anteil an allen Sequenzen auf. In Abbildung 10.9 werden zusätzlich diejenigen Fälle einbezogen, bei denen ein oder zwei der Übergänge noch nicht vollzogen sind. Auch so betrachtet tritt in allen drei Kohorten das Sequenzmuster mit Abstand am häufigsten auf, in dem als erstes der letzte Elternteil stirbt, dann das letzte Kind auszieht und schließlich der Beginn des Ruhestands folgt bzw. teilweise noch nicht durchlaufen wurde, weil hier Rechtszensierungen einbezogen sind.166 Eindeutig sind die Fälle, in denen der letzte Übergang der jeweiligen Sequenz noch nicht erfolgt ist und seine Rechtszensierung in den Jahren nach den anderen Übergängen datiert, so dass er nach den anderen Ereignissen erfolgen muss; der Eintritt in den Ruhestand ist zudem ein Übergang, der von fast allen Befragten früher oder später erlebt wird.
166 Die in der obigen Abbildung pro Kohorte an 100 Prozent fehlenden Anteile werden von allen möglichen anderen Kombinationen gebildet – hier sind zum Zwecke der Übersichtlichkeit nur die anteilig wichtigsten dargestellt. Bei dem wichtigsten wird außerdem zugelassen, dass die Ereignisse (ganz oder teilweise) im gleichen Jahr stattfinden, damit die entsprechenden Fälle nicht verloren gehen. Genau genommen kann über die exakte Reihenfolge in diesen Fällen keine Aussage getroffen werden.
205
10.4 Der Tod des Ehepartners
Abbildung 10.9:
Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand (inkl. Rechtszensierter, wenn mindestens ein Übergang schon erfolgt ist)
100 90
andere Muster
80
Auszug le. Kind vor Tod le. Elternteil vor Ruhestand od. Rechtszensierung
Prozent
70 60
Tod le. Elternteil vor Ruhestand vor Auszug le. Kind od. Rechtsz.
50 40 30
Tod le. Elternteil vor Auszug le. Kind vor Ruhestand od. Rechtsz. (od. jew. im gleichen Jahr)
20 10 0 1910-19
1920-29
1930-39
Geburtskohorte Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n= 1148
Der Anteil des oben wichtigsten Sequenzmusters (Tod des letzten Elternteils vor Auszug des letzten Kindes vor Ruhestand oder Rechtszensierung) geht bei dieser Betrachtungsweise über die Kohorten allerdings um immerhin zehn Prozent zurück, vor allem zugunsten desjenigen, in dem das letzte Kind erst nach dem Eintritt in den Ruhestand seiner Eltern deren Haushalt verlässt. Auch beim dritten einbezogenen Sequenzmuster bildet der Übergang in den Ruhestand den Schlusspunkt, nur der Auszug des letzten Kindes und der Tod des letzten Elternteils davor finden in der umgekehrten Reihenfolge statt. Es schlägt sich das verzögerte Nest-Leaving der Kinder nieder, das immer öfter erst nach dem Eintritt der Eltern in den Ruhestand erfolgt.167 Ein Muster, in dem sowohl die endgültige Verwaisung als auch der Auszug des letzten Kindes noch vor dem Eintritt in den Ruhestand vollzogen sind, durchlaufen in allen drei Kohorten zwar die meisten Personen, aber mit abnehmender Tendenz. Im Prinzip ist diese Entwicklung mit Variationen auch bei einer Differenzierung nach Geschlecht vorzufinden (Abbildung 10.10). Da Männer oft älter als ihre Partnerin sind, verschiebt sich der Auszug des letzten Kindes bei ihnen öfter als bei Frauen in die Ruhe-
167 Bleibt dieses hohe Alter beim Auszug aus dem Elternhaus stabil und stellt man das gestiegene Alter bei der ersten Elternschaft in Rechnung, könnte sich der Beginn des leeren Nests im Verhältnis zu den anderen beiden Übergängen einerseits immer weiter nach hinten verschieben. Andererseits stirbt der letzte Elternteil immer später (da die Großelterngeneration immer langlebiger wird) und nimmt die mittlere Zahl der Kinder weiter ab, wodurch die Phase der aktiven Elternschaft insgesamt kürzer wird. Möglicherweise heben sich diese gegenläufigen Effekte auf.
206
10 Deskriptive Befunde zu Übergängen in der zweiten Lebenshälfte
standsphase. Unter Einbezug der teilweise rechtszensierten Fälle lässt sich die Entwicklung eindeutiger ablesen als ohne sie, was vor allem an der größeren Zahl teilweise rechtszensierter Fälle in der jüngsten Geburtskohorte liegt. Abbildung 10.10:
Sequenz Auszug des letzten Kindes, Tod des letzten Elternteils, Eintritt in den Ruhestand (inkl. Rechtszensierter, wenn mindestens ein Übergang schon erfolgt ist)
100 andere Muster
90
Auszug le. Kind vor Tod le. Elternteil vor Ruhestand od. Rechtszensierung
80
Prozent
70 60
Tod le. Elternteil vor Ruhestand vor Auszug le. Kind od. Rechtsz.
50 40 30
Tod le. Elternteil vor Auszug le. Kind vor Ruhestand od. Rechtsz. (od. jew. im gleichen Jahr)
20 10 19 30 -3 9
19 20 -2 9
19 10 -1 9
19 30 -3 9
19 20 -2 9
19 10 -1 9
0
Geburtskohorte Männer
Frauen
Quelle: SOEP 1984 bis 2004, n= 1148
Zu erwarten ist außerdem, dass auch der Anteil derjenigen steigt, die erst nach dem Beginn des eigenen Ruhestands die eigenen Eltern verliert. Der Tod des Partners, der hier nicht einbezogen wird, weil er die Fallzahl zu stark reduzieren würde, steht mit über die Kohorten zunehmender Tendenz am Ende der hier betrachteten Übergangskette.
10.5 Einordnung der Ergebnisse Bei den Übergängen der zweiten Lebenshälfte lassen sich insgesamt weniger zeitliche Muster und Regelmäßigkeiten finden als bei früheren Übergängen. Übergänge treten in dieser Lebensphase (entgegen Lewis & Weigart 1990: 89f) in den meisten Fällen nicht konzentriert auf eine kurze Zeitspanne auf, sondern sie verteilen sich (im Gegensatz zum frühen Erwachsenenalter) in relativ großen Zeitabständen. Eine stark standardisierte Ausnahme bildet der Übergang in den Ruhestand. Guillemards (1991) Aussage, dass der Lebenslauf „variabel, unpräzise und ungewiss“ werde, die sie am Beispiel des Ruhstands untersucht, kann mit dem hier verwendeten (groben) Maßstab nicht gestützt werden. Ein gewisser Trend zu größerer Streuung sowie Verschiebungen sind deutlich auszumachen, von völliger Variabilität kann aber nicht die Rede sein.
10.5 Einordnung der Ergebnisse
207
Von der Betrachtung ausgeklammert blieben die Einzelheiten des Übergangs in den Ruhestand. Indem in den letzten Jahrzehnten die Zeit vor dem Ruhestand immer häufiger durch Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt-Übergangsmaßnahmen, Altersteilzeit etc. gekennzeichnet ist, verliert der Übergangsprozess an Eindeutigkeit: Die verschiedenen Lebensphasen sind weniger klar voneinander getrennt, wenn das faktische Ende der Erwerbstätigkeit nicht mit dem Beginn von Rentenzahlungen zusammenfällt. Der Übergang ist zudem wegen des großen Arbeitsmarktdrucks auf Ältere immer weniger verlässlich planbar, womit auch die ökonomische Unsicherheit bei seiner Gestaltung zunimmt. Auf diese Weise ist sein Verlauf subjektiv ungewisser und variabler geworden, auch wenn im Nachhinein immer noch sehr klare objektive Muster zu erkennen sind. Die gewachsene Unsicherheit der Lebensplanung in der ersten Lebenshälfte (siehe auch folgendes Kapitel) überträgt sich auf die zweite, vor allem wenn diese noch länger entfernt ist: Die ohnehin schlechte Planbarkeit der Zeit nach dem Ruhestand aus der fernen Position eines 30- oder 40jährigen trifft zusammen mit zunehmenden materiellen Unsicherheiten. Trotz der breiten Streuung des Alters, in dem die besprochenen Übergänge erfolgen, fällt bei den meisten eine zumindest leichte Differenzierung nach Bildung auf. Je höher die Bildung, desto stärker verschieben die jeweiligen Übergänge in ein höheres Alter. Dies reflektiert zum einen das Timing von Übergängen in der ersten Lebenshälfte, zum anderen die höhere Lebenserwartung besser qualifizierter Personen. Wie das unterschiedliche Timing von Übergängen und ihre Sequenzierung bei verschiedenen Bildungs-, Einkommensund Status-Gruppen auf die Strukturierungsprozesse einwirken, in denen nach dem Übergang ins Alter „Kontinuität aufrechterhalten bleibt oder Diskontinuität entsteht“ (Kohli 1990: 399), d. h. die bisherige Position im Gefüge sozialer Ungleichheit erhalten bleibt oder sich verschlechtert, ist eine offene Frage. Für ihre Beantwortung sind nicht nur die objektiven zeitlichen Strukturen und die mit ihnen einhergehenden materiellen Be- und Entlastungen aufschlussreich, sondern ebenso, in welcher Weise die Folgen der jeweiligen Übergänge erlebt, bewältigt und gestaltet werden.
11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
Im anschließenden Abschnitt stelle ich zunächst die verwendeten Methoden und Variablen vor, sofern sie nicht in den vergangenen Kapiteln schon eingeführt worden sind. Danach werden einige theoretische Überlegungen noch einmal aufgegriffen und für familiale Übergänge vertieft. Schließlich folgt die eigentliche empirische Analyse, unterteilt nach betrachteten Übergängen.
11.1 Methoden und Variablen Für die weitergehende Analyse von Übergangsprozessen verwende ich logistische Übergangsratenmodelle, mit denen nicht nur Übergangsraten beschrieben werden können, sondern auch, wie diese von unabhängigen Variablen beeinflusst werden. Diese Variablen können über die Zeit invariant oder veränderlich sein. Auf ähnliche Fragestellungen bezogen, aber verbreiteter sind andere Übergangsratenmodelle wie z. B. Exponentialmodelle, piecewise constant models oder Cox-Regressionen, wie sie etwa Blossfeld und Rohwer (2002) oder Kleinbaum (1996) beschreiben. Sie implizieren die Annahme, dass die Zeit, während derer sich der jeweilige Übergang vollzieht, kontinuierlich gemessen wird. Die Verletzung dieser Annahme kann zu fehlerhaften und verzerrten Schätzern führen (genauer: Yamaguchi 1991: 16f). Die hier vorliegenden Jahresangaben verstoßen in einer Weise gegen die Kontinuitätsannahme, dass sich die Verwendung solcher Modelle nicht empfiehlt.168 Logistische Übergangsratenmodelle stellen eine einfach handhabbare Alternative zur Analyse von Übergängen in diskreter Zeit dar (Yamaguchi 1991: 15-70). Sie sind unter bestimmten Bedingungen169 sehr gute Annäherungen an Übergangsmodelle für kontinuierliche Zeit.170 Abhängige Variable ist in diesem Fall das Eintreten des jeweiligen Ereignisses in einem bestimmten Zeitintervall.171
168 Kalbfleisch und Prentice (1980) beschreiben Cox-Modelle für diskrete Zeit, die in der Anwendung jedoch komplizierter sind als die hier verwendeten logistischen Modelle, vor allem dann, wenn wie hier zeitabhängige Variablen einbezogen werden. 169 Ein von Yamaguchi (1991: 42) angegebenes grobes Kriterium lautet, dass die bedingte Eintrittswahrscheinlichkeit des Übergangs pro Zeitintervall in den meisten Fällen 0,1 nicht wesentlich überschreiten soll. Dieses Kriterium ist in den vorliegenden Analysen zumeist erfüllt. 170 Discrete-time models können nicht nur bei Zuständen mit zwei möglichen Ausprägungen verwendet werden, sondern ebenso bei mehreren konkurrierenden Übergängen. Hier werden jedoch nur einmalige Übergänge mit je einem Ausgangs- und einem Zielzustand betrachtet. 171 Für weitere Anwendungsbeispiele logistischer Übergangsmodelle in diskreter Zeit vgl. Hank (2004), Kalmijn (2004), Golsch (2001) oder Witte (1991).
210
11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
Allerdings sind die auf dieser Basis durchführbaren Berechnungen wegen der für die Analysen notwendigen Struktur der Daten umständlicher und unübersichtlicher als andere Übersgangsratenmodelle: Die Daten müssen nach Maßgabe des verwendeten Zeitintervalls, also hier nach Jahren, gesplittet werden, so dass die statistischen Analyseeinheiten nicht mehr Personenfälle, sondern einzelne Jahre sind. Dieses bei Yamaguchi (1991) ausführlicher beschriebene Verfahren sei hier zum besseren Verständnis der späteren Ergebnisse kurz mittels eines Beispiels skizziert: Tabelle 11.1: Beispiel eines gesplitteten Datensatzes Person 1 1 1 2 2 2 2 2
Alter 18 19 20 18 19 20 21 22
Ehe 0 0 1 0 0 0 0 0
Geschlecht 2 2 2 1 1 1 1 1
Bildung 1 0 0 1 1 1 1 0
In der ersten Spalte ist die Personennummer aufgeführt, in der zweiten das jeweils betrachtete Lebensjahr. In diesem beispielhaften Teil-Datensatz beginnt die Betrachtung erst in einem Alter von 18 Jahren. In der dritten Spalte findet sich die abhängige Variable, die in diesem Beispiel angibt, ob in dem jeweiligen Lebensjahr der Übergang in die Ehe vollzogen wurde. Der auf eine Person bezogene Satz von Fällen endet immer in dem Jahr, in dem das gesuchte Ereignis eintritt – bei Person 1 im Alter von 20 Jahren. Andernfalls bricht die Betrachtung bei der Rechtszensierung ab, also wenn die Beobachtungszeit endet oder keine weiteren Informationen über den Familienstand der Person mehr vorliegen. Für jede Person sind mit anderen Worten so viele Zeilen vorhanden wie Jahre der Beobachtung, bis das Ereignis eintritt oder die Informationen abbrechen. Das Geschlecht (vierte Spalte) ist ein Beispiel für eine zeitunabhängige Variable, während Bildung hier zeitabhängig gefasst wird und angibt, ob die betreffende Person im jeweiligen Jahr an irgendeiner Art von Bildungsprozess (Schule, Ausbildung oder Studium) teilhat oder nicht. Person 1 absolviert im Alter von 18 noch Ausbildung, Schule oder Studium, danach aber nicht mehr. Bei Person 2 endet die Ausbildung (bzw. der Schulbesuch oder das Studium) im Alter von 21 Jahren, ganz genau gesagt in dem Jahr, in dem sie ihr 21. Lebensjahr vollendet. Berechnet man in einem solchen Datensatz eine logistische Regression mit Ehe als abhängiger und z. B. Geschlecht als unabhängiger Variablen, erhält man eine Aussage darüber, ob sich Männer und Frauen in Bezug auf den betrachteten Zeitraum (das Alter ab 18) prinzipiell in ihrer Heiratswahrscheinlichkeit unterscheiden; genauer gesagt lässt sich aus dem resultierenden Koeffizienten errechnen, wie sich das Chancenverhältnis zu heiraten (odds ratio) verändert. Wichtiger für die Frage nach dem zeitlichen Verlauf des Übergangsprozesses in die Ehe ist die Variable Alter: Eine logistische Regression mit Alter als unabhängiger Variab-
11.1 Methoden und Variablen
211
len gibt Auskunft darüber, ob sich die Heiratswahrscheinlichkeit in verschiedenen Altersstufen signifikant unterscheidet und wenn ja, wie stark und in welche Richtung.172 Der Interaktionseffekt zwischen Alter und Geschlecht beschreibt den Einfluss des Geschlechts auf das Chancenverhältnis, in einem bestimmten Alter zu heiraten – diese Effekte sind für die hier interessierenden Fragestellungen von besonderer Bedeutung und können wie Übergangsraten interpretiert werden. Wenn Alter als kategoriale Variable Verwendung findet, werden die Ergebnisse allerdings unübersichtlich. Das erfordert eine gewisse Beschränkung der Modelle, indem die Altersvariable z. B. in Zwei- oder Drei-Jahres-Gruppen oder noch grober zusammengefasst wird, indem eine begrenzte Altersspanne betrachtet wird (und nicht bei jedem Übergang Altersstufen von zehn bis 80 Jahren) und indem die Zahl der unabhängigen Variablen sinnvoll eingeschränkt wird. Zeitabhängige Variablen (wie Bildung im obigen Beispiel) haben den Vorteil, dass ihre Ausprägung über die Zeit variabel ist, ohne dass die Altersvariable explizit mit einbezogen werden muss. Wie im obigen Beispiel kann sich die Ausprägung einer solchen Variablen einmalig ändern und damit einen Zustandswechsel indizieren. Der Einfluss zeitabhängiger Variablen ist aber flexibel modellierbar: So wäre etwa denkbar, dass genau in dem Jahr (oder in den ein oder zwei Jahren danach), in dem die Bildungsphase abgeschlossen wurde, die Wahrscheinlichkeit, eine Ehe einzugehen, erhöht ist. Dann wäre eine (umkodierte) Variable, die in genau diesen ein oder zwei Jahren die Ausprägung „1“ hat, trennschärfer. Wiedergegeben wird bei der Darstellung der Modelle nicht der Regressionskoeffizient b (oder ȕ) selbst, sondern der exponierte Wert Exp (b) (oder Exp (ȕ)). Dieser ist die odds ratio, also der Faktor, um den sich das Chancenverhältnis des Eintritts eines bestimmten Merkmals unter dem Einfluss der Variable verändert. Mit „Chancenverhältnis“ ist dabei der Quotient aus der Wahrscheinlichkeit gemeint, dass ein Übergang (ein Merkmal etc.) eintritt, und derjenigen, dass er nicht eintritt (also p/1-p). Bei metrischen Variablen bezieht sich die mittels der odds ratio angegebene Veränderung auf eine Faktorstufe (z. B. ein Jahr), bei kategorialen auf den Vergleich zur Referenzgruppe. In einer (binominalen) logistischen Regression gibt die mit der odds ratio angegebene Veränderung des Chancenverhältnisses beispielsweise wieder, wie groß der Einfluss einer Unabhängigen darauf ist, welcher von zwei Gruppen (z. B. Rauchern und Nichtrauchern, politisch Interessierten oder nicht Interessierten etc.) die Befragten angehören. In den hier verwendeten logistischen Übergangsratenmodellen drückt die odds ratio aus, ob und wie die jeweilige unabhängige Variable das Chancenverhältnis beeinflusst, dass ein Übergang in einer Beobachtungseinheit, hier: einem Jahr, realisiert wird oder nicht. Die abhängige Variable ist also das Eintreffen des Übergangs in einem Jahr. Eine odds ratio von eins verändert das Wahrscheinlichkeitsverhältnis nicht, spricht also dafür, dass die betreffende unabhängige Variable keinen Einfluss darauf hat, ob das Ereignis eintritt oder nicht. Eine odds ratio von 0,5 entspricht (z. B.) einer durch die unabhängige Variable be-
172 Gibt man Alter als metrische Variable in ein entsprechendes Modell ein, so steht dahinter die Annahme, dass es in linearer Beziehung zur Heiratswahrscheinlichkeit steht. Da eine solche Annahme in den hier betrachteten Zusammenhängen wenig plausibel ist, wird Alter als kategoriale Variable verwendet. So wird sein Einfluss im Einzelnen nachvollziehbar, was auch durch Hinzufügen eines Quadratterms (o. ä.) zum metrischen Alter nicht erreicht werden würde.
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11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
wirkten Verringerung des Chancenverhältnisses von 2:4 (0,5) in der Referenzgruppe173 auf 1:4 (0,25)174; Werte über eins geben eine entsprechende Steigerung an.175 Mit der Angabe der odds ratio176 sind die Auswirkungen einzelner Variablen auf die Zielgröße leichter interpretierbar und vergleichbar als mit dem einfachen Koeffizienten b. Die Angabe der exponierten Koeffizienten (Exp (b)) wird ergänzt um das auf Wald-Tests basierende Signifikanzniveau (genauer Backhaus 2000: 119f). Zur Abschätzung der Güte des Gesamtmodells wird schließlich mit Nagelkerkes r² ein Maß angegeben, das die Vorhersagekraft des verwendeten Modells mit der eines Null-Modells ohne die unabhängigen Variablen vergleicht. Gegenüber den ebenso häufig verwendeten und vom Prinzip her ähnlich berechneten Maßen von McFadden sowie von Cox und Snell weist Nagelkerkes r² den Vorteil auf, dass es wie die erklärte Varianz in einer linearen Regression zu interpretieren ist (zu den mathematischen Beziehungen zwischen ihnen vgl. Backhaus 2000: 132f).177 Als unabhängige Variablen dienen neben dem Alter, dem Geschlecht und der Zugehörigkeit zu einer Geburtskohorte vor allem zwei weitere Gruppen von Variablen: Zum einen solche, die andere Übergänge wiedergeben, etwa den aus dem Bildungssystem in die Erwerbstätigkeit. Diese sind zeitabhängig und wie oben beschrieben unterschiedlich verwendbar: Je nachdem welcher zeitliche Zusammenhang zum abhängigen Übergang inhaltlich plausibel ist, kann das Augenmerk auf die gesamte Zeit nach dem Übergang in die Erwerbstätigkeit gerichtet werden, nur auf das Jahr seines Eintreffens, nur auf die folgenden ein oder zwei Jahre usw. Dazu, die oben diskutierte Differenzierungsthese zu prüfen, dienen zum anderen zeitinvariante Variablen, vor allem solche, die das Bildungsniveau bezeichnen. Diese werden zeitunabhängig konzeptionalisiert, weil für die Zeit vor dem Beobachtungszeitraum des SOEP keine Informationen darüber vorliegen, wann etwa welcher Schulabschluss absolviert wurde. Obwohl Veränderungen des Schul-, Ausbildungsoder Studiumsabschlusses mit dem Alter seltener werden, sind sie natürlich auch zeitabhängig und werden hier allein aus Mangel an entsprechenden Informationen als zeitinvari173 Sämtliche im Weiteren verwendeten unabhängigen Variablen sind kategorialer Art, so dass die Koeffizienten immer auf eine Referenzausprägung bezogen sind. Handelte es sich um metrische Variablen, so gäbe der Koeffizient die Änderung des Chancenverhältnisses pro Maßeinheit an. Würde Alter im Sinne einer metrischen Variable benutzt, so gäbe der Koeffizient die Steigerung (bzw. Verringerung) des Chancenverhältnisses pro Lebensjahr an. 174 Dieser Wert ist nicht mit der Wahrscheinlichkeit zu verwechseln, sondern ist das Ergebnis des Quotienten von p (der Wahrscheinlichkeit) und p-1 (der Wahrscheinlichkeit des Nichteintreffens); bezogen auf den Wert hier: 0,25=1/5:4/5=0,2/0,8. 175 Im Folgenden verwende ich bei der Interpretation der Modelle nicht immer die präzise Ausdrucksweise („Veränderung des Chancenverhältnisses...“), damit die Beschreibungen nicht zu umständlich werden. Einer Verringerung oder Erhöhung des Chancenverhältnisses entspricht im Übrigen immer eine gleichgerichtete Veränderung der Wahrscheinlichkeit (was gewisse Unschärfen der Formulierung rechtfertigt), allerdings um einen anderen Faktor. 176 Es handelt sich um einen Quotienten, weil die odds ratio umgekehrt formuliert das Chancenverhältnis der Gruppe unter Einfluss der Unabhängigen ins Verhältnis setzt zu dem der Referenzgruppe: 0,25/0,5=0,5. 177 Die wichtigste Anwendungsvoraussetzung des den discrete-time models zugrundeliegenden Verfahrens der logistischen Regression betrifft das Nichtvorhandensein von Multikollinearität, d. h. unabhängige Variablen eines Modells dürfen keinen (nahezu perfekten) Zusammenhang zueinander aufweisen. Hier werden alle zusammen verwendeten Variablen auf ihre Korrelation hin überprüft; erreicht diese einen „verdächtig“ hohen Wert und sollen die betreffenden Variablen trotzdem in einem Modell zusammen verwendet werden, wird zur weiteren Prüfung auf das Kriterium der Toleranzwerte bzw. der VIF-Statistik zurückgegriffen (vgl. Backhaus 2000: 49f).
11.2 Vorbemerkung: Die Logik familienbiographischer Entscheidungen
213
ant konzipiert. Ihrer grundsätzlichen Veränderlichkeit kann nur Rechnung getragen werden, indem man sie mit Umsicht einsetzt. Zum Beispiel ist es wenig sinnvoll, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Hochschulabschlusses als erklärende Variable für das Timing des Auszugs zu verwenden, wenn in den meisten Fällen dieser Abschluss erst nach dem Auszug erlangt wird. Völlig vermeiden lässt sich dieser Fehler nicht, bei dem vom Zeitpunkt des betrachteten Übergangs ausgehend eigentlich erst zukünftig erreichte individuelle Charakteristika als unabhängige Variablen dienen.
11.2 Vorbemerkung: Die Logik familienbiographischer Entscheidungen Im Mittelpunkt der folgenden Analysen des Übergangs aus dem Elternhaus in die eigene Familie stehen individuelle Charakteristika. Damit werden die oben beschriebenen anderen Einflüsse, z. B. gesellschaftliche Rahmenbedingungen (etwa der wirtschaftlichen Lage oder der Sozialpolitik) nicht negiert. Die Konzentration auf die individuelle Ebene entspricht der gängigen Schwerpunktsetzung in anderen Studien, vor allem solcher, die nicht international vergleichen. Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nehmen oft über individuelle Charakteristika Einfluss, d. h. werden von diesen sozusagen moderiert. Da manche der wichtigen Rahmenbedingungen erst im internationalen Vergleich variieren, tritt ihre Rolle meist nur in diesen Gegenüberstellungen deutlich zutage. Die oben mit Burkart gestellte Forderung, den biographischen Übergängen zugrunde liegenden Entscheidungsprozessen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wird mit den folgenden Analysen freilich nicht erfüllt. Allen beschriebenen Übergängen liegen biographische Entscheidungsprozesse zugrunde, nämlich darüber, ob der jeweilige Übergang erfolgt und wann er erfolgt. Einzig bei der Geburt des ersten Kindes ist ein gewisser Anteil an „Zufällen“, d. h. an ungeplanten Schwangerschaften plausibel, was jedoch dem grundsätzlichen Gefüge von sozialen Bedingungen, die eine Schwangerschaft begünstigen oder verhindern, nicht widerspricht.178 Viele der im Folgenden referierten Erklärungen stehen mehr oder minder explizit dem rational-choice-Ansatz nahe: Unabhängige Variablen werden vor allem als Bedingungen angesehen, unter denen der jeweilige Übergang mehr oder weniger nutzbringend und zweckdienlich wird. Wie Burkart (1995) zeigt, spricht jedoch vieles dafür, dass biographisches Handeln nicht allein mit Nutzenmaximierung zu erklären ist, vor allem, wenn letztere eng gefasst wird (ausführlicher in Abschnitt 3.1.4). Dies konzedieren auch viele der im Folgenden referierten Studien. So argumentiert Oppenheimer (1988) etwa, dass Gefühle und irrationale Unsicherheiten biographische Entscheidungen, in ihrem Beispiel die zu einer Heirat, mitbedingen. In ihren Augen entspricht dies jedoch keiner Subjektivierung der Entscheidungssituation. Auch wenn keine rationale, abwägende Nutzenmaximierung vorliegt, ist die Situation deswegen nicht beliebig zu interpretieren: „However, the fact that people’s feelings and behaviour may be rather inchoate does not mean that they are not 178 Auch mit biographischen Methoden wird eine „zufällige“ Schwangerschaft niemals eindeutig von einer „geplanten“ Schwangerschaft zu unterscheiden sein: So kann die Familienplanung etwa mit Absicht dem Zufall überlassen werden. In der Rückschau kann das eine oder das andere Moment betont werden oder eine gänzliche Uminterpretation erfolgen.
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11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
responding to an objective reality (a reality we can measure more easily than the emotion it engenders) or that it is impossible to subject the process to systematic analysis“ (Oppenheimer 1988: 567). Die individuelle Antwort auf äußere Bedingungen der biographischen Entscheidung, so nehme ich an, wird von diesen Bedingungen beeinflusst, aber nicht determiniert. Dafür spricht wie oben geschildert eine Vielzahl biographischer Befunde. Der biographische Entscheidungsprozess selbst (und inwieweit er nutzenmaximierend verläuft) ist mit den hier verwendeten Mitteln nicht beobachtbar, die Befunde lassen aber Rückschlüsse über die ihn prägenden Bedingungen zu. Studien zum biographischen Entscheiden und Handeln selbst, die mit qualitativen Methoden arbeiten, finden sowohl Elemente einer rationalen als auch einer auf Traditionen und Normen gerichteten Orientierung, die mit einem engen Begriff der Nutzenmaximierung nicht zu fassen ist (Schaeper & Kühn 2000 für den Übergang in die Elternschaft; siehe auch Kühn 2004). Dies gilt ebenso für eine langfristig angelegte Lebensplanung oder Bestrebungen der Selbstsozialisation durch Übergangshandeln.179 Die Wirksamkeit von Eigeninteresse und von normativen Vorgaben schließen sich, wie Blossfeld et al. (1999: 235f) anmerken, keineswegs aus. Vielmehr wirken beide zumeist zusammen auf individuelle Entscheidungen des „Ob“ und „Wie“ eines Übergangs ein, egal ob dieser den Auszug aus dem Elternhaus, eine Ehe, eine nichteheliche Lebensgemeinschaft oder die Elternschaft betrifft. Bei allen folgenden Analysen wird der Interpretationsrahmen auf diese Weise offen gehalten (zur ausführlicheren Begründung vgl. vor allem die Kapitel 2 und 3). Erst in Bezug auf die einzelnen Übergänge wird er konkreter gefüllt, wobei Elemente von Struktur und Handlung jeweils ganz unterschiedliches Gewicht erhalten können. Mit Huinink (1995: 185f) lassen sich drei grundsätzliche inhaltliche Probleme des Entscheidungsprozesses für oder gegen Ehe und Familie unterscheiden: Um das Perspektivenproblem zu lösen, muss der Handelnde sich prinzipiell darüber klar werden, welche Ziele in seiner Lebensplanung eine herausragende Rolle spielen und in Zukunft spielen werden und welche weniger wichtig sind. Ein Verzicht auf die „antizipierende Setzung von Schwerpunkten zukünftiger Lebensgestaltung“ (Huinink 1995: 185) erschwert Entscheidungen im familialen Bereich und lässt eine kurzfristig reagierende Handlungslogik hervortreten. Das Ressourcenproblem, dem nach Huinink (1995: 186) traditionell vor allem die Familienplanung der (potentiellen) männlichen Alleinernährer unterliegt, umfasst die finanzielle Absicherung einzelner Übergangsschritte, die, wenn diese Absicherung fehlt, mit größeren Handlungsrisiken verbunden sind, etwa der Gefahr von Armut. Das Vereinbarkeitsproblem schließlich, das sich prinzipiell bei beiden Geschlechtern stellt, bezieht sich auf die Verbindung und Gewichtung von unterschiedlichen Lebensbereichen, von Familie, Beruf und Freizeit; hier gibt es ganz unterschiedliche Lösungen. Die Entscheidung für eine Ehe oder eine Familie wird durch diese drei Problemkomplexe bestimmt. Die meisten der sie beeinflussenden Faktoren lassen sich einem dieser Komplexe zuordnen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten bei jedem Übergang. Für den Auszug aus dem Elternhaus lassen sich das Perspektivenproblem und das Ressourcenproblem entsprechend umformulieren, während das Vereinbarkeitsproblem normalerweise keine Rolle spielt.
179 Übergangshandeln ist zugleich Dimension und Ergebnis von Selbstsozialisation (Heinz 2000).
11.3 Der Auszug aus dem Elternhaus
215
Die jeweiligen biographischen Antworten auf die genannten Probleme werden von objektiven Bedingungen geformt. Ob die biographische Planung feststehend oder variabel, lang- oder kurzfristig, mit der des Partners abgestimmt oder unkoordiniert ist (Kühn 2004: 104ff), hängt nicht zuletzt von diesen äußeren Bedingungen ab, in deren Zentrum die erwerbsbiographische Entwicklung steht. Diese Umstände, welche die biographische Perspektive mitbestimmen und für die Geschlechter unterschiedlich wirken, stehen im Fokus der folgenden Analysen. Ich gehe davon aus, dass beim Zusammenspiel der biographischen Planungen und der objektiven Bedingungen neben Geschlecht und Geburtskohorte die individuelle Beteiligung an Bildungsprozessen eine entscheidende Rolle spielt. Die Differenzierung von Lebenslaufmustern nach Bildung wäre damit unter anderem zurückzuführen auf unterschiedliche Lösungen der genannten biographischen Probleme, abhängig von der Teilhabe an Bildungsprozessen und vom Bildungsniveau. Die Gründe dafür wurden bereits angedeutet, sie werden im Weiteren in Bezug auf den jeweiligen Übergang genauer erläutert. Die folgenden Analysen sollen die Veränderungen der Verknüpfungslogik verschiedener Übergänge beleuchten. Die deskriptiven Befunde sprechen dafür, dass mitnichten eine Destandardisierung dieser Logiken erfolgt ist. Ich nehme an, dass die Differenzierung nach Bildung eher auf dem Fortbestand von Verknüpfungen beruht als auf ihrer Auflösung. Die zeitlichen Regelungen der Lebensläufe strukturierenden Institutionen haben sich, so die Vermutung, nicht grundlegend geändert.
11.3 Der Auszug aus dem Elternhaus Der deskriptive Befund zum Alter beim Auszug aus dem Elternhaus schließt sowohl Tendenzen der Destandardisierung als auch der Differenzierung nach Bildung bei einem über die Kohorten stabilen Geschlechterunterschied ein. Im Weiteren muss zunächst geklärt werden, welche Faktoren das Alter beim Auszug generell beeinflussen; in einem zweiten Schritt sind Annahmen darüber aufzustellen, inwiefern diese Einflüsse so an Kraft verloren oder gewonnen haben, dass sie Veränderungen über die Kohorten erklären.
11.3.1 Stand der Forschung Im Mittelpunkt klassischer theoretischer Herangehensweisen an den Auszug aus dem Elternhaus stehen ökonomische Marktmodelle oder Kosten-Nutzen-Ansätze (Hill & Hill 1976; da Vanzo & Kobrin Goldscheider 1982; Ott 1986; für einen Überblick über neuere ökonomische Ansätze: Kluve 2004: 6), die beschreiben sollen, was den Entschluss zum Auszug und die entsprechenden Verhandlungen zwischen Eltern und Kindern prägt. Dabei wird die eigentliche Entscheidung mal Eltern, mal Kindern, mal beiden Parteien zugerechnet. In die Abwägung fließen die ökonomischen Ressourcen der Eltern und der Kinder, die familiale Situation der Herkunftsfamilie (Geschwister, Trennung der Eltern), Werthaltungen beider Seiten, die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, die Wohnsituation im Elternhaus und die Lage auf dem Wohnungsmarkt ein. Kontextvariablen wie die letztere erweisen sich vor allem für den internationalen Vergleich als relevant.
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11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
Mit dem Elternhaus verknüpfte Einflüsse, wie etwa das Bildungsniveau der Eltern, die Berufstätigkeit der Mutter oder die Anzahl der Geschwister, werden in älteren Studien teilweise bestätigt. In neueren findet sich meist nur noch der Geschwistereffekt wieder. Rusconi (2006) stellt etwa fest, dass junge Erwachsene desto eher ausziehen, je mehr Geschwister sie haben. Andere Übergänge im Lebenslauf verändern die Entscheidungs- und Verhandlungssituation in Bezug auf den Auszug grundlegend und stellen damit herausragende Erklärungsfaktoren für seinen Zeitpunkt dar. Dazu zählen neben einer Heirat, dem Zusammenzug mit einem nichtehelichen Partner oder der Geburt eines Kindes (etwa Ziegler und Schladt 1993: 78) berufliche Übergänge, etwa ein mit einem Wohnortwechsel verbundener Studien- oder Ausbildungsbeginn oder die erste berufliche Tätigkeit mit regulärem Einkommen (Ziegler & Schladt 1993: 78; Mayer und Wagner 1989: 33; Aasve et al. 2002a; Lauterbach & Lüscher 1999). Mit entsprechenden Einkünften wird eine eigene Wohnung erschwinglich; der Wunsch nach dem Zusammenleben mit dem (Ehe-)Partner macht es weniger attraktiv, im elterlichen Haushalt zu verbleiben. Nach Rusconi (2006) spielt auch die regionale Herkunft eine Rolle für das Timing des Auszugs: Sowohl in Italien als auch in Deutschland ziehen Großstadtbewohner früher aus als Landbewohner, da auf dem Land traditionellere Einstellungen herrschen (Rusconi 2006).180 Zwar sind internationale Vergleiche grober, sie geben jedoch Aufschluss über die Hintergrundbedingungen, unter denen Aufschub und Destandardisierung des Auszugs aus dem Elternhaus erfolgen. Insbesondere kulturelle Kontexte (z. B. Einstellungen zu Ehe und Religion) und wohlfahrtsstaatliche Arrangements wirken auf das Alter des Auszugs junger Erwachsener ein: Verwurzelung in Religion und/oder Tradition verschieben das Auszugsalter nach oben, unter anderem, da der Auszug enger an die Heirat gekoppelt ist – hier dienen vor allem die südeuropäischen Länder als Beispiele (Rusconi 2006; Aasve et al.: 2002a). Das Niveau der (Jugend-)Arbeitslosigkeit beeinflusst die Auszugsrate, da durch Arbeitslosigkeit die finanzielle Unabhängigkeit und evtl. damit verbunden das Eingehen einer Ehe oder einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft verhindert wird (Kluve 2004: 5). Ein großzügiger Wohlfahrtsstaat (etwa in Hinsicht auf die finanzielle Förderung von Studierenden oder Auszubildenden) bei gleichzeitig sehr säkularisierter Gesellschaft führt zu früheren Auszügen (Aasve et al. 2002a; Aasve et al. 2002b). So erweist sich die Typologie der Wohlfahrtsstaaten (z. B.) nach Esping-Andersen auch für die Untersuchung des Auszugstimings als fruchtbar. Für den Geschlechterunterschied, d. h. für die früheren Auszüge von Frauen, werden in der älteren Literatur vor allem zwei Gründe genannt: Erstens wird auf die Rollenverteilung der Geschlechter verwiesen. Frauen hätten eher die Kompetenzen erlernt, die für eine eigenständige Haushaltsführung notwendig seien und würden deswegen auch im Elternhaus häufiger für hauswirtschaftliche Tätigkeiten herangezogen, was für sie die Situation zu Hause ungünstiger und einen Auszug attraktiver mache (Ziegler & Schladt 1993: 74). Zweitens, und das spielt die größere Rolle, zogen bis in die 70er Jahre in den meisten Fällen besonders Frauen aus, um zu heiraten und mit dem Partner zusammenzuziehen (z. B. 180 Für Italien ist ein Traditionseffekt gut belegt, auch hinsichtlich regionaler Unterschiede. Sowohl Rusconi (2006) als auch Lüscher und Lauterbach (1999) versäumen es, genauer zu prüfen, ob Wohnverhältnisse und Stadt-Land-Herkunft zusammenhängen.
11.3 Der Auszug aus dem Elternhaus
217
Ziegler und Schladt 1993: 82; Weick 2002: 12; Weick 1993: 105; Mayer & Wagner 1989: 33), und das Heiratsalter von Frauen liegt niedriger als dasjenige von Männern. Darüber hinaus hatten Frauen lange Zeit weniger Teil an Bildung, so dass bei ihnen die Phase des Schulbesuchs und der weiteren Ausbildung kürzer ist. Die Bildungsbeteiligung von Männern und Frauen hat sich inzwischen aber so weit angeglichen, dass von dieser Seite her eine Annäherung des Auszugsalters zu erwarten wäre. Für das Heiratsalter bzw. die erste nichteheliche Lebensgemeinschaft gilt das nicht: Die Kopplung des Auszugs zur Ehe (oder auch zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft) besteht in den meisten Studien immer noch und wird nur in einigen schwächer (Lauterbach & Lüscher 1999: 440; Rusconi 2004; Hillmert 2005: 166f), so dass darüber weiterhin ein Teil des Geschlechterunterschieds erklärt wird. Die Frage nach den Ursachen für die Verschiebung und Destandardisierung des Auszugsalters wird unterschiedlich beantwortet. Wegen der engen Kopplung von Heirat und Auszug liegt es zunächst nahe, dass eine der Ursachen im gestiegenen Heiratsalter zu suchen sei. Da die Kopplung sich aber abschwächt, überzeugt dies als Hauptursache nicht (Konietzka & Huinink 2003: 300; Corijn 2001: 6; Weick 2002: 12f): Der immer spätere Auszug wird immer weniger durch eine Heirat erklärt. Vielfach werden außerdem vor der Heirat nichteheliche Lebensgemeinschaften eingegangen, weswegen letztere für den Aufschub ausschlaggebender sein müssen. Die über die Kohorten immer großzügigere Wohnsituation bei den Eltern sowie Veränderungen beim Berufseinstieg und beim ersten Einkommen eignen sich als weitere Erklärungen. Besonders die verlängerte bzw. nach hinten verschobene Bildungsphase verzögere sowohl Auszüge als auch Ehen (und nichteheliche Lebensgemeinschaften), so vielfach die Argumentation. In den einschlägigen empirischen Modellen ist ein solcher Einfluss jedoch nicht immer eindeutig und signifikant gegeben: Während etwa Rusconi (2006) und Hullen (2001: 165f) einen signifikanten linearen Effekt herausarbeiten – je höher der tatsächliche oder geplante Bildungsabschluss, desto später wird das Elternhaus verlassen – finden sich bei Lüscher und Lauterbach (1999: 439) Hinweise darauf, dass männliche Studierende eben nicht zur Gruppe der „Spätauszieher“ gehören, während die Unterschiede zwischen anderen Bildungsgruppen gering und nicht signifikant sind. In anderen Schätzungen wiederum (Aasve et al. 2002a: 271) senkt eine sehr niedrige Bildung die Wahrscheinlichkeit des Auszugs aus dem Elternhaus. Die mit ihren Daten gestützte interessante These von Ziegler und Schladt (1993: 83) dass sich bei Studierenden der Unterschied zwischen Männern und Frauen im Zeitverlauf verringere, da studierende Männer früher und studierende Frauen später ausziehen als ihre jeweiligen Alters- und Geschlechtsgenossen, wird von anderen Studien weder eindeutig bestätigt noch widerlegt. Im folgenden Abschnitt prüfe ich zunächst die Kohorten-Unterschiede im Auszugsalter und richte dann das Augenmerk auf die gerade diskutierten, in der Literatur nicht eindeutig belegten Einflüsse von Bildungsbeteiligung und Bildungsniveau sowie auf die Kopplung zu anderen Übergängen im Lebenslauf, insbesondere zur ersten Eheschließung, zur ersten Elternschaft und zum Übergang in die Erwerbstätigkeit. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob die gefundenen Tendenzen der Destandardisierung mit einer Veränderung der Logik der Einflüsse und Verknüpfungen einhergehen. Dafür müssen einige der in der Literatur erörterten Zusammenhänge vor allem nach Kohorten differenziert betrachtet werden.
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11 Dynamik und Verknüpfungslogik familialer Übergänge in der ersten Lebenshälfte
11.3.2 Befunde Der erste Schritt der eigenen Analysen besteht darin, die Bestimmungsgründe für das Auszugsalter kohortenübergreifend zu betrachten. Dabei werden die deskriptiv im Auszugsalter gefundenen Unterschiede zwischen den Kohorten noch einmal inferenzstatistisch und multivariat überprüft. Ich beschränke die Betrachtung auf die Lebenszeit von 18 bis 35 Jahren, damit die Ergebnisse übersichtlich bleiben. So werden über 97 Prozent der Auszugsereignisse einbezogen.181 In Tabelle 11.2 werden die deskriptiv gefundenen Unterschiede im Auszugsverhalten einzeln und im Zusammenhang getestet. In bivariaten Modellen (erste Spalte) üben neben dem Alter182 das Geschlecht, die Geburtskohorte sowie die Interaktionen zwischen Geburtskohorte und Alter bzw. zwischen Alter und Geschlecht einen zumeist hochsignifikanten Einfluss auf den Übergang aus dem Elternhaus aus. Für Frauen ergibt sich eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit als für Männer, zwischen 18 und 35 Jahren von zu Hause auszuziehen. Über alle Kohorten hinweg sind im Vergleich zur Referenzgruppe der 18- bis 20jährigen die Auszugschancen der 24- bis 26jährigen am größten. Erst die 33- bis 35jährigen ziehen genauso selten aus wie die Personen bis zum Alter von 20 Jahren. Die 1920 bis 1929 geborenen Befragten verlassen den elterlichen Haushalt im Alter zwischen 18 und 35 am seltensten, im Vergleich zu dieser Referenzgruppe ist für die zwischen 1940 und 1959 geborenen ein Auszug am wahrscheinlichsten. Zwei Interaktionsvariablen kombinieren Alter in sehr groben Sechs-Jahres-Abständen mit Geburtskohorte bzw. mit Geschlecht. Mit ihnen lässt sich prüfen, ob sich der Grad der Abhängigkeit des Auszugs vom Alter zwischen den Kohorten bzw. den Geschlechtern unterscheidet. In bivariaten Modellen (Tabelle 11.2, erste Spalte) wirken sich beide Interaktionsvariablen in den meisten Ausprägungen hochsignifikant auf das Auszugsalter aus. Die Kohorten zeigen in vielen Fällen unterschiedliche Koeffizienten für die gleichen Altersstufen, d. h. es liegt tatsächlich ein Interaktionseffekt zwischen Alter und Kohorte vor oder anders formuliert: Der Einfluss des Alters verändert sich über die Kohorten. Im Vergleich zur Referenzgruppe der 18- bis 23jährigen, die 1920 bis 1929 geboren sind, zeigen etwa die 1940 bis 1949 geborenen 24- bis 29jährigen ein mehr als dreifach erhöhtes Wahrscheinlichkeitsverhältnis des Auszugs, während der entsprechende Koeffizient bei den in den 60er Jahren geborenen nur knapp über zwei liegt. Lediglich bei der ältesten der drei betrachteten Altersstufen (30 bis 35) zeigen nicht alle Kohorten signifikante Unterschiede zur Referenzgruppe. Im multivariaten Modell (Tabelle 11.2, dritte Spalte), in dem außer für diesen Interaktionseffekt auch noch für Geschlecht kontrolliert wird, verändern sich die odds ratios und ihre Signifikanzen nicht grundlegend. Die Unterschiede zwischen Kohorten treten bei Kontrolle des Geschlechts noch deutlicher hervor. Bei den in den 40er und 50er Jahren Geborenen ist die Konzentration des Auszugsereignisses auf ein bestimmtes Alter am größten. 181 Da in der Kohorte der 1970 bis 1979 geborenen Personen weniger als die Hälfte das Alter von 35 Jahren erreicht haben, wird sie hier ausgeschlossen. Ihr Einbezug wäre nur unter Einschränkung des Bereichs der betrachteten Altersstufen möglich. 182 In Anhang A4.1 wird ein Modell mit Alter nur in Ein-Jahres-Schritten aufgeführt.
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11.3 Der Auszug aus dem Elternhaus
Tabelle 11.2: Auszug aus dem Elternhaus mit Alter, Geschlecht, Geburtskohorte und Interaktionen (discrete-time models) bivariat Exp (b) Alter (Referenz: 18-20 Jahre) 21-23 24-26 27-29 30-32 33-35 Geschlecht (Referenz: männlich) weiblich Geburtskohorte (Referenz: 1920-1929) 1930-1939 1940-1949 1950-1959 1960-1969 Interaktion Alter-Geburtskohorte (Referenz: 1920-1929 geb., 18-23 Jahre) 1920-1929, 24-29 1920-1929, 30-35
multivariat ohne multivariat mit multivariat mit Interaktionen Interaktionen (1) Interaktionen (2) Exp (b) Exp (b) Exp (b)
1,85*** 2,24*** 1,85*** 1,27** 1,01
1,97*** 2,55*** 2,18*** 1,50*** 1,19
1,43***
1,63***
1,26*** 1,64*** 1,63*** 1,30***
1,40*** 1,95*** 1,96*** 1,52***
1,57*** 1,37*** 1,85*** 1,86*** 1,45***
1,80*** 1,15
1,84*** 1,16
1930-1939, 18-23 1930-1939, 24-29 1930-1939, 30-35
1,23** 2,55*** 1,78***
1,29*** 2,82*** 2,01***
1940-1949, 18-23 1940-1949, 24-29 1940-1949, 30-35
1,77*** 3,12*** 2,06***
1,89*** 3,60*** 2,36***
1950-1959, 18-23 1950-1959, 24-29 1950-1959, 30-35
1,94*** 2,70*** 1,05
2,08*** 3,10*** 1,20
1960-1969, 18-23 1960-1969, 24-29 1960-1969, 30-35
1,49*** 2,17*** 1,04
1,69*** 2,54*** 1,24
Interaktion Alter-Geschlecht (Referenz: männlich, 18-23) weiblich, 18-23
1,70***
1,76***
männlich 24-29 weiblich, 24-29
1,93*** 2,41***
2,01*** 2,74***
männlich, 30-35 weiblich, 30-35
1,23** 1,05
1,31*** 1,23*
Konstante Nagelkerkes r² n in Jahren (Personen/Ereignisse) Quelle: SOEP 1984-2004 (*p