Der Tod aus dem Norden
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 111 von Jason Dark, erschienen am 12.06.1990, Titelbild: Ste...
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Der Tod aus dem Norden
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 111 von Jason Dark, erschienen am 12.06.1990, Titelbild: Steve Crisp
Orkan über Westeuropa! Die Hölle hatte ihre Pforten geöffnet. Der Sturm wütete, er vernichtete, er hinterließ eine Spur des Grauens und brachte gleichzeitig den Schrecken einer vergangenen Epoche. Wikinger überfielen während des Orkans ein kleines englisches Küstendorf. Sie kamen, um zu morden. Sie waren schlimm, denn ihr Anführer hieß nicht grundlos Leif, der Grausame! Suko und ich fuhren nach Seabrake. Während sich mein Freund in der Gegenwart um die Brut kümmerte, reiste ich in die Vergangenheit und erlebte dort, daß die Wikinger bereits über Voodoo verdammt gut Bescheid wußten...
Die Hölle hatte ihre Pforten geöffnet! Westeuropa erlebte einen Orkan wie lange nicht mehr. Einen Jahrhundertsturm, der mit seiner zerstörerischen Wucht nicht nur das Meer zu turmhohen Wellen hochpeitschte und Schiffe in höchste Seenot brachte, nein, er wütete auch an Land wie ein vom Himmel gefallenes Raubtier. Aus wechselnden Richtungen fegte der Orkan heran. Meist aus Westen kommend, hoch über dem Atlantik aufgebaut, und die Britischen Inseln standen ihm als erstes Bollwerk im Wege. Er kannte keine Gnade. Erbarmungslos schlug er zu, zertrümmerte Häuser und riß Schornsteine um. Er wütete in Waldbeständen und hinterließ dort ebenso ein Chaos wie in Städten und Dörfern, wo Menschen zu Spielbällen wurden und einfach durch die Gegend wirbelten. Es gab Tote. Eine Familie starb in ihrem Fahrzeug, als dieses unter einem vom Sturm umgerissenen Baum begraben wurde. Auf dem Meer sah es nicht anders aus. Das Wasser kochte. Wenn der Orkan es gegen die Küste wuchtete, schien die Welt in einem gewaltigen Krachen, Donnern und Losen unterzugehen. Himmelhohe Gischtwolken verdeckten die Sicht. Schiffe, die nicht in die schützenden Häfen geflohen waren, wurden Opfer der Wellen, die sie mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit gegen die Felsen und Klippen warfen. Bei einem derartigen Orkan verkrochen sich die Menschen in ihren Häusern. Da warteten sie zitternd und betend ab, daß der Kelch noch einmal an ihnen vorbeistrich. Viele Familien verloren ihr Hab und Gut. Wie mit einem Handstreich deckte der Orkan die Dächer der küstennahen Häuser ab, aber er wütete auch tiefer im Landesinneren, wo er Schneisen in die Natur zeichnete und das Chaos noch vergrößerte. Ein Ende war nicht abzusehen. Er konnte fünf Stunden, zehn Stunden oder noch länger anhalten. Nur die älteren Menschen erinnerten sich an einen ähnlichen Orkan und erzählten dann, wie es damals gewesen war. Nach draußen wagte sich kaum jemand, abgesehen von den Fahrzeugen der Rettungstrupps. Wer eben konnte, blieb zu Hause. Diejenigen, die sehr hoch wohnten, in den Wohnsilos der Großstädte, spürten die Schwankungen besonders deutlich und hörten den Sturm trotz der geschlossenen Fenster wie ein schauriges Orgelkonzert. Wie gesagt, wer eben konnte, blieb in seinem Haus. Nur wir nicht! Es war zum Heulen. Suko und ich waren unterwegs, wir hatten London verlassen und bewegten uns im Dienstrover Richtung Süden. In seinem BMW wollte Suko nicht fahren. Der stand sicher in der Tiefgarage. Sogar das Meckern über den Dienstrover hatte er gelassen und hockte leicht grinsend neben mir, weil er wohl an sein Fahrzeug dachte.
Wie Hammerschläge erwischten uns die Böen. Sie schüttelten den Rover durch. Uns kam es vor, als würden wir in einem tanzenden Kessel auf dem Jahrmarkt sitzen, aber nicht in einem verhältnismäßig sicheren Fahrzeug auf vier Rädern. Die Geräuschkulisse war kaum zu beschreiben. Es heulte, orgelte und pfiff. Dazwischen erklang immer wieder ein lautes Rauschen, wenn mit einer gewaltigen Macht die Bäume gepackt und gebogen wurden. Auch unser Wagen wurde nicht verschont. Äste und Zweige waren an der Karosserie abgeprallt. >Nur< Lackschäden waren zurückgeblieben. Eigentlich hatten wir aber auch einen >SchadenTref-fer< erwischt. Suko fand sich auf dem Boden liegend wieder. Am Wagen zog er sich auf die Füße. Ich hatte das Heck schon erreicht und besah mir den Schaden. Groß war er nicht. Der Sturm hatte den Rover zwar herumgeworfen, aber größerer Schaden war nicht entstanden. Nur die Stoßstangc hing schief. Wir standen beide gebückt, um dem Wind so wenig Widerstand zu bieten wie möglich. »Mit dem kommen wirabernoch weiter,John.«Suko hatte sich aufgerichtet und schaute gegen den Himmel. Dort bewegten sich die Wolken in einem furiosen Wirbel. Der Wind hatte sie zu tanzenden Spielbällen gemacht. Manchmal riß der Wind regelrechte Löcher. Wir kamen uns vor, als könnten wir in die Tiefe des Alls blicken. »Los, laß uns wieder starten.« »Mit Rückenwind?« »Scherzkeks.« Flach wie ein Brett war das Land hier. Kaum Wälder, keine Ortschaften, nur Felder, hin und wieder ein einzelner Baum, der von der Wucht der Schläge geschüttelt wurde und froh sein konnte, nicht geknickt zu werden. Ich nutzte eine günstige Gelegenheit aus und lenkte den Rover wieder auf das schmale graue Band der Straße. Bisher hatten wir tatsächlich Glück gehabt, keine Hindernisse versperrten uns den Weg. Das richtige Wetter für Wikinger, um über das Land herzufallen und eine blutige Spur zu hinterlassen . . . Ich schüttelte über meine Gedanken den Kopf. Welch ein haarsträubender Unsinn - normalerweise. Die echten Wikinger waren längst ausgestorben. Ihre Nachfahren lebten in Skandinavien. »Bin mal gespannt, ob wir auch Frik, den Wikinger, sehen«, meinte Suko. »Den aus dem Film?« »Nein, den echten.« »Da gab es noch andere Häuptlinge wie Leif und Olaf.« »Und alle waren sie gleich schlimm.« »Richtig.« Suko schüttelte den Kopf. »Es ist sowieso ein Wahnsinn. Ich kann es nicht glauben.« »Ich glaube, es wird sich etwas ändern.« »Wieso?« Suko hatte nicht sehen können, was ich sah, weil er sich mit dem Handschuhfach beschäftigte. »Dann sieh doch mal hoch.«
Sukos Augen weiteten sich, als er nach oben blickte. »Von wegen, keine Wikinger, mein Freund. Da sind sie!« Suko konnte nur nicken. *** Wir hatten den Sturm vergessen, denn was wir zu sehen bekamen, war unfaßbar. Vor uns war der Himmel aufgerissen, als hätte ihn eine gewaltige Axt gespalten. Der Wind hatte die Wolkenwände wie zwei Teile eines Vorhangs zur Seite gedrückt, damit Platz für ein atemberaubendes Bild geschaffen werden konnte. Es stand eine gespenstische Projektion am Himmel. Ein gewaltiges und voll ausgerüstetes Kriegsschiff der Wikinger. Mast mit Rahsegel, ein mit Schnitzwerk verzierter Bug, was darauf hindeutete, daß ein König oder Häuptling mitfuhr. Das Heck lief spitz zu, war stark in die Höhe gezogen und mit zahlreichen Ruderriemen bestückt, an denen die starken Männer saßen. Uns blieb tatsächlich die Luft weg, weil wir mit einem derartigen Anblick nicht gerechnet hatten. Wir entdeckten keine Krieger, nur das Schiff. Es stand dort und machte auf uns den Eindruck, als würde es jeden Augenblick vom Himmel auf die Erde fallen. Suko wischte über seine Augen, hob die Schultern und meinte: »Eine Halluzination ist es nicht.« »Das kannst du wohl sagen.« »Was dann? Echt — oder . . .« »Das ist echt, Suko. Ein Wikingerschiff aus den Wolken, das eigentlich hätte auf dem Meer fahren müssen.« »Nicht bei diesem Sturm«, erwiderte Suko nicht ohne Humor. Er schüttelte den Kopf. »Sollte es der Orkan geschafft haben, Lücken in Dimensionen zu reißen?« »Glaube ich kaum. Wenn wir schon davon ausgehen, daß sich Dimensionen geöffnet haben, hätte es einen anderen Grund. Nur kann ich dir den beim besten Willen nicht nennen.« »Stimmt.« Das Schiff mit dem aufgeblähten Segel bewegte sich nicht. Es stand dort tatsächlich wie ein Hologramm. Man hätte an einen Scherz denken können, nur war das nicht der Fall gewesen, denn es hatte Tote gegeben, und mir kroch bei dem Gedanken eine Gänsehaut über den Rücken. »Was machen wir?« Ich hob die Schultern. »Bestimmt nicht entern.« »Das versuch mal.«
Die weiteren Worte erstickte der Orkan mit seiner tosenden Musik. Er hatte erneut Atem geholt, brauste heran, schüttelte unseren Rover durch und fuhr in den Himmel, um die Wolken durcheinander zu wirbeln. Sie verdeckten das Schiff. Wie ein Vorhang schoben sie sich in die Lücke. Suko und ich bekamen noch mit, wie es sich bewegte. Es schnellte aus der Lücke hervor, wurde über den Himmel getrieben — oder bewegten sich nur die Wolkenwände? Jedenfalls war das Kriegsschiff plötzlich verschwunden, und die Lücke hatte sich geschlossen. Wir hielten mitten auf der Straße und blieben noch sitzen. »Ich sehe es als eine erste Warnung«, meinte Suko. »Für wen?« »Für uns.« »Dann rechnest du damit, daß die Krieger uns entdeckt haben, obwohl wir sie nicht sahen.« »Darauf kannst du wetten, John.« Ich seufzte. »Okay, fahren wir weiter. Vielleicht setzt es noch zur Landung an.« »Aber nicht auf der Straße, bitte.« »Keine Sorge, die ist ihnen bestimmt zu schmal.« »Der Tod aus dem Norden«, sagte mein Freund. »Hast du gesehen? Das Boot stand im Norden.« »Genau da war die Heimat der Wikinger, bevor sie zu ihren Raubzügen aufbrachen, die sie bis an die amerikanische Küste führten.« »Vergiß Rußland und Germany nicht.« »Stimmt.« Ich startete den Rover. Gegen die Kühlerfront wehte der starke Wind. Ich hatte Mühe, wegzukommen. »Wie weit noch?« fragte ich. Suko schaute auf die Karte. »Nicht mehr als sieben, acht Meilen. Dann sind wir an der Küste.« »Okay.« Ich gab wieder Gas. Schon oft hatten wir uns in dieser Gegend befunden, aber das Meer bei einem derartigen Orkan zu erleben, war uns bisher nicht vergönnt gewesen. Da verwandelte sich die See tatsächlich in eine kochende Hölle. Noch mußten wir fahren. Der Regen hatte aufgehört. Die Luft schien uns glasklar zu sein. Wenn das Grau der Wolkendecke aufriß, erfaßten unsere Blicke die gesamte Weite des vor uns liegenden Landes. Seine Formation änderte sich etwas. Es blieb nicht mehr so eben. Wir schauten zwar auf keine Berge, doch es gab unzählige Hügel, die der Gegend einen Mittel-gebirgscharakter verliehen. Auch Gebäude konnten wir sehen. Mehr Schuppen oder Scheunen als Häuser, die dem Sturm schutzlos ausgeliefert waren und dementsprechend aussahen. Dächer waren zum Teil abgedeckt. Der Orkan hatte Stücke von ihnen wie mit einer Riesenhand einfach weggeputzt. Zwei andere Schuppen
waren komplett zerstört worden. Was übrig geblieben war, verteilte sich in einem großen Umkreis. Das Haus nahe der Straße stand noch. Seine Mauern waren aus dicken Steinen errichtet worden. Darüber befand sich das mit Reet gedeckte Dach, das auch gehalten hatte, aber jetzt aussah wie eine völlig zerwühlte Frisur. Wir wären vorbeigefahren, hätte uns nicht das Licht aufmerksam werden lassen, das hinter den Scheiben tanzte. »Da wohnt jemand«, sagte Suko. Ich ging bereits vom Gas und ließ den Rover ausrollen. »Den werden wir uns ansehen.« »Vielleicht weiß er mehr über die Wikinger.« Von der Straße ab führte ein schmaler Weg zum I laus. Er war mit Gras bewachsen, aber auch mit vom Sturm losgerissenen Ästen und Zweigen übersät. Eine ungastliche Stätte, besonders bei diesem Wetter. Ich parkte den Rover ein Stück vom Haus entfernt. Wir stiegen aus, duckten uns tief und liefen der Haustür entgegen, die glücklicherweise noch vorhanden war. Sie hatte dem Winddruck standgehalten. Der Orkan pfiff um die Hausecken. Ergab Geräusche von sich, die mich an das hohl klingende Pfeifen einer alten Panflöte erinnerten. Suko war bis zur Scheibe vorgegangen. Ich duckte mich und wurde laufend von Strohstücken getroffen, die der Sturm aus dem Reetdach löste. Irgendwann würde er das ganze Dach abgedeckt haben. »Hast du jemanden gesehen, Suko?« brüllte ich gegen den Sturm an. »Nein.« Suko kam auf mich zu. Ich war vor der Haustür stehengeblieben, wo weder eine Klingel noch ein Klopfer vorhanden waren. Deshalb rammte ich die Tür kurzerhand auf. Da der Wind genau in diese Richtung blies, hatte ich Mühe, die Klinke zu halten. Der Sturm fand freie Bahn. Das Licht flackerte, einige Kerzenflammen verlöschten, und dann war auch schon Suko im Haus und hatte die Tür zugerammt. • »Wenn ihr weitergeht, kille ich euch!« Mit dieser Begrüßung hatte keiner von uns gerechnet. Die Stimme des Mannes hörte sich an, als verstünde er keinen Spaß. Wir sahen ihn links von uns. Dort befand sich der wohl einzige Raum. In ihm wurde gekocht, geschlafen und gewohnt. Der Mann hockte an einem Tisch. Im Hintergrund brannten noch einige Kerzen. Der Kamin war kalt. Das Gewehr hatte der Mann aufgestützt. Eine alte Jagdflinte, ziemlich schwer. Das schwarze Mündungsloch bewegte sich zitternd, zeigte einmal aul muh, dann auf Suko. Beide hatten wir sicherheitshalber die Hände erhoben. Der Mann war in der Dunkelheit schwer zu erkennen. »Was wollt ihr liier?«
»Wir sahen Licht«, sagte Suko. »Na und?« »Da hatten wir eben das Gefühl, nachschauen zu müssen.« Die Erwiderung blieb aus. Wir hörten ihn schwer atmen. »Dann . . . dann gehört ihr nicht zu denen?« »Wie meinen Sie das?« fragte ich. »Die Gestalten, die aussahen wie Wikinger. Verdammt, sie waren hier, Sie haben . . .« Er konnte nicht weitersprechen. Die Waffe war zu schwer für ihn geworden. Zuerst zitterte sie nur, dann schwankte sie und fiel schließlich auf die Tischplatte, über deren Kante sie hinwegrutschte und auf dem Steinfußboden liegenblieb. Der Mann weinte. Er saß steif am Tisch. Aus seinen Augen flössen die Tränen wie Rinnsale, der Mund zuckte. Dann senkte er sehr, sehr langsam den Kopf und vergrub sein Gesicht in den auf dem Tisch liegenden angewinkelten Armen. Wir schauten uns an. Dieser Mensch mußte Schlimmes erlebt haben, daß er so reagierte. Obwohl draußen der Orkan wütend tobte, kam es uns hier im 1 laus still vor. Von zwei Seiten näherten wir uns dem Weinenden. Neben ihm stoppten wir. »Wollen Sie uns nicht erzählen, was geschehen ist?« fragte ich, während Suko die Dochte der Kerzen wieder anzündete. »Nein.« »Aber.. .« ■»John, komm her.« Sukos Stimme klang beängstigend ruhig. Ich ging zu ihm. Durch das Kerzenlicht hatte er eine bessere Sicht bekommen, und ich sah sehr bald, was er gemeint hatte. Auf einem Feldbett lag eine Tote in ihrem Blut! Sie war von einer mörderischen Waffe umgebracht worden, wahrscheinlich einer Streitaxt. Ich ballte vor Wut die Hände zu Fäusten. Das sah mir nach einem brutalen Überfall der Wikinger aus. Hinter uns war das Orgeln des Sturms lauter zu hören. Es lag daran, daß eine Leiter zu einer offen Dek-kenluke hochführte. Der Kerzenschein leuchtete den Raum unter dem Dach zwar nicht aus, reichte jedoch so weil, daß ich das Schreckliche sehen konnte: Am Rand der Luke pendelten zwei Füße! Ich atmete hörbar tief durch, bevor ich Suko anstieß und in die Höhe deutete. »Mein Gott«, hauchte er nur. »Ich schaue nach.« »Okay.« Mein Freund ging auf den weinenden Mann zu, um ihn zu trösten und gleichzeitig etwas zu erfahren. Die Leiter war so stabil gebaut, daß sie mein Gewicht hielt. Beim Hochsteigen bogen sich die Sprossen nicht einmal durch. Ich war sehr
vorsichtig. Im Nacken spürte ich das Ziehen, so etwas wie eine Warnung vor einer bestimmten Gefahr. Mit der Beretta in der Rechten schob ich die Hand und meinen Kopf über den Lukenrand hinweg, schaute sofort nach links und rechts, nahm aber nur den Geruch des feuchten Strohs und das Jaulen des Windes wahr. Der Mann hing rechts von mir. Man hatte ihn kurzerhand aufgeknüpft. Sein Gesicht sah schlimm aus, denn in den starren Zügen spiegelte sich noch die Anstrengung des Todeskampfes wider. Es kostete mich Überwindung, aber ich fühlte nach der Körpertemperatur. Der Tote war schon kalt, demnach mußte er schon einige Stunden hier oben hängen. Die Wikinger, die Wilde Horde, die blutrünstige Schar - die Begriffe jagten durch meinen Kopf. Sie waren gekommen, hatten vielleicht geplündert, aber auch getötet. Ich dachte an das Schiff und daran, daß wir an Deck keine Krieger gesehen hatten. Sie waren aber da, denn diese Spuren ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Mir gefiel die Düsternis hier oben nicht. Das Dach zeichnete sich als Schatten über meinem Kopf ab. Manchmal bewegte es sich. Der Sturm zerrte an dem harten Reetstroh. Ein paar Lücken hatte er bereits gerissen. Ich holte die Lampe hervor und leuchtete den Speicher aus. Hier oben standen alte Truhen und Kartons. Sie waren gefüllt mit allerlei Krempel, und auch eine alte Liege entdeckte ich. Daneben stand eine Truhe im spitzen Winkel zur Wand. Die Truhe bewegte sich plötzlich. Ich hatte sie nicht angeschoben. Hinter ihr mußte jemand hocken. Ich ging einen Schritt zurück, fast bis an den Rand der Luke, und zielte mit der Beretta in diese Richtung. Gleichzeitig leuchtete ich noch hin. Die Truhe rutschte nicht mehr. Von unten hörte ich Sukos und die Stimme des Fremden. Was sie besprachen, war für mich nicht zu verstehen. Ich wollte näher an die Truhe heran. Der durch die Ritzen fegende Wind hatte sie bestimmt nicht bewegt und schleuderte sie auch nicht in die Höhe, was jetzt plötzlich geschah. Sie flog auf mich zu, war nicht so schnell wie ein Messer, dafür größer von den Umrissen her, und ich hatte Mühe, dem kompakten Geschoß auszuweichen. Fast hätte ich mich in die falsche Richtung geworfen, fing mich aber noch und sprang nach links, wo ich gegen das Gebälk krachte und mitbekam, wie eine furchterregende, mit einem Fell bekleidete Gestalt vom Boden her in die Höhe schnellte und sich mir entgegenwarf. Bewaffnet war der langhaarige Wikinger-Krieger mit einer Streitaxt, deren Klinge einen Schädel spalten konnte.
Er hämmerte die Waffe nach unten, ohne mich überhaupt treffen zu können. Wahrscheinlich wollte er mir nur eine Demonstration seiner Macht zeigen. Ich trat ihm seitlich in den Bauch. Er keuchte nicht einmal, sondern fuhr herum und holte zu einem erneuten Schlag aus. Noch einmal trat ich zu. Diesmal erwischte ich ihn zwischen den Beinen. Der Treffer schleuderte ihn zurück, über den Rand der Luke hinweg, gegen die schräge Leiter, deren Sprossen federten, als er nach unten stürzte und auf den Rücken krachte. Natürlich hatte Suko den Kampf mitbekommen. Blitzschnell war er auf den Beinen, während der trauernde Mann starr hockenblieb. Auch der Wikinger stand auf. »Pack ihn, Suko!« schrie ich. »Und ob!« Mein Freund warf sich dem Krieger entgegen, als dieser wieder zuschlug. Der Inspektor packte dessen Arm in halber Höhe, drehte ihn. Ich hörte es knacken. Er bückte sich und schleuderte den Wikinger mit einem Schulterwurf derart schwungvoll über sich hinweg, daß der Mann dicht neben der Tür zu Boden prallte. Aber er war sofort wieder auf den Füßen. Fr packte die Streitaxt und holte aus, wobei er sich um seinen lädierten Arm nicht kümmerte. Er zielte auf den Mann am lisch. Da schoß ich. Die Beretta zeigte über den Lukenrand hinweg schräg in die Tiefe. Ich konnte ihn nicht verfehlen. Schwer durchschlug die Kugel das Fell und klatschte in seinen Körper. Er schrie nicht einmal, als ihn die Wucht des Silbergeschosses gegen die Tür schmetterte, an der er für einen Moment wie angenagelt zu stehen schien, bevorer in die Knie sackte und mit dem Gesicht zuerst auf den Boden knallte. Reglos blieb er liegen. Ich schluckte hart, bevor ich die noch heil gebliebene Leiter nach unten stieg. »Das war der Killer«, sagte ich leise zu meinem Freund. Suko schwieg und nickte. Er hatte seinen Blick auf den Mann gerichtet, der nicht mehr weinte und ins Leere stierte. »Er heißt Clive Braddock und ist der Sohn der beiden Leute, die hier wohnten. Er hat die Eltern tot vorgefunden.« »Das dachte ich mir.« Einen Kerzenständer hatte der Wikinger bei seinem Fall umgerissen. Ich stellte ihn wieder auf. Neben dem Wikinger blieb ich stehen. Die geweihte Silberkugel hatte sich tief in seinen Körper gebohrt. Wenn er ein Zombie, ein Untoter war, mußte sie sein Dasein entgültig ausgelöscht haben.
Die Gestalt war ziemlich schwer. Es kostete mich Mühe, sie auf den Rücken zu drehen. Dann starrte ich in das Gesicht - und bekam einen Schock! Ich hatte ihn unter dem Dach nicht genau erkennen können, aber so wie jetzt hatte das Gesicht des Kriegers nicht ausgesehen. Es hatte sich in eine schaurige Totenmaske verwandelt, in der die Augen fehlten und nur mehr leere Höhlen zurückgeblieben waren. Es war auch keine Haut vorhanden. Seine Körperoberfläche glänzte eigenartig, so, als hätte ihn jemand mit Fett eingerieben. Mit dem Fingerknöchel klopfte ich dagegen und bekam ein hohles Echo zu hören. Suko trat an mich heran und schaute auf den Krieger. »Er sah zuvor anders aus - oder täusche ich mich?« »Nein. Meine Kugel hat ihn verändert. Sie hat die Haut hart werden lassen.« »Wie'so?« »Ich weiß es nicht.« Um die Festigkeit feststellen zu können, klopfte ich mit dem Berettagriff dagegen. Schon beim ersten Schlag hörten wir das Splittern. Die rechte Gesichtshälfte und ein Teil der Nase waren zerstört worden. Ich nahm eine >Scherbe< hoch, reichte sie an Suko weiter, der sie ebenfalls betastete und keine Lösung wußte. »Sorry, John, ich habe keine Ahnung, was das für ein Material ist.« »So also reagiert geweihtes Silber bei Wikinger-Zom-bies«, murmelte ich. »Vorausgesetzt, es war einer.« »Und ob, mein Lieber!« widersprach ich heftig. »Oder glaubst du, daß sich da jemand verkleidet hat?« »Jetzt nicht mehr.« »Eben.« Ich schob die Gestalt von der Tür weg und hörte Suko murmeln: »Warum nur der Kopf und nicht der Körper?« »Keine Ahnung. Lins aber ist sicher, Alter, wir werden das schon herausbekommen.« »Und was machen wir mit Braddock?« »Wollte ich dich gerade fragen. Wo wohnt er denn? Doch nicht etwa hier im Haus?« »Nein, in Seabrake.« »Trifft sich gut, da wollten wir auch hin.« »Doch er ist nicht ansprechbar.« Suko hob die Schultern. »Kein Wunder, der hat einen Schock bekommen. Er wollte seine Eltern besuchen und hat sich bis hierher durchgeschlagen. Er fand sie tot.« »Was ist mit den Wikingern gewesen? Hat er sie zu Gesicht bekommen?« »Einige.« »Wie das?«
»Sie befanden sich auf dem Rückzug, aber einer ist zurückgeblieben. Wahrscheinlich, um Clive zu töten. Wir sind ihm wohl in die Quere gekommen.« In meiner nächsten Frage klang Spott mit: »Sind die Kerle zu ihrem Schiff gelaufen?« »So ist es John.« »Moment mal, ich ...« »Sag nichts, Alter. Das Schiff ist tatsächlich gelandet oder hat hier auf dem Boden angelegt. Braddock hat davon gesprochen. Er konnte es noch sehen.« Ich strich durch mein Haar. »Wie wir«, murmelte ich. »Verdammt noch mal, das stößt mir bitter auf. Ich komme mir vor, als hätte ich etwas falsch gemacht.« »Was denn?« »Keine Ahnung. Ich hoffe nur, daß er mit uns fährt. Weißt du, ob er Familie hat?« »In Seabrake. Frau und Kinder. Denen ist aber nichts passiert. Ich konnte nicht mehr weiterfragen, er war nicht in der Lage, mir Antworten zu geben.« »Klar.« Ich ging und blieb vor dem alten Tisch stehen, an dem Clive Braddock noch immer hockte. Er mußte mich sehen, nur nahm er mich nicht zur Kenntnis. Seine Pupillen waren glanzlos. Auch als ich ihn berührte, zuckte er nicht einmal zusammen. Kurzentschlossen löschte ich die Kerzen, bis auf zwei. Über den Raum legte sich eine flackernde Düsternis, und die kleinen Fensteröffnungen brachten auch kaum Licht. »Mr. Braddock«, sprach ich ihn leise an. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie mit uns kämen.« »Wohin?« »Nach Hause, nach . . .« »Da sind sie auch!« flüsterte er tonlos. »Sie sind überall. Sie kamen aus den Wolken und brachten das Grauen. Unser Pfarrer erzählte, daß sie der Orkan aus den Schlünden der Hölle in diese Welt getrieben hat. Ja, das erzählte er.« »Haben Sie das geglaubt?« »Was sonst?« »Dann werden wir mit dem Pfarrer reden.« Allmählich löste sich der Schock. Er strich über seine Stirn. »Beide sind sie tot«, sagte er. »Meine Eltern haben hier gelebt. Ich wollte nur nach ihnen sehen, jetzt sind sie.. .« »Wir bekommen die Mörder.« Er drehte mir seinen Kopf zu. Dann schaute er mich mit einem Blick an, der mir schon unangenehm war, denn es war zu erkennen, daß er mich für einen Spinner hielt. »Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben, Mr. Brad-dock, tut mir leid.« »Sie sind fremd.« »Sicher.«
»Dann werden Sie vielleicht einen Rat annehmen. Verschwinden Sie am besten. Die Gefahr ist zu groß.« »Vielleicht sind wir gerade ihretwegen gekommen«, sagte Suko, der unserem Gespräch gefolgt war. Braddock gab keine Antwort. Er stand auf und holte seine dicke Jacke von einem Haken. Dabei vermied er es, einen Blick auf seine tote Mutter zu werfen. »Das hat ja einigermaßen geklappt«, flüsterte Suko. »Es bleibt nur noch zu hoffen, daß wir nicht wegfliegen.« Braddock drehte sich. »Wenn wir nach Seabrake fahren, müssen wir an der Küste vorbei. Die Straße ist überschwemmt. Wasser, Schlamm und Geröll liegen dort.« »Also unpassierbar?« fragte Suko. »Bestim nit.« Ich schenkte Braddock ein freundliches Lächeln. »Lassen wir es darauf ankommen.« Er sagte nichts mehr. Vor mir stand ein gebrochener Mann, der in wenigen Minuten gealtert war. Sein braunes Haar hing wirr in die Stirn. Im Nacken wuchs es wie ein dichter Pelz. Die Nase saß etwas schief in seinem aufgequollenem Gesicht, das noch von den Tränenspuren gezeichnet war. Mit der Zungenspitze fuhr er nervös über seine Lippen. Die Hände mit den klobigen Fingern schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich ebenso schnell wieder. Suko umfaßte mit seiner Hand Braddocks Arm. Er wollte den Mann zur Tür führen. Ich hatte die letzten Flammen gelöscht und war schon vorgegangen. Die Leichen mußten ebenfalls abgeholt werden. Das allerdings konnte bei diesem Orkan dauern. Ich wußte, daß es Überschwemmungen gegeben hatte. Glücklicherweise nicht in dieser Gegend. Wir durften nicht klagen, weil wir uns noch relativ gut bewegen konnten. Ich zerrte die Tür auf. Sofort packte mich der Sturm. Er tobte heulend um meinen Kopf. Unzählige unsichtbare Hände griffen in mein Haar, als wollten sie es mir von der Kopfhaut zerren. Der Wind biß in mein Gesicht und brannte in den Augen, die schnell anfingen zu tränen. Das alles kümmerte mich nicht, denn ich starrte nur auf den Gegenstand, der etwa in der Höhe der Straße einen Yard über dem Asphaltbelag schwebte und sich einen Teufel um den Orkan kümmerte. Es war das Schiff der Wikinger! Sie hatten die Toten in Särge gelegt und diese in die Kirche gestellt, die zu einem Ort der Trauer geworden war. Reverend Castor hatte Mühe gehabt, die Menschen zurück in ihre Häuser zu bitten, denn viele wollten Totenwache halten.
Vier Leichen lagen in der Kirche. Unter anderem auch der Konstabier des Ortes. Ein Baumast hatte ihn mit mörderischer Wucht getroffen und erschlagen. Kurz vor seinem Ende hatte er noch eine Alarmmeldung nach London abgeben können, danach war er dann gestorben. Der Orkan tobte noch immer. Was nicht niet- und nagelfest war, hatte dem mächtigen Wind nicht trotzen kein neu und war einfach fortgerissen worden. Viele Häuser standen nur mehr zur Hälfte. Bei anderen waren Dächer weggeflogen, Scheiben eingedrückt und Mauerwerk eingestürzt, als hätten die Fäuste eines Riesen gegen die Häuser geschlagen. Es war für keinen ein Trost, auch für den Reverend nicht, aber der Konstabier war von den vier Toten als einziger auf >natürliche< Art und Weise ums Leben gekommen, die drei anderen nicht. Man hatte sie umgebracht! Aus dem Nichts waren die Gestalten der Wikinger erschienen und über den kleinen Ort an der Küste hergefallen. Der Angriff hatte kaum eine Minute gedauert, drei Menschenleben gekostet und zahlreiche Verletzte gefordert. Dann waren sie ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Sie hatten ihr mächtiges Drachenschiff geentert und sich von den mächtigen Windstößen hinforttragen lassen. Für Reverend Castor war dieser Vorgang ebenso unbegreiflich gewesen wie für die anderen Menschen im Ort. Sicher, er hatte nach einer Erklärung gesucht, aber keine gefunden. Sein Job war es, die Menschen zu Gott zu führen. Er war erst dreißig Jahre, neu im Ort und glaubte nicht an Spukgeschichten oder an die Hölle, wie sie so oft dargestellt wurde. Im Gegensatz zu den Bewohnern. Sie lebten verhältnismäßig einsam und glaubten noch an die Kräfte der Natur, vor allen Dingen an die des Meeres, das ihr ständiger Begleiter war. Von der Geburt an bis hin zum Tod. Was war von diesem Überfall zu halten? Gab es tatsächlich eine Hölle, die Pforten geöffnet und Tote zu Lebenden gemacht hatte, um normale Menschen heimtückisch zu überfallen? Reverend Castor wußte es nicht. Er war ebenso hilflos wie die anderen. Eine Lösung konnte er nicht bieten. Er hatte dafür gesorgt, daß die vier Särge geschlossen wurden, denn der Anblick der Toten war einfach furchtbar. Die Wikinger hatten die zwei Männer und die Frau mit Schwert und Streitaxt getötet. Da waren die Chancen zu überleben gleich Null gewesen. Noch einmal überprüfte der Reverend das Schloß der Kirchentür. Er hatte den Schlüssel zweimal gedreht. Wer jetzt die Kirche auf dem normalen Weg betreten wollte, mußte die Tür schon aufbrechen. Immer noch heulte und tobte der Orkan. Selbst die dicken Mauern des Gotteshauses konnten die Geräusche kaum mildern. Der Wind fegte um die Ecken, schüttelte die nahe an der Kirche stehenden Bäume und
schlug deren Äste gegen das Mauerwerk, an die sie wie mit langen Totenfingern kratzten. Es gab noch einen zweiten Ausgang. Da mußte der Reverend durch die Sakristei gehen. Sie befand sich in einem kleinen Anbau an der Westseite der Kirche. Dort hing auch der dicke Mantel des Pfarrers. Er zog ihn sich an, band sich den Schal um und streifte seine Wollmütze über den Kopf. So gerüstet hoffte er, dem Sturm widerstehen zu können. Er sah es einfach als seine Pflicht an, durch den Ort zu gehen und den Bewohnern - wenn nötig - Trost zu spenden. Der scharfe Wind riß ihm fast die Tür aus der Hand. Er hatte Mühe, die Klinke zu umklammern, die Tür wieder zu schließen und den Schlüssel zweimal zu drehen. Über ihm klapperte das kahle Geäst der Bäume, Zweige schlugen gegeneinander. Er hörte auch das morsche Knarren und sprang instinktiv zurück, damit er sich mit dem Rücken gegen die Kirchenmauer pressen konnte. Das war sein Glück, denn ein wütender Windstoß hatte einige Äste gelöst und zu Boden geschleudert. Nicht weit von Pfarrer Castor entfernt waren sie gelandet. Die hätten ihn nicht nur ankratzen, sondern auch verletzen können. Der Reverend wartete die nächste Minute noch ab. Als sich nichts getan hatte, verließ er seinen Platz. Er hatte vorgehabt, schnell durch das Dorf zu gehen. Leider war es nicht möglich. Auf dem Kirchplatz bekam er den Orkan zum ersten Mal am eigenen Leib zu spüren, denn er konnte dem heranfauchenden Wind nichts mehr entgegensetzen. Der Schwall riß ihn einfach von den Beinen. Castor fiel zu Boden, wo ihn ein erneuter Windstoß erwischte und um die eigene Achse schleuderte. So rollte er weiter bis an die Mauer des Kirchplatzes, wo der Sturm schon einen Haufen Äste und Zweige hingeweht hatte. Bis auf ein paar wenige Kratzer im Gesicht war dem Geistlichen nichts geschehen. Es hätte ihn auch schlimmer erwischen können. Mühsam stemmte er sich auf die Beine und blieb im Windschatten der Kirchplatzmauer, weil er hier mehr Schutz fand als auf der freien Fläche. Langsam und sich gegen den scharfen Wind anstemmend, ging er weiter. Der Sturm konnte einem Menschen den Atem rauben. Manchmal wuchteten die Böen derart stark heran, als wollten sie alles hinwegfegen. Der Sturm steckte mit dem Teufel und seinen Schergen im Bunde. Langsam glaubte auch Castor daran. Die Straße vor dem Kirchplatz führte in südlicher Richtung direkt bis zum Strand. Gesäumt wurden sie von kleinen Häusern, wobei jeder Bau unter dem Orkan gelitten hatte. Auch die Kirche war nicht verschont geblieben.
Von ihr fehlte ein Stück des Turms. Die Trümmer hatten glücklicherweise keinen Menschen verletzt und verteilten sich in einem großen Garten. Wieder wurde es Nacht. Die mächtigen Wolken legten einen dunklen Vorhang über den Himmel. Castor wußte Bescheid, was folgen mußte, da er es schon zweimal erlebt hatte. Und es geschah auch diesmal. Urplötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen. Tonnenweise stürzten die Wassermassen herab. Der Wind packte sie, schleuderte die Wasserwand waagerecht über das Land, so daß sie aussah wie ein gewaltiger Vorhang, der einfach nicht abreißen wollte. Der Reverend ärgerte sich, nicht in der Kirche geblieben zu sein. Er mußte Schutz finden, rutschte das nasse Kopfsteinpflaster der Straße hinab und erreichte schon bald die Uferstraße, die ein Bild des Chaos bot, denn der Orkan hatte einige Bäume gefällt und die mächtigen Riesen quer über die Fahrbahn geschleudert. Die Häuser in Strandnähe litten am meisten. Ihre Fronten waren dem Orkan schutzlos ausgeliefert und zeigten an den Hauswänden auch Beschädigungen von umgestürzten Bäumen, deren Äste sich durch die immense Wucht wie Messerstiche in das Mauerwerk gebohrt hatten. So etwas war eigentlich unvorstellbar, aber geschehen. Der Reverend gab nicht auf. Sein Mantel war längst naß und zu einem Lappen geworden. Castor kämpfte sich bis zu einem bestimmten Haus hin durch, das ebenfalls an der Uferstraße stand, aber nicht so stark beschädigt war wie andere. Bei ihm fehlten nur einige Stücke aus dem Dach. Der Ire Logan führte dort das Regime. Er hatte sich mal aus Spaß als Pubierbezeichnet, weil ihm der Begriff Kneipenwirt nicht so zusagte. Seitdem hieß er nur noch Pubicr. Man hatte den Reverend schon kommen sehen. Logan persönlich, ein rothaariger Riese, half ihm beim Öffnen der schweren Holztür, und Castor stolperte in den von Kerzen erhellten Raum, denn der elektrische Strom war ausgefallen. Die Kerzen standen auf einem Wagenrad, das von der Decke hing. Einige flackerten noch, und Castor atmete tief durch, bevor er sich nahe der Theke auf einen Stuhl fallen ließ. Einige Gäste hockten zusammen. »Sie haben Gottvertrauen, Reverend«, sagte jemand, der als reich galt, weil er drei Boote sein eigen nannte — bis der Orkan sie zertrümmert hatte. »Ich kann mich ja nicht nur verstecken.« »Stimmt.« Die Männer hoben ihre Gläser. Frauen saßen nicht im Pub. Logan brachte dem Mann ein Bier. »Oder wollen Sie lieber einen Gin, Reverend?« »Den zuerst.«
»All right.« Logan stieß hörbar auf. »Noch kann ich das Bier durch Eis kühlen, das wird bald auch vorbei sein.« »Dann gib noch mal 'ne Runde!« rief jemand. »Vielleicht ist es unsere letzte. Wenn die Horde zurückkehrt, sind wir alle geliefert, das schwöre ich euch.« Der Mann, der gesprochen hatte, trug eine Schirmmütze. Sein Gesicht sah aus wie die furchige Oberfläche des Mondes. Er war mal Bürgermeister gewesen. »Du solltest nicht spotten«, rief der Reverend. »Das mache ich auch nicht. Ich sehe die Dinge sogar ziemlich gelassen. Aber was ich sagte, ist eine Tatsache.« Castor konnte nicht widersprechen, kippte den Gin und ließ seine Blicke durch die verräucherte Kneipe wandern, in der das Holz an den Wänden und die Balken unter der Decke schon eine schwarze Patina angesetzt hatten. Die Hinterlassenschaft des Tabaks. Seufzend stellte er das Glas zur Seite. Mit einem Taschentuch wischte er die letzten Tropfen aus dem Gesicht. »Vielleicht haben wir noch eine Chance, gegen die Wikinger-Brut anzugehen.« Zahlreiche Augenpaare starrten ihn an. Auch der Pubiethinter der Theke wirkte wie mit dem Zapfhahn verwachsen. »Sagen Sie das noch mal, Reverend.« »Es haben alle verstanden.« Castor wirkte im Vergleich zu den kernigen Bewohnern schmal und schüchtern. »Aber uns fehlt der Glaube«, meldete sich ein weiterer. »Wir konnten noch eine Nachricht nach London absetzen und um Hilfe bitten.« Nach diesen Worten erdröhnte der Raum unter Gelächter. Keiner wollte es glauben. »Laßt mich ausreden. Ich weiß, was ihr denkt. London kümmert sich nicht um uns. Die haben ihre eigenen Probleme. Wahrscheinlich wissen die Menschen dort nicht einmal, wo Seabrake liegt. Alles gut und schön. Aber in London gibt es auch einen Mann, der auf gewisse übersinnliche Dinge spezialisiert ist. Ich habe selbst in London gelebt und von ihm gehört.« »Wie heißt der Knabe denn?« »John Sinclair.« Damit konnten die Männer nichts anfangen. »Ist das auch ein Pfarrer oder so ähnlich?« »Nein, er ist Polizist, Yard-Mann.« »Ein Bulle!« keuchte der Pubier. »Na und?« »Bullen haben uns noch gefehlt. Diese arroganten Großstadtpinkel, die immer so tun, als müßten sie irgendwelchen Serienstars nacheifern. Nein, damit lockst du uns nicht hinter dem Ofen vor, Reverend, damit nicht.« »Auch nicht, wenn er uns helfen kann?«
Logan breitete die Arme aus. »Wie denn, zum Teufel? Wie soll er uns helfen können? Den Wind beschwören und ihn bitten, daß er einschläft. Soll er uns so helfen?« »Das nicht gerade.« »Wie dann?« Castor hörte deutlich den aggressiveren Tonfall. Das erschreckte ihn aber nicht. Außerdem hatte er den Kon-stabler dazu überredet, sich mit London in Verbindung zu setzen. »Hört zu, Leute, gegen die Gewalten der Natur kommt wohl keiner von uns an. Aber als ich dem Konstabier riet, in London anzurufen, ging es mir nicht um den Orkan. Wir müssen daran denken, daß die Wilde Horde über unsere Stadt gekommen ist. Wikinger, die es eigentlich nicht geben darf, haben drei Tote auf dem Gewissen, und die werden zurückkehren, und wir werden wieder so hilflos sein wie beim ersten Angriff. Dem wollte ich vorbeugen, Männer, nur dem.« Ob die Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren, konnte Castor nicht erkennen. Jedenfalls hatte er die Männer zum Nachdenken gebracht, was immerhin etwas war. »Sind die denn um so vieles besser als wir?« fragte der ehemalige Bürgermeister. »Das weiß ich nicht.« Der Reverend war ehrlich. »Eines haben sie uns allerdings voraus: Erfahrung im Umgang mit unerklärlichen Mächten und Gewalten.« Ein kleiner Mann, der bisher noch nichts gesagt hatte, war aufgestanden. Er wischte über seine Glatze. »Ist das so 'ne Teufelsaustreiber, Reverend?« »Nein, Jorge.« »Was dann?« »Man nennt John Sinclair den Geisterjäger. Er ist auch nicht allein. Bestimmt wird ihn ein Kollege begleiten. Ich glaube einfach daran, daß wir eine Chance haben, wenn sie hier sind.« »Dazu müssen sie durch den Orkan.« »Leider.« »Wann könnten sie denn kommen?« fragte der Pubiemach einer Weile. »Auf eine Zeit wollte man sich nicht festlegen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß sie zu feige gewesen sind. Die Männer sind sicherlich unterwegs. Ich rechne damit, daß wir sie heute abend begrüßen können. Jedenfalls werde ich auf sie warten.« Das lange Sprechen hatte Castor durstig gemacht. Er griff zu seinem Glas und nahm einen langen Schluck vom dunklen Bier. »Ist ja auch egal«, meinte Jorge. »Was soll uns schon groß passieren? Ob da nun zwei mehr oder weniger im Ort sind, spielt wohl kaum eine Rolle.« Die anderen schwiegen. Einige tranken ihr Bier, andere schauten zu den Fenstern, vor denen sich der Sturm nach wie vor mit ungebrochener Wucht austobte.
Der Regen hatte aufgehört. Die Sicht war etwas besser geworden. Bleischwer lagen die Wolken am Himmel. Dazwischen jedoch schimmerten helle Flecken, manche von ihnen sehr breit und streifig. Die Sonne lugte nicht hindurch, aber es fiel trotzdem etwas Licht in die Tiefe und damit auch auf die haushohen Wellen, die mit unverminderter Wucht gegen die Küste getrieben wurden, das Land überschwemmten und gewaltige Gischtfontänen hoch wirbelten, die auch den Ort nicht verschonten und als schwere Brecher über die Uferstraße fegten. Der kleine Hafen lag weiter rechts, vom Pub aus nicht einsehbar. Nur wußte jeder, daß der Sturm auch dort schwere Schäden hinterlassen hatte. Die Kaimauer war nicht mehr als ein Witz gewesen. Sie war kurzerhand überspült worden, und die brodelnde See hatte die Schiffe förmlich gefressen. Manchmal entstanden >Lücken< innerhalb der Sturmhölle. Und eine solche nutzte das Meer, um etwas gegen das Ufer zu spülen, das von den aus den Fenstern schauenden Gästen zuerst nicht identifiziert werden konnte. Es erinnerte sie an einen breiten, teerartigen, dabei glänzenden Gegenstand, der auch eine gewisse Ähnlichkeit mit einem erschlafften Heißluftballon besaß. »Da . . . da . . . kommt was auf uns zu! Ein Ungeheuer!« »Ja!« schrie Jorge. »Das hat die Hölle ausgespien. Jetzt ist es soweit, verflucht!« Keinen hielt es mehr an seinem Platz. Die Männer drängten sich vor den Fenstern zusammen, auch der Reverend wollte einen Blick darauf werfen. Eingebildet hatte sich niemand etwas. Die See steckte dermaßen voller Kraft und war so aufgewühlt worden, daß sie mit den größten Säugetieren so umging wie mit kleinen Fischen. In den Klauen der Wellen befand sich ein kapitaler Blauwal! Er versuchte verzweifelt, der Gefahr zu entwischen, aber die Wellen trugen ihn immer weiter, schleuderten ihn näher auf das Ufer zu. Der Wal kämpfte um sein Leben. Er schaffte es sogar, seinen massigen Körper in die Höhe zu wuchten, und schien auf seiner Schwanzflosse innerhalb der Brecher förmlich zu stehen. Aber es half alles nichts. Krachend schleuderte eine breite Wasserfront gegen ihn und riß das Tier einfach weiter. Die See drückte ihn tiefer, und bestimmt schleifte sein Körper schon über Grund. Wenn nicht ein Wunder geschah, schleuderte die See den Blauwal an Land, wo er elendig verenden würde. Die Gäste hatten ihre eigene Lage vergessen. Sie standen da mit geballten Händen und schauten gebannt dem Ereignis zu. Wieder wühlte das Wasser den mächtigen Körper hoch. Er wuchs vor den Augen der Beobachter in die Höhe, so daß sie Angst bekamen. Eine mächtige Welle bereitete dem grausamen Spiel ein Ende.
Wie ein Stück Treibgut warf sie den mächtigen Blauwal an Land. Der Körper drehte sich. Die tonnenschwere Schwanzflosse traf einen der herumliegenden Baumstämme und schleuderte ihn auf ein Haus zu, in dessen Wand er sich bohrte. Dann zappelte der Wal. Nur glich dieses >ZappeIn< bei ihm einer immensen Gefahr. Wenn er gegen ein Hindernis schlug, zertrümmerte er es mit Leichtigkeit. Gefährlich nahe wehte seine breite und mächtige Schwanzflosse an den Pub heran. Sie tauchte dicht hinter der Scheibe auf, den Zuschauern kam sie zum Greifen nahe vor, dann rutschte sie seitlich weg und hämmerte mit Donnergetöse auf die Straße. Keiner redete. Man war viel zu geschockt und entsetzt, um den Vorgang kommentieren zu können. Die Augen der Männer glichen starren Kugeln, ihre Lippen zitterten ebenso wie die schweißfeuchten Hände. »Das ist nackter Wahnsinn!« sagte jemand. »Das . . . das habe ich noch nie erlebt.« »Es gab auch noch nie einen derartigen Sturm«, meinte ein anderer. Ihm widersprach keiner. Die Gäste schauten nur machtlos dem Überlebenskampf des Säugetiers zu, den es verlieren mußte. »Mit den Wikingern hat das nichts zu tun«, flüsterte jemand. »Gar nichts, verdammt.« »Hör auf, Gregg.« »Ja, schon gut.« Das Tier schaffte es nicht. Zwar wurde es ständig von der Gischt überspült, doch half ihm das kaum. Der Wal mußte verenden. »Haben die Wikinger sich nicht von Walfleisch ernährt?« fragte der Keeper. »Auch«, meinte einer. »Eigentlich bevorzugten sie Heringe. Wolltest du damit sagen, daß sie wieder zu uns kommen und anfangen, den Wal zu zerlegen?« »Alles ist möglich.« Der Reverend schwieg. Er hatte sich von den anderen Gästen abgewandt und an einem Tisch Platz gefunden. In kleinen Schlucken leerte er sein Ale. Castor sah um Jahre älter aus. Was er gesehen hatte, war einfach zuviel gewesen. Wie konnte es gestoppt werden? Der Sturm würde vielleicht noch die Nacht über anhalten. Aber stand er überhaupt mit dem Erscheinen der Wikinger in einem unmittelbaren Zusammenhang? Das genau war die Frage. Aber für ihr Auftauchen mußten sie ein Motiv haben. Möglicherweise hing dies mit dem Ort Seabrake zusammen und lag in einer Vergangenheit begraben, die mehr als tausend Jahre zurücklag. Da hatten die Horden der Wikinger die Küsten Europas unsicher
gemacht und sich nicht gescheut, bis nach Afrika oder an die Ostküste Amerikas zu segeln. Er stand seufzend auf und wischte über seine Stirn. Obwohl es nicht warm war, lag Schweiß auf der Stirn. »Jetzt stirbt der Wal«, sagte jemand. Reverend Castor ging nicht mehr zum Fenster. Er wollte dem Todeskampf nicht zuschauen. Dafür öffnete er die Tür, wäre fast von den Beinen gerissen worden und stemmte sich gegen den Sturm. Vor ihm lag der mächtige Körper. Und ihn wurde wieder einmal bewußt, wie klein er letztendlich war. Möglicherweise hatte auch der Herrgott mit diesem Orkan den Menschen ein Zeichen geben wollen, es nicht zu übertreiben. Etwas flog scheppernd auf die Fahrbahn. Ein altes Fahrrad war von einer Bö erfaßt und weggeschleudert worden. Es rutschte noch über die nasse Fahrbahn hinweg, bis es an den Walkörper prallte und neben ihm liegenblieb. An anderen Küstenteilen waren die Teile der in Seenot geratenen Schiffe angeschwemmt worden. Das Meer gab die Seeleute nicht frei. Es hatte die Körper in die liefe gerissen und möglicherweise den Wikingern dafür die Freiheit gegeben. Ein sehr schlimmer Austausch, wenn es stimmte. Gab es überhaupt noch Hoffnung? Der Reverend war es gewohnt, immer optimistisch zu denken. Für die nähere Zukunft des Ortes sah er jedoch schwarz, auch wenn Hilfe aus London zu erwarten war. Aus dem Pub winkte man ihm zu. Er ging wieder hinein, drosch die Tür ins Schloß und hörte Logans Frage: »Gibt es noch eine Hoffnung für uns, Reverend?« Castor lachte verkrampft. »Darüber habe ich gerade nachgedacht.« »Mit welchem Ergebnis?« »Mit keinem, Männer.« Der Pastor hob die Schultern. Da stand das Schiff wie ein Bühnenbild, mit geblähtem Segel und der mächtigen Bugverzierung, die einen Drachenschädel symbolisierte. Suko und Braddock hielten sich hinter mir auf. Vor allen Dingen Suko stemmte sich gegen die Tür, damit sie nicht zuhämmerte und wir dem Drachenschiff schutzlos ausgeliefert waren. Meiner Schätzung nach war es zwischen fünfundzwanzig und dreißig Yard lang, vielleicht fünf Yard breit und besaß eine sogenannte Klinkerbeplankung sowie einen umlegbaren Mast mit Rahsegel. Das Schiff besaß kein Ruder im landläufigen Sinne, dafür am rechten Schiffsende einen großen Steuerriemen, der in einer Schlinge steckte. Ich hatte mal gelesen, daß die Bezeichnung Steuerbord von diesem Schiffstyp abstammte.
Das Schiff rührte sich kaum. Es widerstand den überfallartigen Böen, schwebte aber über dem Boden wie auf einem Luftkissen. Eine andere Kraft hielt das Drachenschiff in dieser freien Lage. Zu sehen war sie allerdings nicht. Mir flößte das Schiff auch keine Furcht ein. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, denn mir war der Anblick im Laufe der Zeit schon vertraut geworden. Hinter den hohen Bordwänden hielt sich die Besatzung versteckt. Wir mußten davon ausgehen, daß es sich um untote Wikinger handelte, wobei ich mich allerdings fragte, weshalb sie gekommen waren. Wollten sie vielleicht ihren toten Kumpan abholen? Suko beschäftigten die gleichen Gedanken. Erschlug vor, den Toten zu holen. »Okay, macht das!« »Verrückt!«, keuchte Braddock. »Ihr seid beide verrückt. Vom Wahnsinn befallen.« Wir hörten nicht auf ihn. Suko war im Haus verschwunden und schleifte wenig später die Leiche heran, die er vor dem Haus zu Boden sinken ließ, so daß der Tote auch gesehen werden konnte. Wie würden die Wikinger auf diesen Anblick reagieren? Zunächst warteten sie ab. Suko blieb neben der Leiche stehen, als wollte er die Meute auf dem Schiff bewußt provozieren. Ich flüsterte ihm zu, zurückzukommen, doch Suko wollte nicht. »Am liebsten würde ich dem Schiff einen Besuch abstatten«, erwiderte er leise. Es war ungewöhnlich. Wir konnten in einer normalen Lautstärke reden, weil der Sturm eine Pause eingelegt hatte. Er schien sich mit den Untoten verbündet zu haben. Auch der Himmel zeigte eine leichte Änderung. Die Wolken jagten nicht mehr über ihn hinweg. Sie blieben beinahe wie lange, mächtige Streifen liegen und bewegten sich nur langsam. Einiges war anders geworden. Ich hörte Braddock hinter mir reden. Zuerst achtete ich nicht auf die Worte, dann aber wurde ich aufmerksam. »Das habe ich mir gedacht! Sie ... sie sind zurückgekommen, sie mußten es ja ...« Rasch drehte ich den Kopf. »Was haben Sie da gesagt?« »Nichts, gar nichts.« »Doch. Sie sprachen davon, daß die Wikinger zurückkehren mußten. Was hat das zu bedeuten?« Clive Braddock zog den Kopf ein. Die Haut auf seiner Stirn bekam einen Schweißfilm. »Ich habe nur mit mir geredet, Sinclair, nur mit mir selbst.« Suko hatte nichts gehört. Ihm bereitete das Drachenschiff mit den Wikingern Sorge. »Verdammt, John, sie tun nichts. Sie schweben vor
uns. Wenn sie angreifen würden, okay, aber weshalb warten sie ab? Sollen wir ihnen den Toten an Bord schleppen?« »Toll. Dann könnten wir noch mit ihnen fahren.« Wir irrten uns. Die Wikinger wußten sehr wohl, was sie wollten. Es schob sich eine Gestalt über die Bordwand. Sie mußte auf einem erhöhten Gegenstand stehen, anders war ihr Erscheinen nicht zu erklären. Als sich dieser Mensch uns zeigte, da spürten wir beide das Kribbeln, denn wir wußten sofort, daß dies nicht nur irgendein Wikinger war. Es mußte der Anführer sein. Von ihm strahlte etwas ab, das ich mit dem Begriff Aura umschreiben könnte. Ein Fluidum der Gewalt, der Vernichtung und des Todes. Es war eine mächtige Gestalt mit einem sehr großen Schädel, auf dem strohblondes Haar in langen, wirren Strähnen wuchs, die an den Seiten des Kopfes flatterten. Der größte Teil des Haares und auch über die Hälfte der hohen Stirn wurden von einem spitzen Helm verdeckt, an dessen Seiten drei Stäbe in die Höhe führten wie dicke Antennen. Unter dem Helmrand zeichnete sich das Gesicht ab. Nein, eine Fratze! Der wilde Ausdruck darin war einfach nicht zu übersehen. Das Gesicht wirkte gedrungen, die Augen sehr hell, die Nase klein, beinahe schon klumpig. Dafür hatte der Wikinger seinen Mund weit aufgerissen, als wollte er jeden Moment anfangen zu schreien. Der Bart besaß fast die gleiche Farbe wie seine Haare. Dem sonderbaren Leuchtschein war es zu verdanken, daß er so gut zu erkennen war. Die Ansätze der breiten Schultern sahen wir auch. Er trug dicke Fellkleidung, zeigte uns seine Waffen allerdings nicht. Trotzdem stuften wir ihn als sehr gefährlich ein. »Das ist er! Verdammt, daß ist er!« Braddock war völlig aus dem Häuschen. Er schlich auf mich zu und zitterte. Noch immer >schlief< der Wind. Wir kamen uns vor wie auf einer Insel. Da hatte sich eine andere Welt in die normale hineingeschoben. Ich faßte Braddock an. »Sagen Sie, wer ist das? Kennen Sie die verdammte Gestalt?« »Ja.« Er nickte heftig. »Es ist Leif, der Grausame. Ein furchtbarer Häuptling, der vor mehr als tausend Jahren hier an den Küsten gewütet hat. Leif war einer der Schlimmsten.« »Woher kennen Sie ihn so gut?« »Weiß nicht.« Ich wußte, daß er log, kümmerte mich jedoch nicht weiter um ihn. Irgendwann würde ich die Wahrheit schon herausbekommen. Nur fragte ich mich nach den Gründen, die Leif dazu bewegten, sich uns so deutlich zu zeigen.
Braddock nickte. Sein Gesichtsausdruck zeigte Angst. Es kam mir vor, als wüßte Braddock genau Bescheid. »Ich habe es geahnt, ich war mir sicher, es ist eingetreten.« »Verdammt noch mal, reden Sie!« fuhr auch Suko ihn an. Da handelte Leif, der Grausame. Er reckte sich, ging noch höher, damit wir mehr von ihm erkennen konnten. Dann hob er den rechten, sehr kräftigen Arm und ballte seine Hand in einer zeitlupenhaft anmutenden Bewegung zur Faust. »Ja!« Braddock hatte das Wort gekeucht. »Ja!« wiederholte er noch einmal. Ich wußte, daß Leif und er in einem unmittelbaren Zusammenhang standen, vielleicht sogar in einer geistigen Verbindung. »Machen Sie keinen Mist, Braddock! Seien Sie vorsichtig!« Er hörte mich nicht. Er ging mit staksig wirkenden Schritten vor. Dabei bekam ich einen trockenen Hals. Wenn er die Richtung beibehielt, mußte er das Schiff irgendwann erreichen. Und Leif winkte ihm zu. Er hatte Suko bereits passiert, als mir mein Freund leise die Frage stellte: »Willst du ihn lassen?« »Ich weiß es noch nicht.« »Leif, die Puppe! Ich weiß genau Bescheid. Es geht um die Puppe. Ja, deshalb bist zu uns gekommen. Die Puppe, nicht?« »John, was meint er damit?« Ich hob die Schultern. Für mich waren Braddocks Worte ebenfalls ein Rätsel gewesen. Aber sie hatten uns bewiesen, daß er mehr wußte und seine Familie ebenfalls informiert gewesen sein mußte. Leif, der Grausame, winkte wieder. Braddock wußte, was er zu tun hatte. Und er handelte ohne Vorwarnung. Wie ein Sprinter rannte er los. Mit dieser Aktion hatte er selbst Suko und mich überrascht. Braddock wurde zu einem wirbelnden Schatten, der in die klare Luft hineinjagte, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Er wollte zu den Wikingern, er mußte hin, er war auf sie fixiert und stand möglicherweise in einer Beziehung zu ihnen. Das alles wirbelte mir durch den Kopf, und auch ich zögerte keine Sekunde länger. Ich jagte hinter ihm her. »Bist du wahnsinnig, John?« Auf Suko hörte ich nicht. In diesen Augenblicken war mir alles egal. Wenn ich die Chance bekam, das Schiff entern zu können, mußte ich sie nutzen. Ich hatte bereits einen ziemlich großen Vorsprung zu Suko bekommen, auch die Distanz zu Braddock verringerte sich. Leider würde ich ihn vor Erreichen der Bordwand nicht mehr erwischen können, weil sein Vorsprung einfach zu groß war. »Ich komme!« brüllte er wie von Sinnen. »Ja, ich nehme das Erbe an, Leif. Ich werde . ..«
Plötzlich tauchten sie auf. So schnell, als hätten sie nur auf dieses Zeichen gewartet. Sie schoben sich hinter den Bordwänden in die Höhe. Schlimme, kriegerische und gewalttätige Gestalten, mit wüsten, von zahlreichen Kämpfen gezeichneten Gesichtern. Sie waren bewaffnet. Als ich das Flackern sah, war es bereits zu spät. Da hatten sie die vorn brennenden Pfeile bereitsauf ihre Bögen gelegt und schössen sie ab. Jetzt blieb mir tatsächlich nur noch die Chance, auf das Schiff zuzulaufen. Damit machte ich den Schußwinkel so klein, daß sie mich nicht erwischen konnten. Die Brandpfeile flogen über mich hinweg. Für einen Moment dachte ich an Suko, dann schleuderte jemand ein Seil über die Reling, das wie ein Schlangenkörper peitschte und Braddock zugedacht worden war. Er schrie gewaltig auf, warf sich mit einem Hochsprung nach vom, hatte die Arme ausgestreckt und bekam das Seil mit beiden Händen zu fassen. Ich war noch zu weit entfernt. Aber die Gesichter der Wikinger erkannte ich ziemlich deutlich. Hinter den brennenden Pfeilen wirkten sie wie zitternde Fratzen. Sie zogen Braddock hoch. Ein Pfeil huschte gefährlich nahe an mir vorbei. Ich spürte die Hitze, dann hatte ich die Bordwand des schwebenden Schiffes erreicht. Ich sprang hoch. Es war verrückt, klar, aber ich mußte hier klare Verhältnisse schaffen. Etwas wirbelte mir entgegen und erwischte mich mitten im Sprung. Zu spät erkannte ich die Schlinge. Sie legte sich um meinen Körper. Jemand zerrte an ihr, zog sie zu und riß mich in die Höhe. Ich klatschte gegen das harte Holz der Bordwand, spürte die Stiche im Kopf und hatte den Eindruck, in einen gewaltigen Tornado zu geraten. Es war ein anderer Sturm, als der, den wir erlebt hatten. Ein magischer, rational nicht erklärbar. Und er riß mich fort. Zusammen mit Clive Braddock, dem Drachenschiff und seiner fürchterlichen Besatzung... *** Beim Theater gibt es die Hauptrollen, natürlich die Nebenrollen und auch die Statisten. Wie ein Statist kam sich Suko vor, denn Braddock und John hatten zu schnell gehandelt.
Als Suko eingreifen wollte, war es bereits zu spät. Da war der Vorsprung der beiden so groß geworden, daß er nichts mehr für sie tun konnte. Er hatte schon daran gedacht, die Magie seines Stabes einzusetzen. Er kam jedoch nicht mehr dazu, weil die Wikinger in einer Art und Weise handelten, mit der er nicht gerechnet hatte. Sie erschienen hinter der Bordwand, hatten brennende Pfeile auf die Bögen gelegt und schössen Richtung Haus. Suko geriet in Gefahr. Gleich drei Pfeilen auf einmal mußte er ausweichen. Der Feuertod wirbelte im Bogen auf ihn zu. Suko tauchte nach links weg, schlug einen Bogen und hörte das dumpfe Geräusch, als ein Pfeil dicht neben ihm in den Boden hämmerte und dort verlöschte. Geduckt hetzte der Inspektor weiter, warf sich vor der Hauswand zu Boden, rollte über die Erde und kroch danach blitzschnell hinter die Hausecke. Gerade noch rechtzeitig, denn ein Pfeil klatschte vor die Mauer, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Suko kam sofort wieder auf die Beine und lief etwas vom Haus weg. Seine Sicht war frei. In diesem Augenblick traf ihn der Sturm mit vehementer Wucht. Er hämmerte ihn fast um. Die Zeit trügerischer Stille war dahin. Suko erlebte die normale, schlimme Realität und bekam soeben noch mit, wie das Drachenschiff der Wikinger als fauchender Schatten in den bleifarbenen Himmel hineinfuhr und dort in einer schmalen Lücke verschwand. Mit Clive Braddock und John Sinclair an Bord! Auf einmal war ihm kalt. Er taumelte zurück, mehr vom Wind geschoben, als freiwillig gehend, lehnte sich gegen die Hauswand und preßte für einen Moment seine Handfläche gegen die Stirn. »Der ist verrückt, der Junge. Der . . . der ist wahnsinnig.« Er konnte es nicht begreifen, hob die Schultern und hörte wieder das unheimliche Pfeifen und Orgeln des Orkans, der um die Ecken des Gebäudes fegte. Dann sah er den Toten! Oder das, was von der Leiche des Wikingers noch übrig war. Ein Brandpfeil hatte ihn erwischt und zerstört. Nur mehr Asche fegte der Wind zur Seite, als er die letzten Flammen löschte. Geduckt stemmte sich Suko gegen die Gewalt an. Der Brandgeruch raubte ihm die Sinne. Er hustete, bückte sich und nahm einen der Pfeile auf, um ihn zu untersuchen. Er bestand auf hartem Holz und war bestrichen worden. Eine dunkle, klebrige Masse, die auch das Feuer nicht hatte zusammenschmelzen können. Eine Spitze entdeckte Suko nicht. Sollte eine vorhanden gewesen sein, so war sie umwickelt worden. Er schleuderte ihn zu Boden und stellte fest, daß er hier nichts mehr ausrichten konnte.
Im Rover, der den Sturm bisher unbeschadet überstanden hatte, blieb er sitzen. Sein Blick streifte den Himmel dort, wo das Wikingerschiff verschwunden war. Der Tod war aus dem Norden gekommen und hatte sich zwei Menschen geholt. Wo mochte John jetzt sein? War es den Wikingern gelungen, ein Dimensionsloch zu finden, wo sich die Zeiten aufhoben und die Vergangenheit zur Gegenwart wurde? Eine andere Erklärung besaß Suko nicht. Er konnte sich nichts anderes vorstellen, nur stellte der Inspektor die berechtigte Frage, ob sein Freund John noch lebte. Bei dem Gedanken schien sich sein Herz zu verkrampfen. Über die Wikinger wußte er nicht sehr viel. Sie waren als kriegerisches Volk bekannt, das stets erobern wollte und dies auch in die Tat umgesetzt hatten. Die Weltmeere hatten sie mit ihren Booten unsicher gemacht und sich schließlich an einigen Küsten festgesetzt, wobei auch Großbritannien unter ihrer Herrschaft gelitten hatte. Braddock hatte es gewußt. Bestimmt waren seine Eltern nicht grundlos umgebracht worden, obwohl es für Suko kein Motiv gab, das einen Mord rechtfertigte. Suko ging einfach davon aus, daß die Braddocks die Spur waren, die ihn zu den Wikingern und letztendlich zu John Sinclair führen konnten. Deshalb mußte er mehr über die Familie in Erfahrung bringen. Hier gelang ihm das nicht mehr. Suko wollte so rasch wie möglich nach Seabrake fahren. Dort waren die Braddocks bestimmt bekannt. In diesen kleinen Orten kennt jeder jeden und wußte auch genau über die familiären Verhältnisse seiner Nachbarn Bescheid. Der Chinese startete. Willig sprang der Motor an. Noch immer wühlten Böen gegen das Fahrzeug und erschütterten es. Manchmal stöhnte der Rover auf, als würde er unter Schmerzen leiden. Die Straße drückte sich immer mehr der Küste entgegen und war nicht leicht zu befahren. Suko drückte sich selbst die Daumen, daß nicht irgendwelche Bäume die Fahrbahn blockierten. Ganze Bäume verteilten sich nicht auf der Fahrbahn, dafür mehr Zweige und Äste, die der Sturm abgerissen und durch die Gegend gewirbelt hatte. Sie bildeten ein Muster auf dem feuchten Asphalt. Ab und zu packte der Wind sie, schob sie weiter und schaffte neues Geäst heran. Auch der Rover verwandelte sich in einen Spielball. In einer völlig ungeschützten Gegend, wo der Sturm den nötigen Platz besaß, verlor Suko fast die Kontrolle über das Fahrzeug. Manchmal schlingerte der Wagen dermaßen stark, daß er es kaum schaffte, ihn auf der Fahrbahn
zu halten. Er geriet oft dicht an den Rand und lief Gefahr, darüber hinweggeschleudert zu werden und im Graben zu landen. Zum erstenmal seit der Abfahrt aus London sah er das Meer. Meer? Was da herantoste, verdiente nur mehr den Ausdruck Hölle! Eine Orgie aus turmhohen Wellen, Gischt und mächtigen Brechern, die einen verrückten Tanz aufführten, immer stärker krachten und einen ungeheuren Druck bekamen, der sie voranschleuderte. Sie wirbelten der Küste entgegen, zerschmetterten alles, was sich ihnen in den Weg stellte und schienen die Felsen aus dem Wasser reißen zu wollen. Alle anderen Geräusche wurden von dieser tosenden Wassermasse überdeckt. Suko hörte nicht mehr den Motor des Rovers. Er sah nur mehr Wasser, denn die Gischtfontänen schleuderten wie gewaltige und nie abreißende Vorhänge auf ihn zu und begruben den Rover unter sich. Die Umgebung war ein einziges Meer, überdeckt von jagenden Wolken, mit denen der Wind spielte und sie nach seiner schaurigen Melodie tanzen ließ. Es gab leider keinen anderen Weg, um das Ziel zu erreichen. Da mußte der Inspektor durch. Und er fuhr weiter. Das Licht der Scheinwerfer tanzte, wenn der Wagen mal wieder über die Fahrbahn schlingerte. Manchmal spürte Suko ihn wie von einer mächtigen Faust umklammert, als wollte diese das Fahrzeug samt Inhalt in die Fluten schleudern. Doch er kam weiter. Lichter sah er nicht. Seiner Schätzung nach mußte er sich nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt befinden, denn Seabrake war der typische Küstenort direkt am Meer und von der See praktisch nur durch eine Uferstraße getrennt. Wie mochte es dort aussehen? Hatte der Sturm Häuser zerstört und Dächer abgerissen? Suko bekam es Minuten später zu sehen, als er nicht mehr weiterfahren konnte. Quer über der Straße lag ein mächtiger, runder Gegenstand. Zunächst glaubte Suko an einen Baumstamm. Erst beim näheren Hinsehen erkannte er, daß Baumstämme so nicht aussahen. Und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können, als er das Hindernis identifizierte. Ein Blauwal versperrte den Weg. Das tonnenschwere Säugetier machte ein Weiterkommen unmöglich, und seine breite Schwanzflosse lag so, als hätte sie beinahe noch eine Hauswand eingerissen. Es spielte überhaupt keine Rolle, wo Suko den Rover abstellte. Sicher war das Fahrzeug nirgendwo. So gut wie möglich fuhr er den Wagen an den rechten Straßenrand und tauchte hinein in die heulende Hölle, denn der Orkan wehte noch immer die gewaltigen Gischtwolken gegen die Häuser. Suko kam sich vor wie
unter einer nie endenden Dusche stehend. Links von ihm tobte das Meer, rechts sah er die Front der Häuser, die unter dem Orkan unwahrscheinlich gelitten hatten. Es gab kein Gebäude, das nicht beschädigt worden war. Als wäre eine Faust über die Dächer hinweggeweht, hatte der Wind Antennen abgerissen, wie Streichhölzer geknickt und dabei an manchen Stellen gleich ein halbes Dach mitgenommen. Er konnte sich vorstellen, daß es in Seabrake keinen elektrischen Strom mehr gab. In diesem Ort hockten die Menschen angsterfüllt zusammen, um auf das Ende des Sturms zu warten. Schräg vor ihm lag ein Haus, in dem die Fensternoch nicht aus den Offnungen geblasen worden waren. Er sah Licht hinter den Scheiben und erkannte, daß Kerzen brannten. Innerhalb des flackernden Scheins bewegten sich Gestalten. Wie ein Wohnhaus sah das Gebäude nicht aus, eher wie eine Kneipe, bei der das Außenschild fehlte. Es war dem Sturm zum Opfer gefallen. In einer Kneipe erfuhr man immer einiges. Suko schob sich geduckt an der Wand vorbei, sah, daß man ihm von innen zuwinkte. Die Tür wurde geöffnet. Zusammen mit einem Schwall Wind und Nässe stolperte Suko über die Schwelle. Zwei Männer hämmerten die Tür hinter ihm zu, während er sich gegen die Wand lehnte, erst einmal tief Luft holte und das Gischtwasser aus dem Gesicht wischte. Jemand reichte ihm einen Gin. Suko trank so gut wie keinen Alkohol, aber dieses Glas leerte er mit einem Zug, setzte es ab und nickte den Männern zu. Sie standen ihm gegenüber, nur zwei der Gäste waren sitzengeblieben. »Okay, Männer, ich habe mich durchgeschlagen.« »Etwa aus London?« fragte ein ungefähr dreißigjähriger Mann, der sich von den anderen gelöst hatte. »Ja.« »Von Scotland Yard?« »Auch das.« »Ein Chinese?« murmelte jemand im Hintergrund. »Das ist wirklich ein Ding!« »Haben Sie etwas gegen Chinesen?« Der Sprecher schwieg. Dafür trat der andere auf Suko zu und reichte ihm die Hand. Sein schmales Gesicht zeigte ein herzliches Lächeln. »Ich bin Reverend Castor und freue mich maßlos, daß Sie es geschafft haben, trotz dieser Hölle.« Suko grinste schief. »War ja versprochen.« »Trotzdem.« »Okay.« Der Inspektor zog seine nasse Parkajacke aus. »Kommen wir mal zur Sache.« Er hielt die Jacke in der Hand und schwang sie. »Ich
weiß nicht genau, was hier vorgefallen ist, aber wir sind von einem Kollegen angerufen worden, der .. .« »Tot ist!« erklärte der Reverend und fiel Suko ins Wort. Der Inspektor legte die Jacke auf einen Stuhl. »Sagen Sie das noch mal, Mr. Castor. Tot. . .?« »Leider.« »Durch wen?« »Man hat ihn umgebracht mit Waffen, die man heute wohl nicht mehr trägt.« »Die Wikinger?« »Ja.« Die Männer schwiegen. Ihnen war unwohl zumute. Selbst der Wirt sagte kein Wort. Suko ging durch die Stille. Seine Füße hinterließen nasse Spuren auf den Holzbohlen. Er schaute gegen die Deckenbalken, nickte einige Male, atmete tief durch, schlug den Weg zur Theke ein und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Daß diese Wikinger keine Einbildung sind, weiß ich auch. Wir haben sie erlebt, denn sie töteten das Ehepaar Braddock!« Suko hatte es nicht vermeiden können, die Gäste mit dieser Nachricht zu konfrontieren. Jeder sollte wissen, wie ernst die Lage war und daß hier kein Spiel aufgezogen wurde. »Beide?« flüsterte Jorge noch einmal. »Sicher.« »Und wie k . . . kamen sie um?« Der Mann hatte eine Gänsehaut bekommen. Fahrig wischte er über die Tischplatte. »Man hat die Frau mit einer Streitaxt getötet und den Mann aufgehängt. Es war furchtbar. Wir konnten die Leichen nicht mitnehmen und mußten sie im Haus lassen.« Der Reverend schnippte mit den Fingern. »Entschuldigen Sie, Mister .. .« »Ich heiße Suko und bin Inspektor.« »Okay, Suko, aber wo ist Ihr Kollege Sinclair. Man hatte mir zugesichert, daß auch er käme . . .« »Sicher, aber er hatte . . .« Suko hob die Schultern. »Ich will nicht gerade Unfall sagen, aber so etwas Ähnliches war es schon. Übrigens zusammen mit Clive Braddock, den wir bei seinen toten Eltern fanden.« Jetzt schwieg auch der Reverend, aber er suchte nach Worten und stellte Suko eine Frage: »Was ist genau geschehen?« Suko setzte sich hin, überlegte einen Moment und gab dann einen Bericht ab, der die Männer nicht nur in Staunen versetzte, sondern ihnen auch das kalte Grauen lehrte. Als Suko geendet hatte, sprach niemand. Selbst dem Geistlichen waren die Worte im Halse steckengeblieben. Er hockte auf seinem Platz, hatte die Stirn gefurcht und Mühe, das Zittern der Hände zu unterdrücken. »Das Schiff war da!« erklärte Suko. »Es schwebte über dem Boden.« Der Inspektor zeichnete es mit den Händen nach. »Können Sie sich das vorstellen?« »Nein, nein . . .« Die Antwort hatte der Pubier gegeben. »Ist das ein . . . Märchen?«
»Bestimmt nicht!« Sukos Erwiderung klang hart. »Kein Märchen. Ebensowenig wie die Entführung der beiden Personen durch die Horde der Wikinger.« Castor rang nach Atem, hatte sich aber wieder gefangen. »Woher sind sie gekommen?« Suko lächelte knapp. »Ich kann Ihnen die Antwort geben. Sie ist nur ein wenig schwer zu begreifen. Die Wikinger tauchten meiner Ansicht nach durch ein Zeitloch auf. Die einzelnen Zeiten schoben sich zusammen, sie überlappten, sie waren nicht mehr existent. Es gab plötzlich eine Lücke, die von ihnen ausgenutzt wurde.« »Das glauben Sie?« fragte der Wirt skeptisch. »Können Sie mir eine bessere Lösung präsentieren?« Logan schüttelte den Kopf. Zumindest Castor hatte sich wieder soweit gefangen, daß er nachdenken konnte. »Ich habe den Eindruck, als müßte man die Nachforschungen bei den Braddocks beginnen.« »Richtig.« Suko stimmte ihm nickend zu. »Sie sind das Problem. Sie müssen etwas gewußt haben. Ich berichtete Ihnen von Braddocks Worten. Er sprach über eine Puppe, die eine gewisse Bedeutung spielen oder gespielt haben muß. Kann jemand von Ihnen etwas damit anfangen?« Suko hatte bewußt laut gesprochen. Ein jeder sollte seine Worte hören. Die Gäste schauten ihn an, hoben die Schultern und schwiegen. »Bitte, überlegen Sie.« »Wir haben mit Puppen nichts zu tun gehabt!« erklärte der Mann, der einmal Bürgermeister gewesen war. »Puppen!« er lachte kratzig. »Das ist was für Mädchen und Frauen.« »Nicht unbedingt.« Suko griff dankbar nach dem heißen Tee, den der Wirt vor ihn gestellt hatte. »Ich komme nicht aus dieser Gegend. Daß die Horde gerade hier erschienen ist, muß meiner Ansicht nach einen besonderen Grund gehabt haben. Leider bin ich überfragt, wenn es um Details geht. Ich kann mir jedoch vorstellen, daß sie in der Umgebung etwas besitzen, das man als Geheimnis, als alte Sage oder Legende bezeichnen kann. Das könnte gleichzeitig ein Motiv sein.« Nach dieser relativ langen Erklärung brauchte er einen Schluck. Der Tee, den man ihm gebracht hatte, war stark, heiß und ungesüßt. Genau so, wie der Inspektor ihn liebte. Er hatte ein Thema angeschnitten, mit dem sich die Einheimischen beschäftigen sollten. Schließlich kannten sie ihre Umgebung besser und wußten auch über die Vergangenheit Bescheid. »Wer ist denn für Heimatgeschichte zuständig?« wollte er wissen, weil keine Erklärungen kamen. »Niemand.«
»Keinen Chronisten, der sich mit Seabrakes Vergangenheit beschäftigt?« »Nein.« »Wie steht es mit Ihnen, Reverend?« Castor antwortete wieder. »Ich bin noch nicht lange hier und habe mit Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Schauen Sie mich an. Ich bin viel zu jung, außerdem stamme ich aus London. Das ist für manche so weit weg wie ein ferner Planet im All. Ich habe mich mehr um die Menschen gekümmert, als um die Historie, die zweifelsohne vorhanden ist, wie ich annehme.« Suko hob die Schultern. »Es muß etwas geben, das mit einer Puppe im Zusammenhang steht. Welche Gründe sollte Braddock gehabt haben, dies zu rufen.« Da meldete sich Logan. »Seine Eltern, Mister. Sie hätten seine Eltern fragen müssen.« »Wie das?« , Der Wirt verzog unbehaglich das Gesicht. Er fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. »Wissen Sie, ich will nichts Falsches sagen .. .« »Versuchen Sie es trotzdem. Es ist alles wichtig, denn die Wikinger werden zurückkehren. Ich möchte nicht, daß es noch mehr Tote oder Verletzte gibt.« »Klar.« »Rede schon, Logan!« wurde er von den Gästen aufgefordert. »Nun ja, gut.« Er beugte sich halb über die Theke hinweg, um Suko direkt anzuschauen. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die Braddocks recht weit weg vom eigentlichen Ort entfernt wohnen?« »Die alten, meinen Sie?« »Ja, denn Clive lebte hier. Er betrieb eine kleine Reparaturwerkstatt und quälte sich mehr recht als schlecht durch. Jedenfalls war er ein kleines Genie, denn er konnte alles wieder in Ordnung bringen. Nur das Verhältnis zu seinen Eltern nicht.« »Es war also schlecht?« »Beschissen, Inspektor. Er kam nicht mit ihnen zurecht, auch wir haben die Braddocks gemieden. Sie waren ein merkwürdiges Paar, gingen ihre eigenen Wege und wollten mit keinem Menschen aus dem Ort etwas zu tun haben.« »Weshalb nicht?« »Sie kamen auch nie in meine Kirche!« erklärte der Reverend, bevor er sich für seine Zwischenbemerkung entschuldigte. Logan suchte nach Worten, trank einen Schnaps und fand die seiner Meinung nach richtige Erklärung. »Also, das ist so gewesen. Die Braddocks haben sich immer für etwas Besonderes gehalten. Sie hatten sonderbare Vorstellungen, denn sie glaubten an Dinge, über die wir zwar nicht gelacht, auch nicht geschmunzelt, die wir aber abgelehnt haben.
Das waren Naturmenschen. Sie gingen davon aus, daß ein Leben nicht vernichtet werden konnte. Der Geist fing sich irgendwo, verstehen Sie?« »Noch nicht ganz.« »Nun ja, sie wollten eins mit der Natur sein und den Geheimnissen der Welt auf die Spur kommen. Der alte Braddock lief auch mit einer Wünschelrute umher. Er hatte zahlreiche Quellen gefunden und Brunnen angelegt. Die Frau las die Zukunft aus den Karten. Sie war davon überzeugt, das Schicksal eines Menschen aus ihnen erkennen zu können.« »Schön«, sagte Suko. »Haben die Braddocks sich denn auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert?« »Das weiß ich nicht genau.« Jorge meldete sich. »Sie wollen wissen, ob sie nach speziellen Dingen gesucht haben?« »Genau.« Jorge hob die Schultern. »Die Wikinger waren ja mal hier. Vor tausend Jahren und mehr.« »Und die Braddocks haben sich darum gekümmert?« »Genau weiß ich es nicht. Ich gehe davon aus, denn ich habe sie mal im Wald getroffen, der hinter Seabrake anfängt.« »Und?« Jorge hob unbehaglich die Schultern. Er fühlte sich als Mittelpunkt überhaupt nicht wohl. »Sie wurden so komisch, als sie mich sahen. Ich dachte schon fast, sie wollten mich fressen. Anscheinend hat es ihnen nicht gepaßt, daß ich sie überraschte.« »Wobei?« fragte Suko. »Sie haben da gegraben. Mit Spaten und einer Schaufel gruben sie ein ziemlich großes Loch.« »Wie lange ist das her?« »Das war im letzten Jahr, im Herbst, glaube ich.« Suko nickte. »Sie erinnern sich noch an die Stelle, oder nicht?« »Schon, bestimmt. Die ... die habe ich noch in guter Erinnerung. Sie ist nicht schwer zu finden, wenn man sich auskennt.« »Okay, lassen wir das mal außen vor. Was haben Sie noch gesehen? Bitte, erinnern Sie sich an jede Einzelheit. Das kann wichtig für uns alle sein.« »Wirklich nicht viel, Sir. Ich wollte auch weiter und ihnen keine großen Fragen stellen.« »Haben Sie überhaupt mit den ßraddocks gesprochen?« wollte Suko zwischen zwei Schlucken Tee wissen. »Schon. Man riet mir, zu verschwinden, denn dort würde es um Dinge gehen, die ich nicht verstünde.« »Um eine Puppe?« Jorge bekam einen starren Blick. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir. Die beiden haben auch von keiner Puppe gesprochen. Mir ist nur aufgefallen, daß sie noch etwas mit hatten, außer dem Werkzeug, meine ich.«
»Was war das?« Jorge breitete die Arme aus und führte die Hände danach wieder aufeinander zu, bis sie einen bestimmten Abstand bekommen hatten. »Es waren ungefähr so lange, dünne Gegenstände. Sie sahen aus wie Stricknadeln, vielleicht etwas dünner, dafür aber länger.« »Und das stimmt?« »Ich schwöre es.« Er legte seine Hand gegen die Brust. »Ich schwöre es, so wahr ich Jorge McFlint heiße. Es waren lange Nadeln. Als ich sie mir anschaute, haben die Braddocks sie schnell verschwinden lassen, als hätten sie etwas zu verbergen.« »Besaßen die Nadeln eine bestimmte Farbe?« »Schwarz waren sie, nicht nur dunkel, sondern richtig schwarz, und sie glänzten, glaube ich.« »Mehr wissen Sie nicht, Mr. McFlint?« »Nein, Sir.« Suko warf dem Pfarrer einen längeren Blick zu. »Was meinen Sie, Reverend?« »Sorry, ich hatte davon keine Ahnung.« Suko stand auf. »Es ist klar, daß wir etwas tun müssen. Und wir müssen auch irgendwo anfangen. Es hat doch keinen Sinn, hier zu sitzen und sich die Köpfe heiß zu reden . ..« »Wollen Sie in den Wald?« »Ja.« Castor erbleichte. »Bei . . . bei diesem Wetter? Da kommen wir nicht durch. Der Orkan hat gewütet, der wütet noch. Ich weiß nicht, wie viele Bäume er gefällt hat. Im Wald gibt es kaum Wege. Jetzt werden so gut wie gar keine mehr passierbar sein.« »Da mögen Sie recht haben. Nur gehöre ich zu den Leuten, die trotz gewisser Hindernisse nicht aufgeben, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben.« »Sie wollen also hin?« »Auf jeden Fall. Wahrscheinlich allein. Ich werde es schon schaffen, wenn Sie mir den Weg beschreiben.« »Du kennst ihn am besten, Jorge.« McFlint zögerte. »Ich weiß nicht so recht, Reverend!« quetschte er hervor. »Bitte.« Suko hörte in den folgenden Minuten zu und machte sich einige Notizen. Wenn er die Lage richtig einschätzte, war es nicht allzu schwierig, den Ort im Wald zu finden. »Was haben Sie eigentlich für einen Wagen?« fragte Castor, als Suko den Zettel einsteckte. »Einen Dienst-Rover.« Bitter lachend winkte der Geistliche ab. »Tut mir leid, damit werden wir kein Glück haben.«
»Machen Sie einen besseren Vorschlag.« »Den habe ich schon. Ich besitze eine Geländewagen, einen Jeep. Es ist ein Hobby von mir, mit ihm bei schönem Wetter am Strand entlangzufahren. Der Wagen müßte zumindest einen Teil des Weges schaffen.« Suko schlug dem Geistlichen auf die Schulter. »Das ist ein toller Vorschlag. Versuchen wir es.« »Und wann?« »Sofort. Wenn erst die Dunkelheit hereinbricht, haben wir kaum eine Chance.« Castor zeigte sich einverstanden, wenn auch mit einem bedenklichen Ausdruck im Gesicht. Suko sah die Sache lockerer. Er schaute aus dem Fenster, um zu prüfen, ob der Sturm nachgelassen hatte. Zwar heulte und jaulte er mit unbeschreiblichen Geräuschen noch um das Haus und peitschte das Meer in die Höhe, aber die Geräusche waren leiser geworden. »Er flaut bestimmt ab.« »Das sagten auch die Kenner hier. Morgen werden wir aufräumen können«, meinte der Wirt. »Wo steht Ihr Wagen?« »Bei mir an der Kirche.« »Können wir bis dahin fahren?« »Nein, nicht. Es ist alles versperrt. Wir werden zu Fuß gehen müssen, Inspektor.« »Einverstanden.« Beide gingen zur Tür. Um die Blicke der übrigen Gäste kümmerten sie sich nicht. Die Männer hielten die beiden sowieso für lebensmüde... *** Ich hatte einen Blackout gehabt! Er war über mich gekommen wie ein Blitzstrahl und hatte voll ins Zentrum getroffen. Wie ich an Bord gekommen war und wer mir dabei geholfen hatte, wußte ich nicht zu sagen, als ich die Augen aufschlug und feststellte, daß ich auf dem Rük-ken lag. Ein kurzer Blick reichte. Ich sah neben mir einen Schatten und ging davon aus, daß es sich dabei um die Bordwand handelte. Dann schloß ich die Augen wieder, weil ich mich auf die mich umgebenden Geräusche konzentrieren wollte. Die Wikinger redeten in einer für mich fremden Sprache. Sie palaverten laut, manchmal schrien sie sich auch an, dann wiederum lachten sie. Dazwischen hörte ich ein Klatschen, als würden sie sich gegenseitig auf die Schenkel schlagen.
Ich kannte die Wikinger als rauhe Horde und wußte, wie kampflustig und gewalttätig sie waren. Nur an eine Rückkehr untoter Gestalten und Krieger hatte ich bisher nicht geglaubt. Befand ich mich tatsächlich an Bord? Beim ersten Öffnen der Augen und bei der raschen Wiederkehr der Erinnerung hatte ich es noch angenommen. Nur vermißte ich jetzt das Heulen des Sturms und auch das Schwanken des Drachenschiffs. Wieder schlug ich die Augen auf, und diesmal schloß ich sie nicht. Was ich als Bordwand identifiziert hatte, war zwar eine Wand, aber sie gehörte nicht zu einem Schiff. Wenn mich nicht alles täuschte, lag ich in einer aus Holz gebauten Hütte, die als Ausgang ein schmales Loch aufwieß, durch das ich nur kriechen konnte. Eine flackernde Mischung aus roten und schwarzen Schatten huschte durch die Öffnung. Ich wußte sofort, daß es der Widerschein eines Feuers war, das vor der Hütte brannte. Feuer? Hütte? Blieb zu vermuten, daß es sich um ein Lager handelte. Klar, man hatte mich in ein Wikingercamp geschafft. Fragte sich nur, ob ich mich in meiner Zeit befand oder in einer tiefen Vergangenheit, die mehr als tausend Jahre zurücklag. Die Horde mußte sich ihrer Sache sehr sicher gewesen sein, denn man hatte mich nicht gefesselt. Ich konnte mich frei bewegen, glaubte allerdings daran, daß die Hütte bewacht wurde. Mich störte besonders der Gestank. Ein widerlich ranziger Öl- oder Fettgeruch, als hätten sich die Krieger mit diesem eklig riechenden Zeug eingerieben. Meine Knochen waren heil, der Schädel hatte auch nichts abbekommen, und ich selbst fühlte mich fit. Natürlich stand ich unter Spannung. Aber in mir keimte auch eine gewisse Neugierde auf, die ich so schnell wie möglich befriedigen wollte. Aufrecht stehen konnte ich nicht. Dafür war die Holzhütte nicht hoch genug. Ich mußte schon den Kopf einziehen, wenn ich nicht gegen das Dach stoßen wollte. Vorsichtig stand ich auf, blieb gebückt stehen, ging wieder auf Hände und Knie nieder und bewegte mich in dieser Haltung auf den Ausgang der Hütte zu. Es gab in diesem Rund weder eine Sitz- noch eine Schlafgelegenheit, nur den sehr harten, festgestampften Lehmboden, von dem aus die Kälte in meinen Körper kroch. Der Ausgang war nur mehr ein Loch. Wenn ich hinausschaute, sah ich Beine, mal eine Hüfte, mehr nicht. Demnach mußten vor der Hütte Wachen aufgestellt sein, die ständig hin- und herpatroullierten. Zum Glück glotzte niemand hinein.
Die Wikinger waren zur Hälfte mit Fellen bedeckt. Eine Art Vorläufer unserer Knieschoner. Auch hatte ich Waffen sehen können. Zumeist Lanzen, Keulen und Äxte. »Ich würde an Ihrer Stelle die Hütte nicht verlassen!« Wispernd war hinter mir die Stimme aufgeklungen, die mich regelrecht erstarren ließ »Braddock?« fragte ich. »Wer sonst?« Verflixt, ihn hatte ich vergessen. Natürlich, er war auf das Schiff zugerannt, und ich hatte ihn verfolgt. Beide waren wir an Bord geholt worden, als menschliche Beute, mit der ciie Wikinger wer weiß was anstellen konnten. »Weshalb soll ich bleiben?« »Wenn Sie den Kopf durch das Loch stecken, schlagen die Kerle Ihnen den Schädel ein!« »Das würde mir nicht gefallen. Wer läuft schon gerne mit weicher Birne durch die Gegend?« »Eben.« Wenigstens hatte Braddock Humor und nahm die Gefangenschaft relativ gelassen. Ich drehte mich auf der Stelle um, blieb allerdings in der Haltung und richtete meinen Blick dorthin, wo kaum Licht hinfiel. Da war es ziemlich düster, und mein Begleiter tauchte in die Schattenecke ein. Deshalb hatte ich ihn nicht gesehen. Jetzt aber bewegte er sich und ging in die Knie. Sein Gesicht schälte sich allmählich wie eine Maske hervor, als er mir zunickte. »Wir sitzen beide im Mist.« »Und das noch freiwillig.« Er gluckste beim Lachen. »Mist, waaim mußten Sie mir auch folgen?« »Gegenfrage: Weshalb sind Sie auf das verdammte Schiff zugelaufen und haben sich an Bord holen lassen?« »Ich hatte meine Gründe.« Er hob den Kopf an und starrte gegen den schmalen Ausgang. »Nur Sie?« »Ja, zum Henker. Sie haben doch mit den Wikingern nichts zu tun gehabt, auch wenn mir Ihr Kollege sagte, daß Sie ihretwegen gekommen sind. Das ... das glaube ich nicht.« »Es stimmt aber.« »Dann erklären Sie sich.« »Nein, Mr. Braddock, das müssen Sie machen. Ich habe meine Erinnerung nicht verloren. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie etwas von einer Puppe gerufen, bevor Sie an Bord gezerrt wurden.« »Ach ja?« Seine Stimme klang abweisend. »Habe ich das?« »Bestimmt sogar.« »Sie müssen sich verhört haben.« Ich wollte mich von ihm nicht auf den Arm nehmen lassen. Er saß links von mir. Ich drehte mich herum und umfaßte seine Schulter. »Hören Sie zu, Mann. Das hier ist kein Spiel. Wir sind zwei Gefangene in einer ver-
dammt üblen Welt. Wenn wir nicht zusammenhalten, können die Wikinger davon nur profitieren. Legen Sie die Karten auf den Tisch. Was war mit der Puppe?« »Sie gehörte meinen Eltern.« Diesmal antwortete Braddock spontan. »Und weiter?« »Sie haben sie vergraben. Sie fanden sie irgendwann einmal. Meine Eltern wußten genau, daß im Wald von Seabrake sich ein magisches Kraftfeld aufgebaut hatte. Mutter und Vater waren sehr sensibel. Nicht grundlos wohnten sie außerhalb von Seabrake. Sie wollten ihre Ruhe haben und den Forschungen nachgehen.« »Bezogen die sich auf die Wikinger?« »Nicht alle, Mr. Sinclair. Meine Eltern waren sensitiv. Die Mutter legte Karten, mein Vater gehörte zu den sichersten Wünschelrutengängern, die Sie sich vorstellen können. Sie haben sich auch für die alte Geschichte ihrer Heimat interessiert, und da mußten sie zwangsläufig auf die Wikinger stoßen, wenn sie das Rad der Zeit um tausend Jahre zurückdrehten. Das ist völlig logisch.« »Bisher gebe ich Ihnen recht. Was aber haben die Wikinger mit Magie zu tun?« »Die war ihnen doch nicht unbekannt! Oder glauben Sie das etwa, Mr. Sinclair?« »Nein.« »Die Wikinger sind gereist, die kamen in der Welt herum, die waren sogar in Afrika.« »Das weiß ich.« »Schön, und sie haben aus Afrika etwas mitgebracht, wie mir meine Eltern einmal berichtet haben.« »Was denn?« »Einen geheimnisvollen Zauber. Dieser Häuptling Leif hat sich an der afrikanischen Küste umgeschaut und ist dort mit den dunkelhäutigen Völkern in Verbindung gekommen. Man nahm die hellen wohl freundlich auf, sonst hätten die Wikinger nicht das mit nach Hause bringen können, was man ihnen damals zeigte.« »Ich warte noch immer auf die Lösung.« Clive Braddock gab sich spöttisch. »Denken Sie mal nach, Mr. Sinclair. Afrika, ein Land mit vielen magischen Riten. Erinnern Sie sich an die Puppe .. .« »Voodoo!« Braddocks Augen leuchteten, als ich das Wort ausgesprochen hatte. »Ja, es war Voodoo. Diese Gruppe von Wikingern brachte aus Afrika den unheimlichen Puppenzauber mit. Ist Ihnen jetzt einiges klargeworden, Sinclair?« »Nicht nur einiges. Mir ist soeben ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. Dann haben diese Krieger durch ihre Voodoo-Kenntnisse überleben können, oder wie sehe ich das?« »Genau richtig.«
»Andere Frage. Woher wußten Ihre Eltern davon? Haben sie schon früher Kontakt zu dem Volk gehabt? Konnten sie ihren Geist durch die Zeiten wandern lassen?« »Sie waren sensitiv veranlagt. Das ist che Lösung. Sie haben gespürt, daß die Wikinger damals ein Erbe, ein magisches Kraftfeld hinterließen. Das nutzten sie aus.« »Mit der Puppe?« »So ungefähr.« »Stellten sie eine Voodoo-Puppe her? Oder wie sind sie vorgegangen?« »Sie haben nichts begriffen, Sinclair! Im Wald befand sich das magische Kraftfeld, ausgelöst durch die Voodoo-Puppe. Sie ist vergraben worden, damals, als die Wikinger, aus Afrika kommend, die Küste Englands besetzt hielten.« »Moment, Meister. Wollen Sie damit sagen, daß die alte Voodoo-Puppe das magische Kraftfeld hinterlassen hat, das Ihre Eltern fanden?« »Sehr richtig.« »Was geschah dann? Weshalb hat man sie getötet? Ist die Puppe noch vorhanden?« Braddock hob die Schultern. »Fragen Sie mich nicht so etwas Schweres. Ich habe keine Ahnung davon. Jedenfalls müssen meine Eltern einen Fehler gemacht haben, sonst wären sie nicht umgebracht worden. Die Puppe ist ungemein wichtig. Sie garantierte den Horden ein Leben nach dem Tod. Oder ist das falsch ausgedrückt?« »Im Prinzip nicht. Die Wikinger haben durch das Vorhandensein der Puppe überlebt.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist der helle Wahnsinn, wirklich.« »Man kann es keinem anderen sagen. Aber Sie sind ja deswegen gekommen. Leider zu spät. Jetzt müssen Sie die Folgen tragen. Die Puppe oder ihre Kraft hat ein Zeitloch auf magischem Weg eingerissen. In das sind wir gerutscht. Es wäre ein Wunder, wenn wir da wieder lebend herauskämen.« »Bestimmt.« Ich war mit meinen Gedanken noch immer bei der Puppe. »Hören Sie, Braddock, haben Ihre Eltern mit Ihnen über diese Dinge gesprochen?« »Nicht intensiv. Unser Kontakt war nicht besonders. Ich bin nicht ohne Gründe nach Seabrake gezogen.« »Weichen Sie mir nicht aus. Sie wissen über gewisse Dinge sehr genau Bescheid.« Er hob die Schultern und drückte seine Beine vor. »Das ist nur allgemein.« Ich blieb am Ball. »Bleiben wir mal bei der Puppe, Braddock. Auch wenn Ihre Eltern angeblich nicht viel gesagt haben, so wußten sie doch gut Bescheid. Ich möchte von Ihnen erfahren, aus welchem Material sie
bestand. War es normales Holz, hatte man Ebenholz oder Elfenbein aus Afrika mitgebracht?« »Nichts von dem.« »Aus was bestand die Puppe dann?« Er drehte mir das Gesicht zu. Die Lippen zeichneten ein dünnes Lächeln. »Sie werden es kaum glauben, Sinclair, auch ich kann es nicht fassen, aber es war keine richtige Puppe. Sie wurde nur so genannt. In Wirklichkeit war es ein Mensch, den man präpariert hatte. Ein Mensch, der zirka tausend Jahre alt ist!« Er wunderte sich, daß ich kein Erschrecken zeigte. »Das ist in der Tat außergewöhnlich. Auch bei den Menschen gibt es Unterschiede. Zu wem gehörte er?« »Zu den Wikingern.« »Was war er da?« »Ein Magier, ein Medizinmann, ein Arzt oder was weiß ich nicht alles. Jedenfalls jemand, der aus der Rolle fiel und nicht als normal eingestuft werden konnte. Das war eine Figur, die bestimmte Kräfte besaß, die sich auskannte auf dem weiten Feld der Magie. Ist doch klar. Sie konnten nicht jeden nehmen. Es mußte schon etwas dahinterstecken, kann ich mir vorstellen.« »Sie hat überlebt und ist von Ihren Eltern gefunden worden?« »Richtig! Die beiden Braddocks gruben sie aus.« »Was geschah dann?« »Wieso fragen Sie mich das? Sie haben selbst erlebt, daß die Wikinger kamen. Mein Eltern müssen den magischen Bann gelöst und das Zeitloch geöffnet haben. Das ist alles. Als ich die verfluchten Kerle zum erstenmal sah, war mir einiges klar geworden. Ich bin zu meinen Eltern gefahren und fand sie tot. Die Mörder waren schneller gewesen. Das ist die ganze Geschichte.« »Die ich Ihnen sogar glaube.« »Bleibt uns denn eine Wahl?« »Wohl kaum.« »Viel habe ich nicht sehen können, Braddock, nur eben den Feuerschein. Ich gehe allerdings davon aus, daß wir uns nicht mehr in unserer Zeit befinden.« »Darauf können Sie Gift nehmen.« »Also müssen wir wieder zurück.« Er lachte kichernd. »Klar doch. Nebenan steht der Zug. Steigen Sie ein, Sinclair, und fahren Sie wieder in die Gegenwart, wo man Sie jubelnd empfangen wird.« »Werden Sie nicht albern, Braddock. Sie hätten nicht auf das Schiff zuzustürzen brauchen.« »Sind Ihre oder meine Eltern gestorben, Sinclair? Auch wenn der Kontakt nicht optimal gewesen ist, ich habe doch an ihnen gehangen, und ich wollte diesem verdammten Spuk ein Ende machen.«
»Schon gut.« Wenigstens hatte man mir die Waffen gelassen. Wie es weitergehen sollte, wußte ich nicht. »Feinde haben die früher geköpft. In alten Sagen habe ich gelesen, daß sie sogar auf einen Spieß gesteckt und gebraten worden sind. Es gab auch noch andere Methoden, den Feind vom Leben in den Tod zu befördern. Man klopft ihm mit einer Keule die Knochen zu Brei, man ...« »Es reicht.« »Schwache Nerven?« »Nicht immer.« Ich hatte keine Lust mehr, in der stinkenden Hütte hocken zu bleiben. Auch wenn mich Braddock gewarnt hatte, mußte ich versuchen, das Gefängnis zu verlassen und einen Weg finden, um auf das Drachenschiff zu gelangen. »He, Sinclair, bleiben Sie.« »Ich hole Sie später.« »Ohne Kopf, was?« Er bekam keine Antwort. Mittlerweile hatte ich mich bis dicht an den Ausgang herangeschoben und beobachtete die Wachen. Als ich ihren Rhythmus bemerkte, stellte ich fest, daß sie immer in der gleichen Folge gingen und zwischen ihrem Auftauchen große Lücken blieben. Das mußte ich ausnutzen. Ich wartete noch ab, denn die Krieger waren in der Routine erstarrt. Nicht einmal bückten sie sich, um einen Blick in das kleine Holzhaus zu werfen. Braddock hatte natürlich gesehen, was ich wollte. »Das schaffen Sie nicht, Sinclair!« flüsterte er. »Das geht nicht gut. Verlassen Sie sich darauf.« »Ich verlasse mich lieber auf mein Können!« gab ich ebenso leise zurück. Auf Braddock konnte ich keine Rücksicht nehmen. Ich war ihm dankbar, daß er mich über gewisse Dinge aufgeklärt hatte. Daß die Wikinger schon eine Verbindung zum Voodoo-Zauber gefunden hatten, war mir neu gewesen. Darauf wäre ich nicht im Traum gekommen. Wieder schritten die Aufpasser vorbei. Von links nach rechts ging der Kerl; ein zweiter erschien nicht. Ich wagte es und huschte aus der Hütte. Mein Plan stand bereits fest. Nur nicht auf das Feuer zulaufen, wo man mich sofort entdeckt hätte. Ich mußte weg von den Flammen, in die dunklen Ecken des Lagers, die es bestimmt auch gab. Ich hatte mich dafür entschieden, nach links zu laufen, und geriet in die Dämmerung des allmählich ausklagenden Tages. Als erste Deckung diente mir eine weitere Hütte. An die Außenwand preßte ich mich, so dicht, daß ich mit ihr zu verschmelzen schien.
Mein Herz klopfte schneller. Ich wartete auf Alarmschreie, die nicht zu hören waren. Demnach mußte der erste, wichtige Teil meiner Flucht geklappt haben. Die Wikinger hatten mich aus der Orkanhölle entführt. Von einem scharfen Sturm merkte ich hier nichts, obwohl der Wind noch wehte. Hinter mir klangen die typischen Geräusche einer Brandung auf. Das laute Rauschen, dazwischen ein hartes Donnern, wenn die Wellen gegen die Felsen schlugen. Nachdem ungefähr eine Minute vergangen war, drehte ich mich, um in Richtung Meer zu schauen. Die Küste malte sich felsig, schroff und zerklüftet ab. Die Natur hatte einen natürlichen Hafen geschaffen, in dem das Drachenboot der Wikinger ankerte und schaukelnd auf den auslaufenden Wellen dümpelte. ■ Als scharfe Kulisse hob es sich ab und lag nicht einmal tief im Wasser. Mir war bekannt, daß die Wikinger mit diesen Booten nicht nur die Meere durchkreuzt hatten. Sie waren auch in der Lage gewesen, in die Flüsse hineinzufahren. Deshalb durften die Boote keinen großen Tiefgang besitzen. Die Hütte, die mir als Deckung diente, gehörte zu den äußersten. Vor mir brannten Feuer, hinter mir hatte sich die Dämmerung über den Küstenstreifen gesenkt. Ich warf einen Blick zum Himmel. Bleigrau, aber mit großen Lücken, in denen es hell leuchtete, lag er über mir. Wohin? Fliegen konnte ich nicht, aber mich persönlich interessierte das Boot. Sollte den Wikingern meine Flucht auffallen, würden sie mich natürlich verfolgen. Ich nahm mir nicht mehr die Zeit, noch länger darüber nachzudenken. Ein traniger Geruch schwebte über mir. Auf dem größten der Feuer kochten Wikingerfrauen das Essen. In ihrer Kleidung waren sie von den Männern kaum zu erkennen. Sie sollten ruhig essen und viel trinken. Die anschließende Müdigkeit würde meinen Plänen sehr entgegenkommen. Braddock hätte ruhig mitkommen können. Wie es mit ihm weiterging, wußte ich auch nicht. Hoffentlich rächten sich die Kerle wegen meiner Flucht nicht an ihm. Dann war ich gezwungen, ihn aus der Gefahr zu holen. Einen Strand im landläufigen Sinne gab es nicht. Der Boden bestand aus einer Mischung zwischen Steinen und Gras. Sie waren unterschiedlich hoch und bildeten Stolperfallen. Ich war schnell, achtete dabei auf fremde Geräusche und konnte aufatmen, als ich nur das Rauschen der Wellen mitbekam. Denen lief ich
entgegen. Ihre hellen Schaumstreifen auf den Kämmen schimmerten silberfarben. Um das Schiff zu erreichen, mußte ich ins Wasser. Ich hatte so etwas Ähnliches wie ein Ankertau erkennen können. Jedenfalls hingen dicke Seile über die Bordwand. Sie waren sicherlich mit Steinen oder anderen Gegenständen beschwert. Die See war kalt. Knie-, dann hüfthoch umspielten mich die Wellen. Ich breitete die Arme aus, hielt so mein Gleichgewicht und kämpfte mich weiter. Das Wasser zerrte an meinem Körper und wollte mich wieder gegen den Strand zurückschleudern. Dagegen kämpfte ich an. Mit Kraulstößen schaffte ich es, die Wellen zu überlisten. Wenig später erhob sich die Bordwand vor mir wie ein breiter Schatten. Ich änderte die Richtung etwas und schwamm auf eines der laue zu. Eine Welle packte und schob mich an das Ziel. Mit beiden Händen bekam ich das große Tau zu fassen. An einigen Stellen war es aufgespleißt; nicht gerade gut für die Haut. Ich hielt trotzdem fest und konnte leider nicht vermeiden, daß eine nächste Woge meine Beine gegen die Bordwände prellte. Wie Schüler im Turnunterricht hangelte ich mich hoch. Die Luft war kühl und klar. Sie schmeckte nach Salz. Der Wind trocknete mein Gesicht. Die Kleidung aber hing wie ein nasser, schwerer Sack an meinem Körper. Das Drachenschiff war aus mächtigen Planken geziriimert worden. Wenn jetzt ein Krieger als Wache zurückgeblieben war, hatte er beste Chancen, mich zu erledigen, denn ich hatte keine Deckung, als ich an Bord kletterte. Ich ließ mich über die Bordwand gleiten. Eine Erinnerung an meinen ersten unfreiwilligen Besuch auf dem Schiff hatte ich nicht. Für mich war alles neu, und ich ärgerte mich, als ich auf einer der hölzernen Ruderbänke landete und mir schmerzhaft den Rücken stieß. Die Bänke waren feucht. Ich rutschte noch ein Stück und fiel dann zwischen sie. Ob der Krieger darauf nur gewartet hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls hatte er die Gelegenheit als günstig empfunden und war blitzschnell da. Ich schaute in die Flöhe. Der Kerl war klein, stämmig und gefährlich. Letzteres nicht zuletzt deshalb, weil er eine Streitaxt in der rechten Hand hielt, mit der er mir den Schädel spalten wollte... *** Die Wikinger waren Meister im Umgang mit diesen Waffen, das wußte ich.
Um an die Beretta zu kommen, blieb mir nicht die Zeit. Zudem klemmte ich zwischen den Sitzreihen und konnte praktisch nur die Füße bewegen. Das tat ich auch. Ein Tritt erwischte den Wikinger im Leib. Genau in dem Augenblick, als seine verdammte Streitaxt nach unten raste. Er kippte zurück, konnte den Schlag nicht mehr bremsen. Die Streitaxt rutschte ihm aus der Faust. Im hohen Bogen flog sie über die Bordwand. Besser konnte es nicht laufen! Bevor sich der Krieger von seiner Überraschung erholt hatte, war ich freigekommen und jagte ihm bereits einen Faustschlag entgegen, der sein Kinn erwischte. Mir aber schoß der Schmerz durch die Hand hoch zum Ellenbogen. Hoffentlich war nichts gebrochen. Der Krieger fiel nicht. Erstand da, starrte mich dumpf an. Sein langes Haar glänzte fettig. Er stank nach Fisch und Schweiß. Aber er besaß noch eine Waffe. Bevor er die Keule heben konnte, hatte ich schon mit der Handkante zugeschlagen. Diesmal schwankte der Knabe. Handkantenschläge war er nicht gewohnt. Er taumelte über das Schiff und fiel an der gegenüberliegenden Bordwand zwischen die Ruderbänke. Ausgeschaltet war er nicht. Mühsam stemmte er sich nämlich wieder hoch. Ein zweites Mal erwischte ich sein Kinn. Diesmal mit der Fußspitze. Ein dumpfes Knirschen ertönte, und die Augen bekamen einen seltsamen Ausdruck. Dann fiel er in eine Lücke, wo er liegenblieb und sich nicht mehr rührte. Das war geschafft. Ich rieb und betastete meine Knöchel, weil ich feststellen wollte, ob tatsächlich nichts gebrochen war. Nein, sie schmerzten nur. Hatten die Wikinger einen Krieger zurückgelassen, oder befanden sich noch weitere an Deck? Es war noch nicht völlig dunkel geworden, aber die Schatten der Felswände fielen auf das Schiff, so daß ich nicht viel erkennen konnte. Das Segel war gerefft. Sein Mast lag in der Mitte zwischen den Ruderbänken. Am Heck sah ich eine Feuerstelle und auch Fässer, in denen sich wahrscheinlich Proviant befand. Wie ging es weiter? Sollte ich warten, bis jemand kam, oder sollte ich versuchen, den Mast aufzurichten? Allein schaffte ich das nicht. Es gab nichts, was mithätte helfen können. Um den Mast in die Höhe zu bekommen, waren sicherlich zehn oder mehr starke Männer erforderlich. Ich ging durch den Mittelgang zum Bug des Schiffes — und blieb plötzlich stehen, als hätte mich eine Faust gestoppt. Zuerst dachte ich an
einen Krieger, der den Bereich des Bugs überwachte. Beim Näherkommen erkannte ich den Irrtum und bekam eine Gänsehaut. Was da vor mir stand und durch ein Holzgestell gehalten wurde, war kein Mensch, es mußte die Puppe sein, von der mir Clive Braddock berichtet hatte. Das Voodoo-Geheimnis der Wikinger! *** Ich tat zunächst nichts, denn die Überraschung war einfach zu groß. Viele Gedanken schwirrten durch den Kopf. Im Prinzip beschäftigten sie sich mit Braddocks Erzählungen. Er hatte die Puppe erwähnt und kannte sie auch möglicherweise vom Ansehen, aber aus der Gegenwart, aus unserer Zeit. Ich sah sie ebenfalls, doch ich befand mich jetzt in der Vergangenheit, wahrscheinlich im elften Jahrhundert. Das nahm ich hin, denn durch die Zeit zu reisen, war ich mittlerweile gewohnt. Daß ich die Puppe nicht würde zerstören können, war mir klar. Sonst hätte sie es ja nicht auch in meiner Zeit geben können. Aber ich wollte sie mir zumindest genauer anschauen. Die Höhe der Bordwände reichte aus, um mir den entsprechenden Schutz zu geben. Deshalb riskierte ich es auch, die schmale Lampe zu nehmen und die Puppe anzuleuchten. Ihr Schein würde nicht über die Bordwand hinweggleiten. Braddock hatte zwar von einer Puppe gesprochen, sie allerdings auch als einen Menschen angesehen, der aus Afrika mitgebracht worden war. Ein Mensch, möglicherweise ein dunkelhäutiger Zombie, in dessen Gesicht ich zielte. Es war tatsächlich eine dunkelhäutige und böse, widerliche Fratze. Die Haut kam mir vor, als wäre sie von aller Flüssigkeit befreit worden. Sie war zusammengezogen, besaß ein Muster aus Falten, und der Kopf erinnerte mich dabei an einen alten, verschrumpelten Apfel. Haare sah ich nicht. Entweder hatte die Gestalt sie verloren oder sie waren ihr abrasiert worden, um Platz für die dunklen Nadeln zu bekommen, von denen zwei im Schädel der Zombie-Puppe steckten. Zwei weitere steckten im Gesicht der Puppe, die übrigen verteilten sich auf dem Körper. Mir juckte es in den Fingern, eine oder mehrere Nadeln aus dem Körper zu ziehen. Ich beschloß, es zu wagen. Die Lampe hielt ich dabei auf die Augen gerichtet. Es war selbst bei diesem Licht nicht zu erkennen, ob die Augen noch lebten oder überhaupt vorhanden waren. Das Licht verlor sich in den dunklen Höhlen wie in tiefen Trichtern.
Die Nadel an der Wange interessierte mich. Mit den Fingerspitzen berührte ich sie. Mir selbst war durch die feuchte Kleidung ziemlich kalt geworden. Die Nadel aber besaß eine innere Wärme, erklärbar mit dem Begriff >Schwarze Magie