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Davis J.Harbord 1.
Das dänische Wachboot, das am Morgen des 2. April 1593 querab von Hornbaek oben an der Nordostecke von Seeland auf Patrouillenfahrt war, um den Sund zu bewachen und die Zollgebühren von den einlaufenden Schiffen zu erheben, hatte gegen neun Uhr eine merkwürdige Begegnung. Die kleine Schaluppe, die von Norden aus dem Kattegat heransegelte und sich anschickte, in den Öre-Sund einzulaufen, wirkte keineswegs ungewöhnlich, es sei denn, man empfand die Salzschicht, mit der sie total überkrustet war, als etwas Besonderes. Auch die Segel aus gelohtem Tuch waren grauweiß, aber mehr grau als weiß. Segler, die auf Langfahrt gewesen waren, sahen so aus, aber das waren Schiffe, keine Schiffchen wie dieses. Jedenfalls war das die Ansicht von Sverre Olsen, dem Leutnant und Kapitän des dänischen Wachboots. Sein Bootsmann fand das auch. „Sieht aus, als sei der einige Wochen zu lange auf See gewesen“, sagte er kopfschüttelnd. Und dann beäugten sie gemeinsam, jeder durch einen Kieker, die beiden Kerle, die offenbar als einzige dieses Schiffchen bevölkerten. Der eine saß achtern an der Pinne, der andere schien für Großschot und Fockschot zuständig zu sein oder für sonst was. Vielleicht wechselten sie, wenn's dem einen an der Pinne und dem anderen an den Schoten zu langweilig wurde. Das Schiffchen hatten sie jedenfalls gut im Griff, so was sah man, wenn man einen Blick dafür hatte, und den hatten beide, Bootsmann und Leutnant. Aber die beiden Kerle fielen auf -etwa wie zwei Disteln in einem Beet voller schöner Rosen. Der an der Pinne trug ein rotes Kopftuch und am linken Ohr einen großen goldenen Ring. Sein Gesicht mochte einmal sonnenverbrannt gewesen sein. Jetzt wirkte es eher grau mit bräunlicher Untertönung.
Dem Norden entgegen
„Ts, ts!“ äußerte sich Sverre Olsen, der Leutnant. „Der sieht scharf aus, wie?“ „Mächtig scharf“, bestätigte der Bootsmann und fügte hinzu: „Der andere aber auch!“ Ja, das stimmte. Der andere war ein blondhaariger Klotz von Mann, nur trug er keine gewöhnliche Seemannskleidung, sondern Felle und Riemensandalen, die um die Waden geschnürt waren. Sein Gesicht war kantig und hart und bärtig wie das des Kerls an der Pinne. „Du meine Güte“, murmelte Sverre Olsen irritiert, „so sind doch früher die Wikinger herumgelaufen.“ „Vielleicht ist das einer“, sagte der Bootsmann dumpf. Sverre Olsen setzte den Kieker ab und fixierte seinen Bootsmann. „Quatsch“, sagte er und bündig und rief dem Rudergänger zu, Kurs auf die Schaluppe zu nehmen. Der bestätigte den Befehl, legte Ruder und luvte an. Die Segel wurden dichter geholt. Mit halbem Wind über Steuerbordbug schäumte das Wachboot auf die Schaluppe zu, kreuzte aber nicht deren Kurs, sondern fiel dwars von ihr wieder ab, halste und ging auf Parallelkurs. Die beiden Kerle auf der Schaluppe blickten unwillig zu dem Wachboot, das jetzt in Luv von ihnen lag und ihnen den Wind wegnahm. „Stoppen Sie!“ rief Sverre Olsen zu ihnen hinüber. „Sundkontrolle!“ Der Ohrring-Mann an der Pinne spuckte nach Lee über Bord und der Fell-Mann drehte sich um und zeigte dem Wachboot den Hintern, indem er sich etwas beugte und den beachtlichen Achtersteven hochreckte. In der internationalen Sprache bedeutete das: Ihr könnt uns mal im Mondschein begegnen oder kreuzweise den Buckel runterrutschen -von anderen Aufforderungen ganz abgesehen. Sverre Olsen kriegte rote Ohren vor Zorn. Der Bootsmann sagte vorsichtig: „Wenn das noch ein Wikinger aus der alten Zeit ist, dann kann er nicht wissen, daß wir jetzt den Sund kontrollieren.“
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„Quatsch!“ schnaubte der Leutnant zum zweiten Male. „Aus der alten Zeit! So ein Quatsch! Da wäre er längst vermodert.“ „Kann ja 'n Urenkel oder so was sein”, sagte der Bootmann. Sverre Olsen hätte gern gestöhnt ob der Einfalt seins Bootsmanns, aber er mußte sich um die Schaluppe kümmern. denn die fiel jetzt ab, um der lästigen Windabdeckung zu entgehen. „Hau ihm einen Schuß vor den Bug!“ sagte er daher zu dem Kanonier an der Backbord-Drehbasse. Der zeigte klar, visierte kurz und feuerte. Rumms! Vier Yards vor der Schaluppe stieg eine Wassersäule hoch und fiel wieder in sich zusammen. Der Ohrring-Mann und der Fell-Mann freuten sich über die schöne Wassersäule und segelten weiter. Bei dem Schuß waren sie nicht mal zusammengezuckt. „Die sind abgebrüht“, sagte der Bootsmann bedächtig und fügte hinzu: „Das waren die Wikinger auch.“ „Zu der Zeit wurde noch nicht mit Kanonen geschossen!“ fauchte Sverre Olsen. „Das nicht, aber mit Pfeilen und Speeren“, sagte der Bootsmann. Sverre Olsen hätte ihn erwürgen können, befahl aber stattdessen dem Kanonier, noch einen Warnschuß abzufeuern, dieses Mal noch dichter vor den Bug. Rumms! Die Schaluppe segelte direkt in die zusammenfallende Wassersäule, und die beiden Kerle wurden überduscht. „Ohh!“ riefen sie, und der Fell-Mann drohte schelmisch mit dem Finger. ..Sofort stoppen!“ brüllte Sverre Olsen mit überschnappender Stimme. „Wohl verrückt geworden, was?“ Die beiden Kerle segelten weiter. Entweder waren sie schwerhörig oder stur oder beides. Und frech waren sie außerdem, weil es sich nicht gehört, einem dänischen Offizier den Hintern zu zeigen. „Klar zum Entern!“ rief Sverre Olsen seinen Männern zu und knirschte mit den Zähnen.
Dem Norden entgegen
Aber das klappte nicht. Als das Wachboot an die Schaluppe heranstaffelte, luvte diese unvermutet an und ging blitzschnell auf den anderen Bug. Das Wachboot schoß an ihr vorbei. Als es ebenfalls wendete, lief die Schaluppe schon wieder Südkurs und in den Sund. Der Ohrring-Mann und der Fell-Mann grinsten breit und schienen viel Spaß zu haben. Jetzt ackerte das Wachboot hinter ihnen her und mußte erst einmal die verlorene Distanz wieder aufholen. Sverre Olsen hätte gezielt schießen lassen können, aber er war ein durch und durch anständiger Kerl, der stets das Maß zu wahren wußte. Diese beiden Verrückten waren ja nicht aggressiv geworden. Nur frech waren sie. Was die sich wohl dachten! Na ja, weit würden sie nicht gelangen. Von Helsingör her segelten bereits zwei weitere Wachboote ihnen entgegen, alarmiert von den beiden Drehbassenschüssen. Jetzt tauchte aus dem Hafen noch ein drittes Wachboot auf. Auch weiter unten bei der Sundinsel Ven war man aufmerksam geworden, und zwei Wachboote lösten sich aus dem kleinen Hafen von Kyrbacken. Insgesamt also sechs Wachboote gegen eine kleine Schaluppe, die mit zwei Kerlen - allerdings merkwürdigen Kerlen - besetzt war, da hatte die Sprechweisheit von den vielen Hunden, die des Hasen Tod sind, durchaus seine Richtigkeit, auch wenn der Hase flink war und über eine Menge Tricks verfügte. Tatsächlich hielten die beiden Kerle die Wachboote ganz schön zum Narren. Offenbar empfanden sie die Jagd nach ihnen als eine Art Wettstreit, ignorierten die diversen Aufforderungen, die Segel zu streichen, entschlüpften nach Luv oder Lee, halsten oder wendeten, steuerten halsbrecherische Kollisionskurse, die darin gipfelten, daß sich zwei Wachboote fast selbst gerammt hätten, und schafften es dabei, immer weiter Raum nach Süden zu gewinnen. Das ging so lange gut, bis einem Wachbootkommandanten der Kragen
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platzte. Mit einer Kettenkugel wurde die Schaluppe entmastet. Offenbar empfanden das die beiden Kerle als Spielverderb, denn als jetzt die ersten beiden Wachboote bei ihnen längsseits gingen, legten sie erst richtig los und entfesselten einen Zirkus, der es in sich hatte. Wie die Teufel kämpften sie. Der Klotz von Fell-Mann langte mit den Fäusten zu und röhrte dabei wie ein wilder Stier, während der Ohrring-Mann die Pinne vom Ruderkopf abgenommen hatte und sie als Holzprügel benutzte. Auch er brüllte ordentlich, aber in einer Sprache, die den dänischen Mannen unverständlich war. Die beiden fremden Kerle räumten ab, daß es nur so seine Art hatte. Dem einen Wachbootkommandanten schlug der Fell-Mann beide Klüsen dicht, so daß der Ärmste innerhalb von Minuten nichts mehr sah. Und dem anderen Wachbootkommandanten, der auch auf die Schaluppe übergeentert war, säbelte der Ohrring-Mann mit der Pinne die Beine weg, so daß er außenbords kippte und ein kaltes Bad nehmen mußte. Ein paar anderen erging's genauso. Sie versammelten sich im Wasser und brüllten ihrerseits um die Wette. Es war wirklich der reinste Zirkus. Schließlich stiegen der Ohrring-Mann und der Fell-Mann auf das Wachboot an Backbord über und begannen dort mit ihren Aufräumungsarbeiten. Wie Berserker wüteten sie. Der Fell-Mann hatte einen Schlag drauf, der ausreichte, um Ochsen zu fällen. Er verschob Nasen und setzte Köpfe schief. Einem Dänen verpaßte er ein Hämmerchen, das den Mann regelrecht um den Mast wickelte, an dem er sich im letzten Moment noch hatte festhalten können. Das war vielleicht eine Wuhling! Zwei weitere Wachboote krachten längsseits des Pulks, dessen Mitte die Schaluppe bildete, an deren Seiten sowieso schon je ein Wachboot hing. Holz splitterte. Segel schlugen quer, zwei Großbäume verhakten sich ineinander - mit dein Erfolg, daß der eine splitternd in die
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Binsen ging. Dabei zerriß natürlich das Segel. Die beiden Kerle turnten von einem Wachboot zum anderen, und niemand wagte zu schießen, aus Angst, in dem Durcheinander einen eigenen Mann zu treffen. Und wo sie hinlangten, fiel ein Gegner aus oder trat die Reise außenbords an. Diese beiden Wüteriche entpuppten sich als erstklassige Kämpfer. Inzwischen wimmelte es um den Pulk von Wachbooten die neu hinzugestoßen waren. aber auf Befehl Sverre Olsens nicht mehr eingriffen, sondern einen Ring um den Pulk bildeten. So ergab sich die groteske Situation, daß die beiden Kerle zwar in hervorragender Weise die vier längsseits gegangenen Wachboote entvölkert hatten, jetzt aber ohne greifbaren Gegner dastanden. Dafür befanden sie sich im Mittelpunkt oder Zentrum eines Kreises. der mit Musketen gespickt war deren Läufe von den anderen Wachbooten ringsum auf sie gerichtet waren. Die Jagd war vorbei der Kampf war aus, da biß keine Maus den Faden ab. Die beiden Kerle, zur Zeit auf dem äußersten Wachboot an Steuerbord ihrer entmasteten Schaluppe, schau-. ten sich um und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Der Fell-Mann, der bisher in der norwegischen Sprache geflucht und gebrüllt hatte, sagte jetzt in einer fremden Sprache - war die französische - laut und deutlich: „Merde!“ Sverre Olsen, der einmal Ärger mit einem französischen Handelsfahrer gehabt hatte natürlich wegen des Sundzolls -, kannte dieses Wörtchen und wunderte sich einmal mehr über diese beiden Kerle, die in kein Schema paßten. „Was hat er gesagt?“ fragte sein Bootsmann. „Scheiße hat er gesagt, und zwar auf französisch“, entgegnete Sverre Olsen. Der Bootsmann starrte ihn entgeistert an. „'n französischer Wikinger?“ Sverre Olsen zog nur die Augenbrauen hoch und verzichtete auf eine Antwort.
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Zu den beiden Kerlen brüllte er hinüber: „Jeder weitere Widerstand ist zwecklos. Ich fordere Sie auf, sich zu ergeben. Falls Sie sich widersetzen, müßte ich auf Sie feuern lassen. Haben Sie das verstanden?“ „Bin ja nicht taub!“ brüllte der Fell-Mann zurück. „Sagen Sie, was Sie von uns wollen, und dann hauen wir ab!“ Der hatte vielleicht Nerven. Abhauen! Mit zerschossenem Mast! „Das hier ist dänisches Gewässer!“ rief Sverre Olsen. „Jeder, der den Sund passieren will, hat laut Order des dänischen Königs dafür eine Gebühr zu entrichten. Dieser Sundzoll ist von allen Staaten, die die Ostsee befahren, anerkannt worden. Zu welchem Land gehören Sie?“ Der klotzige, blonde Kerl lachte dröhnend. „Zu welchem Land? Zu keinem, verdammt noch mal! Wir sind freie Männer, und euer Sundzoll kratzt uns einen Scheiß!“ Der Kerl war verrückt, total verrückt. „Woher kommen Sie?“ brüllte Sverre Olsen. „Das geht euch einen Dreck an!“ brüllte der Fell-Mann zurück. Sverre Olsen biß sich auf die Lippen. So gelangte er nicht weiter. „Tut mir leid!“ rief er. „Aber ich muß Sie festnehmen lassen! Der Hafenkapitän wird entscheiden, was mit, Ihnen zu geschehen hat. Ihre Schaluppe ist beschlagnahmt!“ Die beiden Kerle fluchten, schienen aber angesichts der auf sie gerichteten Musketen auf weiteren Widerstand zu verzichten. Nur als ein Wachboot längsseits gegangen war und sie gefesselt werden sollten, ging der Krawall wieder los. Aber zwei dänische Seesoldaten, die hinter sie geglitten waren, klopften ihnen die Pistolenläufe auf die Köpfe, und Sverre Olsen atmete auf. Endlich waren die Kerle gebändigt. Er übernahm sie zu sich an Bord und segelte mit der entmasteten Schaluppe im Schlepp in den Hafen von Helsingör. * Ein paar Seesoldaten schleppten den Ohrring-Mann und den Fell-Mann ins
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Kittchen des Hafenkapitäns, der im Hafengebiet auch eine Art Polizeifunktion innehatte. Meist beherbergten die beiden Zellen in der Hafenkommandantur bezechte Seeleute, die dort ihren Rausch ausschliefen. Auch Randalierer wurden dort eingesperrt, die bei Wasser und Brot sehr schnell fromm wurden. Inzwischen untersuchte Sverre Olssen die Schaluppe. Was er da zutage förderte, war mehr als erstaunlich und trug dazu bei, ihn noch mehr zu verwirren. Erstens einmal waren diese beiden Kerle bestens bewaffnet gewesen. In einer länglichen Backskiste lagerten Hieb- und Stichwaffen nebst Musketen, Pistolen und Tromblons. Munition dafür war zur Genüge vorhanden, außerdem sechs Pulverfässer. Das reinste Waffenarsenal war das, noch dazu hervorragend gepflegt. Was diese beiden Kerle mit dem ganzen Schieß- und Blankwaffenzeug wollten, war ein Rätsel. Entweder sammelten sie Waffen - oder besser, hamsterten sie wie Eichhörnchen, die Bucheckern, Eicheln und Nüsse horten, oder sie handelten mit dem Kram. Eine dritte Möglichkeit war, daß sie die Absicht hatten, eine Räuberbande zu gründen. Als nächstes stellte Sverre Olsen fest, daß die Kerle keineswegs am Hungertuch genagt hätten - im Gegenteil. Der Vorrat reichte aus, um ein paar Wochen Fettlebe zu veranstalten und sich einen Bauch anzufressen. Zwei Weinfässer waren auch dabei - und noch ein Faß. Was war da denn drin? Sverre Olsen kostete. He-he! Das war doch Rum! O Mann! Einmal in seinem Leben hatte Sverre Olsen Rum getrunken. Der Kapitän eines holländischen Handelsfahrers hatte ihm eine Flasche geschenkt. Vor zwei Jahren war das gewesen. Als die Flasche leer gewesen war, hatte Sverre Olsen überkreuz gepeilt und die Kimm doppelt gesehen. Hastig verspundete er das Faß, aus dem es so verlockend duftete. Es ging ja nicht an, daß er sich hier einen andudelte, noch dazu mit Rum, der ihm nicht gehörte.
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Die dritte Entdeckung Sverre Olsens war dazu angetan, ihn vollends ins Bockshorn zu jagen. Die beiden Kerle waren stinkreich, jawohl! Die waren so reich, daß sie sich statt dieser armseligen Schaluppe eine ganze Galeone hätten kaufen können - und dann wären sie immer noch reich gewesen. Waren das Schatzräuber? Die Truhe, die Sverre Olsen aufgeklappt hatte, enthielt mehrere Lederbeutel voller erlesener Perlen, eine Kassette mit Goldmünzen, eine mit Silbermünzen, eine mit funkelndem Schmuck und weitere Lederbeutel mit Edelsteinen. Es war nicht zu fassen. Sverre Olsen hätte sich an diesen Schätzen bereichern können, aber er tat es nicht. Er war ein ehrlicher Mensch. Nein, daran dachte er nicht. Seine Gedanken wirbelten in andere Richtungen und beschäftigten sich mit der Frage, woher, um alles in der Welt, diese Schätze wohl stammen mochten und wie sie in den Besitz der beiden Kerle gelangt waren. Hatten sie sich deshalb so erbittert gewehrt, die Schaluppe kontrollieren zu lassen? Da war ein Verhör mit den Kerlen fällig. Sverre Olsen versiegelte die Truhe, ließ einen Posten vor der Schaluppe aufziehen, dem er die strikte Order gab, niemanden an Bord zu lassen, und eilte zur Kommandantur, um dem HafenkapitänBericht zu erstatten. Eric Hornborg. der Hafenkapitän, war ein dicklicher Mensch. pausbackig wie ein Engelchen, nur pflegen Engelchen keine Knotennase und listige Äuglein zu haben. Aber sonst stimmte der Vergleich, denn Engelchen sind auch keine Draufgänger, sondern friedliche Wesen mit sanftem Gemüt. Also, ein Draufgänger war Eric Hornborg nicht, und die durchaus manchmal auch gefährlichen Klippen seiner Tätigkeit als Hafenkapitän pflegte er mit List und Tücke zu umschiffen. Außerdem hatte er ja tüchtige Leute wie den Leutnant Sverre Olsen und die anderen Kapitäne der Wachboote samt deren Besatzungen.
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Na ja, vor zwei Monaten hatte er wegen des verdammten Sund-Piraten Aage Svensson arg in der Klemme gesteckt. aber mit ein bißchen Geschick und guten Zureden war es ihm gelungen, diese englischen Teufelskerle unter ihrem Kapitän Killigrew gegen die Piraten zu mobilisieren. Sie hatten Svensson und seine Bande zur Strecke gebracht, und im Sund war wieder Ruhe eingekehrt - bis auf die Sache heute mit den beiden Kerlen. Jetzt lauschte er dem weiteren Bericht Sverre Olsens und staunte nicht schlecht, was der Leutnant alles in der Schaluppe entdeckt hatte. Da waren ihnen ja zwei seltsame Vögel ins Netz gegangen. „Hm-hm“, sagte er, als Sverre Olsen geendet hatte. Und noch einmal: „Hmhm.“ Dann faltete er die Patschhändchen und drehte die Würstchendaumen umeinander, was er immer tat, wenn er nachdachte. Sverre Olsen kannte das schon und schaute geduldig zu. Am liebsten hätte er auch Däumchen gedreht. Es war so beruhigend. Aber es stand ihm nicht zu, den Hafenkapitän zu kopieren. Jetzt stützte der Hafenkapitän die beiden Würstchendaumen gegeneinander, so saß sie ein Dach bildeten, und sagte vorsichtig: „Was meinen Sie. Olsen, ob das Piraten sind?“ Das Wort „Piraten“ sprach er aus, als handele es sich um Mehlwürmer oder sonst was Grausliches. „Auszuschließen ist das nicht“, sagte Sverre Olsen etwas unschlüssig, weil er die beiden Kerle nach wie vor nicht einordnen konnte. Einerseits hatten sie sich als harte und gewitzte Kämpfer entpuppt, andererseits hatten sie niemanden totgeschlagen. „Wenn man“, fuhr er fort, „ganz üble Schnapphähne - wie etwa Aage Svensson - als Piraten bezeichnet, dann trifft das eigentlich für diese beiden Kerle nicht zu. Es sind wilde und rauhe Burschen, aber keine Schlagetots. Ihre Schaluppe haben sie meisterhaft beherrscht, genauso meisterhaft haben sie gekämpft, der eine mit den Fäusten, der andere mit der Pinne als Holz-Prügel. Ich hatte den Eindruck“, Sverre Olsen räusperte sich, „also ich hatte den
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Eindruck, als bereitete es ihnen einen Heidenspaß, sich mit unseren Seesoldaten herumzuprügeln.“ .“Ich bitte Sie!“ Der dicke Hafenkapitän runzelte die Stirn. „Wie kann man an so etwas Spaß haben? Das ist doch barbarisch - und dann noch mit den Fäusten oder einem Holzprügel. Warum haben sie nicht mit dem Degen oder Säbel gefochten?“ „Das weiß ich nicht. Vielleicht wollten sie niemanden ernsthaft „Wir werden sie uns mal vorknöpfen“, sagte der Hafenkapitän und erhob sich ächzend hinter seinem Schreibtisch. Zusammen mit Sverre Olsen suchte er den Zellentrakt auf. Der Ohrring-Mann und der Fell-Mann waren wieder bei Bewußtsein. Man hatte ihnen die Fesseln abgenommen, da sie hinter den Gittern auf Nummer Sicher saßen. Die andere Zelle war leer. Der Fell-Mann hatte mächtig aufgebraßt. Er rüttelte an dem Gitter und feuerte volle Breitseiten von Schimpfnamen auf Sverre Olsen ab. Der kriegte wieder seine roten Ohren, als ihn der Fell-Mann einen dänischen Lümmel, einen abgewrackten Hurensohn und eine schiefgetakelte Vogelscheuche nannte. Na, das war noch harmlos gegen die Tiere, mit denen er verglichen wurde. Eine schwangere Kakerlake war auch dabei. Schließlich verlangte der Fell-Mann, mit seinem Kumpan sofort freigelassen zu werden. „Wenn Sie hier weiter herumrandalieren“, sagte der Hafenkapitän, „werden Sie ein paar Wochen einsitzen - jedenfalls so lange, bis man sich vernünftig mit Ihnen unterhalten kann.“ „Hast du hier auch was zu sagen?“ fuhr ihn der Fell-Mann an. „Ich bin der Hafenkapitän“, sagte der Dicke mit Würde. „Als solcher bin ich befugt und habe, das Recht, Fragen zu stellen. Sie hatten die Absicht, sich der Sundkontrolle zu entziehen, und haben das auch mit roher Gewalt zu verhindern gesucht. Das reicht, um sie hier ein paar
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Wochen schmoren zu lassen. Woher kommen Sie, wohin wollten Sie?“ „Wir segeln so spazieren“, erklärte der Fell-Mann pampig. „Das ist keine Antwort.“ „Na schön, dann ist das eben keine Antwort“, knurrte der Fell-Mann. „Und jetzt will ich dir mal was sagen, du Dickmops! Wir haben es nicht nötig, uns von dänischen Lümmeln kontrollieren zu lassen. Die See ist frei und gehört niemandem. Wir haben das Recht, hinzusegeln, wohin es uns paßt. Niemandem sind wir darüber Rechenschaft schuldig. Soweit kommt's noch, daß an jeder Pißecke einer steht, kontrolliert und Zollgebühren erhebt. Eine Sauerei ist das, jawohl! Und jetzt laß uns raus aus diesem Bums, sonst passiert was!“ „Sie scheinen nicht zu begreifen, daß Sie sich ins Unrecht gesetzt haben“, sagte der Hafenkapitän verärgert. „Der Sund ist eben keine freie See, wie Sie das bezeichnen. Wer ihn passieren will, muß dafür bezahlen ...“ „Aasgeier!“ schnaubte der Fell-Mann. „Ihre Beleidigungen ändern daran nichts“, erklärte der Hafenkapitän. „Im übrigen waren Sie dabei, eine erhebliche Menge an Waffen und ein beträchtliches Vermögen in Form von Perlen, Edelsteinen, Schmuck sowie Gold- und Silbertalern in die Ostsee einzuführen. Was bezweckten Sie damit?“ „Mit den Waffen“, brüllte der blonde Klotz, „wollten wir euch verdammten Schnüfflern Feuer unter dem Arsch machen, und die Klunker sind dazu da, die Puppen tanzen zu lassen!“ „Wenn das so ist“, sagte der Dicke und grinste freundlich, „dann haben wir ja noch einen Grund, Sie hier für längere Zeit zu beherbergen. Na, wir werden sehen, wer den längeren Atem hat.“ Und damit verließen der Hafenkapitän und Sverre Olsen den Zellentrakt. Die wilden Flüche überhörten sie. 2. Am Nachmittag des 12. April 1593 -zehn Tage nach den Ereignissen mit den beiden
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Verrückten, die nach wie vor in der Zelle der Hafenkommandantur einsaßen - liefen die „Isabella IX.“ und die „Wappen von Kolberg“ in den Hafen von Helsingör ein und vertäuten an der Pier. Die Wachboote unten bei Saltholm hatten sie ungehindert passieren lassen. Das hatte seinen besonderen Grund. Denn Philip Hasard Killigrew, der Kapitän der „Isabella“, hatte einen Revers des Hafenkommandanten, auf dem verbrieft war, daß er, gleichgültig, wie oft er den Sund durchsegelte. keine Zollgebühren mehr zu bezahlen brauchte. Diese Sondergenehmigung kam nicht von ungefähr, sondern war viel mehr eine Dankesschuld des Hafenkapitäns Eric Hornborg an die Seewölfe, die einen schlimmen Bösewicht zur Strecke gebracht hatten: Aage Svensson und seine Sundpiraten. Im Geleit der „Isabella“ hatte auch die „Wappen von Kolberg“ Arne von Manteuffels den südlichen Zugang zum Sund passieren dürfen, ohne daß man sie zur Kasse bat. Beide Galeonen hätten ohne weiteres sofort weiter in das Kattegat segeln können, aber Hasard hatte einen triftigen Grund, Helsingör anzulaufen: er wollte einen Gefangenen loswerden, nämlich den polnischen Generalkapitän Witold Woyda, der nachweislich den dänischen Kaufmann Thorsten Tyndal in Hapsal oben am Rigaer Meerbusen ermordet und beraubt hatte. Da war wieder das „Gold der Ostsee“ Bernstein - im Spiel gewesen, das die polnische Krone für sich beanspruchte. Daß im Vollzug dieses Anspruchs Morde passierten - um nämlich die privaten Bernsteinhändler auszuschalten verstieß gegen allgemeines, gültiges Recht und war nicht damit zu entschuldigen, daß man im Auftrag der polnischen Krone handelte. Mord blieb Mord, und Macht ging eben nicht vor Recht. Hasard maßte sich nicht an, den Richter zu spielen und den Mörder an die Rah zu knüpfen - was er durchaus hätte tun können, zumal Witold Woyda auch über die kleine _Wappen von Kolberg“, Arnes
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früheres Schiff, hergefallen war und es nach tapferer Gegenwehr versenkt hatte. Ein Teil von Arnes damaliger Crew war bei diesem Kampf gefallen oder ertrunken. Nein, Hasard hielt es für richtig, den Mörder den dänischen Behörden zu übergeben, denn der Ermordete war ein Däne gewesen. Mochten die Dänen entscheiden, was mit Witold Woyda geschehen sollte. Sie waren dafür zuständig, nicht er. Und in Helsingör war die letzte Gelegenheit, den Mann von Bord zu geben, bevor sie nach England zurückkehrten. Hier kannte er ja auch den dicken Hafenkapitän, der ihm zu Dank verpflichtet war. Er würde sich um den Mörder kümmern müssen und ihn dem Gericht zuführen. Das war also der Grund, warum er Helsingör angelaufen hatte. Was das allerdings zur Folge haben würde, dazu hätte keine noch so verwegene Phantasie ausgereicht, sich das auszumalen, geschweige denn vorauszuahnen. Der Zufall, dieser windige Bursche, dieser Zauberer und Scharlatan, war mit im Spiel und hatte bereits die Karten gemischt. Den Seewölfen sollten gerade die Haare zu Berge stehen. Merkwürdig war nur, daß in die Fall Old Donegal Daniel O'Flynn total versagte, kein Jucken im Holzbein hatte und auch keinerlei spiritistische Impulse empfing nichts da. Er lümmelte gähnend am Schanzkleid. betrachtete die Hafenszenerie und dachte an gar nichts. Nur als der dicke Hafenkapitän eilfertig und schnaufend heranwatschelte, verzog er das wetterharte Gesicht zu einem herablassenden Grinsen. „Da ist ja unser Dickerchen“, sagte er zu Smoky, der gleich ihm am Schanzkleid lümmelte, sich allerdings nicht für den Hafenkapitän interessierte, sondern in eine andere Richtung peilte, deren Endpunkt ein wohlgerundetes Frauenzimmer war, das hinten über den Kai lustwandelte und dabei sehr hübsch die Hüften schwenkte. „Wie?“ fragte er desinteressiert und peilte weiter in seine Richtung, wobei er an
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vieles dachte, was mit runden Formen und dem Paradies zu tun hatte. „Wo schaust du denn hin?“ sagte Old O'Flynn erbost und wollte noch einiges Moralische hinzufügen, aber Hasards Stimme schnitt dazwischen. Er sagte, ein bißchen klirrend: „Ist hier vielleicht jemand an Bord, der so freundlich wäre, die Stelling auszubringen? Aber bitte, ich kann's auch selbst tun, wenn die Gentlemen anderweitig beschäftigt sind.“ Smoky zuckte zusammen, und Edwin Carberry röhrte in altgewohnter Manier los, daß er es bald leid sei, sich von morgens bis abends mit einer verlausten Bande von Tagedieben, Nichtsnutzen, Faulenzern und gesengten Affenärschen herumschinden zu müssen, die dem lieben Gott die Zeit klauten und nur in die Hände spuckten, wenn's was zu fressen oder zu saufen gäbe. „Und wer steckt den Anschiß ein?“ brüllte er Smoky an. „Du, weil du der Profos bist und ein breites Kreuz hast“, sagte Smoky, und weil sich Carberrys Brustkasten wie ein riesiger Blasebalg aufblähte, fügte er hastig hinzu: „Ich muß jetzt die Stelling ausbringen, Ed!“ Und schon flitzte er zur Kuhl, wo Paddy Rogers, Jan Ranse und Luke Morgan bereits die Stelling aus dem Laderaum wuchteten und zum Schanzkleid schleppten. Carberry öffnete die Pforte und war am Knurren wie eine gereizte Bulldogge. Ein paar Minuten später konnte der Hafenkapitän über die Stelling an Bord marschieren, lächelnd wie ein Posaunenengel. „Freunde!“ rief er und breitete die Arme aus, als wolle er alle umarmen. „Daß ihr wieder da seid! Nein, wie ich mich freue!“ Nils Larsen übersetzte grinsend. Hasard sprang auf die Kuhl hinunter und begrüßte den Dicken. Daß er jetzt wieder lachte, verbuchte der grimmige Profos zu seinen Gunsten. Schließlich war die Stelling ja noch rechtzeitig auf die Pier geschoben worden.
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Der Hafenkapitän zwinkerte Hasard listig an. „Na, war mein Tip für Wisby gut, Kapitän Killigrew?“ fragte er. Hasard hatte ihn vor zwei Monaten nach einer Bezugsquelle für Bernstein gefragt, und da hatte ihm der Dicke ebenso augenzwinkernd' wie jetzt den Namen eines Kaufmanns in Wisby auf Gotland genannt: Jens Johansen. Hasards Miene verdunkelte sich, nachdem Nils Larsen übersetzt hatte. „Jens Johansen ist tot“, sagte er, „ermordet.“ Der Dicke starrte ihn bestürzt an. „Ermordet?“ Hasard nickte. „Genau das. Ich wollte Sie in diesem Zusammenhang sowieso sprechen. Die polnische Krone setzt alles daran, den Bernsteinhandel an sich zu reißen. Dabei scheut sie auch nicht vor Mord zurück. Ein anderer Fall passierte in Hapsal oben an der estnischen Westküste. Dort hatte sich ein anderer Bernsteinhändler niedergelassen, ein Däne namens Thorsten Tyndall. Auch er wurde ermordet. Kennen Sie ihn vielleicht oder haben von ihm gehört?“ Jetzt war der Dicke geradezu entsetzt. „Thorsten Tyndall, Sohn von Thor Tyndall ? Natürlich kenne ich ihn. Ein feiner Mann. Mein Gott, das sind ja schlimme Nachrichten. Was für eine Welt!“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, und seine Augen waren gar nicht mehr listig, sondern sehr betrübt. „Gerüchteweise hörte ich schon davon, daß sich die Polen in den Bernsteinhandel einschalten wollten, was uns Dänen gar nicht recht ist. Daß sie aber dabei Gewalt anwenden, verschlimmert die Sache. Gleich zwei Morde! Diese Unholde!“ „Den Mörder von Thorsten Tyndall haben wir an Bord - als Gefangenen“, sagte Hasard. „Das ist auch der Grund, warum wir Helsingör anliefen, Mister Hornborg. Wir waren der Ansicht, daß er vor ein dänisches Gericht gehört. Darum möchten wir Ihnen diesen Mann übergeben. Selbstverständlich bin ich bereit, daß Sie meine Aussage zu diesem Fall
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protokollieren, damit die Anklage gegen den Mann erhoben werden kann. Er selbst hat erklärt, im Auftrag der polnischen Krone gehandelt zu haben, was ihn jedoch nach meinem Rechtsempfinden nicht entschuldigt. Aber bitte, das sollen Ihre Richter entscheiden. Übernehmen Sie den Mann?“ „Natürlich, Kapitän Killigrew. Ich werde sofort ein paar Soldaten herbeordern, die ihn in Empfang nehmen können.“ Hasard winkte ab. „Wenn es Ihnen recht ist, besorgen das meine Männer. Wir haben unsere Erfahrungen mit solchen Kerlen. Darum möchte ich Sie auch warnen_ Lassen Sie den Mann scharf bewachen, und vergessen Sie nicht: bei ihm geht es jetzt um Kopf und Kragen. Bei uns hat er bereits einen Ausbruch versucht.“ .Der Dicke nickte beklommen. Hasard wandte sich zu Carberry um: „Ed. hol bitte den Kerl aus der Piek. Nimm Sten und Matt mit. Und seht euch vor. Löst ihm nur die Fußfesseln, verstanden?“ „Alles klar, Sir.“ Carberry winkte Stenmark und Matt Davies zu sich, schnappte sich im Vorbeigehen einen Belegnagel aus der Nagelbank des Großmastes und marschierte mit den beiden ab. Während Hasard dem Hafenkapitän nähere Einzelheiten über den Mordfall mitteilte inzwischen war auch Arne von Manteuffel auf der „Isabella“ erschienen und wurde dem Dicken vorgestellt -, suchten Carberry und seine beiden Begleiter die Vorpiek auf und entriegelten das schwere Schott. Matt Davies leuchtete mit einer Öllampe in den miefigen Raum, der an Bord fast aller Schiffe für arme Sünder vorgesehen war. Hier wurden sie gewissermaßen weichgekocht und durften darüber nachdenken, warum sie in diesem Loch hockten. Dieses Loch war ein Prüfstein. Hier zeigte sich, aus was für einem Holz ein Mann geschnitzt war, aus Hartholz oder aus Weichholz, ob kernig oder morsch. Witold Woyda, seines Zeichens Generalkapitän in der polnischen Flotte. war morsch. Er blinzelte aus drüben Augen
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in den Lichtschein, seine Lippen zitterten, in seiner Miene spiegelte sich eine Mischung von Angst, kriechender Unterwürfigkeit und Haß. Das Äußere dieses Mannes hatte während des Zwangsaufenthaltes in der Vorpiek arg gelitten. Seine aufwendige Kleidung hatte naturgemäß allen Glanz verloren. Der Generalkapitän war zu einem verluderten Landstreicher geworden. Die zottelige, schmutzige Perücke trug zu diesem Eindruck bei. Sie saß verrutscht und schief auf seinem Kopf. „Jetzt ähnelt er unserem guten alten Plymmie in Plymouth“, sagte Matt Davies, „auch wenn ihm dessen Wabbelkinn fehlt.“ „Beleidige meinen guten Freund Nathaniel Plymson nicht“, knurrte Carberry. „Das ist ein honoriger Mensch gegen diesen Lausekerl.“ Er schabte sich mit dem Daumen das Rammkinn und wurde tiefsinnig. „Wenn ich da an unseren Kapitän denke - damals auf der ,Marygold`. Da mußte ich ihn auch mal aus der Vorpiek holen, wo er geschmort hatte. Wißt ihr noch?“ „Klar.“ Matt Davies grinste. „Da war er in Eisen geschlossen worden und hatte mit der Kette den Augbolzen aus dem Spantholz gedreht, um wenigstens eine Hand beim Kampf gegen die Ratten frei zu haben. Und zwei hat er dann mit der Kette zu Mus geschlagen.“ Carberry nickte. „Unser Kapitän war in der Vorpiek nicht kleinzukriegen. Der hat noch gelacht. Zeiten waren das, Mann, Mann.“ Und dann fuhr er Witold Woyda an: „Hopp! Hoch mit dir, du Mistgurke!“ Stenmark übertrug die Aufforderung Carberrys in die schwedische Sprache, die der Pole verstand. Aber er dachte nicht daran, aufzustehen. Auf dem Hintern rutschte er vom Schott weg, bis er mit dem Rücken gegen die Bordwand der Steuerbordseite stieß. Durch die wäre er am liebsten wohl auch noch durchgekrochen. „Ich - ich will nicht!“ greinte er. „Was hat er gesagt?“ schnauzte der Profos. „Er will nicht“, sagte Stenmark.
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„Thorsten Tyndall wollte auch nicht sterben!“ brüllte Carberry, zog sein Entermesser, sprang vor und zerschnitt die Fußfesseln des Generalkapitäns. Dann winkte er mit dem Belegnagel. „Steh auf!“ donnerte er. „Oder es setzt Hiebe mit dem Hölzchen hier!“ Witold Woyda schlotterte am ganzen Körper und rutschte jetzt seitwärts an der Bordwand entlang, als rechne er sich auf diese lächerliche Weise noch eine Chance aus, dem grimmigen Profos zu entgehen. Der fackelte nicht lange, langte zu und hievte den Generalkapitän mit einem Ruck auf die Beine. Sofort sackte er wieder zusammen, als habe er Pudding in den Knien. Da packte ihn Carberry im Genick und schleifte ihn einfach neben sich her wie ein Bündel Lumpen, mit dem man auch nicht sehr sorgsam umzugehen braucht. In diesem Falle war es ein Bündel Knochen, zu denen keine Muskeln und Sehnen mehr zu gehören schienen, weil die Gliedmaßen herumschlackerten wie bei einer leblosen Gliederpuppe. Witold Woyda markierte den toten Mann, was ihm jedoch auch nichts nutzte. Carberry nahm auf solche Mätzchen keine Rücksicht. Allenfalls brachte ihn ein solches Gebaren noch mehr in Braß, zumal er den Kerl schleppen mußte. Daher hatte er nichts dagegen, wenn ihm - er schleppte ihn rechts - eine Ecke oder ein Stützpfosten im Weg war. Es bumste ein paar Male, wenn der Generalkapitän mit dem Kopf irgendwo aneckte. Beim zweiten Bums verlor er seine Perücke, die dann von Stenmark und Matt Davies abwechselnd weitergekickt wurde, bis sie Carberry zwischen den Beinen durchflog, weil Matt zu heftig zugetreten hatte. Auf so was war Carberry nicht geeicht. Nie hätte jemand zu behaupten gewagt, der eiserne Profos wäre schreckhaft. Ein Witz wäre das gewesen. Aber als dieses schwarze Zotteldings von hinten lautlos zwischen seinen Beinen hindurchhuschte und fast ebenso lautlos auf den Planken im Gang landete und sich überrollte, zuckte er zusammen und ließ den Generalkapitän fallen.
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Er schnellte zu Matt Davies und Stenmark herum. „Was war das?“ Matt und Stenmark waren am Grinsen. „'ne Perücke“, sagte Matt. „Wie?“ „Die Perücke von unserem lieben Witold“, sagte Stenmark. „Er hat sie verloren, und wir haben ein bißchen mit ihr gespielt.“ Carberrys Stirnadern schwollen in beängstigender Weise an. Na, das kannten sie. Ein Vulkan war nichts dagegen, ein lächerlicher Pups war das. O ja, wenn Carberry Feuer spie, dann war Weltuntergang. Aye, aye, Sir, da konnte man nur noch die Ohren anlegen. „Er türmt!“ brüllte Matt Davies, und der Hakenmann versuchte nun wirklich nicht, den Profos vom Feuerspeien abzuhalten. Witold Woyda war wirklich gestartet und befand sich bereits dicht vor dem Niedergang. Carberry warf sich herum und raste hinter ihr her. Daß einer seiner Stiefel dabei die Perücke zu einem Nichts degradierte, bemerkte er nicht. Hinter ihm her stürmten Matt und Stenmark. Das Spielen mit dem Ding war ihnen vergangen, weiß Gott. Als Witold Woyda wie ein Irrer den Niedergang hochkletterte, war Carberry zur Stelle, hängte sich ohne Rücksicht auf Verluste an dessen Stiefel und riß ihn zurück. Der Generalkapitän rasselte die Stufen hinunter, prallte rücklings auf Carberry, nahm ihn mit und überkugelte sich mit ihm auf den Gangplanken. Über dieses Knäuel stürzten Matt und Stenmark, die nicht mehr abbremsen konnten. Die Wuhling war perfekt. Unten lag Carberry, über ihm Witold Woyda, und über ihnen, besser auf ihnen herum zappelten Stenmark und Matt Davies. Ein feines Durcheinander! Vier Leiber zuckten, vier Paar Beine trampelten um sich, vier Paar Arme schlegelten und boxten. Der Profos war am Röhren, Witold Woyda quiekte wie ein Ferkel, Matt Davies fluchte, und Stenmark knurrte wie die Bordhündin Plymmie, der jemand den Knochen klauen will.
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Witold Woyda langte kräftig in Matts scharfgeschliffenen Eisenhaken und steigerte sein Quieken zum Diskant. Es war so gellend, daß Matt das Fluchen vergaß. Zu diesem Zeitpunkt empfing Stenmark Carberrys Stiefelspitze unters Kinn, und sein Knurren erstarb abrupt. Dafür rutschte er seitwärts ab, und das war einer weniger, der auf Carberry und Witold Woyda herumturnte. Der Profos benutzte die Gelegenheit und stemmte sich mit der ganzen Kraft seines gewaltigen Körpers hoch, und zwar ruckartig. Und damit war er frei. Der Generalkapitän und Matt schnellten davon, als seien sie von einem Katapult abgefeuert worden. Matt krachte zwischen den Niedergang, Witold Woyda landete hinten im Gang, wo's wieder zur Vorpiek ging. Aber da wollte er nie wieder hin. Wohin dann? Er fühlte sich wie eine in die Enge getriebene Ratte. Seine Augen zuckten hin und her. Die einzige Rettung war der Niedergang, aber von dort wälzte sich das Ungeheuer auf ihn zu, groß und drohend und zähnefletschend. „Nein!“ schrie Witold Woyda. Und h einmal: „Nein!“ „Doch!“ sagte Carberry mit klirrender Wut. Die Verneinung in den beiden Worten hatte er sehr wohl verstanden. Und seine Rechte schoß vor, dieser fürchterliche Hammer, der die fegende Wucht eines Orkans hatte. Witold Woyda hatte den Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, sich im Zentrum einer Explosion zu befinden.“ Das war auch alles, was er empfand. Daß er zurück bis zur Vorpiek flog, spürte er schon nicht mehr. Carberry sammelte ihn dort auf und trat erneut und wie gehabt den Marsch zum Niedergang an. Dort polterte ein Stiefelpaar die Stufen hinunter und mußte Matt Davies ausweichen, der sich gerade taumelnd aufrichtete. Hasard! Er blickte seinen Profos an, dann glitt sein Blick zu dessen rechter Faust, die das schlappe Bündel von Generalkapitän am Genick gepackt hatte.
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„Ihr habt wohl Ärger gehabt, wie?“ fragte Hasard. „Nicht die Bohne, Sir“, brummte der Profos und wich den eisblauen Augen aus. „Äh - da war nur die Sache mit der verdammten Perücke, Sir, mehr war wirklich nicht, ehrlich, na ja, er wollte ein bißchen ausbüxen und so, und da mußte ich ihn stilllegen ...“ Der Profos verstummte und schielte zu Stenmark, der sich zum Sitz aufgerappelt hatte, sein Kinn betastete und etwas ächzte. „Weiß gar nicht, was der hat“, murmelte der Profos. „Was war mit der Perücke, Mister Carberry?“ fragte Hasard sanft. „Mit der Perücke? Ach so, ja!“ Der Profos kratzte sich links hinter dem Ohr. „Ja, jetzt fällt's mir wieder ein. Also, die Perücke, die hatte dieser Affe doch glattweg verloren. Aber schön war die ja sowieso nicht mehr, nicht? Ich meine ...“ Carberry verstummte wieder. „Ja?“ fragte Hasard, und seine Stimme war weiterhin sanft. „Ja“, murmelte Carberry und schlenkerte den Generalkapitän ein bißchen hin und her, „ich - ich meine, daß Plymsons Perücken schöner sind und so. Findest du nicht auch, Sir?“ „Das mag schon sein“, sagte Hasard freundlich, „aber ich verstehe immer noch nicht, was an einer Perücke, die jemand verloren hat, so aufregend sein soll. War da nicht noch mehr?“ „Äh - hm. Wie soll ich das verstehen, Sir?“ Der arme Carberry starrte seinen Kapitän unglücklich an. „Nun, ganz einfach“, sagte Hasard. „Witold Woyda hatte seine Perücke verloren, gut. Und was geschah dann?“ „Dann? Du meinst, nachdem er sie verloren hatte?“ „Richtig, mein Guter.“ Carberry zuckte zusammen. Er mochte es gar nicht, wenn ihn jemand „mein Guter“ nannte, und jetzt sagte das auch noch sein Kapitän. „Ja.“ Carberry ächzte. „Wie war das doch gleich? Warte mal. Also, er hatte sie verloren, aber das war mir entgangen.“ „Aha. Und weiter?“
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„Äh - Matt und Sten war das nicht entgangen, nicht wahr, Matt?“ Carberry schielte zu Matt Davies, der hinter Hasard am Niedergang stand. „Sag doch auch mal was, Mister Davies!“ „Na ja“, sagte Matt etwas bedrückt, „ich hab die Perücke durch deine Beine geschossen, Mister Carberry, aber das war bestimmt keine Absicht gewesen, das könnte ich beschwören ...“ Hasard drehte sich zu ihm um. „Durch Mister Carberrys Beine geschossen? Wie das?“ „Sten und ich haben mit dem verdammten Ding gespielt. Wir gingen ja hinter Mister Carberry. Mit dem Fuß haben wir die Perücke immer ein Stückchen weitergestoßen, und da ist sie auf einmal bei Mister Carberry durch die Beine gesaust, was ihn sehr erstaunt hat, weil er nicht wußte, was das war. Und da hat er den Woyda fallen lassen, sich zu uns umgedreht und gefragt, was das gewesen sei. Wir haben's ihm erklärt, und währenddessen ist der Hundesohn zum Niedergang getürmt. Aber da hat ihn Mister Carberry gleich wieder an den Beinen gehabt. Das war alles.“ „Soso. Und woher stammt die Beule auf deiner Stirn?“ „Ich glaube, ich bin hier gegen den Niedergang gekracht“, murmelte Matt Davies. Er fuhr mit den Fingern über die Beule, Stenmark betastete immer noch sein Kinn, und Carberry schlenkerte wieder aus lauter Verlegenheit den Generalkapitän hin und her. Normalerweise wäre jeder davon seekrank geworden, aber Witold Woyda befand sich ja jenseits der rauhen Wirklichkeit. Hasard sagte: „Das Gebrüll, Geschrei und Gefluche war oben an Deck nicht zu überhören. Daraus war zu schließen - wenn man mit solchen Geräuschen vertraut ist -, daß hier unten gewisse Klosterbrüder - der Ausdruck stammt übrigens von Mister Carberry - bestimmt keine Gebetsstunde abhielten. Nun, ich hatte Mister Carberry ja gewarnt. Daß sich allerdings zwei Klosterbrüder damit beschäftigen würden, eine Perücke als Spielball zu benutzen,
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statt auf den Gefangenen zu achten, und daß der dritte Klosterbruder dann sein Interesse auch noch diesem Spielobjekt zuwendet, statt den Gefangenen am Wickel zu halten, das ist schlechterdings unfaßbar.“ Der Kapitän musterte seine drei Helden mit jenem Blick, der alles zu Eis gefrieren ließ. „Man sollte meinen, ihr werdet wieder kindisch. Dabei habe ich eher den Eindruck, daß ihr nachlässig werdet. Hatte euch noch nicht genügt, daß Gary Andrews außenbords gegangen war und eine endlose Zeit verging, bis das von euch überhaupt zur Kenntnis genommen wurde? Ihr solltet einen Mörder an Deck bringen - ich wiederhole: einen Mörder! Was muß noch passieren, damit endlich euer verdammter Schlendrian aufhört?“ Sie starrten auf ihre Stiefelspitzen, die Köpfe gesenkt und sehr stumm. „Was mich freut-, fuhr Hasard fort, „ist immerhin die Tatsache, daß zwei Männer sofort an den Niedergang sprangen und sich dort mit gezogenen Pistolen aufbauten, als der Krach hier unten losging. Es waren Dan O'Flynn und Batuti. Dan sagte: Unser alter Profos scheint in Schwierigkeiten zu sein - dieser Affenarsch!“ Carberry zuckte zusammen. Das war ihm heute schon zweimal passiert. Und dann knurrte er: „Ich war aber nicht in Schwierigkeiten, verdammt noch mal! Hier ist der Beweis!“ Und er schwenkte den weggetretenen Generalkapitän mühelos mit ausgestrecktem Arm auf und ab. „Der Kerl wäre nie bis an Deck gelangt - niemals! Da kannst du mich kielholen lassen, Sir. Auf Ehre!“ „Ein Profos, den man kielholen lassen muß, ist kein Profos mehr“, sagte Hasard seufzend. „Schon schlimm genug, wenn ein Profos wegen einer lächerlichen Perücke außer Fassung gerät. Das war's doch, nicht wahr, Mister Carberry?“ Carberry brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. „Wie bitte?“ fragte Hasard. „Äh - ich sagte, Scheißperücke.“ Und dann polterte er los: „Warum mußten mir diese
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Säcke auch das Mistding durch die Beine schießen?“ „Das frag ich mich auch“, sagte Hasard. „Und vielleicht solltest du darüber einmal gründlich nachdenken, falls dich ein solches Nachdenken nicht überfordert. Na gut, fühlt ihr euch noch in der Lage, den Generalkapitän in die Zelle der Hafenkommandantur zu bringen? Ich meine, ohne mit Perücken oder sonst was herumzuspielen? Oder sollen das lieber Dan O'Flynn und Batuti übernehmen?“ Oh, der Kapitän steckte es ihnen. Und wie! Hohn und Spott in seiner Stimme waren nicht zu überhören. Dabei sagte er es ganz betulich, etwa so, wie man mit kleinen Kindern spricht, die man ermahnt, schön brav zu sein, weil sonst der Butzemann kommt. Es war erfreulich anzusehen, wie rot sie wurden, alle drei. Bei Carberry verfärbten sich sogar auch noch die Ohren. Sein Atem ging auch heftig. „Das erledigen wir!“ stieß er hervor. Die Betonung lag auf dem „wir“. Darum schoß Hasard noch einen Pfeil ab und sagte: „Trotzdem begleite ich euch.“ Das hieß im Klartext: Bei euch Brüdern bin ich mir nicht sicher, nehmt's mir nicht übel. Darum gehe ich mit. Da bissen sie die Zähne zusammen, und das war auch wiederum sehr erfreulich, weil es zeigte, daß sie betroffen waren. Bei Carberry knirschte es, als zerbeiße er Eisennägel. 3. „Hier entlang bitte“, sagte der dicke Hafenkapitän und deutete auf einen Gang, der vom Hauptflur abzweigte. Er hüstelte. „Wie gut, daß noch eine Zelle frei ist, wir haben nämlich nur zwei. In der anderen sitzen zwei Verrückte.“ Nils Larsen dolmetschte wieder. Carberry grunzte etwas vor sich hin und marschierte in den Gang. Den Polen hatte er nach wie vor am Wickel und schleifte ihn neben sich her wie einen Lumpensack. Witold Woyda weilte noch im Traumland, wohin ihn Carberrys eisenharte Rechte
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befördert hatte. So schnell würde er sein Traumland auch nicht wieder verlassen. Carberry selbst wußte das, und darum wurmte es ihn noch mehr, daß der Kapitän sie begleitete. Völlig unnötig war das, fand er. Aber natürlich, der Kapitän hatte einen Piek auf ihn und wollte ihn ärgern. Das war schon deutlich geworden, als er wegen des Ausbringens der verdammten Stelling herumgemotzt hatte. Immer nimmt er ausgerechnet mich aufs Korn, dachte Carberry. Was, hatte Smoky gesagt? Weil du der Profos bist und ein breites Kreuz hast! Ha! Der hatte gut reden... „Dort ist es!“ Die Stimme des Hafenkapitäns unterbrach Carberrys Gedankenkette. Der Dicke ging hinter ihm. Dann folgten die anderen. „Dort ist es!“ sagte Nils Larsen in der englischen Sprache. „Bin doch nicht blöd“, knurrte Carberry wütend. „Wo 'n Posten vorsteht, müssen ja wohl die Zellen sein, was, wie?“ Der Posten starrte den Profos irritiert an, zumal der ja noch jemanden am Kragen hatte. Dieser Narbenmann war ihm ganz und gar nicht geheuer, aber dann erkannte er dahinter seinen Hafenkapitän und atmete erleichtert auf. „Sie können öffnen, Nielsen!“ rief der Hafenkapitän. „Wir kriegen noch einen Gefangenen - einen Mörder!“ Der Posten zog die beiden Riegel zurück, öffnete die Tür, die zum Zellentrakt führte, und trat zur Seite, um Carberry vorbeizulassen. Carberry grunzte wieder vor sich hin und stampfte mit seinem Witold Woyda in den Trakt. Ein Klotz von Kerl ragte urplötzlich vor ihm auf, und eine Faust raste auf ihn zu. Ein bißchen konnte Carberry reflexartig den Schädel noch zur Seite nehmen, nach rechts. Die Faust krachte ihm nur aufs linke Auge. Mit dem rechten Auge sah er flüchtig fünf, sechs Schritte entfernt ein Zellengitter, dessen Stäbe auseinandergebogen waren. Das geschah alles in Bruchteilen von Sekunden.
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Die Wut schoß wie eine Flamme in Carberry hoch. Das war ein unheimlicher Schlag gewesen, der ihm da aufs linke Auge gedonnert worden war. Aber Carberry war nicht der Mann, der sich eine Klüse dichtschlagen ließ - und nicht zurückzahlte. So rasselte der Generalkapitän ein zweites Mal zu Boden, und kaum hatte Carberry ihn entlassen, schoß auch schon seine Rechte aus der Hüfte hoch - wie gesagt: sein Hammer. Und hinter dem Hammer steckten Explosivkräfte. Die Treibladung bestand aus berstender Wut. Er traf voll. Der Kerl war auch viel zu vernagelt, um auszuweichen. Er stierte Carberry an, als sei der ein Ochse mit drei Köpfen. Dann war's auch schon mit dem Stieren aus. weil er sich im gestreckten Flug rückwärts in Richtung der auseinandergebogenen Eisenstäbe befand. Dafür aber stierte jetzt Carberry -wenn auch nur mit einem Auge. Teufel, den Kerl kannte er doch? Der Kerl blieb zwischen den auseinandergebogenen Eisenstäben hängen wie ein Fisch in der Reuse. Er trug Riemensandalen, nach Wikingerart um die Waden geschnürt, und Fellkleidung. „Uahhh!“ röhrte Carberry und übertönte mühelos den Krach, der hinter ihm herrschte. „Ich werd noch wahnsinnig ...“ Aber das nutzte ihm nichts, und er konnte auch nicht mehr erklären, warum er wahnsinnig würde, denn noch ein Schatten tauchte auf, blitzartig und auf seiner linken Seite, die er wegen seines linken Auges nicht mehr so recht wahrnehmen konnte, und genau auf dieses linke Auge krachte noch ein Schlag. und zwar auch so ein Ding, das man getrost mit einer abgefeuerten Culverine vergleichen konnte - was die Wucht betraf. Carberry taumelte nach rechts. Der Schatten flog an ihm vorbei und prallte wie ein Rammbock in die Männer, die sich in der Tür drängelten. Sie flogen auseinander. Aber der Schatten wurde von Hasard aufgehalten, der sich ganz hinten befunden hatte. Er sah nur eine Gestalt auf sich
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zurasen. Wer diese Gestalt war, konnte er nicht erkennen, weil der Gang nicht genügend erhellt war. Er sah nur das Aufblitzen eines goldenen Ohrrings. Dann stand der Kerl auch schon vor ihm. Hasard empfing ihn mit einer vorschießenden Rechten, punktgenau auf die Kinnspitze gezielt Der Kerl ging zu Boden, als habe ihn eine Axt gefällt. Im Gang und im Zellentrakt herrschte ein unbeschreiblicher Tumult. Da brach wieder Carberrys Stimme durch das Getöse, laut wie Donner, der einem Blitz unmittelbar folgt. Und er brüllte, daß es das doch gar nicht gäbe, weil dieser Affenarsch in dem Scheiß-Thule zugange wäre, aber nicht hier, und das sei doch alles Wahnsinn, verdammt und zum Teufel, und man müsse ja an seinem eigenen Verstand zweifeln. Ja, das rasselte der Profos nur so herunter, und es hörte sich ganz so an, als sei Carberry tatsächlich am überschnappen. Irritiert beugte sich Hasard über den gefällten Mann, drehte ihn zu sich herum und starrte ihm ins Gesicht. Von hinten näherte sich ein Soldat mit einer Lampe, und der Lichtschein tanzte über das Gesicht des Mannes. Hasard glaubte, seine Augen spielten ihm einen Streich. Das war doch der Boston-Mann! Ja, er mußte es sein! Der goldene Ohrring am linken Ohr und der fehlende rechte Daumen waren die untrüglichen Zeichen, daß es sich um ihn handeln mußte. Neben Hasard ging Matt Davies in die Hocke und sah dabei aus, als hätte ihm jemand einen Hammer auf den Schädel geschlagen. Mit hervorquellenden Augen stierte er auf den Mann hinunter. „Der - der Boston-Mann“, sagte er ächzend. „Das - das gibt's doch gar nicht! Das ist völlig unmöglich ...“ „Er ist es aber“, sagte Hasard verbissen. „Bring ihn in die Kommandantur, Matt. Ich muß sehen, was bei den Zellen lös ist, da scheint Carberry auch einen erwischt zu haben.“
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„Aye, aye, Sir.“ Matt schnappte sich den Boston-Mann und schleppte ihn den Gang zurück. Zumindest im Zellentrakt hatte Stenmark die Übersicht behalten, wie Hasard flüchtig feststellte, denn der blonde Schwede bugsierte gerade den Generalkapitän in eine Zelle und verschloß dann die Gittertür. Der dicke Hafenkapitän rang die Hände, war blaurot im Gesicht .und schien einem Schlaganfall nahe. Nils Larsen redete beruhigend auf ihn ein. Carberry kniete über einem in Felle gekleideten Mann, einem ziemlichen Klotz von Kerl, und tätschelte ihm die Wangen mit seiner Pranke, das heißt, er verabfolgte ihm Ohrfeigen, um ihn munter zu kriegen. Als Hasard neben ihn trat, schaute er zu ihm auf. Hasard verbiß sich ein Grinsen. Das Ding, das da auf Carberrys linkem Auge erblühte, war kein Veilchen mehr, wie man es gewöhnlich nannte, nein, das war eher eine prall gestopfte Blutwurst, allerdings mit der Eigenschaft, sich noch weiter ausdehnen und noch prächtigere Farben produzieren zu können. Mein Gott, Carberry war nie eine Schönheit gewesen, aber jetzt, mit diesem fürchterlichen Ding auf dem linken Auge entwickelte er sich zum reinsten Kinderschreck. Die Stoppeln, die ihm nach seiner verlorenen Wette mit Luke Morgan und dem Kahlschlag auf seinem Schädel jetzt wieder nachwuchsen, trugen auch nicht gerade dazu bei, ihn als Adonis erscheinen zu lassen. Er glich einem monströsen Ungetüm, der arme Carberry. Hasard war fast versucht, ihm trostreich auf die mächtige Schulter zu klopfen, aber jetzt fiel sein Blick auf den Fell-Mann, und da wurde ihm klar, warum Carberry an seinem eigenen Verstand gezweifelt und herumgebrüllt hatte, daß er noch wahnsinnig würde. Eike lag dort, einer von Thorfin Njals vier Wikinger-Mannen. „Dieser Affenarsch hat mir die Faust auf die Klüse gedonnert“, sagte Carberry grollend. „Dann tauchte noch einer auf und haute noch mal drauf.“
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„Der Boston-Mann“, sagte Hasard. „Er und Eike müssen die Verrückten sein, von denen der Hafenkapitän sprach.“ „Hat er recht, das sind ja auch Verrückte“, sagte Carberry empört. Seine Wut war noch längst nicht verraucht. „Toben hier rum und fallen mich an - mich, den Profos der ,Isabella`! Beknackt sind die! Übergeschnappt! Was wollen die hier überhaupt?“ „Das frag ich mich schon die ganze Zeit“, sagte Hasard und wandte sich zu Nils Larsen um, der mit dem Hafenkapitän palaverte, aber schon am Grinsen war, denn der Dicke erzählte ihm gerade die Geschichte von den „beiden Verrückten“. Als der Dicke verschnaufte, sagte Nils: „Eike und der Boston-Mann tauchten vor zehn Tagen vom Kattegat her vor dem Sund auf - mit einer Schaluppe. Wegen des Sundzolls wurden sie angehalten, weigerten sich aber, ihn anzuerkennen, geschweige denn zu bezahlen. Stattdessen foppten sie die Leute von den Wachbooten, und als die entern wollten, muß es eine fürchterliche Keilerei gegeben haben. Schließlich konnte man sie hier in die Zelle schleppen. Seitdem sind sie am Rebellieren und Herumtoben. Der Hafenkapitän konnte noch nicht in Erfahrung bringen, wer sie sind, woher sie kamen und was sie in der Ostsee wollten. Er hat die Schaluppe filzen lassen und festgestellt, daß sie bestens versorgt gewesen seien, sowohl was den Proviant, die Bewaffnung, aber auch die finanziellen Mittel beträfe.“ Nils Larsen grinste wieder. „Die beiden müssen ganz schön unter den Dänen gewütet haben.“ „Hat es etwa Tote gegeben?“ fragte Hasard beunruhigt. „Nein, nur Blessuren. Eike hat mit den Fäusten gekämpft, der Boston-Mann mit 'ner Pinne.“ Hasard atmete auf. „Sag dem Dicken, daß wir uns für die beiden verbürgen, daß wir sie kennen, ja, daß sie Freunde von uns seien ...“ „Schöne Freunde“, brummte der Profos dazwischen. „Ist das vielleicht eine Art, den besten Freund gleich mit den Fäusten zu begrüßen?“
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„Sie haben dich nicht erkannt“, sagte Hasard. „Wegen deiner Stoppelhaare. Da siehst du ziemlich verändert aus.“ „Ach, jetzt hab ich wohl noch die Schuld, was, wie?“ fragte der Profos erbost. „Unsinn, Ed“, sagte Hasard, „davon ist überhaupt nicht die Rede. Du hattest nur das Pech, als erster diesen Raum zu betreten und demzufolge der Prellbock zu sein. Aber solche Schläge haben dich doch noch nie erschüttert.“ „Tun sie auch nicht“, knurrte Carberry, „da nehm ich noch ganz andere Dinge hin. Aber ich hab den verdammten Woyda wieder fallen lassen müssen, um mich meiner Haut wehren zu können. Wenn er jetzt getürmt wäre, hättest du mir wieder einen Anschiss verpaßt. Man weiß bald nicht mehr, was man tun soll, verflucht! Hätte ich diesen Mistbock vielleicht festhalten und mir von diesem irren Eike die Nase platt schlagen lassen sollen?“ „Natürlich nicht, Ed.“ Hasard lächelte versöhnlich. „Hätte Woyda die Flucht ergriffen, wäre er mir in die Arme gelaufen - wie der Boston-Mann, den ich auch mit der Faust begrüßt habe. Wir sind mit den beiden quitt, zumal du ja auch dem guten Eike was aufs Maul gehauen hast. Schau dir mal seinen Mund an.“ „Geschieht ihm recht, diesem verlausten Fellaffen“, brummte Carberry. Nils Larsen berichtete daraufhin, daß der Dicke froh sei, wenn er die beiden Verrückten loswerde. Die hätten ihm nichts als Ärger eingebracht. Kapitän Killigrew könne sie gern übernehmen. Nur sei jetzt die Zelle demoliert und unbrauchbar. Weil das der Moment war, in dem Eike ins Bewußtsein zurückkehrte und noch mit etwas glasigen Augen zu Carberry hochschielte, fuhr dieser ihn gleich an, gefälligst die „Gitterstäbchen“ wieder geradezubiegen. „Wo ihr Wikingerlümmel herumspielt, müßt ihr auch immer gleich was kaputtmachen!“ donnerte er Eike an. „Ist das vielleicht die feine Art? Und dann entschuldige dich gefälligst bei Mister
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Hornborg, du Polaraffe! Das ist nämlich unser Freund.“ „Jawohl“, sagte Eike undeutlich, weil seine Lippen zu doppelter Größe angeschwollen und außerdem aufgeplatzt waren. Aber er war noch zu benebelt, um die Gitterstäbe wieder in ihre alte Lage zurückzubiegen. Wahrscheinlich hatte ihm auch der Boston-Mann bei diesem Kraftakt zuvor geholfen. „Schlappschwanz!“ blökte Carberry. schob ihn zur Seite, winkelte die mächtigen Arme an, umklammerte die beiden Stäbe und drückte sie zusammen, als seien es Weidenruten. Der dicke Hafenkapitän staunte mit Glotzaugen und schnappte nach Luft. Carberry drehte sich zu ihm und grinste freundlich, was bei dem Dicken eine Art Schüttelfrost auslöste. Vielleicht hielt er den Profos für einen Waldschrat. Vielleicht dachte er aber auch, was hier in der Kommandantur los gewesen wäre, wenn man statt des Fell-Manns dieses Ungetüm in die Zelle gesperrt hätte. Da wäre die Zelle vermutlich bereits in den ersten fünf Minuten in die Binsen gegangen, aber restlos und mit total verbogenem Gitter. „So, damit wäre auch das geregelt“, sagte Carberry. Er packte Eike am Genick. „Und jetzt entschuldige dich beim Hafenkapitän, du ungehobelte Filzlaus, sonst segelst du vierkant zurück in die Zelle und bleibst da, bis deine Felle die Räude kriegen.“ „… schuldigung“, quetschte Eike heraus und mußte sich verbeugen, weil Carberrys Pranke an seinem Genick einen erheblichen Druck ausübte. „Er hat sich entschuldigt“, sagte Carberry mit seinem fürchterlichen Grinsen. „Übersetz das dem Dicken, Nils, damit alles seine Ordnung hat.“ Nils Larsen sagte es dem dicken Hafenkapitän, der sich daraufhin ebenfalls vor Eike verbeugte. Carberry hielt es für richtig, daß Eike sich für die Verbeugung bedankte, und darum verstärkte er noch einmal ein bißchen den Druck an Eikes Genick. Hasard beendete die gegenseitige Verbeugerei mit einem Räuspern und
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vereinbarte mit dem Hafenkapitän, am nächsten Morgen seine Aussage zu dem Fall des Witold Woyda zu Protokoll zu geben. Dann zogen die Seewölfe ab und nahmen auch Matt sowie den schwer angeschlagenen Boston-Mann mit hinüber zur „Isabella“. Den Arwenacks an Bord blieben die Futterluken offenstehen, als sie den Trupp sahen und die beiden Kerle erkannten, die auf etwas unsicheren Füßen zu gehen schienen. Der Profos hatte den einen links und den anderen rechts am Kragen, damit sie nicht aus den Stiefeln kippten. „Du meine Fresse“, sagte Smoky andächtig. „Eike und der Boston-Mann ich glaube, mich küßt ein Nilpferd!“ Old O'Flynn kicherte wie ein Kobold. „Dann schau dir mal unseren Profos an, den hat auch ein Nilpferd geküßt, aufs linke Auge.“ Smoky riß das Maul noch weiter auf. In diese Luke hätten locker vier Spiegeleier gepaßt. „Mach's Maul zu“, sagte Ferris Tucker trocken, „sonst beißt dich wirklich noch 'ne Nilpferdstute.“ Aber anerkennend fügte er hinzu: „So ein Ding habe ich allerdings bei meinem alten Carberry auch noch nicht gesehen - und das will was heißen.“ Sie waren alle am Schanzkleid versammelt, einschließlich des Bordviehs. Und sie glucksten und kicherten, grinsten und feixten, nachdem sie sich von ihrer grenzenlosen Verblüffung erholt hatten. Nur einer blieb verdrießlich wie eh und je Mac Pellew. „Der hat sich wieder geprügelt“, verkündete er dumpf und spuckte übers Schanzkleid. „Der kann's nicht lassen. Das hört und hört nicht auf. Wo der hinlatscht, gibt's Stunk, egalweg nur Stunk. Und dann fängt wieder das große Jammern an, und ich und der Kutscher können Knochen flicken, Nasen einrenken und Fleischfetzen mit Kabelgarn zusammennähen. Und dafür werden wir noch angepöbelt, weil Undank der Welt Lohn ist.“ „Na, na, na“, sagte Pete Ballie.
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„Ist doch so“, brummte Mac Pellew. „Wenn ich dieses Oberrübenschwein Carberry jetzt frage, ob ich was für sein Auge tun könne, was meinst du wohl, was ich für 'ne Antwort kriege?“ „Weiß ich nicht“, sagte Pete Ballie und grinste. „Dann paß mal auf“, sagte Mac Pellew wütend. Und als Carberry mit Eike und dem Boston-Mann, die beide verzerrt und ziemlich dämlich grinsten, auf die Kuhl stampfte, trat Mac Pellew zu ihm und fragte: „Kann ich was für dein Auge tun, Mister Carberry? Vielleicht einen kühlen Umschlag oder eine Salbe, die den Bluterguß lindert und die Schwellung mindert?“ Es war so wie immer. Dem Profos schwoll der Kamm, er pumpte sich voll Luft, und dann röhrte er los: „Verpiß dich, Mister Pellew, sonst ist bei dir gleich was gemindert und gesalbt! Mein Auge ist völlig gesund, dem fehlt nichts, verstanden?“ „Man sieht's!“ brüllte Mac Pellew erbittert zurück. „In dem Sack, den du am Auge hängen hast, kann man 'ne Kokosnuß verstecken - was sag ich, da paßt 'n Riesenaffenarsch rein, so einer, wie du's bist ...“ „Mac“, sagte Hasard sanft, als er von der Stelling auf die Kuhl sprang. „Laß ihn doch. Wenn er meint, sein Auge sei völlig gesund und dem fehle nichts, dann ist das sein Bier. Vielleicht ist er scharf darauf, als Einäugiger sein weiteres Leben zu verbringen. Da müßten wir uns nach einem neuen Profos umsehen, denn ein einäugiger Profos bringt ja nichts mehr her.“ Er zwinkerte Mac Pellew zu, aber der hatte bereits kapiert, welchen Kurs der Kapitän steuerte. „Richtig“, sagte er daher mit Grabesstimme, „völlig richtig, Sir. Das ist medizinisch auch erwiesen. Die Einäugigen hauen immer daneben, wenn sie einen Boxhieb anbringen wollen.“ Der Kutscher stieg auch mit ein. „Du sagst es, Mac“, erklärte er. „Viel schlimmer aber ist, daß sie über ihre eigenen Füße stolpern, weil ihr Blickwinkel getrübt ist - logisch,
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bei einem Auge schrumpft dieser Winkel auf ein Minimum zusammen - äh, er verengt sich gewissermaßen. Ein sehr bedauernswerter Vorgang, zumal die Stolperer somit einen Krückstock benutzen müssen, der sie vor den ärgsten Stürzen bewahren soll.“ Carberry stand stumm und still, und es sah aus, als spähe er in sich hinein. So bemerkte er auch nicht, daß die Arwenacks Mühe hatten, ihr Lachen zu verbeißen. Sie nahmen sich eisern zusammen und zeigten ernste Gesichter, als sich Carberry aufraffte und zum Kutscher umdrehte, nachdem er Eike und den Boston-Mann losgelassen hatte. „Kutscher“, sagte er etwas heiser. „Hab ich was am linken Auge?“ „Das hast du, Ed“, sagte der Kutscher sachlich. „Und wie ich das beurteile, ist damit nicht zu spaßen.“ „Hm. Und was schlägst du vor?“ „Daß ich's mir anschaue und dich verarzte.“ „Gut“, sagte Carberry. Er spähte e einäugig zu Hasard. „Sir, brauchst du mich im Moment, oder kann ich ...“ „Schon gut, Ed.“ Hasard winkte ab. „Laß dich vom Kutscher und Mac verarzten. Nehmt Eike und den Boston-Mann gleich mit.“ Er lächelte leicht. „Ich glaube, euch allen schadet es nicht, wenn ihr euch auch etwas stärkt. Das Bornholmer Wässerchen soll dafür gut sein. Wir warten in der Messe auf euch. Schließlich wollen wir ja alle hören, was Eike und der Boston-Mann zu berichten haben. Also, ab mit euch!“ Carberry strahlte. Na ja, was bei ihm jetzt als Strahlen zu bezeichnen war. Des Teufels Großmutter hätte vermutlich die Flucht ergriffen. Die fünf Männer verschwanden im Krankenhaus. Hasard seufzte verhalten und strich sich nachdenklich über das Kinn. Merkwürdig war das alles schon, sehr merkwürdig. Und meist geriet Carberry in den Wirbel der Ereignisse - oder umgekehrt: er zog diese Ereignisse auf sich. Und dann fliegen die Fetzen. Wenn man den Faden weiterspann, konnte man sich ausrechnen,
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daß so etwas irgendwann einmal nicht mehr mit einem blauen Auge enden würde. Und was würde dann sein? Carberry war etwas Elementares. Was dieser Mann in seinem Leben schon eingesteckt hatte, war unfaßbar. Bei dieser Fahrt in die Ostsee war das nicht anders gewesen. Jetzt neigte sie sich ihrem Ende zu. Dieses furchtbare Gebilde auf Carberrys linkem Auge war wie ein Schlusspunkt. Arnes Frage riß Hasard aus seinen Gedanken. Arne fragte: „Wer waren diese beiden Männer?“ Über Hasards angespanntes Gesicht huschte ein Lächeln. „Wir haben seit vielen Jahren einen guten Freund - einen etwas sonderbaren Kerl, der von irgendwoher aus dem hohen Norden stammt. Thorfin Njal heißt der Mann. Manche nennen ihn auch einfach nur den Wikinger, denn er gleicht diesen Nordmännern, zumal er auch ihre Kleidung trägt. Na, du wirst ihn kennenlernen. Er segelt ein recht merkwürdiges Schiff, einen schwarzen Viermaster, den man als Mischung zwischen einer Galeone und einer Dschunke bezeichnen kann. Wir trennten uns in der Nordsee, bevor wir unsere Fahrt in die Ostsee antraten. Thorfin Njal segelte nordwärts. Er hat sich in die Idee verrannt, Thule zu finden. Die beiden Männer, nach denen du eben fragtest, gehören zu seiner Crew. Mir ist völlig schleierhaft, was die beiden hierher verschlagen hat, denn die Crew des Wikingers hält genauso wie unsere wie Pech und Schwefel zusammen, vor allem der harte Kern, zu dem der Boston-Mann und Eike gehören. Eike ist der Kerl, der die Fellkleidung trägt, genau wie sein Kapitän. Der andere ist der Boston-Mann. Beide sind harte Kämpfer, unbedingt zuverlässig und absolut loyal ihrem Kapitän gegenüber. Daß sie ihren Kapitän und ihr Schiff verlassen haben, muß einen besonderen Grund haben. Vom Hafenkapitän wissen wir nur, daß sie hier vor zehn Tagen mit einer Schaluppe aufkreuzten und sich weigerten, den
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Sundzoll zu zahlen. Sie legten sich mit den Wachbooten an und landeten darauf im Kittchen, nachdem sie wohl einen ziemlichen Wirbel veranstaltet hatten.“ „Und was passierte in der Hafenkommandantur?“ fragte Arne. Wie immer übersetzte Nils Larsen den Dialog zwischen den beiden Vettern. „Das ist es ja gerade“, brummte Hasard. „Nenn es Zufall oder sonst was. Wir betreten - das heißt, Carberry als erster mit Woyda am Wickel - den Zellentrakt, in dem sich der Boston-Mann und Eike genau zu diesem Zeitpunkt aus der Zelle befreit hatten und darauf lauerten, auszubrechen, sobald die Tür zu dem Trakt geöffnet wird. Eike fällt über Carberry her, und der empfängt dessen Faust aufs Auge. Er schlägt zurück, wie das seine Art ist, und Eike geht zu Boden. Dafür knallt ihm der Boston-Mann die Faust noch einmal aufs selbe Auge, dann landet der Boston-Mann bei mir, und damit hat der Ausbruch ein Ende. Was meinst du, was wir dumm geschaut haben, als wir die beiden erkannten! Jetzt stell dir mal vor, wir hätten Helsingör nicht angelaufen, sondern wären jetzt bereits im Kattegat. Wir hätten nichts von Eike und dem Boston-Mann erfahren und sie nichts von uns. Das genau ist der Zufall, oder wie du es nennen magst. Ist das nicht verrückt?“ „Mehr als verrückt“, sagte Arne, „und das nur, weil ihr Witold Woyda in die Kommandantur brachtet.“ Hasard nickte. „Thule“, murmelte Arne von Manteuffel nachdenklich, „das ist doch nur eine Legende. Weißt du, wo das liegen soll?“ „Keine Ahnung, Arne.“ Plötzlich umwölkte sich Hasards Miene, weil ihn Arnes Bemerkung auf einen Gedanken gebracht hatte, der ihm gar nicht gefiel: Thorfin Njal mußte in Schwierigkeiten stecken. Hatte er sich mit „Eiliger Drache über den Wassern“ da oben im ewigen Eis verrannt und saß in der weißen Hölle fest? Und hatten Eike und der Boston-Mann Hilfe holen sollen? Aber was hatte die beiden dann hierher verschlagen?
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Es war, als habe Arne mitgedacht. Er sagte: „Vielleicht waren die beiden Männer auf der Suche nach euch. Wußten sie, daß ihr die Absicht hattet, in die Ostsee zu segeln?“ Hasard starrte ihn verblüfft an. „Eigentlich nicht, denn wir wußten es ja selbst noch nicht, als wir uns trennten. Wir hatten eine geheime, königliche Order, die wir erst öffnen durften, wenn wir die Höhe von Skagen erreicht hatten.“ „Aber der Wikinger wußte von der Order?“ „Ja.“ „Auch, wo ihr sie öffnen durftet?“ „Ja, auch das“, erwiderte Hasard. Arne lächelte. „Für mich wäre das klar. Wer oben bei Skagen - von England kommend - eine geheime Order öffnen soll, kann als Ziel eigentlich nur die Ostsee haben.“ „Und warum nicht das südliche Norwegen?“ Arne schüttelte den Kopf. „Schau auf die Karte, Hasard“, sagte er. „Dann hättet ihr von Skagen aus nach Norden aufkreuzen müssen, quer über den ganzen Skagerrak, und das ist eine verdammt happige Ecke. Eure königlichen Pläneschmiede wären schlecht beraten gewesen, euch unten bei Skagen erfahren zu lassen, daß ihr das südliche Norwegen ansteuern sollt. Nein, gerade Skagen deutet darauf hin, daß man plante, euch in die Ostsee zu schicken. Ihr brauchtet nur noch Skagens Horn, die Nordspitze Jütlands, zu runden und nach Süden zu steuern. Wenn ich diesen logischen Schluß ziehe, müßten das auch der Wikinger und seine Leute getan haben.“ Hasard nickte. „Eike und der Boston-Mann werden es uns sagen. Jetzt bin ich doch ziemlich gespannt.“ Philip Hasard Killigrew sollte sich noch wundern. 4. Sie saßen wie arme Sünder aufgereiht auf der Langbank im Krankenraum, Carberry am rechten Flügel, dann folgte Eike, neben ihm der Boston-Mann.
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Mac Pellew war in der Kombüse verschwunden und tauchte mit einer recht ansehnlichen Kruke wieder auf. Inzwischen hatte der Kutscher seinen Bedarf aus der Bordapotheke auf einem Tisch bereit gelegt. „Jetzt gluckern wir erst mal einen“, sagte Mac Pellew, „weil der Kapitän das befohlen hat.“ Er entkorkte die Kruke. Der Kutscher schnüffelte zu ihm hin und sagte: „Du hast doch schon eben einen in der Kombüse gegluckert. Mac.“ „Hab ich“, gab Mac ohne weiteres zu. „Muß ja probieren, ob das Zeug noch gut ist, nicht?“ „Du endest noch mal im Suff“, sagte der Kutscher mißbilligend. „Außerdem wird Schnaps, der lange lagert, nie schlecht, sondern eher noch besser.“ „Und wenn jemand Gift reingetan hat?„Dann wärst du jetzt ein toter Mann“. sagte der Kutscher lakonisch. Mac Pellew reckte die magere Gestalt. „Dann wäre ich für euch alle gestorben.“ „Amen“, sagte der Kutscher ungerührt. „Gib Ed die Buddel, du Flaschennuckler, ihn hat's am ärgsten erwischt.“ „Ich trink nur, weil's der Kapitän befohlen hat“, sagte Carberry dumpf, starrte aber mit seinem einen Auge begehrlich auf die Flasche. Es sah aus, als beäuge ein Huhn mit schiefgeneigtem Kopf einen besonders fetten Regenwurm. „Natürlich“, sagte der Kutscher. „Glaubst du mir nicht, Kutscher?“ fragte Carberry drohend. „Doch, doch, ist schon recht, Ed.“ Der Kutscher hatte sich vorgenommen, dieses Mal keinen Streit mit Carberry zu suchen, dem er sonst nie aus dem Wege ging. „Es ist immer gut, sich vorher zu stärken, um allen Schicksalsschlägen gegenüber gewappnet zu sein. Man sieht dann alles leichter an, auch mit einem Auge.“ „Richtig“, sagte Mac Pellew und reichte dem Profos die Kruke. Carberry nahm sie in Empfang und schluckte erst einmal trocken. Die Andeutung des Kutschers zwang ihn dazu. Teufel! Die Sache mit seinem Auge schien doch ziemlich schlimm zu sein, wenn der
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Kutscher schon von Schicksalsschlägen sprach. Tatsächlich sah er links überhaupt nichts mehr. Da war's ihm doch ein bißchen schwummerig. Allerdings hing sein Unvermögen, etwas zu sehen, damit zusammen, daß sein Auge total zugeschwollen war. Aber daran dachte er nicht. Und dann gluckerte er einen, um sich gegen die Schicksalsschläge zu wappnen. Der eine, den er gluckerte, bestand aus einer ganzen Reihe. Mac Pellew zählte im stillen mit. Der Profos hörte erst bei zehn auf. Zehnmal geschluckt! Mein lieber Mann! Denn Carberrys Schlucke waren sowieso schon doppelte, wenn nicht dreifache. In den ging soviel rein wie in einen Ochsen, aye, aye, Sir! Carberry grunzte zufrieden, wischte sich über den Mund und reichte die Kruke an Eike weiter. Der grinste gequält mit seinem verschwollenen Mund und nuschelte: „Tut mir leid, Ed, daß ich dich erwischt hab. Ich - ich hab dich erst erkannt, als ich schon zugeschlagen hatte.“ Carberry mußte den Kopf sehr weit nach links drehen, um Eike fixieren zu können. „Ich bin tieftraurig“, sagte er und hatte wieder seine dumpfe Stimme. „Meine besten Freunde erkennen mich nicht mehr. Schon das ist ein herber Schicksalsschlag.“ „Ich - ich wußte ja nicht, daß du eine neue Frisur hast“, sagte Eike entschuldigend in seiner Nuschelsprache, die im Nuscheltext so klang: „Isch - isch wusche scha nisch, dasch schu eische neusche Frischur hascht.“ „Was hat er gesagt?“ fragte Carberry den Kutscher. „Laß ihn, Ed. Er kann nicht deutlich sprechen, und das tut ihm auch weh. Mußtest du denn so hart zulangen?“ „Tut mir leid“, sagte Carberry dumpf. Und dann half er Eike, die Krukenöffnung zwischen die Zähne zu kriegen. Bei Eike zählte Mac Pellew fünf Schlucke, aber die waren natürlich wesentlich kleiner als Carberrys. Dann war der Boston-Mann dran, den Hasard am Kinn erwischt hatte. Das war
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jetzt ebenfalls verschwollen und verfärbt, und er hatte auch etwas Mühe, zu sprechen, aber nicht so sehr wie Eike. Er sagte ebenfalls, daß es ihm leid täte, Carberry mit der Faust begrüßt zu haben „und dann noch aufs selbe Auge.“ „Das war nicht Absicht, Ed“, sagte er, „ganz bestimmt nicht. Hätten wir denn ahnen können, daß ausgerechnet unser alter Freund Carberry durch die Tür tritt? Wie Eike hab ich dich nicht erkannt. Aber du hast schon recht. Es ist eine Schande, wenn sich alte Freunde nicht mehr erkennen und stattdessen mit den Fäusten aufeinander losgehen. Also, ich trinke auf das Wohl deines Auges, Mister Carberry!“ „Danke“, sagte der Profos gerührt. Der Boston-Mann gluckerte sieben Schlucke, wie Mac Pellew feststellte. Der Kutscher hielt sich mal wieder zurück und genehmigte sich nur zwei. Dafür brachte dann wieder Mac ordentlich Luft in die Kruke, obwohl ihn der Kutscher tadelnd fixierte. „Mac, wir müssen noch unsere Leute verarzten“, sagte er warnend. „Soll ich vielleicht den Befehl unseres Kapitäns sabotieren?“ fragte Mac empört, als er die Kruke absetzte. „Der war mehr für unsere Blessierten gedacht“, sagte der Kutscher. „Mit denen ich mitleide, jawohl! Schon wenn ich mir Eds Auge ansehe, beginnt mein Leiden. Ein einziges Leiden ist mein Leben. Jeden Tag fällt ein Blessierter an, dessen Schmerzen auch meine Schmerzen sind. Und hat er sein Auge verloren, dann fehlt es auch mir.. „Du gehst mir auf den Geist!“ fauchte der Kutscher. „Du - du Leidender! Statt Feldscher und Koch hättest du Heulsuse werden sollen, du Saufaus! Der Kapitän wartet auf den Bericht der beiden, verdammt noch mal! Wo sind wir hier eigentlich, he?“ „So wird man verkannt“, sagte Mac Pellew mit seiner Saure-Gurken-Miene. „So wird unsereiner in den Tod getrieben, bis man freiwillig nach dem Strick greift, um dahinzuscheiden ...“
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„Das kannst du hinterher erledigen“, sagte der Kutscher grob. „Aber paß auf, daß der Strick nicht reißt. Ich werd Will Thorne Bescheid sagen, daß er dir einen guten gibt. Am besten hängst du dich an der Großrah auf, damit auch alle sehen, was da für ein Idiot dahingeschieden ist. So ein verdammter Scheiß!“ Und der Kutscher fluchte derart. daß sogar Carberry die Ohren spitzte und sich wunderte. Und als der Kutscher dann nach der Kruke griff und kräftig einen weggurgelte, wunderte er sich noch mehr. Was der nur hatte? „Laß mal sehen, Ed“, sagte der Kutscher und rülpste. „Leg den Kopf ins Genick. Mac, leuchte mal!“ Mac nahm die Lampe mit der starken Blende und leuchtete Carberry an, während der Kutscher Ober- und Unterlid auseinanderdrückte. „Auge reagiert auf Licht“, sagte der Kutscher sachlich, atmete aber erleichtert aus. „Und was heißt das?“ fragte Carberry leicht beklommen. „Das heißt“, sagte der Kutscher, „daß wir weiter mit einem zweiäugigen Profos zur See fahren werden, keinem einäugigen!“ „Arwenack!“ grölte der Profos und sprang auf. Er nahm den Kutscher einfach in die Arme und tanzte mit Bim durch den Krankenraum. Der Kutscher fühlte sich an der breiten Profos-Brust sehr geborgen, auch wenn ihn der Profos wild durch die Gegend schwenkte. Dann klopfte er an der Brust an und schrie: „Langsam, Ed, ich muß dir aber über dem Auge noch einen Verband anlegen!“ „Tu das, Kutscherlein, tu das!“ der Profos. „Aber laß uns erst gluckern, mein Junge!“ Und sie gluckerten mehrere - alle, auch Mac Pellew, der keineswegs den Eindruck erweckte, demnächst „dahinscheiden“ zu wollen. Bewahre! Carberrys Bombe auf dem linken Auge würde mit einer Kräutersalbe bestrichen und mit einem sauberen Verband überdeckt. Der Verband veränderte ihn gewaltig, aber zu seinem Vorteil. Dieses
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blau-schwarz schillernde, fürchterliche Ding verschwand darunter, und er sah aus wie ein tapferer Kriegersmann, der fürs Vaterland den Kopf hingehalten hatte. Auch Eike und der Boston-Mann wurden gesalbt, ein Verband erübrigte sich, vor allem beim Boston-Mann, aber auch bei Eike, dem der Kutscher ja nicht den Mund zupflastern konnte, den er, wie jetzt, zum „Gluckern“ brauchte. Die Kruke schafften sie spielend, fünf Kerle. Als Mac noch eine holen wollte, erschien Dan O'Flynn und sagte grinsend, daß er es sehr bedaure, stören zu müssen, aber der Kapitän erwarte sie in der Messe. „Seit einer Stunde seid ihr im Gange“, sagte er und peilte auf die Kruke. „Habt ihr sie geschafft?“ „War Befehl des Kapitäns“, sagte Mac Pellew und hatte Schluckauf. „Weiß ich“, sagte Dan. „Ich wundere mich nur, daß ihr nicht gleich ein ganzes Faß genommen habt.“ Mac Pellew klatschte sich die Hand vor die Stirn. „Ich Idiot!“ „Sag ich doch“, erklärte der Kutscher grinsend. * „Na, da seid ihr ja endlich“, sagte Hasard, als die fünf Männer, betont steif, in die Messe stelzten und Platz nahmen, als gelte es, jetzt ein frommes Lied zu singen und den Herrn zu loben. Dabei hatten sie alle sehr blanke Augen - Carberry natürlich nur eins - und gerötete Gesichter. „Sir“, sagte Carberry und versuchte, gemessen dreinzuschauen, „wir haben deinen Befehl befolgt und uns an dem Wässerchen aus Bornholm gestärkt ...“ „Hicks!“ äußerte sich Mac Pellew. „Mäßige dich, Mac“, sagte Carberry und warf ihm einen einäugigen scharfen Blick zu. Und entschuldigend sagte er zu Hasard: „Er teilte uns mit, daß er sehr viel leiden müsse, angesichts unserer Blessuren, wegen denen er außerordentlicher Stärkungen bedürfe.“ Er redete genauso gestelzt, wie er in die Messe marschiert
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war, der alte Carberry. Und so fuhr er auch fort: „In Anbetracht seiner Leiden, so teilte uns Mac mit ...“ „Hicks!“ Carberry runzelte unter dem Verband die Stirn. „ ... teilte uns Mac mit, daß er in den Tod getrieben werde, behufs dessen er nach dem Strick greifen werde, um dahinzuscheiden, welchselbiges wir verhindern konnten, indem wir ihm weitere Stärkungen zuteil werden ließen.“ „Aha“, sagte Hasard. „Ich finde, das war eine gute Idee, Ed.“ „Nicht wahr?“ Carberry nickte. „Darum mußt du entschuldigen, wenn er durch Schluckauf stört.“ Er linste seinen Kapitän an. „Meinst du, daß es ihm gut tut, wenn wir ihm vielleicht noch weitere Stärkungen zuteil werden lassen, Sir?“ „Du meinst, uns allen, Ed?“ „Äh - so direkt wollte ich ...“ Der Profos verhaspelte sich ein bißchen, fing sich aber wieder und sagte treuherzig: „Sir, das ist wirklich eine gute Idee von dir. Sicher wird uns allen eine Stärkung gut tun, um allen Schicksalsschlägen gegenüber gewappnet zu sein.“ Das waren zwar des Kutschers Worte, aber Carberry hatte sie in seinem Herzen bewegt und fand sie durchaus passend. Dabei ahnte er nicht, daß er tatsächlich weise Worte sprach und sie eine knappe Viertelstunde später wahrhaftig „der Stärkung bedurften“ „Mac, hol Wässerchen“, sagte Hasard lächelnd. „Ein Fäßchen, Sir?“ fragte Mac. Hasard blickte in die Runde. „Wer dagegen ist, möge die Hand heben. Ah, ich sehe, daß ist nicht der Fall, also wurde einstimmig beschlossen, daß Mac ein Fäßchen holt.“ Mac flitzte davon. Die Arwenacks - bis auf den Posten Stelling waren alle versammelt, auch die Zwillinge - grinsten und tuschelten und freuten sich. Dabei waren sie alle gespannt, was Eike und der Boston-Mann berichten würden.
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Hasard sagte: „Das Wässerchen ist zwar wichtig, aber viel wichtiger erscheint mir die Frage, wie es deinem Auge geht, Ed.“ Carberry senkte verschämt das rechte Auge und sagte: „Sir, ich bleibe euch erhalten. Der Kutscher hat in mein Auge geleuchtet und nachgeguckt. Ich weiß zwar nicht, was er da gesehen hat, aber er meinte, daß ich weiter als zweiäugiger Profos mit euch zur See fahren werde.“ Er schielte zum Kutscher. „Hast du doch gesagt, nicht?“ „Alles klar“, sagte der Kutscher. Er hatte eine etwas schwere Zunge. Es klang wie „Alles-lar.“ Hasard verbarg seine Heiterkeit. „Das ist eine feine Nachricht. Außerdem siehst du mit dem Verband prächtig aus, Ed.“ Er schaute wieder zum Kutscher: „Und was ist mit Eike und dem Boston-Mann?“ „Auch alles klar“, sagte der Kutscher und nuschelte genauso wie Eike. „Nur muß ich darauf hinweisen, daß Eike Sprechschwierigkeiten hat, so daß es geraten erscheint, ihn tunlichst vom Sprechen - äh - zu beurlauben, damit seine Lippen der Ruhe pflegen können Er verstummte irritiert, weil Old O'Flynn ziemlich laut kicherte. Dann sagte er pikiert: „Wüßte nicht, was es da zu kichern gibt, Mister O'Flynn!“ Breit grinsend erklärte Old O'Flynn: „Ich wußte noch gar nicht, daß Lippen der Ruhe pflegen können. Schnarchen die dann auch?“ Der Kutscher geruhte nur, die Augenbrauen in tiefer Verachtung hochzuziehen und die Frage zu übergehen. Dafür nahm Ferris Tucker den Faden auf, zumal er Old Donegal gern eins auswischte, und sagte: „Der Kutscher meinte nur, daß es für Eike heilsam sei, zu schweigen. Vielleicht solltest du den Rat beherzigen und deinen Lippen ebenfalls Gelegenheit geben, der Ruhe zu pflegen. Wir wären dir dafür äußerst dankbar.“ „Ich rede, wann's mir paßt“, erklärte Old O'Flynn. „Leider“, sagte Ferris Tucker. „Aber vielleicht kriegst du auch mal was aufs Maul. An dem Tag werde ich dem Herrn ein Hosianna singen. Allerdings wirst du
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dann wohl noch schnarchen können - so wie in der letzten Nacht. Mein Gott, ich dachte, jemand zersägt das Kielschwein.“ „Das war ich nicht“, sagte Old Donegal erbost, „das war Mister Shane. Ich kann überhaupt nicht schnarchen!“ Ferris Tucker und Big Old Shane wechselten einen Blick und grinsten. Ferris Tucker sagte: „Soweit mir erinnerlich, pochte ich heute nacht an unsere gemeinsame Wand, Mister O'Flynn, und bat dich, mit dem ruhestörenden Lärm endlich aufzuhören.“ „Ach, du warst das?“ sagte Old Donegal spitz. „Ich dachte schon, der Wassermann hätte angeklopft.“ „Der holt dich bald ab, wenn das so weitergeht“, sagte Ferris Tucker. „Im übrigen hast du eben bestätigt, dass du mein Klopfen gehört hast. Und ich habe nicht angeklopft, um mich mit dir zu unterhalten - da ist mir mein Schlaf mehr wert -, sondern um deine verdammte Schnarcherei abzustellen.“ „Schnarcher sind eine Plage für die Mannschaft“, dozierte der Kutscher. „Ferner, so lehrte mich Doc Freemont, neigen Schnarcher zu Lügen, weil sie stets behaupten, sie hätten nicht geschnarcht. Drittens, so lautete Doc Freemonts Diagnose, schnarchen Schnarcher mit offenem Mund, was beweist, daß die Zuund Abluftkanäle in der Nase - äh blockiert sind, welchselbige nur mittels chirurgischem Eingriff wieder geöffnet werden können.“ „Hast du das schon mal gemacht?“ Ferris Tucker grinsend, denn er hatte bemerkt, wie Old Donegal plötzlich seine Nase abgetastet hatte, ein bißchen erschrocken, wie es aussah. „Es wäre meine erste Nasenoperation“, erwiderte der Kutscher mit Würde, „aber dem steht nichts im Wege, da ich die Ehre hatte, Doc Freemont bei den entsprechenden Eingriffen assistieren zu dürfen, so daß mir der Ablauf der Operation samt Handhabung des chirurgischen Instrumentariums bekannt sind.“ Er nickte vor sich hin. „Mac wird mir das Instrumentarium zureichen
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können. als da sind: Hammer und Meißel ...“ „Hammer und Meißel?“ unter-brach ihn Old Donegal entsetzt, während die Arwenacks mal wieder am Grinsen waren. „Hammer und Meißel“, bestätigte der Kutscher. Es war ein Glück für Old O'Flynn, daß Mac mit dem Fäßchen erschien und der Dialog nicht fortgesetzt wurde. Denn der Kutscher hätte ihm haarklein und mit seiner ganzen Pingeligkeit den Verlauf der Operation erklärt - zur Erheiterung der Arwenacks und zum Grausen Old O'Flynns. Der Kelch ging an ihm vorüber. Sie holten die Becher aus dem Gestell im Messeschrank, Mac besorgte das Einschenken, und die Zwillinge verteilten die Becher. Vater Hasard genehmigte für sie selbst einen Fingerhut voll. Dann trank er auf das Auge Edwin Carberrys und auf das Wohl der Blessierten. Als sie die Becher abgesetzt hatten, trat andächtige Stille ein. Alle schauten zu Eike und dem Boston-Mann. Hasard nickte ihnen aufmunternd zu. „Dann schießt mal los, am besten wohl du, Boston-Mann, wenn Eike das Sprechen schwerfällt. Daß wir uns wundern, euch hier anzutreffen, brauche ich wohl nicht weiter zu betonen. Was hat euch hierher verschlagen?“ „Wir wollten euch suchen“, sagte der Boston-Mann schlicht. „In der Ostsee?“ „Ja.“ Schon ging das Gemurmel los. „Ruhe!“ sagte Hasard zu seinen Mannen. Und dann: „Ihr wußtet doch gar nicht, daß wir in die Ostsee wollten.“ „Das nicht“, erwiderte der Boston-Mann, „aber ihr solltet oben bei Skagen die Order öffnen. Skagen deutete auf die Ostsee, sagten wir uns. Außerdem erfuhren wir, daß ihr Göteborg angelaufen hattet und von dort nach Süden gesegelt seid. Das sagte uns der Hafenmeister.“ „Mann, Mann“, sagte Hasard. „Wenn ihr hier den Hafenkapitän nach uns gefragt hättet, ihr Hirsche, dann hättet ihr
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nicht zehn Tage im Kasten brummen müssen.“ „Den wollten wir nicht fragen“, erklärte der Boston-Mann. „Und warum nicht?“ „Ihr wart doch in geheimer Order unterwegs, Sir.“ „Aber den Hafenmeister von Göteborg habt ihr doch offenbar nach uns gefragt. Oder nicht?“ „Das ist richtig“, sagte der Boston-Mann, „aber der war ja nicht uniformiert. Und als diese verdammten Dänen auch noch Sundzoll von uns kassieren wollten, hat's bei uns ausgehakt. Wer sind wir denn? Nein, mit Uniformierten wollten wir nichts zu tun haben.“ Das war vielleicht eine Logik. Na, Schwamm drüber, dachte Hasard und fragte: „Und warum wart ihr auf der Suche nach uns?“ Der Boston-Mann druckste herum und blickte Eike hilfesuchend an. Aber Eike nuckelte an seinem Becher und war nicht ansprechbar. Oder tat er nur so? Die beiden wirkten überhaupt so, als sei's ihnen ziemlich unbehaglich. Schließlich sagte der Boston-Mann lahm: „Wir - wir brauchen deine Hilfe, Sir.“ Und damit verstummte er wieder. „Was heißt wir?“ fragte Hasard. „Die Crew des Schwarzen Seglers.“ Wieder Schweigen. „Mann, ist das spannend“, sagte Old O'Flynn. Seine Augen funkelten. „Sitz ihr etwa mit dem Arsch im Eis fest?“ Der Boston-Mann schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen. Und Eike beschäftigte sich weiter mit seinem Becher. Da hatten sie nun die Seewölfe gefunden, aus purem Zufall, und jetzt hockten sie beide da und kriegten das Maul nicht auf. „Was ist los mit euch?“ fragte Hasard. „Ihr wolltet meine Hilfe. Wieso überhaupt meine?“ „Weil - weil du das am besten kannst.“ Hasard war am Stöhnen. „Was kann ich am besten?“ „Na, mit unserem Kapitän reden.“
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Hasard schob den Kopf vor. Seine Augen waren ganz schmal geworden. „Ich soll mit eurem Kapitän reden? Mit Thorfin Njal?“ „Ja.“ „Wo steckt er denn? Hat er Thule gefunden?“ „Nein.“ Der Boston-Mann kippte den Inhalt seines Bechers hastig herunter. Dann hustete er, natürlich. Stenmark, der neben ihm saß, klopfte ihm den Buckel. Hasard lehnte sich zurück und ermahnte sich, die Ruhe zu behalten. Die Arwenacks waren am Zappeln und rutschten auf ihrem Hintern hin und her. Carberry sagte grollend: „Muß euch unser Kapitän die Würmer einzeln aus der Nase ziehen, ihr Seegurken, was, wie? Mac, schenk den beiden Kerlen nach. Die zieren sich ja wie Jungfern in der Brautnacht!“ Merkwürdig. Als Carberry „Brautnacht“ sagte, zuckten Eike und der Boston-Mann zusammen. Mac füllte ihre Becher voll und sagte: „Hicks!“ „Dein Wortschatz läßt auch nach, Mac“, knurrte Carberry. Hasard drehte Däumchen und tat damit kund, daß er's aufgegeben hätte, weitere Fragen zu stellen. Der Boston-Mann starrte ihn unglücklich an. „Sag's ihm schon!“ nuschelte Eike und hatte einen roten Kopf. „Warum ich denn?“ brummte der BostonMann. „Sag du's ihm doch. Ich hab schon soviel geredet. Mein Mund ist ganz trocken.“ Und -schwupp! - kippte er einen. Hasard blickte träumerisch zur Decke der Messe hoch und studierte die Maserung der Eichenholztäfelung. Eike kippte auch einen und schnickte den Kopf zurück, um das Wasserchen besser in die Kehle zu kriegen. Der Schluck schien ihn zu ermuntern. Mit seiner Nuschelstimme sagte er: „Sir?“ Hasard löste den Blick von der Decke. „Ja?“ Eike rührte mit seinem Becher auf der Back herum, das heißt, er zog mit ihm Kreise, und nuschelte: „Thule haben wir nicht gefunden, Sir.“ „Nein?“
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„Nein.“ „Hochinteressant.“ Hasard drehte wieder Däumchen. „Wie bitte?“ fragte Eike irritiert. „Ich sagte: hochinteressant“, erwiderte Hasard. „Hochinteressant, daß ihr Thule nicht gefunden habt. Vielleicht seid ihr nachts aus Versehen daran vorbeigesegelt, eh? Und habt geschlafen, wie? Bei euch Schlafmützen könnte ich mir das schon vorstellen. Ich schlaf auch bald ein. Ihr seid beide so anregend!“ „Sir, du darfst uns nicht verspotten“, sagte Eike. „Wir wissen doch nicht, was wir tun sollen. Nur du kannst uns helfen. Darum hat die Crew beschlossen, daß der BostonMann und ich aufbrechen sollen, um dich zu suchen.“ „Aha. Weiter! Mein Geduldsfaden ist in den letzten fünf Minuten ziemlich kurz geworden. Die Crew hatte also beschlossen, euch beide auf die Suche nach mir zu schicken. Wieso die Crew? Was ist denn mit eurem Kapitän?“ „Das ist es ja gerade.“ „Was?“ „Es handelt sich um unseren Kapitän, Sir“, nuschelte Eike. Sein Kopf war jetzt beängstigend rot. „Das hab ich inzwischen kapiert, da ich ja laut der langwierigen Ausführungen des Boston-Mannes mit ihm reden soll. Meine letzte Frage an ihn lautete, wo euer Kapitän steckt. Auf die Antwort warte ich immer noch. Oder habt ihr das vergessen?“ „Nein, natürlich nicht.“ Eike schluckte. „Unser - unser Kapitän befindet sich in Isafjord im - im gleichnamigen Fjord, Sir.“ „Ha-ha!“ Carberry grunzte laut. „Ausgerechnet ,Isa!“ Oder heißt das Kaff Isabella?“ „Das war's doch, Ed“, sagte Eike hastig. „Weil der Fjord ,Isa-Fjord` heißt, wollte der Kapitän unbedingt reinsegeln. Er hielt das für einen Fingerzeig Odins, daß er da das Scheiß-Thule finden würde. Genauso war's, nicht, Boston-Mann?“ „Jawohl, so war's“, sagte der Boston-Mann finster. „Aber Thule gab's in dem ganzen Fjord nicht Nur einen kleinen Ort, der Isafjord heißt. Dort gingen wir vor Anker.“
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„Ja, dort gingen wir vor Anker.“ Eike nickte verdrossen. „Und da ankert ,Eiliger Drache über den Wassern' immer noch“, sagte der BostonMann dumpf. „Und wird dort noch ankern bis ans Ende aller Tage.“ Sie hatten's mit dem Ankern, die beiden. „Wo liegt denn der Isa-Fjord?“ fragte Hasard vorsichtig. „Island, ganz oben im Nordwesten, Sir“, sagte Eike eifrig. „Island“, sagte Hasard entgeistert. „Mann, Mann. Und da soll ich mit eurem Kapitän reden? Habt ihr noch alle Tassen im Schapp? Ich will nach England zurück, verdammt noch mal! Und dann wollen wir in die Karibik, aber nicht nach Island. Island kann mir gestohlen bleiben, Himmel, Arsch und Zwiebelsuppe! Ihr spinnt wohl?“ Und Philip Hasard Killigrew donnerte die Faust auf die Back, daß die Becher tanzten und das Fäßchen wackelte. „Ha-ha! Ho-ho!“ röhrte Carberry und hielt sich den Bauch vor Lachen. „Unser Kapitän hat ,Himmel, Arsch und Zwiebelsuppe' gesagt! Aber gut, aber gut, das muß ich mir merken! Gib's ihnen ordentlich, den Polaraffen, Sir! Island - die haben ja 'ne Robbe verschluckt ...“ „Nein, haben wir nicht!“ brüllte ihn der Boston-Mann an, jetzt ebenfalls hochrot, aber vor Zorn. „Wir wollen auch in die Karibik zurück, genauso wie ihr! Aber Thorfin Njal will nicht, das ist es. Er will in diesem verdammten Isa-Fjord bleiben für immer! Und er bildet sich ein, daß wir dazu ja und amen sagen. Aber wir denken nicht daran! Niemals! Wir haben da oben nichts verloren. Wir wollen nicht! Die ganze Crew ist dagegen, jawohl! Und darum sollten wir euch suchen, nur darum, damit euer Kapitän mit unserem Kapitän spricht und ihm den Unsinn ausredet!“ Und dann brüllte der Boston-Mann noch lauter: „Seid ihr unsere Kameraden und Freunde? Oder was seid ihr?“ Das war ja ein ziemlicher Vulkanausbruch beim Boston-Mann, bei dem man so etwas eigentlich nicht gewohnt war. Daß er das Herz auf dem rechten Fleck hatte, das wußten sie alle. Ohne Zweifel war er der
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ehrlichste Mann aus der alten Crew der Roten Korsarin. Carberry starrte ihn aus seinem grauen Auge hart an. „Jetzt hör mir mal zu, mein Junge“, sagte er und war plötzlich von einer eisigen Nüchternheit. „Euer Kapitän wollte nach Thule suchen, und mir ist nichts davon bekannt, daß ihr dagegen protestiert hättet. Oder habt ihr?“ „Nein!“ schnappte der Boston-Mann. „Na also“, knurrte Carberry. „Und jetzt sitzt ihr da oben in diesem Fjord fest, weil es eurem Kapitän so gefällt. Und da erinnert ihr euch an eure Kameraden von der ‚Isabella', deren Kapitän eurem Kapitän einreden soll, Island wieder zu verlassen. So, mein Junge“, Carberry dehnte den mächtigen Brustkasten, „damit ihr hier nicht mehr wie die Katze um den heißen Brei herumschleicht: Ihr müßt uns schon einen verdammt guten Grund nennen, wenn unser Kapitän für die Sache von Meuterern eintreten soll!“ Das war der Profos Edwin Carberry, hart wie Granit und kompromißlos. Der Boston-Mann war fahl unter seiner verblichenen Bräune geworden. Auch Eike war bleich geworden. „Wir sind keine Meuterer!“ zischte der Boston-Mann. „Ich will den Grund hören“, sagte Carberry verbissen. ..den Grund, mein Junge, nichts anderes. Ich will wissen, warum Männer gegen ihren Kapitän sind, gegen ihren Kapitän und seine Entscheidungen. Erst dann wird darüber zu reden sein, ob wir Freunde und Kameraden sind, erst dann.“ Und Carberry stand langsam auf. „Es muß ein sehr guter Grund sein, mein Junge. Sonst fliegt ihr nach Island zurück!“ Und er schloß langsam die rechte Pranke zur Faust. „Setz dich hin, Mister Carberry“, sagte Hasard ohne besondere Betonung. Carberrys Kopf ruckte herum. „Das sind Meuterer, Sir!“ fauchte er. Hasard fixierte ihn spöttisch. „Setz dich, Ed. Die Runde ist noch längst nicht zu Ende. Außerdem hast du nicht aufgepaßt. Ich kenne bereits den Grund.“
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Auch mit einem Auge konnte Carberry noch glotzen. Es fiel ihm fast aus der Höhle. „Du kennst den Grund, Sir?“ Hasard nickte bedächtig. „Setz dich erst hin, sonst fällst du noch um.“ Die Arwenacks starrten ihren Kapitän sprachlos vor Staunen an. Konnte der Gedanken lesen? Carberry sackte auf die Bank. „Thorfin Njal hat eine Frau gefunden“, sagte Hasard leise. 5. Die Seewölfe saßen da, als sei zwischen ihren die Lunte zu einer Pulverkammer gezündet worden – wie hypnotisiert, sprachlos, starr. Es war, als seien sie zu leblosen Puppen geworden. Eike und der Boston-Mann hatten die Köpfe gesenkt. Es war auch gut, dass Carberry sich wieder gesetzt hatte. Er wäre doch ins Wanken geraten. Und er schien am betroffensten zu sein. „Ja“, sagte Hasard und durchbrach damit die Stille, „darauf sollten wir wohl alle erst mal was trinken. Ihr seht ziemlich verstört aus, Leute. Das überrascht mich etwas. Meintet ihr, der Wikinger sei ein alter Hagestolz, ein Frauenfeind – oder wie ich das nennen soll?“ Hasard lächelte leicht. „Er war auf der Suche nach Thule und hat es auf andere Weise gefunden. Was ist daran so schlimm?“ „Ich wird nicht mehr“, ächzte Carberry und stürzte das Wässerchen die Kehle hinunter. Sie taten es ihm alle nach, auch Eike und der Boston-Mann, die wie erlöst schienen. Hasard lächelte vor sich hin. Sie hatten sich nicht getraut, den Seewölfen reinen Wein einzuschenken. Verständlich. Sie hatten den Spott befürchtet. Sie hatten vermeiden wollen, ausgelacht zu werden. Nein, Meuterer waren sie ganz gewiß nicht, da hatte sich der alte Carberry total verrannt. Das Problem lag ganz woanders und viel, viel tiefer. Hasard schaute zu Arne von Manteuffel hinüber, dem Nils Larsen getreulich alles übersetzt hatte, was gesprochen worden war. Die Blicke der
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beiden Vettern begegneten sich – und Arne nickte, denn er hatte verstanden, warum ihn Hasard anschaute. Denn das war es doch wohl: Er, Arne, würde seinen Vetter nie in die Karibik begleiten, wenn er, wie es vorgesehen war, jetzt im April die Freiin von Lankwitz geheiratet hätte. Und wiederum Hasards Leben wäre anders verlaufen, wenn nicht ein böses Schicksal Gwen, die Mutter der Zwillinge, von seiner Seite gerissen hätte. Ja, Frauen veränderten das Leben ihrer Männer. Und wenn die Männer Kapitäne waren, dann veränderten diese Frauen auch zwangsläufig das Leben der Männer, die unter diesen Kapitänen fuhren, dies vor allem, wenn sich die Kapitäne entschlossen, nicht mehr zur See zu fahren. Genau das schien das Problem der Crew des Schwarzen Seglers zu sein. Ihr Kapitän Thorfin Njal war im wahrsten Sinne des Wortes vor Anker gegangen. Er wollte Island nicht mehr verlassen. Und „Eiliger Drache über den Wassern“ würde dort ankern „bis ans Ende aller Tage“, wie der Boston-Mann gesagt hatte. Nur - diese Mannschaft, harte Kerle allesamt, wollte das nicht. Sie wollten dorthin zurück, wo es ihnen wert war, zu leben, nach ihren eigenen Gesetzen, als Freie und ungebunden, nur dem Gesetz ihrer Bruderschaft unterworfen - und der Autorität ihres Kapitäns. Aber Freiheit war eben doch nicht grenzenlos. Ja, wenn einer aus der Mannschaft beschloß, seinen eigenen Weg zu gehen und die Bruderschaft zu verlassen, dann rückte ein anderer an seine Stelle, und nichts änderte sich. Aber wenn der Kapitän diesen Weg ging ein Kapitän, der so unangefochten und beherrschend seine Funktion wahrgenommen hatte wie der Wikinger, dann brach eine Welt zusammen. Da war an dieser Stelle plötzlich eine Leere. Der Kopf fehlte. Und meist brach dann die Mannschaft auseinander. Es war der An fang vom Ende. Verdammt, verdammt, dachte Hasard. Und mir schieben diese Kerle eine Rolle zu, die
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ich gar nicht spielen will. Bin ich vielleicht das Kindermädchen des Wikingers? Eike und der Boston-Mann blickten ihn erwartungsvoll an. „Warum seid ihr nicht nach Plymouth gesegelt?“ fragte Hasard schroff. „Jean Ribault müßte -noch dort sein. Er gehörte zu eurer Crew und wäre der richtige Mann gewesen, euer Problem zu lösen.“ „Wir wollten aber zu dir“, sagte der Boston-Mann störrisch. „Auf dich hört der Kapitän.“ „Da bin ich mir gar nicht so sicher.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Thorfin Njal ist ein alter Dickschädel, das wißt ihr genauso gut wie ich. Wenn er auf euch nicht hört, warum sollte er es dann bei mir tun? Soll ich ihm vielleicht ausreden, eine Frau zu lieben, he?“ Sie schwiegen. Verlegen waren sie noch dazu. „Wie heißt denn die Lady?“ erkundigte sich Hasard. „Gotlinde“, sagte der Boston-Mann heiser. O Heiland! Was für ein Name! Prompt war die Bande auch am Grinsen. „Gotlinde“, sagte Hasard wütend. „Und weiter? Hat sie auch einen Nachnamen?“ „Gotlinde Thorgeyr“, knurrte der BostonMann. „Aha.“ Hasard knurrte jetzt auch. „Was noch, verdammt noch mal! Ihr seid auch nicht gerade gesprächig! Ich soll euch helfen, aber das kann ich nur, wenn ich mehr erfahre. Ist sie hübsch, schielt sie? Hat sie eine Warze auf der Nase und einen dicken Hintern? Oder was?“ Es war zum Auswachsen mit diesen beiden Kerlen. Die kriegten einfach die Zähne nicht auseinander, hockten da, glotzten, soffen, schnitten Grimassen, und jede Antwort mußte man aus ihnen herauspulen. Eike war am Drucksen und preßte schließlich heraus: „Sie ist so groß wie unser Kapitän - so!“ Und er zeigte es. Nur zeigte er mit beiden Armen nicht nach oben, sondern er reckte sie weit nach vorn. Hasard stieß zischend die Luft aus.
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„Mann!“ fauchte er. „Du zeigst die Breite an, nicht die Höhe oder Größe! Ist das Weib so dick?“ „Ach so, nein, nicht dick ...“ Eike geriet ins Stottern. „Sie - sie ist schon eine Riesin äh - auch vorn ...“ Er verstummte mit knallrotem Kopf. Für Sekunden herrschte Kirchenstille in der Messe, aber nur für Sekunden. Dann war's aus. Eine Lachsalve raste wie eine Bö durch den Raum, brach sich an den Eichenholzwänden und brachte die Lichter zum Flackern. Sie wieherten und johlten und brüllten. Plymmie, die mit in der Messe weilte, zog den Schwanz ein und steckte den Kopf unter Hasard juniors Knie. Dem Profos liefen die Tränen über die Wangen, auch aus dem linken Auge, obwohl das zugeschwollen war. Old O'Flynn japste nach Luft und hatte rote Ohren. Ben Brighton saß vornübergebeugt, die Arme um den Magen geschlungen, als müsse er den festhalten. Big Old Shane hatte den Kopf in den Nacken geworfen und röhrte wie ein Hirsch. Smoky betrommelte seinen Bauch, und Ferris Tucker warf sich vor und zurück und klatschte sich dabei auf die mächtigen Oberschenkel. Na ja, sie waren schon eine wilde Horde. Zuletzt konnten sie nur noch schnaufen. Nur Eike und der Boston-Mann saßen still und stumm wie Stockfische und hatten keinen Anteil. Ihre Mienen waren trübe wie der Himmel im- November, trübe und verhangen, grau in grau, farblos. Als das letzte Kichern verstummte, sagte Hasard: „Damit wären wir über die Körpermaße Gotlindes also informiert ...“ Old O'Flynn begann schon wieder zu kichern, und Hasard warf ihm einen strafenden Blick zu. „Mister O'Flynn“, sagte er, „für Eike und den Boston-Mann ist das weniger lustig, und ich möchte verdammt nicht in ihrer Haut stecken, umgeben von wiehernden Hengsten, die sich so albern wie Halbwüchsige aufführen, von denen du bei deinem Alter offenbar der schlimmste bist.“ „Entschuldigung“, murmelte Old O'Flynn, „aber mich hat's wirklich umgehauen - und
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dann noch die Vorstellung, wie groß bei der Riesin...“ „Schon gut“, unterbrach ihn Hasard und räusperte sich, weil die Kerls schon wieder verdächtig die Lippen zusammenpreßten. Der Boston-Mann räusperte sich auch, und jetzt sprach er sogar von Er sagte: „Danke, Sir, das war eben sehr fair von dir: Und es wird Zeit, dir alles zu berichten. Nein, Gotlinde Thorgeyr ist nicht irgendwie verunstaltet, keineswegs. Sie ist rotblond und grünäugig.“ Seine Stimme wurde leiser. „Sie paßt irgendwie zu unserem Kapitän. Ihre Sippe stammt aus dem Norden Norwegens. Man erzählt sich, der Stammvater der Sippe, Trygve Thorgeyr, habe wegen eines Totschlags den Hof in Norwegen verlassen und sei nach Island ausgewandert. Und von dort sei er mit Erik dem Roten nach Grönland gesegelt, später aber wieder zurückgekehrt. Seitdem sitzen die Thorgeyrs auf dem Thorgeyr-Hof im Isa-Fjord auf Island, reiche Leute, die entweder zur See fahren oder den Hof bewirtschaften. Mit irgendwelchen Nachbarn liegen sie in ständiger Fehde.“ Wieder räusperte sich der Boston-Mann. „Das muß eine ziemlich wilde Sippe sein, nach dem, was wir so gehört haben. Jedenfalls hatte Gelinde drei Brüder - ihr Vater und ihre Mutter leben nicht mehr ...“ „Wie alt ist sie?“ unterbrach ihn Hasard. „Schätze, knapp über dreißig. Du hast schon recht, Sir, unser Kapitän könnte ihr Vater sein. Aber das trifft alles nicht zu.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Dieses Weib sprengt alle Vorstellungen. Wenn behauptet würde, sie stamme in unmittelbarer Linie von Odin ab, würde mich das nicht wundern, obwohl ich solchen Unsinn nicht glaube. Verdammt, sie ist was Besonderes, sonst wäre unser Kapitän bestimmt kalt wie eine Hundeschnauze geblieben. Also, sie hatte drei Brüder. Zwei fielen in einer Fehde, der dritte segelte westwärts, ist aber nie zurückgekehrt. Man nimmt an, daß er auf See geblieben ist. Das war wohl vor vier Jahren. Seitdem ist sie die Herrin auf dem Thorgeyr-Hof - und was für eine! Stell dir
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vor, Sir, mit dem Messerehen des Kapitäns - du kennst ja dieses fürchterliche Ding hat sie Holz gehackt, daß die Fetzen nur so geflogen sind. Da war gerade keine Axt zur Hand, und unser Kapitän mußte ihr sein Messerchen ausleihen. Sie hat diesen riesigen Prügel gehandhabt, als hantiere sie mit einem lächerlichen Kochlöffel.“ „Eine Walküre, wie?“ fragte Hasard. „So kann man's nennen, Sir“, sagte der Boston-Mann erbittert. „Die richtige Schuhgröße für unseren Kapitän. Zuerst haben wir genauso unsere Witzchen gerissen, wie ihr das getan habt. Aber das ist uns bald vergangen.“ Er fluchte vor sich hin. „Spätestens dann, als unser Kapitän tage- und nächtelang auf dem Hof blieb, wurde uns klar, daß sich da mehr abspielte als nur ein flüchtiges Abenteuer.“ „Wann war das?“ fragte Hasard. „Etwa Ende Februar, Sir. Zu dieser Zeit passierte folgendes: Es war ja nicht viel los in dem verdammten Fjord, wir gammelten auf dem Schwarzen Segler herum, von Thule war nicht mehr die Rede, unser Kapitän geruhte, uns ab und an an Bord einen Besuch abzustatten - mehr so, um sich mal wieder zu zeigen, und dann verschwand er wieder für Tage und Nächte. Ausgerechnet der Stör, dieser Armleuchter, fing an, mit einer Magd aus dem Gesinde des Hofes herumzuturteln, und der Kapitän erwischte ihn, als er eines Nachts in deren Kammer stieg ...“ Die Arwenacks waren schon wieder am Grinsen. Und der Boston-Mann knurrte: „Ja, grinst nur! Wir hätten am liebsten geheult. Der Stör bezog die Dresche seines Lebens, was ihn aber nicht davon abhielt, dem Kapitän rundweg zu erklären, er könne ja wohl das gleiche tun, was der Kapitän seit einiger Zeit betreibe. Na, der Kapitän hätte ihn fast erschlagen, aber der Stör konnte noch rechtzeitig die Flucht ergreifen und sich an Bord verholen. Am nächsten Tag war die Hölle los. Der Kapitän erschien an Bord, aber bevor er wieder auf den Stör losgehen konnte, traten ihm Eike, Arne, Olig, Juan, unser Bootsmann, Bill, the Deadhead, und ich entgegen. Wir wünschten, darüber
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aufgeklärt zu werden, wie das eigentlich weitergehen solle. Wenn der Kapitän nicht mehr die Absicht habe, Thule zu finden, dann sei es wohl an der Zeit, wieder über England zur Schlangeninsel zurückzukehren. Das sagten wir. Der Kapitän kriegte einen Tobsuchtsanfall. Er brüllte uns an, daß er gar nicht daran dächte, Island zu verlassen. Er hätte beschlossen, Gotlinde zu heiraten und den Thorgeyr-Hof zu übernehmen - punktum. Wir könnten uns am Fjord ansiedeln, der sei ja sowieso im Besitz der Thorgevrs. Mit Gotlinde habe er das schon altes abgesprochen. Außerdem gäbe es genug feindliche Nachbarn, die Gotlinde den Besitz neideten, da sei die Crew des Schwarzen Seglers genau richtig, um dazwischenzuschlagen und zu demonstrieren, wer der Herr im Hause sei. So ungefähr drückte er sich aus. Wir waren nahezu sprachlos und dachten, unser Kapitän sei übergeschnappt. Wir sind ja nicht seine Leibeigenen, nicht wahr? Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären über unseren Kapitän hergefallen. Es war aber Eike, der die Ruhe behielt und dem Kapitän sagte, daß man das alles sehr genau überlegen müsse, und der Kapitän möge uns doch eine Bedenkzeit einräumen. Das käme alles sehr unerwartet und so weiter. Da gäb's überhaupt nichts zu überlegen, erklärte der Kapitän, räumte uns dann aber doch eine Bedenkzeit ein. bevor er wieder von Bord verschwand. Zu diesem Zeitpunkt war er völlig vernagelt und überhaupt nicht ansprechbar.“ Für den sonst so schweigsamen BostonMann war das eine sehr lange Rede gewesen. Jetzt stärkte er sich aus seinem Becher, und Mac schenkte ihm sofort nach. Dabei klopfte er ihm auf die Schulter und sagte: „Für mich seid ihr keine Meuterer, mein Junge. Aber da siehst du mal wieder, was die Weiber alles anrichten - hicks!“ Das letztere klang wie eine Bekräftigung. Carberry starrte grübelnd vor sich hin und war nicht in die Luft gegangen, als Mac ihm indirekt mit seinem ersten Satz eins ausgewischt hatte.
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Aber mit der Aussage Macs schienen alle Arwenacks einverstanden zu sein. Da wurde auch nicht mehr gespottet, gelacht oder gegrinst - o nein. Sie waren nachdenklich geworden. Auch empörte Mienen stellte Hasard fest, die darauf schließen ließen, daß sie mit dem Verhalten des Wikingers keineswegs einverstanden waren. Jetzt ergriff Eike das Wort. Er sagte: „Das ist noch nicht alles. Wir informierten die Crew, und da war keiner, der irgendwelche Lust verspürte, auf Island zu bleiben, geschweige denn, sich für Gotlinde Thorgeyr zu schlagen. Sie wollten alle wieder in die Karibik zurück und waren der Ansicht, daß der Kapitän kein Recht habe, sie davon abzuhalten. Da tauchte noch ein Problem auf: Was sollte mit unserem Schiff geschehen? Es ist doch so, daß es zu gleichen Teilen Siri-Tong und Thorfin Njal gehört und im gewissen auch uns, der Crew. Wenn man so will, ist es unsere Heimat. Auf und mit diesem Schiff haben wir gekämpft und sind mit ihm über die Meere gesegelt. Die Schnapphähne in der Karibik zittern vor diesem Schiff. Es garantiert uns unsere Freiheit und erlaubt es uns, unser eigener Herr zu sein. Wenn also Thorfin Njal die Absicht hatte, das Schiff in Island zu behalten, dann - das eine Entscheidung, die auch Siri-Tong betroffen hätte. Am nächsten Tag erschien Thorfin Njal wieder an Bord und wünschte zu wissen, wie wir uns entschieden hätten. Da schnitten wir dieses Problem an. Der Kapitän erklärte, das Schiff bliebe selbstverständlich in Island. Da hätte doch wohl auch Siri-Tong noch ein Wörtchen mitzureden erwiderte ich. Prompt ging Thorfin Njal wieder in die Luft und brüllte herum, daß die Felsen im Fjord erzitterten. Aber da blieben wir stur. Erst müsse das geregelt werden, erklärten wir. Ob er vielleicht deswegen in die Karibik segeln solle, brüllte uns der Kapitän an. Das wäre wohl das beste, sagten wir. Schließlich könne er ja nicht über den Kopf von SiriTong weg über den Schwarzen Segler verfügen, wie ihm das gerade passe.
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Außerdem müsse für diejenigen von uns, die nicht in Island bleiben wollten, eine Möglichkeit geschaffen werden, in die Karibik zurückzukehren. „Wie Ed Carberry warf uns Thorfin Njal vor, Meuterer zu sein. Wir stellten dagegen, daß hier von Meuterei wohl kaum die Rede sein könne. Und dann sagten wir ihm ins Gesicht, daß keiner der Crew die Absicht habe, am Isa-Fjord zu siedeln. Wir seien keine Bauern oder Schafzüchter, sondern Männer, die auf die freie See gehörten. Und wenn wir ein Zuhause hätten, dann sei es die Schlangeninsel. Und was der Kapitän betreibe, sei Verrat an Siri-Tong, er sei der Meuterer, nicht wir.“ Eike lachte grimmig. „Da hättet ihr ihn erleben sollen. Am liebsten hätte er uns erschlagen, aber wir standen wie eine Mauer, und Arne sagte: Nur zu, Thorfin Njal, bring deine ganze Mannschaft um, einen wie den anderen, schlag uns die Köpfe ab, mit deinem verdammten Messerchen - und dann feiere deine Hochzeit, unser Geschenk sind unsere Köpfe, aus denen kannst du für deine Gäste Humpen drechseln lassen. Aber wenn ihr daraus sauft, dann vergiß den Trinkspruch nicht. Er sollte lauten: Das waren einmal meine Männer! Ja, das sagte Arne, und ich werde es nie vergessen. Und Thorfin Njal prallte zurück, als habe Arne mit einer riesigen Axt zugeschlagen. Dann ging er von Bord, ohne noch ein Wort zu sagen.“ Jetzt hätte man in der Messe eine Stecknadel fallen hören, so still war es. Bestürzung malte sich in den Gesichtern der Seewölfe. Ja, sie waren alle zutiefst erschüttert. Unvorstellbares war geschehen, etwas, was sie nie und nimmer für möglich gehalten hätten. Carberry schüttelte fast hilflos den Kopf und sagte: „Ich begreife das alles nicht mehr. Das geht über meinen Verstand. Kann ein Mann sich so verändern? Sir, was sagst du dazu?“ „Nichts“, sagte Hasard ruhig. „Ich möchte mir die Geschichte bis zu Ende anhören.“ Carberry stöhnte. „Geht das denn noch weiter? Langt das noch nicht?“
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„Sicher geht's noch weiter“, sagte Hasard, „zumindest bis zum Entschluß der Crew, Eike und den Boston-Mann auf die Suche nach uns zu schicken. Eine andere Frage von mir lautet: Warum ist die Crew nicht ankerauf gegangen und in die Karibik zurückgesegelt?“ Eike senkte den Kopf und murmelte: „Wir wollten unseren Kapitän nicht im Stich lassen, Sir. Wir haben das überlegt, aber keiner wollte es. Wir schickten eine Abordnung zum Thorgeyr-Hof, aber unser Kapitän ließ sich nicht sprechen. Er sei nicht anwesend, hieß es. Wir warteten, aber nichts passierte. Wir saßen in der Zwickmühle. Schließlich konnten wir ja nicht einfach mit dem Schwarzen Segler abhauen, also einem Teil des Besitzes von Thorfin Njal. Das wäre Raub gewesen. Auch das wollten wir nicht. Da hatte Arne die Idee, dich suchen zu lassen, Sir. Und wir dachten auch, daß wir dann zu dir übersteigen könnten, um mit dir auf der ‚Isabella' zur Schlangeninsel zurückzusegeln, falls es mit dem Kapitän nichts mehr wird und er unbedingt auf Island bleiben will. Schließlich muß man das ja respektieren. Wir kauften einem isländischen Fischer die Schaluppe ab, und das Los, dich zu suchen, fiel auf den Boston-Mann und mich. Eines Nachts, Mitte März, verließen wir den Isa-Fjord. Alles andere weißt du.“ Und nun bin ich dran, dachte Hasard erbittert und kippte sich das Bornholmer Wässerchen in die Kehle. Teufel auch, dieser verdammte Wikinger war schon immer ein verrückter Hecht gewesen, aber das hier war die Spitze aller Verrücktheiten. Wie hieß dieser kleine Liebesgott? Ja, Amor, dessen Pfeil hatte voll im Zentrum getroffen - ein Pfeil mit Widerhaken, den zog keiner mehr raus, der saß unverrückbar fest. Ob man's mit List versuchte? Hasard merkte, daß ihn alle anstarrten, als erwarteten sie, daß er ein Wunder vollbringe. Na klar, Hasard, der Zauberer, der Hexenmeister, der Kapitän, der für alles eine Lösung weiß. Und die Lösung
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schüttelt er nur so aus dem Ärmel, mir nichts, dir nichts! Hokuspokus Abrakadabra, nicht wahr? „Wenn ich im Isa-Fjord aufkreuze“, sagte Hasard wütend, „dann riecht euer verliebter Kapitän doch sofort den Braten. Meint ihr, auf mich hört er mehr als auf euch?“ Der Boston-Mann und Eike nickten. Und Eike sagte: „Viel mehr, Sir, davon bin ich überzeugt. Er hat immer mit Hochachtung von dir gesprochen, und das will bei ihm viel heißen. Du bist ihm in vielem voraus. Sieh mal, du hast sogar zwei prächtige Söhne, er aber noch keinen einzigen. Wir glauben, das wurmt ihn mächtig ...“ „Söhne sind kein Besitz, sondern ein Geschenk!“ knurrte Hasard. „Und es war ein reiner Zufall, daß ich meine Söhne wiederfinden durfte.“ „Du bist unsere letzte Rettung“, murmelte Eike. „Ich kann auch nicht hexen. Mann, nimm doch mal Vernunft an: Euer Kapitän hat eine Frau gefunden, die er heiraten will. Daran ist wohl kaum zu zweifeln nach allem, was ihr berichtet habt. Das ist seine ureigene Entscheidung Hasard stutzte. „Will sie ihn denn auch heiraten?“ „Ja.“ „Na gut, dann haben sie also beide diese Entscheidung getroffen“, sagte Hasard, „wie das üblich ist zwischen Mann und Frau, und das ist auch richtig so. Da haben weder Väter noch Mütter, Brüder, Schwestern oder Freunde dreinzureden. Es ist ihre eigene Sache, die ich auch respektieren muß. Ich kann natürlich Bedenken äußern, aber nur, wenn ich gefragt werde, was ich davon halte. Selbst wenn ich dagegen bin, darf ich den Fragenden nicht verletzen. Also kurz und gut: Daß Thorfin Njal und Gotlinde Thorgeyr heiraten werden, daran ist nicht zu rütteln, auch von mir nicht. Ist das klar?“ Der Boston-Mann und Eike nickten kläglich und waren ziemlich betreten. „Etwas völlig anderes“, fuhr Hasard fort, „ist die Sache mit dem Schwarzen Segler.
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Da bin ich eurer Meinung. Thorfin Njal hat nicht das Recht, das Schiff allein für sich zu behalten. Er hat auch weiterhin nicht das Recht, von euch zu verlangen, daß ihr auf Island bleibt und am Isa-Fjord siedelt oder euch niederlasst oder gar irgendwelche Nachbarn bekämpft, mit denen ihr absolut nichts zu tun habt, die ihr noch nicht einmal kennt. Da, so meine ich, hat er den Bogen überspannt. In diesem Fall bin ich bereit, euren Standpunkt ihm gegenüber zu vertreten und mit ihm zu sprechen. Das bin ich auch Siri-Tong schuldig.“ Der Boston-Mann und Eike atmeten auf, und jetzt lächelten sie dankbar. Und Eike sagte: „Wir wußten doch, du uns hilfst, Sir! Alle wussten das.“ Da freut euch mal nicht zu früh.“ Hasard winkte ab. „Ich habe lediglich erklärt, zu was ich bereit bin. Meine Partner auf diesem Schiff sind die Männer der Crew. Sie könnten also jetzt entscheiden, von hier nicht nach Island, sondern über England zurück in die Karibik zu segeln. Dann müßten wir drei mit eurer Schaluppe allein nach Island segeln und würden mit ,Eiliger Drache über den Wassern' - nach Rücksprache Thorfin Njal - zur Schlangeninsel zurückkehren ...“ Arne von Manteuffel hob die Hand, und Nils Larsen übersetzte, was er sagte: „Ihr brauchtet nicht mit der Schaluppe zu segeln. Ich stelle die 'Wappen von Kolberg` für die Reise nach Island zur Verfügung.” Beifälliges Gemurmel erklang. Dieser Arne von Manteuffel war wirklich ein feiner Kerl. Sie nickten ihm zu, und Hasard sagte lächelnd: „Eine gute Idee, Arne, herzlichen Dank. Aber warten wir ab, wie die Crew sich entscheidet. Ben, übernimmst du das? Ich enthalte mich der Stimme.“ Ben ließ abstimmen. Das Ergebnis: die gesamte Crew wünschte mit Hasard und der „Isabella“ nach Island zu segeln. Da gab's überhaupt kein Zaudern. 6.
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Am nächsten Morgen suchte Hasard wie versprochen den Hafenkapitän auf, zusammen mit Ben Brighton und Nils Larsen, und erstattete seinen mündlichen Bericht über den Fall Witold Woyda. Ein Sekretär protokollierte seine Aussage, die dann von Hasard, Ben und Nils Larsen unterschrieben wurde. Die Schaluppe von Eike und dem BostonMann war inzwischen vom Hafenkapitän freigegeben worden, und die Seewölfe halfen den beiden Männern, ihr Hab und Gut samt Proviant auf die „Isabella“ zu bringen. Danach meldeten sich Eike und der Boston-Mann grinsend bei dem dicken Hafenkapitän und verkündeten, daß sie ihm die Schaluppe, wenn auch entmastet, aber dennoch herzlich als Gegenleistung für den angenehmen Zellenaufenthalt in der Kommandantur schenkten. Es sei ein feines Schiffchen, sagten sie, schnell und wendig, so daß man damit sogar Wachboote aussegeln könne. Darum ziele ihr Geschenk auch dahin, das feine Schiffchen künftig als Wachboot einzusetzen und somit die Wachbootflottille zu verstärken. Denn das sei gewiß nötig, weil es immer wieder solche Lausekerle gäbe, die sich um den Sundzoll herumdrücken wollten. Ganz artig sagten sie das, mit Gesichtern, die ausdrücken sollten, daß sie kein Wässerchen trüben könnten. Richtig fromm und bieder sahen sie aus. Und der sehr ehrenwerte Hafenkapitän, so sagten sie, möge doch verzeihen, daß sie die Stäbchen in der Zelle auseinandergebogen hätten. Sie würden solches bestimmt nicht wieder tun, nein, ganz gewiß nicht. Und sie klopften dem Dicken auf die Schulter, weil der am Luftschnappen und am Japsen war. Gegen elf Uhr am Vormittag wurden die Leinen losgeworfen, und die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ richteten ihren Bug dem Kattegat entgegen. Sverre Olsen, der Wachbootkapitän, und Eric Hornborg, der dicke Hafenkapitän,
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standen auf der Pier und winkten den beiden Schiffen nach. „Das sind vielleicht Kerle“, sagte der Dicke, und es war deutlich herauszuhören, daß er das „Das“ betonte und offenbar bedauerte, solche Kerle nicht unter seinem Kommando zu haben. Sverre Olsen wurde etwas rot und sagte trotzig: „Sie kochen auch nur mit Wasser.“ „Das ja.“ Der Dicke nickte. „Nur ist da gehacktes Blei drin, Blei und Eisen. Und damit gurgeln die jeden Morgen vor dem Frühstück. Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie auch noch Schießpulver dazuschütten.“ Das war ein feiner Abgesang auf die Seewölfe und die Männer, die mit ihnen segelten. Schade, daß sie es nicht mehr hörten. Sie hätten sich bestimmt gefreut. Dafür kriegte jetzt aber - und ziemlich verspätet - Old Donegal Daniel O'Flynn seine Ahnungen, und zwar unter dem Hinweis, sein Holzbein sei arg am Kribbeln. „Da sind die Holzwürmer drin“, sagte Smoky. „Laß mal sehn. Du weißt doch, das kann man genau feststellen. Ferris sieht das mit einem Blick.“ Und schon brüllte er nach dem Schiffszimmermann. „Was ist los?“ fragte Ferris Tucker stirnrunzelnd. „Old Donegal sagt, in seinem Holzbein kribbele was“, erklärte Smoky, „und ich sag, da sind die Holzwürmer drin. Kannst du mal nachschauen? Wenn ja, müßtest du Old Donegal ein neues Holzbein schnitzen, sonst gehen ihm die Biester auch noch an die Wäsche.“ Ferris Tucker fixierte den stämmigen Decksältesten. War der am Spinnen? Oder wollte er den Alten mal wieder auf den Arm nehmen? Aber Smoky schien seinen Quatsch völlig ernst zu meinen. Dabei war es ausgeschlossen, daß Old Donegal was im Holzbein spürte. im Beinstumpf schon, aber nicht im Holzbein direkt. Das gab's gar nicht, obwohl manche Kerle, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, erklärten, daß sie dort was spürten, wo gar nichts mehr war.
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Ziemlich ruppig sagte Ferris Tucker: „Da können keine Holzwürmer drin sein. Das ist gutes, abgelagertes Eichenholz. Ich hab's damals extra ausgesucht, als sich Old Donegal das Holzbein gebrochen hatte. Ich verpaß ihm kein Gammelholz, in dem die Biester bereits Gänge angelegt haben.“ „Trotzdem“, beharrte Smoky. „Man kann nie wissen. Das war vor einem Monat, als du ihm das neue Holzbein geschnitzt hast. Wenn du ein Bohrloch übersehen hast ...“ „Ich überseh keine Bohrlöcher!“ fauchte Ferris Tucker. „Ich hab ja keine Kürbisse auf den Augen.“ „Es kribbelt aber in meinem Holzbein“, sagte jetzt Old Donegal. „Dann kratz dich da!“ fuhr ihn Ferris Tucker an. „Also Leute, nur keine Aufregung“, sagte Smoky beschwichtigend. „Krempel mal die Hose hoch, Old Donegal, vielleicht entdecken wir doch was.“ Old Donegal bückte sich und rollte das rechte Hosenbein hoch bis über das Knie. Dann streckte er das Holzbein zur Besichtigung vor. Smoky und Ferris Tucker beugten sich darüber und begannen mit der Untersuchung. Das geschah alles auf der Kuhl auf der Steuerbordseite, während die „Isabella“ Kullen bereits querab hatte und bei gutem Westwind die Kattegat-Insel Anholt anlag. Den Freiwächtern war keineswegs entgangen, daß Old Donegal mal wieder im Mittelpunkt eines Disputs stand - Anlaß auch für den einäugigen Carberry, sich der Sache anzunehmen. Auf seine Frage, warum sich Smoky und Ferris die Nasen an Old Donegals Holzbein rieben, erklärte Luke Morgan, daß sie dort nach Holzwürmern suchten, weil Old Donegal behauptet hätte, es kribbele in seinem Holzbein. „Hat er auch wieder Ahnungen?“ Carberry irritiert. „Die hat er ja immer bei so was“, Luke Morgan. Carberry stöhnte und murmelte: „Nun geht die Leier wieder los. Sonst sind’s die Wassermänner oder Schwanzweiber, der Schiffsgeist oder die
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Kielschweinmännchen, und nun sind's die Holzwürmer.“ „Das mit den Holzwürmern war aber Smokys Idee“, sagte Luke. „Das ist auch so ein Spinner“, sagte Carberry. Inzwischen war die Untersuchung beendet und Ferris Tucker richtete sich wütend auf. „Nicht ein einziges Bohrloch“, sagte er wütend. „Ich kenn doch meine Hölzer, verdammt und quergespleißt! Aber mich anöden, wie? Holzwürmer! Klar, die habt ihr alle beide nämlich in euren Holzköpfen! Da rieselt euch schon das Holzmehl aus Ohren, ihr Blödmänner!“ Aber es kribbelt“, sagte Old O’Flynn und hatte seinen unheilsschwangeren Blick drauf. „Und wenn's in meinem Holzbein kribbelt, dann stehen dunkle Wolken an der Kimm!“ „Ich seh keine!“ schnappte Ferris Tucker. „Ich auch nicht“, sagte Carberry grollend. Smoky reckte sich den Hals aus, aber auch keine entdecken, weder voraus noch achteraus, noch querab. „Das ist sinnbildlich gesprochen“, sagte Old Donegal mit Würde. „Aber davon versteht ihr ja nichts. Man muß hinter die Dinge schauen können. Das ist eine Gabe, an der es euch groben Klötzen mangelt. Ich sehe schon, meine Warnungen sind wie immer in den Wind gesprochen.“ „Dann freu dich doch, daß dir wenigstens einer zuhört“, höhnte Ferris Tucker. „Aber vermutlich hängt dem Wind dein Quark auch schon zum Halse heraus, und er pustet dir was!“ Old O'Flynn schnaufte verächtlich, und es war nur Smoky, der sich mal wieder für dessen düstere Andeutungen erwärmte. „Ich sage euch“, verkündete er, „daß die Kribbelei in Old Donegals Holzbein ein Vorbote ist.“ „Vorbote für was?“ fragte Carberry drohend. „Daß die Kakerlaken Kopfstand üben und die Holzwürmer Sackhüpfen veranstalten, was, wie?“ „Ich weiß auch was“, sagte Ferris Tucker grinsend. „Das ist auch so'n Vorbote. Was ist, wenn die Möwen auf dem Wasser laufen, statt zu schwimmen, eh?“
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„Dann gibt's Sturm“, sagte Smoky düster. „Quatsch, dann wird's Zeit, den Kurs zu ändern, du Simpel!“ Die Männer, die sich um die Gruppe versammelt hatten, lachten lauthals los. Old Donegal rümpfte nur die Nase, während Smoky den Schiffszimmermann verdattert anstarrte. „Versteh ich nicht“, murmelte er. „Wieso wird's da Zeit, den Kurs zu ändern?“ „Mann, bist du bescheuert!“ röhrte Carberry los. „Wenn die Möwen auf dem Wasser nicht mehr schwimmen, sondern laufen, dann spazieren sie bereits auf 'ner Sandbank oder 'nem Riff rum, die du aber beide nicht siehst, weil sie dich unter Wasser liegen.“ „So was Blödes!“ sagte Smoky wütend, erntete jedoch ein noch größeres Gelächter, wobei es auch an spitzen Bemerkungen nicht mangelte, von denen jene noch die harmloseste war, die besagte, daß Smoky heute wohl seinen denkfaulen Tag habe. Dem guten Wetter entsprechend 'war die Stimmung an Bord bestens. Old Donegals Prophezeiungen waren tatsächlich in den Wind gesprochen oder verfingen allenfalls bei Smoky und Paddy Rogers. Und was das Kribbeln in Old Donegals Holzbein betraf, äußerte sich der Kutscher dahingehend, daß dies ein von der Wissenschaft noch nicht ganz geklärtes Phänomen bei abgetrennten Gliedmaßen sei - was ja auch Matt Davies und Jeff Bowie bestätigen könnten. Doc Freemont habe die Ansicht vertreten, es handele sich bei Empfindungen solcher Art um sogenannte Phantomschmerzen, die offenbar von den durchtrennten Nervensträngen des betreffenden Gliedstücks ausgingen, aber keinesfalls von der Prothese, die ja eine tote Materie sei. Allerdings, so führte der Kutscher weiter aus, habe Doc Freemont darauf hingewiesen, daß Phantomschmerzen häufig bei Wetteränderungen aufträten. Aber das konnte die Seewölfe auch nicht weiter erschüttern - sie hatten genug Stürme abgewettert. Dennoch kriegten sie was auf die Mütze. Das war allerdings drei Tage später, und da
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hatten sie sich bereits durch den ruppigen Skagerrak gekämpft und standen auf der Höhe von Stavanger an der Südwestküste Norwegens. Die Knüppelei war losgegangen, als sie Skagen gerundet hatten. Da setzte zwar eine starke Strömung westwärts, aber der Wind hatte zugelegt und stand gegen an, so daß sie kreuzen mußten. Auch das konnte in Kauf genommen werden, nur hatte sich im Skagerrak eine mehr als wüste See aufgebaut - Folge der konträren Richtung von Wind und Strom —und erzeugte eine übel durcheinanderlaufende See. Die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ torkelten wie betrunken, und auf beiden Schiffen waren sofort Manntaue gespannt worden. Natürlich mußte auch alles seefest gezurrt werden. Aus Sicherheitsgründen hatten der Kutscher und Mac Pellew das Feuer im Kombüsenherd gelöscht, und die Seewölfe mußten mit Kaltverpflegung vorlieb nehmen. Auf Arne von Manteuffels Schiff war es nicht anders. Ein Wesen wurde seekrank, nämlich Plymmie, die Bordhündin der „Isabella“, der die Seebeine für eine solche Torkelfahrt noch nicht gewachsen waren. Carberry kniff sein eines Auge zu und sah nichts, als Plymmie auf der Kuhl ihren Magen entleerte, festgehalten von den Zwillingen. Die See wischte den Kram ja weg, also konnte man das Auge zudrücken. Außerdem sah das Hundevieh derart leidend aus, daß es einem das Herz umdrehen konnte. Plymmie wurde nach ihrer Opfergabe unter Deck gebracht und in ihre Hundekoje gepackt, die ihr Ferris Tucker gezimmert hatte. Dort war sie leise am Jaulen und Winseln, ließ sich aber dankbar von Hasard und Philip junior kraulen. Natürlich war der Kutscher zu Rate gezogen worden, denn die Zwillinge hatten die besorgte Frage gestellt, ob immer damit zu rechnen sei, daß es Plymmie schlecht würde, „wenn's mal ein bißchen pustet“, wie sich Philip junior ausdrückte. Aber der Kutscher hatte gemeint, daß Plymmie erst mal die richtigen Seebeine
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wachsen müßten, dann würde sich das geben. Er konnte da aus eigener Erfahrung sprechen, der Kutscher, denn bei ihm hatte es auch eine Weile gedauert, bis er so richtig geworden war - ohne Opfergaben und so. „Die einen“, so dozierte er, „spüren überhaupt nichts, und das Extrem zu ihnen sind jene, denen bereits das Essen aus dem Gesicht fällt, sobald sie nur Wasser sehen. Dazwischen gibt es die Gruppe, die ,sich nach jedem längeren Landfall erst einmal wieder an die Schaukelei gewöhnen muß und zunächst auch dem Meeresgott opfert. Zu dieser Gruppe gehöre ich, und wahrscheinlich müssen wir auch Plymmie zu dieser Gruppe rechnen. Aber ihr seht ja, daß ich von diesem Leiden - und es ist ein echtes Leiden - nicht mehr geplagt werde. Warum sollte es bei Plymmie anders sein?“ Da waren beide doch sehr beruhigt. Nur Hasard junior wollte noch wissen, warum die Seekrankheit ein echtes Leiden sei. Sie selbst, er und sein Bruder, waren nämlich völlig frei davon. „Nun“, erwiderte der Kutscher nachdenklich, „allgemein äußert sich die Seekrankheit durch Schwindelgefühl, Brechreiz und Erbrechen, Übelkeit, Apathie bis hin zu einem Zustand der totalen Gleichgültigkeit, der sehr gefährlich ist, weil er zur Selbstaufgabe führen kann. Das ist eigentlich ganz klar. Ein Mensch, der die zu sich genommenen Speisen ständig erbricht, wird immer schlapper und willenloser. Natürlich schwinden auch seine Kräfte. Fast ist das mit einem Siechtum zu vergleichen, versteht ihr?“ Sie nickten. Das war schon eine lausige Sache, und sie konnten nur hoffen, daß Plymmie ihr „Leiden“ recht schnell überstand. Als die Arwenacks und Arnes Männer dann aber nach harter und mühsamer Knüppelei den Skagerrak hinter sich gebracht hatten und auf Nordwestkurs längs der norwegischen Küste brausten, da langte Rasmus, der Windgott, noch einmal zu und präsentierte den Männern einen
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Sturm, der es in sich hatte. Viel zum Orkan fehlte eigentlich nicht. Hasard und Arne hatten nicht die Absicht, sich mit Rasmus anzulegen und sich zum Tänzchen aufspielen zu lassen, wobei natürlich die Fetzen fliegen würden - nämlich die Segel von den Rahen. So etwas riskierten nur Vollidioten oder Kerle, denen die See noch nicht den nötigen Respekt beigebracht hatte. Außerdem hatten sie keinen Leeraum, um vor dem Sturm lenzen zu können, denn an Steuerbord war die norwegische Küste, und die bestand aus granithartem Gestein, bestens geeignet, auch das gute englische Eichenholz in handliche Stücke für den Kamin zu verarbeiten. So taten sie das, was ihnen letztlich übrigblieb: sie tobten mit einem Affenzahn in den riesigen Bukkenfjord hinein, rasten an Inseln und Schären vorbei, was Old O'Flynn die Haare zu Berge stehen ließ, und gelangten auf Südkurs in die schützende Abdeckung jener Halbinsel, an deren östlicher Innenseite Stavanger lag. Das schafften sie also wieder mal und verheimlichten sich keineswegs, daß es der Master im Himmel recht gut mit ihnen gemeint hatte. In der Vagen-Bucht, die in die Stadt hineinragt, fanden sie einen Platz an der Pier, und da konnte ihnen der Sturm gestohlen bleiben, weil sie hier so sicher wie in Abrahams Schoß lagen. Sie atmeten alle auf, zumal der Kutscher und Mac Pellew das Kombüsenfeuer wieder in Betrieb nahmen und damit eine warme Mahlzeit signalisierten. Was es denn gäbe, erkundigte sich Smoky händereibend und mit lüsternem Blick. Mac Pellew liebte solche dämlichen Fragen und die Topfgucker, die sie stellten, auf seine Weise und beschied Smoky dahin, daß heute eingelegte Holzwürmer mit gedünstetem Möwendreck serviert würden, eine Spezialität, die allerdings nur von Kennern ausreichend gewürdigt werde. Und der Kutscher fügte dem hinzu, es handele sich um die Holzwürmer, die Mac und er mittels eines besonderen Verfahrens
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aus Old O'Flynns Holzbein herausgelockt und sofort geschlachtet hätte. „Alsdann“, so sagte er, „haben wir sie in Essig und Öl eingelegt, weil das erst den aparten Geschmack gibt, der von den Kennern so geschätzt wird.“ Als Smoky seine rechte Pranke zur Faust schloß, donnerte Mac Pellew das Kombüsenschott zu und riegelte von innen ab. Smoky wurde fuchtig, donnerte seinerseits von außen gegen das Schott und verlangte, daß es sofort wieder geöffnet werden sollte. Schließlich sei er der Decksälteste, so brüllte er, und habe ein Recht darauf, zu erfahren, was der Crew wieder für eine Pampe vorgesetzt würde. Aber auf das Wort „Pampe“ reagierten Mac und der Kutscher nicht, wie Smoky gehofft hatte. Stattdessen sangen sie gemeinsam ein Lied - was sie in letzter Zeit häufiger taten, wenn sie in der Kombüse das Essen zubereiteten. Das Lied, das sie jetzt zum besten gaben, handelte von einer gewissen Rose, die von einem Seemann verführt und allein gelassen ihre verlorene Unschuld beweint und sich schließlich ins Wasser stürzt. Ein tragisches Schicksal, weiß Gott. Und sie sangen es so, daß es einen Hund jammern konnte, vor allem den langgezogenen Refrain, der da lautete: „Des Seemanns Treue ist nur Schein. dein Herz, das wird gebrochen sein! O Rose, Rose, trau ihm nicht, weil er nicht hält, was er verspricht!“ Smoky, dem das Drama der Rose völlig schnuppe war - für derlei Gesang hatte er ohnehin nichts übrig -, hatte jetzt Mordgelüste. Entsprechend beklopfte er das Kombüsenschott, das heißt, er trommelte Stakkato. Fluchen und brüllen tat er auch. Und so schnappte ihn Carberry am Genick und schüttelte ihn ordentlich durch, indessen Mac und der Kutscher ihr Duett zu Ende brachten, aber die letzte Strophe, in der Rose ins Wasser geht, noch einmal wiederholten, weil sie die so schön fanden. Es klang auch so, als ob sie dabei heulten, weil sie von Roses Schmerz und Dahinscheiden so ergriffen waren. Mac
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versuchte es noch dazu mit der zweiten Stimme, um den tragischen Effekt zu erhöhen. Das ging aber daneben. Es war mal wieder was los auf der „Isabella“, die gerade erst an der Pier vertäut worden war. Die Leute im Hafen reckten die Hälse und hatten große Ohren. Darum steckte Carberry wieder einen Anpfiff von seinem Kapitän ein, ob er, zwar einäugig, nicht mehr in der Lage sei, an Bord für Ruhe zu sorgen. Carberry, der nicht einsah - mit Recht -, warum er sich wegen des tobenden Smoky anpfeifen lassen sollte, besorgte es dem Decksältesten und schleppte ihn anschließend in den benachbarten Krankenraum, wo er sich wieder erholen konnte. Schließlich war der Krankenraum ja für so was da. Prompt hatte Mac auch das Kombüsenschott wieder entriegelt, was nun wieder Carberry verwunderte, als er sich jetzt die beiden Sänger vornehmen wollte. „War das Schott gar nicht verschlossen?“ fragte er verblüfft. „Warum das denn?fragte Mac zurück. „Weil Smoky wie ein Irrer dagegen getrommelt hat.“ „So?“ fragte Mac spitz. „Ich hab nichts gehört. Hast du was gehört, Kutscher?“ „Ich? Nein, was soll ich denn gehört haben?“ „Ihr hattet doch Streit mit Smoky!“ fuhr Carberry Mac an. „Der war doch wie wild, war der. Warum war er das, was, wie?“ „Das weiß ich doch nicht“, sagte Mac beleidigt. „Frag doch den Irren, der muß ja wissen, warum er herumtrommelt, nicht? Und überhaupt, was blökst du mich an, verdammt? Wir schuften hier im Schweiße unseres Angesichts, damit ihr euch mal wieder vollfressen könnt, und schon wird auf einem herumgehackt. Hast du sonst noch Fragen, Mister Carberry? Ich meine, mir ist es doch piepe, wann ihr was zu essen kriegt. He, Kutscher, hör auf mit der Kocherei! Mister Carberry möchte eine Fragestunde abhalten. Das scheint wichtiger zu sein, als dass wir uns um den
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Fraß kümmern!“ Und Mac Pellew band sich demonstrativ die Schürze ab. „Mac Pellew“, sagte der Profos leise und drohend, „Mac Pellew, ich verwarnige dich….“ „Verwarne dich“, verbesserte Mac Pellew. „Wie?“ „Es heißt verwarnen, nicht verwarnigen. Oder ist das was Neues?“ „Mir doch egal“, knurrte der Profos mit funkelndem rechten Auge. „Bind sofort die Schürze wieder um, du Schlot. Oder ich erschlage dich mit der Nudelrolle! Hier wird gekocht, aber nicht herumpalavert, verstanden?“ „Hab ja kein Schmalz in den Ohren“, maulte Mac Pellew. „Offenbar doch, wenn du den Krach von Smoky nicht gehört hast. Vielleicht sollte ich dir mal mit dem Wischer für die 25pfünder mal die Ohren ausbürsten, was, wie?“ Mac Pellew wusste sehr genau, wie weit er bei Ed Carberry gehen konnte, bis dem restlos der Kragen platzte. Er betrieb dies auch mir Eifer, ähnlich wie der Kutscher, denn es hatte seinen Reiz, den Geduldsfaden Carberrys ein bisschen zu strapazieren. Daß dieser Geduldsfaden jetzt straff wie eine Bogensehne gespannt war, entging Mac Pellew nicht, und darum band er sich die Schürze wieder um, schnitt ein beleidigtes Gesicht und widmete sich dem Schneiden von Speckwürfeln, denn der Kutscher und er hatten beschlossen, eine handfeste Erbsensuppe zuzubereiten. Carberry stampfte weiter über Deck, um für Klarschiff zu sorgen, wozu natürlich gehörte, daß die Mannen gehörig angelüftet wurden. Da war auch etwas Selbstzweck mit dabei. Denn je schneller die „Isabella“ tipptopp aufgeklart war, desto geneigter war der Kapitän, seiner Mannschaft Landurlaub zu gewähren. Und dieses Stavanger schien ein hübsches Plätzchen zu sein, keine verlauste und verluderte Hafenstadt mit Spitzbuben, Herumlungerern und ordinären Dirnen. Hasard und Philip junior meldeten sich beim Profos und fragten artig, ob sich Plymmie mal die Beine an Land vertreten
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dürfe - nach dem „Leiden“, das sie ja die ganzen Tage und Nächte über an die Hundekoje gefesselt habe. Carberry beäugte die Hunde-Lady, die zwischen den beiden stand, mit dem Schwanz wedelte und zum Land schnüffelte. „Genehmigt“, brummte Carberry, „aber bleibt in Sichtweite der ‚Isabella'. Und ich bitte mir keine Keilerei mit anderen Lümmeln aus. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir, alles klar!“ Sie strahlten und verschwanden wie Wirbelwinde über die Stelling an Land. 7. Der Sturm tobte unvermindert weiter gegen die Küste Norwegens. Und das war so ein Wetter, bei dem man froh sein konnte, in einem geschützten Hafen zu liegen und an einem warmen Ofen zu sitzen. Carberrys stiller Wunsch ging in Erfüllung. Wer - abgesehen von der Bordwache - Lust hatte, konnte sich an Land verholen und die Lage peilen, wie sich Carberry ausdrückte. Natürlich gab er die Ermahnungen seines Kapitäns auch an die Mannen weiter - wie immer, wenn die „frommen Pilger und Klosterbrüder“ von Bord zogen. Die Erfahrungen vieler Jahre spielten da eine Rolle, und sie hatten sehr viel mit blutigen Nasen, blau verfärbten Augen, aufgeplatzten Lippen und zerdroschenen Fäusten zu tun. Man wollte ja keinen Streit, bestimmt nicht, Sir, ehrlich, so was liegt uns überhaupt nicht ... Nur waren es eben die Umstände, die sich mit schöner Regelmäßigkeit gegen das friedliche Wollen stellten. Wie verhext war das. Im Fall Stavanger hatte der Kapitän darauf verwiesen, man möge bedenken, daß' die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ nicht die einzigen Schiffe seien, die hier vor dem Sturm Zuflucht gesucht hätten. Tatsächlich waren die Piers und Kais sehr stark belegt. Entsprechendes Gedränge würde also auch in jenen Stätten herrschen,
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wo es etwas zu trinken gab und vielleicht auch eine Svanhild oder Gotlinde oder Fredegunde oder schlicht Rose wie aus dem tragischen Lied Macs und des Kutschers Ausschau nach einem Liebsten hielt. Naturgemäß, so hatte der Kapitän zu seinem Profos gesagt, seien diese Umstände besonders zu berücksichtigen, denn sie seien dazu angetan, den nicht gewollten Streit zu provozieren. „Keine Sorge, Sir“, hatte der Profos mit der ganzen, ihm in solchen Fällen eigenen Biederkeit versichert, „ich passe schon auf die Kerle auf. Da läuft überhaupt nichts, Sir, ehrlich.“ Hasard sagte sich, daß da alle Warnungen vergeblich waren. Was der Profos mal wieder versprach, hatte er bereits in hunderterlei Versionen gehört. So gesehen war das schon Tradition: der Kapitän warnte, der Profos erklärte, auf die Kerls „aufzupassen“, und das Ende vom Lied war ein an Bord humpelndes Krückengeschwader, das vom Kutscher und Mac Pellew verarztet werden mußte. Die Tatorte wechselten, aber das Schema blieb sich gleich. Auch der fromme Blick Carberrys gehörte zum Ritus. Mit dem einen Auge sah das noch schauerlicher aus. „Ed“, sagte Hasard seufzend, „paß auf, daß man dir nicht auch noch das rechte Auge dichtschlägt. Denn dann bist du blind.“ Und der Profos versprach hoch und heilig, daß er auf sein rechtes Auge achten werde. was natürlich in sich ein Widerspruch war, da er zur Zeit nur dieses eine Auge zur Verfügung hatte. „Ich werde es wie meinen eigenen Augapfel hüten“, erklärte er treuherzig, und da redete er wirklich Stuß, zumal es ja sein Auge war. Hasard konnte nur noch den Kopf schütteln. Der Landtrupp zog von Bord, angeführt von Carberry, der mit seiner schrägen Kopfbinde bereits Sturm verkündete. Hasard schlenderte hinüber zur „Wappen von Kolberg“, um ein bißchen mit Arne zu plaudern und dabei die deutsche Sprache
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zu lernen, während Arne bereits voll in die englische Sprache eingestiegen war. Das galt auch für seine Crew, denn es war ein Unding, sich ständig über einen Dolmetscher unterhalten zu müssen. In der Holmegaten, die direkt am Hafenbecken lag, steuerte Carberry mit sicherem Blick eine Schenke an, deren Eingang von zwei mächtigen Fässern flankiert wurde. Sie dienten zum Auffangen von Regenwasser, sahen aber dennoch sehr hübsch aus. Carberry fand sie auch sehr praktisch, wie er sagte, weil man darin heiße Affenärsche abkühlen könne. Aus dieser Erwägung heraus gelangte man zu dem gemeinsamen Beschluß, auch Nathaniel Plymson in Plymouth für seine „Bloody Mary“ zwei solche Fässer zu schenken. „Die wir natürlich erst aussaufen müssen“, sagte Carberry. Mit dem einen Auge blickte er seine Mannen drohend an. „Oder ist hier einer, der meint, das schaffen wir nicht?“ Sie meinten alle, daß sie zwei Fässer schaffen würden. Während sie über die beiden Fässer mit ihren Möglichkeiten der Abkühlung noch herumpalaverten, stieß Hein Ropers, der Bootsmann der „Wappen von Kolberg“, mit einem Trupp aus Arnes Crew zu ihnen. Sie begrüßten sich mit lautem Hallo, als hätten sie sich vor Jahren getrennt und müßten nun das Wiedersehen ordentlich feiern. Dabei hatten sie in den letzten Wochen gemeinsam Seite an Seite gekämpft und waren bereits zu Waffenbrüdern geworden. So marschierten sie jetzt auch Seite an Seite in die Schenke und verstärkten den Lärm, der ihnen entgegenprallte. Es ging auf den Abend zu. Und Hasard hatte recht gehabt, daß bei den vielen Schiffen, die vor dem Sturm hier Schutz gesucht hatten, in den Hafenschenken Hochbetrieb herrschen würde. Carberry schob mit freundlichem Knurren die Kerle an der Theke beiseite, dabei diesem oder jenem kräftig auf den Fuß, grinste entschuldigend und schaffte Platz für die Mannen. Mit Hein Ropers' Trupp waren sie zu einer
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vierundzwanzigköpfigen Macht angewachsen, die jetzt den Tresen belagerte und nicht gewillt war, die Stellung zu räumen, jedenfalls nicht eher, als bis man sich außer dem Humpenleeren auch noch anderen Tätigkeiten zuwenden konnte. Da fiedelten zum Beispiel ganz hinten in der Schenke drei Musiker herum, und das klang schon wesentlich besser als das Jammer-Duett vom Kutscher und von Mac Pellew. Und wo man fiedelt, wird auch getanzt. Carberry stellte mit Wohlwollen fest, daß dort hinten bei den drei Fiedlern eine hübsche Fläche frei war, auf der bereits einige Paare herumhüpften und dabei schrille Schreie ausstießen. Da war mit allerlei Kurzweil zu rechnen. Aber zunächst galt es, die Kehlen zu befeuchten, und Carberry ließ durch Stenmark dem Schankwirt mitteilen, er möge - „Hopp-hopp“ -vierundzwanzig Humpen Bier auf dem Tresen aufmarschieren lassen, falls das Bier auch wirklich gut wäre, keine Ziegenjauche und so. Es war keine Ziegenjauche, sondern dunkel und schäumend und stark. Sie stöhnten mit Wonne und putzten die Humpen im Handumdrehen weg, so daß sogleich die nächsten vierundzwanzig Humpen gefüllt werden konnten. Carberry bezahlte mit Großmut, was den Schankwirt beruhigt aufatmen ließ. Auch die dritte Runde übernahm der Profos, und als er über Stenmark erfahren hatte, man habe einen vorzüglichen Akvavit - jenes „Wässerchen“, das die Arwenacks besonders schätzen gelernt hatten -, da waren dann auch vierundzwanzig doppelte Schnäpse fällig. Hei! Da ging die See hoch, und der Wind wehte! Und um die vierundzwanzig Wässerchen nicht vereinsamen zu lassen, folgte ihnen flugs die gleiche Menge. Da stand dem Schankwirt bereits der Schweiß auf der Stirn, seinen beiden Gehilfen hinter dem Tresen ebenfalls. Diese Kerle hatten einen Zug drauf, als
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hätten sie eine Woche gedürstet und müßten jetzt alles nachholen. Aber das Geschäft blühte. Und Runde um Runde wurde bezahlt, da gab's gar nichts. Das war alles in Ordnung. Und dennoch! Der Schankwirt war keiner von der furchtsamen Sorte, und wer am Hafen eine Schenke unterhält, der kennt seine Leute. Aber die Kerle, die hier vorm Tresen aufmarschiert waren, paßten in kein Schema. Da brauchte man sich nur die beiden Männer mit den fürchterlichen Haken anzusehen, die ihnen die fehlende Hand ersetzten. Oder den riesigen Schwarzen. Oder dieses Ungetüm mit der Binde über dem linken Auge und dem zernarbten Gesicht. Verdammt! Da konnte einen schon das Grausen packen. Und einer war nur in Felle gekleidet! Ja, gab's denn das? In Felle! Mein Gott, so waren die Ahnen herumgelaufen, jene, die nach Westen, Süden und Osten gezogen waren, damals, auf den Langschiffen mit den Drachenköpfen. Ja, er sprach die Sprache des Landes, also war er ein Norweger. Geld hatte er auch und gab die nächsten Runden aus. Mein Gott, waren das Zecher! Und wo wollten die Kerle hin? Der Schankwirt spitzte die Ohren. Nach Island! Mann, die waren ja irre! Kochten da nicht dauernd irgendwelche Trichter über und ergossen flüssiges Gestein über die Insel? Ja, irgendeiner hatte mal davon berichtet. Da sollte der Teufel umgehen und schwarzen Rauch in den Himmel stoßen. Genau. Darum hatten ja die Vorfahren, die vor vielen Jahrhunderten zu der Insel gesegelt waren, den Landeplatz, den sie erreichten, Reykjavik genannt - die Rauchbucht. Und da wollten sie hin, diese Kerle! Der Schankwirt schüttelte sich. Die mußten ja von der wilden Sau gebissen sein - genau wie dieser einäugige Fremde, der hier seit Wochen herumhing und bei jedem einlaufenden Schiff nachfragte, ob es nach Island segele. Wo war er denn?
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Der Schankwirt zuckte zusammen. Denn der Mann, an den er eben gedacht hatte, stand plötzlich hinter dem narbigen Ungetüm mit der Augenbinde und klopfte dem auf die Schulter. Carberry drehte sich langsam um, gemächlich, aber dennoch drohend, denn er liebte es gar nicht, wenn ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Der Kerl wirkte jedoch wie ein Felsen, so einer wie Carberry selbst. Er hatte mächtige Schultern und stand auf langen Elchbeinen. Blondmähnig war er, hartgesichtig mit eckigem Kinn, das tief gekerbt war. Carberrys graues Auge starrte in ein blaues, denn das rechte Auge des Mannes war von einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Immerhin war die schräge Narbe darunter zu erkennen. Sie begann in der Mitte der Stirn und verlief unter der Augenklappe bis zur rechten Wange. Er sagte etwas zu Carberry - mit einer Stimme. die aus dem Keller zu kommen schien. „Was will er?“ fragte Carberry Stenmark, der sich ebenfalls umgedreht hatte. „Er fragt, ob wir nach Island segeln“, erwiderte Stenmark und musterte den Riesen von oben bis unten. Carberry musterte den Kerl genauso und sagte dann zu Stenmark: „Erklär ihm, daß ihn das gefälligst einen Scheiß anginge. Und erklär ihm auch, daß mir keiner von hinten auf der Schulter herumzufummeln hat.“ Und damit drehte sich Carberry wieder zum Tresen und widmete sich dem Wässerchen - es war sein achtes, aber doppelstöckig. Stenmark erklärte, und er tat es Wort für Wort, ohne einen Deut von Carberrys Formulierung abzugehen. Der Schankwirt erbleichte. Nicht so der blondmähnige, einäugige Riese, denn er tippte dem Profos ein zweites Mal auf die Schulter. Carberry trank erst sein Wässerchen aus und spülte gemächlich Bier hinterher. Plötzlich aber fuhr er herum, unheimlich schnell, seine rechte Faust zuckte hoch und landete unter dem Kinn des Fremden.
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Der stand wie ein Turm. Nicht einmal sein Kopf war nach hinten geflogen. Carberry hätte auch auf einen Amboß schlagen können - mit der gleichen Wirkung, nämlich überhaupt keiner. Darum setzte Carberry mit einem zweiten Hammer nach und durfte wiederum feststellen, daß der Kerl ein Kinn aus Eisen hatte. Offenbar war dieses Kinn dazu geeignet, darauf Hufeisen zu schmieden. Zum Wundern oder zu weiteren Überlegungen dieser Art gelangte der Profos nicht, denn er mußte jetzt um seinen Augapfel besorgt sein, den er hatte hüten wollen, wie er dem Kapitän versprochen hatte. Er konnte gerade noch den Kopf nach rechts reißen, um der Faust zu entgehen, die auf ihn zuraste. Hui! Das war vielleicht ein Luftzug, der ihn da streifte, eine Bö von Sturmstärke. Carberry umklammerte mit beiden Pranken die Tresenkante, so daß er einen festen Halt hatte, riß die Beine hoch, donnerte sie dem Riesen in den Magen und katapultierte ihn auf diese Weise durch den Schankraum. Der Riese nahm ein paar Tische und Stühle mit auf die Reise, auch die Kerls, die auf diesen Stühlen gesessen hatten, ihre Humpen ebenso. Es war wieder soweit. Über Carberrys zernarbtes Gesicht glitt ein wildes Grinsen. Das Gebrüll und Getöse im Schankraum war Musik in seinen Ohren. Der Riese hatte bei seinem Flug eine regelrechte Schneise durch den Schankraum gehobelt. Links und rechts seiner Flugbahn war ein Durcheinander von umgestürzten Tischen, Stühlen und Schemeln, aus dem sich fluchende Männer aufrappelten, Männer aus allen Küstenländern Europas. Und sie machten Front gegen die Kerle, die am Tresen aufgereiht waren und seit einer halben Stunde den Nachschub blockiert hatten, den Nachschub und den Tresen, denn der Schankwirt und seine Gehilfen waren nur noch damit beschäftigt gewesen, diese zwei Dutzend Zecher zu
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bedienen, die das Bier offenbar faßweise und den Schnaps eimerweise tranken. Da wurde es Zeit, diesen zechenden Rabauken zu verklaren, daß hier auch noch andere Makker Durst verspürten. Der blondmähnige, einäugige Riese war am schnellsten wieder auf seinen langen Elchbeinen und übernahm die Sturmspitze, die auf Carberry gerichtet war. So prallten die beiden Einäugigen erneut aufeinander, zwei Giganten, die sich gegenseitig nichts schenkten, es sei denn den Spaß. den anderen die Faust schmecken zu lassen. Carberry empfing eine Art Huftritt unter sein Rammkinn und setzte als Gegenleistung zum zweiten Male dazu an, dem Riesen zu einem Flug zu verhelfen. Aber er hatte die Beine kaum hochgeschwungen, da wurden die Knöchel von dem Riesen blitzschnell umklammert, nach oben gerissen, und schon beschrieb der Profos eine Rolle rückwärts, die ihn hinter den Tresen beförderte. Dort trat er dem Schankwirt auf die Zehen, der mit einem spitzen Schrei steil in die Luft ging und in der nächsten Sekunde einen Treffer erhielt - von der rechten Faust des blondmähnigen, einäugigen Riesen, der über den Tresen weg zugelangt hatte. Nur war der Schlag Carberry zugedacht gewesen, der aber hinter den Tresen getaucht war. Der Schankwirt landete auf Carberrys breitem Kreuz, wurde von ihm wieder hochgestemmt und segelte dem Riesen wiederum über den Tresen - quer vor die Brust. Der wischte den Schankwirt nach rechts über die Tresenplatte, wobei allerlei Humpen, Becher und Gläser zu Bruch gingen. Am Ende des Tresens plumpste der Schankwirt an Deck. Über den Tresen weg zeigten sich Carberry und der Riese die Zähne und knurrten sich an wie gereizte Wölfe. Vor dem Tresen tobte die wilde Schlacht, und der Riese verschwand plötzlich mit rudernden Armen, weil ihm Paddy Rogers, der rothaarige Bulle, umgesenst von einem Tischbein, zwischen die Beine gefahren war und ihn umgerissen hatte.
Dem Norden entgegen
Carberry fand noch einen halbvollen Humpen und stärkte sich. Jetzt war Paddy mit dem Riesen beschäftigt, und weil sie das auf dem Schankboden betrieben, wo sie umeinander kugelten, gab's gleich mehrere Stürze, so daß es den Anschein hatte, als sollte der Kampf zu ebener Erde fortgeführt werden. Aber immerhin, die Arwenacks und die Kolberger fochten wacker, wie Carberry feststellte. Er grunzte befriedigt und wollte wieder über den Tresen steigen, um die Mannen beim Aufräumen zu unterstützen, da prallte die Tür auf, und Miliz erschien. Auweia! Das fehlte noch. Carberry sah sich und seine Mannen samt Hein Ropers' Kolbergern bereits in den Kerkern von Stavanger schmachten, ganz abgesehen davon, welche Hölle der Kapitän dann entfesseln würde. „Rückzug!“ röhrte Carberry und riß eine Tür auf, die in eine Küche zu führen schien. Carberrys Stimme dröhnte wie eine Sturmglocke, und die Arwenacks hoben die Köpfe. Auch der Kolberger. Carberry winkte wie ein Wilder und deutete zu der Tür. Da schalteten sie alle. Und es war ein Glück, daß sich ihre Gegner auf die Miliz warfen - in der Absicht, die Tür, die in die Schenke führte, freizukämpfen, um türmen zu können. Dort entbrannte denn auch ein neues Kampfzentrum, so daß es kaum auffiel, auf welchem Wege gewisse „Pilger und Klosterbrüder“ das Weite suchten. Und wer ein bißchen dösig von zu harten Kopfnüssen und Stuhl- oder Tischbeinen war, der wurde unterfangen und mitgezerrt. Zu ihnen gehörte Paddy Rogers, den Stenmark und Matt Davies mitschleppten. So huschten sie hinter den Tresen, durchquerten eine Küche, gelangten an eine Tür, die in einen Hof führte, und von dort überkletterten sie eine Mauer, die an einer Gasse lag. Carberry, der als Leiter gedient hatte, überstieg sie als letzter. Er hatte genau mitgezählt. Keiner fehlte. Und sie waren alle am Grinsen gewesen, als hätten sie mächtig viel Spaß gehabt, auch wenn sie
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ziemlich ramponiert aussahen. Aber das gehörte ja dazu. Aye, aye, Sir, ehrlich, wir wollten keinen Streit, ganz bestimmt nicht -nur hat mir da dauernd so ein Riesenaffenarsch von hinten auf der Schulter rumgefummelt, von hinten, Sir, stell dir das vor! Na ja. Die Gasse führte wieder in einem Bogen zur Holmegaten, an der die Schenke lag. Grinsend mischten sie sich dort unter die Schaulustigen, die natürlich gebührenden Abstand zur Miliz hielten, von der draußen vorm Eingang acht Uniformierte bereit standen, um die geschaßten Rabauken in Empfang zu nehmen und ihnen eiserne Armbänder anzulegen. Und empört äußerten sie sich darüber, was da in der Schenke für ein Tumult herrsche. ruhestörender Lärm sei das, bei dem man kein Auge zutun könne, und überhaupt und so, natürlich wieder die Seeleute, die seien ja berüchtigt dafür, überall zu stänkern und Krach anzufangen. kaum hätten sie einen Fuß an Land gesetzt. „Jawohl!“ rief Eike. „Ab mit den Radaubrüdern! Ab ins Kittchen, da gehören sie hin, diese Störenfriede!“ Und grinsend sahen sie zu, wie einige in den beiden Fässern mit Regenwasser ausgenüchtert wurden, indem die MilizSoldaten sie kräftig hineintunkten kopfüber, versteht sich. Und wer sich sträubte, empfing gepfefferte Maulschellen, da waren die Milizionäre keineswegs zimperlich. Und wieder tippte jemand Carberry von hinten auf die Schulter. und der Profos zuckte zusammen. Das war doch die Höhe - und nunmehr war er entschlossen, den Kerl auseinanderzunehmen, total, auch wenn das ein harter Brocken war. Carberry wirbelte herum, die Rechte schon geballt und zurückgenommen, um aus der Hüfte. heraus zuzuschlagen. Aber die Rechte blieb, wo sie war. Hasard ragte vor Carberry auf. Neben ihm stand Arne von Manteuffel. „Guten - guten Abend, Sir“, stotterte Carberry, „äh - ein - ein feiner Abend heute abend, nicht?“
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„Sehr fein“, sagte Hasard, „und so stürmisch, nicht wahr?“ Er spähte über Carberrys Schulter zu der Schenke. Dann wanderte sein Blick zurück und heftete sich auf Carberrys Rammkinn, das eine deutliche Schwellung zeigte. Von dort glitt sein Blick tiefer zu der rechten Pranke, die an Carberrys Hüfte im Schwebezustand verharrte. Carberry versteckte sie schnell hinter seinem Rücken. „Was ist los, Ed?“ fragte Hasard freundlich. „Wolltest du ein bißchen zuschlagen? Du sahst eben auch so grimmig aus.“ „Aber nein, Sir!“ Carberry kriegte seine roten Ohren. „Ich - ich hab nur meinen Arm ein bißchen geschwenkt - äh gelockert, verstehst du?“ „Und was ist mit deinem Kinn? Als du von Bord gingst, war's noch nicht geschwollen. Erstaunlich, wie schnell sich so was ändert, nicht?“ Hasards Blick streifte die anderen Männer. Sie sahen aus, als seien sie beim Kirschenklauen erwischt worden und dabei von oben durch die Äste gerasselt - mit den entsprechenden Blessuren natürlich. Sie scharrten verlegen mit den Füßen oder bestaunten eifrig die Katzenköpfe der Holmegaten. Außerdem umwehte Hasard ein Dunst, als seien die Kerls einem Schnapsfaß entstiegen. Na, der Fall war wohl klar. In der Schenke tobte eine Schlägerei, und sie hatten kräftig mitgemischt. Auf welche Weise sie es geschafft hatten, sich abzusetzen, war etwas schleierhaft. Jetzt standen sie hier herum wie Unschuldslämmer, aber das schlechte Gewissen in ihren Mienen war überdeutlich. „Habt ihr ein Glück gehabt“, sagte Hasard, „daß euch die Miliz nicht erwischt hat.“ „Ja, nicht?“ Carberrys Gesicht zeigte ein zufriedenes Strahlen. „Ich hab eben gut aufgepaßt, Sir. Wie ich dir versprochen hatte. Auf Edwin Carberry kannst du dich verlassen, Sir. Ich hab sofort zum Rückzug geblasen, als die uniformierten Kerle auftauchten.“ „Wer hat denn angefangen?“ fragte Hasard. „Ihr etwa?“
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„Nicht doch, Sir.“ Carberry schüttelte betrübt den Kopf, daß der Kapitän ihnen so was zutraute. „Da war so ein einäugiger Riesenlümmel, der mir dauernd auf der Schulter herumgrapschte, von hinten, weißt du? Ich steh also da am Tresen und trink mein Bier und überlege gerade, ob ich noch zwei oder drei trinken sollte, da betatscht mich der Kerl. Ich dreh mich um und sag ihm, er soll das sein lassen. Aber das kümmert den Kerl überhaupt nicht. Kaum hab ich meinen nächsten Schluck getrunken, befummelt er wieder meine Schulter. Da wußte ich genau, daß er mich provokatieren wollte ...“ „Provozieren wollte“, verbesserte Hasard. „Genau, Sir, du sagst es. Und darum hab ich ihm was aufs Maul gegeben, diesem Fummel-Lümmel.“ „Und dann ging's los, nicht wahr?“ Der Profos riß das gesunde Auge auf. „Woher weißt du das, Sir?“ „Dazu gehört nicht viel Scharfsinn, Ed. Ich verstehe nur nicht, warum du gleich so wild reagierst. Manchmal könnte man fast meinen, du legst es darauf an. Da tippt dir also jemand auf die Schulter - wie ich vorhin -, und schon schlägst du los. Was wollte der Mann denn von dir?“ „Der? der fragte, ob wir nach Island segeln. Sten hat's mir übersetzt.“ „Und was hast du Sten erwidern lassen?“ „Äh - Sten, was hab ich erwidert?“ Carberry drehte sich zu Stenmark um. „Daß ihn das einen Scheiß anginge“, sagte Stenmark grinsend. „Hab ich wirklich Scheiß gesagt?“ fragte Carberry kopfschüttelnd. „Nicht vielleicht Dreck oder so?“ „Nein, du hast Scheiß gesagt.“ Carberry schnaufte. „Ja, jetzt erinnere ich mich. Warum fragt der denn auch so blöd, was, wie? Und dann noch von hinten. Das kann ich überhaupt nicht ab „Wenn du ihm den Rücken zudrehst, Ed, dann kann er dich nur von hinten anreden“, sagte Hasard. „Oder sollte er vielleicht um den Tresen rumgehen, damit er dich von vorn sieht?“ „Wie? Ach so, ja, da hast du eigentlich recht, Sir. Hab ich gar nicht dran gedacht.“
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„Aha. Und warum sollte der Mann nicht erfahren, daß wir nach Island segeln?“ „Weil das geheim ist.“ Hasard zog erstaunt die Augenbrauen hoch: „Geheim? Davon wußte ich nichts. Wieso soll das denn geheim sein?“ „Weil - weil wir von der Lissy einen Geheimauftrag haben“, erklärte Carberry. „Ja, für die Ostsee, Mann! Nicht für Island.“ „Das ist es doch“, sagte Carberry verbissen. „Für die Lissy sind wir noch in der Ostsee. Aber was wird sie denken, wenn wir einfach nach Island segeln? Darum muß das geheim bleiben, verstehst du? Wenn man außerhalb einer geheimen Order was tut, darf das niemand erfahren. So ist das. Sonst denkt die Lissy, wir hätten andere Flausen im Kopf, statt den Geheimauftrag auszuführen.“ Hasard stöhnte. „Kerl! Der Geheimauftrag ist erledigt, abgeschlossen, beendet. Den Abstecher nach Island, falls das überhaupt jemanden interessiert. werde ich den ehrenwerten Lords schon zu erklären wissen. Oder meinst du, daß ich dafür zu dämlich bin?“ „Nein, Sir.“ „Na also. Dem Mann hättest du ruhig bestätigen können, daß wir die Absicht haben. Island anzulaufen.“ „Sir“, sagte Carberry aufgebracht, „den Kerl hättest du mal sehen sollen! Ein ganz verdächtiger Affenarsch war das! Ein quergeriggter Beachcomber! Und mit einem Auge!“ „Im Moment hast du auch nur eins, mein Guter!“ Mein Guter! Carberry zuckte zusammen. „Folglich“, fuhr Hasard fort, „bist du nach deiner Theorie, was die Einäugigen betrifft, ebenfalls ein verdächtiger Affenarsch und quergeriggter Beachcomber. Gegen diese Selbstdarstellung melde ich keinen Widerspruch an. Ab mit euch an Bord, seht zu, daß ihr morgen früh klar seid. Ich schätze, daß der Sturm nachläßt.“ 8.
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Hasard hatte mit seiner Wetterprognose recht. Noch in der Nacht flaute der Sturm ab. Doch bevor die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ die Leinen loswarfen, marschierte Hasard mit Stenmark zu der Hafenschenke, in der die Mannen der beiden Schiffe am Vorabend gewütet hatten, und trommelte den Schankwirt aus den Federn. Der Ärmste hatte arg gelitten. Hasard erkundigte sich mitfühlend nach seinem Befinden und überreichte ihm zur Linderung der Schmerzen und zum Ausgleich für den erlittenen Sachschaden einen Beutel mit klingenden Münzen, den der Schankwirt entzückt entgegennahm. Und er sagte, daß ihm die Männer des sehr ehrenwerten Kapitäns jederzeit herzlich willkommen wären. „Lieber nicht“, sagte Hasard, aber das übersetzte Stenmark nicht, der alte Halunke. Stattdessen erklärte er dem Wirt, sein Kapitän nähme für seine Mannen diese freundliche Einladung sehr gerne an demnächst wenn sie Stavanger wieder anlaufen sollten. Ob sie wirklich nach Island Segelten, fragte der Wirt. Stenmark bejahte das. Und da schlug der Wirt ein Kreuz. Er hätte noch etwas dazu sagen können, aber er wollte sich nicht das Maul verbrennen. Mit vielen Bücklingen begleitete er die beiden Besucher nach draußen. Eine halbe Stunde später steckten die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ ihre Bugspriete aus dem Bukkenfjord, und dieses Mal brauchten sie nicht darum zu bangen, irgendwelche Klippen oder Schären auf die Hörner zu nehmen. Zwar wehte immer noch ein strammer Wind, aber der Himmel war blank, und die Sonne lachte. Piet Straaten, der strohblonde Holländer, hatte das Ruder übernommen und äugte zu seinem Kapitän, als sie den Fjord achteraus ließen. „Nordwest, Piet“, sagte Hasard. „Aye, Sir, Nordwest“, wiederholte Piet, blickte auf den Kompaß und steuerte den Kurs ein.
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Der Wind wehte aus Westen, und sie konnten knapp über Steuerbordbug segelnd Island anliegen, wenn der Wind nicht nördlicher drehte. Die Schoten mußten dichter geholt werden, und Carberry scheuchte die Mannen, wie es seine Art war. Gleichzeitig fiel ihm trotz des einen Auges - die Schwellung auf dem linken Auge ging allerdings langsam zurück - auf, daß Plymmie ständig um die beiden Jollen auf der Kuhl herumschnüffelte, die im Huckepackverfahren auf den Klampen lagerten, die kleinere Jolle über der großen. Über beide Jollen war eine große Persenning gezurrt. Plymmie war wieder obenauf, keine Frage. Hasard und Philip junior strahlten, weil Plymmie wieder ihr Interesse am allgemeinen Bordleben bekundete, auch wenn sie beharrlich um die Jolle kreiste und am Schnüffeln war. Vielleicht hatte Sir John da was fallen lassen. „Möchte wissen, was das Hundevieh hat“, knurrte Carberry, „rennt wie dösig dauernd um die Jollen rum.“ Aber das stimmte nicht ganz. Plötzlich zweigte Plymmie an Backbord ab, die Nase dicht auf den Planken. Und so schnürte sie zum Niedergang an Backbord, der zur Back hochführte, nahm ihn mit zwei Sätzen, schnüffelte wieder weiter, immer die Nase auf den Planken, stieß vorn an die Querbalustrade zum Galionsdeck, kehrte um und schnüffelte denselben Weg zurück zu den Booten. Und dann ging's los. Erst knurrte sie, dann sprang sie vor und zurück und kläffte wie irre. „Sie verbellt die Jollen“, sagte Hasard junior erstaunt. „Was soll das denn?“ „Haben wir gleich“, knurrte der Profos und tigerte auf die Jollen zu, dorthin, wo Plymmie dabei war, ordentlich verrückt zu spielen. Sie ging dem Profos sogar die Hosen hoch, um ihre Erregung zu bekunden. „Plymmie, zurück!“ rief Philip junior. „Verdammt, laß Mister Carberry zufrieden!“
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Der fummelte bereits an der Leine, mit der die Persenning über den Jollen festgezurrt war, und er fluchte, weil er feststellte, wie schlampig „irgend so ein Rübenschwein“ die Leine gezurrt hatte. Das mußte vor dem Sturm gewesen sein. „Scheißdreck!“ brüllte er. „Sauerei! Wer war das?“ „Ich“, sagte Matt Davies und trat zu den Jollen. Und wütend fügte er hinzu: „Kann mich aber nicht erinnern, hier was vermasselt zu haben. So was gibt's bei mir nicht, Mister Carberry, und meine Arbeit mit Scheißdreck zu bezeichnen, das stinkt mir!“ Carberry hatte voll aufgebraßt und zerrte an der Leine. „Und das? Und das?“ röhrte er. „Was meinst du, wie mir das stinkt, Mister Davies?“ Matts Augen waren ganz schmal geworden. „Ich habe die Leine anders verzurrt, das stammt nicht von mir!“ fauchte er. „Da verwette ich meinen Haken!“ Da hatte es Carberry geschafft, die Verzurrung zu lösen. Und mit einem Ruck riß er die Persenning zur Seite. Eine Faust fuhr aus der Jolle hoch und krachte auf sein linkes verbundenes Auge. Carberry stieß einen Urschrei aus, nicht vor Schmerz, nein, vor Wut. Denn die Faust gehörte zu dem „Riesenlümmel“, dem „quergeriggten Beachcomber“, dem „verdächtigen Affenarsch“. Und da gab's ja wohl kein Halten mehr, nicht für Carberry. Mit seinem Urschrei griff er beidarmig in die Jolle, umklammerte die Gurgel des Riesen und holte ihn so aus dem Cockpit. Was dann folgte, war ein Wirbel von Armen, die wie Dreschflegel flogen, zwei Männer, die sich ineinander verbissen und wie Berserker aufeinander losdroschen, mit den Köpfen zustießen, die Ellbogen einsetzen, die Knie hochrammten. Da kämpften Giganten, und beide einäugig. Plymmie flog mit einem Knurren dem blondmähnigen Fremden an die Hose und biß sich dort fest. Nichts konnte sie
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abschütteln. Sie knurrte wie ein ganzes Wolfsrudel, ihre Augen waren rot vor Wut. Hasard flankte vom Quarterdeck auf die Kuhl und ging wie ein Rammbock zwischen die beiden Kämpfer. Er brach sie regelrecht auseinander. Mit einem einzigen furchtbaren Hieb fällte er den Riesen - und ein zweiter Hieb fegte Carberry von den Füßen. Als diese beiden Brocken auf die Planken krachten, dröhnte das ganze Schiff. Hasard stand geduckt und lauernd zwischen den beiden, die Zähne entblößt, ein fast mörderisches Funkeln in den eisblauen Augen. „Na los!“ zischte er. „Wollt ihr noch mehr haben? Dann steht auf! Ich besorg's euch allen beiden!“ Carberry stützte sich auf, schwankte und sackte wieder weg. Der Riese genauso Sie kamen beide nicht hoch. Wie gelähmt waren sie. „Matt! Blacky!“ pfiff Hasards Stimme. „Zwei Pützen Wasser!“ Plymmie hockte am vorderen Backbordniedergang und knurrte weiter. Den Riesen ließ sie keinen Moment aus den Augen. Matt und Blacky schütteten ihre Pützen aus. Matt über Carberry, Blacky über dem Riesen. „Noch mal!“ befahl Hasard. „Die Gentlemen brauchen Abkühlung!“ Die beiden nächsten Pützen klatschten auf Carberry und den Riesen nieder, der sich als blinder Passagier auf die „Isabella“ geschlichen hatte. Wann? Und wie? Carberry stützte sich wieder auf, schüttelte benommen den Kopf, rappelte sich ächzend auf, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und stierte einäugig Matt Davies an, der die Pütz an seinen Haken gehängt hatte und sie lässig schlenkerte. „Spinnst du?“ knurrte er Matt an. _Hast du sie nicht alle, mir dieses verdammte Wasser ...“ „Hat der Kapitän befohlen“, sagte Matt. „Damit du dich abkühlst, Mister Carberry.“ „Der Kapitän? Wieso? Versteh ich nicht ...“ Langsam drehte sich Carberry um, entdeckte Hasard, sah den Riesen, zuckte zusammen, und da erst schien er wieder
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voll da zu sein. Aber schon kochte erneut die Wut in ihm hoch. Bevor er jedoch loslegen konnte, sagte Hasard scharf: „Jetzt ist Schluß mit der Rauferei, Mister Carberry! Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Allmählich bin ich es leid, wie du hier herumtobst - gestern in der Schenke, heute hier, das reicht!“ Der Profos starrte verstört. „Aber -aber, Sir, das ist doch der Hundesohn, der Affen ...“ „Weiß ich“, unterbrach ihn Hasard und trat etwas zurück, denn jetzt hatte sich der Riese aufgerafft, stand etwas schwankend auf den Planken und verzog grimmig das harte Gesicht, als er Carberry entdeckte. „Vorsicht, Sir!“ stieß Carberry hervor. Hasard lächelte kalt und rief über die Schulter: „Sten?“ „Sir?“ Stenmark glitt näher. „Frag ihn, wie er an Bord gelangt ist und was er hier will.“ Stenmark dolmetschte und hörte sich an, was der Riese mit seiner Baßstimme erwiderte. Dann sagte er: „Er will nach Island, Sir. An Bord hat er sich nach Mitternacht geschlichen, über die Galion ...“ Stenmark verstummte. Zischend sagte Hasard: „Wer hatte Wache an der Stelling?“ „Ich, Sir.“ Sam Roskill trat vor. Hastig sagte Stenmark: „Der Kerl hat das raffiniert angefangen, Sir. Er hat die Achterleine, die an einem Hafenpoller belegt war, gelockert und brauchte nur zu warten, bis der Wind die ‚Isabella' achtern vom Kai wegdrückte. Sam hat das gemerkt und ist beigegangen, die Achterleine wieder durchzusetzen, und zwar von Land aus. Er hat dazu natürlich einige Zeit gebraucht, und die reichte dem Kerl, um vorn über die Galion an Bord zu klettern und sich in der Jolle zu verstecken.“ Hasard nickte. „Gut ausgedacht.“ Er blickte Sam Roskill an: „Merk dir den Trick, Sam! Merkt ihn euch alle! So lotst man Posten von Bord, ohne daß jemand mißtrauisch wird. Sam, du brauchst keine roten Ohren zu kriegen. Wahrscheinlich wäre ich auch drauf reingefallen.“
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„Danke, Sir“, murmelte Sam Roskill. „Sten“, sagte Hasard, „frag ihn, woher er gewußt hat, daß wir nach Island segeln.“ Stenmark fragte und zog die Augenbrauen hoch, als er die Antwort vernahm. „Von dem Schankwirt, Sir“, sagte er. „Schau einer an“, sagte Hasard und richtete seinen Blick auf Carberry. „Hast du gehört, Ed? Deine Geheimhaltung hatte gestern abend wohl ziemliche Löcher, wie?“ „Versteh ich nicht“, murmelte Carberry. „Ich schon“, sagte Stenmark, „denn wir haben am Tresen davon gesprochen, und das hat der Wirt aufgeschnappt.“ Carberry knirschte vernehmlich mit den Zähnen. „Na gut“, sagte Hasard grinsend, „wir haben wieder eine Lektion dazugelernt und sollten dem Mann dankbar sein. Ist jemand dagegen, daß er bis Island an Bord bleibt? Ich meine, sonst müßten wir wieder zurücksegeln - oder ihn auf den ShetlandInseln oder den Färöer an Land setzen.“ Die Männer hatten nichts dagegen, nur Carberry brummte: „Ich warnige dich, Sir ...“ „Warne, Ed. Sag mal, hast du Sprachschwierigkeiten?“ „Nicht, daß ich wüßte“, sagte Carberry verdrossen. „Also, ich bin dagegen, Sir. Das ist ein Beachcomber, der uns alle beklauen wird. Ich kenn die Sorte, verlaß dich drauf. Einer, der dir auf dem Rücken rumfummelt, der klaut auch, erst recht einer, der Leinen lockert, um sich an Bord zu schleichen.“ Und er schielte böse zu dem Riesen hinüber. „Du bist überstimmt, Ed“, sagte Hasard, „und ich verbiete dir, dich weiter mit dem Mann anzulegen. Das ist ein Befehl, den ich zu respektieren bitte. Ist das klar?“ „Aye, Sir, aber wenn er mir auf die Stiefel tritt, kriegt er eine gewischt.“ Er betastete sein linkes Auge und ächzte etwas. „Das schwillt wieder zu, gerade wurd's besser, und da muß mir doch dieser Lümmel ausgerechnet noch mal was draufhauen.“ „Der Kutscher und Mac werden dich verarzten, Ed“, sagte Hasard und zu Stenmark : „Sag ihm, daß er bis Island an Bord bleiben kann. Er muß aber mit
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anpacken, und dann wünsche ich, daß er dem Profos aus dem Wege geht, beziehungsweise, sich ihm unterordnet. Ah, noch etwas, Sten. Wie heißt der Mann überhaupt?“ Stenmark übersetzte, und der Riese nickte, ja, er ging sogar zu Carberry und streckte ihm die Rechte entgegen. Der Profos war überrascht und packte zögernd zu. Und dann drückten sie beide, als sei's ihre letzte Gelegenheit, die Kräfte zu messen. Einmal zwang Carberry den Riesen nach unten, dann der Riese ihn. Schließlich grinsten sie sich beide einäugig an und droschen sich wohlwollend auf die Schultern. Und dann nannte der Riese seinen Namen. Eike schrie auf, und Stenmark machte ein verdattertes Gesicht. Den Nachnamen hatten die Arwenacks auch in etwa verstanden. aber meinten, sich verhört zu haben, wie das mit fremden Namen so ist. Stenmark sagte fassungslos: „Er heißt Ase Thorgeyr.“ Der Riese schaute die Arwenacks erstaunt an. weil die so merkwürdig auf seinen Namen reagierten.
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Hasard sagte hastig: „Frag ihn, ob er aus dem Isa-Fjord stammt, Sten.“ Stenmark fragte, und der Riese nickte bejahend. aber auch verblüfft. „Frag ihn“. sagte Hasard, „ob er eine Schwester namens Gotlinde hätte.“ Auch das wurde bejaht. „Ich werd nicht mehr“, sagte Big Old Shane erschüttert und drückte damit das aus, was alle empfanden. Old O'Flynn jedoch reckte den Arm in die Luft, den Zeigefinger ausgestreckt und rief: „Oh, oh, oh! Ich sehe Sturmzeichen am Horizont aufziehen, dräuende Wolken, sie jagen dahin gleich schwarzen Rössern des Unheils, und auf ihnen sitzen die Nachtreiter ...“ „Kutscher!“ brüllte Hasard. „Kümmere dich um Mister O'Flynn! Der ist am Überschnappen! Gib ihm 'ne Vollnarkose, am besten mit dem Holzhammer, mit dem du das Fleisch weichklopfst ...“ Und da brandete wieder Gelächter über die Decks der „Isabella“.
ENDE