Colum McCann
Der Tänzer
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Colum McCann
Der Tänzer
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Dieses Buch nähert sich einem berühmten Mann: dem Tänzer Rudolph Nurejew, Lichtgestalt des modernen Balletts, kaum sichtbar in all seinem Glanz. Die Lebensdaten sind bekannt, doch McCann interessieren sie nur am Rande. Er lässt den Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit erstehen: diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Kalter Krieg und Erstarrung auf der einen, rauschendes Kultur- und Partyleben auf der anderen Seite. ISBN 3 498 04476 1 Originalausgabe «Dancer» Deutsch von Dirk van Gunsteren 1. Auflage Juli 2003 by Rowohlt Verlag GmbH
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Buch Dieses Buch nähert sich einem berühmten Mann mit den Mitteln der Kunst, also der Lüge und Intention. Und der Umschreibung: Der Mann ist der Tänzer Rudolf Nurejew, Lichtgestalt des modernen Balletts, kaum sichtbar in all seinem Glanz. Die Lebensdaten sind bekannt, doch McCann interessieren sie nur am Rande. Er lässt den Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit erstehen: dies-seits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Kalter Krieg und Erstarrung auf der einen, rauschendes Kultur- und Partyleben auf der anderen Seite. Wie in einem lyrisch choreographierten Tanz nähert McCann sich Nurejew, entfernt sich wieder, um ihn erneut zu finden, zu berühren: bei heimlichen Momenten der Vertrautheit mit Freunden; bei der Rückkehr zu seinen Eltern nach jahrelangem Exil, im Größenwahn, in der Einsamkeit. McCann verweilt bei den privaten, den sprechenden Szenen und spart das Gleißen des Ruhms nicht aus. Dies ist die Verwandlung einer Legende in eine greifbare Person durch die Mitte! des Romans: poetisch, kraftvoll in Ausdruck und Bewegung, glanzvoll schillernd. Ein literarisches Meisterwerk.
Autor
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Honnessy Award for Irish Literature und den Rooney Prize. Er ist verheiratet und lebt in New York.
Dies ist ein Roman. Mit Ausnahme einiger Personen des öffentlichen Lebens, die ihre wirklichen Namen tragen, sind alle hier geschilderten Personen, Namen und Ereignisse frei erfunden.
Für Allison. Für Riva Hocherman. Und für Ben Kiely. Mit tiefem Dank für eure Inspiration und euren Zuspruch.
Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden –, ist in Wirklichkeit eine Form des Geschichtenerzählens, die sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte, und möglicherweise ist es das Werk des Geschichtenerzählers, die Dinge so umzuordnen, dass sie sich diesem Zweck fügen. Wie dem auch sei, wenn wir über die Vergangenheit reden, lügen wir mit jedem Atemzug. WILLIAM MAXWELL: Also dann bis morgen
PARIS 1961 Was in seiner ersten Saison in Paris auf die Bühne geworfen wurde: zehn mit einem Gummiband umwickelte Hundert-francscheine; ein Päckchen russischer Tee; ein Manifest der Front de Liberation National, einer Bewegung der algerischen Nationalisten, in dem gegen die Ausgangssperre für Muslime protestiert wurde, die nach der Explosion einiger Autobomben in Paris verhängt worden war; Narzissen, die aus den Gärten des Louvre gestohlen worden waren, sodass die Gärtner Überstunden machen und die Beete bis sieben Uhr abends bewachen mussten, damit sie nicht weiter geplündert wurden; weiße Lilien, an deren Stengel CentimeMünzen geklebt waren, sodass sie, derart beschwert, bis auf die Bühne flogen; so viele andere Blumen, dass der Bühnenarbeiter Henri Long, der nach der Vorstellung die Bühne zu fegen hatte, aus ihnen Sträuße band, die er an den folgenden Abenden vor dem Bühneneingang an Verehrer verkaufte; ein Nerzmantel, der am zwölften Abend durch die Luft flog, sodass die Zuschauer in den ersten Reihen einen Augenblick lang glaubten, über ihren Köpfen sei ein fliegendes Tier; -7-
achtzehn Damenslips – ein Phänomen, das es in diesem Theater noch nie gegeben hatte; die meisten waren diskret mit Bändern umwickelt, doch mindestens zwei waren in aller Eile ausgezogen worden, und einen davon hob er nach dem letzten Vorhang auf und roch, zum Entzücken der Bühnenarbeiter, mit großer Gebärde daran; ein Porträt des Kosmonauten Juri Gagarin mit der Unterschrift: Flieg, Rudi, flieg!; einige mit Pfeffer gefüllte Papierbomben; eine wertvolle Münze aus der Zarenzeit, die ein Emigrant hinaufwarf und die in ein Stück Papier gewickelt war, auf dem stand, dass er, wenn er sich seinen nüchternen Verstand bewahre, so gut sein werde wie Nijinski, wenn nicht besser; Dutzende erotischer Polaroidfotos, auf deren Rückseite die Namen und Telefonnummern der Frauen standen; Zettel, auf denen stand: Vous êtes un traître de la Révolution; Glasscherben, geworfen von protestierenden Kommunisten; die Vorstellung musste für zwanzig Minuten unterbrochen werden, damit die Scherben entfernt werden konnten, und der Vorfall erregte solchen Unmut, dass die Pariser Sektion der Partei wegen des negativen Echos in der Öffentlichkeit eine Sondersitzung anberaumte; Todesdrohungen; Hotelschlüssel; Liebesbriefe; und am fünfzehnten Abend eine langstielige, vergoldete Rose.
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BUCH EINS
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1 Sowjetunion 1941-56 Drei Winter. Mit Pferden bahnten sie Wege durch Schneeverwehungen, sie trieben sie voran, bis sie starben, und dann aßen sie sehr traurig das Pferdefleisch. Die Sanis stapften durch den Schnee und hatten die Morphiumampullen mit Pflastern unter ihren Achseln befestigt, damit das Morphium nicht gefror, und je länger der Krieg dauerte, desto schwerer fiel es ihnen, die Venen der verwundeten Soldaten zu finden – die Soldaten verfielen zusehends und starben schon lange bevor sie wirklich starben. In den Gräben banden sie die Ohrenklappen ihrer Uschinkis fest um den Kopf, stahlen die Mäntel von Gefallenen und schliefen dicht zusammengedrängt, die Verwundeten in der Mitte, wo sie am besten gewärmt wurden. Sie trugen gefütterte Hosen, mehrere Lagen Unterwäsche, und manchmal machten sie Witze darüber, dass sie am liebsten Huren um den Hals tragen würden wie Schals. Nach einer Weile zogen sie die Stiefel nicht mehr allzu oft aus. Sie hatten Soldaten gesehen, deren erfrorene Zehen plötzlich einfach abfielen, und begannen zu glauben, dass man die Zukunft eines Mannes an seinem Gang ablesen konnte. Zur Tarnung nähten sie zwei weiße Bauernhemden aufeinander, sodass sie über die Mäntel passten, zogen mit Schnürsenkeln die Halsausschnitte wie Kapuzen um das Gesicht zusammen und konnten stundenlang unerkannt im Schnee liegen. Die Flüssigkeit in den Rückstoßdämpfern ihrer Geschütze gefror. Die Pufferfedern ihrer MGs zersprangen wie Glas. Wenn sie Metall mit nackten Fingern -10-
berührten, riss die Haut in Fetzen ab. Sie machten Holzkohlefeuer und legten Steine hinein, die sie später in die Taschen steckten, damit sie ihnen die Hände wärmten. Wenn sie scheißen mussten, was nicht oft vorkam, hielten sie es für das Beste, in die Hosen zu machen. Dort blieb die Scheiße, bis sie gefroren war. Wenn sie dann einen Unterstand gefunden hatten, brachen sie die Masse heraus, und nichts stank, noch nicht einmal ihre Handschuhe – bis Tauwetter einsetzte. Sie banden Beutel aus Öltuch unter ihren Hosen fest, damit sie ihre Schwänze beim Pinkeln nicht der Kälte aussetzen mussten, und sie lernten, die Wärme in den Pissbeuteln zwischen ihren Beinen zu genießen, und manchmal half ihnen das, an Frauen zu denken, bis die Pisse gefror und sie wieder im Nirgendwo waren, auf einer weiten, von der Flamme über dem Schornstein einer Ölraffinerie beleuchteten Schneefläche. Sie blickten über die Steppe und sahen die Leichen anderer Soldaten, erfroren, eine Hand in die Luft gereckt, ein Knie durchgedrückt, die Bärte weiß vom Frost, und sie lernten, den Toten die Kleider auszuziehen, bevor sie darin in Leichenstarre verfielen, und dann beugten sie sich hinunter und flüsterten: Tut mir Leid, Kamerad, und danke für den Tabak. Sie hörten, dass der Feind aus Mangel an Bäumen Leichen auf die Wege legte, und versuchten, nicht hinzuhören, wenn Geräusche über die Eisfläche hallten – Reifen, die über Knochen knirschten und weiterrollten. Nie herrschte Stille, denn die Luft trug alle Geräusche weit: das Zischen der Skier, auf denen die Spähtrupps unterwegs waren, das Summen der Hochspannungsleitungen, das Pfeifen der Granaten, ein Kamerad, der nach seinen Beinen, seinen Fingern, seinem Gewehr, seiner Mutter schrie. Morgens wärmten sie ihre Gewehre mit einer halben Ladung, damit ihnen der Lauf nicht bei der -11-
ersten Salve um die Ohren flog. Sie wickelten Kuhhaut um die Griffe der Flugabwehrkanonen und deckten die Kühlschlitze der MGs mit alten Hemden ab, um den Schnee am Eindringen zu hindern. Die Soldaten auf Skiern lernten, im Hocken zu gleiten, sodass sie ihre Handgranaten seitlich werfen und im Vorstoßen kämpfen konnten. Sie fanden einen zerstörten T-34, einen Verwundetentransporter oder sogar einen feindlichen Panzer, ließen die Kühlflüssigkeit durch den Aktivkohlefilter ihrer Gasmasken laufen und betranken sich damit. Manchmal tranken sie so viel Kühlflüssigkeit, dass sie nach ein paar Tagen blind waren. Sie strichen die Geschütze mit Sonnenblumenöl ein – nicht zu viel auf den Schlagbolzen, gerade die richtige Menge auf die Federn –, und mit dem überschüssigen Öl rieben sie ihre Stiefel ein, damit das Leder nicht brach und Kälte und Nässe hereinließ. Sie sahen in den Munitionskisten nach, ob ein Fabrikmädchen in Kiew, Ufa oder Wladiwostok ein Herz für sie hineingemalt hatte, und selbst wenn nicht, war es, als hätte sie es getan, und dann schoben sie die Magazine in ihre Katjuschas, ihre Maxims, ihre Degtjarows. Wenn sie vorstießen oder sich zurückzogen, sprengten sie mit 100-Gramm-Ladungen Schützenlöcher in die Erde, um ihr Leben zu retten, sofern ihr Leben etwas war, das sie retten wollten. Sie teilten sich Zigaretten, und wenn sie keinen Tabak mehr hatten, rauchten sie Sägemehl, Teeblätter oder Kohl, und wenn es nichts anderes gab, rauchten sie Pferdescheiße, doch die Pferde litten solchen Hunger, dass sie kaum noch schissen. In den Bunkern hörten sie Radio: Schukow, Jeremenko, Wassilewski, Chruschtschow, auch Stalin, dessen Stimme nach Schwarzbrot und gesüßtem Tee klang. In den Gräben wurden Lautsprecherkabel verlegt, man brachte Verstärker an die Front und richtete die Lautsprecher nach Westen, -12-
damit man die Deutschen mit Tangos, Radiosendungen und Sozialismus wach halten konnte. Man erzählte ihnen von Verrätern, Deserteuren, Feiglingen und schärfte ihnen ein, sie zu erschießen. Die roten Orden, die diese Toten an der Brust trugen, nahmen sie ihnen ab und befestigten sie an den Innenseiten ihrer Kittelhemden. Zur Tarnung bei Nacht beklebten sie die Scheinwerfer der Wagen, Verwundetentransporter und Panzer mit Abdeckband. Sie stahlen es auch und wickelten es um Hände, Füße und ihre Fußlappen, und manche wickelten es sogar um die Ohren, doch das Band riss ihnen die Haut auf, und sie schrien, wenn die Erfrierungen kamen, und dann noch mehr, wenn die Schmerzen einsetzten, und einige hielten sich die Pistole an den Kopf und sagten Adieu. Sie schrieben an Galina, Jalena, Nadia, Tania, Natalia, Dascha, Pawlena, Olga, Sweta und Walia – sorgsam geschriebene Briefe, die zu ordentlichen Dreiecken gefaltet waren. Sie erwarteten keine lange Antwort, vielleicht nur eine Seite, deren Parfümduft an den Fingern des Zensors blieb. Die Briefe an die Front bekamen Nummern, und wenn eine Nummernserie fehlte, wussten die Männer, dass es einen Posttransport erwischt hatte. Die Soldaten saßen in den Gräben, starrten ins Leere und schrieben in Gedanken Briefe an sich selbst, und dann waren sie mit einem Mal wieder mitten im Krieg. Granatsplitter trafen sie unter dem Auge. Gewehrkugeln durchschlugen ihre Wadenmuskeln. Bombensplitter fuhren in ihren Hals. Mörsergranaten brachen ihnen das Rückgrat. Phosphorbomben setzten sie in Brand. Die Toten wurden auf Pferdewagen geladen und in mit Dynamit ausgehobenen Massengräbern beerdigt. Frauen aus der Umgebung kamen mit umgebundenen Kopftüchern zu den Gruben, um die Gefallenen zu betrauern und heimlich zu beten. Die Totengräber, die man aus den Gulags geholt hatte, -13-
blieben abseits stehen und ließen den Frauen ihre Rituale. Auf die Toten wurden noch mehr Tote gehäuft. Gefrorene Knochen waren schwer zu brechen, und so lagen die Leichen schrecklich verkrümmt da. Die Totengräber schaufelten Erde darüber, und manchmal stürzten sie sich in ihrer Verzweiflung selbst in die Grube, und noch mehr Erde wurde darüber geschaufelt, sodass es nachher hieß, man könne dort ein leises Beben spüren. Oft kamen abends die Wölfe aus dem Wald und trabten hochbeinig durch den Schnee. Die Verwundeten wurden auf Wagen, Pferde oder Schlitten geladen. In den Feldlazaretten waren sie mit einer ganz neuen Sprache konfrontiert: Dysenterie, Typhus, Kongelation, Grabenfuß, Ischämie, Pneumonie, Zyanose, Thrombose, Herzschmerzen – und wenn sie von diesen Krankheiten genesen waren, schickte man sie wieder an die Front. Auf dem Land suchten die Soldaten nach kürzlich abgebrannten Dörfern, denn dort war die Erde weich, sodass man sie aufgraben konnte. Der Schnee gab Geschichten preis: hier eine Blutlache, dort einen Pferdeknochen, das Gerippe eines PO-2-Sturzkampfbombers, die Leiche eines Pioniers, den sie in der Spasskajastraße gekannt hatten. In Charkow versteckten sie sich in Trümmern und Ruinen, in Smolensk tarnten sie sich unter Ziegelsteinhaufen. Sie sahen Eisschollen auf der Wolga und entzündeten Öllachen auf dem Eis, sodass es aussah, als stehe der Fluss in Flammen. Bei den Fischerdörfern am Asowschen Meer fischten sie nach abgestürzten Piloten, die dreihundert Meter über das Eis geschlittert waren. An den Stadträndern standen ausgebrannte Häuser, und darin lagen noch mehr Tote im blutverschmierten Chaos. Sie fanden ihre Kameraden an Straßenlaternen aufgehängt – groteske Dekorationen, die Zungen von der Kälte geschwärzt. -14-
Wenn sie sie abnahmen, richteten die Laternen sich ächzend auf, und der Lichtkegel sprang ein Stück weiter. Sie versuchten, Deutsche gefangen zu nehmen, um sie den Männern vom NKWD zu übergeben, die ihnen Löcher in die Zähne bohrten, sie im Schnee an einen Pfahl banden oder sie in einem Lager hungern ließen wie die Deutschen ihre eigenen Gefangenen. Manchmal behielten sie einen, drückten ihm einen Spaten in die Hand, sahen zu, wie er sich mühte, in der steinhart gefrorenen Erde sein Grab auszuheben, schossen ihm, wenn er es nicht schaffte, von hinten in den Kopf und ließen ihn liegen. In ausgebrannten Häusern fanden sie feindliche Verwundete, die sie einfach aus den Fenstern warfen, sodass sie bis zum Hals im Schnee lagen, und dabei riefen sie: Auf Wiedersehen, Fritz, aber manchmal hatten sie auch Mitleid mit dem Feind – die Art Mitleid, die nur ein Soldat haben kann –, wenn sie seine Brieftasche durchsuchten und feststellten, dass der Tote einen Vater, eine Frau, eine Mutter und vielleicht auch Kinder gehabt hatte. Sie sangen Lieder für ihre eigenen fernen Kinder, doch wenige Augenblicke später stießen sie einem deutschen Jungen den Gewehrkolben in den Mund, und noch später sangen sie andere Lieder: Warum umkreist du mich, du schwarzer Rabe? Sie erkannten die Manöver der Flugzeuge – die halbe Rolle, die Kerze, den Turn, den Immelmann-Turn –, das Aufblitzen des Hakenkreuzes, das Schimmern des roten Sterns, und sie jubelten, wenn ihre Pilotinnen die Maschinen der Luftwaffe jagten, sahen zu, wie diese Frauen aufstiegen und brennend abstürzten. Sie brachten Hunden bei, Sprengladungen zu tragen, und gaben ihnen mit schrillen Pfeifsignalen den Befehl, unter feindliche Panzer zu kriechen. Krähen inspizierten die Schlachtfelder, mästeten sich an den Toten und wurden dann selbst -15-
geschossen und gegessen. Die natürliche Ordnung wurde auf den Kopf gestellt: Der Morgen war verdunkelt vom Staub, den die Bombenexplosionen aufwirbelten, und in der Nacht leuchteten die Feuer meilenweit. Die Tage hatten keine Namen mehr; nur sonntags konnte man manchmal über die weite Eisfläche hinweg hören, wie die Deutschen ihren Gott verehrten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gestattete man ihnen ihren eigenen Gott: Sie zogen mit Kruzifixen, Rosenkränzen und Gebetsmänteln in die Schlacht. Jedes Symbol war recht, sei es nun Gott, Pawlik Morosow oder Lenin. Die Soldaten sahen zu ihrer Überraschung, dass orthodoxe Priester und sogar Rabbis ihre Panzer segneten, doch nicht einmal mit diesem Segen vermochten sie dem Feind standzuhalten. Damit dem nichts in die Hände fiel, sprengten sie auf dem Rückzug Brücken, die ihre Brüder gebaut hatten, zerstörten die Gerbereien ihrer Väter, brachten mit Schneidbrennern Hochspannungsmasten zu Fall, trieben Rinderherden in Abgründe, machten Molkereien dem Erdboden gleich, gossen Benzin in Silos, fällten Telegrafenmasten, vergifteten Brunnen, legten Zäune um und rissen ihre eigenen Scheunen ab, um das Holz zu verfeuern. Und als sie dann wieder vorrückten – im dritten Winter, als das Kriegsglück sich wendete –, fragten sie sich, wie irgendjemand ihrem Land so etwas hatte antun können. Die Lebenden marschierten nach Westen, die Verwundeten fuhren nach Osten, in von Dampfloks langsam über die gefrorene Steppe gezogenen Viehwaggons. Sie drängten sich aneinander, die Gesichter dem Licht zugewandt, das durch die Ritzen drang. In der Mitte eines jeden Waggons stand ein eiserner Eimer, in dem ein Feuer brannte. Die Männer zogen Läuse aus Achsel- und Schamhaaren und warfen sie in die Flammen. Sie drückten Brot auf ihre Wunden, um die Blutung zu stillen. Einige -16-
wurden aus den Waggons geholt und in Krankenhäuser oder Schulen gekarrt. Dorfbewohner kamen mit Geschenken. Die Männer, die im Zug bleiben mussten, hörten, wie ihre Kameraden weggebracht wurden, begleitet von Wodka und Siegeszuversicht. Und dennoch unterlag ihre Reise keiner Logik: Manchmal fuhr der Zug ohne anzuhalten durch ihre Heimatstadt; diejenigen, die ihre Beine noch gebrauchen konnten, versuchten, die Bretter der Wände herauszutreten, und wurden wegen Insubordination von den Wachen erschossen, und später, in der Nacht, stapfte dann eine Familie mit Kerzen durch den Schnee, denn es hatte geheißen, ihr Sohn liege tot, entehrt und steif gefroren neben der Bahnlinie, nur wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt. In ihren blutverkrusteten Mänteln lagen sie wach, und die Waggons schaukelten hin und her. Sie ließen die letzte Zigarette herumgehen und warteten darauf, dass eine Frau oder ein Kind ein neues Päckchen durch die Ritzen steckte oder ihnen vielleicht sogar ein freundliches Wort zuflüsterte. Man gab ihnen Essen und Wasser, doch das brannte in ihren Gedärmen und machte sie nur noch kränker. Es gab Gerüchte über neue Gulags im Westen und Süden, und sie sagten sich, dass ihre Götter sie bisher geliebt hatten, aber vielleicht nicht mehr viel länger, und so ließen sie ihre Amulette und Glücksbringer heimlich zwischen den Bodenbrettern hindurch auf das Schotterbett der Gleise fallen, wo eines Tages andere sie finden würden. Sie zogen die Decken bis zu den Bärten hoch und warfen noch mehr Läuse ins Feuer. Und noch immer spien die Lokomotiven Dampf in die Luft und zogen sie durch Wälder, über Brücken und Berge; die Männer hatten keine Ahnung, wo sie landen würden, und wenn eine Lokomotive den Dienst versagte, warteten sie, bis eine andere kam und sie weiterschob, nach Perm, Bulgakowo, Tschel-17-
jabinsk, wo man in der Ferne den Ural aufragen sehen konnte. Und so dampfte im Spätwinter des Jahres 1944 täglich ein Zug durch Baschkirien, ließ den dichten Wald entlang des Belaja hinter sich, durchquerte die weite, schnee- und eisbedeckte Ebene und fuhr in die Stadt Ufa ein. Die Züge krochen über die zweihundertfünfzig Meter lange Stahlgitterbrücke; unter der Last gaben die Träger ein dumpfes Pochen und hohe, klingelnde Geräusche von sich, als trauerten sie schon im Voraus. Die Züge erreichten das andere Ufer des zugefrorenen Flusses und fuhren vorbei an den Holzhäusern, den Wohnblöcken, den Fabriken, den Moscheen, den ungepflasterten Straßen, den Lagerhäusern und Betonbunkern, bis sie schließlich den Bahnhof erreichten, wo der Stationsvorsteher in seine Trillerpfeife blies und die Blaskapelle auf verbeulten Instrumenten spielte. Muslimische Mütter warteten auf dem erhöhten Bahnsteig und umklammerten Fotos. Alte Tataren stellten sich auf die Zehenspitzen und hielten Ausschau nach ihren Söhnen. Babuschkas kauerten hinter Eimern voller Sonnenblumenkerne. Händler standen in ihren Kiosken und ordneten feierlich aufs Neue die Leere ihrer Auslage. Krankenschwestern mit harten Gesichtern und braunen Uniformen machten sich bereit, die Verwundeten abzutransportieren. Unter den roten Metallschildern, die in der Brise hin und her schaukelten und auf denen die Elektrifizierung der ländlichen Räume gefeiert wurde – Unser großer Führer und Lehrer bringt euch die Elektrizität! –, lehnten müde Milizionäre an Säulen, und ein stechender Geruch nach Schweiß und Fäulnis lag in der Luft und ging den Verwundeten voraus. Und jeden Winternachmittag saß ein magerer, hungriger, gewitzter Sechsjähriger auf der Klippe über dem Fluss, sah auf die Züge hinab und fragte sich, wann sein Vater nach Hause -18-
kommen würde und ob er dann ebenso gebrochen wäre wie die Männer, die man unter den Dampfwolken zu den Klängen der Blasmusik aus den Viehwaggons hob. Zuerst säuberten wir das riesige Gewächshaus. Nurija schenkte die Tomatenpflanzen einem Bauernjungen, der immer in der Nähe des Krankenhauses herumlungerte. Katja, Marfuga, Olga und ich schaufelten den größten Teil der Erde hinaus. Ich war die Älteste und musste nicht so schwer arbeiten. Bald war das Gewächshaus ausgeräumt eine Fläche so groß wie zwei Häuser. Wir schleiften acht Holzöfen hinein, stellten sie an den Wänden auf und machten Feuer. Nach einer Weile roch es im Gewächshaus nicht mehr so stark nach Tomaten. Als Nächstes kamen die großen Stahlplatten an die Reihe. Nurijas Cousine Miljauscha war Schweißerin in der Ölraffinerie, und man hatte ihr erlaubt, fünfzehn Platten mitzunehmen. Sie lieh sich einen Traktor, hängte die Platten daran und zog sie durch die Krankenhauseinfahrt und den schmalen Weg entlang zum Gewächshaus. Die Platten waren zu groß für die Tür, und so mussten wir die hinteren Fenster ausbauen, um sie hineinschieben zu können. Der Bauernjunge half uns dabei. Er hielt den Kopf immer gesenkt – vielleicht war es ihm peinlich, dass wir Frauen so hart arbeiteten, aber uns machte das nichts aus, es war ja unsere Pflicht. Miljauscha war eine hervorragende Schweißerin. Sie hatte es kurz vor dem Krieg gelernt. Sie trug eine Spezial-brille, und die blaue Flamme ließ die Gläser aufleuchten. Nach zwei Tagen war es fertig: ein riesiges Bad aus Stahlplatten. Doch wir hatten nicht bedacht, wie wir das Wasser er-19-
wärmen sollten. Wir versuchten es, indem wir es auf den Holzöfen zum Kochen brachten, aber obwohl die Luft im Gewächshaus warm war, weil die Sonne darauf schien, kühlte das Wasser zu schnell ab. Das Bad war einfach zu groß. Stumm und wütend standen wir herum, doch dann hatte Nurija eine andere Idee. Sie fragte ihre Cousine Miljauscha, ob sie um etwa ein Dutzend weiterer Stahlplatten bitten könne, und schon am nächsten Morgen kam sie mit dem Traktor von der Raffinerie und hatte fünf Platten im Schlepp! Nurija erklärte uns ihren Plan. Er war ganz einfach. Miljauscha machte sich gleich an die Arbeit und schweißte die Platten kreuz und quer in das riesige Bad, bis das Ganze aussah wie ein Schachbrett aus Stahl. Sie bohrte ein Loch in den Boden eines jeden Abteils, und Nurija lieh sich von ihrem Schwager einen alten Automotor, an den sie eine Pumpe anschloss, mit der man das Wasser entfernen konnte. Es funktionierte perfekt. Wir jubelten. Jetzt hatten wir sechzehn Wannen, und weil sie klein waren, wussten wir, dass das Wasser warm bleiben würde. Auf die Ränder legten wir Planken, sodass wir von einer Wanne zur anderen gehen konnten, und schließlich hängten wir über die Tür ein Porträt unseres großen Führers und Lehrers. Wir entzündeten Feuer in den Öfen, erhitzten das Wasser und füllten die Wannen. Als das Wasser warm blieb, lächelten alle, und dann zogen wir uns aus, setzten uns in die Wannen und tranken Tee. Die Scheiben des Gewächshauses waren beschlagen, und uns war so mollig wie in einem Suppentopf. Schön, sagte Nurija. Am Abend gingen wir ins Krankenhaus und sagten den Schwestern, wir könnten am nächsten Tag anfangen. Sie sahen erschöpft aus und hatten dunkle Ringe unter den -20-
Augen. Von drinnen hörten wir das Stöhnen der Soldaten. Es müssen Hunderte gewesen sein. Nurija nahm mich beiseite und sagte: Wir fangen sofort an. Am ersten Abend badeten wir nur acht, aber am nächsten Tag waren es sechzig, und gegen Ende der ersten Woche kamen sie in ihren blutigen Lumpen und Verbänden direkt vom Bahnhof zu uns. Es waren so viele, dass sie auf langen Segeltuchplanen vor dem Gewächshaus Schlange stehen mussten. Manchmal war die Plane ganz steif von Blut und musste mit dem Schlauch abgespritzt werden, aber sie waren geduldig, diese Männer. Katja legte denen, die draußen warten mussten, Decken um. Manche freuten sich, aber andere weinten natürlich, und viele saßen einfach da und starrten vor sich hin. Die Parasiten krochen auf ihnen herum, und die Fäule hatte bereits eingesetzt. Aber das Schlimmste waren ihre Augen. Drinnen schor Nurija ihnen den Kopf. Sie war schnell mit der Schere, und der Großteil der Haare war in Sekunden ab. Ohne sie sahen die Männer so anders aus – manche wie Jungen, manche wie Verbrecher. Den Rest rasierte sie mit einem Rasiermesser ab. Danach kehrte sie die Haare rasch zusammen, denn die Läuse krochen darin herum. Das Haar wurde in Eimer geschaufelt, die an der Tür abgestellt wurden, wo sie der Bauernjunge abholte. Die Soldaten genierten sich so sehr, dass sie sich nicht vor uns ausziehen wollten. In unserer Brigade arbeiteten keine jungen Frauen – die meisten von uns waren dreißig oder älter. Ich war siebenundvierzig. Und Nurija sagte ihnen, sie sollten sich keine Gedanken machen, wir seien alle verheiratet – und das stimmte auch. Nur ich war nie verheiratet gewesen, warum auch? Trotzdem wollten sie sich nicht ausziehen, bis Nurija -21-
brüllte: Nun macht schon! Ihr habt nichts, was wir nicht schon mal gesehen haben! Schließlich legten sie die Umformen ab, nur die auf den Tragbahren nicht. Für sie nahmen wir Nurijas Schere. Es gefiel ihnen nicht, wenn wir ihre Hemden und Unterhemden aufschnitten. Vielleicht dachten sie, wir würden ihnen versehentlich die Kehle durchschneiden. Die Soldaten standen da und hielten sich die Hände vor das Geschlecht. Die Ärmsten waren allesamt so mager, dass sogar Katja sich dick vorkam. Die verschlissenen Uniformen verheizten wir in den Öfen. Allerdings nahmen wir vorher die Orden ab und legten sie zu kleinen Bündeln zusammen, bis die Männer gebadet hatten. Alle hatten natürlich Fotos und Briefe in den Taschen, aber es kamen auch einige seltsame Dinge zum Vorschein: die Tülle einer Teekanne, Haarlocken, Goldzähne, und einer trug sogar einen gekrümmten, verschrumpelten kleinen Finger mit sich herum. Manchmal waren auch unanständige Bilder dabei, die wir eigentlich nicht sehen sollten, aber Nurija sagte, die Männer hätten für unser großes Vaterland viel durchgemacht, es stehe uns nicht zu, über sie zu urteilen. Olga sprühte die Wartenden mit einer Chemikalie ein, die in Kisten den ganzen Weg von Kiew gekommen war. Wir vermischten sie mit Wasser und füllten sie in Düngemitteltanks – das Zeug roch nach faulen Eiern. Wir mussten die Gesichter der Soldaten abdecken, hatten aber nicht immer genug Verbandsstoff, und manchmal kam etwas davon in ihre offenen Wunden. Dann schrien die Männer, und sie taten mir so Leid. Danach stützten sie sich auf uns und weinten und weinten. Wir wuschen die Wunden mit Schwämmen aus, so gut es ging. Sie gruben die Finger in unsere Schultern und ballten die Fäuste. Ihre Hände waren so schwarz und knochig. -22-
Nachdem die Wunden gesäubert waren, stiegen die Männer in die Wannen. Wenn einer seine Beine verloren hatte, mussten wir ihn zu viert hinunterlassen und aufpassen, dass er nicht ertrank. Die Armamputierten lehnten wir an die Stahlwand der Wanne, und dann blieb eine von uns bei ihnen, um sie zu stützen. Wir wollten ihnen nicht zu viel zumuten und sorgten dafür, dass das Wasser anfangs nur lauwarm war. Wenn die Männer in den Wannen saßen, gossen wir kochendes Wasser aus den Kesseln nach und gaben dabei Acht, dass wir sie nicht bespritzten. Sie riefen Aah! und Ooh!, und ihr Lachen war so ansteckend – jeder, der damit anfing, brachte uns wieder zum Lachen, ganz gleich, wie oft am Tag. Das Gewächshaus hatte die Eigenart, alle Geräusche zu verstärken. Es war nicht direkt ein Hall, aber es schien, als würde das Gelächter von Glas zu Glas und schließlich zu uns, die wir uns über die Wannen beugten, zurückgeworfen. Olga und ich waren die mit den Schwämmen. Anfangs nahmen wir keine Seife – das sparten wir uns für den Schluss auf. Ich fuhr ihnen mit dem Schwamm über das Gesicht – was für Augen sie hatten! –, und dann rieb ich ganz vorsichtig Kinn, Augenbrauen, Stirn und die Stelle hinter den Ohren ab. Den Rücken, der immer schmutzig war, wusch ich besonders gründlich. Man konnte die Rippen und die Biegung des Rückgrats sehen. Ich arbeitete mich zu ihren Hintern vor und tupfte sie mit dem Schwamm ab, aber nicht so sehr, dass es ihnen unangenehm wurde. Manchmal nannten sie mich Mama oder Schwester, und dann beugte ich mich vor und sagte: Schon gut, schon gut … Doch meist starrten sie nur wortlos geradeaus. Ich nahm mir wieder ihr Genick vor, diesmal allerdings viel sanfter, -23-
und spürte, wie sie sich entspannten. Die Vorderseite des Körpers war schwieriger. Oft war die Brust von Granatsplittern schlimm zugerichtet. Manchmal, wenn meine Hände auf ihrem Bauch waren, krümmten sie sich ganz schnell zusammen, weil sie dachten, ich würde sie da unten berühren, doch für gewöhnlich ließ ich sie das selbst tun. Ich war ja nicht dumm. Aber Soldaten, die schwer verletzt oder apathisch waren, musste ich dort waschen. Meistens schlossen sie dann die Augen, weil es ihnen peinlich war, doch ein- oder zweimal geschah es, dass einer erregt wurde, und dann ließ ich ihn für fünf Minuten allein. Olga tat das allerdings nicht. Wenn ein Soldat erregt war, zog sie seinem Ding eins mit dem Löffel über, den sie in der Schürzentasche hatte, und dann war der Fall erledigt. Wir anderen lachten nur. Ich weiß nicht, warum, aber die Beine waren immer am schlimmsten – vielleicht lag es daran, dass sie die ganze Zeit in Stiefeln gesteckt hatten. Die Füße waren voller offener Wunden oder Schorf. Meist konnten die Männer kaum laufen. Sie sprachen viel über ihre Beine und erzählten, dass sie früher Fußball oder Eishockey gespielt hätten oder wie gute Langstreckenläufer sie gewesen seien. Wenn der Soldat noch fast ein Junge war, ließ ich ihn den Kopf an meine Brust legen, damit er sich seiner Tränen nicht schämen musste. Doch wenn er schon älter war und etwas Ordinäres sagte, war ich sehr viel schneller mit ihm fertig. Manche machten gemeine Bemerkungen über die schlaffe Haut meiner Arme. Die bekamen dann zur Strafe keine Seife. Zum Schluss wuschen wir ihnen die Köpfe, und manchmal, wenn sie nett waren, rieben wir ihnen noch einmal -24-
über die Schultern. Das Ganze dauerte nicht länger als fünf Minuten. Danach mussten wir jedes Mal das Wasser ablassen und die Wanne desinfizieren. Mittels der Schläuche, die wir an den alten Automotor angeschlossen hatten, konnten wir das Wasser schnell abpumpen. Im Sommer starb das Gras ab, wo das Wasser landete, und im Winter färbte das Blut darin den Schnee bräunlich. Schließlich wickelten wir die Soldaten in Decken und zogen ihnen neue Fußlappen, Krankenhaushemden, Pyjamas und sogar Mützen an. Es gab keinen Spiegel, doch manchmal wischten die Männer die beschlagenen Gewächshausfenster ab und versuchten, sich darin zu betrachten. Wenn alle angekleidet waren, wurden sie auf Pferdewagen zum Krankenhaus gefahren. Die Männer, die vor dem Gewächshaus warteten, sahen ihre gewaschenen Kameraden davonfahren. Was für Gesichter sie machten! Ihre Augen leuchteten, als wären sie in einer Filmvorführung! Manchmal kamen Kinder, die sich hinter den Pappeln versteckten und zusahen. Man kam sich vor wie auf einem Volksfest. Wenn ich abends nach Hause in die Aksakowstraße kam, war ich immer ganz erschöpft. Ich aß etwas Brot, drehte die Öllampe neben meinem Bett aus und schlief sofort ein. Die Leute im Zimmer nebenan waren ein altes Ehepaar aus Leningrad. Sie war Tänzerin gewesen, und er stammte aus einer reichen Familie. Sie waren Verbannte, darum hatte ich keinen Kontakt mit ihnen. Eines Nachmittags aber klopfte die Frau an meine Tür und sagte, die freiwilligen Helfer machten unserem Land Ehre, kein Wunder, dass wir den Krieg gewinnen würden. Dann fragte sie mich, ob sie ebenfalls helfen könne. Ich sagte, -25-
nein danke, wir hätten mehr als genug Helfer. Das stimmte nicht, und ich merkte, wie peinlich es ihr war, aber was sollte ich tun? Sie war ja nicht erwünscht. Sie ging wieder fort, aber am nächsten Tag fand ich vor meiner Tür vier Laibe Brot: Bitte geben Sie das den Soldaten. Ich verfütterte es an die Vögel im Leninpark. Ich wollte mich durch den Kontakt zu diesen Menschen nicht beschmutzen. Als Anfang November die Feiern zum Gedenken an die Revolution stattfanden, hatten wir nur noch ein paar Dutzend Soldaten pro Tag zu baden, Nachzügler von der Front. An den Nachmittagen ging ich nun ins Krankenhaus. Die Säle waren voll belegt, die Betten waren zu fünft übereinander gestapelt und wie Regale an die blutbespritzten, schmutzigen Wände geschraubt. Das einzige Gute waren die Kinder, die hin und wieder ins Krankenhaus gebracht wurden, um etwas vorzuführen, und die Musik, die aus den Lautsprechern kam: Eine der Schwestern hatte Kabel verlegt, sodass man die Schallplatten, die unten am Empfang gespielt wurden, im ganzen Krankenhaus hören konnte – lauter wunderschöne Siegeslieder. Trotzdem stöhnten die Männer und riefen nach ihren Liebsten. Ein paar von ihnen freuten sich, mich zu sehen, aber viele erkannten mich zunächst nicht. Als ich sie erinnerte, lächelten sie, und einer oder zwei waren keck genug, mir Kusshände zuzuwerfen. Unter all den Soldaten gab es einen Jungen, an den ich mich sehr gut erinnere: Nurmahammed aus Tscheljabinsk, dem eine Mine den Fuß abgerissen hatte. Nurmahammed war ein Tatar wie viele andere, hatte schwarzes Haar, hohe Backenknochen und große Augen, und er humpelte auf Krücken, die aus Ästen gemacht waren. Wir sprühten ihn mit dem Mittel gegen Ungeziefer ein, und ich nahm den -26-
Verband an seinem Stumpf ab. Er hatte viele Parasiten, und so bat ich Nurija, sich gut um ihn zu kümmern. Sie säuberte seine Wunde, während ich das Bad bereitete. Ich prüfte die Temperatur mit dem Handgelenk, und dann halfen wir ihm zu dritt in die Wanne. Er schwieg die ganze Zeit. Ich wusch ihn, und als ich fertig war, sagte er: Danke. Als er sauber war und einen Krankenhauspyjama trug, sah er mich mit einem seltsamen Blick an und begann, mir vom Gemüsegarten seiner Mutter zu erzählen: dass sie ihn mit Hühnermist düngte, damit die Karotten besser wuchsen, und dass es die besten Karotten seien, die man sich nur vorstellen könne, und dass er sich nach diesen Karotten mehr sehne als nach irgendetwas anderem. In meiner Brotdose hatte ich noch etwas Martsowka. Nurmahammed beugte sich darüber, sah mich lächelnd an und hörte nicht auf zu lächeln, während er aß. Dabei hob er hin und wieder den Kopf, als wollte er sich vergewissern, dass ich noch da war. Ich beschloss, mit Nurmahammed zum Krankenhaus zu fahren. Wir setzten uns auf die Ladefläche eines Wagens, und die Pferde trotteten los. Wegen der Feiern war an jenem Tag viel Betrieb – ein zusätzlicher Lastwagen mit Lebensmitteln stand vor der Küche des Krankenhauses, aus den Fenstern hingen rote Fahnen, zwei Kommissare waren eingetroffen, die den Soldaten Orden an die Brust heften sollten, auf der Treppe saß ein Mann und spielte Balalaika, und Kinder liefen in baschkirischen Trachten herum. Aus den Lautsprechern kam das Lied vom Vaterland, und alle standen auf und sangen mit. Ich drückte Nurmahammeds Hand und sagte: Siehst du? Alles wird gut. -27-
Ja, sagte er. Im Krankenhaus wurden die Männer gewöhnlich in Schubkarren herumgefahren, doch zu unserer freudigen Überraschung gab es an diesem Tag einen Rollstuhl für Nurmahammed. Ich half ihm bei dem Papierkram und schob ihn dann durch den Korridor zu seiner Station. Dort war es laut – die Männer lärmten in einer gewaltigen Wolke aus Tabakrauch. Ein paar Soldaten hatten einen großen Bottich Methylalkohol aufgetrieben; sie füllten Becher und reichten sie von Bett zu Bett. Alle trugen Verbände – einige waren von Kopf bis Fuß darin eingewickelt –, und an den Wänden hinter den Betten stand alles Mögliche geschrieben: die Namen von Liebsten und Fußballmannschaften und sogar einige Gedichte. Ich schob Nurmahammed zum Saal D368, der in der Mitte der Station lag. Sein Bett war das zweite von unten in einem Fünf-Betten-Turm. Er versuchte, mit seinem gesunden Bein auf das unterste Bett zu steigen, hatte aber nicht genug Kraft. Ich schob ihn von hinten, aber dennoch schaffte er es nicht bis in sein Bett. Einige Männer kamen hinzu und hoben ihn hinauf. Nurmahammed ließ sich auf das Bett fallen, ohne die Decke beiseite zu schieben, lag kurz da und lächelte dann zu mir herab. In diesem Augenblick kam die große Kindergruppe herein. Es waren etwa zwanzig Kinder, alle in roten und grünen Kostümen mit Mützen. Der Jüngste war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Sie sahen so hübsch und sauber und adrett aus. Die Frau, die sie beaufsichtigte, bat um Ruhe. Eine Sekunde lang dachte ich, es sei meine Nachbarin, aber glücklicherweise war sie es nicht. Diese Frau war größer und strenger, keine Spur von Grau in ihrem Haar. Sie bat ein -28-
zweites Mal um Ruhe, doch die Soldaten lärmten und lachten weiter. Die Frau klatschte zweimal in die Hände, und die Kinder begannen zu tanzen. Nach einigen Augenblicken legte sich Stille über den Saal – sie kam wie eine träge Welle, als ginge eine gute Nachricht im Flüsterton durch eine Menge. In dem freien Raum zwischen den Betten führten die Kinder einen tatarischen Volkstanz auf: Sie drehten sich, sie wirbelten herum, sie gingen unter aus Armen gebildeten Bögen hindurch. Sie knieten nieder, standen wieder auf, riefen etwas, klatschten in die Hände und gingen aufs Neue in die Knie. Ein kleines Mädchen verschränkte die Arme und stieß die Beine nach vorn. Ein anderes Kind mit roten Haaren war ganz verlegen, weil seine Schnürsenkel aufgegangen waren. Alle strahlten, und ihre Augen leuchteten. Sie waren so hübsch herausgeputzt, als hätten sie Geburtstag. Als wir dachten, sie seien fertig, trat ein kleiner blonder Junge vor. Er war etwa fünf oder sechs Jahre alt. Er stellte sich in Positur, stemmte die Hände in die Hüften und drückte die Daumen in seinen Rücken. Dann beugte er leicht den Kopf, reckte die Ellbogen nach außen und begann zu tanzen. Die Soldaten auf ihren Betten richteten sich auf. Diejenigen, die an den Fenstern lagen, beschatteten mit der Hand die Augen. Der Junge ging in die Hocke und tanzte einen Kasatschok. Wir standen schweigend da und sahen ihm zu. Der Junge grinste. Ein paar Soldaten begannen, im Takt zu klatschen, aber kurz bevor der Tanz zu Ende war, verlor der Junge beinahe das Gleichgewicht. Er stützte sich mit der Hand auf und fing den Sturz ab. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er in Tränen ausbrechen, aber das tat er dann doch nicht – er tanzte vielmehr weiter, und das blonde Haar fiel ihm über die Augen. -29-
Als er fertig war, brandete Applaus auf. Jemand bot dem Jungen einen Zuckerwürfel an. Er errötete und steckte ihn in einen Socken, und dann stand er mit den Händen in den Taschen da und wiegte sich in den Schultern. Die strenge Frau schnippte mit den Fingern, und die Kindertanztruppe ging weiter zur nächsten Station. Die Soldaten begannen zu rufen und zu pfeifen, und als beinahe alle Kinder den Saal verlassen hatten, zündeten die Männer ihre Zigaretten an und tauchten die Becher wieder in den Bottich mit Alkohol. Der blonde Junge warf über die Schulter einen Blick zurück. In diesem Augenblick hörte ich Bettfedern quietschen. Ich hatte Nurmahammed ganz vergessen. Er starrte auf sein Bein. Er bewegte die Lippen, als würde er etwas essen, holte ein paar Mal tief Luft, betastete den Stumpf und strich mit den Händen über die Stelle, wo einmal sein Schienbein gewesen war. Dann bemerkte er meinen Blick und versuchte zu lächeln. Ich lächelte zurück. Es gab nichts zu sagen. Was hätte ich auch sagen können? Ich wandte mich ab. Als ich hinausging, nickten einige Soldaten mir zu. Als ich die Station verließ, hörte ich den armen Nurmahammed schluchzen. Ich kehrte zum Bad zurück. Die Sonne war untergegangen, und es war kalt geworden, doch man konnte bereits einige Sterne sehen. Ein Windstoß schüttelte die Bäume. Aus der Richtung des Krankenhauses erklang Balalaikamusik. Ich schloss die Türen des Gewächshauses und machte kein Licht. Auf dem Boden lagen Kleinholz und ein Haufen Uniformen. Ich stopfte alles in den Ofen, machte Feuer, füllte einen Kessel mit Wasser und wartete. Es dauerte lange, bis das Wasser kochte, und dort, im Gewächshaus, dachte ich, dass von allen guten Dingen auf -30-
dieser Welt ein warmes Bad im Dunkeln das beste ist. Am Morgen erwacht er neben seiner Mutter, den Kopf in ihrem Arm. Seine Schwester ist bereits aufgestanden, um Wasser vom Brunnen zu holen und das Frühstück zu machen. Vor kurzem hat seine Mutter zwei Bilderrahmen gegen ein Stück Seife eingetauscht. Anfangs fand er den Geruch der Seife seltsam, doch nun holt Rudik sie jeden Morgen nach dem Aufstehen aus der Tasche des Bademantels seiner Mutter und saugt tief ihren Geruch ein. Ihm ist aufgefallen, dass es im Krankenhaus, wo er tanzt, keine Seife gibt. Die Soldaten riechen streng und erschöpft, und er fragt sich, ob sein Vater auch so riechen wird, wenn er aus dem Krieg zurückkehrt. Seine Mutter kämmt ihn und nimmt seine Kleider vom Ofen, wo sie zum Wärmen liegen. Sie zieht ihn an. Einige der Sachen hat er von seiner Schwester geerbt. Seine Mutter hat aus einer Bluse ein Hemd gemacht – die Manschetten verlängert und den Kragen mit einem Stück Pappe versteift –, doch trotzdem kommt es dem Jungen so vor, als würde ihm das Hemd nicht passen, und er zappelt, als sie es zuknöpft. Beim Frühstück darf er auf dem Stuhl sitzen, während seine Schwester rings um ihn den Boden fegt. Er beugt sich über seinen Becher Milch und die Kartoffel, die noch vom Abendessen übrig ist. Als die Milch durch seine Kehle rinnt, zieht sich sein Magen zusammen, und er schlingt mit drei Bissen die halbe Kartoffel hinunter und steckt die andere Hälfte in die Tasche. In der Schule haben viele Kinder eine Brotdose. Der Krieg ist vorbei, und beinahe alle Väter sind wieder da, aber seiner nicht. Er hat gehört, dass der Lohn seines Vaters wegen der gewaltigen -31-
Kosten, die der Krieg verursacht hat, stark gekürzt worden ist. Man muss Opfer bringen, sagt seine Mutter. Aber es gibt Tage, da wünscht sich Rudik, er könnte in der Schule an seinem Platz sitzen, eine Brotdose öffnen und darin Schwarzbrot, Heisch und Gemüse finden. Seine Mutter hat zu ihm gesagt, der Hunger werde ihn stark machen, doch für ihn ist Hunger das schrille Gefühl der Einsamkeit, das ihn überfallt, wenn die Züge aus dem Wald kommen und ihr Klang über das Eis des Belaja holpert. In der Schule stellt er sich vor, dass er draußen auf dem Fluss ist und Schlittschuh fahrt. Auf dem Heimweg sucht er die höchsten Schneewehen, damit er hinaufklettern und den neuen Telegraphendrähten nahe sein kann, die knapp über ihm knistern. Abends hören sie Radio, und danach liest seine Mutter ihm Geschichten von Zimmermännern vor, von Wölfen und Wäldern und Sägen und Sternen, die mit Nägeln am Himmel befestigt sind. In einer der Geschichten reckt sich ein riesiger Zimmermann zum Himmel und nimmt einen Stern nach dem anderen ab, um sie Arbeiterkindern zu schenken – er liebt diese Geschichte. Wie groß ist der Zimmermann, Mama? Eine Million Kilometer. Und wie viele Sterne hat er in seinen Taschen? Einen für jedes Kind. Und zwei für mich? Einen für jedes Kind, wiederholt sie. Farida sieht zu, wie Rudik auf dem Lehmboden der Hütte tanzt, wie er sich auf dem Stiefelabsatz dreht. Er wirbelt Staub auf, wenn er das tut. Nicht so schlimm, soll er tanzen, es macht ihm solche Freude. Eines Tages wird sie genug Geld gespart haben, um bei einem der alten -32-
Türken auf dem Markt einen Teppich zu kaufen. Die Teppiche hängen an Schnüren und schwingen im Wind hin und her. Sie hat schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, so viel Geld zu haben, dass sie auch Teppiche an die Wände hängen könnte, damit es hier drinnen nicht so kalt wäre, damit diese Hütte schöner wäre, wohnlicher. Doch Teppiche würde sie erst kaufen, wenn sie neue Kleider für ihre Tochter, richtige Schuhe für ihren Sohn, ein anderes Leben als dieses gekauft hätte. Rudiks Mutter zeigt ihm oft die Briefe, die von der deutschen Grenze kommen, wo sein Vater noch immer als Politruk, als Lehrer, stationiert ist. Die Mitteilungen sind kurz und präzise: Mach dir keine Sorgen, Farida, alles ist gut. Stalin ist stark. Die Worte begleiten Rudik, wenn er mit seiner Mutter durch den Regen zum Krankenhaus geht, an dessen Eingang sie seine Hand loslässt, ihm einen Klaps auf den Hintern gibt und sagt: Komm nicht zu spät, mein kleiner Sonnenstrahl. Sie hat ihm die Brust mit Gänsefett eingerieben, um die Kälte abzuhalten, denn inzwischen geht es auf den Herbst zu. Die Kranken heben ihn durchs Fenster herein und klatschen schon jetzt Beifall. Seine Auftritte sind ein wöchentlich wiederholtes Ritual geworden. Er grinst, als man ihn von Arm zu Arm reicht. Später wird er von einer Station zur anderen geführt, wo er die neuen Volkstänze zeigt, die er in der Schule gelernt hat. Manchmal kommen auch die Schwestern, um ihn zu sehen. Rudiks Tanzkostüm hat keine Taschen, und wenn er fertig ist, sind seine Strümpfe von so vielen Zuckerstücken ausgebeult, dass die Patienten über seine kranken Beine witzeln. Man schenkt ihm Brot und Gemüsereste, die die Männer für ihn aufgehoben haben, und er steckt das alles in eine Papiertüte und nimmt es mit nach Hause. -33-
In einem entlegenen Seitenflügel ist die Station für die verrückt gewordenen Soldaten. Es ist die einzige, in der er nicht auftritt. Er hat gehört, dass es dort elektrische Maschinen gibt, mit denen man Wahnsinn heilen kann. Die Station ist voll belegt – in den Fenstern Gesichter mit herausgestreckten Zungen und starr blickenden Augen –, und er hält sich davon fern, doch manchmal schlendert eine Frau vom Gewächshaus dort hinauf. Sie steht an einem der Fenster der Station und spricht mit einem Soldaten, dem die Pyjamajacke lose um die Schultern hängt. Diesen Soldaten sieht Rudik eines Nachmittags auf Krücken durch den Garten humpeln – das Ende eines Pyjamahosenbeins ist unterhalb des Knies verknotet, und er bewegt sich entschlossen von einem Baum zum anderen. Der Mann ruft ihm etwas zu, irgendwas von einem Tanz, aber Rudik ist schon durch das Tor hinausgerannt, blickt verängstigt zurück und läuft über die ausgefahrenen Wege davon. Im Laufen stellt er sich vor, dass er die Sterne wie Nägel aus dem Himmel zieht. Auf einem Bein durch die Dunkelheit hüpfend, kehrt er nach Hause zurück. Wo bist du gewesen?, fragt seine Mutter und dreht sich zu ihm um. Sie liegt im Bett neben Rudiks Schwester. Er streckt die Hand aus und zeigt ihr die Zuckerstücke. Sie werden sich auflösen, sagt sie. Nein, werden sie nicht. Leg sie weg und geh ins Bett. Rudik schiebt einen Zuckerwürfel zwischen Zahnfleisch und Wange und legt die restlichen Stücke auf einen Teller, der auf dem Tisch steht. Er sieht quer durch den Raum zur Mutter, die sich die Decke über die Schulter gezogen und das Gesicht zur Wand gekehrt hat. Reglos wartet er, bis er sicher ist, dass sie wieder schläft, dann legt er den Kopf an den Radioapparat und dreht langsam an dem Regler, der -34-
die Markierung über die gelbe Skala zieht: Warschau, Luxemburg, Moskau, Prag, Kiew, Wilnius, Dresden, Minsk, Kischinew, Nowosibirsk, Brüssel, Leningrad, Rom, Warschau, Stockholm, Kiew, Tallin, Tiflis, Belgrad, Prag, Taschkent, Sofia, Riga, Helsinki, Budapest. Er weiß, wenn er lange genug wach bleibt, wird er mit dem weißen Knopf Moskau einstellen, wo er Punkt Mitternacht Tschaikowsky hören kann. So, so, so! Sein Vater steht in der Tür und streift den Schnee von den Schultern. Schwarzer Schnurrbart. Kräftiges Kinn. Die Stimme rau von Zigaretten. Er trägt eine Pilotka, deren Aufschlag er vorn und hinten heruntergeklappt hat, sodass es aussieht, als würde er zugleich kommen und gehen. Zwei rote Orden an seiner Brust. Ein Marx-Abzeichen am Kragen seines Uniformhemdes. Seine Mutter eilt zur Tür, während Rudik sich in der Ecke beim Feuer niederkauert. Den Vater anzusehen ist für ihn so, als sähe er ein Bild zum ersten Mal: Er sieht, dass es existiert, sieht die Farben, die Struktur, sieht den Rahmen, in dem es hängt, und doch weiß er nichts darüber. Vier Jahre im Krieg, und dann noch einmal achtzehn Monate als Besatzungsoffizier. Seine ältere Schwester Tamara hat schon längst Willkommensgeschenke gemacht: fein bedruckte Tücher und Gläser voll Beerensaft. Sie drückt sie dem Vater in die Hände, klammert sich an ihn, küsst ihn. Rudik hat kein Geschenk. Doch sein Vater – breite Backen und gelbe Zähne – kommt auf ihn zu, stößt in seiner Freude den Stuhl mit der hohen Lehne um, hebt Rudik hoch in die Luft und wirbelt ihn zweimal herum. Was für ein großer Junge! Sieh dir das an! Sieh doch nur! Und wie alt bist du jetzt? Sieben? Sieben! Fast acht! Donnerwetter! Sieh dir diesen Jungen an! Rudik bemerkt, dass die Stiefel seines Vaters an der Tür -35-
Pfützen hinterlassen haben, geht zur Schwelle und stellt sich auf die nassen Fußabdrücke. Mein kleiner Junge! Mehrere Gerüche umgeben den Vater, nicht unangenehm, eine seltsame Mischung aus Zügen, Straßenbahnen und dem Geruch, der einem anhaftet, wenn man die Tafel mit dem Ellbogen abgerieben hat. Sie gehen hinaus auf die Straße, an den Reihen von Hütten und Holzhäusern entlang, in den Nachmittag hinein. Von den Laternenpfählen hängen Eiszapfen. Die Gartentore sind mit Schnee überzogen. Der frostgehärtete Matsch knirscht unter ihren Füßen. Rudik trägt den alten Mantel seiner Schwester. Der Vater starrt den Mantel an und sagt, dass der Junge nicht die abgelegten Sachen seiner Schwester tragen und dass Rudiks Mutter die Knöpfe auf die andere Seite versetzen soll. Seine Mutter wird blass, nickt und sagt, natürlich wird sie die Knöpfe versetzen. Sie sehen, wie der Wind die Pappe und das Sackleinen von den Fensterrahmen der Holzhäuser reißt. In einem Autowrack sitzen Männer und trinken Wodka. Der Vater mustert sie, schüttelt angewidert den Kopf und hakt sich bei der Mutter unter. Sie flüstern; es ist, als hätten sie einander Jahre voller Geheimnisse zu erzählen. Eine schmalschultrige Katze balanciert auf einem krummen Zaun. Rudik wirft einen Stein nach ihr. Beim zweiten Wurf fallt der Vater ihm in den Arm, doch dann lacht er und setzt Rudik seine Pilotka auf, sie jagen einander die Straße hinunter, und ihr heißer Atem dampft. Nach dem Abendessen – Kohl, Kartoffeln und ein besonderes Stück Fleisch, das Rudik noch nie gesehen hat – drückt ihn der Vater so fest an die Brust, dass sein Kopf die Papirossy in der Brusttasche des Uniformhemds zerdrückt. Sie breiten die Zigaretten auf dem Tisch aus, ziehen sie glatt und füllen den losen Tabak wieder in die Hülsen. Das -36-
ist es, sagt der Vater, wovon Männer träumen: Zerdrücktes zu glätten. Oder etwa nicht? Ja, Vater. Nenn mich Papa. Ja, Papa. Er lauscht auf die seltsamen Höhen und Tiefen in der Stimme des Vaters, die manchmal ganz verzerrt klingt, wie die Radiosender, wenn er an der Skala dreht. Der Radioapparat – das Einzige, was sie noch nicht gegen Lebensmittel getauscht haben – steht mahagonidunkel über dem Kamin. Der Vater stellt eine Sendung aus Berlin ein und sagt: Hört euch das an! Hört doch! Musik – ah, das ist Musik! Die Finger seiner Mutter sind lang und schmal, und sie trommeln den Rhythmus auf dem Stuhl. Rudik will noch nicht ins Bett, also sitzt er auf ihrem Schoß. Er betrachtet den Vater, ein fremdes Wesen. Seine Wangen sind hohl, und die Augen sind größer als auf den Fotografien. Er hustet – es ist ein tiefes Husten, ein Männerhusten – und spuckt ins Feuer. Ein paar Glutstückchen springen auf den Lehmboden, und der Vater streckt die Hand aus und zerdrückt sie mit bloßen Fingern. Rudik versucht es ebenfalls, doch im Nu hat er am Daumen eine Brandblase, und der Vater sagt: Das ist mein Junge. Rudik wiegt sich an der Schulter seiner Mutter hin und her und schluckt die Tränen hinunter. Das ist mein Junge, sagt der Vater noch einmal, und dann geht er hinaus. Zwei Minuten später ist er wieder da und sagt: Wenn einer behauptet, es gäbe kein Übel auf der Welt, dann sollte er mal bei diesem Wetter auf das ver-37-
dammte Scheißhaus da draußen gehen! Seine Mutter sieht auf und sagt: Hamet. Wieso?, sagt der Vater. Er hört solche Worte nicht zum ersten Mal. Sie schluckt, lächelt, sagt nichts. Mein Soldat hat solche Worte schon mal gehört, oder? Rudik nickt. In dieser Nacht schlafen alle vier im Bett, Rudiks Kopf nahe der Achselhöhle des Vaters. Später steigt er vorsichtig über den Vater und schmiegt sich an seine Mutter und ihren Geruch: Kefir und Süßkartoffeln. Tief in der Nacht spürt er Bewegungen, das Bett schaukelt leise, der Vater flüstert, und Rudik dreht sich ganz plötzlich um und stößt die Füße in die Wärme seiner Mutter. Das Schaukeln hört auf, und er fühlt die Finger seiner Mutter an der Stirn. Gegen Morgen wird er erneut geweckt, doch diesmal rührt er sich nicht, und als seine Eltern wieder eingeschlafen sind und der Vater schnarcht, sieht Rudik, wie sich das erste Licht durch den Spalt im Vorhang schiebt. Lautlos steht er auf. Einen Happen Kohl aus dem Eisentopf. Der Rest Milch, der zur Kühlung auf dem Fensterbrett steht. Das graue Schulhemd mit dem Stehkragen hängt an der Wand. Auf Zehenspitzen geht er durch den Raum und zieht sich dabei an. Seine Schlittschuhe hängen am Innenknauf der Haustür. Er hat sie selbst gebaut – Stahlblechreste aus der Raffinerie zurechtgefeilt, sie in dünne Brettchen eingelassen und aus Lederstücken, die er hinter den Lagerhäusern an der Bahnlinie gefunden hat, Schnürriemen gemacht. Leise nimmt er die Schlittschuhe, schließt die Tür und -38-
rennt zum See in der Stadt, die zusammengeknoteten Schlittschuhe um den Hals gehängt und die Handschuhe über die scharfen Kufen gezogen, damit sie ihm nicht das Gesicht zerschneiden. Auf dem See ist bereits dunkles Gewimmel. Das erste Sonnenlicht lässt kalten Dunst aufsteigen. Männer in Mänteln laufen auf Schlittschuhen zur Arbeit, gebeugt, rauchend, massiv wirkende Gestalten vor den schmalen Baumskeletten. Die Frauen mit Einkaufstaschen laufen anders, irgendwie höher aufgerichtet. Rudik tritt auf das Eis und läuft gegen den Verkehr, gegen den Strom, und die Leute lachen, weichen aus, schimpfen. Heh, du! Bursche! Herbstlachs! Er geht ein wenig in die Knie, verkürzt das Pendeln der Arme, beschleunigt das Tempo. Die Kufen sitzen nicht mehr ganz fest, doch er hat gelernt, das auszugleichen und sie mit einer kleinen Bewegung aus dem Fußgelenk wieder ins Holz zu drücken. In der Ferne sieht er das Dach der Banya, wo er jeden Donnerstag mit seiner Mutter und seiner Schwester badet. Seine Mutter schlägt ihn mit Birkenzweigen auf den Rücken. Er liegt gern auf der Holzbank und genießt das Klatschen der Zweige. Er entdeckt Muster in den winzigen Laubfetzen, die an seinem Körper kleben. Seine Mutter hat ihm gesagt, dass diese Bäder ihn immun gegen Krankheiten machen, und er kann es in dem heißen Dampf länger aushalten als alle anderen Kinder seines Alters. Er springt, dreht sich, landet und spürt, wie die Kufen wieder greifen. In das Eis sind viele Muster geritzt, und die Spuren verraten ihm, wer ein guter Schlittschuhläufer ist und wer nicht. Würde er lange auf der Stelle wirbeln, könnte er alle anderen auslöschen, ihre Spuren tilgen, der Einzige sein, der dort gelaufen wäre. Unter einer Kufe verfangt sich ein -39-
Stückchen Holz, und er hebt den anderen Fuß leicht an und dreht auf der Stelle, um es zu zermahlen. Eiskristalle stieben auf. Von weither hört er seinen Namen, die Stimme kommt vom Ufer und wird vom Wind getragen. Rudik! Rudik! Anstatt zu wenden, stößt er sich mit dem rechten Fuß ab und saust in die entgegengesetzte Richtung davon. Er weiß, wie eng er die Bogen fahren darf und wie weit er sich in die Kurven legen kann, ohne zu fallen. Jetzt jagt er gegen den Wind dahin, an der Kufe kleben noch Holzsplitter. Rudik! Rudik! Er beugt sich weiter vor, sein Körper konzentriert sich ganz auf die Schultern. Auf der Piste am anderen Ufer sieht er Lastwagen, Motorräder, ja sogar Fahrräder, mit breiten Reifen, die auf dem Eis mehr Haftung bieten. Er würde sich zu gern an die Stoßstange eines Wagens hängen und sich von ihm ziehen lassen wie die älteren Jungen, vorsichtig, damit der Schal sich nicht in den Rädern verfängt, und immer ein Auge auf das Bremslicht, um im rechten Augenblick loszulassen und schneller zu sein als alle anderen. Rudik! Rudik! Er gleitet auf die Piste zu, doch dann gellt eine Trillerpfeife, und ein Wächter winkt ihn fort. Er wendet auf einem Fuß, den anderen hoch erhoben, beschreibt einen weiten Bogen und kann den Anblick des Vaters nicht mehr vermeiden, der mit rot angelaufenem Gesicht, schnaufend und ohne Schlittschuhe am Flussufer steht. Ein Windstoß fegt über das Eis und lässt die Zigarettenglut aufleuchten. Wie klein er aussieht. Der Rauch aus seinem Mund wird verweht. Du bist schnell, Rudik. Ich hab dich nicht gehört. Was hast du nicht gehört? -40-
Ich hab dich nicht rufen hören. Der Vater öffnet den Mund, um etwas zu sagen, überlegt es sich aber anders und sagt: Ich wollte dich zur Schule bringen. Du hättest auf mich warten sollen. Ja. Das nächste Mal wartest du. Ja. Rudik hängt sich die Schlittschuhe um den Hals, und gemeinsam gehen sie weiter, die Hände in den Handschuhen zu Fäusten geballt. Die Straße führt im Bogen um ein paar alte Häuser herum zur Schule. Auf der Schulmauer ist ein geschwungenes Schild befestigt, auf dem vier Krähen sitzen. Vater und Sohn schließen eine Wette ab, welche zuerst auffliegen wird, doch alle vier bleiben sitzen. Die beiden stehen schweigend da, bis die Glocke läutet und Rudik seine Hand zurückzieht. Wissen, sagt der Vater, ist das Fundament für alles Übrige. Verstehst du, was ich meine? Rudik nickt. Die Glocke läutet abermals, und die Kinder auf dem Hof rennen zum Schulhaus. Na, dann, sagt der Vater. Bis nachher. Bis nachher. Rudik wendet sich ab, kommt aber noch einmal zurück, stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt dem Vater einen Kuss auf die Wange. Hamet bewegt den Kopf ein wenig, und Rudik spürt die Schnurrbartspitze, die nass ist vom Eis. Der Weg zum Klassenzimmer ist ein Spießrutenlauf. -41-
Blondchen. Frosch. Mädchen. Er ist kleiner als die meisten und wird oft verprügelt. Die Jungen nageln ihn an der Wand fest, packen seine Hoden und drücken zu – Stutzen nennen sie das. Erst wenn ein Lehrer um die Ecke biegt, lassen sie ihn in Ruhe. Drinnen: Fahnen an der Wand, Banner, Porträts. Die Pulte, deren Platten man hochklappen kann. Gojanow, der Lehrer, auf dem Katheder, gelassen, mit teigigem Gesicht. Der Morgenappell. Das Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Rascheln, als die Jungen und Mädchen sich setzen, das Quietschen der Kreide auf der Tafel, Mathematik, er wird aufgerufen, fünf mal vierzehn, du, ja, du, fünf mal vierzehn, ja, du, Schlafmütze! Er gibt eine falsche Antwort, und Gojanow schlägt mit dem Lineal auf das Pult. Nach drei weiteren falschen Antworten schlägt er ihn auf die Fläche der linken Hand. Und dann, bevor die Rechte dran ist, bildet sich auf dem Boden eine Pfütze. Die anderen Kinder lachen, als sie merken, dass er sich in die Hose gemacht hat, sie kichern hinter vorgehaltener Hand und stellen ihm ein Bein, als er durch den Mittelgang geht. Siebzehn Schritte von der Toilette zum Absatz der knarzenden Treppe, wo der Fensterrahmen die Moschee und den blauen Himmel umschließt. Er steht dort wie verwurzelt und streicht über die Vorderseite seiner nassen Hose. Jenseits der Moschee sind die Schornsteine, die Brücken, die niedrigen Kamine von Ufa. Die klaren, harten Konturen des Horizonts ragen wie Zacken in den Himmel. Gojanow kommt von hinten und führt ihn am Ellbogen zurück zum Klassenzimmer, wo er beim Eintreten ein zweites Mal in die Hose macht, doch jetzt sind alle Schüler still, beugen sich über die Tintenfässer und klecksen schwarze Flecken in ihre Hefte. Er bleibt auf seinem Platz sitzen und wartet, sogar in der Mittagspause, Unser Führer und Lehrer ist stark, unser Führer und -42-
Lehrer ist groß, und sein Bauch ist hart und angespannt, bis schließlich alles getrocknet ist, und dann verschwindet er abermals auf die Toilette, wo der Spiegel gesprungen und sein Gesicht in tausend Stücke gebrochen ist, ringsum der stechende Geruch nach Pisse, aber still ist es hier, und er beugt sich zu seinem Spiegelbild, wo ihm die Winkel der Scherben das Gesicht entstellen. Nach der Schule erwartet ihn der Vater schon wieder, an die Mauer gelehnt, den Mantelkragen hochgeschlagen. An seinem Oberschenkel lehnt ein Baumwollfutteral. In der anderen Hand hält er eine große Tasche, die ausgebeult ist, als wäre eine Laterne darin. Hamet winkt ihn herbei, legt den Arm um Rudiks Schulter, und schweigend gehen sie in Richtung Straßenbahn. Als sie die Hügel vor der Stadt erreichen, verdunkelt sich der Himmel bereits. Armeen von Birken stehen entlang der vereisten Straße. Die Zweige filtern das letzte rote Licht. Sie überqueren einen breiten Erdrutsch, über den sich Wildfährten ziehen. Von den Bäumen fallt in Klumpen der Schnee. Es geht ein kalter Wind, sie bleiben dicht zusammen. Der Vater nimmt eine Jacke aus der Tasche und legt sie um Rudiks Schultern. Dann gehen sie durch eine enge Schlucht, und als sie an ihrem Ende den kleinen, zugefrorenen Fluss erreichen, sieht Rudik eine Reihe von Feuern auf dem Eis, an denen Männer sitzen und in Löchern fischen. Forellen, sagt der Vater. Er klopft Rudik auf den Rükken. Jetzt such Feuerholz. Rudik sieht zu, wie der Vater zu einem unbesetzten Eisloch geht. Er zerhackt das neue Eis, stellt zwei schmale Holzblöcke als provisorische Hocker auf und breitet über jeden eine Decke. Er stellt die Laterne zwischen die -43-
Hocker und zieht aus dem Baumwollfutteral eine Angelrute. Er steckt sie zusammen, zieht eine Schnur durch die Ösen, versieht den Haken mit einem Köder, verankert die Angel, und dann steht er bei dem Loch und klatscht in die Hände. Rudik wartet bei den Bäumen. Er hat zwei große Äste unter einen Arm geklemmt, und in der anderen Hand hält er ein paar Zweige. Der Vater sieht auf. Wir brauchen mehr Holz! Rudik stapft am Waldsaum entlang außer Sicht, streift Schnee von einem Felsen, setzt sich darauf und wartet. Er ist noch nie fischen gewesen. Wie können Forellen in einem so dick zugefrorenen Fluss leben? Wie können sie durch das Eis schwimmen? Er haucht in die Öffnungen seiner Handschuhe. Ein einzelner Stern erklimmt den Himmel. Kein Mond. Er denkt an das warme Bett zu Hause, an seine Mutter, wie sie ihn bis zum Kinn in die grauen Decken einschlägt, wie sie den Arm anwinkelt, um ihn an sich zu drücken. Er ist sicher, dass im Wald jenseits des Flusses Tiere auf ihn warten – Dachse, Bären, sogar Wölfe. Er hat Geschichten von Wölfen gehört, die Kinder verschleppt haben. Andere Sterne tauchen am Himmel auf, wie mit Winden dort hinaufgezogen. Er hört ein Flugzeug, kann aber keine sich bewegenden Lichter sehen. Er schnieft, lässt das Holz fallen und rennt zurück über das Eis des Flusses. Ich will nach Hause. Du willst was? Mir gefällt es hier nicht. Der Vater schmunzelt in seinen Kragen und greift nach Rudiks behandschuhter Hand. Gemeinsam gehen sie in den Wald und sammeln so viel Feuerholz, dass es für die ganze Nacht reicht. Der Vater legt kleine Zweige und -44-
Späne auf das Eis und sagt, es sei ein Fehler, ein einziges großes Feuer zu machen; das sei etwas für Dummköpfe. Stattdessen machen sie zwei kleine Zelte, und er zeigt Rudik, wie man sich, wenn man friert, über das Feuer hockt, sodass sich die Wärme von unten durch den ganzen Körper ausbreitet – ein Trick, den er im Krieg gelernt hat. Überall auf dem Fluss sitzen Angler und unterhalten sich in gedämpftem Ton. Ich will nach Hause, sagt Rudik noch einmal. Der Vater antwortet nicht. Er nimmt drei Kartoffeln, die gestern Abend übrig geblieben sind, und legt sie in die Glut. Er dreht sie immer wieder um, damit die Schale nicht verkohlt. Sie warten eine Stunde auf den ersten Fisch. Der Vater zieht ihn durch das Loch heraus, streift die Handschuhe ab, und die Forelle verwandelt sich in Sekunden von einer lebendigen in eine ausgenommene. Er schlitzt den Bauch mit seinem Messer auf und folgt mit dem Zeigefinger der Klinge, sodass die Gedärme in einem einzigen Klumpen herausgleiten. Sie dampfen in der kalten Luft, und der Vater spießt den Fisch auf einen Zweig und hält ihn über das Feuer. Sie sitzen in der Kälte und essen den Fisch und die Kartoffeln, und der Vater fragt ihn, ob das Essen nicht köstlich sei, und er nickt, und dann sagt der Vater: Magst du Gans? Natürlich. Eines Tages werden wir auf die Gänsejagd gehen, du und ich. Schießt du gern? Ich glaube schon. Schmalz, Federn, Braten – dafür sind Gänse gut, sagt der Vater. Mama reibt mir immer die Brust mit Gänseschmalz ein. -45-
Das hab ich ihr beigebracht. Vor langer Zeit. Ach, sagt Rudik. Gut, nicht? Ja. Als ich fort war, sagt der Vater und hält einen Augenblick lang inne, hast du mir gefehlt. Ja, Papa. Wir müssen über eine Menge reden. Mir ist kalt. Hier, zieh die Jacke an. Die Jacke des Vaters liegt ihm weit um die Schultern, und Rudik denkt, dass er jetzt drei Jacken anhat und der Vater nur eine, aber er schlüpft trotzdem in die Ärmel und wiegt sich im Sitzen vor und zurück. Deine Mutter hat mir gesagt, dass du ein braver Junge bist. Ja. Sie hat gesagt, dass du in letzter Zeit viel getan hast. Ich hab in einem Krankenhaus getanzt. Das habe ich gehört. Für die Soldaten. Und wo noch? In der Schule. Ja? Und Mama ist mit mir zu dem großen Haus gegangen, zum Opernhaus. Ja? Wirklich? Ja. Verstehe. Mama hatte nur eine Eintrittskarte, aber wir sind trotzdem reingekommen, und an der Tür gab es ein großes Gedränge, und die Tür ist eingekracht, und wir wären beinahe hingefallen! Wir sind ganz nach vorn gegangen, wo keiner nach uns gesucht hat! Wir dachten, sie würden nach uns suchen! Langsam, sagt der Vater. -46-
Wir haben uns auf die Stufen gesetzt, und alles war hell erleuchtet, und dann wurde es dunkel, und es fing an! Sie machten die große Beleuchtung aus, der Vorhang ging hoch, die Musik spielte laut, und die Zuschauer wurden ganz still. Und, hat es dir gefallen? Es war eine Geschichte von einem Schäfer und einem bösen Mann und einem Mädchen. Hat es dir gefallen? Mir hat gefallen, wie der Junge das Mädchen vor dem bösen Mann gerettet hat. Und? Und der große rote Vorhang. Na, das ist ja schön, sagt der Vater, zieht sein Uniformhemd enger um sich und zupft an der Schnur, die in das Loch hängt, um zu sehen, ob sie noch einen Fisch gefangen haben. Sein Gesicht und seine Lippen sind gerötet, als hätte er selbst gerade einen Haken verschluckt. Und als alle gegangen waren, hat Mama mir erlaubt, mich auf einen von den Sitzen zu setzen. Sie hat gesagt, die sind mit Samt bezogen. Schön, sagt der Vater wieder. Als der nächste Fisch am Haken hängt, nimmt der Vater das Messer, wischt die Klinge an der Innenseite des Oberschenkels ab. Es hinterlässt einen blutroten Streifen. Er drückt Rudik die kleine Forelle in die Hand und sagt: Und jetzt du. Rudiks Hände in den Jackenärmeln verkrampfen sich. Versuch es. Nein, danke, Papa. Versuch es! -47-
Nein, danke. Jetzt, hab ich gesagt! Versuch es! In einem Lagerhaus in der Swerdlowstraße werden, im Auftrag des baschkirischen Kulturministeriums, die neuen Vorhänge für das Opernhaus genäht – von sechs Frauen, den besten Näherinnen von Ufa. Der rote Samt ist eine Sonderanfertigung für diesen Vorhang, der fünfundvierzig Meter hoch und achtundfünfzig Meter breit werden soll, und schon das Anheben einer einzigen Bahn lässt die Arme der Frauen schmerzen. Sie tragen Haarnetze und dürfen in der Nähe des Stoffs weder rauchen noch essen oder Tee trinken. Zehn Stunden täglich nähen sie an dem Vorhang und rücken ihre Stühle durch das Meer aus rotem Samt. Jede Naht wird geprüft, und das Futter in der Mitte, wo der Vorhang geteilt ist, wird vierzehnmal wieder aufgetrennt, bis die Brigadeführerin den Eindruck hat, dass die Nuancen der beiden Teile genau aufeinander abgestimmt sind und der Stoff perfekt fällt. Eine Zugblende, auch sie aus rotem Samt, wird nach Maß gefertigt. Die Schabracken sind mit weißen Spitzen besetzt. Das Staatswappen wird aufgestickt, und zwar genau in der Mitte, sodass die beiden Hälften zu Beginn und am Ende einer jeden Aufführung vereinigt sind. Als der Vorhang fertig ist, erscheinen drei Mitarbeiter des Ministeriums, um ihn zu inspizieren. Eine Stunde lang untersuchen sie ihn, streichen mit den Fingerspitzen über Nähte, messen mit Zollstöcken die Höhe der Schabracken, prüfen die Konsistenz der Farbgebung. Sie debattieren über das Staatswappen und betrachten den gestickten Griff der Sichel durch eine Lupe. Schließlich öffnen sie eine Flasche Wodka, und jeder trinkt einen Fingerhut voll. Die Näherinnen, die durch die Jalousie eines Bürofensters gespäht haben, berühren sich an den Ellbogen und seufzen -48-
erleichtert. Sie werden hineingerufen, und die Männer vom Ministerium stellen sich auf und sprechen in markigem Ton von kollektiver Harmonie. Der Vorhang wird sorgsam gefaltet und auf einem Lastwagen zum Opernhaus gebracht. Dort warten zwei Zimmerleute. Sie halten Stützpfahle und Winden bereit, die das Gewicht tragen sollen. Durch die geschmierten Blöcke des Flaschenzuges wird ein verstärktes Seil geführt. Ein Gerüst wird gebaut, der Vorhang wird aufgehängt, und der Stoff berührt nicht ein einziges Mal den Boden. Am Abend, vor Beginn der ersten Vorstellung, schnallt sich der Bühnenarbeiter Albert Tichonow, der einer bekannten Familie von Stelzläufern entstammt, seine Stelzen an, zwinkert den anderen Bühnenarbeitern zu, stakst wie ein riesiges Insekt – die hölzernen Stelzen klicken auf dem Holz der Bühne – zum Vorhang und untersucht ihn auf irgendwelche Makel. Er findet keinen. Das Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. -49-
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Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich. Das Vaterland ist gütig. Vaterland ist stark. Das Vaterland beschützt mich. Vaterland ist gütig. Das Vaterland ist stark. Vaterland beschützt mich.
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Er versteckt die Strafarbeiten vor seinem Vater, doch das Kriechen der Feder über das Papier hat etwas, das Rudik inzwischen ganz gern mag. Er verbindet die Buchstaben, als wäre jedes Wort ein Stück Schnur, und schreibt die Sätze nicht in Spalten, denn ihm gefällt ihre Unordnung, die Art, wie sie aneinander stoßen. Der Lehrer will es allerdings anders, und manchmal wird die Strafarbeit dann verdoppelt oder verdreifacht. Wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat, rennt er zum See, um einen Blick auf die Fahnen am Ufer zu werfen. Wenn sie auf halbmast wehen, bedeutet das, dass jemand Wichtiges gestorben ist, und dann freut er sich, weil dann nachher im Radio wieder Tschaikowsky gespielt werden wird, ohne Unterbrechung, und auch seine Mutter wird vor dem Apparat sitzen. Sie sind in ein neues Gemeinschaftshaus in der Tsentsowstraße gezogen: ein Zimmer, vierzehn Quadratmeter, Eichenboden. Ein Teppich vom Markt hängt an der Wand, und das Radio hat die Mutter an die gegenüberliegende Wand gestellt, damit die Nachbarn, frisch Verheiratete, es ebenfalls hören können, wenn sie wollen. Rudik schaltet den Apparat an, stellt den Sender ein und klopft viermal an die Wand, damit die beiden wissen, dass -50-
es jetzt etwas zu hören gibt. Es dauert eine Weile, bis die Röhren warm sind, und in dieser Zeit stellt Rudik sich vor, dass die Töne vorbeischweben, als müsste die Luft noch proben. Er platziert sich an verschiedenen Stellen im Zimmer, um herauszufinden, wo die Musik am besten klingt. Die Töne sind anfangs hoch und fremd und kratzig, doch dann bekommen sie mehr Fülle. Während der Sendungen bewegt sich seine Mutter lautlos in Hausschuhen durch den Raum und setzt sich neben ihn, ernst und anerkennend. Sie versucht, ihn vom Tanzen abzuhalten, für den Fall, dass sein Vater heimkommt, doch oft gibt sie auch nach und sagt, er soll nicht zu viel Lärm machen, und kehrt ihm den Rücken, als könnte sie es nicht sehen. Für ihn riecht seine Mutter nach dem Joghurt aus der Abfüllanlage der Molkerei, wo sie neuerdings arbeitet. Kurz nach seinem zehnten Geburtstag bringt die Zeitung ein Foto von ihr, weil sie für ihren Beitrag zur Verdoppelung der Produktion eine öffentliche Belobigung bekommen hat. Die Bildunterschrift lautet: Arbeit als Lebenszweck – Muskina Jenikewa, Farida Nurejewa und Lena Wolkowa vor der Abfüllanlage. Der Zeitungsausschnitt wird auf die Fensterbank gelegt, neben die Orden des Vaters. Nach zwei Monaten ist das Papier vergilbt, und seine Mutter klebt Metallfolien von Flaschenverschlüssen auf die Rückseite und macht eine kleine Markise für das Bild, damit das direkte Sonnenlicht es nicht verblassen lässt. Dasselbe macht seine ältere Schwester Tamara mit den Bildern von Tänzern, die sie aus Büchern abzeichnet: Tschabukiani, Jermolajew, Tichomirow, Sergejew. Rudik betrachtet diese Zeichnungen genau: wie die Tänzer den Kopf halten, wie der Fuß gestreckt ist. Tamara steht im -51-
Hof und ermuntert ihn, die Posen zu imitieren. Sie lacht, wenn er versucht, reglos auf einem Bein zu stehen. Er hat keine Benutzerkarte für die Leihbücherei, aber Tamara ist langjähriges Mitglied im Komsomol und darf daher Bücher ausleihen, die sie ihm dann mitbringt – Tanz und Realismus, Jenseits der Bourgeoisie, Die Form des Tanzes in der Sowjetunion, Die choreographische Struktur einer neuen Gesellschaft –, und wenn er sie liest, braucht er das Wörterbuch. Er schreibt Wortlisten in ein Heft, das er in seiner Schultasche aufbewahrt; viele Wörter sind französisch, sodass er sich hin und wieder vorkommt wie ein Junge aus einem anderen Land. In der Schule zeichnet er Karten mit kleinen Zügen, die durch die Lande fahren. Sein Notizheft ist voller Skizzen der Beine von Tänzern, und wenn seine Lehrer ihn damit erwischen, zuckt er nur die Schultern und sagt: Was ist daran schlimm? Er hat jetzt einen gewissen Ruf, und manchmal stürmt er aus dem Klassenzimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Später entdeckt ihn dann ein Lehrer in einem leeren Korridor, wo er Pirouetten übt, doch er hat keine formale Ausbildung, er kennt nur Volkstänze, und seine Bewegungen sind nicht flüssig. Man schickt ihn mit einem Brief des Direktors nach Hause. Sein Vater liest den Brief, knüllt ihn zusammen und wirft ihn weg. In seiner neuen Arbeit findet Hamet eine erlösende Stumpfheit. Frühmorgens steht er mit zwölf anderen Genossen, Kriegsveteranen, auf einem Boot, das auf dem Djoma unterwegs ist. Der Rauch der Fabriken treibt über das Boot, und der dunkle Metallgeruch erinnert ihn an Blut. Hamet und die anderen gebrauchen gewaltige Bootshaken, um die Baumstämme einzusammeln, die von den -52-
Städten im Norden den Fluss hinuntertreiben – Sterlitamak, Alkino, Tschischmi. Die Haken wirbeln durch die Luft wie kleine Sicheln, verfangen sich, bohren sich in das Holz der Stämme. Von Hand werden sie zum Heck des Bootes gezogen, wo die Männer darauf steigen und sie mit Ketten sichern. Die Stämme rollen unter ihren Füßen; sie springen von einem zum anderen, den Hut auf dem Kopf, das Hemd offen, und das Wasser spritzt um ihre Stiefel. Rudik hat seinen Vater gefragt, ob er auch mal rausgehen und die Stämme rollen lassen darf, aber Hamet sagt, das ist viel zu gefährlich, und tatsächlich verliert er in zwei Jahren als Vorarbeiter fünf Männer. Hamet hält sich an eine städtische Anweisung, die besagt, dass er jeden Toten als Ertrunkenen melden muss; manchmal träumt er von diesen Männern, und dann fallen ihm die Soldaten ein, deren Leichen man anstelle von Baumstämmen auf die Wege legte. Wenn im Winter der See zugefroren ist und keine Baumstämme mehr den Fluss hinuntertreiben, fährt er von Fabrik zu Fabrik und hält Schulungskurse für die Arbeiter ab, genauso wie jahrelang in der Armee, und niemals zweifelt er an dem, was er tut, ob er nun Baumstämme fängt oder Menschen. Eines Abends fasst Hamet Rudik am Ohr und sagt: Tanzen ist nichts Schlechtes, Junge. Ich weiß. Sogar unsere großen Führer mögen Tanz. Ja, ich weiß. Aber das, was du auf der Welt tust, das bist du. Verstehst du das? Ich glaube schon. Deine gesellschaftliche Existenz bestimmt das Bewusstsein, Junge. Das weißt du doch? -53-
Ja. Es ist ganz einfach. Du bist zu mehr geschaffen als zum Tanzen. Ja. Du wirst ein großer Arzt werden oder Ingenieur. Ja. Rudik sieht zu seiner Mutter, die in dem abgewetzten Sessel am anderen Ende des Raums sitzt. Sie ist dünn, und ihre Halsgrube sieht rauchgrau aus. Ihre Augen sind reglos. Stimmt's, Farida?, sagt der Vater. Stimmt, sagt Farida. Am nächsten Tag bleibt Farida auf dem Heimweg von der Molkerei kurz vor einem Häuschen an einem gefurchten Weg stehen. Es ist leuchtend gelb gestrichen, doch die Farbe blättert in großen Stücken ab, das Dach hängt durch, und der hölzerne Türrahmen ist verzogen. Die geschnitzten Fensterläden schlagen im Wind. Die Röhre eines Windspiels erklingt. Auf der Treppe zum Eingang sieht sie ein Paar Schuhe. Alt, schwarz, ungeputzt, vertraut. Sie fährt mit der Zunge in ihrem Mund herum, stößt damit gegen einen seit Wochen lockeren Backenzahn, drückt dagegen, legt die Hand auf das Tor, um sich zu stützen. Sie hat von einem alten Ehepaar gehört, das hier mit drei oder vier anderen Familien lebt. Ihr ist schwindlig, sie fühlt sich schwach. Der Zahn wackelt. Ihr Leben lang hat sie gegen einen unablässigen Sturm angekämpft, denkt sie, mit gesenktem Kopf, mit zusammengebissenen Zähnen, in Gedanken immer nur beim nächsten Schritt, und selten zuvor war sie gezwungen, innezuhalten und sich zu bedenken. -54-
Ihre Zunge drückt gegen den lockeren Zahn. Sie legt die Hand auf das Tor und will es öffnen, doch schließlich wendet sie sich ab, und ein Schmerz durchzuckt ihren Kiefer. Später, als Rudik nach Hause kommt – die Wangen vom Tanzen gerötet –, setzt sie sich neben ihn auf das Bett und sagt: Ich weiß, was du tust. Was?, fragt er. Verkauf mich nicht für dumm. Was? Für so was bin ich zu alt. Was? Ich hab deine Schuhe vor dem Haus gesehen. Was für Schuhe? Ich weiß, was das für Leute sind, Rudik. Er sieht auf. Sag Vater nichts. Sie zögert, beißt sich auf die Lippe, öffnet die Hand und sagt: Sieh mal. Auf der Handfläche liegt ein Zahn. Sie steckt ihn in die Kitteltasche, legt die Hand auf Rudiks Nacken und zieht ihn an sich. Sei vorsichtig, Rudik, sagt sie. Er nickt und steht auf, wirbelt herum, um ihr zu zeigen, was er gelernt hat, und ist verwirrt, als sie gar nicht hinsieht, sondern reglos an die Wand starrt. Als der Junge gegangen war, zog Anna das an den Ellbogen durchgescheuerte Nachthemd an und setzte sich auf die Bettkante. Ich saß am Schreibtisch und las. Sie flüsterte: Gute Nacht, doch dann hüstelte sie und sagte, sie fühle sich gesegnet, und mehr als hin und wieder das Gefühl, gesegnet zu sein, könne man in diesem Leben -55-
nicht erwarten. Sie sagte, sie wisse schon nach dieser einen Stunde, dass aus dem Jungen etwas Besonderes werden könne. Sie stand auf, schlurfte durchs Zimmer und legte die Arme auf meine Schultern. Mit einer Hand nahm sie mir die Lesebrille ab. Sie legte sie auf den Mittelfalz des aufgeschlagenen Buches und drehte meinen Kopf zu ihr. Sie sagte meinen Namen, und der Klang dieses Wortes drang auf ganz außergewöhnliche Weise durch meine Müdigkeit. Als sie sich vorbeugte, streifte mich ihr Haar, und es roch wie früher, als sie noch beim Mariinski gewesen war. Sie drehte mich auf dem Stuhl zur Seite, und der Kerzenschein flackerte auf ihrem Gesicht. Sie sagte: Lies mir vor, Mann. Ich griff zu dem Buch, aber sie sagte: Nein, nicht hier, lass uns ins Bett gehen. Es war ein Buch von Pasternak, das all diese gemeinsamen Jahre überstanden hatte, aufgeschlagen bei einem Gedicht über am Himmel gefrorene Sterne. Ich habe Pasternak stets verehrt, nicht nur aus offensichtlichen Gründen, sondern auch, weil mir schien, dass er, indem er in der Nachhut blieb, anstatt mit der Vorhut voranzustürmen, gelernt hat zu lieben, was geblieben ist, anstatt zu betrauern, was verschwunden ist. Das Buch war vom vielen Blättern aufgequollen, und die Angewohnheit, meine Lieblingsseiten mit einem Eselsohr zu versehen – eine Angewohnheit, die Anna hasste –, hatte es noch dicker werden lassen. Ich nahm Kerze, Buch und Brille, ging zum Bett, schlug die Decke zurück und kroch darunter. Anna legte ihre hölzerne Zahnprothese mit einem leisen Seufzer auf einen Teller, kämmte sich und schlüpfte neben mir ins Bett. Ihre Füße waren kalt wie immer. Bei älteren Tänzerinnen ist -56-
das oft so: Sie haben ihre Füße so viele Jahre gequält, dass das Blut einfach nicht mehr fließen will. Ich las ihr aus einem Zyklus von Naturgedichten vor, bis sie einschlief, und es erschien mir gar nicht selbstsüchtig, meinen Arm auf ihre Hüfte zu legen, um etwas von ihrem Glück auf mich übergehen zu lassen – die Alten bestehlen einander wie die Jungen, aber vielleicht sind unsere Diebstähle notwendiger. In der Vergangenheit haben Anna und ich einander hemmungslos bestohlen und dann in diesen gestohlenen Augenblicken gelebt, bis wir begannen, sie miteinander zu teilen. Einmal hat sie mir erzählt, dass sie, als ich im Gefängnis saß, oft die Decke auf meiner Seite des Betts aufgeschlagen und sich sogar dorthin gelegt und einen Abdruck auf dem Kissen hinterlassen hat, damit es aussah, als wäre ich noch da. Sie schlief, und ich las weiter Pasternak, und als die Kerze ganz heruntergebrannt war, zitierte ich aus dem Gedächtnis. Ihr Atem roch jetzt schal, und ich beugte mich zu ihr und zog die Decke hoch. Ihr Haar hatte sich gelöst; es fiel über ihr Gesicht, und in der leichten Brise, die zum Fenster hereinwehte, bewegten sich die Strähnen vor ihren Augen hin und her. Natürlich sind Sentimentalitäten töricht, und ich weiß nicht, ob ich in dieser Nacht überhaupt geschlafen habe, aber ich weiß, dass ich einen ganz einfachen Gedanken hatte: dass ich sie nach all den Jahren noch immer liebte und dass es mir in diesem Augenblick gar nicht töricht erschien, sie geliebt zu haben und sie weiterhin zu lieben, selbst in diesen Trümmern unseres Lebens. Um sechs jaulte die Sirene der Fabrik. Anna drehte das Kissen um, sodass die kühle Seite oben war, und kehrte mir den Rücken. Als das Licht durch den Spalt im Vor-57-
hang drang, machte ich Frühstück aus Tee und Kascha vom Vortag. Sie schmeckte noch gut, ein kleines Wunder. Wir saßen am Küchentisch neben dem Bett, und Anna legte eine Mozart-Platte auf, stellte das Grammophon aber leise, um die alte Wäscherin nebenan nicht zu stören. Wir unterhielten uns über den Jungen, und nach dem Frühstück zog sie sich an und packte ihren Tanzrock und die Schuhe in den Einkaufskorb. Als sie sich aufrichtete, sah sie mich an, als reise sie in Gedanken zurück in vergangene Zeiten. Vor vielen Jahren, beim Corps de Ballet in Sankt Petersburg, hatte sie eine besondere Tasche für ihre Schuhe gehabt – Diaghilew persönlich hatte die Taschen verteilt –, doch in dem ganzen Durcheinander war sie irgendwann verloren gegangen. Im Korridor waren unsere Nachbarn auf den Beinen. Anna winkte mir zu und schloss die Tür, als wären diese Bewegungen ein verstohlener Tanz. Am Abend brachte sie den Jungen ein zweites Mal mit. Anfangs pellte er seine Kartoffel behutsam, als knöpfte er einen geliehenen Mantel auf. Er hatte keine Ahnung, was er mit der Butter machen sollte, und sah immer wieder auf Annas Teller. Dieses Zimmer und wir waren aneinander gewöhnt, doch nun, da der Junge hier war, erschien es mir ganz fremd, als hätten wir nicht siebzehn Jahre darin gelebt. Anna wagte es, leise Strawinsky auf dem Grammophon zu spielen, und der Junge entspannte sich ein wenig – es war, als verzehrte er nicht nur die Kartoffel, sondern auch die Musik. Einmal bat er um einen zweiten Becher Milch, doch davon abgesehen schwieg er während des ganzen Essens. Wenn ich zu Anna sah, kam ich mir vor wie eine Krähe, die über den Kopf eines Spatzen hinweg einer anderen Krähe etwas zuruft. -58-
Er war schmalschultrig, blass und hatte ein zugleich freches und engelhaftes Gesicht. Seine Augen waren graublau; sie schweiften ständig durch den Raum und hielten, wie es schien, nie lange genug inne, um etwas wirklich aufzunehmen. Er schlang das Essen, saß aber ganz aufrecht da. Anna hatte ihm bereits eingeschärft, wie wichtig Haltung war. Sie sagte, er habe im Nu die fünf Positionen beherrscht und zeige ein natürliches Talent, doch er sei noch ein wenig forciert und ungeschliffen. Stimmt's?, sagte sie. Er hielt mit der Gabel vor dem Mund inne und lächelte. Anna sagte ihm, er müsse täglich außer sonntags in die Sporthalle der Schule kommen, und er müsse seinen Eltern sagen, dass er mindestens zwei Paar leichte Schuhe und zwei Strumpfhosen brauche. Er erbleichte und bat um noch einen Becher Milch. An der Tür nebenan hörten wir unsere Nachbarin, die Wäscherin. Anna stellte das Grammophon noch ein wenig leiser, und wir gingen die drei kurzen Schritte zum Sofa. Der Junge setzte sich nicht zwischen uns, sondern schritt an den Regalen entlang, strich über die Buchrücken und staunte, dass sie in Viererreihen standen. Um sieben fuhr er sich mit der Hand über die verrotzte Nase und verabschiedete sich. Als wir das Fenster öffneten, um ihm nachzusehen, rannte er schon die Straße hinunter und sprang über die Pfützen. Elf Jahre alt, sagte Anna. Stell dir vor. Abermals überließen wir uns mit Pasternak der grauen Nacht. Anna schlief auf dem ungemachten Bett ein, und durch ihre Nasenlöcher strömte Traurigkeit. Ich rasierte mich – eine alte Angewohnheit aus den Lagern, durch die ich damals ein paar zusätzliche Minuten im Bett gewann, bevor ich morgens hinaus in die Kälte musste –, und dann -59-
schleppte ich meine Schlaflosigkeit zum Fenster, denn die Sterne sind unendlich interessanter als eine Zimmerdecke. Es hatte begonnen zu regnen; das Wasser plätscherte über das Dach, gurgelte durch das Fallrohr und schenkte der Stadt sein Geräusch. Annas Atem ging so schwer, dass er mir in den Ohren klang, und hin und wieder verkrampfte sie sich, als träumte sie von Schmerzen, doch am Morgen erwachte sie gut gelaunt und zog ihr Hauskleid an. Sonntag war unser Putztag. Ein paar Wochen zuvor hatten wir in unserem Fotoalbum Silberfischchen gefunden, die zwischen unseren zaghaft und unsicher lächelnden Gesichtern umherhuschten. All die Fotos, die mich in Uniform zeigten, waren längst vernichtet worden, doch es waren noch andere da, die unter unseren Augen zerfressen wurden: von unserer Hochzeit, von Anna vor dem Mariinski, von uns beiden neben einem Mähdrescher, ausgerechnet in Georgien. Anna überließ die grauen Silberfischchen mir, und ich zerquetschte sie mit den Fingern. Im Lauf der Jahre hatten sie sich bei uns an Fotos gemästet, meist an Bildern aus Sankt Petersburg und seltsamerweise meist an solchen, die im hellen Sonnenlicht aufgenommen worden waren. Auf die Rückseiten hatten wir Notizen gekritzelt, vorsichtshalber aber «Leningrad» geschrieben. Es gab einige neuere Fotos aus Ufa, aber die hatten die Silberfischchen – welch bittere kleine Ironie! – verschont. Am Nachmittag, nach einem gnädigen Nickerchen, entdeckte ich Anna hinter dem Paravent am Fußende des Bettes: auf Zehenspitzen und in dem Kostüm, das sie bei ihrem letzten Auftritt vor dreiunddreißig Jahren getragen hatte. Es war ein langes, blasses Tutu, und sie wirkte darin ein bisschen wie eine Fußnote zu ihrer Vergangenheit. -60-
Beschämt begann sie zu weinen und zog das Kostüm aus. Ihre kleinen Brüste hingen herab. Früher hatten wir einander mit Begehren erfüllt, nicht mit Erinnerungen. Sie zog sich an und nahm meinen Hut von der Ablage ihr gewohntes Signal für unseren Aufbruch. Ich humpelte am Stock durch den Korridor hinaus in den Tag. Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte Kraft, doch die Straßen waren noch feucht. Die Pappeln wiegten sich in einer leisen Brise, und es war schön, am Leben zu sein, auch wenn der Schmutz der Raffinerie noch schwer in der Luft hing. Am Fuß des Hügels blieben wir bei der Bäkkerei stehen, aber aus irgendeinem Grund war der Strom abgestellt worden, und so wurden wir zum ersten Mal seit Wochen nicht von dem Duft nach frischem Brot begrüßt. Wir standen vor dem Lüftungsauslass, um die letzten Spuren einzusaugen, doch es gab keine, und wir gingen weiter. Selbst der verrückte Kriegsveteran am Ende der Tsentsowstraße war nirgends zu sehen, und so hatte der Tag etwas Frisches, Unberührtes. Am See saßen Familien und machten Picknick. Betrunkene sprachen mit ihren Flaschen. Eine Kwas-Verkäuferin machte sich an ihrem Stand zu schaffen. Im Musikpavillon spielte eine Volksmusikgruppe in schrecklicher Disharmonie. Nichts auf dieser Welt kommt der Vollkommenheit je auch nur nahe – mit Ausnahme einer guten Zigarre vielleicht, aber eine gute Zigarre hatte ich seit Jahren nicht geraucht. Der Gedanke daran erfüllte mich mit schmerzlicher Sehnsucht. Anna war besorgt, weil ich so keuchte, und wollte darauf bestehen, dass wir auf einer Bank rasteten, doch weil es -61-
keinen traurigeren und lächerlicheren Anblick gibt als zwei alte Verbannte auf einer Parkbank, gingen wir weiter: durch die Straßen am Leninpark und unter dem Torbogen hindurch zum Opernhaus. Natürlich war er da, wie in einer göttlichen Komödie. Er stand auf der Treppe des Opernhauses. Sein Hemd war offenbar ein abgelegtes Kleidungsstück, und die Rückseiten seiner Hosenbeine waren mit Matsch bespritzt wie bei jedem anderen Jungen seines Alters. Die Fersennähte seiner Schuhe waren geplatzt, und der Winkel, in dem seine Füße standen – dritte Position –, betonte das noch. Solange wir stehen blieben, verharrte er in dieser Stellung, und als wir schließlich auf ihn zugingen, um ihn zu begrüßen, tat er, als wäre diese Begegnung vollkommen normal. Er verbeugte sich vor Anna und nickte mir zu. Es ist mir eine Ehre, Sie wiederzusehen, sagte er. Über seinem linken Auge war eine Schwellung, doch ich fragte nicht danach, denn ich weiß nur zu gut, wie schlimm Prügel sind und dass man darüber ein kleines Schweigen bewahren muss. Anna fasste ihn am Ellbogen und führte ihn die Treppe hinauf. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Passierschein, und der Wachmann wies mit einer barschen Kopfbewegung zur Tür. Erst da erinnerte sie sich an mich und kam die Treppe heruntergelaufen, um mir zu helfen. Wenn ich elf wäre, wäre ich jetzt eifersüchtig, sagte ich. Ach, du! Drinnen arbeiteten die Zimmerleute am Bühnenbild zu Roter Mohn, jetzt umbenannt in Die rote Blume, und ich dachte: Warum nicht alles umbenennen, warum nicht -62-
allem die ihm zustehende Bedeutungslosigkeit gewähren? Das Gerüst war aufgebaut, und mein alter Freund Albert Tichonow – ein wahrhaft schweigsamer Mensch stand wie gewöhnlich auf Stelzen und malte die Kulisse. Er war von Kopf bis Fuß mit verschiedenen Farben bespritzt, winkte mir von dort oben zu, und ich winkte zurück. Unter ihm schweißte eine junge Frau in blauer Uniform ein Stuhlbein an. Funken sprühten, dass die Bühne in Flammen zu stehen schien. Ich setzte mich in die vierte Reihe von hinten und sah dem Schauspiel zu, das gewiss weit interessanter war als jede rote Blume, ob nun Rose, Mohnblume oder Magnolie. Anna ging mit dem Jungen hinter die Bühne, und als sie nach einer Stunde wieder auftauchten, trug er zwei Paar Tanzschuhe, ein Suspensorium und vier Trikots auf dem Arm. Er war ganz hingerissen und bat Anna, nur einmal auf der Bühne stehen zu dürfen, doch dort war zu viel Betrieb, darum sagte sie ihm, er solle seine Positionen im Mittelgang üben. Er zog die neuen Tanzschuhe an, die ihm zu groß waren. Anna nahm ein Gummiband aus ihrem Haar und eines aus ihrer Handtasche und zog sie über die Schuhe, damit sie ihm nicht von den Füßen flogen. Eine halbe Stunde lang arbeitete sie im Mittelgang mit ihm. Er grinste die ganze Zeit, als sähe er sich bereits auf der Bühne. Um die Wahrheit zu sagen: Ich bemerkte an ihm nichts Außergewöhnliches – er hatte etwas von einem Straßenjungen, wirkte übermäßig erregt und besaß einen gefährlichen Charme, sehr tatarisch. Soweit ich erkennen konnte, verfügte er über wenig Körperbeherrschung, doch Anna lobte ihn, und sogar Albert Tichonow unterbrach seine Arbeit, lehnte sich auf seinen Stelzen an die Wand und klatschte. Um nicht ganz untätig zu sein, klatschte ich ebenfalls. -63-
Ich sah es Annas Gesicht an, dass sie ihm bereits vom Ballett in Sankt Petersburg erzählt hatte und dass die Erinnerung schwer auf ihr lastete. Wie monströs doch unsere Vergangenheit ist, besonders wenn sie schön war. Sie hatte ihm ein Geheimnis erzählt und spürte nun die Traurigkeit der Frage, wie viel tiefer sie würde graben müssen, um dieses Geheimnis lebendig zu erhalten. Dennoch konnte ich sehen, dass ihr der Junge gut tat: Ihre Wangen waren gerötet, und sie hatte ein hohes Timbre in der Stimme, das ich seit Jahren nicht gehört hatte. Sie sah etwas in ihm, ein Licht, das die Schatten erhellte, um all unserer früheren Düsternis einen Sinn zu geben. Sie arbeiteten an ein paar weiteren Schritten, bis Anna schließlich «Genug!» sagte und wir das Opernhaus verließen. Der Junge machte sich, die Tanzschuhe über die Schulter gehängt, auf den Heimweg und setzte die Füße betont auswärts. Es war dunkel geworden, doch wir rasteten auf einer Bank am See, denn die Müdigkeit überwältigte uns. Anna legte den Kopf an meine Schulter und sagte, sie sei nicht so dumm zu glauben, dass Rudik für sie jemals mehr als ein Tanzschüler sein werde. Anna hatte sich immer einen Sohn gewünscht, selbst als wir schon älter waren, aber wir hatten keinen bekommen. Julia, unsere Tochter, lebte in Sankt Petersburg, Tausende von Kilometern entfernt. Unfreiwillig hatten wir den größten Teil ihres Lebens von ihr entfernt verbracht, und Anna hatte nie Gelegenheit gehabt, sie tanzen zu lehren. Wir wussten, dass da etwas unwiederbringlich verloren war, aber daran war nichts zu ändern. An jenem Abend las ich Anna nicht vor. Es war genug, dass sie zu mir kam und mich küsste. Ich war überrascht, dass sich in meinen Lenden etwas rührte, und noch -64-
überraschter, als mir einfiel, dass sich dort seit beinahe fünf Jahren nichts gerührt hatte. Unser Körper ist ein widerliches Etwas, in dem wir leben müssen. Ich bin sicher, dass die Götter uns so schrecklich unvollkommen zusammengefügt haben, damit wir sie brauchen oder wenigstens spätnachts zu ihnen fliehen. Die kleinen Gnaden des Lebens wurden uns ein paar Wochen später zuteil, als ein Paket aus Sankt Petersburg seinen Weg zu uns fand – Julia war so schlau gewesen, die Universität als Absender anzugeben. Es waren ein Pfund türkischer Kaffee und ein Früchtebrot darin. Das Brot war in Papier eingewickelt, und dahinter war mit Klebeband ein für alle Fälle weitgehend harmlos formulierter Brief befestigt. Sie zählte die Veränderungen in der Stadt auf und erwähnte die neuen Entwicklungen in ihrem Leben. Ihr Mann, der am Lehrstuhl für Physik arbeitete, war befördert worden, und sie deutete an, dass sie uns in den kommenden Monaten vielleicht ein wenig Geld werde schicken können. Wir saßen in unseren Sesseln, lasen den Brief ein Dutzend Mal und entschlüsselten den Code, die Zwischentöne. Rudik kam vorbei, verschlang eine Scheibe Früchtebrot und fragte, ob er etwas davon für seine Schwester mitnehmen dürfe. Später sah ich, wie er, halbwegs die Straße hinunter, das Papier aufriss und sich das Brot in den Mund stopfte. Wir brühten Julias Kaffee immer wieder auf, bis er so ausgelaugt war, dass Anna im Scherz sagte, man könne ihn vielleicht als Bleichmittel verwenden. Vor der Revolution verbrauchten wir oft ein Pfund Kaffee pro Woche, aber es ist erstaunlich, an was man sich gewöhnen kann, wenn man keine andere Wahl hat. Meine Nachmittagsspaziergänge – wegen meines Fußes ging ich langsam und vorsichtig – führten mich jetzt zur -65-
Sporthalle der Schule Zwei. Durch das kleine Fenster sah ich hinein. Anna hatte insgesamt vierzig Schüler, doch nur zwei behielt sie nach dem Unterricht da: Rudik und einen anderen, dunkelhaarigen, geschmeidigen Jungen, der nach meinem Gefühl weit mehr konnte als Rudik und weniger grob wirkte. Wenn man sie miteinander hätte verschmelzen können, wären sie großartig gewesen. Aber Annas Herz hatte sich bereits für Rudik entschieden – sie sagte zu mir, er sei irgendwie mit dem Tanzen geboren und einfach noch ungebildet, doch es sei ihm bereits durch und durch vertraut, es sei wie eine tief in ihm schlummernde Grammatik, von der er nur nichts wisse. Ich sah, wie ihre Augen leuchteten, als sie ihn wegen eines misslungenen Pliés tadelte und er sogleich umkehrte, es perfekt ausführte und grinsend darauf wartete, dass sie ihn erneut tadelte, was sie natürlich tat. Anna trieb ein neues Tanzkostüm auf, und obgleich sie Beinwärmer und einen langen Pullover trug, war sie noch immer schlank und zart. Sie stand neben ihm an der Barre und korrigierte die Haltung seiner gestreckten Beine. Sie ließ ihn die Schritte wiederholen, bis ihm schwindlig wurde, und schrie ihn an, er sei kein Affe und solle gefälligst den Rücken gerade halten. Sie griff sogar in die Tasten und hämmerte einen Rhythmus, auch wenn ihr Können am Klavier viel zu wünschen übrig ließ. Ich war erstaunt, als ich eines Nachmittags im Winter Schweißperlen auf ihrer Stirn sah. Und ihre Augen funkelten, als hätte sie sie von dem Jungen geborgt. Sie begann, an seinen Sprüngen zu arbeiten: Sie sagte ihm, vor allem müsse er erschaffen, was seine Füße wollten, und es gehe nicht so sehr darum, höher zu springen als jeder andere – wichtig sei vielmehr, länger in der Luft zu bleiben. Länger in der Luft zu bleiben! Er lachte leise. -66-
Ja, sagte sie. Häng dich an Gottes Bart. Gottes Bart? Und lande nicht wie eine Kuh. Können Kühe springen?, fragte er. Werd nicht frech. Und halte den Mund geschlossen. Du bist kein Fliegenfänger. Ich trete im Zirkus auf!, rief er und sprang mit weit aufgerissenem Mund umher. Anna entwickelte ein System. Rudiks Eltern waren muslimischer Abstammung, und als einziger Sohn hatte er im Haushalt nicht viel zu tun. Seine einzige Aufgabe bestand darin, das Brot zu kaufen, doch nach einer Weile übernahm das Anna, damit er mehr Zeit zum Üben hatte. Sie stand an zwei verschiedenen Bäckereien an – die eine war in der Krassinastraße, die andere auf dem Oktoberprospekt. Oft begleitete ich sie. Wir versuchten, nach Möglichkeit im Luftzug der Entlüftung zu stehen, denn beim Warten war der Geruch nach frischem Brot ein großer Trost. Ich ging mit der ersten Portion Brot nach Hause, wahrend sie sich mit den Marken von Rudiks Familie an der zweiten Bäckerei anstellte. Das dauerte oft den ganzen Morgen, aber Anna machte das nichts aus. Am Ende seiner Stunde küsste er sie auf die Wange, steckte das Brot in die Einkaufstasche und rannte heim. An einem Sommerabend machten wir mit ihm ein Picknick: eingelegte Gurken, ein bisschen Schwarzbrot und ein kleines Glas Beerensaft. Im Park, am Ufer des Belaja, breitete Anna eine Decke aus. Die Sonne stand hoch und warf kurze Schatten auf die Felder ringsum. Ein Stück flussabwärts sprangen Jungen von einem riesigen Felsen ins Wasser. Einige zeigten in unsere Richtung und riefen Rudiks Namen. Anna flüsterte ihm etwas ins Ohr. Widerwillig zog er seine Badehose an und ging am Ufer -67-
entlang auf die Jungen zu. Eine Weile stand er bei dem Felsen herum und verzog das Gesicht. Er war leicht zu erkennen, denn er war dünner und blasser als die anderen. Die Jungen sprangen von dem Felsen ins Wasser und umfassten im Flug ihre Knie. Wenn sie aufprallten, spritzte das Wasser meterhoch. Rudik setzte sich, legte das Kinn auf die Knie und sah ihnen zu, bis einer der älteren Jungen zu ihm kam und ihn anstieß. Rudik stieß ihn zurück und rief eine Beschimpfung. Anna erhob sich, doch ich zog sie wieder herunter, schenkte ihr ein Glas Saft ein und sagte: Lass ihn seine Schlachten allein schlagen. Sie nippte an dem Saft und sah zu. Ein paar Minuten vergingen, dann erschien auf ihrem Gesicht ein Ausdruck des Entsetzens. Rudik und der Junge waren auf die Spitze des Felsens geklettert. Alle anderen Kinder sahen ihnen zu. Einige begannen, langsam und rhythmisch zu klatschen. Ich stand auf und trieb meinen alten Karrengaul von einem Körper so schnell er konnte hinunter zum Fluss. Rudik stand hoch aufgerichtet und reglos auf dem Felsen. Ich schrie ihm etwas zu. Es war ein Fünf-Meter-Sprung, praktisch unmöglich, weil der Fuß des Felsens so weit vorragte. Rudik breitete die Arme aus und holte tief Luft. Anna schrie. Ich strauchelte. Rudik breitete die Arme noch weiter aus und flog vorwärts. Einen Augenblick lang schien er in der Luft zu hängen, blass und entschlossen, und dann tauchte er mit einem lauten Klatschen ins Wasser. Sein Kopf verfehlte nur knapp den Felsen. Anna schrie abermals. Ich wartete darauf, dass er auftauchte. Er blieb lange unter Wasser, und als er schließlich wieder erschien, klebte an seinem Hals ein Stück von einer Wasserpflanze. Er schnippte es fort, schüttelte den Kopf, grinste breit und winkte dem an-68-
deren Jungen zu, der starr vor Angst auf der Spitze des Felsens stand. Spring!, rief Rudik. Spring, du Arschloch! Der Junge schluckte und kletterte hinunter. Rudik schwamm davon, kam zu uns und setzte sich nonchalant auf die Decke. Er fischte eine Gurke aus dem Glas, doch seine Finger zitterten, und ich sah die Angst in seinen Augen. Anna schimpfte mit ihm, doch er aß einfach seine Gurke, und schließlich zuckte sie die Schultern. Unter einer Strähne hindurch, die ihm in die Stirn gefallen war, sah er zu ihr auf, und als er aufgegessen hatte, ging er zu ihr und legte den Kopf an ihre Schulter. Du bist schon ein seltsames Kind, sagte sie. Er kam jeden Tag zu uns, gelegentlich auch zwei- oder dreimal. Ein Teil der Schallplatten in unserer Sammlung war verboten. Wir versteckten sie in einem Bücherregal, das auf der Rückseite einen Hohlraum hatte – eine meiner wenigen gelungenen Schreinerarbeiten; sie hatte einige Besuche des Ministeriums überstanden. Rudik lernte, wie man die Platten aus ihren Hüllen gleiten ließ und sie seitlich auffing, damit sie keine Fingerabdrücke bekamen. Er reinigte stets sorgfältig die Nadel. Wenn das Grammophon seine Klickgeräusche von sich gab und dann Violinen erklangen, war das für ihn wie Medizin. Er ging mit geschlossenen Augen durch das Zimmer. Er wurde zu einem glühenden Verehrer von Skrjabin, dessen Musik er reglos stehend hörte, als wollte er, dass sie sich tausendmal wiederholte, bis Skrjabin schließlich in Person neben ihm stünde und mit Flöten das Feuer anfachte. Er besaß die schreckliche Angewohnheit, den Mund aufzusperren, wenn er Musik hörte, doch es erschien mir irgendwie falsch, ihm auf die Schulter zu tippen und ihn aus diesem Augenblick herauszureißen. Einmal berührte Anna -69-
ihn am Kinn, und sogleich fuhr er zurück. Ich wusste, dass es die Schuld seines Vaters war. Es waren keine schlimmen Prellungen, aber man sah, dass er verprügelt worden war. Rudik hatte uns erzahlt, sein Vater arbeite als Flößer auf dem Fluss. Ich hatte den Eindruck, dass ihn der alte Fluch der Väter ereilt hatte: Sein Sohn sollte das, wofür er gekämpft hatte, nutzen und Arzt oder Offizier, Kommissar oder Ingenieur werden. Tanzen war für ihn gleichbedeutend mit dem Armenhaus. Rudiks Leistungen in der Schule ließen nach, seine Lehrer sagten, er sei zappelig und summe entweder Symphonien vor sich hin oder blättere in Kunstbüchern, die seine Schwester ausgeliehen habe. Er hatte Gefallen an Michelangelo gefunden und zeichnete Skizzen in seine Hefte – sie waren unausgereift, aber gut getroffen. Gute Beurteilungen bekam er nur von den Jungen Pionieren, wo er dienstags nachmittags Volkstänze übte. Und wenn im Opernhaus ein Ballett aufgeführt wurde – Esmeralda, Coppélia, Don Quijote, Schwanensee –, verschwand er von zu Hause, schlich sich durch den Bühneneingang hinein, und mein Freund Albert Tichonow, der Stelzläufer, besorgte ihm einen Platz. Wenn er dann zurückkam und sein Vater erfuhr, wo er gewesen war, wurde Rudik verprügelt. Rudik klagte nicht über die blauen Flecken, und in seinen Augen war nicht der leere Blick, den ich oft bei anderen gesehen hatte. Er wurde geschlagen, weil er tanzte, und hörte dennoch nicht auf zu tanzen – so glich sich das Ganze aus. Wenn sein Vater ihn schlug, geschah das spontan, auch an dem Tag nach Rudiks dreizehntem Geburtstag, als er ihm eine fürchterliche Tracht Prügel verabreichte. Zweifellos hatte Rudik sie verdient – er konnte eine furchtbare Nervensäge sein –, doch ich merkte, dass sein Vater, indem er ihn schlug, indem er ihm die -70-
Möglichkeit zum Tanzen zu verweigern suchte, erst das heiße Verlangen danach weckte: ein kostbares Geschenk. Anna sagte, sie wolle mit seiner Mutter sprechen, entschied sich schließlich jedoch dagegen. Im Dunkeln macht ein kluger Mensch kleine Schritte. Für mich war Erinnerung immer nur törichte Einbildung, doch sobald das Grammophon knisterte und rauschte, begann Anna, ihm kleine Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Über ihre Jugend verlor sie kaum Worte, sehr bald kam sie bei ihrer Zeit im Corps de Ballet an. Ach, wie sie schwelgte! Die Kostüme, die Bühnenbildner, die Zugreisen ins Ausland! Sankt Petersburg und der Regen im Licht der Straßenlaternen! Die Neigung der Bühne im Mariinski-Theater! Die Tenor-Arie im letzten Akt von Tosca! Nach einer Weile kannte sie kein Halten mehr – es war wie in der Geschichte von dem holländischen Jungen und dem Deich, nur dass in Annas Damm kein kleines Loch war, sondern eine gewaltige Bresche. Ich war dankbar, dass sie ihn nicht belog, dass sie nicht so tat, als wäre sie eine der großen Tänzerinnen gewesen, der die Geschichte den Ruhm versagt hatte. Nein. In allem, was sie ihm sagte, lag eine wunderschöne Wahrheit. Sie erzählte, wie sie in den Kulissen der großen Theater gestanden und sich auf die Bühne geträumt hatte. An Anna Pawlowa erinnerte sie sich weniger deutlich als an alle anderen, vielleicht weil die Persönlichkeit der Pawlowa so untrennbar mit dem Tanz verbunden war. Auch ich reiste in Gedanken zurück zum Mariinski, in die erste Reihe, wo ich sehnsüchtig darauf wartete, dass Anna mit dem Rest des Corps auf die Bühne kam. Wenn nach Schwanensee der Vorhang gefallen war, rief alles Anna! Anna! Anna! Mir war, als würden sie nach meiner Anna rufen, und darum rief ich ebenfalls. Danach wartete ich am Bühnenausgang, wir gingen untergehakt durch die Rossi-71-
straße, und wenn wir bei ihrem Haus ankamen, sah ihre Mutter aus dem Fenster im dritten Stock. Ich trat mit ihr dicht an die Wand und küsste sie, worauf sie mir über das Gesicht strich, kicherte und hinauflief. Wie seltsam und lange vergangen das war, doch alle toten Freunde erwachen dann und wann zum Leben. Rudik lauschte den Geschichten mit einer Art hingerissener Ungläubigkeit. Später wurde mir klar, dass diese Ungläubigkeit aus gnädigem Unwissen geboren war. Immerhin war er dreizehn und hatte anders zu denken gelernt als wir. Dennoch erschien es mir bemerkenswert, dass er sich noch Wochen später an die Geschichten erinnerte und Anna manchmal wortwörtlich zitierte. Er nahm alles in sich auf, wurde größer und schlaksiger und hatte ein koboldhaftes Grinsen, mit dem er einen ganzen Raum zum Schweigen bringen konnte, doch er war sich seines Körpers und dessen Kraft nicht bewusst. Eigentlich war er eher schüchtern und ängstlich. Anna sagte ihm, sein ganzer Körper müsse tanzen, nicht bloß die Arme und Beine. Sie zwickte ihn ins Ohr und sagte, sogar sein Ohrläppchen müsse an Bewegung glauben. Streck die Beine. Behalte bei einer Körperdrehung den Fixpunkt im Auge. Arbeite an deiner Form. Du musst den Tanz aufsaugen wie ein Löschpapier. All das tat er gewissenhaft. Er übte so lange, bis er einen bestimmten Schritt perfekt beherrschte, selbst wenn er dafür von seinem Vater Prügel bezog. Sonntags ging Anna mit ihm zuerst ins Museum und dann zu den Proben im Opernhaus; sie verbrachten also jeden Tag ein paar Stunden miteinander. Wenn sie heimgingen, rekapitulierte Rudik die Bewegungen, die er gesehen hatte ganz gleich, ob von Tänzern oder Tänzerinnen –, in allen Einzelheiten und rekonstruierte sie aus dem Gedächtnis. -72-
Er lag zwischen uns wie ein langer, bedeutungsschwerer Abend. Und er entwickelte eine neue Sprache, doch es war keine, die ihm passte – er war nicht dafür geschaffen. Aber es hatte einen Reiz, diesen ungeschliffenen Bauernjungen Port de bras sagen zu hören, als wäre er soeben aus einem Raum voller Kandelaber getreten. Zugleich verschlang er an unserem Abendbrottisch ein Stück Ziegenkäse wie ein Barbar. Dass man sich vor einer Mahlzeit die Hände waschen sollte, hatte er noch nie gehört. Manchmal bohrte er in der Nase, und er hatte eine grässliche Vorliebe dafür, sich in der Leistengegend zu kratzen. Du wirst ihn noch wegkratzen, sagte ich einmal zu ihm, und er sah mich mit jenem Entsetzen an, das andere für Plünderung und Brandschatzung reservieren. Spätnachts im Bett redeten Anna und ich, bis sie einschlief. Uns war bewusst, dass er gleichsam unser neuer Atem war, aber nur kurze Zeit bleiben würde, weil er eines Tages seinen Weg würde fortsetzen müssen. Das machte uns großen Kummer, aber es gab uns auch die Möglichkeit, über unsere bereits angesammelten Kümmernisse hinauszugehen. Ich kehrte sogar in mein Gärtchen zurück, um zu sehen, ob ich es retten könnte. Vor Jahren hatte man es uns zugeteilt, acht Straßenbahnstationen von unserer Wohnung entfernt. Irgendjemand im Ministerium hatte unsere Vergangenheit übersehen, und so erhielten wir einen Brief, in dem stand, wir könnten eine Parzelle haben, zwei mal zwei Meter, Es war schlechter Boden, grau und karg. Natürlich legten wir ein paar Gemüsebeete an – Gurken, Rettiche, Kohl, wilde Zwiebeln –, aber Anna mochte Lilien so gern und tauschte jedes Jahr einige Lebensmittelmarken gegen Lilien-73-
zwiebeln. Wir steckten sie entlang der Grenze des Gärtchens tief in die Erde, düngten sie gelegentlich mit Eselsmist und warteten. In den meisten Jahren scheiterten wir jämmerlich, doch hin und wieder teilt uns das Leben ein eigenartiges kleines Glück zu, und in jenem Jahr hatten wir zum ersten Mal einen dunkelweiß gerahmten Garten. Wenn sie nachmittags in der Sporthalle war, fuhr ich mit der Straßenbahn hinaus, humpelte den Hügel hinauf und setzte mich auf einen Klappstuhl. An den Wochenenden kniete oft ein kleiner Mann mit dunklem Haar in seinem Garten, zehn Meter von unserem entfernt. Manchmal wechselten wir kurze Blicke, doch nie ein Wort. Sein Gesicht war angespannt und wachsam wie das eines Mannes, der sein Leben lang darauf geachtet hat, dass seine Fallen mit Ködern bestückt sind. Er arbeitete mit wildem Fleiß in seinem Garten, wo er hauptsächlich Kohl und Kartoffeln angepflanzt hatte. Zur Erntezeit brachte er eine Schubkarre mit, die er hoch belud. An einem Samstagmorgen stapfte er den Weg hinauf, gefolgt von Rudik. Ich war überrascht – nicht nur, weil der Mann Rudiks Vater war, sondern auch, weil der Junge um diese Zeit bei Anna in der Sporthalle sein sollte und im Lauf eines Jahres nicht eine einzige Stunde versäumt hatte. Ich stieß meinen Spaten in die Erde und hustete laut, doch Rudik hielt den Blick gesenkt, als lauerten hinter jeder Pflanze schreckliche Dinge. Ich erhob mich und wollte etwas sagen, doch er wandte sich ab. Da wurde mir bewusst, dass Rudiks Genie darin lag, seinen Körper sagen zu lassen, was er anders nicht ausdrücken konnte. Wie er mal die rechte, mal die linke Schulter hängen ließ, und die Haltung seines Kopfes ver-74-
rieten mir sogar von hinten, dass ihn jeder Versuch, mich ihnen zu nähern, nicht nur in Schwierigkeiten bringen, sondern auch tief verletzen würde. Für seinen Vater war er auf immer unerreichbar, doch ebenso unerreichbar war er für mich. Ich sah, dass er über dem Auge eine Platzwunde hatte und dass die rechte Wange seines Vaters blau und geschwollen war. Offensichtlich wollte der Vater alles Geschehene vergessen und sich versöhnen, doch es würde keine Versöhnung geben. Sein Vater bearbeitete die Erde mit einem kleinen Spaten, sah zu seinem Sohn auf und sprach mit ihm. Rudik gab hin und wieder eine einsilbige Antwort, sagte meist aber gar nichts. Ich wusste, dass sein Vater ihn nie mehr prügeln würde. Ich beschloss, die beiden allein zu lassen, setzte meinen Hut auf, ging nach Hause und erzählte Anna, was ich gesehen hatte. Oh, sagte sie, setzte sich an den Tisch und beugte und streckte die Finger. Ich werde ihn bald an Elena Konstantinowna weitergeben müssen, sagte sie. Ich habe ihm alles beigebracht, was ich kann. Das ist nur gerecht. Ich ging zum Schrank und nahm die kleine Flasche Schwarzgebrannten heraus, die wir jahrelang aufgespart hatten. Anna wischte mit einem sauberen Handtuch zwei Gläser aus. Wir setzten uns zum Trinken. Ich erhob mein Glas und prostete ihr zu. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Augen. In der Flasche war gerade genug, um uns Lust auf mehr zu machen. Dennoch gestatteten wir unserem Glück, sich -75-
des Grammophons zu bedienen: Prokofjew, immer wieder. Anna sagte, es mache ihr gar nichts aus, Rudik zu einer anderen Lehrerin gehen zu lassen, besonders da es sich um Elena handle. Elena Konstantinowna Woitowitsch war in Sankt Petersburg erste Solotänzerin gewesen und leitete jetzt das Ballett am Opernhaus von Ufa. Sie und Anna hielten losen Kontakt, sie waren sich in Erinnerungen ergangen und hatten einander Gefallen erwiesen. Anna sagte, möglicherweise könne Rudik in ein paar Jahren eine Statistenrolle bekommen, womöglich eine mit ein oder zwei Soli. Vielleicht schafft er es bis auf die Schule am Mariinski, sagte sie. Sie sprach sogar davon, dass sie einen Brief an Julia schreiben und sie fragen wolle, ob sie nicht irgendwelche Beziehungen habe. Ich wusste, dass Anna sich an die Zeit erinnerte, als sie selbst dort gewesen war, jünger, geschmeidiger und noch viel versprechend, und so nickte ich und ließ sie reden. Was wir ihn lehren können, hat seine Grenzen, sagte sie. Das Lehren ist wie ein Gummiband – wenn wir es überdehnen, schnellt es uns ins Gesicht. Sie erklärte, sie werde ihn irgendwann in der folgenden Woche zum Unterricht für Fortgeschrittene in der Karl-Marx-Straße bringen. Doch zunächst werde sie, als Überraschung für ihn, eigenhändig ein großes Festessen kochen. Ich schob meine Hand über den Tisch in ihre. Sie sagte, ich solle mir ein Buch nehmen und lesen, vielleicht könnten wir heute Nacht, da uns der Schwarzgebrannte wärme, endlich einmal gut schlafen. Doch so war es nicht. Sie tanzte die ganze Woche mit ihm. Ich sah durch das Fenster in der Eingangstür der Halle zu. Jedenfalls war es ihr gelungen, die gröbsten Kanten zu glätten. Sein Plié war noch immer unkonzentriert, und in seinen Beinen war mehr Kraft als Eleganz, aber seine -76-
Pirouetten waren gut, und was die Sprünge betraf, hatte er sogar gelernt, einen Augenblick lang in der Luft zu schweben, was Anna entzückte. Sie klatschte. Darauf sprang er erneut, bewegte sich mit langsamen Grands jetés und weiten Bogenschritten diagonal durch die Halle und dann mit einer Reihe von schlecht ausgeführten Sissonnes, bei denen er das zweite Knie beugte, an der Querseite entlang zurück. Unvermittelt blieb er stehen und hob die Arme zur fünften Position – er hatte die Luft gesammelt und sich dienstbar gemacht, und das hatte er bestimmt nicht von Anna gelernt. Seine Nasenflügel bebten leicht, und einen Augenblick lang dachte ich, er werde gleich mit den Hufen scharren. Auf jeden Fall wohnte ihm mehr Intuition als Intellekt inne, mehr Geist als Wissen, als wäre er in anderer Gestalt schon einmal hier gewesen, als etwas Wildes, Ungezähmtes. Am Freitag nahm sie ihn beiseite und sagte es ihm. Ich entschuldigte mich und sah von draußen durch das Fenster in der Tür zu. Eigentlich hatte ich Schweigen erwartet, Tränen oder bekümmerte Verwirrung, doch er blickte sie nur an, umarmte sie fest, trat einen Schritt zurück und nickte knapp und energisch. Und jetzt, sagte Anna, will ich, dass du bei deinem letzten Tanz eine Schale voll Perlen vor mir ausleerst. Er ging zur Bank, nahm die Wasserflasche, bewegte sich mit einer Reihe von Chaînés durch die Halle und besprengte den Boden, um einen besseren Halt zu haben. In den nächsten zwanzig Minuten – bis ich nach Hause ging – zeigte er alles, was sie ihn gelehrt hatte. In seiner engen, alten Strumpfhose tanzte er von einem Ende der Halle zum anderen. Anna warf mir durch das Fenster einen Blick zu, und in diesem Augenblick wussten wir beide, dass uns dies, ganz gleich, was die Zukunft bereithielt, immer bleiben würde. -77-
In der Halle an der Karl-Marx-Straße ist er einer von siebzig jungen Tänzerinnen und Tänzern. Nun, mit vierzehn, erschließt sich ihm eine ganz neue Sprache: Royales, Tours jetés, Brisés, Tours en l'air, Fouettés. Er bleibt länger als die anderen, um weiterzuüben. Bei Entrechat-quatres schlägt er die Beine übereinander wie eine Friseurschere. Elena Woitowitsch, die Haare zu einem strengen Knoten aufgesteckt, sieht ihm mit gespitzten Lippen zu. Ein- oder zweimal verzieht sich ihr Mund zu einem Lächeln, aber meist ist sie unschlüssig. Er versucht, sie mit einer Brisé volé zu beeindrucken, doch sie verzieht nur spöttisch das Gesicht, wendet sich ab und sagt, dass man so etwas weder im Kirow noch im Bolschoi, ja nicht einmal im Stanislawski dulden würde. Von den Ballettcorps spricht sie mit einem Anflug von Wehmut, und manchmal erzählt sie ihm von Leningrad, von Moskau, wo die Tänzerinnen bis zur Erschöpfung üben und ihre Füße am Ende der Stunde bluten, wo das Blut großer Tänzer und Tänzerinnen durch die Abflussrohre der Opernhäuser rinnt. Er nimmt diesen Gedanken mit nach Hause, und wenn er übt, stellt er sich vor, dass es rot durch seine Tanzschuhe sickert. Seine Schwester Tamara ist auf dem Lehrerseminar in Moskau, und so hat er jetzt Platz für ein richtiges Bett. An die Wand daneben hat er einen Merkzettel geheftet: Anna, fragen, ob sie die Tanzschuhe reparieren kann. Bei Drehungen den Fixpunkt schneller finden, damit dir nicht so leicht schwindlig wird. Statutenrollen suchen. Gutes Eichenholz für Ballettstange. Interessiere dich nur für das, was du nicht gut kannst. Beethoven war sechzehn, als er den zweiten Satz seines Zweiten Konzerts schrieb! Obgleich kein direktes Sonnenlicht auf die Wand fallt, hat -78-
er, wie früher seine Mutter, aus Aluminiumfolie eine kleine Markise gebastelt. Sein Vater geht im Haus auf und ab und ignoriert den Zettel. An einem Märzmorgen erwacht Rudik und hört getragene Musik und dann Juri Levitan, den Chefansager des staatlichen Rundfunks, der eine Sondermeldung verliest: Das Herz des Genossen Stalin, des genialen Nachfolgers Lenins, des Vaters und Lehrers, des Waffengefährten, der Koryphäe der Wissenschaft und Technik, des weisen Führers der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, hat aufgehört zu schlagen. Drei Schweigeminuten werden ausgerufen. Rudiks Vater geht hinaus auf die Straße und stellt sich unter die Bäume, wo der Gesang der Amseln das Einzige ist, was man hört. Die Mutter bleibt am Fenster stehen, dreht sich dann zu Rudik um und nimmt sein Gesicht in die Hände. Sie sprechen kein Wort. Abends, am Ende einer weiteren Sondersendung, erfährt Rudik, dass an ebendiesem Tag auch Prokofjew gestorben ist. Er klettert durch ein Fenster in die verschlossene Halle an der Karl-Marx-Straße, geht in den Waschraum und reibt die Fußsohlen so fest über die Auslässe der Wasserhähne, dass sie bluten. Dann tritt er in die Halle und tanzt für niemanden. In seinen Schuhen ist Blut, und von den Haaren tropft der Schweiß. Es war kurz vor den Feiern zum Ersten Mai. Wir hatten uns seit ungefähr vier Jahren nicht gesehen. Er klopfte an die Tür der Elektrikerwerkstatt in der Karl-Marx-Straße, wo ich eine Lehre machte. Er sah verändert aus, erwachsener, die Haare lang. In der Schule hatten wir uns den kleinen Scheißer ab und zu vorgeknöpft, aber jetzt stand er in der Tür, so groß wie ich. Ich hatte gehört, dass er tanzte -79-
und ein paar Mal im Opernhaus aufgetreten war, meist in Statistenrollen, aber was soll's, das war mir egal. Ich fragte ihn, was er wollte. Er sagte, er hätte gehört, dass ich einen tragbaren Plattenspieler habe, und würde ihn sich gern ausleihen. Ich wollte die Tür zuschlagen, aber er stellte den Fuß in den Spalt, und sie federte zurück. Ich packte ihn am Hemd, aber er zuckte nicht mit der Wimper. Er redete nicht lange herum und sagte, dass er den Plattenspieler für eine Vorstellung brauchte, die er in der Kantine im Tiefgeschoss der Raffinerie geben wollte. Ich sagte, er solle sich den Finger in den Hintern stecken und die Internationale pfeifen, aber er fing an zu bitten und zu betteln wie ein kleines Kind, und schließlich sagte er, er würde mir Geld geben. Ich feilschte so lange, bis er mir dreißig von seinen hundert Rubeln versprach. Er war einverstanden, unter der Bedingung, dass ich ein paar gute Platten mitbrachte. Mein Cousin hatte einen hohen Posten bei den Komsomolzen und besaß ein paar Platten, hauptsächlich Soldatenlieder, aber auch Bach, Dvořák und andere. Außerdem dreißig Rubel waren dreißig Rubel. Also lieh ich ihm den Plattenspieler. Die Raffinerie war ein Riesending voller Röhren, Dämpfe und Kanäle. Die hatten ihre eigenen drei Krankenwagen, die nach Unfällen die Toten und Verletzten einsammelten. Andauernd Sirenen, Scheinwerfer, Hunde. Einen Raffineriearbeiter erkannte man gleich daran, wie er einen ansah. Das Unterhaltungskollektiv wurde von einer dicken alten Babuschka namens Vera Baschenowa geleitet. Meistens zeigte sie Filme oder derbe Puppenspiele, und hin und wieder ging sie sogar so weit, eine Volkstanzgruppe einzuladen. Rudi hatte sie überredet, ihn an einem Abend auftreten zu lassen. Darin war er gut – er konnte einem einen Esel als Rennpferd verkaufen. Die Kantine war schmutzig, und es stank nach Schweiß. -80-
Es war sechs Uhr abends, kurz nach Schichtwechsel. Die Arbeiter setzten sich. Es waren ungefähr dreißig Männer und fünfundzwanzig Frauen – Schweißer, Werkzeugmacher, Heizer, Staplerfahrer, ein paar Bürohengste, ein paar Gewerkschaftsleute. Ich kannte einige, und wir tranken zusammen Kumys. Nach einer Weile kam Rudi aus der Küche, die ihm als Garderobe gedient hatte. Er trug eine hoch über den Bauch gezogene Strumpfhose und ein ärmelloses Oberteil. Eine lange Strähne hing ihm über die Augen. Die Arbeiter fingen an zu lachen. Er verzog das Gesicht und sagte mir, ich solle eine Platte auflegen. Ich sagte, ich wäre nicht sein kleiner türkischer Sklave und er solle das doch selbst machen. Er kam und flüsterte das Wort «Geld». Ich dachte: Leck mich doch, legte aber trotzdem die Platte auf. Das Erste, was er vorführte, war ein Stück aus dem Lied der Kraniche, und nach drei oder vier Minuten lachten sie ihn aus. Sie hatten schon eine Menge Tänze gesehen, diese Arbeiter, und jetzt war Feierabend, Flaschen wurden herumgereicht, alles rauchte und quatschte, und sie sagten: Holt diesen Scheißer da runter! Holt diesen Scheißer da runter! Er tanzte noch ein bisschen weiter, aber sie wurden lauter, sogar die Frauen. Er sah kurz zu mir, und ich bekam ein bisschen Mitleid mit ihm und hob den Arm von der Platte. Es wurde still in der Kantine. Er hatte mit einem Mal etwas Gemeines in den Augen, als wollte er die Frauen herausfordern, mit ihm zu vögeln, und die Männer, sich mit ihm zu schlagen. Sein Mund zuckte. Einer warf einen schmierigen Lappen auf die Bühne, worauf wieder alles lachte. Vera Baschenowa war ganz rot und versuchte, die Leute zu beruhigen. Sie trug die Verantwortung, schließlich war sie die Leiterin des Kollektivs. In diesem Augenblick streckte Rudi die Arme weit aus und begann mit einem Gopak, gefolgt von einem Jiablo-81-
tschko. Er tanzte erst auf Zehenspitzen, sank dann langsam in die Knie und leitete zur Internationale über. Das Gelächter verwandelte sich in Gehuste, und dann sahen die Arbeiter einander an und begannen, im Takt auf den Boden zu stampfen. Gegen Ende der Vorstellung kehrte Rudi wieder zum Lied der Kraniche zurück, und die Idioten klatschten Beifall. Sie ließen einen Blechbecher herumgehen, und das brachte ihm noch einmal dreißig Rubel ein. Er warf mir einen Blick zu und steckte das Geld in die Tasche. Die Arbeiter kamen zu uns und luden uns zu Kumys ein. Bald waren alle in der Kantine laut und betrunken. Ein kleiner Rothaariger stieg auf das Aluminiumblech der Theke, rief einen Trinkspruch und stand dann mit ausgestreckten Armen auf einem Bein. Schließlich stellte Rudi sich neben ihn, stützte ihn und zeigte ihm, wie man das machte. Als wir, betrunkener als Elefanten, mit der Straßenbahn nach Hause fuhren, wollte ich etwas von dem Extra-Geld haben. Er sagte, ich sei ein jämmerlicher Kosak, er brauche das Geld für den Zug nach Moskau oder Leningrad, je nachdem, wo man ihn nehmen würde, und ich solle mir bloß nichts einbilden, schließlich habe er das ganze Geld verdient. Er hat sich die Wangen mit einem roten Stein gefärbt und die Lider mit einem im Opernhaus gestohlenen Stift nachgezogen. Mit Schminke hat er die Wimpern getuscht, und das Haar ist mit Pomade nach hinten gekämmt. Er ist allein zu Hause, steht vor dem Spiegel, lächelt, schneidet Grimassen, übt verschiedene Mienen. Er tritt näher an den Spiegel und zieht die Strumpfhose und das Suspensorium zurecht – der Spiegel ist geneigt, sodass er jetzt nur noch seinen Rumpf sehen kann. Er hebt den Arm hoch über den Kopf, verbeugt sich und sieht seine Hand wieder im -82-
Spiegel auftauchen. Er tritt noch näher heran, kehrt die Fußspitzen ein wenig weiter nach außen, spannt die Oberschenkelmuskeln an und schiebt die Hüfte vor. Er zieht die Strumpfhose aus, legt das Suspensorium ab, steht still und schließt die Augen. Eine Reihe von Scheinwerfern, ein Meer von Gesichtern, und er ist in der Luft und bekommt donnernden Applaus. Das Rampenlicht flackert, der Vorhang geht noch einmal auf. Er verbeugt sich. Später wischt er sich Wangen und Augen mit einem alten Taschentuch ab. Er verschiebt ein paar Möbelstücke Kommode, Sessel, billige Bilder – und beginnt in der dunklen Enge des Zimmers zu üben. Am Nachmittag kommt sein Vater früher als sonst von der Arbeit und nickt ihm zu, wie es Männer tun, die es gewohnt sind zu schweigen. Sein Blick bleibt kurz an den Zetteln hängen, die Rudi mit Klebeband am Spiegel befestigt hat: An Battements arbeiten. Die richtige Reihenfolge für Jetés coupés finden. Skrjabin von Anna ausleihen. Salbe für die Fuße. Am Ende der Reihe von Zetteln das Wort Visum. Hamet sieht das Taschentuch, das neben Rudis Füßen auf dem Boden liegt. Schweigend geht er an seinem Sohn vorbei und zieht den Sessel an seinen Platz bei der Tür. Unter seiner Matratze hat Hamet genug Geld für die Reise. Zwei Monatslöhne, mit einem Gummiband umwickelt. Er hat auf eine Schrotflinte gespart. Gänse und Wildhühner. Fasane. Waldschnepfen. Ohne große Umstände holt er das Geld unter der Matratze hervor und wirft es Rudi zu. Dann legt er sich auf das Bett und steckt sich eine Zigarette an, um dem Geruch im Zimmer etwas entgegenzusetzen.
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Unterwegs nach Leningrad – oder eher unterwegs nach Moskau, das auf dem Weg nach Leningrad liegt – hält der Zug in dem kleinen Dorf Irschewsk, wo ich geboren bin. Ich habe Rudi gesagt, Irschewsk sei an dem rotgrünen Dach des Bahnhofs zu erkennen, und wenn er wolle, könne er dort meinen Onkel Majit besuchen und bei ihm übernachten. Mit etwas Glück werde mein Onkel ihm vielleicht ein bisschen Stelzenlaufen beibringen. Er sagte, er werde es sich überlegen. Ich hatte Rudi die Stelzen einmal ausprobieren lassen, im Opernhaus, wo er eine Statistenrolle als römischer Lanzenträger hatte. Wir hatten nach der Vorstellung aufgeräumt. Er trug noch sein Kostüm. Ich drückte ihm die Stelzen in die Hand und sagte, er solle darauf steigen. Es waren kurze, nur fünfundsiebzig Zentimeter hoch. Er legte sie auf den Boden, stellte die Füße auf die Stützen und zog die Riemen fest, und dann saß er da und machte ein dummes Gesicht, denn er merkte, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Er sagte: Albert, du Mistkerl, du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Er schnallte die Stelzen ab und warf sie weg, holte sie dann aber wieder, stand mitten auf der Bühne und versuchte hinter das Rätsel zu kommen. Schließlich holte ich eine Stehleiter und erklärte ihm Schritt für Schritt, wie man die Stelzen anlegte. Er stieg auf die Leiter, und ich schärfte ihm die wichtigsten Regeln ein: Nie nach hinten fallen. Leg dein Gewicht auf die Füße. Nicht nach unten sehen. Wenn du das Knie hebst, folgt die Stelze von ganz allein. Ich spannte in Höhe seiner Achseln ein Seil über die Bühne, sodass er sich festhalten konnte, wenn er stürzte. Er versuchte, auf den Stelzen zu balancieren, was das Schwerste von allem ist, bis ich ihm sagte, dass er sich bewegen und in Bewegung bleiben müsse. Er wackelte am Seil entlang und hielt sich die meiste -84-
Zeit fest. Als ich klein war, übte mein Onkel Majit in einem leeren Silo am Rand des Dorfes, denn dort war es windgeschützt, und alle anderen Räume waren zu niedrig. Er hatte zwanzig, dreißig Paar Stelzen, alle aus Eschenholz und zwischen einem halben Meter und drei Metern lang. Seine Lieblingsstelzen waren die Einmeterstelzen, weil er sich auf denen noch zu uns Kindern hinunterbeugen und mit uns sprechen oder uns über den Kopf streichen und die Hand schütteln konnte, wenn wir zwischen seinen Beinen hindurchrannten. Er war der beste Stelzenläufer, den ich je gesehen habe. Wenn er sich ein neues Paar gemacht hatte, stieg er darauf und fand sofort den Balancepunkt, und ein, zwei Tage später konnte er auf ihnen rennen. Das einzige Mal, dass ich Onkel Majit habe fallen sehen, war, als er uns zeigte, wie man richtig fiel. Nie nach hinten!, rief er. Dann schlagt ihr euch ein Loch in den Kopf! Und dann fiel er nach hinten und rief: Nie so! Nie so! Noch im Fallen verlagerte er sein Gewicht. Er drehte sich in der Luft, fiel vorwärts und landete mit angewinkelten Knien, auf den Fersen sitzend. Er ist der einzige Stelzenläufer, den ich kenne, der sich nie auch nur das Schlüsselbein gebrochen hat. An den letzten Abenden vor seiner Abreise versuchte ich, mit Rudi an seiner Stelztechnik zu arbeiten, aber er war mit den Gedanken woanders. Allein der Gedanke fortzugehen ließ ihn wie auf Wolken schweben. Ich sagte ihm, vom Zug aus werde er jenseits der Weizenfelder die Köpfe von Kindern auf und ab hüpfen sehen können – meine Nichten und Neffen. Und hinter dem Bahnhof werde er vielleicht ein paar Kinder Stelzfußball spielen sehen können. Setz dich auf die linke Seite des Zuges, sagte ich. Er hat es bestimmt nicht getan. -85-
15. April 1959 R-86-
Der Zauber eines Tanzes, junger Freund, ist etwas ganz und gar Zufälliges. Das Paradoxe dabei ist, dass du mehr als irgendjemand anders dafür tun musst, dass sich dieser Zufall ereignen kann. Wenn er sich dann ereignet, ist er das Einzige, das sich in deinem Leben garantiert nie mehr ereignen wird. Für manche ist das ein Unglück, für andere dagegen ist es die einzige Ekstase. Vielleicht solltest du aber alles vergessen, was ich zu dir gesagt habe, und nur dieses eine behalten: Die wahre Schönheit des Lebens ist, dass Schönheit manchmal möglich ist. Sascha
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2 Leningrad, Ufa, 1956-1961 Die Bahnsteige waren nass von den Schuhen der Passagiere und den trockengeschüttelten Schirmen; eine dumpfe, feuchte Trübheit schien auf dem Tag zu lasten. Bahnarbeiter liefen in düsterer Langeweile herum. Aus den Lautsprechern kam eine neue Symphonie, ein maschinenartiges Stampfen von Cellos und Geigen. Ich setzte mich unter dem Dach des Bahnsteigs auf eine Bank; einige Meter weiter verabschiedete sich eine Frau in meinem Alter von ihren beiden halbwüchsigen Kindern. Ich strich über mein Kleid – nicht zu festlich, nicht zu feierlich – und versuchte die ganze Zeit mir vorzustellen, wie er wohl aussah. Meine Mutter hatte mir ein Foto geschickt, vor Jahren aufgenommen, als er in Ufa ihr Schüler gewesen war. Er hatte das schmale, kecke Gesicht eines Bauernjungen hohe tatarische Wangenknochen, sandfarbenes Haar, selbstbewusster Blick –, aber inzwischen war er siebzehn und hatte sich bestimmt verändert. Sie sagte, er sei außergewöhnlich, ich würde ihn sogleich erkennen, er hebe sich von der Masse ab und habe sogar das Gehen in eine Art Kunst verwandelt. Als der Zug endlich einfuhr und Dampf in die Luft blies, stand ich auf und hielt den Hut in der Hand, der einst meinem Vater gehört hatte – das verabredete Erkennungszeichen. Es war vollkommen absurd, aber während ich auf diesen Jungen wartete, der nur halb so alt war wie ich, empfand ich eine unbestimmte Erregung. Mein Blick glitt über die Menge, doch die Beschreibung passte auf keinen. Ich ging den ausgestiegenen Passagieren entgegen, streifte -88-
Sommermäntel und Koffer und sprach sogar zwei Jungen an, die in ihrer Angst dachten, ich sei eine Beamtin, und mir ihre Papiere zeigten. Der nächste Zug kam erst in vier Stunden, und so trat ich hinaus in den Nieselregen. Jemand hatte sich an Stalins Gesicht vor dem Bahnhof zu schaffen gemacht und in die steinernen Wangen winzige, kaum wahrnehmbare Pockennarben geschlagen. Die Blumen zu Füßen der Statue waren vernachlässigt. Natürlich war es dumm, ja regelrecht gefährlich, das Denkmal zu verunstalten, aber alles veränderte sich. Es war kurz vor dem Kongress von 1956, und in Leningrad war das Tauwetter deutlich zu spüren, als hätte sich ein kleiner Spalt geöffnet, durch den ein wenig Licht fiel, ein immer stärker werdendes Licht, das sich ausbreiten würde und dessen Existenz zu einer unbestreitbaren Tatsache wurde. Unter schwarzen Segeltuchzelten wurden Straßenbahngleise repariert. Radios waren billiger geworden. Aus Marokko waren Schiffsladungen Orangen angekommen wir hatten seit Jahren keine Orangen gesehen. Käufer drängten sich am Newahafen. Vor ein paar Monaten hatte ich versucht, das Begehren wieder zu beleben, und es war mir gelungen, acht Flaschen des georgischen Lieblingsweins meines Mannes zu kaufen. Eines Nachts sehr spät stieg ich zu meiner und mehr noch zu seiner Überraschung mit ihm in die Wanne. Etwa eine Woche lang hatte Josif deutlich bessere Laune, doch als der Wein ausgetrunken war, verfiel er wieder in seine übliche Düsterkeit. Anstatt vor dem Bahnhof zu warten, ging ich an der Newa entlang, am Gefängnis vorbei und zur Brücke, wo ich in die Straßenbahn zur Universität stieg. Ich klopfte an die Tür meines Mannes, um ihm die Neuigkeiten zu sagen, doch er war nicht da – wahrscheinlich arbeitete er irgendwo anders oder schwatzte mit einem der anderen Physik-89-
Professoren. Es war das erste Mal seit ziemlich langer Zeit, dass ich wieder in der Universität war, und in den Korridoren klangen meine Schritte so hohl, als ginge ich durch den Bauch einer Trommel, die einmal das musikalische Herzstück meines Lebens gewesen war. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, dem Fachbereich Sprachwissenschaft einen Besuch abzustatten, hatte aber das Gefühl, dass ich damit die alten Wunden nicht heilen, sondern nur erneut aufreißen würde. Stattdessen zog ich von tief unten in meiner Tasche einen alten Ausweis hervor, legte den Daumen auf das Ablaufdatum und ging in die Mensa. Das Essen war schlechter und fader, als ich es in Erinnerung hatte. Die Frauen hinter der Theke musterten mich mit einer gewissen Geringschätzung, und ein Mann schob mit einem riesigen Besen Abfall und Essensreste vor sich her und bewegte sich dabei so langsam, als sei er tief in Betrachtungen über die Mysterien seiner Trägheit versunken. Ich kam mir vor wie ein Eindringling in meinem früheren Leben und ging wieder hinaus. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, und am Himmel standen Riffe aus arktischem Licht. Am Finnischen Bahnhof herrschten mehr Gedränge und Geschäftigkeit als zuvor, und die Arbeiter ließen Zigaretten herumgehen. Drinnen hing ein riesiges Banner von der Decke: ein Bild von Chruschtschow, das Falten warf und sich wieder glättete, darunter die Worte: Das Leben ist besser und lebenswerter geworden. Das Banner war vorher noch nicht da gewesen, aber wie es da hing, im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, erschien es irgendwie richtig. Am Bahnsteig setzte ich mich wieder auf eine Bank und wartete. Ich fragte mich, was ich nach Ansicht meiner Mutter mit einem siebzehnjährigen Jungen vom Land -90-
anfangen sollte. In den Briefen meiner Eltern hieß es immer, Rudi den sie liebevoll Rudik nannten – sei ein Segen für sie gewesen, aber ich hatte den Verdacht, dass nicht er der Segen gewesen war, sondern vielmehr die Erinnerungen an das, was Tanz ihnen einmal bedeutet hatte. Ich war nicht bei meinen Eltern aufgewachsen, und der Faden der Zeit, die ich bei ihnen verbracht hatte, passte auf eine sehr kleine Spule. Sie waren nach Ufa verbannt, doch das geistige Zentrum ihres Lebens blieb die Stadt, die sie nach wie vor Petersburg nannten – die Paläste, die herrschaftlichen Häuser, die Degenduelle, die Anrichten, die Tintenfässer, das böhmische Kristall, die Orchesterloge im Mariinski –, doch all das war ihnen nach der Revolution für immer genommen worden. Mein Vater hatte die Säuberungen wie durch ein Wunder überlebt. Er war wieder und wieder verhaftet worden, hatte Jahre in verschiedenen sibirischen Lagern verbracht und war schließlich nach Ufa verbannt worden, wo die Behörden ihn und meine Mutter mehr oder weniger in Ruhe ließen. Meine Mutter war ihm stets gefolgt, und weil sie mir eine gute Schulbildung ermöglichen wollten und dem Ansehen meiner uralten Familie verpflichtet waren, hatten mich meine Großeltern mütterlicherseits in Leningrad aufgezogen. Ich hatte sogar ihren Vater- und Familiennamen angenommen. Ich heiratete jung, bekam eine Stelle an der Universität und hatte meine Eltern nur ein paar Male gesehen. Ufa war eine verbotene Stadt, es gab dort Schwerindustrie und Waffenfabriken. Auf Landkarten war es nicht eingezeichnet, und es war extrem schwierig, für eine Reise dorthin ein Visum zu bekommen. Und so wohnten meine Eltern, obwohl ich oft an sie dachte und nie aufhörte, sie zu lieben, in den staubigen Winkeln meines Lebens. Ich hörte den Pfiff einer zweiten Lokomotive, die sich -91-
dem Bahnhof näherte, und griff in meine Tasche, um noch einmal einen kurzen Blick auf das Foto zu werfen. Die Passagiere, die im Zug aus Moskau gesessen hatten, strömten vorbei. Einen Augenblick lang kam ich mir vor wie ein Fisch, der gegen den Strom schwimmt. Ich wich nach links und rechts aus und schwenkte den Hut meines Vaters. Rudi war nirgends zu sehen. Ich war allein und voller Sorge, weil ich, wie ich fand, in meinem Leben unmerklich eine feine Linie überschritten hatte. Ich war einunddreißig und hatte zwei Fehlgeburten gehabt. Noch oft stellte ich mir meine Kinder in dem Alter vor, in dem sie hätten sein können. Und jetzt ließ ich mir die mütterliche Verantwortung für diesen Tatarenjungen aufbürden, ohne dafür mütterliche Freuden genießen zu dürfen – ich fragte mich, ob ihm unterwegs etwas passiert war, ob er unsere Adresse noch hatte, ob er sich so weit zurechtfinden würde, dass er in die richtige Straßenbahn stieg, ob er überhaupt je kommen würde. Ich verfluchte ihn, verließ den Bahnhof und kehrte in die Innenstadt zurück. Ich liebte unser renovierungsbeürftiges Zimmer in der Gemeinschaftswohnung an der Fontanka. Die Tapeten lösten sich von den Wänden. Im Flur roch es nach Farbe und Kohl. Die Fensterrahmen waren verrottet. Und doch fühlte ich mich dort wohl. Die Decken waren hoch und in den Ecken mit Stuck verziert. Das Holz, das man verwendet hatte, war dunkel und geheimnisvoll, die Tür reich geschnitzt, und im Sommer strömte das Licht durch die Fenster. Wenn auf dem Kanal Boote vorbeiuhren, konnte man die Wellen an die Ufermauer klatschen hören. Stundenlang saß ich am Fenster und sah auf die Straße. Schließlich kam Josif nach Hause. Seine Krawatte saß schief, und er sah mich müde an. -92-
Er wird schon noch kommen, sagte er. Josif aß zu Abend und ging danach mit einem Grunzen zu Bett, und ich kam mir vor wie ein Stück Porzellan, dekorativ, aber nutzlos – eine Untertasse vielleicht oder der Deckel einer Zuckerdose. Ich ging auf und ab, zwölf Schritte in der Längsrichtung vom Fenster zur Wand, sechs Schritte quer. Ich sollte Gedichte übersetzen, und der Abgabetermin rückte näher, doch ich hatte weder die Lust noch die Energie, mich an die Arbeit zu machen. Zwanghaft sah ich in den Spiegel und betrachtete mein Gesicht aus verschiedenen Winkeln. Ein überwältigendes Gefühl der Verflüchtigung überkam mich. Wir werden nicht entschiedener, klarer oder ausdaurner, dachte ich. Mir war, als wäre alle Jugendlichkeit, die ich je besessen hatte, mit einem Mal verschwunden. Wie herzzerreißend! Wie beklagenswert! Wie lächerlich! Ich kniff mir in die Wangen, damit sie mehr Farbe bekamen, zog den Mantel an, ging durch das streng riechende Treppenhaus hinunter und schlenderte im Hof umher, wo man Geräusche aus den anderen Wohnungen hören konnte – Gelächter, Streit, ein paar Töne von einem Klavier. Es war eine der Weißen Nächte. Der Mitternachtshimmel war blassblau – kein Mond, keine Sterne, nur ein paar Wolken waren noch unterwegs. Mein Vater hatte mir einmal in einem Brief geschrieben, die Sterne seien tiefer als ihre Finsternis, und ich blieb ungefähr eine Stunde dort draußen und dachte über diesen Satz nach, als schließlich ein Schatten in die Tordurchfahrt trat. Rudi hatte das Gehen keineswegs in eine Art Kunst verwandelt. Er hielt sich nicht gerade und ließ die Schultern hängen. Tatsächlich wirkte er eher wie eine Witzblattfigur: Er schleppte einen mit Bindfaden verschnürten Kof-93-
fer, und das Haar unter dem Kordhut stand in alle Richtungen ab. Er war sehr dünn, was die Wangenknochen noch mehr hervortreten ließ, doch als ich auf ihn zuging, bemerkte ich, dass seine Augen blau und schwer zu deuten waren. Wo hast du bloß gesteckt?, fragte ich ihn. Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, antwortete er und streckte die Hand aus. Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet. Oh, sagte er. Er legte den Kopf schräg und sah mich von der Seite unschuldig an, als wollte er meine Entschlossenheit auf die Probe stellen. Ich bin mit dem Morgenzug gekommen, sagte er. Sie müssen mich am Bahnhof verpasst haben. Hast du mich nicht den Hut schwenken sehen? Nein. Ich wusste, dass das eine Lüge war, und nicht einmal eine gute, aber ich ließ sie ihm durchgehen. Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen, und ich fragte ihn, was er den ganzen Tag gemacht habe. Ich bin in die Eremitage gegangen, sagte er. Warum? Um mir die Bilder anzusehen. Ihre Mutter hat mir gesagt, wenn man tanzen will, muss man auch ein Maler sein. So, hat sie das? Ja. Und was hat sie außerdem noch gesagt? Dass es gut ist, auch Musiker zu sein. Und sie hat dir nicht gesagt, dass du deinen Einsatz nicht verpassen darfst? -94-
Er zuckte die Schultern. Haben Sie ein Klavier?, fragte er. Um seine Augen lag ein Anflug von Schalkhaftigkeit, und ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Nein, sagte ich. In diesem Augenblick wurde im dritten Stock wieder das Klavier angeschlagen, und jemand begann, sogar sehr schön, Beethoven zu spielen. Rudis Miene hellte sich auf. Er sagte, vielleicht könne er zu den Leuten gehen, denen das Klavier gehöre, und sie überreden, ihn darauf üben zu lassen. Das glaube ich kaum, antwortete ich. Obwohl er seinen Koffer trug, nahm er auf der Treppe mit jedem Schritt zwei Stufen. In unserem Zimmer sagte ich ihm, er solle sich an den Tisch setzen, und servierte ihm das kalte Abendessen. Sie kochen besser als Ihre Mutter, sagte er. Ich setzte mich zu ihm. Abermals lächelte er mich kurz an, bevor er sich wieder auf das Essen stürzte. Du willst also Tänzer werden?, fragte ich ihn. Ich will besser werden, als ich schon bin, sagte er. Ein Stückchen Kohl klebte an einem Schneidezahn, und er kratzte es mit dem Daumennagel ab. Er erschien mir so jung und vital und naiv. Wenn er mich von unten herauf anlächelte, sah er irgendwie traurig aus, was er aber ganz und gar nicht war. Je eingehender ich ihn betrachtete, desto mehr fielen mir seine außergewöhnlichen Augen auf: Sie waren riesig, ungezähmt, als wären sie eigenständige Wesen, die nur zufällig in seinem Kopf saßen. Ihr Blick glitt durch das Zimmer und fiel auf meine Plattensammlung. Er fragte, ob ich etwas von Bach hätte, und ich legte eine Platte auf und stellte den Apparat leise. Er aß -95-
weiter, und die Musik schien durch ihn hindurchzugehen. Du wirst auf dem Sofa schlafen, sagte ich. Morgen stelle ich dich meinem Mann vor. Er steht früh auf. Rudi erhob sich, gähnte, reckte sich und ging zum Sofa. Den schmutzigen Teller ließ er auf dem Tisch stehen. Ich kehrte ihm den Rücken, sah aber im Spiegel, wie er sich bis auf die Unterhose auszog. Er legte sich aufs Sofa und zog die Decke unter das Kinn. Ich liebe sie, sagte er. Was? Diese Stadt. Ich liebe diese Stadt. Warum? Oh, traut diesem Newskiprospekt nicht! Alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint!, zitierte er Gogol und überraschte mich. Dann ließ er sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, zurücksinken und stieß einen langen, zufriedenen Seufzer aus. Ich leerte rasch mein Glas Wein und brach vollkommen grundlos in Tränen aus. Das machte ihn verlegen, und er wandte sich ab. Er schlief ein. Ich betrachtete ihn. Dann dachte ich an meine Eltern, an die paar Male, die ich ihnen begegnet war. Sie hatten komisch ausgesehen: mein Vater kaum größer als meine Mutter, seine Schultern beinahe ebenso schmal wie ihre. Er hatte einen grauen Schnurrbart, trug altmodische Hemden mit Manschettenknöpfen, und seine Hosen waren immer zu kurz und reichten nicht mal bis zu den Knöcheln. Die Jahre in den Lagern hatten seine Gesundheit ruiniert – er hinkte, seit er sich in Sibirien mit der Axt einen brandigen Zeh abgeschlagen hatte. Der Verlust dieses Zehs war eigentlich seine Rettung gewesen, denn in der Krankenstation hatte -96-
er einen Arzt kennen gelernt, der auch Dichter war. Sie hatten heimlich Gedichte der großen Meister ausgetauscht, und der Arzt hatte seine Hand über meinen Vater gehalten und dafür gesorgt, dass er am Leben blieb. In den Lagern war mein Vater dafür bekannt, dass er eine nur einmal gehörte Gedicht-Zeile für immer behielt, und auch nach seiner Entlassung konnte er sich an Dinge erinnern, die jeder andere vergessen hätte. Doch die langen Strafen hatten sein Herz geschwächt, und sein Fuß bereitete ihm große Probleme. Obgleich er unter schrecklicher Schlaflosigkeit litt, bewahrte er sich eine trotzige Heiterkeit, als wollte er sagen: Ihr habt mich nicht gebrochen. Meine Mutter hatte sich über die Jahre ihre Schönheit erhalten. Ihr Körper war durch das lange Balletttraining straff geblieben; sie trug das Haar zu einem festen Knoten gebunden, und ihre Augen waren noch immer klar und lebendig. Die Liebe, die meine Eltern füreinander empfanden, war bemerkenswert – auch als alte Leute hielten sie sich an den Händen. Ich sah, wie Rudi sich auf dem Sofa hin und her wälzte, und dachte, dass nun er das Geheimnis war, das sie verband. Und doch war ich nicht eifersüchtig. Wahrscheinlich begreift man nach langem Suchen endlich, dass man letztlich nur sich selbst gehört. Ich war noch immer wach, als die Weiße Nacht in den Morgen überging. Der Abgabetermin saß mir im Nacken: drei spanische Sestinen waren zu übersetzen, so kompliziert, dass ich bezweifelte, ihrer Eleganz gerecht werden zu können. Nach dem Frühstück ging ich am Kanal entlang, stieg in die Straßenbahn und ließ sie mich und mein Selbstmitleid aus der Stadt hinaustragen, zu einem Ort, den ich seit meiner Kindheit wieder und wieder aufgesucht hatte. Im Gras am Ufer des Flusses blühten Blumen, und drei Weiden neigten sich über das Wasser. -97-
Ich mochte schon immer das Gefühl, bekleidet in einem fließendem Gewässer zu stehen, und so ging ich bis zu den Oberschenkeln hinein, legte mich danach ans Ufer und ließ mich von der Sonne trocknen. Ich machte eine Rohfassung von einem der Gedichte und ließ die sechs Schlusswörter nach Lust und Laune in meinem Kopf arbeiten: getreulich, tot, Kerze, Stille, Nachtschwärmer, Leuchten. Als ich das Gefühl hatte, wenigstens ein Stück vorangekommen zu sein, klappte ich mein Notizbuch zu und ging in meiner Unterwäsche schwimmen. Damals war ich noch attraktiv, hatte die Statur meiner Mutter, ihr dunkles Haar, ihre helle Haut und die blassen Augen meines Vaters. Ich blieb am Fluss, bis es recht spät war, und als ich nach Hause kam, saßen meine Freunde schon um den Tisch am Fenster und unterhielten sich ernst in der andeutungsreichen Sprache, derer wir uns bedienten. Diese Treffen waren normal – die meisten Montagabende verbrachte ich in der Gesellschaft von Wissenschaftlern und Linguisten, mit denen ich seit meiner Zeit an der Universität befreundet war. Es war kein «Salon» – ich mag dieses Wort nicht, weil es so durch und durch bourgeois klingt –, sondern diente eher der Entspannung: ein Abend voller Wodka, Zigaretten, Philosophie, Schimpftiraden und Andeutungen. Larissa war Französisch-Professorin, Sergej Botaniker, Nadia Übersetzerin. Petr beschäftigte sich nebenbei mit Wissenschaftsphilosophie und schwadronierte gern über Heisenberg und die aus seiner Unschärferelation resultierende Unsicherheit des Lebens. Er war ein rotgesichtiger Langweiler, aber manchmal imstande, den Abend zu retten. Ich war ein bisschen verliebt in einen anderen Josif, einen groß gewachsenen, blonden Linguisten, der, wenn er betrunken war, nur noch Griechisch sprach. Mein Mann ließ sich in -98-
dieser Runde nicht blicken – er machte abends meist Überstunden im Institut. Ich trat leise ein und sah zu, wie am Tisch ein kleines Drama seinen Lauf nahm. Rudi lauschte, das Kinn in die Hand gestützt, der Unterhaltung und machte ein etwas verwirrtes Gesicht, als hätte er gerade viele Worte gehört, die er erst verarbeiten musste. Die Diskussion drehte sich um ein neues Theaterstück, das in der Prawda wegen seiner Darstellung streikender Arbeiter im vorrevolutionären Ungarn sehr gelobt worden war. Man sprach über den Ausdruck «linguistischer Dualismus», der in letzter Zeit in zahlreichen Rezensionen aufgetaucht war und dessen Bedeutung keinem außer Petr ganz klar zu sein schien. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich an den Tisch. Rudi hatte eine Flasche Wodka meines Mannes geöffnet und allen, auch sich selbst, ein Glas eingeschenkt. Er schien beinahe betrunken. Irgendwann beugte er sich zu mir, legte seine Hand auf meine und sagte: Toll! Als sich der Abend dem Ende zuneigte, ging er mit meinen Freunden hinaus, kehrte erst drei Stunden später zurück – Josif war längst heimgekommen und zu Bett gegangen – und sagte: Leningrad, Leningrad, Leningrad! Er begann zu tanzen, und es sah aus, als wollte er die Spannweite seiner Flügel ermessen. Ich ließ ihn gewähren und wich ihm aus, während ich das Geschirr abräumte. Bevor ich zu Bett ging, rief er überlaut: Danke, Julia Sergejewna! Ich konnte mich nicht erinnern, je mit meinem Vaternamen angesprochen worden zu sein – ich hatte ja den meines Großvaters angenommen. Ich legte mich ins Bett und wandte Josif mit klopfendem Herzen den Rücken zu. Vor meinem inneren Auge erschien das Gesicht meines Vaters, und in meinem unruhigen Schlaf kam mir eine Idee für die letzte Zeile der Sestine. Am nächsten -99-
Morgen erschloss sich mir der Sinn der beiden anderen Sestinen so mühelos, dass die darin mitschwingende politische Bedeutung – der Dichter war ein Marxist aus Bilbao – wie ein bedeutsamer Zufall wirkte. Ich steckte die Übersetzungen in einen Umschlag und brachte sie zum Institut, wo das Honorar schon bereitlag. Dann kaufte ich etwas türkischen Kaffee und kehrte nach Hause zurück, wo mich Rudi niedergeschlagen erwartete: An seinem ersten Tag auf der Ballettschule war es nicht gut gelaufen. Er trank drei Tassen Kaffee und ging hinaus in den Hof. Von oben konnte ich ihn am Eisengitter üben sehen. Die ganze Woche lang tanzte Rudi in der Schule vor. Nachts streifte er durch die Stadt. Manchmal kam er erst um drei Uhr morgens nach Hause – immerhin waren es die Weißen Nächte, niemand schlief –, und dann erzählte er von den wunderschönen Palästen, von einem Straßenhändler vor dem Kirow-Theater, mit dem er sich unterhalten hatte, oder von einem Polizisten, der ihn auf dem Liteinyprospekt misstrauisch beäugt hatte. Ich versuchte, ihn zu warnen, aber er zuckte nur die Schultern. Ich bin ein Landei, sagte er. Die interessieren sich nicht für mich. Seine abgehackte Sprechweise hatte etwas Ungewöhnliches an sich. Es war eine eigenartige Mischung aus bäuerlicher Überheblichkeit und weltgewandter Skepsis. Am Ende der Woche hängte ich in der Gemeinschaftsküche Wäsche auf, als ich hörte, dass von unten mein Name gerufen wurde: Julia! Ich ging zu dem kleinen Fenster und sah Rudi im Innenhof, wo er schwankend auf dem schmiedeeisernen Gitterzaun balancierte. Ich hab's geschafft!, rief er. Sie haben mich genommen! Sie haben mich genommen! Er sprang vom Zaun, landete in einer Pfütze und rannte -100-
zur Treppe. Putz dir die Schuhe ab!, rief ich hinunter. Er grinste, wischte mit dem Hemdärmel seine Schuhe ab und kam die Treppe hinaufgerannt, um mich zu umarmen. Später erfuhr ich, dass er seine Aufnahme in der Leningrader Ballettschule ebensosehr seinem Mundwerk wie seinen tänzerischen Fähigkeiten verdankte. Sein Niveau entsprach damals nur dem gehobenen Durchschnitt, doch seine Begeisterung und seine Intuition hatten das Komitee überzeugt. Er war viel älter als die meisten anderen Schüler, aber während des Krieges war die Geburtenrate so deutlich gesunken, dass man bereit war, Jungen seines Alters vortanzen zu lassen und ihnen sogar Stipendien zu geben. Er sollte mit lauter Elf- und Zwölfjährigen in einem Wohnheim wohnen, was er grässlich fand, und bat mich inständig, zu den Montagabenden kommen zu dürfen. Als ich einwilligte, nahm er meine Hand und küsste sie – offenbar lernte er bereits, wie man sich in Leningrad benahm. Zwei Wochen später packte er seinen Koffer und zog in das Wohnheim. An dem Abend, als Rudi uns verließ, schlief Josif mit mir. Danach stapfte er zum Sofa, wo er sich eine Zigarette anzündete und, ohne mich anzusehen, sagte: Er ist ein kleiner Scheißer, nicht? Mit einem Mal kam es mir so vor, als stünden meine Eltern rechts und links neben mir, und ich verbarg mein Gesicht im Kissen und sagte nichts. Es dauerte beinahe drei Monate, bis Rudi sich wieder bei uns sehen ließ. Er kam mit RosaMaria hereingeschlendert, einem Mädchen aus Chile. Sie war die Art von Schönheit, die einem den Atem raubt, doch bildete sie sich nichts auf ihre Attraktivität ein – vielmehr gelang es ihr, sie wie -101-
einen Nachgedanken erscheinen zu lassen. Ihr Vater war Redakteur einer Untergrundzeitung in Santiago, und sie war an der Ballettschule, um tanzen zu lernen. Rudi wirkte bereits verändert, vielleicht weil er mit ihr zusammen war. Er trug einen langen Armeemantel und kniehohe Stiefel, und seine Haare waren länger geworden. Rosa Maria stellte einen Gitarrenkoffer in der Ecke ab und hielt sich im Hintergrund, während Rudi sich an den Tisch setzte und, zusammengesunken über einem kleinen Glas Wodka, zuhörte. Larissa, Petr, Sergej, Nadia und ich waren schon recht betrunken und in eine endlose Debatte über Heidegger vertieft, der gesagt hatte, das Leben sei dann authentisch, wenn es in der Gegenwart des Todes gelebt werde. Für mich schien die Debatte letztlich auf unser Leben unter der Herrschaft Stalins abzuzielen, aber ich musste auch an meinen Vater denken, der sein Leben nicht nur im Schatten des eigenen Todes, sondern auch im Schatten des Todes seiner Geschichte verbracht hatte. Ich warf Rudi einen Blick zu. Er gähnte und schenkte sich mit großer Gebärde nach, indem er die Flasche in die Luft hielt, sodass der Wodka kräftig im Glas hochschwappte. Petr wandte sich zu ihm und sagte: Und du, junger Mann? Was ist für dich authentisch oder nicht authentisch? Rudi schlürfte seinen Wodka. Petr nahm die Flasche und drückte sie an seine Brust. Die anderen am Tisch lachten kurz auf. Es war ein schöner kleiner Zweikampf zwischen einem müden Mann in mittleren Jahren und einem Halbwüchsigen. Ich glaubte nicht, dass Rudi Petr gewachsen sein würde, doch er nahm einfach zwei Löffel, stand rasch auf, schob sich an dem Gummibaum vorbei zur Tür und winkte uns, ihm zu folgen. Die schlichte Eigenartigkeit seines Tuns brachte uns zum Schweigen, nur RosaMaria lächelte, als ahnte sie, was uns erwartete. -102-
Rudi ging durch den Korridor zum Badezimmer und setzte sich in die leere Wanne. Das, sagte er, ist authentisch. Er begann, mit den Löffeln auf die Wanne zu schlagen, und erzeugte unterschiedliche Töne, je nachdem, wo das Metall auf die Wölbung des Porzellans traf: Am Boden der Wanne klangen die Schläge dunkler und hallten länger nach, weiter oben, am Rand, waren sie kürzer und heller. Den Wasserhähnen entlockten die Löffel hohe, metallische Geräusche, und schließlich bearbeitete Rudi die Wände. Er machte ein todernstes Gesicht und schlug Tonfolgen ohne Form oder Rhythmus. Es war das reinste Kaspertheater. Johann Sebastian Bach!, sagte er. Er hielt inne, und wir brachen in betrunkenen Applaus aus. Petr war einen Augenblick lang sprachlos, fing sich jedoch bewundernswert. Anstatt beleidigt hinauszugehen, trat er, die Flasche in der Hand, an die Wanne und goss ein stattliches Quantum in Rudis Kehle. Gemeinsam tranken sie die Flasche aus, und dann hielt Petr sie über Rudis Kopf und sagte: Mögest du so viel Ärger haben, wie Tropfen in dieser Flasche sind. Ich werde nicht gern nass, sagte Rudi lachend. Der Abend wurde ausgelassener und betrunkener. Wir aßen Brot mit Meerrettichsauce – etwas anderes war nicht da –, bis ein Freund von Petr kam und drei hartgekochte Eier mitbrachte. RosaMaria nahm die Gitarre aus dem Koffer und sang spanische Lieder in einem Dialekt, den ich nicht ganz verstand. Rudi ging mit einer Kasserolle im Zimmer herum und schlug auf die Wandtäfelung, die Kacheln, den Boden, das Waschbecken, bis die Nachbarn sich beschwerten. In diesem Augenblick kam Josif nach Hause. Ich ging -103-
ihm entgegen und rief: Lass uns tanzen! Er stieß mich beiseite, sodass ich gegen die Wand taumelte. Alle verstummten. Josif schrie: Verschwindet! Alle! Raus! Meine Freunde sahen mich unsicher an und drückten im Zeitlupentempo ihre Zigaretten aus. Raus!, schrie Josif. Er packte Rudi am Kragen und zerrte ihn zur Tür. Rudi war bestürzt und riss die Augen auf, doch RosaMaria baute sich vor meinem Mann auf und zwang ihn – einfach, indem sie ihm unverwandt ins Gesicht sah –, den Blick zu senken. Schließlich ging Josif nach unten in den Hof, wo er zerknirscht eine Zigarette rauchte. Der Abend ging weiter. Mir war bewusst, dass soeben etwas Außergewöhnliches geschehen war und dass RosaMaria eine – wenn auch nur zeitweilige – kleine Veränderung in meinem Leben bewirkt hatte. In Gedanken machte ich einen Knicks vor ihr. Am nächsten Abend war sie wieder da, begleitet von Rudi. Er fühlte sich sogleich wie zu Hause und erzählte begeistert von einem Mythos, über den er an diesem Tag in seinem Weltliteratur-Seminar gelesen hatte. Es ging dabei um den indischen Gott Schiwa, der in einem Flammenkreis tanzt. RosaMaria und er diskutierten, ob Tanz etwas Schöpferisches oder etwas Zerstörerisches sei und ob man durch das Tanzen ein Kunstwerk erschuf oder es auflöste. Rudi beharrte darauf, dass man einen Tanz Stück für Stück aufbauen müsse, während RosaMaria glaubte, ein Tanz sei dazu bestimmt, auseinander gerissen zu werden, und jede Bewegung sei ein Eindringen in den Tanz, bis er schließlich in seine herrlichen Bestandteile zerlegt sei. Ich hörte ihnen zu und empfand eigentlich keine Wehmut, sah in ihnen aber dennoch wie in einem Spiegel Josif und mich, zehn Jahre jünger: Damals hatten wir genauso obskur und konzentriert über Physik und -104-
Sprache diskutiert. Die beiden hielten Hof, bis Larissa vorbeikam und das Gespräch sich abermals der Wissenschaft und der Heisenberg'schen Unschärferelation zuwandte, was die jungen Tänzer offensichtlich verdross. Als Josif heimkam, setzte er sich tatsächlich zu den anderen an den Tisch, schwieg aber höflich resigniert. Er betrachtete RosaMaria, ihr schwarzes Haar, ihr breites Lächeln, doch dann zog er seinen Stuhl neben meinen und gab mir sogar Feuer. Er erklärte, Chile sei sein Lieblingsland, obgleich er nie dort gewesen war, und ich dachte daran, wie reich ich wäre, wenn ich für jeden Blödsinn, der aus dem Mund meines Mannes kam, ein kleines Stück Gold hätte. RosaMaria war immer öfter bei uns, auch ohne Rudi. Mir war klar, dass sie wahrscheinlich überwacht wurde, denn schließlich war sie ja Ausländerin. Beim Telefonieren hörte ich häufig ein Klicken. Für den Fall, dass unser Zimmer abgehört wurde, stellten wir die Musik laut, aber eigentlich drehten sich unsere Gespräche um nichts Außergewöhnliches. Sie erzählte mir von Santiago und ihrem schrecklichen Heimweh. Ich hatte Jahre zuvor einige chilenische Gedichte übersetzt und sah vor meinem inneren Auge Hauseingänge, magere Hunde und Straßenhändler, die Heiligenfiguren verkauften, doch in dem Land, von dem sie sprach, schien es nur Cafes, Jazzclubs und lange Zigaretten zu geben. Wenn sie redete, war es, als hätte sie ein Tamburin in der Kehle. Sie liebte das Tanzen um des Tanzens willen und nicht, weil es eine Kunst war, darum war sie auf der Schule unglücklich, weil sie fand, dass ihr dort eine Starrheit aufgezwungen wurde. Sie musste immer Röcke tragen, dabei hatte sie aus Santiago eine enge, orangefarbene Hose mitgebracht – die Vorstellung brachte mich zum Lachen – und brannte darauf, sie wenigstens einmal anzuziehen. Nur Rudi, sagte -105-
sie, habe sie es zu verdanken, dass sie nicht verrückt werde, und das liege einfach daran, dass er sich gestatte, Rudi zu sein. In der Schule habe er ständig Ärger, vor allem mit Schelkow, dem Direktor. Er wolle sich nicht die Haare schneiden lassen, streite sich bei den Exercicen mit anderen, streue Pfeffer in die Suspensorien seiner Rivalen. Nach allem, was man höre, bringe er in den Kursen, die ihm gefielen – Literatur, Kunstgeschichte, Musik –, hervorragende Leistungen, verabscheue jedoch die Naturwissenschaften und alles, was nicht in seinen Rhythmus passe. Er habe Bühnen-Makeup gestohlen, Lidschatten und grelles Rouge, und im Wohnheim aufgelegt. Sie sagte, er habe keinen Respekt vor den anderen Tänzern, verehre aber seinen Lehrer Alexander Puschkin, der ihn unter seine Fittiche genommen habe. RosaMaria erwähnte Gerüchte, man habe Rudi spätnachts in der Nähe des Jekaterinenplatzes gesehen, wo sich angeblich abartig veranlagte Männer träfen, eine Vorstellung, die sie nicht zu stören schien, was mich wiederum überraschte, denn ich hatte den Eindruck, dass sie einander als Kostüme benutzten. Wir sind nicht ineinander verliebt, sagte sie eines Nachmittags. Nicht? Sie zog die Augenbrauen hoch, und ich fühlte mich, als wäre nicht sie zwanzig, sondern ich. Natürlich nicht, sagte sie. In RosaMarias Gesellschaft bekam ich nach und nach das Gefühl, mich wieder für die Welt zu öffnen. Wir kochten spätnachts noch Kaffee. Sie brachte mir chilenische Dialekte bei und schrieb alte Balladen auf, die ich übersetzte – sie kannte mehr Liebeslieder als irgendjemand in meinem Bekanntenkreis. Durch ihre -106-
Beziehungen gelang es mir, einen neuen Plattenspieler zu bekommen. Ich las alles, was ich kriegen konnte: Gorki, Puschkin, Lermontow, Majakowski, Mao Tse-Tung, einen Roman von Theodore Dreiser, Mitchel Wilson, Dantes Inferno, Tschechow, ja ich las sogar wieder Marx, dessen Schriften ich sehr mochte. Ich übernahm im Institut weitere Arbeiten und machte weite Spaziergänge. Wie immer schickte ich alle paar Monate ein Päckchen an meine Eltern, zusammen mit einem Brief, in dem ich schrieb, Rudi gehe es gut, er mache Fortschritte und habe einen Lehrer gefunden, der ihn verstehe. Mein Vater antwortete in dem einfachen Code, den wir benutzten, das Früchtebrot habe nicht annähernd so viel Rosinen wie sonst enthalten, womit er natürlich meinte, in dem Brief seien Stellen geschwärzt gewesen. Er schrieb, Ufa sei Grau in Grau und noch mehr Grau, und er und meine Mutter würden für ihr Leben gern einmal verreisen. Er fragte mich, ob ich nicht ein paar Hebel in Bewegung setzen könne – immerhin sei Sankt Petersburg doch immer berühmt gewesen für seine mechanischen Werkstätten. Du siehst ihn auf der Rossistraße, in hohen Stiefeln, der lange rote Schal schleift hinter ihm auf der Erde; du siehst ihn mit hochgeschlagenem Kragen, die Hände tief in den Taschen vergraben, die Spitzen und Absätze der Schuhe mit Metall beschlagen, sodass er damit Funken schlagen kann; du siehst ihn in der Kantine Schlange stehen, mit leicht geneigtem Kopf, als betrachte er eine Wunde; du siehst, dass die Kantinenköchin mit dem schwarzen Haarnetz ihm einen Extraschlag Suppe gibt; du siehst, wie er sich über die Ausgabetheke beugt, die Hand der Frau berührt, ihr etwas zuflüstert und sie zum Lachen bringt; du siehst, als er seinen Löffel mit dem Hemdzipfel abreibt, dass sein Bauch flacher und härter geworden ist; du siehst, -107-
dass er schnell isst und sich danach mit einer rauen Hand über den Mund fährt; und du siehst, dass die Kantinenköchin ihn ansieht, als hätte sie in ihm ihren eigenen, lange verlorenen Sohn wieder gefunden. Du siehst ihn im Morgenlicht im Studio unter dem Dach, wo er früher ist als alle anderen und mit intuitiver Leichtigkeit eine Abfolge von Bewegungen ausführt, die zu lernen du selbst drei Tage gebraucht hast; du siehst ihn im Korridor andere beiseite stoßen, und dabei trägt er deine neuen Stulpen, aber als du ihn zur Rede stellst, sagt er nur: Leck mich doch; du siehst ihn ohne Unterhose; du siehst ihn posieren; du siehst, wie er sich mit den Ellbogen einen Weg in die Mitte der ersten Reihe bahnt, wo er sich am besten im Spiegel sehen kann; du siehst ihn ungeduldig mitzählen, wenn die anderen ihre Kombinationen ausführen; du siehst, dass er seine Partnerin fallen lässt, weil sie eine Spur zu langsam ist, und dass er ihr nicht aufhilft, obgleich sie weint und sich möglicherweise das Handgelenk verstaucht hat, und du siehst ihn zu einem der hohen Fenster gehen und Scheiße! über die Theaterstraße brüllen; du siehst ihn im Winter und im Sommer, und jedes Mal erscheint er dir besser als du selbst, und du kannst dir nicht erklären, was da geschieht. Du siehst ihn seine Tanzschuhe schwarz färben und Knöpfe daran nähen, damit sie anders aussehen als alle anderen; du siehst, dass er dein Suspensorium nimmt, sagst aber nichts, bis er es dir schmutzig zurückgibt, und du sagst ihm, dass er es waschen soll, aber er antwortet bloß, dass du einen Haufen scheißen und dein Gesicht hineinstecken sollst; du siehst ihn am nächsten Tag und sagst ihm noch einmal, dass er das Suspensorium waschen soll, und er sagt: Du jämmerlicher Judenlümmel! du siehst, wie er sich grinsend abwendet; du siehst ihn auf der Straße, wo er an dir vorbeigeht, ohne dich auch nur -108-
anzusehen, und du denkst, dass er vielleicht ein bisschen verrückt oder einsam ist oder sich verloren fühlt, aber dann rennt er plötzlich hinüber auf die andere Seite zu der Chilenin, die ihn in die Arme schließt, und Sekunden später laufen sie die Straße hinunter; du siehst ihnen nach und fühlst dich leer und wertlos, bis du beschließt, dass du dich ihm öffnen wirst, dass du sein Freund werden wirst, und darum setzt du dich in der Kantine zu ihm, aber er sagt, dass er keine Zeit hat, dass er etwas Wichtiges zu tun hat, und geht zu der Frau hinter der Ausgabe; du siehst, wie er mit ihr schwatzt, wie er mit ihr lacht, und du sitzt da und wirfst ihm finstere Blicke zu und würdest ihn am liebsten fragen, ob er je einen Menschen kennen gelernt hat, der ihm besser gefällt als er selbst, aber du kennst bereits die Antwort, darum fragst du lieber nicht. Du siehst, dass Alexander Puschkin ihn unter seine Fittiche nimmt; du siehst ihn ständig lesen, denn Puschkin hat ihm gesagt, dass er, wenn er ein großer Tänzer werden will, die großen Romane und Erzählungen kennen muss, und so sitzt er im Hof und beugt sich über Gogol, Joyce, Dostojewski; du siehst, wie er sich den Seiten entgegenbiegt, und du denkst, dass er irgendwie zu einem Teil dieses Buches geworden ist und dass du, wenn du es eines Tages lesen wirst, ihn lesen wirst. Du siehst ihn und ignorierst ihn, aber irgendwie denkst du nur noch mehr an ihn; du siehst, wie er sich einen Bänderriss zuzieht, und bist entzückt, doch dann siehst du ihn tanzen und fragst dich, ob dein Hass vielleicht dazu beigetragen hat, dass die Verletzung so schnell geheilt ist; du siehst, wie die Mädchen ihn beobachten, wie sie sich in seiner Gegenwart produzieren; du siehst ihn vor dem Exercice Kitris Variationen üben, die Füße halb auf Spitze, und alle starren verwundert, denn er tanzt eine Frauenrolle, und selbst die Mädchen halten inne, um ihm -109-
zuzusehen; du siehst ihn das ursprüngliche PetipaExercice üben, bis er es in- und auswendig kann, bis er jede Kombination mit den Händen vorführen kann, und seine Hände sind ein kompliziertes Ballett für sich, kraftvoll und flüssig; du siehst ihn Puschkins Anweisungen stumm und respektvoll befolgen, und du hörst sogar, dass er Puschkin vertraulich mit «Sascha» anspricht; du siehst ihn andere Schüler zurechtweisen, wenn sie einen Schritt falsch ausführen, du siehst, wie er ihre Blicke, ihre Rufe, ihren kleinen Hass auf sich nimmt; du siehst ihn ins Büro stolzieren, wo er den Direktor einen Dummkopf nennt, und siehst, wie er es nach diesem Skandal lächelnd wieder verlässt; später siehst du ihn haltlos weinen, weil er sicher ist, dass man ihn nun nach Hause schicken wird, und noch später siehst du ihn vor dem Büro des Direktors einen Handstand machen, auf seinem Gesicht ein auf dem Kopf stehendes Grinsen, bis Puschkin herauskommt und ihn wieder einmal vor dem Rauswurf bewahrt hat. Du siehst ihn den Eintritt in den Komsomol verweigern, weil sich die Mitgliedschaft nicht mit seinem Trainingsprogramm verträgt, eine Begründung, wie sie noch nie jemand angegeben hat, und er wird vor das Komitee geladen, wo er sich über den Tisch beugt und sagt: Entschuldigt, Genossen, aber was genau ist eigentlich politische Naivität?; du siehst ihn nicken und sich entschuldigen und dann lachend den Korridor hinuntergehen, denn an den Schulungen wird er ohnehin nie teilnehmen; du siehst ihn in der Bibliothek, wo er, Tintenflecke auf dem Hemd, Partituren und Tanznotationen abschreibt; du siehst ihn zur Meisterklasse eilen, nur um zuzusehen, und danach bewegt er seinen Körper in der Erinnerung an das, was er dort gesehen hat; du siehst ihn tun, was du selbst auch getan hast; du siehst es ihn besser -110-
tun, als du selbst es könntest, und dann braucht er es nicht mehr zu tun, weil es zu einem Teil seiner selbst geworden ist; du siehst ihn im Kirow in den Kulissen stehen; du siehst, wie die älteren Tänzer ihm winken; du siehst, wie er vor dem schwarzen Brett steht und liest, dass er die Rolle bekommen hat, die du immer haben wolltest, und so tut, als ließe ihn das kalt. Du siehst ihn überall: auf der Fußgängerbrücke über den Kanal, auf einer Bank im Park beim Konservatorium, am Kai vor dem Winterpalast, in der Sonne vor der alten Kasaner Kathedrale, auf dem Rasen des Sommergartens; du siehst das schwarze Barett, den dunklen Anzug, das weiße Hemd ohne Krawatte, und er verfolgt dich, du kannst ihn nicht abschütteln; du siehst ihn mit Puschkins Frau Xenia spazieren gehen; du siehst, wie sie ihn anblickt, und bist sicher, dass sie in ihn verliebt ist; du hast die Gerüchte gehört, aber du kannst dir nicht vorstellen, dass sie stimmen; du siehst Puschkin selbst, der sagt, dass er eines Tages vielleicht als Solist im Kirow auftreten wird, obwohl du weißt – du weißt! –, dass du der bessere Tänzer bist, und du fragst dich, wo du einen Fehler begangen, wann du dir einen Ausrutscher geleistet hast, denn deine Technik ist besser, du bist versierter, verfeinerter, deine Linie ist besser, dein Tanz ist reiner, du weißt, dass dir etwas fehlt, aber du weißt nicht, was es ist, du hast Angst, du schämst dich, du kannst es nicht ertragen, seinen Namen aus dem Mund anderer zu hören; und dann, eines Tages, siehst du ihn – im Exercice, auf dem Korridor, in der Kantine, in einem der Übungsräume im vierten Stock, es spielt keine Rolle, wo –, und du glaubst, dich selbst zu sehen, du willst dich bewegen, aber du kannst es nicht, deine Füße sind wie festgenagelt, die Hitze des Tages steigt in dir auf und will nicht nachlassen, und du hast ein Gefühl, als wärst du in ein Säurebad -111-
gestiegen, die ätzende Flüssigkeit ist über dir, unter dir, rings um dich her, sie ist in dir, sie brennt, bis er schließlich verschwindet, und da verschwindet auch die Säure, und du bist allein und siehst an dir hinunter, und dir wird bewusst, wie viel von dir selbst verschwunden ist. Geehrter Genosse! In Beantwortung deiner Anweisung vom vergangenen Donnerstag muss ich zugeben, dass das Verhalten des jungen Mannes tatsächlich sehr zu wünschen übrig lässt. Allerdings ist sein Talent so geartet, dass die Strenge der vorgeschlagenen Maßnahmen seine Fähigkeiten, die offensichtlich gewaltig, wenn auch noch nicht in die gehörigen Bahnen gelenkt sind, beeinträchtigen könnte. Er ist sich dessen, was er tut, kaum bewusst, jedoch bestrebt, es nicht nur zu erkennen, sondern auch über das, was er kennt, hinauszuwachsen. Sein sprunghaftes Wesen ist noch formbar, immerhin ist er erst achtzehn Jahre alt. Ich möchte hiermit beantragen, dass man ihm erlaubt, aus dem Wohnheim auszuziehen, damit er – zumindest kurzfristig – bei mir und Xenia in der zum Hof gelegenen Wohnung leben kann, wo er sich die Disziplin, die ihm so fehlt, gewissermaßen osmotisch aneignen wird. Wie stets mit großer Hochachtung, A. Puschkin Kurz nachdem ich den Brief meines Vaters erhalten hatte, begann ich im Bolschoi-Dom, dem KGB-Gebäude am Liteinyprospekt, vorstellig zu werden, um auszuloten, ob seine Verbannung womöglich aufgehoben werden konnte. Meine Mutter hätte allein nach Leningrad kommen können, aber das wollte sie nicht – sie hätte sich ohne ihn -112-
gefühlt, als wäre ihr ein Bein amputiert worden. Julia, schrieb sie, ich werde mich in Geduld fassen. Ich hatte mich früher schon einmal vorsichtig erkundigt, welche Schritte ich unternehmen müsse, um sie aus Ufa herauszuholen, doch man hatte mir bedeutet, das sei aussichtslos. Jetzt aber, da die politische Eiszeit eindeutig vorbei war, hatte ich das Gefühl, diese Möglichkeit sei tatsächlich gegeben. Ich nahm an, dass sie mehr Zeit mit Rudi als mit mir verbringen wollten, doch das spielte kaum eine Rolle: Allein der Gedanke an einen Besuch von ihnen rief alle alten Erinnerungen wach. Die Gesichter hinter den Schaltern im Bolschoi-Dom waren grau. Das Holz der Tresen war schrundig und verkratzt, weil frühere Besucher mit den Stiften zu stark aufgedrückt hatten. Die Wachen fingerten starren Blickes an ihren Gewehren herum. Ich fand heraus, welche Formulare mein Vater ausfüllen, was er sagen, wie er seinen Fall darstellen musste, und schrieb ihm Briefe mit genauen Anweisungen. Monate vergingen, ohne dass etwas geschah. Ich wusste, dass das, was ich tat, gefährlich war, womöglich gefährlicher als alles, was ich je getan hatte: Ich hatte das Gefühl, mein Herz ungeschützt vor der Brust zu tragen, und das war bestimmt nicht sehr schlau. Und ich fragte mich, ob ich nicht alle Menschen in meiner Umgebung kompromittierte, auch Josif, der trotz allem noch mehr zu verlieren hatte als ich. RosaMaria sagte, ihr Vater, der in kommunistischen Kreisen in Santiago Einfluss besaß, könne vielleicht etwas für mich tun, aber ich hielt es für wesentlich klüger, wenn sie sich aus der Schusslinie hielt. Es war gut möglich, dass die Bürokratie mir etwas anhängen würde, dass Durchschläge Wahrheiten enthüllen würden, die mit den Angaben auf den Originalen nichts zu tun hatten – wie in manchen düsteren europäischen Romanen. -113-
Aber beinahe neun Monate später – ich übersetzte gerade ein spanisches Gedicht für den staatlichen Verlag kam ein Telegramm: DONNERSTAG. FINNISCHER BAHNHOF. 10:00
Ich putzte das Zimmer von oben bis unten und kaufte an Lebensmitteln, was ich nur bekommen konnte. Josif sagte nichts und ließ mir freie Hand. Als ich am Bahnhof eintraf, saßen sie auf einer Bank unter der großen Uhr. Sie waren mit einem früheren Zug gekommen. Vor ihnen stand ein riesiger Holzkoffer mit einem groben Lackmuster. Es waren zahlreiche Aufkleber darauf, deren Beschriftung jedoch meist abgekratzt war. Mein Vater trug natürlich seinen Hut, meine Mutter einen alten Mantel mit Pelzkragen. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und schlief mit leicht geöffnetem Mund. Um sie zu wecken, strich mein Vater ihr über die Innenseite des Handgelenks, knapp unterhalb des Ärmels. Sie schlug unvermittelt die Augen auf und schüttelte den Kopf. Ich umarmte sie; sie fühlte sich ungewöhnlich zerbrechlich an. Mein Vater erhob sich, breitete die Arme aus und sagte laut: Sieh nur, ich bin rehabilitiert! Dann senkte er verschwörerisch die Stimme und sagte: Na ja, jedenfalls für drei Monate. Ich suchte den Bahnhof nach Milizionären ab, konnte aber keine entdecken. Meine Mutter sagte ihm, er solle still sein, doch er beugte sich zu ihr und sagte geheimnis-voll: Erst wenn der Morgen kommt, geben die Reisen uns frei. Meine Mutter sagte: Du und deine Gedichte. Er grinste und zeigte auf den Koffer. Julia, mein Lieb-114-
ling, sagte er, du musst uns tragen. Im O-Bus wollte er sich nicht setzen. Mit einer Hand stützte er sich auf seinen Stock, mit der anderen hielt er sich an der Stange fest. Als der Bus anfuhr, verzog er das Gesicht, doch seine Augen waren in ständiger Bewegung. Die meiste Zeit schien er verletzt – seine Stadt war durch Belagerung und Wiederaufbau zum größten Teil verschwunden –, aber hin und wieder schloss er die Augen, als überließe er sich ganz und gar einer Erinnerung, und einmal flüsterte er leise: Petersburg. Ein Lächeln flackerte über sein Gesicht und huschte wie eine Radiowelle zu meiner Mutter und dann zu mir, sodass seine Erinnerungen eine Art Domino-Effekt hatten. Als wir vom Newskiprospekt abbogen, sprang der Stromabnehmer von der Leitung; der Bus blieb mitten auf der Straße stehen. Mein Vater ging zur Tür und wollte den Stromabnehmer wieder einhängen, aber man hatte die Konstruktion der Busse verändert; völlig verloren stand er an der falschen Stelle. Die anderen Fahrgäste drehten sich nach ihm um, und ich sah meinen Vater vor Angst erröten. Meine Mutter winkte ihm, sich zu setzen. Er legte seine Hand auf ihre und schwieg. Josif begrüßte meine Eltern überschwänglich. Meine Mutter hielt ihn an den Schultern gepackt und musterte ihn. Sie hatte bisher nur Fotos von ihm gesehen. Josif wurde rot, machte sich eilig daran, eine Flasche Wodka zu öffnen, und brachte einen langen, förmlichen Trinkspruch aus. Meine Mutter ging im Zimmer umher und berührte dies und das: die Butterdose, die Parteizeitungen meines Mannes, meine halb übersetzten Bücher. Gemeinsam aßen wir ein Festmahl, und danach ging meine Mutter zum Badezimmer am Ende des Korridors, ließ warmes Wasser in die Wanne und nahm ein Bad. Josif entschuldigte sich, er müsse zur Universität. -115-
Als sie aus dem Bad zurückkehrte, sagte meine Mutter: Er ist nicht so groß, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Mein Vater stand am Fenster und sagte: Ah, die Fontanka. Am späteren Nachmittag schlief meine Mutter am Tisch ein. Es gelang mir, sie auf das Sofa zu legen. Mein Vater schob ihr seinen Mantel unter den Kopf. Er strich über ihr Haar, während sie schlief, und obgleich er so zart und zerbrechlich wirkte, schien er sie in seine freigebige Güte einzuhüllen. Bald schlief er ebenfalls, wenn auch unruhig. Am nächsten Morgen wachte Mutter früh auf und traf Vorbereitungen für Rudis Besuch. Sie bürstete ihr Haar und zog ein Kleid an, das roch, als hätte es zu lange im Schrank gehangen. Vater machte einen langen Spaziergang auf dem Newskiprospekt. Er wollte so gern eine Zigarre rauchen, doch alle Kioske waren geschlossen. Ein Nachbar war jedoch so freundlich, mir zwei zu schenken, und Vater roch genießerisch daran und zitierte eine Zeile aus einem litauischen Gedicht über die große Barmherzigkeit von Fremden. Rudi kam natürlich zu spät. Und ohne RosaMaria. Er trug einen zweireihigen Anzug und eine schmale schwarze Krawatte – das erste Mal, dass ich ihn mit Krawatte sah. Er hatte eine einzelne Lilie in ein Blatt Papier gewickelt, das aus einem Schreibheft stammte. Er gab meiner Mutter einen Kuss und überreichte ihr die Blume. Sie strahlte und sagte, er habe sich schon jetzt weiter entwickelt, als sie es sich erträumt habe. In der nächsten Stunde waren sie wie zwei ineinander greifende Zahnräder. Sie hörte ihm zu, und er redete wie ein Wasserfall, perfekt in Modulation und Rhythmus. Er erzählte von der Neigung des Bodens in der Schule, von den Schweißflecken auf der Barre, von bestimmten Bewegungsabläufen, die Nijinski angeblich getanzt hatte, -116-
von den Büchern, die er las – Dostojewski, Byron, Shelley –, und dass er aus dem Wohnheim ausgezogen war und nun bei den Puschkins wohnte. Er sagte: Ich bleibe jetzt noch länger in der Luft. Meine Mutter schien verwirrt. Rudi legte einen Augenblick die Hand auf ihre zitternden Finger. Das Problem war, dass er zu viel gelernt hatte und ihr alles erzählen wollte. Nun war seine alte Lehrerin diejenige, die etwas beigebracht bekam, und das verwirrte sie. Sie nickte, spitzte die Lippen, versuchte, ihn zu unterbrechen, aber er war nicht zu bremsen: der Ablauf der Exercices, die alten Meister in der Eremitage, ein Schritt, den Puschkin ihm beibringen wollte, ein Streit mit dem Direktor, seine Vorliebe für Rachmaninow, die Proben im Kirow, bei denen er dabei gewesen war, die Nächte im Gorki-Theater. Er sagte, er schlafe wenig, er brauche nur vier Stunden Schlaf, und der Rest des Tages sei voll gepackt mit Lernen. Um das Zittern ihrer Hand unter Kontrolle zu bekommen, drehte meine Mutter ihren Trauring, und mir fiel auf, wie dünn sie geworden war: Der Ring glitt mühelos von ihrem Finger. Sie schien außerordentlich müde, doch sie wiederholte wieder und wieder: Recht so, mein lieber Junge, recht so. Schließlich flüsterte mein Vater ihr etwas ins Ohr, und sie legte ihre Stirn auf seine Schulter, erhob sich schwankend, entschuldigte sich und sagte, sie müsse sich etwas ausruhen. Sie küsste Rudi auf die Wange. Er stand stumm da. Das war gut, mein Junge, sagte mein Vater zu ihm. Sie ist sehr stolz auf dich. Doch an der Tür fingerte Rudi an seinem Jackett herum und sagte: Was hab ich falsch gemacht, Julia? -117-
Nichts. Sie ist müde. Sie waren tagelang unterwegs. Ich wollte doch bloß reden. Komm morgen wieder, Rudi, sagte ich. Morgen habe ich Unterricht. Dann übermorgen. Aber er kam nicht, auch nicht in der nächsten Woche. Ich hatte eine Ecke des Zimmers mit einem Wandschirm abgeteilt und meinen Eltern die Matratze dort hingelegt. Josif und ich schliefen auf dem Boden. Sie sprachen davon, sich ein eigenes Zimmer zu suchen, vielleicht in einem Vorort, in einer der Schlafstädte, aber zuvor gab es im Zusammenhang mit ihrer Aufenthaltsgenehmigung, der Rente und ihren Staatsanleihen einiges zu klären. Ihre Visa galten nur für drei Monate. Mutter wurde immer unruhiger, und Vater war außerstande, mit der Bürokratie zurechtzukommen, also war ich diejenige, die versuchte, die Dinge zu regeln. Jeden Tag, wenn ich nach Hause kam, lag meine Mutter auf dem Sofa, den Kopf an ein Kissen gelehnt, während mein Vater rastlos von einem Fenster zum anderen humpelte. Irgendwie hatte er einen Stadtplan von Leningrad aufgetrieben, was ziemlich schwierig war; vielleicht hatte er ihn auf einem Markt erhandelt oder irgendwo einen alten Freund getroffen. Man fragte besser nicht. Nachts breitete er den Plan auf dem Küchentisch aus und suchte nach Straßen, die man umbenannt hatte. Sieh mal an, sagte er laut zu sich selbst, die Schiffstraße heißt jetzt Rote Straße. Wie seltsam. Er notierte alle Veränderungen, all die vorrevolutionären Orte, die ihrer Geschichte beraubt worden waren. Der Englische Kai war jetzt der Kai der Roten Flotte, die Schwimmbadstraße war nach dem Dichter Nekrasow benannt worden. Die Himmelfahrtstraße hieß selbstver-118-
ständlich nicht mehr so, ebenso wenig wie die Auferstehungsstraße, wo man eine orthodoxe Kirche in ein Warenhaus verwandelt hatte. Das Zarendorf hieß jetzt Kinderdorf. Aus der Polizeistraße war die Straße des Volkes geworden. Die Millionärsstraße gab es nicht mehr, und die Weihnachtsstraße war jetzt die Straße der Sowjets, was ihm geradezu monströs erschien. Auch den Verlust anderer Namen empfand er als große Ungerechtigkeit: Moosstraße, Katharinenkanal, Nikolausstraße, Kutscherstraße, Wunderstraße, Nachtigallenstraße, Erlöserstraße, Fünf-Ecken-Platz, Gießereistraße, Metzgergasse, Großer Handwerkerhof, Fälschergasse. Meines Vaters Liebe zur Poesie ließ ihn hinter diesen Umbenennungen nicht nur politische Zusammenhänge vermuten. Eines Tages wird man eine Straße nach den Umbenennern benennen, sagte er. Ich flüsterte, er solle sich vorsehen, was er sage, zu wem er es sage, und vor allem, wann er es sage. Ich bin alt genug, um zu sagen, was ich will. Es war nicht so, dass er das Vertrauen in seine Vergangenheit verloren hatte, aber er erkannte sie nicht wieder: Es war, als hätte er sich auf die klare, fest gefügte Welt seiner Kindheit gefreut, stattdessen aber etwas ganz anderes gefunden. Es schien, als wären die alten Namen mit seiner Zunge verwachsen, als weigerten sie sich, den neuen Platz zu machen. Sein Problem war, dass er mit den Veränderungen nicht Schritt halten konnte, sein Glück hingegen, dass er für diese Unbeweglichkeit nicht abermals bestraft wurde. Als er sah, dass meine Mutter immer kränker wurde, gab er sein besessenes Studium des Stadtplans auf. Sie wollte nicht zugeben, dass sie krank war, doch wir brachten sie trotzdem ins Krankenhaus, spätnachts, mit einem Taxi. -119-
Die Ärzte untersuchten sie behutsam – diese Art von Respekt flößte meine Mutter allen Menschen ein –, konnten jedoch selbst nach einer Reihe von Blutuntersuchungen nichts finden. Sie beharrte darauf, dass irgendetwas in der Luft sei, das sie müde und schläfrig mache. Bringt mich zurück, sagte sie. In unserem Zimmer herrschte eine Atmosphäre der Enge, der Behinderung, der Leblosigkeit. Josif machte mich wahnsinnig mit seiner unverbindlichen Höflichkeit. Wir sprachen kaum noch miteinander. Seit Jahren hatten wir uns voneinander isoliert, und einmal hatten wir sogar versucht, ein russisches Wort für Privatsphäre zu finden schließlich gab es diesen Begriff in den Sprachen, die ich studiert hatte. In gewisser Weise existierte er für Josif in der Physik, als eine unerforschliche Dimension, doch jetzt schien es, als wären alle Dimensionen, in denen wir uns bewegten, unerforschlich. Als ich die wenigen Sachen meiner Mutter aus ihrem Krankenhauskoffer packte, hatte ich auf eine seltsame Weise das Gefühl, damit Josif aus meinem Leben zu entfernen. Für meine Eltern war Rudi – Unser lieber Rudik, wie meine Mutter immer sagte – die einzige greifbare Verbindung zu ihrer unmittelbaren Vergangenheit, doch er hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr sehen lassen, trotz der Nachrichten, die ich in der Ballettschule für ihn hinterließ und in denen ich ihn inständig bat, uns zu besuchen. Schließlich kam er aber doch und verkündete, er werde im Rahmen einer Schulveranstaltung auftreten. Er stand hoch aufgerichtet mitten im Zimmer, die Füße geschlossen, und mit einem Mal wusste ich, dass sein Körper den Tanz jetzt als die einzige mögliche Strategie akzeptiert hatte. Ich werde nur ein paar Minuten auf der Bühne sein, -120-
sagte er, aber ich möchte euch gern zeigen, was ich gelernt habe. Diese Vorstellung brachte wieder Farbe in die Wangen meiner Mutter. Sie war erstaunt über die Wahl, die er getroffen hatte: eine schrecklich schwierige Variation ballerino aus einem auf Notre-Dame de Paris basierenden Ballett. Er behauptete, er habe sie mit Puschkin geübt und werde sie ohne große Mühe tanzen können. Aber du bist noch zu jung, du kannst eine solche Rolle noch nicht tanzen, sagte meine Mutter. Er grinste und sagte: Kommen Sie – Sie werden schon sehen. Ich hatte das Buch von Victor Hugo in meinem Regal, und in den Tagen vor der Aufführung las mein Vater es meiner Mutter vor. Er hatte eine wunderschöne, sonore Stimme und arbeitete erstaunliche Nuancen des Textes heraus. Am Morgen der Aufführung nahm meine Mutter ein besonderes Kleid aus dem Koffer und verbrachte Stunden damit, es zu ändern, und dann stand sie in altmodischem Glanz vor dem Spiegel. Mein Vater zog einen schwarzen Anzug und eine Krawatte an. Sein schütteres Haar hatte er zurückgekämmt, und mir fiel auf, dass er die zweite Zigarre in die Brusttasche des Jacketts gesteckt hatte. Er wollte wie in alten Zeiten eine Droschke nehmen und konnte kaum glauben, dass es keine Pferdekutschen mehr gab. Stattdessen stiegen wir in die Straßenbahn, und als wir an dem Polizeiposten vorbeikamen, drückte mein Vater verstohlen die Hand meiner Mutter. Die Veranstaltung war in der Leningrader Ballettschule, aber wir blieben kurz vor dem Kirow-Theater stehen und bewunderten seine strenge Eleganz. Anna, sagte mein Vater, sind wir nicht schön? -121-
Ja, sagte sie. Zwei alte Dummköpfe. Schön oder Dummköpfe? Beides, sagte er. Wir hatten Plätze auf dem oberen Balkon, der sich im Halbkreis um die Halle zog. Meine Mutter saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Wir waren viel zu fein angezogen. Die meisten anderen Zuschauer waren Lehrer oder Ballettschüler – sie trugen Strumpfhosen, Pullover und Beinwärmer. RosaMaria kam zu uns und stellte sich in ihrem gebrochenen Russisch meiner Mutter vor. Die beiden begannen sofort, sich zu verbünden. Sie flüsterten und lächelten – es war, als wären meine Mutter und RosaMaria Teile desselben Wesens, getrennt durch Jahrzehnte und dennoch vereint durch ein eigenartiges emotionales Band. Während der Vorführung legte meine Mutter die Hand auf RosaMarias Arm. Für die meisten der auftretenden Schüler gab es höflichen Beifall – sie erschienen mir gewandt und routiniert, aber nicht beseelt. Rudi kam als Vorletzter. Er trat auf die Bühne und sah hoch zum Balkon, und die Gestalt meiner Mutter straffte sich noch mehr. Ein Raunen ging durch den Saal. Rudi hatte den Gürtel sehr eng geschnallt. Sein Haar war sorgfältig geschnitten und gekämmt, hinten kurz, doch vorn so lang, dass es ihm in die Augen fiel. Natürlich tanzte er perfekt: leicht und schnell, flüssig, mit gesammelter, beherrschter Form, doch da war noch etwas, das über das Körperliche hinausging – es war nicht nur in seinem Gesicht, seinen Fingern, seinem langen Hals, seinen Hüften, es war etwas Ungreifbares, etwas, das mit dem Kopf nicht zu erfassen war, eine kinetische Wildheit und Durchdrungenheit –, und als der Applaus -122-
erklang, empfand ich geradezu ein wenig Hass auf ihn. RosaMaria war die Erste, die sich erhob, gefolgt von meiner Mutter und meinem Vater, der mich anstupste. Unten auf der Bühne verbeugte Rudi sich auch dann noch, als schon der nächste Tänzer erschien und wütend abseits stand. Schließlich machte Rudi eine ausholende Geste mit dem Arm und trabte hinaus. In den Kulissen erwartete ihn ein kleiner, kahlköpfiger, gut aussehender Mann, der ihm auf den Rücken klopfte. Das ist Puschkin, flüsterte meine Mutter mir zu. Er leistet bei Rudik großartige Arbeit. Worauf mein Vater sagte: Und du bist Anna Wasilewna und hast bei Rudik ebenso großartige Arbeit geleistet. Wir gingen hinaus in den kühlen Frühlingsabend. Es war still in der Stadt. Rudi erwartete uns, wir drängten uns um ihn und gratulierten ihm. Er roch stark nach Schweiß, aber dennoch wollte ich ihm möglichst nah sein und ihn und seine Energie atmen. Er beugte sich zu meiner Mutter und fragte sie, wie er gewesen sei. Sie schien einen Augenblick zu zögern und sagte dann: Du warst wunderbar. Ich glaube, beim Plié bin ich ein bisschen zu tief in die Knie gegangen, sagte er. Mit einer männlichen Geste legte er meinem Vater die Hand auf die Schulter, und dann ließ er uns stehen und ging mit RosaMaria Hand in Hand die Straße hinunter. Wer hätte das gedacht?, sagte mein Vater. Er hatte sich seine letzte Zigarre angezündet und paffte den Rauch in den Himmel. Meine Mutter sah Rudi nach. Seine Beine wirken, als wären sie länger geworden, sagte sie. Das ist doch ganz einfach, sagte mein Vater. Er lächelte und stellte sich mit dem gesunden Fuß auf -123-
die Zehenspitzen. In diesem Augenblick trat Puschkin auf die Straße. Er trug einen braunen Mantel und eine Krawatte. Xenia, seine Frau, begleitete ihn. Sie war mir zuvor schon einige Male auf der Straße aufgefallen. Es war unmöglich, sie zu übersehen – ihre große Schönheit, ihr blondes Haar, die Eleganz ihrer Kleider, die Art, wie sie von innen heraus zu leuchten schien. Sie drehten sich kurz zu uns um und winkten, und ich dachte, was für eigenartige Spiegel sie waren: meine Eltern, die Lehrer des Jungen, blickten die Puschkins an, die Lehrer des jungen Mannes, der seinerseits bereits den Blicken entschwunden war. Meine Mutter sagte sehr förmlich zu den Puschkins: Guten Abend. Darf ich Ihnen meine Glückwünsche aussprechen? Puschkin wandte sich zu uns und sagte: Rudi hat oft von Ihnen gesprochen. Sie lächelte und sagte: Meinen tief empfundenen Dank. Einen Monat später war meine Mutter tot. Sie erlitt in meinem Zimmer eine Hirnblutung und starb im Schlaf. Ich erwachte und sah meinen Vater still neben ihr sitzen, die Hand unter ihrem Kopf. Ich dachte, er müsste weinen, doch er sagte ganz ruhig, sie sei gestorben und bat mich, dafür zu sorgen, dass sie auf dem Friedhof Piskarowskoje beigesetzt werden könne. Dann schloss er die Augen, grub seine Hand tiefer in ihr Haar und flüsterte ihren Namen, immer wieder, bis er wie ein Gebet oder ein leise gesungenes Lied klang. Später legte er ihren Leichnam auf den Tisch und wusch ihn nach alter Sitte. Er benutzte dazu eines seiner alten Hemden und sagte, das sei seine letzte Reverenz vor der Sentimentalität. Sie sah schrecklich abgezehrt aus. Er tauchte den Kragen des Hemdes in warme Seifenlauge und strich mit dem Stoff über ihren Hals und die Schlüssel-124-
beine. Mit dem Ärmel wischte er über ihre Arme und mit dem Vorderteil über ihre kleinen, faltigen Brüste. Es war, als wolle er, dass sie sein Hemd trug, dass sie es mitnahm auf ihre Reise. Er breitete ein Laken über sie, und erst dann sah ich meinen Vater haltlos, untröstlich weinen. Er hatte den Wasserhahn laufen lassen, und aus dem Abfluss drang ein Gurgeln, als stecke all diese Traurigkeit auch dem Haus in der Kehle. Ich ging hinaus und ließ ihn allein. Die Luft war rau und beißend. Als ich zurückkehrte, hatte er sie angekleidet und die traditionellen Münzen auf ihre Augen gelegt. Als wir sie begruben, schien die Sonne mit einiger Kraft. In Piskarowskoje war uns ein Grab mitten in einer kleinen Baumgruppe zugewiesen worden, nicht weit von den Hügeln, unter denen die bei der Belagerung Gestorbenen liegen. Das Licht fiel schräg durch die Bäume, von den Büschen stoben Mücken auf, und kleine Vögel schossen hin und her wie Weberschiffchen. Es gab keine oder kaum eine Zeremonie. Wir hatten dreihundert Rubel Bestechungsgeld bezahlen müssen, um diesen Platz zu bekommen, und noch einmal hundert Rubel für die Totengräber. In der Nähe war ein Mann auf einem kleinen Traktor dabei, das Gras auf den sorgfältig gepflegten und mit Beeten voller roter Rosen eingefassten Massengräbern zu schneiden. Taktvoll stellte er den Motor ab und wartete. Mein Vater hielt seinen Hut vor der Brust, und ich bemerkte die gezackte Kurve der Hecken auf dem Schweißband. Wie viele Jahre hatte er diesen Hut schon getragen, und wie oft hatte sie ihn ihm aufgesetzt? Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, hustete und sagte, er sei nicht in der Stimmung, viele Worte zu machen, aber selbst im Tod habe meine Mutter viele Zeichen hinterlassen, die bewiesen, dass sie hier gewesen sei. -125-
Möge sich ihr Einfluss durch die Luft verbreiten, sagte er. Und dann hustete er ein zweites Mal, sah zu Boden, verzog das Gesicht und wandte den Kopf ab. Durch die Bäume sah ich in der Entfernung eine schwarze SIL-Limousine auf den Friedhof einbiegen, gefolgt von einer ganzen Flotte schwarzer Wagen. Wir sahen einander verwundert an, denn wir dachten, es komme vielleicht ein bedeutender Trauergast, doch die Wagen schlugen den Weg zu einem entfernten Winkel des Friedhofs ein, und wir waren erleichtert, dass wir unter uns blieben. Rudi und RosaMaria standen nebeneinander. Anfangs biss Rudi sich auf die Oberlippe. Ich wollte ihn beschimpfen, ihn ins Gesicht schlagen, damit er wenigstens eine einzige Träne vergoss, aber schließlich gab er seinen Gefühlen nach und begann zu weinen. Mein Vater warf eine Hand voll Erde auf den Sarg. Als wir das Wäldchen verließen, war der Mann auf dem Traktor eingeschlafen, doch er hatte den Hut abgesetzt, der nun leicht auf seinem Schoß lag, und ich dachte, meine Mutter hätte sich über diesen Anblick gefreut. Noch am selben Tag brachten wir meinen Vater zum Bahnhof. Er sagte: Ich fahre heim nach Ufa. Natürlich lag eine gewisse Ironie in der Art, wie er «heim» sagte, aber immerhin hatte er dort die meisten Jahre mit ihr verbracht, und diese Rückkehr hatte neben praktischen Gründen auch etwas, das für sich sprach. Josif begleitete uns zum Finnischen Bahnhof, doch ich bat ihn, mich einen Augenblick mit meinem Vater allein zu lassen. Ich trug den Koffer durch die Menge. Durch die Fenster stießen Lichtsäulen in das Grau. Vor einem Zugfenster -126-
blieben wir stehen. Eine Frau mit Kopftuch sah uns böse an. Mein Vater umarmte mich fest und flüsterte, ich solle stolz auf mich sein und tun, was ich wolle, natürlich im Rahmen des Vertretbaren. Er strich mir über die Wange, und ich schluchzte einmal auf wie ein dummes kleines Mädchen. Über dem Bahnhof hingen wie immer große Dampfwolken, als wollten sie daran erinnern, dass die meisten von uns ihr Leben lang die Luft einatmen, die sie zuvor ausgeatmet haben. Partituren, Bach und Schumann. Klavierunterricht, MalyTheater. Mit Schelkow reden wegen Wehrdienst. Spezialsalz für Fußbäder. Postkarte zu Vaters Geburtstag. Kofferradio besorgen. Mittagspause verkürzen für Dehnübungen an der Barre. Leeren Raum finden. Sascha: Vollkommenheit ist Pflicht. Arbeiten arbeiten arbeiten. Im Schwierigen liegt die Ekstase. Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde. Nietzsche. Ja! Sprechunterricht. Visum für Moskau. Schelkow sagen, er soll Scheiße fressen, noch mehr, als er jetzt schon frisst ihm einen Löffel und einen Eimer bringen. Noch besser: Ihn vollkommen ignorieren – der größte Sieg. Schuhe. Genehmigung. Kleider für Konzert im Konservatorium zur Reinigung. Der Junge im Bus. Wachsamkeit. Weniger schlafen. Morgendliche Übungen. Für Kraft und Körperbeherrschung mach jedes Grand battement in halbem Tempo. Für weitere Kraft lange im Relevé stehen. Neun oder zehn Pirouetten. Ich küsse dir die Füße, Tschabukiani! Cabrioles frontal zum Spiegel und nicht seitlich. Sascha: Du musst im Tanz leben. Mehr denken, -127-
mehr lernen, geschickter sein als andere. Selbst die Perücke muss voller Leben sein! Dreifach-Assemblés-Touren. An der Phrasierung arbeiten. Die anderen beißen gern mal zu, um zu sehen, ob ich aus Gold oder aus Messing bin. Sollen sie. Sie werden sich so oder so die Zähne ausbeißen. Nachmittag eines Fauns. Estrade-Guerra sagt, Nijinskis Ballon habe ausgesehen wie ein Hase, den der Schuss des Jägers getroffen hat: ein Aufbäumen vor dem Fall. Nijinski hat gesagt, es sei gar nicht schwer, in der Luft zu bleiben – man müsse bloß oben ein wenig innehalten. Ha! Anna hatte Recht! Sascha sagt, ein großer Teil von Nijinskis Sprungvermögen sei auf die Kraft in seinen Rückenmuskeln zurückzuführen gewesen. Übung: auf den Händen laufen, um die Rückenmuskulatur zu stärken. Karten für Richter-Konzert. Der Junge in der Eremitage sagt, er hat Beziehungen zum Konservatorium. Gerüchte über Xenia, aber wenn man nicht alles probiert, verschwendet man sein Leben. Den Namen des ukrainischen Dichters herausfinden, der gesagt hat, dass nichts gut sein kann, solange man nicht gelernt hat, Champagner aus seinen Stiefeln zu trinken! Pas de trois aus Guyane mit Fackeln, Pas de deux aus dem zweiten Akt von Schwanensee, Duett aus Korsar mit Sizowa. Für die Feinstruktur Byron lesen. RosaMaria fragen, ob sie meine Strumpfhosen flicken kann. Fingernägel schneiden, damit ich Mascha beim Heben nicht mehr kratze. P. sagen, dass sie aufhören soll, die Phrasen mitzuzählen – sie bewegt beim Tanzen die Lippen. Der Pas de deux ist eine Unterhaltung, kein verdammter Monolog. Vergiss das Gerede, dass F. ein Rivale ist. -128-
Quatsch. Wäre man eine Matratze, würde man bessere Bewegungen zu sehen kriegen. Fünf Dutzend Schuhe verlangen, dann kriegst du ein Dutzend. Die beste Schuhmacherin ist die lispelnde Georgierin. Frisur: schräger Scheitel? Gorki sagt, das Leben wird nie so schlecht sein, dass der Wunsch des Menschen nach etwas Besserem jemals ausgelöscht wird. Ja! Stoffhut im Umkleideraum vergessen. Brief vom baschkirischen Ministerium. Onegin. TschaikowskyPartitur. Im Korsar Byrons Trotz und Romantik zeigen. Sascha: Die größten Künstler sind dazu geboren, die Kunst zu bereichern, nicht sich selbst. Zahnbürste. Honig für den Tee. Du musst tanzen, als ob alles noch einmal aufs Neue ausgedrückt werden müsste. Sascha sagt, das Bekannte weist den Weg zum Unbekannten. Und auch, dass es das Unbekannte ist, das uns schließlich zum Bekannten zurückführt. Du bist nur für einen Teil deines Lebens ein Tänzer. In der restlichen Zeit, sagt er, läufst du herum und denkst darüber nach! Diejenigen, die auf dich angesetzt sind, um dich zu beobachten – wenn du sie ignorierst, verlierst du ein Auge, aber wenn du vor ihnen kriechst, machen sie dich blind. Zusätzliche Übungen in Raum 17. Radio reparieren und Telefon beantragen. Degas-Ausstellung – RosaMaria sagt, er weckt den Schlaf in ihr. Fotos. Xenias Briefe verbrennen. Es gibt eine Geschichte, die mein Mann Rudi erzählte. Er erzählte sie immer wieder, nach den Exercices, wenn sie -129-
beide müde waren und wir zu dritt in unserer Wohnung am Kamin saßen. Ein- oder zweimal spielte Rudi leise Klavier, während Sascha redete. Die Einzelheiten der Geschichte veränderten sich, aber Sascha erzählte sie gern, und Rudi hörte immer aufmerksam zu. Selbst viel später, als Rudi bei uns ausgezogen war und eine eigene Wohnung hatte – als Sascha und ich wieder allein waren –, blieb die Geschichte irgendwie präsent. Dimitri Jachmennikow, sagte mein Mann, war in der Leningrader Ballettwelt des späten 19. Jahrhunderts nur eine Randfigur. Er war ein schmächtiger, kleiner Mann mit schütterem schwarzem Haar, der gern Spargel aß. Er war Choreograph und hatte ein kleines Theater nördlich des Obwodnow-Kanals, zusammen mit seinem Bruder Igor, der Klavier spielte. Die beiden Brüder wurden durch die Mildtätigkeit der jungen Tänzerinnen und Tänzer, mit denen sie arbeiteten, am Leben erhalten: Irgendjemand legte immer etwas Brot vor ihre Tür, sodass sie nicht verhungern mussten. An einem späten Winterabend starb Dimitris Bruder. Er sackte einfach vornüber, sodass sein Gesicht auf die Klaviertasten fiel. Kurz nach der Beerdigung wurde Dimitri blind. Man sagte, dieses zweite Unglück sei durch die starke Verbindung zwischen den beiden Brüdern hervorgerufen worden: Dimitri sei infolge des Schocks blind geworden, und nichts werde ihn heilen können. Er kannte nur den Weg von seinem Haus zum Theater, und nur selten sah man ihn weiter gehen als bis zum Markt, wo er seihen Spargel kaufte. Da es das Einzige war, was er konnte, beschloss Dimitri, weiterhin als Choreograph zu arbeiten. Er verschloss die Tür des Theaters hinter sich. Doch er konnte keinen Tanz mehr leiten – stattdessen kroch er auf Händen und Knien über den Boden, befühlte das Holz, strich mit den Fingern -130-
über die Maserung und rieb hin und wieder sogar seine Wange daran. Er ließ einige Tischler aus dem Viertel kommen und befragte sie über die Eigenschaften des Holzes und über die Länge und Richtung der Maserung. Alle glaubten, er habe vollkommen den Verstand verloren. Abends sah man ihn nach Hause gehen, einen Spargel schief im Mund, und tastend im trübe beleuchteten Eingang seines Hauses verschwinden. Am Jahrestag des Todes seines Bruders öffnete Dimitri die Türen seines Theaters, lud Tänzer zu einem Vortanzen ein und erklärte ihnen, was er von ihnen wollte. Anfangs waren sie nur neugierig – der Gedanke, dass ein Blinder ihnen sagen wollte, wie sie sich zu bewegen hätten, kam ihnen absurd vor –, aber einige tanzten dennoch vor. Als Ersatz für das Klavier seines Bruders ließ Dimitri einen Geiger und einen Cellisten spielen und setzte sich in die erste Reihe. Nach einer Weile wählte er einige Tänzer aus, mit denen er arbeiten wollte. Sie probten mehrere Wochen lang. In dieser Zeit sagte Dimitri kaum etwas, aber dann, aus heiterem Himmel, begann er, sie zurechtzuweisen. Ohne sie zu sehen, war er imstande zu sagen, dass ihre Pirouetten zu langsam waren, dass hier eine Hüfte nicht mit der Schulter korrespondierte und dort ein Sprung im falschen Winkel ausgeführt worden war. Die Tänzer waren sprachlos – nicht so sehr, weil der Choreograph blind war, sondern weil alles, was er sagte, stimmte. Die Aufführung war ein Erfolg. Die Sache sprach sich herum, als im Herbst 1909 ein Artikel darüber in einer örtlichen Zeitung erschien. Dimitri bekam Angebote von größeren Theatern, doch er lehnte sie ebenso ab wie die von Fabriken und Schulen und folgte nicht einmal der Einladung eines Lehrers am KirowTheater, den Dimitris Methode verblüffte. Er organisierte -131-
jedoch einen Gastauftritt Nadia Kutepowas, einer alternden Tänzerin, die sein verstorbener Bruder sehr verehrt hatte. Sie kam zu dem kleinen Theater und tanzte ein Solo, nur für Dimitri. Er bestand darauf, dass keinerlei Musik gespielt wurde. Draußen erwartete eine Menge sein Urteil. Nach zwei Stunden traten die beiden Arm in Arm aus der Tür. Als sie gefragt wurde, wie es gewesen sei, antwortete die Kutepowa, unter Dimitris Anleitung habe sie perfekt getanzt. Mit seiner Hilfe habe sie jede Bewegung außerordentlich gut ausgeführt, daher sei es, wie sie sagte, einer ihrer besten Auftritte gewesen. Dimitri seinerseits sagte, er habe, als die Kutepowa getanzt habe, im Theater eine der Symphonien seines Bruders gehört – die Musik sei durch ihren Körper erklungen, und am Ende ihres Auftritts habe er jeden einzelnen Ton hören können, den sein Bruder je erschaffen habe. Dimitri Jachmennikow hatte den Bühnenbrettern gelauscht. Es war ein heißer Sommer in Ufa, die Stadt lag eingehüllt in den Rauch der Fabriken und die Asche der Waldbrände jenseits des Belajas. Auf den Bänken im Leninpark klebte ein Rußfilm. Das Sitzen und das Atmen fielen mir schwer, und so nahm ich schließlich meinen Mut zusammen und beschloss, mein letztes Geld für die Extravaganz eines Kinobesuchs auszugeben. Ich war seit Annas Tod nicht mehr im Kino gewesen und dachte, ich könnte sie dort vielleicht finden und eine Strähne ihres grauen Haars um meinen Finger wickeln. Das Heimat-Kino lag in der Leninstraße und wirkte ein wenig heruntergekommen: In der großartigen Fassade -132-
zeigten sich winzige Risse, und die Plakate in den Vitrinen waren vergilbt. Drinnen drehten sich die Deckenventilatoren mit voller Kraft und verwirbelten die heiße Luft. An meinem Stock humpelte ich in den Saal, und da ich meine Brille vergessen hatte, setzte ich mich in eine der ersten Reihen. Ich hatte gehört, in der Wochenschau würde ein Bericht über Rudi gezeigt werden – es herrschte geräuschvolle Erwartung. Sein Name wurde von Leuten geflüstert, die vermutlich ehemalige Klassenkameraden waren, junge Männer und Frauen, auch ein paar seiner früheren Lehrer waren dabei. Julia hatte geschrieben, dass in Petersburg junge Frauen vor dem Bühneneingang warteten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Sie hatte erwähnt, dass er sogar vor Chruschtschow tanzen sollte. Der Gedanke war beunruhigend und wunderbar zugleich: Der barfüßige Junge aus Ufa trat in Moskau auf. Ich schmunzelte und dachte an die Spitznamen, die man Rudi in der Schule gegeben hatte: Blondchen, Frosch, Mädchen. All das vergessen, nun, da er Solotänzer am Kirow war – der überhebliche Spott erstickt und in der Siegessuppe gelandet. Nach der Nationalhymne begann die Wochenschau. Er trat als der Spanier in Laurencia auf. Sein Anblick gab mir einen schmerzhaften, aber angenehmen Stich. Für die Rolle hatte er sich das Haar schwarz gefärbt und sich grell geschminkt. Ich merkte, dass ich Annas Hand hielt, und mitten in dem Bericht beugte sie sich zu mir. Rudi sei wild und exotisch, sagte sie. In seiner Vorstellung von Tanz liege eine unverhohlene Unbarmherzigkeit. Sie flüsterte mit Nachdruck, er sei überhaupt zu extravagant, seine Füße seien nicht richtig gestreckt, seine Linie sei nicht ganz korrekt und seine Haare zu lang. Ich dachte: Wie wundervoll – selbst als Geist nahm Anna kein Blatt vor den Mund. -133-
Ich dachte an das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, bei Annas Beerdigung: dieser Ausdruck auf seinem Gesicht, der verriet, dass ihn seine Gabe nun nicht mehr überraschte. Zwischen dem rotznasigen Jungen, der mit einem blauen Auge und auswärts gedrehten Füßen vor dem Opernhaus von Ufa gestanden hatte, und dem jungen Tänzer schienen Generationen zu liegen. Die Wochenschau war vorbei. Ich fühlte mich ein bisschen nostalgisch und döste kurz ein, wurde dann aber von einem plumpen westlichen Film geweckt – Tarzan –, dem Hauptfilm des Tages. Ich ging hinaus ins letzte Sonnenlicht. Die Hitze hatte Schlaglöcher in die unbefestigten Straßen gebrannt. Raben pickten zwischen den vertrockneten Gräsern herum. Über den Wäldern in der Ferne stand der orangefarbene Schimmer der Flammen. In einem der hohen Wohnblocks an der Aksakowstraße spielte jemand Cello. Ich bog in die Straße ein und erwartete beinahe, Rudi zu sehen, den jüngeren Rudi, gefolgt von Anna. Ich hatte vergessen einzukaufen, aber es waren noch ein paar Reste da, Kartoffeln und Gurken. Die Nadel des Grammophons war schon ziemlich abgenutzt, doch sie gab noch ein bisschen Mozart her. Ich dachte an Annas alten Trick und machte einen Knick ins Kissen. Meine Schlaflosigkeit hatte in letzter Zeit beinahe unerträgliche Formen angenommen, und so war ich, als ich am nächsten Morgen erwachte, überrascht nicht so sehr darüber, dass ich wach war, sondern dass ich überhaupt geschlafen hatte. Nach viertägiger Reise trifft seine Mutter in dem Hotel ein, wo er vor seinem ersten Auftritt in Moskau abgestiegen ist. Grauer Mantel und Kopftuch. Erschöpft stellt -134-
sie sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn auf die Wange. Er nimmt ihren Ellbogen und führt sie vorbei an den schweren, mit Samt bezogenen Sesseln, dann zwischen den antiken Möbeln hindurch. Ihre Schulter streift den roten Vorhang, und sie zuckt zurück. Ein Kronleuchter wirft sein Licht auf die riesigen Porträts der Helden der Sowjetunion. Sie treten in den Bankettsaal, wo Premierminister Chruschtschow vorhin die Rede zur Eröffnung der Allunions-Studentenausstellung gehalten hat. Am einen Ende des Saals steht ein langer Tisch mit den Resten des Banketts. Ich habe beim Empfang getanzt, sagt er. Wo? Auf dem Holzpodium da hinten. Nikita Sergejewitsch hat mich gesehen. Er hat geklatscht. Wer hätte das gedacht? Sieh nur, sagt sie. Farida schlurft am Tisch entlang: ein Klecks BelugaKaviar auf dem gestärkten weißen Tischtuch; ein mit Entenpâté verschmierter Teller; der Geruch nach Stör, Hering, Rindfleisch, Trüffeln, Waldpilzen, Käse; die gestauchten Achter des Krendeli-Gebäcks; eine einzelne Schwarzmeer-Auster auf einem blitzenden Teller. Sie führt ein Stück Rauchfleisch zum Mund, überlegt es sich anders, geht weiter, sieht die leeren Eiskübel für die Champagnerflaschen, die Krümel auf dem Boden, die Zigarrenasche auf dem Fensterbrett, die Zigarettenstummel, die Zitronenstücke in den leeren Gläsern, die geknickten und zerbrochenen Zahnstocher, den Chrysanthemenstrauß in der Mitte des Saals. Rudik?, sagt sie. Ja? -135-
Sie geht zum Fenster, sieht auf ihre abgetragenen Stiefel mit den Salzrändern und sagt: Dein Vater lässt dir sagen, es tut ihm Leid, dass er nicht kommen kann. Ja. Er wäre gern gekommen. Ja. Das ist alles, sagt sie. Ja, Mutter. Am Hotelportal tritt ein Wachsoldat zur Seite, als sie hinaus in die Kälte gehen. Rudik hüpft die Straße hinunter, dass die Mantelschöße flattern. Farida lächelt und beschleunigt die Schritte, fühlt sich einen Augenblick ganz leicht. Alles verwebt sich miteinander: Schneeflocken, Stiefel, ein entfernter Stundenschlag. Sie sieht die Menschen in der Nähe, sieht ihn und sieht, dass er gesehen wird. Rudik!, ruft sie. Warte! Sie verbringen den Nachmittag im Zimmer seiner Schwester Tamara, nicht weit vom Kolomenskojepark. Tamara teilt sich das Zimmer mit einer sechsköpfigen Familie. Ihre Ecke ist klein, feucht, voller Gummibäume, an der Wand ein verbleichender Tschiolkowski-Druck, fein gemusterte Teppiche hängen an Nägeln. Ihre Bücher hat sie auf dem Boden aufgestapelt. Die Küche ist feucht und eng. Neben dem Teekessel liegt ein schweres Eisenstück auf dem Herd. Kein Samowar. Die Toilette am Ende des Korridors ist verstopft und übergelaufen, und der Gestank zieht durch das ganze Haus. Tamara macht Tee und viel Aufhebens um einen Teller Kekse. Wie in alten Zeiten, sagt sie. Sie nimmt seine Schuhe und putzt sie. Später streicht sie über den Stoff von Rudis Mantel und fragt ihn, wo er seine -136-
Garderobe schneidern lässt. Er zuckt die Schultern. Das Licht fallt schräg durch die Fenster, und der Nachmittag zieht sich in die Länge. Ich habe etwas für euch, sagt Rudi. Er greift in die Jacketttasche, beugt sich vor und reicht ihnen Karten für die Vorstellung am nächsten Abend. Es sind gute Plätze, sagt er. Die besten. Mutter und Tochter werfen einen raschen Blick auf die Eintrittskarten. Mehr Tee, sagt er zu Tamara, die sogleich aufsteht. Am nächsten Abend sitzen Farida und Tamara nervös im Tschaikowsky-Konzertsaal, während sich die Plätze neben und hinter ihnen füllen. Sie betrachten die mehrstöckigen Kronleuchter, die verzierten Gesimse, die vergoldeten Schnitzereien an den Lampenstielen, die herrlichen Vorhänge mit dem sich wiederholenden Muster aus Hämmern und Sicheln. Als das Ballett beginnt, liegen ihre Hände verkrampft gefaltet auf dem Schoß, doch schon bald halten sie einander an den Händen. Sie sind verblüfft, Rudi zu sehen, nicht nur seine Bewegungen, sondern auch das, was er geworden ist: kraftvoll, präsent, fertig, er beherrscht die Bühne, er verschlingt den Raum, elegant, zornig. Auf ihrem Platz mit dem Plüschbezug beugt seine Mutter sich vor, ehrfürchtig und ein wenig beängstigt. Das ist mein Fleisch und Blut, denkt sie. Das habe ich hervorgebracht. Ja! Eine Kritik von Tschistjakowa in Teatr, Nr. 42, 1959. «Ein Tänzer mit überragender natürlicher Begabung»! «Er fesselt uns mit der Schnelligkeit seiner Tanztempi.» Sascha: Wenn der erste Erfolg kommt, versuche, nicht überrascht zu wirken. Ha! Ja! Ein Rat, wie man mit dem -137-
Publikum umgeht: Steh hoch aufgerichtet da und fülle den gesamten Raum mit einer weiten Armbewegung aus. Wie ein Bauer, sagt er, der das allerletzte Stück Wiese mäht. Oder – vielleicht angemessener – wie ein Scharfrichter, der einen Kopf abschlägt! Den Film von Lenikowski (?), Labrakowski (?) ansehen. Fotos für Mutter. Neue Schuhe. Perücken waschen lassen. Die Jacke muss kurz geschnitten sein, nur bis zur Hüfte, damit ich größer wirke – ach, Scheiße, ich wollte, meine Beine könnten noch wachsen! Zugangsberechtigung zu Spezialgeschäften. Ledertasche mit gutem Schulterriemen, wenn möglich. Vielleicht Schuhe mit Kreppsohlen und enge Hosen, wenn möglich. Tabak für Vater, den Ofen, den Mutter erwähnt hat. Etwas für RosaMaria, vielleicht ein Schmuckkästchen. Er soll die Position halten, als wäre eine Position etwas, das man auf diesem Boden halten kann, mit dieser Stoffbahn unter seinen Füßen. Er ist in der fünften, hat die Arme über den Kopf erhoben. Am Morgen ist er gestürzt und hat sich den Knöchel verletzt, er spürt dort ein Pochen. Das Studio ist hell und luftig, das Licht strömt in zuversichtlichen Portionen durch die kleinen Fenster. Die Zigarette scheint an der Unterlippe des Fotografen zu kleben. Er riecht nach Rauch und Bromid. Außerdem ist da der stechende Geruch der Blitzlichtbirnen, die bei jedem Blitz zerbrechen. Er muss die Birne dann jedes Mal wechseln, sie mit einem Handschuh aus der Fassung unter dem weißen Schirm schrauben. Rudi hat den Fotografen schon gefragt, warum er das natürliche Licht mit dem Blitzgerät aufhellen muss – das erscheint ihm einfach nicht logisch –, aber der Mann hat nur geantwortet: Du tust deine Arbeit, Genosse, und ich tue meine. Rudi bleibt in der Position, in seinem Knöchel hämmert -138-
der Schmerz, und er denkt, wenn er seine Arbeit täte, wenn er wirklich seine Arbeit täte, wäre die Kamera nicht imstande, ihn einzufangen. An der hinteren Wand hängen andere Fotos, sorgfaltig ausgerichtet, datiert, mit kleinen Zetteln. Allesamt Tänzerinnen und Tänzer, aus schmeichelndem Blickwinkel fotografiert, formlos, sogar die Großen: Tschabukiani, Ulanova, Dudinskaja. Der Fotograf tut seine Arbeit in aller Unwissenheit, und Rudi wünscht sich nichts mehr, als die Luft in dem Augenblick, bevor der Blitz aufflammt, mit Bewegung zu erfüllen, sodass auf dem Film nur Verschwommenes zu sehen ist. Der Fotograf benutzt eine Lomo, die schwer und schwarz auf einem Stativ montiert ist, und was für eine Idiotie, beim Fotografieren zu rauchen, aber Rudi braucht die Fotos für das Kirow, also atmet er in den Schmerz. Der Schmerz überrascht ihn, es überrascht ihn, dass sein Körper im Stillstand umso mehr, umso heftiger aktiv ist, und so konzentriert er seine Wut auf den Fotografen, oder genauer: auf die Speckfalten in seinem Nacken. Rudi muss blinzeln, als der Blitz kommt und auf seiner Netzhaut ein einziges blendendes Leuchten hinterlässt. Und noch einmal!, sagt der Fotograf, während er die Blitzlichtbirne herausschraubt, und hält kurz inne, um das Feuerzeug an die erkaltete Zigarette zu halten. Nein, sagt Rudi. Wie bitte? Keine weiteren Fotos, sagt er. Der Fotograf lächelt nervös. Eins noch, sagt er. Nein. Sie sind ein Schwachkopf. Der Fotograf sieht ihm nach, als Rudi die Treppe hinuntergeht, den schwarzen Hut schief auf dem Kopf, sodass die eine Seite seines Gesichts im Schatten liegt. Am Fuß der Treppe bückt Rudi sich, begutachtet die -139-
Schwellung am Knöchel und lockert die Bandage ein kleines bisschen. Ohne sich umzudrehen, winkt er dem Fotografen zu, der sich ungläubig über das Geländer beugt. Schicken Sie sie mir, ruft Rudi. Wenn sie nicht gut sind, fresse ich sie, scheiße sie aus und schicke sie in einem Umschlag an Sie zurück. Er geht zu den Studios im Kirow, wo er trotz der Schmerzen mit der Meisterklasse probt. Ein älterer Tänzer versucht, ihn vom Spiegel zu verdrängen. Rudi täuscht einen Sturz vor und rammt seine Schulter in das Knie des anderen, entschuldigt sich halblaut, kommt wieder hoch und tanzt weiter. Die anderen murmeln, doch Rudi baut sich vor dem Spiegel auf, das Haar hängt ihm bis zu den Augenbrauen, die Schultern sind muskulös. Mitten im Saal vollführt er eine wunderschöne Pirouette. Die Sizowa, seine Partnerin, nickt ruhig, kommt zu ihm und sagt: Du bist verletzt, gib nicht so an. Rudi nickt und macht noch eine Pirouette. Am Fenster sieht er Xenia, elegant, in einem schönen Mantel und mit Kopftuch. Er winkt, eine rasche Handbewegung, sie soll weggehen. Als sie das nicht tut, wendet er sich ab und stellt sich dorthin, wo sie ihn nicht sehen kann. Später feilt er mit der Sizowa an den letzten Feinheiten für Les Sylphides. Sein Knöchel schwillt noch mehr an, doch er tanzt durch den Schmerz und taucht den Fuß am Ende der drei Stunden in einen Eimer mit kaltem Wasser. Dann macht er weiter und probt noch eine halbe Stunde lang. Die Sizowa sieht seinem Werben im Spiegel zu – er ist eigentlich nicht in sich selbst verliebt, sondern in den Tanz. Sie ist zu erschöpft, um die Probe fortzusetzen, und sagt, sie brauche ein paar Stunden Schlaf. Auf dem Korridor kommt sie an Xenia vorbei, die auf -140-
der Treppe sitzt und raucht. Das lange blonde Haar hängt ihr ins Gesicht, ihre Augen sind gerötet und verquollen.Von hinten, aus dem Probenraum, hört sie Rudi, der sich verflucht: Verdammtes Arschloch, deine Beine sind noch immer nicht lang genug! Als ich ein kleines Mädchen in Santiago war, spielten meine Brüder und ich am Totensonntag bestimmte Spiele. Meine Mutter machte einen Korb mit Brot und Maisfrittaten zurecht, und dann gingen wir mit meinem Vater und meinen Brüdern zum Friedhof, wo andere Familien bereits Kerzen in der Dunkelheit entzündet hatten. Hunderte von Menschen waren auf dem Friedhof. Wir hatten eine bescheidene Familiengruft unter Eichen. Die Erwachsenen tranken billigen Rum und erzählten Geschichten. Meine Eltern unterhielten sich über verstorbene Großmütter, die Eheringe in Brot gebacken hatten, über Großväter, die in unterseeische Höhlen getaucht waren, über Onkel, denen im Traum Zeichen offenbart worden waren. Wir Kinder spielten bei den Grüften. Ich setzte meine Lieblingspuppe auf einen Grabstein, und meine Brüder ritten auf Steckenpferden. Später legten wir uns auf die kühlen Steine und spielten, dass wir tot waren. Schon damals, mit sieben Jahren, wollte ich tanzen. Auf den Grabsteinen hatte ich manchmal das Gefühl, Satin an den Füßen zu haben. Es war die einzige Nacht des Jahres, in der wir auf den Friedhof durften – unsere Eltern hatten ein Auge auf uns und machten uns heiße Schokolade, und später schliefen wir in ihren Armen ein. In meiner letzten Nacht in Leningrad kehrten die Erinnerungen daran zu mir zurück wie in einem Traum. In einem Mehrzweckraum im Kirow hatte es eine kleine Abschiedsfeier gegeben, mit Horsd'œvres und russischem Wein, dessen Geschmack entfernt an Handcreme erinnerte. Mein Zimmer lag drei Kilometer vom Kirow -141-
entfernt, aber anstatt mit der Straßenbahn zu fahren, ging ich zu Fuß, folgte den Biegungen der Kanäle und nahm alles in mich auf – eine letzte Verbeugung vor der Stadt. Es war eine der warmen Weißen Nächte. Drei Jahre hatte ich Röcke getragen. Jetzt trug ich meine orangefarbene Hose. Mädchen kicherten und winkten mir zu. Ich war ein bisschen beschwipst von dem Wein. Die geraden Linien der Gebäude waren verschwunden, die Paläste verschwammen, die breiten Straßen verengten sich, und die Bronzestatuen auf der Anitschkow-Brücke schienen zu schwanken. Mir war es egal. Im Geist war ich schon daheim in Chile. An meinem Wohnblock angekommen, rannte ich die Treppe hinauf. Drinnen saß Rudi mit gekreuzten Beinen auf dem Bett. Du hast die Tür nicht abgeschlossen, sagte er. Er war auf der Feier gewesen und hatte sich schon theatralisch von mir verabschiedet, doch ich war nicht überrascht, ihn zu sehen. Meine Koffer waren gepackt, aber er hatte sie geöffnet und die Ausgaben von Dance herausgenommen, die den Zensoren durch die Lappen gegangen waren. Er hatte sie auf dem Bett ausgebreitet und bei den Fotos aus London, New York, Spoleto und Paris aufgeschlagen. Fühl dich ganz wie zu Hause, sagte ich. Er grinste und bat mich, die Gitarre zu nehmen. Und dann saß er auf dem Boden, den Kopf ans Bett gelehnt, und hörte mit geschlossenen Augen zu, und ich dachte an Mama und wie sie mir abends unter den Zweigen des Orangenjasmins vorgesungen hatte. Sie hatte einmal gesagt, ein gutes Leben mache eine schlechte Stimme, und ein schlechtes Leben mache eine gute Stimme, aber beides zusammen mache eine große Stimme. -142-
Nach seinem Lieblingslied kam Rudi zu mir. Ich war noch immer benebelt von dem Wein, und er legte den Finger auf meine Lippen, nahm mir die Gitarre aus den Händen und lehnte sie an die Wand. Ich sagte: Rudi, nein. Er berührte die Knöpfe meiner Strickjacke, umkreiste sie mit dem Zeigefinger, und sein langes Haar küsste meine Stirn. Er strich mit den Händen über meine Taille, über meine Arme bis hinauf zu den Schultern, und sein Griff war unsicher, aber dennoch präzise. Ich lachte und gab ihm einen Klaps auf die Hand. Du feierst deinen Abschied, flüsterte er. Die Knöpfe waren geöffnet. Seine Hände lagen auf meinem Rücken, und seine Beine schmiegten sich bebend an meine. Seit meiner Ankunft in Russland hatte ich mit keinem Mann geschlafen. Ich biss mir auf die Zunge, schob ihn von mir, zog ihn an mich, schob ihn abermals von mir. Schließlich keuchte er, hob mich hoch, legte die Lippen an mein Schlüsselbein und drückte mich an die Wand. Ich lag an seiner Schulter, roch ihn und sagte: Rudi, nein. Ich wandte ihm mein Gesicht zu und sagte: Wir sind Freunde. Sein Mund berührte mein Ohrläppchen: Ich habe keine Freunde. Xenia, flüsterte ich. Abrupt fuhr er zurück. Ich hatte sie eigentlich nicht zur Sprache bringen wollen, der Name war mir nur so herausgerutscht. Mit einem Mal war ich vollkommen nüchtern. Er hatte eine Zeit lang mit Puschkins Frau geschlafen, doch die Affäre war unvermittelt zu Ende gegangen. Obgleich Rudi sie fallen gelassen hatte, sah Xenia ihm bei den Proben zu, kochte für ihn, wusch seine Sachen und -143-
ging auf alle seine Launen ein. Er trat ans Fenster, die Hände vor den Unterleib gelegt, denn seine Erregung war ihm peinlich. Ich lachte nervös. Ich wollte ihn gar nicht beschämen, aber er trat einen Schritt zurück und schlug mit der Faust gegen die Wand. Und für das hier hab ich eine Probe verpasst, sagte er. Für das hier? Für das hier, sagte er. Er stand so dicht am Fenster, dass sein Atem das Glas beschlagen ließ. Am Waschbecken im Badezimmer spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich ins Zimmer trat, stand er noch immer am Fenster. Ich sagte ihm, er solle gehen und erst zurückkommen, wenn er wieder Rudi sei, der Rudi, den man kenne. Er hatte jetzt eine eigene Wohnung, nur acht Straßen entfernt. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Das Kind in ihm schien sich im Glas zu spiegeln, während er mich durch sein Spiegelbild hindurch betrachtete. Er hatte mir oft gesagt, dass er mich liebe, dass wir heiraten und um die Welt tanzen würden – das war unser gemeinsamer Witz in den wenigen Augenblicken gewesen, in denen uns die Worte fehlten, doch jetzt trennte uns das Schweigen. Er schmollte auf eine charmante Art, und ich dachte an die Tage, die wir zusammen verbracht hatten: Wir hatten einander die Füße massiert, waren Schlittschuh gelaufen, hatten an einem Kanal in der Sonne gelegen oder Abende bei Julia verbracht. Vielleicht wirkte der Wein noch immer, ich weiß es nicht, jedenfalls sagte ich schließlich: Komm her, Rudi. Er drehte sich auf Zehenspitzen und strich mit dem an-144-
deren Fuß über den Boden wie bei einer Ronde de jambe. Was? Bitte komm her. Warum? Mach mir das Haar auf. Er wartete, machte ein paar nervöse Bewegungen, kam dann aber und zog mir zögernd und ungeschickt die Spangen aus dem Haar. Er hielt es in den Händen und ließ es fallen. Ich drückte mich an ihn und küsste ihn, und mit einem Mal füllte sich mein Mund mit seinem Atem. Ich flüsterte, er könne bis zum Morgen bleiben, bis halb zehn, denn dann müsse ich zum Flughafen Pulkowo, worauf er lächelte und sagte, sein Kopf sei durch die ständigen Gedanken an mich wie ein ruderloses Schiff, und wir sollten miteinander schlafen, ja, wir sollten uns lieben, denn wir würden einander nie mehr wieder sehen, und das klang so scharf wie eine unumstößliche Tatsache oder wie der erste Klavierton am Morgen. Seine Augen blickten schmal und eindringlich – es war, als hatte man die Nadel eines Plattenspielers unmittelbar vor einer Trompetenfanfare von der Platte gehoben. Seine Hände strichen über mein Rückgrat und zogen mich an ihn, seine Finger wanderten langsam von meinem Hintern zu meiner Hüfte, zu den Oberschenkeln. Ich bog den Rücken durch und schloss die Augen. Er zog fest an meinen Haaren, presste mich an sich, und dann, ganz plötzlich, vergrub er das Gesicht im Kissen und rührte sich nicht mehr. Sascha, sagte er. Immer wieder sprach er den Namen ins Kissen, und da wusste ich, dass wir nicht miteinander schlafen würden. Ich strich ihm über das Haar. Die Nacht verdichtete sich, wir zogen eine Decke über uns, unsere Zehen berührten sich. Er schlief mit flatternden Lidern ein, und ich fragte -145-
mich: welche Träume? In der Nacht erwachte ich und wusste zunächst nicht, wo ich war. Rudi saß auf dem Boden, nackt, die Füße unter dem Bauch gekreuzt, und starrte auf Fotos. Schließlich bemerkte er, dass ich aufgewacht war, sah auf, zeigte auf ein Foto vom Covent Garden und sagte: Sieh dir das an. Es war ein Bild von Margot Fonteyn in ihrer Garderobe. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten gebunden, ihr Gesicht war ernst, die Augen blickten nachdenklich. Sieh sie dir an! Sieh sie dir an! Ich stützte mich auf und fragte ihn, ob er über die Puschkins nachgedacht habe, ob sie ihm im Traum erschienen seien, aber er gebot mir mit einer Handbewegung zu schweigen und sagte, er habe keine Lust, über Trivialitäten zu reden. Wieder vertiefte er sich in die Fotos. Ich fühlte mich überflüssig und klopfte neben mir auf die Matratze. Er legte sich neben mich und begann zu weinen, küsste mein Haar und sagte: Ich werde dich nie wieder sehen, RosaMaria, ich werde dich nie wieder sehen, ich werde dich nie wieder sehen, ich werde dich nie wieder sehen. Den Rest der Nacht schliefen wir umschlungen. Am Morgen verließen wir mit den Koffern das Zimmer. Draußen saß ein Mann in einem dunklen Anzug rauchend auf einer niedrigen Mauer. Als er uns bemerkte, stand er nervös auf. Rudi ging zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Mann riss die Augen auf, stammelte etwas, schluckte. Rudi hüpfte die Straße entlang. Mir ist das scheißegal!, sagte er. Ich scheiße auf sie! Ich will bloß tanzen! Es ist mir egal! Rudi, sagte ich, sei nicht dumm. Ich scheiße auf die Vorsicht, sagte er. -146-
Er sollte bald in der Wiener Stadthalle auftreten, und ich sagte, wenn er nicht aufhöre, so viel Aufmerksamkeit zu erregen, würden sie ihm die Genehmigung entziehen. Das ist mir egal, sagte er. Nur du bist mir nicht egal. Ich sah ihn an, denn ich wollte wissen, ob das wieder mal nur eine seiner Launen war, doch es war schwer zu sagen. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte und dass ich ihn nie vergessen würde. Er nahm meine Hand und küsste sie. Wir luden die Koffer in ein Taxi. Der Fahrer war eine Woche zuvor in Les Sylphides gewesen; er erkannte Rudi und bat ihn um ein Autogramm. Der Ruhm passte Rudi wie ein Mantel – er war neu, aber wie für ihn gemacht. Im Taxi schloss er die Augen und rasselte die Namen der Straßen herunter, an denen wir vorbeikamen, jeden genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich küsste ihn auf die Augen. Der Fahrer hüstelte, als wollte er uns warnen. Ein Wagen folgte uns. Am Flughafen wartete bereits eine Gruppe von Leuten, die sich von mir verabschieden wollten. Ich war aufgekratzt und glücklich bei dem Gedanken, dass ich nach Hause zurückkehrte – im Geist nahm ich schon die Hüllen von den Möbeln und Spiegeln und schmeckte den Staubgeruch, der mich empfangen würde. Julia in all ihrer Schönheit war ebenfalls gekommen. Sie lächelte ihr subversives Lächeln. Das lange, dunkle Haar lag auf ihren Schultern. Ein paar Tage zuvor hatte ich ihr einige Kleidungsstücke geschenkt, und nun trug sie eine leuchtend violette Bluse von mir, die sehr gut zu ihrer dunklen Haut und ihren Augen passte. Ihr Vater hatte ihr geschrieben und einen Brief an mich beigelegt. Darin schrieb er, ich hätte Anna, seine Frau, mit meinem Enthusiasmus glücklich gemacht, und er danke mir, dass ich zu ihrer Beerdigung gekommen sei. Am Ende des -147-
Briefes stand eine etwas rätselhafte Bemerkung über die chilenische Wüste: Er schrieb, er habe sich immer danach gesehnt, die Atacama zu sehen – eine Wüste, in der es seit vierhundert Jahren nicht geregnet habe –, und sollte ich jemals dort hinkommen, so solle ich ihm zu Ehren eine Hand voll Erde in die Luft werfen. Ich küsste Julia zum Abschied und schüttelte den anderen die Hand. Mein Flug ging nach Moskau, dann weiter nach Paris und von dort nach New York und schließlich nach Santiago. Ich wollte Rudi Lebwohl sagen, aber er war verschwunden. Ich drängte mich durch die Menschen und rief seinen Namen, doch zwischen all den Passagieren und Milizionären war er nirgends zu sehen. Ich rief noch einmal, und schließlich drehte ich mich um und ging in Richtung der Glaswand, hinter der sich die Passkontrolle befand. In diesem Augenblick entdeckte ich weit entfernt in der Menge seinen Kopf. Er war in ein angeregtes, ernsthaftes Gespräch mit jemandem vertieft – zunächst dachte ich, es wäre der Mann, der uns nachspioniert hatte, aber dann sah ich, dass es ein anderer junger Mann war, dunkelhaarig, gut aussehend, mit dem Körper eines Athleten. Er trug Jeans, was in Leningrad eine Seltenheit war. Der junge Mann berührte Rudi sanft an der Armbeuge. Mein Flug wurde aufgerufen. Rudi kam zu mir und umarmte mich. Er flüsterte, er liebe mich, er könne kaum ohne mich leben, er werde ohne mich verloren sein, ja, ruderlos, bitte komm bald wieder, er werde mich schrecklich vermissen, wir hätten miteinander schlafen sollen, es tue ihm Leid, er wisse nicht, was er ohne mich tun solle. Er sah über seine Schulter. Ich nahm sein Kinn und drehte sein Gesicht wieder zu mir, und er lächelte – ein selt-148-
samer und beängstigender Charme. Bericht über einen Zwischenfall an Bord des Aeroflot-Fluges BL 286 Wien-Moskau-Leningrad, 17. März 1959 Infolge von Umständen, die sich dem Einfluss der Flugge-sellschaft entziehen, war die Maschine für diesen Flug nicht mit Servierwagen ausgestattet. Das war den Passa-gieren bereits am Flughafen mitgeteilt worden. Beim Einsteigen wurde jedoch bemerkt, dass die Zielperson, ein Künstler des Volkes, einen Karton Champagner mit an Bord nahm. Die Zielperson gab zunächst vor, große Flugangst zu haben, wurde dann ausfallend und beklagte sich über den Mangel an Essen und Getränken. Während des Fluges brachte sie ohne Wissen der Flugbegleiter eine Flasche an sich, schüttelte sie und verspritzte den Inhalt in der Kabine. Sodann ging die Zielperson herum, bot den anderen Passagieren Champagner an und schenkte diesen in Pappbecher ein. Der Champagner weichte die Becher auf, sodass sie undicht wurden. Einige Passagiere beschwerten sich über nasse Kleider und feuchte Sitze, andere begannen zu singen und zu lachen. Die Zielperson entnahm dem Karton weitere Flaschen. Als man sie zur Rede stellte, benutzte sie unflätige Schimpfwörter. Die Zielperson bemerkte, heute sei ihr einundzwanzigster Geburtstag, gestikulierte und sagte, sie sei tatarischer Abstammung. Gegen Ende des Fluges kam das Flugzeug in Turbulenzen, und zahlreichen Passagieren wurde übel. Die Zielperson schien zunehmend verängstigt, fuhr jedoch fort zu schreien und zu singen. Als eine Führungsperson der Balletttruppe, zu der die Zielperson gehört, sie bat, sich zu beruhigen, antwortete sie mit einem weiteren Schimpfwort und verspritzte unmittelbar vor der Landung die letzte Flasche Champagner. Nach der Landung in Moskau wurde eine Ermahnung ausgesprochen, und die Zielperson beruhigte sich. Nach -149-
dem Aussteigen in Leningrad machte sie eine Bemerkung zum Flugkapitän, deren Inhalt nicht in Erfahrung zu bringen war. Kapitän Solenorow meldete sich vor dem Rückflug nach Moskau krank.
Er geht zum Bett, zieht sich das Hemd über den Kopf, öffnet den Knopf seiner Hose und steht nackt im Licht der Lampe. Er sagt zu dem Piloten: Mach die Vorhänge zu, lass das Licht brennen, sieh nach, ob die Tür abgeschlossen ist. Spätnachts, wenn man die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet hatte, um Strom zu sparen, und es still geworden war, kamen ein paar von uns aus allen Teilen der Stadt zum Jekaterinenplatz, zum alten Staub von Leningrad, um unter den Bäumen an der dem Theater zugewandten Seite des Platzes auf und ab zu gehen. Leise. Unauffällig. Wenn die Miliz uns anhielt, hatten wir unsere Papiere und unsere Ausreden: die Arbeit, die Schlaflosigkeit, die Frauen, die Kinder zu Hause. Manchmal winkte einer, den wir nicht kannten, aber wir waren nicht dumm und gingen schnell weiter. Auf dem Newskiprospekt fuhren Wagen vorbei, deren Scheinwerfer uns erfassten und unsere Schatten auslöschten – einen Augenblick war es, als wären unsere Schatten mitgenommen worden zum Verhör. Wir sahen es vor uns: wie wir im Gefangenentransporter saßen, unterwegs ins Lager, weil wir Goluboys waren, blaue Jungs, Perverse. Wenn man uns verhaftete, würde das schnell und brutal vor sich gehen. Zu Hause hatten wir für diesen Fall ein Taschchen versteckt. Die Drohung hätte eigentlich ausreichen sollen: Wälder, Blechgeschirr, Baracken, Stockbetten, Strohsäcke auf Holzunterlagen, fünf Jahre, das Klirren von Metall auf gefrorenem Holz. Doch es gab Nächte, in denen der Platz -150-
still dalag und wir im Nebel am Zaun standen, rauchten und warteten. Ein hoch gewachsener, dünner Junge bohrte mit der Taschenmesserklinge in der Feder seiner Uhr und schnitzte an der Zeit herum. Die Uhr war an einer Kette befestigt, er ließ sie an seiner Hüfte hin und her schwingen. Jeden Donnerstag kamen zwei Brüder aus der Fußgängerunterführung, frisch aus dem Bad in der Fabrik, man sah erst ihre dunklen Haare, dann ihre abgetretenen Schuhe. Unter einem Baum stand ein alter Veteran. Er konnte viele der großen Liszt-Rhapsodien pfeifen und sagte oft laut: Warum soll man seine Freude erst finden, wenn man tot ist? Er blieb bis zum Morgen, wenn der entfernte Pfiff der Flussdampfer ertönte. Manchmal wurden die Vorhänge in den Häusern gegenüber dem Platz geöffnet und wieder geschlossen, in den Fenstern erschienen Gestalten und verschwanden. Schwarze Wolgas lösten sich vom Straßenrand und fuhren durch die dunklen Straßen davon. Nervöses Lachen erklang. An der Ecke wurde Zigarettenpapier eingerollt und angeleckt. Schnupftabaksdosen wurden geöffnet. Keiner trank etwas – der Alkohol hätte die Zunge gelöst und den Lebenden den Atem von Toten verliehen. Unsere Kragen hatten Schweißflecken. Wir stampften mit den Füßen auf und bliesen in die Handschuhe, wir trieben unsere Körper über die normale Müdigkeit hinaus, und dann trieben wir sie noch einmal weiter, bis wir glaubten, nie mehr schlafen zu müssen. Die Nacht ging, unser Begehren war verborgen, als wäre es in das Futter unserer Mantelärmel eingenäht. Und wir zogen unsere Mäntel ja nicht einmal aus – es reichte die Berührung, das Beben des Erkennens, mit dem unsere Ärmel sich berührten, wenn wir einander Feuer gaben. Auch der Hass. Der Hass auf diese große Ähnlichkeit. -151-
Die Türen des Theaters öffneten sich spät, um die Schauspieler, Tänzer und Bühnenarbeiter hinauszulassen. Manchmal kamen sie den ganzen Weg vom Kirow, zwanzig Minuten. In Schals, Handschuhen, Wadenwärmern lehnten sie am schmiedeeisernen Zaun. Ein Junge mit sandfarbenem Haar hob den Fuß, bis er auf einer Querstange des Zaunes lag, und streckte sich mit dampfendem Atem, die Ledermütze ins Genick geschoben, bis der Kopf das Knie berührte. Sein Körper bewegte sich mit solcher Leichtigkeit – Zehen Füße Beine Brust Schultern Hals Mund Augen. Selbst die Ledermütze schien sich der Art, wie er sie auf- und absetzte, angepasst zu haben. Meist verschwand er bald wieder. Er war privilegiert und konnte anderswo hingehen – in Keller, Gewölbe, Wohnungen –, aber ein- oder zweimal blieb er und streckte den Fuß in die Luft, bis er die Oberkante des Zaunes berührte. Wir gingen an ihm vorbei und sogen seinen Geruch ein. Er sagte nie ein Wort. Wir warteten darauf, dass er sich wieder einmal am Platz zeigte, aber er wurde immer bekannter, sein Foto war in den Zeitungen und auf Plakaten. Der Gedanke an ihn begleitete uns. Beim ersten Hauch des Morgens, wenn die Straßenbeleuchtung wieder aufflackerte, gingen wir auseinander, verteilten uns in die Straßen. Einige hielten Ausschau nach dem Jungen mit der Uhrkette, einige nach den Brüdern aus der Fabrik oder dem Jungen mit dem sandfarbenen Haar, nach seinem Fußabdruck auf dem feuchten Bürgersteig, nach seinem Mantel, der sich beim Gehen bauschte, nach dem Schal, der ihm über den Rücken hing. Bei den steinernen Treppen, die hinab zum dunklen Wasser eines Kanals führten, wurde das Licht des Mondes manchmal von einem vorbeigehenden Schatten verdeckt, und dann wandten wir uns um und folgten ihm. -152-
Aber selbst so nahe dem Morgen war stets der Gedanke präsent, dass sich unter dem Eis vielleicht die Strömung des Wassers verbarg.
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3 London 1961 Jeden Freitag torkeln die Betrunkenen vorbei, laut und nach Whisky stinkend, nach Pisse und Mülleimern, und er streckt die Hand aus dem Fenster und gibt jedem einen Schilling, wie er es seit Jahren tut, sodass inzwischen fast jeder Penner rings um den Covent Garden weiß, wo man sich ein bisschen Geld abholen kann: bei der Fabrik hinter dem Royal Opera House, wo sich aus dem vorletzten Fenster, das nur freitags geöffnet ist, der Mann in mittleren Jahren, der Glatzkopf mit der Brille, beugt und sich ihre Geschichten anhört – Meine Mutter hat die Schwindsucht, mein Onkel hat sein Holzbein verloren, meine Tante Josephine kriegt immer Zustände – und ganz gleich, wie die Geschichten lauten, zu jedem sagt: Hier hast du, Schilling um Schilling, den größten Teil seines Lohns, sodass er nicht mit der U-Bahn nach Hause zu seinem Zimmer in Highbury fahren kann, sondern die gut acht Kilometer zu Fuß zurücklegen muss, in gebeugter Haltung, den flachen Hut aufgesetzt, Damen, Zeitungsverkäufern und Betrunkenen zunickend, von denen ihn einige erkennen und versuchen, ihm noch einen Schilling abzuschwatzen, den er ihnen aber nicht geben kann, denn er hat genau ausgerechnet, wie viel er für Miete und Essen braucht, und so sagt er: Tut mir Leid, Kumpel, tippt sich an den Hut und geht weiter, wobei die Plastiktüte bei jedem Schritt an seine Wade schlägt, stapft den ganzen Weg durch Covent Garden, Holborn und Grays Inn, die Rosebery Avenue entlang, die Essex Road hinunter bis nach Newington Green, während sich der Himmel bereits -154-
dunkel färbt, biegt in die Poet's Road ein und geht zu dem roten Backsteinhaus Nummer 47, einer Pension, deren Wirtin, eine Witwe aus Dorchester, ihn an der Haustür, bei der ebenholzfarben gebeizten Standuhr und den beiden auf den Hinterbeinen tänzelnden Pferden, freundlich begrüßt, und er verbeugt sich leicht, sagt: Abend, Mrs. Bennett, steigt die Treppe hinauf, vorbei an den Bildern von Enten, die er gerade rückt, wenn ein anderer Gast sie im Vorbeigehen gestreift hat, sechzehn Stufen, und betritt dann sein Zimmer, wo er endlich die Schuhe auszieht und denkt, dass er sie mal wieder putzen müsste, wo er die Krawatte lockert und sich einen Scotch aus dem silbernen Flachmann hinter dem Bett einschenkt, nur ein Schlückchen, und tief seufzt, als der Alkohol durch seine Kehle rinnt, wo er die Plastiktüte öffnet und die Schuhe auf den Tisch stellt, um ihnen den letzten Schliff zu geben – hier muss das Gelenk verkürzt und dort das Seitenteil verlängert werden, bei diesem muss das Zugband unterfüttert und bei jenem der Absatz flacher gemacht werden –, ordentlich und akkurat wie immer, und als er damit fertig ist, wickelt er jeden einzelnen Schuh in Plastikfolie ein und achtet dabei darauf, dass die Folie keine Falten schlägt, denn er hat einen Ruf zu verlieren, und alle Ballerinas, alle Choreographen, alle Opernhäuser wenden sich mit ihren Sonderwünschen an ihn: ein Fuß, der in Höhe der Zehen so breit und an der Ferse so schmal ist, dass er den ganzen Schuh dehnen muss; ein Fuß, bei dem der vierte Zeh ungewöhnlich lang ist, länger als der dritte; er löst das Problem einfach dadurch, dass er eine Naht an dieser Stelle etwas lockert; ein Schuh, der ein festeres Gelenk, eine höhere Hinter-kappe und eine weichere Sohle haben soll; er ist berühmt für seine handwerklichen Kunstgriffe, -155-
man spricht über ihn, die Tänzer mit den spezifischen Problemen und die, die einfach bloß mäkelig sind, sie schreiben ihm Briefe, schicken Telegramme, besuchen ihn manchmal sogar in der Fabrik – Tritt vor deinen Schöpfer! –, besonders die vom Royal Ballet, und sie sind so feinsinnig, einfühlsam und dankbar, am meisten von allen Margot Fonteyn, seine Lieblingstänzerin, die einmal erstaunliche drei Vorstellungen mit einem Paar Schuhe getanzt hat und deren Anforderungen schrecklich verzwickt sind: ein sehr schmales Blatt, tief geschnittene Seitenteile, eine zusätzliche Versteifung für die Spitzen, breite Falten für bessere Rutschfestigkeit, und er ist der einzige Schuhmacher, an den sie sich wendet, sie verehrt ihn, sie findet, dass er der vollkommene Gentleman ist, und umgekehrt ist sie die einzige Ballerina, deren Foto über seinem Arbeitstisch hängt – Für Tom, herzlich, Margot –, und ihm stehen die Haare zu Berge, wenn er daran denkt, was sie mit seinen Schuhen anstellt, wenn sie sie erst einmal hat, wie sie den Schaft knetet, um ihn geschmeidiger zu machen, wie sie sie gegen den Türrahmen schlägt, damit der Einstieg weicher wird, wie sie sie wieder und wieder biegt, damit sie perfekt sitzen und es sich anfühlt, als hätte sie sie schon eine Ewigkeit getragen; ein Gedanke, der ein kleines Lächeln auf sein Gesicht zaubert, als er die Schuhe ordentlich auf das Fensterbrett stellt, bevor er den Pyjama anzieht, niederkniet, zwei kurze Gebete murmelt und zu Bett geht, wo er nie von Füßen oder Schuhen träumt, und wenn er am Morgen erwacht, schlurft er den Korridor hinunter zum Gemeinschaftsbad, wo er sich einseift, den in den letzten Jahren grau gewordenen Bart rasiert und anschließend Wasser in einen Kessel laufen lässt, den er in sein Zimmer mitnimmt und auf die Kochplatte stellt, und wenn der Kessel pfeift, brüht er sich einen Tee mit Milch, die er -156-
über Nacht auf das Sims gestellt hat, damit sie kühl bleibt; dann nimmt er die Schuhe von der Fensterbank, macht sich wieder an die Arbeit und verbringt den ganzen Vormittag mit seinen Schuhen, obgleich die Samstage nicht als Überstunden abgegolten werden, aber das macht ihm nichts aus, er genießt die ständige Wiederholung und freut sich über die unterschiedlichen Anforderungen: Die Schuhe der Tänzerinnen sind so viel diffiziler und müssen so viel feiner gearbeitet werden als die Schuhe der Männer, die Franzosen legen mehr Wert auf Eleganz als die Engländer, die Spanier wollen weichere Lederpolster, die Amerikaner nennen ihre Schuhe «Slipper» – wie ihm dieses Wort zuwider ist! –, und er denkt oft an die Kräfte, die auf diese Schuhe einwirken, an die Stöße, die Zerreißproben, aber natürlich auch an die winzigen Schnitte, die chirurgischen Eingriffe, die er vornimmt, an die liebevolle Sorgfalt, an die Tricks, gelernt von seinem verstorbenen Vater, der vierzig Jahre lang dieselbe Arbeit gemacht hat: wenn du am Blatt arbeitest und es zu steif ist, trag einfach ein bisschen Pomade auf, dann wird es weicher; wisch den Staub nicht nur vor und während der Arbeit vom Satin, sondern auch und vor allem, wenn der Schuh fertig ist; stell dir vor, dass du der Fuß bist; und das Einzige, was den Rhythmus der Arbeit unterbricht, ist das Fußballspiel jeden Samstag, denn dann geht er zu Fuß den knappen Kilometer die Straße hinunter, um Arsenal spielen zu sehen, und jedes zweite Wochenende, wenn die erste Mannschaft auswärts spielt, feuert er die zweite an, den rotweißen Schal um den Hals gewickelt, auf einem Stehplatz, für den er sich ein besonderes Paar Schuhe gemacht hat, mit denen er zehn Zentimeter größer ist, denn er ist ein kleiner Mann und -157-
will über die Köpfe der anderen Zuschauer hinweg sehen können: Arsenal! Arsenal! – das Wogen der Menge, wenn der Ball über das Spielfeld fliegt, wenn sie flanken, dribbeln, tunneln, volley schießen, und das Ganze ist vielleicht gar nicht so viel anders als Ballett, bei beiden kommt es darauf an, wie viel Gefühl einer in den Füßen hat, wobei er allerdings – auch dies etwas, das er von seinem Vater übernommen hat – nie auf den Gedanken käme, ins Ballett zu gehen, halt dich von den Theatern fern, Junge, geh nicht dahin, hat keinen Sinn, dir anzusehen, wie deine Schuhe ruiniert werden, pass den Tänzern deine Schuhe an, da hast du genug zu tun, und zur Halbzeit schweifen seine Gedanken wieder zurück zu den Schuhen in seinem Zimmer, er denkt darüber nach, wie er sie verbessern könnte, bis die Menge wieder aufschreit und die Mannschaften einlaufen, und dann ertönt der schrille Pfiff, das Spiel wird fortgesetzt, Jackie Henderson stößt an, George Eastham stürmt über den Flügel, flankt in die Mitte zu David Herd, der verwandelt, und der Schuhmacher springt in seinen falschen Schuhen in die Luft und reißt sich den Hut vom Kopf, sodass man seine Glatze sieht, und nach dem Spiel geht er in der singenden Menge nach Hause, wird mitgerissen und manchmal von größeren Männern an die Wand gedrückt, aber es ist nicht weit bis nach Hause, wo er zu seinem Unbehagen an der Tür Mrs. Bennett begegnet, die noch nicht dahinter gekommen ist, warum er samstags größer ist als sonst – Ein Tässchen Tee, Mr. Ashworth? Nein, danke, Mrs. Bennett –, und hinauf in sein Zimmer, wo er seine Arbeit begutachtet, die Pappe glättet, wo er eine winzige, für jedes normale Auge unsichtbare Verdickung entdeckt oder das Gelenk mit einem -158-
Bimsstein abschleift, und dann reiht er die Schuhe neben seinem Nachttisch auf, sodass sie am Sonntag, wenn er ausgeschlafen hat, das Erste sind, was er sieht, und sein Herz erfreuen, und sogar in der Kirche denkt er an sie, wenn er nach dem Gottesdienst mit schweren Schritten zwischen Frauen mit Hut und Schleier durch den Mittelgang zum Portal geht und hinaus ins Sonnenlicht tritt, tief Luft holt, einen erleichterten Seufzer ausstößt, die Kirche hinter sich lässt, an den Vorortgärten vorbeigeht und den Rest des Sonntags als Tag der Ruhe betrachtet, ein Pint Bitter trinkt, eine Kleinigkeit isst und auf einer Bank im Park die Zeitung liest: Es ist der 6. November, zwei Tage nach seinem neunundfünfzigsten Geburtstag – Revision des Haager Abkommens geplant, US-Anklage gegen kubanischen Spion, Sowjetischer Tänzer in London erwartet –, aber das weiß er ohnehin schon, denn die Zeichnungen der Füße sind letzte Woche gekommen, und er soll gleich morgen früh mit der Arbeit an den Schuhen beginnen, ein Gedanke, der ihn beschäftigt, während er zu Bett geht, und zehn Stunden später steigt er am Covent Garden hinauf ins Licht der Sonne und geht, begierig, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, zur Fabrik, wo Mr. Reed, der Chef, ihm auf die Schulter klopft – Guten Morgen, Tom, altes Hans – und er die am Wochenende fertig gestellten Spitzenschuhe im vorderen Büro abgibt, und dann geht er in die Werkstatt, zieht den Mantel aus, bindet sich die große weiße Schürze um, schaltet die Öfen an, stellt die Temperatur auf 22 Grad ein – warm genug, um den Leim aushärten zu lassen, aber nicht so heiß, dass der Satin verschmort – und geht dann hinunter in den Lederraum, denn er will sich ein paar gute, strapazierfähige Häute aussuchen, bevor die anderen Schuhmacher kommen, und er riecht an dem Leder, streicht mit der Hand darüber und geht dann, die Häute -159-
unter den Arm geklemmt, eine Dose Leim in der Hand, hinauf an seinen Arbeitstisch, und jetzt erscheinen nach und nach die anderen, erzählen von Cricketspielen, ihren Frauen und ihren Wochenendkatern und nicken ihm zu: Er ist der Beste von ihnen, und sie begegnen ihm mit großer Achtung, denn er ist ein Ashworth, und das waren und sind die besten Schuhmacher, echte Handwerker, und das Zeichen, das ihre Schuhe tragen, ist seit eh und je ein schlichtes a ein bisschen stärker verziert als irgendeines der Zeichen, die die anderen Schuhmacher benutzen: ein Schnörkel, ein Kreis, ein Dreieck; sie setzen sie auf die Sohlen der Schuhe, damit die Tänzer wissen, von wem sie stammen, und es gibt sogar Verehrer, die in den Mülltonnen hinter den Theatern wühlen, um die zertanzten Schuhe zu bergen und zu sehen, wer sie gemacht hat; die Ashworths sind sehr begehrt, doch Tom lässt sich durch Druck nicht aus der Ruhe bringen, er geht in seiner Arbeit auf und studiert, die Brille auf der Nasenspitze, die Zeichnungen, die man von den Füßen des Russen gemacht hat, und die Sonderwünsche, die aus Paris übermittelt worden sind: die Größe, die Länge, der Umfang der Zehen; der Winkel, in dem die Zehennägel stehen, der Fußballen, der Verlauf der Bänder zum Knöchel; die Breite der Ferse, die Hornhäute, die Knochenvorsprünge; und aufgrund der Zeichnungen weiß er, was für ein Leben diese Füße hinter sich haben: Ihr Eigentümer ist in barfüßiger Armut aufgewachsen, und zwar – das schließt er aus der ungewöhnlichen Breite der Knochen – ist er nicht auf Gras, sondern hauptsächlich auf Beton gelaufen, hat seine Füße dann in zu kleine Schuhe gezwängt, hat später als andere Tänzer mit dem Tanzen -160-
begonnen – darauf deutet die Tatsache hin, dass die Füße relativ klein, aber recht breit sind: Größe 7 EEE –, und danach hat er seinen Füßen durch exzessives Üben Gewalt angetan, denn sie sind ganz kantig, verfügen aber über bemerkenswert viel Kraft, und Tom Ashworth reckt sich, lächelt, schüttelt die Hände aus, vertieft sich in die Arbeit, und macht, stumm und mit gebeugtem Kopf, als wäre er in Trance, in der ersten Stunde ein paar Männerschuhe, in der zweiten drei Paare, was ein für seine Verhältnisse langsames Tempo ist, immerhin sind vierzig Paare bestellt, das Pensum eines ganzen Tages, vielleicht auch zweier Tage, wenn er auf Schwierigkeiten stößt, denn der Russe will Schuhe mit umgekehrt verlaufendem Bänderzug, was bedeutet, dass er zwei große Hakennadeln verwenden muss, und diese Aufgabe – auch wenn sie viel leichter ist als die Anfertigung von Spitzenschuhen für eine Ballerina – erfordert Zeit und Akkuratesse, und er hält erst inne, als ein Ruf den Beginn der Mittagspause verkündet, ein Augenblick, den er genießt – Sandwiches und Tee –, auch wenn die jüngeren Gesellen ein bisschen vorlaut sind: Na, wie geht's den Kommunistenschuhen?, worauf er nur nickt und lächelt – als die Kollegen die Zeichnungen sahen, riefen sie: Übergelaufen, dass ich nicht lache! Wohl eher überkandidelt! Er ist ein verdammter Roter, stimmt's? Nein, er ist einer von uns. Einer von uns? Ich hab ihn im Fernsehen gesehen, und er sah am wie eine Schwuchtel! –, und als die Mittagspause vorbei ist, studiert er wieder die Zeichnungen, besorgt, er könnte irgendwo einen Fehler gemacht haben, die Zahlen schwirren ihm nur so durch den Kopf, und er hält die auf links gedrehten Schuhe mit nassen Tüchern feucht, seine Glatze schimmert, er näht mit der Hand und ruft dabei den Geist der Ashworths an, und als die Nähte fertig sind, legt er die Schuhe in den Trockenofen, nicht ohne vorher noch -161-
einmal mit dem Thermometer überprüft zu haben, ob die Temperatur auch wirklich bei 22 Grad liegt: denn es ist ganz gleichgültig, für wen die Schuhe sind – sie müssen vollkommen sein.
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4 Ufa, Leningrad 1961-1964 12. August 1961 Gestern Nacht hat der Wind die Fensterläden aufgerissen und bis zum Morgen hin und her schlagen lassen. 13. August Vor Morgengrauen vom Radio aufgewacht, ein bisschen zugehört, dann wieder eingeschlafen. Als ich dann endgültig aufwachte, hatte Vater schon gefrühstückt. Er sagte: Du brauchst Ruhe, Tochter. Dabei ist er derjenige, der kränkelt. Die vergangenen Monate haben an ihm gezehrt. Ich habe ihn beschworen, sich wieder hinzulegen, aber er hat darauf bestanden, Mutter und mich zum Markt zu begleiten. Wenn er das Haus verlässt, spricht Vater mit niemandem, aus Angst vor dem, was dann über Rudik gesagt werden könnte, auch wenn es offiziell noch nicht bekannt gegeben worden ist. Er geht mit gesenktem Kopf, als hätte man ihm eine Last aufgelegt und als müsste seine Stirn sich unter ihrem Gewicht zu Boden neigen. Am Krassina-Markt entdeckten wir drei Bünde Spinat. Kein Fleisch. Zuerst trug Vater die Stofftaschen, aber als wir in die Nähe des Brunnens auf dem Oktoberprospekt kamen, nahm ich sie ihm ab. Die Mauer hat von der Hitze Risse bekommen. Er war sehr erschöpft. Als er mir die zweite Tasche gab, sagte er: Du musst ihm vergeben, Tamara. Dabei gibt es für mich nichts zu vergeben. Was sollte ich vergeben? Ich hatte einen Bruder, und nun ist er fort, das ist alles. -163-
16. August Dadurch dass er fortgegangen ist, hat er mich gezwungen, nach Hause zurückzukehren. Moskau erscheint mir jetzt schon Jahre entfernt. Was soll aus mir werden? Meine Wut wird immer größer. Um ein Haar hätte ich Mutters Teetasse zerbrochen, aber ich habe mich beherrscht. 17. August Vater war in der Fabrik und kehrte mit traurigem Gesicht zurück. Wir haben es nicht gewagt, ihn zu fragen. Zum Trost haben wir Hühnersuppe gekocht. Er hat sie gegessen, ohne ein Wort zu sagen. 18. August Auf der Straße fährt ein weißer Wagen auf und ab, auf und ab. Er hat ein Fahrschulschild, aber der Fahrer macht keinen Fehler. 19. August Mit Mutter wieder einmal im Bolschoi-Dom, dem KGBHaus. Sie glauben, dass sie die Einzige ist, die Rudik zurückholen kann. Sie haben uns Tee angeboten, was angesichts der Umstände ja eher ungewöhnlich ist. Er war lauwarm. Einen Augenblick lang dachte ich, er könnte vergiftet sein. Auf dem Tisch stand ein halbes Dutzend Telefone. Vier Männer und zwei Frauen. Drei trugen Kopfhörer, zwei schrieben auf Diktiergeräten mit, der sechste überwachte alles. Die meisten sahen uns nicht an, aber der Leiter fixierte uns die ganze Zeit. Er gab Mutter einen Kopfhörer und sagte mir, ich solle mich in eine Ecke -164-
setzen. Beim dritten Versuch kamen sie schließlich durch. Rudik war verschlafen, wegen des Zeitunterschiedes. Er war in einer Wohnung in Paris. (Später sagten sie, diese Stadt sei berühmt für ihre Männer mit unnatürlichen, perversen Trieben. Sie gebrauchen diesen Ausdruck absichtlich, wenn Mutter dabei ist, und beobachten sie. Sie versucht, sich zu beherrschen, damit ihr Gesicht sie nicht verrät. Es ist wichtig, sagt sie, dass man keine Gefühle zeigt.) Alles, was Rudik sagte, kam mit Zeitverzögerung an. Manches wurde von einem Pfeifgeräusch übertönt. Sie wurden wütend, wenn etwas auf Tatarisch gesagt wurde. Später schwor Mutter, sie habe das Wort «glücklich» gehört, aber eigentlich wollte sie natürlich das Wort «Rückkehr» hören. Wir dürfen mit niemandem über seinen Verrat sprechen, dabei laufen sie herum und verhören die anderen Tänzer im Opernhaus, seine Freunde, sogar seine früheren Lehrer. Wie soll denn da nichts durchsickern? 20. August Ich bin am Belaja entlangspaziert und habe auf der Sandbank ein Eis gegessen. Kinder schwammen im Fluss. Alte Frauen saßen am Ufer, in Badeanzügen und mit Bademützen. Das Leben geht weiter. 21. August Sie haben angedeutet, er könnte amnestiert werden, wenn er sich von seinen Handlungen distanziert und zurückkehrt. Was für Aussichten! Das absolute Minimum wären sieben Jahre schwere Zwangsarbeit, im schlimmsten Fall droht ihm der Tod. Und wie würden sie das tun? Würden sie ihn erschießen? Ihn auf den elektrischen Stuhl schnallen? Ihn aufhängen, sodass seine -165-
Füße in der Luft hin und her schwingen? Diese furchtbaren Gedanken. 22. August Mit jedem Tag wird deutlicher, dass er fort ist. Das Wissen, dass er nie mehr hier sein wird, bewirkt, dass er nur umso gegenwärtiger ist. Die Vergangenheit holt uns ein. Nachts liege ich wach und verfluche ihn für das, was er uns angetan hat. In dem Fahrschulwagen sitzen immer dieselben Männer. 23. August Die Glühbirne in der Küche ist durchgebrannt, und wir haben keine mehr. Der einzige Trost ist, dass die Sonne so spät untergeht und der Himmel in den schönsten Farben erglüht. Vater hat gesagt, dass der Rauch aus den Fabriken die Farben kräftiger macht. 24. August Auf dem Rückweg vom Bolschoi-Dom rutschte Mutter auf einem Ölfleck vor dem Denkmal im Leninpark aus. Sie konnte sich gerade noch am Sockel des Denkmals abstützen und sagte: Sieh nur, ich hänge beinahe an seinem Zeh. Sofort bekam sie Angst, weil sie das gesagt hatte, dabei war niemand in der Nähe, der sie hätte hören können. Während des ganzen Rückwegs kratzte sie ihre Arme. Vater hat Kalk für das Klohaus aufgetrieben, damit der Gestank, den die Sommerhitze hervorgebracht hat, aufhört. Ich las in Ruhe die Zeitung. 25. August Mutter hat eine Gürtelrose. Sie liegt im Bett, obwohl die -166-
Laken schrecklich jucken. Vater hat sich zu ihr gesetzt und ihre Arme mit Tomatenbrei eingestrichen, ein Hausmittel aus seiner Armeezeit. Ihre Arme sehen ganz rot und blutig aus, als hätte man sie gehäutet. Vater und ich sind mit der Straßenbahn aus der Stadt hinausgefahren und haben am Fluss entlang einen Spaziergang durch den Wald gemacht. Er hat mir erzählt, dass er Rudik einmal zum Eisfischen mitgenommen hat. Er sagt, dass Rudik die Fische mit einer einzigen Bewegung der Finger ausnehmen konnte. Auf dem Heimweg sahen wir eine Schar Gänse aufsteigen, und Vater wünschte, er hätte seine Flinte dabei. 26. August Ich habe die Laken gewaschen. Wo sie gelegen hat, waren sie rot von den Tomaten. 28. August Das Brennen in ihrer Haut ist abgeklungen – dem Himmel sei Dank! Vater hat sich an die Brust geklopft und gesagt: Tomaten. Mutter hat sich auf dem Sessel in die Sonne gesetzt. 29. August In der Raffinerie hat es einen Stromausfall gegeben, darum war die Luft heute sauber. Ich bin in der Sonne umhergelaufen und habe hinter der Werkzeugmaschinenfabrik ein paar Beerenbüsche gefunden. Zu Hause hat Mutter Beerensaft gemacht, ihre Spezialität – sie hat gestrahlt. Aber am späten Nachmittag sah ich ihr faltiges Gesicht in der Fensterscheibe gespiegelt und wusste einen Augenblick lang nicht, wer es war. Als mir bewusst wurde, dass es Mutter war, habe ich mich erschrocken. Ich -167-
habe sie wohl schon lange nicht mehr wirklich angesehen. Die Hautreizung ist beinahe verschwunden, aber ihr Gesicht ist noch immer verquollen. Vielleicht ist es das Alter. Ich muss mir immer wieder vor Augen führen, dass sie in ein paar Jahren sechzig wird. In letzter Zeit ist ihr Mund schmaler geworden, und die Winkel zeigen nach unten. Dass sie im Krieg keinen Spiegel hatte! Sie konnte sich nur im Fenster betrachten, und viele Scheiben waren gesprungen. Sie hat mir mal eine Geschichte von einem Mädchen erzählt, das sich lange in einem Keller vor den Deutschen versteckt hatte. Als es dann schließlich herauskam, erkannte es sich selbst nicht wieder und wollte zurück in den Keller. Wir kehren immer zu dem zurück, was wir kennen. Ich denke andauernd darüber nach, warum ich in dieser schrecklichen Stadt lebe. Wie konnte ich nur meine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau aufgeben? Bin ich verrückt geworden? Wie sehr brauchen sie mich? Moskau erscheint mir Jahre entfernt. Ich sehne mich so sehr danach – aber wie soll ich je dorthin zurückkehren? Vater hat sich heute Morgen beim Öffnen des Fensters geschnitten. Mutter hat ihm das Handgelenk verbunden und dabei gesagt, dass Rudik vielleicht ein nettes Mädchen kennen lernen und nach Hause kommen wird. 31. August Ich habe mir eine Sommererkältung geholt. Nehme Ingwerwurzel. 1. September Sie haben Vater degradiert, er ist nicht mehr Politruk. Es ist schon vor zwei Wochen passiert, aber er hat es uns nicht gesagt. Möglicherweise wird er sogar aus der Partei -168-
ausgeschlossen. Rudiks Verrat ist noch nicht bekannt gegeben worden, aber es gibt bestimmt schon Gerüchte. Mutters Freundinnen gehen jetzt zu anderen Zeiten ins Dampfbad. Ich habe sie mit ihren Handtüchern und Birkenzweigen auf der Straße gesehen. Mutter hat nur die Schultern gezuckt und gesagt, das macht nichts, dann geht sie eben allein. Sie hat viel Kraft. Wenn ich Zeit habe, werde ich sie begleiten. Auf dem Krassina-Markt haben wir ein Glas mit köstlichen sauren Gurken entdeckt. Glück und große Freude. Mein Lieblingsessen, sagte Vater. 3. September Als ich mit dem Bus zum Markt fuhr, sagte eine alte Frau zu ihrer Begleiterin: Wenn du jetzt schon denkst, dass es schlimm ist, dann warte nur auf morgen! Ihre Freundin lachte. Aus irgendeinem Grund musste ich an Nadia aus dem zweiten Stock in Moskau denken, die mal gesagt hat, alles passiere so schnell, dass es gar keinen Sinn zu haben scheine, es zu erleben. Sie bleibe immer hinter sich selbst zurück. Sie hatte die Theorie, dass sie immer in der Vergangenheit war und nach vorn sah, wo eine Fremde ihr Leben lebte. Diese Fremde war natürlich sie selbst. Bis heute Nachmittag, im Bus, habe ich das nie verstanden. Ich sah mich selbst dort sitzen und zwei alten Babuschkas zuhören. Ich beobachtete mich dabei, wie ich sie beobachtete, und bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich sie geworden. Wie kurz der Weg vom jungen Mädchen zur alten Frau ist! 4. September In diesem Tagebuch sind zu viele kleine Enttäuschungen vermerkt. Ich muss stärker sein.
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6. September Es gibt doch immer auch etwas Gutes. Die Vorschule in der Karl-Marx-Straße hat mich genommen, und es ist eine gute Stelle. Der Unterricht hat schon vor beinahe einer Woche begonnen, aber das werde ich aufholen. Große Freude! 9. September In der Schule sind die Fenster zugelötet, sodass man sie nicht öffnen kann. Aber durch die Tür zieht der Wind herein und bringt etwas Kühlung. Der Spätsommer schleppt sich von den guten Tagen in die schlechten. Muksina hat ein Bild für mich gemalt. Majit hat mir Preiselbeersaft mitgebracht – sehr erfrischend. Ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Als Rudik hier war, haben sie ihn an den Haaren gezogen, ihn gebissen und schrecklich verspottet und ihm alle möglichen Namen gegeben. Die Kinder haben noch eine Reihe grausamer Spiele – eins davon heißt Kleine Makkaroni: Sie lassen ein Kind den Kopf von einer Seite zur anderen drehen, und ein anderes schlägt ihm dabei jedes Mal auf den Hals. Ein Spiel heißt Pusteblume: dabei wird man von oben auf den Kopf geschlagen. Auf dem Heimweg wurde ich die dunklen Gedanken nicht los. Vielleicht waren diese Quälereien, die Rudik vor so vielen Jahren über sich hat ergehen lassen müssen, eine vorweggenommene Strafe. 11. September Die kleinen Freuden: eine neue Tafel und eine Zuteilung Kreide.
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13. September Die Tage werden kürzer, doch sie scheinen immer länger zu werden. Mutter macht sich Sorgen, Rudik könnte vergessen haben, seine Stiefel mitzunehmen. Das muss man sich mal vorstellen. 14. September Wieder ein langer Tag. Mutter erzählte, Rudik habe ihr, als er in Moskau getanzt habe, einen langen schwarzen Mantel gekauft, und sie habe ihn im Bolschoi-Theater nur ungern an der Garderobe abgegeben. Während der Zugaben am Ende der Vorstellung sei sie die Treppe hinuntergeeilt, um den Mantel abzuholen, denn sie habe Angst gehabt, er könnte irgendwie verloren gehen, und so habe sie um ein Haar den Beifall und die Bravo-Rufe verpasst. Jetzt, sagt sie, würde sie nur zu gern den Mantel an der Garderobe abgeben, ja sie würde ihre Seele abgeben, wenn er dafür nach Hause zurückkehren würde. Irgendwann muss sie einsehen, dass sie dann sowohl ihre Seele als auch ihren Sohn verloren hätte. Doch es gab einen kleinen Trost: Wir haben einen Spaziergang gemacht und die Sonne wunderschön rot über dem Belaja untergehen sehen. 15. September Es weht der erste kalte Wind. Mutter sagt, sie hat Schmerzen in den Knien. Ihr alter Körper ist der reinste Wetterprophet: Sie weiß immer im Voraus, wann ein Sturm kommt. Das Badewasser war so dunkel wie Tee. 17. September In der Schule wieder Probleme mit der Elektrizität. -171-
18. September Das Leben beginnt mit Brot. Es gibt keins. Immerhin sorgt das Radio für Ablenkung, jedenfalls bei Vater, der es einschaltet, sobald er von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Er sagt, der Wunsch, die Welt zu verbessern, zählt nicht viel – es kommt auf das Wie an. Bevor er heute Morgen aus dem Haus gegangen ist, hat Mutter ihm die Brust mit Gänseschmalz eingerieben, aber abends hat er trotzdem gehustet. Sie wechseln sich mit Krankheiten ab. Er wollte nicht mal den Borschtsch essen, den Elsa von oben heruntergebracht hat. Er ist schrecklich mager, und er wartet auf den Parteiausschluss, der ihm bestimmt den Rest geben wird. Irgendwann demnächst wird eine Sitzung des Komitees stattfinden. Als wir auf den Abendbus warteten, mit dem wir zu unserem Garten fahren wollten, sagte er etwas Merkwürdiges: Wir können einen Satelliten in den Weltraum schießen, Tamara, aber wir sind nicht imstande, dafür zu sorgen, dass unsere Busse pünktlich sind. Es war beinahe, als hätte Rudik ihm das ins Ohr geflüstert. Wie gefährlich. Vor einem Jahr noch hat Vater immer gesagt, dass wir in herrlichen Zeiten leben: wieder eine Rekordernte, Sibirien erschlossen, Atomkraft, Sputnik, die afrikanischen Nationen befreit, und er hatte sich sogar fast damit versöhnt, dass Rudik Tänzer geworden ist – damals waren seine Wangen rot. Heute scheint ihn das Problem, er selbst zu sein, zu erschöpfen.
19. September Mutter spricht manchmal davon, dass Rudik vielleicht nicht genug zu essen hat. Wenn sie im Bolschoi-Dom mit ihm spricht, sagt er, dass es ihm gut geht, aber sie ist -172-
sicher, dass das nichts als Propaganda ist. Sie fragt ihn immer wieder, ob man noch immer Scherben auf die Bühne wirft. Er sagt nein, aber sie ist sich nicht so sicher. Sie weiß, was man im Westen von uns hält. Rudik sagt, das hätten die Leute nur anfangs getan, und außerdem seien es Kommunisten gewesen. Darüber haben wir eine Weile gerätselt. Es ergibt keinen Sinn. Als Mutter dann gehen durfte, habe ich ihr im Park ein Eis abgeschwatzt. 20. September Vaters Lohn wird automatisch in eine Staatsanleihe umgewandelt, und meiner ist noch nicht ausgezahlt worden. Ach, wie ich das Eis von gestern bereue! Mutter hat ein bisschen Kascha aufgetrieben, und Elsa hat uns etwas Tee gegeben, aber Mutter schläft nicht gut, wenn sie abends noch Tee trinkt. Vater hat für den Winter die Doppelfenster eingesetzt. Er hat dabei ein Gesicht gemacht, als wäre die Kälte schon da. 2. Oktober Starker, schneidend kalter Wind. In der Schule ist das Heizöl rationiert. 10. Oktober Ich konnte nicht schreiben. So viel Not – ich muss diese schlimmen Gedanken aus meinem Kopf verbannen. Die Kinder frieren schrecklich. Wir müssen Spiele erfinden, damit sie in Bewegung bleiben, und das ist nicht meine Stärke. Sascha mag nicht herumrennen. Guldjamal sitzt am liebsten ganz still da, eingemummelt in zwei Mäntel. Nikolaus will nicht stehen. Khalim sitzt immer auf seinem Fuß er sagt, das hält ihn warm. Und Majit ist eine solche Nervensäge! Was soll ich nur tun? Die anderen Kinder -173-
laufen jedem nach, der ihnen etwas von seinem mitgebrachten Essen abgibt. Was für Kämpfe! Nach der Schule bin ich zum Garten gefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Der erste Schnee ist gefallen, also gab es nicht viel zu tun. Ein alter Mann kam zu mir und erkundigte sich nach Vater. Er sagte, sie hätten sich schon oft dort getroffen. Ich hielt das Gespräch kurz, sagte ihm aber, er könne uns ja mal besuchen, denn etwas Gesellschaft würde Vater gut tun. Der Mann zog seinen Hut. Seine Sprechweise war ein bisschen bourgeois. Ich machte weiter mit meiner Arbeit. Die Pflege dieses winzigen Gartens ist eher ein Ritual. Auf dem Heimweg hat ein Bus Schneematsch auf meinen Mantel gespritzt. Beim Abwischen habe ich gesehen, dass im Futter ein neues Loch ist, das gestopft werden muss. Mutter mit ihrer Inkontinenz sagt, wenn wir unsere Körper stopfen könnten, hätte sie eine gute Stelle als ihre eigene Näherin. Als ich durch das Tor im Zaun ging, sah ich an der Haustür etwas Rotes. Mein Herz klopfte, weil ich dachte, es sei vielleicht Siegellack auf dem Türschloss, zum Zeichen, dass wir die Wohnung räumen müssten, doch es war bloß eine Benachrichtigung, in der stand, wir hätten uns morgen wieder im Bolschoi-Dom einzufinden. Der Gedanke, mit Rudik sprechen zu können, hellt Mutters Gemüt auf. Manchmal sucht sie im Radio die Stimme Amerikas, aber das ist natürlich unmöglich; selbst in Moskau ist die Frequenz immer gestört, und außerdem hört man da nur pure westliche Propaganda. Sie weiß das. Wie ich die Doppelzüngigkeit des Westens verachte! Sie versuchen immer nur, sich über uns lustig zu machen.
11. Oktober Ein schrecklicher Fehler. Der alte Mann, mit dem ich im Garten gesprochen habe, hat uns heute besucht, um sich -174-
mit Vater zu unterhalten. Er ist Sergej Wasilew, der Mann von Rudiks früherer Tanzlehrerin Anna. Vater war natürlich höflich, ja er schien sich sogar zu freuen. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, aber er winkte ab und sagte, er habe diesen Mann schon oft getroffen und unterhalte sich gern mit ihm, immerhin sei er vor Jahren rehabilitiert worden. Er sagte: Was ist dagegen einzuwenden, wenn eine unerwünschte Person die Gesellschaft einer anderen unerwünschten Person sucht? Er kann es sich nicht leisten, so zu denken, und er gibt auch die Hoffnung nicht auf, in der Partei bleiben zu dürfen. Das würde ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Um ihm eine Freude zu machen, habe ich seine Hemden gewaschen. 12. Oktober In der Schule ist ein Rabe gegen das Fenster geflogen. Er hat die Scheibe zerbrochen und ist in den Händen der Kinder gestorben. Sie haben geweint. Mutter sagt, dass Rudik in Monte Carlo ist, wo es einen Palast und einen schönen Strand gibt. Es ist sehr seltsam. Warum habe ich noch nie das Meer gesehen? 13. Oktober Sergej W. war wieder da. Er hat ein Glas Marmelade mitgebracht, die – das sage ich nur ungern – sehr lecker ist. Er hat eine halbe Zigarre geraucht. Vater hat den ganzen Abend gehustet. 15. Oktober Ein Teelöffel Himbeermarmelade, um den Tee zu süßen.
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16. Oktober Ich habe auf dem Markt drei Tuben Zahnpasta gekauft. Eine davon heben wir auf, damit wir sie verschenken können. Es ist bulgarische Zahnpasta. Sie schmeckt genauso schlecht. 17. Oktober Sie denken noch immer, dass Mutter ihn zurückholen kann. Die Tonbänder werden nach Moskau geschickt, wo man sie analysiert und archiviert. Rudik hat auf Tatarisch zu ihr gesagt, dass er Angst hat, Geheimagenten könnten ihm die Beine brechen. Sie haben das nicht schnell genug mit einem Pfeifgeräusch übertönt. Mutter sagte: Lieber Sohn, ich kann nicht schlafen. Er sagt, dass er genug zu essen und viel Geld hat und dass es ihm sehr gut geht, ja dass er sogar berühmte Schauspieler und Sänger kennen lernt und demnächst bei der Königin von England sein wird. Mutter sagt, dass sie ihn vielleicht einer Gehirnwäsche unterzogen und ihm lauter dummes Zeug in den Kopf gesetzt haben. Er hat noch ein paar andere berühmte Namen genannt. Aber was soll's – das sind nur Namen, und auch diese Leute müssen sterben. Einer der Männer schlug auf den Tisch, als Mutter ein paar tatarische Worte gebrauchte, und Rudiks Stimme wurde vor Sorge ganz hoch. Er hat bestimmt Heimweh. Sie haben uns gesagt, dass Monte Carlo voller Glücksspieler und Perverser ist und dass es dort viel Gewalt gibt: Er könnte niedergestochen oder erschossen werden. So etwas passiert dort oft. 19. Oktober Mutter hatte einen schrecklichen Traum, in dem es um seine Beine ging. Später sagte sie: Er wird bestimmt ein -176-
nettes Mädchen kennen lernen. 20. Oktober Der Herd ist kaputt. Der Schulhausmeister hat gesagt, er kommt nächste Woche vorbei und repariert ihn. Selbst diese Kleinigkeiten machen mir Sorgen. Aber er ist geschickt und hilfsbereit und sieht außerdem ganz gut aus. 21. Oktober Vater ist so müde, er hat hierfür keine Kraft. Er will nichts essen. Ein Bekannter von Rudik hat uns eine Postkarte geschrieben, aber es war so viel geschwärzt, dass sie eigentlich nicht zu entziffern war. Sergej war wieder da. Anscheinend wissen die beiden nicht, was sie sonst tun sollen. Ich mag diesen alten Dummkopf nicht. Es macht mich besorgt, dass er in unser Haus kommt, aber es stimmt, dass er rehabilitiert worden ist. Und viel schlimmer kann es sowieso nicht werden. Er hat noch mehr Zigarren geraucht, und im Zimmer hat es gestunken. Es sind billige Zigarren, hat er gesagt, aus Jugoslawien. Er hat Vater auch eine angeboten, aber Vater sagte, wenn er eine rauchen würde, würde er sich fühlen wie ein Schwein, dem man einen goldenen Ring durch die Nase gezogen hat. Sie lachten und diskutierten lange über den Wetterbericht. Vater sagt, er hört gern den Wetterbericht aus Tscheljabinsk, denn dann weiß er, wie es demnächst hier sein wird, während Sergej lieber einen Wetterbericht aus dem Osten hört – das hat irgendwas mit den vorherrschenden Winden und einer komplizierten Theorie über die Anordnung der Berge zu tun. Und dann zitierte er Gedichte, als wären Dichter Wetterpropheten! Mutter sagte: Wozu denn überhaupt einen Wetterbericht hören? Man braucht doch nur aus dem Fenster zu sehen. Oder, -177-
noch besser, man geht vor die Tür, sofern man kann. Als Sergej ging, sah er die Postkarte und sagte, dass man die geschwärzten Stellen entziffern kann, wenn man ein dünnes Stück Papier darauf legt und mit einem Bleistift ganz leicht darüber reibt: dann sieht man die Eindrücke, die der Stift auf der Karte hinterlassen hat. Vater wurde ein bisschen nervös und bat Sergej, nicht von solchen Dingen zu sprechen. Mutter versuchte es mit dieser Methode, aber es war ein Misserfolg auf der ganzen Linie. 22. Oktober Mutter sagt, wenn sie Vater und Sergej sieht, ist sie dankbar für die kleine Gnade ihres Körpers (obwohl sie doch Krampfadern hat!). Sie hat mir erzählt, dass die beiden oft lange und ernst über ihren Stuhlgang sprechen. 23. Oktober Vater sagt: Wenn man keine Zukunft mehr hat, kann man nur an die Vergangenheit denken. Ich versuchte, ihm bestimmte Dinge in Erinnerung zu rufen, aber das war ein Fehler, denn er wurde wütend. Ich möchte ihn gern davon überzeugen, dass Rudik so etwas wie ein Botschafter des guten Willens ist und dass er der Welt die Wahrheit über uns sagen kann, aber Vater schüttelt nur den Kopf. Immer wieder sagt er: Mein Sohn, der Verräter! Wie soll ich mich auf der Leninstraße sehen lassen? Auch seinen Sessel mag er nicht mehr. Das Problem ist, dass er früher schwerer war, und jetzt ist er mager und sinkt in die Vertiefung ein. Und eine Spiralfeder drückt sich langsam durch; vielleicht kann ich sie morgen mit einer Schnur zusammenbinden, damit sie ihn nicht durch den Bezugsstoff in den Rücken sticht.
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24. Oktober Die Schule hat eine Öllieferung bekommen! Und Ilja, der Hausmeister, hat tatsächlich den Herd repariert! Es war sonst niemand da. Wir haben uns unterhalten. Er wollte für die Reparatur kein Geld haben. Was für ein wunderbarer Tag! Natürlich habe ich vergessen, ihn zu fragen, ob er auch den Sessel reparieren kann. Das hätte er bestimmt getan. 25. Oktober Widersprüchliche Gerüchte über Rudik und Margot Fonteyn, die in den verschiedensten Orten auf der ganzen Welt aufgetreten sein sollen. Wie kann das sein? Wir sind doch keine Maschinen, Roboter oder Satelliten. Es ist völlig unlogisch, aber vielleicht ist das die Art, wie der Westen seine Künstler behandelt – sofern Kunst dort überhaupt etwas gilt. In was für einer Welt wir leben! Wie viele Lügen erhalten ihn aufrecht? Wie viele Verrate? Wenn ich doch nur die Wahrheit wüsste! Der Westen benutzt ihn nur als Marionette. Sie werden ihm das Leben aussaugen und ihn dann auf einer ihrer Müllhalden ausspucken. 27. Oktober In der Iswestija war heute eine Karikatur aus der Londoner Times abgedruckt: Stalins Geist und ihm zu Füßen ein betrunkener Bär. Sie versuchen, uns als Dummköpfe hinzustellen. Wenn sie nur zugeben könnten, welche Fortschritte wir gemacht haben, aber das können sie eben nicht. Wir werden sie überdauern, und das macht ihnen Angst.
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28. Oktober Mein Geburtstag. Früher dachte ich, wenn ich älter wäre, würde die Welt unkomplizierter sein, aber nichts scheint je zu einem Ende zu kommen, nichts wird je einfach. Vater ist ganz verschwitzt aufgewacht. Mutter hat mir aus der Wolle von einem von Rudiks alten Pullovern einen Schal gestrickt. Er ist warm, und doch trage ich ihn nicht gern. 29. Oktober Ilja war da, um den Sessel zu reparieren. Wir haben Tee getrunken und Brot gegessen. Er sagt, wenn er nicht in der Schule zu tun hat, läuft er am liebsten Schlittschuh. Nach einer Weile machte er sich an die Arbeit. Er schnitt die Unterseite des Sessels auf, griff hinein und zog die Spiralfeder zurück. Als er hörte, dass ich gestern Geburtstag hatte, fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, abends einmal mit ihm am See spazieren zu gehen. Er hat schütteres Haar und sehr dunkle Augen. Ich bin aufgeregt, aber warum sollte ich mich für den Rest meines Lebens verstecken? 31. Oktober Wir sind am Opernhaus vorbeigegangen, wo Putzfrauen dabei waren, die Stufen zu scheuern. Beim Musikpavillon sangen Männer derbe Lieder, und ein paar Leute haben Volkstänze dazu getanzt. Ich habe viel gelacht. Später habe ich Vaters Unterhemden gekocht.
1. November Die Kinder haben die Schultreppe mit Farbe bespritzt. Wie sind sie nur so geworden? Ilja hat die Flecken sofort -180-
weg-geputzt – er hat gesagt, er will nicht, dass die Kinder Schwierigkeiten bekommen. Sie umringen ihn und reiten auf seinen Schultern. 2. November Vorbereitungen für die Revolutionsfeier. Ilja hat in der Schule viel zu tun, aber trotzdem findet er Zeit, mit mir im Park spazieren zu gehen. Er sagt, der See ist sein zweites Zuhause. Er kann sehr gut Schlittschuh fahren. Er hat mir eine dünne Silberkette mit einem Anhänger in Form eines Fisches geschenkt. Das ist zwar nicht mein Sternzeichen, aber was macht das schon? Wie gut er aussah, als er mir zum Abschied winkte! Er sagt, sie spielen spätabends Eishockey: Sie zünden Feuer auf dem Eis an, und manchmal tragen sie Fackeln, damit sie einander sehen können. 3. November Vater scheint immer tiefer in seinem Mantel zu versinken. In Moskau wird man Rudik bald in Abwesenheit den Prozess machen. Vater hat Sergej durch den türkischen Jungen aus der Nachbarschaft ausrichten lassen, er solle uns lieber nicht besuchen, denn er will nicht, dass die Dinge durch irgendetwas zugespitzt oder sonst wie beeinflusst werden. Vater sitzt da und starrt ins Leere. Ich habe Angst um ihn. 4. November Die Kinder haben wunderschöne Bilder für die Feier gemalt – wir haben sie im Flur aufgehängt.
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8. November Gestern war der Tag der Revolution. Ich habe geträumt, dass ich mit Ilja in einem Kiosk stand und Sommeräpfel verkaufte. 10. November Sie haben Rudik zu sieben Jahren schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Uns fehlt die nötige Kraft. Mutter hat sich auf das Bett geworfen, das Gesicht ins Kissen vergraben und geweint. Er hätte ebenso gut zum Tode verurteilt werden können – eigentlich hätte sie also erleichtert sein sollen. Aber sie hat geweint. Vater erzählte mir von einem Soldaten in Berlin, der sich den Fuß in einer Straßenbahnschiene eingeklemmt hatte. Eine Straßenbahn näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Ein anderer Soldat ging gerade vorbei, als er die Schreie hörte. Er versuchte, den Fuß des ersten Soldaten zu befreien, aber es ging nicht, und so zog er seinen Mantel aus und warf ihn dem anderen über den Kopf, um ihm die Qual zu ersparen, die Straßenbahn heranrasen zu sehen. Ich habe diese Geschichte schon einmal irgendwo gehört. 11. November Bin ich es, die Vater den Mantel über den Kopf werfen muss? 12. November Mutter macht sich Sorgen um Vater, aber vielleicht sollten wir uns vielmehr um sie Sorgen machen. Ihre Arme sind gerötet und wund gekratzt – womöglich wieder die Gürtelrose. Vater spricht kein Wort, und ich habe keine Ahnung, woher ich Tomaten bekommen soll; das -182-
letzte Mal scheinen sie ja geholfen zu haben. Und selbst wenn es welche gäbe, wären sie um diese Jahreszeit viel zu teuer. 13. November Vater sitzt noch immer da, ohne sich zu rühren. Er muss sich jetzt entscheiden, ob er Rudik vor dem Komitee verurteilen wird oder nicht – eigentlich gibt es da wenig zu entscheiden, da sie ihn auf jeden Fall verurteilen werden. Mutter hat abends das Geld gezählt, das sie im Lauf der Jahre in dem Porzellanelefanten gesammelt hat. Ihre Haut scheint sich auch ohne Tomaten beruhigt zu haben. Sie hat mir erzählt, wie sie und Vater sich kennen gelernt haben. Ein Weilchen schien sie glücklich zu sein, als hätte die Erinnerung ihr aufgeholfen. Es war im Haus der Kultur der Eisenbahnarbeiter, und mein Vater hatte sich gerade eine Prise Schnupftabak in die Nase geschoben. Er sprach von Majakowski und zitierte aus «Ruhm und Ehre unserem geliebten Vaterland», aber natürlich musste er dann mitten in seinem Vortrag niesen, was ihm schrecklich peinlich war. Sie erzählte mir, am nächsten Tag habe er ihr diesen Porzellanelefanten geschenkt. Ich habe ihn danach gefragt, aber er kann sich nicht erinnern. Er hat mich verscheucht wie eine Fliege. Ich kann es kaum erwarten, das alles morgen Ilja zu erzählen. Er sagt, dass Rudik ihm egal ist und dass nur ich ihn interessiere. Ich bin glücklich! 14. November Die Sitzung des Komitees ist wieder mal verschoben worden. Noch eine Vorladung ins Bolschoi-Dom. Rudik, der jetzt in London ist, weinte, und einen Augenblick hatte ich Mitleid mit ihm. Er ist überzeugt, dass er einen Fehler -183-
begangen hat. Er sagt, er kann nicht auf die Straße gehen, ohne dass irgendein Fotograf aus den Büschen springt. Er erwähnte immer wieder den Namen einer Tänzerin – ich glaube, das sollte irgendeine Andeutung sein –, aber ich wusste nicht, was er damit sagen wollte. Die Stenographin warf mir einen unhöflichen Blick zu. 16. November Ich habe ein Jäckchen für das Neugeborene nebenan gestrickt. Es ist fast fertig, aber nicht ganz so gut geworden, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es hat vier Knöpfe, braucht aber einen fünften. Spaziergang im Schnee mit Ilja. Er hat nebenbei erwähnt, dass er eines Tages Kinder haben will. Ich habe überlegt, welchen Namen ich meinem Kind geben würde. Sicher nicht Rudolf. Vielleicht würde ich es nach Vater nennen. Und wenn es ein Mädchen wäre? Schule: Briefe zu Breschnews Geburtstag vorbereiten. 20. November Es klopfte an der Tür, und uns fuhr die Angst in die Knochen! Du meine Güte! Die Frau war nervös. Eine Finnin. Sie sagte, sie sei Tänzerin. Ich sah mir ihren Körper an und glaubte ihr. Sie nannte ihren Namen nicht, sondern erklärte nur, sie sei die Freundin eines Freundes von Rudik und über Oslo eingereist – allerdings sagte sie nicht, wie. Sie wollte hereinkommen, aber Vater ließ sie nicht ein. Sie war ganz aufgelöst. Sie sei mit dem Wagen von Moskau hierher gefahren! Zwei Tage sei sie unterwegs gewesen! Sie sagte, Rudik habe die Bekanntschaft von Botschaftern verschiedener Länder gemacht, und diese seien in der Lage, bestimmte Dinge ins Land zu bringen. Sie habe uns etwas mitgebracht. Anfangs waren -184-
wir überzeugt, dass es eine Falle war. Vater sagte ihr, das sei gegen das Gesetz. Sie wurde ganz rot. Dann bat Mutter sie zu gehen. Wir hielten immer wieder nach dem Fahrschulwagen Ausschau, aber der war nirgends zu sehen. Die Frau flehte uns an, sie einzulassen, doch Vater sagte nein. Schließlich stellte sie vor der Haustür ein großes Paket ab. Sie weinte vor Angst. Es war wirklich sehr gefährlich. Wir rührten das Paket nicht an, aber vor Morgengrauen stand Mutter auf, ging im Nachthemd zur Tür und holte es herein. Es lag eine dünne Schicht Schnee darauf. 21. November Das Paket lag auf dem Tisch. Wir konnten es nicht ertragen, es noch länger ungeöffnet zu lassen. 22. November Vater hat einen Fingerhut voll von dem Weinbrand getrunken. Mutter hat den neuen, pelzgefütterten Mantel angezogen, allerdings nur im Dunkeln, damit die Nachbarn es nicht sehen konnten. Als sie die Hand in die Tasche steckte, fand sie einen Zettel, auf dem stand: Wie sehr ich dich vermisse. Dein dich liebender Sohn. Ich fragte mich, was ich mit dem Kleid machen soll, das er mir geschickt hat. Es ist an den Hüften viel zu eng. Zuerst wollte ich es verbrennen, aber warum sollte ich? Schließlich beschloss ich, das Taillenband auszulassen und es nächste Woche anzuziehen, wenn ich mit Ilja ins Heimat-Kino gehe.
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23. November Vater fiel ein, dass die Tänzerin gesagt hat, wir würden noch ein zweites Paket bekommen, vielleicht im neuen Jahr. Das nächste Mal werden wir sie bestimmt hereinbitten. Wenn es nicht eine Falle ist. Aber das werden wir bald erfahren. Vater hatte ein schlechtes Gewissen, aber er weiß, dass die Weigerung, das Paket anzunehmen, nur noch mehr Schwierigkeiten zur Folge hätte. Mutter sagte: Ja, er ist herrlich, aber ein neuer Mantel kann Rudik nicht ersetzen. Sie saß im Sessel und strich über den Pelzkragen. 26. November Vater war in wehmütiger Stimmung und erhob sein Glas auf Rudik, und zum ersten Mal hörte ich ihn sagen: Mein lieber Sohn. Hiermit geben wir bekannt, dass NUREJEW, Rudolf Hametowitsch, geboren 1938, Tatar, nicht Mitglied der Partei, vormals wohnhaft in Ufa, Künstler am Kirow-Theater in Leningrad, am 16. Juni 1961 während eines Gastspiels in Paris sein Vaterland verraten hat. NUREJEW verstieß gegen die für Sowjetbürger im Ausland geltenden Verhaltensregeln, indem er sich in der Stadt herumtrieb und erst in den späten Nachtstunden ins Hotel zurückkehrte. Er hatte engen Kontakt mit französischen Künstlern, unter denen sich mehrere bekannte Homosexuelle befanden. Trotz eindringlicher Ermahnungen wie-gerte sich NUREJEW, sein Verhalten zu ändern. Er wurde im November 1961 in Abwesenheit zu sieben Jahren schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Des Weiteren wurde beschlossen, dass Hamet Faslijewitsch NUREJEW aufgrund seiner öffentlichen Distanzierung vom 21. Januar 1962, in der er die Handlungen seines Sohnes auf das Schärfste verurteilt, Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion bleiben darf. KOMITEE FÜR STAATSSICHERHEIT DER STADT UFA FEBRUAR 1962
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Sechs Monate bevor Rudi sich absetzte, kam Josif mit einer Flasche billigem Sekt in unser Zimmer an der Fontanka. Auf der Schwelle küsste er mich. Julia, sagte er, ich habe wunderbare Nachrichten. Er nahm die Brille ab, rieb über die dunklen Halbmonde unter seinen Augen und führte mich zu dem Tisch in der Ecke. Dann öffnete er die Flasche, schenkte zwei Gläser ein und trank das eine in einem Zug aus. Sag schon, drängte ich ihn. Er schloss halb die Augen, trank schnell das zweite Glas aus und spitzte die Lippen. Wir haben eine neue Wohnung. Jahrelang hatte ich unsere Gemeinschaftswohnung am Fluss gepflegt und verschönert. Küche und Toilette lagen zwar am anderen Ende des Flurs, und unser Zimmer war winzig, alt und verwohnt; dennoch hatte es etwas Majestätisches: Es gab einen verzierten offenen Kamin und in der Mitte der Decke eine große Rosette, von der – wie zur Erinnerung an andere Zeiten – eine gelbe Lampe hing. Wenn ich mir vorstellte, was aus dem Kronleuchter geworden war, der einst anstelle dieser Lampe dort gehangen hatte, war das nicht so sehr eine bourgeoise Sentimentalität als vielmehr eine stille Verbeugung vor dem Leben meines Vaters. Ich hatte die Fensterrahmen repariert und die Vorhänge so gerafft, dass sie die Aussicht auf die Fontanka nicht verdeckten. Am meisten aber liebte ich die Geräusche des Wassers. Im Sommer schwappte es leise ans Ufer, wenn die mit Waren beladenen Kanalschiffe vorbeifuhren, und im Winter knisterte das Eis. Wo?, fragte ich. In der Schlafstadt, sagte er. -187-
Die Schlafstadt lag am Rand von Leningrad. Dort stand ein Hochhaus neben dem anderen, grau in grau; dort war, wie ich fand, der Verfall unseres Landes zu Hause. Ich trank ganz ruhig einen Schluck von meinem Sekt. Josif sagte: Wir werden einen Aufzug haben, heißes Wasser, zwei Zimmer. Mein Schweigen ließ ihn unruhig hin und her rutschen. Ich hab die Genehmigung mit Hilfe der Universität bekommen. Nächste Woche ziehen wir um. Mein Schweigen erschreckte mich selbst. Ich stand langsam auf. Josif packte mein Haar und zog mich über den Tisch. Ich wollte mich losreißen, aber er gab mir eine Ohrfeige: Du fängst noch heute Abend an zu packen. Ich überlegte, ob ich ihm sagen sollte, dass er zuschlug wie ein Akademiker, aber dann hätte er die Fäuste eingesetzt. Ich sah zu, wie er sich noch ein Glas Sekt einschenkte. Als er es austrank und den Kopf in den Nakken legte, verschwand sein Doppelkinn, und einen Augenblick lang war er auf unheimliche Weise attraktiv. Gute Nacht, sagte ich. Ich nahm ein Kopftuch aus der Schublade und trat hinaus in den Flur. Auf der Fontanka flimmerte das Sonnenlicht. Kurz überkam mich die Vorstellung, ich könnte mich über das Mäuerchen stürzen und durch die Stadt treiben lassen, und die Zugbrücken würden hochgezogen, wenn ich auf sie zuglitt. Was für elegante Torheiten! Ich ging am Fluss entlang nach Norden und bog in eine Seitenstraße zum Konservatorium ab, zum Kirow-Theater, das den Platz prunkvoll beherrscht. Dort hing ein Plakat, auf dem Rudi in Giselle angekündigt wurde. Josif saß noch immer am Tisch, als ich nach Hause kam. -188-
Er sah nicht auf. Ich hatte in einem alten Samowar neben unserem Bett ein paar Rubel versteckt. Jetzt nahm ich so viel heraus, wie ich für einen Balkonplatz brauchen würde, und zog meinen Kaschmirpullover an. Als ich die Treppe wieder hinunterging, glaubte ich Josifs Schlag noch immer in dem Gebäude widerhallen zu hören. Die Eingangshalle des Kirow wimmelte von Menschen. Jacken und Mäntel mussten in der Garderobe abgegeben werden. Ich überlegte, ob ich meinen Pullover dort lassen sollte, aber er war so warm und weich, und ich fühlte mich so wohl darin. Ich zwängte mich auf meinen Platz zwischen zwei ziemlich dicken Frauen. Am liebsten hätte ich sie angesprochen und etwas Lächerliches gesagt wie: Ballett – das perfekte Gegenmittel. Stattdessen dachte ich mit einem Mal, Josif habe mir vielleicht nur einen gemeinen Streich gespielt und wir mussten nicht aus unserem Zimmer ausziehen, alles würde so bleiben, wie es war, und ich könnte auch in Zukunft beim Einschlafen die Geräusche des Flusses hören. Die Musiker betraten den Orchestergraben und begannen, die Instrumente zu stimmen – hier eine Flöte, dort ein Cello, und die zunächst disharmonischen Tone fügten sich zu einem Einklang. Meine Sitznachbarinnen schnatterten miteinander. Andauernd fiel Rudis Name, und ihre Freude darüber, dass sie über ihn verfügten, begann mich zu ärgern. Ich wollte aufstehen und rufen: Ihr kennt Rudi gar nicht, aber ich kenne ihn, meine Mutter hat ihm das Tanzen beigebracht! Doch ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, beinahe ein Jahr. Er war jetzt zweiundzwanzig, hatte eine eigene Wohnung, Zugang zu besonderen Geschäften und ein gutes Einkommen, und in den Fluren des Schicksals hing sein Porträt an herausgehobener Stelle. Das Licht erlosch. Als Rudi beifallumrauscht aus den -189-
Kulissen stürmte, füllte er die Rolle zum Bersten aus, nicht so sehr durch seinen Tanz als vielmehr dadurch, wie er sich präsentierte: als eine Art Mensch gewordener Hunger. Ich wollte mich ganz dieser Vorstellung hingeben, merkte jedoch bereits nach der ersten Variation, dass mir schrecklich warm war, und versuchte, mir unauffällig Luft zuzufächeln. Trotzdem wurde mir immer wärmer, und ich wollte meine Sitznachbarinnen nicht stören, indem ich auf meinem Platz hin und her rutschte oder mir den Pullover auszog. Rudis Tanz war wie ein schriller Alarmton – Seht mich an! Seht mich an! –, aber ich war zu sehr von meinem Pullover und meiner Hitzewallung in Anspruch genommen. Die Luft schien vor Intensität zu knistern. Mein Gesicht lief rot an, und der Schweiß trat mir auf die Stirn. Als endlich die Pause kam, stand ich rasch auf, doch im nächsten Augenblick gaben meine Beine nach und klappten unter mir zusammen. Ich kam sogleich wieder zu mir, hatte aber bereits Aufmerksamkeit erregt: Die Leute flüsterten und zeigten auf mich, und ich sah schon die morgigen Zeitungen vor mir, in denen stehen würde, während Rudi getanzt habe, sei eine einsame Frau in Ohnmacht gefallen. Mit Hilfe eines Mannes, der mich von hinten stützte, setzte ich mich wieder auf meinen Platz und zog den Pullover aus. Ich wollte ihm erklären, was geschehen war, aber ich sah ihm an, dass er glaubte, Rudis Auftritt habe mich schlicht überwältigt. Er ist wunderbar, nicht? Mir war nur so warm, sagte ich. Ja, er hat eine enorme Wirkung, sagte der Mann über meine Schulter. Ich hatte ein Gefühl, als würde ich ein zweites Mal in -190-
Ohnmacht fallen, doch ich holte tief Luft, stand auf und ging auf unsicheren Beinen durch den Gang und im Licht der Kronleuchter die Treppe hinunter. Auf der Toilette hielt eine Frau meine Schultern, während ich mich übergab. Ich war entsetzt, als sie die Vermutung äußerte, ich sei schwanger – das war unmöglich. Ich säuberte das Klo und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Auf dem Spiegel waren Fingerabdrücke, und ich hatte ein seltsames Gefühl, als liege auf meinem Gesicht die geisterhafte Hand eines anderen. Ich war sechsunddreißig und hatte Krähenfüße, und unter meinen Augen zeigten sich die ersten Anzeichen dunkler Tränensäcke. Ich hörte die anderen Frauen auf der Toilette von der überragenden Aufführung schwärmen. Ein paar Mädchen standen an einem Waschbecken in der Ecke, rauchten und ließen sich Rudis Namen auf der Zunge zergehen. Im Obergeschoss kaufte ich mir ein Eis, und als die Glocke zum zweiten Akt rief, hatte ich mich so weit erholt, dass ich mich wieder auf meinen Platz setzen konnte. Ich beugte mich vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen auf die weit entfernte Bühne, bis die Frau vor mir, irritiert, weil meine Haare sie berührten, mir ihr Opernglas reichte. Rudis Körper war von faszinierender Schönheit: scharf konturierte Schulter- und Nackenmuskeln, enorme Oberschenkel, zuckende Waden. Er hob seine Partnerin in die Luft und wirbelte sie mit erstaunlicher Leichtigkeit herum. Unwillkürlich musste ich an den Tag denken, an dem er bei uns angekommen war – damals war er siebzehn gewesen, und ich hatte gesehen, wie er sich in unserem Zimmer ausgezogen hatte und die blasse Verheißung seines Körpers unter die auf dem Sofa ausgebreitete Decke geschlüpft war. Ich gab das Opernglas zurück und -191-
versuchte die Gefühle zurückzudrängen, die mich zu überwältigen drohten. Ich umklammerte die Stuhlkante, meine Nägel gruben sich ins Holz. Als das Ballett vorbei war, streckte Rudi den Arm aus und wandte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Der donnernde Applaus klang mir in den Ohren. Ich eilte hinaus und an der Fontanka entlang nach Hause, die Treppe hinauf. Als ich ins Zimmer trat, saß Josif noch immer am Tisch. Er war betrunken. Ich legte ihm die Hände auf die Schultern und küsste ihn. Erschrocken schob er mich beiseite, füllte sein Glas, stürzte es hinunter, erhob sich taumelnd und küsste mich ebenfalls. Ich versuchte, ihn dazu zu bringen, dass er im Stehen, an die Wand gelehnt, mit mir schlief, doch er war so betrunken, dass er mich kaum halten konnte. Stattdessen zog er mich hinunter auf den Boden, aber das machte nichts – warum auch? Ich war ja noch immer ganz erfüllt von dem Tanz. Rudi hatte auf der Bühne gestanden wie ein erschöpfter Entdecker, der in einem bislang nicht einmal in der Vorstellung existierenden Land angekommen war und trotz seiner Freude über diese Entdeckung sogleich mit der Suche nach dem nächsten unvorstellbaren Land begann, und ich hatte das Gefühl, dieses Land liege vielleicht in mir selbst. Als ich die Augen öffnete, wischte sich Josif gerade den Schweiß vom Nacken. Er ging wieder zum Tisch und sagte: Vergiss nicht, dass du packen musst. Könnte ich die Torheiten meines Lebens in Kartons packen, dann könnte ich daraus ein Denkmal bauen. Ich packte. Eine Woche später hatte ich meine geliebte Fontanka verlassen und lebte in der Schlafstadt. Die neue Wohnung war groß und dunkel. Es gab heißes Wasser, ein Telefon, -192-
einen Herd und einen kleinen Kühlschrank. Neben der Wohnungstür war der quietschende Aufzug. Ich lauschte auf das schrille Pfeifen des Wasserkessels und gelobte mir, dass ich bald von hier verschwinden würde, dass ich Geld sparen, die erforderlichen Steuern zahlen, die Scheidung einreichen und mich an die gewaltige Aufgabe machen würde, eine neue Wohnung zu finden. Doch insgeheim wusste ich, dass ich Josif nachgegeben und mein Akt der Hingabe ihm gegenüber seine Leidenschaftslosigkeit nur zementiert hatte. Sechs Monate später saß ich im achten Stock des Wohnblocks und versuchte vergeblich, ein kubanisches Gedicht über Geheimnisse und Schatten zu übersetzen, als meine Freundin Larissa an die Tür klopfte. Sie war den weiten Weg mit der Straßenbahn gekommen. Ihr Gesicht war aschfahl. Sie nahm mich am Arm und führte mich zum Fußballfeld am Rand der Hochhaussiedlung. Es gibt Gerüchte, flüsterte sie. Wie bitte? Rudi soll sich abgesetzt haben. Was? Es heißt, er sei in Paris geblieben. Wir gingen zu einem der Tore und sahen einander schweigend an. Ich dachte an bestimmte Augenblicke, die mir im Nachhinein wie Hinweise erschienen. In der ersten Woche hatte ich oft gesehen, dass er sich im Spiegel betrachtete, als wollte er sich mit Willenskraft in einen anderen Körper zwingen. Er hatte über Tänzer aus dem Ausland gesprochen, RosaMarias Liedern zugehört, in meinen Büchern gestöbert. Jedes Mal, wenn er in die Eremitage gegangen war, hatten ihn die Werke der italienischen Renaissancemaler und der niederländischen alten Meister beeindruckt. Wenn wir mit meinen Freunden -193-
um den Tisch gesessen hatten, hatte er immer hungrig ausgesehen, immer bereit, sich auf ein Wort oder einen Gedanken zu stürzen. Ich fühlte mich schrecklich schuldig und hatte große Angst. In Paris?, fragte ich. Wir dürfen nicht darüber sprechen, sagte Larissa. Am Abend saß ich mit Josif am Tisch und hörte die Rollen des Aufzugs quietschen. Als die Kabine auf unserer Etage hielt, konnte ich nur mit Mühe den Gedanken vertreiben, dass sie kamen, um an unsere Tür zu klopfen. Ich packte das, was ich voraussichtlich brauchen würde, in eine Tasche, unter anderem eine Gorki-Ausgabe, in deren Einband ich ein paar Geldscheine geklebt hatte. Ich schob die Tasche unter das Bett und hatte Albträume, in denen ich an einen Tisch gekettet war. Josif sagte: Der kleine Scheißer! Wie konnte er es wagen? Er stand auf, ging auf und ab und flüsterte: Wie konnte er es nur wagen? Er sah mich an. Wie konnte er es wagen, verdammt nochmal? Am nächsten Tag überraschte er mich, indem er sagte, ich hätte nichts zu befürchten, ich hätte mir nichts zuschulden kommen lassen und er könne mit Hilfe seiner Beziehungen dafür sorgen, dass man mich in Ruhe lassen werde. Ich bügelte ihm ein Hemd für eine Sitzung, und während er seine Aktentasche packte, versicherte er mir, es werde alles wieder ins Lot kommen. Er küsste mich kühl auf die Wange und machte sich auf den Weg zur Universität. Sie kamen trotzdem, am nächsten Montagmorgen. Ich war allein, als es klopfte. Ich schob ein paar Geld-194-
scheine unter die Innensohlen meiner Schuhe und nahm sogar ein Stück Brot und steckte es in die Tasche meines Hauskleides. Zitternd öffnete ich. Der Mann war so, wie man sie kannte – grauer Mantel, wachsame kleine Augen –, aber die Frau war jung und schön; sie hatte blondes Haar und grüne Augen. Sie traten ein, ohne sich vorzustellen, und setzten sich an den Tisch. Mich beschlich das Gefühl, dass Josif bei ihnen gewesen war, um sich selbst zu schützen, und dass er mich nach all den winzigen, heimlichen Verraten, die wir im Lauf der Jahre aneinander begangen hatten, schließlich auf eine greifbare Weise verraten hatte. Bin ich verhaftet?, fragte ich. Sie sagten nichts, und ich war überzeugt, dass sie mich gleich abführen würden. Sie zündeten sich Zigaretten an aus meiner Schachtel – und bliesen den Rauch an die Decke. Ihr Auftritt war perfekt inszeniert. Dann fragten sie mich, seit wann ich ihn kannte, ob er je über den Westen gesprochen habe, welche Freunde er erwähnt habe, warum er sein Volk verraten habe. Sie wissen, dass er dort untergeht, nicht? Nein, ich habe nichts gehört. Es geht ihm sehr schlecht. Wirklich? In Paris haben sie ihn mit Glasscherben beworfen. Glasscherben?, fragte ich. Damit er sich die Füße zerschneidet. Aber warum? Weil er so schlecht war, natürlich. Natürlich. Ich begann mich zu fragen, wie sein Auftritt in Paris -195-
gewesen sein mochte, denn es war ja möglich, dass er ausgebuht oder ins Corps zurückgestuft worden war. Vielleicht gefiel Rudis Tanzstil den Franzosen nicht, und dann war es denkbar, dass er dort tatsächlich unterging. Immerhin war er noch jung, nur dreiundzwanzig, und tanzte erst seit wenigen Jahren. Sie hörten nicht auf, mein Gesicht zu beobachten, aber ich ließ mir nichts anmerken. Schließlich wandte sich das Gespräch den Treffen in unserem früheren Zimmer zu. Ihrem Salon, sagte die Frau. Es hatte keinen Sinn, ihr zu widersprechen. Sie kniff ein Auge zu. Wir brauchen Namen, Adresse und Beruf von jedem, der zu diesen Treffen erschienen ist. Ich schrieb die Namen auf. Es war eigentlich ganz sinnlos, da sie die ohnehin schon kannten. Als ich fertig war, lasen sie die Liste durch und sagten mir mit einem schiefen Lächeln, wen ich vergessen hatte. Anscheinend hatte man mich schon seit langem beobachtet. Schreiben Sie sie noch einmal, sagten sie. Wie bitte? Schreiben Sie die Liste noch einmal. Meine Hände zitterten. Sie ließen mich eine zweite Liste schreiben mit den Namen und Adressen aller, die je bei mir gewesen waren, ganz gleich, ob sie mit Rudi gesprochen hatten oder nicht. Entschlossen schirmte ich den Teil meines Bewusstseins ab, in dem mein Vater saß. Ich sah ihn vor mir, in Ufa, im Schatten der Raffinerie, wie er zur Tür humpelte und dort KGB-Leute und noch mehr Schwierigkeiten vorfand. Doch nach ihm fragten sie gar nicht. Nach und nach dämmerte mir, dass sie nur herausfinden wollten, ob ich Einfluss auf Rudi hatte – vielleicht sollte ich mit ihm telefonieren und ihn zur -196-
Rückkehr überreden –, doch sie merkten wohl bereits, wie zweifelhaft das war. Schließlich fragten sie mich, ob ich bereit sei, mich öffendich von Rudi zu distanzieren. Ja, sagte ich, ohne einen Augenblick zu zögern. Sie schienen irgendwie enttäuscht und zündeten sich neue Zigaretten an. Der Mann steckte seinen Bleistift hinter das Ohr. Sie werden ihm einen Brief schreiben. Ja. Sie werden ihm schreiben, dass er sein Vaterland, sein Volk und seine Geschichte verraten hat. Ja. Sie werden den Brief nicht verschließen. Nein. Ihr Verhalten ist sehr bedenklich, sagte die Frau. Ich antwortete mit so viel Würde wie möglich, dass ich versuchen würde, mich zu bessern. Sagen Sie zu niemandem etwas davon, dass wir hier waren, sagte der Mann. Ich nickte. Haben Sie mich verstanden? Er wirkte beinahe ängstlich – auch bei ihm konnte ein einziger falscher Schritt Auswirkungen auf sein ganzes Leben haben, auf seine Frau, seine Kinder, seine Wohnung. Ja, ich habe Sie verstanden. Wir kommen wieder. Die Frau drehte sich zu mir um und sagte: Was mich betrifft – ich hätte nicht mal auf ihn gespuckt, wenn er lichterloh gebrannt hätte. Sie starrte mich an und wartete auf eine Reaktion. -197-
Ich nickte und sagte: Natürlich. Als sie gegangen waren, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür und wartete darauf, dass der Aufzug sich in Bewegung setzte, und dann brach ich aus irgendeinem Grund nicht in Tränen aus, sondern lachte und lachte, bis ich ganz erschöpft war: Ich lachte, während die Kabel klickend über die Rollen und Winden liefen, lachte, als ich das pneumatische Zischen hörte, lachte, als die Kabine zum Stehen kam, lachte und dachte die ganze Zeit an jenen Abend im Kirow und an das Gefühl, mit Rudi zu schlafen, an das Gefühl, durch Josif mit ihm geschlafen zu haben. Mit einem Mal merkte ich, dass ich Rudi hasste, wie man jemanden hasst, mit dem man geschlafen hat und der dann gegangen ist – mit anderen Worten: Ich hasste ihn mit einer gewissen widerwilligen Bewunderung, mit einem gewissen Neid, weil er derjenige war, der gegangen war. Meine Freunde vermieden es tunlichst, mit mir gesehen zu werden. Ihre politische Zuverlässigkeit und Festigkeit standen in Zweifel, und über jeden von ihnen würde fortan eine Akte geführt werden. Auch sie würden auf den Aufzug lauschen. Ich dachte daran, dass mein Leben im Lauf der Jahre immer weiter abgeschliffen worden war, Schicht um Schicht. Eines Abends, als ich heimkam, saß Josif da und starrte eine Flasche an. Er verzog den Mund und knurrte, dass auf dem Balkon sechs Hemden hingen, die gebügelt werden müssten. Nein, sagte ich. Du bügelst jetzt die verdammten Hemden!, brüllte er. Er hob die Faust und hielt sie mir vor die Augen. Als ich am Fenster stand und die Hemden von der Leine nahm, hörte ich, wie er sich hinter mir ein weiteres Glas -198-
Wein einschenkte. Ich tat das Einzige, von dem ich das Gefühl hatte, es könnte Klarheit in meine Gedanken bringen: Ich fuhr mit dem Zug zu meinem Vater nach Ufa. Bis ich die Genehmigung hatte, war es später September. Wegen der schlechten Verbindung dauerte die Reise drei Tage. Ich war müde, konnte aber kein Taxi, ja nicht einmal einen Pferdewagen finden, und so ging ich zu Fuß und fragte mich durch. Tatarische und muslimische Frauen gingen mit ihren Kindern spazieren. Sie sahen mich kurz an und wandten sich ab. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es möglich war, dass eine Stadt wie diese einen Tänzer wie Rudi hervorgebracht hatte. Endlich fand ich die Straße, in der mein Vater wohnte. Hier standen alte Holzhäuser, die mit ihren bunten Fensterläden gegen die nahen Wohnblocks ankämpften. Ich stieg über die schlammigen Wagenspuren und fragte mich, wie mein Vater mit seinem Stock es schaffte, einen so schwierigen Weg zu gehen. Er kam an die Tür und kicherte beinahe, als er mich erblickte. Er sah bemerkenswert gut aus, obgleich ihm das Haar über die Ohren hing, wodurch er entfernt an einen Irren erinnerte. Er trug einen Anzug und eine Krawatte mit einigen Essensflecken. Das Hemd hatte er bis zum Hals zugeknöpft, aber die Krawatte saß locker, als hätten sie und das Hemd unterschiedliche Pläne für den Tag. Einer der Bügel seiner Brille war abgebrochen, und um sie an Ort und Stelle zu halten, hatte er eine Schlinge aus Bindfaden daran gebunden und um sein Ohr gelegt. Trotzdem waren die einzigen sichtbaren Hinweise darauf, dass er tatsächlich immer älter wurde, die geplatzten Aderchen in seinem Gesicht, und die standen ihm, wie ich fand, eigenartig gut. Als wir uns umarmten, roch ich den muffigen Geruch -199-
seines Haars. Wir setzten uns, er legte Beethoven auf und kochte auf dem winzigen Herd Tee. Auf dem Nachttisch stand ein Porträt meiner Mutter. Mein Vater hatte eine junge Künstlerin kennen gelernt, die meine Mutter nach einer Fotovorlage mit einem Kohlestift gezeichnet hatte. Wie gut die Malerin ihrer Schönheit gerecht geworden war, dachte ich – jetzt würde sie für immer schön sein. Er sah, dass ich das Porträt betrachtete, und sagte: Es ist unsere Aufgabe im Leben, Augenblicke zu etwas Beständigem zu machen. Ich nickte, wusste aber nicht genau, was er meinte. Er trank seinen Tee. Ich zögerte, ihm von Rudi zu erzählen, denn ich wusste ja, dass die Nachricht noch nicht offiziell bekannt gegeben worden war, doch schließlich platzte ich damit heraus. Rudi ist in Paris. Ja, sagte er, ich weiß. Woher weißt du das? Er sah sich um, als könnte es sein, dass außer uns noch jemand im Raum war. Ich habe so meine Quellen, sagte er. Er schlurfte zum Schrank. Das muss ein bisschen gefeiert werden, findest du nicht auch? Ich habe es noch gar nicht gefeiert. Nein, das finde ich nicht. Warum nicht? Sie werden ihn zum Tode verurteilen. Was?, sagte er. Sie werden ein Erschießungskommando nach Paris schicken? Vielleicht. Dieser Gedanke ernüchterte ihn. Er bewegte die Lippen, als schmecke er einem Gedanken nach, der ihm gerade -200-
gekommen war. Wir sind allesamt zum Tode verurteilt, sagte er schließlich mit einer Spur Schadenfreude. Wenigstens wird er einen besseren haben als wir! Ach, Vater. Er war schon immer ein schlaues Kerlchen, nicht? Ja, das war er wohl. Er holte eine alte Flasche Wodka aus dem Schrank, öffnete sie mit großer Gebärde und legte sich der Eleganz wegen ein weißes Tuch über den Arm. Auf Rudolf Hametowitsch Nurejew, unser schlaues Kerlchen!, sagte er und erhob das Glas. Unter den Kohleaugen meiner Mutter kochten wir uns ein bescheidenes Mahl. Mein Vater erinnerte sich an die Zeiten, als meine Mutter noch am Mariinski gewesen war, und sagte, sie sei um ihre Karriere betrogen worden, sie habe eine der ganz Großen werden können. Er wusste, dass das eine Lüge war, aber es war eine gute Lüge, und sie wärmte uns. Ich machte mir das Bett auf dem Sofa. Kurz bevor ich einschlief, hustete er und sagte: Sein Vater. Was? Ich habe gerade an seinen armen Vater gedacht. Schlaf lieber. Ha!, sagte er. Schlafen! Später hörte ich, wie er sich an den Tisch setzte und in einem Buch blätterte – eine Schreibfeder kratzte über das Papier. Ich schlief darüber ein. Als ich am Morgen erwachte, war er fort, und ich sorgte mich um ihn, also putzte ich, um mich abzulenken, das -201-
Zimmer und fegte in den Ecken. Auf dem Tisch stieß ich unter einem Stapel von Gedichtbänden auf ein Tagebuch. Ich blätterte es durch. Auf der ersten Seite stand das Datum des Todes meiner Mutter. Es war billiges Papier, und die Tinte war verlaufen, was das Lesen erschwerte. Seine Schrift war eckig und unregelmäßig, und ich dachte: Das ist das Leben meines Vaters. Ich zwang mich, die Worte nicht zu lesen, und staubte noch einmal ab, was ich bereits abgestaubt hatte. Er hatte die Pflanzen vertrocknen lassen, und so trug ich sie in das Gemeinschaftsbad und stellte sie in die ein paar Zentimeter hoch gefüllte Wanne, um zu sehen, ob sie vielleicht noch zu retten waren. Eine alte Frau, eine Nachbarin, kam und sah mir wortlos zu. Sie war dick, aber gebrechlich. Sie fragte mich, wer ich sei, und als ich es ihr sagte, schlurfte sie schnaubend zurück in ihr Zimmer. Ich setzte mich auf den Rand der Wanne. Im Abfluss lagen Haare, und es waren nicht die meines Vaters – es waren die Haare eines jungen Mannes, dunkel und vital. Irgendwie erschien es mir beleidigend, dass mein Vater in einer Wanne baden musste, die auch andere benutzten. Die ganze Zeit brannte der Gedanke an das Tagebuch in mir. Ich ging durch den Flur zurück, setzte mich an den Tisch, strich über den Einband des Buches und schlug es schließlich nach dem ersten Drittel auf: Und doch stimmt es, dass mich, der ich nie an Gott geglaubt habe was mich noch nicht zu einem guten Sowjetbürger macht –, vielleicht gerade dies letztlich mit Gott, wenn es ihn denn gibt, versöhnen wird. Den größten Teil meines Lebens habe ich nicht im eigentlichen Sinne gelebt; es war vielmehr ein überleben von einem Tag zum anderen, und wenn ich zu Bett gegangen bin, habe ich mich gefragt: Was wird morgen mit mir geschehen?, -202-
und noch während ich das dachte, kam das Morgen. Und doch können viele Seufzer ein großes Lied erschaffen. In diesem Augenblick zwitschern Vogel in den Bäumen, vor dem Fenster meines Zimmers spielen ein Dutzend Kinder, und es scheint sogar die Sonne. Und ich will dir dies sagen, weil es alles ist, was ich sagen will: Anna, der Klang deines Namens stößt noch immer die Fenster dieses Zimmers auf.
Er kehrte gegen Mittag zurück und schreckte mich auf. Ich starrte noch immer auf diese Seite, als die Tür quietschte. Erschrocken wollte ich das Tagebuch unter den Stapel von Gedichtbänden schieben, doch der fiel um. Ich kniete nieder und hob die Bücher auf. Er sah, wie ich eine alte Pasternak-Ausgabe auf das Tagebuch legte. Er hielt einen Strauß Lilien in der Hand. Er stellte sie in eine Vase am Fenster, wo sie im Wind nickten. Ich fragte mich, wie oft er beim Abschneiden der Blumen den Namen meiner Mutter ausgesprochen hatte. Sein Gesicht verriet nichts. Ich wollte ihn fragen, ob er mir erlauben würde, das ganze Tagebuch zu lesen, doch bevor ich das tun konnte, sagte er mit einer seltsamen Stimme: Wusstest du, dass sein Vater ihn nie hat tanzen sehen? Ich schwieg lange und fragte ihn dann: Woher weißt du das? Ach, ich besuche ihn hin und wieder. Wo? In seinem Haus. Ihr seid befreundet? Wir unterhalten uns. Was für ein Mensch ist er?, fragte ich. Ein guter, verlässlicher Mann. -203-
Mein Vater wandte sich zum Fenster und sagte, als spräche er zu der Welt dort draußen: Ich fürchte, diese Sache wird ihm letztlich den Rest geben. Er stand am Fenster und rieb den Vorhangstoff zwischen den Fingern. Und seine Mutter?, fragte ich. Sie ist stärker, sagte er. Sie wird es überleben. Er ging zum Tisch, nahm das Tagebuch und blätterte darin. Wenn du willst, kannst du das haben, sagte er. Ich schüttelte den Kopf und gestand ihm, ich hätte ein, zwei Seiten gelesen. Es sei wunderschön. Es ist ein Haufen Mist, sagte er. Er strich über meine Hand und sagte: Julia, lass nie zu, dass sie dein Leben mit Enge vergiften. Ich fragte ihn, was er damit meine, und er antwortete, das wisse er nicht so genau, er habe nur das Gefühl gehabt, es sagen zu müssen. In diesen wenigen Tagen klammerte ich mich an ihn, an seinen Lebensgeist. Wenn er aus dem Haus ging, las ich in seinem Tagebuch. Es war im Grunde ein einziges Liebeslied, und es ärgerte mich, dass er mich mit keiner Silbe erwähnte. Nur er und meine Mutter kamen vor. Seine Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit waren ungeordnet, als wäre die Zeit zu einem formlosen Klumpen geknetet worden – die letzten Tage standen neben den ersten, und manchmal war es, als hätten die späteren Jahre die früheren verändert. Mir wurde bewusst, dass meine Eltern ihr Leben trotz aller Widrigkeiten mit einem gewissen Stil gelebt hatten. Sie waren in Reichtum geboren und hatten mit dem Wissen gelebt, dass sie in Armut sterben würden, und doch schienen sie alles, was ihnen widerfahren war, -204-
akzeptiert zu haben – vielleicht hatte sie diese Umkehrung nur umso glücklicher gemacht, weil sie sie zusammengeschweißt hatte. Ich dachte an meine eigenen kleinen Freuden, ich, die ich den größten Teil meines Lebens allen Schwierigkeiten ausgewichen war. Ich ging durch Ufa, auf rissigen Wegen, vorbei an Fabriken und den wenigen bunten Holzhäusern, die es noch gab. Auf einem Vogelmarkt nicht weit von der Moschee kaufte ich einen Stieglitz, der als schöner Sänger angeboten wurde. Einen Käfig brauchte ich nicht – ich nahm den Vogel in die Hand und trug ihn zum Belaja. Als ich die Hand öffnete, schien er einen Augenblick verwirrt, doch dann flog er davon, um gewiss bald schon wieder gefangen zu werden. Das dumme Selbstmitleid, in dem ich versank, war mir zuwider, doch ich gab mich ihm hin, weil es in gewisser Hinsicht auch etwas Heilsames hatte. Ohne Überlegung kaufte ich noch zwei Vögel und ließ sie frei, um dann festzustellen, dass ich kein Geld mehr für die Straßenbahn hatte. Ich betrachtete das als passende Ironie und ging zu Fuß zum Haus meines Vaters zurück. Ich blieb noch drei Tage. Am Abend vor meiner Abfahrt nach Leningrad sagte ich meinem Vater, ich dächte darüber nach, mich scheiden zu lassen. Er schien nicht überrascht zu sein, ja vielleicht war er sogar zufrieden. Gut, dann lass dich scheiden. Ich runzelte die Stirn, und er breitete die Arme aus. Oder heirate wenigstens einen anderen! Und was ist mit der Wohnung? Was kümmert dich das?, sagte er. Wir leben in uns selbst, nicht in unseren Wohnungen. Ich starrte eine Weile trübselig vor mich hin, bis er -205-
sagte: Julia, Liebes – lass dich scheiden. Bleib in Petersburg. Lebe das, was dir bleibt. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und rauchte den Stummel einer übel riechenden Zigarre, den er aus einem Versteck gekramt hatte. Später sagte er, er habe noch etwas Besonderes vor. Er legte den Finger an die Lippen, als wären noch andere Leute im Raum, und ging zum Grammophon. Ich dachte, er wolle eine Schallplatte auflegen, doch er legte den Arm mit der Abtastnadel um und begann, den Apparat auseinander zu nehmen. Im Inneren des Grammophons lag eine kleine, flache Schatulle. Er reichte sie mir und sagte, sie habe meiner Mutter gehört, und die habe immer gewollt, dass ich sie bekäme. Ich hätte sie dir schon viel früher geben sollen, sagte er. Er sprach nicht weiter, als ich versuchte, die Schatulle zu öffnen. Sie war lange nicht mehr geöffnet worden und der Verschluss verrostet. Ich nahm ein Messer und begann ihn vorsichtig aufzuheben. Mein Vater sah mir stumm zu. Ich erwartete ein zweites Tagebuch, vielleicht eins, das sie vor der Revolution geführt hatte. Oder vielleicht einige alte Liebesbriefe. Oder ein paar billige Schmuckstücke, die sie im Lauf der Jahre gekauft hatte. Ich wollte die Schatulle schütteln, doch mein Vater packte mich am Handgelenk. Tu das nicht, sagte er. Er nahm das Messer und öffnete den Verschluss. Ohne den Deckel aufzuklappen, reichte er mir die Schatulle. Es war eine winzige Untertasse aus Porzellan darin, nicht größer als ein Aschenbecher. Sie war klein und zart und blassblau, der Rand mit ländlichen Motiven verziert: Bauern und Zugpferde. Anfangs war ich enttäuscht: Sie -206-
war so leicht, so zerbrechlich, sie schien mit keinem von beiden irgendetwas zu tun zu haben. Sie ist hundert Jahre alt, sagte er. Sie hat der Großmutter deiner Mutter gehört. Deine Mutter hat sie nach der Revolution aus einem Keller in Petersburg geborgen, zusammen mit vielen anderen Teilen. Sie wollte sie alle behalten. Was ist aus den anderen Teilen geworden? Sie sind auf unseren Reisen zerbrochen. Und das ist das Einzige, was noch übrig ist? Er nickte und sagte: Armut Begierde Krankheit Neid Hoffnung. Wie bitte? Armut Begierde Krankheit Neid Hoffnung, wiederholte er. Das alles hat diese Untertasse überstanden. Ich hielt das winzige Stück Porzellan in den Händen und weinte, bis mein Vater lächelnd sagte, es sei an der Zeit, erwachsen zu werden. Ich wickelte die Untertasse wieder ein und legte sie in die Schatulle, die ich zwischen die Kleider in meinem Koffer schob, so tief unten, dass sie nicht entdeckt werden oder auf irgendeine Weise zu Schaden kommen konnte. Sorg dafür, dass ihr nichts passiert, sagte mein Vater. Wir umarmten uns, und er zitierte aus einem Gedicht, in dem Schwärme von Nachtvögeln vor dem Mond vorbeiflogen. Ich fuhr mit dem Zug nach Leningrad zurück, und während die Landschaft schnell vorbeizog, fand ich endlich den Mut, mich scheiden zu lassen. Nun ging es nur noch darum, genug Geld für die Steuer zu sparen und den richtigen Augenblick abzuwarten. Im Lauf der nächsten achtzehn Monate machte ich einige Übersetzungen und -207-
versteckte das Geld zusammen mit der Untertasse. Und dann, eines Abends im Frühsommer 1963, erwachte ich etwas desorientiert und wusste nicht, ob es Morgen oder Abend war. Die Nachrichtensperre über Rudi war an diesem Tag aufgehoben worden. Zwei Jahre lang war er nirgends erwähnt worden, doch heute hatten sowohl in der Iswestija als auch in der Prawda Artikel über ihn gestanden. Dort hieß es, er habe sich und sein Land herabgesetzt, und das war belustigend und vielleicht sogar wahr. Natürlich war kein Foto abgedruckt, aber irgendwie ließ ihn die Schärfe dieser Kritik erstrahlen. Josif war in den vergangenen Monaten immer wütender geworden. Zweimal hatte er mich geschlagen. Idiotischerweise hatte ich mich hinreißen lassen zu sagen, sein Schlag sei so saftlos, wie man es von einem Mitglied der Intelligentsia erwartete, und daraufhin hatte er so mit der Faust zugeschlagen, dass sich einer meiner Zähne gelokkert hatte. Seitdem sprachen wir nur noch wenig miteinander. Er saß zusammengesunken über einem Teller Suppe und las genüsslich schlürfend die beiden Zeitungen. Er erschien mir alt; die kahle Stelle auf seinem Schädel leuchtete im Licht der Lampe über seinem Kopf. Ich lag im Bett und beobachtete ihn, aber nach einer Weile hörte ich von draußen einen Lärm, ein entferntes, gedämpftes Geschrei, das, während ich darauf lauschte, lauter zu werden schien. Noch ein Schrei und dann ein dumpfer Schlag. Was war das?, fragte ich. Geh schlafen, Frau, sagte Josif. Das sind bloß ein paar Rowdys, die Fußball spielen. Ich legte mein Gesicht an die kühle Seite des Kissens, doch das Geschrei hatte etwas an sich, das mich beun-208-
ruhigte. Ich wartete eine Stunde, bis Josif auf dem Sofa eingeschlafen war, dann stand ich auf, trat ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinunter. Ich hatte an verschiedenen Übersetzungen gearbeitet und war müde, und ich musste mehrmals blinzeln, bis ich klar sehen konnte. Jenseits des Hofes, zum Fußballplatz hin, standen ein paar junge Burschen um ein paar frisch aufgeworfene Erdhaufen herum. Es wurde irgendetwas gebaut, und die Erde war zu einer Reihe kleiner Hügel aufgeschüttet. Die Burschen hatten ein paar kurze weiße Stöcke gefunden und sie als Tormarkierung in den Boden gesteckt. Ein Mann in mittleren Jahren, der aussah wie ein Kriegsveteran – er trug eine alte Militärmütze schief auf dem Kopf –, versuchte, an die Stöcke zu kommen, doch die Burschen stießen ihn immer wieder zurück. Er schrie irgendetwas – was, konnte ich aus dieser Entfernung nicht verstehen. Die Rowdys umringten ihn und stießen ihn gegen die Brust, aber er wich nicht zurück. Plötzlich durchbrach der Mann den Kreis, riss die beiden weißen Stöcke aus dem Boden und schwenkte sie wie Waffen. Er ging langsam rückwärts. Die Burschen beobachteten ihn. Als er etwa fünf Meter entfernt war, drehte der Mann sich um und rannte, die beiden weißen Stöcke an die Brust gepresst, davon. Sie machten sich nicht die Mühe, ihn zu verfolgen, sondern lachten nur und gingen zu einem der aufgeworfenen Hügel, wo sie in der Erde wühlten, bis sie einen weißen Ball fanden, den sie sich zuspielten. Es überlief mich kalt, als mir bewusst wurde, dass es ein Schädel war. Der Boden schien zu wanken. Ich klammerte mich an die Fensterbank. -209-
Der Veteran hatte sich inzwischen umgedreht. Er sah, wie sie den Schädel hin und her kickten. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Er ließ die Stöcke fallen – es müssen Oberarm- oder Oberschenkelknochen gewesen sein – und rannte wieder auf die Burschen zu. Seine Statur, seine Jacke, seine Mütze, seine Trauer ließen ihn schwerfällig erscheinen. Hinter ihm lagen die Knochen gekreuzt auf dem Boden. Mir fiel der Text eines Liedes ein, in dem sich die Toten in einen Schwarm Kraniche verwandeln und davonfliegen. Ich zitterte und fragte mich, ob es die Knochen eines Russen oder eines Deutschen waren, und dann fragte ich mich, ob das eine Rolle spielte, und dann dachte ich an die kleine Untertasse aus Porzellan, die ich gut verpackt und versteckt hatte. Ich saß auf dem Boden unter dem Fenster, kauerte mich zusammen zum Schutz vor der Zügellosigkeit, die uns überkommen hatte. Dann zog ich die Vorhänge wieder zu und betrachtete den schnarchenden Josif. Ich war erschöpft, aber erregt, als würde ich von etwas Schrecklichem hinuntergezogen und zugleich vorangeschoben. Ich wollte Josif wecken, wollte ihm sagen, dass wir es überstehen, es gemeinsam hinter uns bringen würden, dass wir lernen und uns ändern könnten. Ich wollte, dass er etwas Liebevolles, Tröstliches für mich tat, doch ich weckte ihn nicht, und er regte sich nicht, und ich wusste, dass die Gelegenheit vorüber war. Ich war achtunddreißig und verließ ihn. Ich zog den Koffer unter dem Bett hervor und begann zu packen: meine Kleider, meine Bücher, meine Nachschlagewerke, die halb fertigen Übersetzungen, die Untertasse aus Porzellan. Ich war laut genug, um Josif zu wecken, aber er wachte nicht auf. Ich hatte das Gefühl, der schlafende Josif wusste, was den wachen Josif erwartete. -210-
Einen Augenblick lang erwog ich, ihn auf die Wange zu küssen, schrieb ihm dann aber lieber einen Zettel. Ich zitierte meinen Vater: Die Sterne seien tiefer als ihre Finsternis. Als ich alles gepackt hatte und bereit war zum Aufbruch, war es Morgen. Am Himmel waren Wolkenriffe erschienen. Die jungen Burschen waren verschwunden, doch der Veteran war noch immer auf dem Fußballplatz. Er hatte sich eine Schaufel besorgt und vergrub den Schädel und die Knochen in einer stillen Ecke. Die Sonne hing zwischen entfernten Türmen, die Wohnblocks am Horizont sahen aus wie Bauklötze. Wie auf ein Stichwort flog ein Schwarm Vögel auf, klein vor der Weite des Himmels. Ich ging die Treppe hinunter, denn die Enge der Aufzugkabine war mir zuwider. Die Luft war schon jetzt warm und feucht. Der Koffer war nicht schwer. Draußen kam ich an dem Veteranen vorbei, der zu Boden sah und mir dann den Rücken zukehrte, als wollte er sagen: Unsere Kriege sind nie vorüber. Juni 1964 Tamara, Du wirst mir nicht glauben, aber die Nachricht von Vaters Tod hat mich getroffen wie ein Axthieb. Ich bin auf die Knie gefallen. Es war in Italien. Diese Idioten haben bis nach der Aufführung gewartet, dann erst haben sie mir das Telegramm gegeben, das von Paris nachgesandt worden war. Dort war es zunächst irrtümlich gelandet. Deswegen also hat es so lange gedauert, bis ich mich gemeldet habe. Das war der einzige Grund. Ich bin allein durch die Straßen von Mailand gelaufen und habe die ganze Zeit an ihn denken -211-
müssen, und – ob du es glaubst oder nicht – es waren liebevolle Gedanken. Es stimmt zwar, dass mein Verhältnis zu Vater die meiste Zeit schwierig war, aber ich habe auch das Gegenteil erlebt. Es ist sehr wohl möglich, diese widersprüchlichen Gefühle in sich zu vereinen, jeder hergelaufene Choreograph wird dir das bestätigen. Darum hat mich das, was du gesagt hast, sehr verletzt. Es stimmt: Ich habe am nächsten Abend getanzt. Aber für mich findet im Tanz jedes Gefühl seinen Ausdruck, nicht nur Freude, sondern auch Tod, Sinnlosigkeit und Einsamkeit. Sogar die Liebe muss die Einsamkeit überwinden. Also habe ich ihn durch Tanz zum Leben erweckt. Als ich auf die Bühne trat, breitete ich die Flügel aus und war frei. Du wirst das vielleicht nicht glauben wollen, aber es ist die Wahrheit. Die Geschichten, die du gehört hast – dass ich in Nachtclubs feiere –, sind absurd. Das Foto, auf dem ich in der Garderobe der Scala eine Flasche Champagner spritzen lasse, ist nicht am Abend von Vaters Tod gemacht worden, sondern an einem anderen. Glaub ihnen nicht, wenn sie dich belügen. Diese Vorstellung ist grauenhaft. Ich bin sechsundzwanzig. Wie kann nur jemand auf den Gedanken kommen, ich sei ein gefühlloses Tier geworden? Bin ich zu Eis erstarrt? Bin ich aus Holz? In Wahrheit blute ich ebenso sehr wie jeder andere, wahrscheinlich sogar mehr. Du verwünschst mich, dabei bin ich derjenige, der dich und natürlich Mutter beschützt. Du solltest mir dankbar sein. Ich habe meine Heimat und damit alles, was mich hervorgebracht hat, verlassen. Und dass ich weit entfernt war, als das, was mich hervorgebracht hat, gestorben ist, hat mich selbst ein Stück sterben -212-
lassen. Die Finsternis berührt die Finsternis überall. Du wirst das vielleicht nicht verstehen wollen. Aber du solltest zuhören, wenn ich dir sage, wie untröstlich ich war, besonders wegen Mutter, die in meinen Gedanken immer präsent ist. Du sagst, dass mein Leben jetzt einem Zirkus gleicht. Nichts ist einfach, Tamara, nicht einmal deine Versuche, alles zu vereinfachen. Warum ich es getan habe? Ich wollte nie weggehen, ich hätte bleiben können, aber wenn man zu lange Wasser tritt, lernt man vielleicht nie schwimmen. Ich wollte damit kein Zeichen setzen. Politik ist etwas für dicke Männer mit Zigarren. Sie ist nichts für mich. Ich bin Tänzer, ich lebe, um zu tanzen. Das ist alles. Und du schnaubst verächtlich und fragst mich, wie mein Leben jetzt ist? Ja, ich habe Glück. Ich habe ein Haus, Verträge, einen Masseur, Manager, Freunde. Ich habe auf beinahe jedem Kontinent getanzt. Ich habe mit Präsident Kennedy im Weißen Haus Tee getrunken, bevor er erschossen wurde. Margot und ich haben bei den Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Präsident Johnson getanzt. In der Wiener Staatsoper haben wir neunundachtzig Vorhänge bekommen. Der Applaus dauert oft eine halbe Stunde. Ich bin herrlich glücklich, aber manchmal wache ich morgens mit dem schrecklichen Gefühl auf, dass es vorbei ist und ohnehin nie viel bedeutet hat. Ich will nicht als Sensation, als Zeiterscheinung präsentiert werden. Ich fahre von einem Land zum anderen. Ich bin dort, wo ich zur Person geworden bin, eine Unperson. Ich bin staatenlos. Na und? Das war ich doch sowieso immer, wahrscheinlich schon damals in Ufa. Das Tanzen, nur das Tanzen, erhält mich am Leben. Goethe sagt: Als Preis für das Lied fordern die -213-
Götter, dass wir werden, was wir singen. Manchmal gehen mir Dinge durch den Kopf, deren wirkliche Bedeutung, deren Sinn ich nicht entschlüsseln kann. Kannst du dich an die Bierverkäuferin erinnern, die ihren Stand am Ende der Krassina hatte? Sie hatte ein Gesicht wie ein Maultier. Sie besaß nur drei Gläser und trieb die Männer immer an, sie sollten endlich austrinken. Sie konnte sehr gut mit dem Rechenbrett umgehen. Du hast mich einmal nachmittags dorthin mitgenommen und mir gesagt, du könntest die Uhrzeit daran ablesen, wie viel von ihr verschwunden war. Das habe ich nicht verstanden, bis du mir den Schatten ihres Sonnenschirms gezeigt hast, der auf sie fiel. Zu Mittag war sie ganz im Dunkeln, denn die Sonne stand hoch am Himmel, aber gegen Ende des Tages konnte man sie gut sehen, weil die Sonne dann so tief stand. Man konnte also die Uhrzeit anhand des Schattens bestimmen. Ich will dir etwas sagen: Ich beneide dich oft darum, dass du die Freiheit hattest, Ilja zu heiraten. Ja, die Freiheit. Du musst verstehen, dass ich gern Entscheidungsfreiheit hätte, doch mir ist sie verwehrt. Mein Leben besteht aus Opernhäusern, Hotelzimmern, Speisesälen, Mittagessen, Proben. Jedenfalls tut es mir wirklich Leid, dass ich nicht zu deiner Hochzeit kommen konnte. Ich bin im Westen bei ähnlichen Feiern gewesen und habe an dich gedacht. Du hast bestimmt wunderschön ausgesehen. Richte deinem Mann bitte meine Grüße und Glückwünsche aus. Natürlich stört es mich nicht, dass er Hausmeister ist – warum sollte mich das auch stören? Du solltest mehr Vertrauen in mich haben. Ohne Hausmeister, Elektriker und Installateure würde die Menschheit wahrscheinlich im Dunkeln in einen Eimer scheißen. -214-
Im Augenblick bin ich für drei oder vier Tage im Landhaus eines Freundes. Es ist – abgesehen von den Zeiten, in denen ich verletzt war – das erste Mal in zehn Jahren, dass ich weder tanze noch probe. Ich brauche das, ich habe lange nicht mehr richtig durchgeatmet. Mein Freunde sind gut zu mir – zwischen uns herrscht großartige Kameradschaft. Vielleicht habe ich mich verändert, aber das ist nur gut so. Ich kann Dummköpfe nicht ertragen. Am meisten aber, und das ist das Wichtigste, hat sich mein Tanz verändert. Ich habe auf dem Fundament, das ich in Leningrad gelegt habe, ein Kolosseum errichtet. Die Erfolge mit Margot Fonteyn sind atemberaubend. Die vergangenen Jahre waren sehr schwer für sie, nicht zuletzt, weil ihr Mann seit einiger Zeit an den Rollstuhl gefesselt ist. Doch wenn sie tanzt, ist sie ein Genie. Ich habe gesehen, wie sie in ihrem eigenen Haus die Treppe auf Spitzen hinuntergegangen ist. Trotz ihres Alters versetzt sie mich ständig in Erstaunen. Auf der Bühne reicht niemand an sie heran, und wir sind wie füreinander geschaffen. Die Welt ist unser Zeuge. Ich habe bisher unablässig gearbeitet, die Welt hat ihren Tribut verlangt, und so ist es jetzt wohl an der Zeit, kurz aufzutanken. Ich bin hier, um Inventur zu machen. Obwohl wir hier in einer hügeligen Gegend sind, ist das Land allgemein flach. In gewisser Weise erinnert es mich an die Krim. Ein Freund kümmert sich um mich, kocht die Mahlzeiten, nimmt Anrufe entgegen und hält mir die Journalisten vom Leib. Wenn das Telefon läutet, denke ich an Mutter. Ich hoffe, sie ist stark. Manchmal ist meine Wut unbezähmbar. Ich möchte meine Empörung in die ganze Welt hinausschreien, aber ich weiß, was dann passieren würde. -215-
Wenn ich den Mund aufmache, wird sie noch mehr isoliert. Und ich will dir auch sagen, dass die Gerüchte, die du über meine Beziehungen zu anderen Männern gehört hast, vollkommen erlogen sind. Ich habe viele Freunde – so einfach ist das. Schenk diesen elenden Kakerlaken, die mich in den Schmutz ziehen wollen, keinen Glauben. Du solltest stolz auf mich sein, und wenn wir von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen könnten, würdest du die Lügen, die über mich erzählt werden, bestimmt als solche erkennen. Ich erinnere mich an die langen Abende in Ufa, an das Sonnenlicht, an die schmutzige Luft. Du siehst, ich habe mein Heimatland nicht vergessen, aber ich will nicht sentimental sein. Ich werde noch immer von Geheimagenten verfolgt. Ich lebe in Angst, aber ich werde nicht zulassen, dass mich das irgendwie beeinflusst, ich werde es hinter mich bringen, damit ich eines Tages sagen kann: Ich habe es hinter mich gebracht. Ich bereue nichts. Reue ist etwas für schlichte Gemüter. Manchmal träume ich von Mutter und davon, sie in den Westen zu holen. Sie sollte ein Leben in Bequemlichkeit haben. (Du auch, wenn du das willst.) Ich habe mit Politikern gesprochen, aber die sagen, ihnen seien die Hände gebunden. Ich habe Rechtsanwälte beauftragt, alle Möglichkeiten auszuloten. Sie nehmen natürlich mein Geld, aber ich fürchte, dass es sinnlos ist. Blutsauger! Wir müssen stark sein und dürfen uns kein Schicksal aufzwingen lassen. Was Mutter betrifft, so hoffe ich, dass sie stark ist. Einmal hat sie ihm vor unseren Augen die Fingernägel geschnitten, weißt du noch? Es war ihm peinlich, dass -216-
wir sahen, wie ihm die Nägel geschnitten wurden, darum trieb er sie an. Sie schnitt ihm in den Finger, und er musste tagelang einen Verband tragen. Die verbundene Hand versteckte er in der Jackentasche. Tamara, wenn dieser Brief dich erreicht, dann sag Mutter bitte, dass ich ständig an sie denke. Sag ihr, dass ihr Sohn tanzt, um die Welt zu verbessern. Und flüstere meinen Namen in das Gras, wo Vater ist. Das ist alles. Rudik
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BUCH ZWEI
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1961-1971 Ich will, dass dieser denkende Körper– Dieses verkohlte, knochige Fleisch Mit bemessener Lebensspanne – Zurückkehrt in eine Straße, ein Land Ossip Mandelstam
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Elf Stunden Proben, eine Stunde langsame Arbeit an der Barre. Die korrekte Phrasierung unmöglich zu erreichen. Du brauchst die Geduld eines Steinmetzen. Wegmeißeln, bis alles passt. Nach kurzem Schlaf in der Garderobe noch eine Stunde Probe mit Rosella. Bei der Vorstellung hat es niemand – niemand! – bemerkt, nicht mal Françoise. Zwanzig Vorhänge, aber wen kümmert das? Immer daran denken: Vollkommenheit ist Pflicht. In einem Interview sagt Petit, dass es gewisse Dinge gibt, die sich, wenn sie ausgesprochen werden, selbst zerstören, dass der Tanz das Einzige ist, was die sonst unbeschreiblichen Dinge beschreiben kann. Ja. Der kurze Brief von Grace Kelly hing an der Glühbirne über dem Spiegel. Edith Piaf sah von der Veranda aus zu. Jean Cocteau lächelte aus den Schatten. Marlene Dietrich lag ausgestreckt auf dem Divan. Es gab das Gerücht, Leonard Bernstein sei unterwegs von seinem Hotel hierher, und vielleicht werde sogar Picasso erscheinen. Jemand begann, Proust zu zitieren. Und alles für mich! Ging mit den Leibwächtern zu Fuß zurück zum Hotel und hörte einen Straßenkehrer unten auf den Quais Mo-zart summen. Und ich dachte, mich würde nichts mehr überraschen, nicht einmal meine Träume. Im Haus La Rochefoucauld: fünfzehn Sorten Champagner, mehr Kaviar, als ich je gesehen habe. Orchideen auf den Tischen. Goldene Kandelaber. Alle wirbelten herum, der Raum hatte keine Ecken. Die Gespräche drehten sich um -220-
Choreographen, Kritiker, das Publikum, wandten sich aber schließlich den Philosophen zu, den westlichen Philosophen, darunter auch Derrida, und dabei konnte ich nicht mithalten. Ich muss so vieles aufholen, sonst werden sie mich nicht ernst nehmen. Meine Antwort war im Grunde eine Wiederholung von Saschas Gedanken, dass der Tanz etwas ausdrückt, das sonst nicht ausgedrückt werden kann. Tanz mit deinen Eiern. Der Kopf folgt den Eiern. Allgemeines Nicken. Kichern hinter vorgehaltener Hand. Ich verabschiedete mich, stattdessen hätte ich ihnen meine Zunge in den Hals schieben und ihr leeres Herz damit durchbohren sollen. Dreiundzwanzig Jahre alt. Der unablässige (und sorgfältig verborgene) Gedanke, ein Hochstapler zu sein. Aber man kann nicht zur Geschichte dessen werden, was man hinter sich gelassen hat. Kein Tee, keine Erbstücke, kein Geheul. Kein trockenes Brot, eingeweicht in Wodka und Tränen. Gib dir einen Tritt und lauf in Stiefeln und weißem Seidenhemd über die Boulevards von Paris! Mutter hat am Telefon haltlos geweint. Am späten Abend der Gedanke, wie sie vor dem Radio sitzt und an weißen Knöpfen dreht: Warschau, Luxemburg, Moskau, Prag, Kiew, Vilnius, Dresden, Minsk. Tamara hat gesagt: Du hast uns verraten. Menuhin spielte Bach in der Salle Pleyel – mein Herz klopfte schneller, und ich vergaß beinahe alles. Ein Bad. Honig im Tee. Proben. Die Vollkommenheit -221-
liegt nicht so sehr in der Darstellung als vielmehr auf dem Weg dorthin. Das ist die wahre Freude. Du musst brennen! Jede Ecke, jede Skulptur, jedes Gemälde raubt mir den Atem. Ich laufe durch ein Geschichtsbuch, das nie aufhört und sich weigert, zum Ende zu kommen. Der Louvre ist ein achtes Weltwunder, beinahe so gut wie die Eremitage (obwohl nur halb so groß und nicht ganz so prunkvoll). Mittlerweile kennen mich die Wärter, und einer hat mich in gebrochenem Tatarisch begrüßt. Seine Familie ist vor Generationen ausgewandert. Er war bei den Impressionisten, also bin ich ein Weilchen dort geblieben. Claire hat mich aus dem Museum geführt und ist mit mir an der Seine spazieren gegangen. Sie hat mir eine riesige Sonnenbrille gekauft und mir den Schirm der Ledermütze ins Gesicht gezogen, damit mich keiner erkennt. Sofort riefen vier Leute: Nurejew! An einem Stand schwenkte ein Buchhändler ein signiertes Exemplar von In einem anderen Land. Er ist erst seit ein paar Wochen tot, und schon werden seine Bücher zu lachhaften Preisen verkauft. (Vielleicht sollte man mitten im Tanz, en l'air, sterben und die Vorstellung dann einfrieren und meistbietend versteigern lassen.) Claire sah in ihrer Handtasche nach, aber der Buchhändler sagte, er könne nicht rausgeben. Sie hat das Buch für beinahe das Anderthalbfache gekauft. Sie wunderte sich, dass ich so schockiert war. Später erklärte sie mir, wie ein Bankkonto funktioniert – was für ein Unsinn! Gerüchte, dass Sascha gefoltert worden ist, dass sie Xenia verhört und Julia für eine Woche eingesperrt haben. Das ist bestimmt nicht wahr.
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In Paris gibt es eine neue Frisur: den Nurejew. In Le Monde schreibt irgendein Geier, diese Mode sei so schnell erschienen wie die Berliner Mauer, aber wie Cocteau sagt: Das entspringt nur ihrem Wunsch, mich zu kommodifizieren. Ach, hätte ich doch einen Kopf wie Cocteau! (Er sagte, er habe mal geträumt, in einem Aufzug gefangen zu sein und die ganze Zeit die dritte Symphonie von Skrjabin zu hören.) Der bärtige Jude ging in östlicher Richtung durch den Jardin du Luxembourg, sein langer Mantel streifte seine Knöchel. Die Hände waren auf dem Rücken gefaltet und hielten ein Gebetbuch. Dann setzte er sich auf eine Bank unter Bäumen und stocherte in den Zähnen. Vielleicht hat er gedacht: Ach, Petersburg. (Bedenke: Die Körperenergie überträgt sich stets auf den Ausdruck des Gesichts.) Madame B. wartete, während der algerische Schneider Maß nahm. Dann kaufte sie den schwarzen Samtanzug. Sie sagte, ich sollte neue Anfange genießen ohne Ende. In der Wohnung machte das Dienstmädchen ein grässliches Mixgetränk auf Pfefferminzteebasis. Ich nahm einen Schluck und spuckte ihn sogleich wieder ins Glas. Madame schien entzückt – als hätte sie einen echten Wilden entdeckt. Sie kam zum Divan und rieb das Revers meines Anzugs zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich entschuldigte mich und trat ans Fenster. Unten, auf dem Bürgersteig, hatten die Männer ihre Mäntel über den Arm gelegt, und die Frauen trugen ihre Hüte, als wären diese etwas Lebendiges. Der Verkehr stockte. Zeitungsfetzen wehten an der Seine entlang. -223-
Madame stand am Fenster und versuchte, mir etwas zuzurufen, als ich am Quai davonging. Die Armbanduhren waren allesamt handgemacht, aus Deutschland und hatten keine Preisschilder. Es war schwierig, Nonchalance vorzutäuschen, als Madame fragte, welche ich wolle. Sie möchte mich mit ihrem Reichtum ersticken, aber warum sollte ich einem Brunnen sagen, dass ich sein Wasser nicht trinken werde? Später wies Madame mich darauf hin, dass ich, wenn ich nervös bin, die Manschetten meines Hemdes bis zu den Knöcheln ziehe. Sie sagte, das sei ungehobelt, die Geste eines Bauern, aber es werde sich mit der Zeit verlieren. Sie lehnte sich, eine lange Zigarette in der Hand, an die Balustrade des Balkons und senkte ihr Kinn ein wenig, als hätte sie gerade etwas sehr Kluges gesagt. Ich zupfte wieder an meinem Ärmel. Sie wedelte mit ihrer Zigarette. Oh, non, non, non, Rudi, mon Dieu! Und dann der außergewöhnliche Ausdruck auf ihrem Gesicht, als ich die Uhr vom Balkon in den Garten warf. Wenn du deinen Hut in geschlossenen Räumen aufbehalten willst, wer soll es dir verbieten? (Sie vergisst, dass man einen Eimer Scheiße ganz leicht ausleeren kann, besonders auf einer Wendeltreppe.) Du kannst nicht verrückt (Nijinski) oder selbstzufrieden (Tichomirow) enden. Im Regen vor dem Palais wartete ein Bewunderer. Ungar. Sagte, er sei 1959 geflohen. Er stand in dem Wasserstrahl, der aus dem Fallrohr spritzte, und sagte, erst als er mich -224-
tanzen gesehen habe, sei ihm bewusst geworden, wer er wirklich sei. Was für ein Idiot. Er hielt sich eine Zeitung über den Kopf, und die Druckerschwärze war ihm über das Gesicht gelaufen. Außerdem roch er nach Cognac. Ich habe ihm trotzdem ein Autogramm in sein Buch geschrieben. Maria nahm meinen Arm. Beim Abendessen sprachen wir über die Großen, über die Karsawina, die Pawlowa, Fonteyn usw. Ich stellte Maria natürlich an den Anfang der Liste. Sie errötete. Später sagte sie etwas Kluges: Man müsse einen älteren Tänzer genießen wie eine Hummerschere. Und geschickt machte sie es vor, riss die Schere auseinander und saugte sie geräuschvoll aus. Diese Idioten hatten Pailletten an die Ärmel meines Kostüms genäht, sodass ich, wenn ich sie hochhob, die Innenseiten ihrer Oberschenkel zerkratzte. Beim Pas de deux standen Tränen in ihren Augen, und an ihren Beinen war Blut. Es war die Kostümprobe, das Publikum ungeduldig. In den Kulissen schrie sie vor Schmerzen: Verdammt, verdammt, verdammt, ich bin erledigt! Sie spuckte die französische Garderobiere an. Dann zog sie das Kostüm aus, und der Arzt bandagierte sie. Alles in zwei Minuten. Als sie wieder auf die Bühne kam, war ihr Lächeln so engelsgleich wie immer. Die Kritikerin von Le Monde schrieb, sie habe bisher das Gefühl gehabt, gegen Schönheit immun zu sein, doch nach dem Pas de deux in der Bayadère sei sie mit Freuden-225-
tränen in den Augen aus dem Theater gewatschelt. Lass dich von den Kritikern nicht so gut machen, dass du nicht mehr besser werden kannst. Aber lass dir von ihnen ebenso wenig das Fleisch von den Knochen reißen. (Sascha: Es ist deine Pflicht, die Ungläubigen zu widerlegen.) Wahrheit: Wenn man dich kritisiert, wirst du wild, aber es spricht für dich, dass diejenigen, die immer ruhig zuhören, sich nie verändern. Madame hat den Jungen eingeladen. Sie sagt, er sei aus gutem Hause und studiere Russisch an der Sorbonne. Sie öffnete ihm die Tür. Als sie mit ihm in die Bibliothek trat, war ihr Mund verkniffen. Er ging keck durch den Raum und warf seine Lederjacke auf einen Louis-Quinze-Sessel. Madame erstarrte und zuckte zusammen, als der Reißverschluss über die Sessellehne glitt. Sie legte Strawinsky auf und entschuldigte sich taktvoll. Wir saßen da und sahen einander an. Dann streckte er die Hand aus und sagte: Gilbert. Manchmal kann das kleinste Wort den Bann brechen. Gilbert sagte, man habe mir zu Ehren das silberne Besteck aufgelegt. Er sah mir zu, während ich die Melone aß. Ich fuhr mit der Zunge über die Gabel, und zwar so, dass er es sehen konnte, und spürte quer durch den Raum sein Erschauern. Beim Dessert ließ ich den Löffel einige Sekunden im Mund. Seine junge Frau sah mich unter schmalen Augenbrauen hinweg an und entschuldigte sich bald mit der Begründung, sie wolle zu Bett gehen. -226-
Auf der Fahrt nach Rambouillet leckte Gilbert über das Lenkrad seines Roadsters und begann zu lachen. Im Rückspiegel sahen wir den Champagnerkorken hüpfen. Ich dachte daran, dass überall in der Dunkelheit Hunderte glücklicher Menschen unterwegs waren. Im Dominique begrüßten uns seine Freunde mit großem Hallo. Rudi! Rudi! Rudi! Gilbert stapelte Gläser zu einer Pyramide auf und rief einen Kosaken-Trinkspruch. Der Ober, ein Emigrant, kicherte über meinen Akzent. Ich schüttete ihm meinen Kaffee ins Gesicht, sodass sein schönes weißes Hemd Flecken bekam. Der Geschäftsführer eilte unterwürfig herbei und versicherte mir, er werde den Ober entlassen. Gilbert lachte und stieß mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. Danach, in dem Club in der Rue d'Assis, legten die Jungs mit den roten, rückenfreien Oberteilen einen Cancan hin. Der englische Schauspieler mit den schwarzen Koteletten sah in meine Richtung. Draußen blendete mich die Sonne. Wir gingen direkt zur Probe. Gilbert schlief auf der Bank in meiner Garderobe. Der Mann in der Ecke kam mir bekannt vor, doch ich konnte mich nicht erinnern. Der Schnurrbart und die Augenbrauen waren dick und grau. Er war nervös und rauchte. Ich zermarterte mir den Kopf, denn ich fürchtete, dass er mich verfolgte. Ja, er schien ein Russe zu sein, aber erst als er bezahlte, sah ich, wie gerissen und desillusioniert er aussah. Und dann fiel es mir wieder ein: Er war der Ober aus dem Dominique. Er beachtete mich nicht und verließ das Café, machte aber eine Menge Lärm, als er die Tische beiseite schob. Bei einem Feuerschlucker an der nächsten Ecke blieb er -227-
stehen, holte mit großer Geste einen Zwanzigfrancschein hervor und legte ihn in die Schale des Mannes. Ich verließ ebenfalls das Café und küsste den Feuerschlucker auf die Wange (er zuckte nicht mit der Wimper). Das Arschloch von Ober sah aus einiger Entfernung zu und eilte dann davon, wahrscheinlich zur Rue Daru, wo er und die anderen ihre jämmerliche Existenz beweinen konnten. Die Wahrheit: Ich überspiele meine Angst mit Lautstärke – das gilt auch für Auftritte. Die Ovationen werden anstrengender als das Tanzen. Vielleicht wird es eines Tages ein Ballett der Ovationen geben. Als ich das zu Claire sagte, erwiderte sie, das wäre etwas für Artaud gewesen. Ich wusste nicht, wovon sie sprach ich hatte keine Ahnung. Manchmal ist es unmöglich, diese Leere zu verbergen. Sie sagte, das sei nicht so schlimm, er sei ein französischer experimenteller Dichter gewesen. Sie wird mir seine Bücher besorgen. Das könnte interessant sein – es hat irgendetwas mit einem «Theater der Grausamkeit» zu tun. Sie hat mir auch die Richter-Aufnahme versprochen. Wenn ich einen tragbaren Plattenspieler hätte, könnte ich sie mir unterwegs anhören. Anfangs dachte ich, es sei ein Witz, und hätte sie um ein Haar in vier Sprachen beschimpft. Dann merkte ich, dass es tatsächlich Margot war, und mir stockte der Atem. Sie sagte, es sei alles bereits geregelt. Vor dem Royal Opera House am Covent Garden. Ich brauche nur mein Barett abzusetzen, und die Menge -228-
beginnt zu schreien. Die Proben sind von einer reinen, makellosen Qualität. Margots kompromisslose Intelligenz. Beim Pas de deux tat sie winzige, zögernde Schritte, die sie perfekt auf die Bühne tropfen ließ wie Tränen. Sie macht, dass man nicht nur den Tanz sieht, sondern auch das, was der Tänzer sieht. (Sie wiederum sagt, bei mir sehe es aus, als schwebte ich im Rampenlicht.) Danach nahm sie mich mit in ihr Haus neben der panamaischen Botschaft und kochte einen Lammeintopf. Sie lachte, als ich mir das Hemd über den Kopf zog und den Duft des Gerichts einatmete. (Beim Essen sagte sie im Scherz, sie sei der Hammel und ich das Lamm, doch für mich bedeuten die zwei Jahrzehnte Altersunterschied gar nichts.) Für den Empfang im Savoy zog sie etwas Modisches an – jemand sagte, sie sehe «sehr nach Sankt Moritz» aus, was immer das heißen soll. Als wir in die Hotelhalle traten, fuhren alle Köpfe herum. Der englische Anspruch auf Kultiviertheit ist völliger Quatsch! Reporter und Fotografen haben überall Zutritt. Das Problem mit ihnen ist, dass Tanz für sie nur ein Aperitif und nicht das tägliche Brot ist. Die französischen Kritiker sagen, dass Sie, wenn Sie tanzen, ein Gott sind. Ich bezweifle das. Sie zweifeln an den Kritikern? Ich zweifle an den Franzosen. (Allgemeines Gelächter) Ich zweifle auch an den Göttern. -229-
Wie meinen Sie das? Ich würde sagen, die Götter sind so beschäftigt, dass ich und alle anderen ihnen scheißegal sind. Spaziergang im Regen, vorbei an der National Gallery und der Tate. Der Leibwächter verstand die Angst nicht, die mich beim Anblick der sowjetischen Botschaft in den Kensington Palace Gardens überfiel. Doch dann begriff er, legte mir den Arm um die Schultern und führte mich weg. Ich ging zu Margot. Sie wärmte die Reste des Lammeintopfs auf und kochte einen bitteren englischen Tee. Tito war bei irgendeiner panamaischen Veranstaltung. Sie trug eine Seidenbluse mit tiefem Ausschnitt. Ihr Hals wäre es wert gewesen, mindestens von einem da Vinci gemalt zu werden. Sie fragte mich nach meiner Familie und sagte, sie könne sich Mutter vorstellen – sie müsse eine schöne Frau gewesen sein. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, stand auf und ging in den Garten. Sie folgte mir und sagte, sie habe mich hoffentlich nicht gekränkt. Margot hat einen Projektor aufgebaut und Dutzende Filme hervorgekramt, nach Datum geordnet, der älteste ist von 1938 (!). Saß die ganze Nacht da und sah mir Filme an, bis ich einige mit Bruhn fand. Seine grandiose Feierlichkeit. Ich ging ins Schlafzimmer, konnte nicht schlafen, ging auf und ab. Die Geier fragen mich nach Kuba. Ich lasse mich von ihnen nicht benützen. Der Daily Express hatte eine besonders idiotische Schlagzeile: Che será será. Elephant and Castle: Man erwartet eine Märchenszenerie -230-
und stellt fest, dass man in einem Stadtteil von Kiew gelandet ist. Manager, Agent, Buchhalter – Gillian behauptet, das sei die heilige Dreifaltigkeit im Leben eines jeden großen Künstlers. Gegen Ende der Besprechung sagte Saul, er könne beim deutschen Fernsehen vielleicht fünftausend Dollar herausschlagen. Für einen Zwanzig-MinutenAuftritt – das sind zweihundertfünfzig Dollar pro Minute! Ich tat so, als wollte ich nicht, und konnte ihn am anderen Ende des Tisches schwitzen sehen. (Margot sagt: Verlier den Tanz nicht aus den Äugen.) Erik kam in die Eingangshalle des Savoy. Groß und geschmeidig. Er war ganz weiß gekleidet, sogar die Nähte und der Reißverschluss seiner Jacke waren weiß. Wir umkreisten einander und überboten uns mit Komplimenten. Er hatte gerade entsetzlich viel Geld für einen Miró ausgegeben, und das Gespräch drehte sich um Miró und Picasso – eigentlich sprachen wir aber über uns selbst (Erik ist natürlich Miro, und ich bin Picasso). Nach dem Champagner baten wir einen Pagen, uns Tee und Zigaretten für Erik zu bringen. Er ist Kettenraucher. Um zwei Uhr verabschiedete er sich mit einer Entschul-digung und einem gequälten Lächeln, um auf sein Zimmer zu gehen. Er nahm nicht den Aufzug. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass der beste (zweitbeste?) Tänzer der Welt möglicherweise mit jedem Schritt vier Stufen nahm. Gemeinsam arbeiteten wir eine Stunde an der Barre, danach gingen wir zum Exercice. Durch die Fenster des Royal Opera House strömte das Licht. -231-
In der Tate, vor dem Turner-Bild The Chain Pier 1828, berührte er meine Schulter. Später, in der Savile Row, fragte er mich, wie wir wohl in Anzügen und mit Bowler aussehen würden. Der Verkäufer tat beschäftigt. Ich nahm ihm das Maßband ab, das er um den Hals gehängt hatte, und flüsterte Erik zu, er solle meine innere Beinlänge messen. Wir gingen lachend durch die Stadt und trugen die neuen Bowler. Im Kino in der Shaftesbury Avenue. Dunkelheit. Eriks lange Silhouette vor dem Fenster des Savoy, draußen Regen. Der englische Schuhmacher war ganz anders, als ich erwartet hatte. Glatze, schmutzige Anzugjacke, ein Gesicht wie ein Kosak. Über seinem Arbeitstisch hängt ein gerahmtes Foto von Margot. Ich konnte in dieser Fabrik kaum atmen – der Gestank von Kuhhäuten und Eimern voller Leim. Aber seine Schuhe sind großartig. Er hat stundenlang dafür gebraucht und penibel an allen Details gefeilt. Schon allein die neuen Schuhe anzuziehen hat mir neue Energie gegeben. (Der Schuhmacher in der Kasnacheiskaja könnte hier noch das eine oder andere lernen.) Danach, in der Garderobe, brannte in der Glühbirnenreihe über Margots Spiegel eine Birne durch. Sie kam an meine Tür, klopfte ein paar Mal und wurde ganz aufgeregt, als ich nicht öffnete. Rudi, schnell, sag einen Wunsch! (Sie ist sehr abergläubisch. Manchmal fängt sie eine Wimper oder ein Blütenblatt der Blumen in der Vase auf, und sie ist davon überzeugt, dass das eine Wirkung auf alles andere hat.) -232-
In Edinburgh schneite es, und ich fühlte mich nach Leningrad versetzt. Clarinda und Oscar schreiben im Auftrag eines Verlags (und unter einem Pseudonym) über meine Flucht; das ist zwar vollkommen lächerlich, aber das Einzige, was die Leute interessiert. Sie sagen, dieses Buch wird sich verkaufen, und die Leser wollen wissen, was passiert ist, wie ich geflohen bin, bla bla bla. (Ich kann mich nicht mal an das Datum erinnern. Vielleicht war es der 17. Juli – wen interessiert das schon?) Aber ich werde behilflich sein und von Freiheit schwafeln. Ihr Haus in Kensington ist warm und geräumig, und sie haben mich eingeladen, ein, zwei Monate bei ihnen zu wohnen. Sie hat mir versprochen, meine Wäsche zu waschen, das Essen zu kochen und sich um mich zu kümmern. Warum also nicht? Es kostet nichts, und sie ist immerhin kultivierter als eine Sklavin. Nachmittags hören sie gern Hörspiele im Radio – sehr englisch. Sie machen Tee und Scones und zünden den Kamin an. Ich strecke mich auf dem Bärenfell aus. Abends legen sie Holz nach und kochen Schokolade. Clarinda hört gern zu, wenn ich Klavier spiele. Sie sagt, ich sei brillant (was eine selbst für ihre Verhältnisse faustdicke Lüge ist). Vielleicht werde ich tatsächlich besser, aber ich wollte, ich könnte die Finger weiter spreizen. Ich könnte mein eigenes Orchester sein. Clarinda hat die Magazine gefunden und sie taktisch geschickt unter die drei Ionesco-Stücke gelegt. Ich kam mir vor wie ein ungezogener Junge, beherrschte mich aber und sagte kein Wort. Das Hotelzimmer war voller Assistenten, Scheinwerfer, -233-
Kabel, Friseure, Ober mit Tabletts. Die Maskenbildnerin flüsterte mir zu, Avedon werde vermutlich einen großen Auftritt hinlegen. Ich wartete und behielt die Tür im Auge. Es war ein Trick, und zwar ein guter. In Wirklichkeit war er nämlich schon die ganze Zeit da, mitten unter all den Assistenten, beobachtete mich, machte sich mit mir vertraut, notierte sich in Gedanken, aus welchem Winkel er mich fotografieren wollte. Er schickte alle hinaus und öffnete den Champagner. Als ich mich auszog, sagte er: Donnerwetter! Am nächsten Morgen erwachte ich starr vor Angst. Gillian rief in seinem Studio an und drohte für den Fall, dass die Fotos je veröffentlicht werden würden, mit einer Klage. Avedon schickte mir ein Telegramm: Ihr (großes) Geheimnis ist bei mir sicher.
Erik streckte sich aus und schlief ein. (Ich dachte daran, dass Anna einen Abdruck auf Sergejs Kissen gemacht hatte.) Sein Atem ging unregelmäßig, und er roch nach Zigaretten. Lieder eines fahrenden Gesellen. Ich küsste ihn und packte meine Sachen. Anstatt durch den Tunnel zu fahren, wollte der Chauffeur den Fluss auf der oberen Ebene der Brücke überqueren. Er sagte, ich müsse sehen, wie die Lichter der Stadt angingen. Meine Begleiter hielten das für uninteressant, außerdem sei die Brücke alt und baufällig, doch ich rief: Wir fahren über die verdammte Brücke! Der Chauffeur grinste. Die Stadt war ein verrückt gewordenes Juwel. Ich streckte den Kopf durch das Fenster. Einer der Begleiter sagte immer wieder, dass weniger Wohnungen als sonst erleuchtet seien, weil heute ein jüdischer Feiertag sei. (Noch so ein neurotischer Jude.) -234-
Ich konnte ihr Gequatsche nicht mehr hören und setzte mich nach vorn zum Chauffeur. Auf meine Bitte schloss er das Schiebefenster hinter uns. Das Radio spielte Charlie Parker. Er sagte, man habe ihn Bird genannt, weil seine Füße nie den Boden berührt hätten. (Auch Nijinski weigerte sich, je herunterzukommen. Vielleicht bleiben alle Verrückten lieber in der Luft.)
Ging beim Zeitungsstand auf und ab, sah zu, wie die Leute die New York Times kauften, und dachte: Ich bin in Millionen Armen en l'air. Das Foto zeigte mich in perfekter Haltung. Sascha! Tamara! Mutter! Vater! Ufa! Leningrad! Hört ihr mich? Ich grüße euch von der Avenue of the Americas! Schnee und nicht allzu viel Verkehr. Der Pelzmantel erregte Gelächter, aber einige lächelten auch. Vor dem Apollo erkannte mich eine Frau, und es gab einen Auflauf. Einer sagte: Mach mal einen Sammy Davis! Ich sprang auf einen Hydranten und machte eine Pirouette. Die Menge brüllte. Im Wagen durch die St. Nicholas Avenue zurück. (Niemand glaubt mir, dass es in Russland keine Bettler gibt.) In der Ed Sullivan Show hat er meinen Namen ständig falsch ausgesprochen. Er interessierte sich nicht für Ballett und machte daraus -235-
auch kein Hehl. Aber er war ein perfekter Gentleman mit makellosen Umgangsformen. Und jedes Haar an seinem Platz. Er sagte, Jacqueline begeistere sich für Tanz, darum versuche er seit Jahren, ein ehrliches Interesse daran zu entwickeln. Er behauptete, der Fernsehauftritt von Margot und mir habe seine Einstellung vollkommen verändert (eine krasse Lüge natürlich, und eine ziemlich dumme). Er führte uns ins Oval Office. Sein Anzug war hervorragend geschnitten, und er hatte die Krawatte ein wenig gelockert. Die ganzen fünf Minuten schwang er in seinem Sessel hin und her. Wir plauderten, und schließlich sah er auf meine Füße und sagte, ich sei ein Symbol für entschiedenen politischen Mut. Draußen auf dem Rasen standen die Männer vom Secret Service herum. Später kam Jacqueline mit Tee, und er entschuldigte sich. Als sie Margot und mich zum Hubschrauber begleitete, hakte Jacqueline sich bei mir unter und sagte, sie hoffe, dass wir sie wieder einmal besuchen würden, und dass sie und ihr Mann uns beide künstlerisch überaus schätzten. Im Hubschrauber saßen wir in ehrfürchtigem Schweigen, während die Gestalten auf dem Rasen kleiner und kleiner wurden. (Einen Augenblick lang rannte ich in Leningrad eine Treppe hinauf, und die Polizei war hinter mir her.) Newsweek: Es hat den Anschein, als würden Sie Ihre Seele umpflügen, um den Samen ihres eigenen Albrecht auszusäen. (Plötzliche Panik bei dem Gedanken an Vater im Garten.) Wie bitte? Für den Albrecht haben Sie erfolgreich eine neue Persona geschaffen. -236-
Ich bin Schauspieler. Aber Sie sind doch gewiss auch noch mehr als – Bitte keine weiteren dummen Fragen mehr. Ich konnte sie nebenan hören, sie war bereits wach. Ich ging, um ihr einen guten Morgen zu wünschen. Sie lächelte und begann mit Streckübungen für Rücken und Beine, eine nach der anderen, in gemessenem Tempo. Margot konnte beide Füße hinter den Kopf legen, ohne dafür eine Unterhaltung zu unterbrechen. Paradoxerweise behauptet sie, Angst vor dem Altern zu haben. (Lehre: Immer dafür arbeiten, beweglich zu bleiben.) Auf dem Titelbild von Time und Newsweek – in ein und derselben Woche. Gillian war entzückt. 22. November 1963. Am späten Nachmittag begannen die Menschen draußen zu weinen, aber wir erfuhren es erst um sechs Uhr. Margot bat die Pianistin, Bach zu spielen, doch sie war von Trauer überwältigt, und ihre Hände zitterten über den Tasten. Wir saßen schweigend da, dann schickten wir ein Telegramm an Jacqueline. Unser Auftritt wurde abgesagt. Auf den Straßen trugen die Leute Kerzen. Im Russian Tea Room bat der Oberkellner um eine Schweigeminute. Sie wurde nur von irgendeinem Idioten gestört, der seine Gabel vom Tisch stieß. Ein Brief von Julia. Sie schreibt, sie sei geschieden. Sie hat keine Wohnung. Unser Scheiß-Land. Wieder
einmal
zwölf
Stunden -237-
Vorbereitung
für
Raymonda. Die Mitglieder des Corps sind eigenartig verwundert, wenn sie mich proben sehen oder wenn ich das Exercice leite. Sie sitzen im Korridor herum und rauchen stinkende Zigaretten, und dafür würde ich sie am liebsten mit Fußtritten zum Ministerium für Arbeit jagen, falls es hier so etwas gibt. Sie sind faule Schweine, ihre Beine sind schwach, ihre Haltung ist schlaff, ihre Fußstellung schlampig, sie müssen verwandelt werden, allesamt. Die Posaunen klingen wie kranke Kühe, der Pianist ist sogar noch schlimmer. Ganz zu schweigen von den Bühnenarbeitern, die mal wieder mit Streik gedroht haben, denn die Papageien sind echt, und hinter den Kulissen liegt Scheiße unter den Käfigen. Die armen Kerlchen beschweren sich, weil sie sie aufwischen müssen.
Margot konnte kaum sprechen, ihre Stimme zitterte unkontrollierbar. Sie sagte, die Kugel habe Tito in die Brust getroffen und sei am Rücken wieder ausgetreten.
Nach dem Besuch bei Tito (der im Bett lag und kein Wort sagte) wurden wir im Stoke Mandeville Hospital herumgeführt. Das vom Hals abwärts gelähmte vierzehnjährige Mädchen sagte, sie stelle sich oft vor, sie sei Margot und könne ihre Beine bewegen. Eine hübsche Achtjährige hatte mit dem Mund ein Bild gemalt, auf dem ich auf einer Wiese tanze, und sie selbst sitzt auf dem Ast eines blühenden Baums und sieht zu. Auf der Rückseite war ein Herz, in dem unsere Namen standen: Oona und Rudolf. Ich sagte ihr, ich würde es in meiner Garderobe aufhän-238-
gen. Sie konnte ihren Kopf kaum bewegen, und in ihren Mundwinkeln war Spucke, aber ihre Augen waren strahlend blau, und ihr Mund verzog sich beinahe zu einem Lächeln. Sie sagte, sie habe nicht viele Wünsche, aber sollte sie je in den Himmel kommen, dann wäre ihr erster Wunsch, tanzen zu können. (Irgendein Arschloch von Fotograf hat mich erwischt, als ich auf dem Flur stand und weinte.) Tito wird nie wieder gehen können, also muss Margot weitertanzen, um die Krankenhausrechnungen bezahlen zu können. Natürlich ist sie so britisch, dass sie die Ironie, die darin liegt, nicht sieht. (Ich werde mich hüten, ihr zu sagen, dass Tito seine verdiente Strafe bekommen hat.) Draußen nahm sie ihre Handtasche von der linken in die rechte Hand, tupfte die Augen mit einem Taschentuch ab und eilte wieder hinein. Ein Telegramm von Prinzessin Gracia zur Premiere. Ziemlich gewagt: Merde! Herzlich, G. Weitere Grüße vom norwegischen König, Prinzessin Margaret usw. Im Zimmer zwanzig Blumensträuße. Der Regen vor dem Fenster schien in einem Dutzend Farben zu leuchten. Die Türklingel des Hotels läutete: ein Blumenstrauß von Margot, mit einer Karte, in der sie schrieb, alles sei in Ordnung, und sie würde nur zu gern mit mir tanzen. Ganz Italien war da. Die Anwesenheit all dieser Berühmtheiten gleicht allerdings die Mängel meines Auftritts nicht aus. Der Pas de deux in Raymanda war ohne sie natürlich entsetzlich, aber auch das Solo war nichts als ein Haufen Scheiße. Danach schien Spoleto jeden Zauber verloren zu haben, und der Gedanke an das Hotelzimmer war deprimierend. Ich bestellte das Essen ab, schickte alle -239-
weg und blieb die ganze Nacht im Theater, um die Fehler dieses Abends zu reparieren. Die Bühnenarbeiter fanden mich morgens schlafend auf einer Plane. Sie brachten mir einen Cappuccino und ein Hörnchen. Ich probte noch einmal und fand die richtige Stimmung. Am zweiten Abend tanzte ich, bis mein Haar in Flammen stand. Margot wartete in der Hotelhalle. Sie hatte einen Briefumschlag in der Hand. Ihr Gesicht sagte alles. Der Portier schlug die Augen nieder und tat, als wäre er beschäftigt. Die Nachricht war offenbar schon zuvor per Telegramm eingetroffen. Zuerst war ich sicher, dass Tito gestorben war, doch sie sagte mit tränenüberströmtem Gesicht: Dein Vater.
Telefongespräch mit Mutter, sie war zu traurig, um sprechen zu können. Hörte später die Klavierkonzerte Nr. l und 2 von Rachmaninow (Sanderling und das Leningrader Symphonieorchester) und fühlte mich in andere Zeiten zurückversetzt. Vater, der seine Schuhe putzte, Vater, der sich rasierte, sein Mantel auf einem Drahtbügel, seine schmutzigen Fingernägel. Erik hat New York für mich abgesagt. Die einzige Trauer: Vater hat mich nie tanzen sehen. Ich habe Gillian und Erik gesagt, dass es weder Regen noch Trauer geben wird. Wir ließen den Korken einer Flasche Champagner knallen und tranken darauf.
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Beim Lesen der Solschenizyn-Übersetzung flackerte kurz ein Licht über die Seiten. Der Wunsch, Vater wieder auferstehen zu lassen, war mit einem Mal übermächtig. (Tamaras Brief in meiner Tasche war wie eine offene Wunde.) Vor dem Café Filo in Mailand sang ein Junge eine Arie, die ich noch nie gehört hatte. Erik fragte ihn nach dem Ti-tel, doch der Junge zuckte nur die Schultern, sagte, er wisse ihn nicht, und fuhr fort, Brot auszuladen. Aber dann sah er mein Gesicht, rannte mir nach und rief meinen Namen. Er schenkte mir ein frisches Brot. Erik verfütterte es an die Tauben auf dem Platz und trat nach denen, die sich vor seinen Füßen niederließen. Margots Hilfsbereitschaft gegenüber allen außer ihr selbst ist überwältigend. Das ist natürlich der Gipfel der Großherzigkeit. Die Sache mit Tito hat sie furchtbar erschöpft, und trotzdem hat sie es geschafft, Mutter und Tamara ein Paket zukommen zu lassen. (Die Erkenntnis, dass für Vater nichts mehr dabei sein würde, gab mir einen Stich.) Sie fragte mich, welche Farbe die Schals haben sollten. Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie sie aussehen, besonders Mutter. Alle meine Fotos sind uralt. Margot hat das Paket persönlich gepackt. Es wird unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen über die finnische Botschaft geschickt werden. Auf dem Tisch zwischen dem Fenster und dem Himmelbett steht eine Vase mit weißen Lilien. Das Meer ist von einem seltenen Blau. Der durch das Fenster wehende Wind ist wie ein kühler, erfrischender Schlag. Rudi hat ihre Wünsche erahnt: ein Raum mit Blick auf das Meer, in -241-
Lavendelwasser gespülte Bettwäsche, heißer Tee am frühen Morgen, Wildblumen auf dem Frühstückstablett. Er hat Margot ein Zimmer gegeben, das nach Osten geht, denn sie sieht gern die Sonne aufgehen. Gestern Nachmittag hat er nur für sie einen Flügel vom Festland einfliegen lassen. Der Hubschrauber tauchte in der blauen Weite auf und umkreiste die Insel zweimal, um den Wind zu prüfen. Der Flügel hing an Seilen und Trossen und schien aus eigener Kraft zu fliegen. Auf dem Tennisplatz waren Matten ausgelegt worden, damit das Instrument sanft abgesetzt werden konnte. Sieben Inselbewohner waren angeheuert worden, um bei der Landung zu helfen. Rudi nahm eines der Beine, und Margot lächelte kurz bei dem Gedanken, sie selbst sei der Flügel und werde von ihm gehalten. Es war ein verrücktes Unternehmen – der Flügel hätte ebenso gut per Schiff gebracht werden können, doch er wollte ihn sofort haben und hörte nicht auf sie. Anfangs empfand sie eine gewisse Kleinlichkeit – was für eine Verschwendung –, doch dann war sie überrascht von der Schärfe der Begeisterung, die sie überkam. Rudi trug ein ärmelloses Hemd. Er war sogar stärker als die Männer von der Insel. Der Wind der Hubschrauberrotoren wirbelte ihre Mützen durch die Luft. Später gab Rudi den Männern ihr Geld und entließ sie mit einem Wink. Er stimmte den Flügel selbst und spielte bis spät in der Nacht darauf. Auch nachdem sie zu Bett gegangen war, hörte Margot die schwebenden, hohen, sirenenhafte Tone und fand, das ein solches Leben auf die Dauer unerträglich wäre. Dennoch erschienen ihr diese Tage kostbar, gerade weil sie so ungewöhnlich waren. Es macht ihr Angst, dass sie fünfundvierzig und er erst sechsundzwanzig ist, dass sein Leben sich so rasch -242-
manifestiert. Manchmal glaubt sie in der Art, wie er sich bewegt, eine ganze Geschichte tatarischer Arroganz zu erkennen. Bei anderen Gelegenheiten – wenn sie am Strand entlanggehen, wenn er einen Bewegungsablauf choreographiert, wenn er umgreift, um sie hochzuheben – ordnet er sich unter, denn an Erfahrung ist sie ihm weit überlegen. Durch das Fenster sieht sie den Flügel mitten auf dem Tennisplatz stehen, abgedeckt mit einer taufeuchten Plastikplane. Später wird sie mit Rudi schimpfen und ihm mütterlich zureden, den Flügel ins Haus zu bringen, aber im Augenblick erscheint ihr dieses Bild phantastisch, schwebend. Das Tennisnetz liegt schlaff unter den schwarz lackierten Beinen. Margot rutscht zum Bettrand und streckt sich, langsam und vorsichtig zunächst, bis ihre Handflächen die Füße berühren, und dann streichen ihre Finger über die Fußsohlen und die Hornhäute. Sie lässt warmes Wasser in die Badewanne laufen. Im Bad fahrt sie mit einem Bimsstein über ihre Füße, mit leichten, kreisförmigen Bewegungen. Sie untersucht einen Mückenstich auf dem Spann und betastet die kleine, gerötete Schwellung. Nach dem Bad reibt sie die Füße mit einer Kräutersalbe ein. Sie haben für eine Produktion in Paris geprobt, und ihre Zehen schmerzen von dem provisorischen Boden, den Rudi im Keller hat installieren lassen. Sie spürt, wie sich Wärme im Fuß ausbreitet, während sie ihn vom Knöchel bis zu den Zehen massiert, und streicht wieder und wieder darüber. Das Rauschen der Wellen ist kaum wahrnehmbar – ein Feincord aus Schaumkronen, vom Sonnenaufgang rot gefárbt. Ein paar Seevögel lassen sich von den Luftströmungen hin und her werfen, und in der Ferne sieht Margot eine Yacht, deren gelbe Segel sich entfalten. -243-
Plötzlich halten ihre Augen bei einem Riss in der Szenerie inne: Ein Arm reckt sich aus dem Wasser. Blitzartig ist ihre Kehle ausgetrocknet. Sie hält den Atem an, doch dann taucht ein anderer Arm auf, das Gegenstück des ersten, und sie atmet erleichtert aus. Es ist Rudi, der schwimmt das nasse Haar ist dunkel. Sie setzt sich auf das Bett, entspannt sich, beginnt den rechten Knöchel hoch in die Luft zu strecken und legt den Fuß hinter den Kopf. Es ist ein morgendliches Ritual. Sie lässt den Fuß wieder los, wackelt mit den Zehen und legt den linken hinter den Kopf, setzt sich dann zurecht und bringt beide Füße gleichzeitig in diese Position. Ihr langes Haar fallt über die Knöchel und fühlt sich kühl an. Sie lässt ihre Füße los und reckt sich quer über das Bett, um Tito im Krankenhaus anzurufen, um ihm zu sagen, dass er ihr fehlt, dass sie bald zurückkehren wird, um ihn zu pflegen, doch sie hört nur den Rufton – es nimmt niemand ab. Gelockert durch die Streckübungen, tritt Margot näher ans Fenster. Sie sieht zu, wie Rudi langsam aus dem Meer steigt: zuerst der Kopf, dann die Schultern, die Brust, die schmale Taille, der Perus, der selbst nach der Kälte des Wassers noch groß ist, seine gewaltigen Oberschenkel, die starken Unterschenkel, dieser ganze Michelangelo. Sie hat ihn schon oft nackt gesehen, in seiner Garderobe, und er war dabei so unbefangen wie ein Kind, das in die Badewanne steigt. Sie könnte eine Karte seines Körpers zeichnen, wenn sie wollte. Beim Tanzen hat sie jeden Teil von ihm berührt: Schlüsselbein, Ellbogen, Ohrläppchen, Leiste, Hintern, Füße. Dennoch legt sie die Hand in einer formellen Geste an die Lippen, als wollte sie ihre mangelnde Überraschung verbergen. Seine Haut ist leuchtend weiß, beinahe durchscheinend. -244-
Die Konturen seines Körpers sind scharf, wie mit der Schere geschnitten, und von denen Titos so weit entfernt, wie sie es sich nur vorstellen kann. Es erfüllt sie mit Freude, ihn barfuß vom Strand zu den hohen Gräsern jenseits der Felsen gehen zu sehen. Sie hört die über den Flügel gebreitete Plastikplane im Wind knistern und den raschen Lauf, mit dem Rudis Finger über die Tasten gleiten. Sie liegt im Bett und stellt sich schlafend, als er, ein Tablett mit heißem Tee in der Hand, eintritt und sagt: Du hast verschlafen, Margot, steh auf, es ist Zeit für die Probe. Sie lächelt – nicht ihr Bühnenlächeln, kein königliches, kein beherrschtes Lächeln – und sieht wieder hinaus auf das Meer, und dabei denkt sie: Selbst wenn es nichts anderes mehr gäbe, hätte ich immer noch dies. Cosmopolitan: Der schönste Mann der Welt. Man muss sich der Tatsache stellen, dass ein Gesicht sich verändert und der Körper verletzlich ist. Aber was soll's? Genieße den Augenblick. Der schönste Mann der Welt! Wenn ich siebzig bin und am Kamin sitze, werde ich die Fotos herauskramen und weinen, ha! Jemand hat das Titelbild an meinen Spiegel geklebt und meinen Kopf mit Teufelshörnern versehen. Das wäre mir egal, aber diese Schweine haben meinen Eyeliner ruiniert wahrscheinlich war es die dicke Putzfrau, die gestern unter Tränen gekündigt hat. Die Fans haben die ganze Nacht auf der kalten Floral Street ausgeharrt. Gillian hat mehrere Thermoskannen mit warmer Suppe gefüllt und mich überredet, sie zu begleiten – sie sagt, das gebe eine gute Publicity. Als wir dort -245-
ankamen, war die Menge recht still, aber dann ertönte ein schriller Schrei, und alles geriet in Bewegung. Sie rannten auf mich zu und wollten alles Mögliche signiert haben: Schirme, Handtaschen, Stulpen, Unterwäsche. Gillian hatte natürlich dafür gesorgt, dass ein Fotograf zur Stelle war. Bevor ich wieder ging, streckte eine der Frauen die Hand aus und versuchte, nach meinem Schwanz zu greifen. (Vielleicht sollte ich zum Schutz einen Stulpen darüber ziehen!) Als Choreograph bedient er sich ungeniert bei allen möglichen anderen, angefangen bei den Griechen über Fokine bis hin zu Shakespeare usw. Er sagt: Letztlich wird der Pinsel des Künstlers van vielen Händen berührt. Margot nahm seine Vorschläge und gestaltete sie geschickt um. Trotzdem hatte ich anfangs das Gefühl, einen Kadaver über die Bühne zu zerren. Sie telefoniert stündlich mit Tito. An ihn gekettet. (Jetzt, wo er nicht mehr ficken kann, muss er sie und ihr Leben kaputtmachen.) Mein Herz kehrt nach Paris zurück. Die Stadt muss irgendeine Art von Klebstoff haben. (Claudette sagen, sie soll die neue Wohnung einrichten und ein Himmelbett auftreiben.) Der Brief war mit rotem Siegellack verschlossen. Kurzes Zögern: vielleicht ein sowjetischer Trick. (Ich traue ihnen alles zu – Säure auf dem Umschlag usw.) Aber es war das königliche Siegel, und der Brief war handgeschrieben und sehr sorgsam gefaltet. Ich sagte zur Haushälterin: Ach, Scheiße, schon wieder ein Brief von Ihrer Majestät!
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Der neue (Teilzeit-)Leibwächter hat früher Churchill beschützt. Er hat mir erzählt, dass er in Jalta Stalin kennen gelernt hat, und versuchte mir zu erklären, dieser sei sehr höflich gewesen. (In meiner Erinnerung pfiff ein Zug – ich sah das Krankenhaus und mich selbst auf einem Baum, von wo ich zuschaute, wie die alten Babuschkas die Soldaten wuschen. Wie viele Jahrhunderte ist das jetzt her?) Entdeckte den Derrida-Text an einem Stand mit antiquarischen Büchern an der Seine. Am selben Stand eine Abhandlung über Martha Graham – was für ein Zufall. Beide waren durch Wasser beschädigt, sodass die Seiten zusammenklebten. Ich erzählte Tennessee Williams von den Büchern (er war auf der Desjeux-Party, betrunken), und er sagte, das sei offensichtlich eine Metapher, erklärte allerdings nicht, warum – vielleicht war er dazu auch nicht mehr imstande. Auf seinen Fingern und sogar auf seinem Bart waren Tintenflecken. Er war verblüfft, dass ich seine Bücher auf Russisch gelesen hatte, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: Ach, was für ein netter Junge. Dann ging er mir auf die Nerven und verschüttete einen Cocktail auf meinen Anzug. Ich sagte ihm, er solle mich am Arsch lecken. Er grinste und antwortete, das würde er mit Vergnügen tun. Claire brachte ein Tonband mit. Auf der Schachtel stand in ungelenker Schrift Rostropowitsch. Der zweite Satz des Violinkonzerts Nr. 2 trieb mir die Tränen in die Augen. In Leningrad habe ich Dummkopf mal zu Julia gesagt, ich würde Schostakowitsch im Regen sitzen lassen. Bei Lacotte kam aus der Küche der Geruch von Rettich. -247-
Fühlte mich zurückversetzt und musste zu Lacottes großem Kummer gehen. An der Tür drohte er mir mit dem Finger. Erwachte aus einem Traum, in dem ein weißes Tuch über Mutters Gesicht gebreitet wurde. Vielleicht hat Margot Recht, wenn sie sagt, dass ich so viel – zu viel – tanze, damit ich nicht an zu Hause denken muss. Habe große Schwierigkeiten, über Mutter zu sprechen: Wenn die Tatsachen richtig sind, ist die Stimmung falsch. Wenn die Stimmung richtig ist, sind die Tatsachen falsch. Sie hat in einer Waffenfabrik gearbeitet. Sie hat Matruschka-Puppen verkauft. Sie wurde mal von einem Wolf verfolgt. Manchmal weiß ich in der Mitte eines Interviews nicht mehr genau, was ich am Anfang gesagt habe, und dann verliert sich alles noch mehr in Phantasien. Im Gespräch mit dem österreichischen Journalisten verwandelte sie sich irgendwie in eine Näherin im Opernhaus von Ufa. Die Zeiten, in denen ich mich selbst am meisten hasse, sind geradezu zwangsläufig die Zeiten, in denen ich schlecht tanze. In den dunkleren Stunden denke ich, dass ich meine besten Auftritte im Kirow hatte. (Das Phantomgefühl von Sizowas Hüften in meinen Händen.) Erik lernte einen Bekannten von Richter kennen, der sagte, als Prokofjew gestorben sei, habe es in ganz Moskau keine Blumen mehr gegeben – man habe alle für Stalins Beerdigung aufgekauft. Richter habe bei der Beerdigung gespielt und sei danach quer durch Moskau gelaufen, um einen Fichtenzweig auf Prokofjews Grab zu legen. (Sehr schön, aber stimmt das auch?) -248-
Mister Nurejew, Ihre Bewegungen scheinen die Grenzen des Möglichen zu sprengen. Das Mögliche hat keine Grenzen. Sind Sie sich zum Beispiel nach Ihrer Ronde de jambe Ihres Körpers bewusst? Nein. Warum nicht? Weil ich zu sehr damit beschäftigt bin zu tanzen.
Mein Wunsch, die Journalisten zufrieden zu stellen, ist beinahe so groß wie der Wunsch, sie vor den Kopf zu stoßen. Danach ist mir das Herz schwer von Bedauern. Der wahre Geist muss sowohl Kritik als auch Lob hinnehmen können, aber in der Saturday Review hat dieser Kerl geschrieben, dass die Position meiner Hände bei der Arabesque zu hoch ist und die Bewegung aufgebläht und undiszipliniert wirkt. Sollte ich ihm je noch einmal begegnen, dann wird die Position seiner Eier zu hoch sein (nämlich im Hals), und dann werden wir sehen, wer hier aufgebläht und undiszipliniert wirkt. Was Jacques betrifft, so ist er ein typischer L'Humanité-Wichser, einer von diesen rachelüsternen sozialistischen Scheißkerlen. Er sagt, ich klebe zu sehr am erzählten Inhalt. Aber was erwartet er eigentlich? Sollen meine Beine Symbole sein, soll mein Schwanz Metaphern verspritzen? Ich würde ihm gern raten, etwas Produktives für seine politischen Überzeugungen zu tun – zum Beispiel, indem er sich umbringt –, aber wahrscheinlich würde der Deckenbalken unter dem Gewicht seines fetten -249-
Arsches brechen. Von der Treppe des Pubs in Vauxhall hing an einer dünnen Schnur ein Foto von mir. Ich fragte den Barmann, ob das Jesenin sei, doch er verstand mich nicht. Die Leute an der Theke verstummten, als Erik und ich uns setzten. Der Barmann bat mich, das Foto zu signieren, und das tat ich dann, quer über die Brust. Alle applaudierten. Den ganzen Abend dachten alle, ich würde etwas Spektakuläres tun – typisch russisch, typisch Nurejew eben. Gläser zerschmeißen, Flaschen vom Tisch treten. Ich trank vier Wodkas, dann nahm ich Eriks Arm, und wir gingen. Wir konnten die anderen beinahe seufzen hören. Im Hotel war eine weitere Todesdrohung eingegangen. Die Polizei sagte, die Buchstaben seien aus den Überschriften einer kommunistischen Parteizeitung collagiert. Wer sind diese Arschlöcher? Können sie nicht verstehen, dass ich nicht ihre verdammte Marionette bin? (Margot sagt, ich solle diesen ganzen Mist ignorieren am besten sei es, zu lächeln und höflich zu sein. Lass das alles auf der Bühne raus, sagt sie. Ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie Unsinn redet. Sie weiß besser als jeder andere, dass alles, was ich tue, bereits mit meinem Blut getränkt ist.) Heimlicher Wunsch: ein Haus am Meer, Kinder am Strand, auf den Felsen ein Kammerorchester, das von der Gischt riesiger Wellen durchnässt wird. Ich würde es mir in einem Liegestuhl bequem machen, Weißwein trinken, Bach hören und alt werden – aber natürlich wäre auch das auf die Dauer langweilig.
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Charles Meynier: Die Weisheit verteidigt die Jugend gegen die Liebe – 47 500 Dollar. Anfangs zeigt er sich ihr, ohne seine wahren Gefühle zu offenbaren. Er ist sich der Art, wie er sie ansehen muss, sehr bewusst: weder offen noch verhüllt. Er muss sorgsam darauf bedacht sein, dieses Spiel, dieses emotionale Roulette, zu spielen, bis sie ineinander aufgehen und zur reinen Bewegung werden (den Pas de deux ausdehnen und das Solo verlängern). Im Grunde muss er aufs Neue erfunden werden, sonst ist diese Rolle reiner Mist – er wäre eine Pappfigur, ein Abziehbild ohne eigenes Leben. Man muss die Rolle als Phantasie des Protagonisten begreifen. Am Ende muss er schreckliche Qualen leiden und sich vollkommen bewusst sein, dass alles verloren ist. Eine perfekte Probe! Wir haben uns für den Nachmittag freigenommen. Die Skipisten. Der Drang, aus der Seilbahnkabine in den tiefen Schnee dort unten zu springen. Er muss so lange unsichtbar in den Kulissen bleiben, bis alle aufs Äußerste gespannt sind, und dann von der anderen Seite der Welt hervorbrechen und das banale Leben eines jeden Zuschauers in den Grundfesten erschüttern. Was sie betrifft, so muss ihr Tempo zunächst langsam sein. Wenn sie erscheint, muss sie kalt sein – er muss sie durch den Tanz erwärmen. Bei jedem Kleidungsstück, das sie ablegt, muss man den Eindruck haben, als träte sie einen Schritt weiter in ein zukünftiges Ich. Schließlich wird sie weggezaubert, davongetragen von Geistern, die sich diagonal bewegen, in Form eines -251-
lebendigen V. Das Licht (Mondlicht) berührt nie ganz den Boden. Die Streichinstrumente müssen gedämpft klingen, die Musik darf nicht dominieren. «Eines ist deutlich geworden: Sollte Nurejew sich als Tänzer von der Bühne zurückziehen, so ist seine Zukunft als Choreograph gesichert.» Dance Magazine, Dezember 1966. Ha! «Er choreographiert nicht bloß für den Körper, sondern auf dem Körper.»
Erik vermutet, dass ich mir nur deshalb immer mehr Sorgen um Mutter mache, weil ich so weit von ihr entfernt bin. (Er sollte schön den Mund halten – über ihm hängt ja noch immer ständig der Geist dieser grauhaarigen Wikingervettel!) Nachdem ich die Wagentür zugeknallt hatte und zwischen den gestauten Wagen hindurchging, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mich in Kopenhagen nicht auskannte. Ich ging also zurück, setzte mich aber nach vorn zum Fahrer. Als er später zu mir ins Bett kroch, gestand Hamlet (wie er diesen Spitznamen hasst!) seinen Fehler ein. Es ist so schwer, ihn wütend zu machen, aber wenn ich ihn ignoriere, wird er unersättlich. Bootspartie auf den Seen. Champagner. Feuerwerk. Die Hamburgerin mit der Halskette: Sie sind ein Rimbaud der Steppe! Mutters Antrag auf ein Ausreisevisum ist wieder einmal abgelehnt worden, aber diesmal haben die Schweine von ihr verlangt, ein Dokument zu unterschreiben, in dem sie erklärt, dass sie nie mehr einen -252-
Ausreiseantrag stellen wird. Erik erwartete mich am Flughafen, mit Brille und Hut, um nicht erkannt zu werden. Wenige Stunden später waren wir auf der Tanzfläche. Es war ein Junge mit einem weißen Seidenhemd und silbernen Plattformschuhen da. Ach, ja, Piccadilly! Ich folgte ihm nach draußen. Die anderen Gäste spielten Polo im Regen, und die Hufe ihrer Pferde pflügten den makellosen Rasen um. Erik stellte sich hinter mich, legte den Kopf auf meine Schulter und knabberte an meinem Ohr. Beim Dinner (Mousseline d'écrevisse, Poussin rôti aux herbes, Salade, Püree de céleri) musterte der Baron uns streng. Ich flüsterte Erik zu, der Baron mache den Eindruck eines hervorragenden Reiters, sei wahrscheinlich aber nicht imstande, seine Peitsche richtig einzusetzen. Erik musste so lachen, dass er sein Sorbet auf die Tischdecke spuckte. Seine Halsgrube. Wir dösten. Mit dem Schnellboot nach Galli. Erik, Pablo, Jerome, Kenzu, Margot, Gillian, Claire und ich. Margot hat das ganze Wochenende am Telefon zugebracht und mit Tito gesprochen. Wir beschlossen, ein Orchester vom Festland kommen zu lassen. Die Musiker waren ziemlich unfähig, und wir schickten sie gleich wieder weg, gaben ihnen aber eine hübsche Summe als Leihgebühr für ihre Instrumente. Wir spielten abwechselnd bis um vier, dann schoben wir den Hügel ins Haus, um ihn vor dem Tau zu schützen. -253-
(Erik zitierte Homer, die Passage über die Sirenen. Der Champagner floss in Strömen. Jerome schlug vor, ich solle die Ohren der anderen mit Wachs verschließen und mich an Eriks Mast binden!) Pablo setzte sich nackt an den Flügel und spielte (schlecht) Schostakowitsch. Danach war auf dem Klavierhocker ein Schweißfleck von seinem Hintern. Erik kam früh am Morgen mit zum Meer, um mir beim Schwimmen zuzusehen. Ich tauchte bis zu den Felsen und versteckte mich. Er rief meinen Namen und war bald ganz verzweifelt. Er sprang auf und begann um Hilfe zu schreien. Nach fünf Minuten stürzte er sich im Pyjama ins Meer – dabei hasst er das kalte Wasser. Er bemerkte mich erst, als er nur noch wenige Meter entfernt war, dann nannte er mich auf Dänisch einen Wichser. Ich erzählte ihm, ich hätte einen hellen Stern gesehen, der sich bewegt habe. Er sagte, das sei bestimmt ein Satellit gewesen, der mich beobachtet habe, vielleicht ein russischer. Das war natürlich nur seine Rache, aber der Gedanke hatte etwas Beängstigendes. Im Bett lasen wir Flauberts Briefe aus Ägypten. Draußen donnerte die Brandung.
Die Unterhose am Bettpfosten: eine übermütige Fahne. Die Stewardess schien wenig begeistert, als sie mir sagte, ich solle die Füße vom Sitz nehmen, und ich erwiderte, dies sei doch die erste Klasse, ob sie meinen Fuß vielleicht woandershin haben wolle – zum Beispiel in ihren fetten -254-
deutschen Arsch. 6. Januar – Neujahrsversprechen an Margot: Ich werde meinen Kopf freihalten von allen Verpflichtungen mit Ausnahme des Tanzens. Valentinas Exercices: Ihre Bewegungen sind wie Gebete in einer Kirche. Man fühlt sich in ihrer Gegenwart beinahe befangen. Ein schlechtes Exercice, und der ganze Tag war mir verdorben. Beim Auftritt waren die Scheinwerfer zu hell – ich sah öfter als sonst zu Boden, weg von dem gleißenden Licht, und beinahe wäre ich gestolpert. Arthur mit seiner hohen Stimme sagte: Wir alle haben unsere schlechten Abende. Das Glas verfehlte seinen Kopf nur knapp. (An Tagen wie diesen hasse ich mich. Der Gedanke, ein verrücktes Genie zu sein, ist ermüdend.) Beim Empfang fragte mich Bacon: Warum tanzt man? Ich gab zurück: Warum malt man? Er zog an seiner Zigarette und sagte, das Malen sei die Sprache, die er seiner Seele geben würde, wenn er seiner Seele das Sprechen beibringen könnte. Ja! Abend für Abend wartet er auf seinen Einsatz, streckt sich, verschränkt die Finger. Auf der Bühne tanzt Margot ihre Chaînés, schwebt mit einer gleitenden Bewegung zu Boden und liegt still da. Er berührt sein linkes Ohr – das soll Glück bringen –, wartet einen Augenblick in die Stille hinein, stürmt aus den Kulissen, hebt ab, ist frei. Die Musik ergreift Besitz von seinen Muskeln, die -255-
Lichter kreisen, er wirft dem Dirigenten einen finsteren Blick zu, worauf dieser das Tempo korrigiert, er tanzt weiter, beherrscht zunächst, jede Bewegung wird mit Sorgfalt und Präzision ausgeführt, die Teile greifen ineinander, sein Körper ist elastisch, drei Jetés en tournant, Konzentration beim Landen, er verlängert seine Linie, wunderschöner Satz, jetzt das Cello. Die Lichter zerfließen, die Hemdbrüste verschwimmen. Eine Serie von Pirouetten. Er ist im Fluss, die Musik modelliert seinen Körper, seine Schulter sucht die andere Schulter, sein rechter Zeh kennt das linke Knie, die Krümmung des Ellbogens, die Neigung des Kopfes, Töne fließen durch seine Adern, und jetzt ist er in der Luft, zwingt die Beine über das hinaus, an was die Muskeln sich erinnern, ein letztes Anspannen der Schenkel, ein Strecken, ein Auflösen der Kontur, er steigt höher, er schwebt. Das Publikum beugt sich vor, gereckte Köpfe, offene Münder. Er schwebt zu Boden, landet, springt abermals, eine Serie von Grand jetés in ihre Richtung, die Luft rauscht in seinen Ohren, er wirbelt mit ungezügelter Energie dorthin, wo sie ihn mit gesenktem Kopf erwartet. Er stellt sich vor ihr auf, sie willigt ein, er hebt sie hoch, sie ist leicht, sie ist immer leicht, er hält sich von ihren Rippen fern, die seit den Proben blaue Flecke haben. Ein Schweißtropfen spritzt von seinen Haaren. Sein Gesicht liegt an ihrem Oberschenkel, ihrer Hüfte, ihrem Bauch. Beide brennen, es ist, als würden sie von innen erleuchtet. Sie sind eine einzige Bewegung, ein einziger Körper. Er setzt sie ab, das Publikum schnappt nach Luft, sie sind lebendig – ein französisches Publikum, ein gutes Publikum ist immer französisch, auch im Libanon, auch in New York, Buenos Aires, Wien, London ist ein gutes Publikum immer französisch –, und er kann ihr Parfüm riechen, ihren Schweiß, ihr Lob. Er bewegt sich nach links -256-
und geht ab. Sie wird jetzt übernehmen, mit ihrem Solo. Er steht in den Schatten, kommt wieder zu Atem, tupft sich das Gesicht ab, trocknet den Schweiß, seine Brust hebt und senkt sich, wird ruhiger, ah, diese Dunkelheit ist ein Umfangen. Er tritt in die Schachtel mit dem Kolophoniumpuder und wartet, während sie ihren Applaus entgegennimmt. Da ist er, der Moment – nimm ihn, ergreife ihn, explodiere! Er ist bereits wieder in der Luft, als er aus den Kulissen kommt, vier Cabrioles, er verlängert seine Linie, bis die Musik ihn eingeholt hat, ein Augenblick der Deckungsgleichheit, ein Zucken der Muskeln, und er fegt mit seinem Körper über die Bühne, er ist Besitzer, ist unumschränkter Herrscher. Acht perfekte Entrechats-dix, ein Wunder, das Publikum ist jetzt still, kein Körper mehr kein Gedanke kein Bewusstsein das muss der Augenblick sein den die anderen Gott nennen als würden alle Türen geöffnet und sie führen zu all den anderen geöffneten Türen nichts als geöffnete Türen in alle Ewigkeit keine Angeln keine Rahmen keine Pfosten keine Kanten keine Schatten dies ist meine Seele von Geburt an schwerelos zeitlos eine gebrochene Uhrfeder er fliegt er könnte für immer in der Luft bleiben und er blickt auf die verschwommenen Halsketten Operngläser Manschettenknöpfe Hemdbrüste und weiß sie gehören ihm. Um diesen Augenblick nicht zu verlieren, machen sie einander nachher, in der Garderobe, übertriebene Vorwürfe – du benutzt ein neues Parfüm, du hast zu viel geschwitzt, deine Chaînes waren grauenhaft, du hast deinen Einsatz verpasst, du bist zu lange draußen geblieben, deine Pirouetten sahen aus wie die eines Esels, morgen machen wir es besser, Rudi –, und dann treten sie Arm in Arm durch den Bühnenausgang auf die Straße, lachend, lächelnd, die Menge erwartet sie, Blumen, -257-
Zurufe, Einladungen zu Partys, sie geben Autogramme, verteilen Programmhefte und Schuhe, doch als sie weitergehen, ist der Tanz noch in ihren Körpern, und sie suchen nach dem Ruhepunkt, dem Ruhepunkt, wo es keine Zeit, keinen Raum gibt, nur Reinheit in Bewegung. Die Menge vor dem Opernhaus in Sydney war gespannt und ausgelassen. Ein paar Protestierer riefen Slogans gegen den Vietnamkrieg. Margot und ich schickten die leere Limousine voraus und fuhren ohne Chauffeur, in einem anderen Wagen, zum Eingang. Als die Leute uns erkannten, jubelten sie. Rock Hudson kam in den Grünen Salon, das Hemd tatendurstig aufgeknöpft. Er sagte, er sei zu irgendwelchen Dreharbeiten hier, und machte es sich in meiner Garderobe bequem, während ich das Make-up auftrug. Er war ganz außer sich vor Glück, weil er ein Restaurant aufgetan hatte, wo es angeblich die besten Austern der Welt gab, und sagte, er würde sich nach der Vorstellung gern mit mir treffen. Später sah ich ihn im Publikum: Er hatte sich von der Bühne abgewendet und spähte durch sein Opernglas nach irgendjemandem. Im Restaurant wollte er die Rechnung nicht bezahlen, weil ich in Begleitung von vierzehn Personen gekommen war (ha!). Er ging zur Toilette und kam energiegeladen zurück. Im Museumscafe stritten wir darüber, welchem Impuls Albrecht gehorcht. Frederic war der Meinung, Intuition sei bloß eine Ausrede. Er versuchte, seinen Mumpitz mit einem Goethezitat zu untermauern, wonach etwas, das der Künstler zu seinem Thema gemacht hat, nicht mehr zur Natur gehört. Als wäre das auch nur im Entferntesten -258-
relevant! Später, im Sobel Hotel am Ende der Kings Road (einer ganz anderen Kings Road!), warf ich meine Kaffeetasse nach ihm. Vielleicht macht ihm auch bloß die Größe dieser Aufgabe Angst. Ich habe ihm ein Telegramm geschickt und es auf die Hotelrechnung setzen lassen. Was für eine wunderschöne Choreographie! (Endlich hat er es begriffen.) Als Erläuterung zum zweiten Akt zeigte er uns das Foto eines Eisvogels, der seine Beute, nachdem er sie mit dem Schnabel durchbohrt hat, hochwirft: sowohl der Vogel (lebendig) als auch der Fisch (tot) in makelloser Drehung in der Luft. Der persische Teppich sollte 18 000 Francs kosten. Der La-deninhaber sah mich ihn bewundern und sagte, er gehöre mir – umsonst. Erik warf ein, dass ich als Erstes meine Modelleisenbahn darauf aufbauen würde, was nicht ganz stimmt. Der Inhaber war verstört und sah sein großes Geschenk entwertet, und so sagte ich, ein Journalist von Vogue werde mich demnächst in meiner Wohnung aufsuchen, und ich würde ihm gegenüber den Namen des Geschäfts erwähnen, aus dem dieser Teppich stammte. Er strahlte und überreichte mir sehr förmlich seine Visitenkarte. Draußen warf ich die Karte in den Rinnstein. Erik war entsetzt, als er bemerkte, dass der Inhaber uns durch das Schaufenster nachsah. Die Frau im Whirlpool beschwerte sich über meine Füße; sie sagte, sie hätten Risse, und Leute mit offenen Wunden dürften nicht ins Wasser. Ich sagte ihr, wer ich bin, und sie lächelte gezwungen, setzte sich auf und war bald darauf -259-
verschwunden. Im Café stand Beckett an der Theke. Er nickte mir zu. Dann goss er den Kaffee in den Cognac anstatt den Cognac in den Kaffee. Irgendjemand sagte, ich solle die Marihuana-Zigarette rauchen – sogar Brigitte Bardot komme einem lustig vor, wenn man bekifft sei. Aber nicht einmal das konnte mich locken. Warum den Verstand verlieren, oder schlimmer noch: den Körper? Zu Hause suchte ich Zuflucht bei Richter. Seine Schalk-haftigkeit. Man sagt, er könne über zwölf Tasten greifen. Margot hat einen Bänderriss. Antony fragte sie, wie es ihr gehe, und sie sagte: Ziemlich schlecht, fürchte ich. Die Suche nach einem Ersatz. Man hat Evelyn sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ihre Darbietung beschissen ist, dass sie ihre Bewegungen viel zu stark markiert, dass sie, wenn sie Basils würdig sein will, wenn sie überhaupt tanzen will, erst einmal lernen muss, einen halbwegs vorzeigbaren Grand jeté hinzukriegen. Sie wärmte sich eine Stunde lang auf und kam dann mit Bourrées aus der Kulisse. Sie sprang hoch und bog den Rücken so weit durch, dass ihre Nase die Wade berührte, wie eine Scherenklinge, die sich zum Daumenloch krümmt. Es war, als hätte sie keine Knochen. Dann schlug sie die Beine mit wunderbarer Kraft zusammen. Ich konnte nur applaudieren. Sie nahm ihre Tasche (voller Barbiturate?) und ging. -260-
Sie warf den Schal so elegant über die Schulter, dass ich ihr anbieten wollte, für alle Zeit ihr Partner zu sein, doch die Aufzugtüren schlossen sich schon – ach, na ja. (Vielleicht hat sie wirklich etwas in mir angerührt, aber die Wahrheit ist, dass wir wie Äpfel und Orangen sind.) Ein Anruf von Gilbert. Die Selbstmorddrohung. Wenn du nicht bald zurückkehrst, Rudi, werde ich Abstand zwischen dem Boden und meinen Füßen bringen. Wie es scheint, hat sich seine Frau, von Kummer überwältigt, ins Bett zurückgezogen. (Ich sagte zu Ninette, ich als Tatar hätte Jahrhunderte damit zugebracht, über den Abstand zwischen Boden und Füßen nachzudenken. Sie erwiderte, sie als Irin habe Jahrhunderte damit zugebracht, in der Luft zu hängen.) Mrs. Godstalk ist eine beinahe vollkommene Kopie von Madame B., nur dass sie einmal mit Balanchine getanzt hat und ihre Schuhe im Kühlschrank aufbewahrt, als würde sie eines Tages wieder tanzen. Sie führte mich zur Madison Avenue, um acht Uhr morgens, bevor die Antiquitätengeschäfte geöffnet hatten, und sagte, sie werde mir kaufen, was ich wolle, ja sie werde es sogar per Luftfracht nach Paris bringen lassen, anstatt es mit einem Schiff zu schicken. Ich schlug den russischen Bibliotheksstuhl aus dem Geschäft in der Sixtythird Street vor. Er kostete vielleicht vier oder mehr sowjetische Jahreslöhne. Am Nachmittag traf der Umschlag mit der Verkaufsbestätigung ein. Was für eine blöde Schnepfe! Sie hat mich in drei Tagen achtmal angerufen, bis ich zum Münztelefon im Korridor vor den Probensälen ging und mit französischem Akzent sagte, Monsieur Nurejew habe sich ihren weißen Pudel -261-
geschnappt und wolle ihn sautieren und an die Mitglieder des Corps verfüttern, die allesamt abgebrannt und sehr hungrig seien. (Margot musste so lachen, dass sie einen Schluckauf bekam.) Später machte ich den Stuhl in einem Anfall von Dummheit zu Kleinholz. Ich rief Mrs. Godstalk an und sagte, es sei passiert, als eine Bücherkiste vom Regal gefallen sei die Beine des Stuhls seien abgebrochen. Sie seufzte und sagte, sie sei nicht naiv – doch es sei schon in Ordnung, sie verstehe den künstlerischen Impuls. Die Wahrheit: Ich fange sie mit dem Lasso ein, schließe das Tor und gehe lachend davon. Nicht sehr menschlich, aber wahr. Die andere Stimme sagt: Scheiß auf sie, sie haben viel mehr Geld als Hirn. Wieder ein Anruf von Gilbert. Wieder eine Selbstmorddrohung. Ich habe kurz überlegt, ob ich nach Paris zurückkehren, ihn vögeln und ihm dann ein Seil geben soll. Margot war so glücklich über ihre Genesung, dass sie in sich hineinlächelte und sagte, es sei ein warmer Abend, und ob ich den alten Mann in der Orchesterloge gesehen hätte – das sei Antonio Bertolucci. Die verwirrte Kakerlake (immerhin waren wir ja in New York) kroch durch die Schachtel mit dem Kolophoniumpulver. Ich erlegte sie mit Margots Ersatzschuh. Das Orchester stimmte gerade und übertönte die meisten ihrer Schreie. Sie rang sich aber ein Lachen ab, als ich die tote Kakerlake unter dem Vorhang hindurch in den Orchestergraben schnippte, dorthin, wo die Kontrabassisten saßen. -262-
Guillaume, der Arzt, sagte, es sei unsinnig und gefährlich, aber ich tanzte trotzdem, obwohl ich Fieber hatte. Schwer zu glauben, aber die Bühnenarbeiter unterbrachen ihr Pokerspiel während des Solos, vermutlich, weil sie darauf walteten, mich zusammenbrechen zu sehen, doch ich tanzte besser denn je und spürte, wie das Fieber nur so aus mir herausgeschleudert wurde. Danach war meine Temperatur wieder beinahe normal. Guillaume war perplex. Die Bühnenarbeiter brachten mir einen Eisbeutel. Lungenentzündung. Erik hat mir die Brust mit Gänsefett eingerieben. Innerhalb von zwei Tagen war ich wieder vollkommen gesund. Am Telefon klang Mutters Stimme alt und traurig, selbst als ich ihr das mit dem Gänsefett erzählte. Sie hustete. Danach ging ich in Mendocino an der Steilküste spazieren. Die Seelöwen hackten mit ihren Flossen in der Luft herum. (Später rief Saul an, um mir zu sagen, dass er mein Geld auf dem Goldmarkt beinahe verdoppelt habe. Er interpretierte mein Schweigen als Freude.) Zuerst tanzte Erik wie drei Eimer Scheiße, aber dann verflocht er im Sprung wunderschön die Füße, ohne an Klarheit der Linie zu verlieren, und ich dachte: Wir alle haben unsere Geheimnisse, nicht? Beim Entrecha-huit (in umgekehrter Folge, bei den acht absteigenden Takten) hielt er eine Sekunde lang mitten im Sprung inne. Herrlich. Man spürte, wie das Publikum sich vorbeugte. Ich war der Erste, der aufsprang, um eine Zugabe zu fordern. Das ganze Haus schloss sich an. Erik lächelte und nahm Violettes Hand. Sie verbeugten sich gemeinsam. -263-
Hinter der Bühne hörte er sich Liszts Konzert Nr. l an, Richter mit Kondraschin und dem Leningrader Symphonieorchester. Wir tranken einen Château d'Yquem. Es war ein so schöner Abend, doch als Erik die Schuhe ausgezogen hatte, sah er aus, als hätte er Schmerzen, und begann, wie ein Verrückter seine Füße zu reiben. Schließlich sagte er, womöglich habe er sich nach einem besonders großen Saute einen Zehenknochen angebrochen. (Liszt hat mal mit einem kleinen Bruch in der linken Hand Klavier gespielt und später gesagt, er habe buchstäblich spüren können, wie die Tone von Knochen zu Knochen sprangen.) Keine Brüche oder Frakturen, doch der Arzt im Krankenhaus sagte Erik, seine Füße seien ruiniert, und als alter Mann werde er wahrscheinlich nicht mehr richtig gehen können. Erik zuckte die Schultern und lachte. Tja, dann werde ich mich wohl mit Bourrées chaînes fortbewegen müssen. Erik sagt, dass er nach Auftritten immer öfter das Gefühl hat, sich weit von sich selbst entfernt zu haben. Er sitzt dann allein und erschöpft in seiner Garderobe, noch immer in seiner Rolle. Er zieht sich um und sieht in den Spiegel, aber da ist nur sein Spiegelbild. Er muss so lange hineinsehen, bis er endlich einen alten Freund erkennt: sich selbst. Erst dann kann er gehen. Eine Serie seltener baschkirischer Holzschnitte: 8000 Francs. Der Gedanke an sie in Ufa: trockenes Brot, ein Teller Borschtsch, ein Glas Wodka, Mutter flickt ihren blauen Kittel, Tamara kommt vom Markt nach Hause. Meine -264-
Schuldgefühle sind übermächtig, aber was soll ich denn tun? Als Elena (wie schön sie ist) in Frankreich ankam, hielt sie sich damit über Wasser, dass sie Brautkleider für die bourgeoisen Familien nähte, die vor ihr gekommen waren. Sie erzählte von ihrer Schiffsreise von Kiew nach Konstantinopel: Das Schiff sei voller Flüchtlinge gewesen, die ihren kostbarsten Besitz gerettet hätten, lächerliches Zeug wie Lampen, Brieföffner, Familientruhen. Wegen des schlechten Wetters habe die Reise viele Tage länger gedauert als sonst, und die meiste Zeit habe sie am Bug gestanden. Sie sagte – wie wunderbar! –, seitdem habe sie immer das Gefühl, dass in allem die Bewegung des Wassers sei, besonders in der Geschichte und in Violinen. Er ist blond, schmal, jugendlich, jungenhaft. Solche Schönheit bewirkt, dass ich mich selbst ansehe, auch wenn ich nichts zu befürchten habe, denn er ist scheiße und tanzt, als wäre er mit Bleigewichten beschwert. Er brach zusammen und schluchzte haltlos, als man ihn (wie nicht anders zu erwarten) nicht mal ins Corps aufnahm. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich ihn wieder mal trösten sollte, aber im Gegensatz zu dem, was Claudette sagt, lasse ich mich nicht mein ganzes Leben lang von meinem Schwanz leiten. Nicht immer! Wie soll ich ihm begreiflich machen, dass er mehr Ehrgeiz braucht, dass es nicht reicht, Mitglied des Corps zu sein, ein Luftmolekül in einer Trommel, dazu verurteilt, in einem kleinen Raum ein kleines Geräusch zu machen. Er saß da, das Haar hing ihm ins Gesicht, zweifellos wollte er mich imitieren. Ich versprach, ihm zu helfen. Im Probenraum musste ich ihn erst davon überzeugen, wie -265-
wichtig es ist, beim langsamen Adagio so viel Körperbeherrschung zu haben, dass man bei der Landung eine saubere Position behält. Und er wollte mir einfach nicht zuhören, bis ich auf das Fensterbrett stieg, sprang, landete und reglos dastand. (Wie ich diesen Linoleumboden hasse!) Ich sah zu, wie er es wieder und wieder falsch machte. Was soll man da tun? In seinem Wesen ist weder Pfeffer noch Salz. Schließlich sagte er: Ich bin müde. Ich warnte ihn: Wenn er jetzt gehe, säge er den Ast ab, auf dem er sitze, aber er ging trotzdem, die Daumen unter die Schnürsenkel gehakt. Er will meine Biographie schreiben, aber was soll ich ihm sagen, er ist ein Scheißer, er stinkt nach Knoblauch, er hat zu viel Speck unter dem Gürtel, sein Gehirn ist behindert, und seine Aufnahme in das Museum der Wichsköpfe ist zweifellos gesichert. Nachdem ich ihm all das erklärt hatte (!), sagte er mir, wie viel besser ich sein würde, wenn ich zurückhaltender wäre und aufmerksamer zuhören würde. Ich antwortete, dass ich mich schon sehr darauf freute, tot zu sein. (Gillian sagt, dass sich mein Gebrauch schmutziger Wörter im Englischen, im Französischen, Tatarischen, Russischen, Deutschen usw. zu einem regelrechten Virus entwickelt hat.) Ich ging mit Julias Brief in die Tuilerien und setzte mich auf eine Bank. Der Brief war viele Male gefaltet worden und über viele Stationen gegangen: Er war an Margot in London geschickt worden, von dort an die österreichische Botschaft in Paris und von dort an Gillian. Julia hat eine große, geschwungene Schrift. Sie hat -266-
schon vor einem Jahr schreiben wollen, es aber immer wieder verschoben, aus Gründen, die nun keine Rolle mehr spielen. Ihr Vater ist tot in seinem Zimmer in Ufa aufgefunden worden. Sergej muss gewusst haben, dass er die letzte Reise antrat, denn er trug seinen Hut, was er in geschlossenen Räumen nie getan hatte. In der Hand einen Stift, das Notizbuch auf der Brust. Er hat ihr einen Brief hinterlassen: Alle Einsamkeit, die wir in dieser Welt erlebt haben, wird gewiss verständlich, wenn wir nicht mehr allein sind. Er schrieb, er habe keine Angst vor dem Tod, er habe überhaupt keine Angst vor irgendetwas, warum denn auch? Er werde Anna wieder sehen, die er immer geliebt habe, selbst in den schrecklichen Augenblicken der Finsternis. Ich saß auf der Bank, die Sonne brannte auf mich herab. Unermessliche Reue. Beendete den Tag mit Richters Interpretation von Prokofjews Klaviersonate Nr. 2, dritter Satz, Andante, Prag. In welcher seelischen Verfassung muss Richter gewesen sein, als er der Menschheit dieses Geschenk gemacht hat? Wenn es Gott gibt, dann ist er sicher hin und wieder zu Besuch in dem neuen Farmhaus in Virginia. Morgens ist die Luft kühl und frisch genug, um jeden hungrig zu machen. Die Pferde galoppieren und wiehern. Das Licht ist dicht und gelb, die Bäume sind alt und knorrig. (Das ist nicht das Amerika, das ich mir vorgestellt habe, als ich jung war.) Ich bin geritten. Die braune Stute warf mich ab und stand da, den einen Hinterhuf halb angehoben hinter dem anderen – beinahe eine Arabeske –, und dann senkte sie den Kopf. Ihre Mähne strich über die Seite meines -267-
Gesichts. Aus keinem besonderen Grund nannte ich sie Julia. Auf der Party hatte ich zu viel getrunken, und mit einem Mal kam mir der Gedanke, dass es im Lauf des Lebens für jeden, ganz gleich, wer es ist, einen Doppelgänger gibt. (Vielleicht rührte dieser Gedanke von der plötzlichen Häufung von Schwierigkeiten her.) Ich blickte mich um und sah Sergej ohne Hut am Büffet stehen. Er sprach mit Tamara (nur dass sie niemals derart gut gekleidet gewesen wäre). Vater saß in einer Ecke. Ich suchte Mutter und entdeckte eine Frau, die ihr entfernt ähnlich sah: Lees alte Freundin aus Colorado, obwohl Mutters Haar inzwischen sicher grauer ist. Eine ältere Polin erinnerte mich an Anna. (Eine unheimliche Reise über den Styx und wieder zurück.) Als ich Sergejs Doppelgänger auf Annas Doppelgängerin zugehen sah, sträubten sich mir die Nackenhaare. Er hatte den Mantel über den Arm gelegt und trug sogar einen Hut. Ich suchte auch nach mir selbst, stellte aber fest, dass da niemand war. In der Garderobe: ein ganzes Kilo Schwarzmeer-Kaviar und zwölf Blumensträuße, darunter auch ein Dutzend Lilien. Sergej, alter Mann, ich habe an dich gedacht. Onassis hatte zwei junge Männer angeheuert, die all die weißen Hosen, weißen Hemden, weißen Mützen, weißen Socken, weißen Unterhemden, weißen Unterhosen und weißen Sonstwas waschen sollten. Der griechische Junge lächelte mich vom Deck herab an und sagte, er wolle mir gern etwas Persönliches zum Geburtstag schenken – er -268-
könne kaum glauben, dass es mein neunundzwanzigster sei. Nach der Feier entschuldigte ich mich und ging unter Deck. Der Junge wartete am Ende des Korridors. Er trug nur ein T-Shirt, die Zigarettenpackung hatte er in den Ärmel geschoben. Saul fragen: Warum zahle ich Steuern, wenn mein Heimatland ein Koffer ist? Jacques sagte, er würde eine kommunistische Hölle der kapitalistischen vorziehen: Bei den Kommunisten sei todsicher der Brennstoff knapp. Abends kam er mit der Idee eines Balletts über die Berliner Mauer. Er behauptet, die Mauer sei an einem einzigen Tag errichtet worden (stimmt das?). Ein russischer Maurer sei in den Beton gefallen, doch man habe ihn nicht herausgezogen, und so dienten seine Knochen jetzt dazu, die Mauer zu stützen. Die Geliebte des russischen Maurers (nennen wir sie Katerina) geht an der Mauer entlang, legt die Hand auf jeden Stein und versucht, den Geist ihres toten Geliebten zu beschwören. Gegen ihren Willen verliebt sie sich in einen amerikanischen Soldaten auf der anderen Seite, doch um zu ihm zu gelangen, muss sie die sterblichen Überreste ihres russischen Geliebten überwinden. (Eine Mauer und den Schrecken auf beiden Seiten tanzen.) Schließlich will der junge Amerikaner zu ihr kommen und wird beim Überklettern der Mauer erschossen. (Kein Todessturz.) Eine grässliche Idee, aber wir waren betrunken.
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Es gibt Gerüchte, dass Sascha in Leningrad ein junges Genie entdeckt hat. Erik sagt, ich sei ganz blass geworden. (So ein Quatsch.) Jedenfalls, sollte dieses Genie jemals in den Westen kommen, wird es mich nur zu größeren Leistungen anspornen. Margot sagt, bevor sie stirbt, wird sie darum bitten, dass sich in ihrer Vorstellung ein vollkommener Auftritt wiederholt, ein vollkommener Auftritt, so schön, so außerordentlich, dass sie in Gedanken jeden einzelnen Schritt noch einmal erleben kann. Sie sagt nicht, welcher es sein wird – vielleicht hat sie ihn ja auch noch gar nicht getanzt. Bis jetzt, sagt sie, kann sie aus acht bis zehn Auftritten wählen. Bei mir wäre mindestens ein Auftritt im Kirow dabei. Meine Beine erinnern sich noch immer an die Neigung der Bühne. Im Traum stand ich barfuß in der Schachtel mit dem Kolophoniumpulver. Sie sitzt in einem verdunkelten Hotelzimmer, als eine junge Frau eintritt, lächelt und die Vorhänge öffnet. Guten Tag, sagt die Frau, Ihre Gäste sind da. Sie stellt eine Vase mit Blumen auf den Tisch, und Margot wartet auf den Beginn der Defilees. Vor den Fenstern ist eine andere Stadt – alles ist Himmel, Licht und Glas –, doch der Name der Stadt fällt Margot gerade nicht ein. Ihr Knöchel ist geheilt, auch wenn sie ihn noch bandagiert. Vorhin hat sie mit Tito telefoniert, der wieder einmal sagte, es sei für sie langsam an der Zeit, sich zurückzuziehen – es sind jetzt dreieinhalb Jahrzehnte –, sie solle nun ihre Ruhe genießen und auf die Ranch in Panama kommen. Tito, der Herumtreiber. Tito, der Schürzenjäger. Tito, -270-
der Mann, den sie anbetet, wird im Rollstuhl durch das Haus gefahren und kann nur die Augen und eine Hand bewegen. Sie denkt daran, wie sie vor einer Woche am Fuß der Treppe stand und er ihr sagte, dass er sie noch immer liebte. Als sie ihm dasselbe antwortete, schien sein Gesicht eine Hülle aus mehreren Schichten zu verlieren, und sie erzählten einander, was sie in der Zeit, in der sie getrennt gewesen waren, erlebt hatten. Im Bett legte Margot ihn so, dass sein Gesicht an ihrem Hals ruhte. Sie konnte nicht schlafen und stand noch einmal auf, hielt eine Weile an der Tür inne und lauschte auf seinen heiseren Atem, und ihr wurde bewusst, dass seine Gestalt sie rührte. Als sie Rudi erzählte, sie habe den schlafenden Tito betrachtet, verstand er sie: Er konnte ermessen, wie still und verletzlich sie sein konnte. In Zeiten wie diesen ist Rudi gut zu ihr, er beschützt sie, und sie tanzen gut zusammen. Der Raum füllt sich mit Veranstaltern und Werbemenschen, ein Journalist ist auch dabei. Spärliche Konversation, elegant und wohlmeinend. Doch nach einer Stunde erklärt Margot, sie sei müde – den größten Teil des Vormittags hat sie mit Rudi im Exercice verbracht –, und als endlich alle gegangen sind, zieht sie die Tagesdecke vom Bett, um ein Nickerchen zu machen. Ihre Träume sind gnadenlos, immer wieder kommt Tito darin vor, sie hat Visionen, in denen sie einen Rollstuhl durch einen Fluss schiebt, aber die Strömung ist zu stark, und der Stuhl lässt sich nicht von der Stelle bewegen. Ein Nebelhorn weckt sie, und jetzt weiß sie es wieder: Vancouver, Spätsommer. In diesem Augenblick hört sie aus dem Nachbarzimmer Rudi und einen anderen Mann vögeln. Die Geräusche, die sie machen, sind beunruhigend, wild, intim. Sie ist ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht – normalerweise -271-
bewohnen sie keine benachbarten Zimmer, das ist eine ihrer Regeln –, und sie schaltet den Fernseher ein. Zuerst Vietnam. Dann ein Zeichentrickfilm. Sie drückt Knöpfe, findet eine Serie: Eine Frau geht mit leichten Schritten auf eine andere zu und schlägt sie ins Gesicht. Es gibt eine kurze Pause, sie hört ein Stöhnen von nebenan, dann die Erkennungsmelodie des Werbeblocks. Sie lässt heißes Wasser in die Wanne laufen und fügt ein Kräuterpulver hinzu. Margot hat ihrem Körper in den vergangenen Wochen viel abverlangt und ist über frühere Grenzen hinausgegangen. Diese Härte offenbart sich in alltäglichen Gesten, in der Art, wie sie auf ihre Armbanduhr sieht oder eine Gabel zum Mund führt. Sie ist sich bewusst, wie außergewöhnlich es ist, was der Körper beim Geist und der Geist beim Körper bewirkt, und immer überzeugt der eine den anderen, dass er es ist, der am Ruder sitzt. An manchen Tagen erkennt sie den Friedhof ihres Körpers, die schwieligen Zehen, die Kopfschmerzen, die daher rühren, dass sie ihr Haar jahrelang straff nach hinten gebunden hat, das Knirschen in den Knien – und doch: Hätte sie als junge Frau gewusst, wie ihr Leben verlaufen würde, es wäre ihr gleichgültig gewesen, sie hätte es dennoch getanzt. Sie steigt ins Bad und legt den Kopf an den hinteren Rand der Wanne. Die Geräusche von nebenan klingen jetzt anders, gedämpft und doch verstärkt, undeutlich, aber umso intensiver. Sie steckt sich Wattebäusche in die Ohren, und die Stimmen verschwinden. Vor Jahren hat Tito die Fenster immer weit aufgerissen, bevor sie miteinander schliefen. Später erwacht sie davon, dass jemand auf der anderen Seite der Tür ihren Namen ruft: Margot, Margot, Margot! -272-
Sie öffnet die Augen, setzt sich auf, das Wasser schlägt Wellen. Sie riecht Zigarettenrauch und weiß sofort, wer es ist. Sie nimmt die Wattebäusche aus den Ohren und sagt: Ich habe mich nur an meine guten Jahre erinnert, Erik. Ich habe geträumt. Aber es ist Rudi, nicht Erik, der eintritt, einen Bademantel in den Händen, den er ihr hinhält. Sie steigt aus der Wanne, und er legt ihr den Bademantel um die Schultern und küsst sie auf die Stirn. Hinter ihm steht Erik und raucht. Eine Wärme durchströmt sie: diese beiden schönen Männer, die sie verwöhnen. Wir haben angerufen, sagt Erik und zieht gierig an der Zigarette, aber es hat keiner abgenommen. Rudi hatte Angst, du könntest ertrunken sein. Jagger versuchte mir zu sagen, er habe bei der Betrachtung des Tanzes das Gefühl gehabt, der Wirklichkeit enthoben zu sein – wunschlos glücklich ohne Alkohol, Gitarren und all das. (Ich konnte förmlich den Aufschrei in seinen Lenden hören, als Marianne mit ihm davonzog.) Der Verkäufer sah mich einmal kurz an, breitete die Arme aus und sagte, er habe eine rote Röhrenhose, die wie für mich gemacht sei. Die Discolichter wirbelten. Wir setzten uns in eine Nische, ließen eine Magnumflasche Champagner kommen und lachten und lachten. Lara war am witzigsten. Sie weiß von Erik, und dennoch sagte sie, meine Lippen seien geradezu verantwortungslos sinnlich! Ich sagte ihr, dass ich sie heiraten würde. Ihr Witz über die französische Kranken-273-
schwester: Dre'en Sie sisch um, Monsieur, isch muss Sie spritzen. Und dann, als die anderen tanzten, beugte sie sich vor, sodass ihr langes Haar bis auf meinen Schoß hing, und kitzelte mich damit vor aller Augen an den Eiern. Ihr Großvater stammte aus Moskau, emigrierte vor der Revolution und machte, wie sie sagte, mit Büroklammern ein Vermögen. (Dieses verrückte Land!) Sie besitzt jetzt vier Häuser und bizarrerweise sechs Swimmingpools. Sie flüsterte mir zu, sie bade gern nackt – als hätte ich das nicht längst erraten. Sie war so betrunken, dass sie sagte, sie habe eine Idee für ein nacktes Ballett: Orpheus' Abstieg (!). Vorhang auf, sanfte Celloklänge, weiches Mondlicht, und überall schwingende Penisse. Ich sagte, ich würde es tanzen, wenn ich nicht blaue Flecke an den Oberschenkeln befürchten müsste. Als ich ihr den Witz erklärte (dummes Mädchen!), bekleckerte sie ihr Kleid mit Champagner. Sie sagte, lebendig zu sein ist das Brot, ja, aber Sex ist (allermindestens) die Hefe. RosaMaria stand in der Tür. Ich erkannte sie sofort. Rotes Satinkleid, eine weiße Rose im Haar. Erik stieß mich mit dem Ellbogen an, als sie mit ausgebreiteten Armen durch den Raum auf mich zurannte. Ich wirbelte sie herum, und ihr Fuß verfing sich im Zipfel eines Tischtuchs, doch mit makelloser Eleganz machte sie sich noch in der Drehung davon los und küsste mich. Alle (besonders Erik) sahen uns nach, als wir auf die Veranda gingen. Die Nacht war zikadenwarm. Erzähl mir alles, sagte ich. Doch sie wollte über mich sprechen, über den Erfolg, die vergangenen Jahre. Ich beschwor sie, mir von ihrem Leben zu berichten, und nach vielem Zureden sagte sie, sie habe 1959, nach ihrer Rückkehr nach Chile, -274-
einen jungen Journalisten geheiratet, einen Kommunisten, der eine politische Karriere verfolgt habe, bis er bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Sie sei dann nach Mexiko gezogen, und das sei alles. Sie habe sechs Jahre lang getanzt, bis ihre Knöchel nicht mehr mitgemacht hätten. Sie sagte, sie würde gern nur noch ein einziges Mal mit mir tanzen, und war doch klug genug zu wissen, dass es von meiner Seite aus nichts weiter sein würde als Sympathie. Erik kam heraus und brachte drei Champagnergläser mit, wir tranken uns zu. Schließlich wurde sie von einem gut aussehenden, grauhaarigen mexikanischen Schriftsteller mit Beschlag belegt, der sie mit den Augen verzehrte. Wir wünschten gute Nacht, und sie wischte eine Träne fort. Sein rauer Bariton, sein hartes Gesicht, das Haar, das ihm über die Augen fiel. Er wachte auf, und ich wusste nicht mehr, wie er hieß, erinnerte mich aber, dass er gesagt hatte, er sei erstaunt, dass jemand so anstrengend leben könne. Den ganzen Tag hatte ich gevögelt, geprobt, wieder gevögelt, dann war ich aufgetreten und hatte wieder gevögelt (einmal in der Pause). Er sprang freudig aus dem Bett, kochte Tee für mich fünf Stücke Zucker – und ließ ein sehr heißes Bad in einer Wanne mit Klauenfüßen und schimmernden Messingarmaturen ein. Er setzte sich auf den Rand und streute duftende Salze ins Wasser. Präzision. Gleich danach ging ich und konnte mich noch immer nicht an seinen Namen erinnern. Erik hatte beim Hotelportier eine Nachricht für mich hinterlassen. Du Scheißkerl, in sehr zittriger Handschrift. Bereuen Sie irgendetwas, Monsieur Nurejew? -275-
Wenn alles gesagt und getan ist, werde ich nichts von dem, was ich gesagt und getan habe, gegen irgendetwas anderes eintauschen wollen. Wenn man zurücksieht, fallt man nur die Treppe hinunter. Das klingt sehr philosophisch. Ich kann schließlich lesen.
Auf der Fifth Avenue wandten sich alle Gesichter uns zu – wie ein Feld voller Sonnenblumen. Warhol rief: Verdammt!, und hielt ein Taxi an. Er sagte, es sei ein nicht lizenziertes, und der Fahrpreis sei unverschämt. Er weigerte sich, dem Fahrer ein Trinkgeld zu geben, und der spuckte, als wir ausstiegen, aus dem Fenster, haarscharf neben Warhols Schuhe. Andy ist ein aufgeblasener Idiot, auch wenn er gesagt hat, er würde mich irgendwann mal zeichnen. In seinem Büro stand eine Auswahl von Kuchen aus der Erotic Bakery herum. Er gab mir einen Doughnut und wollte ein Foto von mir machen. Ich musste es ihm aus den Händen reißen. Wahrscheinlich hätte er es für Tausende von Dollars verkauft. In seinen leuchtend grünen Hosen rannte er mit schrillen Schreien vor mir davon. Schließlich landeten wir in einem Hinterzimmer, wo zwei riesige schwarzweiße Würfel auf dem Boden lagen. Auf jeder der sechs Seiten stand ein Wort, auf dem ersten Würfel: Du Ich Sie Wir Uns Joker, auf dem zweiten: Ficken Blasen Küssen Streicheln Handbetrieb Joker. Man würfelt und muss tun, was die Würfel befehlen. Wir Streicheln. Du Blasen. Sie Küssen. Für den Joker kann man etwas Beliebiges einsetzen. Warhol nennt das «Menschenpoker». Er sagt, die Kombinationen sind endlos, aber es müssen mindestens acht Leute mitmachen, -276-
sonst kann es langweilig werden. Ich sagte, er solle das Spiel choreographieren. Er schrie: Genau! Das ist es!, und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Das Arschloch wird es wahrscheinlich in einem Film verwenden (natürlich ohne anzugeben, wer ihn darauf gebracht hat).
Die Ohrfeige war in der ganzen Galerie und bis hinaus auf die Fifth Avenue zu hören, aber sie hatte mich mit ihrer Bitte um ein Autogramm genervt, und ich wollte mir das Bild ansehen. Der Besitzer eilte herbei, doch ich weigerte mich, irgendetwas zurückzunehmen. Meine Hand brannte fünf Minuten lang. In Wirklichkeit wollte ich mich gern entschuldigen, konnte es aber nicht. Gillian sagte, ich solle mir den Totempfahl aus dem Arsch ziehen und endlich erwachsen werden. Worauf ich ihr sagte, sie sei gefeuert, und sie antwortete: Was denn schon wieder? Dann begann sie, ihre Zehennägel leuchtend rot zu lackieren. Glücklicherweise ist das Mädchen, dem ich eine geknallt habe, eine hoffnungsvolle Ballerina und will mit Rücksicht auf ihre Karriere von einer Anzeige absehen, aber Gillian besteht darauf, dass wir Schadensbegrenzung betreiben, damit die Sache nicht in die Zeitungen kommt. Der Entwurf sieht so aus:
Bei dem Sprung durch den Mund müssen mich sechs -277-
Bühnenarbeiter auffangen. In der Post stand, es sei der spektakulärste Abgang, den man je in einem Ballett gesehen habe. (Das ist natürlich Blödsinn.) Das Foto hat irgendein Idiot gemacht, der mich mit krummem Rücken und schlechter Linie erwischte. Das Publikum war trotzdem hingerissen und tobte vor Begeisterung. (Polanski, Tate, Hepburn und Hendrix waren da.) Die Kritiken waren gut, bis auf die von Clint, der das Ganze als krankes Machwerk bezeichnete. (Arschloch.) In der Klatschkolumne stand eine Geschichte mit einem Foto von mir und Hendrix: Rudi und Jimi tanzen Pirouetten. Seine Fingernägel waren ganz schwarz vom Gitarrespielen (vielleicht geronnenes Blut). Im Club verschwand er hinter Schwaden von Marihuanarauch, aber später sah ich ihn auf der Tanzfläche. Ich war umgeben von einem Dutzend Frauen, die ihre Hüften kreisen ließen. Ein hoch gewachsener junger Schwarzer in Lederhemd und Motorradstiefeln gesellte sich zu uns. Wir gingen auf den Hinterhof und ließen unsere eigene Party steigen. Die Geburtstagsfeier kam und ging – ich möchte sie nur schnell vergessen. Einunddreißig. Margot hat mir einen wunderschönen Kristallkelch geschenkt, und von Erik habe ich eine Gucci-Uhr bekommen. Dabei wollte ich nur einen Spaziergang am Strand entlang machen. Die Sterne über St. Bart's funkelten beinahe so hell wie die über Ufa, als ich zum Eisfischen ging – vor Hunderten von Jahren. Leopardenfellstiefel! Bis zu den Oberschenkeln! À la Twiggy! Hinter der Bühne hieß es, sie seien rattenscharf. In Le Bar konnte ich mich kaum bewegen, weil sich mir von überall her Erektionen entgegenreckten. Ich entdeckte einen Jungen, der zwei Menschen zugleich zu sein schien, -278-
ein Janus: Von der rechten Seite betrachtet war er sehr schön, aber auf der linken Gesichtshälfte hatte er eine schreckliche Narbe. Am Morgen versuchte er, mir nur die gute Seite zu zeigen. Das langweilte mich, also schmiss ich ihn raus. Mutter sagt, der Schnee in Ufa habe alle anderen Geräusche erstickt. Tamara sagt, sie möchte mich und mein Leben gern verstehen, aber sie ist so dumm – wie kann sie mich verstehen? Niemand versteht mich. Erik beschwert sich, dass ich mit jedem Tag mehr Scheiße rede. Er sagt, ich solle mich auf die eine Sache konzentrieren, von der ich etwas verstehe, das heißt: mich in meinem Heiligtum bewegen, auf der Bühne. Er verabscheut meine Vorstellung, dass Tanzen die Welt ein bisschen besser macht. Das ist sentimental, sagt er. Ich will damit nur eine Aussage über Schönheit machen, aber Erik (der sich ständig die Nachrichten über Vietnam und Kambodscha ansieht) sagt, dass Tanzen für den Mönch, der sich in Brand steckt, und den Fotografen, der ihn durch die Kamera sieht, absolut nichts verändert. Würdest du dich für etwas, an das du glaubst, verbrennen?, sagte er. Ich fragte ihn, ob er den Finger auf dem Auslöser lassen würde, wenn ich mich verbrennen würde. Zuerst wollte er darauf nicht antworten, aber schließlich sagte er: Natürlich nicht. Wir stritten uns, bis der Wecker klingelte. Ich sagte ihm, ich hätte mich schon vor langer Zeit in Brand gesteckt – ob ihm das eigentlich nicht klar sei? Er seufzte, kehrte mir den Rücken und sagte, er habe das alles satt – er wünsche sich bloß ein Häuschen am Meer in Dänemark, wo er -279-
sitzen, rauchen und Klavier spielen könne. Ich knallte die Tür zu und sagte, er solle mich am Arsch lecken. Er rief mir nach: Ja, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Ich antwortete, er werde bestimmt keine Zugabe bekommen. Die Eisbeutel waren nicht gefroren, und das Bittersalz war verschwunden. Am liebsten hätte ich den kleinen Kühlschrank aus dem Fenster geworfen. Das Einzige, was mich davon abhielt, war die Menge der jubelnden Fans auf der Straße. Margot droht immer wieder damit, sich von der Bühne zu verabschieden. Sie weiß sehr wohl, wie gut beispielsweise Bettina ist oder Joyce oder sogar Allessandra und vielleicht auch Eleanor. Doch nach jeder anderen Partnerin kehre ich unvermeidlich wieder zu Margot und ihrer Ausstrahlung zurück. Am Telefon sagte sie, sie sei zerrissen. Einerseits braucht Tito sie, andererseits braucht sie das Geld. (Außerdem hat sie Angst zu verwelken.) Erik hat Recht, auch wenn ich ihn angeschrien und einen Blumentopf nach ihm geworfen habe, der ihn beinahe am Kopf getroffen hätte. Ja, wahrscheinlich habe ich miserabel getanzt. Scheiße! Aber der neue Masseur könnte mir vielleicht Erleichterung bringen. Er sagt, dass es im Körper bestimmte Punkte gibt, die er bearbeitet, um die Spannungen zu beseitigen. Er verschiebt sie in andere Bereiche des Körpers, wo sie sich auflösen. (Auf jeden Fall habe ich mich am Strand endlich einmal ganz entspannt gefühlt – nach sechs Ländern in nur vierzehn Tagen.) Emilio hat die kräftigsten -280-
Hände, die ich je erlebt habe. Die stehenden Ovationen in den Restaurants sind mir inzwischen verhasst. Wie kindisch! Victor ist verrückt, vulgär und liebenswert, eine wandelnde Katastrophe (Seidenrobe und Straußenfedern), und doch bringt mich niemand so zum Lachen wie er. Das Thema der Party, die er organisiert hat, lautete Nurejew. Er sagte, sämtliche New Yorker Friseure seien ausgebucht gewesen, und selbst Diana ROSS habe Bestechungsgelder zahlen müssen, um einen Termin zu bekommen. (Später sagte sie zu mir, als Nurejew sei ich göttlich.) Quentin Crisp flüsterte mir betrunken ins Ohr: Ich bin viel zu sehr ein Mann für jeden Mann, um für irgendeinen Mann der einzige Mann zu sein. (Ich bin sicher, dass er das irgendwo geklaut hat.) Ich habe ihr gesagt, wenn sie weiter tanzt, wird sie eines Tages zumindest mal einen Frosch küssen dürfen. Man konnte sie vor dem Probensaal weinen hören, und jemand rannte los, um ihr eine Zigarette zu holen. Gillian sagt, eine Zigarette lässt jeden aufhören zu weinen. Ein Gedanke: Man sollte sofort Zigarettenpäckchen in jedes erreichbare Loch stecken, das hysterische Frauen, Tänzer, Geliebte, Buchhalter, Bühnenarbeiter, Zollbeamte usw. präsentieren. Die Aufführung war voller Fehler. Grässlich. Die Bewegungen sind die reine Scheiße. Er könnte nicht mal eine römische Orgie choreographieren. Ich soll mit so viel Schwung aus den Kulissen kommen, als wäre die Welt gerade erst erschaffen worden. Die Fenster des Körpers -281-
öffnen und das Mysterium dort entstehen lassen. Broadway, erste Reihe. Die Show war beschissen, aber Erik sagte, wir könnten nicht früher gehen, das würde nur Gerede geben. Ich tat, als hätte ich Zahnschmerzen und verließ das Theater trotzdem, kehrte aber später zurück, als die Party in vollem Gang war. Der Hauptdarsteller fragte mich, ob es mir jetzt besser gehe. Ich biss ihn in den Arm und sagte, mit meinen Zähnen sei anscheinend alles wieder in Ordnung. Er lief den ganzen Abend mit aufgekrempeltem Ärmel und verbundenem Arm herum. Gillian fragte mich, wie ich nach dem Vögeln tanzen könne, und die einzige Antwort, die ich darauf wusste, war, dass ich ohne Vögeln überhaupt nicht tanzen könne. (Man wünscht sich nur, die Pause wäre länger!) Patrick setzt die Nadel zwischen den Zehen an, damit man die Einstiche nicht sieht. Vor seinem Auftritt schneidet er sich in den Finger und reibt Salz in die Wunde (ein geradezu unerträglicher Schmerz), um sich aus seinem Stupor zu reißen. In der Bar an der Ecke Castro hängte ich mich an den Balkon, während der Junge meinen Reißverschluss öffnete und sein stilles Wunder geschehen ließ. Er war so groß wie Erik und ebenfalls blond. Ich hing so lange dort, dass ich mir beinahe einen Schultermuskel gezerrt hätte. Danach schlug ich vor, zum Hotel zu gehen und ein freundschaftliches Nickerchen zu halten.
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Die Canova-Statue: 47 000 Dollar. (Mrs. Godstalk!) Warhol sagt, die Vorbereitungen für meinen zweiund-dreißigsten Geburtstag werden wie die letzten Tage des Römischen Reiches sein. Er hat sich ein Suspensorium aus rotem Vinyl bestellt – gut möglich, dass er es über der Hose tragen wird. Ich dachte unwillkürlich, dass man ihn nach und nach vergessen wird. Seine Attraktivität als modischer Avantgardist lässt nach. (In seiner Umgebung zu sein, ist, als würde man eine dieser lachhaften Amylnitritampullen inhalieren.) Bei der Nach-Party-Party begannen die Skulpturen der Nackten aus Eis zu schmelzen. Es gab einen Kuchen in Form eines Hinterns, mit Marzipan-Grübchen und kreativer Zuckerguss-Verzierung. Ich blies die dreiunddreißig Kerzen aus (eine mehr – das soll Glück bringen), aber dann sprang Truman Capote im Frack auf den Tisch, schleuderte seinen weißen Hut weg und steckte sein Gesicht in den Kuchen. Als er wieder hochkam, tat er, als hätte er ein Schamhaar im Mund. Victor hatte einen Schwächeanfall und wurde ins Krankenhaus gebracht. Später kam er mit dem Tropf im Arm ins Studio 54. Unter den blitzenden Lichtern schob er den Metallständer mit dem Infusionsbeutel über die Tanzfläche. Alle jubelten, klatschten und pfiffen. Victor verbeugte sich, ging zu einer Nische in der hinteren Ecke, rückte den Infusionsbeutel zurecht und wollte eine Lokalrunde ausgeben, als er erneut zusammen-brach. (Er hätte es sehr genossen zu sehen, dass er von niemand anderem als Steve hinausgetragen wurde.) -283-
Margot sagt: Mach langsamer. Ich sagte ihr, dass mir die unzähligen kleinen Teufel (Sex, Geld, Begehren) nichts bedeuten im Vergleich zu dem Engel des Tanzes. Wie es heißt, ist Sascha im Park zusammengebrochen. Ein Herzanfall. Heute Nacht bin ich lange aufgeblieben, habe alle weggeschickt und ihn ins Leben zurückgetanzt. Ging ziellos herum und landete in einem Hof, wo der letzte Hufschmied von Paris sein erstes Pferd an diesem Tag beschlug. Er erlaubte mir, mich auf ein Mäuerchen zu setzen und ihm zuzusehen. Der Huf des Pferdes in seiner Hand und Funken rings um seine Füße. Telegramm und Blumen für Xenia. Scheiße! Der Knöchel schien einfach unter mir nachzugeben. (Sascha, vor so vielen Jahren: Was – bist du nicht mehr der Freund deines Körpers, Rudi?) Emilio sagt, es wird drei Monate dauern, bis das verheilt. In genau vier Tagen werde ich die Krücken in den Central Park werfen. (in drei Tagen!) Zwei lange Wochen Genesung auf St. Bart's. Keine Anrufe, nichts. Es war so heiß, dass der Regen über dem Meer verdunstete, bevor die Tropfen das Wasser erreichten. Von den Bäumen stiegen Wolken gelber Schmetterlinge auf. Die Welt war klein und weit entfernt. Die Einheimischen stehen bei Morgengrauen auf und -284-
machen sich an ihren Blumenbeeten zu schaffen. Erik sagte, die alten Männer hätten es besser als die Blumen sie müssten noch weniger tun und könnten in den Schatten gehen, wenn sie wollten. (Was für eine seltsame Bemerkung.) Nach dem Essen übergab er sich im Bad. Lebensmittelvergiftung, sagte er. Das Hausmädchen kümmerte sich um ihn. In seinem Reisenecessaire waren mehrere Fläschchen mit Schmerztabletten. Im Bett lagen wir Rücken an Rücken. Er trat und knirschte mit den Zähnen. Am Morgen waren die Laken schweißnass. Foto von Tamara. Die schweren Brüste, die untersetzte Statur, die kurzen Beine – wie russisch sie geworden ist. Vierundzwanzig Wiederholungen anstatt zwölf. Emilio hat mir schwerere Gewichte gegeben und misst täglich den Muskel. Ich schnalle mir das Gewicht an den Knöchel, und dann gehen wir durch die Straßen. Der Sträflingsgang. Bald werde ich wieder tanzen. Er sagt, er hat noch nie eine so schnelle Genesung erlebt. Ganze Vormittage Massage. Hüftstreckung. Torsodrehung. Achillessehnen. Am meisten Waden und Oberschenkel. Damit ich keine Krämpfe bekomme, lässt er meine Füße über die Tischkante stehen, und er wird wütend, wenn ich den Spezialständer aufbaue und versuche, ein Buch zu lesen. Er sagt, wenn er mit den Händen an meinem Rückgrat entlangstreicht, weiß er, welches Handlungsmuster das Buch hat, das ich gerade lese. Das Bein ist vielleicht stärker als je zuvor. In Verona, unter dem Sternenhimmel, gab es zwanzig Minuten lang stehende Ovationen, obgleich es dann zu nieseln begann. -285-
Von Erik kein Wort. In der Chicago Sun-Times stand, er sehe blass aus, und es habe geheißen, er leide unter einer Darmgrippe. Margot hat ausgerechnet, dass wir beinahe fünfhundertmal miteinander getanzt haben, und sagt, sie will weitermachen und versuchen, auf siebenhundert zu kommen, eine Glückszahl!
Emilios Mittel gegen Schlaflosigkeit: Wasser über die Handgelenke laufen lassen, es sacht abtupfen, zu Bett gehen und die Hände unter den Achselhöhlen wärmen. Bestimmt unser letzter Streit. Jedes Stück Porzellan wurde zertrümmert, bis auf die Teekanne, die Erik an seinen Bauch drückte. In der Tür zündete er sich, die Kanne noch immer in der Hand, eine Zigarette an. Als ich mich umdrehte, ließ er ohne erkennbare Gefühlsregung die Kanne fallen. Lebwohl. Es hat eine brennende Endgültigkeit. Gillian sagt, es war unvermeidlich. Ich habe den Hörer auf die Gabel geknallt. Das braucht man mir nicht zu sagen. Margot war bei Tito in Panama. Keine Antwort. Victor kam, um mir zuzuhören, mit einem Direktflug. In meinem Kopf drehte sich alles. Habe versucht, Mutter zu erreichen, aber alle Leitungen waren unterbrochen.
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Es beginnt mit Schals, dunklen Schals, die er in dem Missoni-Geschäft in der Rue du Bac kauft. Im Lauf der Jahre lernt er die Besitzer so gut kennen, dass sie ihr Geschäft am Sonntagmorgen für ihn allein öffnen. Die Schals werden bunter, gemusterter, bis er so berühmt ist, dass sie zu einer Art Reklame werden und er dafür nichts bezahlen muss, und einige werden zu seiner Schwester und seiner Mutter geschmuggelt, die sie zu laut und zu grell finden. Ein Schneider in der Londoner Savile Row macht ihm ein Nehru-Hemd mit Stehkragen, das ganz ähnlich aussieht wie früher sein Schulhemd, nur dass dieses hier aus Kaschmir ist. In Wien kauft er einen Kronleuchter aus Murano-Glas im Rokokostil mit fünfundfünfzig Lichtern und zwanzig Ersatzbirnen. In Kairo entdeckt er ein Paar antike persische Pantoffeln. In Raizon kniet er auf Teppichen, die ein blinder Marokkaner für ihn geknüpft hat – er erzählt ihm von dem Leningrader Choreographen, der den Brettern der Bühne so aufmerksam lauschte. Dem Marokkaner gefällt die Geschichte so gut, dass er sie anderen Kunden erzählt, und auf ihrem Weg durch Wohnzimmer in aller Welt verformt und verändert sie sich: Aus dem Leningrader Choreographen wird ein Moskauer Tänzer oder ein sibirischer Musiker oder sogar eine taubstumme ungarische Ballerina, und einige Jahre später hört Rudi diese entstellte Geschichte und
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schlägt mit der Faust auf den Tisch, sodass alle verstummen, und ruft: Quatsch! Völliger Quatsch! Er war aus Leningrad, und sein Name war Dimitri Jachmennikow!
Er kauft antike englische Bücherregale und Klapptische. Jahrhundertealte rumänische Gläser. Ein kaiserliches Tafelservice aus Österreich. Einen argentinischen Klapptisch. Buntglasfenster aus einer Kirche in Bayern. Aus der Tschechoslowakei geschmuggelte Kreuze aus Eisen. Eine Reihe von Kruzifixen, angefertigt von einem Künstler in der Vatikanstadt. Einen chilenischen Spiegel mit reich geschnitztem Rahmen, den er einem Bühnenarbeiter aus Santiago schenkt. Er kauft Partituren, die in den dreißiger Jahren für Vera Nemtschinowa von Hand geschrieben wurden, und beugt sich bis spätnachts darüber, er bringt sich bei, sie zu lesen, und summt die Melodien gelegentlich vor sich hin, wenn er nicht schlafen kann. Von einem sowjetischen Emigranten in Mexico City lässt er Landkarten zeichnen, in deren Zentrum die Republik Baschkirien liegt, sodass die Stadt Ufa endlich auch in der Kartographie ihren Platz gefunden hat. In jedem seiner Häuser hängt eine solche Karte, sodass er schließlich sieben davon hat – das ist seine Glückszahl. Die Karten hängen in vergoldeten Rahmen, hinter nicht reflektierendem Glas. In Athen kauft er eine römische Skulptur aus dem l. Jahrhundert, eine Marmorkopie des Diadumenos von
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Polyklet, der Torso ist am Brustkorb leicht beschädigt. In seinem Farmhaus in Virginia stehen Regale mit wertvollen Schnitzereien aus Ghana. Er kauft Olga Spessiwzewas Tanzschuhe und zeigt sie seinem Schuhmacher in Covent Garden, der sich von ihnen zu einer neuen Naht inspirieren lässt. In der Madison Avenue in New York feilscht er um ein Gemälde von Charles Meynier – Die Weisheit verteidigt die Jugend gegen die Liebe. Er trägt das Bild eigenhändig in seine Wohnung im Dakota Building, anstatt die hundert Dollar für die Lieferung zu bezahlen. Alte Akkordeons, Violinen, Cellos, Balalaikas, Flöten, Fiedeln, ein Mahagoni-Flügel von William Knab & Co. In Stockholm kauft er eine Vitrine voller seltener Ammoniten. In Oslo ein Regal von Georg Kofoed, M0belfabrikant. In Rom entdeckt er chinesische Paravents: kriegerische Szenen vor einem Hintergrund von Kranichen, Häusern und Tempeln. Sie werden zu seinem Haus auf Le Galli bei Capri gebracht. Er fährt eigens nach Nizza, um eine Serie von Nijinski-Fotos zu kaufen, damit er die Posen einüben und die Schritte rekonstruieren kann, von denen es keine Aufzeichnungen gibt. Bei einem Glasbläser in Prag bestellt er mundgeblasene Glühbirnen. Eine australische Buchhändlerin schickt
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ihm ständig Erstausgaben von Klassikern, hauptsächlich russischen. In Singapur rettet er eine alte Standuhr aus einem Kramladen. Er lässt sich eine Reihe von Stammesmasken aus Neuseeland schicken. In Deutschland kauft er ein komplettes Tafelservice, das einst dem Kaiser gehört hat, feines Porzellan mit Goldrand. Aus Kanada kommt eine Truhe aus Zedernholz, denn er mag keine Mottenkugeln, und er hat gehört, dass es einen bestimmten Wald gibt, wo die besten Zedern wachsen. Für sein Haus in London lässt er Blumen aus Hawaii einfliegen. Und in Wales, wo es noch handwerkliche Meisterschaft und Achtung vor der Form gibt, baut Llewelyn Harris aus Cardiff einen Modelleisenbahnzug für ihn, so wirklichkeitsgetreu, dass er sich, wenn er ihn auf dem Fußboden aufstellt, manchmal daran erinnert, wie er mit sechs Jahren auf dem Hügel über Ufa gesessen und gewartet hat.
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BUCH DREI
Wenn die unwiderstehliche Musik verklungen ist, muss man lernen, mit einem tropfenden Wasserhahn zu leben. Jim Harrison: The Theory and Practice of Rivers
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1 New York 1975 Es ist eine von diesen herzlosen Straßen, die man in den Teilen der Stadt findet, wo das Licht noch scharf ist von der gestrigen Dunkelheit, wo sich der späte Nachmittag anfühlt wie die Sperrstunde und allerlei Müll des Tages an einem vorbeiwirbelt, wo Tauben grau auf Maschendrahtzäunen sitzen, der Verkehr sich staut und Abgaswolken ausstößt, wo die Schaufenster dunkel und schattenhaft sind vor Ruß und Schmutz, Eleventh Street, Ecke Avenue C, Lower East Side, Heroin und Selbstmord, aber Victor durchbricht das alles einfach, indem er den Bürgersteig entlanggeht, denn er hat das Gehen in eine Art Tanz verwandelt – das fängt an bei einem symmetrischen Wiegen der Schultern, das nicht mal die Schwarzen wirklich draufhaben, einem kantigen Zucken der einen und dann der anderen Schulter, als wären sie mit synaptischen Zahnrädchen gekoppelt, erst die linke, dann die rechte, doch es sind nicht allein die Schultern, denn das Wiegen läuft durch den Brustkorb, durch den ganzen Körper, bis hinunter zu den Zehen – Gott hat mich so klein gemacht, damit ich Basketballspielern einen blasen kann, ohne meine Knie zu ruinieren! – und wieder hinauf, um einen Augenblick in den Hüften zu verweilen, nichts Ekla-tantes, es ist ja nicht so, als müsste er besonders darauf hinweisen, denn sein ganzer Gang ist eine Huldigung an seine männliche Ausstattung, und wenn du high oder verkatert oder beides bist und auf der Treppe zu einem Brownstone-Haus sitzt und den Blick hebst und dir die ganze Scheiße ansiehst, den ganzen Dreck und all die -292-
Tausende anderer alltäglicher Qualen, zu schlimm, um sie aufzuzählen, dann siehst du Victor kommen – wie den ersten Mann, der je vor sich hin gepfiffen hat –, in seinen engen schwarzen Hosen und dem leuchtend orangefarbenen Hemd, das schwarze Haar zurückgekämmt, die Zähne weiß unter dem schwarzen Schnurrbart, und in seinem Körper dieses Wiegen, das nicht Jazz, Funk, Foxtrott oder Disco ist, sondern ganz und gar Victor, vom Scheitel bis zur Sohle, eine Kunst, die er wohl schon von Geburt an beherrscht, und er lacht beim Gehen, ein leises Lachen, das hoch beginnt und tief endet, ein VictorLachen, spontan, als hätte sein Körper ihm gerade einen kleinen Witz über sich selbst erzählt, und du siehst ihn, und der ganze Tag fallt von dir ab, die Uhren bleiben stehen, die Gitarren stimmen sich von selbst, die Klimaanlagen säuseln wie Geigen, die Müllwagen klingen wie Flöten, und du sitzt festgenagelt auf der Treppe, während Victor den Tunten zuwinkt, die aus den Fenstern hängen mit ihren Federn, ihren Perücken, ihrer Lust, und er seine Zigarette austritt oder sich den Schuh zubindet oder an eine Fensterscheibe klopft, mit einem Silberdollar, damit man es auch gut hört, und als Antwort Pfiffe und Gejohle bekommt denn Victor ist vor sechs Jahren noch berühmter geworden, nach den 69er Unruhen am Sheridan Square, als er wegen Gewalttätigkeit und unzüchtiger Entblößung festgenommen worden war – nackte Gewalt! –, es aber geschafft hatte, sich auf dem 6. Revier von einem großen, blonden Bullen einen runterholen zu lassen, und so kam es, dass man über ihn redete, über ihn lachte, ihn in Bars Bädern Hinterzimmern der Stadt mit Jubel begrüßte und er geht weiter, im Königreich seiner selbst, macht eine Verbeugung vor den Fenstersimsen, eine Verbeugung, die er von seinem guten Freund Rudi Nur-Eierew -293-
gelernt hat: Er neigt sich tief, richtet sich elastisch auf, reckt mit einer weit ausholenden Geste den Arm in den Himmel, steht eine Sekunde reglos, grinsend da und geht weiter durch die Abfolge von Sonne und Schatten zum Zigarettenladen an der Ecke, wo er einen tiefen Zug von dem Joint der hübschen puertoricanischen Jungen nimmt, die seine Schuhe mit weißen Tüchern putzen, während er barfuß in den Laden tritt, zu dem Besitzer sagt: Mann, den Massenmörder, der dir diesen Haarschnitt verpasst hat, sollte man aus dem Verkehr ziehen – sein eigenes Haar ist so dicht und glatt, dass es die Neonbeleuchtung reflektiert –, und sich ein Päckchen Lucky Strike kauft, natürlich Lucky Strike, denn sein Leben ist eine einzige Abfolge von Glücksfällen, von den Straßen von Caracas bis zum Hahnenschrei der Neuen Welt, wo er als Zimmermann angefangen hat, dann Kellner, Stricher, Anstreicher war und schließlich, nach den Krawallen in der Christopher Street, Inneneinrichter wurde – Klar werde ich Sie innen einrichten! –, wobei er aber immer nur so viele Aufträge annimmt, wie er braucht, um so zu leben, wie er will, und außerdem weiß er, dass man desto mehr verdient, je weniger man arbeitet, eine der simplen Regeln von New York City, und Victor hat sich im Lauf der Jahre von der Richtigkeit zahlreicher solcher simpler Regeln überzeugt; seine Lieblingsregel besagt, dass man von allen geliebt wird, wenn man es schafft, durchs Leben zu gehen, ohne sich selbst zu verlieben – das ist eines der großen Gesetze der Liebe und des Vögelns: Man nimmt, was man kriegen kann, und zieht schnell weiter, ohne sich umzusehen, sodass nicht mal die puertoricanischen Jungen vor dem Laden ihn halten können, nachdem er ihren halben Joint geraucht hat, denn er ist schon wieder fort, verströmt sein Licht in der nächsten Straße und in der übernächsten, man ruft ihm Begrüßungen zu, während er dahintänzelt, die -294-
Dealer greifen in die Taschen ihrer hautengen gelben Hosen und holen ein paar Pillen raus, gratis, und sagen: Victor, Alter, sag den trüben blaublütigen Tassen doch mal, wo die Post wirklich abgeht, denn alle Dealer hoffen auf ein Victor-Geschäft am späten Abend, weil ein VictorGeschäft immer auch ein lohnendes Geschäft ist, gut möglich, dass er einem einen ganzen Trupp zuführt, und in diesem Fall könnte man morgen mit singendem Herzen aufwachen, an die Süße gekuschelt und unter dem Kopfkissen ein fettes Bündel Zwanziger, und Victor nimmt die Pillen, lächelt und sagt: Gracias eins der beiden spanischen Wörter, die er gebraucht, gracias und cojones, und beide spricht er in drei langen Silben, als würde er kurz auf seinen Kindheitserinnerungen aus Venezuela herumkauen: der Dreck, die Hunde, der Fußball, der auf das Abwasserrohr zurollt als Victor acht war, erzählte man sich von einer Statue, die angeblich im Hafen von La Guaira nicht weit von Caracas versunken war, einer Statue der Heiligen Jungfrau, und diese Geschichte war für die Leute dort so bedeutsam, dass sie Perlentaucher kommen ließen, die allerdings nichts fanden, und schließlich hieß es, die Heilige Jungfrau werde in einem Jahr der himmlischen Güte und des Wohlstands erscheinen, sodass Victor, als man ihn keuchend und die alte, schmutzige Statue umklammernd aus dem Hafenwasser zog, mit Geld und Geschenken überhäuft wurde, worauf er mit seiner Mutter und seinen Brüdern nach Amerika ging, nicht ohne ein Viertel des Geldes dem Steinmetz gegeben zu haben, der ihm die Statue gemacht hatte, ein perfekter Betrug, und selbst damals schon wusste Victor, dass Begehren nur zu noch mehr Begehren führt und er geht weiter durch das Village, in westlicher Richtung, vorbei an einer Nutte in Hot Pants, die mit den -295-
Hüften wackelt, als hätte sie da ein Scharnier, vorbei an den in Tücher gehüllten Pennern, die ihre letzten Occidental-Death-T-Shirts verkaufen, vorbei an den Bettlern im Rollstuhl, vorbei an den schwarzen Hipstern, die am St. Mark's Place am Geländer lehnen, vorbei an den Bauernburschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Speed genascht haben, vorbei an dem ganzen Strand- und Treibgut von Amerika, und auf der Second Avenue wirft Victor ein bisschen Geld in den Becher einer jungen Fixerin, die aufsieht – ihre Augen sind zwei Maskarateiche – und ihm sagt, dass sie noch nie ein abgefahreneres Hemd gesehen hat, und er steckt noch einen Dollar in den Becher, umhüpft den Wasserstrahl, der aus einem Hydranten spritzt, überquert die Third Avenue und springt am Astor Place die Treppe hinunter, ohne dass in seinen Sprüngen irgendeine Logik zu erkennen wäre, zwei Stufen, eine Stufe, zwei Stufen, drei Stufen, er winkt dem Mann hinterm Schalter zu und setzt über das Drehkreuz, und der Mann ruft ihm nach: He, Mann, bezahl gefälligst!, und Victor nickt den anderen Passagieren zu, als er in die U-Bahn steigt, er lächelt und zwinkert, nein, Victor ist in dieser Stadt nirgends einsam, nicht mal in der U-Bahn, in der er fährt, ohne sich zu setzen, ohne die Stangen und die baumelnden Haltegriffe zu berühren, mit gespreizten Beinen, um das Gleichgewicht besser halten zu können, als bereitete er sich jetzt schon auf die Nacht vor, und in der Grand Central steigt er aus und geht auf vier Zigaretten und einen Cocktail – Wodka und Grapefruitsaft – in den Oak Room, ein 2-Dollar-Trinkgeld für den Barmann, Geld muss rollen, darum ist es ja rund, und dann schlängelt er sich durch den Strom der Pendler, links und rechts, zick und zack, die mit Abfall übersäte Treppe zu den Toiletten hinunter, kein Ort ist zu schön für Victor und keiner zu schäbig, und ihm schlägt der schale Gestank -296-
nach Pisse entgegen, als er eintritt, mit einer Gelassenheit, die er aus einer Zeitschrift hat, die Lippen gespitzt, die Zigarette zwischen den Fingerspitzen hoch erhoben, vorbei an den rechteckigen Spiegeln, vor denen sich ein Dutzend Männer wie ein Vorspeisenbuffet aufstellen, und Victor nickt einem Jungen mit blassem Gesicht und einem Schwarzen zu – ein zögerlicher Ausdruck auf ihren Gesichtern, sie sind unsicher, er könnte ein Bulle, ein Schläger, ein Schlitzer sein, in den vergangenen Jahren hat es immer wieder Messerstechereien gegeben –, aber Victor greift in die Tasche und gibt jedem eine Pille, sie entspannen sich und lächeln und werfen sie ein, und alle drei gehen in eine Kabine, wo sie lachen, streicheln, küssen, sich schmiegen und entschmiegen, bis Victor zwanzig Minuten später wieder erscheint, sich Gesicht, Hals und Achselhöhlen wäscht, während die anderen Männer zusehen und sich Gerüchte über Victor zuflüstern, und in den Spiegeln sieht man jetzt Sehnsucht und Eifersucht, denn ein Flötensolo von Victor ist in dieser Stadt eine Art Währung, eine Auszeichnung, ein Autogramm, ein Absperrseil vor einem Nachtclub, das sich plötzlich hebt – Ich bin ein Freund von Victor Pareci –, aber wenn man sich nach Victor umsieht, ist er immer gerade verschwunden, er ist der Mann, den man braucht, weil er eben nicht da ist, weil er eben immer irgendwo anders ist, als wäre sein Herz mit Helium gefüllt, als wären alle Klappen geöffnet, als würde er vom Rückstoß irgendwo anders hingetragen, außer Reichweite in die Katakomben des Anvil vielleicht oder ins iranische Generalkonsulat, wo die großen Kokspartys steigen, oder in den hinteren Keller des Snake Pit oder eine Suite mit Parkblick im Plaza oder in den dunklen Aufzug zum Toilet oder zum Tee ins Algonquin oder in den großen Salon des Triangle oder an einen Tisch bei -297-
Clyde's oder zu den morschen Piers am West Side Highway – die Stadt mit all ihrem Elend, all ihrem Reichtum gehört Victor, er kennt ihre Straßen, ihre Avenues, ihre Portiers, ihre Barmänner, ihre Rausschmeißer, er weiß nicht nur, wie lange es dauert, von einem Club zum anderen zu gehen, sondern auch wann man das tun sollte, denn obwohl Victor keine Uhr trägt, weiß er doch immer, was die Stunde geschlagen hat, auf die Minute genau, ganz gleich, wo er ist, wen er fickt und was er trinkt, ganz gleich, wie stoned oder müde er ist und wie berühmt seine Begleiter sind, denn es könnte an der Zeit sein, den Standort zu wechseln, er setzt ja schon Spinnweben an, wer weiß, was sich gerade einen Block weiter tut, der Mittelpunkt der Welt ist in ständiger Bewegung und Verschiebung begriffen, und Victors Aufgabe ist es, immer genau dort zu sein, im Mittelpunkt: Ich bin die Turmuhr der schwulen Welt! und fort ist er, mit dem Express der Linie 4, zur Fiftyninth, Ecke Lex, und von dort geht er zu Fuß durch die Upper East Side, wo die jüdischen Ladys ihre Pudel oder die Pudel ihre jüdischen Ladys ausführen, Victor ist sich da nie ganz sicher, und er schwenkt schamlos den Hintern, wenn er an ihnen vorbeigeht, er springt und greift nach den Blättern der Straßenbäume – wie bukolisch! –, das Licht schwindet, die Straßenbeleuchtung flackert auf, und er raucht mit tiefen, mächtigen Zügen, sodass große Wolken über ihm hängen, eine zweite Zigarette hinter dem Ohr, damit er sie gleich verfeuern kann, er lächelt den Portiers mit ihren weißen Handschuhen zu und denkt, aus ihrer Aufmachung könnte man vielleicht eine neue Mode kreieren – Victor die Portierhure, Victor der Eier leckende Lakai, Victor der Mann der dich einlässt! –, und er tänzelt durch eine Eingangshalle aus Marmor, die er ziemlich geschmacklos findet, und fährt mit dem Aufzug zum -298-
Penthouse, wo die erste Cocktailparty des Abends im Gange ist, eine Vordem-Ballett-Veranstaltung und eigentlich nicht Victors Liga, denn um diese Zeit ist er normalerweise noch gar nicht unterwegs, aber das Penthouse gehört einem möglichen Klienten, Rudi hat Victor empfohlen, und er hat dem Mann auch schon einen Kostenvoranschlag gegeben, und so schlendert er in den mahagonigetäfelten Raum, bleibt kurz unter dem riesigen Kronleuchter stehen und versucht, sich durch Schweigen bemerkbar zu machen, doch es geht keine Bewegung durch die Gäste, man flüstert nicht über Glasränder hinweg, keine Bewunderung, kein Aufschrei – wie enttäuschend! –, und so taucht er mit seinem bunten Hemd in die Menge ein, mischt sich unter dunkle Kleider und dunkle Hiegen, beugt sich vor und wirft jemandem eine übertriebene Kusshand zu, schüttelt hier eine Hand, nimmt dort ein paar Horsd'œuvres von einer silbernen Platte, und die Ober sind etwas verdutzt und fragen sich, ob Victor ein Gatecrasher oder ein Prominenter ist er ist ein Mann, der einer Party den Teppich unter den Füßen wegziehen, aber auch der fliegende Teppich sein kann, der sie trägt –, doch als Victor sich durch den Raum bewegt, fahren einige Köpfe herum, und ermutigt geht er mit federnden Schritten auf die Gastgeberin zu, die sogar sich selbst mit der Lautstärke ihres Darling!-Schreis überrascht; sie schnippt mit den Fingern über den Köpfen von drei Männern mit dunklen Fliegen, Drinks werden mit erschreckender Geschwindigkeit serviert – Wodka und Grapefruitsaft, viel Eis –, sie hakt sich bei ihm ein und führt ihn durch die Menge, stellt ihn vor, den großen Victor Pareci, einen Freund von Rudi, und alle sind entzückt, schon allein über die Art, wie er einem Blick begegnet, eine Hand schüttelt, eine Schulter berührt: eine ungekünstelte, aber flüchtige Begrüßung, eine Freund-299-
lichkeit ohne Verpflichtung, niemand muss mit ihm reden, und doch tun es alle jede Woche kommen mindestens dreißig Einladungen in seine Wohnung in der Lower East Side, und selbst die Postbotin mit ihrem harten Harlem-Akzent und ihrer strengen Schönheit legt ihre Schicht so, dass die Mittagspause beginnt, wenn sie Victor seine Post bringt, denn sie sitzt gern bei ihm in seiner hellen Küche, wo sie gemeinsam die Umschläge öffnen, die Einladungen lesen und verwerfen – Victor, Schätzchen, du kriegst mehr Post als der Weihnachtsmann!, worauf er lächelt und erwidert: Genau, und zwar weil ich weiß, wo all die schlimmen Jungs sind und Victor, der sich mehr für die Ecken mit den abgefahreneren Gästen interessiert, wo es, wie er weiß, früher oder später einen kleinen Skandal geben wird, löst sich von der Gastgeberin, küsst ihr die Hand und geht auf eine kleine Gruppe zu: ein alternder Schriftsteller, ein gelangweilter junger Künstler, eine dicklich gewordene Ballerina – sie nicken und lächeln, als er sich neben einem kleinen Glastisch auf den Boden setzt und sagt: Lasst euch nicht stören – nur eine Übung zur Wiederbelebung!, worauf er einen kleinen Beutel aus der Tasche zieht, ihn vorsichtig öffnet und den Inhalt auf das Glas schüttelt, sodann die Kristalle mit einem kleinen Taschenmesser zu Pulver hackt, zwei Linien legt, einen Fünfzigdollarschein zusammenrollt, sich das Zeug tief reinzieht und andächtig zur Decke aufsieht – Gracias! –, und dann legt er sechs weitere Linien und schiebt den Fünfzigdollarschein in die Mitte des Tischs: Meine Damen und Herren, starten Sie jetzt die Motoren!, und der junge Künstler beugt sich sogleich vor und macht sich über die erste Linie her, dann der Schriftsteller, dann die Ballerina, die sich erst ein bisschen ziert, es aber irgendwie schafft, mehr einzu-300-
schieben als alle anderen, während das Partygeschnatter anschwillt, die Gastgeberin herübersieht und sagt: Ach, dieser Victor!, und bald blickt fast der ganze Raum in seine Richtung, ah, wie herrlich berüchtigt er ist, und er steigt auf den metallenen Rand des Tisches und verbeugt sich, die Freude kribbelt in seiner Kehle, der kleine, unmittelbare Hammer der Energie, die durch seinen Körper fließt, er schafft es so gerade, auf der Tischkante zu balancieren, ein Grinsen auf dem Gesicht, und schließlich springt er auf den Boden, bekommt ein bisschen Applaus und weiß nun, er hat die Party so weit aufgelockert, dass sein Mythos schon allein deswegen weiterbestehen wird, auch wenn er sich wünscht, Rudi wäre hier, denn niemand auf der ganzen Welt kann einen Auftritt hinlegen wie Rudi: Dann ist alles sofort ganz angespannt, wie elektrisch geladen, Möglichkeiten stehen im Raum, und Rudi fährt seine Lautstärke hoch, bis er doppelt so laut ist wie alle anderen der Abend, an dem Rudi sich nackt an einen Kronleuchter im Wert von einer Million Dollar gehängt hat, die Party, auf der Rudi sich mit Warhols Rasierapparat die Genitalien rasiert hat – Warhol hat ihn später meistbietend versteigert –, der Tag, an dem Rudi für seine Freunde gekocht und ein bisschen Sperma in die Sauce hollandaise gegeben hat, angeblich ein russisches Rezept, oder die Galerie-Eröffnung, nach der Rudi mit drei Jungen in einer mit Murmeln und Hautlotion gefüllten Badewanne gevögelt hat jeder kennt eine Rudi-Geschichte, und eine ist spektakulärer als die andere – und wahrscheinlich erfunden –, sodass Rudi, ähnlich wie Victor, zu einem lebenden Mythos geworden ist, umsorgt, verwöhnt, beschützt von den Mythenmachern, es ist ein Leben ohne einen bestimmten Grund, es ist ein Leben, das dem Licht -301-
oder der Abwesenheit von Licht gehorcht, es ist wie ein Samenkorn, das in seiner Hülle anschwillt, sie beide brauchen die ständige Bewegung, denn wenn sie zu lange an einem Ort bleiben, werden sie Wurzeln schlagen wie die anderen, und so hat Victor manchmal das Gefühl, dass er ebenfalls tanzt, er wippt mit dem Fuß, er wiegt den Kopf hin und her, er zwirbelt das Ende seines schwarzen Schnurrbarts – Ich habe einen Schnurrbart, Gentlemen, damit ich immer die Sünden der vergangenen Nacht riechen kann! –, und ehe man sich's versieht, ist er auch schon wieder fort, eilt sich selbst voraus, als wollte er sagen: Da drüben solltet ihr mich erst mal sehen!, und niemand kann die Lücke füllen, obwohl es heißt, er habe all diese Bewegungen von Rudi kopiert, er sei bei den Proben dabei und sehe ständig zu, was eine weitere Lüge ist, gegen die Victor allerdings nichts unternimmt, denn es bedeutet, dass die Leute über ihn reden, sie wollen sich mit ihm unterhalten, sie wollen einen Abend lang seinen Übermut in Besitz nehmen, und Victor fügt sich, hört mit halbem Ohr zu und lässt die Tür nicht aus den Augen, und wenn er sieht, dass das Personal die ersten Pelzmäntel holt, wenn er Gläserklingen und gemurmelte Entschuldigungen hört, weiß er, dass es Zeit ist zu gehen, denn das ist seine Regel: Sei immer einer der Ersten, die gehen, und warte nicht vor dem Aufzug, sondern benutze die Treppe – und draußen, in der feuchten Abendluft, folgt er einem Paar, das gerade in einer schwarzen Limousine Platz nimmt, die beiden erschrecken, als er hinter ihnen einsteigt und auf dem Bartischchen eine Linie legt, die Frau ist entsetzt, der Mann versucht, cool zu bleiben: Guten Abend, wollen Sie auch zu dieser Nurejew-Auffùhrung?, worauf Victor ihm zuzwinkert und sagt: Natürlich nicht, Ballett finde ich langweilig, und der Mann erwidert mit selbstzufriedenem Grinsen: Aber das heute Abend ist -302-
Modern Dance, doch Victor antwortet: Trotzdem lauter Schwuchteln und Tunten, oder?, und der Mann zuckt zurück und fragt sich, was für eine Kreatur da in sein Leben gekrochen ist, was für eine Schwuchtel, was für eine Tunte, während Victor, großzügig wie immer, die erste Linie der Dame anbietet, die ihn jedoch nur anstarrt, und auch ihr Mann lehnt ab, wenn auch mit leichtem Bedauern, und so schiebt Victor das Koks allein ein, grinst, legt auf einem Handspiegel eine weitere Linie, dreht sich auf dem Ledersitz um, beugt sich nach vorn und bietet sie dem Fahrer an, der verwirrt den Kopf schüttelt, nein danke, und Victor schlägt sich theatralisch mit der flachen Hand an die Stirn und ruft: Ach, ich bin so allein!, aber dann streift er die Schuhe ab, legt die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz und sagt: Aber wenn Sie Rudi sehen, grüßen Sie ihn bitte von mir, worauf der Mann denkt, das sei ein Witz, und ausgiebig schmunzelt, sodass Victor ihn anstarren muss, bis es dem Mann so unbehaglich ist, dass er sagt: Das ist unser Wagen, müssen Sie wissen, und Victor sagt: Na klar!, und wendet sich wieder dem Chauffeur zu: Lassen Sie mich in den Black Hills aussteigen, guter Mann!, und da der nichts kapiert, lotst Victor ihn zum Dakota Building am Park, und das Paar ist weniger über die berühmte Adresse verblüfft als über Victor, über die Aura, über das Aroma, das er hinterlässt, und er gibt dem Fahrer einen Zehndollarschein, springt hinaus, spürt, wie die Energie des Kokains durch seinen Körper strömt, wie präsent, wie gespannt, wie geladen er ist, er winkt der Limousine zu und geht auf die vergoldete Eingangstür zu als er vor Jahren zum ersten Mal ins Dakota wollte, schickten ihn die Portiers mit ihren Uniformen und Epauletten zum Dienstboteneingang, und Victor veranstaltete ein Theater, bis Rudi an die Sprechanlage kam und die -303-
Portiers anschrie, sie sollten seinen Gast auf der Stelle einlassen, und als Victor am Tag darauf zum zweiten Mal erschien, nickten die Portiers ihm streng zu und hielten ihm die Tür auf, und so ging er mit hängendem Kopf zum Dienstboteneingang, zur Verwirrung der Portiers, denn auch das gehört zu seinem Stil: Unberechenbar zu bleiben, sagt Rudi, ist die einzig wahre Methode, bekannt zu sein und als er oben in Rudis Wohnung ankommt, sind die Vorbereitungen bereits im Gange, es ist der erste Abend mit Rudi in Lucifer, und es soll eine Überraschungsparty in der Siebenzimmersuite stattfinden, dem letzten Ort, wo Rudi so etwas vermuten würde, und Victor hat seine Dienste angeboten, gratis, er wird den Abend choreographieren, er biegt die Blumen, sodass sie sich in den Vasen verneigen, stellt die Kaviarschüssel in die gerade noch erreichbare Mitte des Tischs, ersetzt die hellen Glühbirnen durch schwächere, verteilt die Stühle, damit es keine Ballungen gibt, streicht die Falten aus den Samtbezügen der Sofas, zieht die Vorhänge zurück, damit man den Central Park sehen kann, faltet die Servietten neben den Duftkerzen auf der Toilette, sorgt für diskrete Beleuchtung der handgemalten chinesischen Tapete und kümmert sich um die Etikette dieses Abends, damit die Party dahinfließt wie ein Traum oder eine Droge oder beides, und anschließend inspiziert Victor kurz die Mietkellner in ihren schwarzen Smokings und geht zu einer anderen Gruppe, den Organisatorinnen, allesamt Damen der Gesellschaft, juwelenbehängt, in mittleren Jahren, reich, mächtig, Erinnerungen an vergangene Schönheit beschwörend, die Haut tabakbraun – was für eine Reihe eleganter Lucky Strikes! –, und sie stehen beieinander und beraten sich ernsthaft über die Arrangements, doch als er in ihren Kreis einbricht, verändern sich ihre Gesichter und nehmen teils einen -304-
Ausdruck von Abneigung, teils einen von Erleichterung an, und wie sich herausstellt, sind die Damen besorgt, zutiefst besorgt, denn es stehen Reputationen auf dem Spiel, und Victors Unbekümmertheit ist etwas, das sie nie erreichen werden, das aber auf sie abfärben soll, und als er in den Raum ruft: Könnte mal jemand den Mädels zeigen, wo die Valium sind?, lachen die Damen, doch Victor weiß, dass sie nicht einfach so lachen, sondern dass ihr Lachen noch etwas anderes transportiert: Sie haben ihm gerade die Führung übertragen, sie neigen sich ihm zu und sind seine Fußsoldaten geworden er muss jede wie eine Königin und zugleich wie ein Stück Scheiße behandeln –, und so lotst er sie in die Küche, wo der Kühlschrank voller Champagnerflaschen ist, bittet sie, eine Gläserpyramide zu bauen, die er mit großer Gebärde füllt, und sagt: Möge das Bacchanal beginnen!, und die Frauen sind gezwungen, anzustoßen und die Verbrechen der Vergangenheit zu vergessen – wer die größere Party gegeben hat, wer dem Orchestergraben am nächsten gesessen hat, wessen Hand von Oscar de la Renta geküsst wurde –, denn das alles zählt nicht, nun, da Victor die Sache in die Hand genommen hat, er setzt seine Macht ein, er sagt ihnen, wie wunderbar sie aussehen in ihren Halston-Kleidern, ihrem funkelnden Tiffany-Schmuck, ihrem perfekten Makeup, Ich würde tausend Schiffe verbrennen, um da zu sein, wo ihr seid!, worauf er sie anweist, die angeheuerten Küchenhilfen und Kellner im Auge zu behalten und gut auf das Silberbesteck aufzupassen, und – er beugt sich so vertraulich vor, dass sie die dunklen Ränder seiner Pupillen sehen können – es scheint, als wollte er ihnen ein unerhörtes Geheimnis anvertrauen, doch er hält inne und sagt: Meine Damen, der Buffettisch gehört dringend geliftet! als Victor zu dem Kreis um Rudi stieß, war er verblüfft, -305-
wie viele ältere Frauen sich dort drängten, bereit, alles und jedes zu tun, und manche von ihnen hatten sich sogar eine jungenhafte Frisur zugelegt, in der vagen Hoffnung, Rudi könnte sie so attraktiver finden, was allerdings nie der Fall war, doch sie fuhren fort zu hoffen, obgleich sie jetzt, da ihr Verfall eingesetzt hat, auf der Suche nach einem Sohn sind, den sie verwöhnen können, was Victor an seine verstorbene Mutter denken lässt, denn das Einzige, was er bereut, ist, dass er nicht bei ihr war, als sie in den Tiefen der Bronx an einer eigen-artigen Leberkrankheit starb, und er war damals so pleite, dass er sie nicht zurück nach Venezuela bringen konnte – erst Jahre später, als er mit Rudi auf Reisen war, legten sie einen Zwischenstopp in Caracas ein, fuhren mit dem Taxi in die Hügel, verstreuten ihre Asche am Fuß des Monte Avila und sahen zu, wie der Wind sie davontrug, einer der seltenen Augenblicke, in denen Victor in aller Öffentlichkeit weinte: Er setzte sich auf den Boden, ließ den Kopf auf die Knie sinken und weinte erst leise, dann heulte er laut auf, erhob sich und nahm Abschied von ihr, und Rudi war schockiert von dieser brutalen Intimität des Schmerzes, und am Abend widmete er seinen Tanz in Caracas ihrem Andenken, stolperte einmal, erhob sich aber wieder in einer eleganten Wut, in der Victor, der ganz hinten saß, eine wunderschöne Entsprechung des Lebens seiner Mutter erkannte: der Tanz, das Stolpern, die Wut, der Applaus, die Zugabe, der Vorhang, der fiel, bevor sie von der Bühne humpeln konnte und Victor tritt mit gespieltem Ärger aus der Küche, schnippt mit den Fingern die Mietkellner in ihren schlecht sitzenden Smokings herbei und sagt ihnen, sie sollen in der Küche antreten; er geht auf einem schmalen Grat, denn obgleich er sie mag, obgleich er mit ihnen fühlt, ja sie sogar respektiert, weiß er genau, was er jetzt sagen muss, -306-
und bald ist das gesamte Personal, alle zwölf Kellner und Küchenhilfen, versammelt, mit hochtoupierten Haaren, die Tätowierungen unter langen Hemdsärmeln verborgen, und hier beugt sich Victor nicht vertraulich vor, sondern tritt, um seine Autorität zu unterstreichen, einen Schritt zurück, zeigt auf die Damen der Gesellschaft und sagt: Die Schnepfen da haben uns an den Eiern, und zwar ohne den Hauch eines venezolanischen Akzents, wohl aber mit einer gewissen Ghettogroßspurigkeit, als wäre dieser Job der wichtigste in ihrem ganzen Leben, und wenn sie ihn nicht gewissenhaft erledigen, schmeißt er sie raus, noch bevor Rudi kommt, denn er weiß, was sie wollen, was jeder will: nur in Rudis Nähe sein, sagen können, man habe ihn berührt, aber sicherheitshalber gibt Victor noch ein bisschen Gas, holt tief Luft, sieht jedem Einzelnen in die Augen und droht, dass er, sollten sie nicht zu seiner Zufriedenheit arbeiten, jeden Einzelnen an seinem mickrigen kleinen Schwanz von der Decke baumeln lassen und auf ihn eindreschen wird wie auf eine fette weiße Pinata – oder zweifelt ihr daran? –, und dann wird er sich die Frauen vornehmen und den Ärmel seines orangefarbenen Hemdes durch ihre Körperöffnungen fadein und sie gnadenlos über die Wipfel der Bäume hinweg in den Central Park schleudern, wo ein Dutzend Schwarze nur darauf warten, sie gemeinsam flachzulegen, und sie starren ihn aus weit aufgerissenen Augen an, bis Victor die Spannung mit einem langen Lachen auflöst, einem Lachen, das sanfter wird, gütig, geradezu zärtlich, und sagt, wenn sie den Job gut machen, gibt's pro Nase fünfundzwanzig extra, vielleicht sogar ein bisschen Puder fürs Naschen, und jetzt merkt Victor, dass er sie gründlich genug verwirrt und fest genug im Griff hat, dass der Abend jetzt den perfekten Sitz hat – ehrliche Zimmermannsarbeit, die Zapfen sauber eingepasst –, ja er -307-
findet sogar, er hat seine Sache so gut gemacht, dass er eigentlich mal für ein Viertelstündchen in den Park verschwinden und nachsehen könnte, was sich in den Rambles so tut Ach, die Rambles! all die aufgereihten Silhouetten süßer Jungs! all die zertretenen Unkräuter! all die in Dornbüsche gedrückten Gesichter! all die Tücher, deren Zipfel aus hinteren Hosentaschen hängen! all die Drogen, die in all diesen Körpern brodeln! was für ein Garten der Lüste! all die Reitgerten, Penisringe und Gleitmittel, all die anderen Leckereien! all die verschlungenen Wege! all die Knieabdrücke in der Erde! der Mond hinter einem Dutzend Bäume! Johnnie Ramon, sein Schatten so lang auf dem Gras und, ach, so geschmeidig gebeugt! ja! Victor und die Rambles kennen einander gut, und zwar nicht von Spaziergängen im Grünen, ein-, zweimal war er sogar mit Rudi hier, denn Rudi steht manchmal auf die harten Jungs, die wilden Burschen, die heißen Tamales, die aus der Bronx oder aus Harlem hierher kommen doch anstatt für die Rambles entscheidet Victor sich für eine zweite Dosis Wiederbelebung, geht auf die Toilette, wischt den Deckel des Wassertanks mit einem feuchten Papiertuch ab, legt eine Linie, zieht sie mit großem Genuss rein, schüttelt den Kopf und stampft mit dem Fuß auf, und schon ist er wieder draußen, nimmt, als der scharfe Summton der Türklingel ertönt, den Hörer der Sprechanlage und sagt: Schickt sie rauf!, worauf innerhalb von Minuten die Lieferanten mit Dutzenden von kalten Platten vor der Tür stehen, von denen Victor einige in die Küche bringen lässt, während er die anderen auf dem Buffettisch arrangiert, alle möglichen Delikatessen, viele russisch: in Scheiben geschnittener Stör, Beluga-Kaviar in gekühlten Schüsseln, Pferdepastete, Krendeli-Gebäck, Piroschki, Schwarzmeer-Austern, Fleischsalate, Bœuf -308-
Stroganoff, und die Frauen rechts und links machen viel Aufhebens und sind besorgt, bis er sie beruhigt, indem er ein wenig Kaviar auf die Fingerspitze nimmt, ihn probiert und ruft: Gut genug für eine Königin!, und die nächste Stunde verbringt er damit, dem Personal auf die Finger zu sehen – die Damen behalten die Mietkellner im Auge, die Mietkellner behalten die Damen im Auge, alles läuft jetzt wie geschmiert, sodass Victor sich um die Dinge kümmern kann, um die er sich kümmern muss: er hängt die Bilder im Salon eine Winzigkeit schief, besonders den Meynier – Die Weisheit verteidigt die Jugend gegen die Liebe –, das ist sein kleines privates Amüsement, er stellt den Diwan so, dass man von dort nicht durch das Fenster sehen kann, damit sich kein griesgrämiger Langweiler darauf breit macht, platziert die Aschenbecher in einiger Entfernung von den teuren Sofas, stellt die Dimmer der Lampen ein, kämmt die Fransen der Perserteppiche, legt eine Beethoven-Platte auf den Plattenwechsler, gefolgt von James Brown – Ein wenig musikalische Anarchie, bitte! –, ohne die Uhr auch nur einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, er widmet sich nun der Feineinstellung des Abends, den Falten der Servietten, der Position der Kerzenleuchter, dem Winkel des Flügels und der Temperatur der Pilzsauce, bis er ungeduldig wird, mit dem Fuß auf den Boden klopft und darüber spekuliert, wie viel der Vorstellung jetzt wohl vorüber sein mag, ob Rudi schon fertig ist, wie lange die Ovationen dauern werden, doch da hört er den Summton, die ersten Gäste kündigen sich an, und Victor verbeugt sich großzügig vor den Organisatorinnen, überlässt ihnen die Ehre und blafft ein letztes Mal den Barmann an, der die Gläser nicht zufrieden stellend poliert hat – Pass auf, ich komme wieder! –, denn das ist eine weitere von Victors Regeln: Er darf nie der Erste auf einer Party sein, nicht einmal, wenn er sie -309-
organisiert hat, und anstatt mit dem Aufzug zu fahren, geht er die Treppe hinunter, für einen Moment nachdenklich, beinahe traurig: Victor verbringt einen Augenblick mit Victor allein, er lehnt den Kopf an die senfgelbe Wand, atmet tief durch, spürt, wie Entspannung durch seinen Körper sickert, bis hinunter in die Zehen, Zeit für einen ruhigen Cocktail, irgendwo, wo es dunkel ist und man ihn nicht kennt, keine Schwulenbar, kein Club, und gewiss keinen Rambles-Cocktail!, irgendwo, wo er ein Weilchen ausruhen kann, wo er seine Energie für den Rest des Abends aufsparen kann, und er findet eine schmierige kleine Kneipe an der Ecke Seventyfourth und Amsterdam, überprüft die Jukebox und fragt sich, wie Rudi auf die Invasion reagieren wird es war '68, als Victor zum ersten Mal in einem Ballett war, und zwar mit einer älteren Matrone, die ihn als Begleiter gemietet hatte, sie saßen auf den besten Plätzen und sahen Romeo und Julia, und anfangs war er gelangweilt, zappelte in seinem kostspieligen Jackett herum, schlug die Beine über- und untereinander und fragte sich, wie lange das wohl noch dauern und wann er das Weite suchen könnte, doch dann geschah etwas: Fonteyn warf Rudi einen dieser Blicke zu, die alles zu verändern schienen, und Rudi hob sie hoch, Fonteyns Gesicht so strahlend im Scheinwerferlicht, es war, als würden die beiden miteinander verschmelzen, und Victor begriff, dass dies mehr als Ballett war, mehr als Theater, mehr als ein Spektakel – es war eine Liebesgeschichte, eine öffentliche Liebesgeschichte, in der die Liebenden einander nur auf der Bühne lieben, was ihm den Wunsch eingab, aufzuspringen und sich zu zeigen, kein Ballett, nein, aber seinen Körper wild und ungezügelt zu bewegen, und es war schmerzhaft, solche Schönheit zu sehen, ohne daran teilzuhaben, er verabscheute den Ausdruck auf Rudis -310-
Gesicht, seine Energie, seine Beherrschung, sodass Victor, als der Vorhang fiel, einen unerklärlichen Hass verspürte, am liebsten wäre er auf die Bühne gesprungen und hätte Rudi in den Orchestergraben gestoßen, doch er blieb reglos sitzen, schockiert, dass die Welt solche Überraschungen bereithalten konnte – das hier war Ballett! Ballett! ausgerechnet! –, und unwillkürlich fragte er sich, was ihm wohl sonst noch entging, was in seinem Leben wohl sonst noch fehlte, und als er danach im Foyer in der Schlange stand, um den Pelzmantel seiner Auftraggeberin abzuholen, durchführen ihn Kälte und Hitze, sodass er zitterte und zugleich schwitzte, und er musste hinausgehen in die Abendluft, wo sich eine große Traube von Mädchen in Schlagjeans drängte, die riefen: We want Rudi in the nudi! We want Rudi in the nudi!, und einige von ihnen drückten Fotos von Rudi an die Brust, drängten sich vor, hofften auf ein Autogramm, und Victor musste seine ältliche Auftraggeberin verlassen, sprang in ein Taxi und fuhr nach Downtown, um zu tanzen und zu vergessen, in einem Club im siebten Stock einer alten Fabrik, blitzende Lichter, Jungs auf Drogen, berühmte Schauspieler, die ihre Nasen tief in mit Äthylchlorid getränkte Lappen steckten, der Geruch nach Knickundriech, Männer, die mit geschlossenen Augen vor einem Spiegel standen, mit Piratenhemden, Stirnbändern, nadelspitzen Stiefeln, Trillerpfeifen um den Hals, die Musik so laut, dass einigen Jungs Blut aus den Ohrmuscheln lief, und nach einer Stunde fühlte Victor sich schon besser, war wieder zu sich gekommen, schweißtriefend und bedrängt von Männern, die ihn begehrten, doch später, als er mit einem reichen Modedesigner Champagner trank, setzte Rudi sich plötzlich an ihren Tisch – Hallo, Rudi, das ist Victor Pareci –, und Victor spürte den Abgrund der -311-
Verzweiflung in seinem Bauch, als Rudi ihn ansah, sie verabscheuten einander auf Anhieb, sie sahen die Großspurigkeit, aber auch den Zweifel, diese flüchtige Mischung aus Feuer und Vakuum, beide Männer erkannten, dass sie einander ähnlich waren, und diese Ähnlichkeit ärgerte sie: Aus den Armutsquartieren der Welt waren sie in die Salons der Reichen getreten, und sie wussten, dass sie der Rand einer Münze waren, dass sie das immer sein würden, ganz gleich, wie oft die Münze geworfen werden würde, und dass die Reichen das ebenso wenig verstanden wie die Armen, und all dies machte ihren Hass spürbar, sodass sich die Atmosphäre erst entspannte, als sie sich zu verschiedenen Enden des Clubs hin zurückzogen, doch nach einer Weile begannen sie, sich über die Tanzfläche hinweg zu duellieren, indem sie vorführten, von wie vielen Jungs sie umschwärmt wurden, und Victor war der Einzige, der in einem solchen Duell mit Rudolf Nurejew bestehen konnte, denn das hier war Victors Revier, wo er, obgleich klein, dunkel und unmodisch venezolanisch – klein von Gestalt, ja, aber groß überall sonst! –, auf der Tanzfläche angehimmelt worden war, lange bevor man ihn im Bett vergöttert hatte: sein Hüftschwung so ausgeprägt, dass die Beine sich vom Körper zu lösen schienen, das Hemd verdreht und verknotet, sodass man den flachen, dunklen Bauch sehen konnte, und unter den schwirrenden Lichtern entwickelte sich ein eigenartiger Krieg zwischen den beiden, es war heiß, Trommeln, Gitarren, Gesang in einem großen, versiegelten Raum, und dann plötzlich ein Stromausfall, kein elektrisches Flackern und Britzeln, sondern ein unvermittelter Absturz in vollkommene Finsternis, den die anderen Gäste möglicherweise für normal hielten – die Beleuchtung wurde häufig ausgeschaltet, damit die Männer übereinander herfallen konnten –, doch Victor -312-
wartete das Ende der Störung ab, wrang den Schweiß aus den Hemdzipfeln, fühlte sich heil und vollkommen und unverwundbar in der Dunkelheit, hörte das Fummeln, Lachen und Stoßen ringsum und war stolz darauf, sich nicht daran zu beteiligen, war, während Grunzen und Lustschreie den Raum erfüllten, durchdrungen von einer Art asketischem Hochgefühl, bis die Spots wieder aufflammten, wild und blendend, und da stand Rudi auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche, reglos und majestätisch, und als die Musik wieder zum Leben erwachte, grinsten sie sich an und erkannten in diesem Augenblick, dass sie irgendwie eine Kluft überwunden hatten, dass sie auf derselben Seite standen, und wussten mit einer tiefen Gewissheit, dass sie einander nie anrühren würden, dass einer den anderen nie befingern oder vögeln, ihm nie einen blasen oder den Arsch lecken und ihn ganz gewiss nicht küssen würde, und diese Erkenntnis war ein Balsam, eine heilende Salbe, ein unausgesprochener Pakt – sie hatten keinen Bedarf am Körper des anderen, und doch waren sie unlösbar miteinander verbunden, nicht durch Geld oder Sex oder Arbeit oder Ruhm, sondern durch ihre Vergangenheit, und nun, da sie sich in einer heftigen Turbulenz getroffen hatten, suchten sie sich einen geschützten Ort, und es war Victor, der über die Tanzfläche auf Rudi zuging und ihm dabei in die Augen sah, worauf der Tänzer die Hand ausstreckte und sie sich die Hände schüttelten, lachten und sich an einen Tisch setzten, eine Flasche Wodka bestellten und stundenlang redeten, nicht über die Welt ringsum, sondern über die Welten, aus denen sie stammten, über Ufa und Caracas, und mit einem Mal feststellten, dass sie über Dinge sprachen, über die sie jahrelang nicht gesprochen hatten: die Wellblechdächer, die Fabriken, die Wälder, den Geruch der Luft am Abend – In meiner Straße gab es in -313-
der Mitte eine Abwasserrinne! Meine Straße war nicht mal eine richtige Straße! Meine Straße roch wie zwei fickende Hunde! –, und sie hätten ebenso gut zu einem Spiegel sprechen können, sie fanden einander, indem sie sich selbst fanden, der Club war vergessen, bloße Kulisse, sie verließen ihn um sechs Uhr morgens, verfolgt vom Neid und den bösen Blicken der anderen, und gingen zu Clyde's, um zu frühstücken: Victor wiegte die Schultern, Rudi schlug die Fersen zusammen, und am Himmel über den Lagerhäusern und Schlachthöfen von Manhattans West Side kämpfte sich groß und rot die Sonne empor und als Victor die Kneipe verlässt und Take me back to the Black Hills singend zum Dakota zurückgeht, ist die Party bereits in vollem Gange, er taucht ein in einen Strudel von Menschen – Art-Direktoren Ballettomanen Choreographen Doktoren Edelnutten Filmstars Globetrotter Hochschulprofessoren Imageberater Junkies Komiker Lustknaben Millionäre Nachtschwalben Opernsänger Produzenten Quacksalber Regisseure Sexsymbole Theaterintendanten Unschuldsengel Vamps Wiedergänger Xenophile Yoga-Adepten Zukunftsforscher –, allesamt total aus dem Häuschen über Rudis Vorstellung oder die Gerüchte, die sie darüber gehört haben, in der Ecke Martha Graham inmitten einer gewaltigen Traube von Menschen, die ihr sagen, wie wunderbar! wie provozierend! wie phantasievoll! wie gewagt! wie nouveau! wie hervorragend! wie absolut bahnbrechend!, und auf Marthas Gesicht ein Ausdruck, als wollte sie sagen, dass sie jetzt keinen Stein werfen könnte, ohne damit irgendein Arschloch zu treffen, und Victor pflügt durch die Gäste, beugt sich vor, um Margot Fonteyn zu küssen, die von innen heraus strahlt und vollkommen ruhig ist, präzise, immer freundlich zu Victor, obgleich sie ihn nicht ganz versteht, ihre Güte hat etwas -314-
Gespenstisches, und er sagt ihr, dass sie superb! aussieht, worauf sie grinst, als schmerze sie das ununterbrochene Übermaß der Komplimente, und Victor wirbelt weiter, winkt Jagger zu, dessen Lippen der Nabel seiner Welt sind und der in einer Ecke steht und sich mit einer Blondine unterhält, deren Haar hierhin und dorthin zu taumeln scheint, neben ihnen weist Roland Petit auf ein paar junge Tanzende, und ein paar Meter weiter ist der Tennisspieler Vitas Gerulaitis energiegeladen und mit ausholenden Gesten der Mittelpunkt einer Gruppe hinreißender junger Männer – Wascht euch und kommt in mein Zelt!, ruft Victor –, und dann nickt und winkt er allen zu, die jemand sind, den Fords dieser Welt, den Halstons, Avedons, von Fürstenbergs, Radziwills, Guinness, Allens, Rubells, Capotes – allen schenkt Victor sein strahlendes Lächeln, aber wo zum Teufel ist Rudi?, und Victor sieht sich rasch um, sieht die Designerklamotten und Champagnergläser, wo zum Teufel ist er?, und schüttelt noch ein paar Hände und wirft und empfangt noch ein paar Luftküsse, aber die ganze Zeit sucht er Rudi, wo ist er, verdammt nochmal?, und als Victor in Richtung des hinteren Schlafzimmers geht, vor dessen geschlossener Tür die Organisatorinnen herumstehen wie Diplomaten und ernst und diskret miteinander sprechen, hat er ein ungutes Gefühl und erkennt intuitiv, wo das Problem liegt, und obgleich die Frauen versuchen, ihn zurückzuhalten, geht er an ihnen vorbei, drückt die vergoldete Türklinke, schlägt die Tür hinter sich zu, schließt sie ab, wartet kurz, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, und sagt: Rudi?, doch es kommt keine Antwort, und Victor sagt: He, Rudi!, diesmal mit wütendem Nachdruck, und hört ein Rascheln und dann: Verpiss dich!, und auf Victors Kopf fliegt ein Hausschuh zu, dem er ausweicht, und dann kann er auf dem Bett die in unerbittlicher Wut zusammengekrümmte -315-
Gestalt erkennen und überlegt, was er tun, wo er stehen, wie er es sagen könnte, doch plötzlich ist Rudi nicht mehr im Bett, sondern auf den Beinen und brüllt: Schön, sagen sie? Schön? Scheiße! Sie reden Scheiße! Schön ist was fürs Poesiealbum! Sie versauen die Musik! Sie versauen die Vorhänge! Sie versauen alles! Komm mir nicht mit schön! Lass mich in Ruhe! Hier ist das Leichenschauhaus! Verschwinde! Wer veranstaltet diese Party? Ich hab noch nie etwas so Lachhaftes gesehen! Arschgesicht! Raus!, und Victor hört sich die Tirade mit einem versteckten Lächeln an, denn er weiß, dass es noch zu früh ist, um zu lachen, stattdessen versucht er, gelassen auszusehen und nicht zu verraten, dass seine Gedanken rasen, dass er sich die endlosen Permutationen vorstellt, die Kräfte und Richtungswechsel dieses Abends, die Streitigkeiten, die Ovationen, die Patzer, die Kritiken, die Schwere der mannigfachen möglichen Wunden, und schließlich sagt er zu Rudi: Ja, ich hab gehört, dass du heute Abend entsetzlich schlecht warst, worauf Rudi herumfahrt und schreit: Was?, und Victor die Schultern zuckt, weiter mit dem Fuß auf den Boden klopft und sagt: Tja, Rudi, ich hab gehört, dass du heute Abend beschissen getanzt hast, ich hab gehört, deine Vorstellung war richtig miserabel, und Rudi sagt: Wer sagt das?, und Victor sagt: Jeder!, und Rudi sagt: Jeder?, und Victor sagt: Jeder Arsch, und Rudi verzieht das Gesicht zu einer wilden Grimasse, ohne ein Wort zu sagen, doch um seinen Mund spielt ein Grinsen, und jetzt weiß Victor, dass es funktioniert, dass das Pendel in die andere Richtung ausschlagen wird, und er wartet nicht einmal, sondern entriegelt die Tür, geht hinaus, schließt sie leise hinter sich, kehrt zur Party zurück, flüstert den Organisatorinnen zu: Keine lebensgefährlichen Wunden, Mädels – alle wieder auf Gefechtsstation!, und in diesem Augenblick sieht er einen Mann aus einer -316-
Tür treten, der die Hand an der Nase hat und dessen Kiefer auf eine vertraute Art mahlen, und bald sitzen dieser Mann und Victor gemütlich an einem ungestörten Plätzchen und verheizen reichliche Mengen Kokain er war mal bei einem Arzt, den es verblüffte, dass Victor nicht nur am Leben, sondern auch noch kerngesund war er hätte schon seit Jahren tot sein müssen, worauf Victor erwiderte: Das Leben eines Mannes ist – wenn es gut ist – älter als er selbst, ein Satz, der dem Arzt so gefiel, dass er ihn an der Wand seiner Praxis in der Park Avenue aufhängte und Victor zweihundert Blankorezepte schenkte und bald kommt Victor wieder aus der Toilette und jagt von hier nach dort wie eine Flipperkugel, und dann erscheint auch Rudi, er tritt aus seinem Schlafzimmer, als wäre nichts gewesen, gleitet in einem wunderschönen weißen Hemd mit langem Kragen, in engen weißen Jeans und Schlangeniederschuhen durch den Salon und hat für Victor nicht einmal ein Lächeln übrig, doch Victor ist das gleichgültig, denn er weiß, dass jetzt alles passieren kann, aller Augen folgen Rudi, und der sieht aus wie ein Mann, der den Begriff Glück soeben erst entdeckt hat; er wirft das Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung aus der Stirn, und plötzlich ist im Raum eine Art Magnetismus zu spüren, Rudi scheint mit jedem verbunden zu sein, und Victor ist einer der wenigen, die von dieser Darbietung unberührt bleiben, daher lässt er sich jetzt in diesen Augenblick der Ruhe sinken und sieht zu, wie Rudi eine Gruppe um sich schart und mit Leidenschaft über den Tanz als Experiment spricht, bei dem alle Impulse darauf abzielen, ein Abenteuer zu erschaffen, dessen Ziel letztlich ein neuer Impuls für ein neues Abenteuer ist – Wenn ein Tänzer gut ist, muss er über die Zeit springen! Er muss das Alte vorwärts in das Neue ziehen! –, worauf seine Zuhörer nicken und zustimmen, bezaubert von seinen -317-
Worten, seinem Akzent, seiner Aussprache, das hat Victor schon oft erlebt: wie Rudi die Menschen selbst dann beherrscht, wenn er nicht auf der Bühne steht, wie er vom Trivialen zum Tiefsinnigen und wieder zurück pendelt – Herrgott, er ist nicht nur schön, sondern auch intelligent! –, und Victor liebt es, die Gesichter zu betrachten, wenn Rudi in Fahrt ist, denn diese Augenblicke, wenn er zusehen kann, wie Rudi loslegt, sind die wenigen Augenblicke innerer Ruhe in Victors Leben, und richtig: ohne an Tempo zu verlieren, schleudert Rudi sechs Gläser in den offenen Kamin, setzt sich an den Flügel und spielt Chopin, eine Etüde, alles verstummt und ist gefesselt, und als er fertig ist, ruft er: Hört auf zu klatschen!, denn jeder weiß, dass Rudi den Beifall braucht, aber auch hasst, weil für ihn das Leben eine nie endende Abfolge von Fehlschlägen ist und man nur weitermachen kann, wenn man daran glaubt, dass man noch nie sein Bestes gegeben hat, denn, wie Rudi es einmal ausgedrückt hat, es ist nicht so, dass ich Schwierigkeiten liebe, nein, die Schwierigkeiten lieben mich Victor hat Rudi einmal vor seinem Auftritt in Der Korsar in seiner Pariser Garderobe gesehen, wo Emilio ihm eine Aufwärm-Massage gab: Rudi lag auf dem Massagetisch, ein perfekt geformter Körper, durchtrainiert, weiß, gespannt wie eine Uhrfeder, ein Körper, der einen veranlassen könnte, unwillkürlich den eigenen Körper zu betrachten, doch Victor war nicht so sehr von diesem Körper überrascht als vielmehr davon, dass am Kopfende des Massagetischs ein eigens angefertigtes Gestell mit einem Buch aufgebaut war, einer signierten BeckettAusgabe – Für Rudolf, mit besten Wünschen, Sam –, und dass Rudi ganze Passagen auswendig lernte, und am Abend dann, bei einem Dinner in der österreichischen Botschaft, erhob er sich und rezitierte etwas über Steine in -318-
seiner Tasche, Steine in seinem Mund, Silbe für Silbe fehlerlos wiedergegeben, wofür man ihm begeistert applaudierte, und später, auf dem Heimweg, beschleunigte er seine Schritte in Richtung Seine und sagte, er sei zu der Überzeugung gekommen, dass es in der Kunst nie, niemals eine Geschlossenheit geben dürfe, dass Perfektion die Kunst lediglich konserviere und dass diese einen kleinen Riss, einen Makel haben müsse wie ein Perserteppich mit einem falsch geknüpften Knoten, denn das eben sei es, was das Leben interessant mache – Nichts ist perfekt, nicht mal du, Victor! –, und am Fluss angekommen, hob Rudi eine Hand voll Steine auf, lieh sich Victors Mantel, sprang auf die Kaimauer und hielt seine Rede noch einmal, mit weit ausgestreckten Armen, und Victor fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn Rudi ins Wasser fiele: ob die Seine dann ebenfalls tanzen würde und Victor ist entzückt, dass die Party jetzt wie geschmiert läuft, alles isst und trinkt, die Wohnung ist erfüllt von einem Summen, und Rudi spielt den perfekten Gastgeber, geht von Tisch zu Tisch, plaudert mit Gästen und bringt eine Reihe von Trinksprüchen auf seine Kollegen, auf Martha, auf Margot – Auf den Tanz! – aus, und Victor weiß, dass er den Schwung dieser Party erhalten muss, und springt zum Plattenspieler, zieht eine Temptations-Platte aus der Hülle, legt sie auf den Teller, setzt die Nadel auf, stellt die Lautstärke ein und rennt in die Küche, um die Küchenhilfen anzubellen – Ich will alle Teller in fünf Minuten wieder hier drin sehen! Ich will, dass alles aufgeräumt ist! Bringt Rudi was zu trinken! Bringt mir was zu trinken! Bringt allen was zu trinken! –, und die Musik rauscht durch den Raum, Jacketts werden auf Sofalehnen gelegt, Füße schlüpfen aus Schuhen, Hemden werden aufgeknöpft, die Zurückhaltung schmilzt, unter-stützt vom Alkohol, dahin, ein dicker Mann mit Hut -319-
steht vor der Stereoanlage und schüttelt sein Fett, eine hübsche Schauspielerin hebt ihren Rocksaum, Mick Jagger dreht sich auf dem Klavierhocker, um besser sehen zu können, Fonteyn wirft lachend den Kopf zurück, Ted Kennedy zerrt sich die Krawatte vom Hals, Andy Warhol trifft ein, in knallroten Hosen, John Lennon kommt mit Yoko Ono am Arm von seiner Wohnung in einem der oberen Stockwerke herunter, und Victor kann das elektrische Knistern des Abends spüren, man schwitzt, tauscht Gläser, leckt anzüglich an Zigarrenenden, und bald liegt ein Wispern von Sex in der Luft – Gott sei Dank! –, als hätte man alle Drinks mit ein wenig Spanischer Fliege versetzt, Fremde neigen sich einander zu, Frauen streichen einander heimlich über die Armbeugen, Männer gehen miteinander auf Tuchfühlung, und dieser Augenblick erfüllt Victor mit neuer Energie, und er sieht zu, wie Rudi von einer Gruppe zur anderen flitzt und die Menschen erotisiert, ob Männer oder Frauen, spielt keine Rolle – Rudi betrachtet das alles als eine Art Aufwärmübung für die kommenden Stunden vor achtzehn Monaten, während eines Urlaubs in Paris, hat Victor in einem lediglich mit roten Glühbirnen beleuchteten Zimmer im ersten Stock eines Clubs namens Le Trap erlebt, wie Rudi sechs Franzosen nacheinander einen ge-blasen und zwischendurch nur jeweils ein Glas Wodka getrunken hat, um dann zu hören, dass Victor ihm um zwei voraus war – Ah, diese französische Küche! So zart, so köstlich! –, sodass Rudi die drei nächstbesten Männer hereinzerrte, sie an der Wand aufreihte – ein regelrechtes Erschießungskommando! – und sich genauso über sie hermachte, wie er tanzte, nämlich mit wilder Eleganz, und tatsächlich reicht sein Ruhm auf sexuellem Gebiet beinahe an den Ruhm heran, den er sich auf der Bühne erworben hat, ja, es ist bekannt, dass er die Pause -320-
gern für einen Quickie nutzt, und einmal, in London, hat er in der Pause einen Mantel übergezogen, die Schuhe gewechselt und das Theater verlassen, ist die Straße hinunter gerannt zum Pissoir an der Ecke und verhaftet worden, weil er in der Kabine einen Polizisten angemacht hatte – Aber Sie können mich nicht verhaften, ich muss in zehn Minuten auftreten, worauf der Polizist kicherte und sagte: Aber klar doch, und die Pause dauerte fünfundvierzig Minuten, bis Gillian, Rudis Managerin, ihn fand und den Polizisten anschrie, ganz England warte auf Rudis Auftritt, und der Polizist lachte über ihr theatralisches Getue, nahm Rudi aber immerhin die Handschellen ab, und der rannte zurück, durch den Seiteneingang, sprang, beflügelt von diesem Zwischenfall, auf die Bühne und tanzte brillant – die Zeitungen schrieben, es sei einer seiner besten Auftritte überhaupt gewesen –, und während der Zugaben sah er, dass der Polizist grinsend, lachend ganz hinten im Zuschauerraum stand und Gillian ihm zärtlich über das Revers strich und der Abend neigt sich noch weiter zur Lust, Rudi nickt Victor quer durch den Raum zu, Victor nickt zurück, ein geheimes Zeichen, und so beginnt Rudi eine Runde durch die ganze Party, dankt den Gästen freundlich, überschwänglich, flüstert in Ohren, besiegelt geschäftliche Abmachungen, schüttelt Hände, eilt hierhin und dorthin, gibt Lennon einen Kuss auf die Wange, Ono einen auf den Mund, klatscht Warhol auf den Hintern, himmelt Fonteyn an, küsst Grahams Hand – Wiedersehen, Wiedersehen, Wiedersehen – und sagt, er hat noch eine Verabredung im Russian Tea Room, tut ihm sehr Leid, er muss sich beeilen, Bitte entschuldigt mich, eine Lüge natürlich, aber genau kalkuliert, um die Gäste zum Aufbruch zu bewegen, während Victor hinter den Kulissen Ordnung schafft und den Küchenhilfen ein Trinkgeld gibt, dreißig Dollar pro -321-
Nase – Hier, Jungs und Mädels, häuft euch was Hübsches! –, sodass die Party sich langsam auflöst und man sich auf den Weg zu anderen Partys macht, zu Nachtclubs und auch zum Russian Tea Room, in der Hoffnung, noch einmal in den Genuss von Rudis Anblick zu kommen, aber daraus wird nichts, denn er und Victor haben andere Pläne: Sie gehen die Treppe hinunter, pfeifen ein Taxi heran – einen Augenblick lang sind sie wie erschlagen von der Feuchtigkeit der Nachduft – und befinden sich bald auf einem ganz anderen Territorium, an der Ecke Broadway und Twentyeighth Street, wo eine Platte mit der Aufschrift BATH in den Bürgersteig eingelassen ist, und Rudi rückt die Krempe seines abgetragenen Lederhuts zurecht, während Victor viermal an die Tür klopft – es ist wie ein Code – und dem jungen Mann, der ihnen öffnet, ein Sei gegrüßt! zuruft, dann schieben sie ihr Geld über die Theke, nehmen die Handtücher in Empfang, gehen im schummrigen Licht durch den mit Kiefernholz getäfelten Korridor zu den Umkleideräumen, wo sie sich ausziehen und dabei von den Geräuschen eingehüllt werden, dem Klatschen nackter Füße, dem Tropfen der Wasserhähne, dem Zischen des Dampfs, den entfernten Rufen, dem Gekicher, und dann dringen sie, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, den Spindschlüssel um den Fußknöchel gebunden, ins Herz des Everard vor, das auf seine ganz eigene Art ebenfalls ein Ballett ist, die Wirkungsstätte von einigen der genialsten Arschmechanikern der Stadt: Kerle mit Ohrringen, Kerle mit hochhackigen Schuhen, Kerle mit Lidschatten, Kerle in Kleidern, die aussehen, als kämen sie geradewegs von den Dreharbeiten zu Vom Winde verweht, Kerle, die noch ihre Vietnam-Unterwäsche tragen, Kerle mit Fliegersonnenbrillen, eingeölte Kerle, Kerle, die wie Mädchen aussehen, Kerle, die Mädchen sein möchten, manche auf halbmast, -322-
manche auf vollmast, manche armen Schweine ohne Mast, manche hocken sich über eine der Wasserdüsen und machen sich schnell einen Einlauf, aus den Duschen ertönt ein Schrei, und alles fickt, überall Fleischsandwiches: sie ficken in den Zimmern und am Springbrunnen, unter der Dusche und in der Sauna, im Heizungsraum und in der Besenkammer, auf dem Klo und in der Badewanne, Faustficken, Zehenficken, Fingerficken, Rudelficken, ganz zu schweigen von Arschlecken – es ist ein regelrechtes Fickfest, als hätten Rudi und Victor eine Lusttablette ins Wasser geworfen: Halleluja, gegrüßet seist du, Fickpille! Komm her! Mach mit! Egal, wer du bist, ob du klein und dick bist oder groß und dünn, ob du reich bist oder arm, ob du einen kleinen Schwanz hast oder einen großen (hoffentlich einen großen!) – komm ins Everard!, und Victor sieht einen Mann, voll auf Amphetaminen und Adrenalin, der nichts als einen Boxhandschuh trägt, dessen Handfläche mit einem Gleitmittel eingestrichen ist, und ruft: Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Ich bin Linkshänder!, und ein anderer sitzt still in der Ecke und sieht nur zu, an seinem Finger ein Ehering, und das ist eine ganz andere Klasse von Arschloch – Victor hasst die Verheirateten und ihre unterschwellige Hochnäsigkeit, wenn sie heimfahren zu ihrer Frau –, aber wer braucht sie schon, wer will sie denn, es sind ja mehr als genug andere da, und er dreht sich zu Rudi um und sagt: Gehört alles dir!, denn sie operieren nie gemeinsam, sie bleiben getrennt, an verschiedenen Enden des Spektrums, und so ist Rudi schon nach wenigen Augenblicken durch den Korridor verschwunden, während Victor sein Revier inspiziert, die Atmosphäre prüft, die Gesichter mustert, diese ersten zehn Minuten sind immer ein ritualisiertes Sondieren, ernst und konzentriert, denn Victor weiß nie, wo er anfangen soll, er befindet sich auf einer -323-
Erkundungsmission – es ist, wie er weiß, unmöglich, sich gleich ins Getümmel zu stürzen –, und so wäscht er sich an einem Wasserhahn das Gesicht und dringt, noch immer das Handtuch um die Hüften geschlungen, durch den Dampf vor, ein Pistolero, der die Augen niederschlägt – Nein, dich will ich nicht, dich würde ich nie wollen, nicht mal, wenn du der vorletzte Mann auf der Welt wärst – oder seinem Gegenüber gerade in die Augen sieht – Vielleicht – oder sie weit aufreißt – Ja, ja, ja! –, und Victors aufmerksamer Blick huscht von einem Bein unter einer Dusche zu der Wölbung eines Rückens oder einer Brust, von reizvoll geschwungenen Lippen zum Schwung einer Hüfte, und er spaziert umher, bis er merkt, dass sein Körper auf Touren kommt, dass das Blut in Wallung gerät, dass das Begehren erwacht, und ist eingehüllt in Dampf, ja ja ja ja, er nickt einem großen, bärtigen, blonden Jungen mit blauen Augen zu, der ernst und allein neben einer Zimmertür steht, und wenige Augenblicke später sind sie im roten Licht ineinander verknäult, ignorieren die armselige Matratze auf dem Boden und ficken im Stehen an der Wand – das Reiben der Haut, das Klatschen des Begehrens –, wobei Victor dem anderen, dessen heißen Atem er im Nacken spürt, die Führung überlässt und nach hinten greift, um die Eier seines Spielgefährten zu kitzeln, ein ziemlich mittelmäßiger Fick, findet er, als anspruchsvoller Mensch sollte man nicht den Erstbesten nehmen, doch als der Mann fertig ist, nimmt Victor sich zusammen, sagt: Gracias! und ist schon wieder fort, und von nun an, beschließt er, wird er für den Rest des Abends auf dem Fahrersitz sitzen, denn das ist die Position, die ihm am besten gefällt – maximale Bewegungsfreiheit –, Gracias! Gracias! Gracias!, eine gewaltige Flutwelle aus rücksichtslosem, gnadenlosem Geficke, erst ein Junge, dann ein Mann, dann wieder ein Junge, mit den schönsten -324-
Schulterblättern übrigens, die Victor je gesehen hat – er steht auf Schulterblätter, er liebt es, mit der Zunge über die Höhlungen des Rückens zu streichen und sich dann mit den Lippen bis zum Nacken der erschauernden, stöhnenden Männer vorzuarbeiten oder mit den Zähnen am Rückgrat entlang nach unten zu fahren –, und Victor ist unermüdlich und hofft, dass das so bleiben wird, die wenigen Hetero-Freunde, die er hat, vor allem die verheirateten, glauben nicht, dass er imstande ist, den lieben langen Tag zu ficken und am nächsten Tag gleich weiterzumachen, und unterstellen ihm, dass er lügt, wenn er sagt, er habe mehr Männer als warme Mahlzeiten gehabt, doch das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit – Warme Mahlzeiten werden maßlos überschätzt, mein Freund –, und so macht er nun weiter und bewegt sich von einem Körper zum anderen, bis er irgendwann beschließt, eine kleine Pause einzulegen, kurz zu rasten, weswegen er sich dem Bad zuwendet, zufrieden, glücklich, die Jagd ruht für ein Weilchen, und er lässt sich, eingehüllt in Dampfwolken, behaglich ins Wasser sinken, während rings umher die Körperverrenkungen fortgesetzt werden; früher gehörte das Bad den Italienern und Iren, doch seit den späten Sechzigern, den glorreichen späten Sechzigern, als Fleisch in Mode kam, gehört das Bad den Victors, den siegreichen Victors dieser Welt, eine riskante Sache übrigens, denn gelegentlich veranstalten die Bullen eine Razzia, und Victor hat diverse Nächte in Polizeigewahrsam verbracht, wo das muntere Treiben einfach weitergeht – ach, die Kameraderie! die Gefälligkeit! der Jailhouse Rock! –, und während er sich in das wohlig warme Wasser sinken lässt, fragt Victor sich, wie es Rudi wohl gehen mag, auch wenn er im Grunde weiß, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht, denn Rudi ist ein menschlicher Fliegenfänger, die Männer bleiben gleich-325-
sam an ihm kleben, die Erinnerung an diesen Augenblick lässt sie nicht los, und noch jahrelang flüstern sie einander zu: Also, ich jedenfalls hab meinen Beitrag zum Kalten Krieg geleistet, mein Lieber, ich hab mich von Rudolf Nurejew flachlegen lassen! Und das kann ich dir sagen: Von Hammer und Sichel versteht er was!, und die Geschichten werden weitererzählt und ausgeschmückt: die Größe von Rudis Schwanz, der Rhythmus seines Herzschlags, die Berührung seiner Finger, der Geschmack seiner Zunge, der Schweiß auf seinen Oberschenkeln, der Abdruck seiner Lippen und vielleicht sogar das Geräusch, mit dem ihnen das Herz in der Brust brach, als er sich abwandte und sie allein ließ Victor hat oft zu Rudi gesagt, dass es unmöglich ist, nur einen Mann zu lieben, weil er alle Männer lieben muss, auch wenn Rudi gelegentlich über eine verlorene Liebe getrauert und gewütet hat, was nun wirklich nicht Victors Stil ist, denn er glaubt, dass man in Bewegung, in Schwung bleiben muss, dass das Ganze ein Glücksspiel ist, und er kann nicht recht verstehen, dass Rudi sich früher verlieben konnte, dass er sich und sein Herz tatsächlich einem einzigen Mann hingeben kann, dass er sich lange Jahre Erik Bruhn geschenkt hat: die beiden größten Tänzer ihrer Zeit ein Liebespaar – das erschien Victor unmöglich, und ihn erbitterte die Art, wie sein Freund darüber sprach, es war, als wären in Rudis Brust eine Million Stimmgabeln gleichzeitig angeschlagen worden, und es machte ihn ganz wild, von den kurzen Augenblicken zu hören, die diese beiden hier und da auf der Welt miteinander verbracht hatten, auf Yachten, in Salons, in teuren Hotelsuiten, in der ländlichen Abgeschiedenheit schicker dänischer Kurorte, nein, das konnte Victor nicht verstehen, denn für ihn war Bruhn das wandelnde Gegenteil von Lebendigkeit, groß, blond, -326-
düster brütend, kaltherzig, pedantisch, dieser Scheißwikinger!, und dahinter stand, wie er betonte, nicht so sehr Eifersucht, sondern vielmehr die Sorge, dass es Rudi das Herz brechen könnte, dass Rudi von der Liebe vernichtet werden und alles verlieren könnte, so wie verheiratete Männer zwischen ihren Frauen und Kindern versickern, und Victor fürchtete, er könnte einer derje-nigen sein, die plötzlich von Rudi verlassen wurden, und musste fortan die schreckliche Last ertragen, einst sein Freund gewesen zu sein, doch diese Angst erwies sich als unbegründet, denn schließlich war es Rudi, der Bruhn verließ, und Victor erinnert sich noch gut an die Nacht der Trennung – nicht die erste Trennung, wohl aber die endgültige: Rudi am Telefon, mit tiefen, schweren Schluchzern, die sogar Victor ans Herz gingen, und schließlich stellte sich heraus, dass Rudi in Kopenhagen war – es ist so scheißkalt hier –, aber eigentlich schon unterwegs nach Paris, weil er sich von Bruhn getrennt hatte, und dass Victor kommen sollte, und Victor packte sofort seine Sachen und fuhr zum Flughafen, wo ein Ticket für die erste Klasse bereitlag, und trotz seines Mitleids mit Rudi musste er unwillkürlich lächeln über den Komfort dieser Reise, als er sich auf seinem bequemen Sitz ausstreckte und überlegte, was er zu Rudi sagen würde, welche Antworten ihm einfallen würden, doch in der Wohnung am Quai Voltaire war nur die französische Haushälterin, und Victor setzte sich ans Fenster und war einen Augenblick ganz froh über Rudis Unglück, denn das verhieß ein neues Drama, aber als Rudi dann eintraf, mit langem, abgezehrtem, schmerzzerfurchtem Gesicht, sah Victor die Tränenspuren auf seinen Wangen, verspürte große Reue und drückte seinen Freund lange an sich, was er wirklich nicht oft tat, und dann kochte er Tee mit sechs Stücken Zucker, holte die Wodkaflasche hervor und zog die Vorhänge zu, sodass sie -327-
im Dunkeln saßen und trinken und reden konnten, nicht über Erik – was Victor erstaunte –, nicht über die Trennung, den Schmerz, den Verlust, sondern über ihre Mütter, wobei sie sich anfangs vorkamen wie Klischees – zwei erwachsene Männer auf der Suche nach mütterlichem Trost –, aber nach einer Weile wurde die Sehnsucht nach diesen Frauen schrecklich real, und Rudi sagte: Manchmal fühlt sich mein Herz an, als stünde es unter Hausarrest, ein Satz, der Victor einen Schauer über den Rücken jagte, denn er wusste, dass Rudi jahrelang alles versucht hatte, um seiner Mutter ein Visum zu besorgen, für einen Tag nur, damit Farida ihn wenigstens noch einmal tanzen sehen könnte, damit sie, und sei es noch so kurz, ein Teil seiner Welt sein könnte; von ihr getrennt zu sein, war für Rudi schwerer, als glücklich zu sein, und er dachte unablässig an sie und hatte alle möglichen Menschen um Vermittlung gebeten, Präsidenten, Botschafter, Premierminister, Königinnen, Senatoren, Kongressabgeordnete, Prinzen und Prinzessinnen, alles ohne Erfolg, denn die Behörden waren unnachgiebig und würden seiner Mutter kein Ausreisevisum geben und noch viel weniger ihm ein Einreisevisum, und Rudi hatte Angst, dass Farida sterben würde, und hätte alles dafür gegeben, sie nur ein einziges Mal wieder zu sehen, und Victor trank noch ein Glas Wodka und sagte, auch er wünsche sich zeit seines Lebens, er könne seine Mutter noch einmal sehen, sie irgendwie von den Toten auferstehen lassen, einfach nach Caracas fahren und ihr sagen, dass er sie liebe, diese drei kleinen Worte zu einer Hymne auf sie machen, und dieses Gespräch brachte sie einander so nahe, dass sie eine Stunde lang schweigend dasitzen konnten, was irgendwie intimer war als Sex, ohne Beschönigung, ohne Verstellung, tief und gefühlvoll und notwendig, und das alles, ohne Erik auch nur ein einziges Mal zu erwähnen, -328-
stattdessen eingetaucht in Erinnerungen an glücklichere Zeiten, bis sie beide schließlich dort, am Fenster, einschliefen und von Odile, der Haushälterin, geweckt wurden, die ihnen Kaffee brachte und sie dann wieder allein ließ, und schließlich sagte Victor zu Rudi: Vielleicht solltest du Erik anrufen, vielleicht solltet ihr miteinander reden, worauf Rudi nur den Kopf schüttelte, sodass Victor wusste, dass es endgültig vorbei war, dass Bruhn jetzt nur noch eine Episode in Rudis Leben war, und bevor sie sich in den neuen Tag stürzten, trat Rudi an den Kamin und nahm ein Foto von Farida, auf dem sie mit einer weißen Kappe und einem bittertraurigen Gesicht in einer Fabrik stand, ein Foto, das so gar nicht zu den Kunstwerken und dem Mobiliar in dieser Wohnung passte und das Rudi an die Brust drückte, als reiste er zurück in die Vergangenheit, und als die beiden Männer später hinaustraten in die Frische und das Sonnenlicht des neuen Tages, waren sie ein wenig peinlich berührt von dem, was in der Dunkelheit des Zimmers geschehen war – Sieh uns an, Rudi, wir sind in Tränen gebadet! –, und wussten doch, während die Abgaswolken des morgendlichen Verkehrs über die Seine trieben, dass sie irgendwie die entscheidende Sickergrube ihrer Herzen freigelegt hatten Dampf steigt jetzt rings um Victor auf, und er findet, dass er nicht den Pause-Knopf drücken sollte, denn diese Erinnerungen wühlen ihn zu sehr auf, darum bittet er einen anderen Badenden um eine Zigarette und Feuer, inhaliert mit tiefer Befriedigung, hört ein Murmeln und sieht, dass Rudi sich neben ihm ins Wasser gleiten lässt: eine dünne Haarlinie reicht vom Bauchnabel abwärts, die Taille ist schmal und wie in Form gehämmert, er hat nichts Kokettes an sich, und sein Schwanz ist lang, zufrieden, schlaff wie ein Reisender, der unterwegs ist, und das amüsiert Victor, er braucht dieses Amüsement und stellt -329-
sich vor, dass alle Schwänze dieser Welt auf Reisen sind, manche machen einen Pauschalurlaub, manche wandeln durch englische Gärten, manche schwitzen in stickigen Zimmern am Mittelmeer, manche sitzen in der Transsibirischen Eisenbahn, aber manche, o ja, manche sind Beduinen, Nomaden, ha!, sie sind schon überall und nirgends gewesen, einzig und allein auf der Suche nach Erfüllung – Mensch, Rudi! Du und ich, wir sind Beduinenjungs! –, und er erklärt Rudi den Witz, und die beiden Männer liegen da und genießen den Augenblick, sie lachen, unterhalten sich über die Party im Dakota und darüber, wer was angehabt hat und wer mit wem gekommen ist, und eine halbe Stunde lang lassen sie sich vom Wasser, von der Stille, von der Nähe des anderen umspülen, bis Victor grinsend sagt: Was machen wir nun mit dem Rest unseres Lebens?, worauf Rudi die Augen schließt und antwortet, dass er bald gehen sollte, weil er morgen früh aufstehen muss, weil er Proben über Proben zu absolvieren hat und sein Leben eine nie endende Vorbereitung auf das Eigentliche ist, dass eine ganze Reihe großer Ereignisse auf ihn wartet, allesamt wichtig – zwei Benefizgalas, fünf Fototermine, ein Dutzend Fernsehinterviews, Reisen nach Sydney, nach London, nach Wien, ganz zu schweigen von Probeaufnahmen für einen Film –, das alles scheint nie ein Ende zu nehmen, und Rudi wünscht sich manchmal, er könnte alles einfach einfrieren und für eine Weile aus seinem Leben hinaustreten, es gibt so viel zu tun, und das geht alles auf Kosten des Tanzes, er wünscht sich, er könnte bloß auftreten und brauchte sich um alles andere keine Gedanken zu machen, worauf Victor aufsteht, seufzt, einen Arm in die Luft reckt und ruft: Ertränkt mich in Martinis! Gebt mir einen Galgen von Tiffany! Bringt mir eine Henkersmahlzeit von Maxim 's! Versenkt mich in -330-
meinem Whirlpool! Werft meinen Platin-Föhn in die Badewanne!, und Rudi lächelt, denn er weiß, dass er dieses Spielchen mit Victor nicht spielen kann, und so nickt er Victor zu, der jetzt am Rand steht und sich verbeugt, was Rudi die Gelegenheit gibt, ihn am Knöchel zu packen, ins Becken zu zerren und seinen Kopf unter Wasser zu drücken – Pass auf, meine Frisur! –, und sie lachen bis zur Erschöpfung und hängen keuchend am Rand des Beckens, zwei kleine Jungen, die von einander ganz hingerissen sind, und mit einem Mal ist in Rudis Blick wieder das schalkhafte Glitzern, und schon ist er aus dem Wasser, sein Körper ist erfrischt, er hängt sich das Handtuch um den Hals und verkündet, er werde noch eine letzte Runde machen, und William Blake würde ihm seinen Segen geben – Des Übermaßes Pfad, Victor, führt zum Palast der Weisheit –, und wieder erhebt sich ein Murmeln, während Victor seine eigene Befindlichkeit einer Prüfung unterzieht und überlegt, wohin er sich als Nächstes wenden soll, wo es wohl die besten Drogen, die beste Musik gibt, wo er eine neue Dosis Spontansex finden könnte, um das innere Bedürfnis zu stillen, worauf er ebenfalls aus dem Becken steigt, sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung wendet, ein paar hübsche Angebote ausschlägt (ein echtes Opfer!), zu seinem Spind geht, in die schwarze Hose und das orangefarbene Hemd schlüpft und – Zeit für eine weitere Wiederbelebung! – hier, wo Rudi ihn nicht sehen kann, eine Linie aufzieht, bevor er in die Schuhe steigt, den Männern in den Korridoren zunickt und sich auf die Suche nach Rudi macht, der aber nirgends zu sehen ist, vielleicht weil er sich in irgendeiner Ecke herumdrückt oder weil er sich versteckt oder weil er gegangen ist, ohne sich zu verabschieden, was natürlich nicht ungewöhnlich wäre, denn so ist es nun mal: Rudi gehört die Welt, warum also sollte er sich von einem -331-
Teil von ihr verabschieden?, und nachdem er alles gründlich, aber erfolglos abgesucht hat, tritt Victor auf die Straße, sieht nach links und rechts und trabt sogar bis zur Ecke, doch die Avenue liegt eigenartig still und unheildrohend da, keine Menschenseele regt sich in den Schatten, es sind gefährliche Zeiten, und in letzter Zeit sind einige Schwule verprügelt worden, doch du lebst dein Leben nur so lange, wie es dich lebt, und so setzt Victor sich in Bewegung, rollt die Schultern vorwärts, aufwärts – Wer immer mich hierher gebracht hat, wird dafür bezahlen müssen! – und winkt einem Taxi, dessen Fahrer ein gut aussehender junger Mexikaner ist, was Victor sogleich auf den Gedanken bringt, ihn auf einen Drink in einen der Downtown-Clubs einzuladen, doch er überlegt es sich anders, als er den Plastik-Jesus auf dem Armaturenbrett sieht, denn Religion ist für Victor nichts weiter als ein stinknormales Beruhigungszäpfchen, und so dreht er das Fenster herunter und lässt Manhattan vorbeiziehen, seine Gewalt und seine kreischbunten Neonreklamen, die West Side, das Wunderland aus flackerndem Rot Gelb Orange Grün, Stricher Freier Ganoven Huren, Jungs und Mädels im Griff der Chemikalien, und Victor winkt ihnen zu, sie winken zurück, und er winkt noch ein bisschen mehr, während das Taxi in südlicher Richtung zum Anvil fährt, wo das Leben tobt, besonders jetzt, um halb vier morgens, und wo die Discolichter flirren – ein Laden voller Männer in Leder und Nieten, Männer in Jeans, deren Hosenböden ausgeschnitten sind, Männer in Country-and-WesternKlamotten, Männer, deren Hosen mit Maschinenschrauben verschlossen sind; auf einer winzigen Bühne tritt eine Drag Queen mit einer fast zwei Meter langen Boa constrictor auf, ein paar Gogo-Boys hängen an Seilen von der Decke, und Victor geht zur Bar, um nachzusehen, ob Rudi vielleicht hier ist, aber Fehlanzeige, und während er den -332-
Blick schweifen lässt, wird ihm bewusst, dass kaum ein Mann an der Theke steht, den er nicht gefickt hat und seine Brüder ebenfalls und – Herrgott, ja! – den einen oder anderen Onkel auch, aber keiner von ihnen hat etwas gegen Victor, denn für die hier drinnen ist das Ficken so lebensnotwendig wie das Atmen, womöglich sogar noch lebensnotwendiger: Ficken ist das Wasser und Brot des Lebens, und diese Bar ist einer der heißesten heißen Läden, Zungen erforschen Ohren, Hände schieben sich unter Hosenbünde, Finger umkreisen Brustwarzen, die Luft selbst riecht nach Sex, und bevor Victor es sich versieht, sind ein halbes Dutzend Wodkas mit Grapefruitsaft über die Theke zu ihm gewandert, in schmutzigen Gläsern, Absender unbekannt, wie nächtliches Artilleriefeuer, und er akzeptiert sie mit einer Verbeugung – Mehr Eis, bitte, meine Herren! – und verteilt die letzten Gratispillen, behält aber ein wenig von dem Pulver für sich selbst zurück, denn ein bisschen Selbstsucht muss sein, und dann beginnt er zu tanzen, gefolgt von einem Schwarm von Bewunderern, durchpulst von all den Hymnen dieses Sommers, und abermals ist Victor wieder belebt, er gleicht einem Zugvogel auf der letzten Etappe seiner Reise, im Kampf mit den Gegenwinden dieser Nacht, wobei er sich allerdings fragt, wo Rudi eigentlich geblieben sein könnte, ob er wirklich heimgegangen ist und wann sie – Victor und Rudi – wohl wieder zusammenkommen werden, und es gibt einen letzten Fluchtpunkt, gar nicht weit von hier, den Victor gut kennt und wo diese Nacht ihr Ende finden könnte: die Lastwagen! die berüchtigten Lastwagen! diese Dunkelkammern auf sechzehn Rädern! ah, ja! die Lastwagen! auf die auch Rudi steht – dunkel, anonym, gefährlich, Höhlen der Begierde und Victor erwägt, ob er dorthin gehen soll, zu der -333-
nächtlichen Wagenkette im Schlachthofviertel und den Schlachten, die dort geschlagen werden, zur letzten Etappe der Nacht, wobei er den Blick über die Tanzfläche schweifen lässt und bemerkt, dass die Ebbe bereits eingesetzt hat, und da er nicht eine dieser New Yorker Schwuchteln mit Hitzewallungen werden will, die sich beklagen, dass sie inzwischen Burschen ficken, die halb so alt sind wie sie selbst, nein, alles, nur das nicht, niemals – Ich hab meinen Vertrag mit den Leben! Ich werde weitermachen! Ich gebe nicht auf! Nicht solange ich noch zucken kann! –, schart er mit einem Wink und ein paar gezielten, geflüsterten Worten – Nicht mehr als fünftausend meiner engsten Freunde, habt ihr gehört? – ein paar Kerle um sich, die derart am Draht hängen, dass sie den Boden unter den Füßen so gut wie verloren haben, die Augen tief in den Höhlen, und doch glitzert darin noch ein manisches Verlangen, weswegen sie hinter dem großen Victor hermarschieren zu der Flotte von gelben Taxis, die auf der Straße aufgereiht stehen, denn dies ist einer der wenigen Orte in Manhattan, wo ein Taxifahrer um diese Nachtzeit garantiert einen Stich machen kann, und Victor schnippt mit den Fingern und gibt den Türstehern Gutenachtküsschen, worauf er und seine Begleiter in die bereitstehenden Taxis springen; ein paar der Jungs hängen sich aus den Fenstern wie Cowboys, die es in der Stadt mal so richtig krachen lassen wollen, und schon geht es ab durch die West Side – Holt die Lassos raus, Mädels! –, und sie erzählen den Fahrern, dass sie gerade aus Texas gekommen sind und irgendwas suchen, das sie satteln können – Cowboys sind die besseren Liebhaber, mein Freund, da kannst du jeden Stier fragen! –, durch die offenen Fenster treiben die Gerüche vom Hudson herein, der kürzlich gefallene Regen glänzt auf dem Kopfsteinpflaster, Penner stehen um die in Ölfässern -334-
entzündeten Feuer und lassen Zigaretten herumgehen, die Nachduft ist verheißungsvoll kühl, und die Taxis biegen um diese und jene Ecken, bis schließlich die Lastwagen auftauchen wie Luftspiegelungen, silbern, gewaltig, schimmernd, umspült von einem Gewusel von Männern in allen Stadien der Begeisterung und Vernichtung, manche lachend, manche weinend, ein Paar versucht, auf dem Bürgersteig einen Walzer zu tanzen, und alle sind der Pleite so nahe, dass sie die letzten Reste der Pillen, Ampullen, Pulver, die sie für diesen Ausklang der Nacht aufgespart haben, schließlich doch großzügig teilen, und von Wagen zu Wagen werden Namen gerufen und kleine Becher mit Bratfett oder Vaseline gereicht, ein Mann brüllt etwas von einem Taschendieb, eine Drag Queen schreit ihren Stecher an, junge Burschen springen von den Ladeflächen, ältere Schwuchteln werden hinaufgehievt, und das alles ist wie ein seltsame, magische Kampfzone, ein Versteckspiel, doch Victor bleibt einen Augenblick abseits stehen, beißt auf die Schnurrbartspitzen, lässt den Blick über das Durcheinander schweifen und erkennt alle möglichen Gesichter, und bevor er auf eine der Ladeflächen klettert – Wer weiß, die Welt könnte noch vor Sonnenaufgang untergehen! –, sieht er noch einmal die kopfsteingepflasterte Straße hinunter, und dort nähert sich den Wagen eine einzelne Gestalt und schreitet anmutig und zielstrebig durch die Lichtkegel der Straßenlaternen, das Geräusch der Schritte so laut, dass Victors Aufmerksamkeit gefesselt ist und er sogleich weiß, wer das ist, denn er erkennt den Lederhut, die Biegung der Krempe, die Haltung des Körpers, und Victor spürt, dass ein Gefühl über ihn kommt wie der Wind über das Gras und die Haare auf seinen Armen erzittern lässt, und Rudi ruft: Du venezolanischer Wichser! Du hast mich da zurückgelassen!, aber er lacht und zeigt seine schönen weißen -335-
Zähne, sein ganzes Gesicht verströmt Glück, und über Victors Rücken läuft ein Schauer, während er Rudi entgegensieht und denkt: Da geht die Einsamkeit die Straße entlang und klatscht sich selbst Beifall.
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2 Leningrad 1975-1976 Im Winter 1975 ging ich in Leningrad herum und plagte mich mit halb übersetzten Gedichten. Nach der Scheidung von Josif war ich in eine Gemeinschaftswohnung in einer Nebenstraße der Kasanskajastraße gezogen. Es war ein kahler, schmuckloser Raum mit Linoleumboden, aber so nah an der Fontanka, dass ich die Verbindung zu meinem alten Leben nicht ganz verlor. Die Dichter waren sozialistische Veteranen, die fortfuhren, mit der Schönheit und Ausdrucksstärke der spanischen Sprache die Schrecken der Franco-Diktatur zu beklagen und gegen sie anzukämpfen. Sie hatten Gedichte geschrieben, um Dinge zu bewahren, die sonst verloren gegangen wären, um diesen Dingen eine zweite Chance zu geben, und ihre Worte verzehrten mich. Früher war ich aufs Land gefahren und in Flüssen gewatet, wenn ich nachdenken wollte, doch nun war Leningrad geradezu Balsam für mich. Auf dem dunklen Wasser der Kanäle fuhren langsam die Frachtkähne, und über den Schiffen kreisten Vögel. Das Tagebuch meines Vaters, das ich in der Manteltasche bei mir trug und in dem ich las, wenn ich mich auf eine Parkbank setzte, wärmte mir noch immer das Herz. Einigen erschien meine scheinbare Untätigkeit fragwürdig: Passanten sahen ein wenig zu lange in meine Richtung, hin und wieder bremste ein Wagen ab, und der Fahrer musterte mich misstrauisch. Leningrad war eine Stadt, in der Müßiggang nicht gern gesehen wurde. Ich gewöhnte mir an, ein Tuch umzulegen und ein imaginäres Bündel in der Armbeuge zu tragen, und manch-337-
mal strich ich mit der Hand über diese Leere und tat, als wäre dort ein Kind. Meinen fünfzigsten Geburtstag verbrachte ich mit der Arbeit an einer einzigen Strophe eines entschieden antifaschistischen Gedichtes über einen Gewittersturm, in dem kleine Gebiete von Licht und Dunkelheit ungestüm über Felder und Gräben jagten. Es hatte unübersehbare politische Untertöne, doch ich begann die Zeilen auf mich selbst zu beziehen, was mit meinen unbestimmten Phantasien über ein Kind zusammenhing. Diese Interpretation war nicht so sehr ein Wunschdenken als vielmehr ein bitterer Spott über meine ersten Jahre mit Josif. Selbst nach den beiden Fehlgeburten hatte ich – damals noch eine junge Frau – meinen Ehrgeiz auf die Partei, das Volk, die Wissenschaft, die Literatur richten können. Doch dieser Ehrgeiz war inzwischen längst erloschen, und das Licht, das mich nun durchdrang, war der Gedanke, dass ich einem menschlichen Leben Form und Gestalt geben könnte. Ein Kind! Ich musste lachen. Ich war nicht nur bereits seit einem halben Jahrhundert auf der Welt, sondern hatte auch seit der Scheidung keinen Mann kennen gelernt. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, von einer Wand zur anderen, von einem Spiegel zum anderen. Dann kaufte ich mir als Geburtstagsgeschenk auf dem Markt eine Schachtel Klementinen, doch selbst als ich die weiche, orangefarbene Schale entfernte, erschien mir das wie ein – wenn auch absurder – Verweis auf meinen Wunsch. Mein Vater hatte mir erzählt, dass einmal eine Wagenladung riesiger Baumstämme im Arbeitslager abgeladen worden war. Er selbst war damals Vorarbeiter einer zwölfköpfigen Kolonne gewesen, die diese Stämme in Stücke hacken sollten. Es war ein schrecklich heißer Sommer, und jeder Axthieb war eine Qual. Er hackte auf einen -338-
Baumstamm ein und hörte das unverkennbare Geräusch von Metall auf Metall. Als er den Stamm untersuchte, entdeckte er im Holz ein pilzförmiges Stück Blei: eine Gewehrkugel. Er zählte die Jahresringe vom Rand bis zur Spitze der Kugel und stellte fest, dass ihre Zahl genau seinem Alter entsprach. Wir können uns selbst nicht entkommen, sagte er Jahre später zu mir. Eines Morgens im Frühling fuhr ich mit der Straßenbahn zu einem Außenbezirk von Leningrad, wo Galina, eine Bekannte von mir, in einem staatlichen Waisenhaus arbeitete. Als ich in ihrem dunklen Büro Platz nahm, hob sie eine Augenbraue und runzelte die Stirn. Ich sagte ihr, ich sei dabei, nach anderer Arbeit zusätzlich zu meinen Übersetzungen zu suchen. Sie schien nicht überzeugt. Der Wunsch, sich um Waisen zu kümmern, galt als seltsam. Die meisten dieser Kinder waren geistig zurückgeblieben oder körperlich behindert, und die Arbeit mit ihnen hatte keinen hohen Stellenwert. An der Wand über Galinas Schreibtisch hing ein Sprichwort, das, wie sie sagte, aus Finnland stammte: Das Knacken eines fallenden Astes ist dessen Entschuldigung an den Baum. Ich hatte mir eingeredet, dass mein Ausflug ins Waisenhaus, auch wenn er nur einen Nachmittag dauerte, lediglich dazu diente, den Gedichten eine Weile zu entkommen. Doch ich hatte auch von Frauen gehört – Frauen meines Alters –, die Pflegeheime eröffnet hatten, als Ergänzung zu den Kleinkinderheimen. Diese Frauen durften kleine Häuser mit höchstens sechs Kindern führen und erhielten eine sehr magere staatliche Vergütung. Bist du nicht mehr an der Universität?, fragte Galina. Ich bin geschieden. Ich verstehe, sagte sie. -339-
Im Hintergrund hörte ich klagende Stimmen. Als wir aus dem Büro traten, scharte sich eine Gruppe Jungen um uns. Sie hatten geschorene Köpfe und graue Kittel, und rings um ihre Münder war die Haut gerötet. Galina führte mich herum. Das Gebäude war ein ehemaliges Zeughaus, in hellen Farben gestrichen, mit einem Schornstein, der in den Himmel stach. Die Klassenzimmer waren vorgefertigte Baracken, die auf Betonblöcken standen. Darin sangen die Kinder Lieder, in denen das Leben schön war. Im Garten stand eine Schaukel, auf der jedes Kind täglich eine halbe Stunde schaukeln durfte. Die Hausmeister hatten in ihrer Freizeit versucht, eine Rutsche zu bauen – das unvollendete Gerät stand wie ein Gerippe neben der Schaukel. Dennoch hatten drei Kinder herausgefunden, wie sie hinaufklettern konnten. Hallo!, rief eines von ihnen. Es war ein kleiner Junge, der aussah, als wäre er etwa vier Jahre alt. Er rannte zu uns und strich sich über die weichen Stoppeln auf seinem Kopf. Der Schädel schien viel zu groß für seinen winzigen Körper. Die Augen waren riesig und standen seltsam schräg, und sein Gesicht war schrecklich schmal. Ich fragte ihn, wie er heiße. Kolja, sagte er. Geh wieder zur Schaukel, Nikolai, sagte Galina. Wir setzten unseren Weg durch den Garten fort. Über meine Schulter sah ich, wie Kolja wieder auf die unfertige Rutsche kletterte. Die Sonne beschien den dunklen Haarflaum. Woher stammt er?, fragte ich. Galina legte mir die Hand auf die Schulter. Du solltest lieber nicht so viel Aufmerksamkeit auf dich lenken, sagte sie. Ich bin nur neugierig. -340-
Du musst wirklich vorsichtig sein. Nachdem Galina auf der Universität durchgefallen war, hatte man ihr die Arbeit im Waisenhaus zugeteilt. Die Jahreszeiten waren über ihr Gesicht gewandert, und mir kam der Gedanke, dass sich ihre Züge, ähnlich wie bei mir, zu einem nichts sagenden, unscheinbaren Gesamtbild gefügt hatten. Bei einer kleinen Baumgruppe blieb sie stehen, hüstelte und lächelte schmal. Koljas Eltern waren Intellektuelle aus dem fernen Osten Russlands gewesen. Sie hatten an der Universität von Leningrad gearbeitet und waren ums Leben gekommen, als ihr Wagen auf dem Newskiprospekt mit einer Straßenbahn zusammengestoßen war. Es hatte keinen Kontakt mit irgendwelchen Verwandten gegeben, und Kolja, der zur Zeit des Unfalls drei Monate alt gewesen war, hatte in den ersten Jahren seines Lebens kein einziges Wort gesprochen. Er ist ein aufgeweckter Junge, aber entsetzlich einsam, sagte Galina. Und er hat gewisse Verhaltensweisen. Was für Verhaltensweisen? Er hortet Essen, so lange, bis es steinhart oder verschimmelt ist. Und er geht nicht auf die Toilette. Er ist noch immer nicht sauber. Wir bogen um eine Ecke. Eine Gruppe Jungen und Mädchen hackte Holz, ihr Atem zog in Wolken durch die Luft. Die erhobenen Äxte blitzten im Sonnenlicht. Aber als Schachspieler scheint er recht vielversprechend zu sein, sagte sie. Ich war kurz abgelenkt von einer Vision meines Vaters, der die Kugel aus einem Baumstamm zog. Wer?, fragte ich. -341-
Kolja, sagte sie. Er hat aus den Latten in seinem Bettgestell Schachfiguren geschnitzt. Das haben wir eines Abends entdeckt, als er auf den Boden gekracht ist. Die Figuren waren in seinem Kopfkissen versteckt. Ich blieb stehen. Vor dem Hauptgebäude war ein Tankwagen vorgefahren, und Galina sah auf ihre Uhr. Sie seufzte und sagte: Ich muss gehen. Im Hintergrund hörte ich die Kinder lachen. Wenn du willst, kann ich dir hier wahrscheinlich eine Arbeit verschaffen, sagte sie. Sie ging weiter und klimperte mit dem Schlüsselbund. Danke, antwortete ich. Sie drehte sich nicht um. Ich wusste, was ich wollte, was ich vielleicht seit jungen Jahren immer gewollt hatte. Bevor ich ging, sah ich zu, wie Kolja an einer Stange schaukelte. Ein schriller Pfiff rief die Kinder ins Haus, während eine Pflegerin ein Dutzend andere in den Garten ließ. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, zu meinen Wörterbüchern und Klementinen. Im Erziehungsministerium erfuhr ich eine Woche später, dass Adoptionen nicht mehr möglich seien, und stimmte der Sachbearbeiterin zu, als sie sagte, in der Obhut des Staates seien die Kinder viel besser aufgehoben, erkundigte mich dann aber vorsichtig nach der Möglichkeit, eine Vormundschaft zu übernehmen. Sie sah mich streng an, sagte: Warten Sie hier, ging hinaus und kehrte mit einer Akte zurück. Während sie darin blätterte, fragte sie mich unvermittelt: Mögen Sie Tanz? Für diese Frage konnte es nur einen einzigen Grund geben. Rudi hatte sich vor über zehn Jahren in den Westen abgesetzt. In jüngster Zeit war die offizielle Bewertung -342-
seines Falls milder ausgefallen als früher, und andere hochrangige Überläufer hatten ihn aus dem Rampenlicht verdrängt. In der Iswestija hatte sogar ein Artikel über seine Tournee durch Westdeutschland gestanden; darin waren westliche Zeitungen zitiert worden, die geschrieben hatten, sein Stern sei beinahe ganz verblasst. Als Alexander Puschkin in den frühen siebziger Jahren gestorben war, hatten die Zeitungen Rudi kurz erwähnt, nicht ohne zu betonen, es sei nicht Rudis Verdienst, sondern ausschließlich das seines genialen Lehrers gewesen, das ihn zu einem interessanten Tänzer gemacht habe. Ich verkrampfte die Finger und wartete darauf, dass die Beamtin den Grund ihrer Frage erklärte. Sie fuhr fort, meine Akte zu studieren. Ich hatte das Gefühl, dass ich mir durch mein übereiltes Handeln eine Falle gestellt hatte. In meinen Ausweisen war kein Vermerk über meine Verbindung zu Rudi, doch in der Akte war sie offenbar ausführlich dokumentiert. Ich wollte eine Entschuldigung murmeln, aber die Frau schob nur ihre Lesebrille auf die Nasenspitze und sah mich über die Gläser hinweg an. Sie sagte streng, sie habe in den späten fünfziger Jahren eine bestimmte Aufführung im Kirow gesehen. Der Tänzer, sagte sie, sei hervorragend gewesen, habe sie jedoch später schrecklich enttäuscht. Sie sprach nur in halben Sätzen, aber ich hatte das Gefühl, als hätten wir uns auf eine Reise ohne Wiederkehr begeben. Sie blätterte weiter in meiner Akte. Ich holte tief Luft. Rudis Namen erwähnte sie nicht, doch er hing zwischen uns in der Luft. Die Wahrheit war, dass ich Rudi nicht mehr in meinem Leben wollte, jedenfalls nicht den Rudi, den ich vor Jahren gekannt hatte. Ich wollte einen Nikolai, einen Kolja, einen Menschen, dem ich etwas von mir mitgeben konnte. -343-
Ich könnte Ihnen vielleicht helfen, Genossin, sagte die Beamtin. Ich fragte mich, auf was ich mich da eingelassen hatte. Sie sagte, es gebe eine Ausführungsbestimmung zu Paragraph 123 des Familiengesetzes, die eine Vormundschaft ermögliche, und eine weitere zu einem anderen Gesetz, die Parteimitgliedern erlaube, besonders talentierte Kinder in ihre Obhut zu nehmen. Ich war Parteimitglied, hatte mich aber nach der Scheidung von Josif aus allen Gliederungen zurückgezogen, aus Angst, er könnte mich aufspüren. Mir kam sogar der Gedanke, die Frau im Ministerium stehe in irgendeiner Verbindung zu ihm und wolle mich hereinlegen. Und doch hatte sie etwas an sich, das mir ehrlich und aufrichtig erschien, eine Schlichtheit, gepaart mit einem wachen Intellekt. Zeigt dieser Junge denn irgendwelche besonderen Talente?, fragte sie mich. Er spielt Schach. Mit vier Jahren? Sie machte sich eine Notiz. Kommen Sie nächste Woche wieder, sagte sie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, Freundschaften zwischen Frauen seien unbeständig und eher von den Umständen als von echten Gefühlen abhängig, doch Olga Wetscheslowa erwies sich als eine außergewöhnliche Frau. Sie war jünger als ich und unsicher hinter ihrer goldgeränderten Brille. Dunkelbraunes Haar. Dunkle, beinahe schwarze Augen. Sie war selbst Tänzerin gewesen, auch wenn nichts an ihrem Körper mehr daran erinnerte: Sie hatte breite Hüften und eine schlechte Haltung, im Gegensatz zu meiner Mutter, die sich, selbst wenn sie krank war, so kerzengerade hielt, als balancierte sie eine Porzellantasse auf dem Kopf. Olga war beunruhigt über -344-
meine Bekanntschaft mit Rudi, doch zugleich freute sie sich darüber. Natürlich warf sie ihm vor, dass er unser Land verraten hatte. Und außerdem warf sie ihm vor, dass er ebendas verraten hatte, was wir uns letztlich für unser eigenes Leben wünschten: die Verwirklichung unserer Sehnsüchte. In diesem Hass auf ihn verbarg sich ein Bedürfnis. Es war wie eine Krankheit: Wir konnten Rudi nicht aus unseren Gedanken verbannen. Olga und ich trafen uns einmal pro Woche. Wir machten Spaziergänge entlang den Kanälen. Uns war bewusst, dass wir damit vielleicht die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf uns zogen, doch das hielt uns nicht davon ab. Olga sorgte dafür, dass ich die Genehmigung erhielt, Kolja im Waisenhaus zu besuchen. Es war gegen Ende des Sommers, und er machte einen unterernährten Eindruck: Seine Beine sahen dünn und spatzenhaft aus. Er hatte schreckliche Furunkel im Gesicht. Man hatte ihn wegen der Bettnässerei bestraft, und sein Rücken war voller blauer Flecken. In Galinas Büro erfuhr ich, dass er nicht vier, sondern sechs Jahre alt und in seiner körperlichen Entwicklung zurückgeblieben war. Ich bekam Zweifel an meinem Entschluss und begann an den Nägeln zu kauen – das hatte ich zuletzt mit sechzehn getan. Mit einem solchen Kind werde ich nicht fertig, dachte ich. Auch der mit der Übernahme einer Vormundschaft verbundene bürokratische Hindernislauf war ein Albtraum: Ich würde Schlange stehen müssen für einen Schulplatz, für die Namensänderung, für Anträge auf Zuteilung einer Wohnung, für Impfungen und Ausweispapiere. Trotzdem kaufte ich Pinsel, Farbe und gebrauchte Spitzenvorhänge für das Fenster. Ich strich eine Ecke des Zimmers blau, kopierte die Abbildungen von Schachfiguren aus einem Buch und malte sie rings um das Fensterbrett an die Wand. In das aus Apfelsinenkisten -345-
bestehende Regal stellte ich allerlei Kleinkram. Das größte Problem war, dass ich kein Bett für Kolja hatte. Die Wartezeit für ein neues Bett aus dem staatlichen Warenhaus betrug vier Monate, und obgleich ich mehr und mehr übersetzte, hatte ich schrecklich wenig Geld. Schließlich gelang es Olga, eine Matratze aufzutreiben, die, wenn ich sie erst gereinigt und geflickt hatte, ganz brauchbar sein würde. Ich sah mich in dem Zimmer um. Es war noch immer trist und schmucklos. In Leningrad konnte man ohne große Schwierigkeiten Vogelkäfige kaufen, und so hängte ich einen auf und setzte einen Kanarienvogel aus Porzellan hinein – hübsch, wenn auch geschmacklos. Auf dem Markt entdeckte ich eine wunderschöne, handgearbeitete Spieluhr, die eine Melodie von Arcangelo Corelli spielte. Es war ein seltsames Ding, das viele Gedichte gekostet hatte, aber wie die Porzellan-Untertasse, die mein Vater mir geschenkt hatte, schien sie sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft heraufzubeschwören. Als Olga mir Ende September dieses Jahres endlich die Vormundschaft übertragen konnte, war ich so glücklich wie noch nie, noch niemals in meinem Leben. Kolja stand in meinem Zimmer und weinte so sehr, dass er Nasenbluten bekam. Er kratzte sich, bis er an Armen und Beinen wund war. Ich machte ihm Breiumschläge, verband die Wunden und gab ihm abends eine Tafel Schokolade. Er wusste gar nicht, was das war, starrte die Tafel an und riss das Papier ab. Er knabberte ein wenig daran, sah mich an, biss ein großes Stück ab und steckte die Hälfte davon unter sein Kopfkissen. Ich blieb die ganze Nacht wach und beruhigte ihn immer wieder, denn er hatte einen Albtraum nach dem anderen. Ich strich mir sogar etwas von dem übel riechenden Brei, den ich für Koljas Haut bereitet hatte, auf die Finger, damit ich nicht -346-
an den Nägeln kaute. Als er morgens erwachte, trat er voller Angst um sich, und als er schließlich erschöpft war, bat er um die andere Hälfte der Schokoladentafel. Es war eine jener schlichten Gesten, die einem, ohne dass man weiß, warum, das Herz leichter werden lassen. Nach einem Monat schrieb ich an Rudi und berichtete ihm, welche Wendung mein Leben genommen hatte. Ich schickte diesen Brief nie ab. Es gab keinen Grund dazu. Ich war jetzt Mutter. Ich akzeptierte gut gelaunt meine grauen Haare. Ich ging mit Kolja zur Fontanka. Er fuhr schwankend auf einem Fahrrad, das wir auf der Müllkippe gefunden hatten, und blieb dicht an meiner Seite. Wir waren unterwegs zum Ministerium, um über seine Fortschritte zu berichten.
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Sah mit mir All in the Family an und fuhr dann mit dem Taxi zu Judy und Sam Peabody, um Nurejew zu treffen (Taxi $ 2,50). Nurejew kam und sah schrecklich aus – richtig alt. Ich schätze, das Nachtleben setzt ihm langsam zu. Er hatte seinen Masseur dabei. Der Masseur ist auch eine Art Leibwächter. Und was ich nicht wusste, als ich dorthin fuhr: Nurejew hat den Peabodys gesagt, dass er sofort geht, wenn Monique von Vooren auftaucht. Er sagt, sie hat ihn benutzt. Er ist ein schrecklicher Kerl. Als er so geizig war, dass er nicht im Hotel wohnen wollte, hat Monique ihm ihr Bett angeboten, und jetzt sagt er, sie hätte ihn benutzt. Er ist gemein, richtig schäbig. Um l Uhr 30 wollten die Eberstadts gehen, ich habe sie bei ihnen zu Hause abgesetzt (Taxi $3,50). - die andy warhol tagebücher – Sonntag, 11. März 1979
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3 Paris, London, Caracas, 80er Jahre Monsieur schlief noch, und über der Stadt lag jene Stille, die ich von klein auf immer geliebt habe. Ich stand am Fenster und sog den Geruch der Seine ein, die manchmal stinkt, an diesem Morgen aber ganz frisch roch. In der Küche buken die Croissants, und die beiden Gerüche vermischten sich. Um neun Uhr trieb der Wind das Läuten der Glocken von St. Thomas d'Aquin die Quais entlang. Im Kessel kochte zum vierten Mal das Wasser, und ich wartete darauf, dass Monsieur erwachte. Gewöhnlich stand er vor neun Uhr auf, ganz gleich, wie spät er nach Hause gekommen war. Ich wusste immer, ob er in Begleitung war, denn dann lagen Jacketts und andere Kleidungsstücke auf den Stühlen und Sesseln. An diesem Morgen aber waren keine Gäste da. Ich nahm den Wasserkessel vom Herd und hörte Monsieur rumoren. Er hatte eine Schallplatte mit Musik von Chopin aufgelegt. Als ich vor Jahren meinen Dienst bei ihm begann, hatte er, wenn er morgens aus seinem Zimmer kam, immer nur eine Unterhose an, doch an einem seiner Geburtstage hatte ich ihm einen weißen Bademantel geschenkt, der ihm gefiel und den er nun jeden Morgen trug. (Er besaß Dutzende von seidenen Pyjamas und viele schöne tibetanische Morgenmäntel, die er jedoch nie benutzte, sondern Gästen gab, die unerwartet über Nacht blieben.) Ich spülte die Teekanne mit etwas heißem Wasser aus -349-
und stellte den Kessel – bei kleiner Hitze – zurück auf die Herdplatte. Monsieur kam in die Küche und begrüßte mich wie stets mit einem breiten Grinsen. Er hatte nie die Freude an den einfachen Dinge des Lebens verloren, und es gab kaum einen Morgen, an dem er nicht ans Fenster trat und tief durchatmete. Ich dachte immer, ein junger Mann mit unbegrenzten finanziellen Mitteln – er war damals zweiundvierzig – müsse einfach glücklich sein, und doch gab es Tage, an denen der Himmel dicht über ihm hing, und dann überließ ich ihn seinen dunklen Gedanken. An diesem Morgen gähnte er und reckte sich ausgiebig. Ich servierte den Tee und die Croissants auf einem Tablett, und Monsieur verkündete, er werde heute später als sonst ausgehen. Er erwarte einen Gast, einen Schuhmacher aus London, aber das solle ein Geheimnis bleiben, denn in Paris gebe es schließlich noch andere Tänzer, und die würden die Zeit dieses Mannes sonst zu sehr in Anspruch nehmen. Gäste am Morgen waren ungewöhnlich, und ich sorgte mich, dass die Croissants und das Obst vielleicht nicht reichen würden, doch Monsieur sagte, er kenne diesen Schuhmacher recht gut – er sei ein einfacher Mann und werde zum Frühstück nur Tee und etwas Toast haben wollen. Ich war mit den englischen Sitten vertraut, denn meine Tante war in Montmartre zwölf Jahre lang Haushälterin bei einem berühmten englischen Schauspieler gewesen. Engländer waren immer höflich, doch mir gefiel die russische Art besser: harte Worte und Entschuldigungen, und beides bekam ich von Monsieur oft zu hören. So konnte er beispielsweise ziemlich laut werden, wenn ich -350-
ein Fleischgericht servierte, das seiner Meinung nach zu lange gekocht hatte, und wenig später Reue über seine Übellaunigkeit bekunden. Mit der Zeit hatte ich sogar Gefallen an Monsieurs Ausbrüchen gefunden, auch wenn sie recht häufig waren. Monsieur hatte einige seiner alten Tanzschuhe auf dem Boden aufgereiht, als der Schuhmacher kam. Ich öffnete die Tür, und dort stand ein kleiner Mann mit Stirnglatze. Er hatte den Mantel über einen Arm gelegt und trug in der anderen Hand einen Koffer. Er war etwa zehn Jahre älter als ich, mindestens Ende fünfzig. Tom Ashworth, sagte er. Er verbeugte sich und sagte, er werde erwartet. Ich wollte ihm den Mantel abnehmen, doch er schien sich nicht davon trennen zu wollen. Er lächelte entschuldigend und hängte den Mantel selbst auf den Garderobenständer. Monsieur kam herbei und umarmte den Schuhmacher, der erschrocken einen Schritt zurücktrat. Sein Koffer stieß gegen den Garderobenständer, sodass dieser schwankte. Es gelang mir, ein Lachen zu unterdrücken. Monsieurs Gast hatte ein gerötetes Gesicht und dichte, buschige Augenbrauen. Er trug eine leicht verbogene Brille. Ich zog mich in die Küche zurück und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, sodass ich ins Wohnzimmer sehen konnte, wo Monsieur und sein Gast Platz genommen hatten. Der Schuhmacher fingerte am Schloss des Koffers herum und klappte ihn auf – er enthielt alle möglichen Schuhe. Die Haltung des Mannes entspannte sich, als er einen Schuh nach dem anderen aus dem Koffer nahm. Als Engländer trank er seinen Tee mit Milch und möglicherweise auch mit Zucker. Ich trug das Tablett ins Wohnzimmer. Für den Fall, dass er etwas essen wollte, -351-
hatte ich auf mein Frühstücksgebäck verzichtet, doch er war von den Schuhen so sehr in Anspruch genommen, dass er kaum aufsah. Sie unterhielten sich auf Englisch, und beide saßen vorgebeugt da, um einander besser verstehen zu können. Wie es schien, hatte Monsieur eine Vorliebe für eine bestimmte ältere Schuhform entwickelt, und das Gespräch drehte sich darum, dass er seine alten Schuhe repariert haben wollte. Sie erwachen an meinen Füßen zum Leben, sagte Monsieur. Sie sind lebendig. Mr. Ashworth sagte, er werde sie mit Freuden reparieren, so gut er könne. Ich schloss die Küchentür und begann zu überlegen, was ich für das Abendessen brauchen würde: Masthähnchen, Kräuter, Karotten, Spargel, Butter, Milch, Eier, Haselnüsse für den Pudding. Monsieur hatte elf Gäste eingeladen, und ich musste nachsehen, ob noch genug Champagner und Likör da war. Gewöhnlich kochte ich ländliche Gerichte nach alten Familienrezepten. Darum hatte Monsieur mich ja eingestellt: weil er herzhafte Mahlzeiten bevorzugte. (Meine Familie mütterlicherseits hatte vier Generationen lang einen Landgasthof in Voutenay bei Paris betrieben – er war 1944 ein Opfer des alliierten Vormarschs geworden, denn die Deutschen hatten ihn auf dem Rückzug niedergebrannt.) Es machte mir immer große Freude, in Paris über die Märkte zu gehen und nach den besten Zutaten zu suchen. Das frischeste Gemüse gab es meist in der Rue du Bac. In der Rue de Buci war ein Metzger, bei dem ich das beste Fleisch kaufte – er sprach mit dem gutturalen Pariser Akzent, der mich manchmal an Monsieur erinnerte. Kräuter und Gewürze fand ich bei einem Mann aus Bangladesch, der einen winzigen Laden im 10. Arrondissement hatte, in einer von der Passage Brady abzwei-352-
genden Gasse. Normalerweise ging ich zu Fuß oder fuhr mit dem Bus, doch da Monsieur diesen Morgen mit dem Schuhmacher verbrachte, bat ich ihn um den Wagen, der sehr verbeult und zerkratzt war. (Er war ein entsetzlicher Fahrer, und Victor Pareci, einer seiner ungehobelten New Yorker Freunde, machte oft unhöfliche Bemerkungen darüber, dass Monsieur gern auf seinen Vordermann auffuhr.) Ich erledigte alles mühelos. Als ich mit den Einkäufen in die Wohnung trat, sah ich zu meiner Überraschung, dass der Schuhmacher allein im Wohnzimmer saß. Er hatte Zeitungen auf dem Boden ausgebreitet, um den Teppich nicht mit Leim zu beschmieren. Ich begrüßte ihn in meinem fehlerhaften Englisch. Er erklärte, Monsieur sei bereits zur Probe gegangen. Der Schuhmacher war mit einer Frühmaschine aus London gekommen, und da ich annahm, er sei hungrig, bot ich ihm etwas zu essen an. Er lehnte höflich ab. Während ich in der Küche das Abendessen vorbereitete, sah ich ihm bei der Arbeit zu. Er zog jeden Schuh wie einen Handschuh auf die linke Hand und machte mit einem scharfen Messer Einschnitte. Es sah aus, als würde er Geflügel ausnehmen. Beim Nähen führte er die Nadel schnell und gewandt. Zwischendurch sah er sich, während der Leim trocknete, über seine Brille hinweg im Raum um. Monsieur war ein Kunstkenner mit einer Vorliebe für männliche Akte aus dem 19. Jahrhundert. Sie schienen den Schuhmacher zu irritieren. Er erhob sich und ging zu einem Marmortorso, der in der Mitte des Zimmers stand. Er tippte mit den Fingern dagegen und zuckte zusammen, als er aufblickte und mich sah. Monsieur hat ein ausgezeichnetes Auge für Kunst, sagte -353-
ich. Der Schuhmacher stammelte etwas und machte sich wieder an die Arbeit. Von da an sah er nicht mehr auf, doch irgendwann am Nachmittag schien er mit einem der Schuhe Schwierigkeiten zu haben. Er biss die Zähne aufeinander und schüttelte den Kopf. Ich brachte ihm Tee und fragte ihn, ob es Probleme gebe. Er zog eine Uhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. Ich habe viel zu tun, sagte er. Er hatte ein eigenartiges Lächeln, das ihm, wenn es sich auf seinem Gesicht ausbreitete, einen vollkommen entspannten Ausdruck verlieh. Er lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Tee und sah noch einmal auf die Uhr. Dann seufzte er und sagte, er werde vor seinem Rückflug wohl nicht mit der Arbeit fertig werden. Sie kennen nicht zufällig ein annehmbares Hotel?, fragte er mich. Monsieur wird darauf bestehen, dass Sie hier bleiben. Nein, das ist ganz unmöglich. Wir haben zwei Gästezimmer. Der Gedanke, hier zu übernachten, schien ihm sehr zuzusetzen. Er rieb sich den Nacken und wiederholte, dass er lieber in einem billigen Hotel absteigen würde – er wolle nicht in Monsieurs Privatsphäre eindringen. Dann klappte er den Koffer zu und machte sich auf den Weg nach Montmartre, wo es eine kleine Pension gab, die ich ihm empfohlen hatte. Um fünf Uhr kam Monsieur von der Probe nach Hause. Ich ließ ihm ein Bad ein. Das Wasser musste immer sehr heiß sein. Er zog das Trikot aus und erkundigte sich nach dem Schuhmacher. Als ich ihm die Situation erklärte, blieb er -354-
ganz gelassen. Während er badete, briet ich ihm ein Steak, beinahe roh, wie er es immer ein paar Stunden vor einem Auftritt aß. Als er es zur Hälfte verzehrt hatte, hob er die Gabel und zeigte damit auf mich. Rufen Sie Mr. Ashworth in seinem Hotel an und sagen Sie ihm, dass ich an der Kasse eine Karte für die heutige Vorstellung hinterlegen lasse. Danach soll er hierher zum Essen kommen. Mir schoss durch den Kopf, dass dann dreizehn Personen am Tisch sitzen würden. Seit ich ihn kennen gelernt hatte, war Monsieur immer abergläubischer geworden das hatte er von Madame Fonteyn. Ich beschloss jedoch, nichts zu sagen, da es recht wahrscheinlich war, dass Monsieur im Lauf des Abends noch weitere Gäste einladen würde. (In kluger Voraussicht hatte ich so viele Masthähnchen gekauft, dass sie für siebzehn Personen reichen würden.) Ich rief im Hotel an. Der Portier sagte mir mürrisch, es gebe keine Telefone auf den Zimmern, und da sonst niemand Dienst habe und er seinen Platz nicht verlassen dürfe, könne er lediglich eine Nachricht entgegennehmen. Ich bat ihn inständig, zu Mr. Ashworth zu gehen, und brachte sogar Monsieurs Namen ins Spiel, doch der Portier blieb unbeeindruckt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als selbst zum Hotel zu fahren. Eilig traf ich die letzten Vorbereitungen für das Essen, gab heißen Tee mit Honig in eine Thermosflasche, die Monsieur später mitnehmen würde, und fuhr mit einem Taxi nach Montmartre. Es war Sommer und noch hell. Gegenüber dem Hotel war eine winzige Grünanlage; dort saß der Schuhmacher ganz allein und zufrieden im Gras und arbeitete an seinen Schuhen. Ich war ein wenig -355-
verblüfft, denn er trug einen Hut und sah viel jünger aus als zuvor. Ich überquerte die Straße. Als er mich kommen sah, errötete er, schob die Schuhe zu einem Haufen zusammen und steckte seine Schere in die Jackentasche. Mr. Ashworth. Tom, erwiderte er. Monsieur hat mich gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Als ich ihm von der Einladung erzählte, errötete er noch mehr. Oh, sagte er. Er nahm die Schere aus der Tasche, zog die Jacke aus, legte sie auf den Boden und machte eine einladende Handbewegung. Damals waren kurze Röcke noch in Mode, aber ich trug ein längeres Hauskleid, und darüber war ich froh, denn nichts ist schwieriger, als in einem kurzen Rock auf einer Männerjacke im Gras zu sitzen und dabei eine gute Figur zu machen. Er stammelte, er sei sehr geehrt, dass ich den ganzen Weg auf mich genommen hätte, um ihm die Einladung zu überbringen, und werde, sofern seine Garderobe dem Anlass angemessen sei, gern zum Essen kommen. Das Ballett werde er sich jedoch nicht ansehen, und zwar aus persönlichen Gründen. Es hat etwas mit einer Regel zu tun, die ich von meinem Vater übernommen habe, sagte er. Ich wartete, doch er sprach nicht weiter. Er erhob sich und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich kehrte zum Quai Voltaire zurück, um das Essen zu kochen. Richtig zubereitet, ist Masthähnchen überaus köstlich. Ich hatte diese Kunst bereits als junges Mädchen gelernt. Zum Würzen braucht man nichts weiter als Rosmarin, -356-
Thymian und Zitronensaft. Man hebt an der Brust einfach die Haut an und streicht die Gewürze darunter – den Rest besorgt die Hitze des Ofens. Als Beilage würde es überbackene Kartoffeln und leicht gedünsteten Spargel geben. Ich erwartete die Gäste erst gegen Mitternacht, doch Tom kam schon früher. Seine Hose hatte schiefe Falten, und der Knoten seiner Krawatte war fest zugezogen. Es tut mir sehr Leid, aber ich habe Ihren Namen nicht genau verstanden, sagte er. Odile. Er überreichte mir einen Strauß Narzissen und sagte: Tja, Odile, normalerweise liege ich um diese Zeit schon im Bett – bitte verzeihen Sie mir also, wenn ich Ihnen ein bisschen komisch vorkomme. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich ihn damals einfach nur nett fand, kein bisschen hochgestochen und zwar nicht attraktiv im landläufigen Sinne, aber auf jeden Fall interessant. Ich nahm die Blumen, dankte ihm und bat ihn, es sich bequem zu machen, bis die anderen Gäste eintrafen. Ich ließ die Küchentür ein Stück offen und sah, wie er sich auf die Kante eines Sessels setzte. Er hatte gesagt, er sei Wein nicht gewöhnt, und umklammerte sein Glas, als könnte es über ihn herfallen. Um halb zwölf kamen Pierre und Alain, die beiden Kellner, die bei solchen Anlässen gewöhnlich bedienten. Sie waren angehende Schauspieler. Nach einem einzigen Blick auf Tom kamen sie, unhöflich, wie sie waren, zu dem Schluss, dass er keine weitere Beachtung verdiente. Sie trafen die letzten Vorbereitungen, polierten den Kandelaber, deckten das Silberbesteck auf und spülten die Weinkelche aus, während ich die Vorspeisen und das -357-
Dessert anrichtete. Als die Gäste eintrafen, war ich beunruhigt, weil Monsieur noch nicht da war. Das war nicht ungewöhnlich – er erschien häufig verspätet zu seinen eigenen Abendgesellschaften –, aber ich dachte an Tom, der sich in Gegenwart der anderen sichtlich unwohl fühlte. Es waren eine Reihe von Tänzerinnen und Tänzern, ein argentinischer Tanzkritiker, irgendein Filmstar, ein Geschäftsmann und ein paar Damen der Gesellschaft, darunter auch Mrs. Godstalk, eine New Yorkerin, die darauf bestand, einigermaßen regelmäßig bei Monsieur zu Gast zu sein. Sie war Mitte fünfzig, kleidete sich jedoch aufreizend wie eine junge Frau stets quoll ihr der Busen aus dem Ausschnitt. Soweit ich wusste, war sie verheiratet, erwähnte ihren Mann allerdings nie. Sie machte eine Bemerkung über ein Gemälde, das sie für Monsieur erworben hatte, und sagte irgendetwas über die formalen Balancen des Bildes. Sie erwähnte auch den Preis, und Tom rutschte unbehaglich hin und her. Der argentinische Kritiker stimmte ihr zu: Die tonalen Komponenten des Werkes seien vollkommen ausgewogen. Ich sah, wie der arme Tom mit dem Sessel verwuchs. Um Mitternacht beschloss ich, das Essen zu servieren, obgleich Monsieur noch immer nicht erschienen war. Die Gäste nahmen missmutig ihre Plätze ein. Mir war entgangen, dass Tom inzwischen schrecklich betrunken war, denn ich hatte gedacht, er habe sich die ganze Zeit mit einem Glas Wein begnügt, doch offenbar hatten es die Kellner in ihrer Boshaftigkeit immer wieder aufgefüllt. Er war Alkohol nicht gewöhnt, blieb einfach im Sessel sitzen und erzählte mit lauter Stimme Anekdoten über einen Londoner Fußballclub, für die sich niemand interessierte. Mrs. Godstalk schnaubte, während die Männer versuchten, ihn zu übertönen. Nur die Tänzer schienen mit halbem Ohr -358-
zuzuhören. Ich lud Tom ein, sich an den Tisch zu setzen, und geleitete ihn an seinen Platz. Der einzige freie Stuhl war der neben Mrs. Godstalk. Ich wollte ihm sein Glas wegnehmen, doch er hielt es fest und verschüttete etwas Wein auf sein Hosenbein. Unter großen Schwierigkeiten steckte er einen Zipfel seiner Serviette in den Hemdkragen, und eine der Tänzerinnen kicherte. Ich kehrte in die Küche zurück, um den ersten Gang anzurichten. Im Verlauf des Essens wurden Toms englischer Akzent ausgeprägter und seine Stimme lauter. Er fuchtelte mit der Gabel, auf die er ein Stück Fleisch gespießt hatte. Ich beobachtete die Runde durch den Türspalt und beschloss, dass ich etwas unternehmen musste. Tom erzählte gerade von einem Elfmeter, den seine Mannschaft zugesprochen bekommen hatte. Ich wartete auf den geeigneten Augenblick, um aus der Küche zu kommen und zu sagen: Mr. Ashworth! Mr. Ashworth! Ich stieß eilig hervor, mit der Geschirrspülmaschine sei irgendetwas nicht in Ordnung, und da Mr. Ashworth so geschickte Hände habe, brauchte ich seine Hilfe. Ob die anderen Gäste wohl so freundlich wären, ihn zu entschuldigen? Zu Ihren Diensten, sagte Tom, stieß beim Aufstehen mit dem Knie gegen das Tischbein und hätte um ein Haar die Decke von der Tafel gerissen. Er stolperte, und ich nahm seinen Arm und setzte ihn an den Küchentisch, dicht an die Wand, für den Fall, dass er das Gleichgewicht verlor. Odile, sagte er und nuschelte dabei etwas. In diesem Augenblick hörte ich Monsieur eintreten. -359-
Innerhalb weniger Sekunden kam es am Esstisch zu einer heftigen Auseinandersetzung. Es war ein Durcheinander von erhobenen Stimmen, und die von Monsieur war am lautesten. Jemand schrie ihn an. Ich wusste, dass sich Ärger zusammenbraute – das war immer so, wenn jemand Monsieur widersprach. Ich sagte zu Tom, er solle bleiben, wo er sei, und ging hinaus. Alle Gäste hatten sich erhoben, man zeigte mit den Fingern, biss auf Nägel, knöpfte Manschetten zu, und Monsieur stand inmitten des Tumults und warf einen nach dem anderen hinaus. Zu spät?, rief er. Ich zu spät? Raus! Raus! Einige zögerten und versuchten, sich bei ihm einzuschmeicheln, doch davon wollte er nichts hören. Mrs. Godstalk flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber er schob sie einfach beiseite. Entsetzt sagte sie wieder und wieder seinen Namen. Sie versuchte, ihm begütigend die Hand auf den Arm zu legen, doch er rief: Raus! Der argentinische Kritiker stand an der Tür, murmelte etwas und schaffte es sogar, eine abfällige Bemerkung über das Essen zu machen. Ich war jedoch zu sehr von meiner Sorge um den armen Tom in Anspruch genommen, um an dieser Kritik Anstoß zu nehmen. Ich wollte zurück in die Küche, bevor Monsieurs Zorn auch ihn traf. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn Monsieur auf den betrunkenen Tom stieß – gewiss würde dann der Teufel los sein. Ich beeilte mich, den Gästen in ihre Mäntel zu helfen und die Kragen zurechtzurücken, und lauschte dabei die ganze Zeit auf irgendwelche Geräusche aus der Küche. Schließlich schloss ich hinter Mrs. Godstalk, die als Letzte ging, die Tür. Zu meiner Überraschung fand ich Tom und Monsieur in der Küche, wo sie große Schlucke aus bauchigen Rotwein-360-
gläsern tranken. Tom erzählte Monsieur von einem besonderen Paar Schuhe, die er sich für seine Stadionbesuche angefertigt hatte. Sie hätten Plattformsohlen, damit er über die Köpfe der anderen Zuschauer hinwegsehen könne. Allerdings seien die Schuhe so geschickt gebaut, dass diese Sohlen nicht zu erkennen seien, und seine Wirtin verstehe bis heute nicht, warum er an den Spieltagen größer sei als sonst. Mein Freund Victor könnte solche Schuhe gut gebrauchen, sagte Monsieur. Eine Stunde lang scherzten und lachten sie. Monsieur holte ein paar Fotos hervor, die er immer in der Brieftasche bei sich trug: eins von seiner Mutter und eins von seiner Nichte Nurija, der Tochter seiner Schwester, die vor einigen Jahren geboren war. Tom unterdrückte ein Rülpsen und sagte, es seien sehr schöne Fotos, und russische Frauen hätten ihm schon immer gefallen. Er sah mich an. Und Sie sind auch schön, Odile, sagte er, auch wenn Sie keine Russin sind. Schließlich übermannte ihn der Alkohol, und er schlief am Küchentisch ein. Sein Kopf ruhte neben einem Stück Käse. Monsieur half mir, ihn in eines der Gästezimmer zu schaffen. Er zog ihm sogar die Schuhe und Strümpfe aus und wünschte ihm eine gute Nacht. Ich drehte Tom auf die Seite und stellte einen Eimer neben das Bett, für den Fall, dass er sich übergeben musste. Irgendetwas bewog mich, ihn ganz sanft auf die Stirn zu küssen. Dann ging ich ebenfalls schlafen. Der Morgen begann mit Regen. Ich kroch aus dem Bett, ging durch den Flur und war überrascht zu sehen, dass die Tür des Gästezimmers einen Spaltbreit offen stand. Ich warf einen Blick hinein. Tom stand gebückt da und -361-
versuchte, sich die Schuhe zuzubinden. Sein Gesicht war gerötet, und seine Haare standen in alle Richtungen ab. Guten Morgen, Tom, sagte ich. Erschrocken sah er auf. Die Anzugjacke hing schief über der Stuhllehne, und sein Hemd war ganz zerknittert. Ich würde gern Ihre Sachen bügeln, sagte ich. Danke, aber ich muss jetzt gehen. Es würde gar keine Umstände machen. Vielen Dank, nein. Er sprach mit belegter Stimme, und da er peinlich berührt schien, ließ ich ihn allein. Ich kochte Tee und Kaffee und deckte den Küchentisch. Als ich das Wohnzimmer aufräumte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Tom versuchte, sich auf Zehenspitzen aus der Wohnung zu schleichen. Mr. Ashworth!, rief ich, doch er gab keine Antwort. Tom!, sagte ich. Er drehte sich um. Nie zuvor hatte ich im Gesicht eines erwachsenen Mannes eine solche Angst gesehen. Die Augen waren klein und gerötet, die Lider geschwollen, und er wirkte, als drückte ihn die Last einer großen Kränkung. Er sagte kein Wort, sondern fingerte nur an den Knöpfen seines Jacketts herum. Als er in der Wohnungstür stand und mir sein Profil zuwandte, sah ich Tränen in seinen Augen. Ich rannte zu ihm, doch er ging bereits die geschwungene Treppe hinunter. Ich eilte ihm nach. An der Haustür blieb er mit gesenktem Kopf stehen und sah auf seine Schuhe. Ich habe mich lächerlich gemacht, sagte er. Seit Jahrhunderten waren meine Vorfahren Schuhmacher, und ich habe ihnen Schande gemacht. Sie brauchen sich für nichts zu schämen. -362-
Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Nein, nein, nein. Monsieur hat die Unterhaltung mit Ihnen sehr genossen. Ich bin ein Clown. Natürlich nicht. Ich habe meinen letzten Schuh gemacht. Wie bitte? Sagen Sie Mr. Nurejew bitte, dass es mir Leid tut. Er machte eine kleine Verbeugung und war verschwunden, zur Tür hinaus und an den Quais entlang. Ich sah ihm nach, als er durch den Regen ging. Er zog das Jackett über den Kopf und bog um die Ecke. Eine halbe Stunde später stand Monsieur auf und fragte nach Mr. Ashworth. Ich erzählte ihm, was passiert war. Monsieur starrte in seine Teetasse und kaute auf einem Croissant. Ich stand an der Spüle und trocknete die letzten Gläser ab. Ich fühlte mich ganz leer und konnte nichts dagegen tun. Monsieur musste irgendetwas gespürt haben, denn er sagte, ich solle ihn ansehen, er wolle meine Augen sehen. Das konnte ich nicht. Ich hörte, wie er aufstand, und dann kam er zu mir und legte die Hand an meinen Ellbogen. Ich schluckte die Tränen hinunter und fiel ihm nicht in die Arme, aber er nahm mein Kinn und hob meinen Kopf. Seine Augen blickten so gütig. Warten Sie, sagte er. Er ging in sein Schlafzimmer, und als er wieder herauskam, stopfte er mit der einen Hand etwas in die Tasche seines Bademantels. In der anderen hielt er seinen Schlüsselbund. Gehen wir, sagte er. Aber Monsieur, Sie sind noch im Bademantel. Ich werde einen neuen Modetrend kreieren. -363-
Bevor ich wusste, wie mir geschah, fuhren wir in der verkehrten Richtung durch eine Einbahnstraße. Monsieur sang lauthals irgendein verrücktes russisches Liebeslied. Zehn Minuten später standen wir vor Toms Hotel. Hinter uns hupten Autos. Monsieur sprang aus dem Wagen, machte obszöne Gesten in Richtung der Fahrer und rannte in das Hotel, kam aber kurz darauf wieder heraus und schüttelte den Kopf. Wir werden es am Flughafen versuchen, sagte er. Er legte den Gang ein, und in diesem Augenblick tauchte Tom auf. Er sah uns, blieb stehen, zögerte, vergrub dann die Hände in den Jackettaschen und ging auf den Hoteleingang zu. Monsieur stieg wieder aus und hielt Tom auf der Treppe zum Hoteleingang am Arm fest. Der Portier kam heraus und hielt einen Schirm über Monsieurs Kopf. Tom wich Monsieurs Blick aus. Er räusperte sich, als wollte er etwas sagen, doch bevor er ein Wort herausbrachte, schüttelte Monsieur energisch den Kopf. Monsieur zog ein altes Paar Tanzschuhe aus der Tasche und fuchtelte damit herum. Reparieren Sie die, sagte er zu Tom. Tom starrte ihm in die Augen. Reparieren Sie die, wiederholte Monsieur. Wie bitte?, sagte Tom Ich will, dass Sie sie reparieren. Seit wann verstehen Sie kein Englisch mehr? Tom trat mit schamrotem Gesicht von einem Fuß auf den anderen. Ja, Sir, stammelte er schließlich und nahm die Schuhe. Er hielt sie in der Hand und sagte: Bitte verzeihen Sie mir meine Dummheit von gestern Abend. -364-
Monsieur zögerte. Wenn Sie noch einmal einen Auftrag verweigern, werde ich Sie in den Hintern treten! Haben Sie mich verstanden? Sir? Bei mir verweigert niemand einen Auftrag! Wenn hier jemand etwas verweigert, dann ich! Tom verbeugte sich abermals – eigentlich war es keine Verbeugung, eher ein langsames Nicken. Als er den Kopf wieder hob, sah er mich an. Seine Brille war halb auf der Nase heruntergerutscht. All die Jahre hatte sie ihr Lächeln geübt, ihr Bühnenlächeln, das perfekte Lächeln, das vermittelte: Ich habe alles im Griff, ich bin königlich, ich bin das Ballett. Und dieses Lächeln warf sie jetzt Rudi zu. Auch alle anderen Hochzeitsgäste lächelten. Dennoch spürte Margot, dass an diesem Tag irgendetwas nicht in Ordnung war – irgendetwas passte nicht, irgendetwas stimmte nicht, sie wusste nur nicht, was. Rudi saß ihr direkt gegenüber und hatte den Kopf lachend in den Nacken gelegt, Runzeln im Gesicht, Lachfalten um die Augen. Neben ihm saß sein Freund Victor mit seinem blöden Schurrbart und dem kreischbunten Kummerbund. Am liebsten hätte Margot Rudi am Arm gepackt und geschüttelt, irgendetwas zu ihm gesagt – aber was hätte das sein können? In den dunklen Winkeln ihres Geistes war ein Gedanke, den sie unbedingt mitteilen wollte, doch sie war sich nur seiner Existenz bewusst, nicht aber seines Inhalts. So viele Tage kamen ihr inzwischen vor wie dieser. Sie hatte Abschied von der Bühne genommen. Tito war gestorben. Wie eine Figur aus einem Roman des 19. Jahrhunderts legte sie Blumen auf seinen Grabstein in Panama City. Sie blickte oft über die Wiese unweit des Friedhofs und sah zu, wie der Wind -365-
über das Gras strich. Oder sie stand in London an einer Ampel und ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, was für Menschen mit welchen Schicksalen in den Wagen saßen, die an ihr vorbeifuhren. Oder sie las ein Buch und wusste mit einem Mal nicht mehr, worum es darin überhaupt ging. Als sie ein Kind gewesen war, hatte ihr niemand gesagt, wie ihr Leben als Tänzerin sein würde, und hätte sie es gewusst, dann hätte sie nicht verstanden, dass dieses Leben so erfüllt und doch so leer sein konnte, dass es von außen ganz anders wirken konnte, als sie es von innen erlebte, weshalb sie gezwungen war, zwei ganz unterschiedliche Lebensbilder miteinander in Einklang zu bringen, sie im Gleichgewicht zu halten, ihnen Rechnung zu tragen. Rudi hatte mal gesagt, sie seien ein Herz und eine Seele, und sie hatte sich gefragt, wer dann was war: War sie Herz oder Seele? Und war sie nun weder das eine noch das andere? Rudi war jetzt dreiundvierzig, vielleicht vierundvierzig, sie konnte sich nicht genau erinnern. Dennoch trat er immer noch auf. Und warum auch nicht? Sie hatte bis zu ihrem sechzigsten Lebensjahr getanzt. Sie sah zu, wie Braut und Bräutigam den Tanz eröffneten. Tom hielt sich so steif wie eh und je. Odile trug die weißen Schuhe, die ihr frisch gebackener Ehemann eigens für diesen Anlass gemacht hatte, aus weißem Satin mit Spitzenrändern und ohne Absätze. Ihre schlanken Beine. Ihre kleinen Hände. Tom hob ihre Schleppe und legte sie sich über den Arm. Das, dachte Margot, musste der Schlüssel sein: dass man sein Leben frei und ehrlich und mit Liebe lebte. Ihre eigene Liebe hatte dem Tanz gehört. Bei Rudi war es nicht anders. Nicht dass ihnen jene Art von Liebe verwehrt gewesen wäre, nein, ganz und gar nicht – doch die ihre war so anders geartet gewesen, schmerzhaft und öffentlich. Die Liebe war Margot nie -366-
ganz so widerfahren wie anderen. Mit Tito, ja. Aber Tito war ein unmöglicher Mensch und schließlich nur noch ein unmöglicher Körper gewesen. Tito hatte sie als elegantes Accessoire an seiner Seite betrachtet. Tito hatte andere Betten gewärmt. Und dann hatte jemand auf ihn geschossen, und er war geworden, was er zuvor nie gewesen war: nutzlos und gutherzig. Oh, sie hatte ihn geliebt, ja, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie sich innerlich ganz leer gefühlt hätte, wenn sie ihn nur erblickte. Oft fragte sie sich, ob sie naiv war, doch sie hatte die wahre Liebe gesehen und sah sie auch jetzt, dessen war sie sicher: Tom und Odile – wie linkisch sie einander berührten, wie schüchtern ihre Höflichkeit war, wie schön ihre Schlichtheit. Rudi nahm einen Schluck aus seinem Champagnerglas. Sie hatte gehört, er habe die Kosten dieser Hochzeit übernommen, ohne irgendjemandem etwas davon zu sagen. Seine diskrete Großzügigkeit. Dennoch schien er weit entrückt, als das Brautpaar sich über die Tanzfläche schob. Man sagte, das liege an seiner Einsamkeit, doch Margot wusste, dass es keine Einsamkeit war. Einsamkeit, dachte sie, erzeugte einen gewissen Wahnsinn. Bei ihm war es mehr eine Suche nach etwas jenseits des Tanzens, ein Sehnen nach dem, was den Menschen ausmachte. Doch was konnte besser sein, was konnte die nicht enden wollenden Ovationen übertreffen? Gab es im Leben irgendetwas, was das übertraf? Und dann wusste sie es. Der Gedanke hatte noch nie in solcher Klarheit vor ihr gestanden. Sie hatte getanzt, bis ihr Körper nicht mehr mitmachte, und jetzt war sie ohne Liebe. Der Arzt hatte ihr gesagt, sie habe Krebs. Sie würde wahrscheinlich noch einige Jahre leben, aber es war Krebs, ja, Krebs, das war das Ende, auf das ihr Leben zusteuerte. Sie hatte es niemandem gesagt. Auch Rudi würde sie es erst später -367-
sagen. Aber es gab etwas anderes, das sie ihm sagen musste, und sie suchte nach den Worten. Tanz. Heilmittel. Tabletten. Schlaftabletten und Appetitzügler und Schmerztabletten und Tabletten gegen die Wechselfalle des Lebens, Tabletten gegen alle Arten von Krankheit, von Eifersucht bis Bronchitis, Tabletten in den zugigen Korridoren, wo junge Mädchen schwitzten und um Rollen weinten, die sie nie bekamen, Tabletten gegen leere Bankkonten, Tabletten gegen Dolchstöße in den Rücken, Tabletten gegen Wortbrüche, Tabletten gegen die Schmerzen beim Gehen, Tabletten, damit man andere Tabletten vertrug. Margot hatte nie irgendwelche Tabletten geschluckt, aber sie hatte oft imaginäre weiße Tabletten durch ihren Kopf schweben lassen, um den Schmerz abzutöten. Und jetzt Eierstockkrebs. Dagegen halfen keine Tabletten. Sie spürte, wie der Raum enger wurde. Sie sah die Tänzer rechts und links von ihr essen. Die Schuhmacher am anderen Ende des Saals waren laut und ausgelassen. Später würde Rudi das Wladiwostoker Liebeslied singen, das er auf Partys gern zum Besten gab. Sie merkte, dass der Abend seinem Ende entgegenkroch, der unvermeidlichen Verabschiedung des frisch getrauten Paares, dem Neid, den sie dann vielleicht verspüren würde. Aber das würde sie sich nicht anmerken lassen. Sie war die Diplomatie selbst. Immer schon gewesen. Und sie freute sich für Tom, weil er etwas gefunden hatte, das jenseits seines Handwerks lag. Doch was hatte sie gefunden, was hatte sie entdeckt? Einen dunklen Tumor in ihrem Körper. Sie war nicht verbittert, nein, das nicht, eher erschrocken darüber, dass ihr das Leben ein solches Schicksal zugeteilt hatte. Sie hatte doch sicher mehr verdient. Vielleicht auch nicht. Ihr Leben war erfüllter gewesen als das irgendeines anderen Menschen, den sie kannte. Der Tod würde sie vermutlich auf einer Yacht, in -368-
einem Salon, an einem Sandstrand ereilen. Was war es nur, das sie Rudi sagen musste? In seinem Grinsen, seinem Lachen, in seiner Art, wie er sich zu Victor beugte, in seinem Genuss der Welt war etwas, das sie zum Stillstand bringen musste, und sei es nur für einen Augenblick – doch was war es? Was für ein herausragendes Leben! Sie wusste, dass sie gemeinsam die schönsten Jahre genossen hatten, die Tänzer erleben konnten. Die Leute dachten, sie hätten miteinander geschlafen, doch das hatten sie nie. Dazu waren sie einander viel zu nah gewesen. Dennoch hatten sie daran gedacht, hatten eine Verbindung erwogen, die über den Tanz hinausging. Mit ihm zu schlafen – das hätte sie beide zerstört. Und Tanzen war ohnehin intimer. Es war eine Vereinigung, ein Verschmelzen. Nur selten hatten sie sich gestritten. Mehr als alles andere war sie für ihn eine Mutter gewesen, in den letzten Jahren in zunehmendem Maße. Rudi sprach immer öfter von Farida, die inzwischen zu einer geradezu mythischen Figur geworden zu sein schien. Aber was Margot sagen wollte, hatte nichts mit Müttern, Heimatländern oder anderen komplexen Mythen zu tun. Es hatte nichts mit Liebe oder der damit verbundenen Verzweiflung zu tun. Auch nichts mit Tanz. Oder doch? Vielleicht doch? Sie spürte, dass ihre Finger zitterten. Bald würde der Eröffnungstanz vorüber sein, sie würde mit den Menschen ringsum plaudern, die Margot in ihr präsentieren, höflich klatschen und möglicherweise sogar aufstehen müssen, als wollte sie das Brautpaar auffordern, eine Zugabe zu tanzen. Sie sah, dass Victor Rudi etwas ins Ohr flüsterte. Und in diesem Augenblick durchlief sie eine Welle der Erleichterung, und sie wusste, was es war. Sie wusste, sie würde ihn unterbrechen müssen, sie würde es aussprechen müssen, bevor es wieder unterging, es war das Bedeutsamste, das sie ihm -369-
sagen, der wertvollste Ratschlag, den sie ihm geben konnte. Sie zögerte, legte ihre Gabel gesittet auf den Tellerrand und griff nach dem Wasserglas, um ihren Durst zu stillen. Sie versuchte, Rudis Blick aufzufangen, doch er war in einer anderen Welt. Sie würde es ihm sagen müssen. Sie würde ihm sagen müssen, dass er aufhören musste. So einfach war das. Er sollte aufhören und sich auf seine anderen Talente konzentrieren, auf das Choreographieren, das Unterrichten, ja sogar auf das Dirigieren. Bevor er zu alt war. Sie musste es ihm unbedingt sagen. Tritt ab. Tritt ab. Tritt ab. Bevor es zu spät ist. Sie nahm die Gabel wieder auf. Wie seine Aufmerksamkeit erlangen? Sie streckte die Hand aus und berührte seine Finger mit den silbernen Zinken der Gabel. Er spürte es, sah sie an und lächelte. Auch Victor lächelte, doch dann flüsterte er Rudi abermals etwas zu, und Rudi hob die Hand, als wollte er Margot sagen: Warte. Sie lehnte sich zurück und wartete, und die Musik verklang, und sie erhob sich, um Tom und Odile wie die anderen Gäste Applaus zu spenden, und Rudi streckte den Arm über den Tisch, nahm ihre Hand und sagte: Ja? Wieder zögerte Margot, und dann grinste sie und sagte: Sind sie nicht schön, Tom und Odile? Sind sie nicht ein wunderschönes Paar?
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Transskription eines Interviews mit David Furlong am 23. Mai 1987 in Holborn, London, geführt von Shane F. Harrington, Student der Völkerkunde an der Universität von Edinburgh. Infolge technischer Schwierigkeiten im Umgang mit Aufnahmegerät und Mikrophon sind die Fragen des Interviewers nicht zu verstehen. Tja, na ja, er gehörte nicht gerade zu der harten Sorte, aber er wusste, was er wollte, und nahm mit, was er kriegen konnte. Und dafür hat er auch geblecht. Man knöpfte ihm mehr als den üblichen Tarif ab, weil er eben er war, und fünfundsiebzig Ocken waren damals 'ne Menge Kies. Man musste den Mund halten – kein Geschwätz, kein Zeitungsgelaber. Er nahm immer erst mal eine Untersuchung vor, guckte sich die Arme und den Hals an und sah sogar zwischen den Zehen nach. Wahrscheinlich hatte er Angst, an einen Junkie zu geraten. Man musste frisch und jugendlich aussehen. Ärmelloses Hemd und knallenge Hose. Es machte ihm nichts aus, wenn man nach Rauch roch. Manche Freier mochten das nicht, aber ihm war das egal, jedenfalls durfte man hinterher eine rauchen. Er gabelte einen in der King's Road oder am Piccadilly Circus auf. Wenn er gerade in Stimmung war, nahm er einen mit in einen von den Clubs. Ins Heaven drüben in Charing Cross. Oder ins Colherne. Aber meistens in einen von den normalen Läden: Roxy, Perennial, Tramp's, Annabel's, Palais. Alle waren schwer auf Koks und Alkohol. Die Jungs vögelten auf den Lederbänken der Sitznischen. Er war ein verdammt schräger Vogel. Er nahm einen mit -371-
an seinen Tisch, und da saß man dann zwischen seinen Kumpels, lauter hochgestochene Ödnasen und Groupies. Und dann durfte man nicht zusammen mit nach Hause fahren, weil er nicht wollte, dass irgendeiner sah, wie er mit einem rausging. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Aber er war Russe, und ich schätze, wo das Kusinenvögeln seit ein paar hunderttausend Jahren Tradition ist, wird man eben so, oder? Manchmal hat er seiner Managerin oder einem seiner Kumpel gesagt, sie sollten einen hinfahren, oder er ließ einem durch den Clubbesitzer ein Taxi besorgen, denn die taten echt alles für ihn. Also stand man draußen vor seinem Haus und wartete. Man stand am Tor und wartete, und alle Nachbarn konnten einen sehen. Das war ihm nun wieder scheißegal. Muss man sich mal vorstellen. Ich war nur viermal da. Er konnte sich nie an mich erinnern und hat mich auch nie gefragt, wie ich heiße. Ich glaub, Damian oder so, hab ich ihm erzählt. Man sagt nie seinen richtigen Namen. Außerdem hatte ich 'ne Freundin, und die hatte keine Ahnung. Über die Knete hat sie sich gefreut, aber … Einmal hab ich ihn in der Glotze gesehen. Er faselte irgendwas vom Tanzen, irgendeinen Scheiß, ich weiß auch nicht mehr, von wegen, dass man seine Gesundheit ruiniert, damit andere ihren Spaß haben. Irgend so einen Scheiß eben. Was soll ich denn da sagen? Damit andere ihren Spaß haben – was für 'n Müll! Er hatte jedenfalls seinen Spaß, und zwar nicht nur einmal, und dann drehte er sich um und schlief ein, und man dachte: Scheiße, ich sollte mir 'n paar Sachen greifen, diese komischen Bilder zum Beispiel mit diesen Lords und Hunden und Trompeten und so weiter, und dann einfach abhauen. Aber man wär nicht weit gekommen. -372-
Einmal bin ich leise aufgestanden, und seine Haushälterin war schon wach. Sie machte Frühstück, Brötchen und Obst, und sah mich schräg an. So 'ne komische kleine Französin, die mich im Auge behielt, damit ich nicht mit den Silberlöffeln abhaute. Die hätte lieber den Kopf ins Bratrohr gesteckt, als mit mir zu reden. Ich hab mich ganz still hingesetzt, und sie hat mir 'n Taxi gerufen. Am nächsten Abend war ich wieder im Roxy, und er ging an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Ich hatte schon fünfzig von den fünfundsiebzig für 'n neues Hemd hingelegt. Alle anderen sind drauf abgefahren, nur er nicht. Er saß mit einem anderen in seiner Nische, dicht beieinander, und sie unterhielten sich ganz ernst. Dann stand er auf und ging an mir vorbei. Hat kein Wort zu mir gesagt. Verdammter Schwanzlutscher. Er tritt noch immer auf, und seine Kraft ist ungebrochen. Sein Genie besteht darin, dass er imstande ist, in jedem von uns das Kind zum Leben zu erwecken – wir brauchen ihm nur zuzusehen. Er ist ein Held, er tanzt gegen die Zeit an. Er ist ein Mann, der entschlossen ist, so lange zu tanzen, wie er tanzen kann, bis zum Ende, bis zum letzten Blutstropfen. Jaqueline Kennedy Onassis, 1980 Was? Schleppt der Junge seine Knochen noch immer durch die Stadt? Truman Capote, 1982
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Er ist vor allem ein sehr häuslicher Mensch. Die Leute verkennen das, aber das ist er wirklich. Wenn er uns in unserem französischen Château besucht, möchte er als Erstes ein Glas Wein und ein bisschen Ruhe, damit er am Kamin sitzen und nachdenken kann. Und in unserem Stadthaus an der Ecke Sixtythird Street und Madison Avenue kann er stundenlang, buchstäblich stundenlang dasitzen und sich die Gemälde ansehen. Seine eigentliche Leidenschaft gilt der Kunst des Mittelalters. Das wissen aber nur die wenigsten. Renee Godstalk, 1983 Las Mercedes, Caracas Mai 1984 Rudi! Hier fängt gerade die Regenzeit an, und ich hänge im Haus fest. Ich hab ein paar phantastische Schmerztabletten eingeworfen und schreibe meinen fünftausend engsten Freunden diesen Brief, ha ha, also entschuldige bitte meine wacklige Schrift. Ich mache Yoga und sitze im Lotossitz auf dem Boden – mein Hintern hatte es noch nie so unbequem. Stell dir vor, wie es sein muss, in New Delhi geboren zu sein. Wie du siehst, habe ich meine bescheidene Hütte gegen eine andere eingetauscht und wohne jetzt in einem Haus mit Blumen und Ranken und roten Fliesen mitten in Caracas, was ein bisschen besser ist als die Lower West Side, besonders sonntags nach dem Brunch, wenn in New York all die Amateure an der Ninth Avenue stehen und in den Rinnstein kotzen. Der Jazz ist allerdings schlechter. Ich dachte immer, dass mir die venezolanische Musik gefehlt hat, aber auf dem Paseo spielt jeden Abend eine Band, die sich anhört wie acht ertrinkende Ratten, obwohl sie nur zu dritt sind. Ich -374-
bin mit einem Freund hier, den ich in der Buddy-Gruppe kennen gelernt habe, er hat eine Zeit lang Mitleid mit mir gehabt, und wie es der Zufall wollte, hatte er auch einen Abschluss in orientalischer Medizin, aber ich habe trotzdem für alle Fälle meinen geheimen Vorrat mitgenommen – für den habe ich alle meine Blankorezepte verbraucht und meine Schwanzbilder von Warhol verkauft –, und voilà!, jetzt bin ich also hier, um mein ganzes Geld zu verbraten und zu sterben. Vielleicht werden sie mich in die Hügel tragen und mit Pappe zudecken. Ich bin allein, weil Aaron, mein Gefährte, mitsamt seiner orientalischen Medizin abgerauscht ist. Ich würde sagen, so ist das Leben: Heute hier, morgen fort. Die Stadt ist nicht so, wie ich sie von früher kenne, aber was soll's, bei dem Verkehrslärm kann man sowieso nicht hören, ob einem das Herz bricht. In Caracas gibt's mindestens zwölfhundert Milliarden Menschen und Autobahnen, Brücken und Wolkenkratzer. Alle tragen Schlaghosen und kniehohe Stiefel (ich glaube, ein paar von denen haben deine alten Kleiderschränke geplündert!), und ganze Schiffsladungen von reichen Gringos pumpen unser Öl aus der Erde. Man muss also sagen, dass sich einiges verändert hat. Ich konnte nicht mal den Hügel finden, wo ich aufgewachsen bin, wenn man das aufwachsen nennen kann. Als ich mit dem Taxi vom Flughafen Simon Bolivar hierher fuhr, machte der Fahrer einen Umweg durch das Catia-Barrio, um uns von der Last unseres Gepäcks zu befreien. Irgendwie fiel mir der hiesige Slang wieder ein, und ich sagte zu ihm: Wenn du nicht sofort umkehrst, esse ich deine Eier zum Frühstück, du hässlicher Schwanzlutscher. Ah, diese Wortgewalt. Um ein Haar wäre er gegen einen Laternenpfahl geknallt. Als wir -375-
angekommen waren, wollte er kein Geld haben, aber ich habe ihm ein riesiges Trinkgeld gegeben, und so genieße ich jetzt einen gewissen Ruf, für den Fall, dass mein jugendliches Alter nicht genügt. Versuch nicht, Victor aufs Kreuz zu legen, denn das kann er besser, und zwar in jeder Hinsicht! Aaron hat in der ersten Nacht etwas Schreckliches getan. Er hat alle meine Lucky Strikes vom Balkon geworfen, und die kleinen Jungs unten im Paseo (sie kommen allesamt aus den Blechhütten in den Ranchos) sind schier ausgeflippt. Sie haben sich jeder ein Päckchen in den Ärmel ihrer T-Shirts geschoben, à la Brando. Ah, diese braunen Arme – ich fühlte mich zurückversetzt. Einer von diesen hübschen jungen Burschen (ach, wie hübsch ich damals war!) ist ein versierter Taschendieb. Ich habe ihn am nächsten Tag kennen gelernt, als er kam, um nach Zigarettenstummeln zu suchen. Wir haben einen Deal gemacht: Er geht zum Hilton Caracas in der Avenida Libertador, wo all die Geschäftsleute absteigen, oder in das neue Kunstmuseum, in das die Touristen gehen, und dort klaut er Zigaretten für mich. Wenn er die richtige Marke erwischt, kriegt er einen Dollar extra. Er braucht nicht mal ein Messer, um die Taschen aufzuschlitzen, denn seine Fingernägel sind so lang und scharf, dass sie jeden Stoff zerschneiden. Schlaues Bürschchen. Manchmal frage ich mich, was ich jetzt sein würde – abgesehen von tot –, wenn ich hier geblieben wäre. Entschuldigung – ich muss mal eben meinen Kadaver zu dem Tisch da drüben schleppen und noch eine Tablette nehmen. Man lebt schließlich nur einmal. Ich mache Yoga. Ich mache Yoga, Rudi. Ich höre dich lachen. Bevor er ging, hat Aaron mir beigebracht zu meditieren. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich also -376-
gelernt, die Beine zu kreuzen. Am Anfang hab ich gedacht, ich breche in der Mitte durch wie eine schlechte venezolanische Brezel. Ich dachte immer, wenn Gott (dieser Langweiler) gewollt hätte, dass ich mit meinen Zehen spiele, hätte Er sie mir im Schritt befestigt, aber wie es aussieht, ist Er nicht so gütig. Aber das Yoga tut mir gut. Ich sage es mir immer wieder: Das ist gut, das ist gut, Victor, du bist kein komplettes Arschloch, mach deine Yoga-Übungen, mach deine Yoga-Übungen, du bist kein komplettes Arschloch – na ja, vielleicht ein ganz kleines. Bevor Aaron ging (das heißt, bevor ich ihn rausgeschmissen habe), sind wir jeden Tag früh aufgestanden und haben auf dem Balkon meditiert. Aaron fand es schade, dass der Balkon nicht nach Osten ging. Wir haben also vielleicht eine Stunde meditiert und dann gefrühstückt. Orangensaft, Croissants und Grapefruit – kein Wodka! Aaron war ein Müslifreak. Er hat andauernd versucht, mich dazu zu bringen, dass ich zunehme. Der Kühlschrank war voll mit mehrfach ungesättigter Margarine, eingelegtem Gemüse, Joghurt, Chutneys, Gurken, Erdnussbutter, Kokosnüssen, Schoko-Milkshakes mit jeder Menge Kalorien und so weiter. Er war groß und blond und unvergleichlich schön. Rudi, mein Freund, sein Schwanz war vielleicht kein Gedicht, aber seine Arsch-backen haben sich gereimt, das kann ich dir versichern. Er hat dich mal in Connecticut tanzen sehen und sagte, ich zitiere, du wärst elegant, provozierend und erhaben gewesen. Warum lieben alle Anglojungs diese lachhaften Wörter? Mein Arzt in der Park Avenue hat mir gesagt, dass Caracas mein Todesurteil sein würde: Darmerkrankungen, billige Medikamente, schlechte Krankenhäuser, Luftverschmutzung und so weiter und so fort. -377-
Aber ich bin jetzt seit fünf Monaten hier, und es geht mir immer besser. Ich fahre eine halbe Stunde mit dem Taxi und bin am Meer. Ich liege im Liegestuhl am Strand und meditiere und stelle mir meine Zellen vor, und dann mache ich peng, peng, ihr kleinen Scheißer, peng, peng, und ich stelle mir vor, dass sie diese Arschgesichter von Türstehern sind, die mich am Ende nicht umsonst ins Paradise Garage lassen wollten, peng peng, ihr seid platt, peng, peng, ihr solltet im Saints arbeiten, peng, peng, seht euch bloß mal an, was für hässliche Schuhe ihr anhabt, peng peng, du hast Scheiße an den Lippen. Und dann mache ich die Augen auf, und da ist das blaue (bläuliche) Meer, das seine Wellen auf den goldenen (gelblichen) Sand wirft. Wie schön. Dann beschimpfe ich meine Leiden und sage ihnen, dass sie in der Hölle schmoren sollen. Ich bin ein zweiundvierzigjähriger Mann, der Spielchen in seinem Kopf spielt. Warum nicht – schließlich hat auch das Leben seine Spielchen mit mir gespielt. Heute Morgen bin ich, bevor es anfing zu regnen, losgegangen, um mir eine Decke zu kaufen, und dabei hab ich eine Mestizin gesehen, die meiner Mutter ähnlicher sah als irgendeine andere Frau auf der Welt. Vielleicht stimmt es, was du sagst, und jeder von uns hat einen Doppelgänger. Ich bin nach Hause gegangen, hab mich auf dem Sessel zusammengekuschelt, bin eingeschlafen und hab geträumt. Mir fehlen New York und all die Clubs und Leute und so, vor allem die Lower East Side – sie war so ekelhaft, so wunderbar. Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich nicht genug zu bereuen habe. Zum Beispiel, dass ich mich nicht von den Müllmännern verabschiedet habe. Ich hätte zu gern ihre Gesichter gesehen, als sie meine Möbel auf dem Bürgersteig fanden. Sie haben bestimmt -378-
Arien gesungen. Oh, dieser herrliche gelbe Diwan! Du liebe Zeit, was für ein hübscher Penisring! Herrje, sieh dir diesen wahnsinnigen Dildo an! Mein Leben kommt mir wie eine Aneinanderreihung von Zimmern vor (die meisten sind kleine Schachteln), und jetzt sitze ich in diesem hier mehr oder weniger fest, denn wenn ich hinausgehe auf die Straßen von Caracas, kriege ich höchstwahrscheinlich einen Einlauf verpasst, aber nicht auf die geile Art. Ach, Rudi, diese Medizin macht mich müde. Wenn es aufgehört hat zu regnen, werde ich mal vor die Tür gehen. Vielleicht auch schon vorher, damit ich den Regen auf dem Gesicht spüren kann. Ich glaube, ich habe nicht so viel Angst vor dem Sterben, Rudi – ich frage mich vielmehr, was wohl passiert wäre, wenn ich mein Leben in Zeitlupe gelebt hätte. Haha! Eine Dexedrin, zwei Dexedrin, drei Dexedrin, k. o. In Liebe, Victor PS: Ich habe gehört, dass es einen Hengst namens Nurejew gibt, der in Rennkreisen für Furore sorgt. Stimmt das? Ha. Ich wette, er ist ausgestattet wie ein Russe! Viele Küsse! Wir landeten mit Verspätung, und Monsieur war äußerst wütend. Er stürmte aus der Gepäckausgabe. Wir gingen an einer Reihe von Wachen mit kugelsicheren Westen vorbei und stiegen in ein Taxi. Monsieur verhandelte in ge-379-
brochenem Spanisch mit dem Fahrer. Die Nachmittagshitze war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Grüne Berge ragten in der Ferne auf, doch über der Stadt hing Smog. Ich musste immer an den armen Tom denken, der allein zu Hause in London saß. Der Fahrer fuhr Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen. Schließlich erreichten wir das Viertel mit Häusern aus der Kolonialzeit und blieben in einem Stau stecken. Rechts und links standen weiße Backsteinhäuser, zwischen deren Fenstern Wäsche aufgehängt war. Auf der Straße waren alte Männer in kragenlosen Hemden. Vor den Wagen spielten Kinder, die wegrannten, sobald der Verkehr sich wieder in Bewegung setzte. Monsieur fiel eine Frau an einem Blumenstand ins Auge, und er sprang aus dem Taxi, um Blumen zu kaufen. Sie trug ein rotgelbes Kleid. Monsieur gab ihr zehn Dollar und küsste sie auf beide Wangen, und als wir weiterfuhren, sah sie mich an, als wollte sie mich, die ich neben Monsieur auf dem Rücksitz des Taxis saß, bitten, mein Leben leben zu dürfen. Von mir aus hätte sie es haben können. Monsieur merkte, dass ich nicht glücklich war, ihn begleiten zu müssen. Es fiel mir sehr schwer, mich von Tom zu trennen, aber Monsieur hatte mich inständig gebeten, mitzukommen, und sei es nur für ein, zwei Wochen. Wir brauchen Champagner, sagte Monsieur, während das Taxi vorankroch. Der Fahrer drehte sich um und grinste. Mit einer Reihe komplizierter Gesten teilte er uns mit, er kenne ein ausgezeichnetes Geschäft und werde uns mit Freuden Champagner besorgen. Er bog in eine enge Gasse ab und hielt vor einem Laden. Monsieur gab ihm Geld, und wenige Augenblicke später kam er mit zwei großen Flaschen zurück. Es dunkelte langsam, doch die Hitze war -380-
noch immer sehr groß und machte mich schläfrig, ganz abgesehen davon, dass der Flug lang und anstrengend gewesen war. Ich hatte gehört, dass Monsieur in der ersten Klasse ein Theater veranstaltet hatte, doch jetzt legte er seine Hand auf meine, dankte mir noch einmal, dass ich ihn auf dieser Reise begleitete, und entschuldigte sich, weil es ihm nicht gelungen war, für mich einen Platz neben ihm in der ersten Klasse zu bekommen. Was würde ich ohne Sie nur machen, Odile?, sagte er. Vor dem Haus gab Monsieur dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, ging dann durch die Einfahrt und zog an der Klingelschnur. Das Schrillen zerschnitt die Stille, doch weiter geschah nichts. Monsieur hämmerte mit der Faust an die hohe Holztür. Er schwitzte, und unter seinen Armen waren zwei dunkle Ovale. Er stieß einige Flüche aus und sagte: Ich hätte ihm schreiben sollen, dass ich komme. Wir hatten einen Füller, aber kein Papier. Monsieur fuhr mit dem Fingernagel unter das Etikett der Champagnerflasche. Alter Trick, sagte er. Er zog das Etikett von der Flasche. Es riss in der Mitte durch. Er lehnte sich an die Hauswand, seufzte und schrieb: Victor, ich suche mir jetzt ein Hotel und komme dann noch einmal. Rudi. Ich faltete das Etikett zusammen, bückte mich und schob es unter der Tür durch. Dann richtete ich mich auf und strich mein Kleid glatt, das mir an einigen Stellen am Körper klebte. Unvermittelt kam aus dem Haus laute Musik. Es war, als wäre es mit einem Ruck zum Leben erwacht. Ich ging zum Tor und rief nach Monsieur, der bereits ein Stück die Straße hinuntergelaufen war. Hinter mir wurde die Tür geöffnet. Dort stand eine kleine Gestalt in einem seidenen Morgenrock. Das Gesicht des Mannes war abgezehrt, auf den -381-
Ohren hatte er Kopfhörer, und das geringelte Kabel hing bis zu seinen Knien. Er hatte wohl den Kabelstecker aus der Stereoanlage gezogen, als ich den Zettel unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Mister Pareci?, fragte ich. Er sah mit zusammengekniffenen Augen auf das zerrissene Champagneretikett. Ich hatte ihn schon oft gesehen, aber er war so verändert. Mister Pareci?, fragte ich noch einmal. In riesigen gelben Slippern schlurfte er über die Schwelle, stützte sich am Türrahmen ab, hustete und sah die Straße hinunter. Mein Gott – Rudi, sagte er. Schwankend verschwand er wieder im Haus, während ich Monsieur winkte, er solle zurückkommen. Anfangs schien er verärgert, doch dann schob er sich an mir vorbei ins Haus. Victor!, rief er. Victor! Drinnen herrschte ein grauenvolles Durcheinander. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut. Auf dem Sofa standen halb leer gegessene Teller. Durch die verschossenen blauen Vorhänge sickerte etwas Licht. Ein Deckenventilator drehte sich. Die Spiegel hatten verzierte Rahmen, waren aber gesprungen. Schallplatten lagen auf dem Boden herum, und Monsieur stellte die Stereoanlage leiser. Victor!, rief er noch einmal. Am Videorecorder blinkte ein rotes Licht, und auf dem Bildschirm war ein Standbild aus einem Pornofilm. Ich schaltete den Apparat aus. Wie siehst du denn aus?, rief Monsieur. Auf dem oberen Treppenabsatz versuchte Victor, in eine -382-
Hose zu steigen. Er hatte den Morgenmantel abgelegt und ein knallrotes Hemd angezogen, es aber nicht zugeknöpft. Seine Brust war eingefallen und seine Haut bleich. Als er mit einem Fuß in ein Hosenbein fuhr, musste er husten und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, konnte sich jedoch gerade noch mit der Hand am Treppengeländer abstützen. Sein Anblick erfüllte mich mit Trauer, allerdings nicht genug, um meine Meinung über ihn zu ändern – ich hatte ihn viel zu oft den Spaßmacher spielen sehen. Monsieur sprang die Stufen hinauf und küsste Victor auf beide Wangen. Der stieß eine Reihe wilder Obszönitäten aus und sagte: Wo hast du die Blumen geklaut, Rudi? Und wo hast du gesteckt? Du musst mir alles haarklein erzählen! Er klang glücklich und müde zugleich, als versuchte seine Freude, mit seiner Erschöpfung Schritt zu halten. Arm in Arm kamen sie die Treppe herunter. Du erinnerst dich an Odile?, sagte Monsieur. Natürlich, sagte Victor. War ich nicht bei Ihrer Hochzeit? Ja. Oh, es tut mir Leid, es tut mir Leid. Bei der Hochzeitsfeier hatte es auf der Toilette einen Streit zwischen ihm und einem von Toms Kollegen gegeben. Es ist alles vergeben und vergessen, Mr. Pareci. Ich hab ihm bloß gesagt, seine Schuhe seien ihm wohl eine Nummer zu groß, sagte Victor. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Er ließ den Kopf hängen wie ein unartiger Junge und wartete auf meine Antwort. -383-
Mr. Pareci … Nein, nennen Sie mich bitte nicht so. Ich komme mir vor wie ein alter Blödmann. Victor, sagte ich, es ist alles vergeben und vergessen. Er küsste mir die Hand. Ich sagte ihm, ich wolle mich ein wenig um ihn kümmern, damit er wieder genesen könne, während Monsieur eine Haushälterin aus dem Viertel suchen werde, die meine Stelle einnehmen könne. Ich erklärte, dass ich nicht für immer in Caracas bleiben wolle. Er errötete vor Scham, und ich verfluchte mich für meine Unverblümtheit. Er knöpfte das rote Hemd zu. Es hätten noch zwei Victors hineingepasst. Dann zog er wieder die gelben Slipper an, ging zu einem Sessel im Wohnzimmer und ließ sich keuchend hineinsinken. Er zündete sich eine lange, dünne Zigarette an und blies den Rauch an die Decke, während ich mich in die Küche begab. Rudi, rief er, komm und nimm mich in die Arme. Als wollte er mich nicht ausschließen, fügte er hinzu: Sie müssen wissen, Odile, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der Rudi herumkommandieren kann! Ich begann abzuwaschen, die Champagnergläser zuerst. Es gab kein Spülmittel. Victor besaß weder einen Spülschwamm noch einen Scheuerlappen oder irgendwelche Putzmittel. Ich machte in Gedanken einen Vermerk über all die Dinge, die ich würde kaufen müssen. Ich wusch die Gläser aus und stellte sie zusammen mit der Champagnerflasche auf ein Tablett, das ich den beiden brachte. Ach, ich bin so verliebt in Sie!, rief Victor. Monsieur öffnete die Flasche, und ich schenkte ein. Heiraten Sie mich auf der Stelle, Odile! -384-
Auf der Suche nach klassischer Musik begann Monsieur in den Platten zu kramen, die auf dem Boden lagen. Er sah auf und sagte: Victor, du bist ein Banause. Ich stehe in letzter Zeit auf Salsa. Salsa? Victor begann zu tanzen, doch er geriet schnell außer Atem und musste sich wieder setzen. Vielleicht solltest du nicht so viel Champagner trinken, sagte Monsieur. Ach, sei still!, sagte Victor. Ich hab bloß eine Erkältung. Eine Erkältung? Ja, eine Erkältung. Sag mir, Rudi, wirst du den Rest deines Lebens hier bei mir verbringen? Ich werde Freitag in São Paulo tanzen. Odile wird hier bleiben, bis ich eine Frau aus der Nachbarschaft gefunden habe. In São Paulo? Ja. Nimm mich mit. Du solltest dich lieber ausruhen, Victor. Immer schön langsam. Ausruhen? Ja. Ich sterbe!, rief er. Wer will sich da ausruhen? Lass uns Champagner trinken! Um Himmels willen, lass mich das Etikett sehen. Ich wette, es ist Pisse! Er kauft immer Pisse, Odile. Er ist der reichste Geizhals der Welt. Monsieur verdeckte das abgerissene Etikett mit der Hand. Victor erhob sich unsicher und suchte die Hälfte des Etiketts, auf die Monsieur seine Nachricht geschrieben hatte. Schließlich fand er sie in der Tasche seines Morgenrocks und seufzte theatralisch. Er leckte die Rückseite an -385-
und klebte das Stück Papier über sein Herz. Du warst schon immer so geizig!, sagte Victor. Ich drehte den Wasserhahn auf, um die Stimmen zu übertönen, spülte die restlichen Gläser ab und hielt sie gegen das schwindende Sonnenlicht. Wieder musste ich an Tom denken. Er war jetzt sicher zu Hause, saß vor dem Fernseher und reparierte Schuhe. Er fehlte mir schon jetzt. Hinten im Innenhof erbebten die langen Blätter der Pflanzen in der leichten Brise. Red keinen Scheiß, hörte ich Victor rufen. Du bist doch nicht gekommen, um Scheiß zu reden, oder? Sag mir, Rudi: Bist du verliebt? Ich bin immer verliebt. Die Liebe liebt mich, sagte Victor mit einer Stimme, die eigenartig große Ähnlichkeit mit der von Monsieur hatte. Sie lachten. Die Flasche leerte sich rasch. Victor hielt sie hoch und musterte abermals das Etikett. Es ist Katzenpisse, sagte er mit gekünsteltem französischem Akzent. Sie melken die streunenden Katzen auf dem Boulevard St. Michel und ziehen die Pisse auf Flaschen. Victor stellte die südamerikanische Musik wieder an, und die beiden tanzten kurz, während ich fortfuhr zu putzen. Die Dämmerung war hereingebrochen, und die kühle Abendbrise brachte ein wenig Erleichterung. Victor ruhte sich von der Anstrengung aus, und als ich das Gröbste erledigt hatte, entschuldigte ich mich und ging zu Bett. Am nächsten Morgen war ich sehr verwundert, dass Monsieur auf dem Wohnzimmersofa schlief, während Victor in einem Sessel neben ihm saß und ihm die Stirn mit einem weißen Tuch abwischte. Ich hatte gedacht, es -386-
würde umgekehrt sein. Wie es schien, hatte Monsieur Fieber. Doch als er aufwachte, nahm er ein paar Tabletten, und das Fieber verschwand. Er machte seine morgendlichen Dehn- und Streckübungen und sagte, er müsse einige Telefongespräche führen. Mach sie als R-Gespräche, sagte Victor. Monsieur hatte überall auf der Welt Freunde, auch in Caracas, und ich war mir sicher, dass er innerhalb weniger Tage eine Haushälterin gefunden haben würde. Diese Überzeugung ließ das Haus etwas heller erscheinen. In der Küche fand ich genug Lebensmittel, um ein Frühstück mit Obst und Toast zu machen. Nach dem Frühstück verkündete Monsieur jedoch, dass er und Victor einen Tagesausflug zum Strand unternehmen würden. Abends würden sie dann nach São Paulo fliegen. Sorgen Sie bitte dafür, dass unser Gepäck bereitsteht, sagte er. Zu meiner Überraschung bemerkte Victor meine Traurigkeit. Er legte mir den Arm um die Schultern und war so freundlich, eine kleine Karte anzufertigen, auf der die verschiedenen Marktplätze der Stadt sowie eine Apotheke eingezeichnet waren, wo ich Tabletten gegen Migräne kaufen konnte, denn meine eigenen hatte ich vergessen. Er schärfte mir ein, nicht zu viel Geld mitzunehmen, wenn ich auf die Straße ging. Dann erzählte er mir von einem kriminellen Halbwüchsigen mit langen Fingernägeln. Als sie gegangen waren, wusch ich die Bettlaken und hängte sie zum Trocknen auf die Zweige des Granatapfelbaumes im Hof. Drei Tage später waren sie zurück. Monsieur wirkte sehr müde und ganz verändert. Er sagte, wir würden noch eine -387-
Woche in Caracas bleiben, bis in Hinblick auf Victor alles geregelt sei. Der Gedanke daran, eine weitere Woche hier zu verbringen, bedrückte mich sehr, doch Monsieur sagte, er brauche wirklich meine Hilfe. Ich fuhr also fort zu putzen und zu kochen. Nachmittags, wenn Victor schlief, wurde Monsieur von einem Wagen abgeholt und zum Opernhaus gebracht, da er mit den Tänzern des dortigen Ensembles arbeiten wollte. Jeden Abend brachte er Ballettschüler und -schülerinnen mit. Man saß im Wohnzimmer, plauderte und lachte. Victor war froh über die Gesellschaft. Besonderen Gefallen fand er an einem Tänzer namens Davida, einem sehr dunklen und gut aussehenden jungen Mann. Sie unternahmen gemeinsame Abendspaziergänge. Später, wenn Monsieur zu Bett gegangen war, machten Victor und Davida es sich auf dem Sofa bequem und sahen sich Videofilme an. (Die Filme waren schockierend, und wenn ich am Fernseher vorbeikam, setzte ich ein strenges Gesicht auf. Ich muss allerdings gestehen, dass ich hin und wieder einen Blick riskierte.) Die Zeit verging schnell, und dass ich so weit von Tom entfernt war, belastete mich nicht so sehr, wie ich gedacht hatte. Gegen Ende der zweiten Woche, kurz vor unserer geplanten Heimreise, waren wir drei – Monsieur, Victor und ich – allein im Haus. Monsieur hatte noch immer keine Haushälterin gefunden, und der Gedanke, er könnte sein Versprechen vergessen haben, machte mich nervös. Ich begann, das Undenkbare zu denken: dass ich vielleicht gezwungen sein würde zu kündigen. Als ich zu Bett ging, hatte ich eine schreckliche Migräne. Am Abend darauf kochte ich ein einheimisches Gericht – Empanadas –, und Victor machte mich mit den Feinheiten der Zubereitung vertraut und sagte mir, wie ich -388-
das Maismehl braten und die Bohnen würzen musste. Er hatte seine zahlreichen Medikamente genommen, saß mitten im Wohnzimmer und gab seine Anweisungen aus der Entfernung. Obwohl seine Krankheit offensichtlich an ihm zehrte, war er recht munter, denn er hatte den ganzen Nachmittag geschlafen. Nach dem Essen tranken die beiden Männer Wein und erzählten einander alle möglichen Geschichten, doch Monsieur erschien mir mehr nach innen gekehrt als sonst. Ich hatte bemerkt, dass seine Medikamente beinahe aufgebraucht waren – eine andere Erklärung hatte ich nicht für die Wolke, die sich über ihn gesenkt zu haben schien. Er stand am Fenster, dehnte und streckte sich und legte den Kopf auf das Knie; er nahm den Fuß von Fensterbrett und schob die Hände zwischen Rippen und Ellbogen. Dann erzählte er, wie er vor langer Zeit einen Brief von einer Freundin aus Russland bekommen hatte. Die Geschichte war lang und verwickelt, und während Monsieur sprach, sah er aus dem Fenster. Victor unterbrach ihn. Du liebst doch jetzt nicht etwa Frauen, Rudi? Natürlich nicht. Das hätte mich auch sehr enttäuscht! Victor schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Er hustete und sagte: Ach, diese Erkältung. Bis ich die los bin, ist es mindestens August. Darf ich jetzt weitererzählen?, fragte Monsieur. Ja, bitte, erzähl weiter, bitte, bitte. Dann ist er gestorben. Wer ist gestorben? Ihr Vater. Oh, nein, nicht schon wieder eine Geschichte über den -389-
Tod!, sagte Victor. Warte, sagte Monsieur, und seine Stimme klang belegt. Als er starb, trug er seinen Hut. Wer trug einen Hut? Sergej! Er trug immer einen Hut, aber nie in geschlossenen Räumen. In Russland ist das unhöflich. Aha. Und die Russen sind nicht unhöflich? Du hörst mir gar nicht zu. Doch, natürlich höre ich dir zu. Dann lass mich die Geschichte erzählen! Die Bühne gehört dir, sagte Victor und warf Monsieur eine Kusshand zu. Also, sagte Monsieur, er trug einen Hut, weil er glaubte, er würde seine Frau wiedersehen. Ich denke, die war tot. Im Jenseits. O Gott, sagte Victor, im Jenseits. Man fand ihn in seinem Haus, den Hut auf dem Kopf. Er hatte einen Brief an seine Tochter geschrieben. Darin bat er sie, mich zu grüßen. Aber darum geht es nicht. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um etwas anderes. Denn das Letzte, was er geschrieben hatte … Ja?, sagte Victor. Was hatte er geschrieben? Monsieur musste mehrere Anläufe nehmen, dann sagte er: Der Sinn der Einsamkeit, die wir in diesem Leben erfahren, offenbart sich erst, wenn wir nicht mehr einsam sind. Was soll denn das für ein Scheiß sein?, sagte Victor. Das ist kein Scheiß, sagte Monsieur. Natürlich ist es Scheiß, sagte Victor. -390-
Sie schwiegen, und dann ließ Victor den Kopf sinken. Er war wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen ist. Er griff nach einem neuen Zigarettenpäckchen, und als er es aufriss, zitterten seine Hände. Er zog eine Zigarette heraus, holte das Feuerzeug aus der Hemdtasche und steckte sie an. Warum erzählst du mir diese Geschichte?, fragte er. Monsieur gab keine Antwort. Warum erzählst du mir diese Geschichte, Rudi? Victor fluchte, aber im selben Augenblick kniete Monsieur bei Victors Sessel nieder. Ich hatte ihn noch nie vor jemandem knien sehen. Er legte die Arme um Victors Knie und ließ den Kopf auf die Armbeuge sinken. Victor sagte nichts. Er strich mit der Hand über Monsieurs Nacken. Ich hörte ein ersticktes Seufzen und war sicher, dass Monsieur weinte. Victor sah auf Monsieurs Kopf und machte eine Bemerkung über eine kahle Stelle, doch Monsieur reagierte nicht, und Victors Hand drückte fester auf seinen Nacken. Victor schien eingefallen zu sein, dass ich noch in der Küche war, denn er hob den Kopf und sah mich an. Ich schloss die Tür, damit sie ungestört waren. Noch nie hatte ich Monsieur so weinen hören. Das Geräusch ließ meine Hände zittern. Ich ging in den Hof, wo Monsieurs Trikot auf der Wäscheleine trocknete. Ich konnte die Silhouetten der beiden erkennen. Sie hatten die Arme umeinander gelegt und sahen aus, als wären sie eine einzige Person. Am nächsten Morgen war der Himmel blau und frei von Smog. Ich putzte gründlich und bat Davida, den jungen Tänzer, zu kommen. Als er vor der Tür stand, trug er ein Paar Clogs und begrüßte mich mit einem Kuss. Sein Haar war ordentlich zurückgekämmt. Er schien ein anständiger Mensch zu sein, also nahm ich ihn beiseite. -391-
Würden Sie sich um ihn kümmern?, fragte ich ihn. Ich habe einen Cousin, der Arzt ist, sagte er. Nein, ich meine, dass Sie sich um ihn kümmern sollten. Wer wird mich dafür bezahlen? Monsieur wird Sie bezahlen, sagte ich. In den nächsten beiden Tagen kochte ich für eine Woche im Voraus und stellte die Speisen in den kleinen Kühlschrank. Alles war in Ordnung. Monsieur hatte versprochen, Davida zu bezahlen und ihn in einigen Jahren an die Pariser Oper zu holen, damit er Unterricht bekam und sein Talent entwickeln konnte. Das alles hielten wir vor Victor geheim, aber ich hatte das Gefühl, dass er wusste, was wir vorhatten. Er ging mit aufgesetztem Kopfhörer im Haus umher – das Kabel baumelte an ihm herunter. Am letzten Morgen packte ich Monsieurs Tasche und bestellte ein Taxi, das uns zum Flughafen bringen sollte. Wir saßen lange da und warteten auf das Taxi. Victor sprach viel über das Wetter und sagte, es sei ein herrlicher Tag, um an den Strand zu fahren. Er könne es gar nicht erwarten, die neue, enge Badehose anzuziehen, die er in São Paulo gekauft habe. Es wird aussehen, als würde ich Trauben schmuggeln, sagte er und lachte leise. Als das Taxi vorgefahren war, schüttelten Monsieur und Victor sich die Hand und umarmten einander in der Tür. Monsieur ging zur Einfahrt, und Victor griff in die Tasche seines Morgenmantels. Ich hörte das Klicken des Feuerzeugs. Monsieur drehte sich um. Du solltest damit aufhören, sagte er. Womit aufhören? Mit dem Rauchen, du Arsch. -392-
Damit?, fragte Victor, zog an der Zigarette und blies eine große Rauchwolke in die Luft. Ja. Ach was, sagte Victor, ich bin mit meinem Husten noch nicht so recht zufrieden.
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4 London, Brighton, 1991 Mäßiges Einrollen des rechten Fußes bei tiefem Plié, links schwer. Leichter Tibio Talor und Sub-Talor rechts, links schwer. Linkslaterales Abkippen der Hüfte. Lumbaler Bogen, Kopf neigt sich nach vorn. Am tiefsten Punkt des Pliés ist die Linie nicht mehr erkennbar. Verräterisch die weißen Knöchel an der Barre. Nach dem zwölften Plié hat er den Schmerz überwunden. Bei Untersuchung schwere Verspannung und Kontraktion im linken Quadriceps, rechts geringer. Akuter Meniskusverschleiß. Arbeit mit Arnica zur Bekämpfung der Entzündung. Friktion gegen die Faserrichtung und mindestens zwanzig Minuten Bindegewebsmassage. Quadriceps-Dehnung, um Beugung zu fördern. Rollen und Walzen, Hüftextension, Rumpfdrehen, Schulterblatt strecken usw. Bandage zwischen Probe und Auftritt. Achter-Verband mit Kreuz an der Seite, um das linke Knie zu strecken. Ich hatte keine Ahnung, mit wem ich darüber hätte sprechen können. Mir fiel absolut niemand ein, der es vielleicht verstanden hätte. Seit ich in Monsieurs Wohnung in London gezogen war, hatte ich nicht viele Menschen kennen gelernt. Ich hatte Tom gehabt, doch jetzt war er fort. Es kam aus heiterem Himmel, es war wie einer dieser Regenschauer im Winter, die einen bis auf die Knochen durchfrieren lassen. Eben war noch alles in Ordnung, und im nächsten Augenblick verliert man den Boden unter den Füßen. Ich sah mich um und erkannte nicht einmal die -394-
einfachsten Gegenstände: den Herd, die Uhr, die kleine Porzellanvase, die Tom mir geschenkt hatte. Er hatte mir einen Brief hinterlassen, in dem er mir seine Handlungsweise erklärte, aber ich brachte es nicht über mich, mehr als die ersten beiden Zeilen zu lesen. Er schien noch immer da zu sein – als brauchte ich mich nur umzudrehen, um ihn zu sehen, wie er im Sessel saß und die Zeitung las, in der Socke schon wieder ein Loch. Doch er hatte sein Werkzeug und einen Koffer mitgenommen. Ich weinte stundenlang. Es war, als hätte er mein ganzes Leben ohne Abendessen zu Bett geschickt. Als ich noch in Voutenay zur Schule ging, nannte man mich Petit Oiseau. Ich war zierlich und dünn, und die Erwachsenen machten immer Bemerkungen über meine Hakennase. Ich saß meist in der Küche und sah meiner Mutter beim Kochen zu; wir suchten beide Zuflucht in der Schlichtheit der Rezepte und der Zubereitung der Mahlzeiten. Aber hier gab es niemanden, für den ich hätte sorgen können. Monsieur war auf Reisen, nicht einmal der Gärtner war da. In unserer Dienstbotenwohnung hatte Tom neben seiner Seite des Betts eine Schatulle gehabt. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, in Rente zu gehen, und ein letztes Paar Schuhe für Monsieur angefertigt. Für die Schatulle hatte er Mahagoniholz verwendet; auf der Vorderseite hatte er ein noch nicht graviertes Messingschild angebracht. Ich öffnete das Kästchen, nahm die Schuhe heraus und zerschnitt sie sorgsam mit einer Schere. Der Satinstoff leistete keinen Widerstand. Danach legte ich die Stücke wieder in die Schatulle. Ich wusste, dass ich nicht ganz bei mir war, aber das war mir gleichgültig. Monsieur bewahrte stets Geld in der untersten Schublade des Schranks im Schlafzimmer auf. Er gab es Besuchern, die kein Geld hatten und mit dem Taxi heimfahren -395-
wollten. Ich legte einen Zettel in die Schublade, auf dem ich erklärte, ich hätte einen Vorschuss auf meinen Lohn genommen. Meine Hände zitterten. Ich wählte die übliche Telefonnummer, bestellte ein Taxi und überprüfte, ob alle Lichter im Haus gelöscht, die Fenster geschlossen und sämtliche Geräte ausgeschaltet waren. Kurz darauf ertönte auf der Straße eine Hupe. Ich nahm Toms Schatulle, aktivierte die Alarmanlage und ging hinaus. Ich erkannte den Fahrer wieder, er trug einen Ohrring und hatte einen Spitzbart. Er kurbelte sein Fenster herunter und sagte: Na, wer ist denn heute das Opfer? Er war etwas erstaunt, als ich die Wagentür öffnete, mich allein auf den Rücksitz setzte und die Mahagonischatulle auf den Boden stellte. Ich hatte Monsieurs Gäste oft bis zum Taxi begleitet, aber nur selten selbst eins genommen. Der Fahrer verstellte den Innenspiegel, musterte mich, drehte sich dann um und schob die Trennscheibe hinunter. Zum Covent Garden, sagte ich. Alles in Ordnung? Aus der Handtasche zog ich ein Taschentuch mit Monsieurs Initialen. Ich tupfte mir die Augen ab und sagte dem Fahrer, es gehe mir gut, ich müsse nur so schnell wie möglich zum Covent Garden. Kein Problem, sagte er. Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich rutschte in die andere Ecke, wo er mich nicht sehen konnte. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber der Gedanke, vor den Augen des Fahrers zu weinen, war mir einfach unerträglich. Er fuhr schnell, und doch kam mir die Fahrt endlos vor. Es war Sommer. Auf den Straßen trugen die Frauen Miniröcke, und junge Männer stellten ihre Tätowierungen zur -396-
Schau. Das Taxi wechselte ständig die Spur. Hinter uns hupten die wütenden Fahrer der Wagen, die wir geschnitten hatten. Ein Motorradfahrer trat sogar gegen unsere Tür. Als wir am Covent Garden angekommen waren, zeigte das Taxameter einen zweistelligen Betrag an. Ich hatte mich wieder so weit gefasst, dass ich den Fahrer bat, vor der Schuhfabrik zu warten. Er zuckte die Schultern. Ich stieg aus und wollte hineingehen, aber der Gedanke daran, Tom gegenüberzustehen, ließ meine Knie zittern. So hatte ich mich seit meinem Schulabschlussball in Paris nicht gefühlt. Was war nur aus mir geworden? Ich war sechzig und hatte eben das Geschenk meines Mannes für Monsieur in Stücke geschnitten. Das alles, dachte ich, ist bestimmt nur ein schrecklicher Traum. Ich hörte eine Sirene jaulen, und als ich mich umdrehte, sah ich einen Polizeiwagen. Die Beamten machten dem Taxifahrer Zeichen, er solle weiterfahren. Er gestikulierte in meine Richtung. Alles geschah viel zu schnell. Ich ging am Gebäude entlang zu Toms Fenster, stellte die Schatulle, ohne einen Blick in seine Werkstatt zu werfen, auf das Sims, kehrte um und stieg wieder in das Taxi. Nach Brighton, sagte ich zu dem Fahrer. Ich sah die Verblüffung auf seinem Gesicht. Brighton?, fragte er. Hinter uns ertönte schon wieder die Polizeisirene. Ja, nach Brighton. Sie machen Witze. Er fuhr langsam die Straße entlang. Ich bringe Sie zur Victoria Station, dann können Sie den Zug nehmen. -397-
Ich griff in meine Handtasche und reichte ihm hundertfünfzig Pfund. Der Fahrer pfiff leise und strich über seinen Spitzbart. Ich legte noch fünfzig Pfund drauf. Er hielt am Straßenrand. Ich hatte noch nie so viel Geld so unbedenklich ausgegeben. Sie wollen mal einen draufmachen, was?, fragte er Bitte, sagte ich mit meiner strengsten Stimme. Er drehte sich wieder um, sprach in das Funkgerät und meldete sich bei seiner Zentrale ab, und eine Viertelstunde später waren wir auf der Schnellstraße. Ich kurbelte das Fenster herunter und fühlte mich unerklärlich ruhig. Das Sausen des Fahrtwinds übertönte das Cricketspiel im Radio. Es war, als wäre ich leichtsinnig in einen Tag getreten, der nicht für mich bestimmt war und bald vorüber sein würde. An der Promenade in Brighton hingen Plakate von Monsieur an allen Laternenpfählen. Auf dem Foto sah er jung aus. Er hatte langes Haar und ein freches Grinsen. Ich wäre am liebsten zu einem der Plakate gegangen und hätte ihn umarmt. Eine junge Frau mit einem Tacker befestigte einige Plakate, die heruntergerutscht waren. Es war Monsieurs letzte Vorstellung in England, und es hieß, es werde seine letzte überhaupt sein. Ich hatte den Fahrer gebeten, mich zu einem netten Bedand-Breakfast mit Blick auf das Meer zu bringen. Er hielt vor einem viktorianischen Haus und fragte mich, ob er hineingehen und sich erkundigen solle, ob ein Zimmer frei sei. Es freute mich, dass noch nicht alle jungen Engländer ihre Manieren verloren hatten. Als er zum Taxi zurückkehrte, lächelte er, und nachdem er meine Hand genommen und mir aus dem Wagen geholfen hatte, wollte er mir einen Teil des Geldes zurückgeben. Sie haben zu viel bezahlt. -398-
Sogar ich selbst war überrascht, als ich ihm noch einen Zwanzig-Pfund-Schein in die Hand drückte. Wenn das so ist, lade ich meine Frau heute Abend zum Essen ein. Beim Wegfahren hupte er. Es war nicht seine Schuld, dass ich in Tränen ausbrach. Das Zimmer war elegant und hatte ein großes Fenster zum Meer. Kinder planschten lachend in der Brandung, und in einem der Pavillons in der Ferne spielte eine Blaskapelle. Die kleinsten Kleinigkeiten erinnerten mich an Tom: das Doppelbett, die verzierte Vase, die Bemalung der Piers. Ich konnte mir das, was geschehen war, nicht erklären. Tom war in all den Jahren nicht sehr glücklich darüber gewesen, in Monsieurs Haus leben zu müssen, aber wir hatten unsere Wohnung nach seinem Geschmack eingerichtet, und er schien sich daran gewöhnt zu haben. Es hatte ihn nicht gestört, dass ich Monsieur einige Male ins Ausland begleitet hatte, und er hatte nicht einmal etwas dagegen gehabt, dass ich gelegentlich nach Paris hatte fahren müssen, um mich um Monsieur zu kümmern, ja er hatte sogar gesagt, es gefalle ihm ganz gut, allein zu sein – dann könne er sich besser seiner Arbeit widmen. Und wenn wir einander vielleicht auch nicht so nah waren wie andere Ehepaare, hatte es nie eine Zeit gegeben, in der ich an unserer innigen Zuneigung füreinander gezweifelt hätte. Ich stand in dem Zimmer. Das vielleicht einzig richtige Wort für meine Gefühle war: wund. Ich fühlte mich wund. Ich zog die Vorhänge zu, legte mich auf das Bett und weinte laut, obgleich das eigentlich nicht meine Art ist und ich andere Gäste auf dem Korridor hörte. Als ich erwachte, dachte ich nicht an Tom, sondern an die Plakate, die im Seewind flatterten. -399-
Monsieur würde erst am Abend des folgenden Tages in Othello auftreten. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn in seinem Hotel aufzusuchen, doch er hatte genug Probleme, und ich wollte ihn nicht auch noch mit meinen belasten. In letzter Zeit hatten mich die Zeitungsartikel über ihn wütend gemacht. Er hatte einen eingewachsenen Zehennagel und Schmerzen in den Knien, doch darüber schrieben die Zeitungen nie. Einmal hatte er Muskelkrämpfe in den Beinen bekommen, und einige Zuschauer hatten ihr Geld zurückverlangt. In Wembley hatte die Musik plötzlich aufgehört, und es hieß, Monsieur habe mitten in der Bewegung verharrt und darauf gewartet, dass das Orchester wieder einsetzte, doch es hatte gar kein Orchester gegeben: Die Musik war von einem Tonband gekommen. In Glasgow hatte am Bühnenausgang niemand auf ihn gewartet, und ein Fotograf hatte ein Bild aufgenommen, auf dem Monsieur einsam und niedergeschlagen wirkte, auch wenn das natürlich überhaupt nicht seinem Wesen entsprach. Einige seiner treuesten Bewunderer kamen nicht mehr zu den Aufführungen, doch die Vorstellungen waren noch immer ausverkauft und die Ovationen gewaltig, obgleich die Zeitungen behaupteten, der Beifall gelte eigentlich der Vergangenheit. Hinter Monsieurs Rücken machte man gemeine Bemerkungen – dabei war er so überragend wie eh und je. Am nächsten Morgen beschloss ich, allem zum Trotz das Beste aus diesem Tag zu machen. Ich frühstückte in einem Café an der Promenade. Der Kellner, ein junger Mann aus Burgund, machte eigens für mich einen besonders starken Café Creme. Er flüsterte mir zu, die Engländer hätten zwar geholfen, zwei Weltkriege zu gewinnen, doch von Kaffeebohnen hätten sie keine Ahnung. Ich lachte und gab ihm doppelt so viel Trinkgeld wie üblich. Mir schwindelte bei dem Gedanken daran, wie schnell mir das Geld durch -400-
die Finger rann. Dennoch kaufte ich mir einen Sonnenhut, mietete einen Liegestuhl, trug ihn zum Strand und setzte den Hut auf, um meine Augen zu verbergen. Gegen Mittag fiel mir eine Frau auf, die am Meer stand, ihren Rock gerafft hatte und die Füße von den Wellen umspülen ließ. Ihre Beine waren lang und schön. Sie ging weiter ins Wasser – es reichte ihr bis über die Knie. Dann beugte sie sich vor, strich ihr langes, schimmerndes Haar nach vorn und tauchte es kurz ins Meer. Dann bemerkte ich zu meiner großen Überraschung Monsieur in der Nähe der jungen Frau. Die Wellen rauschten auf ihn zu. Ich fragte mich, wer sie wohl sein mochte. Emilio saß im Schneidersitz am Strand und schaute den beiden zu. Ich erhob mich rasch und wollte gehen, doch Emilio sah mich und rief meinen Namen. Er stand auf, sein langer Pferdeschwanz schwang hin und her. Er küsste mich zur Begrüßung auf beide Wangen und sagte, wie sehr es ihn freue, dass ich in Brighton sei. Ach, ich wollte bloß Monsieurs Auftritt sehen, sagte ich. Schön, dass wenigstens eine das will, erwiderte er. In diesem Augenblick entdeckte mich Monsieur und winkte mich zu sich. Emilio sagte etwas über einen König, der seinen Höfling zu sich zitiert. Ich musste ein wenig lächeln. Emilio hatte schon so oft gekündigt, dass Monsieur einen zweiten Masseur in Bereitschaft hielt, der ihn in den Tagen zwischen Emilios Kündigungen und Wiedereinstellungen behandelte. Ich biss mir auf die Lippe und ging zum Wasser, wo Monsieur und die junge Frau standen. Darf ich Ihnen Marguerite vorstellen?, sagte er. -401-
Da wurde mir klar, dass die Frau eine von Monsieurs Partnerinnen war. Sie schob ihre Sonnenbrille in die Stirn und lächelte. Ich dachte daran, wie wunderbar es für sie sein musste, in so jungen Jahren mit Monsieur zu tanzen, dessen Laufbahn sich dem Ende zuneigte, doch dann überkam mich plötzlich ein Zorn, denn er hatte mich noch nicht einmal gefragt, warum ich eigentlich in Brighton sei. Odile wird dir bei deinem Problem helfen, hörte ich Monsieur sagen. Nein, nein, sagte die junge Tänzerin, mir wird schon etwas einfallen. In der Brandung spielten Kinder. Sie schöpften mit ihren Schuhen Wasser für Sandburgen und Gräben. Es macht Ihnen doch nichts aus, Odile, oder? Monsieur starrte mich an. Ich sagte, das Gleißen der Sonne habe mich abgelenkt. Er seufzte und sagte, das Problem sei ganz einfach: Marguerite habe einige Mitglieder ihrer Familie zu der Vorstellung am Abend eingeladen. Sie würden aus London anreisen, und ihre Schwester habe ein achtzehn Monate altes Kind und keinen Babysitter. Ich nickte und sagte: Ich verstehe. Na bitte, sagte Monsieur. Problem gelöst. Ich wurde rot, stammelte aber, es werde mir eine Ehre sein, ihr zu helfen. Um sechs, sagte Monsieur. Vor Jahren hatte einer meiner Onkel zu mir gesagt, wenn ich ein Vögelchen sei, dann immer eines mit einem gebrochenen Hügel. An jenem Abend hatte ich ein Essen für zwölf Personen gekocht, und ich will mich zwar nicht selbst loben, aber es schmeckte ausgezeichnet. Nur die für meinen Onkel bestimmte Portion hatte ich ein wenig -402-
abgeändert: Ich hatte sie kräftig nachgewürzt, und er verbrachte den Rest des Abends hustend und mit tränenden Augen. In diesem Augenblick hätte ich nur zu gern Monsieurs Essen verwürzt und irgendetwas gesagt, das ihn stotternd hätte zurückfahren lassen, doch er wirkte kränker als sonst. Wegen der Probleme mit den Füßen und seiner anderen Krankheiten hatte er Schmerzen beim Gehen, und der Gedanke, ihm vor seinem heutigen Auftritt noch weitere Schwierigkeiten zu bereiten, war mir unangenehm. Es wird mir eine Freude sein, sagte ich. Monsieur nickte und humpelte am Strand entlang davon. Die junge Tänzerin sah sich nach mir um, lächelte und bedankte sich stumm bei mir. Monsieur pfiff nach Emilio, der sich erhob und den beiden folgte. Die Wellen schlugen an meine Füße, und ich spürte das Einsetzen einer Migräne. Jenseits der Promenade ging ich in ein Café, weil ich ein Glas Wasser für meine Tabletten brauchte. Augenblicke später wurde mir bewusst, dass ich auch ein Stück Battenberg-Torte, Toms Lieblingskuchen, bestellt hatte. Ich rührte die Torte nicht an und kehrte in mein Zimmer zurück. Ich erwachte vom Kreischen der Möwen, und der Wecker auf dem Nachttisch zeigte beinahe sechs Uhr. Ich eilte zum Hotel, drängte mich in der Halle durch die Menge der wartenden Bewunderer und ging zum Empfang, wo man mich, nach einigen telefonischen Rücksprachen, zum Penthouse schickte. Offenbar hatte man sich geirrt, denn als ich leise an die Tür klopfte, hörte ich Monsieur laut und ungeduldig sagen: Was ist denn? Emilio öffnete die Tür, und hinter ihm sah ich Monsieur -403-
auf dem Massagetisch liegen. Emilio trug dünne Gummihandschuhe. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, dass auf Monsieurs Rücken zahlreiche Striemen und auf der Papierabdeckung am Fußende des Tischs Blutflecken waren. Ich stotterte eine Entschuldigung und drehte mich um. Die Tür wurde rasch geschlossen. Ich hörte Monsieur fluchen. Schließ die Tür ab!, rief er. Am Empfang erklärte man mir den Weg zum Zimmer der jungen Tänzerin. Der kleine Junge schlief; Milchflaschen waren vorbereitet, Ersatzwäsche lag bereit, und es gab sogar einen Kinderwagen, sodass ich ihn, sollte er aufwachen, ein wenig hin und her fahren konnte. Er war ein hübsches Kind mit dünnem, dunklem Haar. Ich wünschte der Familie einen schönen Abend und machte es mir in einem Schaukelstuhl bequem. Hotelzimmer fand ich schon immer grässlich. Ich wollte weder fernsehen noch Radio hören. Ich dachte an Tom und daran, dass ich seine Schuhe zerschnitten hatte, und ich versuchte mir vorzustellen, wie er sich wohl gefühlt hatte, als er in die Schatulle sah. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Das Zimmer wurde mir zu eng, und ich wickelte das Baby in eine leichte Decke, legte es in den Kinderwagen und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Draußen war es noch hell. Auf der Promenade gingen viele Liebespaare spazieren, und ein paar Hellseher hatten ihre Stände aufgebaut. Einige Leute warfen einen Blick in den Kinderwagen und gaben Baby-Töne von sich, doch als mich jemand fragte, wie das Kindchen denn heiße, fiel mir ein, dass ich es nicht wusste. Mit eiligen Schritten ging ich weiter und dachte an Tom. Ich war überzeugt, dass keine andere Frau im Spiel war, auch wenn seine ehemalige Wirtin ihm noch immer Weihnachtskarten schickte. Auch Alkohol spielte keine -404-
Rolle. Vielleicht gab es eine andere Erklärung. Ich wünschte mir, ich hätte seinen Brief mitgenommen, und dachte, dass ich vielleicht zu übereilt gehandelt hatte. Vor mir auf der Promenade wurde laut geflucht. Ich sah auf und bemerkte, dass ich nur wenige Meter von einer Gruppe junger Rowdys entfernt war, die an der Mauer lehnten. Sie hatten rasierte Köpfe, ihre Hosenträger waren mit der britischen Fahne bedruckt, und sie trugen rote, knöchelhohe Stiefel. Ich überlegte, ob ich umkehren und schnell zum Hotel zurückgehen sollte, fürchtete aber, sie könnten meine Panik bemerken und versuchen, mir die Handtasche zu stehlen. Also schob ich den Kinderwagen zwischen ihnen hindurch, und seltsamerweise schenkten sie mir kaum Beachtung. Am Himmel standen ein paar Sterne, und das Meer wurde immer dunkler. Das Baby erwachte und begann zu schreien. Ich tat mein Bestes, um es zu beruhigen, und als es wieder schlief, war es ganz dunkel geworden. Ich drehte mich um und sah einen der jungen Skinheads mit wiegenden Schritten zu einem der Laternenpfahle gehen. Er griff in die hintere Hosentasche, ein Messer blitzte auf, und dann schnitt er das Plakat mit dem Bild von Monsieur herunter. Er rief irgendetwas Widerwärtiges über Homosexuelle, und seine Freunde lachten und rempelten einander an. Mein Herz schlug schneller. Ich blickte mich nach Menschen um, wie ich sie tagsüber gesehen hatte – Männer mit Strohhüten, Frauen in mittleren Jahren mit Sandalen –, doch es war weit und breit niemand da. Über den Kiesstrand konnte ich den Kinderwagen auf keinen Fall schieben, und der Weg in die Stadt führte über eine Treppe. Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder zwischen den Skinheads hindurchzugehen. Meine Beine zitterten, mein -405-
Mund war wie ausgetrocknet, doch ich hielt mich gerade und sang dem Kind ein Schlaflied. Die Burschen traten ein wenig beiseite, um mich durchzulassen. Der eine, der das Plakat abgerissen hatte, sprang auf und ab und tat, als wischte er sich den Hintern mit Monsieurs Bild ab. Ich konnte mich kaum beherrschen. Beinahe wären meine Knie eingeknickt. Ein Rad des Kinderwagens blieb in einem Spalt im Beton des Weges stecken. Mit einem Ruck befreite ich es, stolperte aber, stürzte und schürfte mir das Knie auf. Der Skinhead lachte und ließ das Plakat neben dem Kinderwagen fallen. Ich sah das mitten durchgerissene Gesicht von Monsieur, seine Leichtigkeit und Fröhlichkeit, und rappelte mich auf. Einer der Rowdys rief mir ein besonders übles Schimpfwort nach. Ich konnte das Zittern nicht unterdrücken, ergriff aber das zerrissene Plakat und stopfte es neben das Kind in den Wagen. Ich rannte die Promenade entlang. Hinter mir schrien und johlten die Skinheads, und ich blieb erst stehen, als ihre schmutzigen Wörter nicht mehr zu hören waren. Dann lehnte ich mich an das Geländer und versuchte, das Baby zu beruhigen, das jetzt laut und herzzerreißend schrie. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich Tom mehr hasste als jeden anderen Menschen, dem ich jemals begegnet war. Als ich zwei Tage später in unsere Wohnung zurückkehrte, schlief Tom in einem Sessel, die Hände im Schoß. Er sah jämmerlich aus. Sein Hemd hatte Flecken, und sein Atem roch nach Bier. Ich beachtete ihn nicht weiter, zog mich für die Nacht um und setzte mich auf die Bettkante, um die Strumpfhose auszuziehen. Tom erwachte und sah sich um, als wüsste er -406-
nicht, wo er war. Dann bemerkte er die Abschürfung an meinem Knie und setzte sich mit einem Ruck auf. Wortlos ging er ins Badezimmer und kehrte mit einem feuchten Tuch zurück. Er setzte sich neben mich, hob den Saum meines Nachthemds und begann, die Wunde zu reinigen. Dabei lösten sich kleine Schorfstücke. Was ist passiert?, fragte er. Ich sagte nichts, sondern legte mich ins Bett, zog die Decke über die Schultern und wandte mein Gesicht ab. Mein Knie schmerzte von seinem Versuch, die Wunde zu säubern. Später hörte ich Tom im Badezimmerschränkchen und dann in der Küche herumstöbern. Er kam wieder ins Schlafzimmer und hatte etwas dabei, das wie ein Breiumschlag roch. Ich tat, als schliefe ich, als er die Bettdecke anhob und die stechend riechende Mixtur auf mein Knie strich. In diesem Augenblick fiel mir etwas ein, das Monsieur kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag zu mir gesagt hatte. Er hatte ein Foto in den Händen gehalten, das ihn allein auf der Bühne zeigte – er richtete sich gerade aus einer Verbeugung auf und sah müde aus –, er hatte das Foto betrachtet und gemurmelt: Eines Tages wird dieser schreckliche Moment eine wunderschöne Erinnerung sein. Als er fertig war, deckte Tom mich sorgsam zu, klopfte leicht auf die Bettkante und wünschte mir im Flüsterton eine gute Nacht. Ich rührte mich nicht. Ich hörte, wie er Hemd und Schuhe auszog und ebenfalls zu Bett ging. Der Geruch seiner Socken vermischte sich mit dem des Breiumschlags. Da lächelte ich und dachte, dass – ganz gleich, was geschehen würde – seine Socken gewaschen werden müssten.
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Rond de jambe par terre, um die Beweglichkeit der Gelenke zu beurteilen. Schwere Einschränkung. Erratisches Abrollen. Hüpfer akut betont und Knochen blockiert. Linker Fuß kann nur unter Schwierigkeiten über den Boden streifen. Akuter Schmerz, wenn Mittelfußknochen aufsetzen, selbst wenn der Fuß im Schaft zentriert wird. Entscheidend: die Mittelfußknochen wie Fächer spreizen, von Seite zu Seite rotieren, sanfte Bindegewebsmassage zwischen den Strahlen. Blutblasen dränieren und sofort Schwellung zwischen zweitem und drittem Zeh des linken Fußes beseitigen.
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BUCH VIER
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Ufa, Leningrad 1987 5. November 1987 Zu denken, dass das Flugzeug nächste Woche kommen wird. Auf dem Eis aufsetzen und rutschend zum Stehen kommen wird. Er könnte bei der Zwischenlandung in Leningrad verhaftet werden, Ilja sagt, sie werden sich an ihre Zusage halten, aber ich bin mir nicht so sicher. Sie könnten ihn für sieben Jahre ins Arbeitslager stecken – wer sollte sie schon daran hindern? Ich erwachte schweißgebadet. Nach dem Frühstück zog ich den Mantel an und ging in das Kaufhaus in der Krassina. Alles lief in den geheizten Räumen herum. Es hatte Gerüchte über eine Lieferung Grillöfen gegeben, aber sie war nicht gekommen. Am Nachmittag hat Nurija mir das Bild gezeigt, das sie für Rudik gemalt hat: Krähen am Ufer des Belaja und über dem Steilufer eine einzelne weiße Möwe. Sie hat es in Pergamentpapier vom Metzger eingewickelt und gesagt, dass sie noch ein Stoffband auftreiben wird. Sie kann ihre Aufregung nicht beherrschen, aber in ihrem Alter ist das nur natürlich. Sie ist wahrscheinlich ebenso aufgeregt wie ich nervös. Nurija ging früh zu Bett, wir konnten hören, wie sie sich herumwälzte. Ich setzte mich an Mutters Bett und versuchte ihr zu erklären, dass Rudik in einigen Tagen kommen wird. Ihre Augen wurden kurz feucht, als wollte sie sagen: Aber wie ist das möglich? Dann schlossen sie sich wieder. Wie friedlich sie aussieht, wenn sie schläft, und wie schrecklich gequält, wenn sie wach ist. Der Arzt gibt ihr nur noch ein paar Monate. Aber was nützen ihr ein paar Monate, wenn sie nichts mehr hat, für das zu leben sich lohnt, und eigentlich keinen Körper, der sie durch diese Monate trägt? Immer wieder verwirrt -410-
sich ihr Geist. Ilja sagte, dass sie vielleicht nur so lange durchgehalten hat, damit sie Rudik noch einmal sehen kann. Und dann fragte er mich, ob ich nicht alt genug bin, ihm zu vergeben. Vergeben? Spielt das denn eine Rolle? Die schlichte Wirklichkeit ist, dass es keine Seife gibt und dass der Griff der Toilettenspülung kaputt ist. 6. November Es ist noch so viel zu tun: das Tischtuch stopfen, die Fensterbänke putzen, das Tischbein reparieren, den Saum von Nurijas Kleid auslassen, Mutters Nachthemd kochen. Man hat Ilja gefragt, ob er Handlangerdienste im Opernhaus übernehmen könnte. Das ist eine gute Nachricht. Mehr Geld. 7. November Tag der Revolution. Schneesturm in Ufa. Die Kälte zwingt uns, im Haus zu bleiben. Auf dem Friedhof liegt der Schnee einen Meter hoch – Ilja konnte Vaters Grab nicht herrichten. Ein Zweitagevisum erscheint mir beinahe noch schlimmer als gar keins. Die Flüge allein werden schon einen ganzen Tag dauern.
8. November Ich habe Mutters Mund nicht aus den Augen gelassen. Es ist, als würde ich ihr die Worte von den Lippen ablesen. Vielleicht hat Ilja Recht, wenn er sagt, dass sie die letzten Jahre nur deshalb ausgeharrt hat, um ihn noch einmal zu sehen. Aber man kann drei Jahrzehnte nicht in einem Augenblick ungeschehen machen. Schon der Gedanke ist pure Dummheit. Wir haben gehört, dass sie -411-
im Rossija-Hotel ein besonderes Zimmer für ihn reserviert haben. Es heißt, sie haben dort Kühlschränke, die Eiswürfel machen können. Wer sollte so etwas schon wollen? Nachmittags ließ der Schneesturm nach. Im Kaufhaus gab es keine Nachthemden, aber nachdem ich Mutters Nachthemd ein zweites Mal gekocht hatte, sah es deutlich besser aus. In einem der hinteren Winkel des Schrankes entdeckte ich einen alten Morgenrock mit verblassten Tomatenflecken von damals, als sie die Gürtelrose hatte. Sie hat alles aufgehoben, sogar Rudiks Schuhe. Sie sind an den Zehen verschrammt, und an den Fersen ist das Leder gebrochen, weil er sie immer so ungeschickt angezogen hat. 9. November In der Schule schienen heute sogar die Kinderreime eine tiefere Bedeutung zu haben: Warum bist du von zu Hause weggegangen, wenn du den Weg zurück nicht finden kannst? Auf dem Markt haben wir versucht, Zucker zu bekommen. Nurija wollte die silberne Halskette dafür eintauschen, die wir ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt haben. Aber es gab einfach keinen Zucker. Sie hat geweint. Was soll man machen? Iljas Lohn ist seit zwei Wochen nicht mehr ausgezahlt worden. Mit was sollen wir nun den Kuchen süßen? Vielleicht geschieht noch ein Wunder: Lastwagenladungen Zucker treffen gerade noch rechtzeitig ein, außerdem Hering und Stör, und wir feiern in einem großen weißen Zelt und trinken Champagner zu den Klängen eines Orchesters. Ha! Wenigstens hat Ilja es geschafft, die Ersatzteile für die Wasserleitungen im Badezimmer aufzutreiben.
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10. November Hinter der Moschee waren ein paar Halbwüchsige in Lederjacken. Ihre Haare waren ungepflegt, und sie trugen Abzeichen auf den Ärmeln. Nurija sagte, sie kennt sie nicht. So etwas hört man aus Moskau oder Leningrad, aber hier? Die Leute reden von einem neuen Tauwetter. Wissen sie denn nicht, dass es bei jedem Tauwetter üble Gerüche gibt? 11. November Ilja sagt, er muss sich sehr beherrschen, es den anderen im Opernhaus nicht zu erzählen. Die älteren Mitarbeiter haben es jahrelang nicht gewagt, Rudiks Namen auszusprechen. Und einige der Tänzer haben ihn nur mit hasserfülltem Unterton aussprechen hören. Ilja sagt, die jüngeren sind schrecklich rebellisch. Wenn sie davon erfahren würden, könnte es sein, dass sie ihn am Flughafen begrüßen. Nurija zählt die Stunden bis zu seiner Rückkehr. Die Tage vergehen ihr viel zu langsam. Sie zieht sich andauernd um und betrachtet sich im Spiegel. Sie hat ein Foto aus Rudiks Jugend. Hoffentlich erschrickt sie nicht, wenn sie ihn sieht. Die gute Nachricht ist: Ilja hat heute Abend ein Pfund Zucker ergattert, und außerdem ist eine Lieferung Rote Bete eingetroffen. Es ist noch nicht alles verloren.
12. November Jetzt ist er sicher schon gelandet! Heute Abend ist er in Leningrad, aber der nächste Flug nach Ufa geht erst morgen früh, also muss er erst einmal dort bleiben. Wir haben auf einen Anruf gewartet, aber der kam nicht. Ilja nimmt immer wieder den Hörer ab, um das Freizeichen -413-
der Vermittlung zu hören. Ich bin sicher, dass der Anruf gerade dann kommt, wenn Ilja den Hörer in der Hand hat. Keiner kann schlafen. Mutter erscheint mir unruhig – vielleicht spürt sie, was in der Luft liegt. Es wäre bestimmt nicht richtig gewesen, ihr nichts zu sagen. Wenn sie doch nur sprechen könnte. Was für ein grausames Schicksal! Tausend Fragen gehen uns durch den Kopf. Kommt er allein? Werden sie schreckliche Sachen zu ihm sagen? Hat er noch Freunde in Leningrad? Werden sie ihm erlauben, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen? Werden die Zeitungen über seinen Besuch berichten? Ich habe am Arm einen Ausschlag, der so ähnlich aussieht wie Mutters Gürtelrose. Ich habe jetzt unerhörte Angst – ob mir das Essen gelingen wird, spielt kaum noch eine Rolle. Ilja hat die letzten Reparaturen erledigt und sogar Kumys besorgt. 12./13. November, Morgen Die Nacht ist so langsam dem Morgen gewichen. Der Himmel war grau, und draußen pfiff der Wind. Auf der Windschutzscheibe des Wagens, der uns zum Flughafen bringen soll, lag dick der Schnee. Der Fahrer wollte nicht hereinkommen, also hat Ilja ihm eine Tasse heißen Tee gebracht. Er hat zum Zeichen seines Dankes die Scheibenwischer einmal hin und her gehen lassen. Das Gesicht des Fahrers war rot, streng und glatt rasiert. (Er hatte verdächtige Ähnlichkeit mit dem Mann, der damals den Fahrschulwagen fuhr.) Nurija ärgerte sich über ihre abgebissenen Fingernägel. Ich habe ihr erlaubt, ein bisschen Lippenstift aufzulegen – sie hätte sonst eine große Szene gemacht. Wir zogen die Mäntel an. Mutter schlief, und dann kam Miljauscha, die sich in der Zwischenzeit um sie kümmern sollte. Ich sah noch einmal nach Mutter und fragte mich, ob sie wohl wusste, dass ihr Sohn zurückkehren würde, mehr als doppelt so alt wie -414-
damals, als er uns verlassen hat. Wenn er nur den kleinsten Fehler macht, werden sie ihn bestimmt ins Gefängnis werfen, und dann muss er seine sieben Jahre absitzen. 13. November Die Rosen, die ich gekauft hatte, waren wunderschön, aber als wir am Flughafen ankamen, hatte die warme Luft sie schon welken lassen. Es war, als hätte man Geld in der Hand und könnte zusehen, wie es an Wert verliert. Wir wurden in einen Warteraum geführt, eine kleine, graue Schachtel mit einem Fenster, drei Stühlen, einem Tisch und einem silbernen Aschenbecher. Drei Beamte erwarteten uns. Ihre strengen Blicke ließen die Rosen noch mehr welken. Eindringlich wurde mir bewusst, dass ich mich für das, was Rudik gemacht hatte, nicht zu entschuldigen brauchte – ich hatte ja nichts Unrechtes getan. Meine Blicke schienen die Beamten milder zu stimmen. Sie boten Ilja sogar eine Zigarette an. Die Wolken rissen auf, und wir sahen einen Vogelschwarm, den wir irrtümlich für das Flugzeug hielten. Ich war so nervös, dass sich mein Magen zusammenkrampfte. Der Vogelschwarm stob in nördlicher und südlicher Richtung auseinander, und wenige Augenblicke später kam das Flugzeug in Sicht. Es ging in eine Kurve. Wir konnten die Landebahn nicht sehen. Man brachte uns aus dem Warteraum in die Ankunftshalle. An den Wänden standen zwanzig Milizionäre mit Maschinenpistolen. Nurija flüsterte: Onkel Rudik. 8 Uhr 30 Es dauerte eine Viertelstunde, bis er durch die Schiebetür trat, und ich glaube, ich hielt die ganze Zeit den Atem an. Wie mein Herz klopfte! Rudik trug einen Mantel -415-
aus einem Stoff, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, außerdem einen bunten Schal und ein dunkles Barett. Sein Grinsen erinnerte mich an früher, als er jung gewesen war. In seiner Hand war ein Koffer. Er stellte ihn ab und breitete die Arme aus. Wie hatte ich ihn nur je hassen können? Nurija lief ihm als Erste entgegen. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, legte seinen Arm um sie, kam auf mich zu und küsste mich zweimal. Hinter uns war ein Fotograf, Blitzlichter flammten auf. Rudik flüsterte mir zu, der Fotograf sei von der Nachrichtenagentur Tass und werde uns den ganzen Tag begleiten. Er sagte: Beachte ihn gar nicht, er ist ein Esel. Ich lachte. Ich hatte Rudik zurück, den echten Rudik, meinen liebsten Bruder – nicht den Rudi, den sie mit ihren Lügen erschaffen hatten. Er legte die Hände an mein Gesicht, sah mir in die Augen, nahm mir die Rosen ab und sagte, sie seien wunderschön. Dann zog er mir das Tuch vom Kopf, und ich schämte mich so wegen meiner grauen Haare. Er küsste mich und sagte, ich sähe sehr gut aus. Aus der Nähe wirkte auch er erschöpft: Er hatte tiefe Falten im Gesicht und Krähenfüße an den Augen. Er war etwas dünner, als ich erwartet hatte. Er hob Nurija abermals hoch, drückte sie an sich und drehte sich im Kreis, und alles schien gut. Ich bin wieder daheim, sagte er. In seiner Begleitung war ein großer Spanier namens Emilio, der, wie Rudik sagte, sein Leibwächter und eine Art medizinischer Berater war. Er war ein Hüne, aber seine Hände waren weich, und seine Augen blickten gütig. Er hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, den er unter den Kragen gesteckt hatte. Rudik hatte Ilja noch nie gesehen. Willkommen in Ufa, sagte Ilja. Rudik sah ihn misstrauisch an, doch dann lächelte er. Zwei französische Beamte hielten sich immer in Rudiks Nähe, ja sie wichen nicht von seiner Seite. Wie seltsam es war, Rudik französisch sprechen zu -416-
hören, als wäre das seine Muttersprache, doch dann wandte er sich an mich und wechselte ins Tatarische. Er wollte sofort zu Mutter, doch ich sagte, im Augenblick schlafe sie, und der Arzt habe gesagt, er dürfe sie nur kurz sehen, damit der Besuch sie nicht zu sehr anstrenge. Sie schläft?, fragte er. Er sah auf seine schöne Armbanduhr. Aber ich habe nicht mal zwölf Stunden. 9 Uhr 30 Die Angelegenheit wurde von den Beamten entschieden, die sagten, er müsse sich erst im Rossija-Hotel anmelden. Nurija, Ilja und ich begleiteten ihn in der schwarzen SILLimousine; sein Leibwächter fuhr ebenfalls mit. Wir saßen dicht gedrängt. Einen Augenblick lang wollte ich mich dafür entschuldigen, dass es kein westlicher Wagen war, doch ich besann mich und spürte eine Wut in mir aufsteigen. Rudik saß am Fenster und hielt Nurijas Hand. Sie erzählte ihm von dem Buch, das sie gerade las. Er schien sich dafür zu interessieren und fragte sogar nach der Handlung. Er blickte auf seine Uhr, nahm sie mit einer abrupten Bewegung ab und drückte sie Nurija in die Hand. Es ist eine doppelte Uhr: Sie zeigt die Zeit auch in digitalen Ziffern an. Er sagte Nurija, sie solle sie ihrem Freund schenken. Sie errötete und sah ihren Vater an. Kann ich sie auch für mich behalten, Onkel Rudik? Er sagte, natürlich könne sie das, und sie legte den Kopf an seine Schulter. Während der Fahrt sah er aus dem Fenster. Sieh mal, die Straßen sind asphaltiert. Vieles war ihm fremd geworden, aber wenn er etwas erkannte, rief er Sachen wie: Auf den Zaun da bin ich mit sieben geklettert. Wir kamen an dem See vorbei, auf dem er früher Schlittschuh gelaufen war. Er machte eine Bemerkung über die Fahnen: Wisst ihr noch? Ein winziger Kopfhörer hing ihm um den Hals, und als ich ihn danach fragte, griff er in die -417-
Tasche und holte das kleinste Tonbandgerät hervor, das ich je gesehen hatte. Er setzte mir den Kopfhörer auf und drückte auf einen Knopf, und mit einem Mal hörte ich Skrjabin. Rudik versprach, mir das Gerät zu schenken, bevor er wieder abreisen musste. Er flüsterte mir zu, er brauche es heute noch, um den Tass-Fotografen auszublenden, der ihm ständig irgendwelche lachhaften Fragen stelle. Er tätschelte meine Handfläche. Ich bin so nervös, sagte er. Kannst du dir vorstellen, dass ich nervös bin? Seine Stimme klang verändert. Ich fragte mich, was ihn wohl nervös machte. Die Möglichkeit, verhaftet zu werden? Mutter zu sehen? Einfach hier zu sein? Er sagte: Alles ist so viel kleiner. Dann wandte er sich an Ilja und erzählte ihm, auf dem Flug von Leningrad hierher sei das Klapptischchen an seinem Platz kaputt gewesen. Das Tablett, sagte er, sei ihm immer wieder auf den Schoß gerutscht. 10 Uhr 15 Der SIL hielt vor dem Hotel. Die französischen Beamten sprangen aus ihrem Wagen, um uns in Empfang zu nehmen, und der Leibwächter blieb dicht neben Rudik. Ilja machte einen etwas niedergeschlagenen Eindruck. Er sagte, zu Hause sei noch einiges zu erledigen, und vielleicht sei es am besten, wenn er schon mal vorfahren und sich darum kümmern würde. Er sagte, er werde die Straßenbahn nehmen – wir würden uns dann später wieder sehen. Rudik schüttelte ihm zum zweiten Mal die Hand. Dann gingen wir hinauf in sein Zimmer. Es war riesig, aber es gab dort keinen Kühlschrank. Rudik warf die Rosen auf das Bett, wo sie in einem Haufen liegen blieben. Er ging durch den Raum, sah hinter die Jalousien und sogar hinter die Bilderrahmen. Er schraubte die Sprechmuschel des Telefonhörers auf. Dann zuckte er die -418-
Schultern und sagte etwas wie: sein ganzes Leben werde abgehört, und es spiele keine Rolle, ob die CIA oder der KGB dahinter stecke. Er legte den Koffer auf das Bett und öffnete ihn mit einem kleinen Schlüssel. Es waren nicht seine Kleider darin, wie ich erwartet hatte, sondern ein ganz unglaubliches Sortiment von Parfüms, Schals, Schmuckkästchen, Broschen alles wunderschöne Dinge. Nurija packte seinen Arm und legte die Wange an seine Schulter. Ich durfte nur einen Koffer mitbringen, sagte er, und am Flughafen haben sie sich bedient. Nurija legte sich auf das Bett und nahm jeden einzelnen Gegenstand in die Hand. Rudik wusste alles über Parfüms: wo sie hergestellt wurden, wer welches benutzte, wer sie entwickelt hatte, was sie enthielten und woher sie stammten. Das hier trägt Jackie O immer, sagte er. Er hatte sogar ein Fläschchen für Mutter mitgebracht, ein besonderes Geschenk von einer Dame in New York, eingewickelt in hübsche Bänder. Für mich eine Flasche Chanel. Nurija und ich sprühten es einander auf die Handgelenke. Dann klatschte Rudik in die Hände, damit wir still waren, nahm eine kleine Schachtel aus dem Koffer und reichte sie mir. Darin war die herrlichste Halskette, die ich je gesehen hatte, lauter Diamanten und Saphire. Mein erster Gedanke war: Wo soll ich das verstecken? Er sagte mir, ich solle sie anlegen und mit Stolz tragen. Sie war bestimmt sehr teuer gewesen. Er küsste mich auf beide Wangen und sagte, es sei schön, mich zu sehen.
10 Uhr 45 Ich schlug vor, er solle sich vor seinem Besuch bei Mutter ein wenig ausruhen, aber er sagte: Warum? Dann lachte er. In der Hölle werde ich genug Zeit haben in schlafen. Wenn er jetzt noch nicht nach Hause könne, -419-
wolle er durch die Stadt gefahren werden und sich alles ansehen. In der Hotelhalle gab es eine weitere lange Diskussion über Zeit- und Reisepläne, aber schließlich einigte man sich: Wir würden ein paar Stunden im Konvoi herumfahren. Die Wagen bewegten sich langsam durch den Schnee. Das Opernhaus war geschlossen, unser altes Haus in der Tsentsowstraße hatte man längst abgerissen, die Halle in der Karl-Marx-Straße war verschlossen, und der Weg zum tatarischen Friedhof war nicht befahrbar. Der Wagen musste hundert Meter unterhalb des Eingangs anhalten. Rudik bat den Fahrer um ein Paar Schuhe, mit denen er durch den Schnee gehen könne, doch der sagte, er habe nur die Schuhe, die er selbst trage. Rudik beugte sich über die Lehne des Beifahrersitzes. Geben Sie mir die. Er drückte dem Fahrer ein paar Dollar in die Hand. Rudiks Füße waren zu klein für die Stiefel des Fahrers, aber Nurija bot ihm ihre Socken an, und er stopfte sie hinein. Der Leibwächter wollte ihn begleiten, aber Rudik wurde wütend: Ich will allein gehen, Emilio. Vom Wagen aus sahen wir zu, wie er die Schneewehen umging, über den eisernen Zaun kletterte und hinter der Hügelkuppe verschwand. Dahinter waren nur die Wipfel der Bäume zu sehen, die auf dem Friedhof standen. Wir warteten. Niemand sagte etwas. Der Schnee fiel auf die Fenster. Als Rudik schließlich zurückkehrte – diesmal stapfte er durch die Schneewehen –, sah ich, dass die Mantelärmel und auch die Knie seiner Hose völlig durchnässt waren. Er sagte, er habe einen Teil des Schnees auf Vaters Grabstein mit einem Zweig weggefegt. Ich war sicher, dass er irgendwo gestürzt war. Er sagte auch, er habe auf das Donnern der Züge auf der Brücke über den Belaja gelauscht, aber es seien keine gekommen. Wir fuhren weiter. Das Licht war wunderbar. Es wurde überall vom Schnee reflektiert. Die wilden Hunde in der Nähe der -420-
Fabrik hörten auf zu bellen, und einen Augenblick lang war alles still. 12 Uhr 15 Der Leibwächter kramte ein Pillenfläschchen aus der Tasche, und Rudik schluckte drei Tabletten ohne Wasser hinunter. Er sagte, er habe eine Grippe, die Medikamente würden ihm helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Nurija bemerkte, sie spüre eine Erkältung kommen, aber Rudik wollte ihr keine Tabletten geben, sie seien ohnehin zu stark für sie. Am Bahnhof kaufte er Sonnenblumenkerne. Die hab ich seit Jahren nicht mehr gegessen. Er aß zwei, spuckte die Schalen aus und warf den Rest weg. Wir kamen an dem Haus vorbei, in dem Sergej und Anna gewohnt hatten, und fuhren langsamer. Ich dachte, Julia würde vielleicht in Leningrad am Flughafen sein, sagte er. Möglicherweise ist sie tot. Ich antwortete, ich wisse nicht, was aus ihr geworden sei. Er sagte, sie habe ihm früher hin und wieder geschrieben, doch der Briefwechsel sei im Lauf der Jahre eingeschlafen. 12 Uhr 30 Zu Hause erwarteten uns zwei weitere Beamte. Ilja saß am Festtisch, erhob sich aber und schüttelte Rudik die Hand zum dritten Mal. Er sah ihm in die Augen, aber Rudik war abgelenkt. Zu viele Leute! Er schlug sich mit der behandschuhten Hand auf die Brust und schrie auf Tatarisch einen schrecklichen Fluch. Und dann hatte er eine heftige Diskussion mit den französischen Beamten. Sie sollten ihn in Ruhe lassen. Ich nahm meinen Mut zusammen, brachte ihn zum Schweigen und begleitete die Franzosen hinaus. Rudik bedankte sich bei mir und sagte, es tue ihm Leid, dass er so laut geworden sei, aber diese -421-
Männer seien nichts als Esel, immer und überall sei er von schreienden Eseln umgeben. Er wollte unbedingt sofort zu Mutter, aber ich musste ihn erst darüber aufklären, was ihn erwartete: dass sie nicht mehr sprechen könne, dass ihre Augen sehr schlecht geworden seien, dass sie nicht immer bei klarem Verstand sei. Er schien mir gar nicht zuzuhören. Wir hörten, wie sich die französischen und russischen Beamten vor dem Haus stritten. Rudik fürchtete, sie könnten darauf bestehen, wieder ins Haus zu kommen, und so nahm er einen Stuhl und klemmte die Lehne unter die Klinke. Er befahl seinem Leibwächter, sich an der Tür zu postieren. Wie nervös wir alle waren! Er zog den Mantel aus, hängte ihn und den bunten Schal an den Garderobenständer und ging in Mutters Zimmer. Sie schlief. Er zog einen Stuhl an das Bett, beugte sich hinunter und küsste sie. Sie regte sich nicht. Rudik sah flehend zu mir auf und wusste nicht, was er tun sollte. Ich benetzte ihren Mund mit etwas Wasser, und sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen. Er hielt eine wunderschöne Kette an ihren Hals. Mutter bewegte sich ein wenig, schlug aber nicht die Augen auf. Rudik rang die Hände, als wäre er mit einem Mal wieder sieben Jahre alt. Er flüsterte ihr eindringlich zu: Mutter, ich bin's, Rudik. Ich sagte ihm, er solle ihr Zeit lassen, sie werde irgendwann aufwachen, er müsse Geduld haben. 12 Uhr 45 Ich beschloss, ihn allein zu lassen. Als ich hinausging, sah ich, dass er den Kopfhörer, den er um den Hals trug, abnahm, als könnte der die Worte, die sie vielleicht sagen würde, übertönen. Er fuhr fort zu flüstern, doch ich konnte nichts verstehen. Einen Augenblick lang kam es mir so vor, als spräche er eine fremde Sprache. -422-
1 Uhr 30 Er kam wieder aus Mutters Zimmer. Seine Augen waren gerötet. Er rief seinen Leibwächter und sagte, Emilio sei Masseur und kenne sich in medizinischen Dingen aus vielleicht könne er Mutter etwas Linderung verschaffen. Ich dachte: Seine idiotischen westlichen Ideen – wie kann seine Medizin besser sein als das, was wir Mutter gegeben haben? Als er auf die Tür zu Mutters Zimmer zuging, hasste ich diesen riesigen Kerl. Welches Recht hatte er, sich einzumischen? Ich zischte, aber Rudik ignorierte mich und knallte die Tür zu. 2 Uhr Der Leibwächter kam wieder heraus. Er lächelte mir zu und sagte etwas in einem gebrochenen Englisch, das nicht zu verstehen war. Schließlich machte er Gesten und schien sagen zu wollen, dass Mutter einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein müsse. Ich änderte meine Meinung über ihn, trotz seines Pferdeschwanzes. Er nahm sich große Portionen von den Speisen auf dem Tisch und gab wohlige Geräusche von sich, die ausdrücken sollten, wie köstlich das Essen sei. Den Rest des Tages saß er still da. 2 Uhr 30 Ich trat in Mutters Zimmer. Sie war wach und hatte die Augen weit geöffnet, als wäre sie erschrocken. Rudik saß mit Tränen in den Augen zusammengesunken da. Er sprach abwechselnd russisch und tatarisch. Mutters Lippen bewegten sich, aber es war unmöglich zu verstehen, was sie sagte. Rudik nahm meine Hand. Sag ihr, dass ich es bin, Tamara, bat er. Sie kennt deine Stimme. Sie hat mich noch immer nicht erkannt. Ich beugte mich über sie und sagte: Rudik ist zurückgekommen, um dich zu sehen. Ihre -423-
Augen flackerten, doch ich wusste nicht, ob ich zu ihr durchgedrungen war. Ich werde hier sitzen bleiben, bis sie mich erkannt hat, sagte Rudik. Ich werde mich nicht van der Stelle rühren. Ich bat ihn, mitzukommen und etwas zu essen, aber er sagte, er sei nicht hungrig. Ich bat ihn noch einmal, eindringlicher. Nein, rief er. Und dann tat ich etwas, das ich nie vergessen werde: Ich schlug Rudik ins Gesicht. Sein Kopf fuhr herum, und er starrte an die Wand. Ich konnte nicht fassen, was ich getan hatte. Ich hatte mit solcher Kraft zugeschlagen, dass meine Handfläche brannte. Rudik wandte langsam den Kopf und sah mich kurz an. Dann beugte er sich wieder über Mutter. Ich werde zum Essen kommen, wenn ich fertig bin, Tamara. Ich schloss die Tür. Als ich in das Wohnzimmer trat, überkam mich ein schreckliches Gefühl. Nurija starrte auf ihre neue Armbanduhr, die laut piepte. Sie wusste nicht, wie man das Geräusch abstellte. 2 Uhr 45 Ilja gab dem Leibwächter noch eine Pordon. Sie tranken Kumys. Der Leibwächter zeigte Ilja eine Art Spiel: Er riss sich ein Haar aus, schloss die Augen und sagte Ilja, er solle das Haar zwischen die Seiten eines Buches legen. Mit geschlossenen Augen blätterte er in dem Buch und strich ganz leicht über die Seiten. Das sei ein alter Masseurtrick, der ihm helfe, die Fingerspitzen besonders feinfühlig zu machen. Er war darin so gut, dass er das Haar durch acht Seiten hindurch spüren konnte. Der Wind wehte den Schnee gegen das Fenster. 3 Uhr Ich tat etwas Essen für Rudik auf einen Teller: eingelegtes Fleisch, Kohlsalat, hart gekochte Eier. Die Tür -424-
quietschte, als ich sie öffnete. Ich war überrascht, als er mir zulächelte. Er schien ganz vergessen zu haben, dass ich ihn geschlagen hatte. Zwischen uns war wieder etwas Gutes, die Distanz war überbrückt. Rudik aß nichts, hielt den Teller aber so, als würde er vielleicht bald etwas essen. Dann rückte er ein wenig beiseite, und ich setzte mich neben ihn auf den Stuhl. Wir beobachteten die winzigen Bewegungen von Mutters Lippen. Ihr Haar war auf dem Kissen ausgebreitet. Sie sagt deinen Namen, sagte ich. Was?, fragte er. Sie sagt deinen Namen, sieh nur. Er schwieg lange, doch dann nickte er energisch. Ja, sie sagt meinen Namen. Und dann sprach er über die Fahnen am See, über das Radio und darüber, wie er als Kind der Musik gelauscht hatte. Ich verstand nichts – für mich redete er Unsinn. Ich nahm seine Hand. Der Stuhl war viel zu klein für uns beide. 3 Uhr 30 Ich ging wieder hinaus. Der Leibwächter blätterte in einem Buch und strich über die Seiten. Er bat um noch ein Stück Kuchen. 4 Uhr Rudik kam aus Mutters Zimmer. Er wirkte steif, aber sein Gesicht war ausdruckslos. Er nickte Nurija und Ilja zu, trat ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah hinaus, wo die Beamten in ihren Wagen saßen. Dann drehte er sich um und gab dem Leibwächter ein Zeichen. Ich war sicher, dass seine Fröhlichkeit gespielt war. Der Leib-wächter öffnete den Koffer, und Rudik verteilte die letzten Geschenke: noch mehr Schmuck und Makeup und Schokolade. Er schlug die Arme um die Brust, als friere er, dabei war es im Zimmer mollig warm. Tja, sagte er, -425-
griff in die Tasche und warf ein Bündel Rubelscheine auf den Tisch. Es war einen Menge Geld. Niemand rührte sich. Draußen hupte einer der Wagen. Das Flugzeug nach Leningrad würde bald starten. Es schneite noch immer. An der Tür nahm er das Barett ab, umarmte Nurija und schüttelte Ilja abermals die Hand. Ich ging mit ihm hinaus. Sie hat mich nicht erkannt, sagte er. Ich flüsterte ihm ins Ohr: Natürlich hat sie dich erkannt. Er sah mich an und lächelte schwach. Meine Wange brennt noch immer, sagte er, und einen Augenblick lang dachte ich, er würde zurückschlagen, aber das tat er nicht. Er warf den Schal über die Schulter, drehte sich um und ging zum Wagen. Wir standen da mit all unseren neuen Besitztümern. Julia, meine Liebe, lass mich raten: Du hast noch immer kein Klavier. Die fünf Stockwerke hatten ihn etwas außer Atem geraten lassen. Ich schnappte nach Luft. Dass mich in meinem Alter irgendetwas noch so überraschen könnte, hätte ich nicht gedacht. Er lächelte über seinen kleinen Witz, stellte mir Emilio, seinen Begleiter, vor und entschuldigte sich für den Besuch zu dieser späten Stunde. Er sagte, es sei ihm sehr unangenehm, dass er nichts mitgebracht habe – er habe schon alles verschenkt. Ich umarmte ihn, während er von der Schwelle aus die im Dunkeln liegende Wohnung musterte. Immer noch die alte Julia, sagte er. So viele Bücher, dass man die Tapeten nicht sieht. Wie hast du mich gefunden? Ich habe so meine Mittel. Im Haus war wieder mal der Strom ausgefallen. Ich zündete zwei Kerzen an, die Flammen flackerten. Emilio blieb in der Tür stehen und streifte den Schnee von den -426-
Schultern. Ich bat ihn hereinzukommen, und er war etwas überrascht über das, was er als mein perfektes Spanisch bezeichnete. Ich erklärte ihm, dass ich den größten Teil meines Lebens aus dem Spanischen übersetzt hätte, und er ging zu meinem Regal und studierte die Buchrücken. Ich zog den Morgenmantel glatt und trat hinter die Trennwand. Kolja schlief. Als ich ihn weckte, schimpfte er leise, doch dann setzte er sich auf. Wer?, fragte er und sprang aus dem Bett. Sein Haar war zerzaust. Stell alles, was wir zu essen haben, auf den Tisch, flüsterte ich ihm zu. Im Badezimmer rieb ich mit den Fingerknöcheln über meine Wangen, damit sie etwas Farbe bekamen, sah in den Spiegel und lachte. Ich war zweiundsechzig, und die Gespenster meines Lebens waren erschienen, um mich zu begrüßen. Beeil dich, sagte Rudi. Ich habe nur ungefähr eine Stunde Zeit. Kolja hatte einen Laib Brot und einen Rest Gurkensalat auf den Tisch gestellt. Die Wodkaflasche war bereits geöffnet, doch die Gläser waren noch leer. Die Kerzenflammen waren nervöse Lichtpunkte in der Dunkelheit. Wir fühlen uns geehrt, sagte ich. Rudi winkte ab. Die wollten, dass ich an einem Diner in der französischen Botschaft teilnehme, sagte er, aber sie langweilen mich so. Dann hat man dich also zurückkehren lassen? Sie haben mir ein Visum für achtundvierzig Stunden gegeben, für einen Besuch bei meiner Mutter. Der Rückflug hat Verspätung. Er geht in ein paar Stunden. In ein paar Stunden? -427-
Ich konnte nicht mal ins Kirow. Sie haben den Termin so gelegt, dass es geschlossen ist. Und deine Mutter?, fragte ich. Wie geht es ihr? Rudi lächelte, sagte aber nichts. Seine Zähne waren noch immer bemerkenswert weiß, als lägen sie im Widerstreit mit dem Rest seines Gesichts. Es trat eine kurze Stille ein, während der er sich im Raum umsah. Er schien nach anderen Gestalten Ausschau zu halten, die vielleicht aus den Schatten zum Vorschein kommen würden. Plötzlich nahm er meine Hände und sagte: Julia, du hast nichts von deiner Schönheit verloren. Wie bitte? Du siehst keinen Tag älter aus. Und du, erwiderte ich, bist noch immer ein Lügner. Nein, nein, nein, beharrte er. Du bist noch immer schön. Ich bin eine alte Frau, Rudi. Ich habe mich mit meinen Kopftüchern abgefunden. Er griff nach der Wodkaflasche, schenkte drei kleine Gläser ein, sah Kolja an und fragte, ob er alt genug sei, um zu trinken. Mit den staksigen Schritten eines Halbwüchsigen ging Kolja zum Schrank und holte ein viertes Glas. Dein Sohn?, flüsterte Rudi. In gewisser Weise, sagte ich. Hast du wieder geheiratet? Ich zögerte und schüttelte den Kopf. Für Kolja und mich waren es lange Jahre der Armut und der Schwierigkeiten gewesen. Meine Fähigkeiten als Übersetzerin waren so gut wie nutzlos: Die Nachfrage nach ausländischer Literatur hatte stark nachgelassen, und viele Verlage waren geschlossen worden. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich, schon jetzt halb erschöpft, an der Schwelle eines neuen -428-
Lebens. Um etwas zu essen auf den Tisch zu bringen, hatte ich mehrere Stellen als Putzfrau angenommen. Doch meine Freude war die Tatsache, dass Kolja zu einem wohl geratenen jungen Mann herangewachsen war – groß, dunkelhaarig, zurückhaltend. Er war jetzt siebzehn und hatte das Schachspielen aufgegeben, arbeitete jedoch daran, ein Künstler zu werden. Es hatte damit angefangen, dass er Landschaften gemalt hatte, gegenständlich und realistisch, doch in letzter Zeit hatte sich sein Stil gewandelt, und nun verschwammen die Konturen. Er glaubte, dass jede Veränderung einen Grund brauchte, denn sonst würde man keine Achtung vor der Vergangenheit haben. Er wollte sich malend durch die Traditionen hindurcharbeiten, um so eine neue zu finden. Er hatte eine Reihe von Lenin-Porträts gemalt, und zwar mit Milch. Diese Bilder behandelten die Geschichte als Parodie – man sah erst etwas, wenn man ein brennendes Streichholz oder eine Kerze daran hielt. Kolja hatte keines der Bilder verkauft, doch er bewahrte sie unter seinem Bett auf, und sein liebstes war eines, das er versehentlich neben einem Heizungsrohr abgestellt hatte und auf dem nur Lenins Nase zu sehen war. Über seinem Bett hatte er ein Zitat von Fontanelle an die Wand geschrieben, auf das er in einem meiner alten Bücher gestoßen war: Es stimmt zwar, dass man den Stein der Weisen nicht finden kann, aber es ist gut, danach zu suchen. Dass Kolja demnächst seinen Militärdienst würde leisten müssen, machte mir große Angst. Der Gedanke daran war schrecklich – der Krieg würde einen Teil von ihm verschütten, wie er einen Teil meiner Eltern verschüttet hatte –, und oft erwachte ich nachts schweißnass, weil ich im Traum gesehen hatte, wie mein Sohn, ein Gewehr vor der Brust, in einem afghanischen Dorf um eine Ecke bog. Kolja jedoch glaubte, eine Möglichkeit gefunden zu -429-
haben, wie er dem System ein Schnippchen schlagen konnte: Wenn er die Urinprobe abgeben musste, würde er sich mit einer Nadel in den Finger stechen und einen Tropfen Blut in die Probe fallen lassen. Die Probe würde dann zu viel Eiweiß enthalten, und so würde ihm der Militärdienst erspart bleiben. Ich hatte oft den Eindruck, Kolja habe irgendwie den Geist meines Vaters geerbt, obwohl er ihm natürlich überhaupt nicht ähnlich sah. Er besaß dieselbe Zähigkeit, dieselbe Intelligenz, dieselbe Wesensart. Er interessierte sich für meine Familiengeschichte und wurde darin bestärkt durch die Echos, auf die er gestoßen war. Und natürlich war es unvermeidlich gewesen, dass er durch seine Fragen von Rudi erfahren hatte. Ich suchte in Koljas Gesicht nach einer Reaktion auf diesen Besuch, doch zu meiner Überraschung war er ganz gelassen. Ich bemerkte, dass Emilio eine Cervantes-Übersetzung aus dem Regal genommen hatte, aber anstatt darin zu lesen, strich er mit geschlossenen Augen über die Seiten, als nähme er die Worte durch seine Fingerspitzen auf. Rudi erklärte, er habe vorhin, als sie allein im Zimmer gewesen seien, ein Haar in das Buch gelegt, und Emilio suche jetzt danach. Das sei etwas, mit dem er sich gern die Zeit vertreibe. Ich umgebe mich mit Verrückten, sagte Rudi. Er griff nach der Wodkaflasche und füllte zwei Glaser. In dem kleinen, betretenen Schweigen, das eingetreten war, lächelte er mich an. Ein Vierteljahrhundert war vergangen, und obgleich der Altersunterschied nicht mehr so gravierend war, hatte sich zwischen uns ein dünner Vorhang der Verlegenheit geschlossen. Wir begannen verzweifelt, um ihn herum zu reden. Rudi saß vorgebeugt da, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in den -430-
Händen, und seine Augen funkelten mit demselben Vergnügen wie früher. Erzähl mir alles, sagte er. Er hob das Glas zum Mund und wartete, und so versuchte ich abzuspulen, was ich, wie ich glaubte, so sorgfältig aufgewickelt hatte: meine Wohnung, meine Scheidung, meine Straße. Übersetzt du noch? Hin und wieder, sagte ich, aber ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Ich würde lieber hören, wie es dir ergangen ist. Ach, alle hören andauernd irgendetwas über mich, und sie verstehen es immer falsch. Sogar du selbst? Ja, sogar ich selbst. Aber ich verstehe es absichtlich falsch, sagte er. Absichtlich? Natürlich. Niemand kennt mich. Es war, als spielten wir beide eine absurde Art von Schach, bei dem wir versuchten, so schnell wie möglich alle Figuren zu verlieren, bis schließlich nur noch der König übrig war, damit wir ihn umwerfen und sagen konnten: So, das Brett gehört dir jetzt erkläre mir meine Niederlage. In diesem Augenblick tat es einen dumpfen Schlag, und der Strom war wieder da. Der Raum war in helles Licht getaucht. Mach es bitte aus, sagte Rudi. Mir sind Kerzen lieber. Emilios Hände waren in der Mitte des Buches angekommen. Rudi sagte laut: Medizin bitte. -431-
Emilio klappte das Buch zu, holte ein Pillenfläschchen aus der Tasche und warf es in Rudis Schoß. Rudi schluckte in rascher Folge vier Tabletten. Auf seiner Stirn war ein Schweißfilm, doch er wischte ihn mit der Hand fort. Ich fragte mich, was Emilio an anderen Tagen als diesem unter Rudis Haut ertasten mochte. Und du – tanzt du noch?, fragte ich ihn. Ich werde noch tanzen, wenn sie mich in die Grube legen, sagte er. Ich konnte nicht anders – ich musste ihm einfach glauben: Eines Tages würde man Rudi ausgraben und feststellen, dass seine Knochen in der Haltung eines Springenden dalagen oder vielleicht sogar in der eines Mannes, der sich verbeugte, der sich aufrichtete und sagte: Danke, danke, bitte erlauben Sie mir, das noch einmal zu machen. Er hatte keine Ahnung, was er tun würde, wenn er je aufhören sollte zu tanzen – vielleicht choreographieren. Er hatte im Westen in ein paar Filmen gespielt, sagte aber, das sei alles Unsinn gewesen, und außer-dem sei er nicht für die Kamera gemacht; er habe einen Bühnenkörper, er brauche ein Publikum. Allerdings, ein Publikum, dachte ich. Ah!, sagte Rudi plötzlich. Er griff in die Tasche, zog eine Brieftasche hervor und schob sie über den Tisch zu Kolja. Es war kein Geld darin, aber es war eine sehr schöne Brieftasche mit golden eingefassten Kanten. Schlangenleder. Aus Amerika, sagte er. Kolja starrte sie an. Für mich? Rudi verschränkte die Hände hinter dem Kopf und nickte. Für einen Augenblick kehrte die Eifersucht meiner Jugend zurück. Ich wollte Rudi beiseite nehmen und ihm -432-
sagen, es sei ganz unnötig, so anzugeben, und er benehme sich wie ein verzogener Junge auf einer lebenslangen Geburtstagsfeier. Aber vielleicht deutete die Art, wie er meinem Sohn die Brieftasche geschenkt hatte, auf etwas Tieferes hin. Mir kam der Gedanke, Rudi wolle so besitzlos sein, wie er es gewesen war, als er sich in den Westen abgesetzt hatte. Kolja klappte die leere Brieftasche auf, und Rudi schlug ihm spielerisch auf die Schulter. Der Anblick der beiden stieß mir ein Messer zwischen die Rippen, das mich genau ins Herz traf. Emilio suchte weiter in dem Buch, döste jedoch bald ein. Ich trat ans Fenster. Draußen streifte die Dunkelheit die Stadt, und der Wind entfesselte den Schnee. Unten auf der Straße standen drei Wagen. Ich zog den Vorhang weiter zurück, sah einen Schatten und dann das Blitzlicht einer Kamera. Ein Fotograf. Unwillkürlich wandte ich mich ab und schloss den Vorhang wieder. Wie kommt es, dass sie dich haben einreisen lassen? Raissa Gorbatschowa, sagte er. Hast du sie kennen gelernt? Er schüttelte den Kopf. Aber sie hat dir das Visum besorgt? Er antwortete nicht, aber dann sagte er etwas Seltsames: Uns hat immer unsere eigene Auflösung gefesselt. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, ich war mir nicht sicher, ob es Selbstmitleid oder purer Unsinn war. Beinahe hätte ich gelacht. Aber man konnte unmöglich wütend auf Rudi sein, nur weil er zu dem geworden war, der er jetzt war. Etwas in ihm befreite die Menschen von der Welt, lockte sie aus sich heraus. Selbst Kolja hatte -433-
seinen Stuhl näher an Rudi herangerückt. Wir schenkten uns Wodka nach und sprachen kurz über das Grammophon meines Vaters, den Unterricht durch meine Mutter, den Abend, an dem Rudi in Leningrad angekommen war, die Aufführungen im Kirow. Er sagte, er habe RosaMaria noch einmal getroffen, doch der Kontakt sei abgerissen. Unsere Unterhaltung hatte beinahe etwas von einer Wiederholung – als hätten wir das alles schon einmal gesagt. Und doch machte das nichts: Was fehlte, wurde ausgeglichen durch die Zärtlichkeit, von der sein Besuch durchdrungen war. Stumm prosteten wir einander zu, und dann warf er einen Blick auf sein Handgelenk, als müsste dort eine Armbanduhr sein, doch da war keine. Emilio, sagte er laut, wie viel Uhr ist es? Der Spanier erwachte mit einem Ruck. Wir sollten gehen, sagte er und klappte das Buch zu. Ein paar Minuten noch, sagte Rudi. Nein, wir müssen wirklich gehen. Ein paar Minuten noch!, fuhr Rudi ihn an. Emilio wedelte mit den Händen in der Luft, eine Geste, die er sicher von Rudi übernommen hatte. Gut, sagte er, aber wir werden das Flugzeug verpassen. Er stellte den Cervantes wieder in die Lücke im Regal. Ich sah einen Tag kommen, einen kalten, regnerischen Tag, an dem Kolja und ich das Buch nehmen und mit den Fingerspitzen über die Seiten streichen würden, auf der Suche nach einer winzigen Unebenheit. Rudi lehnte sich ganz ruhig zurück und brauchte nur eine Minute, um wieder der Mittelpunkt des Raumes zu sein. Und dann, wie auf ein Zeichen, stand er rasch auf. Unten warten meine Fahrer. Sie werden denken, dass ich mich -434-
wieder abgesetzt habe. Er zog den Mantel an und drehte sich auf den Fersen zu mir um. Es ist wirklich unglaublich, sagte er. Was? Nach all den Jahren. Er schraubte sorgsam den Verschluss auf die Wodkaflasche und starrte den Tisch an, als sammelte er Kraft für etwas, das er sagen wollte. Er kam zu mir, legte mir die Hände auf die Schultern, biss sich auf die Lippe und flüsterte: Meine eigene Mutter hat mich nicht erkannt. Was? Sie wusste nicht, wer ich war. Die Geschichte meines Vaters fiel mir ein: wie er im Arbeitslager die Kugel im Baumstamm entdeckt hatte, und dass er gesagt hatte, wir könnten uns selbst nicht entkommen. Ich überlegte, ob ich sie Rudi erzählen sollte, aber er hatte bereits den Schal um den Hals gelegt und war drauf und dran zu gehen. Natürlich hat sie dich erkannt, sagte ich. Warum sollte sie?, fragte er. Ich wollte die perfekte Antwort geben, ihn wieder auf die Erde zurückholen, ich wollte noch ein elektrisierendes Lächeln, noch eine Überraschung bekommen, doch er hatte die Hand schon auf der Türklinke. Ich ging zu ihm und umarmte ihn. Er nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich auf beide Wangen. Warte, sagte ich. Ich holte die Porzellan-Untertasse, die meiner Mutter gehört hatte, aus dem Schrank. Ich öffnete die Schatulle. Die Untertasse fühlte sich kalt und zerbrechlich an. Ich gab sie ihm. Deine Mutter hat sie mir vor vielen Jahren gezeigt, sagte -435-
er. Sie gehört dir. Das kann ich nicht annehmen. Nimm sie, sagte ich. Bitte. Du solltest sie für Kolja aufbewahren. Kolja hat sie bereits. Rudi schenkte mir ein strahlendes Lächeln und nahm die Untertasse in die Hand. Auftritte und Abgänge, sagte er. Emilio dankte uns für die Gastfreundschaft und ging hinunter, um den Fahrern Bescheid zu sagen. Rudi folgte ihm langsam, seine Knie schmerzten. Ich stand mit Kolja am eisernen Treppengeländer. Gemeinsam sahen wir ihn hinunter gehen. Das also ist er?, sagte Kolja. Das ist er. Ist nicht viel dran an ihm, oder? Na, ich weiß nicht, sagte ich. Und wie auf ein Stichwort blieb Rudi im Licht der Lampe auf dem Absatz im zweiten Stock stehen, warf den Schal über die Schulter und vollführte, die Untertasse an die Brust gedrückt, auf dem Betonboden eine perfekte Pirouette. Langsam ging er weiter zum nächsten Absatz, vorbei an Schmutz und Flaschenscherben, verharrte wieder im Licht und wirbelte abermals herum, und seine Schuhe knirschten auf dem Beton. Keine Reue. Kolja legte mir den Arm um die Schultern, und ich dachte: Möge diese Freude bis zum Morgen dauern. In der Eingangshalle drehte Rudi sich ein letztes Mal in einer Pirouette, und dann war er fort.
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VERSTEIGERUNG DER RUDOLF-NUREJEWSAMMLUNG, JANUAR UND NOVEMBER 1995, NEW YORK UND LONDON Nr. 1088: Sechs Paare Ballettschuhe Schätzwert: $2300-3000 Preis: $44 648 Käufer: Mr. und Mrs. Albert Cohen Nr. 48: Kostüm für Schwanensee, 3. Akt, Prinz Siegfried, 1963 Schätzwert: $3000-5000 Preis: $ 29 900 Käufer: Anonym Nr. 147: Sir Joshua Reynolds: Porträt von George Townshend, Lord de Ferrars Schätzwert: $ 350 000-450 000 Preis: $ 772 500 (Höchstpreis für ein Gemälde dieses Künstlers bei einer Auktion) Käufer: Privat Nr. 1134: Französischer Refektoriumstisch aus Walnussholz -437-
Schätzwert: $ 22 500-30 000 Preis: $ 47 327 Käufer: Telefonischer Bieter Nr. 146: Johann Heinrich Füssli, R. A.: Satan flieht, von Ithuriels Speer berührt Schätzwert: $ 500 000-700 000 Preis: $ 761 500 Käufer: Anonym Nr. 1356: Theodore Géricault zugeschrieben: Homme nu à micorps (Bis zur Taille unbekleideter Mann) Schätzwert: $ 60 000-80 000 Preis: $ 53 578 Käufer: Telefonischer Bieter Nr. 728: Langer Jamawar-Schal, Kaschmir, spätes 19. Jahrhundert Schätzwert: $800-1500 Preis: $ 5319 Käufer: R. Ratnawke Nr. 1274: Porzellan-Untertasse aus dem zaristischen Russland in Schatulle aus Eichenholz Schatulle beschädigt) Schätzwert: $ 2000 Preis: $2750 -438-
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DANKSAGUNG Um die Privatsphäre lebender Personen zu schützen und verschiedenen fiktionalen Schicksalen Gestalt zu verleihen, sind in diesem Roman zahlreiche Personen- und Ortsnamen verändert worden. Ich habe gelegentlich zwei oder mehr historische Figuren zu einer einzigen zusammengefasst oder die Charakterzüge einer Person auf mehrere Protagonisten verteilt. Einige Schilderungen von Personen des öffentlichen Lebens sind korrekt, andere frei erfunden. Aus Gründen der besseren Verständlichkeit habe ich nicht immer die im Russischen gebräuchlichen Verkleinerungsformen von Vornamen verwendet. Im Verlauf der Recherchen zu diesem Buch habe ich viele Romane, Sachbücher, Gedichte, Zeitungsartikel und Internetseiten gelesen. Von unschätzbarem Wert war jedoch eine Biographie, die zu dem Zeitpunkt, als ich den Roman schrieb, maßgeblich war: Nurejew von Diane Solway. Allen, die sich für Rudolf Nurejews Leben interessieren, kann ich die Arbeiten von Julie Kavanaugh sowie ihr in Kürze erscheinendes Buch über den Tänzer empfehlen. Andere Bücher und Quellen, darunter auch Filme, sind so zahlreich, dass ich sie nicht alle erwähnen kann, doch mein besonderer Dank gilt den unerhört tüchtigen Mitarbeitern der New York Public Libraries sowie der American-Irish Historical Society, hier vor allem Dr. Kevin Cahill, Christopher Cahill und Bill Colbert. Außerdem danke ich an dieser Stelle vielen Menschen für ihre Freundlichkeit, ihre Hilfe und ihre Anregungen: Roman Gerasimow, der in Russland mein Dolmetscher -440-
war, Kathleen Keller, Tim Kipp, John und Beverly Berger, John Gorman, Ger Donovan, Irina Kendall, Josh Kendall, Joan Acocella, Lisa Gonzalez, Errol Toran D. C., Nick Terlizzi, Charlie Orr, Dämon Testani, Mary Parvin, Marina Stawiskaja, Jason Buzas, Jaco und Elizabeth Groot, Franςoise Triffaux, Brigitte Semler, Thomas Überhoff, Colm Toibin, Chris Kelly, Emiliy Tabourin, Alona Kimhi, Tom Kelly, Jimmy Smallhorne, Michail Jossel, Radik Kudojarow, Nikolai Korschun, Lja Kusnezow und seinen Freunden vom Mariinski-Theater, Galina Belskaja, Janni Kotsonis und Myrna Blumberg. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich auch den Mitarbeitern von Phoenix House, Metropolitan Books und der Agentur Wylie, insbesondere Maggie McKernan, Riva Hocherman und Sarah Chalfant. Und keine Danksagung wäre vollständig ohne die an Allison, Isabella und John Michael sowie an unsere Familien zu beiden Seiten des Ozeans.
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