HEINRICH EISEN
DER
SCHIENENWOLF
ROMAN
CARL RÖHRIG VERLAG • DARMSTADT
Copyright © 1957
bei Carl Röhrig Verl...
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HEINRICH EISEN
DER
SCHIENENWOLF
ROMAN
CARL RÖHRIG VERLAG • DARMSTADT
Copyright © 1957
bei Carl Röhrig Verlag Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung Druckhaus Darmstadt
Umschlagentwurf: Meyer-Wagner,
Verlagsnummer 56062
Hauptpersonen Günther Racke Reichsbahn-Inspektor, später ReichsbahnOberinspektor / ehemaliger Pak-Feldwebel, wegen schwerer Verwundung am linken Arm aus der Wehrmacht ausgeschieden / persönlicher Sonderberichter des Reichsverkehrsministers.
Eva Racke Günthers Frau / Krankenschwester.
Sigismund Liebedorn Reichsbahn-Betriebssekretär / Kamerad und
Schicksalsgenosse Rackes / Berliner.
Josef Schepperl Reichsbahn-Betriebswart / Kamerad und
Schicksalsgenosse Rackes / Oberbayer.
Janka ehemalige Partisanin.
1. KAPITEL
Es war nichts Sichtbares um sie als die schneegraue Öde, die weder Formen, noch Anfang und Ende hatte. Sie wußten, daß unten die Erde war und oben der Himmel, aber sie konnten nicht sehen, wo die Erde aufhörte und der Himmel begann. Es ging gegen Mittag; doch schien es früher Morgen oder später Abend und die Sonne noch nicht auf- oder schon untergegangen zu sein. Es war auch nichts Hörbares um sie außer dem Schürfen der Schlittenkufen, dem matten Patschen der Kamelhufe und dem unablässigen Wehen des Windes, der die Kälte der östlichen Weiten messerscharf über die Donsteppe blies. Wie dünne Fähnchen flog der Atem von ihren Nasen und Mündern und von den Nüstern des Tieres. Der Mensch im Schaffell, der zwischen den Höckern saß und im Rhythmus des schwankenden Ganges wie ein Perpendikel von einer Seite zur anderen ausschlug, drehte den Kopf zurück. Er war so vermummt, daß nur ein schmaler Ausschnitt der Gesichtsmitte zu sehen war: Augen, Nase, Mund. Die Augen waren bis auf einen schmalen Spalt zugekniffen, die bemerkenswert ausgebildete Nasenspitze kalkweiß und erstarrt, der Mund stieß Dampf aus und die Worte: „Ick komm' mir wie'n Polarforscha vor.“ Aus dem Fellknäuel im Stroh des weidengeflochtenen Schlittenkastens, aus dem nur ein vom ständigen Reiben roter Nasenknollen und eine vereiste Schnurrbartbürste sahen, antwortete eine Brummstimme: „I kimma vor wia a Depp.“ Der Kamelreiter antwortete sanft: „Wieso kommste dir nur so vor?“ Der im Schlitten überhörte die Anzüglichkeit und sagte versöhnlich: „Geh weita, Sigi, kehr'ma um!“ „Och nee!“ klang es weinerlich abwehrend zurück. „Is doch schöön, Sepp! Und nach Kowylkin is nun ooch nich mehr weita als nach Tazinskaja zurück. Nich wahr, Jablonoff?“ Er beugte sich bei dieser Frage zu dem Steppenbewohner hinab, der nebenher ging und das Kamel an der Leine führte. Weil es Germanski nicht gehorche, hatte er gesagt. Jetzt nickte er und
versicherte lebhaft: „Da-da“, wenngleich sehr zweifelhaft war, ob er die Frage überhaupt verstanden hatte. „Aba da hint hätt 'ma a warme Bud'n. Vastehst?“ maulte der im Schlitten. „Frierste denn?“ fragte der Reiter teilnahmsvoll. „Et hat doch bloß man 18 Grad unter Null.“ „Naa, naa“, schrie der im Stroh Verkrochene zu ihm vor. „Wer werd denn frier'n bei dera Hitz'n!“ Die Knollennase und die vereiste Bartbürste darunter zogen sich ganz in den hochgeschlagenen Pelzkragen zurück. Schepperl war wütend auf sich selbst. Als er mit diesem Dahdirl da vorne vor fünf Wochen bei Nacht und Nebel und einer saggrischen Kält'n vor den Steppenreitern aus dem elendigen Tapor getürmt und halb dafror'n, drei Quart'l vahungert und seelisch um und uma z'ammghaut in Obliwskaja im Krankenhaus gelandet war, hatte er geschworen, daß ihn keine zehn Dampfrösser mehr auf einen Steppenbahnhof bringen würden. Als sie sich aber vor drei Tagen beim Feldeisenbahnkommando in Charkow vom Urlaub zurückmeldeten, hieß es: „Der Gefreite Reichsbahnsekretär Sigismund Liebedorn und der Gefreite Reichsbahnbetriebswart Josef Schepperl melden sich zur Dienstleistung beim Bahnhofsvorsteher in Morosowskaja.“ Und statt daß er getreu seinem Schwur sagt: „Naa, in d' Stepp'n geh i nimma“, schweigt er, und der Sigi klemmt d' Back'n zamm und schreit „ja-woll!“ Hocherfreut sogar schreit er's, weil sie fünf Minuten vorher erfahren hatten, daß augenblicklich Inspektor Racke dort sei; wenn sie sich beeilten, würden sie ihn noch erreichen. Ihr alter Spezi Racke dort? Ja, da gab's kein Zögern mehr. Und auf der Fahrt nach Lichaja hatte Liebedorn noch viel Tröstliches vorgebracht: Morosowskaja sei ja kein Tapor, sondern nun, nachdem die Stalingradstrecke von Tschir bis nahe Obliwskaja in den Händen des Iwan sei, der größte und bedeutendste Ausladebahnhof für die Versorgung der Donfront und Sitz ihres Betriebsamtes und ihres Maschinenamtes. Auch allerhand Wehrmacht sei dort. Militärisch so geschützt seien sie während ihres ganzen bisherigen Osteinsatzes überhaupt noch nie gewesen. Aber schon die Fahrt von Losowaja ab hatte der Teufel gesehen.
Sie waren von einem Luftangriff in den anderen gerasselt. Der Knoten Lichaja war unter Sprengwolken begraben gewesen, als sie seiner nach drei Tagen und Nächten glücklich ansichtig geworden waren. Zwölf Stunden lang hatten sie vor einer Blockstelle gelegen, bis Einfahrt und Durchfahrt auf dem Frontgleis endlich wieder freigemacht waren. Und in Tazinskaja waren kurz vor ihrer Abfahrt durch die Schuld eines überarbeiteten Stellwerksmeisters zwei Züge zusammengerannt. Der Betrieb ostwärts war auf mindestens 15 Stunden lahmgelegt. Der Betriebswart Schepperl hatte sich nach allen vier Himmelsrichtungen umgesehen und dann gesagt: „Gehma fuchzehn Stund' schlaffa!“ Der Berlina hatte natürlich geflötet: „Och nee! Seit acht Daje penn' wa schon am loofenden Band! Is doch interessant hier!“ Und er hatte ihn mitgeschleppt, die Stadt zu besichtigen. O mei, Stadt! Eine Einöd, nicht viel anders als bei Tapor, mit einem Bahnhof drin. Der war allerdings weitläufig ausgebaut mit vielen Verladegleisen und -rampen und Anschlußgleisen. Ein Riesenklotz von einem Getreidesilo, ein paar fabrikartige Gebäude herumgestreut mit hohen Schornsteinen, ein paar Dutzend sogenannter Häuser, die in der schneegrauen Einförmigkeit der Gegend fast verschwanden - das war Tazinskaja. Nur eine Anzahl eigenartiger schmaler Tafelberge, langgestreckten Korndiemen oder Kartoffelmieten gleich, aneinander und hintereinander gereiht, zogen das Auge an. Das waren die zum Teil in gewaltigen Zelten, zum Teil nur unter Planen oder völlig schutzlos aufgestapelten Heeresgüter, Ausrüstung aller Art, Bekleidung, Waffen und Munition für die 6. Armee, Verpflegung auf 60 Tage für dreimal hunderttausend Mann. Und das alles hatten die Eisenbahner in Hunderten von Zügen über Tausende von Kilometern angefahren. Dieser Feldflughafen war zum Brennpunkt der Versorgung des Stalingradkessels geworden. Etwa 200 Transportmaschinen waren zusammengezogen, alles, was die Luftwaffe in Afrika und Norwegen, in Frankreich und Italien hatte freimachen können. Die meisten Besatzungen waren weder für den russischen Winter ausgerüstet, noch gab es ausreichende Unterkünfte für sie. Sie waren wohl oder übel nah und fern in den Dörfern und auf den Kolchosen untergebracht. Mit Pickel und Sprengstoff brachen sie Löcher und Höhlen aus dem Schnee und dem metertief
gefrorenen Boden. Flugzeughallen gab es nicht. Die Maschinen standen im Freien, schutzlos der eisigen Kälte und den Schneestürmen preisgegeben. Bodenpersonal und Piloten mußten sich vor jedem Start unter Aufwendung aller erdenklichen Mittel und Tricks stundenlang mühen, bis die Motoren endlich ansprangen. Sepp und Sigi hatten die Köpfe geschüttelt, dann war der Steppenbauer mit seinem kamelbespannten Schlitten aufgetaucht. Ganz begeistert hatte der Sigi geschrien: „Och Sepp! Kieke mal! Haste schon so 'n jroßet Kamel jesehn?“ Geringschätzig hatte er erwidert: „I siech jed'n Tag no a größas.“ „So? Beim Rasieren?“ hatte der Bazi gefragt. Denn jedesmal, wenn Liebedorn von seinen vier Schokoladebräuten kam, war er frech bis zur Todesverachtung. Darum hatte er auch den Bauern angehalten, war über die Deichsel auf den Kamelrücken gestiegen und hatte Schepperl den neuen Fotoapparat hinabgereicht: „So, knipse mir mal for meine Bräute!“ Daraus hatte sich eine gestenreiche Unterhaltung mit dem Kamelführer ergeben. Der Mann wohnte in dem 15 Kilometer entfernten Dorf Kowylkin, das auch Bahnstation war, 17 Kilometer vor Morosowskaja. Das hatte Liebedorn auf den unseligen Gedanken gebracht, einen Kamelritt zu unternehmen. Von Kowylkin hatten sie dann sicher wieder Fahrgelegenheit auf dem Schienenweg. Sie brauchten nicht zu warten, bis der Haufen in Tazinskaja abgeräumt war, sondern kamen noch heute ans Ziel. Es stellte sich heraus, daß der Kowylkiner bei einer in Tazinskaja verheirateten Tochter noch ein paar Filzstiefel und zwei großmächtige Schaffellmäntel gelagert hatte. Liebedorn, ausgestattet mit lückenloser Osterfahrung, hatte ein kleines Ostvermögen an Gebrauchsgegenständen mitgebracht, die jeden Pan und jede Matka und Panienka auch ohne Wodka in einen Freudenrausch versetzen mußten. Für eine Weckeruhr, eine Stablampe mit Ersatzbatterie, einen Rasierapparat mit Pinsel und 20 Klingen und ein Halbpfundstück Kernseife erstand er diese Schätze, den Reit- und Fahrpreis nach Kowylkin einbegriffen. So befanden sie sich jetzt auf dem, außer einem oder zwei Richtungsknicken kerzengeraden Dorffahrweg, der, anfänglich einige hundert Meter, bald aber einige Kilometer von der bis Kowylkin ausnahmsweise in großen Windungen verlaufenden
Bahnstrecke entfernt, dahinführte. Schepperl war geladen mit Grimm, eingedenk der warmen Bude, die er gegen diese Bluatsschees'n eingetauscht hatte. Bloß zweng den Racke! Und doch verhehlte er sich nicht, daß auch er sich saggrisch auf das Wiedersehn mit dem Pfundshammi freute und enttäuscht wäre, wenn sie ihn in Morosowskaja nicht mehr antreffen würden. Er sah an diesem Inspektor hinauf, als wäre er ein ganz großes Viech. Doch keineswegs, weil er Sonderberichter und eine Art Vertrauensmann des Ministers selbst war. Nein, einfach, weil er eben der Racke war. „A Spitzbuamheiptling, a ganz a odrahta!“ murmelte Schepperl in seinen Pelz hinein. Mit dem man und für den man in die größte Sauerei hineintappte, weil er einen auch aus der größten Sauerei herausholte. Nach seiner Alten und den Kindern war neben dem Berliner, dem nixig'n, Racke der Mensch geworden, der ihm am nächsten stand. Schepperl hatte sich an seinen Gedanken über Racke so erwärmt, daß er einen schmalen Streifen Gesicht von den Augen bis zum Kinn aus dem Pelz schob und sich selbst bis zur Hüfte hinab aus dem Stroh hob. Sein Auge haftete erheitert auf Sigi, der stolz wie ein Wüstenscheich auf seinem vierbeinigen Throne saß, die neuen, mit Stroh ausgestopften Filzstiefel auf die Deichseln gestellt. Sie kamen durch eine Anzahl Lehmkaten und weitläufige Kolchosegebäude. „Babowka“, sagte Jablonoff. „Noch kleine Stunde.“ Hier knickte der Weg aus der Nordost- in genaue Ostrichtung um und eine halbe Stunde später im rechten Winkel nach Norden. Noch eine ödere Öde konnte es auf der ganzen Welt nicht mehr geben. Als endlich der Bahnhof Kowylkin und dahinter die Katen auftauchten, sagte Liebedorn: „Wenn ick hier bleiben müßte, wer ick jemietskrank.“ Schepperl hatte keine Zeit, sich mit dieser tragischen Ankündigung zu befassen, er hatte mit seinen Luchsaugen eben eine vielversprechende Zuggarnitur erspäht. Obgleich die Lok hinter dem dürftigen Bahnhofsbau verborgen, also in Richtung Morosowskaja stand, sah er an der abstreichenden mächtigen Rauchwolke, daß sie Dampf aufmachte. Schepperl brüllte zu Jablonoff vor und fuchtelte so wild und unmißverständlich mit den Armen, daß auch für den Russen der
Befehl klar wurde, der in folgende Worte gekleidet war: „Los! Dawai, oida Krautara. Caracho! Galopp! Wenn uns da Zug auskimmt, drah i da 's Gnack um! Host mi?“ Jablonoff schnalzte, lockte, schmeichelte, schrie und zerrte und versprach dem Kamel alle Seligkeiten des Kamelhimmels. Es schaukelte sich dann auch nach anfänglichem unwilligen Grunzen so plötzlich in einen weitgreifenden Trab, daß der Lenker sich schleunigst auf die Schlittenkufe schwingen mußte und Liebedorn unter vergeblichem Haltgeschrei verzweifelt den vorderen schwabbligen Höcker umschlang, sich mit den Zähnen an den Fellzotteln festhielt und die Filzstiefel krampfhaft zwischen Deichseln und Kamelleib klemmte. Jablonoff wollte vor dem Bahnhof halten, aber Schepperl sprang im Schlitten hoch und brüllte: „Weita! Dawai! Caracho! Auf'n Bahnsteig! Perron! Vor'n Zug!“ So bogen sie wie die wilde Jagd um die Ecke der Bahnhofskate, die so gar keine Ähnlichkeit mit den oft museums-, ja schloßartig aussehenden größeren Bahnhöfen westlicher Bezirke hatte. Vor dem vielversprechenden D-Zug-Wagen stand eine größere Gruppe Eisenbahner in Feldgrau. Obgleich man vor lauter Vermummungen nur wenig von Schulterstücken, silbernen Kragenspiegeln, Hoheitsadlern und Kordeln blitzen sah, war klar, daß es sich meist um Offiziere und hohe Beamte handelte. „Schaug, Sigi, dee Großkopfat'n!“ konnte Schepperl gerade noch schreien, da brachte Jablonoff sein Kamel mit hastigen Beschwörungen oder Beschimpfungen und indem er sich mit beiden Händen und seinem ganzen Gewicht an den Zügel hängte und schleifen ließ, kurz vor der Gruppe der Offiziere zum Stehen. Die hatten sich, ihre Unterhaltung unterbrechend, alle dem originellen Gespann zugewandt, das da angestürmt kam, als wollte es den ganzen Dienstzug aus dem Gleis werfen, und brachen nun in laute Heiterkeit aus. Liebedorn hielt noch immer den Höcker umklammert, aber seine Zähne hatten die Fellzotteln losgelassen; er hatte den Mund voller Haare. Seine Filzstiefelspitzen zerrten sich zwischen Deichseln und Kamelleib heraus, und je mehr seine Eingeweide ihre Ruhelage wiederfanden, umsomehr richtete er sich auf. Eben wollte er vorschriftsmäßig Meldung machen, als schon ein rauher Ruf Schepperls aus dem Schlitten ertönte: „Do gibt's gor nix'n z'lacha! Net woahr!“
Tatsächlich brach das Gelächter ab, und als Schepperl nun in das Dutzend verblüffte Gesichter sah, überlegte er sich, daß es gewiß notwendig war, seine Heimatsprache etwas zu verdolmetschen, weil die Großkopfeten alle so außerbayerisch aussahen. Darum fragte er, über einen der kurzen Pause folgenden Heiterkeitsausbruch die Stirne runzelnd, im knappen Ton eines Vorgesetzten in seinem besten Hochdeutsch: „Tut dü ser Zug nach Morosowskaja fah-ren?“ „Ja, das tut düser Zug“, antwortete lachend ein hochgewachsener, in einen bis auf die Knöchel fallenden Militärmantel gehüllter und pudelmützenverkappter Mann, einen Schritt aus der Gruppe vortretend. Ein anderer ebenso hochgewachsener an seiner Seite, blond und blauäugig, war trotz ausgiebigen Winterschutzes immerhin noch als Flakoffizier zu erkennen. Befriedigt nahm Schepperl die Auskunft zur Kenntnis, dankte mit einem Kopfnicken und einem freundlichen: „Hernach is guat!“ und rief zu Liebedorn hinauf: „Kimm aba, Sigi! Steig'n ma ei!“ Er kletterte aus dem Schlitten, Liebedorn vom Kamel. Aus dem Gelächter der Herumstehenden klang der Ausruf des Bepudelmützten: „Wer seid ihr denn, wenn man fragen darf?“ Er hatte eine markig dunkle Stimme. Da Liebedorn inzwischen mit beiden Füßen den Boden erreicht hatte, baute er sich, so stramm es ihm die steifgefrorenen Knochen erlaubten, vor dem Frager auf, der ihn noch um einen halben, Schepperl um einen und einen halben Kopf überragte, und meldete: „RBS Liebedorn und RBW Schepperl auf Fahrt nach Morosowskaja.“ „Was wollen Sie denn dort?“ Noch ehe Liebedorn zu einer Antwort kam, sagte Schepperl, der sich inzwischen, breit- und leicht o-beinig neben ihm aufgepflanzt hatte: „Was hoaßt wol-len? Woi'n ibahaupts net! Miass'n tean ma! Dienstmacha auf'n Bahnhof.“ Nach einer kleinen Weile sprachlichen Überlegens antwortete der Große: „Da könnt ihr gleich hierbleiben.“ „Is dös Morosowskaja?“ fragte Schepperl spitz. „Natürlich nicht. Aber -“ „Nix aba!“ unterbrach Schepperl. „B'fehl is B'fehl! Oiso meld' ma uns bei'n Bahnhofsvorsteha in Morosowskaja.“
Es gab jetzt nicht nur lachende, sondern auch unwillige Gesichter, aber Schepperls Gesprächspartner schien eine überlegen ruhige und menschenfreundliche Anlage zu haben und glücklicherweise kein Barraskopf zu sein. Er wandte sich dem Oberleutnant zu und sagte achselzuckend: „Brüderchen, ich glaube, du mußt mir helfen.“ Währenddessen war ein Unteroffizier aus der Gruppe vorgetreten: „Halt endlich dein Maul, Mensch!“ fuhr er Schepperl an. „Du bist wohl verrückt! Du sprichst mit dem Chef der Betriebsabteilung, Sonderführer im Majorsrang, Reichsbahnrat Burgherr! Und der Oberleutnant ist der Chef der Maschinenabteilung, Reichsbahnrat Martini. Mensch, wenn die wollen, fressen se dich roh im Sauerkraut!“ Dem Sepp ging's Herz auf; er fühlte sich sachgemäß angesprochen. „Ko i dös schmecka?“ fragte er freundlich zurück. „Sagts ös hoit glei!“ Und er wandte sich mit heiterster Miene seinem Abteilungsingenieur zu: „Hob die Ehr' Herr Reichsbahnrat! Aba auf dera Klitsch'n bleib'n ma net.“ Liebedorn brach der Angstschweiß aus, er versuchte eine Entschuldigung zu stammeln, aber Schepperl knurrte ihn böse an. Dagegen hörte er ruhig und sichtlich überlegend Martini zu, der jetzt im Tone einer Plauderei unter guten Kollegen das Wort nahm und ihm erklärte, daß aus der Klitschen ein großer Bahnhof gemacht werden müsse, weil ostwärts so viele Bahnhöfe verloren gegangen seien und auch schon Obliwskaja bedroht werde. Moro und Tazinskaja aber verdauten die Versorgungs- und Truppenzüge für die Front im großen Donbogen nicht allein. Daher sei soeben der sofortige Ausbau dieses Bahnhofs im einzelnen beraten und festgelegt worden. Da vorläufig sogar Bahnhofspersonal von Moro nach Kowylkin abgestellt werden müsse, sei es doch nur selbstverständlich, daß sie beide gleich hierblieben. Während der Reichsbahnrat-Oberleutnant in der Uniform der Flak so kollegial mit ihm sprach, kam es Schepperl nachträglich selbst so vor, als ob sein bisheriges Benehmen, ganz abgesehen vom Militärischen, gegenüber so hohen und liebenswürdigen beruflichen Vorgesetzten ziemlich fragwürdig gewesen wäre. Darum legte er jetzt seine ehrliche Hochachtung, so weit er das überhaupt zustande brachte, in seine Haltung und in seine Worte: „Jo, wann's so is, hernach bleib'n ma. Was sei muaß, muaß sei.“
Er legte den Kopf etwas schief und fügte nach kurzem Zögern entschlossen hinzu: „Wenn's erlaubt is, z'frogn - wo san S' denn her, Herr Reichsbahnrat? Wissen S', da Eisenbahnatitel is ma da liaberne.“ Martini antwortete lachend: „Von Berlin. Und Sie aus der Nähe von München, Herr Schepperl?“ Schepperl strahlte: „Jo, gell, dös spannen S' glei!“ Burgherr fügte grinsend hinzu: „Ich bin Westfale.“ Schepperl wiegte bedauernd den Kopf hin und her, dann sagte er und umfing beide mit treuherzigem Blick: „Macht nix. ös seids zwoa gführige Manna. Da Sigi is koa Baya und da Racke -“ Er unterbrach den Fluß seiner Rede und rief erschrocken aus: „Jessas! Naa! Mia kenna net bleib'n! Mia müass'n doch nach Moro!“ „Ja warum denn?“ fragten Martini und Burgherr wie aus einem Munde. „Zweng den Racke“, knurrte Schepperl in einem Tone, wie wenn er auf diesen Racke fuchsteufelswild wäre. „Racke? Meinen Sie den blauen Inspektor?“ „Freili, an söll'n moan i. Dea is unsa Freind.“ „Seinetwegen brauchen Sie auch nicht nach Moro. Er ist nämlich hier.“ „Wos? Da Racke? Wo?“ Schepperl schickte sich an, mit dem Brustkorb und den Ellenbogen den Augen zu Hilfe zu kommen, die in der feldgrauen Gruppe vergeblich nach etwas Blauem suchten, daher beugte Martini rasch vor: „Nicht mehr bei uns. Bei einem Kameraden von der Luftwaffe. Im Dorf.“ Schepperl fuhr nach Liebedorn herum: „Hostas g'hört? Do is a, da Racke! Schaug net so spinnat daher! Hock di wieda aufi! Dawai! Mia rumpeln glei hin!“ Das Kamel, so nahe seinem Stall, griff sofort aus, als der Reiter zwischen seinen Höckern saß, kaum, daß sich Liebedorn festklammern, Jablonoff und Schepperl noch auf den Schlitten springen konnten. Schepperl warf den Arm hoch und schrie: „Pfüat Gohd! Und zweng dera Klitsch'n brauchen S' Eahna nix denka! Dös pack ma leicht!“ „Sind das nicht großartige Kerle?“ rief Reichsbahnrat Burgherr seinem Freunde Martini zu.
„Unbezahlbar!“ lachte der Oberleutnant. „Schade, wir sollten sie doch mit nach Moro nehmen. Solch heitere Einlagen könnten wir in dem begonnenen Trauerspiel gut brauchen.“ „Kopf hoch, Brüderchen!“ gab Burgherr lachend zurück. „Wegen Stalingrad geht die Reichsbahn nicht unter!“ Martini wurde plötzlich ernst. Seine blauen Augen sahen grüblerisch über den Schienenstrang hin. „Wer weiß“, sagte er leise. * Im Dorfe drüben wußte jedes Kind, wo Racke war. Eine blaue Eisenbahneruniform fiel in dieser Gegend auf und der steife Ellenbogen war ein weiteres untrügliches Kennzeichen. Eine ganze Schar großer und kleiner Dorfbewohner lief in lebhafter Unterhaltung um Jablonoffs Gespann herum bis vor das Haus des Dorfstarosten mit. Jablonoff lachte und zeigte auf eine Kate, hundert Schritte weiter. „Dom tarn“, sagte er. Das war sein Haus. Er schien öfter gute Geschäfte zu machen, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Lehm- und Bretterbuden war es weiß gekalkt. Es hatte auch ein stattlicheres Dach, außerdem standen ein paar Bäume neben einer Ecke. Schepperl kannte sie an der Form. Weichselkirschen. Wie weiße Blütensträuße sahen sie in ihrem Schneekleid aus. Die beiden hochwohlgeborenen Herren müßten ihn und seine Familie besuchen kommen, machte Jablonoff seinen Fahrgästen vorwiegend pantomimisch begreifbar. Schepperl sagte „da, da“, Liebedorn enthielt sich einer Zusage. Er hatte es auch nicht eilig, von seinem Reittier abzusteigen. „Sieh doch mal nach“, trug er Schepperl auf, „ob er überhaupt da ist.“ Schepperl polterte hinein. ,Er' war da. Er saß mit einem gelbbespiegelten Feldwebel am Tisch und auf dem Tisch lag eine Karte, über die sie die Köpfe streckten. Jetzt hoben sich diese Köpfe und der Feldwebel schimpfte: „Ja, wie hammersch denn? Kannst du nicht anklopfen, du Lümmel!“ Es war eine Bullenhitze, Schepperl warf den schweren Schaffellmantel in die Ecke, grinste in Rackes erfreut verblüfftes Gesicht und sagte: „Do samma! Geh' außa, bals d'a Kamel auf an Kamel reit'n seng magst.“
Racke sprang vom Stuhl auf, stieß Schepperl im Vorbeigehn die Faust vor den Bauch, das war ihre Begrüßung, und fuhr zur Türe hinaus. Vom Kamel herab schüttelte ihm Liebedorn die Hand. Alle vier Bräute ließen grüßen und jede hätte ihm eine Tafel Schokolade für ihn mitgegeben unter ehrenwörtlicher Zusage, daß er sie auch gewissenhaft abliefere. Nach dieser Ansprache erst stieg er ab. Kinder schleppten das Gepäck in die Stube und erhielten eine Handvoll Drops. In der Stube saß der Lümmel inzwischen schon hemdsärmelig dem Feldwebel der Luftwaffe Eicher gegenüber, der im Zivilberuf Technischer Reichsbahnangestellter und im Reichsbahnzentralamt in München tätig war. Eicher gehörte zum Bodenpersonal des Feldflughafens Tazinskaja. Er hatte jahrelang neben Racke die Schulbank gedrückt, dann hatte sie das Leben getrennt. Schepperl war in die Ergründung der Zusammensetzung eines Begrüßungsgetränks vertieft, das Eicher als Schnaps bezeichnet hatte. Zwiebel, faule Eier und Pfeffer zu gleichen Teilen, schätzte Schepperl, in einem Gemisch von Petroleum, Benzin und Spiritus angesetzt. Es ermögliche, wie Eicher behauptete, auch verwöhnten Zungen, die 5 Gramm deutschen Tee, die pro Tag und Kopf gefaßt wurden, nicht nur zu rauchen, sondern im erprobten Verhältnis ein Teil Tee zu zwei Teilen Schnaps auch zu trinken. Der Feldwebel hatte bei seinem Nachrichten-Zug zu tun und da saßen denn die drei, die gemeinsames Erleben zusammengeschweißt hatte, wieder einmal beisammen und gedachten des vierten, der Glück hieß und immer alles verloren hatte, was er liebte. Auch das Leben. Schepperl und Liebedorn erzählten vom Urlaub. Ihre Augen lachten wieder. Sie hatten sich bald, eigentlich schon auf der Fahrt nach Hause, von ihrem körperlichen und seelischen Zusammenbruch bei Tapor erholt. Dann war es ihnen ergangen, wie es fast allen Urlaubern zu ergehen pflegt: In der Erinnerung überwogen nicht die Stunden und Tage der Mühsal und Entbehrung, des Grauens und der Todesfurcht. Sie verblaßten mehr und mehr. Was einem aber an Schönem und Heiterem, an Stimmungen der Natur, der Kameradschaft, ja auch des Kampfes das Herz erregt und bewegt, was man an Eindrücken fremder Landschaften und fremder Völker gewonnen hatte, was man
geleistet hatte auf dem Platz, den einem das Schicksal in diesem Kampf angewiesen, gewann so viel Farbe und Glanz, daß man die Rückkehr dorthin, wo mit dem Tode um das Leben gewürfelt wurde, mit neuem Mut antrat und an seinen persönlichen Glückstern glaubte. Allerdings wußten weder Schepperl noch Liebedorn, wie ihnen ums Herz sein würde, wenn sie als Frontsoldaten dem Feuerradien der Schlacht selbst preisgegeben wären. Racke wußte mancherlei zu erzählen, was Liebedorn auffallend bedrückt und Schepperl ungewohnt kleinlaut stimmte. Ein Schweizer Sender hatte behauptet, daß die Stalingradarmee bereits eingeschlossen und ihr Schicksal besiegelt sei. Er hatte es nicht geglaubt, aber dennoch seinen Urlaub vorzeitig abgebrochen, um auf jeden Fall noch aus eigener Anschauung von jenen Eisenbahnern berichten zu können, die bis in die Vororte von Stalingrad Züge fuhren. Er war zu spät gekommen. Jenseits des Don hatte der Russe bereits zugemacht. Wenn es der 6. Armee nicht gelang auszubrechen, waren mit ihr auch die Eisenbahnpioniere und Feldeisenbahner verloren, die drüben auf der eingleisigen Breitspurstrecke Betrieb gemacht hatten. „Ich bin nur noch bis Tschir gekommen“, sagte Racke. „Ab Obliwskaja glaubte man sich schon im Kampfgebiet. Weder Wehrmacht noch Eisenbahn wurden der Verhältnisse noch Herr; es sah überall verheerend aus. Die Besatzung des Bahnhofs und des Betriebswerks Tschir hatte kranke Augen vor Sorge um ihr Schicksal und vor Hoffnungslosigkeit. Es war kein Geheimnis, daß der Frontbogen diesseits des Don nördlich und nordwestlich Tschir am Zerreißen war. Aber die Eisenbahner durften ihren Posten nicht verlassen, obgleich keine Züge mehr kamen und wahrscheinlich auch keine mehr abgehen würden. Fliegerbomben und Stalinorgeln legten die Bahnhofsanlagen immer wieder lahm und zerschlugen die Züge. Auch der Wasserturm war zum Teufel gegangen. Die Bekohlungsanlage brannte und konnte nicht mehr gelöscht werden. Racke unterbrach sich, es hatte geklopft. Ein Russe kam herein. Er befand sich in einem Zustand größter Erregung und Furcht. Er sprach gut deutsch, wollte zu Eicher. Wollte bitten, daß er und seine Familie in einem Kraftwagen der Luftwaffe mit nach Tazinskaja fahren dürfe.
„Warum denn? Was haben Sie denn?“ fragte Racke verwundert. „Morgen kommen die Russen“, stieß der Russe aus. „Na, na“, sagte Racke zweifelnd und beruhigend, Schepperl brummte „mach Mäus“, Liebedorn aber hatte im Nu erschrockene Augen. „Ich bin Ingenieur“, fuhr der Mann fort. „Sie werden mich umbringen. Auch meine Frau und meine Kinder. Weil ich für die deutschen Flieger gearbeitet habe.“ „Woher wollen Sie denn wissen-?“ Racke brachte die Frage nicht zu Ende. Der Mann stürmte schon wieder hinaus, um den Feldwebel zu suchen. „Moanst, daß da Iwan wirkli kimmt?“ fragte Schepperl. „Unsinn“, antwortete Racke. „Wenn diese Gefahr bestünde, wäre sie doch zuerst den Stäben in Moro und dem Feldflughafen in Tazin bekannt, wo es sogar einen General gibt.“ Mit Todesverachtung schluckten sie von ihrem Schnaps und Racke erzählte wieder. „Mit einer Schadlok, die aber noch lauffähig war, einen Güterwagen mit Schwerverwundeten angehängt, fuhr ich wieder westwärts. Tausend Meter vor Surowokino, in der einzigen stärkeren Kurve der ganzen Strecke, die außerdem einer Kolchose wegen nicht eingesehen werden konnte, kam uns ein Zug entgegen. Zu gleicher Zeit heulten die Pfeifen beider Lok. Wir versuchten mit Gegendampf zu entkommen, aber es war zu spät. Wir konnten gerade noch abspringen vor dem Zusammenprall. Der Flakschutzwagen vor der Lok des Gegenzuges wurde zertrümmert, die Mannschaft getötet. Der Lokführer erlitt einen Schädelbruch, der Heizer Rippenbrüche. Außer dem Schlußschaffner war nur einer unverletzt, obgleich er mit auf der Lok gewesen war: der Schuldige. Ein Hauptfeldwebel. Es handelte sich nämlich um einen Munitionszug. Schwere Granaten. Der Hauptfeldwebel war ihm von Tschir aus entgegengefahren, weil die Kolonne des Regiments seit Tagen verzweifelt auf ihn wartete. ,Suchen Sie den Zug und bringen Sie ihn so schnell wie möglich!' hatte der Regimentskommandeur befohlen. In Morosowskaja hatte der Spieß ihn erwischt. Der Zug sollte abgestellt werden, weil die Lage in Tschir inzwischen ungeklärt war. Er hatte durchgesetzt, daß er weitergefahren
wurde. Bis Surowokino war alles glatt gegangen. Dort war die Ausfahrt gesperrt. „Nach Tschir ist keine Telefonverbindung“, erklärte ihm der Fahrdienstleiter, ein Unteroffizier. „Wir wissen nicht, ob die Strecke frei ist.“ „Wir fahren!“ befahl der Hauptfeldwebel. Der Lokführer weigerte sich, aber der Hauptfeldwebel zwang ihn mit vorgehaltener Pistole zu fahren und es konnte ihm auch nicht schnell genug gehen. Racke nahm einen Schluck und fuhr fort: „Ich huckte meinen Rucksack und ging mit meinem Lokpersonal nach Surowokino hinein. Das Nest hatte auch mit Obliwskaja keine Verbindung. Ich fuhr mit einer Draisine los. Auf halbem Weg sah ich Panzer gegen die Bahnlinie anrollen. Als ich erkennen konnte, daß es russische waren, bekam ich auch schon Feuer. Sie legten einen Sperriegel vor mich, aber die Entfernung war noch zu groß, die Gleise erhielten keinen Treffer und ich kam durch. In Obliwskaja wurde ich zunächst ausgelacht, schließlich schickte der Ortskommandant doch einen Panzerspähwagen. Ich telefonierte mit Morosowskaja, erhielt den Betriebsingenieur selbst, schilderte ihm den Unfall und die Feindlage. Burgherr entschloß sich, auf jeden Fall einen Hilfszug zu schicken. Eben, als er einfuhr, es war inzwischen Nacht geworden, kam der Panzerspähwagen zurück. Dort, wo ich beschossen worden war, standen mehrere T 34 an der Strecke. Surowokino war vom Iwan besetzt, nicht nur Panzer, auch motorisierte Infanterie, mindestens zwei Kompanien stark, hatte der Spähtrupp festgestellt. Mit den paar Landsern, die in Obliwskaja lagen, konnte der Iwan nicht angegriffen werden. Sie besetzten zusammen mit allen Eisenbahnern, die auf dem Bahnhof und im Bw nicht dringend gebraucht wurden, die vor dem Bahnhof und am Ortsrand vorbereiteten Stellungen. Am Morgen kamen Panzer und Pak aus Morosowskaja, aber der Sperring, den der Iwan inzwischen um Surowokino gelegt hatte, konnte nicht mehr gesprengt werden. Der Kommandeur der bunt zusammengewürfelten deutschen Kampfgruppe mußte sich darauf beschränken, eine Verteidigungslinie nach Osten mit weit zurückgebogenen Flügeln zum Schutz seiner offenen Flanken festzulegen, behelfsmäßige Stützpunkte zu errichten und zu versuchen, nach Norden und Süden an eine rumänische oder
deutsche Einheit Anschluß zu bekommen. Von dieser Stunde an war Obliwskaja Betriebsspitze und ist es noch heute.“ Racke schwieg. Er zündete sich eine neue Zigarette an. „Und de Eisenbahna von den Nest?“ fragte Schepperl. „Bisher hat man nichts mehr von ihnen gehört.“ „Und da Munizug?“ Racke zuckte die Achseln. „Frag nich so dämlich, Mensch!“ sagte Liebedorn. Racke erzählte weiter. „In der Frühe wurde eine Funknachricht der Truppenreste aufgefangen, die noch bei Tschir kämpften. Sie waren seit 20 Stunden zwischen der Stadt und dem Fluß eingekesselt. Zwei Durchbruchsversuche waren gescheitert. Sie hatten die Munition verschossen. Sie waren dabei, mit den letzten Handgranaten ihre paar Werfer, Panzerabwehrkanonen und Maschinengewehre zu zerstören. Stadt und Bahnhof standen in Flammen. Vor ihren Augen bauten russische Pioniere eine neue Pontonbrücke über den Don.“ Das Gespräch wurde durch den Eintritt Jablonoffs unterbrochen Ob die gutten Cherrn nicht kämen? Schepperl war bis an den Hals voll Grimm, er schüttete ihn statt über Liebedorn über Jablonoff aus. „Saggera!“ fuhr er ihn an. „Kunnst as net dawart'n, du Hammi? Wenn i sag, i kimm, nacher kimmi!“ Der Steppenbauer wußte sicher nicht, was diese Worte bedeuten sollten und was er für einen Fehler gemacht hatte. Er verbeugte sich ein dutzendmal, die Mütze in der Hand, unter einem Schwall von Worten, wahrscheinlich Entschuldigungen, mit unaufhörlichem poschaluista und sspassibo - bitte, danke - und ging rückwärts wieder zur Türe hinaus. „Oiso geng' ma“, sagte Schepperl. Liebedorn zögerte. Ob es nicht ihre Pflicht wäre, meinte er, sich im Bahnhof umzutun. Schepperl würdigte ihn keiner Antwort; er machte sich zum Ausgehen fertig. Racke sagte: „Der Bahnhof hat ja sein Personal. Erst mit dem beginnenden Ausbau werdet ihr benötigt. Also nicht vor morgen oder übermorgen. Und wegen des Iwan brauchst du dir keine Sorge zu machen. Von Obliwskaja bis zu uns her ist's noch weit. Und dazwischen liegt Moro. Zum türmen bleibt dir auch von hier aus Zeit genug.“
Daß auch Racke zu Jablonoff mitkam, war selbstverständlich. Draußen stand der Bauer. Strahlend nahm er sie in Empfang, samt Eicher, der gerade zurückkam, und führte sie stolz zu seinem Anwesen. Er hatte den Nachbarn seinen neu erstandenen Besitz an begehrten wertvollen Dingen gezeigt, nun standen viele herum, Groß und Klein, und bestaunten auch seine Gäste. Die beiden leidlich hübschen Töchter kamen unter die Türe. Sie trugen lange rosageblumte Sommerkleider, als Unterkleid, was unschwer zu erkennen war, ein Barrashemd, unter dem Barrasunterhosen und über dem Rand der kurzschäftigen Filzschuhe graue Barrassocken hervorsahen. Eben kam die Mutter aus dem Stall. Sie war genau so gekleidet, nur Größe 50 statt 44 und nicht rosa, sondern grün geblümt. Schepperl und Liebedorn erinnerten sich der Frühlingsbummel in Poltawa mit ihrer freundlichen Silhouettenschau. „Wenn de in Summa dee Winterwasch' ausziang, was ham s' nacher o?“ fragte Schepperl mehr sich selbst, als die andern. Eicher lachte: „Ich habe im Sommer bei Charkow Mädchen in Hös'chen und Büstenhalter auf den Feldern arbeiten sehn, und mitten im Winter kam einmal ein Mädchen splitternackt mit einem Eimer aus einer Kate, ging seelenruhig an unserer Kolonne vorbei zum Brunnen und wieder zurück.“ Matka Jablonoff brachte einen Weidenkorb an. Der Korb war mit überfaustdicken kugelförmigen grauen Gebilden gefüllt. Vergnügt rief Schepperl aus: „Guat is! Mei Leibschbeis gibts! Knödln!“ Lautes Gelächter war die Antwort und Eicher klärte seinen Irrtum auf: „Das sind Stalinbriketts, meist das einzige Heizmaterial in der Steppe.“ „Wos?“ staunte Schepperl. „Knödeln zum hoaz'n?“ „Ja. Die Frauen sammeln das ganze Jahr über sorgfältig alles, was an Rinder-, Schaf- und Kamelmist anfällt, Kamelmist ist besonders wertvoll. Natürlich kommt auch allerlei Allzumenschliches dazwischen. Das gibt allmählich einen ganzen Berg. Der wird mit Wasser übergossen und mit nackten Füßen zu einem sämigen Brei getreten. Aus ihm werden dann mit den Händen die Knödeln geformt. Mahlzeit!“ Die Kate hatte nur einen einzigen Raum. Er war, den gewaltigen Lehmofen und ein breites Bett ausgenommen, leer.
Eine Art Betschemel war unter einem papierflitterumkränzten Heiligenbild in eine Ecke geklemmt und eine große runde Holzplatte lehnte an einer Wand. An einer anderen hing in Mannshöhe ein gelber Marmeladeeimer über einem, auf dem Boden stehenden Kübel. Auf dem Ofen lag die Großmutter. Sie war blind, wie Jablonoff erklärte, und verbrachte dort oben den Rest ihres Lebens. Es war mollig, aber nicht übermäßig warm. Die beiden kleinen Fenster waren mit Papierstreifen verklebt. Die Stube bekam den ganzen Winter über nur dann einen kurzen Schwall frische Zugluft, wenn die Türe geöffnet wurde. An diesem Tage war es bestimmt noch nicht oft geschehen. Da weder Tisch, noch Stuhl, noch Bank zu sehen war, schien es sich bei der Einladung um eine Stehgesellschaft zu handeln. Jablonoff ließ eine Flasche sogenannten Schnaps herumgehn. Glücklicherweise ohne Glas. Man brauchte nur so zu tun, als schlucke man, und konnte alles wieder in den Flaschenhals zurückgurgeln. Prost! Gesundheit! Hundert Jahre! Mit mißtrauischem Interesse sahen sie der Matka beim Kochen zu. Sie hatte einen Nudelteig angerührt, nahm das leidlich glatt gehobelte Nudelbrett von der Wand und stellte es auf die kurzen Fußklötze, die es auf der Unterseite hatte, wie sich nun herausstellte. Kniend wellte sie darauf den Teig aus, schnitt ihn in gleichmäßig große, annähernd quadratische Stücke, kleckste auf jedes einen Löffel voll Quark, den Jablonoff in einer großen irdenen Schüssel aus der Molkerei in Tazinskaja mitgebracht hatte, und schlug ihn in die dünnen Fladen ein. Genau so würden in Württemberg die 'Maultaschen' gemacht, sagte Racke. Allerdings hätten sie eine andere Fülle. Keinen solchen Dreck. Die Matka schien die Herabsetzung in Rackes Worten empfunden zu haben. Mit vor innerer und äußerer Wärme und freudigem Eifer hochrotem Antlitz beteuerte sie: „Prima gutt! Serr prima gutt!“ „Nur prima gutt“, lachte Eicher, „daß Winter ist. Im Herbst ist uns schon schlecht geworden, wenn wir weißen Käse nur von Ferne gesehen haben, so voller Fliegen war er. In der Molkerei gab es Millionen. Jeden Tag erhielten wir als Abendkost 100 Gramm Quark. Er sah immer aus, als wäre er voller Rosinen. 75 Gramm davon waren Fliegen.“
Eicher lief weg, um sein eigenes Abendbrot zu holen. Er brachte Brot und ein Stück Gummiwurst, wie man die Proviantamtsblutwürste bezeichnete, weil sie mit Buna vermischt sein mußten, denn sie sprangen wie Gummibälle auf und ab, wenn man sie fallen ließ, oder eine Stunde lang hin und her, wenn man sie in einer Stube an die Wand warf. Inzwischen waren auch die Quarkpastetchen gebacken. Sie kamen mitten auf die Holzplatte. Alles setzte sich mit untergeschlagenen Beinen drumherum, wobei die Damen die geblümten Kleidchen hinten über das barrasbehoste Sitzfleisch hochzogen. Liebedorn, der nie und nirgends versäumte, sich bei dem mehr oder weniger schönen Geschlecht als Unterhalter beliebt zu machen, erkor sich den Platz zwischen den beiden Panienkas und grinste: „Mensch, is det ne Wucht!“ Alles griff mit den Händen zu und die drei Neulinge verbrannten sich dabei die Finger, Zunge, Zahnfleisch und Lippen, während die gierig schlingenden und schmatzenden Gastgeber zweifellos gelernte Feuerfresser waren. Von Zeit zu Zeit stand die Matka auf und schob der Großmutter auf dem Ofen einen Klumpen in den Mund. In kurzen Zwischenräumen hustete die Alte heftig, und wenn sie das eine Zeitlang getan hatte, holte sie mit einem gewaltigen Räuspern den ganzen Auswurf zusammen und spuckte ihn über die um die Holzplatte Sitzenden hinweg in die Ecke. Sie mußte das schon geübt haben, als sie noch nicht erblindet war. Liebedorn machte jedesmal eine kleine höfliche, aber auch etwas nervöse Verbeugung, denn er saß in der Flugrichtung und war auch im Türkensitz von höherem Wuchs als die andern. „Ick will zwar nicht meckern“, meinte er sanft, „aber wenn det so weita jeht, weeß Jott, ick atme ihr in!“ Nach dem Essen enthüllte die Familie das Geheimnis des Marmeladeeimers an der Wand. Jablonoff goß aus einer Kanne, die auf dem Ofen stand, Wasser ein. Aus einem kleinen Loch im Eimerboden floß es langsam wieder heraus in den darunterstehenden Kübel. Er forderte alle seine Gäste auf, sich Gesicht und Hände zu waschen und bot ihnen dazu ein Stückchen der eben eingetauschten Einheitssandseife an. Das Handtuch war aus einer zerschlissenen Wehrmachtsdrillichhose genäht. Racke ging hinaus und die andern mit. Sie hatten alle dringend nötig, sich im Freien etwas auszulüften. Dabei hörten sie es: ein
unablässiges, polterndes Rollen. Stalinorgeln. Nicht im Osten, sondern in nördlicher und nordwestlicher Richtung. „Bei den Rumänen“, sagte Eicher. „Es hört sich näher an als gestern. Vielleicht hat der Ingenieur doch recht.“ Jetzt erst erinnerten sie sich wieder dieses Hiobsboten. „Was ist denn aus ihm geworden?“ fragte Racke. „Da heute keines von unseren Fahrzeugen mehr nach Tazinskaja gefahren ist, hat er kurzerhand sein Haus gegen einen Schlitten und einen alten Gaul eingetauscht, hat eine Kiste voll Hausrat und einen Sack voll Bettzeug aufgeladen und ist mit der ganzen Familie auf und davon.“ Liebedorn ließ die Unterlippe hängen: „Ach Jott nee...“ „Kameraden, die in Skassyrskaja im Quartier sind“, fuhr Eicher fort, „haben uns schon vorgestern erzählt, die Bevölkerung dort behaupte, in drei Tagen sei der Iwan da. Das wäre also morgen.“ „Wo is Skassyrskaja?“ fragte Liebedorn unruhig. „30 Kilometer nördlich von Tazinskaja.“ „Mensch, laß mir mal nachdenken! Wenn der Iwan ooch dahin kommt, is uns der Rückzug abjeschnitt'n.“ Eicher sagte: „In Tazinskaja wird genug Wehrmacht eingesetzt werden, damit der Iwan nicht an den Flughafen rankommt. Klar. Und inzwischen werden Reserven herangeholt, um wieder eine feste Front aufzubauen.“ Es war bitter kalt. Sie waren nach wenigen Minuten so durchgefroren, daß sie mit Freuden wieder in die Wärme der Kate schlüpften, trotz ihrer Anreicherung mit Gerüchen aller Art. Aber Liebedorn war kein so lebhaft heiterer Unterhalter mehr. Er war nachdenklich Still. Schließlich wandte er sich der Panienka zu seiner Linken zu und machte ihr klar, daß er wissen wolle, ob es wahr sei, daß die Roten kämen. „Da, da!“ nickte sie lebhaft. Ob sie wisse, wann? „Da, da. Sawtra.“ - Morgen. Es klang sehr zufrieden. Liebedorn wurde noch blasser und stiller, obgleich er doch schon gewußt hatte, daß die Leute sich das erzählten. Als er wieder etwas gefaßter war, fragte er auch die Panienka zu seiner Rechten. Sie antwortete erstaunt: „Du nicht wissen? Alle wissen! Morgen.“ „Wann morjen?“ forschte er düster. „Wann bald is Abend.“
Abend war es nach deutscher Zeit nachmittags gegen drei. Ob sie keine Angst habe? „Warum Angst? Kommen gutt Freund. Towarischtschi!“ Sie stand auf und ging zur Ikonecke, drehte das papierflitter bekränzte Heiligtum um. Auf der Rückseite war das Bild Stalins. Vielleicht tat sie das nur, weil sie viel getrunken hatte. Oder weil diese netten Deutschen, die doch schon morgen tot oder gefangen oder weit fort waren, sie dafür nicht bestrafen würden. Jablonoff entschuldigte sich erschrocken und mit vielen Schwüren, daß er davon nichts gewußt habe, aber seine Gäste scherzten nur darüber. Er begriff diese Deutschen nicht. Teufel seien sie, hatte man ihnen gesagt, die meisten jedoch, die er kannte, waren ehrliche, gutmütige Dummköpfe und gutt Kamerad von Bevölkerung. Schepperl lachte: „Du Loas, du nixige! Tua den Räuberhauptmann wega!“ und patschte der Panienka seine Pratze auf die hintere linke Wange. Sie kreischte „nix kultura!“ und bot ihm lachend auch die rechte hintere Wange dar. Er kam nicht mehr dazu, ihren Wunsch zu erfüllen. Draußen gab es plötzlich Lärm. Schüsse fielen! Fremdes Geschrei wurde laut. Liebedorn erbleichte wie auf Kommando. Seit dem Schock von Tapor war er einfach nicht mehr Herr seiner Nerven. Sie fuhren in die Mäntel und zum Bau hinaus. Die Gewehre und Rackes MP waren in Eichers Quartier. Sie rannten. „Fangt glei guat o!“ keuchte Schepperl. „Laffa müass'n! Do stinkta ma scho!“ Aber was sie nun hörten, war nicht Kampflärm; es fiel auch kein Schuß mehr. „Das ist gar nicht der Iwan!“ rief Eicher und hörte auf zu laufen. „Rumänen sind's!“ Sie kamen auf der Dorfstraße. In dicken, regellosen Haufen kamen sie, meist ohne Waffen und ohne Gepäck, mit hängenden Köpfen hastig vorwärtstrottend. Pferdebespannte Schlitten waren dabei, einzelne Stücke Vieh wurden mitgetrieben, sogar Schweine. Das war Flucht. Wenn man sie fragte, schrien sie nur „Russki! Russki!“ und zeigten nach rückwärts, aber von Verfolgern war nichts zu hören. Auch das ferne Grollen der Front war verstummt. Eicher hängte sich im Dienstzimmer ans Telefon. „Was ist los? Die Rumänen laufen!“
Auch Skassyrskaja habe das gemeldet, wurde er beschieden. Der rumänische Generalstab erkläre, die Sowjets hätten an einigen Stellen die Hauptkampflinie durchbrochen. Es handle sich jedoch nur um schwache Kräfte, die von rückwärtigen Reserven aufgefangen würden. Die rumänische Führung sei Herr der Lage. „Da brauchen wir uns also keine Sorge zu machen“, sagte Eicher. „Hm“, meinte Racke. „Die türmenden Rumänen sahen nicht gerade nach Herr der Lage aus. Wahrscheinlich sind das schon die rückwärtigen Reserven.“ „Nerven verloren“, antwortete Eicher. „Es ist gut möglich, daß die noch immer laufen, während vorne alles schon wieder in Ordnung ist.“ Liebedorn hätte sich am liebsten zum Bahnhof begeben, obgleich sie dort noch keine Unterkunft hatten, aber da weder Schepperl noch Racke Lust hatten, das warme Quartier mit guten Strohsäcken bei Eicher aufzugeben, blieb er notgedrungen. Kameradschaft ist schön, dachte er, aber manchmal ist sie recht hinderlich und gefährlich.
2. KAPITEL
Sie waren kaum eingeschlafen, als Faustschläge gegen die Türe sie wieder weckten. „Herr Feldwebel!“ brüllte eine Stimme. „Alarmbereitschaft!“ Ihre Köpfe waren benommen von der natürlichen Müdigkeit und dem lähmenden Fusel. Fluchend zogen sie sich wieder an. Liebedorn am hastigsten. Dennoch oder gerade darum brauchte er am längsten. Sie löschten das Licht und gingen vors Haus, lauschten in die weißgraue Dunkelheit. Die Ferne war still, nur in der Nähe waren Rufe, Türenschlagen, Schritte. Eicher sagte: „Das Gescheiteste ist, ihr haut euch wieder hin. Ich gehe zum Dienstzimmer. Wenn's zum Alarm kommt, merkt ihr's schon.“ Das war auch Rackes Meinung und, Liebedorn ausgenommen, fielen ihnen sofort die Augen wieder zu. Im Ort wurde es ruhig. Der Morgen graute schon, als Eicher zurückkam und sie erwachten. „Ich glaube nun doch, es wird ernst“, sagte er. „Der rumänische Frontabschnitt scheint inzwischen völlig über den Haufen geworfen zu sein. Der Iwan soll bereits den Bahnknoten Millerowo eingeschlossen haben und zusammenschießen. Auch gegen unsere Strecke hier, Richtung Tazinskaja-Morosowskaja stoßen stärkere Kräfte vor.“ Millerowo? Das lag schon 100 Kilometer weiter westlich und 80 Kilometer nördlich. Auf demselben Längengrad wie Lichaja. Zeichnete sich da nicht für das ganze Dongebiet das Schicksal Stalingrads ab? Liebedorn ließ sich nicht mehr halten. Ohne ein Wort ging er hinaus, kam nach kurzer Zeit mit einem Handschlitten zurück und einer Frau, die ihn zog, lud sein Gepäck auf, sagte: „Wir sehn uns ja denn uff'n Bahnhof“, und schickte sich an, abzurücken. Schepperl knurrte: „I kimm scho aa“ und lud sein ,Graffl' dazu. Rackes Gepäck war in Moro. Er schüttelte Eicher die Hand. „Wenn der Iwan kommt, mach's gut. Ich bleibe vorläufig hier auf dem Bahnhof. Wir sehn uns dann wieder.“ Soweit die Eisenbahner von Kowylkin nicht an den Weichen zu tun hatten, saßen sie in ihrem Dienstraum zusammen. Daß die Rumänen türmten, war auch ihnen nicht entgangen. Sie hatten
beim Stab in Moro angefragt, aber nichts Näheres erfahren können. Je nach Veranlagung machten sie in Pessimismus, Optimismus, Maulwiderstand und Galgenhumor. Seit der Haufen in Lichaja abgeräumt war, fuhren die Züge wieder nach Regel. Tempo 12. Racke rief Reichsbahnrat Burgherr an. Er bekam bereitwilligst Auskunft. Millerowo hielt sich. Kleine Bahnhöfe nördlich und südlich waren in russische Hand gefallen. Rossosch war bedroht. Die Eisenbahner kämpften mit der Truppe. Auf den noch unbehelligten Teilstrecken machten sie Pendelbetrieb. Racke bat, man möge ihm seinen Rucksack herschicken. „Richtig“, sagte Burgherr, „Sie wollten ja eigentlich heute zu unseren Einheiten im Bezirk Kastornaja aufbrechen. Der nächste Weg über Millerowo ist Ihnen nun verlegt, Sie müssen über Kupjansk Walujki fahren. Übrigens übernehmen demnächst Eisenbahnpioniere wieder den Betrieb ab Kastornaja in Frontrichtung.“ „Eigentlich ein schlechtes Zeichen“, erwiderte Racke. „Wo kommt denn die Kodeis-Betriebskompanie her?“ „Aus dem Kaukasus.“ „So. Da werde ich da oben alte Bekannte treffen.“ Seit sie auf dem Bahnhof saßen, angesichts friedlich fahrender Züge, fühlte sich Liebedorn entgegen seiner ursprünglichen Befürchtung, hier gemütskrank zu werden, wieder wohler und in seinem Element. Obgleich nur Gefreiter, löste er, der Sekretär, den bisherigen Bahnhofsvorsteher ab, der zwar Unteroffizier, aber nur Oberweichenwärter war. Allerdings erfolgte diese Ablösung ganz sanft theoretisch. „Es bleibt alles wie bisher“, sagte Liebedorn ohne jeglichen Vorgesetztenehrgeiz. Auch Schepperl legte bis auf weiteres keinen Wert auf die Tatsache, daß nach Liebedorn im Eisenbahner-Zivilrang auch er vor den andern kam. Als osterfahrene Männer richteten sie den Sinn zunächst auf die Grundlage dauerhafter Leistung: die Organisierung einer Ia-Unterkunft und einer Quelle für zusätzliche Verpflegung. Da jedoch Liebedorn unter keinen Umständen zu bewegen war, sich, ganz gleich in welcher Richtung, weiter als 60 Doppelschritte vom Bahnhof zu entfernen, blieb in diesem trostlosen Nichts von einer Umgebung selbst ihren großen und sehr gepflegten Talenten der Erfolg versagt.
Sie kamen mit hängenden Köpfen zurück und gerade recht zu einer neuen Beschäftigung. Auf dem Abstellgleis stand ein Baumaterialzug; er mußte abgeladen werden. Die paar Leute einer Kodeisbaukompanie und einer OT-Einheit, die mitgekommen waren, konnten jede Hand gebrauchen, zumal sie es eilig hatten, wieder wegzukommen. Denn daß es in der Gegend nicht ganz geheuer war, hatten sie schon gehört. Sie konnten erfreulicherweise auch wieder Druckpunkt nehmen, weil sie in Lichaja noch einen zweiten Zug holen mußten. „Siggst as, Sigi!“ rief Schepperl befriedigt aus. „Scho is kemma!“ „Wat is kemma?“ „Hammi, bleeda! Wat is kemma? D'Villa is kemma!“ Liebedorn beäugte sämtliche Waggons und schüttelte den Kopf: „Mensch, ick jloobe, du willst mir verkohlen. Ick sehe keene.“ „Depp, deppeter! Siggst vor lauter Baam kan Woid! Bau'n tamma!“ Der Versuch, Einwohner zu Hilfe zu bekommen, scheiterte. Sie hatten alle möglichen und unmöglichen Ausreden. Es war klar, warum. Furcht vor den Roten. Keiner hatte Lust, sie einfach zu zwingen. Racke schickte zu Eicher. Ob die Luftwaffe nicht helfen würde? Sie half, und Schepperl eignete sich das Platzkommando an, um dafür zu sorgen, daß die für seinen Bauplan geeigneten Balken, Riegel und Bohlen raumgerecht gestapelt wurden. Er mußte sich ein dutzendmal sagen lassen, daß er ein ganzes Vogelnest im Schädel habe und er mußte seine ganze urbayerische Grobheit, Rauflust und Dickköpfigkeit aufbieten, um seinen Willen durchzusetzen; aber als die Arbeit getan war, stellte sich heraus, daß in einem dicken und hohen Geviert schwerer Behelfsrampenböcke eine Art Stube entstanden war mit meterdicken Balkenwänden, dichtem Bretterboden und einem meterhoch aufgeschichteten Bohlendach. Sie hatte nur einen fensterartigen Ein- und Ausstieg, zu dem man durch einen aus Richtung Bahnhof zwischen den Holzstapeln ausgesparten schmalen Gang gelangte, und unter der Decke eine Luke für den Miefabzug. Ofen besaß sie nicht, aber Schepperl trieb eine kleine eiserne Kiste auf, in der Feuer gemacht werden konnte. Holz würde schon brennen und es stand in rauhen Mengen zur
Verfügung. Der Rauch konnte oben abziehen. Stroh für ein Lager würde sich finden, wenn man nicht kleinlich gewissenhaft war, eine Eigenschaft, an der weder Schepperl noch Liebedorn litt. Sie brachten ihre sieben Sachen hinein und dann stiegen sie auf die Holzumwallung, um sich die Welt einmal von oben anzusehen. Es war längst Mittag geworden. Die OT-Männer und die Landser der Baukompanie fuhren, als die in Moro frisch bekohlte und bewässerte Lok zurückgekommen war, schleunigst mit ihrem Leerzug davon. Die Soldaten des Luftwaffennachrichtenzuges kehrten in ihre Dorfquartiere zurück. Rackes Gepäck kam; er verstaute es ebenfalls in der Holzlagerstube, die Schepperl ,Holzwuarmhütt'n' taufte, und dann saßen alle drei drüben bei der Bahnhofsbesatzung und machten sich heißhungrig über das Essen her, das Liebedorn aus gefaßter Verpflegung und aus den Resten ihrer Urlaubsmitbringsel inzwischen zusammengestellt hatte. Die Dunkelheit kroch schon aus den Ecken. „Nu is et bald Abend“, sagte Liebedorn mit seiner etwas blechernen Stimme so dumpf wie möglich und sah sie der Reihe nach bedeutungsvoll an. Sie hätten ohnedies gewußt, was er damit meinte. Bis zum Abend seien ihre Towarischtschi da, hatte die Panienka behauptet. Und, als wäre Liebedorns Hinweis ein Stichwort für einen neuen Auftritt in ihrem Erleben gewesen, drang im gleichen Augenblick ein ungewöhnlicher Lärm in die Bude. Halb beunruhigt, halb neugierig drängten sie hinaus. Wieder Rumänen! Auf dem Weg, der aus dem Dorfe heraus nach Süden führte und beim Bahnhof die Gleise querte, kamen sie daher. Sie waren in größere und kleinere Haufen aufgelöst und zeigten noch mehr Furcht und Eile als ihre Vorläufer in der Nacht. Sie trieben weder Vieh noch Schweine mit und an Waffen war überhaupt nichts mehr zu sehen, an Ausrüstung nur, was sie auf dem Leibe trugen. Viele hatten sich an Schlitten angebunden, um laufen zu müssen, weil sie sonst geschleift wurden! Eine Wolke von Schweiß und Angst dampfte von ihnen. Weinerlich riefen sie immer wieder den Eisenbahnern zu: „Russki! Russki!“ Als es hinten im Dorfe einmal krachte, als hätte eine Granate eingeschlagen, schrien sie auf wie Weiber. Die Gruppen, die sich beim Bahnhof zu einer Rast niedergelassen hatten, vielleicht weil sie an der ruhigen Haltung der Eisenbahner wieder ein wenig Halt gefunden hatten, oder weil
sie hofften, von Zügen mitgenommen zu werden, sprangen auch wieder auf und hetzten weiter. Selbstverständlich war der Kowylkiner Bahnhofsbesatzung nicht mehr recht wohl zu Mut. Manche sahen sich mit Liebedornschen Augen an. Also kam der Russe tatsächlich? Wäre es nicht besser, auch gleich zu laufen? Sie liefen nicht. Von Walkowo war ein Räumungszug, Abgangsbahnhof Obliwskaja, gemeldet und aus Richtung Tazinskaja ein Kohlenzug. Liebedorn rief die Zugleitung in Moro an, bat um Anordnungen für den Fall, daß der Bahnhof Kowylkin angegriffen werden würde. Er brauche sich gar keine Sorge zu machen, wurde ihm gesagt, wenn sein unwichtiges Kaff überhaupt vom Gegner berührt würde, könne es sich höchstens um einzelne Panzer handeln und es sei ja Wehrmacht im Ort. Der Betrieb müsse auf jeden Fall bis zum letztmöglichen Augenblick durchgeführt werden. Wenn sie wirklich in Bedrängnis gerieten, würde man ihnen schon Hilfe schicken. Ob die Hilfe nicht sofort geschickt werden könne? fragte Liebedorn. Nein. Es müsse doch selbstverständlich erst abgewartet werden, wo der Iwan überhaupt auftauche. „Bei uns“, behauptete Liebedorn. „Woher wissen Sie das?“ „Ick weeß et von de flüchtenden Rumänen und von die Bevölkerung.“ „Flüchtende Rumänen sieht man überall und die Bevölkerung redet überall dasselbe.“ Liebedorn murmelte „danke“ und legte den Hörer auf, sah unruhig auf Racke, sein Gurgelknopf stieg auf und nieder und er bekam ganz fernsichtige Augen. Plötzlich sagte er „sie kommen“, stand erbleichend auf und ging mit steifen Schritten zur Türe hinaus. Er lauschte in die Ferne, flüsterte Racke und Schepperl zu, die ihm, mehr ungläubig als gläubig, gefolgt waren: „Hört ihr's?“ „Freili hör' ma's. Da Zug kimmt“, knurrte Schepperl grantig wegen Liebedorns Geisterspukgehabe. Man sah die Lok auch schon auf der schnurgeraden Strecke draußen erscheinen. „Nee, nee, den Zug meen ick nich. Ick höre Motoren.“
„Natürlich“, sagte Racke, „es gibt ja auch Kraftfahrzeuge im Dorf. Aber ich höre nichts.“ „Sperr doch de Horchlöfrel uff, Mensch! Jib mir mal dein Jlas!“ Liebedorns Stimme klang von Satz zu Satz aufgeregter und blecherner. Er erhielt das Glas, stakte über die Schienen zum Holzlager, kletterte mit akrobatischer Geschwindigkeit und Sicherheit auf die höchste Stelle des Walles. Eben mußte die Sonne untergegangen sein, die Wolkendecke wurde düster. Es war 14 Uhr 30 und der kürzeste Tag des Jahres. Immerhin konnte man noch bis jenseits des Dorfes sehen. Liebedorn ließ das Glas fast sofort wieder sinken und winkte mit versteinerter Miene die Kameraden herauf. Schepperl sagte: „Siggst Gschpensta?“ und drehte sich nach dem eben durchfahrenden endlos langen Obliwskajaer Räumungszug um. Racke jedoch stieg hinauf. Es waren keine Gespenster. Es waren russische Kampfwagen. Sie standen schwarz gegen den lichtlos grauen Himmel, kaum 500 Meter vom nördlichen Dorfrand entfernt. Er sah die Luken aufgehn, die Besatzungen aussteigen, herumstehen, Zigaretten anzünden und seelenruhig sämtliche Arten von Notdurft verrichten. Waren die Panzer vom Dorfe aus noch gar nicht wahrgenommen worden? Dort war kein Mensch zu sehen, weder Soldat noch Zivilist. Die Dunkelheit sank so schnell, daß Schepperl, als er den Holzberg endlich auch erstiegen hatte und das Glas vor die Augen nahm, weder die Panzer, geschweige denn die roten Soldaten noch erkennen konnte. „Schmarr'n“, sagte er kurz und bündig. „Esel“, sagte Racke ebenso kurz und bündig. Sie gingen in vollster Eintracht zum Bahnhofsgebäude zurück. Racke holte Moro an die Strippe, ließ sich mit dem Bevollmächtigten Transportoffizier verbinden. Der Befehl lautete: Solange der Bahnhof nicht angegriffen wird, hat die Besatzung zu bleiben. Solange die Gleise befahrbar sind, muß gefahren werden. Der Kohlenzug ist nicht anzuhalten. Schepperl bot den Zug Walkowo an. Er wurde angenommen. „Panzer?“ Der Kollege in Walkowo lachte. „Schaut mal nach, ob es nicht weiße Mäuse sind!“ Schepperl lud ihn zur Kirchweih ein und knallte den Hörer in die Gabel. Racke sagte zu der Bahnhofsbesatzung, die das Kartenspielen unterbrochen hatte: „Bleibt hier zusammen, stellt aber einen
Posten an der Türe auf und einen Horchposten am besten auf dem Holzstapel“, dann machte er sich auf den Weg ins Dorf, um Eicher zu suchen. Es war bitter kalt. Der Feldwebel hatte seine Männer in Gruppen zu vier und fünf in die vordersten Katen am nördlichen Dorfrand gelegt. Die ganze Nacht über in den paar Löchern der sogenannten Stellung zu hocken und halb zu erfrieren, hatte keinen Sinn. Es war noch Zeit genug, wenn man sie bei Tagesanbruch besetzte. Warum sie denn nicht geschossen hätten, als die Panzerbesatzungen ausgestiegen waren? fragte Racke. Weil das unbesorgte Verhalten der Roten den Schluß zulasse, daß sie das Dorf für unbesetzt hielten und friedlich weiterrollten. Er habe Pak oder Flak angefordert, aber ob er sie erhalten werde, sei fraglich. Stärkere rote Kräfte, Panzer und motorisierte Infanterie mit Werfern, seien im Anmarsch auf Skassyrskaja gemeldet und dorthin sei von Tazinskaja bereits Flak in Marsch gesetzt. Wie sich die Einwohner verhielten? Sie seien offenbar wohl zum größten Teil in aller Stille aus dem Dorf verschwunden. Racke machte sich auf den Rückweg. Außer dem leichten Knirschen seiner Schritte war kein Laut zu hören. Liebedorn hatte den Horchposten auf dem Holzberg selbst bezogen. Er wolle ihn die ganze Nacht beibehalten; es sei ihm wohler zu Mut, wenn er selbst wache. Der Sepp sei unten. In der „Villa Holzwurm“ roch es so stark nach Brand, daß Racke fürchtete, Schepperl habe nicht nur in seinem Behelfsofen Feuer gemacht, sondern der Einfachheit halber gleich das ganze Holzlager angezündet. Doch war alles in Ordnung. Aus der eisernen Kiste, die auf vier Steinen stand, stieg eine dicke graugrüne Säule Rauch auf, der die oberen zwei Drittel des Raumes füllte. Im unteren Drittel, also in gebückter Haltung oder sitzend und liegend, konnte man atmen. Wärme allerdings, deretwegen der Rauch erzeugt wurde, war nur an den Ofenwänden selbst und ab halber Stubenhöhe wahrzunehmen, Schepperl schwor jedoch unter Tränen und heftigen Hustenanfällen, die Bluatsraucherei werde aufhören und die Hütt'n bis zum Fußboden herunter warm werden. „Wann denn?“ fragte Racke anzüglich. „Im Summa.“
Racke ging ins Bahnhofsgebäude, um die Kollegen über die Lage im Dorf zu unterrichten. Er traf sie beim Kartenspielen. Sie waren übereingekommen, das Weite zu suchen, sobald sich die Panzer näherten. Niemand könne ihnen zumuten, mit sechs Gewehrchen und 30 Patronen für jedes eine Panzerschlacht zu schlagen. Nein, das mute ihnen niemand zu, versicherte Racke. Aber sie sollten nicht zu früh weglaufen. Das könnte beim Kriegsgericht schlimmer für sie ausgehen, als wenn sie warteten, bis es hier wirklich brenzlig werde. Lange stand Racke draußen, an die Wand gelehnt, atmete die winterklare Luft, lauschte in die Nacht, dann ging er zu Liebedorn hinüber. „Daß du die ganze Nacht dort oben bleibst, ist Unsinn. Jetzt ist eigentlich erst Nachmittag. Du schläfst ein, noch ehe es der Uhr nach Nacht ist, und morgen früh hast du trotz Fell und Filzstiefel sämtliche Verzierungen erfroren oder wir wachen alle drei beim Petrus auf.“ Sie lösten sich dreistündlich ab. Noch nie war eine Nacht auf einem Bahnhof mit Eisenbahnern und in einem Dorfe mit Landsern so still gewesen wie diese. In Schepperls Holzwurmhütte war es auszuhalten. Das zu Scheiten zerkleinerte Bauholz trocknete neben dem heißen Eisenofen rasch aus. Man konnte bald aufrecht stehn, ohne mit dem Kopf in der dicken Rauchwolke zu stecken, und spürte die Wärme bis über die Knie herunter. Sie hatten sich aus zwei niedriger gesägten Rampenböcken mit aufgelegten Bohlen eine erhöhte Liegestatt gebaut, auf der sie zwar hart, aber ungezieferfrei und von Stunde zu Stunde wärmer lagen. Als der Tag graute und Racke mit Liebedorn zu Schepperl hinaufturnte, war auf dem First des Holzberges eine nach allen Seiten gegen Wind, Sicht und Schuß schützende Brustwehr entstanden. „Mensch - haste det schwere Holz alleene jehoben?“ staunte Liebedorn mit offenem Munde. „Naa. D' Heinzelmanndln hamma g'holfa.“ „Ein tadelloser Stützpunkt“, lobte Racke. „Etza kennas kemma“, grinste Schepperl. „Och nee!“ wehrte Liebedorn erschrocken ab und klopfte rasch toi-toi-toi an die Balken. Racke lachte: „Da solltest du aber zuvor doch noch ein SMG mit Leuchtspurmuni und eine Pak organisieren.“
„Tat i scho“, antwortete Schepperl ganz ernsthaft. „Aba dee Hanseln da drü'm hamm ja eh nix.“ Liebedorns Besänftigung der bösen Geister nützte leider nichts. Als er nach einer Viertelstunde mit Schepperl vom Frühstück heraufkam, war es Tag geworden und am Horizont standen die beiden Panzer. Liebedorns Augen traten aus den Höhlen, sein Gurgelknopf schnellte hoch und blieb stehn. „Jetzt kommen sie“, hauchte er. Er mußte neuerdings einen sechsten Sinn bekommen haben, denn genau im gleichen Augenblick wurde das Röhren der Motoren hörbar und die Panzer fingen an, sich zu bewegen, rollten langsam auf das Dorf zu. Racke mahnte: „Wir dürfen kein Holz mehr auflegen.“ „Geh abi“, sagte Schepperl. „Jetza is dei Tä no hoaß.“ „Sorgen hast du!“ erwiderte Racke halblaut. Er kümmerte sich nicht um die Aufforderung; er suchte mit dem Glas nach der Stellung vor dem Dorfrand, konnte sie nicht finden, sicher war sie durch Katen verdeckt. Schepperl stieg hinunter und brachte Racke das Frühstück herauf, nahm ihm das Glas weg. „Jetza schaug i. Du saufst dein Tä.“ Racke gehorchte. In das düstere Brummen der Panzer mischte sich ein anderes Geräusch, übertönte es. Aus Richtung Walkowo kam ein Zug. Racke erschrak. Wie konnte man in Moro so leichtsinnig sein, diesen Zug noch auf die Strecke zu schicken! Mußte er nicht gewarnt werden, aufgehalten werden? Er hatte freie Durchfahrt. Ihm entgegenzulaufen, um ihn noch weit genug entfernt zu stellen, war es zu spät, ihn aber vor dem Bahnhof zum Halten zubringen, wäre das dümmste, was man machen könnte. Das Gebrumm der Panzer brach ab, sie waren auf halber Höhe stehengeblieben, aber noch schwenkten sie ihre Rohre nicht, obgleich sie den Zug sehen mußten. Rasch kam er näher, ein gewaltiges Dampfgewölk hinter sich herziehend, passierte das Einfahrtsignal, rasselte mit mindestens 50 Stundenkilometern durch die Station. Ein Tenderwasserzug, wie sie nun sehen konnten, mit das Kostbarste, was man an der wasserarmen Steppenbahn besaß. Racke verstand. Man war nicht leichtsinnig gewesen, sondern wagemutig. Man hatte diese unersetzliche Garnitur unter allen
Umständen noch nach Westen durchbringen wollen. Die schwarzen Gesellen auf der Lok wußten Bescheid, daher das Tempo. Die Panzerkanonen hatten nicht gefeuert. Warum nicht? Es gab mehrere Möglichkeiten; entweder mußten sie ihre Munition sparen oder sie hatten den Auftrag, die Strecke möglichst ohne Zerstörung zu besetzen. Oder sie nahmen an, daß der Zug sowieso nicht mehr weit kommen würde. Racke richtete das Glas auf den entschwindenden Zug. Noch hing die Dampfwolke über dem sichtbaren Ende des Schienenwegs, da stieß ihn Schepperls Faust ins Kreuz: „Schaug daher! No drei Panzer!“ Sie rollten aus nordwestlicher Richtung dem Dorfe zu. Racke blies die Luft hörbar durch die Zähne. Seine Ahnung, daß es nun kriegerischer zugehen würde, wurde sofort bestätigt. Aus allen drei Rohrmündungen zuckte zu gleicher Zeit Feuer, quoll Rauch. Im Dorf stiegen krachend drei Rauch- und Dreckpilze hoch. Aus einer Kate schlugen Flammen, von einer anderen fehlte plötzlich die Hälfte. Jetzt schoben sich auch die beiden Panzer am Hang drüben wieder vorwärts. Von den Verteidigern war nichts zu hören. Es hätte ja auch keinen Sinn gehabt, Infanteriefeuer auf Stahlplatten zu eröffnen. Schon aber schlug eine zweite und eine dritte Lage in und zwischen die Katen. Eichers Hoffnung hatte getrogen. Racke drückte Schepperl das Glas in die Hand und rannte in den Dienstraum hinüber. Die Eisenbahner standen fluchtbereit. Endlich hatte er Moro. „Aushalten!“ wurde befohlen. „Eine Pak und ein Werfer sind schon unterwegs.“ Racke rannte wieder zurück. Jetzt brannte bereits das halbe Dorf. Frauen, Kinder, Männer, stürzten heraus, verschwanden irgendwo. Endlich konnten sie auch erkennen, wo Eicher mit seinen Leuten lag; alle fünf Panzer trommelten nun auf ein kleines Stückchen Gelände vor dem Dorfrand, so daß es ganz unter der Rauch- und Dreckwolke der pausenlosen Einschläge versank. Von Zeit zu Zeit rannte oder taumelte ein Landser aus der feuerdurchzuckten, grauschwarzen, schwankenden Wand heraus. Dann tuckerten die MG der Panzer und nach wenigen Schritten oder Sprüngen brach er zusammen. Plötzlich hörte das Granatfeuer auf, die Panzer fuhren von allen Seiten in die zusammensinkenden, im Winde abziehenden Schwaden hinein.
Zwei-, dreimal gab es einen kurzen, harten Schlag, ein paar Feuerstöße, wohl aus Maschinenpistolen und Maschinengewehren. Die Sicht wurde frei. Einer der Panzer drehte sich mit Schlagseite fortwährend im Kreise und dann sahen die drei Beobachter das Gräßlichste, was sie in diesem Kriege bisher persönlich erlebt hatten: Aus dem mit dunklen Granattrichtern durchsiebten Boden tauchten Landser auf, zehn, zwanzig, hoben, ohne Waffen, die Arme hoch. Die Panzer rollten auf sie zu, überrollten und zerwalzten sie, auch die paar noch Flüchtenden, die sie mit Vollgas kreuz und quer in die Steppe verfolgten. Liebedorn zitterten Lippen, Knie und Hände. Schepperl war ganz weiß. Seine Fäuste krampften sich um sein Gewehr. Die vier Panzer rollten wieder dem liegengebliebenen fünften zu. Die Luken gingen auf. Die Kommandanten hoben sich bis zur Hälfte heraus. Schepperl riß die Knarre an die Backe und ehe Racke es verhindern konnte, krachten seine Schüsse. Zwei der Russen brachen über dem Rand der Luken zusammen, die andern verschwanden und rissen die Lukendeckel zu. „Geschossen hast du großartig“, sagte Racke, „aber jetzt haben wir sie auf dem Hals.“ Schepperl überhörte geflissentlich den zweiten Teil des Satzes, er antwortete nur: „Bois d'von an Wuidara abstammst, nacha wirst jo schiaß'n kenna aa.“ „Leider hilft das bei einem Angriff der Panzer nun nichts.“ „Genga ma hoit stift'n, bois kemma.“ „Jehn wa lieba jleich, Sepp“, stammelte Liebedorn und kletterte schon hinunter. Racke sah ganz deutlich, wie die Panzer ihre Türme drehten. Rascher als sie selbst die neue Richtung einschlugen, waren alle Rohre auf den Holzberg gerichtet. „Los, Sepp! Weg!“ stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus, brüllte zu den Kumpeln hinüber, die unter der Türe des Dienstraumes auf den Augenblick zur Flucht warteten, sie sollten abhauen und ließ sich, so rasch er es mit einem Arm vermochte, am Stapel hinunter, Schepperl hinterher. Sie fuhren in ihren Unterschlupf, um das Gepäck zu holen. Länger auf den angekündigten Entsatz zu warten, wäre Selbstmord gewesen. Nach Süden war der Weg offen.
Liebedorn war bereits wieder dabei hinauszusteigen, da krachte es im Holzberg über ihnen einmal, zweimal, dreimal, in Sekundenbruchteilen hintereinander, ohrenbetäubend. Ein Brechen, Splittern, Poltern hob an, wie wenn ihn Urweltriesen durcheinanderwürfen. Die Dielen unter ihren Füßen schienen zu hüpfen, der Stapel über ihren Köpfen zu schwanken, eine Wand verdrehte sich. Durch die Luke sahen sie Balken und Bohlen und Böcke aus der Luft niedersausen, kreuz und quer ihren Ausgang verrammeln. Liebedorn war geisterbleich zurückgefahren. Durch kleine Lücken konnten sie noch sehen, daß die Kollegen drüben fortrannten, dann krachte es noch einmal und ein neuer Holzsturz verschüttete sie so vollständig, daß kein Lichtstrahl mehr in ihre Holzhöhle zu finden schien. Sie hörten auch keinen Laut mehr als ihren Atem. Aber nach einer kleinen Weile sahen sie doch wieder in einem schwachen Licht ihre Gesichter auftauchen. Der Schein kam von den Holzresten, die noch in der Feuerkiste glühten. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Zuerst meldete sich Schepperl mit einem gedehnten „Hm“, in dem seine Meinung zur Lage beredten Ausdruck fand. „Det is det Ende. Jetzt nibbeln ma bald ab“, flüsterte Liebedorn. „Im Gegenteil“, sagte Racke ruhig. „Fürs erste sind wir sicher. Unter diesem wüsten Holzhaufen sucht uns keiner.“ Sie würden ihn in Brand stecken, fürchtete Liebedorn. Schepperl sagte kurz „Naa“ und Racke bekräftigte diese Ansicht: „Sie werden nicht so dumm sein und ihr künftiges Bauholz vernichten.“ „Wie dumm die sin, weeßt de nich. Und wir müssen doch mal raus, wenn wa nicht vahungern woll'n.“ „Zunächst haben wir noch für einige Tage Verpflegung, wenn wir sparsam einteilen, und drei Feldflaschen voll Kaffee und ein halbes Kochgeschirr voll Tee.“ „Und an Enzian“, warf Schepperl ein. „Aber wat dann?“ „Dann verhungern wir auch nicht umgehend.“ „Die Luft wird dick wer'n un wir ersticken.“ „Naa, dastinka tamma“, weissagte Schepperl. „Ick komm' mir vor, wie in 'ne Todeszelle“, seufzte Liebedorn. „Wir könnten doch wenigstens Licht machen.“
„Nur so weit wirs wirklich brauchen“, entschied Racke. „Am nötigsten haben wir's nämlich, um uns einen Ausgang bahnen zu können.“ Der letzte rosige Lichtschimmer aus der Feuerkiste erlosch, dennoch blieb ihr ehemaliger Ein- und Ausgang als viereckiger, um einen Hauch weniger schwarzer Ausschnitt in der Schwärze, die sie umgab, sichtbar; es mußte in dem Verhau also doch winzige Spalten geben, die eine Spur von Tageslicht durchließen; ein klein wenig luftdurchlässig würde ihr Gefängnis also auch sein. Das war beruhigend. Sie überlegten sich, daß sie sich, so lange es draußen Tag war, am besten ganz ruhig verhalten und nicht versuchen sollten, sich einen Ausgang zu bahnen, damit sie nicht gleich vom Iwan in Empfang genommen wurden, denn daß er den Bahnhof besetzt hatte, war bestimmt anzunehmen. Zunächst würden sie sich überhaupt nur einen Ausguck verschaffen. Von innen her würde das allerdings eine sehr schwierige und gefährliche Arbeit werden. Bis dahin konnten sie nichts Besseres tun, als schlafen. Aber es gelang keinem. Zunächst hörten sie wieder Panzergebrumm; es entfernte sich, wurde leiser und schwand dahin. Eine Stunde später vernahmen sie unbestimmte Geräusche und, verschwommen, von Zeit zu Zeit Stimmen, Rufe, die sie für deutsche hielten. „Los! Brüll ma!“ drängte Schepperl. „Wir wollen noch warten, bis wir ganz sicher sind“, sagte Racke. Die Zeit verging. Aber nun blieb alles still. Es wurde Mittag. Der Hunger meldete sich. Sie aßen. Der schwache Schein ihres Türausschnittes verschwand. Also wurde es dunkel draußen. Sie warteten noch eine Stunde, dann knipste Racke seine Taschenlampe an und sagte: „Nun wollen wir mal sehen, was sich machen läßt.“ Es ließ sich nichts machen. Schepperl hatte Kräfte wie ein Bär, aber selbst alle drei zusammen vermochten keinen der Balken, keine der Bohlen zu bewegen, die ihnen den Ausgang versperrten; es mußten Tonnen von Holz dagegen und darauf pressen. Immer wieder versuchten sie es, doch alle Anstrengungen blieben vergeblich. Die Hoffnung, in dieser oder einer der kommenden Nächte ausbrechen und westwärts entkommen zu können, mußte begraben werden. Ohne Hilfe von außen blieben sie gefangen. Ihre Retter aber würden zugleich
ihre Mörder sein. Bestenfalls war ihnen vergönnt, den Schreckensweg nach Sibirien anzutreten. Es war schon Mitternacht, als sie endgültig aufgaben. Sie teilten dann die Reihenfolge des Wachens ein, damit ihnen nicht entging, wenn draußen deutsche Laute klangen. Viel Hoffnung hatten sie nicht mehr. Sie wachten noch alle drei, als sich wieder Geräusche vernehmen ließen. Nach kurzem wußten sie, was es war. „Jetzt holt uns der Iwan heraus!“ flüsterte Liebedorn. Seine Stimme zitterte. „Das glaube ich nicht“, antwortete Racke leise. „Wenn sie gewußt oder geahnt hätten, wohin wir verschwunden waren, hätten sie das sofort getan.“ Schepperl hatte schweigend zur Luke hinaus gehorcht, nun sagte er kurz und bündig: „Hoiz tan's klau'n.“ Sicher, das war es. Und zweifellos handelte es sich um Zivilisten, denn Soldaten hätten sich's bei Tag geholt und außerdem würden sie nicht so schweigsam dabei sein. „Schrei ma, se soin uns ausbuddeln!“ schlug Schepperl vor. „Nein!“ wehrte Racke rasch. „Wir haben keine Garantie, daß der Iwan nicht doch im Bahnhof oder Dorf steckt und sie uns verraten.“ „Holzdiab hoiten's Mai“, sagte Schepperl. „Wir haben keine Garantie, daß es nicht doch Soldaten sind, die sich heimlich Brennholz organisieren.“ Der Gedanke an Wärme machte ihnen die Kälte, die sie umgab, plötzlich viel fühlbarer. Aus der gemütlichen Villa Holzwurm war allmählich ein Eisschrank geworden. Sie würden trotz der beiden Fellmäntel nicht nur ,dastinka', obgleich sie ihre inzwischen notgedrungen zum Klo umgewandelte Feuerkiste dreifach mit Rackes Zeltbahn zugehängt hatten, sondern auch ,dafrian'. Draußen wurde es wieder still. Die Nacht verrann. Daß es wieder Tag wurde, sahen sie nicht nur an der Uhrzeit, sondern auch am Wiedererkennbarwerden des Türausschnitts. Der Tag ging langsam vorüber, wie der Tag zuvor. Sie aßen sparsam, nicht nur um recht lange mit ihrem Vorrat auszukommen, sondern auch, um den weiteren Gebrauch der Eisenkiste möglichst lange vermeiden zu können.
Und wieder verschwand der Türausschnitt. Sie dösten vor sich hin. Schepperl und Liebedorn schliefen. Racke hatte Wache. Er machte Licht, es war die zweite und letzte Kerze, und holte aus seinem Rucksack das geheimnisvolle Päckchen, das Eva ihm aus dem Urlaub mitgegeben hatte. Ein Tannenbäumchen kam heraus mit bunten Glaskügelchen, feinen Silberfäden und sieben winzigen Lichtchen geschmückt. Eine kleine Spieluhr, von vier musizierenden Engelchen gekrönt. Weihnachtsgebäck. Ein Fläschchen Rum. Zigaretten. Ein Porzellanmedaillon mit ihrem und Wolf Günthers handgemaltem Portrait. Und ein Brief. Er küßte das Medaillon, er küßte den Brief. Die Sehnsucht nach seinem jungen Weibe und dem Kinde packte sein Herz wie mit Fäusten. Er baute alles in der Mitte des Raumes auf den Fußboden, zündete die Christbaumlichtchen an, löschte die Kerze, zog die Spieluhr auf, stieß Schepperl und Liebedorn, die auf der Pritsche lagen, in die Rippen. Sie erwachten und starrten wie Blöde, ließen sich langsam herunter und legten sich neben Racke vor Bäumchen und Spieluhr auf den Bauch. Man schrieb den 24. Dezember 1942. Heiliger Abend. Sie hatten nicht daran gedacht. Aus der Spieluhr klang silbernes Glockenläuten und dann die herzbezauberndste Weise der Welt: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Racke legte sich das Medaillon in die Handfläche, sah es unverwandt an. „Wia a Muattagottes“, sagte Schepperl. Als die Spieluhr schwieg, zog Racke sie wieder auf und versenkte seine Seele in Evas Brief. Eins nach dem andern verlöschten die Christbaumlichtchen, da zündete er die Kerze wieder an und las den beiden Freunden Evas Brief vor. Denn sie schrieb wie alle Frauen und Bräute dem fernen, im Angesicht des Todes stehenden Manne ihres Herzens zu dieser erschütternd schmerzlichen Stunde schrieben. Schepperl flüsterte: „I wünsch' eich halt a g'segnete Weihnacht, Anni“ und schluckte und ballte die Fäuste, als erwürgte er jene Mächte, die des Menschen Glück und Leben zerstören. Liebedorn schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Racke korkte den Rum auf und verteilte ihn auf ihre drei Trinkbecher. Sie stießen mit den blechernen Dingern an und tranken auf Eva und Wolf Günther, stießen wieder an und tranken auf Schepperls Anni und seine Buam und sein Maderl, und stießen zum dritten Mal an und
tranken auf die vier Bräute Liebedorns. Seine Tränen versiegten. Sie aßen Evas Weihnachtsgebäck zusammen auf. Sekundenlang verstummten sie, hoben die Köpfe, lauschten auf das näherkommende Motorengeräusch. Es war zarter, nicht das der Panzer und ihre Behausung vibrierte auch nicht. Es kam von Osten und verlor sich nach Westen; schwere russische Bomber. Racke ließ die Spieluhr noch einmal laufen und alle drei summten mit, sangen schließlich halblaut das ganze Lied. Dreistimmig sangen sie es. Liebedorn Tenor, Racke Bariton, Schepperl Baß. Und dann „O Tannenbaum!“ und „O du fröhliche“. All ihr Empfinden, ihr ganzes verstecktes Gemüt brach aus, wurde in ihrem Gesang lebendig. Sie vergaßen sich, sangen lauter und lauter, freuten sich über den harmonischen Dreiklang. Sie hatten gar nicht gewußt, wie gut jeder von ihnen singen konnte und wie prachtvoll ihre Stimmen zusammenklangen! Vielleicht war es auch nur der besondere Geist der Stunde, der in sie gefahren war. Vielleicht hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nie so schöne Stimmen gehabt, würden sie vielleicht nie wieder haben und sie würden vielleicht nie mehr so zusammenklingen. Mit einemmal brachen sie ab, mitten im Wort, mitten im Ton. Eine Stimme drang zu ihnen herein, gedämpft wie eben durch eine dicke Wand, aber jedes Wort deutlich vernehmbar: „Ja Heidesack! Wo schtecket denn ihr? Isch denn do a Bunker drunte?“ Sie hatten alle drei den Atem angehalten, bis diese Rede zu Ende war, dann brauchten sie noch eine Sekunde, um sich zu fassen, und dann schrie Schepperl: „Bluatsau! A Schwob! - He! Hailoh! Do herin samma! Hörst mi, du da drauß'?“ „Freile heer i de!“ schallte es zurück. „Wo geht's 'n nei zu eich?“ „Gar net! Net eini, net aussa! Mi san vaschütt.“ „Ja mi leckschd! Wie hent'r denn dees gmacht?“ „Mia net! Da Iwan hot's g'macht mit seine Huraschiassarei!“ „Wie viel seid'r denn do drenn?“ „Drei samma! Aba mia bringa des schwäre Glump net wegga!“ „Jesses! Und mir sen bloß zwoi! Wie kriege mr eich bloß raus?“ „Seid's ihr Eisebahna?“ schrie Schepperl. „Noi!“ klang's zurück. „Was seid's denn nacher?“
„Ha no, zwoi General nadierlich!“ „Hob die Ehr, Herr General!“ brüllte Schepperl lachend, „I bin a Generalfeldmarschall. Gehts halt ins Dorf, Buam, und holts eich a Hilf!“ „Guet! Des mache mr glei. Luft hent'r jo no. Des heert mr!“ „Aba a ganz a schlechte! Schickts eich a bisserl!“ „Koi Sorg! Mr lasset eich net verrecke! Mr send bald wied'r do!“ Liebedorn sagte leise zu Racke: „Laß doch die Engelchen nochmal spielen.“ * Zwei Stunden später standen die drei draußen vor ihren Befreiern. Die Männer und Frauen von Kowylkin, die geholfen hatten, waren sofort wieder weggelaufen. Den beiden Landsern war es überhaupt nur mit Gewaltandrohung gelungen, sie herzubringen. Nicht weil die Leute böswillig waren, sondern weil sie eine panische Angst davor hatten, die Roten könnten zurückkommen. Sie stampften selbfünft über die Gleise hinüber. Es war nichts zerstört. Natürlich nicht. Der Iwan wollte ja hinter seiner vordrängenden Front auch möglichst schnell Betrieb machen. Die Landser hatten im Dienstraum Feuer gemacht. Sie gehörten zu einem Fernsprechtrupp, der den Auftrag hatte, von Walkowo eine Telefonleitung zu den deutschen Spitzen zu legen, die bis halbwegs zwischen Babowka und Tazinskaja vorgedrungen waren. Aus Kowylkin war der Iwan schon gestern Nachmittag schleunigst in Richtung Tazinskaja abgebraust, als die Landser von Moro mit Pak angerollt waren. Sie hatten nicht einen Schuß mehr anbringen können. Die Russen hatten sicher keine Munition mehr, meinte Racke. Die Bahntelefonverbindung war in beiden Richtungen unterbrochen. Der Iwan hatte nur die Drähte durchgeschnitten, die Apparate ganz gelassen. Die Landser flickten eine Viertelstunde, dann konnte Racke mit Morosowskaja reden. Burgherr kam an den Apparat. „Was höre ich?“ rief er hinein. „Racke? Sprechen Sie selbst oder ist's Ihre Heldenseele? Die aus Kowylkin entkommenen Eisenbahner haben Sie und ihre beiden Kumpels totgesagt. Sie seien alle drei vom Bauholz erschlagen worden.“
Racke erfuhr einiges über die Lage. Skassyrskaja war nach zweitägigem Kampfe gegen weit überlegene russische Kräfte gefallen. Von Tazinskaja aus waren eine schwere und zwei leichte Flak zur Unterstützung der im Panzerkampf natürlich nicht geschulten, nur mit Handfeuerwaffen ausgerüsteten Luftwaffeneinheit, die dort lag, eingesetzt worden. Die leichte Flak war nach ganz kurzem Gefecht zusammengeschossen gewesen und die schwere Kanone hatte die paar Granaten, die man ihr mitgegeben hatte, verfeuert und war schleunigst wieder abgehauen. Ebenso türmte der größte Teil der Alarmeinheit, die man aus einem bei Tazinskaja angekommenen Urlauberzug zusammengestellt hatte. Sie hatte ja auch keine Waffen, mit denen man eine Menge Panzer, Granatwerfer und Feldgeschütze fertigmachen konnte. So war Skassyrskaja verloren gegangen und heute in der Frühe Tazinskaja. Das erschien völlig unverständlich. Einzelheiten waren noch nicht bekannt. Im Osten hatte Obliwskaja aufgegeben werden müssen und vor ein paar Stunden, wie der Bevollmächtigte Transportoffizier eben durch Funk erfahren hatte, war Lichaja der Schlüsselbahnhof für die ganze Strecke, dem bisher schwersten Luftangriff zum Opfer gefallen. Er war ein einziges Trümmer- und Trichterfeld und brannte an allen Ecken und Enden. Er war auf Tage hinaus lahmgelegt. Es hatte viele Tote und Schwerverletzte gegeben. Racke dachte: das waren die Bomber, die wir gehört haben. „Und was ist mit Moro?“ fragte er. „Wir haben gestern selbst den Angriff der Russen erwartet. Sie stießen aus südöstlicher Richtung gegen Tschernischkow vor, schwenkten aber unerwartet nach Westen ab.“ „Und was soll nun werden?“ „Wir gehen planmäßig zurück. Die Strecke muß nach Westen noch einmal freigekämpft, Tazinskaja wieder genommen werden. Eine starke Kampfgruppe wird zu diesem Zweck bereits zusammengestellt. Etwa 40 Kilometer ostwärts kämpfen Reste ziemlich standfester Infanteriegruppen. Eine Panzerdivision verfügt noch über 12 einsatzfähige Kampfwagen und auch ein Panzerzug fuhrwerkt herum. Wir hoffen, täglich 30 Kilometer planmäßig räumen zu können und die Kampfführung hofft, daß sie das strategisch noch ermöglichen kann.“ Burgherr und Racke wünschten sich sarkastisch „weiterhin ein frohes Fest“ und hängten ein. Die beiden Landser rückten zu
ihren Kameraden ab, die sich inzwischen als Telefonzentrale für die Truppe in Babowka eingenistet hatten. Racke sagte, er wolle ins Dorf gehn, vielleicht läge noch ein Verwundeter herum. Es könnte ja sein, daß die zu spät eingetroffenen Kameraden nicht sorgsam genug gesucht oder überhaupt keine Zeit dazu gehabt hätten. Liebedorn übernahm es, im Dienstraum auf dem Posten zu bleiben, wenn auch vorläufig keine Züge zu erwarten waren, mußte das Telefon besetzt bleiben. Schepperl begleitete Racke. „Alloanig kimmst ma net weg“, sagte er. Es war 22 Uhr. Obgleich der Schnee eine matte Helligkeit vortäuschte, konnten sie nur wenige Schritte weit sehen, warteten sie aber bis zum Morgen, war es vielleicht zu spät. Viele Katen waren niedergebrannt. Manche Bewohner hatten sich einfach Löcher in den Brandschutt gewühlt und notdürftig abgedeckt. Viele waren umgebracht worden, weil sie für die Deutschen gearbeitet hatten. Jablonoffs Haus stand noch, aber er selbst hing in Hemd und Hose an einem der Weichselkirschbäume. Er war mit den ,Faschistenbestien' zu gut Freund gewesen. Die gute dicke Matka hatten sie nackt zu seinen Füßen an das Stämmchen gebunden; sie war erfroren. Das Bild Stalins prangte in der Ikonenecke, aber seine Verehrerin lag tot davor. Es war zu sehen, daß sie die Kollektiv-Kultura von ,gutt Freund Towarischtschi' nicht ausgehalten hatte. Ihre Schwester fehlte; vielleicht war es ihr gelungen, zu entkommen oder man hatte sie mitgenommen. Auch die Armbanduhr und der Wecker, Feuerzeug, Taschenlampe, Zündhölzer und alle anderen Schätze waren verschwunden. Nur die Großmutter lag wie zuvor auf dem Ofen. Aber der Ofen war kalt. Sie röchelte und greinte leise in sich hinein. Racke sagte zu einer Nachbarin: „Seht nach ihr, sie wird sterben.“ „Nitschewo“, sagte die Frau. In den Katen, die noch standen, waren keine Verwundeten und was in und bei den Löchern und dem ausgebrannten russischen Kampfwagen zu finden war, hatte keine menschlichen Formen mehr. Sie suchten lange und sorgsam mit den Taschenlampen. Irgend ein Anzeichen, daß dies oder das sein Schulfreund Eicher gewesen war, konnte Racke nicht finden. Erst als sie glaubten, gewiß sein zu können, daß nirgendwo mehr ein atmender Landser war, kehrten sie schweigend zum Bahnhof zurück.
Liebedorn hatte hundert Fragen. Schepperl antwortete keine Silbe, Racke sagte nur: „Geh rüber, wann's Tag ist.“ Es wurde Tag, aber Liebedorn ging nicht; die knurrigen Andeutungen Schepperls beim Kaffeetrinken hatten genügt, um ihm sogar die Neugier auf den Anblick der Familie Jablonoff auszutreiben. Und überdies war ihm ein solcher Gang allein selbst bei Tage zu unheimlich. Sie bekamen auch zu tun. Moro schickte einen Leerzug, um das Bauholz wieder zu verladen; aus einem Ausbau der Klitsche zum großen Verladebahnhof wurde ja nichts mehr. Die ursprüngliche Bahnhofsbesatzung kehrte zurück, mit ihr kamen ein Lademeister mit Ladeschaffnern und deutschen und russischen Bahnunterhaltungsarbeitern. Sie rissen sich alle kein Bein aus und obgleich niemand etwas über die genaue Lage wußte oder den Versicherungen, daß die Gefahr vorüber sei, keinen allzu großen Glauben schenkte, sah der kleine Bahnhof an den beiden Feiertagen eine ziemlich fröhliche Gesellschaft, zumal das Verpflegungslager bei Tschernischkow geräumt worden war und die Verwaltung an alle erreichbaren Einheiten in erstaunlich großzügiger Weise Verpflegung ausgegeben hatte und reichlich Sonderzuwendungen. Einige Stukas, die noch auf dem kleinen Flugplatz bei Moro standen, zerschlugen die Bereitstellung von Panzern, die neuerdings auf Moro angesetzt waren. Racke verabschiedete sich von seinen Freunden mit den Worten: „Wenn's ans Türmen geht, komm ich wieder. Wir türmen zusammen.“ Und fuhr nach Moro. Am zweiten Feiertag früh kam es zu einem Panzergefecht nördlich der Stadt. Der Kanonendonner war weithin zu hören. Vorsichtshalber bereiteten Burgherr und Martini den Rückzug der Betriebsabteilung und der Maschinenabteilung zu Fuß und mit LKW auf der Rollbahn vor. Der General des Transportwesens erteilte die Erlaubnis, die Strecke aufzugeben. Die Breitspurlokomotiven, die noch aus der Zeit vor der Umspurung stammten, wurden zerstört. Am 27. Dezember wurde der Gegenangriff auf Tazinskaja eingeleitet. Am 28. war es wieder in deutscher Hand, der Russe nach Norden abgedrängt. Nun erfuhr man auch Näheres über das Schicksal des Feldflughafens. Obgleich doch die militärische Führung über das Schicksal von Skassyrskaja bereits unterrichtet sein mußte und ein Angriff auf
Tazinskaja für die Sowjets unbedingt das Nächstliegende war, hatte offenbar eine solche Sorglosigkeit geherrscht, daß es den russischen Panzern in den Morgenstunden möglich gewesen war, unabgewehrt anzurollen. Es gab ein fürchterliches Durcheinander. Wie immer sprangen der Kälte wegen die Motoren nicht an. Im Feuer der russischen Panzerkanonen harrten, plötzlich aus ihren Behelfsunterkünften und Erdlöchern aufgeschreckt, Flug- und Bodenpersonal, vielfach nur halb bekleidet, aus, um die Maschinen wegzubringen, von denen zum größten Teil die Versorgung der Stalingradarmee abhing. Da und dort sprangen Motoren endlich auch an. Ihr Dröhnen mischte sich mit dem Lärm der Motoren der russischen Panzer und dem Donnern ihrer Kanonen. Eine Anzahl von Maschinen gelang es, zu starten, kreuz und quer brausten sie über den Flugplatz, einige stießen zusammen, stürzten ab. Rauchsäulen bezeichneten die Stätte ihrer Trümmer und das Ende ihrer Besatzung. Neben manchem Flugzeug, das eben im Begriff war, sich vom Boden zu heben, tauchte im letzten Augenblick ein Panzer auf. 150 Maschinen fielen in russische Hand und dazu das Versorgungslager für die 6. Armee. Kaum hatte nun der Bahnhof wieder Personal, als auch schon die ersten Räumungszüge aus Moro nach Westen rollten, an der Spitze ein schon seit Tagen wartender Verwundetenzug. Der entbehrlich gewordene Teil der Lokomotiven wurde ebenfalls sofort in Marsch gesetzt. Den ganzen Tag gab es allenthalben Fliegerbesuch. Jäger und Flak schossen eine Anzahl Ratas ab. Am 29. Dezember morgens regnete es Bomben auf Moro. Unter anderem wurde auch ein Kraftwagen der Eisenbahnpioniere getroffen. Es gab zwei Tote und drei Blinde. In den folgenden beiden Tagen wurden noch 2600 Verwundete abgefahren. Man hatte wenig Zeit und Sinn, Silvester zu feiern. Am Neujahrstag kam der Befehl, den Bahnhof zu räumen. Die Abteilungen wurden nach Lichaja verladen. Tauwetter hatte eingesetzt. Panzer und Flak wehrten währenddessen russische Durchbruchsversuche nördlich, ostwärts und südlich Moro ab. Kleine Infanterieeinheiten kämpften am 2., am 3. Januar bis zur letzten geballten Ladung, zur letzten Patrone. Die russischen Bahnhilfskräfte liefen weg. Der treueste von ihnen verabschiedete sich mit folgender Ansprache:
„Feldwebel is gut, Hauptmann is gut, aber ich müssen jetzt üben Neutralität.“ Das Armeeverpflegungslager gab in letzter Stunde noch viele gute Dinge aus, dann wurde es in Brand gesteckt. In der Nacht es war die zum 4. Januar - begannen die Sprengungen. 4 Uhr 04 in der Frühe verließ der letzte Zug den Bahnhof. Die letzten drei Rangierlok, zwei kranke und eine kalt gestellte, wurden angehängt. Die letzten vom Bahnhof waren die Chefs der beiden Abteilungen, die Reichsbahnräte Martini und Burgherr. Sie stiegen auf die Zuglok. Racke fuhr im Wagen des bis zum Schluß verbliebenen Teils des Bahnhofspersonals. Die Nacht war stockfinster, aber alle Gleise gleißten im Rotlicht des brennenden Armeeverpflegungslagers. Der Zug las unterwegs die Besatzungen aller Bahnhöfe und Haltepunkte auf. Als er in Walkowo eintraf, war es schon Tag. Mit Hallo und Kraftsprüchen freudiger Art stiegen in Kowylkin Liebedorn, der wieder lachen gelernt hatte, und Schepperl zu dem winkenden Racke hinein. Das Holzlager, unter dem sie begraben gewesen waren, war abgefahren worden, nur das eiserne Klo alias Ofen stand einsam und verlassen auf dem denkwürdigen Platz. Über Tazinskaja lag eine Rauchdecke. Sie machte alles düster. Der Iwan hatte vor seinem Abzug das Riesenversorgungslager, zu dessen Ausplünderung er viel zu wenig Zeit gehabt hatte, angezündet. Die Tafelberge waren größtenteils kleiner geworden und nicht mehr weiß, sondern schwarz, oder sie glühten. Aus schwelendem Qualm züngelten dann und wann Flammen. Widerlicher Brandgeruch stieg schon von weitem in die Nase. Sie hatten zwei Stunden Aufenthalt. Sie vertraten sich auf dem Bahnhof die Füße. Schepperl verschwand und kam nicht wieder. Racke und Liebedorn machten erst wütende, dann bekümmerte Gesichter. Es hätte keinen Sinn gehabt, ihn suchen zu wollen. Fünf Minuten vor Abgang des Zuges kam er an. Er trug eine Kiste auf der Schulter. Er ging ganz schief, mit zusammengebissenen Zähnen, und der Schweiß lief ihm übers Gesicht, so schwer war sie. Racke und Liebedorn, die sie ihm abstellen und zu ihren Plätzen schaffen halfen, hätten sie zusammen nicht tragen können. „Wat is'n drin?“ fragte Liebedorn. „Wirst as scho seng“, war die Antwort.
Der Brandgeruch und die Rauchwolke begleiteten diesen letzten Zug stundenweit. Als er von der Hochsteppe das Gefälle ins vielfach gewundene Tal des Donez nach Belaja Kalitwa hinabrollte, war es schon wieder nacht. Racke, Schepperl und Liebedorn saßen zufrieden zusammen. Es war wieder gut gegangen. Die Nachrichten, die in Belaja Kalitwa von der Lage an der Front vorlagen, waren nicht so ermutigend wie ihre Fassung im Heeresbericht. Wo sie jetzt wohl hinkämen? fragte Liebedorn. „Wirst as scho seng“, brummte Schepperl und holte die erste Flasche aus der Kiste.
3. KAPITEL
Man schrieb den 20. Dezember 1942. Surfleisch, Technischer Reichsbahnoberinspektor und Hauptmann d. R. der Gardepioniere, Chef einer Eisenbahnpionier-Betriebskompanie, saß auf der Latrine. Vorderfront zum Terek, den Feldstecher vor den Augen. Wenn einer vom Kompaniestab zu irgendeinem Fetzen Papier griff, wußte man, wohin er ging, wenn der Hauptmann zum Fernglas griff, wußte man's auch. Er ging nie ohne Feldstecher. Dieses Städtchen Mosdok war, je länger je mehr, zu einer höchst windigen Ecke geworden. Nicht etwa nur, weil der Iwan sich fast täglich einen Spaß daraus machte, Stadt, Bahnhof und Strecke ein wenig unter Feuer zunehmen, und fast kein Abend mehr ohne Luftangriff verging, sondern auch weil seine Kampfwagen immer frecher auf dem, jenseits des Terek zum Fuße des Gebirges ansteigenden Gelände herumspazierten. Man konnte mit dem Glase in 2000, 3000 Meter Entfernung manches Panzergeplänkel beobachten und wer konnte wissen, ob es den T 34 und anderen Stahlbüffeln nicht eines unschönen Tages einfiel, Mosdok selbst einen Besuch abzustatten. Das konnte so schnell gehen, daß man mit nacktem Hintern türmen mußte, falls man sie nicht schon von ferne kommen sah. Zu Beginn der Kaukasusoffensive war Hauptmann Surfleisch selbstverständlich unerschütterlicher Siegesstimmung und entsprechend schneidiger militärischer Haltung gewesen. Das Eisenbahnpionier-Regiment war der 1. Panzerarmee zugeteilt. Der Feind wurde geschlagen, die Front war weit. Man war bahnbetrieblich streckenabschnittsweise so gut wie außer Gefahr von Armawir bis Mosdok vorgerückt. Am Terek aber hatte sich der Widerstand der sowjetischen Kaukasusarmee versteift. Der Iwan sammelte immer mehr Truppen und Material, gewann zusehends Oberwasser und Surfleisch wollte Kuhmaul heißen, wenn er nicht bald endgültig zum Angriff überging; nicht Surfleisch natürlich, sondern der Iwan. Da von Zeit zu Zeit, um nicht zu sagen zu gegebener Zeit, Surfleischs Herzklappen in Unordnung gerieten, hatte er sich vor kurzem krankmelden müssen. Leider war es ihm versagt geblieben, weiter rückwärts stationiert zu werden, weil sich in Mineralnyje Wody ein Lazarett
befand, doch waren ihm bei seiner Entlassung 14 Tage Erholungsurlaub befürwortet worden. So würde er wohl noch heute oder morgen diesem mulmigen Mosdok den Rücken kehren und wenn noch nicht Weihnachten, so doch Neujahr in voller Frontkämpferglorie in Berlin verbringen. Surfleisch wurde aus seinen urlaubsfreudigen Latrinengefühlen heftig aufgeschreckt. „Herr Hauptmann! Ans Telefon!“ brüllte einer, „Kodeis ist am Apparat!“ Der Hauptmann ließ das Glas sinken, brach die Sitzung ab und rannte in seinen Dienstraum. Das war der Urlaub! Er nahm den Hörer in gemessener Ruhe auf. Der Adjutant des Kommandeurs der Eisenbahnpioniere war am Apparat. „Wir kommen von hier weg“, sagte er. „Wieder in den Raum westlich Woronesh. Wir unterstehen schon ab heute der 8. Armee. Sie müssen nun also dort um die Bewilligung Ihres Erholungsurlaubes nachsuchen.“ Surfleisch wurde blaß, dann rot, begriff aber schließlich, daß es auf jeden Fall von Mosdok fortging. Das war immerhin etwas. So setzte er sich, bekam wieder seine friedensmäßig gesunde Farbe, klemmte das Monokel ins Auge und studierte die schriftlichen Befehle, die ein Melder gebracht hatte. Durch die Kompanie ging die Kunde wie ein Lauffeuer. Auch sie hatte gegen den Abtransport nichts einzuwenden. Abgesehen von der täglichen Gefahr, einem Artillerietreffer oder einer Fliegerbombe zum Opfer zu fallen, schmeckte man seit kurzem förmlich auf der Zunge, wie dick die Luft geworden war. Luftveränderung konnte nicht schaden. Ein großes Vergnügen war der Aufenthalt hier sowieso nie gewesen. Als sie im Oktober gekommen waren, hatten sie lachen und reden verlernt, weil sie sich sonst an den Fliegen verschluckten, die ihnen ins Maul flogen. Keiner von ihnen hatte jemals so viel Fliegen erlebt. Hunderte und aberhunderte in jedem Raum! Landschaftliche Reize hatte die Gegend bis zum Terek auch nicht: diesseits die Ausläufer der Kalmückensteppe, jenseits ziemlich kahle Anhöhen, das Gebirge erst in der Ferne und meist nur in unscharfen Umrissen. Nur bei klarem Wetter sah man über die Vorberge hinweg höhere Gipfel, unter ihnen den zweithöchsten des Kaukasus, den 5000 m hohen Kasbek. Der höchste, der Elbrus, auf dem Gebirgsjäger die deutsche Kriegsflagge gehißt hatten, war durch andere verdeckt.
Auch der Dienst bot wenig Reize. Es war versucht worden, mit Hilfe der Zivilbevölkerung die Ölbahn von Mosdok nach Malgobek instandzusetzen. Ein ganzes Sammelsurium von Völkerschaften lebte am Rande des Kaukasus: Kabardiner, Balkaren, Nordosseten, Tschetschenen und Inguschen. Man hatte sich einen Zeitvertreib daraus gemacht, auf Kamele zu klettern, die der Bevölkerung überwiegend als Zugtiere dienten. Man hatte zur Abwechslung auch der am Gebirgsrand liegenden Kurstadt Kislowodsk einen Besuch abgestattet. Von dem Ort mit dem netten Namen Mineralnyje Wody - (Mineralwasser) - führte eine elektrische Bahn in den Kurort, der moderne Kuranlagen und Hotels, asphaltierte Straßen und Palmengärten besaß. Das Mosdoker Klima war wenig bekömmlich. Es gab keinen Winter, nur naßkaltes Sudelwetter um null Grad herum. Die Lazarette steckten von Anfang an voller Kranker. Besonders häufig trat Gelbsucht auf. Nein, die Kompanie trauerte Mosdok nicht nach, als sie am 23. Dezember abrollte, via Rostow-Charkow-Kursk. An Stelle des Glockenläutens am Heiligen Abend und an den Feiertagen rasselten die Waggons, klirrten die Kupplungen, keuchte und zischte die Lok, aber wenn sie an das Weihnachten der Front selbst dachten, fühlten sie sich geborgen und glücklich. Auch Silvester lagen sie noch auf der Achse. Am 3., 4. Januar endlich hatten sie ihren Einsatzraum erreicht. Die Betriebskompanie Surfleisch löste von Kastornaja bis Latnaja die Feldeisenbahner ab mit dem aus trüben Gerüchten und blanken Tatsachen genährten Gefühl, daß die Luft im Raume Woronesh dicker und eisenhaltiger zu sein oder zu werden im Begriffe schien, als die um Mosdok gewesen war. Der Hauptmann fuhr schleunigst in Urlaub, der Kompanie der Klimawechsel in die Knochen. Zehn Breitegrade nordwärts und vom Rande des Kaspischen Meeres in die kontinentale Mitte, das ergab an Stelle von 0 bis -2 Grad auch in diesem Normalwinter eine Durchschnittskälte von 25 Grad. Auch betrieblich steckte man sofort in den Frostschwierigkeiten. Auf der Strecke KurskLatnaja nahmen die Schienenbrüche kein Ende, dazu kamen eine Reihe von Unfällen, die immer gerade dann den Verkehr aufhielten, wenn es aus strategischen Gründen darauf ankam, besondere Transporte beschleunigt an ihre Zielbahnhöfe zu bringen. Und er stand zur Zeit ganz im Zeichen von
Truppenverschiebungen. Endlos lange Züge aller Waffengattungen rollten unablässig über Staryj Oskol nach Süden. Warum und wohin wußte man nicht. Aber daß die deutschen Linien hier oben dadurch dünner und dünner wurden, wußte jeder. Der Iwan auch. Der allgemeinen Erschwerung des Betriebes durch den Winter wurde man natürlich weit besser Herr als im Vorjahr, wo man fast unvorbereitet und abwehrmittellos noch ungleich härteren Frostgraden und häufigeren und gewaltigeren Schneestürmen ausgesetzt gewesen war. Inzwischen war gebaut worden. Die Betriebswerke waren unter Dach und Fach und die Wasserversorgung, abgesehen von dem Unheil, das Partisanen und russische Flieger da und dort anrichteten, in Ordnung, auch dort, wo noch keine neuen Wassertürme errichtet waren. Die Eisenbahnpioniere saßen jedoch kaum acht Tage auf ihren Bahnhöfen, da wurde Alarmstufe 1 angeordnet. Das bedeutete, daß die Räumung und Zerstörung der Bahnanlagen vorbereitet werden mußte. Es kam ihnen merkwürdig vor, denn nach dem Heeresbericht vom 14. Januar waren doch die feindlichen Angriffe südlich Woronesh zusammengebrochen. Nach den Heeresberichten „scheiterten“ überhaupt, sowohl hier im Mittel- wie im Südabschnitt, nach wie vor „alle Angriffe des überlegenen, keine Opfer scheuenden Gegners an dem heldenhaften Widerstand und den erfolgreichen Gegenstößen der deutschen Truppen“. Warum aber folgte dann der Alarmstufe 1 im Streckenbezirk der Kompanie Surfleisch auf dem Fuße Alarmstufe 2? Warum verzogen sich die rückwärtigen Dienste und Stäbe so tatkräftig in Richtung Kursk? Warum wurden die Lazarette geräumt? Warum ließ der stellvertretende Kompanieführer den Gerätezug abfahren? Tagtäglich bepflasterte der Iwan die Bahnhöfe von Latnaja bis Kursk mit Bomben. Wasserstationen fielen aus, Betriebswerke wurden gelähmt, die Räumung der Strecken immer wieder unterbunden, fortwährend verzögert. Dennoch fuhr man noch Versorgungstransporte für die Truppe bis zur Betriebsspitze Latnaja, ja in den Nächten kurze Züge bis nahe an den Stadtrand von Woronesh, die Wagen vor der Lok, damit man mit ihr so schnell und so unbehindert wie möglich wieder das Weite suchen konnte. Diese Nachtfahrten waren zum Sondervergnügen des
grauhaarigen Lokführers Huckle, Feldwebel aus dem ersten Weltkrieg, und seines jungen Heizers Kurt Killemann geworden. Am 25. Januar spitzten die Eisenbahnpioniere von Latnaja bis Kastornaja, nach Nabereshnoje hinauf und nach Sukowkino hinunter, und die Feldeisenbahner von Latschinowo bis Kursk die Ohren an den Lautsprechern. Im Heeresbericht hieß es: „Zur Verkürzung der Front wurde der Brückenkopf Woronesh planmäßig und ohne feindlichen Druck geräumt. Im Abschnitt südlich der Stadt griff der Feind auf breiter Front an, wurde aber blutig abgewiesen.“ Am 26. Januar hatte man in Kastornaja alle Hände voll zu tun. Eine Bombe hatte die Wasserversorgung zerstört. Ein Volltreffer in einen Waggon Kohle war weniger tragisch, er verwandelte ihn aber in eine Kohlenstaubwolke, machte in einem Umkreis von einigen hundert Metern aus Weiß Schwarz und aus ein paar Kumpeln Neger. Ein auf dem Rückmarsch befindliches Pferdelazarett der Ungarn erwischte es auf der Straßenüberführung südlich des Bahnhofs K.-Nord. Hier wurde aus Weiß nicht Schwarz, sondern Rot. Das war kein schöner Anblick. Der Bahnhofsvorsteher, Inspektor-Gefreiter Blümlein kam auf einen Sprung zu seinem Freund Reisinger herein. Sie hatten eineinhalb Jahre zusammen Fahrdienst gemacht. Feldwebel Reisinger war zum Kompaniestab versetzt. Blümlein war als Soldat hilflos und suchte an dem vier Jahre Gedienten eine Stütze. „Hast du noch nichts gehört?“ fragte er. Er sah schlecht aus und übermüdet. Er war schon seit Tagesanbruch rastlos auf den Beinen. Reisinger wußte, was Blümlein meinte. Eigentlich mußte nun doch Alarmstufe 3 befohlen werden. „Nein“, antwortete er. „Aber pack' ruhig schon mal deine Sachen zusammen.“ Zwar fuhr man noch immer Richtung Latnaja, doch sein Gefühl - und es hatte noch selten getrogen - sagte ihm, daß es jetzt gut wäre, auf dem Sprung zu sein. Es gab ja auch noch andere, die dieses Gefühl hatten, aber bei ihnen war es Dauerzustand. Reisinger telefonierte herum. Nishnedewizk war der östlichste Bahnhof, den er erreichte. Er befolgte den Rat, den er seinem Kumpel gegeben hatte, selbst und verstaute alles, was er nicht noch laufend benötigte, in Tornister, Wäschebeutel und Brotbeutel. Dann legte er sich schlafen. Es hatte keinen Sinn, wie
Blümlein das tun würde, die ganze Nacht herumzurennen und in die Ferne zu horchen. Wenn der Iwan wirklich kam, erfuhr man das früh genug, sie waren noch lange nicht die nächsten am Feind, nach Osten nicht und nicht nach Norden. Auch der 27. Januar brachte nichts Neues. Der Zugang von Zügen aus dem Bezirk der Feldeisenbahner hielt fast unvermindert an. Viele Räumungszüge mußten zurückgestellt und abgestellt werden, weil immer und immer wieder Fronttransporte vorgingen. Am Abend dieses Tages behauptete ein Eisenbahner, der vom nördlichen Nachbarbahnhof schriftliche Meldungen brachte, in ihrer Gegend seien russische Panzer gesehen worden. Sollte man das glauben? Nun, ob oder ob nicht, blieb sich im Grunde genommen gleich. Züge kamen, Züge gingen. Es war kein Befehl da, den Betrieb einzustellen und davonzufahren. Auf den Straßen fuhren Kolonnen nach wie vor und die militärischen Stellen wußten von nichts. Im Heeresbericht war von Angriffen des Feindes mit neu herangeführten Kräften in breiter Front südwestlich Woronesh die Rede gewesen. Damit konnte der Raum Latnaja-Kurbatowo gemeint sein, aber nicht der Raum nördlich Kastornaja. Außerdem hieß es, die Angriffe seien im wesentlichen abgewiesen worden. Blümlein kam auch an diesem Abend kurz auf die Schreibstube. Er glaubte an die russischen Panzer im Norden. Seit Tagen nicht rasiert, rußig, naß, mit schmutzigeren Kleidern, als unvermeidlich war, mit Stiefeln, aus denen das Wasser quoll, stand er da. Reisinger sah mit Besorgnis, in welchem Maße der Kamerad in letzter Zeit die Nerven verloren hatte. Und wenn ihnen der Iwan wirklich unversehens auf den Leib rücken würde, waren gerade gute Nerven und ruhige Überlegung Vorbedingung des Entkommens. „Halt dir doch eine Lok unter Dampf in Reserve“, sagte er ziemlich grob zu ihm, „wenn du so schwarz siehst!“ Er wußte natürlich genau, daß nicht einmal genügend Lokomotiven für die Fahraufträge der Transportkommandantur zur Verfügung standen. Da war auch noch der PKW des Kompaniechefs, aber was sollte man mit dem bei der Kälte und dem Schnee! Ein paar Flaschen Sekt hatte Kuhmaul auch zurückgelassen in einer verschlossenen Kiste in einem verschlossenen Raum. Wenn sie abrücken mußten, das hatten sie sich geschworen: den Wagen
würden sie stehen lassen, aber den Sekt nicht, den würden sie vorher saufen. Blümlein stand noch immer da. Der Gedanke mit der Lok schien ihm, trotz der Unmöglichkeit der Ausführung, durch den Kopf zu gehn; um seine Stiefel bildeten sich Pfützen. „Du bist verrückt, so herumzulaufen! Willst du unbedingt krank werden?“ herrschte der Freund ihn an. „Wenn man's möchte, wird man's nicht“, antwortete Blümlein müde. „Du bist 'n Esel, Schorsch. Sorg endlich dafür, daß du warme Füße bekommst und trockene Schuhe.“ „Ist doch ganz gleich, ob man in nassen oder trockenen Schuhen drauf geht.“ „Quatsch nicht so blöd! In trockenen gehst du nicht drauf, aber in nassen. Mach endlich mal 'nen Punkt und hau' dich die Nacht aufs Ohr!“ Blümlein gab keine Antwort mehr. Er ging hinaus. Reisinger sagte „Feierabend“, schob den Papierwust auf dem Tisch zurück, zündete sich eine Zigarette an. Er blies sich den Rauch um den Kopf und versank in die Träumereien eines jungen Mannes, der zu Hause eine hübsche Frau hat, in die er bis über beide Ohren verliebt ist. Er stand allem in diesem Kriege und im Leben überhaupt - sein Weib ausgenommen - mit einem leicht spöttischen Mißtrauen gegenüber. Um so fester und klarer war sein Wille, niemals den Kopf zu verlieren und glücklich heimzukehren. * Am gleichen Abend herrschte 15 Kilometer westlich Kastornaja bei den Feldeisenbahnern auf dem kleinen Bahnhof Latschinowo die beste Stimmung. Hauptursache war der Alkohol, bei dem es sich nicht um landesüblichen Fusel handelte, sondern um einen sehr anständigen Kornbranntwein. Die Stifter dieses „Einstandes“ waren die neu zugetretenen Fahrdienstbeamten Schepperl und Liebedorn und der blaue Inspektor, der mit ihnen gekommen war und behauptete, er sei auf Vergnügungsreise. Es waren die vorletzten drei Flaschen aus jener Kiste, die Schepperl in Tazinskaja angeschleppt hatte und deren Herkunft zwar erratbar, aber im übrigen Schepperls Geheimnis geblieben war.
Natürlich war auch den Latschinowoer Feldeisenbahnern nicht entgangen, daß es an der Front bei Woronesh nicht mehr recht stimmte. Aber sie war weit und zwischen dem Iwan und ihnen lag zunächst mal Kodeis. Der einzige, der ewig mit seiner langen Nase herumschnüffelte, als wittere er Unheil, war Liebedorn. Er zog die Brauen hoch, sah Schepperl bedeutsam an und sagte: „Zwischen Tschir und Tazinskaja lag ooch allerhand.“ Schepperl schwieg. Einesteils artgemäß, anderenteils, weil er sich grundsätzlich nur an Tatsachen hielt. Die Versetzung von Charkow aus zur Auffüllung der Bahnhofspersonale von Kursk bis Latschinowo hatte er ohne Widersetzlichkeit hingenommen, nicht nur, weil sie ohnedies nichts genutzt hätte, sondern weil er sich hier seiner ursprünglichen blauen Direktion in Minsk näher fühlte. Er hatte den Willen und die Hoffnung, zu ihr zurückzukehren, an der er nun einmal mit seinem Herzen und der Erinnerung an die ersten und damit tiefsten Eindrücke seines Osteinsatzes hing, nicht aufgegeben. Die Türe wurde aufgerissen und mit einer Wolke von Kälte polterte ein Lokführer herein, griff fluchend nach dem nächstbesten Glas und schüttete sich den Korn in die Kehle, stellte es ohne Dank zurück und schimpfte drauflos. „Riesenrindviecher! Munizüge noch so weit ostwärts fahren!“ Racke dachte, der Mann sieht wenig erfreulich aus und sagte: „Die Truppe braucht doch die Munition!“ Sie laufe ja schon davon, entgegnete der andere und musterte den Blauen, der gar nicht hierhergehörte, mit einem feindseligen Blick. „Auch wenn sie zum Rückzug gezwungen ist, braucht sie Munition.“ „Zum wegwerfen oder liegenlassen für den Ruß?“ „In Ausnahmefällen wird das vorkommen“, gab Racke zu. „Aber im allgemeinen natürlich, um weiterkämpfen zu können. Außerdem ist das ja nicht Ihre Sorge.“ „Aber mein Kopf und Kragen ist meine Sorge, den ich für einen Sauladen riskieren muß.“ „Das ist nun mal Ihr Dienst.“ „Wer hinten rumhockt, hat leicht reden“, brummte der andere abfällig, obwohl er doch sah, daß Racke das EK I und das KVK I trug, und genehmigte sich noch einen Korn, ohne zu bitten und
ohne zu danken. „Euch geht's ja gut“, stellte er fest; vielleicht sollte das die Begründung für sein Benehmen sein. Racke sagte ruhig: „Sie fahren den Zug doch nur bis Kastornaja. Das ist auch nicht gefährlicher, als hier im Bahnhof zu sitzen, während er gegen die Vorschrift draußen steht.“ „Hier kann man ihn ja sonst nirgends stehen lassen“, fuhr der Lokführer auf. „Wir haben nicht mehr Dampf genug, um weiterzukommen, weil wir wieder einmal mit der russischen Pechkohle fahren und alle 20 Kilometer das Feuer putzen müssen. Fahren Sie doch mal, wenn Sie so ein großes Maul haben.“ „Paßt ausgezeichnet“, sagte Racke ruhig. „Ich wollte morgen sowieso bis zur Betriebsspitze. In fünf Minuten bin ich so weit.“ Er trank sein Glas aus, stand auf und ging zu seinem Schlafplatz, packte seinen Rucksack. Schepperl brummte etwas, was man nicht verstand. Liebedorn öffnete den Mund und ließ ihn offen, dann protestierte er mit einem weinerlichen: „Nu nee, nich in de Hand!“ Racke ließ sich nicht stören. Als er den Kopfschützer überzog und die MP umhängte, machte Schepperl den Mund auf, kollerte: „Raushaun'n tean ma di net. Und zur Beerdigung kemma aa net.“ „Ist schon recht, Sepp“, lachte Racke. „Morgen oder übermorgen bin ich wieder da. Macht's gut!“ Draußen zog ihm der Frost die Nasenschleimhäute zusammen. Auf der Lok war es zum Aushalten; ihre hinteren zwei Drittel, einschließlich des Führerstandes waren mit Brettern verschalt. Sie hatte vor sich zwei Schutzwagen und hinter sich zwei Tender, weil wegen Lokmangel und Ausfall der Wasserversorgung in Kastornaja sofortiger Lokwechsel in Frage gestellt war, der Zug aber sobald wie nur möglich die Betriebsspitze erreichen mußte. Nur das Personal wechselte. Der Heizer machte menschlich keinen besseren Eindruck als sein Lokführer. Er murrte laut darüber, daß da einer auf der Lok mitfahren wollte, riß die Feuertüre auf und stocherte, möglichst breit ausladend, wütend in der Feuerbüchse herum. „Sie sehen doch, daß hier kein Platz ist!“ knurrte er, schlug die Feuertüre zu und warf krachend den Feuerhaken an seinen Platz. Der Lokführer hatte Racke herausgefordert, jetzt sagte er unwirsch: „Sie führen besser hinten bei der Zugbegleitung.“ „Wir haben ,Fahrt frei'“, antwortete Racke.
„Sie sollen absteigen.“ „Ich habe das Recht, mit jedem Zug zu fahren und zwar dort, wo es mir paßt. Ich werde Ihnen meine Vollmachten zeigen. Und wenn Sie jetzt nicht sofort abfahren, melde ich Sie wegen willkürlicher Verzögerung eines Munitionstransportes. Wo Sie dann hinkommen, wissen Sie.“ „Ach so einer sind Sie“, sagte der Lokführer verächtlich, aber er öffnete den Regler, doch so unsachgemäß, daß es ein heftiges Gebocke und Gerüttel gab. Racke wußte, daß das Absicht war und ebenso absichtlich sagte er: „Sie scheinen die Fahrtechnik noch nicht zu beherrschen.“ „Teufel noch mal!“ schrie der Lokführer. „Ich brauche Ihr Gequatsche nicht!“ „Dann fahren Sie anständig. Oder wollen Sie nach dem Krieg aus dem Dienst der Reichsbahn ausscheiden?“ Der Lokführer gab keine Antwort mehr. Der Heizer zog hoch und spuckte aus, riß die Feuertüre wieder auf und schaufelte. Das Feuer war viel zu schwach und das lag nicht allein an der Russenkohle, sondern auch am schlechten Willen. Der Zug erreichte nur 25 Stundenkilometer und immer wieder sank der Dampfdruck ab, ließ die Geschwindigkeit nach. Racke kümmerte sich nicht mehr darum, seine Aufmerksamkeit galt nun der Strecke. Er drückte sich hinter dem Lokführer an die Seitenwand und beobachtete durch die Luke den Bahnkörper und den daneben verschwommen sichtbaren Geländestreifen. Von der Front war nichts zu hören, aber vielleicht ging ihr fernes Murren im nahen Lärm der Lok und Wagen unter. Von Partisanenanschlägen an der Strecke Kursk-Latnaja, hatte man, im Gegensatz zu westlicheren Bezirken, in letzter Zeit nichts gehört. Der Iwan beschränkte sich darauf, durch seine Luftwaffe in täglichen Angriffen Bahnhöfe, insbesondere die Wasserstationen, lahmzulegen und die Züge auf der Strecke mit Bordkanonen zu beaasen. Bei Tag konnte kaum noch zu fahren gewagt werden. Die russischen Flugzeuge blieben so gut wie unbehelligt, denn Flak gab es nur auf wenigen größeren Bahnhöfen und einen deutschen Jäger zu sehen, war ein Ereignis geworden. Langsam zuckelte der Zug über die Schienen, Kilometer um Kilometer, erst als die paar hellen Flecke der abgeschirmten Lichter von Kastornaja West auftauchten, legte der Lokführer
Tempo zu und rasselte in den für ihn eingerichteten Fahrweg. Das Durchgangsgleis schien gesperrt zu sein. In diesem Augenblick erloschen die Lichter, fast zugleich aber flammte am Nachthimmel eine Leuchtbombe auf. „Flieger!“ brüllte der Heizer, riß schon die Türe auf. Der Lokführer zog die Schnellbremse. Racke konnte sich gerade noch in der Fensterluke festklammern, um nicht gegen die Kesselwand geworfen zu werden. Ihre Räder, Griffe, Hebel, Hähne und Meßapparate würden ihm übel mitgespielt haben. Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ob das nicht Absicht gewesen war. „Sie können doch hier nicht halten!“ schrie er. „Fahren Sie rückwärts oder trotz der gesperrten Ausfahrt mit Volldampf durch!“ Der Lokführer brüllte zurück: „Einen Dreck fahr ich! Meinen Sie, ich hätte Lust, mit dem Zug in die Luft zu fliegen?“ Racke brüllte noch lauter: „Und daß der ganze Bahnhof mit sämtlichen Kollegen in die Luft fliegt, stört Sie nicht?“ Die Leuchtbombe sank langsam tiefer, über der kleinen Anhöhe linker Hand, aber ihr Licht fiel noch über die Bahnanlagen bis zum Empfangsgebäude. „Ede, los! Runter!“ schrie der Heizer und turnte die Eisenleiter hinab, noch ehe der Zug ganz stand. Racke versuchte mit seinem gesunden Arm den Lokführer zurückzuhalten: „Verstehen Sie denn nicht?“ redete er ihm gut zu, „Wenn der Zug hier getroffen wird, gibt es einen Riesenkrater und über Kastornaja auf viele Tage hinaus überhaupt keinen Verkehr mehr, nicht nach Osten, nicht nach Norden, nicht nach Süden! Dann wäre hier Schluß mit dem gesamten Nachschub für die Woronesh-Truppen. Das würde ihr Ende sein und den ungehinderten Vormarsch der Russen bedeuten.“ Er brauchte nicht weiterzureden. Der Lokführer hatte sich losgerissen und preßte wütend zwischen den Zähnen heraus: „Verreck du, wenn du magst!“ Er rutschte die Treppe hinab, rannte seinem Heizer nach, vom Zuge weg, über die Schienenstränge hinüber und schräg rückwärts die Anhöhe hinauf. Auch Racke sprang hinunter. Jetzt, wo der Zug stand, hörte man deutlich das dumpfe Brausen schwerer Maschinen. Er löschte die Loklichter, die, wenn sie auch abgeschwächt und nach oben abgeschirmt waren, doch eine deutlich sichtbare Lichtbahn
vor sich warfen. Eine zweite Leuchtbombe flammte auf, schwebte gerade über dem Lokschuppen. Rasch war Racke wieder am Führerstand. Jetzt blieb nur noch eins: rückwärts wieder hinaus! Wie froh war er wieder einmal, daß er einst aus freien Stücken gelernt hatte, eine Lok zufahren! Er löste die Bremsen, drehte die Steuerung auf rückwärts, öffnete vorsichtig den Regler. Daß der Zug hoch aus der Luft als solcher erkannt würde, wahr unwahrscheinlich, denn er war auf seiner Fahrt so verschneit, daß er sich vom Bahnkörper überhaupt nicht abheben konnte, es sei denn durch die Unterbrechung der Gleisführung und die infolge der Hitze des Kessels nicht verschneiten dunklen Teile der Lok! Jetzt knallte sie ein paar kleine Dampfballen aus dem Schlot, zischte aus den Zylindern. Die Räder rührten sich, stockten wieder. Rasch mehr Dampf! Ein paar hastige Atemzüge, dann rollte sie, drückte den Zug hinter sich zurück. Racke öffnete den Regler weiter. Nur schnell! Die nächsten Minuten entschieden über Sein oder Nichtsein des Munizuges und des Bahnhofs Kastornaja und über Schicksalstage an der Front. Beim Ostende des nun taghell erleuchteten Bahngeländes türmten sich zwei schwarze Pilze hoch, einer mitten zwischen den Gleisen, einer dicht seitwärts. Trotz des Hackens und Rasseins der Wagenschlange und des Stampfens der Lok hörte Racke das Krachen und Grollen. Noch waren die Einschläge nicht in sich zusammengesunken, da stieg kaum 300 Meter hinter ihm eine ganze Serie brüllender Springbrunnen auf, querweg über die Gleisanlagen, bedenklich nahe der Stelle, wie es schien, an der noch vor zwei oder drei Minuten der Zug gestanden hatte. Jetzt ließ er, wenn er nicht erkannt und verfolgt wurde, jede Sekunde die Gefahr weiter hinter sich zurück. Nach zwei Minuten, während der immer wieder das Rumpeln und Schüttern der Einschläge an Rackes Ohr drang, Betriebswerk und Bahnhof immer mehr hinter Dreck- und Qualmwolken verschwanden, schloß er den Regler und ließ den Zug ausrollen. Er stand, an die 1000 Meter vom Empfangsgebäude entfernt, weit außerhalb des grellen Leuchtbombenscheins. Nach einiger Zeit hörte er den Abflug der Maschinen nach Nordosten. Die Schaffner schienen auch weggelaufen zu sein, sonst wären sie doch inzwischen zur Lok vorgekommen. Er
lauschte noch eine Weile, ob nicht neue Angreifer anflogen, aber schon tauchten im Bahnhof Lichterflecke auf. Racke zündete die Loklampen wieder an, dann fuhr er langsam bis zum Einfahrsignal. Es hatte jetzt rotes Licht. Er ließ die Lok einen langanhaltenden Pfiff austoßen und hielt, zündete sich eine Zigarette an. Nie ist das Leben schöner und nie schmeckt eine Zigarette besser als nach einer vollbrachten besonderen Leistung oder einer überstandenen tödlichen Gefahr. In der Stadt brannte es. Auch im Bahnhof. Er hörte die Geräusche einer unfern arbeitenden Rotte. Zu sehen war nichts. Nach einer Weile tauchten zwei dunkle Gestalten auf, sie kamen auf die Lok zu. Racke griff zur MP, rief die zwei an. Man konnte nie wissen. Es war das neue Lokpersonal. Der Lokführer stieg herauf, stutzte. Ein Blauer? Dann ging sein Mund auf und er rief: „Mensch! Meier! Sie sind's Inspektor!“ Er riß Racke fast den Arm aus dem Kugellager. Auch Racke freute sich. „Aller guten Dinge sind drei!“ begrüßte er ihn lachend. Er hatte diesen Huckle einmal im Urlauberzug kennengelernt, dann hier wiedergesehen, gerade vor dem Abtransport der Eisenbahnpioniere zum Kaukasus. Dieser schwäbische Lokführer gehörte zu jenen Menschen, denen man nur einmal zu begegnen braucht, um sie nie mehr zu vergessen. Racke erinnerte sich auch Huckles besonderen Freundes, des sächsigen Bahnhofsvorstehers Blümlein. Der Schorsch gefalle ihm nicht mehr recht, antwortete Huckle auf Rackes Frage nach ihm; er sei sehr nervös und pessimistisch geworden. Der Heizer kletterte herauf. „Dees isch d'r Kurtle“, stellte ihn Huckle vor. „Eigentlich Kurtchen Killemann. D'r greeschd Lausbue vom ganze Rhei'land.“ Killemann war ein noch ganz junger Bursche, hatte einen rotblonden Backenkräuselbart, eine rosige Gesichtsfarbe und lustige blaue Augen. Daß er die schwere Arbeit als Heizer machen konnte, hätte man ihm gar nicht zugetraut. Er riß sofort die Feuertüre auf, packte die Schaufel und warf Kohle auf. „Wo senn denn unsere Kollege?“ fragte Huckle und warf einen kritischen Blick auf die Instrumente. Racke sagte: „Weggelaufen, als der Luftangriff begann.“
„Ja, was send denn dees fir Schereschleifer! Do henn jo Sie de Zug zrickg'fahre und wieder doher!“ verwunderte sich Huckle. „Ha, so ebbes!“ Er berichtete, daß es ein paar Löcher zwischen den Gleisen gegeben habe, aber für ihren Zug werde jetzt gleich eine andere Fahrstraße hergestellt sein. Die neuen Schaffner kamen, begaben sich zum Zugschluß. Er brauche im Bahnhof gar nicht mehr zu halten, meinte Huckle. Als er nach zehn Minuten so weit war, mußte er es doch tun. Killemann hatte inzwischen festgestellt, daß die vorschriftsmäßige Granate fehlte, die im Notfall in die Feuerung geworfen werden mußte, um die Lok zu sprengen, bevor sie in die Hand des Gegners fiel. Jetzt, lief der Heizer und schleppte eine an, dann eilten sie sich, aus Kastornaja hinauszukommen. Es waren schon wieder Bombenflugzeuge zu hören und die Bahnhofslichter erloschen von neuem. * Betriebsspitze war tatsächlich schon Nishnedewizk. Die Fahrt verlief gänzlich ereignislos, aber mit jedem Kilometer, den sie sich ihrem Ziel näherten, wurde das Grollen ferner Artillerie heftiger, besonders in nördlicher Richtung. Der Munizug wurde auf einem Industriegleis ein Stück weit außerhalb des Güterbahnhofs gefahren. Dort hatte eine Baukompanie zusätzliche Rampen gebaut. Fahrkolonnen und Übernahmekommandos der Truppenteile waren schon seit den Abendstunden zur Stelle. Sie hatten es eilig, bei Tag war dicke Luft. Die Hauptkampflinie war verteufelt nahe gerückt. Kein Tag verging ohne Artilleriebeschuß oder Luftangriff. Auch hier war die Wasserversorgung ausgefallen. Ein Lazarettzug, erst teilweise belegt, wartete noch auf die Verwundeten eines Feldlazaretts, das geräumt werden mußte. Zwei Lok standen für diesen Zug bereit, konnten aber nicht bewässert werden; es wurde fieberhaft daran gearbeitet, eine Notbewasserung in Gang zu bringen. Racke besprach sich mit dem Bahnhofsvorsteher und dem Transportoffizier. „Wir könnten euch, statt den Leerzug zurückzufahren, unsere Lok geben. Der zweite Tender hat noch Wasser genug, um den Lazarettzug bis Kastornaja zu bringen. Dort ist er doch aus der unmittelbaren Gefahr heraus.“
Der Hauptmann telefonierte mit dem Ia der Division. Er bekam ein immer ernsteres Gesicht, sagte dann: „Jawohl Herr Oberst! Der Zug wartet, bis alle Verwundetentransporte zur Stelle und verladen sind.“ Er hängte den Hörer langsam und so leise ein, als wäre ein Todkranker im Zimmer, sah einen Augenblick schweigend vor sich hin, dann wandte er sich den beiden Eisenbahnern zu: „Die Russen sind durchgebrochen, im Norden und Süden. Die Bahnlinie ist westwärts in Gefahr abgeschnitten zu werden. Wenn es nicht gelingt, die durchgebrochenen Kräfte noch aufzufangen, werden wir hier eingekesselt. Gut, daß die Muni noch gekommen ist. Die Division war ziemlich am Ende. Ihr letztes Depot ist in die Luft geflogen.“ Eben begann es zu tagen. Man hörte das dumpfe Getöse schwerer Artillerie in allen Himmelsrichtungen, außer im Westen. Huckle rief Kastornaja an; er wollte von seinem Bw-Vorsteher wissen, was er tun sollte. Kastornaja antwortete nicht. Die kleine Nachbarstation dazwischen, Blochinskaja, oder wie das Nest hieß, teilte mit, daß in Richtung Kastornaja seit einer Viertelstunde geschossen werde. Was sie tun sollten? Huckle ließ sie mit dem Transportoffizier verbinden. Der Hauptmann sagte: „Abwarten, vielleicht ziehen sich die Russen wieder zurück.“ Für Huckle hatte er einen anderen Auftrag. „Fahrt mit euerer Lok nach Kastornaja zurück und haltet uns telefonisch auf dem Laufenden. Ich will vor allem wissen, ob der Lazarettzug noch durchzubringen ist. Solange ich nichts von euch höre, bleibt er hier. Da fällt mir ein: Hier stehen noch ein paar Wagen mit seltenen Geräten der Luftwaffe und mit Spezialkampfmitteln. Nehmt sie mit. Kommt ihr durch, sind sie gerettet, wenn nicht, dann nicht. Dann sprengt sie und haut westwärts ab. Hier sind sie auf jeden Fall verloren.“ Huckle wollte sich mit Killemann von Racke verabschieden. „Wieso denn?“ sagte Racke. „Ich komme doch mit.“ „Wolle Se wirklich, Inspektor?“ fragte Huckle und seine Freude war hörbar. „Das ist doch gar keine Frage. Oder dachten Sie nein?“ *
Als dieser Tag graute, fuhr Reisinger jäh aus dem Schlaf. Er hatte geträumt, auf der Schießstandpritsche zu liegen. Gerade hatte seine Knarre gekracht. Vorschriftsmäßig wie ein Rekrut machte er ,Aug auf, Finger lang' und meldete ,Spiegel aufsitzend abgekommen', lud durch, zielte und in diesem Augenblick stieß ihn doch irgendein Idiot an, der Schuß brach ins Blaue hinein. Ein wahrer Tumult entstand und der Spieß rüttelte ihn und schrie: „Hans! Der Iwan!!“ Reisinger riß die Augen auf. Der Spieß war Blümlein, ringsum war ein wilder Trubel und die ersten rannten schon hinaus, ohne Gepäck, zum Teil ohne Waffen, kaum daß sie die Mäntel angezogen und die Mützen aufgesetzt hatten. Mit beiden Beinen zugleich flankte Reisinger, die Decken von sich werfend, vom Strohsack, fuhr in die Stiefel, die Jacke, rollte die Decken in die Zeltbahn, während Blümlein neben ihm seine eigenen Habseligkeiten, wie sie kamen, in den Tornister stopfte. Nach dem nächsten, ziemlich nahen Granateinschlag, von dem die ganze Baracke zitterte, warf er plötzlich alles weg und lief ohne ein Wort hinaus. „Schorsch, warte doch!“ schrie ihm Reisinger nach, aber schon war Blümlein draußen, die Türe hinter sich offen stehen lassend. Reisinger fiel es gar nicht ein, sein Gepäck zurückzulassen. Die beiden letzten, die außer ihm noch dagewesen waren, stürmten eben auch davon. Er brauchte nur noch den Rest Tee aus dem Kochgeschirr in die Feldflasche füllen, das Kochgeschirr auf den Tornister, die Feldflasche an den Brotbeutel schnallen. Alles andere, einschließlich der Zigaretten im Wäschebeutel, war schon gepackt, um den Sekt des Häuptlings konnte er sich leider nicht mehr kümmern und noch weniger um den PKW, der doch nicht angesprungen wäre. Er huckte schleunigst den Tornister, hängte den Wäschebeutel in den Haken des linken Tragriemens, die Knarre um den Hals, und tappte hinaus. Es war noch kaum Sicht, dafür umsomehr Lärm. Fluchtlärm überall. Die russischen Panzer waren nur an den Abschüssen und den weit verstreut liegenden Einschlägen zu erkennen, man hörte sie nicht fahren. Sie standen im Norden, wahrscheinlich an der Bahnlinie. Der Kollege vom nördlichen Nachbarbahnhof hatte recht gehabt. Was mochte aus den Kameraden dort geworden sein?
Ein pferdebespannter Troß galoppierte mit Geschrei und Geklatsch auf die Straße nach Kastornaja-West. Ausgerechnet auf der Überführung erwischten ihn die Panzergranaten. Im Morgengrauen hoben sich von der Schneehelle des Landes kleine Gruppen flüchtender Landser ab. Von den eigenen Leuten sah Reisinger nur noch die beiden, die kurz vor ihm die Unterkunft verlassen hatten. Sie waren schon jenseits der Gleise. Einen Steinwurf weit vor ihnen her hastete Blümlein die Anhöhe hinauf. Das war die Richtung Kastornaja-West, und die war richtig. Vielleicht gab es dort noch eine Fahrgelegenheit. Aber das Tempo würde Blümlein nicht durchhalten, obgleich er kein Gepäck trug, außer dem Gewehr; er hatte nicht einmal umgeschnallt. Reisinger ließ sich von der Hast der Flüchtenden nicht anstecken. Nicht auf das Anfangstempo, auf die Ausdauer kam es an. So wie er sich bepackt hatte, war bergan überhaupt nur der langsame, stete, Herz und Lunge schonende Gebirglerschritt möglich, zumal im Schnee. Er würde samt seinem Gepäck die andern alle noch hinter sich lassen. Abgesehen davon, sollten sie sich doch schließlich sammeln und die Flucht planmäßig und, wenn es nötig war, kämpfend fortsetzen. Der Lärm des Restes des nach Kastornaja-West flüchtenden Trosses war verhallt und jetzt hörte Reisinger das rauhe Gebrumm und Kettenrasseln und Quietschen der Kampfwagen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Es war von Minute zu Minute heller geworden und er sah auf der Ostseite der Nordstrecke vier mittelschwere Kampfwagen rasch dem Bahnhof zurollen. Sie schossen in die Gebäude und die Wohnhäuser dahinter. Von Zeit zu Zeit hämmerten MG-Feuerstöße, obwohl nirgends eine deutsche Abwehr zu beobachten war. Plötzlich fuhr dicht über seinen Kopf ein kleiner blitzschneller, leise tönender Schatten. Im Bruchteil einer Sekunde schlug kaum 20 Schritte vor ihm krachend ein schwarzer Einschlag aus der Erde. In diesem Sekundenbruchteil aber hatte ihn die Reaktion des Instinkts, die rascher ist als jeder Gedanke, niedergeworfen. Oder war es der messerscharfe Luftzug gewesen? Kaum war er wieder hoch, krachten mehrere Einschläge um ihn herum. Er mußte den Tornister opfern, sonst kam er nicht mehr über den Rand der Höhe, über den eben Blümlein und die beiden andern verschwunden waren.
Was ihm am wichtigsten war, hatte er ja im Wäschebeutel verpackt. Mit einem heftigen Schwung warf er den Tornister ab, brachte aber den Handgriff des Wäschebeutels nicht rasch genug aus dem Haken des Tornisterriemens. So flog der Wäschebeutel mit in den Schnee. Von zwei Einschlägen in nächster Nähe gehetzt, ließ er ihn liegen. Auf alles konnte man vorübergehend verzichten, alles konnte wieder beschafft werden - nur das Leben nicht! Er fühlte sich leicht, er rannte hangauf. Nach zwei Minuten war er hinter dem Höhenrand in Sicherheit. Im Grunde unten lag der Bahnhof. Im Gelände verstreut, zogen einzelne Schlitten, auf der Straße und auf beiden Seiten neben ihr lange Reihen, auch Kraftfahrzeuge und größere und kleinere Gruppen von Fußgängern. Es war viel Lärm und Geschrei. Es krachte nah und fern und Dreckspringbrunnen stiegen da und dort auf. Kaum 100 Meter vor Reisinger stolperten die drei anderen den Hang hinab. Wenn er nun da hinten liegen geblieben wäre, vielleicht nur verwundet, keiner hätte sich um ihn gekümmert, am wenigsten sein völlig verstörter Freund Schorsch. Er hatte sie rasch eingeholt, sah sie von der Seite an. Sie keuchten mit offenen Mündern. Ihre Gesichter waren gerötet, schweißbedeckt und hatten alle drei den gleichen Ausdruck. Der Schreck saß ihnen in den Knochen und im Gehirn. Reisinger setzte sich an die Spitze, änderte die Richtung, als er mit einem Blick gesehen hatte, daß es im Bahnhof doch keine Fahrgelegenheit gab. Er würde auch nicht der Straße folgen, nicht an dem großen Haufen kleben. Die Kameraden hielten sich in seiner Spur, doch Blümlein fiel rasch zurück, obgleich er sein Gewehr schon weggeworfen hatte. Sie verschnauften sich jenseits der Bahnlinie an der Böschung. Blümlein kam nach zwei Minuten, stapfte weiter, ohne auf ihre Zurufe zu achten. Reisinger wollte ihn nicht allein lassen, raffte sich auf und ging hinter ihm her; so folgten auch die beiden andern. Sie hatten es nicht gewollt und befanden sich dann doch mitten in einer der Ketten von Schlitten- und Marschgruppen, die sich in einigem Abstand voneinander zwei bis drei Kilometer südlich der Bahn westwärts bewegten. Man hörte von Zeit zu Zeit Maschinengewehrfeuer und hörte und sah Granateinschläge. Eine Bodensenke, die gequert werden mußte, lag auf ihrer
ganzen Länge unter anhaltendem Beschuß, ohne daß vom Iwan etwas zu sehen war. Die Sonne drückte durch den Winterdunst. Sie warfen sich auf eine Zigarettenlänge hinter eine Panjebude. Blümlein war schon voraus. Er hatte sich vor einiger Zeit an einen Schlitten angehängt. Um 9 Uhr setzten sie ihren Marsch fort, beschleunigten in der gefährlichen Senke ihre Gangart, so rasch es noch gehen wollte. Umgestürzte Schlitten lagen herum, viele Pferdeleichen, tote Landser, Rucksäcke, Tornister, Schachteln und Kisten, weggeworfene Verpflegung, Stahlhelme, Gasmasken, Gewehre. Schlachtflugzeuge donnerten an, schossen mit Bordkanonen. Man wühlte sich in den Schnee, stäubte sich mit Schnee zu, um sich der Sicht zu entziehen. Von Zeit zu Zeit, wenn man zu ausgepumpt war, machte man Halt, im Windschatten eines der großen Strohdiemen, die wie Häuser in der Weite lagen. Am frühen Nachmittag trafen sie in einem Kolchoseschuppen, der voll Hirse war, ohne es noch erwartet zu haben, Blümlein wieder. Er war vor Schmerzen nicht mehr weitergekommen. Seine Füße waren in die Stiefel gefroren; er hatte sie sich herunterschneiden lassen müssen. Es waren noch andere Soldaten ihrer Einheit da. Die brachen nun wieder auf. Blümlein wollte auf den Socken mitrennen. Er stöhnte, weinte vor Schmerzen. Reisinger hielt ihn mit Gewalt zurück. „Du bleibst hier! Reib' dir die Füße mit Schnee ein, wenn es noch so weh tut! Vielleicht kannst du sie noch retten. Ich besorge dir Schuhe!“ Er legte das Koppel ab, lehnte das Gewehr an die Bretterwand, ging hinaus, stand und lief in Kälte und Wind herum, hielt jeden an, der kam, rannte zu jedem Schlitten, der in der Nähe sichtbar wurde, bettelte um Stiefel für seinen Kameraden. Immer weiter entfernte er sich. Nach, zwei langen Stunden endlich bekam er ein Paar nagelneue Filzstiefel, eilte zurück, kam schweißgebadet zur Hirsescheune. Blümlein war fort; es war überhaupt niemand mehr da. Auch sein Koppel mit dem gefüllten Brotbeutel war weg. Nur sein Gewehr lehnte noch an der Wand. Beim Dorf seitwärts wurde geschossen. Reisinger war zu müde und zu enttäuscht, um auch nur zu fluchen. Er stopfte sich sämtliche Taschen mit Hirse voll, hängte
sich das Gewehr und die Filzstiefel um den Hals und marschierte los. Er bewegte sich nicht mehr rascher, als es notwendig war, um warm zu bleiben. Das Gelände stieg leicht an. Viele schmale und breite Wege waren in den Schnee getreten, alle in der gleichen Richtung, alle brachen sie am Höhenrand ab. Als er dort ankam, sah er sie einem Dorfe zu führen, dessen weit verstreute Katen am jenseitigen Rande der breiten Senke lagen und sich rechter Hand bis nahe an den fernen Bahndamm hinaufzogen, der an seinen Telefonstangen zu erkennen war. Er sah auch wieder die Hunderte von Landsern, die zu Fuß und zu Wagen auf diesen selbstgetrampten Wegen dahinzogen, den Katen zu, die ihnen mit rauchenden Kaminen willkommenes Obdach verhießen für die Nacht. Jetzt, angesichts der Ortschaft und der vielen Kameraden fiel die Spannung von ihm ab und er wurde von seiner Müdigkeit überwältigt. Er mußte sich setzen. Wenn es auch schon Abend wurde, das Dorf lag breithin vor ihm, er konnte es selbst im Stockfinstern nicht verfehlen. Er wußte, daß er nicht einschlafen durfte, und doch fielen ihm die Augen zu. Als er sie wieder aufriß, weil ihn irgend etwas aufgestört hatte, konnte nur kurze Zeit vergangen sein, denn die Sonne stand noch zur Hälfte über dem Horizont, aber das Bild hatte sich grundlegend geändert. Vor den Katen weit und breit und zum Teil noch vor dem Dorfe auf den Trampelpfaden und Fahrbahnen standen die Kraftwagen und Schlitten, standen kleine und große Gruppen Feldgrauer. Die hielten die Arme hoch, denn sie waren von allen Seiten von russischen Panzern umgeben. Reisinger sah eine ganze Weile mit starren Augen und starrem Herzen der Gefangennahme der vielen Kameraden zu. Sicher war Blümlein unter ihnen und die beiden andern. Und er selbst wäre dabei, wenn er sich nicht mit der Bettelei um Schuhe für den Kameraden so lange aufgehalten hätte. Wie seltsam das Schicksal mit einem spielt! Vielleicht war auch er noch dran in dieser Nacht. Er mußte in weitem Bogen nach Süden das Dorf umgehen. Aber wenn er auch hier dem Iwan entging, würde er ihm nicht anderswo in die Arme laufen? Und wie lange würde er sich noch auf den Beinen halten können? Würde er einen Unterschlupf finden, in dem er vor dem Erfrieren geschützt war, bevor er vor Erschöpfung zusammenbrach? Mühsam erhob er
sich, schritt am Rande der Senke entlang nach Süden, war anfänglich immer wieder versucht, herumzuschwenken und einfach ins Dorf zu gehen, sich gefangen zu geben, nur um in der eiswindgepeitschten Öde, über die nun die Nacht sank, nicht mehr allein zu sein. Doch immer wieder biß er auf die Zähne und setzte seinen Weg nach Süden fort. Er fing an, Hirse zu kauen und sich nach Hause zu träumen. Das Bild seines jungen Weibes und seine Liebe gingen mit ihm. Einmal würde er wieder bei ihr sein - wenn er durchhielt.
4. KAPITEL
Auf dem Bahnhof Nishnedewizk mußte man am Vormittag dieses 28. Januar stundenlang den Kopf einziehen; es hagelte Bomben. Erst gegen Mittag war alles wieder so weit, daß Huckles Garnitur, nachdem in jedem Wagen eine Sprengladung eingebaut war, abfahren konnte. Selbst zu dieser Stunde lagen bei den örtlichen Wehrmachtsdienststellen noch keine genauen Nachrichten vor. Entweder wagten es die Truppenkommandeure nicht, nach oben klaren Wein einzuschenken, oder man legte höheren Orts dem Durchbruch einiger sowjetischer Panzer keine besondere Bedeutung bei. Da die Fahrt bis zum letzten kleinen Bahnhof vor Kastornaja völlig ruhig verlief, neigte auch Racke dieser Auffassung zu. Huckle rauchte seine lange Pfeife mit derselben Ruhe wie immer und das rosabärtige Kurtchen schaufelte pfeifend im Rhythmus seines Lieblingsschlagers: „Daß du mich liebst, das weiß ich, auf deine Liebe -“ Schon von weitem sahen sie die ganzen 8 Mann vom Bahnhof Blochinskaja auf dem Bahnsteig stehen. Kaum hielt die Lok mit pustendem Schlot, da schwirrten schon ein ganzes Dutzend Fragen zu ihnen herauf. Racke stieg hinunter. „Das alles wollten wir eigentlich von euch wissen“, sagte er. „Vor allem, wo steckt denn der Iwan und wie stark ist er?“ Sie wußten es nicht. Sie hatten, als der Morgen graute, in Richtung Kastornaja Artilleriefeuer gehört und auf telefonischen Anruf keine Antwort erhalten. „Warum habt ihr denn nicht nachgeschaut, was los ist? Es sind doch nur 6 Kilometer.“ Natürlich war einer gegangen, aber umgekehrt, als er Fahrgeräusch von Panzern gehört hatte. „Und seitdem?“ Seitdem standen sie marschbereit. „Da muß ich erst selbst mal erkunden“, rief Racke zu Huckle hinauf. „I geh mit“, sagte Huckle. „Nein, Sie bleiben auf der Lok.“ „Gut, no begleit Se der Kurtle und i fahr' mit dr Lok hente drei, no kennet'r glei aufschteige, wenn's pressiert.“
Killemann turnte grinsend herunter, das Gewehr umgehängt und das Koppel mit Handgranaten gespickt. Sie hatten sich für diese Fahrt reichlich damit eingedeckt. Die Abwechslung schien ihm Spaß zu machen. „Wir gehen etappenweise vor“, erklärte Racke. „Wir halten uns nicht starr am Bahnkörper, sondern an Punkte, von denen wir einen guten Überblick haben. Sie folgen nur auf Zeichen, Huckle. Wenn es dunkel wird, signalisiere ich mit der Taschenlampe. Sie fahren nie weiter vor als bis zu der Stelle, von der aus wir das Zeichen gegeben haben.“ Ihre Vorsicht wäre zunächst nicht nötig gewesen. Ohne vom Iwan etwas wahrgenommen zu haben, es sei denn Feuerschein da und dort und das Grollen zeitweisen Artilleriefeuers weit im Südosten und in westlicher Richtung, kamen sie bei Einbruch der Dämmerung bis an den Ortsrand von Kastornaja. Einzelne helle Fenster deuteten auf die Anwesenheit eines sorglosen Siegers. Lok halt! signalisierte Racke zurück. Auch im Bahnhofsgebäude sahen sie Licht, als sie sich näher herangepirscht hatten, und schließlich zum erstenmale etwas vom Gegner selbst: Im matten Schein, der aus zwei vereisten Fenstern zu ebener Erde fiel, erkannte Racke die Umrisse eines Kampfwagens. Er flüsterte es Killemann zu. „Schiet“, sagte Killemann. „Nu könn' wr umkehren.“ „Das eilt nicht. Erst wollen wir mal genauer feststellen, was hier los ist. Ich kläre zunächst, ob der Panzer besetzt ist. Du bleibst da liegen.“ Racke kam unbehindert am Rande des Bahngeländes entlang auf die Höhe des Empfangsgebäudes, kroch über die Gleise hinüber bis zum Heimatdurchgangsgleis, legte sich flach zwischen die Schienen. Kein Iwan weit und breit und alles still. Nur aus dem Bahnhofsgebäude drangen manchmal Geräusche. Lachen, Flüche, Gekreisch - Männer- und Frauenstimmen. Manchmal verdunkelten Schatten die beiden hellen Fenster. Der Panzer war ein T 34 und er stand mit dem Rohr nach Osten. Die Luke war offen. Racke beobachtete geduldig. Wahrscheinlich war der Kasten nicht der einzige in der Gegend. Schließlich robbte er bis an den Rand des Bahnsteigs und, da nichts geschah und nichts sich rührte, vollends hinüber neben den Panzer, richtete sich auf, kletterte hinauf und stieg ein. Er pries sich glücklich, bei der Panzerabwehr-Waffe gedient zu haben und mit Panzern Bescheid zu wissen, sonst würde er es
wohl nicht gewagt haben. Er hielt die MP schußfertig und stieß halblaut ein paar gemeine russische Ausdrücke aus. Er hatte dabei das gleiche scheußliche Gefühl im Magen, wie wenn man sich auf einem hohen Turm weit über die Brüstung hinausbeugt und in die Tiefe blickt; aber weder der erwartete Schußdonner erfolgte, noch drückte sich ein Pistolenlauf in seinen Nabel. Nichts rührte sich. Er hielt die Taschenlampe möglichst weit seitlich, drückte den Knopf, eine Sekunde lag der Kampfraum in hellem Licht - er war unbesetzt. Racke atmete tief ein, so widerlich ihm auch das Gemisch von Öl-, Schmiere- und Benzingeruch und der abgestandene Pulvergestank waren und preßte die Luft geräuschvoll freudig durch die Lippen, dann stemmte er sich wieder hinaus. Über die Gleise herüber schob sich ein dunkles Bündel näher. Es war Killemann. „Junge, Junge, is das 'ne Wucht!“ staunte er. „Ja, aber vorläufig haben wir Glück, er ist leer“, flüsterte Racke. „Paß auf, falls jemand kommt. Ich schau jetzt mal, was im Hause los ist.“ Racke trat neben das erste Fenster und schob den Kopf so weit vor, bis er mit einem Auge durch einen schmalen freien Streifen in der Eiskruste am oberen Fensterrand sehen konnte. Ein zweiter Stein fiel ihm vom Herzen: auch von hier drohte keine Gefahr. Die Panzerbesatzung, um die es sich zweifellos handelte, verstärkt durch zwei oder drei andere rote Soldaten war in bereits völlig aufgelöstem Zustand mit dem Rest einer Batterie Schnapsund Sektflaschen und einem halben Dutzend Russinnen beschäftigt, die sich in nicht weniger aufgelöstem Zustand befanden. Diesen Gegner außer Gefecht zu setzen, war kein Problem. Falls der Fahrweg in Ordnung war und nichts Unvorhergesehenes dazwischenkam, würden sie den Zug hier durchbringen. Racke winkte Killemann zu sich. So andächtig Kurtchen den Panzer bestaunt hatte, so andächtig bestaunte er auch die Szene hinter dem Fenster und hauchte wieder: „Junge, Junge, is das ne Wucht!“ Racke machte seiner Bewunderung ein rasches Ende, er zog ihn weg: „Du mußt jetzt die Gegend hier außen beobachten. Ich sehe nach, ob die Gleise nicht zerstört sind. Wenn Iwans auftauchen, verdrück' dich. Nicht auf eine Knallerei einlassen.“
Racke ging und zehn Minuten später fiel ihm der dritte Stein vom Herzen: es gab zwar einige Volltreffer in den Gleisen, aber im Zickzack über ein paar Weichen konnte der Zug trotzdem durch den Bahnhof auf die Strecke nach Marmyshi gebracht werden. Als Racke zurückkam, lehnte neben Kurtchen eine zweite Gestalt am Panzerheck. Huckle schien gekommen zu sein. Dann aber sah er, daß es ein russischer Soldat war. „Er kam aus dem Haus und wollte in den Panzer steigen“, erklärte Killemann, „da wurde ihm plötzlich die Gurgel zugedrückt. Ich habe ihn aber nicht umbringen können. Er hat so große Kinderaugen.“ Racke sah forschend in das Gesicht des Soldaten. Es war wirklich ein Junge. „Na gut“, sagte er. „Diesen einen können wir ja mitnehmen.“ Er ging zum Fenster. Warf einen Blick durch's Eisguckloch. Die Siegesfeier hatte einen noch höheren Grad der Trunkenheit erreicht. Also konnte der Zug kommen. Er schickte Killemann, ihn zu holen. Sobald der Zug zu hören war, würde er die Gegner umlegen, damit sie kein Unheil anrichten konnten. Zunächst nahm er den Gefangenen mit sich, zwanzig Schritte weg hinter einen der zwischen den Abstellgleisen aufgeschaufelten Schneewälle; von dort aus konnte er das Bahnhofsgebäude und seine nähere Umgebung besser überblicken. „Wie heißt du?“ fragte er den Soldaten. „Sascha Georgewitsch Makow.“ Racke brauchte nicht russisch zu radebrechen, Sascha konnte gut deutsch. Er war eifrig mitteilsam, vielleicht aus seinem Glücksgefühl und seiner Dankbarkeit heraus, das Leben behalten zu haben. Der Vater seiner Mutter war Germanski. Sascha war 16 Jahre alt, auf einer Kolchose bei Kursk Schlosser und Traktorfahrer gewesen. Die Roten hatten ihn im Sommer auf ihrem Rückzug als Ersatz für einen gefallenen Panzerfahrer mitgenommen. Sie hatten ihn nicht mehr fortgelassen und in Woronesh in eine Uniform gesteckt. Sie war ihm viel zu groß. Nitschewo. Ob noch mehr Panzer beim Bahnhof oder im Ort wären? wollte Racke wissen. Es seien viele gewesen, aber sie seien wieder fort. „Gibt es noch Deutsche hier? Eisenbahner oder Soldaten?“ „Nur tote.“
Ob rote Soldaten im Ort seien? „Wenige. Nix kommen Station. Liegen schlafen in gute warme Betten.“ Im Westen wurde der Himmel hell. Der Rand einer Höhe hob sich gegen das unruhige grünliche Licht ab. Eine Leuchtkugel. Also dort war der Russe. Ob da noch durchzukommen war? Racke starrte noch immer nach Westen, obgleich es längst wieder finster war. Versuchen würde er es auf jeden Fall. Und dabei schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. „Möchtest du wieder zu Matka?“ fragte er den Jungen. Sascha starrte ihn mit offenem Munde an. „Wir fahren nach Kursk“, sagte Racke. „Ich will den Panzer mitnehmen. Wenn du ihn für mich fährst, kommst du nicht in ein Gefangenenlager. Ich lasse dich dann frei. Du ziehst die Uniform aus und kannst nach Hause gehen.“ Der Bengel packte Rackes Mantelärmel und küßte ihn, sagte aufgeregt freudig: „Sascha fahren. Sascha gut Freund Germanski.“ „Dann komm“, sagte Racke. „Wir besetzen ihn gleich.“ Sie gingen wieder hinüber. Sascha kletterte ohne ein Wort durch die Fahrerlucke, schaltete die Notbeleuchtung ein, klemmte sich hinter die Steuerknüppel und machte sich abfahrbereit. Racke sah ihm zu, dann stieg er in den Turm. Ganz wohl war ihm nicht dabei, obgleich er mit Panzern einigermaßen Bescheid wußte. Der T 34 hatte einen starken Motor, eine Spitzengeschwindigkeit von 53 Stundenkilometern, wenn er sich recht erinnerte, und eine Kanone Kaliber 7,62. Er war lange nicht der größte, doch mit seinen rund 26 Tonnen der wendigste und häufigste der russischen Kampfwagen. Racke setzte sich hinter die Kanone, nahm Hör- und Sprechgerät auf, kauderwelschte mit Sascha. Beruhigt stellte er fest, daß er sich ganz gut mit ihm verständigen konnte. Auch der Munitionsstapel stimmte ihn zuversichtlich. Panzer- und Sprenggranaten waren zu gleichen Teilen vorhanden, etwa 15 Stück je. Ein Schnellfeuergewehr, eine Maschinenpistole und Eierhandgranaten lagen da. Er entdeckte auch eine Leuchtpistole, rote, grüne und weiße Patronen. Er studierte die Zieleinrichtung, suchte dann den Schalter der Notbeleuchtung, fand ihn und schaltete aus. Zunächst war es fast nacht, dann erkannte er die Geräte im Schimmer ihrer Phosphorbeleuchtung,
die ihn allmählich verschwommen den ganzen Kampfraum erkennen ließ. Schließlich fiel ihm ein, ob der Kampfwagen wohl auch noch Treibstoff hatte und wie viel. Er fragte Sascha. Der Junge sagte, sie hätten am vormittag frisch getankt. 60 Kilometer würden sie bestimmt noch fahren können. Das reiche aber nicht bis Kursk. Da müsse er nach seiner Kolchose noch weit marschieren, meinte Racke. Nitschewo. Er würde zu Matka tausend Kilometer laufen, versicherte Sascha lachend. Racke steckte den Kopf aus der Luke, legte den Kopfhörer ab, spähte und lauschte über die Gleisanlagen hinweg scharf nach Osten. Er glaubte, aus nordöstlicher Richtung das Geräusch einer motorisierten Kolonne zu hören. Es wurde rasch schwächer, verlor sich, gleich darauf hörte er den Zug kommen. Dem Fahrgeräusch, dem Gehacke der Räder über die Schienenstöße nach hatte er allerhand Tempo. Das mußte besondere Gründe haben, denn die beiden auf der Lok waren sich doch klar, daß es notwendig war, langsam zu fahren, um möglichst wenig Lärm zu machen. Schon tauchten Schutzwagen und Lok aus der Dunkelheit. Hart schlugen die Bremsklötze an. Die Räder kreischten und die Funken spritzten. Racke dachte: und wenn die Kerle da drin noch so besoffen sind, jetzt werden sie In diesem Augenblick zersplitterte ein Fenster, sicher weil es zugefroren und anders nicht zu öffnen war. Racke duckte sich bis Augenhöhe hinter den Lukenrand. Ein Kopf erschien zwischen den Scheibenzacken. Eine Stimme brüllte ein paar Worte. Racke verstand nur den Namen Sascha, aber die Frage des Brüllenden war ihm klar: „Zum Teufel, Sascha! Was ist denn da los?“ hätte sie auf Deutsch wahrscheinlich gelautet. Vom Fenster aus war der anrollende Zug nicht zu sehen, der Kampfwagen stand zu dicht davor. Der Kopf zwischen den Scheibenzacken verschwand mit Gefluch, das in einem Chor von Flüchen und Gebrüll im Inneren des Raumes unterging. Es war klar, was kommen würde und Racke legte den Lauf der Maschinenpistole auf den Lukenrand, richtete ihn auf die Türe. Geräuschlos ging es nun leider nicht mehr ab. Die Türe wurde aufgerissen. Vier, fünf halbnackte Gestalten stürzten heraus, Pistole, Gewehre, Handgranaten in den Händen, zugleich aber krachten die Feuerstöße aus Rackes MP unter sie. Sie brachen
zusammen, ehe sie auch nur zu einem Gedanken, geschweige denn zu einer Abwehr kommen konnten. Ohne zu zögern, stemmte sich Racke aus der Luke, sprang hinunter und ins Haus hinein. Die Weiber hatten sich verstört im Hintergrunde des Dienstraumes zusammengedrängt. Wo die anderen Soldaten seien, brüllte Racke sie an. Schreiend beteuerten sie, daß kein Russe mehr im Hause sei. Er zerschlug die beiden Telefonapparate, griff nach zwei Flaschen Sekt, die noch ungeöffnet zwischen leeren Flaschen und Scherben auf dem Fußboden lagen, stopfte sie in den Brotbeutel und rannte wieder hinaus. Da hielt eben die Lok, Huckle rief aus dem Fenster: „Send S' mit dene do fertig worde, Inschbekt'r? No mache Se daß Se raufkommet! An d'r Streck drauße wimmelt's von Russe!“ Racke stieg nicht hinauf. „Weißt du das sicher?“ fragte er. „Freile woiss i dees! Be jo grad no wegkomme! I glaub, se schanzet und reißet s' Glois uff. De Kurtle hann e underwegs uffglade.“ Racke überlegte kurz. Die Frage, ob nach Osten oder Westen war damit endgültig entschieden. Er freute sich darüber. Es war nicht sicher, ob es den Eisenbahnern und den deutschen Einheiten im Raume Nishnedewizk gelingen würde, der Einkesselung zu entgehen oder durchzubrechen. Außerdem lag Latschinowo im Westen und dort waren zwei, deren Schicksal ihn besonders beunruhigte. „Gut, dann fahrt ab!“ rief er zu Huckle hinauf. „Ich komme mit dem Panzer.“ „Du bisch verrickt!“ fuhr es Huckle heraus, obgleich er wußte, daß Racke vor seiner Verwundung Pakfeldwebel gewesen war. Racke beachtete den Zwischenruf nicht. „Fahrt vorsichtig und mit möglichst wenig Krach! 20 Kilometer Höchstgeschwindigkeit. Wenn wir auf freier Strecke sind, fahre ich auf dem Bahnkörper voraus, damit ihr nicht unversehens in einem Bombentrichter oder an einer Sprengstelle entgleist.“ Sie vereinbarten noch die gegenseitigen Lichtsignale. Killemann, der soldatische Neuling, war guter Dinge, Huckle, der erfahrene Veteran, weniger. Racke machte ihm Mut: „Wenn alle Stricke reißen, lassen wir den Zug eben hochgehen und ihr kommt zu mir in den Panzer!“ „'s gibt ebbe no meh Panz'r.“
„Aber wir haben den Vorteil, daß wir dem Gegner vor die Luke rotzen, bevor er überhaupt spannt, was los ist. Schließlich kommen wir ja rasch durch den Raum durch, in den der Iwan eingebrochen ist.“ Huckle sagte nichts mehr, sondern gab Dampf. Sascha ließ den Motor an und wendete. Racke blieb im Turm stehen, er sah und hörte so besser, was draußen los war. Der Panzer ruckte, schob sich vorwärts, schneller und schneller werdend, unbekümmert um Schienen und Schwellen, neben dem Zuge her aus dem Bahnhof. Zu hören war außer dem Rasseln der Ketten, dem Brummen des Motors, und dem Fahrgeräusch des Zuges nichts. Vielleicht auch verschlang eben dieser nahe Lärm alle ferneren Laute. Unbehindert gelangten sie auf die freie Strecke. Sascha fuhr nun, wie Racke ihm befahl, auf dem Bahnkörper, mit der einen Kette im Front-, mit der anderen im Heimatgleis. Nach Latschinowo mochten es 15 Kilometer sein. Einer nach dem andern rollte ab, ohne daß sich das geringste ereignete. Eine Blockstelle kam. Sie lag friedlich oder unheimlich - wie man's nahm. Racke hielt es nicht für nötig zu halten, aber er zog es vor, seinen Kopf für alle Fälle in Sicherheit zu bringen und durch das Rundblickfernrohr zu beobachten. Sie rollten vorbei. Weder Türen noch Fenster öffneten sich. Racke befahl Sascha, langsamer zu fahren und gab Huckle das Signal, aufzuholen. Auch der Zug fuhr unbehelligt an der Blockstelle vorüber. Um eine schwach bewaldete Anhöhe biegend, sahen sie gegen das matte Rot eines verlöschenden Brandes schwarze Mauerreste stehen. Das mußte Latschinowo sein. Racke gab das Haltzeichen, setzte sich seitlich neben die Lok und rief den beiden, aus dem Fenster herausgestreckten Köpfen zu: „Ich fahre durch den Bahnhof ohne mich aufhalten zu lassen, ganz gleich, was dort los ist und stelle dabei fest, ob euer Fahrweg in Ordnung geht. In diesem Falle gebe ich euch ,Fahrt frei!' und ihr braust mit Volldampf durch. Würdet ihr angegriffen, kracht meine Kanone dazwischen.“ Er unterrichtete Sascha besonders über seinen Plan, dann befahl er „Panzer marsch!“ und das Ungetüm holperte weiter. Der Sicherheit halber verschwand Racke wieder im Turm, bereit, augenblicklich loszuballern, wenn's nottat.
Es tat nicht not. Kein Mensch ließ sich sehen. Weder an der Bahnhofseinfahrt, noch an dem ausgebrannten Empfangsgebäude, noch am ebenso ausgebrannten Güterschuppen, noch an der Bahnhofsausfahrt. Nicht Soldat, nicht Zivilist. Racke sagte „stoj!“, der Panzer hielt. Der Motor ging leise. Auch von den Häusern her, deren Umrisse im Dunkel zu sehen waren, drang kein Licht und kein Laut. Auf einem Abstellgleis stand das Gerippe eines ausgebrannten Güterzuges, eine Lok davor mit einer Einbuchtung im Kessel, so groß wie eine Sitzbadewanne. Racke stieg aus, stöberte in den Brandtrümmern herum. Er fand weder Tote, noch ein Zeichen dafür, was aus den Lebenden, die hier Dienst gemacht hatten, was aus Schepperl und Liebedorn geworden war. Nun gab er in das Dunkel zurück Huckle das Fahrsignal. Hoffentlich konnte er es noch erkennen; Bodennebel krochen über die Gleisanlagen. Der Zug kam, hielt. „Ja jetzt leck me no glei em Arsch!“ rief Huckle freudig aus dem Lokfenster. „S' isch jo gar koi Iwan do!“ „Möglich, daß sich die durchgebrochenen Russen wieder zurückgezogen haben“, meinte Racke. „Es kann aber auch sein, daß sie gleich weiter nach Süden und nach Westen vorgedrungen sind. Hängt doch mal das Telefon an die Leitung, vielleicht können wir Kschen erreichen !“ Eigentlich glaubten sie nicht daran, aber heute schien eine Nacht der Wunder zu sein. Es summte und klackte im Draht. Plötzlich hörten sie verschwommenen Gesang, so wie Russen singen, und dann war eine Stimme da. Eine rauhe, aber offenbar vergnügte Stimme. Huckle legte rasch einen Finger an die Lippen und eine Hand über die Sprechmuschel. Die Stimme sprach russisch. In kurzen Pausen wiederholte sie drei, vier Mal, jedesmal aber lauter und heftiger, etwa dieselben Worte. Mit der Hoffnung, daß ihr gefährliches Abenteuer bereits ein glückliches Ende gefunden hätte und sie in Kschen im Triumph auf einen von Feldeisenbahnern und Landsern besetzten Bahnhof einfahren würden, war es aus. Im Bahnhof Kschen saß der Iwan. Huckle legte den Hörer auf und zog den Draht von der Leitung, stopfte sich eine Pfeife. Racke und Killemann steckten sich eine Zigarette
zwischen die Lippen. Sascha steckte den Kopf aus seiner Klappe und bekam auch eine. „So leicht wie in Kastornaja wird's in Kschen voraussichtlich nicht sein“, sagte Racke. Huckle meinte, das Gescheiteste wäre, sie gäben gleich auf und verschwänden von der Bahn. Racke antwortete: „Du vergißt, daß wir die Verantwortung für drei Wagen voll wertvoller Geräte und Waffen haben. Wir dürfen sie erst vernichten, wenn wir sicher sind, daß wir den Zug nicht durchbringen. Erkunden will ich auf jeden Fall erst einmal und damit uns allen wieder besser zu Mut wird, trinken wir jetzt ne Pulle Sekt.“ Er zog eine aus dem Brotbeutel. Huckle nahm sie ihm aus der Hand, starrte auf das Etikett, rief aus: „De 'seh jo em Surfleisch dr sei'! Wo hosch'n du deen her?“ Auf das Etikett war mit rotem Farbstift ein S gemalt. Das Rätsel war nicht schwer zu lösen, zumal Sascha die Vermutung bestätigte: Der Panzer war über Kastornaja Nord gekommen, die Besatzung hatte den Sekt entdeckt und mitgenommen. Auch Sascha bekam einen Schluck Sekt, dann flog die leere Flasche in den Graben. Sie rollten noch einige Kilometer weiter, dann ließ Racke halten, mit dem Panzer fuhr er jedoch noch ein Stück abseits der Bahn in eine dicht mit Jungholz bestandene Bodenmulde. Sascha kam zu Huckle auf die Lok. Kurtchen stieg herunter, mit Gewehr und Handgranaten behängt und stampfte hinter Racke längst des Bahndammes hin. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Nach einer halben Stunde begann es zu schneien. Die Nacht wurde so leise, daß man die Flocken knistern hörte. Sie sahen nicht mehr zehn Schritte weit. Nach einer weiteren halben Stunde standen sie am Anfang der Kschenewa-Brücke. Der Anfang war zugleich das Ende. Über ihre ganze Breite war ein Loch herausgesprengt, so lang wie eine Lok. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob das die Russen gemacht hatten oder die Deutschen. Sie brauchten nicht weiter zu erkunden, das Schicksal des Zuges war besiegelt. Sie konnten umkehren. Daß nun alles vergeblich gewesen war, machte sie müde. Die Freude über das geglückte Husarenstück mit dem Panzer fiel in sich zusammen. Noch niemals war Racke so niedergeschlagen gewesen, nicht nach Tapor und nicht nach Kowylkin. Er hätte sich
am liebsten in den Schnee gelegt und einfach die Augen zugemacht. Diesmal ging Kurtchen voraus. Die Sohlen knirschten nicht mehr. Nach kaum hundert Schritten waren ihre Fußstapfen vom Herweg schon nicht mehr zu sehen; sie waren inzwischen überschneit. Auch die Schienen waren im Teppich des Neuschnees versunken. Sie gingen gegen den Wind, er trieb ihnen den Schnee ins Gesicht. Die Füße hatten es immer schwerer. Unterm Mützenrand vorn rann ihnen der Schweiß über die Stirne und Nase in die Augen, in die Mundwinkel, Stumpf, ohne Gedanken trotteten sie mit gesenktem Kopfe dahin. Was zu denken war, hatten sie schon gedacht: sie würden den Zug zerstören, im Kampfwagen südlich der Bahn um Kschen herumfahren und versuchen, nach Westen auf die deutsche Seite zu kommen. Der Rückweg schien viel weiter zu sein als der Herweg, obgleich sie zuvor zur Brücke viel langsamer und mit angespannten Sinnen gegangen waren. Wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, hätten sie geschworen, längst am Zuge vorbeigegangen zu sein oder sich verirrt zu haben. Plötzlich griff Racke nach vorne, riß Kurtchen am Ärmel. Kurtchen fuhr herum. „Mensch, hast du mich erschreckt!“ sagte er unwillig. „Wollt ich nicht“, bedauerte Racke. „Wollte dir nur sagen, daß doch auch möglich ist, daß die Russen von deutschen Kräften wieder vertrieben werden. Dann ist die Brücke in einem halben Tag behelfsmäßig wieder hergestellt und wir können weiterfahren. Also müssen wir abwarten, was werden wird. Solange uns der Iwan nicht an Ort und Stelle dazu zwingt, dürfen wir den Zug nicht zerstören.“ „Recht hast du schon“, sagte Kurtchen, drehte sich um und ging weiter, rief über die Schulter zurück: „Aber wenn's dann soweit ist, kommen wir auch nicht mehr weg.“ Racke rief zu ihm vor: „Na, erst pennen wir mal, bis es Tag ist. Ich kann die Augen nicht mehr offen halten. In der Nacht haben wir kaum etwas zu befürchten und am Morgen – “ Ein Blitz und ein Donnerschlag schnitten ihm das Wort ab. Ohne noch einen Schritt platschten sie beide bäuchlings in den Schnee, schnellten sich vom Bahnkörper herunter und preßten sich an den Fuß der Böschung. Im kurzen Schein des Blitzes war in der Ferne der Zug wie ein Schemen aus dem Flockenschleier
der weißen Nacht getaucht, jetzt folgte dort ein zweiter Blitz mit krachendem Schlag und machte ihn erneut sichtbar. Gedämpft klang Urräh-Gebrüll, Gewehr- und MG-Feuer zu ihnen her, ging unter im Lärm einer dritten Explosion. Feuerschein flackerte, die Wagen brannten. Die Lok tauchte auf und viele Gestalten um sie herum. Ein paar kurze Schläge krepierender Handgranaten wurden vernehmbar, gleich darauf barst die Lok, nach allen Seiten Feuer speiend, auseinander. Racke und Killemann starrten sich an. Der Vorgang war klar. Wenn Huckle und Sascha den Russen entkommen waren, würden sie nun versuchen, den Panzer zu erreichen. Racke verständigte Killemann mit ein paar Worten. Sie liefen los, schräg vom Damm weg in Richtung des kleinen Gehölzes, in dem sie den Kampfwagen versteckt hatten. Das Gehölz fanden sie, suchten kreuz und quer nach dem Panzer. Aber selbst die tiefe Doppelspur seiner Raupen war unterm Neuschnee begraben und sie waren mehrere Male an dem formlosen weißen Hügel vorbeigegangen, ehe Killemann den Gesuchten endlich von unten her am schwarzen Strich des Rohres erkannte. Um so besser, denn auch die Russen würden ihn um so weniger entdecken. Es war aus diesem Grunde und auch der ganzen Lage nach klüger, nun nicht hineinzuklettern, weil sie keinen Fahrer hatten. Ohne Fahrer jedoch saßen sie trotz Kanone und MG so gut wie hilflos in der Falle, wenn es zu einem Angriff der Russen kam. So hockten sich die beiden auf Handgranatenwurfweite entfernt unter einen Busch, aus dem eine richtige Schneelaube geworden war. Es hörte auf zu schneien. Sie sahen durch das Gitter der jungen Stämmchen in der Ferne das Feuer geistern. Qualm, beladen mit Ruß und widerlichen Brandgerüchen, trieb vorüber und in ihre Nasen. Gedämpft drang der Lärm der Stimmen und des Treibens der roten Truppe an ihr Ohr. Dann kam sie, auf dem Bahndamm, ein dichter Haufen, nahezu kompaniestark, unbekümmert geräuschvoll und ohne Sicherung, ein Beweis, daß sie sich ungefährdet im eigenen Fronthinterland fühlte. Auf Handschlitten zogen sie schwere Maschinengewehre und Werfer. Sie trugen Verwundete oder Tote mit sich, wahrscheinlich Opfer der Sprengungen. Racke war nun ganz klar: es handelte sich nicht nur um einige bei Kastornaja durchgebrochene Panzer, sondern um einen ernstlichen sowjetischen Durchbruch auf breiterer Front und mit
allen Waffen. Er wartete, bis die Kolonne nicht mehr zu hören war und auch angenommen werden konnte, daß sich nichts mehr beim zerstörten Zuge herumtrieb, dann sagte er: „Komm, Kurtchen, wir wollen mal sehn, ob wir Huckle finden“ und kroch unter der Schneelaube vor. Killemann folgte ihm. Sie richteten sich auf und fuhren beide zusammen: um den weißen Hügel des Panzers kam eine dunkle Gestalt. Ein russischer Soldat. Er mußte sie sofort gesehen haben, aber er machte keine feindselige Geste. Langsam gingen sie auf ihn zu, es war Sascha. Das ganze Jungengesicht strahlte vor Freude. „Wo ist der Lokführer?“ fragten ihn Racke und Killemann wie aus einem Munde. Sascha wurde augenblicklich ernst. „Tot ist“, antwortete er leise. Dann erzählte er und bestätigte Rackes Vermutungen: Huckle hatte Sascha, der auf der Lok eingeschlafen war, geweckt: „Russen kommen! Lauf fort!“ Aber Sascha war nicht fortgelaufen, sondern Huckle zum letzten Wagen nachgerannt. Die Kolonne Russen, die auf dem Bahndamm ankam, hatte gerade den Zug entdeckt und stürmte jetzt durcheinanderschreiend auf ihn los. Huckle steckte die Zündschnur an, kroch dann mit Sascha zwischen den Rädern zur Zündschnur des zweiten Waggons und dann zum vordersten zurück. Als dessen Zündschnur brannte krachte hinten bereits die erste Explosion. „Jetzt renn aber!“ hatte Huckle dem Jungen sehr böse befohlen und Sascha war vom Bahndamm weggelaufen und hatte sich hinter Bäumen verkrochen. Während der mittlere Wagen explodierte, war Huckle auf die Lokomotive geklettert. Das hatten die Russen gesehen, schossen von beiden Seiten auf die Lok und nach der Explosion des vordersten Waggons stürmten sie brüllend gegen sie an. Handgranaten flogen heraus, gleich darauf aber barst die Lokomotive auseinander. Nach einer Weile hatte Sascha zwischen ihren zerfetzten Eisenteilen einen leblosen Körper hängen sehen. Die Roten hatten noch darauf geschossen, da war er fortgekrochen. Killemann und Racke starrten aneinander vorbei. Keiner sprach ein Wort. Eine ganze Weile standen sie so. Es war der Abschied von ihrem gefallenen Kameraden. Und Racke dachte: Ein unglücklicher Zufall. Die Russen waren nicht auf der Verfolgung des Zuges gewesen, sie hatten den Bahndamm nur als Marschstraße benutzt.
Er riß sich los von seinen Gedanken und sagte: „Wir hauen jetzt ab. Zunächst nach Süden. Das erscheint mir aussichtsreicher.“ Jetzt erst hob auch Kurtchen den Kopf. „Er hätte sich retten können“, sagte er. Racke gab keine Antwort. Er öffnete den Lukendeckel. „Steig ein, Kurtchen.“ Er wartete, bis Sascha durch die Fahrerluke verschwunden war, dann kletterte er Killemann nach, zog die Klappe über sich zu. „Panzer, marsch!“ Der Motor sprang an, die Raupenkette begann sich zu drehen. Der Panzer drehte, während die Schneedecke mehr und mehr von ihm abrutschte, die dünnen Stämme niederwalzend, in einer engen Kurve den Bug nach dem Bahnkörper, überquerte ihn und rasselte vorsichtig mit mäßiger Geschwindigkeit durch die schneehelle Nacht. Jetzt schienen die Sterne. Das Schwert des Orion wies ihnen die Richtung. Sie kamen in offenes Gelände, querten Wege und setzten sich seitlich von jeder Fahr- und Trampelspur ab, die in ihrer Richtung führte. Dennoch tauchte nach einiger Zeit ein großes Gebäude auf. Racke ließ halten, den Motor abstellen, öffnete die Luke, lauschte. Alles war still. Er stieg aus, pirschte sich in einer Bodenrinne näher, erreichte es unbehindert. Es war kein Gebäude, sondern ein riesiger Strohdiemen. Die entsicherte MP an die Hüfte gedrückt, den Finger im Abzugbügel, umging er den katenartig aufgeschichteten Strohberg vorsichtig Schritt für Schritt. Niemand schien da zu sein, keine Gefahr zu drohen. Hier würden sie bleiben bis zum Morgen. Sie hatten schon vor Stunden geglaubt, die Augen nicht mehr offen halten zu können, jetzt ging es wirklich nicht mehr. Racke gab Sascha durch Blinkzeichen Marschbefehl. Der Panzer kam langsam, ohne viel Lärm. Racke ließ ihn dicht an den Diemen fahren und dann zerrten sie so viel Stroh über ihn und um den Turm herum, daß nichts mehr von seiner Form zu erkennen war und ihn keiner entdecken konnte, dem nicht zufällig die paar Gucklöcher, die vom Rundblickfernrohr übrig gelassen waren, auffielen, oder der gerade an der Stelle, wo der Panzer stand, den Arm bis zur Schulter ins Stroh steckte. Außerhalb des Panzers sich bequemerweise im Stroh auszustrecken, wagten sie nicht, aber auch auf ihren Plätzen versanken sie alle drei sofort in bleiernen Schlaf.
Racke erwachte zuerst, fuhr erschrocken zusammen, dachte, der Diemen brennt und stieß die Luke auf. Doch der rote Schein kam nicht von einem irdischen, sondern vom himmlischen Feuer der Sonne, die den wolkenlosen Morgenhimmel entzündet hatte und das weiße Land mit rosarotem Licht übergoß. Gegen das Morgenrot hob sich, über den Rand einer schwachen Bodenerhebung heraufkommend, höher und höher eine kleine Gruppe dunkler Gestalten ab. Es sah aus, als stiegen sie aus der schneebedeckten Erde, drei, vier, sechs Männer. Landser. Sie kamen, in Reihe hintereinander hertrottend, auf den Diemen zu. Den hängenden Köpfen und Schultern, den langsamen, mühsamen Schritten war anzusehen, daß sie am Ende ihrer Kräfte waren. Zweifellos waren sie die Nacht über getippelt und suchten nun, um ein paar Stunden gegen Wind und Kälte und Sichtgeschützt zu pennen, das Versteck des Strohberges auf. Zwischen den vorderen vier und dem fünften und sechsten war ein größerer Abstand und eben an den beiden letzten blieb Rackes Auge in jäher Freude hängen. Wer dieser einzigartigen figürlichen Zusammenstellung einmal begegnet war, dem blieb sie für immer in der Erinnerung. Diese beiden letzten waren seine Freunde Schepperl und Liebedorn. * Das Dorf mußte nach Oberleutnant Kleiners Berechnung 15 Kilometer südlich Marmyshi liegen. Ein Häuflein Katen, in eine Geländefalte gedrückt, durch die ein Flüßchen seinen Weg nahm. Jetzt lag das Bett, nur an der stark gewundenen Doppelreihe von Bäumen und Büschen zu erkennen, unter Eis und Schnee. „Wie lange wir werden noch müssen marschierrn, Kamrrod Oberrleutnant?“ fragte der russische Soldat, der neben Kleiner auf der Strohschütte saß, mit dem Rücken an den Lehmofen gelehnt. „Das ist leider nicht nach der Entfernung in Kilometern zu berechnen, Herr Oberstleutnant“, antwortete Kleiner. Der Oberstleutnant zog den Russenmantel enger um sich. Auf dem Ofen kauerten zwei Weiber, eine alte und eine junge, und er hatte keine Uniform an, sondern steckte nur in Hemd, Unterhosen und Strümpfen in den lackledernen Reitstiefeln. Kleiner und sein Häuflein hatten ihn ohne Mantel südlich Kschen, im Gelände
herumirrend, angetroffen und mitgeschleppt. Wo sein ungarischer Etappenhaufen war, hatte er nicht sagen können. Nach einigen Stunden hatte Kleiners Bursche irgendwoher dem schlotternd frierenden ungarischen Offizier den Russenmantel gebracht. Die Türe ging auf, zwei Unteroffiziere kamen herein und ein Schwall kalte Luft. „200 Mann“, sagte der eine und setzte sich neben Kleiner. „Aber 30 davon sind nicht kampffähig, 10 nicht einmal marschfähig.“ „Ist in diesem Drecknest wenigstens ein Schlitten aufzutreiben?“ fragte Kleiner. Der Unteroffizier verneinte. „Alles von andern schon mitgenommen.“ „Haben Sie die Feuerkraft festgestellt?“ Jetzt antwortete der zweite, der stehen geblieben war und sich eine Zigarette drehte: „70 Gewehre mit zusammen 2000 Schuß, ein LMG ohne Munition und 5 MP mit 400 Patronen.“ „Verdammt schwach. Ob wir uns damit durchhauen können?“
„Kampfmoral noch schwächer“, brummte der Unteroffizier.
Der Oberleutnant gab keine Antwort darauf. Woher sollte ein
so zusammengewürfelter Haufen Kampfmoral besitzen? Kleine Reste aufgeriebener Truppenteile, in alle Winde zerstreuter Trosse, Eisenbahnpioniere, Feldeisenbahner, Schreiber von allen möglichen und unmöglichen Etappendienststellen, Soldaten von Wachkompanien, von Feldschlächtereien und Feldbäckereien, die schon einen Tag, eine Nacht und wieder einen Tag durch den Schnee latschten, die meisten seitdem ohne Verpflegung, von Hunger und Kälte und Müdigkeit ausgehöhlt! Über die Hälfte hatten nicht einmal einen Schießprügel! Kleiner war sich klar darüber, daß er besser daran getan hätte, sich mit den paar Leuten seiner eigenen Einheit weiter zu verkrümeln, als sich die Führung all der Landser aufzuladen, die da im Laufe des Tages noch in diese Katen eingefallen waren, um endlich ein paar Stunden die Knochen auszustrecken und aufzuwärmen. Eigentlich wäre das die Sache des Oberstleutnants gewesen, aber der hatte entsetzt abgewehrt. Als Ungar in Unterhosen könne er doch nicht deutsche Soldaten kommandieren! „Nem, nem, lieberr Herr Kamrrod, mach' du das olles! Nurr nöhmens mich mit - bittschön!“ Kleiner hatte bei Anbruch der Dunkelheit aufbrechen wollen, die Bewaffneten an der Spitze und am Schluß. Der Vortrupp hatte
jedoch, kaum über den Rand der Geländefalte hinausgekommen, MG-Feuer erhalten und war umgekehrt. Ein zweiter Versuch, nach Süden aus dem Tal herauszukommen, war ebenfalls gescheitert. Aber heraus mußten sie! Sie mußten hier verschwunden sein, bevor es Tag wurde. Nun hatte er den Abmarsch auf 22 Uhr angesetzt. Eine Gruppe sollte einen Scheinausbruch nach Westen durchführen, während der übrige Haufen nach Osten abrücken und dann einen weiten Bogen über Süden nach Westen schlagen sollte. Kam die Westgruppe diesmal wider Erwarten ohne Feindberührung durch, konnte sie ihren Weg selbständig fortsetzen, anderenfalls sollte sie dem Gegner weitere Ausbruchsversuche in südlicher und in nördlicher Richtung vortäuschen, um ihn möglichst lange beim Dorf festzuhalten und so dem Gros Zeit zu verschaffen, ihn weit genug hinter sich zu lassen. Sie hatten noch zwei Stunden Zeit. Bei den Sicherungen war alles ruhig geblieben. Der Iwan schien auch nicht recht zu wissen, woran er war, sonst hätte er doch das Dorf sofort angegriffen. Maxi kam herein, Kleiners Bursche. Er brachte einen großen Arm voll Holz, riß die Ofentüre auf und stopfte hinein, was hineinging. Die Frauen oben kreischten, rutschten herunter und versuchten, unter viel Geschrei und Gesten ihn davon abzuhalten. Von all dem verstand keiner ein Wort, außer dem häufigen ‚kaputt! kaputt!' Maxi schob sie mit ebensoviel Geschrei und Gesten fort. Es sei viel zu kalt in ihrem Puff da! Er wolle sich den Arsch auch einmal auf dem Ofen wärmen! Und er nahm seine Decke, stieg auf den Lehmklotz. Sie könnten auch wieder raufkommen, forderte er die beiden Frauen, die sich jammernd an die Türe zurückgezogen hatten, dann freundlich auf; aber sie wehrten sich so empört dagegen wie Ehrenjungfrauen gegen einen Wahrheitsbeweis. Maxi sagte etwas Unanständiges, wickelte sich in die Decke und war nach drei Atemzügen eingeschlafen. Er war bisher der Geplagteste gewesen, denn er hatte nicht nur für sich zu sorgen, sondern auch seinen Oberleutnant zu betreuen und bei dem hilflosen ungarischen Hemdenmatz die Kindsmagd zu machen. Auch die anderen schliefen ein. Draußen war alles ruhig, außerdem stand vor jeder Kate selbst noch ein Posten. Zu überlegen war nichts mehr und auch nichts mehr zu tun. Aber nach einer Stunde wurden sie von gellenden Schreien geweckt.
Sie fuhren hoch, sprangen auf, griffen nach den Waffen, wurden sich bewußt, daß nur die Frauen schrien und eine Bullenhitze, ein merkwürdiges Rotlicht und ein eigenartig staubiger Qualm den Raum verwandelt hatten. Das Rotlicht drang aus Rissen im Ofen, die sich zusehends erweiterten. Der Posten riß die Türe auf, starrte herein. „Maxi, mach, daß du runter kommst!“ schrie Kleiner seinem Burschen zu, dem einzigen, dessen Schlaf selbst dieser Trubel nichts anzuhaben schien. Auf die Stimme seines Oberleutnants war Maxi eingestellt, wie ein Wecker auf die Uhrzeit. Dennoch war es zu spät: im gleichen Augenblick brach der Ofen in sich zusammen, Funken und Glutbatzen nach allen Seiten verspritzend. Die Rückwand der Kate brannte sofort. Der Oberstleutnant und die Frauen warfen sich gegenseitig zur Türe hinaus und wieder herein. Kleiner und die beiden Unteroffiziere zerrten Maxi aus dem Lehm- und Gluthaufen. Die in besseren Zeiten erbeutete Russendecke fiel wie Zunder von ihm, die Haare am Hinterkopf glosteten, der verbrannte Hintern sah aus den durchgebrannten Hosen und auch sonst überall waren kleine Brandherde in der Uniform zu ersticken. Sie konnten gerade noch Mäntel, Mützen und Koppel, Waffen und Maxis Tornister zusammenraffen und den heulenden Weibern und dem Oberstleutnant nach ins Freie stürzen, da schlugen schon auf allen Seiten die Flammen hoch. In zehn Minuten war die ganze Kate nur noch ein schwarzer heißer Schutthaufen. Jetzt verstanden sie alle das kaputt-Gezeter der Weiber und waren um eine wichtige Erfahrung reicher. Die hatten gewußt, daß ihr Lehm-Ofen einem so starken Feuer, wie es Maxi in ihm entfacht hatte, nicht gewachsen war und hatten das Unheil kommen sehen. Die Landser waren während des Brandes auf ihrer Hut gewesen, in der Annahme, der Iwan werde zu einem Angriff ansetzen; es war aber alles wohl viel zu rasch gegangen. Doch die Posten und wer sich sonst noch außerhalb der Katen befand, hörten jetzt das gefürchtetste aller Geräusche, wenn man keine panzerbrechenden Waffen besaß: das schwere dumpfe Brummen und drohende Rasseln von Kampfwagen. Ostwärts. Es kam rasch näher, brach aber gleich darauf ab.
„Ich glaube, es ist nur einer“, sagte Kleiner. „Der Feuerschein hat ihn angelockt und jetzt traut er sich nicht weiter. Wir müssen feststellen, ob er allein ist. Wer geht?“ Kleiner suchte sich aus dem Dutzend, das sich meldete, drei aus und ging selbst mit. Sie kamen unbehindert aus dem Talgrund heraus, mochten noch zweihundert oder dreihundert Meter gekommen sein, als sie wie auf Kommando in den Schnee sanken. Stimmen hatten ihr Ohr getroffen. Sie lauschten, hörten unverständliches Gemurmel und dann einen höchst verständlichen rauhstimmigen Satz: „Ja, mir war's gnua! Dee Schneeleich'n mitschleppa. Moanst!“ „Du weißt nicht, ob er tot ist“, antwortete eine helle Stimme. „Und i sag da, dafroa'n is grad wia gstor'm! Der rührt si in sein' ganz'n Leb'n nimma!“ Die Mienen Kleiners und seiner Männer hatten sich schon bei den ersten Worten aufgeheitert. Sie waren näher gekrochen, bis sie die zwei Gestalten deutlich unterscheiden konnten, die sich mit irgendetwas beschäftigten, was da im Schnee lag. „Ich an euerer Stelle würde mich leiser unterhalten“, rief ihnen Kleiner halblaut zu. Die beiden sackten in sich zusammen, dann aber brüllte es herüber: „Hoit! Wer da? Mach's Mai auf oda 's kracht!“ „Oberleutnant Kleiner und drei Mann auf Spähtrupp“, antwortete Kleiner gedämpft lachend. Umso gröber klangs zurück: „No geht's hera!“ Die Vier standen auf und gingen die zehn Schritte vollends hinüber. „Ihr macht hier einen Lärm“, sagte Kleiner, „wie wenn's weit und breit keinen Iwan mehr gäbe! Und ganz in der Nähe muß ein Panzer stehn.“ „Dös tueta aa. Aba der geht Eahna nix o. Dös is da unsa!“ „Ein deutscher Panzer?“ fragte Kleiner freudig. „Naa, a Russ.“ „Den habt ihr geschnappt?“ fragte Kleiner und sein Auge lag ungläubig auf dem breispurigen Kerl und seinem schmalspurigen Kameraden. „Naa. Mia net. Da Racke.“ „Seid ihr denn Panzermänner?“ „Naa. Eisebahna. Der Betriebswart Schepperl Josef bin i. Und der sell da, dös is a andara.“
„Seit wann fahren denn Eisenbahner mit Kampfwagen statt mit der Eisenbahn?“ „Mia foahr'n, mit wos ma meng'. Vastehst?“ Kleiner lachte leise. „Mir soll's recht sein. Und warum kommt ihr jetzt zu Fuß?“ „Weil ma z'erst nach'm Feir schaug'n soll'n. Ob da Russ'n san oda Deitsche!“ Kleiner sagte: „Da brauchen Sie nicht weiter zu schaun“, und unterrichtete Schepperl über alles, gab ihm den Auftrag, den Panzer herzuholen. Mit ihm an der Spitze würden sie leicht nach Westen durchkommen. „Wann da Racke mog“, sagte Schepperl. „Wer ist denn dieser Racke?“ fragte der Oberleutnant. „Ein Offizier?“ „Geh weita. Vui mehra. A blaua Inspekta.“ „Was, blau auch noch?“ „Freili. Mir san eigentlich oisamt blau.“ „Ihnen merkt man's aber nicht an.“ „Freili net. Weil's uns grau vakleid't ham.“ „Ach so!“ lachte Kleiner. „Sie meinen die Uniform.“ Seine drei Landser, die dieser außergewöhnlichen Unterhaltung grinsend gefolgt waren, lachten mit. „Na, da werd ich eben mal selbst mit zum Panzer kommen“, fuhr Kleiner fort und seinen Männern befahl er, gleich zurück zu gehen und alles zum Abmarsch fertig machen zu lassen. Die nicht Gehfähigen müßten getragen werden. „Nehmt's eier Leich'n aa mit!“ herrschte sie Schepperl an. „Wieso unsere Leiche?“ Oberleutnant Kleiner ließ sich neben dem fast ganz zugeschneiten Körper nieder. Der Mann lag nicht da wie ein Toter, sondern wie ein Schlafender. Er hob ihn aus dem Schnee, rieb das Gesicht frei, griff unter Handschuhe, Pullover und Hemdsärmel nach dem Puls, sagte nach einer Weile: „Das ist keiner von uns, sondern ein Feldwebel der Eisenbahnpioniere. Und er ist durchaus nicht erfroren, nur völlig erschöpft. Er liegt bestimmt noch nicht lange hier.“ Der schmalspurige ,andara' grinste Schepperl schweigend aber sprechend ins Gesicht. Schepperl wußte warum. „Mechtst a Footz'n?“ knurrte er.
*
Kurz vor Mitternacht kletterten 170 Soldaten und Eisenbahner, die 30 verwundete, halb erfrorene oder schwerkranke Kameraden mit sich trugen oder führten, dem langsam vorausbrummenden T 34 nach aus der Geländefalte, in die das Häuflein Katen gebettet war. Ein Schützenschleier sicherte die Kolonne auf beiden Seiten und eine Nachhut deckte sie gegen einen etwaigen nachstoßenden Gegner. Manchmal fielen ein paar Schüsse, manchmal säuselten ein paar Geschosse über die Köpfe, manchmal stoppte der Panzer und der ganze Haufen warf sich langhin, wenn eine ferne Leuchtkugel ihren Schein bis vor ihre Füße warf. Racke hatte den Panzer dem Führer der Truppe übergeben und es hatten sich unter den Soldaten genug gefunden, um ihn kampftüchtig zu besetzen. Nur Sascha als Fahrer war geblieben. Seine Uniform war an den Oberstleutnant übergegangen und Maxi hatte dem Russenjungen dafür bäuerliches Zivil verschafft. Er solle doch weiter mitfahren als Kommandant, hatte Kleiner Racke vorgeschlagen. Racke hatte abgelehnt. Seine Aufgabe sei erfüllt. Er marschiere lieber mit seinen Kameraden. Sie waren das vorderste Häufchen hinter dem Kampfwagen nach Kleiner und den paar Männern seiner einstigen eigenen Kompanie. Schepperl, Liebedorn, Killemann dazu ein paar Eisenbahnpioniere von den Kastornajaer Bahnhöfen und Feldeisenbahner von Latschinowo bis Marmyshi. Sie trugen Reisinger, der sich noch immer nicht auf den Beinen halten konnte, aber keine wesentlichen Erfrierungen erlitten zu haben schien. Er war die ganze vorherige Nacht gegangen, immer wieder Kraft schöpfend aus der Liebe zu seinem jungen Weibe, die immer neu seinen Willen aufwühlte, zu ihr heimzukommen und wenn er dreitausend Kilometer auf allen vieren kriechen müßte! Und er hatte durchgehalten. Selbst in diesem einsamen Land mußte doch endlich einmal ein Dorf, eine Kolchose kommen, mußte er doch irgendwo auf einen versprengten Haufen stoßen! Aber als der Tag angebrochen war, hatte er entdeckt, daß er nahezu im Kreis gegangen war. Da war er zusammengebrochen, nahe der Stelle, von der aus er seinen Irrmarsch angetreten hatte. Aber schließlich hatte ihn doch noch einmal der Lebenswille auf
die Beine getrieben. Mit kurzen Rastpausen war er getippelt und getippelt, immer wieder hundert, immer wieder tausend Meter, nachdem er vielemale geglaubt hatte, keinen Schritt mehr gehen zu können. Zuerst hatte er die nagelneuen Filzstiefel liegen lassen, dann das Gewehr. Die Sonne hatte ihm ein bißchen Trost und Freude geschenkt, dann war er von einem Trupp Russen gehetzt worden. Der Einbruch der Dunkelheit hatte ihn gerettet. Aber nun war es auch aus gewesen. Es war ihm schwarz vor den Augen geworden und von da an wußte er nichts mehr. 400 Meter vor dem Dorf, in dem 200 Kameraden waren, hatte Reisinger das Bewußtsein verloren, wäre er erfroren, wenn dieser Maxi nicht so viel Holz in den morschen Ofen gestopft hätte. Nur des Brandes wegen, der dadurch entstanden war, hatte Racke den Spähtrupp Schepperl losgeschickt und war von der anderen Seite her der Oberleutnant erkunden gegangen. Nur diesen Umständen zusammengenommen hatte er sein Leben zu verdanken. Sie marschierten die ganze Nacht. Die Hoffnung durchzukommen, dem Tod, der Gefangenschaft vollends zu entgehen, trieb sie vorwärts, das gleichmäßige Gebrumm und Geratsche des schutzverheißenden Panzers zog sie hinter sich her wie ein Magnet. Am Morgen tauchte ein Kaff auf. Sie drängten in die Bauernhütten, kauerten sich, sitzend oder liegend, wo immer ein Plätzchen war, zusammen, wärmten sich auf, kauten Hirse, rauchten. Als nach kaum drei Stunden Rast der Befehl zum Abmarsch kam, wären sie am liebsten liegen geblieben, doch gab es eine ganze Anzahl Schlitten, und da die Bauern sie wiederhaben wollten, begleiteten Männer und Frauen die Kolonne und zogen und schoben und taten alles, damit die Deutschen so rasch wie möglich zum nächsten Dorfe kamen, wo die Schlitten ausgewechselt werden sollten. Noch immer stießen Eisenbahner und Soldaten einzeln und in kleinen Gruppen zu ihnen. Sie behaupteten, daß man noch nicht zur Bahnlinie könne, der Iwan sei bis Tscheremisinowo vorgedrungen. Im Glase konnte man tatsächlich im Norden noch mehrmals russische Panzer herumstrolchen sehen. Den erbeuteten T 34 mußten sie an diesem Tage stehen lassen; der Sprit war verbraucht. Sie sprengten ihn. Racke hatte Sascha an seine Seite gerufen. „Damit du auch wirklich auf deine Kolchose
und nicht doch noch in ein Gefangenenlager kommst“, sagte er zu ihm. Sascha lachte; er glaubte an seine Heimkehr. Am Abend krochen sie wieder in eine Handvoll Katen. Nun waren sie ausnahmslos fertig. Von der Kompanie Surfleisch hatten sich inzwischen 12 Mann zusammengefunden. Die Russen kochten ihnen Grütze. Im ganzen waren sie jetzt fast 300 Mann, einer der wenigen Resthaufen von Tausenden von Deutschen im Raume Kastornaja-Marmyshi. Sie teilten eine Wache ein, die anderen schliefen wie Murmeltiere. Dem Krachen von Panzerkanonen gelang es aber doch, sie zu wecken. Sie brachen schleunigst auf, hielten sich nun an die Straße, um rascher vorwärts zu kommen. Schließlich mußten sie doch einmal die deutsche Seite erreichen, es schien jedoch, als hielte der Russe gleichen Schritt mit ihnen. Mit nur zwei kurzen Rasten trieben sie sich selbst vorwärts bis in die sinkende Nacht. Und wieder einmal jagte sie Panzerbeschuß nach wenigen Stunden aus dem Dorf, in dem sie Quartier gemacht hatten. In Schtschigry seien die Deutschen, versicherte ihnen ein Bauer. Auch auf dem Bahnhof. Es führen Züge. Sie konnten es nicht glauben. Sie nahmen ihn als Führer mit. Die Kälte hatte nachgelassen; es war diesig. Kurz nach Tagesanbruch kamen sie nach Schtschigry. Und alles war, wie der Bauer gesagt hatte. Sogar schon in Tscheremisinowo würden sie wahrscheinlich noch Feldeisenbahner getroffen haben; es war formell noch Betriebsspitze. In Schtschigry war lebhafter Betrieb. Truppen- und Versorgungszüge kamen, Räumungszüge gingen. Alles Militärische und Eisenbahnerische ging seinen Gang, alles trug ein Gehabe zur Schau, als wäre der Durchbruch der Russen durch die Front vor Woronesh eine Belanglosigkeit und als stünde es außerhalb jeder Möglichkeit, daß sie jemals Schtschigry erreichen könnten. Was die Flüchtlinge erlebt hatten, eben noch erlebt hatten, kam ihnen wie ein dummer Traum, kam ihnen fast lächerlich vor. Sie meldeten sich bei der Ortskommandantur, erhielten Marschbefehl nach Kursk, wurden im Bahnhof verpflegt. Es gab Reissuppe mit Tomaten, sie schmeckte herrlicher, als jemals etwas geschmeckt hatte. Zu ihrem Abtransport stand allerdings nur ein Güterleerzug zur Verfügung. Die in Lebensgefahr schwebenden Verwundeten und Kranken wurden in ein
Truppenrevier gelegt und sollten mit Sankas nach Kursk ins Lazarett gefahren werden. Am Nachmittag war der Zug fahrbereit. In den Wagen war nichts als eine schauerliche Kälte. Die Beschläge waren fingerdick bereift. Kein Hälmchen Stroh! Na ja - 50 Kilometer! Zwei oder drei Stunden - das würde zur Not auszuhalten sein. Die Fahrt dauerte acht Stunden. Sie war eine der größten Strapazen und Qualen ihrer Flucht. Um Mitternacht kroch der Zug in den Bahnhof Kursk. Obgleich sie sich gegenseitig halfen, obgleich sie die Tatsache belebte, endlich am Ziel zu sein, waren die meisten erst nach geraumer Weile im Stande, ihre Glieder zu bewegen und sich aus den Gefrierfleischwagen zu plagen. Manche waren steif wie Bretter und mußten getragen werden. Und dann streckten sie sich irgendwo aus zwischen vier Wänden auf nackten Fußböden, so erlöst, als wären die harten Bretter Himmelbetten, und am Morgen, mit heißem Tee im Leibe, fühlten sie sich langsam wieder zu Menschen werden. In Kursk befanden sich noch eine Kodeis-Einheit und Feldeisenbahner. Die Ortskommandantur gab in Bausch und Bogen Marschbefehl nach Woroshba. Alle waren es sehr zufrieden, so beruhigend weit nach Westen zu fahren. Es kam ihnen auch hier noch ganz verwunderlich vor, daß alles seinen ordnungsmäßigen Gang ging, nicht anders als in einer Heimatgarnison. Sie faßten Marschverpflegung und sie fuhren wieder in Güterwagen, die auch keine Öfen hatten, aber einen halben Meter hoch und dick mit Stroh ausgepolstert waren. Sie krochen hinein und fühlten sich mollig. In Lgow stiegen sie um in eine Garnitur mit Personenwagen. Sie waren geheizt und gesteckt voll. Man zog die Mäntel, dann die Jacken, dann die Strickwesten aus und dennoch troff man von Schweiß. Aller Dreck und Speck gewann Leben und Duft und die Luft war zum schneiden. Aber was waren solche Unannehmlichkeiten, gemessen an den Martern, die hinter ihnen lagen? Der Humor sproß nach allem und feierte Auferstehung. Am lautesten und heitersten kam es von der Ecke her, wo ‚die Fünf’ saßen, die Feldeisenbahner Schepperl und Liebedorn, die Eisenbahnpioniere Reisinger und Killemann und der ,blaue' Racke. Wenn auch der Gedanke an das Schicksal Blümleins und Huckles immer wieder einen Schatten auf ihr glückliches
Daseinsgefühl warf, wenn es ihnen auch leid tat, daß sich in Kursk Sascha von ihnen hatte trennen müssen, Sascha unter Tränen und vielen Küssen auf Rackes schmutzigen Mantelärmel, so war doch ihnen das Leben neu geschenkt und ihre Freude drängte wie der Schweiß aus allen Poren. Zu allem Überfluß erinnerte sich Racke der zweiten Flasche Sekt in seinem Brotbeutel. Ihre Herkunft machte sie zu einem doppelten Genuß. Sie wurde vor dem Fenster eisgekühlt. Schepperl trank zum ersten Mal in seinem Leben ,Schampus', nur ein Maul voll, dann erklärte er: „A Bia is bessa“, aber den Korken steckte er als Andenken in die Tasche. Am 2. Februar vormittags trafen sie in Woroshba ein, von anderen Feldeisenbahnern und Eisenbahnpionieren, die schon am Vormittag angekommen waren, auf dem Bahnsteig empfangen. Aber es war alles in allem ein kleines Häuflein. Was aus den Bahnhofsbesatzungen ostwärts Kastornaja geworden war, wußte überhaupt niemand. Da stand auch Gardepionierhauptmann Surfleisch, straff und strotzend von Kraft und Gesundheit, rechtzeitig nach der Katastrophe aus dem Urlaub zurückgekehrt. „Wo haben Sie meinen Sekt? Wo haben Sie meinen Mercedes gelassen?“ Das waren seine ersten Worte an die Letzten seiner Kompanie. Er erhielt keine Antwort. Und als er ein wenig genauer in die Augen der Männer sah, hielt er es trotz seiner Unangreifbarkeit wohl für geraten, auch nicht auf einer Antwort zu bestehen. Dicht hinter den Kameraden von Kodeis standen Racke, Schepperl und Liebedorn. Vielleicht waren es die Ohrfeigen, die ihn aus den unverschämt furchtlosen Augen dieses merkwürdigen blauen Inspektors mit der um den Hals gehängten MP trafen, die Hauptmann Surfleisch veranlaßten, die Begrüßung seiner Männer abzubrechen. Liebedorns Nase zitterte wie sein Gemüt unter dem Sturm seiner Entrüstung; er schluckte fortwährend und sein Gurgelknopf tanzte auf und nieder. Vorsorglich packte er Schepperl beim Ellenbogen und hielt ihm außerdem rasch den Mund zu, damit ihm keines seiner geflügelten Worte entschlüpfe. Aber Schepperl hatte eine andere Idee. Im Gepäcknetz lag noch die leere Sektflasche. Er kehrte zu ihrem Wagen zurück und steckte sie in die Manteltasche. Im Quartier füllte er sie unter ungeschliffener Erpressung der Beteiligung Liebedorns auf gemeine Art und Weise, gab einen Brauselimonadewürfel dazu,
montierte, als kleiner Eisenbahner in allen handwerklichen Sätteln gerecht, den ursprünglich als Andenken vorgesehenen Kork täuschend kellerecht und am Abend stand diese Flasche Sekt mit dem großen roten S auf dem Etikett zum Nachtmahl auf Surfleischs Tisch. Nicht einmal der Bursche wußte, wie sie dahin gekommen war, aber Surfleisch war sofort im Bilde. Er klemmte das Monokel ins Auge und besah sie von allen Seiten. „Aha!“ sagte er laut und wohlwollend heiter zu ihr. „Den Kerlen hat also doch dat Jewissen jeschlagen! Erich! Stellen Sie die Pulle auf Eis!“
5. KAPITEL
Reichsbahnoberrat Brandner, Sonderführer im Majorsrang, der Leiter der Gruppe V, Betriebsmaschinendienst, des Feldeisenbahnkommandos 3, war seit 45 Stunden vom Urlaub zurück. Es war Sonntag. Brandner hatte dem Büro für eine Stunde den Rücken gekehrt, um den über den Berichten von den Frontstrecken heiß gewordenen Kopf zu kühlen. Das war ihm bei -25° Celsius mühelos gelungen, das Herz aber bei allem optimistisch-fatalistischen Gleichmut, dem besten und einzigen verfügbaren Nervenmittel, noch schwerer geworden, als es vorher schon gewesen war. Noch nie hatte er den Gegensatz zwischen seiner friedlich geborgenen österreichischen Heimat und dem Frontgebiet so bedrückend empfunden. Wie auch hatten sich in den wenigen Wochen Bild und Stimmung Charkows verändert! Zwar war schon lange durchgesickert, daß die 6. Armee im Raume von Stalingrad eingeschlossen sei. Aber jeder hatte damit gerechnet, daß es der Panzerarmee Hood oder den Truppen Mansteins gelingen werde, den Ring der russischen Armeen aufzurollen. Oder daß die 6. Armee eben nach Westen durchbrechen und eine neue Front gegen Osten herstellen werde. Statt dessen ging das, was von ihr noch übrig blieb, nun auf engsten Raum zusammengedrückt, unrettbar der Vernichtung oder Gefangenschaft entgegen. Daran war nicht mehr zu zweifeln. Und gar nicht mehr weit von Charkow war nun auch schon der Teufel los! In den Straßen bummelten kleinere und größere Gruppen italienischer, rumänischer und ungarischer Soldaten. Insgeheim verschacherten sie Ausrüstungsstücke, die sie für entbehrlich hielten oder einfach nicht mehr mitschleppen wollten, sogar Waffen und Munition, an die Zivilbevölkerung. Lange, meist disziplinlos aufgelockerte, unordentlich aussehende Kolonnen mit vielerlei Schlitten, Pferdegespannen und Kraftfahrzeugen zogen durch die Ausfallstraßen der Stadt nach Westen. Man hatte den Eindruck: sie fühlten sich endgültig geschlagen und hatten nicht die Absicht, je wieder Front nach Osten zu machen.
Im vergangenen Winter, zumal zu Beginn der russischen Frühjahrsoffensive war Charkow viel unmittelbarer bedroht gewesen, sogar Dnjepropetrowsk, Poltawa, Krementschug. Auch im vergangenen Winter waren den Russen Durchbrüche gelungen, hatten sie Bahnstrecken abgeschnitten, Bahnhöfe überfallen, die Eisenbahner niedergemacht oder verschleppt. Auch damals waren kleine Gruppen von grauen und blauen Eisenbahnern, manchmal vermischt mit Landsern, abgerissen und erschöpft in rückwärtigen Städten erschienen. Aber nirgends hatte man Bilder eines kampflosen Abzugs größerer Truppenkontingente gesehen. Versprengte Eisenbahner und freiwillige Eisenbahnerkommandos hatten Seite an Seite mit der Truppe gekämpft. Niemand wäre der Gedanke an eine allgemeine schwere Niederlage gekommen. Der Glaube an die eigene Stärke hatte auch vor dem an Menschen und Waffen überlegenen und winterhärteren Gegner nicht klein beigegeben. Er wurzelte noch in den beispiellosen Kampferfolgen der ersten Jahre auf allen Kriegsschauplätzen und die Bevölkerung hatte den deutschen Soldaten für unüberwindlich gehalten. Oberrat Brandner beschleunigte seine Schritte. Man aß heute gemeinsam und er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich beim Kommandeur persönlich zurückzumelden. Die Offiziere und Sonderführer waren schon versammelt, der hochgewachsene Oberst Freiherr von Bergen im Mittelpunkt, liebenswürdig wie immer, Kommandeur ohne Betonung und doch als solcher erkennbar, auch wenn er keine Schulterstücke getragen hätte. Die Unterhaltung und die Mienen waren nicht anders, als sie immer gewesen waren. Es war ein eigenartig Ding um eine Uniform mit Schulterstücken; sie war an sich eine tote Sache und doch ging es von ihr wie eine Kraft oder wie ein Zwang aus. Sie formte den Menschen in ihr nach ihrem Willen, ihrer Tradition, ihrem Gesetz. In manchen Gesichtern spiegelte sich zwar die Überarbeitung, in manchen Äußerungen die dienstlichen Sorgen, Schwierigkeiten und Mißhelligkeiten, die militärische Lage aber schien keinen Anlaß zur Beunruhigung zu bieten. Auf keinen Fall hätte man vor anderen eine solche Beunruhigung oder gar Furcht und Mutlosigkeit gezeigt. Man schüttelte Gedanken und Empfindungen dieser Art ab. Es würde schon gut gehen. Es mußte gut gehen.
Als Brandner dann aber an seinem Arbeitstisch über den Berichten der Betriebswerke und den Gesamtlageberichten der Oberzugleitung saß, kam ihm dieser Glaube immer fragwürdiger vor. Seine Verantwortung für das Vorhandensein genügend betriebsfähiger Maschinen im noch immer riesigen Bezirk des Kommandos machte ihm schwere Sorgen. Abgesehen von den großen unverhinderbaren Verlusten auf den plötzlich abgeschnittenen Strecken, abgesehen von den Folgen des Artilleriefeuers auf die Ausladespitzen und unaufhörlicher Luftangriffe auf alle Knoten, war der Hauptfeind der Maschinen auch in diesem Winter der Frost. Es bedurfte gar keiner Temperaturen von -40 bis -50 Grad Celsius, wie sie im Vorjahre gang und gäbe gewesen waren, -15 bis -20 Grad genügten völlig, um unabwendbare Schäden anzurichten. Gewiß hatte der Minister damals versprochen, eine auch für russische Temperaturen brauchbare Lok zu konstruieren und bauen zu lassen, hatte dieses Versprechen auch gehalten, aber dem einzigen Werk, das für den Bau in Frage kam, war es nicht gelungen, die serienmäßige Herstellung so voranzutreiben, daß schon ein nennenswerter Einsatz hätte erfolgen können. Brandner las noch einmal die Lageberichte der vergangenen vier Wochen nach. Es konnte einem angst und bange werden. Dabei waren diese Berichte aus guten Gründen in einem, den Wehrmachtberichten ähnelnden Tone gehalten; man hätte glauben können, es wäre alles in bester Ordnung. Sie klangen jetzt, zur Zeit immerwährender Strecken- und Materialverluste, nicht anders als im letzten Sommer und Herbst zur Zeit des immerwährenden Streckenzuwachses und Materialgewinnes. Was aber war seit dem ersten Durchbruch der Russen in den Tagen vom 19. bis 22. November und der endgültigen Abtrennung der Stalingradstrecke zwischen Tschir und Obliwskaja am 11. Dezember alles geschehen und verloren gegangen! Am 19. Dezember bereits war der Iwan im Raum Millerowo durchgebrochen. Auf der Strecke Millerowo-Jewdakowo hatte der Betrieb zwischen den Bahnhöfen Tschertkowo und Mitrofanowka eingestellt werden müssen. Am 24. Dezember war die Strecke Kondraschewskaja-Millerowo beim Bahnhof Krasnowka abgeschnitten und beim Bahnhof Tarasowka die Strecke Millerowo-Kilometer 641. Das war die Umladestelle vor der
zerstörten Kamenskajaer Donezbrücke. Mit dem Abschnitt Krasnowka-Millerowo-Tarasowka hatte keine Verbindung mehr bestanden. Damit war von Rossosch bis nahe Glubokaja, also über eine Frontbreite von etwa 250 Kilometern, der Ausladeraum für die deutschen Truppen verloren gegangen, ein noch verhängnisvollerer Umstand, als die vielfache Übermacht des Gegners an Menschen, Panzern und Artillerie. Ebenfalls am Heiligen Abend hatten die Russen die Rest-Stalingradstrecke Lichaja-Obliwskaja bei Tazinskaja unterbrochen und damit den ganzen Bezirk Morosowskaja abgetrennt. Das bedeutete, daß die roten Armeen den Riesenraum zwischen dem großen Donbogen und dem Donez wieder zurückerobert hatten und daß Stalingrad eine kleine Insel weit ostwärts im Meer des russischen Raumes war, auf der eine deutsche Armee starb. Der Bahnhof Rossosch war am 26. Dezember, der Knoten Lichaja am 24., 26. und 27. Dezember weitgehend durch Fliegerbomben zerstört worden. Abwehr gab es ja so gut wie überhaupt nicht mehr. Die Flak wurde in der Hauptkampflinie zum Erdbeschuß gegen die Panzer gebraucht und wo die Jäger hingekommen waren, mochte der Teufel wissen. Der Betrieb in Rossosch und Lichaja konnte nach wenigen Tagen wieder durchgeführt werden. Da und dort wurden die Russen auch wieder zurückgeworfen, sowohl nördlich wie auch südwestlich Millerowo, ebenso von der Strecke TazinskajaMorosowskaja, so daß die Betriebsspitzen noch einmal vorverlegt werden konnten. Jeder aber wußte, daß der Russe nach kurzer Frist die dünnen deutschen Linien mit neuen und noch stärkeren Kräften wieder angreifen würde, daß das erneute Vorrücken der Eisenbahner eben auch erneut mit Verlusten an Menschen und Material enden würde. Dennoch geschah es widerspruchslos, nicht nur weil der Befehl der Generale des Transportwesens und der Eisenbahnerstäbe dahinterstand, dessen Nichtbefolgung Kriegsgericht und Erschießung bedeutet hätte, sondern weil der Landser, der Kamerad vor dem Feind, ohne Nachschub ganz verkauft und verraten war. Im Laufe der folgenden Tage drückte der Russe den Raum Millerowo aus südlicher Richtung wieder ein und zwar in erweitertem Umfange. Die Züge aus Richtung Kamenskaja konnten nur noch bis Staraja-Staniza gefahren werden. Damit war Millerowo von allen drei Verbindungen nach Charkow
abgeschnitten und keine Nachricht mehr zu erhalten. Am 4. Januar wurde Morosowskaja aufgegeben. Betriebsspitze Walkowo. Am Tage darauf war auch dieser Bahnhof nicht mehr zu halten; es konnte nur noch bis Tazinskaja Betrieb gemacht werden. Und so war es weitergegangen. Auf der Strecke Kondraschewskaja-Millerowo hatte die Betriebsspitze von Sutormio nach Schpakowka, auf der Strecke Km 641-Millerowo nach Tarasowka zurückverlegt und vor zwei Tagen der Betrieb ganz eingestellt werden müssen. Nun tauchte auch schon Walujki in den Namen des Rückzuges auf. Schnelle Verbände des Feindes waren aus dem Raum Liski-Rossosch gegen den Raum Walujki vorgestoßen. Man hatte sofort mit der Räumung der Spitzenstrecken begonnen. Man arbeitete pausenlos bei Tag und Nacht, um das Wagen- und Lokmaterial noch wegzubringen, unter Bomben und Artilleriefeuer, unter Maschinengewehrgarben, die plötzlich von irgendwoher in die Bahnanlagen oder über die Strecke prasselten. Die neuen Ausladespitzen waren Bahnhof Alexejewka auf der Strecke Walujki-Ostrogoshsk und auf der Strecke Walujki-Kondraschewskaja Bahnhof Starobjelsk. Auch auf der Strecke Lichaja-Kamenskaja mußte man wieder krebsen bis Bahnhof Shirnowo. Während es einerseits galt, die Strecken in Richtung Charkow mit Hochdruck zu räumen, mußten auf denselben Strecken gleichzeitig zahlreiche Truppenbewegungszüge, Versorgungszüge und Lazarettleerzüge in Richtung Front gefahren werden. Die Betriebslage war dadurch ungemein schwierig, zumal auf den in den Vorwochen plötzlich abgeschnittenen Strecken nicht nur massenhaft Wagen, sondern auch eine große Anzahl Lokomotiven verloren gegangen waren. Und zu allem Überdruß sank die Temperatur ausgerechnet zum Schluß der Woche von -17 Grad auf -27 Grad Celsius. Lok auf Lok erlitt Schäden, die sie auf kürzere oder längere Zeit laufunfähig machten. Viele Züge blieben auf der Strecke liegen, so mußten Bewegungszüge, um wenigstens die Soldaten auf jeden Fall in ihren Einsatzraum zu bringen, von vornherein mit zwei Lokomotiven bespannt werden. Durchschnittlich 16 Ersatzlok mußten täglich gestellt werden. Es wären noch mehr nötig gewesen, aber woher nehmen? In den Betriebswerken brachten Handwerker und Arbeiter, Heizer und Lokführer sowieso
kein Auge mehr zu und die Zugleitungen lauerten auf Lokomotiven, wenn sie auch nur vorübergehend und anderswoher zur Verfügung gestellt werden konnten, wie hungrige Habichte auf Beute. Auch in Kursk herrschte Lokmangel, der die verantwortlichen Beamten zur Verzweiflung bringen konnte. Es war kaum möglich, so viele Züge zu bespannen, geschweige denn, doppelt zu bespannen, um die Truppen, die im Abschnitt nördlich KurskKastornaja abgezogen worden waren, in flüssiger Folge in den Raum Kupjansk-Walujki zu bringen. Dazu kam, daß auf der augenblicklich strategisch wichtigsten Strecke Kursk-KastornajaWalujki-Kondraschewskaja zwar glücklicherweise weder Schneeverwehungen noch Schienenvereisungen vorgekommen waren, Schienenbrüche jedoch am laufenden Band, an einem einzigen Tage nicht weniger als fünfzig. Infolge all dieser Störungen und Schwierigkeiten kam es zu üblen Zugstauungen in den Knoten Kondraschewskaja, Wulujki, Kupjansk und im Bahnhof Alexejewka. Dennoch war der Raum Guiloje-Jewdakowo bis Ende der Woche nach Norden wie Süden planmäßig geräumt. Dagegen waren auf dem Streckenabschnitt Guiloje-Alexejewka Wasserstationen verfrüht gesprengt worden, außerdem hatten die Bahnhöfe besonders stark unter Fliegerangriffen zu leiden, so daß eine ganze Menge Material nicht mehr herausgebracht werden konnte. Wäre der im Herbst von den Eisenbahnern vorgeschlagene Bau einer Verbindungskurve, welche die beiden Strecken Walujki-Liski und Millerowo-Liski 30 Kilometer vor Liski im Rücken der Hauptkampflinie verband, nicht durchgeführt worden, so wäre das gesamte Material beider Streckenabschnitte ebenso verloren gegangen wie das Material südlich Millerowo, einschließlich des völlig erhaltenen und leistungsfähigen Bw Glubokaja, das nicht abgefahren werden konnte, weil die Wiederherstellung der Eisenbahnbrücke über den Donez bei Kamenskaja verweigert, bzw. zurückgestellt worden war. Die Feldeisenbahner hatten sich gemeinsam mit einer Flughafenbesatzung bei Rossosch eingeigelt und mehrere Wochen gehalten. Sie waren mit Transportflugzeugen versorgt und im Heeresbericht lobend erwähnt worden. Das war die Lage bis zum heutigen Tag. - -
Unablässig hatten während Brandners Berichtsstudium die Telefone geklingelt. Unablässig hatte er Meldungen entgegengenommen, Notizen gemacht, Auskünfte, Ratschläge, Weisungen erteilen müssen. Vergeblich hatte er immer wieder versucht und versuchen lassen, Lichaja zu erreichen. „Ich werde mal zur Oberzugleitung 'rübergehn“, rief er seinem Vertreter zu und verließ sein Dienstzimmer. Selbst im Hause war es eine langwierige Angelegenheit, ein Telefongespräch zu führen; die Unterbrechungen nahmen kein Ende. Lebhaft wie immer, stieß er fast mit Dr. Dornberg zusammen. Der Betriebschef hatte dasselbe Ziel. „Großmann ist zu nervös geworden, man muß ihm mal ein bißchen zusprechen“, sagte er. Der Sonderführer im Leutnantsrang, Oberinspektor Großmann, in dessen Händen die Oberzugleitung lag, das wohl schwierigste und aufreibendste Amt, sah bleich und übernächtig aus. Er war seit Tagen nicht mehr aus den Kleidern gekommen. Er hatte sich angewöhnt, zwischen seinen Telefonen stundenweise sitzend zu schlafen. Um seine übermüden Augen lagen dunkle Schatten und auf seiner Stirne stand der kalte Schweiß der Erschöpfung, als die beiden Vorgesetzten eintraten. „Werden Sie mir nicht krank“, sagte Dornberg. „Ich kann Sie nicht entbehren. Für ein paar Stunden Schlaf täglich müssen Sie sich unbedingt ablösen lassen.“ „Müßte ich“, antwortete Großmann matt. „Natürlich müßte ich! Aber die anderen sind genau so angespannt. Wer soll wen ablösen?“ Reichsbahnrat Romer, der Gruppenleiter IV, Bau, Sonderführer im Majorsrang, trat ein. „Hallo Romer!“ begrüßte ihn Dornberg, „unser guter Großmann ist nervös, weil mit den Bahnhöfen im Bezirk Lichaja keine Verbindung mehr zu bekommen ist. Was meinen Sie denn dazu?“ „Das muß nicht unbedingt etwas mit neuen russischen Vorstößen zu tun haben. Ich nehme an, daß nur die Saukälte schuld ist. Ich werde gleich mal einen Kontrolleur mit einem Telegraphenbautrupp auf einem Schienen-LKW losschicken.“ „Haben Sie von den Zugleitungen an den bedrohten Strecken Neues gehört?“ wandte sich der Betriebsleiter wieder an Großmann. „Ja. Es muß damit gerechnet werden, daß alle östlich des Oskol und nördlich des Donez gelegenen Strecken abgeschnitten
und von den Russen in Besitz genommen worden sind oder in den nächsten Tagen, vielleicht Stunden, sein werden. Ausgenommen ist vorläufig nur noch die Strecke KupjanskSwatowo.“ „Und was wird weiter werden?“ fragte Brandner. Er fragte eigentlich nicht die andern, sondern irgend eine unsichtbare Schicksalsmacht und hatte keine Antwort erwartet. Aber Dornberg antwortete trocken: „Das ist doch nicht schwer zu erraten. Wir werden Charkow räumen.“ „Nein“, sagte Romer heftig. Er schrie es fast. „Haben Sie das bereits als echte Information?“ fragte Brandner. Der Stabsoffizier II, Reichsbahn, lachte kurz auf. „Wo denken Sie hin? Räumungsbefehle gibt es nicht oder erst, wenn es zum räumen zu spät ist. Es wäre ja schon zu spät, wenn wir heute damit begännen.“ „Ich glaube es nicht“, sagte Romer. „Wir sprechen uns wieder“, antwortete Dornberg. * Auch in der neuen Woche gelang es den Sowjetstreitkräften, weiter nach Westen vorzustoßen. Gleich anderen Tags, am Montag, 18. Januar, begann der Eisenbahner-Rückzug bei Walujki. Er erfolgte zu spät. In der Nacht zum Dienstag schossen die russischen Kampfwagen schon in den Knoten hinein. Die Feldeisenbahner setzten sich noch geschlossen ab, zu Fuß querfeldein durch tiefen Schnee bei grimmiger Kälte. Es gab Tote und Verwundete. Auch der Vorstand ihrer Abteilung, Betriebsingenieur Görke, fiel. Die Russen telefonierten auf den deutschen Leitungen und verwirrten die Lage durch Falschmeldungen und fingierte Befehle an andere Bahnhofsbesatzungen. Im übrigen verbreiteten sie Entsetzen, wo sie hinkamen, auch unter dem Teil der einheimischen Bevölkerung, der für die Deutschen gearbeitet hatte. Es geschah, daß verwundete deutsche Soldaten, halbtotgeschlagene Ukrainer und bis an die Grenze des Lebens vergewaltigte Frauen und Mädchen aus den Fenstern geworfen und mit Wasser übergossen wurden, so daß sie zu Eisklumpen gefroren.
Walujki war wieder ein Fanal. Was nur irgend an betriebsfähigen Lokomotiven vorhanden war oder beigetrieben werden konnte, wurde zur Räumung der Streckenabschnitte eingesetzt, die verloren gegeben werden mußten. Man fuhr auf Sicht, Zug hinter Zug. Es wurde fieberhaft gearbeitet. Aber an allen Ecken und Enden bombte und knatterte die russische Luftwaffe dazwischen. Betriebsspitze der Strecke WalujkiAlexejewka wurde Bahnhof Nasonowo. Betriebsspitze auf Strecke Kupjansk-Walujki Bahnhof Topoli. Die Strecke WalujkiKondraschewskaja ging bei Soloty verloren, ohne vollends geräumt werden zu können. Züge im Raume der noch nicht gefährdeten Strecken wurden abgespannt, sofern sie nicht frontwichtig waren, um die Lokomotiven zur Räumung der Strecke Kupjansk-Walujki und zur Freimachung der Strecke BelgorodKupjansk und Charkow-Kupjansk mit einsetzen zu können. Schon beschoß russische Artillerie eine Reihe von Bahnhöfen der Räumungsstrecken, russische Flieger belegten sie und die Züge auf den Strecken mit Bomben, Bordkanonen- und MG-Feuer. Am 20. Januar war die planmäßige Räumung der Strecke Kupjansk-Walujki beendet. In Kupjansk waren nur noch die für den Betrieb Kupjansk-Swatowo nötigen Betriebsmittel belassen worden. Auf den Strecken Charkow-Kupjansk und BelgorodKupjansk wurde alles nun entbehrlich Gewordene abgezogen. Am folgenden Tage war auf der Strecke Charkow-Walujki bereits der Bahnhof Kupjansk-Uslowoj Betriebsspitze. Der Verschiebebahnhof Kupjansk wurde gesprengt, die Strecke nach Swatowo war noch in Betrieb. Wie im Vorjahr versuchten die Sowjets auch jetzt wieder, das Donezbecken abzuschneiden und bedrohten Isjum. Das Ausbesserungswerk dort wurde gesprengt. Am Abend dieses 21. Januar befahl Oberst Freiherr von Bergen die Herren seines militärischen Stabes und die leitenden Sonderführer zu einer geheimen Besprechung. „Meine Herren! Das Oberkommando der Heeresgruppe B hat mit Befehl vom 19. Januar die Vorbereitung der Räumung der Stadt Charkow angeordnet. Mit der Leitung der Räumung wurde der Standortkommandant beauftragt. Die Dienststelle ,General des Transportwesens' der Heeresgruppe B war mit heranzuziehen und es wurde eine Sondergruppe für Räumungstransporte aufgestellt. Sie wird von Herrn Oberstleutnant im Generalstab Plessen geführt.“
Diese Mitteilung, die eigentlich wie eine Bombe einschlagen mußte, wurde vom Kommandeur in Haltung und Tonfall völlig ruhig gemacht und von seinen Offizieren und Sonderführern in genau so ruhiger Haltung aufgenommen. Dr. Dornberg warf Romer einen ironischen Blick zu. Romer preßte die Lippen zusammen. „Die militärischen Dienststellen“, fuhr der Oberst fort, „werden zunächst die abzutransportierenden Güter trennen in solches Material und solche Einrichtungen, deren Rückführung sofort beginnen muß, und in das, was zunächst noch für die Versorgung benötigt wird. Es wird weiter festgestellt, was an Vorräten, Versorgungs- und Instandsetzungseinrichtungen des Heeres und der Luftwaffe, sowie an lebenswichtigen wirtschaftlichen Anlagen überhaupt fortgebracht werden kann und was, wenn Charkow verloren gehen sollte, vernichtet werden muß. Ihre Aufgabe, meine Herren, ist es, dafür Sorge zu tragen, daß der notwendige Transportraum zur Stelle ist, daß es mit den Lokomotiven klappt und daß vor allem der Räumungsverkehr ungehindert nach Westen abfließen kann.“ Die Herren verbeugten sich schweigend. Der Kommandeur wußte so gut wie sie, daß man Wochen brauchen würde, um nur einen geringen Bruchteil dessen zu verladen und abzufahren, was im Laufe von fünf Vierteljahren in Charkow, der Zentrale des Südabschnitts, an Heeresgut aufgespeichert worden war. Wenn Charkow aufgegeben werden mußte, würden Berge von Proviant, Bekleidung und Ausrüstung den Sowjets in die Hände fallen, ganz abgesehen von all den anderen in die Millionenwerte gehenden unersetzlichen Materialien und Einrichtungen. Einige hatten noch immer Hoffnung. SS sei im Anmarsch. Man werde auf jeden Fall Zeit gewinnen. Niemals so viel, bis tausend Züge verladen und abgefahren seien. Aber selbst zweitausend würden nicht ausreichen, um Charkow zu räumen. Wenn man täglich zehn Räumungszüge wegbringe, könne man von Glück sagen, es mußten ja auch die Betriebsstoffe und -einrichtungen der Bahn selbst in Sicherheit gebracht werden. „Es muß sofort überlegt werden, wie die Räumung am raschesten und vollständigsten bewerkstelligt werden kann, meine Herren“, schloß der Kommandeur die kurze Besprechung. „Treffen Sie die entsprechenden Dispositionen.“
Oberrat Dr. Dornberg hätte antworten können: Hochverehrter Herr Oberst, obgleich Sie nicht Eisenbahnfachmann sind, haben Sie doch gründlichen Einblick in den Betrieb gewonnen. Darum wissen Sie so gut wie wir, daß der Regelbetrieb zuzüglich des forcierten West-Ost-Verkehrs von Truppenund Versorgungszügen, zuzüglich des Zulaufs an Räumungszügen von den Frontspitzen her einen gleichzeitigen Räumungsverkehr in nennenswertem Umfange aus den Charkower Bahnhöfen selbst überhaupt nicht zuläßt. Vor allem müssen die westlichen Direktionen sofort für unbehinderte Aufnahme und Weiterleitung der Räumungszüge Sorge tragen. Aber die rückwärtigen Knoten verzeichnen ja jetzt schon einen erheblichen Rückstau. Und Oberrat Brandner hätte hinzufügen können: Und statt, daß man uns von Westen her mit zusätzlichen Lokomotiven unterstützt, müssen wir dort noch aushelfen. Aber beide schwiegen. Jeder Eisenbahner würde tun, was er tun konnte, mit all der Routine, die sie seit Beginn des Rußlandeinsatzes gewonnen hatten. Zaubern konnte man nicht, darüber brauchte man nicht zu reden. Sie machten sich an die Arbeit. Am 22. Januar war die Lage ostwärts Charkow unverändert. Jetzt wurde die Front vor Woronesh durch pausenlose Angriffe der Sowjets erschüttert. Auch für den Bezirk Kastornaja mußte die Räumung befohlen werden und zwar in allen vier Richtungen, Latnaja im Osten, Naberoshnoje im Norden, Stary Oskol im Süden, einschließlich Schtschigry im Westen und Dolgaja an der Strecke von Marmyshi nach Norden. In dieser Nacht schlug in Charkow das Wetter um, am Samstag morgen taute es, aber schon im Laufe des Vormittags zog es wieder an. Oberrat Brandner war zur Sammelstelle für die versprengten Eisenbahner gegangen. In kleinen Gruppen und auch einzeln oder vermischt mit Landsern der kämpfenden Truppe und einheimischen Zivilisten kamen sie an, Eisenbahnpioniere, Feldeisenbahner und Blaue. Hundert Mann blaues Lok- und Zugbegleitpersonal hatten von den Reichsverkehrsdirektionen in Dnjepropetrowsk und Rostow aushilfsweise an das FEK 3 abgegeben werden müssen. Auch von ihnen kamen viele nicht mehr. Manche, die Fahrgelegenheiten gehabt hatten, rückten mit vollem Gepäck an,
andere völlig zerlumpt in allen möglichen Sorten von Mänteln und Mützen. Sofern der Iwan nicht unvermutet bei den Bahnhöfen erschienen war, hatten die Abteilungen versucht, ihre Männer auf Räumungszügen, mit LKW-Kolonnen und, wo solche Möglichkeiten nicht vorhanden waren, in Marschkolonnen, oft mit der zurückweichenden Truppe zusammen, abzusetzen. Häufig sperrten russische Panzer, Kavallerieabteilungen oder Infanterie auf Schlitten und Ski von allen Seiten den Weg, dann mußten sie sich unter blutigen Verlusten, in alle Winde zerstreut, unter unmenschlichen Strapazen und Entbehrungen auf eigene Faust durchschlagen. Von den Troßquartieren der Front hereinrückende deutsche Marsch- und Fahrkolonnen aller Art und die ohne langen Aufenthalt sich weiter westwärts davonmachenden, vielfach regellosen Haufen der an der einstigen Donfront zerschlagenen rumänischen, ungarischen und italienischen Divisionen, sowie das jetzt sichtlich aufgestörte Leben und Treiben der örtlichen Dienststellen, zumal aber die Vorbereitungen und der Anfang der Flucht der Ukrainer selbst gaben dem Stadtbild das Gepräge. Aber eine Sotnie Kosaken ritt ostwärts, neben dem Kosakenoffizier ein deutscher Rittmeister. Auf dem Bahnhofsplatz sammelte eine kompaniestarke Abteilung Feldgrauer, die wie Japaner aussahen. Es waren Aserbeidschaner, Südkaukasier, die ebenfalls freiwillig für die Befreiung ihrer Heimat vom Sowjetjoch kämpften. Auch SS war eingetroffen, hatte den Gegner aus Starobjelsk und anderen Orten wieder vertrieben. Ja, es wurde nach wie vor gekämpft, aber Brandner konnte sich trüber Ahnungen nicht erwehren. Die Heeresberichte verschleierten natürlich die wirkliche Lage, um der Truppe und der Heimat den Mut nicht zu nehmen. Wer konnte sich nach dem Wortlaut der Heeresberichte und selbst, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen verstand, ein echtes Bild der Kampfverhältnisse machen? Wer konnte aus ihnen entnehmen, daß man von Divisionen sprach, obgleich sie an Zahl und Kampfkraft kaum noch Regimentern gleichkamen? Daß die meisten Regimenter nicht einmal Bataillone, Bataillone oft nur noch Züge waren? Daß auf einen kampffähigen Kampfwagen, auf ein leistungsfähiges Kraftfahrzeug sechs zusammengeschossene oder anderweitig verloren gegangene oder in Reparatur befindliche kamen? Daß
die Artillerie nicht mehr den vierten Teil ihrer ursprünglichen Geschütze besaß und zehnfacher Übermacht gegenüberstand? Daß der Iwan dagegen immer wieder mit Massen neuer Panzer und Motorfahrzeugen aller Art anrückte, als hätte der Krieg eben erst begonnen! Wer konnte wissen, daß es gar kein Witz war, daß der Kommandeur eines Panzerregiments, als ihn ein Infanteriekamerad um Hilfe bat, rückfragte: „Wie viel Panzer wollen Sie haben? Genügt Ihnen einer oder brauchen Sie alle zwei?“ Nein, niemand wußte, wie ausgepumpt und ausgeblutet und in ihrer Ausrüstung heruntergewirtschaftet die seit Jahr und Tag unablässig eingesetzten deutschen Truppen waren. Die bewundernswerteste Kampferfahrung und die todesmutigste Kampfweise konnten eine solche Unterlegenheit nicht mehr ausgleichen. Als Brandner sich anschickte, ins Dienstgebäude zurückzukehren, fiel ihm auf, daß in den zwei Stunden, die er unterwegs war, ein noch nie erlebt jäher Temperatursturz erfolgt war. Aus beginnendem Matsch und Wasser waren buchstäblich zusehends Harsch und Eis geworden. Das Thermometer mußte schon wieder zehn oder 15 Grad Kälte zeigen. Der Himmel im Osten färbte sich schneegrau und wurde von Sekunde zu Sekunde düsterer. Mit jedem Atemzug wurde der Wind heftiger und eisiger und dann fegte und heulte ein Schneesturm durch die Straßen und über die Dächer Charkows, daß es zur Mittagszeit halb Nacht wurde. Mensch und Tier verkrochen sich schauernd vor Frost. In wenigen Minuten war die Riesenstadt wie ausgestorben. Sonderführer Brandner kämpfte sich durch die fauchende Schneewolke zum F.E.K.-Gebäude zurück. Bei seinem Eintritt ins Dienstzimmer wurde ihm ein Blatt in die Hand gedrückt. Es war die Zusammenstellung der Verluste an rollendem Betriebsmaterial. Im Abschnitt Rossosch-Jewdakowa-Guiloje hatte alles noch abgefahren werden können, ebenso zwischen Walujki und Kupjansk. Auf der Strecke Lichaja-Kamenskaja waren angeblich nur 5 Lokomotiven und 100 Wagen verloren gegangen, zwischen Walujki und Stary Oskol 10 Lok und 450 Wagen, auf der Strecke Millerowo-Kondraschewskaja-Starobjelsk-Walujki 50 Lok, 480
Wagen. 57 Lok, 2000 Wagen waren zwischen RossoschMillerowo und Millerowo-Km 641 zurückgeblieben und auf der Strecke Guiloje-Walujki 80 Lok, 1050 Wagen. Somit waren insgesamt 202 Lokomotiven und 4080 Wagen dem Feind und zwar zum größten Teil unversehrt, in die Hände gefallen. Das ganze System seiner Durchbrüche erwies aber auch, daß er seine Strategie in erster Linie auf das Eisenbahnnetz richtete, nicht nur um den deutschen Versorgungsnachschub und den Antransport von Truppen, die Verschiebung von Reserven zu behindern und zu verhindern, sondern um sich selbst gewissermaßen schon im Vorgriff in den Besitz möglichst unzerstörter Bahnhöfe und Strecken und betriebsfähigen rollenden Materials zu setzen. Brandner schob die Verlustmeldung zurück, ging zum Ofen, hielt die Hände dagegen. Die Fingerkuppen kribbelten. Heute wurde die Bude überhaupt nicht warm, aber man bekam vor Rauch und Kohlengestank keine Luft mehr. Wenn die Meldung, die zweifellos nicht einmal die ganze Wahrheit enthielt, zum General des Transportwesens ins Hauptquartier kam, war der Teufel los. Mindestens kam es zu ebenso billigen wie bedrohlichen Rückfragen. Warum wurde das Material nicht rechtzeitig abgefahren? Warum wurde es unzerstört dem Feinde überlassen? Die Schuldigen sind zur Verantwortung zu ziehen. Dann würde der Betriebsleiter als gerissener Sachkenner dem Kommandeur alle möglichen Argumente zum Schutze der Kollegen und Kameraden ins Ohr flüstern und dem Transportchef würde in diplomatischer Form alles zugegeben und zugleich alles widerlegt. Eigentlich aber müßte man ihm antworten: Fliegen Sie her, aus Ostpreußen! Übernehmen Sie eine Betriebsspitze im Bezirk Lichaja oder Kupjansk oder Kastornaja! Dann werden Sie nie wieder fragen und nach Schuldigen schreien! Sie sind zwar General und haben andere Aufgaben, als in der vorderen Linie zu kämpfen. Aber auch der Transportchef sollte einmal nach vorne kommen und sich überzeugen, wie es dort aussieht! Jeder kleine Eisenbahner, jeder Bahnhofsvorsteher, jeder Weichenwärter, jeder Bw-Arbeiter und jeder Lokführer und Heizer, jeder Bahnmeister und jeder Zugschaffner zwischen Minsk und Woronesh, zwischen Kiew und Stalingrad, zwischen Odessa und Rostow weiß Ihnen dann etwas zu sagen. Sie
werden vor den Eisenbahnern hier draußen und ihren Opfern die Mütze abnehmen. Sie sollten nicht überflüssige und drohende Fragen stellen, sondern dafür sorgen, daß nicht auf Wunder gewartet oder Unmögliches erwartet, sondern die Räumung rechtzeitig befohlen wird. Brandner trat ans Fenster. Noch immer brauste der Schneesturm draußen, brauste die ganze Nacht und brauste den ganzen Sonntag über. Ihm schwante nichts Gutes. Und inzwischen liefen auch schon die Meldungen ein: Verwehungen, Vereisungen, Verkehrsbehinderungen. Besonders schlimm in den ersten Tagen der letzten Januarwoche im Kursker und Belgoroder Bezirk. Züge blieben auf freier Strecke liegen, Wagengruppen entgleisten infolge vereister Weichen. Die Schneeräumung und Enteisung verzögerte sich, weil die Bevölkerung vor ihren näherrückenden roten Befreiern die Flucht ergriff, für die Deutschen nicht mehr zu arbeiten wagte oder einfach nicht mehr wollte, weil sie das Blatt sich wenden sah. Dabei galt es, Truppenbewegungen durchzuführen, Wehrmachtszüge, Versorgungszüge in verdoppeltem Tempo an ihre Ausladebahnhöfe zu bringen. Zu allem Unglück fiel das Thermometer auf -34 Grad. Dann stieg es wieder und man war bei 13 Grad Kälte glücklich über das ,milde' Wetter. Nicht nur Charkow räumte. Das Schwergewicht des gesamten Betriebes im Bereich des F. E. K. 3 lag, wie schon in der Vorwoche, nicht mehr in Richtung Front, sondern in der OstWest-Richtung. Es galt, auf den Spitzenstrecken die Betriebsmittel zu retten. Da erhielt die Oberzugleitung am 28. Januar eine neue alarmierende Nachricht: Die Russen waren bei Kschen von Norden her in die Woronesher Strecke Kursk-Latnaja eingebrochen; ab Marmyshi war nach Osten keine Verbindung mehr. Über das Schicksal der Feldeisenbahner und Eisenbahnpioniere von Kschen bis Latnaja war nichts bekannt. Es verlautete aber, daß schon seit geraumer Zeit die Betriebsspitze bei Kodeis nicht mehr Latnaja, sondern Nishnedewizk gewesen sei. Damit war die Räumung dieses Streckenteils, die bisher nicht vorwärts gegangen war, weil unaufhörliche Luftangriffe wichtige Betriebswerke, Wasserstationen, Gleis- und Fernsprechanlagen lahmgelegt hatten, endgültig mißlungen. Am Ende der Woche stand fest, daß mindestens 31 Lokomotiven verloren gegangen waren. Über die Zahl der Wagen lagen nur Schätzungen vor. 500,
vielleicht 1000, vielleicht mehr. Dagegen war es unter Aufbietung aller Kräfte gelungen, die Strecken Kupjansk-Swatowo und Belgorod-Kupjansk zu räumen. Die Räumung des Abschnitts Belgorod-Kursk indessen ging nur schleppend voran, weil es an Wendelok mangelte und sich die rückgeführten Züge in Kursk und den weiter rückliegenden Knoten gestaut hatten. Schon am 13. Januar hatte es ostwärts Charkow nur noch eine Betriebsspitze gegeben: Kupjansk-Uslowoj. Der Bezirk Lichaja war bereits um die Monatsmitte an die blaue Reichsverkehrsdirektion in Rostow abgegeben worden. Ostwärts Kursk war die Verkehrsspitze der Bahnhof Tscheremisinowo bei der Timbrücke. Bei den Charkower Dienststellen ging alles seinen Gang. Man oblag mit militärischer Gelassenheit und verwaltungsgewohnter Vorschriftsmäßigkeit der Aufgabe der Räumung. Eine verlorene Runde. Pech, aber keine Katastrophe. Auch nicht, wenn man noch tausend Kilometer zurückgeschlagen würde. Das hatte gute Weile. Und der Iwan würde bis dahin auch ermüden. Auch seine Massen an Menschen und rollenden Festungen und schweren Waffen würden sich verbrauchen. Das war auch der Grundton der Unterhaltung im Laufe einer Besprechung der Offiziere der militärischen Räumungssondergruppe Plessen mit den Offizieren und leitenden Beamten des Feldeisenbahnkommandos. Dr. Dornberg hatte über das bisherige Ergebnis der Räumung Charkows berichtet. Jetzt trat er zu Oberstleutnant Plessen. Der temperamentvolle, selbstbewußte Eisenbahnfachmann und der nicht weniger temperamentvolle und noch selbstbewußtere Generalstäbler hatten sich nach anfänglichen kleinen Reibereien im Laufe ihrer Zusammenarbeit ganz gut verstehen gelernt. „Noch ein Wort unter vier Augen?“ fragte Dornberg. „Ich bitte darum“, lachte Plessen. „Ein unabhängiger Kritiker“, begann Dornberg, „der keine Maßregelung zu befürchten braucht, würde sagen: Die Räumung ist ein Narrenspiel. Wir verladen Tag und Nacht, zum Beispiel Winterbekleidung, und mühen uns, die Züge so rasch wie möglich abzufahren, und währenddem rollen noch ganze Lazarettzüge voll Winterbekleidung an, ebenso Züge mit Versorgungsgütern aller Art, die hier sowieso noch die Lager füllen. Das kommt
daher, daß man wahrscheinlich den rückwärtigen Direktionen und den Absendern der Güter nicht verraten will, daß mit Charkow Schluß ist. Und obgleich verboten wurde, Möbel und dergleichen Kram zu verladen, versuchen die Dienststellen alles, um ihre Büroeinrichtungen und ihren persönlichen Quartierkomfort mitzuschleppen. Sie erreichen es auch vielfach, weil mangels Wachmannschaften die Befolgung des Verbotes nicht genügend überwacht und durchgesetzt werden kann.“ „Diese Schweinerei muß eine andere werden“, lachte Plessen. „Ich sorge dafür.“ Hier wurde ihre Unterhaltung durch ein allgemeines Gelächter und großes Hallo unterbrochen. Die Tür war aufgegangen und auf der Schwelle standen zwei großgewachsene Männer, die auf den ersten Blick wie Steppenräuber aussahen. Der Dunkle grinste in die Runde der wohlerhaltenen und gepflegten Uniformen und sagte zum Blonden: „Brüderchen, nimm die Pudelmütze ab! Hier sind hohe Herrn!“ Seine volle dunkle Stimme übertönte den Begrüßungslärm, er schüttelte, wie der andere, während ihnen Ordonnanzen Mützen und Mäntel abnahmen und ihre Uniformen zum Vorschein kamen, ein Dutzend Hände und drückte sich zum Kommandeur durch, der zu Plessen eine Bemerkung machte und ihnen schmunzelnd entgegensah. „Herr Oberst“, sagte er und schlug kräftig in die ausgestreckte Hand dessen ein, der ihn an Wuchs noch um einige Zentimeter übertraf, „bitte, entschuldigen zu wollen. Wir hatten keine Ahnung. Wollten nur die Kameraden überraschen. Zurückmelden werden wir uns natürlich morgen früh in aller Form.“ Freiherr von Bergen antwortete: „Freut mich, meine Herrn, Sie jetzt schon so gesund und munter wiederzusehen“, und stellte sie Plessen vor: „Herr Kamerad, das sind die beiden tüchtigen Amtsvorstände von Morosowskaja: Sonderführer Burgherr, der die Betriebsabteilung führt und Oberleutnant Martini, Chef einer Maschinenabteilung. Unser Kunstschütze.“ „Burgherr?“ sagte Plessen. „Diesen Namen habe ich doch dieser Tage gehört.“ „Richtig. Das ist der Eisenbahner, der das Husarenstück fertiggebracht hat, den Roten 70 Wagen voll Fliegergut vor der Nase wegzuschnappen.“ „Das müssen Sie uns erzählen!“ rief der Generalstäbler.
„Was soll ich denn da erzählen?“ wehrte Burgherr ab. „Wir sind eben mit einer Lok hingefahren und haben sie geholt.“ Sie mußten ihm die Einzelheiten aus den Zähnen ziehen. Nun, es war so gewesen: Am 18. Januar tummelte sich der Iwan bereits in Kamenskaja. Am 25. Januar wurde er von SS über den Donez bis nach Glubokaja zurückgeworfen. Aber sie hatte noch mehr zu tun und die schwachen Infanteriekräfte, die blieben, richteten sich am Kamenskajaer Donezufer zur Verteidigung ein. Auf der anderen Seite des Flusses bauten sich die Russen wieder auf. Der Fluß war kein Hindernis; er war dort kaum breiter als 300 Meter und so dick gefroren, daß ihn sogar die schwersten Panzer überrollen konnten. Leider war der Bahnkörper aus Eis, auf dem man Schienen hatte verlegen wollen, um das Bw Glubokaja und das rollende Material, das von Millerowo her nach Süden gefahren worden war, wegbringen zu können, nicht rechtzeitig fertig geworden. Von Lichaja waren es 24 Kilometer bis Kamenskaja. Die zweigleisige Bahn, ein Gleis Normalspur, fiel stark ab. Kamens hatte 8 Schienenpaare. Vom Bahnhof führte ein Anschlußgleis zu den verzweigten Hafen- und Industrieanlagen an den Donez hinab. Und dort standen 70 Wagen, beladen mit dem gesamten Luftwaffengut des Fliegerkorps Richthofen, gewaltige Mengen Waffen und Munition, vor allem aber kostspieligste, seltenste und unersetzliche Geräte. Dem Bevollmächtigten Transportoffizier in Lichaja, einem Major im Generalstab, wuchsen graue Haare. Daß diese ebenso wichtige wie wertvolle Beute vorher dem Iwan entgangen und nicht vernichtet worden war, war ein Riesendusel, aber wenn man da unten anfangen wollte, Betrieb zu machen, hatte man ihn selbstverständlich sofort auf dem Hals; er brauchte doch nur übers Eis herüberzuspazieren. Die paar Hanseln auf deutscher Seite konnte man ja nicht als Front bezeichnen, zumal sie der russischen Ari so gut wie nichts entgegenzustellen hatten. „Probieren geht über studieren“, sagte Burgherr, fuhr im Schienen-LKW nach Kamens und, als es dunkel genug war, ans Donezufer. Wenn die Wagen wenigstens schon zusammengestellt wären, aber es mußte auch noch rangiert werden! Er bestellte sich eine Zuglok. Sie wurde mit Säcken und anderen Lumpen verhängt, damit der Russe drüben nicht durch Lichtschein aufmerksam wurde. Mit einem Betriebsinspektor und drei Mann fuhr er an Ort und Stelle. Kaum angefangen, gab's
Zunder. Feuerüberfälle der russischen Ari. Störungsfeuer, weil sie drüben nicht wußten, was los war, aber auch nicht wagten, Nachschau zu halten. Die paar Eisenbahner rangierten mit dem Schienen-LKW und die Lok zog die Wagen, zwei oder drei aneinandergekuppelt und auch einzeln, die Steigung zum Bahnhof hinauf. Das Anschlußgleis verlief zunächst teils offen, teils hinter Schuppen, Lagerhäusern, Fabriken parallel zum Fluß, bog dann nach Süden ab und durch einen schmalen Geländeeinschnitt, in dem man sich nicht so ausgesetzt fühlte, zum Bahnhof hinauf. Zur Abwechslung erhielten sie auch Fliegerbesuch. Die Bomben fielen überall, nur nicht auf sie und ihre Wagen. Immer wieder fauchten und orgelten Granaten über ihre Köpfe. Der Iwan machte ein 300 Meter weiter ab gelegenes großes Lagergebäude klein; ausgerechnet ein geräumtes. Auch um sie herum patschte und krachte es natürlich immer wieder und es roch manchmal aufdringlich nach Pulver und heißem Eisen. Aber als es Tag wurde, standen nicht mehr 70 Wagen verlassen und verloren am Donez, sondern ein Zug mit 140 Achsen zur Weiterfahrt bereit in Lichaja. Das war alles. Sie hatten eben unverschämtes Glück. „Und unverschämten Mut.“ Das war die neidlose Anerkennung aller. ---In dieser Nacht krachte es noch gewaltig in einem langen, gut beleuchteten Kellergang. Da standen die geleerten Flaschen des Abends in Dreierreihen auf Lücke. Martinis Chef, Oberrat Brandner, stand seit Beginn seines Osteinsatzes auf dem durchaus begründeten Standpunkt, daß man in diesem Lande eine Pistole nicht nur wohlverwahrt in der Tasche am Leibriemen tragen, sondern auch trotz der Zugehörigkeit zu einem rückwärtigen Stabe möglichst rasch und sicher mit ihr schießen können sollte. Und er hatte sich mit unermüdlicher Geduld eine solche Fertigkeit im schnellen Ziehen antrainiert, daß sein Schuß schon fiel, noch ehe der flinkste der Kameraden die Waffe auch nur in der Hand hatte. Darin war er selbst seinem Freunde Martini überlegen. Zudem schoß er auch auf 30 Schritte in jedem Fall einen Spiegel, aber auf 20 Schritte 10 Flaschenhälse hintereinander zu treffen, das brachte nur Willi fertig. Er schoß wie ein wahrer Teufel, dabei hatte ‚Brüderchen' für einen Mann in Feldgrau geradezu verboten engelhaft blaue
Augen. Man mußte ihn im Verdacht haben, daß er heimlich Gedichte las.
6. KAPITEL
Die Zeit war nicht aufzuhalten. Das Vorrücken der SowjetDivisionen auch nicht. Der Iwan stand Anfang Februar vor Kursk und vor Rostow und er stand vor Belgorod und Charkow. Im Heeresbericht wurde das Ende des Kampfes um Stalingrad, das Ende der 6. Armee zugegeben. Die Räumung Charkows wurde pausenlos Tag und Nacht fortgesetzt. Eine wesentliche Abnahme der Güter trat nicht in Erscheinung. Die Magazine, die Werkstätten, die Lager- und Stapelplätze am Stadtrand hatten zwar vielfach Gleisanschlüsse, über 200 gab es im Ganzen, aber sowohl die Leerzüge, als auch die zurückkommenden beladenen mußten über die Bahnhöfe geleitet werden, und die Bahnhöfe waren voll von Zügen, deren Fahrtziele in Frontrichtung überholt waren, weil dort bereits wieder der Russe saß, über die jedoch noch nicht umdisponiert worden war. Auf den Bahnhöfen standen Hunderte von Wagen mit Kohlen, Heu, Stroh, Baracken, die zunächst einmal entladen werden mußten, um Leerraum für die wichtigsten Abtransporte zu gewinnen. Diese Ausladungen nahmen fast ununterbrochen die Rampen des Hauptbahnhofs und des Bahnhofs Nowa Bavarija in Anspruch, die zugleich aber auch für die Beladung gebraucht wurden. Es war endlich geglückt, den Zulauf weiterer Versorgungszüge abzustoppen, doch nach wie vor rollten natürlich von Westen Truppentransporte mit ihrem Zubehör an und von den verlorenen und restlich betriebenen Strecken im Osten Räumungszüge herein. Züge, die Truppen gebracht hatten, konnten zum Abtransport von Räumungsgut nicht verwendet werden, sie mußten unverzüglich leer wieder zurückgefahren werden, um neue Truppen zu holen. So mußten die Charkower Versender von Räumungsgütern oft auf weit abliegenden Bahnhöfen verladen, was außerordentlich zeitraubend war. Die Fahrkolonnen hatten endlose Wege, die Verladevorrichtungen waren meist unzulänglich und zur Hinausschleusung all dessen nach Westen stand nur eine einzige Strecke zur Verfügung, über Ljubotin. Die übrigen Strecken waren teils verstopft, teils hatten sie andere
Aufgaben zu erfüllen oder der Iwan hatte den Betrieb unterbunden. An Ljubotin hing schließlich alles. Der Bahnhofsvorsteher, ein Tiroler, und der Chef der Bahnmeisterei, ein Schwabe, waren nicht nur tüchtige Eisenbahner, mit allen Wassern des Kriegsbetriebs gewaschen, wie sie schon im Mai des Vorjahres bei der Übernahme ihres Bahnhofes bewiesen hatten, sondern großartige Männer überhaupt. Die blauen Eisenbahner wurden jetzt durch Feldeisenbahner verstärkt. Alle arbeiteten bewunderungswürdig. Aber aus einem Schienenstrang zehn machen, konnte man nicht. Und man konnte die Züge weder aufeinandertürmen, noch fliegen lassen. Auch die Vorflut in westlicher Richtung, die Abnahme und Weiterleitung der Züge durch die rückwärtigen Bahnhöfe erfolgte nicht flüssig genug. Der Rückstand in den Knoten war erheblich. Luftangriffe und infolge der Aufregungen und Überbeanspruchung von Mensch und Material sich häufende Unfälle und Ausfälle taten ein Übriges. Die Rangierarbeiten nahmen einen Umfang an, der nicht mehr bewältigt werden konnte, zumal ihm der noch verfügbare Lokpark in keiner Weise entsprach. Die Lokomotiven litten unter der Unmöglichkeit sorgsamer Unterhaltung und Betriebsbehandlung, weil keine Zeit dazu war und weil sich auch in Charkow die Hilfskräfte von Tag zu Tag in größerer Zahl dünne machten. So wuchsen die Schwierigkeiten der Räumung stündlich, türmten sie sich wie ein Riesenberg vor den menschlichen Zwergen auf. Und dennoch gaben sie nicht nach, ertrugen sie alles an Mühe und Gefahr. Sie kamen nicht mehr aus den Kleidern und nur noch in unregelmäßigen längeren Zeitabständen zu einigen Stunden Schlaf, weil sich der Körper schließlich sein Recht einfach nahm. Sie bekamen Vollbärte und sie hungerten, weil es aus diesem oder jenem Grunde mit der Verpflegung nicht klappte. Man konnte sich um den Empfang nicht mehr gründlich genug kümmern und man hatte auch keine Zeit, einfach Umschau zu halten, wo etwas zu holen war. Und immer noch weigerten sich die verwaltenden Stellen, den Eisenbahnern oder den abgerissen bedürftigen, sich wieder sammelnden oder mit neuen Einsatz- und Absetzbefehlen durchziehenden Truppen über das geringe Soll hinaus auch nur etwas von dem zu geben, was mit Sicherheit doch nicht mehr gerettet werden konnte, sondern vernichtet werden oder dem Feinde in die Hände fallen würde.
Sie hatten keinen Befehl, die Bestände auszugeben und sie fürchteten, doch noch eines Tages vorschriftsmäßig belegten Nachweis über den Verbleib führen zu müssen. In der ersten Februarwoche versetzte ein überraschender Vorstoß der Russen auf Charkow alles, was sich in der Stadt befand, in besondere Aufregung und fieberhaften Betrieb. Ein feindlicher Luftlandetrupp war bei Balakleja, halbwegs zwischen Isjum und Charkow, abgesetzt worden, hatte die Bahnlinie gesprengt, einige Bahnhofsbesatzungen kassiert und vergnügt mit den Zugleitungen benachbarter Bahnhöfe und der Oberzugleitung in Charkow herumtelefoniert. Bisher hatten die Wehrmachtsdienststellen Charkows die Räumung mit mehr Weile als Eile betrieben, jetzt aber rasselten allenthalben die Telefone in den Büros der Feldeisenbahn und auf den Bahnhöfen und über die Eisenbahner ergoß sich eine wahre Sturzflut von Bitten und Befehlen, Drohungen und Beschimpfungen. Das Feldeisenbahnkommando erhielt Befehl, sich nach Poltawa abzusetzen. Die Ämter wurden angewiesen, das Nötige zu veranlassen. Sie packten ihre siebzig Sachen zusammen und holterdiepolter ratterten die Material- und Gerätezüge zum Städtele hinaus. Der Stab rückte ab, als letzter am 6. Februar im Triebwagen, zusammen mit seinem Stabsoffizier I (Heer) und dem Oberstabsarzt, der Kommandeur. Zurück blieben, um die Räumung des Bahnhofs bis zum letztmöglichen Zeitpunkt fortzusetzen, unter Zuteilung zum Räumungsstab Plessen der Betriebsleiter Dr. Dornberg, der Leiter des Betriebsmaschinendienstes, Brandner, und der Leiter der Gruppe Bau, Romer, einige Sonderführer der Oberlokleitung und Oberzugleitung und was an Bahnhofspersonal weiterhin dringend benötigt wurde. An Abtransport von Heeresgütern war kaum noch zu denken. 8000 Wagen standen in Charkow, 2000 mehr als zu Beginn der Räumung. Die Parole war: Raus jetzt damit, was raus kann! Leerzug hinter Leerzug dampfte ab. Nicht betriebsfähige, aber lauffähige Lok wurden kaltgelegt, die Treibstangen abgenommen und in langen Lokzügen abgefahren. Noch aber war Charkow nicht am Ende. SS kämpfte überall, tauchte da auf, tauchte dort auf, genau wie der Iwan, stieß vor und warf ihn zurück, bog hier vor seiner Übermacht aus und packte ihn anderswo wieder an. Sie hielt in Charkow, soweit
wenigen kleinen Gruppen im besonders weiträumigen Häusermeer dieser Großstadt und unter den 300 000 Bewohnern, die sie noch zählen mochte, das möglich war, im Verein mit der Feldgendarmerie die Ordnung aufrecht und dämmte aufflackernde Partisanengelüste ein. Im gesamten Raume Charkow bereiteten Heerespioniere die Sprengungen und Brandlegungen vor, die notwendig waren, um zu verhindern, daß die verbliebenen Güter und Versorgungseinrichtungen der deutschen Wehrmacht, die noch ein Mehrfaches dessen waren, was in den vierzehn Tagen hatte weggeschafft werden können, dem Gegner in die Hände fielen und seine Kampfkraft noch erhöhten. Schon drang der dumpfe Laut ferner Detonationen bis ins Weichbild der Stadt. Am Horizont stiegen Rauchsäulen auf und lagerten sich als düstere Wolkenbänke über den Himmel. In den Nächten geisterte Feuerschein am Rande der Erde. Aber auch dort standen noch Eisenbahner und fuhren ihre Betriebsmittel ab, stoben im letzten Augenblick auf einer Lok oder in einer Kastendraisine davon, manchmal mit, manchmal erst nach den letzten noch kämpfenden Landsern und Panzern. Und immer noch liefen Züge ein von Isjum her und von der Strecke Kursk-Belgorod. Währenddessen empfing Dr. Dornberg die Meldung, daß die Russen nun auch die Strecke Kursk-Orel überrannt hatten und Kursk eingeschlossen sei. Das Betriebswerk Lgow war durch Fliegerbomben zerstört. Weit im Südosten, von den russischen Armeen überholt, hielt das Donezbecken stand und dort machten die blauen Eisenbahner friedensmäßigen Betrieb, als befänden sie sich im Meere des russischen Raumes auf einer unzugänglichen Insel. Es war nur denkbar, daß die Sowjets bewußt das wichtige Industriegebiet aussparten, um es vor größeren Zerstörungen zu bewahren, annehmend, daß es ihnen mit allem, was drin war, von selbst zufallen mußte, wenn im Süden und Norden ihre Heere noch weiter nach Westen vorgedrungen sein würden. Die große Mietskaserne mit den Quartieren des Feldeisenbahnkommandos stand leer, die Diensträume im Gebäude der Südbahn waren schon seit geraumer Zeit zur Unterkunft selbst geworden. Nun waren auch diese Zimmerfluchten zum Teil, einige Stockwerke völlig verlassen. Die drei Abteilungsleiter mit ihren wenigen zurückbehaltenen
Mitarbeitern, die Oberzugleitung und die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften des Räumungsstabes Plessen füllten die Räume bei weitem nicht. Die Leere war unheimlich. Man fand Zimmer, wenn man sie auch nur für einige Stunden unbewacht gelassen hatte, bei der Rückkehr ausgeplündert; der Bewohner besaß dann nichts mehr, als was er auf dem Leibe und in seinen Taschen trug. Man war sich klar darüber, daß man Mordanschlägen so gut wie schutzlos preisgegeben war. Daß dennoch niemand persönlich ein Leid geschah, mochte auf eine ganze Reihe von Umständen zurückzuführen sein, nicht zuletzt auf das gute Einvernehmen des Großteils der Eisenbahner mit der Bevölkerung. Zweifellos gab es in Charkow auch kein militärisch organisiertes, groß aufgezogenes Partisanentum, oder es traute dem roten Sieg noch nicht und hielt sich zurück, so lange immerhin ansehnliche deutsche Kräfte, insbesondere die gefürchtete SS, die Stadt fest in den Händen hatten. Das war die Lage, welche die kleine Gruppe Feldeisenbahner, die nach ihrer Flucht von der Strecke Kastornaja-Marmyshi von Woroshba aus nach Charkow in Marsch gesetzt worden war, in den Abendstunden des 7. Februar durch ihr Vorkommando Schepperl, Liebedorn und den blauen Inspektor Racke, erkundet hatte. Sie war nicht, wie es sich für echte Eisenbahner geziemt hätte, mit dem Zug gekommen, sondern gleich einer Schar frommer Pilger gelatscht. Allerdings erst von der Stadtgrenze an. Bis dahin hatten sie mit der LKW-Kolonne einer Nachschubkompanie fahren können, die von Maximowka noch einmal leer nach Charkow zurück mußte, um ein Benzinlager vollends wegzuschaffen. Der Zug, mit dem Racke und die feldgrauen Kameraden in Woroshba guter Dinge abgefahren waren, hatte vor einer von Partisanen gesprengten Flußbrücke liegen bleiben müssen. Da sie schon zwei Tage und drei Nächte in den ungeheizten Güterwagen gefroren und außerdem knurrende Mägen hatten, weil die Marschverpflegung nur für zwei Tage ausgegeben worden war und die Selbstversorgung trotz höchster Meisterschaft nur dürftige Ergebnisse zeitigte, da auch nicht abzusehen war, wie lange die Brückenreparatur dauern würde, hatten sie sich auf einem Pionierfußsteg zunächst einmal auf die andere Seite des Flusses begeben und dann die erste beste Gelegenheit ergriffen, möglichst rasch Charkow zu erreichen.
Nicht etwa, weil sie es gar nicht erwarten konnten, Dienst zu machen, sondern um endlich an einen Suppenkessel zu kommen. Und da standen sie nun in den verlassenen Küchenräumen des Kommandos, müde, wundgelaufen, hungrig, schwitzend und frierend zugleich und machten verdrossene Gesichter. „Ja mi leckst“, knurrte Schepperl. „Wieda nix z'fress'n!“ Liebedorn meinte, sie müßten sich eben doch gleich melden, dann bekämen sie wenigstens etwas Warmes in den Bauch. In seinem langgereckten Halse stieg der Gurgelknopf sehnsüchtig auf und nieder. Das kam vom leeren Schlucken. „Darauf würde ich mich nicht verlassen“, sagte Racke. „Ich würde mich erst mal drüben im Quartierbau häuslich einrichten und währenddem könnten die Erfahrensten organisieren gehn.“ „Guat is“, stimmte Schepperl zu. Damit war die Frage entschieden. Die andern waren durchaus damit einverstanden. Auf dem Bahnhof liefen sie Gefahr, auch nichts zu essen, jedoch gleich einen Haufen Arbeit zu bekommen. Sie hielten aber einen Ruhetag für das Mindeste, was ihnen nach den überstandenen Schrecken und Strapazen erst einmal zustand. Der Haufen trampelte hinüber. Es war modrig kalt in den nicht mehr geheizten oder überhaupt niemals richtig durchgeheizten Räumen. Zum Teil standen sie leer, zum Teil waren noch Feldbetten ohne Matratzen, Tische, Stühle, Schränke vorhanden. Auch ein paar große eiserne Öfen waren da. Sie hatten die Dampfheizung ersetzen sollen, die nie in Gang gekommen war. Die Ofenrohre waren mangels Kaminen in die Luftschächte geführt worden, mit dem Erfolg, daß Brände an der Tagesordnung gewesen waren, weil die Schächte eine Holzverkleidung hatten. Mit Kennerblicken suchten Schepperl und Liebedorn zwei größere ineinandergehende Räume aus, deren Zwischenwand durch einen Ofen unterbrochen war, auf dem auch gekocht werden konnte. Die Reste an Holz und Kohle wurden aus dem ganzen Haus zusammengetragen. Einige hüteten den häuslichen Herd, die andern machten sich trüppchenweise auf die Suche nach Eß- und Trinkbarem. Vorsichtshalber überließen sie Racke die Erkundung der Lage im Bahnhof. Es dämmerte schon. Um verfänglichen Fragen auszuweichen, die er nicht mit Lügen beantworten wollte, lenkte er seine Schritte nicht zum Empfangsgebäude, sondern stolperte
zum Betriebswerk hinaus. In einer abgelegenen Rangierbude und an der Bekohlungsanlage erfuhr er, was los war und was noch so alles an großen Tieren und kleinen Leuten herumwimmelte. Er hatte nicht den Eindruck, daß vom sofortigen Einsatz der Männer, mit denen er gekommen war, ein zusätzlicher Räumungserfolg abhing. Was mit den noch vorhandenen Lokomotiven getan werden sollte, schaffte das zurückgebliebene Personal mit dem Rest an einheimischen Hilfskräften, zudem von militärischer Seite 300 Soldaten, insbesondere für die Lokbekohlung, gestellt worden waren. In der Nacht würden auch gewohnheitsmäßig die russischen Bombenflugzeuge ihre Besuche abstatten und den Betrieb ohnehin stundenlang unterbrechen. „Wo faßt ihr denn Verpflegung?“ fragte Racke. Fassen? Überhaupt nicht. Aus den durchkommenden Räumungszügen würde ihnen manchmal Brot und Schokolade zugeworfen und vor einigen Tagen waren bei der Verladung eines Verpflegungslagers einige Kisten Fleisch- und Wurstkonserven „versehentlich“ zurückgeblieben. Es gab auch Leckereien, die man während des ganzen Krieges noch nie gesehen hatte, Rosinen, Schoka-Kola, Dextropur, Nüsse. Woher wußte niemand. Es war auch gleichgültig. Hauptsache, das Zeug war da. Außerdem gab es noch etwas ganz Außergewöhnliches. Sekt. Ein ganzer Keller voll davon war entdeckt worden, angeblich 5000 Flaschen. Wo denn dieser Keller sei? Ja, das wußte der Rangiermeister auch nicht. Ein paar Kisten voll wurden täglich in die Bahnhofsdienststelle gebracht. Nur gut, daß es nicht Schnaps war. Racke dachte, den noch verbliebenen Herrn des Stabes dürfte der Sektkeller bekannt sein. Aber sie hatten gerade Lagebesprechung mit Oberstleutnant Plessen. Enttäuscht ging er den Gang entlang der Treppe zu, da kam ihm Schlumpe entgegen. Er war Dornbergs Fahrer und führte den Beinamen ,Pikobello'. Seine Tüchtigkeit in jeder rückwärtigen Frontlage war so groß, wie die Unbekümmertheit, mit der er dem Krieg so viel Gutes und Vergnügtes wie nur möglich abgaunerte. Sie schüttelten sich die Hände. Schlumpes Freude war aufrichtig. „Wo stecken Sie, Herr Inspektor? Haben Sie Sekt?“
„Nein. Ich bin eben auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Aber ich bin nicht allein, sondern mit vierzehn Überlebenden von euerm Haufen zusammen.“ Schlumpe lachte: „Euch kann geholfen werden. Ich habe mir eine kleine Reserve kaltgestellt. So zwanzig Pullen werden's noch sein. Morgen könnt ihr noch mehr haben. Ich komme mit und helfe Ihnen tragen. Dann können mir die Kumpel gleich erzählen. Der Chef wird Augen machen, was sein Pikobello wieder alles weiß!“ Fünf Minuten später stampften sie, mit Flaschen beladen, über die Straße. Obgleich sich Racke die Türe nicht genau gemerkt hatte, war die richtige im Schein der Taschenlampe bald gefunden. Allerlei Geräusch hatte sie geführt und auf einer angenagelten Pappe stand, mit Kohle geschrieben: „Zutritt strengstens verboten!“ Sie stellten die 20 Flaschen neben der Türe in Reih und Glied auf, dann öffneten sie leise und steckten die Köpfe hinein. Badewärme schlug ihnen entgegen und der wunderbare Geruch von Eierkuchen, der den Kohlengestank und sogar den kriegsstarken Mief eines Dutzends teils noch geschäftiger, teils hemdsärmelig und in Socken beim Essen sitzender Eisenbahnlandser übertrumpfte. Von den ausgeschwärmten kleinen Gruppen war keine mit leeren Händen zurückgekommen. Schepperl und Liebedorn hatten den Vogel abgeschossen. Sie hatten in einem schlichten Zimmer eine Badewanne gefunden, bis an den Rand voll mit in Kalk eingelegten Eiern. Einige tausend mußten das sein. Das ganze war zu einem einzigen Eisblock zusammengefroren. Sie hatten mit einem Beil einen Block herausgeschlagen, dabei Hunderte von Eiern zertrümmert, aber auch Hunderte von ganzen Eiern aus der in der Wärme ihres Quartieres zerfließenden Masse herausgefischt. Mehl war da, Trockenmilch, Speck, Zucker, Marmelade. Nun schwelgten sie in Kaiserschmarrn. Aber Schepperl war's nicht zufrieden. Ein Liter roter Tiroler pro Nase gehöre dazu. Wenn's auch Sekt sein dürfe, brauchten sie nur vor die Türe zu gehn, sagte Schlumpe so nebenbei. Keiner ging. Sie ließen sich nicht schon im Februar in April schicken. Racke und Schlumpe zogen die Mäntel aus und was sie sonst noch zuviel anhatten. Liebedorn suchte Rackes Blick.
Racke zwinkerte. Liebedorn gab darauf vor, mal nach den Sternen sehen zu müssen. Es dauerte ziemlich lange, bis er zurückkam. Er grinste mit Nase, Mund und Augen und hatte in jeder Hand zwei Flaschen und zwei unter jeden Arm geklemmt. „Sin noch neun Flaschen da!“ verkündete er so stolz, als hätte er sie organisiert. Racke warf ihm einen unzweideutig fragenden Blick zu und Schlumpe sagte grinsend: „Rechnen kannst du pikobello! Zwanzig weg acht macht neun! Hokuspokus verschwindebus! Alles ohne Apparat!“ „Brauchst keine Reserve anlegen, Sigi“, flüsterte ihm Racke zu. „Morgen gibt's noch mehr.“ „Morjen is mir zu problematisch.“ Sie kamen auch mit siebzehn Flaschen aus. Sie waren ja alle so hundemüde, daß sie trotz der anfänglich belebenden Wirkung des Sektes mit den vollen Bäuchen bald um so schlaftrunkener wurden und, einer nach dem andern, schnaufend ins Stroh sanken, entschlossen, selbst beim heftigsten Luftangriff die Stellung zu halten. Ihre Standhaftigkeit wurde erfreulicherweise nicht auf die Probe gestellt. Zum ersten Male seit Wochen blieben die feindlichen Bomber aus. Sie schliefen ungestört bis in den späten Morgen hinein und waren noch beim Backen der Frühstückseierkuchen, als Schlumpe hereinplatzte: „Los! Raus! Auf den Bahnhof! Sonst kommt ihr nicht mehr mit! Wir hauen ab.“ Die Nervösen und Ängstlichen rafften kunterbunt ihr bißchen Kram zusammen. Wer sich nicht beeilte, war selbst schuld, wenn er zurückblieb und von den Russen geschnappt wurde. Sie wollten nicht noch einmal erleben, was sie zwischen Latschinowo und Marmyshi erlebt hatten. Liebedorn fuhr zur Türe hinaus, als wäre ihm der Schreck in die Därme gefahren. Racke packte seinen Rucksack. Vorschriftsmäßig, wie er ihn wohl schon tausendmal gepackt hatte. Die Vorschriftsmäßigkeit verbürgte beste Raumausnützung und griffbereite Ordnung, außerdem war sie die beste Hilfe gegen Vergeßlichkeit. Schepperl hatte nicht mehr viel Hab und Gut. Es war größtenteils in Latschinowo liegen geblieben. „A so a Viecherei!“ knurrte er verdrossen. „Do stinkta ma aba! Oiwai nix wia laffa!“
Liebedorn kam zurück, drei Flaschen Sekt unterm Arm. Er war ein Genie der Voraussehung. Schweigend wurden sie verstaut, jeder eine. Als sie auf den Bahnhof kamen, waren die andern nicht etwa auf der Flucht, sondern schon zum Dienst eingeteilt und keiner mehr zu sehen. Der Bahnhofsvorsteher hatte nicht viel Zeit für Rackes Fragen. Der Russe sei knapp nördlich Charkow, bei Dergatschi, durchgebrochen und auch schon im Osten, vor Osnowa, seien Panzer erschienen. Aber SS und ein paar ,Tiger' hätten ihn bereits am Kragen. Von einem allgemeinen Abrücken von Charkow könne also noch keine Rede sein. Lediglich der Räumungsstab mit dem Rest des Feldeisenbahnkommandos werde heute, vielleicht auch erst morgen nach Ljubotin übersiedeln. Um die Genehmigung dazu sei nachgesucht, aber noch keine Antwort gekommen. In Ljubotin sehe es betrieblich noch schlimmer aus. Nur wenn der mit allen Vollmachten ausgestattete Räumungsstab unmittelbar an Ort und Stelle selbst eingreife, bestehe Aussicht, überhaupt noch Züge wegzubringen. Noch schlimmer? Von Charkows Gleisanlagen war nichts mehr zu sehen. Sie waren unter Zügen, die Schlange standen, und unter tausend und abertausend teils leeren, teils noch beladenen Wagen aller Sorten begraben. „Das soll noch raus?“ fragte Racke ungläubig. „Muß“, war die Antwort. „Der Zulauf von Westen hat endlich aufgehört, wir können jetzt auf Heimat- und Frontgleis räumen.“ Ein Zug mit mindestens 120 Achsen zuckelte eben davon. Es war der dritte innerhalb einer Viertelstunde. Wenn das in diesem Tempo noch einige Tage und Nächte weiterging, war der Bahnhof tatsächlich leer. Es war begreiflich, daß Ljubotin einen solchen Zulauf nicht verarbeiten konnte, zudem Poltawa und Woroshba die Vorflut immer noch nicht genügend in Schwung gebracht hatten und außerdem der Verkehr in Richtung Woroshba infolge Brückensprengung schon wieder voraussichtlich 15 Stunden lahmgelegt war. „Na, Inspektor?“ klang es hinter Rackes Rücken und als er sich umgedreht und die ihm entgegengestreckte Hand gedrückt hatte, fuhr Dr. Dornberg fort: „Wenn Sie nah sind, kann Charkows Ende nicht mehr fern sein. Freut mich aber herzlich, daß Sie auch aus
der Kastornajaer Sauerei rausgekommen sind. Weiß schon alles von meinem Schlumpe.“ Der Pikobello stand hinter seinem Chef und grinste. Racke lachte. „Ja ich habe wieder verdammt Glück gehabt.“ „Mir aba aa,“ brummte Schepperl, der eben mit Liebedorn dazukam. Auch ihm streckte der Betriebsleiter heiter die Hand entgegen. Er erinnerte sich der beiden originellen Kerle gut von Minsk her, als er noch Betriebsleiter der blauen Reichsverkehrsdirektion gewesen war. „Wann kemma nacher wieda hin zu de unsa'n?“ fragte Schepperl in seiner üblichen rauhen Formlosigkeit, als hätte er Dornbergs Gedanken erraten. „Da Halden hot uns dös vasprocha.“ „Herr Oberrat Halden, Herr Major“, verbesserte Liebedorn Schepperls formlose Ausdrucksweise und kniff dabei, um auch Schepperls krummhaxig breitbeinige Haltung auszugleichen, sein ganzes Gestell von oben bis unten so steif wie möglich zusammen. „Wen der Barras mal hat, den läßt er nicht mehr los“, antwortete Dornberg. „Mir geht's ja genau so wie euch. So lang ihr k. v. seid, kommt ihr aus der feldgrauen Kluft nicht mehr raus.“ Dornbergs Besuch im Bahnhof galt der persönlichen Unterrichtung der Dienststellenleiter über die Lage. Sowohl im Norden wie im Osten Charkows sah es bedrohlich aus. Zwischen Dergatschi, Peresetschnaja und Maximowka trieben sich nach wie vor russische Panzer und andere motorisierte feindliche Grüppchen herum, denen nun haufenweise Partisanen zuströmten. Außerdem rückte der Iwan immer näher an Osnowa heran. Mit der Zerstörung der Bahnhöfe Besljudowka und Ternewoje konnte vielleicht nur noch Stunden gewartet werden. Was ostwärts des Lopan lag, war in Gefahr, abgeschnitten zu werden, Rogan, Losewo, Balatschewka wurden bereits unterminiert. Noch aber wurde über den Lopan herüber mit Hochdruck geräumt, obwohl die Brücke unter Artilleriebeschuß lag. Der Verschiebebahnhof Sortirowka mußte zweifellos ebenfalls in den nächsten 24 oder 48 Stunden aufgegeben werden. Überall waren die Ukrainer bis auf wenige ganz getreue weggelaufen, überall fehlte es an Personal. „Wenn ich irgendwo etwas nützen kann“, erbot sich Racke, „stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“
„Wollen Sie das wirklich? Sie könnten uns sogar einen ganz großen Dienst erweisen. In dem Bahnhöfchen Prikolokino zwischen Mochnatsch und Rogan stimmt etwas nicht. Telefonanrufe kommen nicht an oder es meldet sich eine angebliche Dolmetscherin und gibt die blödsinnigsten Antworten, faselt von einem schweren Unglück. Meine Kontrolleure stecken in Osnowa und auf der Strecke nach Maximowka. Die Bahnhofsbesatzung von Rogan steckt noch bis über die Ohren in der Räumung und behauptet, es wäre Selbstmord, in Richtung Mochnatsch aufklären zu wollen. Es müsse gut gehn, wenn sie selber noch den Russen entkommen wollten. Wenn Sie da einmal nachsehen würden? Räumungszüge müssen auch noch dort liegen.“ „Selbstverständlich mache ich das. Sie müssen mir nur eine schriftliche Bestätigung des Auftrages mit entsprechenden Vollmachten ausstellen.“ „Geschieht sofort. Nehmen Sie die beiden tüchtigen Fahrdienstbeamten hier mit. Ich werde über Oberstleutnant Plessen veranlassen, daß Sie mit dem Sprengkommando der Heerespioniere fahren können. Die haben einen geländegängigen gepanzerten LKW vom Iwan erbeutet, amerikanisches Fabrikat, und fahren ohne verstopfte Gleise den kürzesten Weg.“ Eine Viertelstunde später fuhren Racke, Schepperl und Liebedorn mit den Pionieren los. Es waren außer den Fahrern und Beifahrern ein Unteroffizier namens Gutknecht, ein Obergefreiter und 10 Mann. Die Hälfte war für Rogan, die andere Hälfte für Prikolokino bestimmt; Sprengkommandos für Losewo und Balatschewka waren bereits gesondert gefahren. Obgleich sich Liebedorn gegen äußere Einflüsse hinter der Panzerung des Fahrzeugs freundlich geborgen fühlte, zog es ihm jedesmal den Bauch und das friedliche Gemüt zusammen, wenn sein Auge auf die verdächtigen Kisten fiel, die längs der Wagenmitte zwischen den beiden Sitzreihen vor ihren Füßen standen. Sie konnten froh sein, einen geländegängigen Wagen und zudem mit wahren Elefantenkräften zu haben, auf den Straßen wäre gegen den Strom der von Norden und Osten kommenden Fahr- und Marschkolonnen kein Ankämpfen möglich gewesen. In Rogan war alles in Ordnung. Die letzten Züge waren abgegangen. Ein Schienen-LKW mit angehängtem Dienstwagen stand auf dem Überholgleis. Aus seinen Fenstern sah die
Bahnhofsbesatzung, auf den Befehl zum abfahren wartend. Nur die Telefone der Fahrdienstleitung waren noch besetzt. Der Bahnhofsvorsteher wußte immer noch nicht mehr über die Lage in Prikolokino, als Racke von Dornberg schon erfahren hatte. Der Mann schwor darauf, daß der Russe dort sitze. Auf ihre Telefonanrufe bekämen sie jetzt überhaupt keine Antwort mehr. Racke brach die Unterhaltung ab, es war keine Zeit zu verlieren. Die für Rogan bestimmten Pioniere waren, über die Bahnanlagen zerstreut, schon bei der Anbringung der Sprengladungen. Die andere Hälfte, bei der Unteroffizier Gutknecht geblieben war, rumpelte sofort weiter, als Racke wieder eingestiegen war. Sie fuhren nicht der Strecke und nicht der Straße nach, sondern möglichst viel Deckung suchend durchs Gelände. Gutknecht und Racke hatten ständig das Glas vor den Augen, ohne eine Spur vom Gegner entdecken zu können. Einheimische, meist Frauen und Kinder, die in ihrem Gesichtsfeld auftauchten, zeigten kein außergewöhnliches Gebahren. So kamen sie unbehelligt bis vor die ersten Häuser des weitverstreuten Ortes. Gutknecht ließ in einem leeren Schuppen parken, dessen Rückwand zerfallen oder für Brennzwecke ausgeholzt war. Die Fahrer blieben beim Wagen, die anderen gingen im Schützenrudel gegen den Ortsrand vor. Kein Schuß fiel, die Kinder, die herbeiliefen, die paar Frauen und Männer, die zwischen den Katen und unter sich öffnenden Türen zu sehen waren, starrten verwundert auf die Deutschen, die sich so kriegerisch benahmen. Rote Soldaten in Prikolokino? „Nje! Nje!“ versicherten sie lebhaft. „Aber im Bahnhof?“ Auch davon wußten sie nichts. „Ich werde nachsehen“, sagte Racke. „Alloa net“, knurrte Schepperl. „I geh mit.“ Dem zögernden, nervös mit der Nase wippenden Sigi warf er einen abweisenden Blick zu: „Di kenn' ma net braucha.“ Liebedorn verzichtete darauf, sich gegen dieses absprechende Urteil über seine soldatischen Triebe und Fähigkeiten aufzulehnen. „Von uns geht auch einer mit“, sagte Gutknecht. Er gab dem Obergefreiten Buhn einen Wink. Die drei umgingen die Ortsmitte, um sich dem Bahnhof von Osten zu nähern. Sie kamen an einem Gefangenenlager vorbei.
Das Tor stand offen. Selbstverständlich, es war sicher längst geräumt. Racke beschloß, die unerwartete günstige Gelegenheit wahrzunehmen und vom Wachturm Umschau zu halten. Buhn ließ er am Eingang, Schepperl am Fuße des Turmes zurück. Gleich darauf fuhren ihre Köpfe und Waffen nach der kleinen Baracke neben dem Tore herum. Dort war die Türe aufgegangen und ein schnittiges Kerlchen in der Uniform der Honveds kam die fünf Stufen der Holztreppe herunter. Er lachte und rief ihnen etwas zu, was sie nicht verstanden. Sie gingen zu ihm hin und er schüttelte allen dreien die Hand. Was er denn hier noch tue? fragte ihn Racke. Halb ungarisch, halb österreichisch machte ihm der Soldat klar, daß doch einer da sein müsse, des Telefons wegen. Ob denn das Lager noch belegt sei? Ja, aber nicht mehr stark. Nur noch hundert Gefangene, früher seien es zweitausend gewesen. Wo sich die Gefangenen befänden? „Stationschef lassen kommen“, sagte der Ungar. „Arbeiten an Strecke, wo kaputt.“ Er zeigte in der Frontrichtung der Bahnlinie. „Ist das weit?“ fragte Racke. „Kleine Stunde marschieren.“ Wo seine Kameraden jetzt seien? „Überall sind. In Ort hier, in Ort dort. Auf Sowchose. Vielleicht auch einer oder zwei bewachen Gefangene.“ Ob sie nicht befürchteten, daß ihnen die Gefangenen davonliefen? „Nem, nem - nein! Nix laufen. Immer haben essen Schwein und Brot von Sowchose. Haben essen Kartoffel, haben trinken Wodka.“ Racke, Schepperl und Buhn sahen sich kopfschüttelnd an. War denn dieses Kaff verhext? Wo der Kommandant sei? fragte Racke. „Rittmeister Gazda“, lachte der junge ungarische Landser, „spielen Karten mit k. u. k. Rittmeister Sowchosechef. Und trinken Konyak und auch singen.“ „Wieso singen?“ fragte Buhn, der nun auch lachen mußte. „Immer singen auf Sowchose!“ antwortete sein HonvedKamerad. „Russen singen, Bauern und Gefangene. Ungarn singen. Weil k. u. k. Rittmeister liebt serr Gesang. Immerr weint, wenn singen, lacht und weint.“
Was mußte dieses Staatsgut für eine weltabgeschiedene Idylle sein! Wo es denn liege? fragte Racke. Der Honved wies mit der Hand nach Nordwesten: „Nur kleine Viertelstunde.“ Trotz all dieser friedlichen Eindrücke traute Racke dem Frieden nicht, er kletterte auf den Turm. Der Ausblick war umfassend. Über ein paar Dächer hinweg lag der Bahnhof im Fernglas dicht vor seinen Füßen. Eine lange Wagenschlange ohne Lok stand auf dem einzigen Abstellgleis, sonst schien das Bahngelände völlig verlassen. Und eben dieser Anschein des Verlassenseins bestärkte Racke wieder in seinem Verdacht, daß es da nicht mit rechten Dingen zuging. Vielleicht hätte ihm ein Blick auf die Arbeitsstelle in Feindrichtung Aufschluß geben können, aber er konnte sie nicht entdecken. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er eilte in einem Tempo die steile Zickzacktreppe hinunter, als wäre es sein Ehrgeiz, sich das Genick zu brechen, packte den Ungarn am Arm: „Kannst du mich mit dem Bahnhof verbinden?“ Natürlich konnte er das. Der Stationschef hatte immer telefoniert, wenn er Arbeitskräfte gebraucht hatte, zum Verladen oder Ausladen, zum Schneeschaufeln. „Sepp! Rauf auf den Turm! Du auch, Buhn!“ rief Racke seinen Gefährten zu. „Was aus dem Bahnhof türmt, unter Feuer nehmen! Einen oder zwei brauchen wir aber lebend, um sie ausfragen zu können!“ Schepperl und Buhn dachten wunder was er gesehen hatte und gehorchten eilig. Racke zog den Ungarn in die Baracke, sah ungeduldig zu, wie er die Verbindung zusammenbrachte, dann nahm er ihm den Hörer aus der Hand. Er hörte Geräusch am anderen Ende der Strippe, aber es meldete sich niemand. „Halloh!“ brüllte er in die Sprechmuschel. „Ist denn keiner da, zum Donnerwetter!“ Alles blieb still, aber er hätte darauf geschworen, daß da drüben jemand war. Er glaubte, den Atem zu hören. „Melden Sie sich doch!“ brüllte er weiter. Und jetzt sagte eine unsichere weibliche Stimme: „Bahnhof Prikolokino.“ „Seit wann ist der Bahnhof ein Weibsbild?“ schrie Racke. „Den Vorsteher will ich!“ „Vorsteher nicht ist“, kam es nach einer kleinen Pause schüchtern zurück. „Ich Dolmetscher.“
„Nicht ist! Nicht ist! Den ganzen Tag nicht ist!“ brüllte Racke. „Wo ist denn der Kerl? Richten Sie ihm aus, der Iwan bereite einen Anschlag auf den Bahnhof vor. Hören Sie? Ja? Die Besatzung soll nicht weglaufen, sondern aushalten! Motorisierte SS ist bereits unterwegs. In längstens einer Viertelstunde ist sie dort! Halloh! Haben Sie alles verstanden? Ja? Gut - Schluß.“ Racke knallte den Hörer in den Haken, rief dem Honved zu, der Mund und Nase aufgesperrt hatte: „Alles nur Scherz, Kamerad!“ und rannte hinaus, winkte zu den beiden auf den Turm hinauf und lief, sich hinter Schuppen, Katen, Gerumpel- und Schneewällen deckend, so geradeaus wie möglich dem Bahnkörper zu. Er hatte ihn noch nicht erreicht, da fielen Schüsse vom Turm - er hatte also richtig getippt. Er empfand Freude und Sorge zugleich. Das Feuer wurde nicht erwidert und brach nach wenigen Schüssen ab. Racke lief zu einer Stelle, von der aus er den Wachturm sehen konnte. Schepperl und Buhn turnten schon nach unten, sie hatten also kein Ziel mehr. Ohne sich noch zu decken, lief Racke auf den Bahnkörper. Er sah drei Männer liegen, zwei Zivilisten und - verflucht nochmal! sie hatten einen Feldeisenbahner umgelegt. Dagegen war kein russischer Soldat zu sehen. Und wo war die Frau? Racke zog vorsichtshalber die Pistole, als er näher ging. Der eine der Zivilisten lag zusammengekrümmt und wimmerte. Vielleicht war das die Frau. Vielleicht hatte sie Männerkleidung an. Der andere saß aufgerichtet, die Hände erhoben, und rief: „Nix schießen! Gutt Arbeiter Eisenbahn!“ Racke beugte sich über den Feldeisenbahner, hob seinen Kopf hoch, er sank leblos wieder herab. Er riß dem Mann Mantel und Feldbluse auf, eine andere Farbe kam zum Vorschein: Die Uniform eines russischen Bahnbeamten. Er hatte einen Herzschuß bekommen. Der gutt Arbeiter Eisenbahn, ein bärtiger Kerl, hob immer noch die Hände über den Kopf. „Nimm die Hände herunter“, sagte Racke. „Sind noch mehr von euch im Bahnhof?“ „Nein, Err Offizier.“ „Wie heißt du?“ „Jozef.“ „Wo hast du gearbeitet? Hier?“ „Nje. Tschutschujew.“
„Dort sind jetzt die Roten?“ „Da, da. Sind.“ „Wie kommst du hierher?“ „Müssen mit - oh, oh schräklich gross Schmerz! Schräklich gross Durst.“ Eine Kugel hatte ihm das rechte Schienbein zertrümmert. Schepperl und Buhn kamen angestürmt. Racke fragte Jozef: „Wo ist die Frau?“ „Panienka Partisan laufen mit Jozef. Krachen Schuß, mich schlagen um, wieder schauen - Panienka fort.“ „Wie sieht sie aus? Groß? Klein? Was hat sie für Haare? Was hat sie an?“ Der Russe antwortete: „Nicht ist gross, nicht ist klein. Nicht hat Haare, hat Tuch um Kopf. Stiefel hat von Kosak, langer Mantel hat von klein Schaf.“ Buhn, der mit Schepperl inzwischen dazugekommen war, sagte: „Die ist durch die Lappen, aber ich habe ihr bestimmt eine verpaßt.“ „Wir müßten sie suchen, sie ist gefährlich“, sagte Racke. „Geh weita! Lass' 's Mensch laffa! Findst 's eh net“, brummte Schepperl, es lag ihm nicht viel an anstrengenden Spaziergängen. Das wäre für Racke nicht ausschlaggebend gewesen, aber er hatte keine Zeit, er mußte Jozef ausfragen. Zunächst kümmerte er sich um den anderen Russen, der vor Schmerzen Schaum auf den Lippen hatte. Unter seinen Zivillumpen trug er Uniform, es war ein russischer Soldat. Er hatte zwei Bauchschüsse und war nicht imstande zu sprechen. Jetzt lief auch Gutknecht mit zwei Pionieren an. Sie hatten sofort, als die Schüsse fielen, zum Bahnhof vorgefühlt. Er hatte auch schon einen Melder zurückgeschickt, um den LKW zu holen. Sie trugen die beiden Verwundeten zum Empfangsgebäude. Der Soldat starb, noch ehe sie es erreicht hatten. Jozef wurde verbunden. Er beantwortete alle Fragen willig und zweifelsohne wahrheitsgetreu. Was er erzählte, ergab folgendes Bild der Lage und des Planes der Russen: Die im Räume Tschutschujew-Modinatsch kämpfenden roten Truppen rannten seit Tagen vergeblich gegen die eingeigelte deutsche Kampfgruppe an. Andererseits hatte der Gegner Kenntnis von der Räumung der Bahnhöfe in Richtung Charkow und von der Vorbereitung der Sprengung der Lopan-Übergänge.
Bekam er jedoch die Strecke über Rogan-Losewo und auch nur einen oder zwei Züge auf ihr unzerstört in die Hand, so konnte er mit dem Gelingen einer überraschenden Besetzung der LopanBrücke rechnen. Dann mußte Charkow in ganz kurzer Zeit fast kampflos fallen und die Beute an deutschen Heeresgütern und Heereseinrichtungen würde unermeßlich sein. Unter Leitung eingeflogener russischer Bahnbeamter hatte man die Bevölkerung von weit und breit an die Bahnlinie geworfen und sie bis Mochnatsch wiederhergestellt. Dann war folgendes geschehen: Man erweckte den Anschein, als hätte man es zunächst auf Besljudowka abgesehen, drängte jedoch in unvermutetem und mit weit überlegenen Kräften durchgeführtem Angriff die deutsche Verteidigung beiderseits von der nach Norden abzweigenden Roganer Strecke ab, trieb die Arbeitskräfte auch zu ihrer Wiederinstandsetzung vor und schickte eine Handvoll Partisanen, zivil getarnte Soldaten und ein paar in deutsche Uniformen gesteckte russische Eisenbahner zum Bahnhof Prikolokino. Die Ankommenden wurden für eigene Arbeitskräfte gehalten und brachten daher selbstverständlich den kleinen Bahnhof mit seinen wenigen Eisenbahnern und die beiden gerade dort stehenden Räumungszüge mit ihrem Personal so kampflos still in ihre Hand, daß die Ortsbewohner ahnungslos blieben. Die deutschen Eisenbahner wurden mit den beiden Zügen sofort in Richtung Mochnatsch abgefahren und der nunmehrige russische Bahnhofsvorsteher besaß sogar die Frechheit, die Gefangenen zur Hilfeleistung anzufordern und von ihrer ungarischen Bewachung an den zerstörten Streckenteil führen zu lassen. Wäre der Plan gelungen, so wären schon nach Stunden, die ahnungslosen Deutschen in Rogan und Losewo überrumpelnd, Züge mit roten Truppen über die Lopan-Brücke bis nach Charkow hineingefahren. Damit wars nun allerdings vorbei. Eine heiße Welle der Freude rann über Rackes Herz. Er griff zum Telefon. Der russische Beamte hatte es klugerweise nicht zerstören lassen: Es übermittelte ihm ja, was auf der deutschen Seite geschah oder beabsichtigt war. Während Racke Rogan und Losewo unterrichtete, hörte er draußen den gepanzerten LKW der Pioniere anbrummen. Erhobenen Hauptes kam Liebedorn herein. Er war ein wenig betrübt, weil Racke dieser erhebenden Tatsache keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien. Racke
erreichte die Oberzugleitung in Charkow und bat den Oberlokführer um eine Lok für den Zug auf dem Abstellgleis. Sie hätten keine, hieß es. Racke gab sich nicht zufrieden, er drang nach vielem Hin und Her bis zu Oberrat Brandner vor, der sie ihm zusagte: „Sie bekommen eine Lok, Racke, und wenn ich sie Ihnen selber bringen muß.“ Auch mit dem Räumungsstab ließ sich Racke verbinden. Oberstleutnant Plessen kam selbst an den Apparat. „Gut“, sagte er nach Rackes knappem Bericht, „versucht, die Züge zurückzuholen. Es sind Wagen mit MG 42 und mit Nebelwerfern dabei. Ich werde mit euerem Betriebsleiter dafür sorgen, daß die Bahnhöfe intakt bleiben und vor allem die Lopan-brücke, bis ihr durch seid. Nun geben Sie mir noch den Führer der Pioniere, ich werde ihm persönlich sagen, daß er Sie mit allen Mitteln zu unterstützen hat.“ Gutknecht hatte kaum den Hörer am Ohr, da hörte man draußen wildes Geschrei, fremde Laute und Getrappel vieler Hufe. „Herr Oberstleutnant, wir werden angegriffen!“ rief er in den Apparat und warf den Hörer auf die Gabel, griff nach der MP. Rackes Gesicht verzog sich schmerzlich. Nun war's mit allem vorbei, voraussichtlich auch mit ihnen selbst. Liebedorns Nase schien noch einen Zoll länger zu werden, seine mädchenhaft blauen Augen wurden starr vor Angst und Kummer und das hocherhobene Haupt senkte sich wieder. Schepperl schnaufte und raunzte: „Bluatsau, des is ma aba z'wida.“ Er packte wütend seinen Karabiner. Warum rührten sich die Pioniere draußen nicht? Sie sprangen an die Fenster, rissen die Türe auf. Der Schreck fiel von ihnen ab. Gutknecht lachte befreit auf, alle riefen freudig durcheinander. Nur Liebedorn hielt sich noch vorsichtig im Hintergrund. Die andern stürmten hinaus und begrüßten die Reiter, zwanzig mochten es sein, und den Rittmeister an ihrer Spitze. Ungarn! Zugleich fuhr mit Schellengeklingel und Peitschengeknall ein dreispänniger Schlitten vor. Ein feldgrauer Offizier stieg aus, ein Hüne mit grauem Kaiser Franz Josef-Bart, die Schulterstücke von einem Pelzkragen verdeckt. Er war deutlich vom Alkohol beschwingt, ohne betrunken zu sein. Nicht nur er. Auch all die Ungarn. „Um Gott'swill'n, was macht ihr hier für Krieg?“ donnerte der Graubart durch den allgemeinen fröhlichen Lärm. „Wo ist der General in der blauen Uniform?“
Dröhnend lachte er, als sich Racke vorstellte. „Ja do schau her. An Inspektor von der Reichsbahn! Und der dumme Jaros am Telefon alarmiert die Sowchose und erzählt die tollsten Geschichten!“ Eisenbahner und Pioniere glaubten zu träumen. War das denn möglich? Ein solch friedlicher Zauber? Hatten denn diese Rittmeister, die ganze Sowchose, das ganze Gefangenenlager, dieses ganze Nest keine Ahnung davon, daß sie auf einem Pulverfaß saßen? Die beiden Rittmeister, der ungarische auf seinem tänzelnden Rappen und der österreichische vor der Troika, wollten sich ausschütten vor Lachen. Sie stellten sich vor und drückten Racke die Hand, dann Gutknecht und Liebedorn, der sich erneut zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, und Schepperl, der seine Kürze durch Betonung seiner Breite wettzumachen suchte. „Da kommt's gleich mit und seid's meine Gast'. I Schlacht' a Schweinderl und hab a ungarischs Weinderl. Oder wann's euch Göckerln lieber sind? Könnt'r sing'n?“ Franz Ferdinand Grinzelsbergler, Gutsbesitzer zwischen Preßburg und Wien und k. u. k. Rittmeister a. D., landwirtschaftlicher Sonderführer mit dem bescheidenen Rang eines Kreislandwirts, Verwalter der Sowchose, die er auf Pferdezucht umgestellt hatte, und sein Herzensbruder, der Honved-Rittmeister Gazda, hatten anfänglich gar keine Lust zu glauben, daß die Roten vor den Toren ihres Paradieses standen, daß sie sogar schon die guten Leutln vom Bahnhof und die Gefangenen mitgenommen hatten. Sein Wirtschaftskommando habe erst vor acht Tagen noch versichert, erzählte Grinzelsbergler ganz verstört, daß die Front vor Charkow nicht wanken und nicht weichen werde. Und jetzt sollte er plötzlich fort? Hundert Pferdln im Stich lassen? Die Schweinderln und das ganze Rindvieh und Geflügel? Scheunen voll Futtermittel und Korn, Keller voll Eier und Fett? Und den Ungarwein? Und die lieben Schmankerln, die jungen, mit ihren Zuckergoscherln? Racke hatte keine Zeit, auf die Betrübnis des Sowchosevaters einzugehen. Wenn er sofort räume, riet er ihm, brauche er vielleicht nicht viel zurücklassen. Wahrscheinlich sei jetzt noch ein Treck nach Westen durchzubringen. Vielleicht könne auch in den Zügen dies und das mitgenommen werden. Er möge gleich alles in die Wege leiten.
Trotz heftigen Sträubens blieb den beiden Rittmeistern schließlich doch nichts übrig, als sich mit der Lage abzufinden. Racke und Gutknecht berieten mit ihnen, wie die Züge, die deutschen Eisenbahner und die Gefangenen am besten zurückgeholt werden könnten. Grinzelsbergler sagte, das sei spielend einfach. Er fahre mit und wenn die Gefangenen ihn sähen, kämen sie von selber angelaufen. „So spielend einfach wird das nicht sein“, warnte Racke, obwohl nach Jozefs Aussage nur gegen wenige Partisanen und Soldaten zu kämpfen war. „Wir müssen auf jeden Fall überraschend angreifen, damit unsere Eisenbahner nicht erst umgebracht oder die Lokomotiven zerstört werden können. Ich schlage vor: Sie reiten mit Ihren Soldaten links der Bahn und zwar so, daß Sie nicht schon von weitem gesehen oder gehört werden, bis auf die Höhe der Arbeitsstelle und legen sich dort in den Hinterhalt. Ich fahre mit den Pionieren ebenfalls mit dem nötigen Abstand rechts der Bahn. Wir überholen die Arbeitsstelle und rollen dann aus Richtung Mochnatsch an. So verhüten wir, daß die Eisenbahner und Gefangenen zum Iwan getrieben werden. Ihre Abteilung, Herr Rittmeister Gadza, prescht, sobald wir rote Leuchtsterne schießen, gegen die Züge und verhindert, daß die Roten dort erst noch Unheil anrichten. Während Grinzelsbergler mit seiner Sowchose telefonierte, luden die Pioniere die Kisten mit den Minen und anderen Sprengkörpern aus dem LKW und stellten sie in einen Splittergraben neben dem Bahnhofsgebäude. Einer von ihnen bewachte sie. Liebedorn mußte mit Jozef im Fahrdienstraum bleiben. Wenn der Iwan anrief, vielleicht von der Arbeitsstelle oder sonstwoher, sollte Jozef beruhigende Auskunft geben: Es sei alles in Ordnung, die Deutschen hätten noch gar keinen Verdacht geschöpft. Die Ungarn ritten fröhlich ab, mitten zwischen ihnen mit Schellengeklingel der Schlitten des k. u. k. Rittmeisters a. D. und Racke und Schepperl kletterten auf den Stahl-LKW. Mit tiefem Baßgebrumm fuhren sie los. Der Himmel war klar geworden. Er leuchtete in dem sanften Hellblau, das nur der Winter kennt. Wieder suchten Racke und Gutknecht mit den Gläsern unablässig nach allen Seiten die Gegend ab und sorgten dafür, daß der Ausblick auf den Bahnkörper nie für längere Zeit verloren ging. Nach zehn Minuten
Fahrzeit entdeckten sie in der Ferne die beiden Züge und ein kurzes Stück weiter die Arbeitsstelle. Hunderte von Menschen bewegten sich dort. Die Entfernung vom Bahnhof Prikolokino mochte drei bis vier Kilometer betragen. Um unentdeckt vorbeizukommen, mußte der LKW nach kurzer Zeit noch einen größeren Abstand vom Bahnkörper nehmen. Racke ließ zuvor halten; er stieg mit Schepperl aus. Er hielt es für zweckmäßig, sich mit ihm von hier aus an die Züge heranzupirschen, um aus möglichster Nähe sofort eingreifen zu können, wenn unvorhergesehene Umstände andere als die vereinbarten Maßnahmen erforderlich machten. In Deckung der buschbewachsenen Uferböschung eines Bachlaufs und vieler Unebenheiten des Geländes gelangten die zwei bis auf etwa hundert Meter an den Bahnkörper heran, gegenüber der Lok des in Richtung Prikolokino vorderen Zuges. Vor der Lok saßen zwei Feldgraue, sicher der Lokführer und sein Heizer, am Rande des Bahnkörpers in der Sonne, hinter ihnen, in der offenen Loktüre ein Zivilist. Er hatte eine russische Soldatenmütze auf und ein Gewehr zwischen den Knien. Bei der anderen Zuglok war kein Personal zu sehen und kein Wächter. Über Führerstanddach und Tenderanfang war eine Plane gehängt. Die Arbeitsstelle, 800 Meter entfernt, war nun im Glase so nahe gerückt, daß man die Arbeitenden, in der Hauptsache Frauen und unter ihnen die Gefangenen, deutlich unterscheiden konnte. Schwieriger war es in dem Durcheinander die Partisanen und etwaigen russischen Soldaten zu unterscheiden. Immerhin erkannte Racke eine kleine Anzahl von Leuten mit Gewehren. „I leg'n glei um“, sagte Schepperl. Racke wußte, wen er meinte. Er dachte, bei der großen Entfernung und ihrem eigenen Lärm wird an der Arbeitsstelle der Schuß nicht gehört und er würde auch bei der über 400 Meter entfernten zweiten Lok kaum noch auffallen. Er nickte. Schepperl riß das Gewehr an die Backe. Es krachte. Der Russe drüben kippte nach vorne und stürzte an der Loktreppe herunter. Sie hörten das Gewehr poltern. Die beiden Eisenbahner am Bahnkörper fuhren im gleichen Augenblick nach der Lok herum, starrten auf den Erschossenen, sprangen auf und enterten über ihn weg die Loktreppe hinauf, verschwanden. Racke und Schepperl brachten die ziemlich offenen hundert Meter bis zum Bahnkörper teils kriechend, teils auf allen Vieren
laufend, so rasch wie möglich hinter sich. Erst als sie, dicht ans Triebwerk gedrückt, zum Lokfenster hinaufriefen, erschienen dort die beiden Gesichter der Verschwundenen. Sie waren trotz des Rußes blaß und erschrocken. „Wenns euch wieder besser ist, fahrt nach Prikolokino zurück“, sage Racke halblaut lachend. Erst nach einer kleinen Weile hatte sich der eine oben soweit gefaßt, daß er herausstottern konnte: „Ihr kommt wohl vom Mond? Priko hat doch der Russe geschnappt.“ „Hatte“, antwortete Racke. „Jetzt haben wir es wieder.“ Er unterrichtete sie mit wenigen Worten über das, was sich wahrscheinlich in der nächsten Viertelstunde ereignen würde. Sie hatten inzwischen den Schrecken überstanden. Ob sie mitkommen sollten? Nein. Viel wichtiger sei, daß sie so rasch wie möglich für genügend Kesseldruck sorgten, um hier wegzukommen. Aber was mit den Kollegen der anderen Lok los sei? Das wußten sie nicht. Racke und Schepperl krochen unter dem ganzen Zuge durch. Jeden halben Meter begleitete ein Schepperlscher Kraftausdruck, natürlich nur Zimmerlautstärke. Unter dem letzten Wagen vor beobachteten sie die Lok des zweiten Zuges, die nur eine Wagenlänge entfernt stand. Es war wirklich eine große Plane über den Führerstand geworfen. Sie sahen niemand, aber sie hörten Stimmen: deutsche und russische Ausrufe, ärgerliche und fröhliche in regellosem Wechsel. Vorsichtig pirschten sie sich an. Schepperl von der einen, Racke von der anderen Seite. Während Schepperl am Fuße der Loktreppe stehen blieb, stieg Racke gegenüber im Zeitlupentempo und wie auf Katzenpfoten hinauf. Noch ehe er den Kopf unter der Plane durch hochgeschoben hatte, wußte er, was er sehen würde, dann hatte er die Augen über den Rand des Türchens und sah es wirklich, denn eine Petroleumlampe gab mattes Licht in der mollig warmen Behelfsstube. In die rechte Ecke neben der Feuerklappe gedrückt, saß der Lokführer auf einem niedrigen Holzschemel, in der linken der Heizer auf einem Sack und beiden gegenüber mit dem Rücken zum Tender ein Iwan einfach auf dem Holzbelag im Türkensitz. Sein kurzläufiges automatisches Gewehr lag hinter ihm. Vor jedem der drei war ein Häufchen Geldscheine und Geldstücke, Zigaretten, Tabak und verschiedene Gegenstände wie
Zündhölzer, Feuerzeug, Kerzen, Seife gestapelt. Die drei würfelten. Neben dem Iwan lag ein offener Brotbeutel. Er enthielt Sonnenblumenkerne. Ohne hinzusehen, warf sich der freundlich aussehende Soldat, immer nur die linke Hand benutzend, mit Affengeschwindigkeit Kern auf Kern zwischen die Zähne und spuckte fast im gleichen Augenblick auch schon die Schalen aus. Sie flitzten immer aus dem linken Mundwinkel und, auch ohne daß er hinsah, alle auf die gleiche Stelle, wo sie ein größer und größer werdendes Häufchen bildeten. Als Racke die Tür aufriß, drehte sich der Iwan so gemächlich nach ihm um, wie das einer tut, der sich, fern jeder Besorgnis, nicht in einer angenehmen Beschäftigung stören lassen will. „Nitschewo, Towarischtschi“, sagte Racke freundlich und stand schon mit einem Fuß auf dem Schnellfeuergewehr. „Bleib ruhig sitzen“, fuhr er fort und verdolmetschte diese Worte durch Handbewegung. Dann sagte er zu den Loklandsern, die Gesichter machten, als hielten sie ihn und Schepperl, der eben auf der anderen Seite auftauchte, für einen Spuk: „Es tut mir leid, daß ich stören muß. Es geht weiter, meine Herren, wir fahren jetzt nach Charkow, also Feuer schüren, Bläser auf! Eueren Wachmann nehmt ihr mit, aber paßt auf, daß er keine Dummheiten macht.“ Der Lokführer und der Heizer rührten sich nicht. Sie sahen immer noch drein, als hielten sie das ganze für einen Aprilscherz. „Geht's weita!“ knurrte sie Schepperl an, der inzwischen auch in die gute Stube eingetreten war. „Seid's net so lahmarschat! Auf geht's!“ Vielleicht hätte er noch einige ermunternde Kraftsprüche hinzugefügt, wenn es nicht eben von der Baustelle her Lärm gegeben hätte. Er folgte, rasch das Schnellfeuergewehr an sich nehmend, Rackes Beispiel und hangelte sich hinunter, rannte dicht am Zuge lang hinter Racke her. Aus einem Geländeeinschnitt vor preschten in gestrecktem Galopp und mit wildem Geschrei die Honveds an. Es sah aus, als wollten sie unter den Gefangenen und Zivilisten ein Blutbad anrichten! Diese Esel! Oder hatte Gutknecht schon die Leuchtsterne geschossen? Von dem LKW war nichts zu sehen und bei dem jetzigen Krach natürlich auch nichts zu hören.
Die Arbeiter warfen ihre Werkzeuge weg und mindestens die Hälfte der Gefangenen und Zivilisten lief auf der anderen Seite des Bahnkörpers ins Gelände hinein, die anderen blieben stehen und hoben die Arme hoch. Zugleich aber sah Racke, daß sich einige Männer mit Gewehren hinter die Böschung warfen. Für seine Maschinenpistole waren 100 Meter zu weit. Er hätte Gefangene und Frauen getroffen. Und auch Schepperl konnte nicht zum Schuß kommen, weil zwischen ihm und dem niederzukämpfenden Gegner ein ständiges Hin und Her der Zivilisten war. Inzwischen waren die Ungarn bis auf wenige Galoppsprünge heran, ohne daß ein Schuß gefallen war, parierten die Pferde. Grinzelsberglers Schlitten tauchte zwischen ihnen auf. Der Riese mit dem Gemüt eines guten Kindes stand aufrecht in ihm, beide Hände vor den Mund erhoben. Auch Racke und Schepperl waren inzwischen näher gekommen, hörten ihn lachen und rufen: „Ja wos is denn, Freinderln? Ja, wos lauft's davon? Wos fürcht's ihr euch denn? Mir tun euch doch nix! Gor nix! Beiläufig a bissel arbeiten und a paar Schweinderln schlach - - “ Ein Gewehr krachte. Der gewaltige Mann schwankte, versuchte noch, sich auf den Beinen zu halten, dann schlug er steif wie ein Brett seitwärts über den Schlitten hinaus. Im gleichen Augenblick fielen noch mehr Schüsse. Ein Ungar stürzte aus dem Sattel, Pferde schienen getroffen zu sein, stiegen und setzten mit wilden Sprüngen, nach allen Seiten ausschlagend, unter die Gefangenen und Zivilisten, andere rasten mit ihren Reitern davon, zwei, drei brachen zusammen, ihre Reiter aus den Sätteln schleudernd oder unter sich begrabend. Racke warf sich nieder, schnellte sich über den Rand des Bahnkörpers, dachte: Das ist das Ende. Wenn nun die Gefangenen noch meutern - Schepperl lag schneller neben ihm, als man ihm zugetraut hätte. Bisher schien niemand auf sie aufmerksam geworden zu sein. „Do ziag'n ma den Kürza'n“, flüsterte Schepperl heiser. „Hau ma ab, eh's uns dawisch'n!“ Doch schon fiel kein Schuß mehr. Der Tumult legte sich erstaunlich rasch. Die noch im Sattel sitzenden Reiter sprangen ab, der Schlitten verschwand hinter ihren Pferden und einem Wall von Menschen. Racke erhob sich und ging darauf los. Schepperl
folgte langsam und mißtrauisch, schußbereit. Sein Mißtrauen war unbegründet, die Schützen von eben lagen erschlagen an der Böschung. Das mußten die Gefangenen getan haben. Oder die Frauen. Die Mauer der Menschen öffnete sich vor Racke einen Spalt weit. Da lag neben dem Schlitten auf ein paar Mäntel gebettet, der k. u. k. Rittmeister a. D. Kreislandwirt Grinzelsbergler. An seiner Seite kauerte Rittmeister Gazda, hielt den Kopf des Freundes in den Armen. Auf Grinzelsberglers Brust war die Kleidung geöffnet bis auf die Haut. Dicht über dem Herzen war ein kinderfaustgroßes Loch mit zerfetzten Rändern. Der Kutscher, dessen Gesicht nur aus Bart zu bestehen schien, kniete auf der anderen Seite; er drückte jetzt ein großes Verbandspäckchen, das ihm gereicht worden war, auf die furchtbare Wunde. Die gelbe Blässe des nahenden Todes und tausend Schweißperlen bedeckten Grinzelsberglers schmerzverzogenes Gesicht. Er stöhnte matt und riß in heftigen Atemzügen Luft in den offenen Mund. Dem jungen Honved-Rittmeister liefen die Tränen über die Wangen und mit tränenerstickter Stimme sprach er leise zu dem Sterbenden. „O Bruderrherrz, was willst sterrben, wo Leben ist so schön! Sag, daß nich warr ist. Daß du bleibst bei Frreund. Daß wirr feiern Sieg in scheene Ungarrland.“ Racke sagte: „Wäre es nicht richtiger, Herr Rittmeister, wir führten ihn so rasch wie möglich im Schlitten zurück. Vielleicht erreichen wir rechtzeitig einen Arzt.“ Gazda gab keine Antwort, er hob nicht einmal den Kopf. Der Kutscher winkte Rackes Ohr zu sich herunter, sagte leise hinein in einem Deutsch, das kaum einen Akzent erkennen ließ: „Er wird nur noch wenige Minuten leben. In seiner Brust ist außer dem Herzen alles zerrissen. Er stirbt sofort, wenn wir ihn nur in den Schlitten heben, und würde gräßliche Schmerzen leiden.“ Racke starrte forschend in den wilden Bart des Mannes, sah eine feine Nase, zwei dunkle, kluge Augen. „Woher weißt du das?“ „Ich - war Arzt. In Charkow.“ Racke verstand; einen Augenblick ruhte sein Blick in des anderen Auge. Man hörte Frauen schluchzen, Gebete murmeln. Der Sterbende schlug die Augen auf. Die Lippen bewegten sich. Gazda brachte sein Ohr ganz nahe, dann sah er auf und sagte:
„Ihr sollt nicht plärren, und beten sollt ihr, wenn ihr ihn ins Grab legt. Jetzt sollt ihr ihm ein Lied singen.“ Eine Frauenstimme begann, hoch und hell. Eine Männerstimme gesellte sich ihr, tief und dunkel. Ein Summen lief durch die Reihen, wie wenn Bienen in einer blühenden Linde schwärmen. Rauschen erhob sich aus geschlossenen Lippen, wie Wasser über Fälle rauscht. Dann öffneten sich die Münder weit und der Schrei der Seelen brach zum Himmel. Glockentöne schwangen auf und nieder. Eine Orgel brauste, wie der Wind durch die Wälder braust, donnerte, wie tausend Hufe über die sonnenharte Erde der Steppe donnern. Die Melodie schlang sich durch alle Höhen und Tiefen menschlicher Stimmen, durch Lust und Schmerz, Glauben und Verzweiflung, Sanftmut und Leidenschaft menschlicher Herzen. Der Gesang wuchs zum Orkan, als wollte der Chor der Männer und Frauen den Thron Gottes stürmen, und er sank wieder zarter und weicher werdend, Stufe um Stufe zurück in seinen Anfang, in sanftes Glockenläuten und Bienensummen und verklang in einem letzten süßen, himmelhohen Ton. Racke stand gebeugt wie unter einer Last, die Hände zu Fäusten gekrampft. Er hätte am liebsten das Gesicht in den zerstampften Schnee gepreßt. Er hörte Schluchzen, er sah, wie liebevoll der Kutscher seinem Herrn, der gewiß sein Retter gewesen war, die Augen zudrückte. Das Übermaß seines Empfindens schüttelte ihn und Tränen sprangen aus seinen Augen. Er hob den Arm vor das Gesicht, wandte sich um, drückte sich durch die Mauer der Menschen hindurch. Sein Blick fiel auf Schepperl. Der saß neben einem der erschlagenen Roten und strich ihm über die Stirne. Frauen und Männer verbanden sich mit Lumpen die Verletzungen, die sie durch die scheuenden Pferde erlitten hatten. Die Ungarn bemühten sich um den gefallenen und zwei verwundete Kameraden und um die Pferde. Der LKW der Pioniere kam. Die Nachforschungen nach den deutschen Eisenbahnern war erfolglos. Sie seien, ausgenommen das Lokpersonal, sofort nach Mochnatsch gebracht worden. Im Süden und Norden hörte man Artilleriefeuer. Racke sah sich nach den Lokomotiven um. Die Schlote qualmten wie Fabrikschornsteine.
7. KAPITEL
Es dunkelte schon, als die beiden entführten Züge wieder in Prikolokino ankamen. Da war inzwischen ein Leben und Treiben wie auf einem Jahr- und Viehmarkt. Zwischen Schlitten und Ackerwagen, Schubkarren, Kisten und Körben wimmelte es von den Frauen und Kindern der Sowchose. Ein Chor von Stimmen durcheinander mischte sich mit dem Geschnatter von Gänsen, Gegacker von Hühnern, Gemecker von Ziegen und Geblök von Schafen, Gegrunz, Gequiek und Gezeter von Schweinen; eine ganze Herde war angetrieben. Der Vieh- und Pferdetreck war schon unterwegs in Richtung Osnowa. Liebedorn war ganz Bahnhofsvorsteher vom Scheitel bis zur Sohle. Rackes erste Sorge nach seiner Rückkehr im Pionier-LKW war gewesen, Rittmeister Gazda, dessen Mannschaft sich endlich vollzählig eingefunden hatte, davon abzubringen, sich mit den Gefangenen sofort in Marsch zu setzen, sondern sie statt dessen für die Verladearbeiten zur Verfügung zu stellen und mit seinen Honveds und den Pionieren so lange den Bahnhof gegen einen etwaigen nochmaligen Zugriff der Russen zu sichern. Dafür wurden die Gefangenen dann auf der Achse mitgenommen und er konnte mit seinen Reitern ungehindert davonbrausen. Schepperl schnaubte an wie ein gereizter Stier. Die paar leeren Wagen des abgestellten Zuges reichten doch nicht aus, um eine ganze Sowchose und hundert Gefangene hineinzustopfen! „Was ist in den andern?“ Das wisse er nicht, die seien doch plombiert. „Aufbrechen, nachsehen!“ Liebedorn brachte eine Schüssel voll Kesselfleisch mit Kraut. Der russische Sowchosestarost hatte in einem Nachbarhause Behelfsschlachterei und Küche eingerichtet und verpflegte schichtweise alles, was Hunger hatte. Den Honveds und Pionieren brachten Frauen und Mädchen das Essen auf ihre Posten hinaus. Sie waren ja größtenteils längst ein Leib und eine Seele mit den rassigen Pußtasöhnen und kamen lange nicht zurück. Schepperl schnaubte wieder an: Von wegen wichtiges Kriegsmaterial! Zehn Waggon waren voll mit den heiligsten
Gütern der aus dem Gebiet von Tschutschujew-Mochnatsch abgerückten Dienststellen: Büromöbel und Kisten voller Akten, Salon-, Schlafzimmerund Badezimmereinrichtungen, Riesenkoffer und Behältnisse aller Art mit persönlichem Besitz ihrer Absender! „Raus damit!“ sagte Racke. „Soll ich mitkommen?“ „Naa. I brauch di net. Friß weita.“ Der Sowchosekutscher Dr. med. Moische Bronsky hatte sich seine Tasche mit seinen Instrumenten und Medikamenten und Verbandmitteln holen lassen, ein kleines Hilfslazarett eingerichtet und die Verwundeten und Verletzten verbunden. Nun kam er zu Racke. „Herr Kommandant“, sagte er, „nichts mehr ist zu tun für mich. Ich gehe zurück auf Sowchose.“ Racke gab ihm die Hand und ging mit ihm hinaus. Es war diesig. Nach dem Sonnentag saugte die beginnende Nachtkälte die Wärme aus dem Schnee. Es war viel zu viel Lärm und viel zu viel Beleuchtung; hoffentlich drang sie nicht durch den Dunst nach oben. Jetzt ein paar Bomben - In der Ferne krachte ein paarmal ein Geschütz, bald darauf fielen Schüsse bei den ungarischen Sicherungen. Man hörte wilde Rufe, unverfälschte deutsche Kernsprüche antworteten. „Ich glaube, Sie sollten noch hier bleiben, Doktor“, sagte Racke. Bronsky nickte schweigend. Landser tauchten auf, sammelten sich vor dem Bahnhof. Es waren zwei, drei Gruppen, ein paar Unteroffiziere, ein Leutnant mit verbundenem Kopf. Der Rest eines zerschlagenen Bataillons. Sie hatten einen erbeuteten schweren russischen Werfer bei sich, aber nur noch vier Granaten und einen eigenen leichten Werfer. In einer Zeltbahn schleppten sie ihren Kommandeur mit; er hatte Granatsplitter im Bauch. Der Hauptmann war weiß vor Schmerz und fiel von einer Ohnmacht in die andere. „Wat 's denn det hia for'n Apparat?“ spottete der Leutnant. „Ihr spielt woll Heil Hitler! Wat? Haut man schleunigst ab! Gleich hinter uns kommt der Iwan.“ Der junge Offizier konnte sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten, aber das Maul war in Ordnung. „Wie stark ist denn der Iwan?“ fragte Racke. „Bitte jehorsamst 'n'schul'jen zu wollen, Herr Bahnhofsjeneral! Wir ham janz vajessen, ihn abzählen zu lassen.“
Die Landser lachten trotz ihres elenden Zustandes und Racke lachte mit. „Wenn ihr nicht besondere Befehle habt, könnt ihr nachher mit unseren Zügen fahren.“ „Nee, nee, Kamerad Flügelrad. Uns're Beene sind mir sicherer als eure Räder.“ „Geht mal wenigstens erst rein ins Haus, ehe ihr weitertürmt, da gibt's gut zu essen und zu trinken. Und einen Arzt für eueren Hauptmann.“ Das ließen sie sich natürlich nicht zweimal sagen. Und als sie gegessen und getrunken hatten, spürten sie wieder Murr in den Knochen. Da ja außerdem nicht nur die Ungarn, sondern auch die Pioniere noch da waren, beschlossen sie, sich erst einmal aufs Ohr zu hauen. Mit Panzern riskierte der Iwan bei Nacht nichts und wenn Infanteriespitzen vorfühlten und richtig Zunder bekamen, verzogen auch die sich vorsichtshalber wieder, bis sie am Morgen die Lage peilen konnten. Die für den dritten Zug angeforderte Lok kam angepustet. Sie war nicht die beste, aber sie war besser als keine. „Wie lange werden wir hier stehen?“ fragte der Lokführer. „Wir wollen noch so lange wie möglich verladen.“ „Gut, dann werde ich das Feuer dämpfen.“ Auch Racke glaubte, nun vorsorglich eine Stunde oder zwei schlafen zu können. Die Absicht mißlang. Er hatte kaum die Augen zugemacht, als es draußen Lärm gab. Er hörte Geschosse patschen und jaulen, Scheiben klirren, Ziegel von den Dächern klatschen. Er hörte das Laufen und Schreien vieler Menschen, Schmerz- und Angst- und Todeslaute. Er fuhr in die Stiefel, den Mantel, riß die Maschinenpistole an sich, rannte hinaus, prallte mit dem Leutnant zusammen, der nach seinen Männern brüllte. „Verfluchta Rotz!“ schrie er Racke an. „Jetzt sind se da!“ „Noch nicht!“ schrie Racke. Dem Klang nach mußte das schwere russische MG 300 bis 400 Meter entfernt sein. Wieso konnte es bei Nacht auf diese Entfernung den Bahnhof unter Feuer nehmen? Die Landser und Pioniere liefen in der Deckung des Gebäudes zusammen. Auf der anderen Seite prasselte es ins Dach, in die Fenster, in die Mauern. Wie Hagelschauer fegten die Garben über das Haus hinweg, über den Bahnhofplatz, über das Bahngelände, schrillten auf den Schienen und Fahrgestellen, krachten in die Wagenwände.
„Die Bande schießt woll vom Himmel runta?“ brüllte der Leutnant. Racke durchfuhr eine Erkenntnis. „Nein!“ schrie er ihm zu. „Vom Wachturm des Gefangenenlagers!“ Er spähte vorsichtig um die Ecke des Hauses, konnte jedoch kein Mündungsfeuer sehen; der Bodennebel war schon zu dicht und zu hoch gestiegen. Aber unzweifelhaft kam das Abschußgeratter vom Turm. Racke brüllte zu Liebedorn, der aufgeregt am Telefon kurbelte und irgend eine Stelle zu erreichen versuchte, in den Dienstraum hinein: „Laß den Quatsch! Mach, daß du die Züge rausbringst!“ Liebedorn verschwand im Dunkel, neben Racke tauchte Gutknecht auf, rief ihm zu: „Wir sprengen sofort die Bahnanlagen und hauen ab.“ „Nein!“ protestierte Racke. „Dann ist der Sowchoseräumzug verloren. Wir haben doch zwei Werfer! Wir schießen den Turm mit ihnen zusammen.“ Der Leutnant schrie wütend: „Mensch, sind Sie ne Flasche! Schießen Se mal mit'n Werfer bei Nacht und Nebel uff een Ziel, det Se nich seh'n.“ „Wir kennen aber die Richtung. Entfernung 350. Höhe des Turmes 20. Besser ist natürlich, ich rücke mit dem leichten Werfer bis auf Sichtnähe vor, dann jage ich die Turmplattform spätestens mit dem dritten Schuß garantiert in die Luft!“ „Ausgerechnet Sie!“ lachte der Leutnant grimmig. „Eh ich den steifen Arm bekam, war ich nämlich Pakfeldwebel!“ lachte Racke ebenso grimmig. Nach drei Minuten war die Einsatzbesprechung zu Ende. Die Pioniere gingen, durch eine Gruppe der Infanterie verstärkt, am Bahnkörper vor. Die beiden anderen Gruppen riegelten, zusammen mit den ungarischen Sicherungen, die sich inzwischen von ihren vorgeschobenen Posten zurückgezogen hatten, den Raum des Bahnhofs nach Norden und Osten ein. Währenddessen hatte das feindliche MG nur noch einzelne Feuerstöße abgegeben. Als nun aber der vordere der beiden Züge abfuhr, streute sofort wieder Dauerfeuer das Bahngelände ab. Der schwere Werfer wurde in Deckung des Empfangsgebäudes in Stellung gebracht. Racke rückte mit dem leichten Werfer und den drei Landsern, die ihn bedienten, im
Zickzack zwischen Häusern und kleinen Gehöften in Richtung Lagerturm vor. Halblinks voraus, also beim Bahnkörper, gabs eine kurze Knallerei. Es wurde gebrüllt. Handgranaten krachten. Verdammt nahe war der Iwan schon gekommen! Es war höchste Zeit gewesen, ihm entgegenzustoßen. Hinter sich hörten sie den Abschuß des schweren Werfers, über sich dann und wann das Pfeifen und Rauschen der MGGarben und endlich erkannten sie das Mündungsfeuer. Sie eilten sich, noch näher zu kommen. Das Gefecht beim Bahnkörper entfernte sich feindwärts. Der schwere Werfer schoß wieder. Sie hörten nach einem kurzen Augenblick das weinerliche Sausen der Granate, sahen dann kurzes Feuerzucken hinter der schwarzen Silhouette einer Kate, hörten das ferne Krachen, sahen eine helle Flamme aufschlagen, sich ausbreiten und ihr Licht in die Nacht werfen. Gegen dieses Licht ragte jetzt, keine 100 Meter mehr entfernt, der obere Teil des Turmes mit der überdachten Plattform hinter dem langgestreckten Dach einer Lagerbaracke auf. Dicht neben der Ecke der Kate, neben der sie sich gerade befanden, stellten sie den Werfer auf. Racke griff mit seinem gesunden Arm zu, richtete selbst und dann fuhr mit kurzem Feuerstrahl die Granate aus dem Rohr, die zweite, die dritte. Der Turmaufbau fetzte, von Feuerzungen durchzuckt, auseinander. Bretter, Balken, Menschenkörper und das MG wurden in die Tiefe geschleudert. Die drei Landser schrien vor Freude, ließen den Werfer stehn und gingen von Deckung zu Deckung gegen das Lager vor, um festzustellen, ob es noch von anderen Russen besetzt war. Racke setzte sich heben den Werfer, lehnte sich ans Rohr, zündete sich eine Zigarette an. Er hörte das Prasseln des um sich greifenden Brandes hinter dem geköpften Turm. Beim Lager fielen rasch hintereinander ein paar Schüsse. Vom Bahnhof her drang das Lautgewirr der vielen Menschen und Tiere bis an sein Ohr. Das Feuer im Lager warf seinen Schein weiter und weiter und allmählich bis zum Werfer herüber. Eigentlich sollte er sich ins Dunkel zurückziehen, ging es Racke durch den Sinn, aber er war zu bequem aufzustehen und da geschah es auch schon: Eine unsichtbare Faust krachte gegen sein rechtes Jochbein, zugleich fuhr ihm ein schriller Laut wie ein Stich ins Ohr und Funken
sprühten vor seinen Augen. Der Schlag drehte ihn in der Hüfte halb um seine eigene Achse. Er taumelte hoch, mühte sich zu denken, zu handeln, die schwarzen, roten und grünen Nebelfetzen zu durchdringen, die vor seinen Blicken wallten. Verschwommen und schwankend tauchte die elende Hütte auf und eine Gestalt, die neben dem Rahmen der offenen Türe mit ihr auf- und ab- und hin- und herschwankte. Er erkannte allmählich ein Kopftuch und einen Fleck Gesicht darin, einen hellen Mantel, eine Hand mit einer Pistole, die herumschlenkerte, als wollte sie Mücken scheuchen. Das Lachen kam ihn an. „Du mu-ußt ruhig h-a-hal-ten! So-onst wirst du ni-ichts tref-treffen!“ stotterten seine Gedanken. Vielleicht hatte es sogar sein Mund gestottert; er wußte es nicht. Im gleichen Augenblick aber war sein Kopf klar. So jäh, als wäre ein dickes Tuch von ihm fortgerissen worden, waren die Nebel wie weggewischt, das Schwanken der Kate hörte auf. Die Frau rührte sich gar nicht und ihre Pistole war ganz ruhig auf ihn gerichtet. Er wußte, daß sie auf ihn geschossen, jedoch nicht ihn, sondern das Werferrohr getroffen hatte und ihm der Querschläger unter dem rechten Auge gegen den Backenknochen geprallt war. Sie würde gleich wieder schießen und davon würde er dann wahrscheinlich nichts mehr wissen. Warum schoß sie nicht? Warum starrte sie ihn nur an? Mit mußte sie wenigstens! Mit einer kurzen Bewegung hatte Racke die MP an der Hüfte. Ein leiser Ruf, angstvoll und wie eine Bitte, machte ihn stutzig, doch sein Zeigefinger hatte schon den Abzug berührt, die MP krachte, die Kugeln klatschten, Holz splitterte, Lehm und Steine spritzten. Zugleich mit dem Laut, den sie ausgestoßen hatte, war die Frau, die Pistole fallen lassend, zur Seite in die Hütte geschnellt, aber es mußte sie noch erwischt haben. Ohne eine Sekunde verstreichen zu lassen, sprang er ihr nach, ließ die Lampe ins Dunkel blitzen. Der Raum hatte kahle Lehmwände, Lehmboden, Lehmofen und war leer bis auf einen Tisch, eine Bank, ein breites, hohes Bett und ein buntes, glitzerndes Heiligenbild darüber. Das einzige kleine Fenster war mit einem Rupfen verhängt. Auf der Bank saß eine Greisin. Sie starrte mit rotgeränderten Augen in das grelle Licht; unaufhörlich wackelte der Unterkiefer. Die Frau im hellen Mantel lehnte mit geschlossenen Augen am Bett. Er sah, daß es ein
Lammfellmantel war. „Mantel von klein Schaf“ hatte Jozef gesagt. Ihre Stiefel standen in einer Lache Blut, die sich zusehends ausdehnte. Das Kopftuch war in den Nacken gesunken. Das Gesicht war schmal und fahl bis in die Lippen, das Haar knabenhaft kurz, schräg über die Stirne fallend. Es war Janka. Racke zog die Türe hinter sich zu. Ja, das war das Mädchen aus dem Pripetmoor, das er nicht mehr vergessen hatte. Das Mädchen, das ihm dann über ein Jahr später im Feinddorf in der Donsteppe als russischer Soldat wieder begegnet war und ihm das Leben gerettet hatte... Er legte hastig die Taschenlampe auf den Tisch, den Lichtkegel nach oben, die MP daneben, war mit drei Schritten bei ihr, schob sie auf das Bett, hob ihre Beine hoch, öffnete den Mantel und schlug ihn zurück, sah das Blut dicht unter der Leistengegend an der Innenseite des linken Oberschenkels in einem kurzen Bogen aus einem Loch in der angeklebten Russenhose quellen. Ohne zu zögern knöpfte er sie auf, zog sie samt der Kommißunterhose darunter auf Jankas Knie herab. Rasch hob er den Schenkel hoch, atmete auf. Ein glatter Durchschuß handbreit unter der Gesäßbacke. Wenn die durchgeschlagene starke Vene abgedrosselt werden konnte, kein Starrkrampf eintrat und die Wunde in ärztliche Behandlung kam, würde keine Gefahr für Jankas Leben sein. Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb in fliegender Hast darauf: „Sowchosekutscher soll kommen. Blutader muß abgebunden werden. Schlitten mitschicken zum Abtransport. Inspektor Racke.“ Er gab es der Alten und sagte eindringlich: „Los! Fort! Sstanzia! Kommandant! Ganz schnell! Sskuri! Schwydko!“ Die Alte zog mit zitternden Händen das Umschlagtuch enger um Kopf und Schultern und humpelte hinaus. Als Racke sich wieder umwandte, hatte Janka die Augen offen. Still ruhte ihr Blick auf ihm, still war der Ausdruck des schmalen Gesichtes. Sie bewegte die Lippen, flüsterte: „Janka nicht dich erkennen.“ „Ich dich auch nicht“, antwortete er kurz, riß einen Streifen von ihrem Kopftuch, schnitt von einem der Sonnenblumenstengel, die neben dem Ofen lagen, ein daumenlanges Stück, schraubte den Stiel aus einer Handgranate, tastete über der Wunde mit tiefem Druck in den schmächtigen Schenkel nach dem Weg der Ader,
band das Pflöckchen mit dem Kopftuchstreifen auf die gefundene Stelle und zwirbelte es mit dem Handgranatenstiel fester und fester, bis es so tief in das Fleisch des Schenkels eingepreßt war, daß das Blut nur noch als dünnes Rinnsal aus dem Einschuß floß. Dann verband er diesen mit dem kleinen, den Ausschuß mit dem großen Verbandpäckchen, die er immer bei sich hatte, zog Unterhosen und Hosen, die beide glücklicherweise viel zu weit waren, vorsichtig über den dicken Verband und über Gesäß und Schoß wieder hinauf, schlug den Mantel übereinander und knöpfte ihn zu. Er schob Janka noch einen kleinen, dem Gefühl nach mit Hirse gefüllten Sack, den er in der Ecke hatte stehen sehen, unter, so daß Unterleib und Schenkel höher lagen als der Oberkörper. Das Auge des Mädchens ruhte noch immer mit dem gleichen stillen Ausdruck auf Racke, aber über Gesicht und Körper flog nun ein Frostschauer um den andern. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander. Hoffentlich kam das nur vom Blutverlust oder den nun versagenden Nerven. Er zog die alte Bettdecke unter ihr vor, sie half ihm dabei trotz des Schüttelfrostes und er deckte sie bis an die Nase damit zu. Er hörte die Kampfgefährten zurückkommen, sah Unruhe in Jankas Augen. Er nahm ihre Hände, sagte rasch: „Es wird dir nichts geschehen. Ich werde dich schützen. Aber du mußt mir versprechen, nicht mehr auf der anderen Seite zu kämpfen.“ Sie schwieg. „Versprichst du es mir?“ drängte er. Sie zögerte. Er neigte sich über sie. Nur der Ausdruck seines Gesichtes sprach zu ihr. Ihre Lippen antworteten. „Ja.“ Noch eben, als sie hilflos bloß und still vor ihm gelegen, er die Ader abschnürte, Einschuß und Ausschuß verband, hatte sein Auge nicht das Mädchen gesehen, sondern nur den Menschen in Not, dessen rotes Leben davonfloß. Es war kein Gedanke in ihm gewesen als der, zu retten, kein Gefühl als Güte, als Erbarmen mit dem leidenden Geschöpf. Jetzt schlich ihn verwirrend jenes seltsame, lockende und zugleich widerstrebende Empfinden an, das ihn so jäh befallen hatte, als sie damals in den Pripetsümpfen die Männerjacke abwarf, in ihrem kurzen Fetzen von einem Hemd ins Wasser hechtete und dem abgetriebenen Kahn nachschwamm. „Höre Janka“, sagte er rasch, „wir werden
behaupten, du warst Dolmetscherin auf der Sowchose. Du wolltest zum Bahnhof, um mit uns davonzufahren, bevor die Rotarmisten kamen. Du hast meinen Anruf nicht sofort beachtet, ich habe dich angeschossen.“ Sie nickte. Er ging schnell hinaus. Der Brand war in sich zusammengesunken. Die Landser tappten im Dunkel herum; sie suchten den Werfer. Racke rief sie an. Sie brachten zwei rote Soldaten mit, die einen schwerverwundeten Kameraden trugen. Am Lagereingang noch geschnappt. Von der vom Turm heruntergeschossenen MGBedienung lebte keiner mehr. Er habe doch auch geschossen. Was denn da los gewesen sei? wollten sie wissen. „Ja. So ein Saumist!“ antwortete er. „Ich habe ein Weibsbild zusammengeknallt. Schwerer Oberschenkelschuß. Sie liegt in der Kate. Ich habe sie verbunden und ein altes Weib um den Sowchosedoktor geschickt. Schaut mal, daß das klappt.“ Die Landser winkten ihren Gefangenen, nahmen den Werfer und zogen ab. Racke ging zurück, stolperte über Jankas Pistole, hob sie auf, sicherte sie und steckte sie in die Manteltasche. Janka lag noch genau so da, wie er sie verlassen hatte. Der Frost schüttelte sie, aber ihre Augen blickten still wie zuvor. Noch genau wie im Moor. Illusionslos wissend und tierhaft auflehnungslos. Wie damals auch, als sie ihn durch die Steppe geführt hatte. Ohne Glück, ohne Klage. Vor eineinhalb Jahren war sie etwa fünfzehn gewesen, sie konnte jetzt nicht über siebzehn sein. Sie fror, ihm war zu heiß. Er schnallte ab, zog den Mantel aus und legte auch ihn noch über sie, dachte endlich daran, daß sie Durst haben müsse, vielleicht auch schwach vor Hunger war. Seine Feldflasche war voll Sekt und im Brotbeutel hatte er Kraftnahrung genug. Er ließ sie Sekt trinken und fütterte sie mit Keks, mit Schokolade, Traubenzucker. Ihre Zähne hörten zu klappern auf. Eine Spur von Farbe schimmerte durch die Blässe ihres Gesichtes, eine Spur von Rot zeichnete die Lippen dunkler, aber ihre Augen blieben so schweigsam wir ihr Mund. Ob diese Augen nie sprechen würden?
Er goß sich einen Becher voll, hob ihn ihr zu: „Deine Gesundheit! Na strowie!“ Er wollte ein wenig Glanz der Freude in ihre Augen zaubern. Sie ruhten unverwandt auf ihm, während er langsam den Becher austrank. Und da erkannte er: sie sprachen ja! Sie sprachen wie sie immer gesprochen hatten. Schon damals im Moor. Und in der nächtlichen Stube des Partisanendorfes zwischen Don und Tschir. Und auf dem Weg durch die Steppe. Sie sprachen die Sprache einer Liebe, die ohne Grenzen ist und keine Worte braucht. Ein Schlitten kam, hielt. Pferde schnaubten, Schritte stapften. Die Türe wurde aufgerissen. Schepperl stolperte über die Schwelle. Hinter ihm kam die Alte, drückte sich in die Ecke hinter dem Ofen. „Wo druckst di denn umanand?“ fuhr Schepperl den Freund an. „So'n gscherta Hammi! Vom Bahnhof weglaffa wia d'Sau vom Trog! Glei is da Sowchosezug ferti, aba da Herr Inspekta muaß Soidat schpuin, statt dassa nach'n Betrieb schaugt!“ Racke fragte: „Warum ist denn der Doktorkutscher nicht mitgekommen?“ „Hot koa Zeit net. Im Bahnhof lieng selba Vawundete und Halbtote grad gnua!“ „Gut, fahren wir Janka zum Bahnhof.“ Jetzt erst schob Schepperl den stiernackigen Schädel an Racke vorbei und starrte auf das Bett und das, was drauflag. „Wos host gsagt? Janka? Die sell von Tapor?“ Er erinnerte sich, was Racke auf der gemeinsamen Fahrt in den Urlaub über seine Rettung erzählt hatte. „Ja.“ „Pfeigrod de Partisanaflitsch'n!“ „Halt dein Dreckmaul! Das Mädchen, dem ich verdanke, daß ich damals meine Blödheit, wegen dir Rüpel meine Nase in die Steppe zu stecken, nicht mit dem Leben bezahlen mußte.“ Schepperl starrte auf die Blutlache vor dem Bett. „Bluat hot's wia a abg'stoch'ne Sau. Zweng wos?“ „Weil sie kein so dickes Brett vor dem Leib hat, wie du vor dem Kopf.“ „So desweng!“ sagte Schepperl nachdenklich. „Host du's niedag'schoss'n?“ „Ja.“ „Host's vabund'n?“
„Natürlich, sonst wäre sie schon verblutet.“ „Geh weita! Hot's so a groß Loch?“ „Nein, aber die Kugel hat die große Schenkelvene durchschlagen.“ Schepperl hob den Blick von der Blutlache wieder zu Jankas Gesicht. „Wo kimmt s'n her?“ „Wo sie herkommt, kann uns gleich sein. Hingehn tut sie, wo ich hingeh.“ „Ja da schaug her!“ antwortete Schepperl grantig. „Da werd se aba dei Eva frei'n, wennst ihr de g'stinkate Loas hoambringa tuast!“ Racke hatte inzwischen seinen Mantel angezogen und umgeschnallt. Jetzt band er Janka den Rest ihres Kopftuches um und nahm die alte Bettdecke weg. „Faß unter den Armen an und hilf mir, sie zum Schlitten tragen.“ Schepperl rührte sich nicht. Er starrte auf den Lammfellmantel, die Stiefel, die unter ihm vorsahen, das Kopftuch. Immer heftigere Entrüstung spiegelte sich in seinem grob ehrlichen Gesicht. Dann platzte er heraus: „De brauch ma gar net erst auf'n Bahnhof z'fahrn, de häng ma glei draußd am Baam auf.“ Er hatte sie erkannt. Sie war das Weibsbild gewesen, das mit den Erzhalunken vom Bahnhof angelaufen gekommen und, als die Schüsse fielen, wie vom Erdboden verschwunden gewesen war. „Laß dir Zeit“, antwortete Racke. „Ich will dir vorher noch etwas sagen. Janka ist so zwangsläufig Partisanin geworden, wie du Feldeisenbahner geworden bist. Ist es in deinen Augen ein Verbrechen, wenn man sein Vaterland befreien will? Paß jetzt genau auf, was du zu sagen hast: Janka war Dolmetscherin in der Sowchose und sobald der Durchschuß geheilt ist, wird sie Dolmetscherin bei mir.“ Eine Weile starrte Schepperl stumm und grimmig in Rackes ernstes Gesicht, dann knurrte er: „Aba dös sag i da - wann s' di abmurkst, hernach is' aus mit uns zwoa. Host mi?“ Racke lachte. „Oisdann packma 's Luada, daß ma weitakemma!“ Er legte Janka, die der Auseinandersetzung ruhig gefolgt war, obwohl sie, wenn auch nicht die Worte Schepperls, so doch ihren Sinn verstanden haben mußte, einen Arm um Schultern und Nacken, schob ihr den andern unters Kreuz, aber durchaus nicht
so wütend, wie er aussah. Und als Racke Mühe hatte, mit seinem einen dazu brauchbaren Arm Jankas Beine zu halten, schrie Schepperl, vielleicht nur, weil er sich auf irgendeine Weise Luft machen mußte, die Alte in der Ofenecke an: „Wos is, oite Huatschacht'l eidatschte! Mogst net helfa?“ Zitternd und seibernd kam die Angeschriene und trug Janka mit hinaus in den Schlitten. Racke steckte der Alten Keks und Schokolade zu und sie zog seinen Mantel an den zahnlosen Mund. „Hüh!“ knurrte Schepperl, dann gab er dem Gäulchen die Zügel frei; es fand den Weg zum Bahnhof besser als er. Er schwieg beharrlich, aber als der Schlitten vor dem Bahnhof hielt, stieg er rascher ab, als es sonst seine Art war, sich zu bewegen, versetzte ihm ohne ersichtlichen Grund einen Fußtritt, schimpfte: „Hur'nschees'n vareckte!“ und lief weg, ohne sich noch um Racke und Janka zu kümmern. Racke lachte nur. Er kannte seinen Sepp; er würde Jankas dickster Freund werden. Jetzt war er nur weggelaufen, weil genug Weibsbilder da waren, um sie zu dem bärtigen Quacksalber hineinzutragen. Bei Bronsky war es voll wie bei einem Wunderdoktor. Seit dem Feuerüberfall kam er nicht mehr zur Besinnung, obgleich ihm ein Sanitäter und einige Frauen flink und geschickt zur Hand gingen. Es hatte unter den Landsern, den Gefangenen und den Zivilisten, abgesehen von zwei Toten und mehreren Schwerverwundeten, eine große Anzahl leichter Verletzte gegeben. Alle Schwerverwundeten hatte man in einem Schlittenzug, vor den ein Traktor gespannt worden war, schon nach Charkow in Marsch gesetzt. Janka käme gleich dran, sagte Bronsky zu Racke. Sie war ein verwundert und mißtrauisch betrachteter Fremdling unter den Einheimischen und Racke beeilte sich zu erklären, daß er sie von Kupjansk kenne, wo sie Eisenbahndolmetscherin gewesen sei. Er werde sie mit sich nehmen. Dann war es höchste Zeit für ihn, sich draußen umzusehen. Zug 1 war schon in Losewo, Zug 2 stand noch einen Kilometer vor dem Bahnhof, eines Lokschadens wegen, der nun aber bald behoben sein würde. Liebedorn hatte es für seine Pflicht gehalten, dort zu bleiben, weil sonst ja kein Zugpersonal dabei war. Bei der Verfolgung der Russen hatten die Landser
festgestellt, daß schon wieder an der Strecke gearbeitet wurde. Einer der neuen Gefangenen behauptete sogar, in Mochnatsch stehe ein russischer Panzerzug mit Diesellok. Es war wirklich höchste Zeit, daß man aus Prikolokino hinauskam! Der Leutnant, der den Rest des II. Bataillons seines Regiments führte, hatte über die Bahnhofsleitungen Verbindung mit seinem Kommandeur erhalten. Der Stab saß mit dem noch kompaniestarken Rest des I. Bataillons bereits in Osnowa. Vom III. Bataillon war nichts bekannt. Er erhielt den Befehl, sich sofort auf das Westufer des Lopan abzusetzen. Der Iwan rücke aus dem Raume Dergatschi nach Süden. Was sich ostwärts des Lopan und nördlich der Linie Besljudowka-Osnowa befinde, sei in der größten Gefahr, noch in der Nacht abgeschnitten zu werden. Gutknecht war mit seinen Leuten über den Bahnhof verstreut beim Einbau der Sprengladungen. „Warte noch eine halbe Stunde“, bat Racke. „Nein.“ Es klang kurz und wütend. „Bei den Posten ist doch noch alles ruhig.“ „Es sind keine mehr draußen. Die Infanterie rückt ab.“ „Aber die Ungarn sind noch da.“ „Denkste! Horch mal!“ Man hörte Pferdegetrappel, das sich rasch entfernte. „Sch - „, zischte Racke und verschluckte das Wort. Nur die drei Honveds zur Gefangenenaufsicht waren geblieben. „Wie lange dauert's noch bei euch?“ fragte er Gutknecht. „Eine Viertelstunde, dann wird gesprengt.“ „Gib mir die genaue Zeit an.“ „Um 22 Uhr 30.“ Racke ließ das Verladen einstellen, rannte zur Lok. Gott sei Dank! Es war alles in Ordnung und sie hatte Dampf genug. „Seht auf die Uhr! Jetzt ist es 13 Minuten nach zehn. In 12 Minuten abfahren! Also 22 Uhr 25! Keine Minute später! Schepperl!“ schrie er beim Zurücklaufen, „sofort die Gefangenen in die Wagen! Alles einsteigen, was noch mit will! Noch 11 Minuten!“ Er stürmte in Bronskys Verbandstube. Der war eben dabei, Jankas Oberschenkel wieder einzubandagieren. „Doktor, es eilt! In 9 Minuten geht der Zug. In 14 Minuten fliegt der Bahnhof in die Luft.
„Gleich fertig“, sagte Bronsky, ohne aufzublicken. Schweiß rann ihm über die hohe blasse Stirne. Nur zwei Frauen waren noch da, um Janka zu tragen. Man sah ihnen an, daß sie darauf brannten, wegzukommen. „Bringt sie in den letzten Wagen, dort ist am meisten Platz“, sagte Racke. „Doktor, kommen Sie nicht mit?“ Bronsky schüttelte den Kopf. „Schönen Dank für die Hilfe und leben Sie wohl!“ rief ihm Racke zu, sah noch einmal in Jankas blasses, müdes Gesicht und stürmte wieder hinaus, in den Dienstraum, um nach Rogan Bescheid zu geben. Es war nicht mehr möglich, die Telefone waren schon weg. Die Pioniere hatten ihre Arbeit beendet, sammelten sich bei ihrem Wagen neben dem Empfangsgebäude. „Kommen Sie doch mit uns! Das ist sicherer!“ schrie Gutknecht herüber. Racke schrie zurück: „Ich gehöre zum Zug!“ Auf dem Bahnsteig waren nur noch wenige Menschen, aber manches Hab und Gut stand noch herum. Auf der anderen Seite des Zuges lag der Wall all dessen, was aus den Wagen geworfen worden war. Er rauchte an einigen Stellen; die Pioniere hatten ihn in Brand gesteckt. An ihm entlang saßen ein paar mit hellen Kopftüchern und hellen Hintern. Aus der Ferne klang der vereinbarte Pfiff. Die Lok des Vorzugs war in Ordnung. Racke atmete auf. Nun war alles gut und noch fünf Minuten Zeit. Inzwischen würde auch Janka im Zuge sein. Bei der Lok stand Schepperl. „Sepp“, sagte Racke, „es wäre mir lieber, du führst hinten. Ich bin ruhiger, wenn ich einen Schlußschaffner habe.“ „Nix wia latsch'n!“ murrte Schepperl. „Vor, zruck, vor, zruck! Do stinkta ma aba.“ Er ging. Racke sah ihn nur ein, zwei Wagenlängen weit. Auf dem Bahnhof war nun bis auf den aufflackernden Akten-, Kistenund Möbelbrand alles dunkel. Racke dachte: Wenn der Sepp Janka im letzten Wagen sieht, wird er schwer granteln. Er hörte ihn schon lospoltern: Oho! Zwengs an Schlußschaffna! So a Krampfbruada, so a scheiheiliga! Den Leibgardist'n soll i macha, damit dera Krampfhenna nix passiert, dera vadächtig'n! Racke lachte leise in sich hinein, griff nach dem Geländer der Loktreppe. Komisch, daß der LKW immer noch zu hören war - -
Er stutzte. Das war nicht der Wagen der Pioniere. Es war ein viel weicherer Laut. Ein tiefes Summen wie von einer Riesenhummel. Vibrierte nicht das Schwellenende unter seinen Füßen? Schon lag er auf den Knien, preßte das Ohr darauf. Kein Zweifel, ein Zug kam. Von der Feindseite. Der Panzerzug. Die Russen waren mit der Wiederherstellung des zerstörten Streckenteils vor Mochnatsch fertig geworden, er hatte über dem Kampf und über der Fürsorge für Janka das Wichtigste und Nächstliegende versäumt: sie vorsorglich draußen vor seinem Bahnhof ein Stück weit zerstören zu lassen. Und wenn es nur ein paar Meter gewesen wären! Wenn man Racke jetzt in die Wangen gestochen hätte, er hätte keinen Tropfen Blut gegeben. Nun gab es nur noch eine Rettung: Im Höllentempo davon! Hoffend, daß der Panzerzug nicht aufs Geratewohl in den Bahnhof einfahren, sondern der Kommandant ihn vorher erst erkunden lassen würde. Vielleicht jedoch war das schon geschehen. Vielleicht hielt der Panzerzug weder vor dem Bahnhof, noch im Bahnhof, dann kam er noch durch, ehe die Anlagen in die Luft gingen, und dann blieb nichts anderes übrig, als den eigenen Zug seinem Schicksal zu überlassen, um dem Panzerzug den Weg zu versperren. Dann mußten sie mit der Lok allein weiterfahren, damit sie wenigstens noch warnen konnten und die Lopan-Brücke rechtzeitig gesprengt wurde. Alle diese Überlegungen gingen Racke sekundenschnell durch den Kopf. Er enterte die Loktreppe hinauf, brüllte aus halber Höhe, so laut er brüllen konnte, nach hinten: „Sepp! der Iwan kommt im Panzerzug! Steig rauf, wo du bist! Wir fahren ab!“ Er hörte keine Antwort, denn der Lokführer hatte schon den Regler geöffnet und der Schlot knallte eine Serie Dampfballen hinaus, als bildete er sich ein, eine Schnellfeuerkanone zu sein. Zugleich zischte der Dampf aus den Zylinderhähnen, die Räder fingen an, sich zu drehen, es ruckte ein wenig, Kupplungen klirrten, die Lok keuchte in langsamen, tiefen Stößen. Der Zug fuhr. Racke hängte sich weit aus dem Fenster, starrte nach hinten. Er konnte nichts unterscheiden, als Teile des langgestreckten düster brennenden Holzschrotthaufens, ein paar Lichtreflexe auf den Schienen, ein paar Lichtflecken, die bis auf den Bahnsteig fielen und den dunklen Schatten des Empfangsgebäudes stärker hervortreten ließen. Plötzlich stand, wie aus dem Nichts
gezaubert, ein Lichtpfeil in der Nacht. Auf dem Gerümpelberg stand er - eine haushohe Stichflamme. Nur einen Atemzug lang, war im Augenblick des kleinen fast sanften Knalles schon erloschen, so jäh, wie eine Sternschnuppe verlöscht. Alles war wieder dunkel, dunkler noch scheinbar als zuvor, aber während dieses Augenblicks hatte Racke auf dem Bahnsteig zwei Frauen mit einer Bahre gesehen, schon ein gutes Stück hinter dem letzten Wagen des Zuges zurück. Janka war nicht mehr mitgekommen. Laß halten! Steig ab und hole sie! schoß es ihm durch den Kopf. Aber ganz abgesehen davon, daß der Lokführer einem solchen Befehl niemals gehorcht haben würde, war der Gedanke so schnell verworfen, wie er ihm in den Sinn gekommen war. Immer rascher drehten sich die Räder. Die Lok schwankte in die Ausfahrweiche. 400 Meter lag das Empfangsgebäude schon hinter ihr. Racke nahm den Kopf herein; zu sehen war überhaupt nichts mehr. Die Lok hatte sich um und um in eine Wolke gehüllt. Der Lokführer schloß den Regler, bremste. „Was ist denn los?“ herrschte ihn Racke an. „Fahr doch weiter, Mensch! Volldampf!“ „Verdammt nochmal!“ schrie der Lokführer. „Ich kann in dieser Waschküche überhaupt nichts sehen!“ „Brauchst du auch nicht.“ „Brauch ich wohl! Vor uns liegt Zug zwo!“ „Der hat Vorsprung genug. Und wie ich meinen Liebedorn kenne, fährt der Zug wie der Henker!“ „Ich dachte aber, ich hätte das Schlußlicht gesehen.“ „Das kann ich nicht glauben.“ Der Lokführer öffnete den Regler wieder. Racke hängte sich auf der Heizerseite, der Lokführer rechts aus dem Fenster, so weit sie konnten. Racke sah nichts. Plötzlich zog der Lokführer hastig den Regler wieder zu, bremste mit Zugbremse, Zusatzbremse, Sandstreuer, brüllte: „Natürlich ist er vorne! Gar nicht weit! Jetzt hab ich das rote Licht deutlich gesehen!“ Die Bremsen kreischten, der Sand knirschte unter den Rädern, die Achsen hackten härter, die Geschwindigkeit verringerte sich rasch. Der Dampf wurde lichter. Nun sah auch Racke das Schlußlicht. Der Heizer warf den Hebel der Tenderbremse zurück. Die stoßende Wagenschlange machte einen Höllenlärm.
„Festhalten! Wir prallen gleich auf!“ Sie prallten nicht auf. Die Lok stand, eine Armlänge von den Puffern des Schlußwagens ihres Vorläufers entfernt. Racke turnte auf den Damm hinunter, sah auf die Uhr. In zehn Sekunden war es halb elf. Jetzt mußte es eigentlich sein Und es geschah auch, noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Blitze zuckten, Flammenbündel spritzten aus der Nacht. Dort, wo sie herkamen. Donnerschläge erschütterten die Stille. Röte stieg in den schwarzen Himmel. Dann war es wieder Nacht. Das Bahnhöfchen Prikolokino war nicht mehr. Ob der Panzerzug vor der Einfahrt stehen geblieben war oder ob es ihn mit erwischt hatte? Das wußten sie nicht, aber daß in den nächsten 24 Stunden kein Iwan-Zug weiter als bis vor Prikolokino fuhr, das wußten sie. Vom Vorzug her kam einer an. Liebedorn. „Jott sei dank, dat ihr da seid“, rief er ihnen zu. Es klang so erlöst, daß Racke fragte: „Warum? Ist etwas los? Ist eure Lok doch noch nicht in Ordnung?“ „Klar, alles in Ordnung. Aber wir konnten doch nicht abhau'n, ohne zu wissen, ob ihr auch wirklich kommt.“ Racke verschlug es die Sprache und als er sie wiedergefunden hatte, brauchte er nichts mehr zu sagen. Das besorgten die beiden andern. Liebedorn sah mehr erstaunt und gekränkt aus, als zerknirscht. Er öffnete den Mund, aber Racke fuhr ihn schroff an: „Renn zu eurer Lok! Fahrt, was ihr fahren könnt, sonst laufen wir Gefahr, daß die Bahnhöfe gesprengt sind, bevor wir da sind!“ Liebedorn öffnete wieder den Mund, kam aber wieder nicht dazu, etwas zu sagen, so rasch und so heftig fauchte Racke ihn an: „Halt's Maul und zieh los! Oder ich schieß dir ein zweites Loch in den Hintern! Du kannst es sowieso gut brauchen!“ Liebedorn sagte doch noch etwas. Er sagte es sehr vornehm: „Wir waren einmal Kameraden, Herr Inspektor!“ Genau so würdig und gemessen drehte er sich um, aber dann machte er plötzlich gewaltige Sprünge, denn von der Lok herunter flogen ihm ein paar handfeste Kohlenbrocken ins Kreuz. Sie hatten in Rogan Fahrt frei. Kaum durch, ging der Feuerzauber der Sprengungen hinter ihnen los. Ebenso war es in Losewo. Vor der Lopanbrücke wurden sie gestoppt. Sie sahen auf beiden Seiten der Bahn eine schwere Flak stehen. Ein Leutnant
schrie herüber: „Zwei Züge sind durch. Ist das nun wirklich der letzte?“ „Jawohl, der allerletzte!“ schrie Racke zurück. Sie fuhren langsam hinüber, so als nähmen sie Abschied von dem, was zwischen dieser Stunde und jener lag, als die ersten Eisenbahnerlandser ostwärts darüber fuhren. Blut und Schweiß, alle Aufopferung waren umsonst gewesen. Racke hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Wenige Minuten später rollten sie schon zwei Kilometer weiter zwischen Vorortstraßen, aber den Donner der Brückensprengung hörten sie noch. Weit vor dem Hauptbahnhof blieben die Züge liegen. Vor zehn, zwölf Stunden war nicht daran zu denken, daß sie weiter kamen. „Umso besser“, sagte Racke, da können wir endlich schlafen. Aber wo? Sicher hatte Schepperl in einem der Wagen einen passenden Winkel, weil er überhaupt nichts von sich sehen und hören ließ. Statt seiner kam Liebedorn an. „Mensch, Racke!“ verkündete er eifrig, als wüßte er gar nichts davon, daß er ihm die Freundschaft gekündigt hatte. „Ick hab'n prima Quartier. Jleich da drüb'n. Zwee breite Betten. In det ene Vata un Mutta, in det andre zwee Meechen.“ „Dann wirf se raus.“ „Die Ollen?“ „Nein, die Jungen.“ Racke schlief schon beim Hinüberlaufen. Er wachte kurz auf, als er in der Stube stand. Es war ein Steinhaus ohne Lehmofen und der eiserne war kalt. Als er die Mädchen schnatternd stehen sah, taten sie ihm leid. „Wenn wir uns schmal machen und alle auf die gleiche Seite legen, haben wir alle drei Platz“, sagte er. Sie lachten und die Alten lachten. Wenn eines die Seite wechselte, taten es mechanisch die andern auch. Als Racke aufwachte, weil er den Tag vor den Lidern fühlte, wußte er nichts davon. Die Mädchen und die Eltern waren schon aufgestanden und kochten Tee für ihre Gäste. In dem andern Bett lag Liebedorn. Racke weckte ihn rücksichtslos: „Wo ist Schepperl?“ „Weeß ick nich. Er war nich im Zug.“ „Was war er?“ Racke rannte hinaus, hinüber zum Zug 3. Die Gefangenen und die Sowchoseflüchtlinge konnten sich alle an Schepperl erinnern, aber während der Fahrt war er in keinem der Wagen gewesen.
8. KAPITEL
Es war nicht leicht, in den Hauptbahnhof hineinzukommen. Zug hinter Zug rollte in Richtung Ljubotin hinaus und aus Richtung Belgorod und Isjum hinein. Endlich gelang es doch und so wurden Racke und Liebedorn Zeugen des Abzugs des Restkommandos der Feldeisenbahner. Der Räumungszug, zwei Güterzuglok vorgespannt, beladen mit dem letzten Gerät des Maschinenamtes, dem Rest der Einrichtungen der bisher noch zurückgebliebenen Kommando- und Bahndienststellen und besetzt mit ihren Personalen, soweit sie für den bis auf weiteres fortzusetzenden Räumungsverkehr nicht noch benötigt wurden, stand zur Abfahrt bereit. Neben einem Triebwagen vor dem Empfangsgebäude vertraten sich die Reichsbahnoberräte Dr. Dornberg, Brandner und Reichsbahnrat Romer die Füße. Dann und wann blieben sie bei der Gruppe ihrer nächsten Mitarbeiter und der Beamten der Oberzugleitung und Zugleitung stehen, die nun ihren Sitz ebenfalls in Ljubotin nahmen. Ljubotin mit seinen blauen Eisenbahnern war immer mehr zum Angelpunkt des ganzen Charkower Räumungsschlußbetriebes geworden, also gehörte auch der Kopf des Ganzen, der Räumungsstab mit seinen unmittelbaren Organen, dorthin. Das hatte Oberstleutnant Plessen dem General des Transportwesens der Heeresgruppe B geschildert und nun die Genehmigung zur Übersiedlung erhalten. Es war bitter kalt und man wartete nur noch auf einen. Dieser eine war der Fahrer des Betriebsleiters, Herr Schlumpe, genannt Pikobello. Wie verlautete, war er noch mit dem Abschied von seinen beiden Herzköniginnen befaßt. Merkwürdigerweise war ihm keiner böse wegen der Verzögerung. Sie hatten alle ein ganz komisches Abschiedsgefühl in sich. Sie verließen eine Stätte, an der sie ein Jahr und länger, soweit sie dem Stab angehörten immerhin sieben Monate, tätig gewesen waren. Selbst die Zweifelsüchtigen unter ihnen hatten nach der militärisch großartigen Abwehr der sowjetischen Frühjahrsoffensive im Vorjahr und der anschließenden deutschen Sommeroffensive, die das Dongebiet überrannte und bis nach Stalingrad und in den Kaukasus vorstieß, nicht geglaubt, daß Charkow jemals wieder verloren gehen könnte. Nun ließ man vieles zurück. Nicht nur die
Vergeblichkeit einer eisenbahnerischen Aufbauarbeit, wie sie in so kurzer Zeit, unter so ungeheueren Schwierigkeiten und mit zahlenmäßig, manchmal auch noch mit ausbildungsmäßig so unzureichenden Kräften wohl noch niemals in der Welt geleistet worden war, sondern auch den Stolz auf diese Leistung. Als man im November bis in die Vororte von Stalingrad, bis Woronesh und bis an den Terek gefahren war, hatte die deutsche Reichsbahn Eisenbahnlinien in der Gesamtlänge von 161 000 Kilometern betrieben mit 1,7 Millionen Bahnbeamten und arbeitern in Feldgrau und Blau. Je größer eine Leistung ist, um so größer auch ist der Zusammenbruch der Freude und des Stolzes über sie, wenn sie vergeudet wurde. Was man geschafft hatte, was man wiederaufgebaut und neugebaut hatte, was man an mühsam beschafften Baustoffen, Betriebseinrichtungen und maschinellen Anlagen aller Art für Hunderte von Millionen Mark in die Bahnhöfe und Strecken, die Betriebswerke, Ausbesserungswerke und Lokund Wagenfabriken hineingesteckt hatte, war wieder zerstört worden oder diente nun dem Feinde, würde von Bahnhof zu Bahnhof weiter zerstört werden, weil es aus strategischen Gründen wieder zerstört werden mußte. Unter den Männern, die da standen und ihre Blicke noch einmal über den Bahnhof schweifen ließen, über die Dächer von Charkow, um die im Sommer Tausende und aber Tausende von Mauerseglern mit durchdringendem Geschrei durch die Wolken von Fliegen geschossen waren, war gewiß keiner, der weltfresserisch und kriegssüchtig gewesen wäre, aber sie wären keine Eisenbahner gewesen, wenn sie nicht mit Stolz auf ihre Leistung gesehen hätten. Ihr Berufsstolz war auch nicht gemindert worden durch die Tatsache, daß der eigene Wille und das eigene Vertrauen in die Möglichkeit vielfach nicht ausgereicht hätten, um diese Leistung zu erzielen. Eiserner Zwang, hinter dem drei verschiedene Gewalten standen, hatten sie erzielt: Der rücksichtslose, lebensbedrohende Befehl von oben, die Not der Kameraden an der Front und die Geißel der Elemente. Auf dem Untergrund dieses äußerlich und innerlich unentrinnbaren Muß, trieben dann der eigene Ehrgeiz, die eigene Liebe zur Sache, das eigene Pflichtgefühl und die Freude am Gelingen das persönliche Wissen und Können und die persönlichen Kräfte zur höchsten Entfaltung.
Dr. Dornberg sah Racke kommen. Er ging - wie immer sarkastisch heiter - auf ihn zu und beglückwünschte ihn zu seinem Erfolg in Prikolokino. „Warum lassen Sie den Kopf hängen, Inspektor? Sie haben doch alles Recht, ihn hochzutragen!“ „Wir vermissen unseren Kameraden Schepperl.“ Sie wurden abgelenkt: Schlumpe kam. Wenn man ihn so sah, hatte man den Eindruck, daß er lediglich aus Bescheidenheit und Abneigung gegen Ehren jeglicher Art nur eine ganz gewöhnliche feldgraue Uniform trug. In gemäßigter Eile, aber wohlabgewogenem Abstand von der Gruppe der Raupenschlepper strebte er der Mitte des Räumungszuges zu. Er befand sich sichtlich in gehobener Stimmung. Sein Antlitz prangte rötlich vom Widerschein des Sektgeistes und der Abschiedszärtlichkeiten. Und als hätten sie im Stellwerk nur noch auf Herrn Schlumpe gewartet, ging das Signal in Fahrtstellung. Der Fahrdienstleiter rückte an. Dornberg fragte Racke, ob er nicht mitkommen wolle? Racke dankte, sah Liebedorn an. Der verneinte mit einer leichten Kopfdrehung. Da ein plötzlicher Einbruch der Russen bis in den Hauptbahnhof nicht befürchtet zu werden brauchte, hatte er keine Bedenken, an Rackes Seite zu bleiben; dennoch sah er mit einem leisen Gefühl wehmütiger Entsagung Pikobello nach, der sich nicht zu seinen Mitlandsern in einen der Personenwagen begab, sondern auf den Plattformwagen kletterte, auf dem sein PKW verkeilt und vertäut stand. Er verschwand in ihm und es war anzunehmen, daß trotz einiger Pelze und Decken, mit denen er dem Kältetod vorgebeugt hatte, bei minus 18 Grad seine vorsorglich aufgetankte animalische Wärme bald kühleren Empfindungen weichen würde. Granaten schwerer Ferngeschütze orgelten und man hörte Einschläge im Stadtbereich. Im Nordwesten und im Süden rollte Geschützdonner. Charkow lag deutlich hörbar schon in und hinter der Hauptkampflinie, wenn man die paar aufgelockerten, beweglichen deutschen Kampfgruppen noch als solche bezeichnen konnte. Der Räumungszug fegte über die Weichen und hinaus auf die Strecke nach Ljubotin, daß die Funken sprühten. Der Triebwagen folgte in einem Tempo, als hinge seine technische Ehre davon ab, den wilden Ausreißer möglichst bald einzuholen.
Racke wandte sich langsam um. Er gedachte, sich im Bahnhofsgebäude in irgendeinem der vielen jetzt freien Winkel einzurichten und endlich einmal wieder über seine Aufzeichnungen herzumachen. Das Tagebuch hatte seit drei Wochen leere Seiten und der letzte Bericht für seine persönliche Chronik und an den Minister war nach dem Rückzug aus dem Räume Morosowskaja-Tazinskaja abgegangen. Er würde auch einen Brief schreiben müssen, den bisher schwersten seines Lebens. An eine Eisenbahnerfrau. Jenseits des Lopan gab es keine kämpfenden deutschen Einheiten mehr. Was bisher nicht hinter die Kampflinie auf dem Westufer gekommen war, mußte gefallen oder in Gefangenschaft geraten sein. Am liebsten würde er sich auch einmal richtig besaufen. Aber Pikobello war fort und Sekt hatte er nicht hinterlassen. In einem Winkel lagen ein paar Zentner Farbdrucke eines Hitlerbildes und ein Stoß der Frontzeitung „Die umgenagelte Spur“, die von der Pressestelle des Kommandos herausgegeben wurde. Sie hatte sich zur Aufgabe gestellt, über Arbeit und Erlebnisse der Feldeisenbahner zu berichten, zum gegenseitigen Verständnis und zur Kameradschaftlichkeit beizutragen, die Länder der Sowjetunion und ihre Bevölkerung zu schildern und auch den Humor zu pflegen. Am Jahrestag der Einnahme von Charkow durch deutsche Truppen, dem 24. Oktober 1942, war die erste Nummer erschienen, im November die zweite, zu Weihnachten die dritte und seitdem letzte. Racke vertiefte sich gleich in den ersten Bericht, eine Erinnerung an das ‚Jagdkommando Poltawa', jenen Freiwilligenverband aus Angehörigen von 15 EisenbahnerEinheiten, als zu Beginn des Jahres 1942 Charkow und die ganze Ostukraine so schwer bedroht waren. Der Kommandeur jenes Jagdkommandos und sämtliche Offiziere, ferner 9 Unteroffiziere und Sonderführer (G) und 11 Mann waren Feldeisenbahner vom Stabe des FEK 3 gewesen. 2 Offiziere und 1 Sonderführer waren gefallen. Racke schloß die Augen. Seine Gedanken gingen zum Grab des Bruders bei Krasnograd. Auch Wolf Dieter hatte in den Reihen des Jagdkommandos gestanden. Und von dem einen toten Racke gingen seine Gedanken zum andern, zu dem von polnischer Mörderhand gemeuchelten Vater. Nun war er der
letzte Racke. Nein, es gab noch einen, wenige Monate alt, Wolf Günther. Racke holte das Medaillon Evas mit dem Kinde, das er auf der Brust trug, hervor, betrachtete es in heißem Glück und leisem Weh des Fernseins und legte leicht seine Lippen darauf. „Du wirst leben, Wolf Günther, wenn ich sterben werde.“ Irgendwo wurde sein Name gerufen. Er wurde am Telefon verlangt. „Hier Inspektor Racke.“ „Ja Bluatsau! Endli bist do! Laß di griaß'n oide Hütt'n! Wo bleibst denn nachher so lang? Drei moi hob i scho o'gleit' heit. A jed's moi hot's g'hoaß'n: Dör Hörr In-s-pektor üst noch nicht da. I hob scho denkt, der Iwan hätt' eich no g'schnappt.“ Racke hatte sich während dieser Ansprache allmählich gesammelt. Auch wenn einem eine schwere Last allzuplötzlich von der Seele fällt, gibt das eine körperliche Erschütterung. „Schepperl“, antwortete er leise. „Du bist nicht -?“ Er redete nicht aus. Schepperl hatte ihn auch so verstanden. „Hin, moanst? Zweng wos? Ja, des foit ma ja gor net ei. Aba i hob doch des Partisanaflitscherl net auf'n Perron steh' laß'n kenna, wo da Iwan scho kemma ist un ois glei in d' Luft geh soit. D'Weiba san g'laffa, da Quacksalba is g'laffa und dee stinkat Loas is alloa doglen'g. In Zug hob i's nadierli nimma einibracht, da hob i's auf'n Schlitt'n g'schmiß'n und bin abg'haut mit oana Kuf'n oiwei im Schneegleis von dem Trum Pioniervehikel. Oiss is guat ganga, bloß da Gaul is hi, der oide Heita. Und in Osnowa hot mi heit fruah glei so a Kontrollär g'schnappt, so a nixiga, und mi do hintre g'schickt.“ Racke war nach dieser Ansprache Schepperls sehr warm und wohl ums Herz. „Was heißt do hintre?“ fragte er. „Wo bist du denn?“ „Auf'n Industriebahnhöferl Kleidafabrik. Geh weita, schaug, daß d'umakimmst! Bring an Sigi mit, den Faulenza, den ausgschamt'n! I brauchat no oan, sagst dem Scheich vom Bahnhof drie'm. Fuchzg Flasch'n Schampus hamma aa, weil i mi glei bei'n Pikobello beschwert hob. Host mi? Dee Janka, dees Mistviech, is scho bsuffa.“ Racke und Liebedorn holten ihr Gepäck, ließen sich den Fahrweg beschreiben, rollten mit einer Lok, die einen Zug in Osnowa zu holen hatte, die paar Kilometer bis zum Gleisanschluß
Silo, wo das gesuchte Industriegleis mit einem Strang Richtung Charkow und einem Richtung Osnowa einmündete, eigneten sich eine kleine Plattformdraisine mit Handbetrieb an, die bei der Bretterbude des russischen Weichenwärters stand und gondelten los in den Engpaß zwischen Silo und Lagerschuppen, Fabrikmauern und bewohnten Steinhäusern, Blech- und Bretterbuden hinein. Die Strecke gabelte sich; sie wußten, daß sie sich links halten mußten. Um eine enge Kurve biegend, sahen sie den zu einem kleinen Bahnhof ausgebauten Gleisanschluß Kleiderfabrik vor sich liegen, eine Baracke in einem großen, übersichtlichen Gleisdreieck mit einer Anzahl Abstellgleisen und Abzweigungen nach beiden Seiten. Das Gleisdreieck lag zwischen Lagerhallen und zwei weitläufigen, hohen Betonklötzen. Die Verladerampe vor dem linken dieser Bauwerke lag offen vor den Augen der Ankommenden. Einige Güterwagen wurden eben von Einheimischen beladen. Eine ganze Wagenschlange stand auf dem Gleis daneben. Die Ankömmlinge sahen Schepperl noch nicht, aber sie hörten ihn. Er mußte ganz groß in Form sein, denn er schrie in seinem Spezialhochdeutsch: „Hür beföhle ich! Haben Sie müch!“ Eine dünne Bürostimme erwiderte etwas, was sie nicht verstanden, um so besser verstanden sie Schepperl wieder. Er war der Ein- und Durchdringlichkeit wegen zu seiner Vater- und Muttersprache zurückgekehrt: „Raus mit de Meeb'n! Rei' mit de Klamott'n!“ Racke und Liebedorn flankten von ihrer Draisine herunter, stiegen die Steinstufen zur Rampe hinauf und gingen langsam auf die Gruppe zu, die sich da mit Worten raufte. Sie sahen nun neben einem schmächtig gebauten Kriegsverwaltungsinspektor den Inhaber der Büroluftstimme; er hatte ein molliges Bäuchlein und ein fleischbetontes, im Ruhezustand gewiß freundlich rosiges Antlitz mit doubleegefaßter Brille. Jetzt allerdings war es rot anund aufgelaufen und der sich um Lautstärke mühende Mund bebte vor Erregung und Empörung: „Was fällt Ihnen ein? Sie wollen einem Oberzahlmeister Vorschriften machen? Ein ganz gemeiner Eisenbahnsoldat!“ „Sie, gell! Hoit'ns Eahna fei z'ruck! Ein Eisenbahnsoldat üst nümals nücht ein ganz gemeiner! Und Sie kenna sei, wer
S'mög'n, i bin da Kommandant von den Bahnhof und von dene Wog'n!“ „Ich werde Sie zur Meldung bringen!“ erboste sich der Beamte. „Dees kenna S' macha, wenn S' a'gschiß'n wer'n woin! Meebe'n valod'n is vabot'n. Von General selba. Und a General is mehra ois a Zoimoasta. Oder net?“ „Die Möbel bleiben drin!“ kam der Kriegsverlängerungsinspektor seinem Vorgesetzten zu Hilfe und pflanzte sich so bedrohlich wie möglich vor Schepperl auf. „Guat“, antwortete Schepperl, plötzlich ganz freundlich. „No laßt's es drin. Aba da Zug bleibt steh', bis s' herauss'n san.“ Er drehte sich auf dem Absatz um, sah Racke und Liebedorn stehn und lief freudegrinsend auf sie zu. Aus einer seiner Manteltaschen ragte das obere Drittel einer entkorkten Sektflasche. „Drent'n isa!“ rief er ihnen zu und ruckte mit dem Kopf zur Dienstbaracke hinüber. Racke hatte zwar bayerisch ziemlich gut verstehen gelernt, aber wer der ‚ist er’ sein sollte, begriff er nicht. Janka? Janka war doch kein ,er' sondern eine ,sie'. Es war allerdings möglich, daß ihr Schepperl inzwischen eine Bezeichnung männlichen Artikels beigelegt hatte, zum Beispiel statt die Loas oder die Flitsch'n der Feetz'n. Also fragte Racke unsicher: „Wer? Janka?“ „Naa, dee net! Du Gauna, du windiga! - Da Schampus!“ „Und Janka?“ „Geh hoit ummi, nacher werstas scho seh'ng.“ Er drehte sich wieder um und Racke ging mit Liebedorn über die Schienen zu der Bahnhofsbaracke hinüber. Sie trug am Dachrand ein langes, weiß gestrichenes Holzschild, auf dem in schwarzen russischen Zeichen „Kanzel'aryja“ stand, die ukrainische Bezeichnung für Büro oder Kontor. Sie kamen in einen schmalen Gang, in dem in gleichmäßigen Abständen vier Türen lagen, alle auf der gleichen Seite. Die ersten zwei standen offen und beide Räume gähnten kalt, obgleich Öfen darinstanden, und in trostloser Leere. Im ersten war ein Stuhl, auf dem ein Telefon stand, die ganze Einrichtung, im zweiten ein großes Wandregal. Racke machte die dritte Türe auf. Auch hier war es hundekalt. In dem Halbdunkel, das schon herrschte, denn vor dem Fenster stand die Dämmerung, sah er ein zweistöckiges
Strohsackbettgestell. Unten lag der Sekt, Flasche neben Flasche in drei Reihen. Er schloß die Türe wieder, ging zur letzten. Hinter ihr also mußte Janka zu suchen sein. Er lauschte einen Augenblick, ohne etwas vernehmen zu können, klopfte leise und öffnete behutsam. Liebedorn sah ihm über die Schulter. Freundliche Wärme und ein leichter Geruch von Jodoform und Lysol, oder was es sonst sein mochte, gemischt mit Tabakrauch, kam Racke entgegen. Eine elektrische Birne hing von der Decke, in den Fensterrahmen war ein aus Kistendeckeln zusammengenagelter Verdunkelungsrahmen gepreßt. Der eiserne Kochofen glühte, ein Wasserkessel brodelte darauf. Ein riesiges Sofa mit Umbau, ein wahres Museumsstück, stand an der Wand und darauf war Janka gebettet. Sie schlief. Neben dem Tisch davor saß auf einem Lehnstuhl, dessen Armlehnen fehlten, zu zwei Dritteln eine Kolossalstatue von einer Frau, mit dem dritten Drittel saß sie in der Luft. Sie legte den Zeigefinger an den Mund, stand auf und ging bei all ihrer Schwere mit so leichten Schritten auf Racke zu, daß man fast nichts hörte und auch die Stube kaum schwankte und drückte ihn samt dem hinter ihm mit offenem Munde starrenden Liebedorn in den Gang zurück, machte die Türe hinter sich zu. Sie hatte auch keine eherne Stimme, wie man erwartet hätte, sondern eine völlig durchschnittlich helle und fraulich sanfte. „Cherren nicht können kommen in Zimmer, wo kranke Fräulein liegen Bett.“ Racke beruhigte sie. Janka sei seine Dolmetscherin. Natürlich wolle er sie im Schlaf nicht stören. Ob sie Fieber habe? Ob noch irgendetwas nötig sei für ihre Pflege? Nein, nichts war nötig. Alexandra Nikolajewna war berühmteste Hebamme in ganze Ukraine. „Kann auch heilen viel Krankheiten und Wunden.“ Wie er diese Frau nur aufgetrieben hatte! Schepperl war ein Genie. Racke ging beruhigt; er wollte sich, obgleich es schon dunkelte, örtlich ein wenig orientieren. Es war immer gut, sich in der Umgebung einigermaßen auszukennen. Er hörte, daß noch verladen wurde. Liebedorn wollte Schepperl helfen. Racke stapfte um das Gleisdreieck und fand zwischen hohen Fabrikwänden einen schmalen Gang. Man steckte darin
wie in einer tiefen Schlucht, in der es schon finster war, während der Himmel darüber noch die halbe Helligkeit des Abends hatte. Aus dieser hohlen Gasse kam er auf eine breite Straße. Da und dort stand in der Ferne trüber Feuerschein zwischen den farblos dunklen Silhouetten des Vordergrundes. Der Ostwind trieb ihm Brandgeruch in die Nase. Am Horizont flackerte von Zeit zu Zeit grünlich weißes Licht, auch rotes ab und zu. Eine pferdebespannte Munitionskolonne der Ari rumpelte vorbei. Die Batterien standen in Osnowa; sie beschossen russischen Nachschub und anrückende Reserven. Wo die vordersten Stellungen des Iwan waren, wußte man nie genau; unaufhörlich verschoben sie sich, vorwärts, seitwärts, rückwärts. Es war nun völlig Nacht. Racke machte sich auf den Rückweg. Er hängte die MP schußbereit, empfand wie leichtsinnig es war, sich jetzt noch allein in dieser Gegend herumzutreiben. Der Zug, der aus dem in der Kleiderfabrik untergebrachten Bekleidungslager beladen worden war, hatte das Bahnhöfchen schon verlassen. Es war alles still. An der Ecke der Baracke fuhr Racke der Scheinwerfer einer Stablampe ins Gesicht und er starrte in eine Laufmündung. Es waren zwei Mann eines Halbzuges einer Landesschützenkompanie, der das Bekleidungslager und das gegenüberliegende schon teilgeräumte Verpflegungslager, mit dessen restlichem Abtransport morgen begonnen werden sollte, zu bewachen und für einige Flaschen Sekt auch die Bahnhofsbaracke in ihren Posten- und Streifenplan mit einbezogen hatte. Die Türen waren jetzt zu und Racke traute seinen Augen nicht, als er die erste öffnete. Das Telefon stand auf einem Schreibtisch und der ganze übrige Raum war mit drei überdimensionalen Klubsesseln um einen runden Herrenzimmertisch herum ausgefüllt. Auf dem Tisch lagen neben Kekspackungen, einem halben Brot, zwei angebrochenen Wurstbüchsen und zerbrochenen Schokoladetafeln die Füße Schepperls und Liebedorns in Socken, in zweien der Sessel der körperliche Rest. Neben den Sesseln standen in Reichweite der Arme gewisse Flaschen und Trinkbecher. An den Wänden hingen die Stiefel, Mäntel, Koppel, Mützen, Knarren. Der eiserne Ofen glühte, es war eine Bullenhitze. Racke hängte sein Zeug neben das andere, flegelte sich in den dritten Sessel, streifte die Stiefel von den Füßen, griff nach Brot
und Wurst, schenkte sich ein und ließ es sich wohl sein. Als Hunger und Durst gestillt waren, schlief er ein. Schepperl rüttelte ihn wieder wach. „Zum Schlaff a brauch' ma an dritt'n Sessel selba.“ „So? Und ich?“ „Für di hot ma da Obazoimoasta nix mitgeb'n. Werst scho a Bett find'n“, setzte er anzüglich hinzu. „Laß das dumme Geschwätz!“ „Er will dir doch man bloß uff'n Arm nehmen“, tröstete Liebedorn. „Deine Bude ist nebenan. Du hast hier doch keene Ruhe. Um drei rollt der Leerzug für's Proviantdepot an. Außerdem rasselt hier egal det Telefon.“ Davon war bisher allerdings nichts zu merken, aber Racke stand auf, klemmte sein Zeug unter den Arm und ging hinüber. Er hatte zwar keine Klubsessel und keinen Schreib-, sondern nur einen gewöhnlichen Tisch, aber einen Polsterstuhl davor und etwas, was sämtliche Klubsessel und Schreibtische aufwog: ein weißes eisernes Feldbett mit Sprungfeder- und Auflegematratze. Auch hier war geheizt und auf dem Ofen stand eine ehemalige Heringsbüchse, Fassungsvermögen 10 Liter, als Wassertopf. Das Fenster war mit einem dunklen Stoffetzen verhängt. Mit heißem Wasser schruppen - welche Wohltat! Und sich nach bürgerlicher Sitte ausgezogen in ein richtiges Bett zu legen welche Lust! Man konnte es wagen, denn draußen schoben Landesschützen Wache und da vor den Toren der Stadt der deutsche Landser seinen russischen Kollegen noch ziemlich bissig seine Zähne zeigte, war auch sonst Aussicht, ungestört zu bleiben und in der Frühe unbeschädigt wieder zu erwachen. So geschah es auch, nur der Zeitpunkt stimmte nicht; es war bald Mittag. Die Bude war kalt geworden und Racke lief hinüber. Von den beiden war keiner da, aber sie hatten Feuer gemacht; auf dem Ofen sprudelte Wasser und auf dem Tisch war alles aufgebaut, was man sich zu einem kräftigen Frühstück nur wünschen konnte, außerdem einige Kartons mit mancherlei guten Dingen, die bisher nur dazu bestimmt gewesen zu sein schienen, zur Freude und zum Ruhm der über sie gesetzten Verwalter auf Lager gehalten zu werden. Er brühte Tee an, echten russischen natürlich, und sann dem raschen Wechsel der Lose im Frontschweinleben nach. Die einen
schwelgten, den andern rauchten die Nasenlöcher vor Kohldampf. Heute so, morgen umgekehrt. Gestern flog er aus der Krankenstube hinaus, heute begrüßte ihn Jankas Pflegerin mit lärmender Freude. Jankas dunkle Augen waren groß und still auf ihn gerichtet. Es war ihm, als spiegelte das schmale Antlitz zum ersten Male ein scheues Ja zum Leben. Er lachte sie an, aber der stille Ernst ihrer Züge veränderte sich nicht. Er trat an das Lager und gab ihr die Hand. „Wie geht es dir?“ Sie machte nur eine kleine Kopfbewegung. Er sah, daß ihr Auge auf seinem, von der Querschlägerprellung ihres Schusses grün, blau und gelb gefleckten Backenknochen haftete. „Nitschewo“, sagte er lachend. Sie lachte nicht zurück. „Hast du Schmerzen?“ fragte er. „Klein bißchen“, flüsterte sie. Er legte ihr zwei Tafeln Schokolade auf die Decke. Ein Blick, ein Hauch von den Lippen dankte ihm. Alexandra Nikolajewna mußte auf zwei Stunden weg. „Zu schöne junge Frau. Wird bekommen kleines Germanski.“ Liebedorn steckte die Nase herein. Er hatte gekocht; sie konnten schichtweise essen. Schepperl und Alexandra waren Schicht zwo. „Rindfleisch im eigenen Saft, Nudeln, Erbsen und Karotten“, zählte er mit fröhlich wippender Nase die Speisekarte auf. Racke lief das Wasser im Munde zusammen. Auf Tage des Hungerns oder des widerlichen Halbhungers dieser verrückten Kräftigungsmittelfresserei und Sektsauferei endlich einmal wieder eine vernünftige warme Mahlzeit! „Wir wollen hier mit Janka zusammen essen“, sagte Racke. Er half ihr sich aufsetzen und stopfte ihr ihren Lammfellmantel zusammengerollt hinter das umfangreiche, mit bunten Glasperlen bestickte Sofakissen ins Kreuz. Er schnitt ihr das Fleisch klein und legte ihr eine ,Umgenagelte Spur' als Serviette auf den Schoß. Ein Hauch von Glück legte sich wie ein ganz feines Licht über den Ernst ihres Wesens. Wahrscheinlich hatte noch niemals ein Mensch sich fürsorglich um sie gekümmert. Alexandra Nikolajewna kehrte zurück. Strahlend. Der Sohn des unbekannten Soldaten wog 11 Pud. Die Mutter lache ohne Unterlaß vor Freude.
Liebedorn brach auf, um Schepperl abzulösen. Racke nickte Janka und ihrer Pflegerin zu und begleitete ihn. An der Rampe vor dem Verpflegungsmagazin standen drei G-Wagen, jeder vor einer der drei Türen in der langen Front des Gebäudes mit je drei Wagenlängen Abstand voneinander. Neben der Türe jedes Wagens saß ein feldgrauer Schreiber, er trug in Listen ein, was verladen wurde. Vor jeder der drei Magazintüren stand ein Verwaltungsinspektor und ließ kein Auge von den Zivilisten, die die Waren anschleppten. Da Ladeschaffner nicht verfügbar waren, hatte Schepperl diese Aufgabe mit übernommen, und um das Ein-und-Aus der Warenschlepper auf der Rampenseite nicht zu behindern, benützte er die rückwärtigen Waggontüren, in einem Racke höchst verdächtig anmutenden Eifer dafür Sorge tragend, daß das Ladegewicht möglichst gleichmäßig verteilt wurde. Unermüdlich turnte er von einem Wagen in den andern, immer wieder selbst mit Hand anlegend. Seine dienstlich gewichtige Miene machte ihn für Zahlmeister und Zahlmeisteraspiranten völlig unnahbar, seine geharnischte Redeweise unangreifbar. Es war nahezu erhebend zu sehen, wie dieser feldgraue Reichsbahnbetriebswart bei schneidender Kälte mit Schweiß auf den sichtbaren Gesichtsteilen seiner Aufgabe oblag. Alle 10 bis 15 Minuten stapfte er zu der 100 Meter entfernten Telefonwellblechbude bei der Einfahrweiche. Kollegen hätten darüber den Kopf geschüttelt oder, wie Racke es tat, ein Auge zugekniffen, die Verwaltungsmilitärs aber erkannten daraus die bahnstrategische Bedeutung seines Postens. Liebedorn löste Schepperl ab und eiferte ihm getreulich nach, wenn er auch nicht so viel imponierende Wucht in sein schlaksiges Gestell zu legen vermochte und sein treuherziges Gesicht, dem Nase und Gurgelknopf das hervorstechende Gepräge gaben, des Ausdrucks der unantastbaren Schepperischen Entschlossenheit nicht fähig war. Racke betrachtete sich den Verladebetrieb eine Zeitlang aus übersichtlichem Abstand, bewunderte die gewissenhafte listenmäßige Erfassung und scharfe Aufsicht vorne und die Geschäftigkeit Liebedorns hinten, sah auch ihn schon nach kurzem zum Telefon rennen. War ein Wagen voll, so wurde er auf beiden Seiten feierlich verplombt und von den Zivilisten auf das Nebengleis geschoben,
weil keine Rangierlok zur Verfügung stand. Seit Tagesanbruch wurde verladen; es war jetzt 13 Uhr. 6 Waggons waren geschafft. Wenn die umständliche Methode beibehalten wurde, waren bis Einbruch der Nacht noch 3 Wagen voll und drei Wagen zur Hälfte beladen. 72 Achsen standen bereit. Das würde noch zwei Tage dauern. Das Depot war aber noch so voll Lebensmittel und Genußwaren, daß dreimal 72 Achsen nicht ausreichten, um es zu leeren. Racke ließ sich zum Intendanturrat führen. „Herr Rat“, sagte er zu ihm, „an der Rampe haben 9 Waggon Platz, die zu gleicher Zeit beladen werden können.“ „Das geht nicht. Ich habe nicht so viel Schreiber und die Kontrolle über die Zivilisten ginge verloren.“ „Wenn auch die Nacht über verladen würde“, fuhr Racke unbeirrt fort, „könnten wir bis morgen abend - und ich fürchte, das ist der letzte Termin - zwei Züge mit je 120 Achsen auf den Weg bringen.“ „Um Gotteswillen, wo denken Sie hin? Was glauben Sie, was da beiseite gebracht würde? Wir haben ja auch bei weitem nicht so viel Arbeitskräfte.“ „Die Arbeitskräfte haben Sie rasch, wenn Sie etwas Lebensmittel an sie ausgeben.“ „Dazu bin ich nicht berechtigt.“ „Und wenn die Hälfte des Depotbestandes dabei gestohlen würde“, fuhr Racke fort, ohne den Einwand zu beachten, „so würden Sie doch die andere Hälfte wegbringen.“ „Ich würde an die Wand gestellt, und mit Recht, wenn ich das mir anvertraute Heeresgut so leichtfertig verschleudern würde.“ „Herr Rat, Sie müssen doch einsehen, daß es besser ist, bewußt die Hälfte zu opfern, um die andere Hälfte zu retten! Denn wenn Sie bei Ihrer gewissenhaften Räumungsmethode bleiben, bringen Sie nicht einmal mehr den vierten oder fünften Teil fort!“ „Ihr Vorschlag ist völlig undiskutabel. Ich trage die Verantwortung für die sachgemäße Verwahrung und den Verbleib jedes Gramms meiner Bestände. So lange ich nicht durch die Ereignisse selbst dazu gezwungen werde, kann ich nicht dulden, daß auch nur kleinste Mengen ordnungswidrig verlustig gehen, geschweige denn, großen Verlusten Vorschub leisten! Das verbietet mir nicht nur meine Vorschrift, das verbietet mir auch
das eigene Gewissen. Ich habe einen Eid geleistet, mein Herr, und Heeresgut ist mir heilig.“ Racke gab noch immer nicht nach. „Ich habe die größte Hochachtung vor Ihrer Auffassung, Herr Rat, aber eben darum müßten Sie doch das tun, was nach Lage der Dinge notwendig ist, damit eben möglichst wenig verloren geht!“ Der Rat wurde allmählich erregter und seine Stimme schärfer. „Kennen Sie bei der Bahn die Lage der Dinge genau? Wissen Sie, wann der Russe da sein wird?“ „Nein“, antwortete Racke ruhig wie zuvor. „Vielleicht noch heute, vielleicht in drei Tagen.“ „Oder in drei Wochen! Oder überhaupt nicht! Und dann stehe ich vor einem Kriegsgericht und innerhalb 24 Stunden an der Wand.“ „Die Räumung Charkows wurde schon vor fast drei Wochen angeordnet.“ „Und vor 10 Tagen haben wir noch einen Proviantzug erhalten und ausgeladen. Als das geschehen war, kam der Befehl zur Räumung des Magazins, aber es kam kein Befehl zur Auflösung der verwaltungsmäßigen Ordnung. Ich habe sofort das nötige Wagenmaterial angefordert, heute endlich bei Tagesanbruch kam der Leerzug. Ich werde bleiben, bis der gesamte Bestand mit genauem Nachweis verladen ist oder bis mich der Feind zwingt, das Feld zu räumen.“ Racke verbeugte sich schweigend und verließ das Gebäude. Auf dem Weg zum Quartier begegnete ihm Schepperl, er trieb die Draisine mit zwei großen leeren Kisten drauf zur Telefonzelle. „Magst ma helfa?“ fragte er kurz. „Was denn?“ „Kimm mit, nacher siggstas.“ Racke kam mit und sah es. Das Telefonhäuschen war voll von unten bis oben mit kleinen Kisten, Säckchen, Kartons, Büchsen, Kübeln, Eimern, Flaschen und Broten in Wachspapier, man mußte den Hörer vor die Türe holen. „Ist das nicht ein bißchen zu üppig?“ fragte Racke. „Soi'ns d' Russen fress'n und saufa? fuhr Schepperl auf. „Oda soll's vabrenna? Mia hol'n no vui mehra!“ Racke mußte zugeben, daß die beiden Oberhalunken in diesem Falle durchaus recht hatten. Er half emsig mit verladen.
Nur gut, daß Telefonzelle und Draisine durch die abgestellten Wagen gegen Sicht von der Rampe her gedeckt waren. Als sie die Vorräte in Zimmer 3 geborgen hatten, machte sich Racke an seine Schreiberei. Schepperl und Liebedorn kamen beide, als es so finster war, daß man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Sie schleppten selbstverständlich wiederum eine Kiste in die Vorratskammer. Alexandra Nikolajewna mußte kochen. Aus dem Essen wurde ein Gelage. Auch bei den beiden Frauen. „Ich schau' mal auf einen Sprung hinüber“, sagte Racke. Er bewegte sich schwerfällig, so knallvoll war sein Bauch. Die ganze Krankenstube roch nach Frische und Seife. In der Ecke stand ein großer Badezuber. Janka hatte eine blütenweiße Bluse mit langen Ärmeln an; vielleicht war es auch ein Nachthemd. Und - Racke traute seinen Augen nicht - Jankas Augen glänzten ihn freudig an und auf ihren Wangen lag wahrhaftig Farbe. Sie hatten gespeist wie Kommissarinnen und Sekt getrunken. Janka war aus einem schmutzigen Bettelkind eine Prinzessin geworden. Sie zog seine Hand an ihre Lippen. Verlegen wehrte er ihr und doch heiter, da er sie so glücklich sah. „Es ist auch für uns ein Märchen“, lachte er. „Auch wir sind viel öfter hungrig als satt und tagelang dreckig, ehe wir wieder einmal von Kopf bis Fuß sauber sind. Wenn man wie ein Schwein leben muß, sieht man eben auch aus wie ein Schwein.“ Aus dem ‚Sprung' wurde eine Stunde. Schepperl und Liebedorn schliefen schon, schnaufend wie Asthmatiker, als Racke wiederkam. Er zog sich mit einer Flasche Rotwein in sein Eigenheim zurück, machte noch einmal Feuer und setzte seine Arbeit fort. Aber es war nicht weit her damit. Farbe und Blume des Weins, der Duft erstklassiger Zigaretten, wie er sie schon seit Kriegsanfang nicht mehr gesehen hatte, das Medaillon mit Eva und Wolf Günther und der neue Ausdruck der Augen und des Mundes des jungenhaften Mädchens zwei Türen weiter umsponnen sein Herz mit Träumen von den Wundern des Lebens. Die Nacht war ruhig. Von Zeit zu Zeit hörte er den Schritt des patrouillierenden Doppelpostens. Er sah im Licht den bläulichen Nebel des Zigarettenrauches ziehen...
9. KAPITEL
Es polterte draußen. Er erwachte. Es war Tag. Der 11. Februar. Schepperl und Liebedorn machten beide Außendienst; es lohnte sich. Gegen Mittag wurde es lebendig um das Bahnhofchen; Sanitäter und Leichtverwundete trieben sich herum. Es handelte sich um einen Truppenverbandsplatz, der sich bis hierherein hatte absetzen müssen. Die Sanitätsoffiziere hatten an der Straße vorne eine leere Fabrik belegt, aber nichts zum Heizen. Racke hielt sich in der Nähe der Landser; sie waren im Stande, ein paar G-Wagen klein zu machen, wenn sie nichts anderes fanden. Der Zutritt zur Kleiderfabrik wurde ihnen durch den Posten verwehrt, der das nur teilweise geräumte Bekleidungslager nach wie vor zu bewachen hatte, obgleich von einem weiteren Abtransport nichts bekannt war. Aber zwischen der Bahnhofsbaracke und dem Proviantdepot lag eine langgestreckte Lagerhalle, die zwar verschlossen war, jedoch unbewacht. Die Landser brachen sie auf. Es gab ein großes Hallo. Racke wurde neugierig und ging auch hinüber, stand wortlos und starrte. Tausende von Ski, zehntausende wohl - ein ganzer Wald aus Esche und Hickory. Die Landser starrten ihn an. „Was ist damit?“ Er zuckte die Achseln. „Gut, pack' mer's.“ Sie packten zu und die einen luden sich die Ski auf die Schultern, drei Paar, vier Paar auf jede, die andern trugen sie gebündelt, zehn Paar und mehr aufeinandergeschichtet, ein Mann hinten, einer vorn, wie man Bahren trägt, davon oder zogen sie einfach wie Schlitten hinter sich her. Der Posten vor dem Bekleidungslager sah gleichmütig zu. Er hatte keinen Befehl, das Skilager zu bewachen. Vielleicht wußte überhaupt niemand etwas von ihm, oder es war in Vergessenheit geraten. Racke wußte etwas von ihm. Er wußte, daß diese Ski von Zehntausenden von Wintersportlern und -Sportlerinnen schon im Winter des Vorjahres für die deutschen Soldaten geopfert worden waren, damit sie im tiefen Schnee der Weiten Rußlands nicht versinken sollten. An diesen Ski hatten Tausende von
Herzen gehangen. Wie groß der Verzicht gewesen war, konnte nur ermessen, wer wußte, daß für einen Skiläufer und eine Skiläuferin die Brettln das Glück bedeuten. Und das war nun ihr Ende. Immerhin war erfreulich, daß das Skilager noch rechtzeitig von den Landsern entdeckt worden war; nun würde es doch noch etwas Gutes bewirken, würde für Hunderte von frierenden Verwundeten und Kranken und ihre Pfleger warme Stuben und Säle geben, für die Ärzte warme Operations- und Behandlungsräume, warme Unterkünfte. Dennoch war Racke tief betroffen. Noch erschütterter aber war er, als er mit einem Leutnant der Landesschützen, einem Studienrat mit weißem Haar, der die Posten kontrollierte und ihm gesagt hatte, er könne ihm noch etwas ganz anderes zeigen, durch das angeblich bis auf geringe Reste geleerte Bekleidungslager ging. Die Erdgeschoßräume der einstigen Fabrik waren leer bis auf große Öfen, lange Tische und riesige Regale. Es schienen die Büro- und Ausgabestellen gewesen zu sein. Im ersten Stock waren noch einige Stapel bis zur Decke von so ziemlich allem, was ein Soldat von unten bis oben zum Anziehen braucht. Es war betrüblich, daß noch so erhebliche Mengen von Leibwäsche und Uniformen zurückgeblieben waren. Was Racke jedoch im nächsten Stockwerk sah, ging ihm noch mehr an die Nieren. Er stand vor ganzen Mauern von Pelzmänteln. Sie waren gewissenhaft nach Pelzart und Zustand sortiert, neben Schaf, Kaninchen, imitiert und echt Fohlen und Nutria gab es wertvollste Pelze wie Nerz, Skunks, Waschbär, Silberfuchs, Krimmer, Persianer, Feh, Seal, Opossum, Otter und Biber; Damen- und Herrenmäntel, Jacken, Westen, Kragen und unverarbeitete Felle. Tausende und abertausende Stücke im Werte von vielen Millionen. Das war ein Teil der Pelzspende aus den beiden Wintersammlungen des deutschen Volkes, insbesondere der ersten, für seine frierenden und erfrierenden Soldaten im Osten. Berge von Spenden waren der Front zugegangen. Nicht nur gegeben hatte das Volk, geopfert hatte es! Nicht nur, was man leicht entbehren konnte, war in die Sammelstellen gebracht worden, viele hatten den besten, den wärmsten Mantel gegeben und sich selbst mit einem älteren oder leichteren begnügt. Und hier lag es! Und so wie es hier lag, so lag es wahrscheinlich
überall in den Bekleidungslagern vom Eismeer bis zum Kaukasus. Und die Landser in den Eisgräben und Schneelöchern der Front, die Verwundeten auf Schlitten und Karren und in ungeheizten Hilfslazarettzügen hatten Unmenschliches ausgehalten an Frostqualen, ihre Glieder erfroren, ihr Leben verloren! Wer trug die Schuld an diesem Verwaltungswahnsinn? Racke hätte dem nächstbesten der Verantwortlichen an die Gurgel springen mögen. Er schenkte es sich, noch eine Treppe höher zu steigen, um auch den Anblick der tausend oder zweitausend Paar Skistiefel zu genießen. Er drückte dem bejahrten Leutnant die Hand und lief in die Kanzel' aryja hinüber ans Telefon. „Was?“ wurde er ausgelacht. „Versorgungsgüter wollen Sie abfahren? Auf eigene Faust? Wagen können Sie haben, soviel Sie wollen, aber keine Lok dazu.“ „Ich komme selbst. Schluß!“ rief er in den Apparat, verständigte seine zwei und ging los. Im Langlauftempo. Er brauchte Bewegung, um sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Auf der Hauptstrecke fuhren kurz hintereinander drei Züge an ihm vorbei; sie kamen von Osnowa. Es rührte sich noch allerhand! Auch im Hauptbahnhof. Er lief Oberrat Brandner in die Arme. Der Leiter der Maschinenabteilung war mit einer der Lok, die im Pendelverkehr die Schlangen der Leerwagen aus Charkow nach Ljubotin schleppten, zurückgekommen, um selbst zu überprüfen, ob der Einsatz der wenigen noch verfügbaren Maschinen auch reibungslos und zweckmäßig genug erfolgte. Für eine aufenthaltslose Durchfahrt in Nowo Bavarija hatte er ebenfalls gesorgt. Er lehnte Rackes Ansinnen nicht nur ab, er war aufgebracht darüber. „Das ist einfach unmöglich! Unsere Lok reichen schon nicht aus, um die 7000 Wagen abzufahren, die noch hier stehn, obgleich doch seit Wochen Tag und Nacht gefahren und gefahren wird. Der Transportchef verlangt von uns bei Todesstrafe die rechtzeitige Sicherstellung des rollenden Eisenbahnmaterials. Glauben Sie, ich werde mich Ihrer Pelze und Ihrer Fleischbüchsen wegen erschießen lassen? Dr. Dornberg auch nicht. Was denken Sie, was für Unmengen von Versorgungsgütern der Wehrmacht zwischen Tschir und Charkow bisher schon verloren gegangen sind und was trotz dreiwöchiger
Räumung hier noch vernichtet werden muß? Was Sie da noch wegbringen wollen, ist im Verhältnis ganz unbedeutend.“ Racke packte mit der unteren Zahnreihe nervös die Oberlippe, ließ sie wieder los. „Ich kann das einfach nicht mit ansehen.“ „Dann schauen Sie eben nicht hin“, antwortete Brandner trocken. „Der Krieg ist überhaupt nur zu ertragen, wenn man nicht hinschaut. Wir müssen ihn aber ertragen, zum Teufel nochmal!“ Nach diesem Anschiß schüttelte er ihm freundschaftlich die Hand und lief zu der Lok, die schon gellend nach ihm pfiff. Jeder Lokführer hatte es eilig, aus Charkow wieder hinauszukommen. An einzelnen Stellen hatte sich der Iwan schon in den östlichen Außenbezirken der Stadt festgebissen. Bei Nowa Bavarija waren im Vorbeifahren Panzerkämpfe zu sehen. Erst in Ljubotin konnte man wieder aufatmen. Dort stand SS in Reserve und die jungen Kerle hatten einen Auftrieb, als brauchten sie nur auf den Knopf zu drücken und der Iwan verschwände bis hinter den Ural. Und was noch beruhigender war: Ljubotin war das einzige Loch, aus dem man vorläufig noch mit Sicherheit hinauskam. Racke ging zurück. Nicht mehr im Waldläufertempo, sondern im langsamen Schritt des philosophischen Spaziergängers; er hatte keine Eile mehr. Er hatte die Waffen gestreckt, es blieb ihm nur übrig, Schepperl und Liebedorn zu fragen, ob sie auch eine Lok stehlen könnten? Es war schon wieder Nacht. Die fernen Brände lohten. Um Blockstelle, Kleiderfabrik und Proviantdepot herum ging es noch lebhafter zu als vorher. Zur Skiträgerkolonne der Sanitäter und Leichtverwundeten waren Quartiermacher gekommen. Zwei Unteroffiziere und sechs Mann auf Beiwagenmaschinen. Wie die Räuber sahen sie aus. Das I. und III. Bataillon eines völlig abgekämpften Regiments, das zwischen Besljudowka und Osnowa in Stellung lag, waren für ein paar Tage herausgezogen worden. Nicht ganz 500 Mann noch, einschließlich Kompanietroß, Küche und Schreibstube. Sie mußten allerdings alarmbereit sein und möglichst nahe zusammen untergebracht werden. Den ganzen Weg herein hatten sie nichts gefunden, was nicht entweder ausgebrannt war oder in Trümmern lag. Noch weiter als bis hierher durften sie aber von ihrem Einsatzraume nicht zurück, waren die erschöpften Haufen auch gar nicht zu bringen. Wohin nun mit ihnen? Racke sagte: „Ich glaube, ich weiß Rat. Kommt mal rein.“
Sie rissen Maul und Augen auf. So ein Quartier hatte seit Jahr und Tag nicht einmal mehr der Regimentskommandeur gehabt. „Ich auch nicht“, sagte Racke. „Wann kommen die Bataillone?“ „In drei, vier Stunden.“ „Dann habt ihr ja noch Zeit. Macht's euch mal bequem.“ „Das geht nicht, solange wir noch keine Quartiere haben.“ „Fünf Minuten“, beruhigte sie Racke, ging hinaus, kam mit Brot, Wurst, Butter, Käse zurück, verschwand wieder und brachte eine Kanne heißen Tee aus Zimmer 4 und zwei Flaschen aus Zimmer 3. Den Frontschweinen traten die Augen aus den Höhlen. Racke erklärte ihnen die Herkunft des Tischleindeckdich. Sie aßen und tranken mit vollen Backen. Währenddem führte er sie theoretisch in die Räumlichkeiten des Bekleidungslagers ein. Die beiden Unteroffiziere gingen mit ihm hinüber, erklärten den Posten, sie hätten Befehl, in diesem Gebäude für 500 Mann Quartier zu machen. Die Posten wehrten sich dagegen: Sie dürften niemand hineinlassen. Befehl der Standortkommandantur. „Quatsch! Hier ist nicht mehr Standort, sondern Front. Haut ja ab! Wenn unser Alter kommt, der kassiert euer ganzes Scheißwachbataillon und wirft's dem Iwan zum Fressen vor.“ Eine Stunde später qualmten die großen Öfen und stanken nach Skiwachs. Das Holzlager war ja gleich gegenüber. Dreihundert Raummeter Ski! Soviel konnten sie in acht Tagen nicht verbrennen und wenn für den Verbandplatz noch so viel fortgeschleppt wurde. Nach einer weiteren Stunde glühten die Öfen; sie ließen die Türen auf und es wurde auch im Stockwerk darüber warm. Stroh gab es nicht, brauchte man auch nicht. Aus zweitausend Drillichanzügen und einigen tausend Pelzmänteln und Pelzjacken konnten sich 500 Mann die herrlichsten Betten bauen. Paradiesbetten. Nur der Mottenpulvergeruch war lästig, aber der würde im Landseraroma und all den anderen Gerüchen des Quartierlebens umgehend untergehn. Aufgeregt kam der weißhaarige Kompanieführer der Landesschützen an; einer der Posten hatte ihn geholt. Er sah durchaus ein, daß das Gebäude samt Inhalt gar keinem besseren Zweck zugeführt werden konnte, aber er mußte es weitermelden. Beim Ausgang lief er Pionieren in die Arme. Sie hatten den Auftrag, die Sprengung und Brandlegung des Bekleidungs- und
des Verpflegungslagers vorzubereiten. Der Studienrat-Leutnant meinte, da könne er ja seine Posten einziehen. Der Pionierobergefreite, ein Lehramtskandidat, stellte sich empört. „Um Gotteswillen, Herr Leutnant! Sie sind doch dafür verantwortlich, daß alles vorschriftsmäßig in Flammen aufgeht und ja nichts in die Hände deutscher Soldaten fällt!“ Die Pioniere setzten an Hand der Zerstörungsliste ihren Rundgangfort, vier der Quartiermacher brausten ab, um ihren Bataillonen den Weg zu weisen. Die Landesschützen begleiteten ihren Leutnant und Racke machte sich über seine Arbeit her. Um Mitternacht kam die Lok, um die 36 Wagen des Verpflegungslagers zu holen. Der Lokführer hatte strengen Befehl, sich nicht aufhalten zu lassen, aber Schepperl weigerte sich, die drei noch fast leeren Wagen, in die eben erst verladen wurde, und die drei noch ganz leeren Wagen anhängen zu lassen. Der Lokführer beendete die kurze, aber inhaltsklare Auseinandersetzung mit der in solchen Fällen üblichen Schlußpointe. Schepperl schrie noch zu ihm hinauf: „Du mi aa! Und dee sechs Wog'n kemma a ohne di wegga, du Rohzleffa, du gschiß'na! und wann i s' selba nach Ljubotin einizian'g müassat!“ „Wenn ihr die Wagen übernehmt, seid ihr für sie verantwortlich“, gab Racke zu bedenken. „Und wie wollt ihr sie wegbringen?“ „Des kriagma scho“, gab Schepperl zurück. „Mach keine Dummheiten“, mahnte Racke. „Die Kriegsgerichte sind kurz angebunden.“ „I aa“, war Schepperls Antwort und er stapfte wieder zur Verladerampe hinüber. Er ließ auch die letzten drei noch beladen, tröstete den Intendanturrat: „I bring s' scho no wegga.“ Als er sie aber, nachdem alle voll beladen und verplombt waren, vor die Bahnhofsbaracke rangieren lassen wollte, widersetzte sich der besorgte Beamte. Sie hätten an der Rampe stehen zu bleiben, damit er selbst ein Auge auf sie haben könne. Erst als ihm Schepperl auseinandergesetzt hatte, daß die Wagen bei Tag zur Hauptstrecke geschoben werden mußten, wo er sie irgend einem vorbeifahrenden Zug anhängen werde, und Racke Schepperl zu Hilfe gekommen war, gab er nach. Racke tat der Intendanturrat leid. Der schon recht betagte Herr war seit Beginn der Verladung kaum von der Stelle gewichen und
hatte dennoch Schepperls und Liebedorns Freibeuterei, an der Racke nach Lage der Dinge durchaus keinen Anstoß nahm, nicht verhüten können. Er hätte längst dem Beispiel der Kollegen vom Bekleidungslager folgen und das stündlich gefährlicher werdende Pflaster Charkows verlassen sollen. Aber er wollte offenbar mit dem Rest seines Lagers untergehn. Racke hatte das Bedürfnis, ihm etwas Tröstliches zu sagen: Die nicht geräumten Bestände brauchten keineswegs verloren zu gehn. Sie könnten doch auf das allereinfachste und zweckmäßigste gerettet werden. Er brauche sie ja nur auszugeben. 500 Mann kämen noch in der Nacht aus ihren Stellungen zurück. Mindestens die doppelte Zahl sei auf dem Verbandsplatz. Auf der Straße vorne zögen Kolonnen vorüber. Die Feldeisenbahner und ihre Hilfskräfte hätten seit Tagen keine vernünftige Mahlzeit mehr fassen können. „Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten“, war die Antwort. Racke legte ohne ein weiteres Wort die Hand an die Mütze und ging weg. Kaum war er im Quartier, rollten vor den Fenstern die sechs Wagen an. Auch bei der Kleiderfabrik drüben wurde es geräuschvoll lebendig; man hörte Stimmen, wie sie - zwangsläufig - nur Kompaniefeldwebel zu haben pflegen. Zwei Stunden lang dauerte der Krach. Aber solange vernahm ihn in der Dienststelle, über deren Baracke Kanzel'aryja stand, weder Racke noch sonst jemand. Schepperl schnarchte so gewaltig in seinen zwei gegeneinandergestellten Klubsesseln, daß alle Außengeräusche auch dem feinhörigen Liebedorn unhörbar wurden. Sie wußten nichts davon, daß es schon heller Morgen war, als im Flur draußen Schritte polterten, von denen sie nichts hörten. Erst als kurz aber hart geklopft und die Türe aufgerissen wurde, tauchten sie aus der Tiefe des Schlafes langsam an die Oberfläche des Erwachens. Eine dunkle, halbheisere Stimme fuhr Liebedorn wie der Ruf eines Erzengels in Ohr und Seele und riß das obere Drittel seines langen Leibes, das im Klubsessel lag und die zwei unteren Drittel, die auf dem Klubtischchen ruhten, aus der horizontalen Lage. „Herrgottsakrament, schläft die Bande noch! Knopfloch, lassen Sie mal Tag herein und frische Luft! Hier stinkt's ja wie in einem Dachsbau!“
Der Packpapiervorhang schnellte hoch. Liebedorn stand im hellen Licht des Tages, zog, errötend wie ein ungewaschenes Mädchen, die Decke enger um Hemd und Unterhose und starrte auf den Offizier, der mit lachendem Gesicht, unter dem das Eichenlaub aus dem Mantelkragen schaute, im Türrahmen stand. Schepperl dagegen hatte sich nicht einmal umgedreht. In schleppendem Tonfall und noch stark nasal von der nächtlichen Verschleimung klang's aus der Tiefe seines tiefen Sessels: „Wos magst? Mir sankoa Bande, mir san a Eisenbahndienstschdelle. Des merkst da! Und de is no geschloß'n! Net wohr! Und stinka kenn' ma, wia ma mög'n. Host mi?“ Liebedorns Gurgelknopf erstarrte vor Schreck. Aber der Oberstleutnant unter der Türe, der so jung war, als ob er noch nicht einmal Hauptmann sein könnte, grinste nur und sagte: „Gestatten die Herrn, daß man trotzdem in diesen verdammt vornehmen Etappensalon eintritt.“ Sein rechtes Auge war leicht zugekniffen, der rechte Mundwinkel ein wenig verzogen. Liebedorn bekam ganz große und traurige Augen vor Bewunderung dieses Mannes und wehmütiger Erkenntnis seiner äußeren und inneren Wenigkeit und der Vergeblichkeit höherer soldatischer Bemühungen seinerseits. Und er schämte sich doppelt, daß er wie ein Zigeuner dastand mit schlafverkleisterten Augendeckeln und daß der hohe Offizier sie wie seinesgleichen behandelte, obgleich er doch ihre Landserklamotten auf dem Fußboden liegen sah. „Entschuld'jen jehorsamst, Herr Oberstleutnant -“ Mehr brachte er nicht heraus, aber auf das „Oberstleutnant“ hin drehte sich Schepperl um, starrte mit schiefem Kopf auf den Besucher, wälzte sich aus der Decke, fuhr in Hose und Jacke, ohne die Knöpfe zu schließen, drückte den Bauch heraus und meldete: „Bahnhof Kleiderfabrik mit einem Betriebswart, der sell bin i, und einem Sekretär zur Stelle. Und nix für unguat. Mir ham nämli de ganz Nacht Dienst g'macht.“ Der Oberstleutnant streckte laut lachend die Hand aus. „Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich natürlich nicht so früh hier eingebrochen.“ Schepperl drückte die Hand und sagte: „Nitschewo. Hob die Ehr! Bloß daß net moana, mir war'n Faulenza, nixige.“
Auch Liebedorn bekam einen Händedruck. Seine Löffel glühten vor Aufregung. „Es ist mir fürchterlich peinlich“, stotterte er und sah mit einem verzweifelten Blick an sich herunter. Der Oberstleutnant sagte: „Mensch, quasseln Se nich! Kommen Se mal rüber zu meinen Kerlen! Die laufen wie Balletteusen nackt in Pelzmänteln und Pelzjacken rum!“ „Ja, so was ausg'schamt's!“ entrüstete sich Schepperl, während er seine Knobelbecher anzog, richtete sich wieder auf, nahm eine korrektbeamtliche Haltung an und fragte: „Wos hätt'n S' denn möng, Herr Oberstleutnant?“ „Eigentlich nichts als eine anständige Tasse Kaffee.“ „Wos? An Kaffee? Koan Schampus? Oda no vui bessa: An Stoahäga?“ In diesem Augenblick kam Racke herein. Er hatte das Klopfen und die fremde Stimme gehört. Es wäre vielleicht gut, wenn er sich darum kümmerte, was los war, hatte er gedacht und sich rasch angekleidet. Der Oberstleutnant drehte sich nach ihm um. Einen Augenblick sahen sie sich verblüfft an. Racke grüßte straffer, als er es in selbstverständlicher Disziplin ohnedies getan hätte: er hatte den ehemaligen Major Normann auf den ersten Blick erkannt. Augenblicklich stand ihr gemeinsames Spritzugunternehmen bei jenem Dschingiskaja vor seinem geistigen Auge, als wäre es erst gestern gewesen. Normann war mit drei raschen Schritten bei ihm, schüttelte ihm die Hand: „Inspektor Racke! Großartig, daß wir uns einmal wiedersehn!“ Racke sagte nichts von seiner Freude des Wiedersehens, sie strahlte aus seinen Augen. „Meine Quartiermacher“, fuhr Normann fort, „erzählten mir von der tollen Aufnahme hier. Nach der Beschreibung hätte ich mir eigentlich denken sollen, daß Sie das sein müssen.“ „Willkommen, Herr Oberstleutnant! Ich hörte eben, daß Sie gerne einen anständigen Kaffee tränken. Haben wir. Und, wie Sie schon sicher wissen, noch einiges dazu. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich ganz als unseren Gast betrachten würden. Unser Quartier steht Ihnen zur Verfügung.“ „Nett von Ihnen, Racke. Ich will jedoch die Gelegenheit ergreifen, um mit meinen Männern und ein paar letzten Offizieren meines Regiments mal näher zusammenzusein. Wir haben uns bereits drüben eingerichtet. Aber es wäre großartig, wenn Sie auch die anderen vier Herrn zum Frühstück einladen könnten.“
„Können wir“, sagte Racke. „Meine beiden Kameraden haben ein kleines Proviantdepot eingerichtet, um die Naturalien einer sinngemäßen Vernichtung zuzuführen.“ Normann lachte den beiden zu: „Solch vernünftige Talente lob ich mir! Darf ich also die Offiziere rufen lassen?“ Er fragte das Schepperl und Liebedorn. Schepperl sagte: „Des kenna S' scho, wenn S' mög'n.“ Liebedorn, der trotz aller glücklichen Aufregung inzwischen in seine Klamotten hineingefunden hatte, stotterte eifrig: „Es ist uns eine hohe Ehre, Herr Oberstleutnant.“ Normann schickte den Obergefreiten Knopfloch hinüber in die Kleiderfabrik. Liebedorn half dem Oberstleutnant aus dem Mantel, Schepperl, der Feuer machte, hob den Kopf hoch und fragte: „Hoaßt der wirkli Knopfloch?“ „Ja“, antwortete Normann und ließ sich in einen der Sessel fallen, streckte die Beine aus. „Und Sie werden lachen, er hat auch einen passenden Beruf, er ist Schneider.“ „Dös is no gar nix“, antwortete Schepperl. „Bei uns dahoam gibt's a kloans Korsettladl, Büst'nhoita und so a Zeigl, und dee, der wo's g'hör'n tuat, schreibt se Creszenzia Duttenheber.“ Normann lachte schallend. „Wenn man so etwas irgendwo liest, glaubt man's nicht. Aber unser Schneider Knopfloch ist nicht der einzige Witz bei uns. Ein Spieß heißt Rappenglück und ist Pferdeschlächter. In ein und derselben Kompanie gibt es einen Leutnant Stahl, einen Unteroffizier Blech und einen Schützen Nickel.“ Liebedorn richtete in nie dagewesenem Tempo die Klubsesseldienststelle auf Hochglanz her, drückte sich aber mit Schepperl hinaus, als die vier Offiziere kamen, er aus Bescheidenheit, Schepperl, weil er entsprechend seiner eingeborenen urbayerischen Abneigung gegen preußischen Ton in Wort und Wesen auch eine eingefleischte proletarische Abneigung gegen sogenannte höhere Stände hatte, ausgenommen jeweils jene ,weißen Raben', mit denen ihn persönliche Freundschaft oder eine besonders begründete Achtung verband. Racke holte noch seinen Schreibtischsessel und den Lehnstuhl aus Jankas Stube. Alexandra brachte den Kaffee, nach dem die ganze Welt zu duften begann. Racke stellte Kondensmilch, Zucker und eine Kilobüchse mit Keks dazu, brachte eine Flasche
Kirschwasser, eine Kiste mit Zigarren und verschiedene Packungen Zigaretten. Aus dem Major, dem Hauptmann und den beiden Leutnants wurden Betteljungen, die beim Weihnachtsmann eingeladen waren. „Nun, meine Herrn“, nickte ihnen Normann zu, „was sagen Sie zu unseren Eisenbahnern? Mordskerle! Was? Aber auch sonst.“ Und er erzählte ihnen von jenem Spritzugunternehmen bei Dschingiskaja, fragte nach Rackes Bruder, war über seinen Tod ehrlich betrübt. Er hob schweigend sein Glas, sah Racke ins Auge, die andern Offiziere folgten seinem Beispiel. Ein kleiner ernster Augenblick. Dann gab man sich wieder der heiteren Stimmung der Stunde hin. Soldaten müssen dem Tod seelisch verschlossen gegenüberstehen, weil er ihr ständiger Begleiter ist. Nach der Kaffeestunde hatte keiner von ihnen etwas dagegen einzuwenden, zu einem Sektfrühstück eingeladen zu werden. Es hätte im teuersten Restaurant nicht reichhaltiger zusammengestellt sein können, nur die Aufmachung war weniger vornehm. Liebedorn half Knopfloch beim Bedienen. Schepperl blieb unsichtbar. Racke berichtete wahrheitsgetreu über die Fassungsmethode der Dienststelle Kleiderfabrik. „Wenn sie's nicht schon hätten“, lachte der Major, „müßten die beiden zum KVK eingereicht werden.“ Alle waren einmütig empört darüber, daß da gleich nebenan noch ein ganzer Berg von Verpflegung und Genußmitteln der Vernichtung anheimfallen sollte und kurz darauf rückte ein Hauptmann mit einem Kommando wild aussehender Krieger vor das Magazin. „In einer Stunde muß das Gebäude verlassen sein“, wurde dem „wachhabenden“ Zahlmeister bedeutet, „und darf dann nicht mehr betreten werden. Wir bauen Zeitminen ein.“ Genau zur festgesetzten Frist zog der Intendanturrat mit seinen Zahlmeistern, Verwaltungsinspektoren und Schreibern ab, nicht eine Minute früher. Man hätte annehmen sollen, daß sie vernünftigerweise mitschleppen würden, was sie mitschleppen konnten, aber auch das geschah nicht. Wenigstens nicht, soweit äußerlich festzustellen war. Es hatte keiner mehr als das normale Gepäck bei sich. „Warum denn nicht?“ - so erzählte der Hauptmann - habe er den Intendanturrat gefragt. „Es geht ja doch alles vor die Hunde!“ Der hatte ihn angesehen, wie Josef das Weib Potiphars und hatte
geantwortet: „Ich würde mich schämen, aus dem Untergang des mir anvertrauten Proviantdepots persönlichen Nutzen zu ziehen.“ Dabei waren ihm Tränen in die Augen geschossen. Er habe nichts mehr gesagt, fügte der Hauptmann hinzu, sondern ihm eine Ehrenbezeigung erwiesen wie ein Rekrut einem General. Auch die Tischrunde schwieg eine kleine Weile recht nachdenklich. War dieser Beamte nun ein unverbesserliches Rindvieh oder ein übermenschlicher Idealist? Nachdem eine angemessene Frist verstrichen war, begann unter Aufsicht eines Stabsfeldwebels des Regiments und der Kompanie-Spieße die Räumung des Depots auf dem Wege einer geordneten Ausgabe an die Kompanien, zunächst auf der Grundlage von dreifachen Rationen für vier Tage. Die dem II. Bataillon zustehenden Mengen wurden ins Quartier überführt. Die Kameraden würden Augen machen, wenn sie in zwei Tagen abgelöst wurden und die Weihnachtsbescherung antrafen! Anschließend wurde die Ausgabe in der gleichen Weise für den Verbandsplatz durchgeführt und schließlich an die durchziehenden Kolonnen. An der Straße wurde ein großes Schild angebracht: „Allgemeine Verpflegungsausgabe“. Der Richtungspfeil hätte sich erübrigt, die Kette der glücklichen Empfänger all der unerwarteten Schätze riß nicht mehr ab. Normann hatte seine fünfhundert auf der Rampe der Kleiderfabrik antreten lassen. Nur drei Sätze und ein Wort sagte er: „Jede Stunde kann Alarm sein. Laßt's euch schmecken, aber überfreßt euch nicht! Trinkt, aber besauft euch nicht! Verstanden?“ Fünfhundert brüllten: „Jawohl, Herr Oberstleutnant!“ Und dieses Jawohl war ein Ehrenwort. Bei Einbruch der Dunkelheit war das Sektfrühstück beendet und Normann und seine Offiziere verabschiedeten sich von ihren Gastgebern. Kaum waren sie draußen, war Schepperl wieder da. Daß er irgend eine Wut verbiß, sah man ihm an. Er schwieg und sie ließen ihn schweigen. Erst als man ihm ansah, daß er das Bedürfnis hatte, gefragt zu werden, sagte Liebedorn: „Wat haste denn? “ „Koa Lok“, sagte Schepperl heftig.
Er war den ganzen Tag herumgerannt. Auf dem Hauptbahnhof und in Osnowa. Man hatte ihn ausgelacht, hier und dort. In Osnowa standen noch wichtige Räumungszüge, die seit Tagen vergeblich auf eine Lok warteten. Im Hauptbahnhof 3000 Wagen. Wenn die draußen sind und der Iwan noch nicht da ist, kannst du wieder nachfragen, hatten sie grinsend zu ihm gesagt. Aber er hatte sich geschworen, seine sechs Wagen noch wegzubringen. Morgen ließ er sie in aller Herrgottsfrühe bis zur Abzweigstelle Silo vorschieben. Das würden ihm die Landser schon zuliebe tun, wenn nicht, holte er sich Zivilisten zusammen. Er konnte die einen mit Zigarren und Zigaretten belohnen, davon konnte ein Landser nie genug haben, und die andern mit Verpflegung bezahlen. Er hatte nur für die Wagen garantiert, nicht für den Inhalt. Wehe dem Lokführer, der auf sein Signal nicht halten und die paar Minuten warten würde, bis die paar Wagerln hinten angehängt waren! Solch tatkräftiger Vorsätze voll schlief Schepperl den gesunden Schlaf der Müden und Gerechten, bis er plötzlich auffuhr und sich am Sessel festklammerte, weil er das Gefühl hatte, daß dieses Aas den Versuch machte, ihn herauszuwerfen. Bluatsau! Die ganze Bude schwankte und schütterte, als brächen zehn Preßluftbohrer den Grund unter ihr auf. Und auch genau so ein Krach war. „Saus auße, Sigi!“ brüllte er. „De Hur'nbude schlagt uns zamm!“ Er packte seinen Mantel und stob los. Da fiel ihm Janka ein, die heute allein war, weil die Hebamme wieder einem kleinen Halbundhalb-Germanski zur Welt helfen mußte. Und wie er war, barfuß, den offenen Mantel über Hemd und Unterhose, rannte er in Zimmer 4, riß das Mädchen aus dem Sofabett, hastig eine Decke um sie schlagend, schoß mit ihr auf den Armen wie eine Granate aus dem Rohr zur Türe hinaus und prallte gegen Racke, daß der durch den halben Gang flog und einen Überschlag rückwärts machte. Und da war alles schon vorbei. Fußboden und Wände zitterten nur noch leise und das Krachen und Bersten verklang rasch und sanft in der Ferne. Racke rappelte sich hoch, tastete seine Rippen ab, knurrte „blöder Hund“, nahm ihm Janka von den Armen, trug sie wieder auf ihr Lager. „Hab keine Sorge“, sagte er und war schon wieder draußen. Da stand Liebedorn mit Froschaugen und stehengebliebenem Adamsapfel neben Schepperl. In der
Richtung des Silos lohte eine turmhohe Feuersäule zum Himmel, die ein goldenes Sternenheer aus sich heraussprühte. „Ja, mi leckst“, flüsterte Schepperl. So kleinlaut war er selten. Auch vor dem Landserquartier wurde es lebendig. „Wißt ihr, was los ist?“ schrie Racke hinüber. Sie wußten auch nichts. Entweder eine ungewollte Explosion oder die Pioniere hatten mit den Zerstörungen begonnen. Vielleicht auch Partisanen. Bisher allerdings waren in Charkow so gut wie keine Anschläge verübt worden, wenigstens keine wesentlichen. Das konnte sich aber von einer Stunde zur anderen ändern. Liebedorn zitterte an allen Gliedern vor Frost. Aus 25 Grad warmem Mief in 15 Grad kalten Ozon und kaum etwas an! - das vertrug auch ein Fetterer nicht. Racke trieb sie hinein. Er wollte den Weichenwärter am Gleisanschluß Silo anrufen. Das Telefon blieb stumm. Auch der Bahnhof meldete sich nicht. „Ihr könnt euch wieder hinlegen“, sagte er. „Ich schau mal, was da los ist.“ Liebedorn erhob keinen Einspruch, Schepperl sagte: „Naa. Du legst die nieda und i schaug nach.“ Er zog sich an. Die Sorge um die Strecke trieb ihn. Er fuhr mit der Draisine. Ein paar Landser setzten sich mit drauf; er konnte seine Arme ruhen lassen. Die Truppe hatte keine Ursache, beunruhigt zu sein. Der Silo war hochgegangen. Warum? Achselzucken. Was noch stand, brannte wie eine Riesenfackel. Einige Wohnhäuser und Schuppen in der Nachbarschaft: waren zu Asche geworden, andere hatte der Luftdruck wie Kartenhäuser zusammengeklappt. Das war alles. Aber Schepperl stand wie erschlagen. Für ihn war das nicht alles. Silotrümmer hatten den Bahnkörper 50 Meter weit kurz und klein geschlagen und daneben hatte der Explosionsorkan ein zweistöckiges Haus auf die Schienen geworfen. Es mußte schon dick kommen, ehe Schepperl die Farbe verlor. Diesmal verlor er sie. Jetzt stand er da mit seinen sechs Wagen und seinem blöden Schädel, seinem blöden! Er schlich sich nach der Rückfahrt wie ein Dieb ins Haus und verkroch sich, ohne sich auszuziehen, in sein Klubsesselbett,
aber Racke hatte die Draisine kommen hören und kam herüber. „Was ist denn nun?“ Liebedorn wachte auf, stellte die Schlappohren. Schepperl antwortete mürrisch und nicht viel, aber Racke war im Bilde. Liebedorn auch. „Is doch jut, Mensch! Da jibt et doch hier nischt mehr für uns zu arbeeten und wir könn' jemütlich nach Ljubotin jondeln.“ Racke pflichtete ihm bei. „Naa“, sagte Schepperl. „I loß meine Wog'n net steh'. Das Haus werd weggra'mt und 's Gleis wieda herag'richt.“ „Wer soll denn das machen?“ „D' Zivilisten.“ „Sepp, das hat doch keinen Sinn. Bevor die nur halb fertig sind, kommt kein Zug mehr von Osnowa, sondern der Iwan“, sagte Racke. Schepperl gab zunächst keine Antwort. Er zog die Knie an, so weit es ihm der Bauch erlaubte, und die Decke bis über den Haarwirbel hoch. Unter ihr vor knurrte er: „Wieda herag'richt werd's, sag i! Und d'Wog'n kemma mit. Sag i.“ Racke lachte im Hinausgehen. Schepperl fuhr noch einmal unter der Decke vor und schrie ihm nach: „Do gibt's gar nix z'lacha! Mia Bayern ham d'stärkste Kepf!“
10. KAPITEL
Kaum daß der Morgen graute, rannte und brüllte Schepperl in der Gegend herum. Weder Rackes Zureden, noch Liebedorns passiver Widerstand nützten etwas; er blieb dabei, daß er den Fahrweg wieder herstellen und seine Wagen abschieben lassen werde, wenn es sein müsse bis nach Ljubotin. Mit gütlichem Zureden, Lebensmittelversprechungen und Drohungen, mit Unterstützung inzwischen gewonnener Freunde aus dem Landserhaufen und insbesondere der Mitwirkung der einflußreichen Pflegerin Jankas und einheimischer Hilfseisenbahner brachte er tatsächlich eine ganze Masse Arbeitskräfte zusammen. Zum größten Teil Frauen, die ja in diesem Lande genau so schwer und dabei fleißiger zu arbeiten gewohnt waren als die Männer. Er teilte sie in drei Haufen. Der größte hatte beim ehemaligen Silo das Haus vom Bahnkörper zu räumen, der zweite aus einem der Abzweiggleise 50 Meter Schienen und eine Weiche auszubauen und auf der Plattformdraisine an die Schadstelle zu transportieren, der dritte einen der sechs Güterwagen, dessen Inhalt er sowieso teilweise zur Bezahlung seiner Arbeitskräfte benötigte, in einen Salonwagen umzuwandeln. In ihm gedachte Schepperl seine Befehlsstelle einzurichten und die Fahrt nach dem Westen anzutreten. Er öffnete, einem Einbruchsspezialisten gleich - gelernt ist gelernt - unversehrt die Plomben, damit sie nach Abschluß der Reise ebenso fachmännisch wieder angebracht und in Ordnung befunden werden konnten. Unter Aufsicht Liebedorns, der es nicht über sich brachte, in seinem Proteststreik zu verharren, ließ er den Wagen wieder soweit entladen, daß der Klubsesseldienstraum, Rackes Bett und Tisch, Jankas Sofa, aber ohne Umbau, Alexandras Lehnstuhl, der Kochofen, feuersicher eingebaut, ein Ster Skiholz und was an Kücheneinrichtung und sonst Wichtigem vorhanden war, Platz fanden. Oberstleutnant Normann kam herüber, um sich zu verabschieden. Vorne sei der Teufel los; er wolle sich die Lage lieber mal aus der Nähe ansehn. Liebedorn ließ es sich nicht nehmen, auf einem Handschlitten einen Korb Sekt mit Zubehör zu
seinem Kübelwagen zu fahren. Er betrachtete es als einen Ehrendienst. Inzwischen konnte Alexandra die Aufsicht über den Salonwagen führen. Normann gab Liebedorn die Hand, drückte sie Racke, sagte: „Wenn ich nicht Truppenkommandeur wäre, möchte ich zu euch gehören.“ Liebedorns Augen wurden feucht von einem unerklärlichen inneren Hochgefühl. Er war nun einmal so ein seelischer Bettnässer und er stammelte: „Herr Oberstleutnant, wenn ick nich Eisenbahner wäre, möcht' ick Ihr Knopfloch sein.“ Normann lachte schallend und fuhr winkend davon. Der Verbandsplatz und die Verwundetenund Versprengtensammelstelle waren im Abrücken begriffen. Eine unabsehbare Kolonne war zum Weiterhumpeln angetreten. Racke schlug sich zu einem Hauptmann durch, der, beide Hände verbunden, unter einer kleinen Gruppe Unteroffizieren stand. Warum sie mühsam Tag und Nacht marschieren wollten? Vom Hauptbahnhof führe noch Leerzug um Leerzug. Eineinhalb Stunden Weg den Gleisen nach, dann brauchten sie nur einzusteigen und seien in ein oder zwei Stunden in Ljubotin und am Morgen in Poltawa. „Wenn Sie mitkommen und die Verantwortung übernehmen, daß es auch klappt“, sagte der Hauptmann. Racke setzte sich an die Spitze der Kolonne, schickte Liebedorn an den Schluß: „Bring nach, was nicht so schnell mitkommt!“ „Und unser Wagen?“ fragte Liebedorn, der Schepperls Zorn fürchtete. „Alexandra wird ihn schon beschützen. Die Landser sind wichtiger“, antwortete Racke. Als der endlose Zug, tausend Mann und mehr, beim Empfangsgebäude ankam, schallte Racke Dornbergs Stimme entgegen: „Was ist denn hier los?“ Racke erklärte kurz. „In Ordnung“, sagte Dornberg und schrie in die Kolonne hinein: „Rauf auf die nächsten Züge. Aufenthalt darf es nicht geben. Die Lokführer fahren rücksichtslos ab, sobald vorgespannt ist. Wir übernehmen keine Verantwortung für Unglücksfälle.“ Dann nahm er Racke beiseite: „Wir müssen spätestens morgen hier Schluß machen. Ich fürchte, 2000 Wagen bleiben
stehen. Ljubotin ist nicht mehr aufnahmefähig. Außerdem ist dort noch Zugang gemeldet: Ein Bahnversorgungszug, ein Zug mit Pak, ein Zug mit Betriebsstoff und ein Munizug. Unsere noch kämpfenden Einheiten werden immer weiter zurückgedrängt. In der Stadt fängt es zu brodeln an. Ich würde Ihnen empfehlen, aus Ihrer Ecke da hinten zu verschwinden. Das letzte Personal in Osnowa und hier muß überdies jede Stunde mit dem Befehl zum abrücken rechnen. „Herr Sonderführer Dr. Dornberg ans Telefon!“ wurde aus einem Dienstraum herausgebrüllt. Er sah sehr ernst aus, als er zurückkam „Es ist so weit“, sagte er. „Oberstleutnant Plessen hat die Räumung des Bahnhofs Osnowa und des Hauptbahnhofs von den letzten Transport- und Bahndienststellen befohlen. Innerhalb von 6 Stunden. Kein Wunder, heute ist ja auch der Dreizehnte. Vielleicht werden die Anlagen noch in der Nacht gesprengt, spätestens um 5 Uhr früh. Wir fahren natürlich bis zum letzten Augenblick von Nowa Bavarija aus im Rangierverkehr ab, was noch in Osnowa und hier an Zügen steht. Leider gehen jetzt die 8 Lok in die Binsen, die noch laufunfähig im Bw stehen, auch die 12, die im EAW Lokfabrik auseinandergenommen sind, müssen zerstört werden. Unserem guten Brandner wird's das Herz umdrehen.“ Schepperl auch, dachte Racke. Siehst du, Sepp, nun war doch alles umsonst! Er würde ihn holen. Und Janka. Sie wurde auf die Draisine gebettet. Liebedorn konnte gleich dableiben und weiter für vernünftiges Verhalten der Landser sorgen. Schepperl war an der Baustelle beim Silo. Nach Rackes Botschaft sah er aus, als wollte er zu raufen anfangen. Langsam glättete sich seine Miene wieder. „In 6 Stund host g'sogt? Guat. In fünfe samma fertig. Nacher kimmi mit de Wog'n.“ „Wie du willst“, sagte Racke. „Ich werde Janka jedenfalls sofort zum Bahnhof bringen. Die Draisine brauchst du ja nicht mehr.“ „Brauch i.“ „Gut. Dann werde ich Janka tragen. Alexandra wird mir helfen.“ „Naa. Du laßt as do! I bring s' scho.“ „Darauf verlasse ich mich nicht.“ Schepperl ging auf. „So? Auf mi tuast di net valoss'n? Auf mii? Wer hot's da nacha brocht aus Priko? Ha?“
„Daß ich mich auf dich verlassen kann, weiß ich, du Dummkopf. Aber ich verlaß mich nicht darauf, daß dir der Iwan nicht vorher eine über den Schädel haut?“ „Da Iwan? Mia? Geh weita! Nia!“ Racke ging weiter. Das letzte Stück machte er im Laufschritt, er sah Brandröte. Die Ski-Lagerhalle bei der Bahnhofsbaracke brannte. Nur eine Ecke, aber niemand löschte. Es konnte ihm gleichgültig sein. Er würde Schepperls Salonwagen mit seinen Bewohnerinnen ohnehin sofort zum Silo vorschieben lassen. Diesen Gefallen würden ihm die Landser gerne tun. Racke ging gleich hinüber zu ihnen, stieß mit Rappenglück unter der Türe zusammen. „Sie kommen wie gerufen“, begrüßte ihn der Spieß freudig. „Der Chef hat schon zweimal am Telefon nach Ihnen verlangt.“ Nach mir? dachte Racke. Was kann er von mir wollen? „Dicke Luft vorne“, unterrichtete ihn Rappenglück. „Das III. Bataillon ist alarmiert worden und schon unterwegs. Das I. hat erhöhte Alarmbereitschaft. Wir rechnen jede Minute mit dem Einsatzbefehl.“ „Das tut mir leid um euch“, sagte Racke. „Da war das gute Leben hier von kurzer Dauer.“ „Das II. ist nun gar nicht mehr herausgekommen und hat große Verluste.“ Sie waren am Apparat. Der Telefonist stellte die Verbindung mit dem Regimentsgefechtsstand her, gab Racke den Hörer, dem Spieß den Mithörer. „Hallo! Hier Racke.“ Es war ein übles Getöse in der Leitung. Er verstand kaum das Wörtchen „Augenblick“. Endlich hörte er Normanns Stimme: „Halloh? Racke? Großartig, daß Sie da sind! Ich rufe Sie, weil ich keine andere Bahndienststelle -“ Die Stimme ging in einer ganzen Serie dumpfer Donnerschläge unter. Nach einer Weile war sie wieder da: „Der Iwan hat mehr Werfer als wir noch Männer! - Also passen Sie mal auf -“ Dumpfes Gepolter, aber schon ging es weiter: „500 Meter hinter meinem Gefechtsstand befindet sich ein Tankplatz und kleines Munitionsdepot für Panzer mit Anschlußgleis von Charkow-Osnowa aus. Vor drei Tagen lief noch ein Zug mit Betriebsstoff ein. Er wurde vorsichtshalber nicht mehr entladen; die Kampfwagen tankten direkt aus den Kesselwagen. Heute ist -“
Wieder schnitt eine Serie Einschläge dem Sprecher das Wort ab, dann war er wieder da: „Verfluchte Bande! Hören Sie noch Racke? Gut. Heute ist der Iwan so nahe gerückt, daß es unsere Panzer nicht mehr wagen können, am Brennstoffzug anzufahren. Sie haben Marschbefehl nach Nowa Bawarija. Ihr Sprit dürfte gerade noch reichen bis dorthin. Aber nicht mehr zum notwendigen sofortigen Einsatz. Der Spritzug muß unverzüglich nach Nowa Bawarija gefahren werden, sonst sind die Panzer dort lahmgelegt und der von Süden vordringende Iwan schon am Morgen im Ort. Wir ha -“ Racke mußte den Hörer vom Ohr abhalten, so dröhnte und krachte es in ihm. Als ginge da drüben die Welt unter. Rackes Herz hämmerte allmählich, als säße er selbst mit da vorne im Bunker. Normann fuhr fort: „Die decken uns sauber zu! Hoffentlich hält unser wackliger Kasten die Volltreffer aus! Stellen Sie sich vor, die erwischen den Spritzug! Ich habe sofort, als ich kam, einen Kradmelder zum Transportoffizier in Osnowa geschickt. Der Melder wurde abgeschossen. Ein zweiter kam durch und vor einer halben Stunde kam eine Lokomotive, aber alsbald auch eine Rata geflogen, Lokführer und Heizer ließen sie stehn und liefen weg. Der Flieger legte beide um. Gleich darauf schoß ihn die Vierlingsflak ab, die den Spritzug zu schützen hat. Dadurch hatte sie aber ihre Stellung verraten und ehe sie dazu kam, sie zu wechseln, war sie zusammengeschossen. Ich glaube nicht, daß der Lok viel passiert ist, aber es ist niemand da, der sie fährt. Osnowa kann oder will kein Personal mehr schicken. Racke, kommen Sie her! Fahren Sie den Zug nach -“ Als hätte der Blitz eingeschlagen, krachte es gegen Rackes Trommelfell, dann war es lautlos still im Hörer. Der Feldwebel, der Telefonist und Racke starrten einander an. Die Leitung war tot. Sie dachten alle drei das gleiche: Volltreffer in den Regimentsgefechtsstand. Keiner sprach es aus. „Gruppe Blech! Sofort fertigmachen!“ schrie Rappenglück in den Gang hinaus, wandte sich dann an Racke: „Ich lasse eine Melderstaffette vorlegen für den Fall, daß wir keine Funkverbindung bekommen. Haben Sie noch Fragen an den Kommandeur?“ „Nein. Ich gehe gleich mit der Gruppe vor. Will mir nur das wichtigste Gepäck holen. Aber tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie unsere Wagen, wenigstens den vorderen, in dem
meine verwundete Dolmetscherin liegt, zur Hauptstrecke vorschieben.“ „Das geht leider nicht. Ich darf die Leute nicht außer Rufweite wegschicken. Aber hundert Meter, das geht.“ „Gut, dann sind sie wenigstens außer Gefahr, wenn das Feuer da drüben um sich greift.“ Racke lief hinüber. Groß lag Jankas Auge auf ihm. Furcht stand darin. Zum erstenmal, seit er sie kannte. Selbst als in der Kate in Priko das Blut von ihr geströmt war, hatten ihre Augen nur jene seltsame Stille, jene schmerz- und freudlose Ergebenheit in alles Schicksal ausgedrückt, die ihr eigen war. Er sagte ihr, daß sie sich nicht zu sorgen brauche. Der Wagen würde vom Feuer weggeschoben und sobald das Gleis in Ordnung sei, noch in der Nacht, würde er in den Bahnhof gerollt und an einen Zug gehängt, der sie nach Poltawa bringen werde. Dort käme sie in ein Krankenhaus. Alexandra sagte, sie fahre mit. Sie habe in Poltawa Verwandte. Racke schrieb für Schepperl einen Zettel. Als er damit fertig war, kam der Adressat auf der Draisine angefahren, um Telefondraht zu holen und endlich die Verbindung mit dem Hauptbahnhof wieder herzustellen. „Wo wuist denn scho wieda hi?“ fragte er angriffslustig. Racke unterrichtete ihn von dem Gespräch mit Normann. Schepperl sagte eine ganze Weile nichts. Racke wußte, was ihm jetzt durch den Kopf ging. Wenn er den Spritzug brachte, konnten die sechs Wagen angehängt werden, falls das Industriegleis bis dahin in Ordnung war. Er konnte doch aber den Freund das nicht allein machen lassen! Und ging er mit, dann liefen die Arbeitskräfte weg, das Gleis wurde nicht fertig, und die Wagen blieben doch noch stehn. Trotz allem kam die Frage, auf die Racke gewartet hatte kleinlaut zwar, doch sie kam: „Brauchst mi?“ „Nein, mach' nur hier weiter. Ich werde mir einen Landser als Heizer nehmen.“ Racke hörte den befreiten Schnaufer Schepperls, sagte: „Das Telefon hier nehme ich mit.“ Sie montierten den Apparat gemeinsam ab, rollten ausreichend Anschlußdraht auf und Racke warf das Nötigste und Unersetzlichste in seinen Rucksack, das Telefon dazu, eine Flasche Sekt, füllte Kaffee in die Feldflasche, stopfte den
Brotbeutel mit guten Dingen voll, da wurde auch schon vielstimmig sein Name gebrüllt. Er winkte Janka und Alexandra zu: „In ein paar Stunden sehn wir uns wieder!“, sagte zu Schepperl leichthin: „Servus bis nachher“ und rannte. Die Gruppe war schon abgerückt, ein Mann wartete noch auf Racke. Schweigend gingen sie los. Durch die hohle Gasse zur Straße. Es dunkelte. Haufen elender Katen wechselten mit Gevierten von Fabriksteinklötzen und Holzbaracken. Sie passierten den ersten Mann der Stafette, den zweiten. Hier bog Rackes Führer von der Straße ab. Sie querten Lagerplätze, stapften an Zäunen, Mauern, Gräben entlang. Es war Nacht und erstaunlich, wie sicher der Landser den Weg fand. „Der Telefondraht“, sagte er nur. Was ist man manchmal blöd! dachte Racke. Immer mehr lockerte sich das bebaute Gelände auf. Öde Flächen kamen, weit verstreut einzelne Fabriken, einzelne Ansammlungen von Wohnhütten. Sie passierten den dritten, den vierten Mann der Stafette. Es war Nacht und man hatte doch Licht, vom Schein der Brände und der Leuchtkugeln. Von Zeit zu Zeit hörten sie Fahrzeuge in der Nähe. Das Infanterie- und Artilleriefeuer wurde lauter, flaute ab, nahm an Heftigkeit wieder zu. Große und kleine Ruinen und Brandstätten mehrten sich. Beim sechsten Mann der Staffel kamen ihnen eilige Schritte entgegen. Kurzer Anruf. Blech war's mit dem Rest seiner Leute. Die Leitung war wieder in Ordnung. Oberstleutnant Normann und der Adjutant waren gefallen. Was sonst noch im Gefechtsstand gewesen war, meist schwer verwundet. Der letzte Hauptmann des Regiments führte es nun. Auch ihr I. Bataillon war inzwischen alarmiert, aber dem Nachbarregiment zugeteilt, das am südwestlichen Stadtrand lag; darum mußten sie zurück. Nachlatschen. Im Stadtzentrum gehe es furchtbar zu. Der Untergrund rührte sich, das Verbrechertum sah seine Zeit gekommen, Die Bevölkerung plünderte, mordete, zum Teil floh sie in wilden Haufen. Das bißchen Polizei war nicht mehr Herr der Lage. Auf deutsche Kolonnen wurde aus den Kellern und von den Dächern geschossen, einzelne Landser und kleine Abteilungen wurden überfallen und niedergemacht. „Wenn Sie nun abrücken, Blech, wie finde ich zu dem Spritzug?“
„Ich gebe Ihnen einen Mann mit. Wer geht freiwillig mit dem Inspektor?“ Am liebsten wären alle mitgegangen. Blech sagte: „Suchen Sie sich einen aus.“ „Er muß mir aber den Lokheizer machen“, sagte Racke. Sie trauten sich's alle zu. Was kann ein Ostlandser nicht? Aber der geeignetste war Maxe. Er war Schmied. „Ja, das haut hin“, meinte Racke. „Es kann allerdings zwei Stunden dauern oder noch länger.“ „Allein darf er uns nicht nachrumpeln“, entschied Blech. „Maxe, du fährst mit nach Nowa Bawarija. Von dort kommst du rascher und sicherer wieder zu uns.“ „Kommt doch alle mit“, schlug Racke vor. „Leider geht das nicht. Ich muß ja meine Gruppe vollends zusammenlesen. Außerdem - was ist, wenn Sie den Zug nicht wegbringen? Die Stellungen vorne sind nicht mehr lange zu halten. Dann steckt uns der Iwan in die Tasche.“ Noch eine halbe Stunde tappte Racke hinter Maxe her. Er hätte geschworen, daß sie kreuz und quer und im Kreis herumirrten und den Tankplatz überhaupt nicht finden würden, bis er plötzlich über Schienen stolperte. Maxe war nur zu weit links abgekommen. Sie gingen nach rechts dem Gleis nach. Es verschwand zwischen vielen Granattrichtern in einem Tunnel, der kein Tunnel war, sondern eine ausgebrannte Fabrikruine. Ein Zug stand da nicht. Die Schienen führten durch ein Kraterfeld und hinten wieder hinaus. Draußen sah man sie aber nicht mehr, sie waren mit Schnee zugeworfen. Die Granatlöcher wurden seltener und nach hundert Metern tauchte ein verschneites Wäldchen auf. Es war kein Wäldchen, es waren die, zum Teil auch mit allerlei Netzgeflecht getarnten, etwas auseinandergezogenen Kesselwagen. Fünf. Daß sie erst zusammengeschoben und aneinandergekuppelt werden mußten, konnte kritisch werden, wenn sie auch der Feindseite zu einen langgestreckten Erdwulst als Schutzwall hatten. Wo die Stellungen waren, ließ sich an den aufsteigenden Leuchtkugeln, dem Gehämmer der MG und dem Aufzucken der Granateinschläge leicht feststellen. Sie waren gefährlich nahe. „Komm“, sagte Racke zu seinem Landser. „Wir wollen die Lok holen.“ Er zog mit seiner Hilfe eine große grünbraunbekleckste
Plane von einem der Wagen. Sie rollten sie zusammen und schleppten sie gemeinsam. „Wozu denn?“ fragte Maxe. „Die hängen wir über Lokführerstand und Tender, dann fällt der Feuerschein aus der Feuerbuchse nicht in die Nacht hinaus.“ Nach knapp zehn Minuten standen sie vor der Lok. Sie war im Rückwärtsgang angefahren. Das Triebwerk war stark vereist, aber vom Kessel strömte noch Wärme aus. Racke suchte sie genau ab, konnte äußerlich keinen Schaden feststellen, atmete auf. Sie kletterten hinauf. Racke zeigte seinem Helfer die Feuertüre und wie man sie aufschwenkte, die Kohlenschippe, den Feuerhaken. Sie warfen von der Ostseite her die Plane über Lokdach und Tender, wobei ihnen der Wind zuerst schwer zu schaffen machte, dann aber heftig behilflich war. Die Plane reichte auf beiden Seiten bis fast auf die Achsen. Maxe meinte, wenn sie führen, risse der Fahrwind die Plane fort oder sie käme ins Getriebe. „Hier fahren wir ganz langsam und da wird sie an der Windseite stark genug angepreßt. Ehe wir dann mit dem Zug loslegen, können wir die Plane abnehmen, denn bis dahin haben wir schon ein solches Feuer unter dem Kessel, daß wir nicht mehr aufzulegen brauchen, bevor wir nicht weit genug weg sind.“ Racke ließ das Licht seiner Taschenlampe über die Instrumente gehen. Dampfdruck nur noch 3 Atü. Maxe klappte die Feuertüre auf. Das Feuer war zusammengesunken, überkrustet. Er stieß es nach Rackes Geheiß mit der Feuergabel nach allen Seiten auseinander, schaffte mit dem Feuerhaken dem Rost Luft. Racke stellte den Bläser an. Die Glut wurde heller. Maxe warf Kohlen auf, mit lachendem Gesicht, eine Zigarette im Mundwinkel. Schippe um Schippe. Sie verloren ihre schwarze Farbe in Augenblicken, wurden dunkelrot, hellrot, gleißend gelb. In Minuten war die Feuerkiste ein einziger wallender, grellstrahlender Brand. Unter der Plane wuchs und wuchs die Hitze. Maxe schaufelte unermüdlich, zügig, gleichmäßig. „Mal was anderes! Knorke!“ rief er, warf auf ein Zeichen Rackes die Feuertüre zu, riß sie nach einer halben Minute wieder auf, schaufelte und schaufelte. Schweiß rann ihm übers Gesicht und Gesicht und Schweiß wurden schwarz.
„Jetzt siehst du schon ganz echt aus“, lachte Racke und erklärte dem Schmied Regler und Steuerung, Sandstreuer, Signalgriffe, die verschiedenen Bremsen und ihre Wirkung. Für alle Fälle. Maxe sagte, er hänge nach dem Krieg den Schmied an den Nagel und werde Lokführer. Nach einer Stunde hatten sie 8 Atü. „Rangieren können wir jetzt“, sagte Racke, öffnete langsam den Regler Er hatte Herzklopfen. Würde die Lok gehorchen? Waren auch ihre Eingeweide alle in Ordnung? Sie gehorchte. Sie fuhr. Fuhr ganz folgsam, genau nach seinem Willen, nach seinen Handgriffen. Je näher sie dem Tankplatz kamen, um so aufdringlicher und bedrohlicher wurde das Feuerwerk im Kampfraum wieder. Racke fuhr im Schritt. So wenig Geräusch wie möglich - darauf kam es jetzt an! Die Lok schlich über die Schienen, als wüßte sie es selbst. Nach der Einfahrt in die Hallenruine schaufelte Maxe Rekord. Racke ließ die Lok stehen. Wir wollen erst die Kupplungen nachsehen. Sie waren vereist. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sich die Schraubenkupplungen bewegen ließen und die Luftschlauchenden eisfrei waren. Racke wünschte sich Glück zu seinem Schmied, allein hätte er es in vielen Stunden nicht zuwege gebracht. Sie lösten noch die Handbremsen und liefen zur Lok in die Halle. 13 Atü. Maxe warf noch einmal Kohle auf. „Jetzt gilt's!“ sagte Racke. „Wir schieben die Wagen vorsichtig zusammen, damit es möglichst wenig Geklirr gibt, dann runter, ankuppeln und ab! Die Bremsprobe sparen wir uns zunächst. Die können wir nachholen, wenn wir weit genug weg sind.“ Er fuhr an, schlich sich an den vordersten Wagen, drückte ihn auf den zweiten, die zwei auf den dritten, bis sie beim letzten waren. Großen Lärm hatte es nicht gegeben, aber sie hatten den dritten und vierten Wagen kaum zusammengekuppelt und die Luftschläuche verschraubt, da stiegen gleich drei Leuchtkugeln auf einmal auf, nicht steil über die Stellungen, sondern in hohem Bogen zu ihnen herüber, eine zu weit, eine in Richtung der Hallenruine, die dritte jedoch schwebte fast genau über ihren Köpfen nieder. Der Zug und die ganze Umgebung lag in hellem Licht. Gegen Infanterie- und flaches Geschützfeuer von Osten
her, wo der Feind am nächsten lag, war der Zug zwar hinter dem Erdwulst geschützt, so lange er sich hinter ihm befand, aber von den im Süden vorgedrückten russischen Stellungen konnte er jetzt im Scherenfernrohr zweifellos erkannt werden und gegen Steilfeuer gab es von keiner Seite her Deckung. „Los! Fort!“ schrie Racke, flitzte zum Wagenende und schloß den Lufthahn, rannte zur Lok vor. Es war besser, nur mit 4 Wagen wegzukommen, als mit 5 liegen zu bleiben. Sie rissen die Plane herunter. Vorwärtsgang. Regler auf. 14 Atü. Gut! Dampf quoll fauchend aus dem Schlot, zischte aus den Zylinderhähnen, färbte sich silbergrün im Leuchtkugellicht. Es klirrte, es rappelte, es hackte - der Zug rollte an. Die Lok fauchte und zischte rascher und rascher, zog die silbergrüne, strahlende, länger und länger werdende Dampffahne hinter sich her. Noch ehe sie in der Halle verschwand, stiegen hinten, um den stehengebliebenen Wagen herum, dunkle Fontänen hoch. Als die Halle hinter ihnen lag, sahen sie von der ersten Biegung aus beim Tankplatz grüne Flammen und schwarzen Qualm. Gleich darauf stürzten im Scheine neuer Leuchtkugeln unter einer Einschlagserie Teile der Ruine zusammen. Sie aber hatten den Lichtbereich der Leuchtkugeln hinter sich gelassen. Schleunigst schloß Racke den Regler, denn die Lok schwankte beängstigend, die Wagen hinter ihr nicht minder. Lok und Wagen führten trotz der rasch verminderten Geschwindigkeit noch einige Male einen wahren Niggertanz auf. Der Oberbau war in einem schauderhaften Zustand, wahrscheinlich überhaupt nur behelfsmäßig für geringe Geschwindigkeit gebaut. Außerdem gab es da verboten enge Kurven, teils um tiefe Einsenkungen, teils um Schutthaufen und Trümmerfelder herum. Die Druckluftpumpe arbeitete. Racke bremste vorsichtig. Die Wirkung war sofort spürbar. Rasch nahm die Geschwindigkeit ab; der Zug hielt. Ringsum war Nacht, abgesehen von der Feuerröte am Bogen des Horizonts, dem kaum noch erkennbaren Geflacker des Spritwagenbrandes, einigen Bränden im Weichbild der Stadt und der Leuchtkugelgirlande über dem Verlauf der Kampflinie. Augenblicklich war für den Zug keine Gefahr mehr. Racke und Maxe spürten den Marsch durch Charkows Vororte, den sie hinter sich hatten, die Anstrengungen und die Aufregung. Racke holte
die Sektflasche aus dem Rucksack, schlug ihr den Hals ab, ließ sich und Maxe den Mund vollsprudeln, nahm aus der Feldflasche einen Schluck Bohnenkaffee hinterher, ließ Maxe trinken, zündete sich und ihm eine Zigarette an. Nach drei Minuten waren sie wieder in Form. Racke holte das Telefon aus dem Rucksack, stieg von der Lok. Der Draht lief, an dünnen Stangen befestigt, ganz niedrig dicht neben dem Gleis. Der Apparat war mit wenigen Handgriffen angeschlossen. Racke hätte sich die Mühe sparen können, er konnte kurbeln, so viel er wollte - es rührte sich nicht: Also auf! Weiter! Er sah auf die Uhr. Es war Mitternacht. Wenn nun schon gesprengt war? Er fuhr ganz langsam. Wußten sie, ob der Fahrweg, seitdem ihn die Lok am Nachmittag befahren hatte, noch durchgehend in Ordnung war? Sie wußten auch nicht, wie weit sie noch zur Hauptstrecke hatten. Wenn sie in eine ungestellte Weiche fuhren? Nach zehn Minuten schloß Racke den Regler noch mehr - aus der Nacht vor ihnen flackerte rötliches Licht. Er erkannte in seinem Schein die Silhouette eines Lokfensters, einen Fleck wallenden Dampf. Ein Zug! Er kam aus Osnowa, fuhr mit großer Geschwindigkeit vor ihrer Nase vorüber Richtung Hauptbahnhof. Racke fiel ein Stein vom Herzen. Es wurde noch gefahren. Es war noch nicht gesprengt. Nur noch ein kurzes Stück, dann mußte die Weiche kommen, bevor er sie sehen konnte, tauchte der Bahnkörper der Hauptstrecke aus der Dunkelheit. Er hielt, nahm wieder sein Telefon, stieg ab, ging am Gleis entlang, war nach hundert Schritten an der Weiche. Er hätte seinen Apparat im Rucksack lassen können. Da war eine Wärterbude, ohne Wärter zwar, aber mit Telefon. Er nahm den Hörer ab, kurbelte. Eine halbe Minute, dann knurrte eine Stimme: „Hauptbahnhof Charkow Fahrdienstleitung.“ Rackes Herz klopfte einen Freudenwirbel. „Hier ist Inspektor Racke mit - „ „Augenblick“, unterbrach die Stimme. „Ich habe keine Zeit zu warten!“ schrie Racke.
„Weiß ich“, antwortete eine andere Stimme. „Hier Dornberg. Ich bin im Bilde, Racke. Wo sind Sie jetzt? - Was? Schon heraus? An der Abzweigstelle? Mit - ?“ „Mit vier Wagen. Einer ist drauf gegangen.“ „Wunderbar! Ich werde sofort den Panzerkommandeur verständigen. Die neun Panzer stehen bereits in Nowa Bawarija. Ohne Sprit. Sie müssen bis zum Morgengrauen 10 Kilometer weiter südlich am Gegner sein, sonst haben wir in Nowa und Ljubotin noch vor Mittag den Iwan auf dem Hals. Ich werde die Ausfahrt aus Osnowa sperren, bis Sie hier durch sind und die Strecke bis Nowa Bawarija für Sie frei machen. Sie werden überall Durchfahrt haben. Fahren Sie, was die Lok hergibt! Schluß.“ Racke fuhr zur Bude hinaus, stellte die Weichen, rannte zur Lok. Maxe hatte inzwischen einen Doppelzentner Kohlen aufgeworfen. Racke schrie ihm zu: „Mensch! Wir haben's geschafft! Alles in Ordnung!“ Er fuhr an, holperte in das Heimatgleis der Durchgangsstrecke, öffnete den Regler weiter und weiter, ließ die Steuerung spielen, sah den Geschwindigkeitszeiger klettern. Ganz stetig, 30, 40, 50, 60. Sie tranken den Rest Sekt vollends aus und warfen die Flasche hinaus. Mit 70/hkm fuhr Racke an der Abzweigstelle Silo vorbei. Um Schepperl konnte er sich nun doch nicht kümmern. Sicher hatte der Stier sein Gleis schon lange in Ordnung und war mit seinem Dickschädel und seinen Wagen bereits unterwegs. Maxe riß alle halbe Minute die Feuertüre auf und schürte. Matte Lichtflecke kündeten den Bahnhof an. Racke schloß den Regler, erkannte das grüne Einfahrsignal, öffnete ihn sofort wieder. „Ausfahrt frei!“ schrie er sich selber zu, donnerte in einem Hochgefühl, wie er es kaum jemals empfunden hatte, mit 80 Sachen am Empfangsgebäude vorbei, sah auf dem Bahnsteig Männer aus dem Dunkel tauchen. Ganz am Rande vorne standen sie. Dr. Dornberg - Brandner - wenn er sich nicht täuschte. Noch zwei, drei. Sie hatten alle die Hand an die Mütze gelegt. War da nicht auch Sigi gestanden? Vorbei. Racke sah auf die Uhr. 0 Uhr 59. Schepperls vierschrötige Gestalt hatte er vermißt. Überall grünes Licht. Das Stahlroß gehorchte seiner Hand wie ein Roß aus Fleisch und Blut. Seine große Knabenliebe - die Liebe zur Lok, sein freiwilliger Lokdienst in den Urlaubswochen
seiner ersten Eisenbahnerjahre - heute trugen sie wieder einmal ungeahnte Früchte. Rotes Licht. Regler zu! Bremse! Noch ein rotes Licht, das im Kreise geschwenkt wurde. Zusatzbremse! Tenderbremse! Der Haltsignalschwenker kletterte herauf, noch ehe die Lokomotive ganz zum Halten gekommen war, nickte Racke zu. „Ich habe Befehl, den Zug an die richtige Rampe zu lotsen.“ Racke überließ ihm den Lokführerplatz und trat ans Fenster der Heizerseite. Sie schaukelten über ein halbes Dutzend Weichen quer über die Schienenstränge. Eine Steinrampe wurde sichtbar. Dort glühten viele kleine Pünktchen. Zigaretten. Racke erkannte die Umrisse von Kampfwagen. Die Lok stand, pustend wie ein Gaul nach dem Rennen. Racke stieg hinunter, schloß die Augen, zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich an die Lok. Eine Hitze strahlte von ihr aus wie von einem Hochofen. Bei den Kampfwagen auf der Rampe und auf der anliegenden Straße wurde es lebendig. „Offiziere“, sagte Maxe, der ihm nachgekommen war. Racke drückte die Zigarette aus, ging der kleinen Gruppe entgegen. „Inspektor Racke mit Spritzug zur Stelle“, sagte er. „Danke“, sagte der vorderste der Offiziere und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Oberstleutnant Plessen. Sie werden das Ritterkreuz des KVK erhalten.“ „Danke, Herr Oberstleutnant. Vergessen Sie meinen Helfer nicht.“ „Wo ist er?“ Maxe war nicht zu sehen. Er scheute höhere Vorgesetzte. „Machen Sie einen kurzen Bericht an meine Dienststelle mit den Personalien des Mannes.“ Ein Major drückte Racke die Hand: „Ich bin der Kommandeur der Panzer. Ohne Sie hätten wir sie sprengen müssen und eine Stunde nach Tagesanbruch stünden 30 T 34 hier und in Ljubotin.“ Lokpersonal kam, spannte die Lok ab. Sie müsse sofort zum Hauptbahnhof zurück. „Ich fahre mit“, sagte Racke, verabschiedete sich von den Offizieren, rief Maxe und notierte sich die für seine Meldung nötigen Angaben. „Was machst du jetzt?“ fragte er. „Ich hau mich hier irgendwo hin und wenn's Tag ist, such' ich meinen Haufen.“
„Komm gut über den Krieg“, wünschte ihm Racke und sie schüttelten sich die Hände. „Klar“, sagte Maxe. Er war von Kopf bis Fuß noch schwärzer als die beiden echten schwarzen Gesellen, zu denen Racke nun hinaufkletterte. Sie waren nicht besonders gut gelaunt. Er konnte es ihnen nachfühlen. Nur mit dreimal je vier Stunden Pause 48 Stunden auf der Lok! Und außer Tabletten nichts zu fressen. Racke teilte mit ihnen, was er an guten und nahrhaften Dingen als eiserne Ration am Nachmittag noch in seinen Rucksack geworfen hatte. Ehe die Lok im Hauptbahnhof über die Weichen zu der endlosen Wagenschlange hinüberkreuzte, die sie abzuschleppen hatte, stieg Racke ab, ging eilends dem Empfangsgebäude zu. Es war 2 Uhr 40. Um den Bahnhof herum krachten Sprengungen. Der Boden zitterte immer wieder unter Rackes Sohlen. Feuersbrünste wüteten. Der Himmel war eine einzige flammende Röte. Ein einsamer Eisenbahnerlandser mit einer Armbinde stand auf dem öden Bahnsteig. Er war sozusagen Charkows letzter Bahnhofsvorsteher. Am Telefon drin sitze noch ein Fahrdienstleiter, der freiwillig bei ihm geblieben sei, sagte er. Sie, ein Ersatzmann für den Stellwerksmeister und zwei Weichensteller seien das einzige Personal noch. Sie kämen sich vor wie die letzten noch Lebenden bei einem Weltuntergang. Die Abteilungsleiter waren vor einer Viertelstunde nach Ljubotin zurückgefahren. Von Osnowa kämen noch zwei Züge, aus Charkow würden noch 9 abgefahren. Punkt 4 Uhr 30 sei Schluß. Um 5 Uhr würden die Anlagen gesprengt. Von Schepperl und seinen Wagen wußte der Beamte nichts. Racke lief in den letzten noch besetzten Dienstraum. Da saß Liebedorn. Er sprang auf, freudestrahlend. „Mensch! Racke! Laß dir mal de Knochen zerquetschen! Det habt ihr jroßartig jemacht! Junge, Junge, is det ne Wucht! Schade, det ick nich ooch mit bei war. Na, ick hab eben hier meene Pflicht getan. Wat?“ Er war noch nicht am Ende, aber Racke unterbrach ihn. „Wo ist Schepperl?“ fragte er kurz. „Sepp?“ Liebedorn sah ihn vorwurfsvoll erstaunt an. „Is er denn nich bei dir?“ „Du siehst doch, daß er nicht bei mir ist!“ fuhr ihn Racke grob an.
„Aber ick dachte doch! Hast de denn det allens alleene jemacht? Wo - -?“ Er schien zu begreifen, verstummte. Racke rief ohne noch ein Wort Ljubotin an. „Ein Betriebswart Schepperl hat sich nicht gemeldet, weder mit noch ohne Wagen“, lautete die Auskunft. „Aber ich werde noch einmal umfragen und die Fahrbücher einsehn. Ich rufe Sie wieder an.“ Racke saß zehn Minuten wie auf Kohlen. Er rauchte nervös. Endlich rasselte es. Die kleine Hoffnung, die Racke noch gehabt hatte, wurde zerstört. Von Schepperl und den beschriebenen Wagen war nichts bekannt. Auch nichts von einer verwundeten Dolmetscherin. Racke schloß für Sekunden die Augen, dann war sein Entschluß gefaßt. Versuchen zu wollen, eine Lok zu bekommen, war zeitraubend und völlig aussichtslos. Selbst ihm würde schon das Ansinnen allein - in dieser Stunde noch! - mit Recht verübelt werden. „Habt ihr noch eine Motordraisine hier?“ fragte er. „Ja, zwei. Aber die brauchen die Pioniere.“ Er fragte nichts mehr. Er lief hinaus, lief bis ans Ende des Bahnsteigs, lief weiter und weiter. Er hörte, daß Liebedorn hinter ihm herkam, hörte ihn rufen. Er gab keine Antwort, aber er gab das Sprintertempo auf. Ruhiger Laufschritt war die einzige Möglichkeit durchzuhalten. An einem Übergang hantierten Pioniere. Racke machte eine Gehpause. Liebedorn holte ihn ein. „Na nu? Wo wollt ihr denn noch hin?“ rief ihnen einer zu. „Kameraden suchen“, antwortete Racke kurz und lief schon wieder. „Punkt 5 geht hier alles hoch“, wurde ihnen nachgerufen. „Paßt auf, daß ihr nicht mit hochgeht!“ Racke warf einen Blick auf die Uhr. 3 Uhr 03. Noch knapp zwei Stunden. Und beinahe drei Stunden brauchte man im Marschtempo allein zum Weg hin und zurück! War es nicht irrsinnig, was er da unternahm? Aber wenn er Schepperl noch wohlbehalten antraf, dann würde er ihm eine Ohrfeige verabreichen, daß selbst diesem Stierschädel Hören und Sehen verging! Trotz seiner längeren Beine blieb Liebedorn immer weiter zurück. „Kehr um!“ rief Racke ihm zu. „Du hältst mich nur auf!“
Ein Zug stampfte von Osnowa her durch die Nacht. Er starrte auf die ersten sechs, auf die letzten sechs Wagen; sie waren es nicht. Kaum vorüber, kam ein zweiter. Es war Blödsinn, auf die Wagen zu starren. Typen wie die Schepperischen, auch solche, aus denen ein Ofenrohr sah, gab es zu Tausenden. Er lief weiter. Eins - zwei - drei - vier - eins - zwei - drei - vier gut, daß man's geübt hatte! Er näherte sich der Abzweigung Kl. F. Jetzt würde er gegen die Glut, die die Wolkendecke des Himmels anleuchtete, schon den Silo sich abheben sehen, wenn er noch stünde. Die Weichenstellerbude kam, hundert Schritte weiter die neueingebaute Weiche. Von Menschen und Arbeit nichts zu hören, nichts zu sehen. Der zerschlagene Bahnkörper war ausgebessert, der Trümmerberg des daraufgeworfenen Hauses völlig geräumt, die Gleise waren ersetzt. Rauch und Brandschuttgestank machten das Atmen schwer. Racke konnte nicht mehr laufen, er war ausgepumpt. Bis zum Umfallen überanstrengen durfte er sich nicht. Ob Liebedorn noch hinter ihm kam, wußte er nicht. In der ersten starken Kurve um eine hohe Mauer biegend, starrte er auf das faszinierende Bild der wie von Scheinwerfern angestrahlten, goldrot glühenden Fassade der Kleiderfabrik und ihres Nachbarn, des Betonklotzes des Proviantmagazins. Rauchschwaden wehten wie sonnendurchleuchtete Nebel. Tropische Hitze wogte ihm entgegen. Je mehr er sich dem Gleisdreieck des Industriebahnhöfchens näherte, um so mehr Ruinen, Rauchwolken, Flammenzungen und Schuttberge tauchten voraus und auf beiden Seiten auf. Was wollte er denn noch in diesem Panorama einer irdischen Hölle? Er konnte umkehren, hier war niemand mehr zu finden. Und dann lief er doch noch einmal: Da vorne stand ein Wagen auf dem Gleis! Rappenglück hatte sein Wort gehalten und ihn wegschieben lassen. Als Racke aber vor dem Wagen stand, begrub er die letzte Hoffnung. Der Wagenkasten war kurz und klein geschlagen und kurz und klein geschlagen, zum Teil herausgeworfen, zerfetzt, zertrampelt, war alles, was Schepperls Salonwagen enthalten hatte. Es sah aus, als hätte eine Herde tollwütig gewordener Menschenaffen hier gehaust. Von Schepperl, von Janka und Alexandra keine Spur. Aber ein Stück weiter stand die Plattformdraisine, auf halbem Wege zu den
verbogenen Eisengerippen der fünf anderen Wagen und dem glostenden Teppich, der von der Kanzel’aryja noch vorhanden war. Der Weg dorthin war mit Leichen gepflastert. Racke ging, alle körperliche und seelische Kraft wie mit Fäusten in sich zusammenhaltend, an den Körpern entlang. Die Glut, die von den Riesenbränden ausstrahlte, wurde mit jedem Schritt unerträglicher. Der Hinterkopf schmerzte, in den Ohren hämmerte es. Die Toten waren Zivilisten, Männer, Frauen, vielleicht Hilfswillige, vielleicht Partisanen, vielleicht beides. Janka war nicht unter ihnen, auch nicht Alexandra. Aber gleich hinter der Draisine lag Schepperl. Der Kopf war unbedeckt und blutüberströmt. Über dem linken Schädelbein von der Stirne bis zum Hinterkopf hatte er eine klaffende Wunde. Das linke Ohr und das linke Nasenloch waren von Blutpfropfen verstopft. Der Mund war geöffnet und dieser Mund röchelte. In kurzen Zeitabständen. Schepperl lebte. Racke zog dem nächsten Zivilisten die Steppjacke aus, schob sie vorsichtig unter Schepperls Kopf. Liebedorn kam angehechelt. Nun war Racke froh, daß er doch noch Hilfe hatte, an Liebedorn war ein Heilgehilfe verloren gegangen. Ohne ein Wort zu sagen, brachte er ein großes Verbandspäckchen zum Vorschein, riß es auf und Schepperls Kopf verschwand bis auf die geschlossenen Augenlider und den offenen Mund wie in einem Gipsverband. Sie zogen einer weiblichen Leiche den Pelzmantel aus, dessen Herkunft nicht schwer zu erraten war, legten ihn auf die Draisine, hoben Schepperl darauf, so behutsam wie möglich, denn sie wußten nicht, wie tief die Wunde ging - jede Erschütterung seines Kopfes konnte seinen Tod bedeuten. Liebedorn ergriff den Antriebshebel, Racke setzte sich mit dem Rücken zu ihm, zog den Pelzmantel mit Schepperls Kopf und Schultern zwischen seine gespreizten Beine, bis der Kopf auf seinem Schoße lag. Sie mußten noch einmal absteigen und Schepperls ehemaligen Salon-Befehlswagen über die nahe Weiche auf das Gleis zur Depotrampe schieben. Eisenstangen als Hebel benutzend, gelang es ihnen rasch, weil der Schienenweg völlig eben lag, aber gerade als Liebedorn die Draisine wieder in Bewegung gesetzt hatte, wurde im Gleisdreieck Geschrei laut. Schüsse fielen, Geschosse patschten, surrten und jaulten um sie herum, säuselten über ihre Köpfe.
„Sigi, rascher!“ schrie Racke. Er sah Gestalten laufen, konnte nicht erkennen, ob sie Uniformen trugen, wußte nur, daß sie näher kamen und daß es vor ihren Kugeln in der geraden Mauergasse, durch die sich hier das Gleis zog, keine Rettung gab. Bis in die Deckung hinter der ersten Biegung brauchten sie eine Minute! Liebedorn rief etwas, was Racke nicht verstand, ließ den Fahrantrieb los. Racke brüllte wütend: „Bist du verrückt? Fahr' zu oder - “ Weiter kam er nicht. Ein ungeheuerer Anblick verschloß ihm den Mund: Die goldglühende Fassade der Kleiderfabrik begann zu wanken. Sie neigte sich nach vorne, riß auf, stürzte mit einem entsetzlichen Getöse zusammen. Eine Feuersäule fuhr empor, als hätte sich ein Krater geöffnet, spie faustgroße, spie kopfgroße Brocken, spie Schwärme von Meteoren weit aus sich heraus. Eine Glutböe fegte über die Draisine hinweg. Der Höllenlärm verklang. Die Schießerei hatte aufgehört, nur noch Todesschreie gellten und Schmerzgeheul mischte sich unter sie. Der ganze Platz des einstigen Industriebahnhofes bis fast zur Depotweiche sah aus wie ein glühendes steinernes Meer. Erst nach geraumer Weile merkte Racke, daß ihr Fahrzeug stand. Liebedorn hatte sich umgewandt. Die Mütze saß ihm verwegen schief auf dem Ohr, aber sein Gesicht war starr vor Grauen. „Fahr weiter, Sigi“, sagte Racke ganz sanft. „Hier ist's nochmal gut gegangen. Aber wir müssen um 5 den Hauptbahnhof hinter uns haben.“ Es war 4 Uhr 12. Es schien unmöglich. Liebedorn hielt sich gut. Er hatte lange Arme und es ging um's Leben! 4 Uhr 27 bogen sie auf die Hauptstrecke ein. Jetzt ließ die Geschwindigkeit allmählich nach. So eine Plattformdraisine hatte ihr Gewicht; gewöhnlich wurde sie von zwei Paar Armen getrieben. Liebedorns Atem ging immer hastiger. „Ick gloobe, ick kann nich mehr“, keuchte er nach einer Weile. „Beiß auf die Zähne. Du mußt können!“ knurrte Racke. Es half nichts, Liebedorns Arme fielen plötzlich herab, als wären sie abgeschlagen. Eben war ein unbedeutendes und doch spürbares Gefälle. „Also los, wir wechseln“, sagte Racke und übergab ihm vorsichtig Schepperls Kopf, nahm den Platz am Treibhebel ein. Er konnte dazu nur den gesunden Arm gebrauchen, aber dieser Arm war ausgeruht, war muskulös und
trainiert. Rasch nahm das Tempo wieder zu, die Räder rollten so schnell über die Schienen wie zu Anfang. Die ersten Weichen und Kreuzungen der weitläufiger werdenden Bahnanlagen kamen. 4 Uhr 46. Nur fünf Minuten länger Zeit müßten sie haben! Die Gleise mehrten sich. Sie spiegelten die Brandröte des Himmels. Immer neue Explosionen zu beiden Seiten erschütterten Luft und Erde. Charkow dröhnte und brauste von Sprengungen und Feuersbrünsten. Liebedorn sank immer mehr zusammen. Ohne den Kopf zu heben, fragte er schüchtern: „Woll’n wa nich lieber weg vom Bahnhof? Wir könnten doch zu Fuß jehn un Sepp tragen.“ „Das wäre wahrscheinlich sein Tod und der unsere auch. Oder glaubst du, wir kämen jetzt noch durch diesen Hexenkessel durch? Nicht einmal ohne Sepp.“ „Dann laß mich treiben helfen, et jeht jetzt wieder.“ „Nein. Du behältst Sepps Kopf auf dem Schoß.“ Sie waren noch nicht beim Empfangsgebäude und in sieben Minuten mußten sie jenseits auf der freien Strecke sein. Unter den Brücken durch sein! Alles lag wie ausgestorben, auch das Empfangsgebäude. Sie rollten vorüber. 4 Uhr 54. Der Schweiß rann Racke übers Gesicht, am ganzen Leibe herab. Der Arm wollte erlahmen. Er mußte durchhalten! Ein paar Minuten noch! Hinter ihnen begann es zu donnern. Sie hörten Mauern stürzen. 4 Uhr 57. Irgendwo in der Nähe gab es ein paar harte Schläge, sprühte Feuer. Weichen flogen in die Luft. 58. Hinter ihnen krachte mit Getöse eine Überführung auf die Durchgangsgleise. Gleich mußte die letzte Weiche kommen. Sie kam. Sie fuhren darüber. Bahnhof und Bahngelände waren nun ihren Blicken entzogen, durch Wälle, Böschungen, Gebäude, die wie blasse Geisterhäuser vor dem feurigen Hintergrund standen. Jetzt konnte Racke den Arm sinken lassen, ausruhen. Er starrte das weiße Schädelpaket auf Liebedorns Schoß an. Schepperl hatte das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Würde er überhaupt noch einmal zu sich kommen? Racke sah noch einmal auf die Uhr. Es war 5 vorüber. Er wechselte wieder mit Liebedorn den Platz.
*
In Nowa Bawarija standen noch Züge. Mit dem nächsten fuhren sie nach Ljubotin. Schepperl war auf eine Bahre gelegt und vorsichtig eingeladen worden. Ebenso vorsichtig wurde er ausgeladen, gleich in den Operationswagen eines abfahrbereiten Lazarettzuges gebracht. Zwei Ärzte wickelten den Kopf aus, untersuchten die Wunde. Der Oberarzt, dessen Antlitz wie das seines Assistenten von der maßlosen Härte und Mühsal seines Berufes gezeichnet war, sagte: „Ich glaube, so schlimm, wie es aussieht, ist es nicht.“ Racke starrte auf Schepperls kalkweißes Gesicht. Schepperls Lider zuckten ein wenig, als ob sie sich heben wollten. Sie hoben sich nicht, aber die Lippen bewegten sich. Der Bewußtlose schien zu sich zu kommen. Er flüsterte etwas. Racke und der Assistenzarzt beugten sich über ihn. Jetzt verstanden sie die Worte „Mia Bayern hamm d'stärkste Kepf.“ Racke schoß es naß in die Augen. Er beugte sich zu Schepperls Ohr, sagte: „Dann mach's gut, Sepp. Auf Wiedersehn.“ Er nickte den Ärzten zu und verließ den Wagen, hinter ihm Liebedorn. Ohne zu wissen warum, schrie Racke ihn an: „Was hast du denn deine Mütze immer noch so blöd auf?“ Liebedorn antwortete ganz kleinlaut: „Ick hab doch da hinten eene abjekriecht!“ Er nahm die Mütze vom linken Ohr. Sie war innen voller Blut. Der obere Rand der Ohrmuschel fehlte. Neben ihm stand der Fahrdienstleiter, pfiff und hob den Befehlsstab. Racke starrte sekundenlang wortlos auf Liebedorns geköpftes Ohr, von dem wieder das Blut rann, weil er mit der angebackenen Mütze die Kruste abgerissen hatte, dann fragte er ganz sanft: „Warum hast du denn das nicht gleich gesagt?“ „Du hast es mir ja nich sagen lassen“, antwortete Liebedorn demütig, „und nachher hab ick's janz verjess'n.“ Die Räder rollten. Racke legte den gesunden Arm um Liebedorns Schultern, küßte ihn auf die stopplige Wange, befahl: „Los! Fahr' mit!“ und drängte ihn auf das Trittbrett des nächsten Wagens. Er lief ein Stück nebenher, rief ihm zu: „Grüß“ Deutschland!“ Dann winkte er, machte plötzlich kehrt und verließ den Bahnhof mit raschen Schritten, blieb stehn, holte eine kleine
Flasche Kognak, das einzige, was ihm von ihrem Schlaraffenland noch geblieben war, aus der Tasche, trank sie aus, ohne abzusetzen. Dann erst sah er sich um. Wo war die Nacht geblieben? Es war heller Tag. Natürlich. Er erinnerte sich: Schon auf der Draisinefahrt nach Nowa Bawarija war es Tag geworden. Es war der 14. Februar. Aus der Ferne rollte der Donner von Kanonen. Die Panzerschlacht. Racke nahm die Mütze ab. Sein Kopf war heiß wie nach einer durchzechten Nacht. Er starrte über sich in den undurchdringlich von Schnee- und Rauchwolken bedeckten Himmel, sagte leise: „Kamerad Normann... Befehl ausgeführt.“
11. KAPITEL
Racke wurde aus dem Schlaf gerüttelt. „Willst du hier pennen, bis dich der Iwan weckt?“ fragte der Ljubotiner Kollege. „Nicht unbedingt“, antwortete Racke, rieb sich die Augen aus und begab sich ohne Gepäck und ohne besondere Eile aus der gähnend leeren Unterkunft zum Bahnhof hinüber. Es war noch immer der 14. Februar und aus Morgen war Abend geworden. Er sah mit einem Blick, daß er sich auch ganz unbesorgt Zeit lassen konnte. Räumungszüge der Blauen standen noch da und der Befehlszug des Restkommandos der Feldeisenbahner. Ein Munizug und ein Spritzug wurden noch entladen, ein Bahnversorgungszug beladen und beim Räumungs- und Sprengzug der Pioniere waren erst recht keine Anzeichen einer unmittelbaren Bedrohung des Bahnhofs festzustellen. Gleichwohl mußte, wie sich Racke im Befehlszug erklären ließ, stündlich mit dem Auftauchen roter Kräfte, die bei Maximowka und Repki bereits die Strecke nach Woroshba unterbrochen hatten, im Raume Ljubotin gerechnet werden. Insbesondere bestand die Gefahr, daß in kurzem auch die Strecke nach Poltawa, dieser letzte stählerne Fluchtweg nach Westen, abgeschnitten sein würde. Denn der bei Dergatschi operierende Feind war dem deutschen Gegenangriff nach Westen ausgewichen und stieß nun nach Süden vor. Wenn der Russe bei Kowjagi zumachte, war Schluß. Das war der zwingende Grund gewesen, weshalb man in Charkow neben den tausend schlechtesten Güterwagen auch einige weniger wichtige Vollzüge geopfert hatte, denn nur so gewann man genügend Lok und freien Fahrweg, um die in Ljubotin stehenden wertvollen Räumungszüge auf alle Fälle noch nach Poltawa retten zu können. Das war gelungen. Nun hielt es Dr. Dornberg aber auch an der Zeit, die letzten Züge der Bahnmeisterei und des Bahnhofs mit dem blauen Personal in Marsch zu setzen. Dem schwäbischen Vorsteher der Bahnmeisterei waren seine einheimischen Arbeitskräfte bis zur letzten Minute treu geblieben; viele von ihnen fuhren nun mit nach Westen, ganze Familien, die befürchten mußten, getötet zu werden.
Der Bahnhofsvorsteher, der schwarzhaarige, dunkelhäutige Tiroler, den jeder schon von weitem an seinem braunen Ledermantel kannte, lief immer wieder dahin und dorthin. Er konnte es nicht fassen, daß er den Bahnhof verlassen mußte, den er zusammen mit dem Vorsteher der Bahnmeisterei groß gemacht hatte. So sehr hing er an seinem Bahnhof und an seiner Aufgabe, daß er aus seinem ersten Urlaub kurzerhand einen selbstorganisierten und mit einigen tausend Mark aus der eigenen Tasche bezahlten Waggon voll fehlender Oberbau- und Signalbaustoffe mitgebracht hatte, weil der Papierkrieg, den er monatelang um sie geführt hatte, erfolglos geblieben war. Als ihn der Zug aus seinem Bahnhof trug, starrte er durchs Fenster und preßte das Gesicht an die kalte Scheibe. Racke schrieb die halbe Nacht und den ganzen folgenden Tag an seinen Berichten. Von Zeit zu Zeit trieb es ihn hinaus auf die Straßen. Hoffte er, Janka in den Trecks der Flüchtlinge zu entdecken? Im Süden, Norden und Nordwesten nahm das Donnern der Kämpfe kein Ende mehr. Es näherte sich, entfernte sich wieder, Granaten schlugen in die Stadt und ins Bahngelände. Iwanpanzer rollten bis in nächste Nähe, zogen sich ohne ersichtlichen Anlaß wieder zurück. Schließlich war aber trotz aller kaltblütigen Zähigkeit des Räumungsstabes auch für die feldgrauen Eisenbahner und für Günther Racke die Stunde der Flucht, für den Bahnhof die Stunde der Zerstörung gekommen. Noch ohne ganz entladen zu sein, brausten die letzten Züge auf der Strecke nach Kowjagi davon, zum Schluß der Triebwagen der Restgruppe des Kommandos mit Dr. Dornberg, Brandner, Romer und ihren paar letzten Mitarbeitern, sowie das Restpersonal des Bahnhofs, wenige Stellwerks- und Fahrdienstbeamte, Weichenwärter und Rangierer. Während hinter ihm - es war 23 Uhr - die Pioniere mit den Sprengungen begannen, fegte der Triebwagen durch die Nacht, die von Bränden durchloht und von den Blitzen der Abschüsse der Geschütze und den Feuerfontänen der Einschläge durchzuckt, von den Leuchtspurketten der Flak- und SMGGeschosse und von aufsteigenden und niedersteigenden Leuchtkugeln illuminiert war. *
Nach wenigen Tagen verließ das F.E.K. 3 auch Poltawa mit dem Befehl, in Shitomir und Kiew seine Abteilungen zu sammeln, zu neuem Einsatz vorzubereiten und die Nicht- und Nurkurzgedienten militärisch auszubilden, insbesondere die bisherigen Sonderführer zu Offizieren des Heeres zu machen. Racke blieb bei den Blauen, die nun sowohl im Südabschnitt wie auch im Nordabschnitt bis zu den Frontspitzen Betrieb machten, die ja jetzt in ihren Bezirken lagen. Er huckte seinen leicht gewordenen Gebirgsjägerrucksack, kletterte in einen Zug und fuhr ins Donezbecken. Am Rande der zerstreuten Kampfräume und in den abgeriegelten Kesseln, machten die blauen Eisenbahner Betrieb mit so viel Ruhe und Ordnung, als Artilleriebeschuß und Fliegerbomben zuließen. In endlosen Bahntransporten rückte die SS-Division Großdeutschland aus dem Reiche an, packte den Kampfkeil, den die Sowjets südlich Charkow vom Donez zum Dnjepr vorgetrieben hatten, trieb ihn zurück, vernichtete ihn und andere starke rote Kräfte im Donezgebiet im Verein mit den verbliebenen Infanterie- und Panzereinheiten des Heeres. Es zeigte sich, daß die roten Truppen auch bei zahlen- und materialmäßiger Überlegenheit noch immer geschlagen wurden, wenn die deutschen Verbände zahlenmäßig auch wirklich ihrer Bezeichnung entsprachen, Divisionen auch Divisionen und nicht Bataillone, Kompanien Kompanien und nicht Gruppen waren. Und wenn sie sich im Vollbesitz ihrer Waffen und körperlichen und seelischen Kräfte befanden. Bald war Ljubotin wieder umkämpft. Noch angesichts der Panzergefechte kehrte der ehemalige Chef der Bahnmeisterei mit 5 Rottenführern auf seine Dienststelle zurück und nahm den Wiederaufbau des zerstörten Knotens in Angriff. Er kam auch jetzt ohne Zwangsmaßnahmen aus. Nicht weniger als 500 Männer und Frauen, die zuvor als Bahnarbeiter tätig gewesen waren, meldeten sich sofort wieder freiwillig, als sie hörten, daß der Chef zurück sei. Er hatte nicht nur seine Menschenfreundlichkeit mitgebracht, die ihm die dankbare Hilfswilligkeit der Bevölkerung gewonnen hatte, er kam auch mit drei Waggon Lebensmitteln. Bereits Mitte März, vier Wochen nach der Räumung, war Charkow wieder in deutscher Hand. Die russischen Eisenbahner hatten in der Zwischenzeit den wichtigsten Teil der zerstörten
Bahnanlagen schon in einigermaßen brauchbaren Zustand gebracht. Burgherrs Feldeisenbahnbetriebsabteilung und sogar Teile einer Maschinen- und einer Werkstättenabteilung hielten erneut Einzug in Charkow, doch war der Bahnhof nicht mehr Mittelpunkt und Gehirn eines gewaltigen Streckennetzes, sondern nur noch Betriebsspitze und seine Feldeisenbahner waren bis auf weiteres der blauen Reichsverkehrsdirektion Dnjepropetrowsk unterstellt. Unweit ostwärts verlief die Hauptkampflinie, die es wieder in fester Form gab. Der glühende, keuchende Atem der Front schlug bis in die Mauern der furchtbar heimgesuchten Stadt, über die nun zum dritten Male die Feuerwalze des Krieges gegangen war. In einer Kesselschlacht, wiederum bei Isjum wie im Vorjahre, endete auch in diesem Jahre die rote Offensive, die Donezbecken und Ukraine wieder in sowjetische Hand hatte bringen sollen. Die nur wenig, vielfach überhaupt noch nicht soldatisch ausgebildeten Beamten, Handwerker und Arbeiter des nach dem Verlust seines Rieseneinsatzgebietes arbeitslos gewordenen Feldeisenbahnkommandos, das sich inzwischen in dem schönen, friedlich fernen Kiew ansässig gemacht hatte, wurden auf eine Anzahl Lager verteilt und zum Kampfeinsatz ausgebildet. Mancher Sonderführer im Majors-, Hauptmanns- oder Leutnantsrang wurde oder fühlte sich jetzt an Leib und Gemüt geschunden von der befehlsgewaltigen soldatischen Erziehung durch ihm bisher untergebene Offiziere und Unteroffiziere. Und nach dieser militärischen Verwandlung waren aus Beamten im Majorsrang Leutnants geworden, denen dann gleichwohl, wie am auffallendsten dem Stabsoffizier II Reichsbahn, nunmehrigen Leutnant Dr. Dornberg oder den Leutnants Brandner, Lob, Romer in ihrer Eigenschaft als Abteilungspräsidenten nach wie vor die Amtsvorstands-Majore und -Hauptleute unterstellt waren. Dieser militärbürokratische Unfug war nicht nur lächerlich, sondern für alle von ihm Berührten unangenehm und störend. Da oblag zum Beispiel dem Leutnant Dr. Dornberg die Aufgabe, jenen Oberstleutnanten und Majoren auf den Nabel zu knien, die bei der Räumung Charkows ihr wertvolles Etappenleben gar zu eilig von ihren Einheiten und Dienststellen getrennt und in Richtung Westen in Sicherheit gebracht hatten unter dem Vorwand, rechtzeitig für rückwärtige Quartiere besorgt sein zu müssen. Oder der frischgebackene Leutnant Brandner stauchte
einen alten Hauptmann zusammen, der als Vorsteher eines Betriebswerks weder wußte, wieviel Lok einsatzfähig und wie viele in Reparatur waren, noch wieviel Kohle er auf Lager hatte. Wenn man schon Eisenbahner in die Uniform des Soldaten steckte, dann hätte es von Anfang an selbstverständlich sein müssen, die Beamtenränge - ohne Rücksicht auf eine soldatische Laufbahn vom Rekruten auf - in entsprechende Offiziersränge umzuwandeln. Durch besondere Abzeichen oder andere Uniformfarbe hätte man ja den ,vierten Wehrmachtsteil', der die gesamte Reichsbahn praktisch geworden war, von der echten Truppe, der Kampftruppe und ihren Offizieren unterscheiden können. Die allgemeine militärische Ausbildung und Kampfschulung hing allerdings weniger mit formalmilitärischen Gesichtspunkten zusammen; es verlautete, daß 80 000 feldgraue Eisenbahner an die Truppe zum Fronteinsatz abgegeben werden sollten. Obgleich sich die Front gefestigt hatte, nur örtlich geringe Kampftätigkeit zu verzeichnen war und auf deutscher Seite die Vorbereitungen für eine neue Sommeroffensive getroffen wurden, hielt man es schließlich doch für richtig, im unmittelbaren Hinterland der Front die zivilen blauen Eisenbahner durch Feldeisenbahner zu ersetzen. Sie besetzten ihre künftigen Strecken zunächst noch mit ihren blauen Kollegen zusammen, führten dann, formal den Reichsverkehrsdirektionen Kiew und Dnjepropetrowsk unterstellt, den Betrieb selbständig durch und am 31. Mai ging auch die Betriebsführung an das Feldeisenbahnkommando über. Es betrieb nun die außerordentlich wichtige Front-Parallelstrecke Woroshba-Smorodino-Ljubotin und ihre rückwärtigen Zufuhrlinien Tschernigow-Neshin, Neshin-Bachmatsch, Bachmatsch-KonotopWbroshba, Woroshba-Gluschkowo (Frontspitze) und Bachmatsch-Lochwiza. Von den blauen Kameraden wurden die Züge übernommen in Neshin und Priluki (RVD Kiew) in Makoschino und Tschernigow von der RVD Minsk, in Ljubotin und Merefa in Richtung Losowaja und Konstantinograd von der RVD Dnjepropetrowsk. Selbstverständlich siedelte nun das Kommando in das zu seinem Einsatzgebiet zentral gelegene Konotop über. Ein neuer Sommer ging über das Land. Die Eisenbahner machten, abgesehen von der Behinderung durch Luftangriffe, friedensmäßigen Betrieb. Reibungslos wurde der Truppen- und Versorgungsnachschub, wurden die Verschiebungs- und
Aufmarschtransporte durchgeführt. Es wurde allenthalben geplant und gearbeitet, aufgebaut und verwaltet und geschult, als stünde die deutsche Front wie eh und je unverrückbar wie ein Fels. Man trug den Kopf hoch, als hätte es nie eine Niederlage gegeben. Racke fuhr von einer Betriebsspitze zur anderen. Die Hoffnung, Janka wiederzufinden, hatte er aufgegeben, nachdem er in Charkow, Ljubotin und Poltawa vergeblich nach ihr geforscht hatte. Er hatte zum zweiten Male die Rasputiza erlebt, die Schneeschmelze mit den großen Frühlingsregen und Eisbrüchen, den riesigen Überschwemmungen. Aber diesmal waren sie in den landesüblichen Grenzen geblieben und man hatte aus der Katastrophe des Vorjahres gelernt und wirksame Vorkehrungen getroffen. Nun erlebte er den Anmarsch neuer deutscher Divisionen, die Anfuhr von gewaltigen Mengen Kriegsmaterial und wurde, wie jeder andere, noch einmal gepackt von dem Schaubild der Wehrkraft und des Wehrwillens und belebt und getröstet von neuem Vertrauen in einen guten Ausgang dieses Ringens des Reiches um sein Leben. Als er wieder nach Konotop zurückkam, traf er viel Post an. Obenauf lag ein Brief von Liebedorn. Schepperl lebe, schrieb er. Sein Dickschädel habe die schwere Verletzung ausgehalten. Es hatte sich nicht um einen Schuß, sondern um einen Schlag mit einem kantigen Eisen gehandelt. Schepperl befinde sich noch in einem Sanatorium, er aber mache wieder Dienst auf dem Anhalter Bahnhof. Die Luftangriffe auf Berlin und andere wichtige Städte im Reiche nähmen zu und die Gesichter der Menschen würden schmäler und sorgenvoller. Zwischen den Briefen von Eva steckte ein Umschlag mit einer auffallend klobigen Schrift. Das war Schepperl selbst. Racke riß ihn auf. „Weil mia Bayern de stärkste Kepf ham, bin i no amoi davokemma“, schrieb er. Er esse und trinke sich mit Unterstützung der beiden Bauernhöfe elterlicherseits zur Zeit in einem Genesungsheim in seinen oberbayerischen Bergen vollends gesund. In drei bis vier Wochen werde er wohl entlassen, die feldgraue Kluft endgültig ausziehen und bis an sein seliges Ende in rund fünfzig Jahren dort Dienst machen, wo ein anständiger Eisenbahner hingehöre, auf seinem Heimatbahnhof. „Und an Taufpaten brauchat ma a. Zwengs 'n letzt'n Urlaub. Host mi?“
Eva schrieb, daß sie sich wieder dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt habe und in der Kinderstation eines städtischen Krankenhauses tätig sei. Sie wohne dort und habe Wölfchen mitbringen dürfen. Seitenlang erzählte sie von ihm. Er war noch nicht neun Monate alt und hatte schon acht Zähne, zog sich überall hoch, wo er konnte, schaukelte auf den Beinchen herum und versuchte, die ersten Schritte zu machen. Die längsten Briefe waren Günther zu kurz. Er las jeden Satz dreimal, jeden Brief immer und immer wieder. Übermächtig wuchs seine Sehnsucht nach seinem Kinde, nach seinem Weibe. War er nicht ein Narr, unaufhörlich dem Verderben nachzurennen? Brauchte er sich zu scheuen, endlich einmal wieder ein Urlaubsgesuch zu machen? Konnte er nicht mit Fug und Recht mindestens den Rest seines im Dezember aus freien Stücken abgebrochenen Urlaubs beanspruchen? Das Verlangen, nach Hause zu fahren, packte ihn an den langen, von Jasmin duftenden, von den Farben des Sonnenuntergangs bunten Juniabenden, in den Leuchtkäfernächten mit immer unwiderstehlicherer Gewalt. Er verstaute eines Morgens beim ersten Tagesschein mit der endlich gefundenen Ruhe freudiger Entschlossenheit das Wenige an Hab und Gut, das er noch besaß im Rucksack und fuhr mit dem ersten erreichbaren Zug nach Warschau zur Generaldirektion. Ministerialrat Mulberg lachte: „Selbstverständlich fahren Sie! Drei Wochen. Im übrigen kommen Sie wie gerufen. Darf ich Sie bitten, in einer Viertelstunde wieder bei mir zu sein. Sie können dann Ihren Urlaubsschein in Empfang nehmen.“ Racke sah sich inzwischen nach der Abfahrtszeit des nächsten SF.-Zuges über Breslau um. Als er pünktlich wieder eintrat, war das Zimmer des Chefs voll mit hohen Beamten und Offizieren. Mit einer Entschuldigung wollte er sich zurückziehen, aber Mulberg rief: „Auf Sie warten wir ja gerade!“ Eine Stunde später saß Günther Racke im Zuge, das Ritterkreuz des Verdienstkreuzes am Rockkragen. Am frühen Abend des folgenden Tages stand er im Krankenhaus vor Eva. Mit einem Jubellaut flog sie ihm um den Hals. Der kleine WolfGünther erschrak einen Augenblick vor dem lachenden Ungestüm des fremden Mannes. Er schrie, brach mitten im hohen C ab, packte das Ritterkreuz mit beiden Händchen und versuchte es abzureißen. Dabei ließ er dann, allerdings immer wieder
abweisend das rosige, pausbackige Gesicht verziehend, Papas bartstoppeligen Küsse über sich ergehen. Die Oberin beurlaubte Eva auf drei Tage. Sie fuhren nicht, sie wanderten, Günther sein Wölfchen auf dem Arm, durch die lichtlosen Straßen zu ihrem kleinen Heim. Sie dachten, die Menschen, die ihnen entgegenkamen, müßten ihre Herzen wie Lichter leuchten sehen. Wölfchen schlief, noch ehe sie zu Hause waren. Sie gingen ganz leise und langsam die Treppe hinauf, traten ein und schlossen die Türe hinter sich, legten Wölfchen in sein Bettchen. Dann versank die Welt. Wie Verdurstende tranken sie einander das Glück der Liebe von den Lippen. Um 1 Uhr in der Nacht wurden sie durch das Geheul der Sirenen aus dem Schlafe gerissen, zogen sich hastig an, wickelten Wölfchen in eine Decke und rannten in den Keller hinab. Eng zusammen, meist schweigend, nur von Zeit zu Zeit flüsternd, saßen die Hausbewohner mit den Köfferchen, in denen ihre Wertsachen, die besten Kleidungsstücke und die wichtigsten Andenken und Dokumente geborgen waren, lauschten auf das gedämpfte Donnerrollen der Bombeneinschläge, das zarte Tacken der Flak, fühlten - in Furcht und in Hoffnung zugleich, daß der Kelch des Grauens und Sterbens an ihnen vorübergehen möge - immer und immer wieder die Erschütterung, die vom Zusammensturz der Häuser durch die Erde lief. Nach der dritten Angriffswelle blieb es still. Kurz vor 3 Uhr kam die Entwarnung. Wölfchen war nur einmal aufgewacht, wahrscheinlich weil die Luftveränderung allmählich in sein Bewußtsein gedrungen war. Racke rief den Bahnhof an, bekam keine Antwort. „Ich laufe mal schnell hin“, sagte er. „Sonst habe ich die ganze Nacht keine Ruhe mehr.“ Er lief durch Straßen, die voll von Scherben, abgebröckeltem Mörtel, zerbrochenen Ziegeln, herabgerissenen Drähten lagen, in denen Bäche aus zerbrochenen Wasserrohren liefen. Er atmete die Luft, die dick war von Staub und die von Brandrauch, Gasen und aufgerissenen Kloaken stank, kam an Ruinen, an flammenden Gebäuden vorüber, an Schuttbergen, die vor zwei Stunden noch Häuser mit vielen Bewohnern gewesen waren. Alle Hilfsorganisationen waren in voller Tätigkeit. Der Bahnhof brannte. Ein Reisezug war durch den Bombenregen noch unversehrt in die Halle gekommen. Das
Betriebswerk war schwer getroffen, Lokomotiven vernichtet. Ein Ausbesserungswerk lag großenteils in Trümmern. Alles, was Eisenbahner war, hatte sich eingefunden. Jetzt erst sah man, wie viele Frauen in der Heimat in der blauen Uniform steckten, um die zur Wehrmacht, zu den Eisenbahnpionieren, zu den Feldeisenbahnkommandos Eingezogenen und zu den Reichsverkehrsdirektionen in den besetzten Ländern Versetzten zu ersetzen. Sie standen auf den Posten, die zu bekleiden sie gelernt hatten, an den Fahrkartenschaltern, als Zugschaffner, als Hilfsarbeiter in den „Werkstätten und in den Rotten auf den Strecken. Und sie standen den Männern weder an Dienstwilligkeit noch Leistung, noch an Mut nach. Am Morgen fuhren die Züge schon fast wieder planmäßig. Die Straßen waren soweit aufgeräumt, daß der Verkehr, abgesehen von wenigen Stellen, unbehindert war. Aber in Hunderte von Familien hatte der gräßliche Tod wieder qualvolle Lücken gerissen. Racke fuhr nach Hause. Er traf Eva nicht an. Sie hatte einen Zettel hinterlassen. „Ich bin im Krankenhaus. Es ist getroffen worden. Wölfchen ist bei der Nachbarin.“ Er fuhr ins Krankenhaus. Der Flügel der Kinderstation war von einer Luftmine eingerissen. Man war unter fachmännischer Leitung dabei, einen Zugang zu dem verschütteten Schutzraum zu schaffen. Racke sah Eva kurz; sie konnte nicht entbehrt werden. Er ging nach Hause, holte seinen Buben, spielte mit ihm den ganzen Tag, ließ sich mit ihm von der freundlichen Nachbarin verpflegen. Kurz vor Mitternacht kam Eva, zum Umsinken müde. Die Oberschwester, sieben Schwestern und vierzig Kinder waren bisher tot geborgen worden. Eva weinte an Günthers Mund, bis sie eingeschlafen war. Um 2 Uhr war wieder Alarm. Um 3 Uhr Entwarnung. Um 5 Uhr ging Eva zum Dienst. Günther lag von früh bis spät auf dem Stubenboden bei seinem Jungen auf dem Bauch. Wenn der Bengel schlief, schlief auch er, wenn der Bengel Hunger hatte, aß auch er. Eva kam immer spät, frühestens um 9, und ging sehr früh, spätestens um 6. Nur die Nächte gehörten ihnen. Von nun an holte er sie ab, morgens aber duldete sie nicht, daß er aufstand. Sie schätzten sich glücklich, daß die Nächte nun ruhig blieben und an seinem letzten Urlaubstag nahm sie frei. Sie
tauchten jede Stunde in die Unerschöpflichkeit ihrer Zärtlichkeiten. Der Abschied war schwer, aber ganz eingehüllt in das Licht ihrer Liebe und ihres Glaubens an ein Wiedersehen. * Günther Racke fuhr nach Minsk, jener Stadt, in der vor nahezu zwei Jahren sein Osteinsatz begonnen hatte. Es war kein Geheimnis mehr, daß die deutsche Sommeroffensive nach unbedeutenden Teilerfolgen, die unter hohen Verlusten errungen worden waren, am Wall der den Sowjets zur Verfügung stehenden, unerschöpflich scheinenden Masse Mensch und ihrem ebenso unerschöpflich scheinenden Kriegsmaterial, größtenteils amerikanischer Herkunft, zerschellt war. Das Leben und Treiben in Minsk hatte trotz des überwiegend militärischen Bildes fast friedensmäßiges Gepräge. Die Straßenbahn war zwar immer noch nicht in Betrieb. Das Elektrizitätswerk, von den Eisenbahnern notdürftig instand gesetzt, vermochte nicht mehr Strom zu liefern, als für den Eisenbahnbetrieb und für die Militär- und die Zivildienststellen gebraucht wurde. Parteiuniformen und die vielen weißen und bunten Kleider der Minsker Frauen und Mädchen waren neu für Racke. Auch die Geschäfte, die von der Zivilverwaltung eingerichtet waren, in denen aber nur Uniformierte kaufen konnten, wobei die blaue Uniform der Eisenbahner, gleichgültig, ob es sich um obere, mittlere oder untere Beamte handelte, nicht für voll genommen wurde. Das Haupt der Zivilverwaltung, der Gebietskommissar für Weiß-Ruthenien, Gauleiter Kube, war, wie Racke erfuhr, im Februar einem Mordanschlag zum Opfer gefallen, obgleich er der Bevölkerung mit Vernunft und Menschlichkeit gegenüberstand. „Wir müssen um die Seele des weiß-ruthenischen Volkes ringen“, war sein Standpunkt gewesen. Vielleicht hatte er gerade darum sterben müssen. Ein despotisches Subjekt wie Koch in der Ukraine bedeutete keine Gefahr für Stalin, denn er war mit dem ihm hörigen Anhang für die Ukrainer das größere, das landesfremde und daher noch verhaßtere Übel. Er war geradezu ein Bundesgenosse Stalins im Kampf um die Heimattreue der Ukrainer. Nach einem ersten mißglückten Anschlag auf Kube im Theater, wurde seine Hausgehilfin, die, wie alle Minsker, die mit ihm in
Berührung kamen, dem freundlichen und anständigen Menschen in dankbarer und guter Gesinnung anhing, von der Führung des kommunistischen Untergrundes bei Androhung eines qualvollen Todes für sie und ihre ganze Familie erpreßt, ihm eine Magnetmine ans Bettgestell zu kleben. Sie gehorchte verzweifelt. Wie viele Minsker zur Vergeltung und Abschreckung gehenkt worden waren, konnte Racke nicht erfahren. Umso genauer erfuhr er bei der Direktion im Hochhaus, welchen Umfang das Bandenunwesen allmählich angenommen hatte. Die Partisanen waren zur größten Gefahr für das Hinterland und die Versorgung der Front geworden. Dicht vor den Toren der Stadt begann ihre Herrschaft. Auch die neuen Ereignisse an der Front selbst konnte man nur mit Sorge betrachten. Insbesondere in den Räumen BelgorodKursk und Orel hatten sich seit dem 3. Juli schwere Kämpfe entwickelt und zwar aus einem deutschen Angriffsunternehmen heraus. Der Gegner hatte erfolgreiche Gegenangriffe geführt. Es war bei Belgorod und südlich Orel zu einer schweren, in der Hauptsache von einem einzigen SS-Panzerkorps getragenen Panzerschlacht gekommen, die laut Heeresbericht siegreich verlaufen war. Dessenungeachtet hatten das FEK 2 und die HVD Minsk Strecken verloren, Material und Menschen. Die Panzerschlacht hatte sich zu einer gewaltigen vierzehntägigen Materialschlacht aller Waffengattungen ausgeweitet, in der die Sowjets 2344 Flugzeuge, 5500 Panzer, 1080 Granatwerfer, viele Geschütze und Material aller Art verloren hatten. In den letzten Tagen war im Heeresbericht aber auch von Entlastungsangriffen des Iwan an der ganzen übrigen Front die Rede gewesen und wo soeben die deutschen Korps in der Materialschlacht einen vielfach überlegenen Gegner geschlagen hatten, rannten die Sowjets schon wieder mit neuen Reserven an Menschen und Material gegen die gleichen, an Menschen und Material erschöpften deutschen Truppen an. Der Heeresbericht hatte auch erwähnt, daß die Schlacht bei Belgorod und Orel noch nie dagewesene Anforderungen an die Nachschubformationen gestellt habe. Die Grundlage dieses Nachschubs war der Schienenweg, der Eisenbahntransport. „Wenn der Frontsoldat“, so hieß es in einem Dankschreiben des Generalfeldmarschalls von Kluge an die RVD Minsk, „seine Aufgabe erfüllen konnte, dann nur durch die Leistung der
Deutschen Reichsbahn. Der Dank der Frontsoldaten verbindet sich mit meiner Anerkennung, die ich jedem Eisenbahner zu übermitteln bitte.“ Was vom Eisenbahntransport für die Entscheidungen an der Front abhing, wußten aber auch die Partisanen, deren Anschläge in den letzten Tagen und Wochen ein Höchstmaß an Zahl und Verwegenheit erreicht hatten. Gewiß waren von Zeit zu Zeit Razzien abgehalten, weite und schwer zugängliche Gebiete eingeschlossen und in zähen Kämpfen mit den Partisanen durchgekämmt worden. Ab und zu gaben auch die Heeresberichte die Durchführung großer Säuberungsunternehmen in rückwärtigen Gebieten bekannt, bei denen neben Bahnschutz und Landesschützen, Polizeiverbänden und SS auch Kampftruppen des Heeres und der Luftwaffe eingesetzt waren, Hunderte von Bunkern und befestigten Lagern vernichtet, Waffen und Munition aller Art erbeutet, Tausende von Partisanen getötet wurden. Tausende aber entkamen, sammelten sich wieder, wurden aus der Luft oder nicht entdeckten Depots erneut mit Waffen aller Art versehen. Wenn der Krieg, den die Banden gegen den Nachschub führten und der ohne jeden Zweifel von der sowjetischen Heerführung taktisch gelenkt wurde, wahrscheinlich sogar vielfach unter persönlicher Führung von Offizieren und Unteroffizieren der Roten Armee stand, trotz allem noch nicht zu viel schlimmeren Folgen für die Fronttruppe geführt hatte, so war dies in der Hauptsache der umsichtigen, tapferen und unverdrossenen Gegenwehr der Eisenbahner zu danken. Einzelheiten konnte Racke aus den täglichen Lagemeldungen erfahren. Willkürlich zog er diesen und jenen Bericht heraus. 10, 20, 30 Anschläge und mehr innerhalb 24 Stunden allein im Bezirk der HVD Minsk mit mehreren hundert, ja mehreren tausend Sprengungen, waren keine Seltenheit. Was das für den Verlauf der Kämpfe bedeutete, lag auf der Hand. Truppenzüge, Munitransportzüge, Verpflegungszüge blieben 48 Stunden und länger liegen! Der jüngste Bericht verzeichnete am 3. August 46 Anschläge innerhalb 24 Stunden, von denen 10 am Tage verübt wurden. Obgleich über 1000 Minen entdeckt und ausgebaut worden waren, glückten den Banditen nicht weniger als 4400
Gleissprengungen mit ihren „Seifenstücken“ mit Zündschnur. 45 Strecken- und Gleissperrungen waren die Folge. Das war ein Rekord und ein Skandal! Der viel zu weiträumig verteilte und in seinen einzelnen Einheiten viel zu schwache Streckenschutz wurde während der Tätigkeit der Verminungs und Sprengabteilungen der Partisanen zum Teil von großen, schwer bewaffneten Banden, die über SMG in rauhen Mengen, leichte und schwere Werfer und Infanteriegeschütze verfügten, auf den Bahnhöfen und Wehrmachtstützpunkten eingeschlossen und mühelos niedergehalten. Wo jedoch sollte man die Truppenmasse hernehmen, die ständig an den Strecken hätte liegen müssen, um dem Bandenunwesen ein Ende zu machen? Man mußte froh sein, wenn man mit den noch vorhandenen Divisionen die Front selbst im großen Ganzen zu halten vermochte! Die Strecken Molodeczno-Polozk, Minsk-Shlobin, OrschaMogilew-Shlobin, Mogilew-Kritschew und Kritschew-Unetscha waren länger als 24 Stunden völlig unterbrochen. Und in den nächsten 24 Stunden erfolgten wiederum 2828 Sprengungen, obgleich es auch diesmal gelungen war, noch rechtzeitig rund 1000 Minen zu beseitigen. An dieser gefährlichen Arbeit beteiligten sich vielfach auch wagemutige Eisenbahner. Mancher ließ sein Leben dabei. Nicht nur, daß infolge der Massensprengungen - 7228 innerhalb 48 Stunden - fast alle Strecken auf längere Zeit lahmgelegt waren, auch die Wiederherstellung des verheerten Oberbaus stieß dadurch auf nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten, denn wie sollte man die Bauzüge, die Baustoffe an Ort und Stelle bringen? Und dennoch war es gelungen. 20 Bauzüge waren eingesetzt, sämtliche Kräfte der Bahnmeistereien aufgeboten. Auch das war noch zu wenig, weil die einheimischen Baukräfte in immer größerem Umfange zum Einsatz im Reich ausgehoben wurden. Zum Teil mußten, um wenigstens ein Gleis wieder befahrbar zu machen, nicht nur Überholungsgleise, sondern auch Schienen des zweiten Hauptgleises aus- und in das am raschesten zu flickende Gleis eingebaut werden. Racke wunderte sich im Gespräch mit dem Betriebsleiter, daß angesichts solcher katastrophalen Verhältnisse die Beamten der Direktion und vor allem die draußen der Mut nicht verließ.
„Größer als alle Gefahr ist die Pflichttreue unserer Männer“, antwortete der Oberrat, ein Mann, der überzeugendes Fachwissen mit Ruhe und Klarheit auch im tollsten Betriebssturm verband und sich dank seiner stets freundlich höflichen Art, selbst dem geringsten Untergebenen gegenüber, allgemeiner Beliebtheit erfreute. „Der Mut und die Zähigkeit unseres Bahnhofs- und insbesondere unseres Fahrpersonals sind bewundernswürdig. Selbstverständlich gibt es unter ihnen, ebenso wie in Betriebswerken, Bahnmeistereien und Baurotten, auch widersetzliche, böswillige oder unfähige Elemente, aber das Gros der Eisenbahner ist in Ordnung.“ „Bewundernswert ist ebenso“, sagte Racke, „daß die Betriebsleitung die Flinte nicht ins Korn wirft. Mir ist schleierhaft, wie unter solchen Umständen überhaupt noch Züge gefahren werden können.“ Der Oberrat schmunzelte. „Von Regelbetrieb kann natürlich keine Rede mehr sein, aber die Erfahrungen haben uns auch eine ganze Reihe Gegenmaßnahmen gelehrt. Wir leiten vor allem die Truppen- und Munitionszüge unter Inkaufnahme längerer Fahrzeiten über Strecken um, die von den Banden noch nicht oder in geringerem Maße heimgesucht werden. Wir leiten nachfolgende Züge auf dem falschen Gleis an der Unfallstelle vorbei, falls dieses befahrbar ist, und führen bei längeren Sperrungen überhaupt eingleisigen Betrieb durch. Man sammelt, wo beide Gleise blockiert sind, die Züge auf den Bahnhöfen vor und hinter der Unfallstelle und schleust sie, sobald eines der Gleise wieder befahrbar ist, richtungsweise auf Sichtabstand durch. Dadurch fallen allerdings auch die Lokomotiven in den Betriebswerken bündelweise an, ihre Behandlung verzögert sich also und damit die Wiedergestellung für den Betrieb. Bei Notständen versucht man es bei Nacht mit Geleitzügen. Die einzelnen Garnituren fahren mit 100 Meter Abstand und nur 10 Kilometer in der Stunde. Auch das nützt wenig, daher haben wir auf den besonders stark gefährdeten Strecken Betriebsnachtruhe eingeführt. Die Züge werden auf dem letzten vor Dunkelheit erreichten Bahnhof, auf dem die Lok Wasser nehmen kann, bis Tagesanbruch zurückgehalten. Der erste Zug darf nicht schneller als 25 km/h fahren und zuvor wird die Strecke durch Wehrmachtsstreifen, teils auch durch geschulte Eisenbahner nach Minen abgesucht. Aber die Partisanen, die ja
zu Hunderten und Tausenden an den Strecken entlang in ihren Schlupfwinkeln lauern, verüben jetzt eben ihre Anschläge am Tage in vermehrter Zahl. Außerdem sind infolge der Betriebsnachtruhe die Lokomotiven die doppelte Zeit unterwegs. Im Lokumlauf tritt demgemäß eine entsprechende Verzögerung ein, sodaß die geforderten Fahrleistungen überhaupt nicht mehr erfüllt werden können. Wohl oder übel muß also auch wieder bei Nacht gefahren werden. Damit bei der Auslösung von Minen wenigstens die Lokomotiven nicht mehr beschädigt werden, spannt man zwei offene Güterwagen vor. Ursprünglich wurden sie mit Sand beladen. Der Fahrwind aber und in Frontrichtung auch der fast immerwährende Ostwind blasen den Sand gegen die Lok. Der dichte Sandstaub nimmt erstens dem Lokführer die Sicht und zweitens dringt er ins Triebwerk und führt zu Heißläufen. Man nimmt nun Leerwagen, nachdem sich herausgestellt hat, daß auch durch sie die Minen ausgelöst werden. Auch bei Tag darf kein Zug ohne mindestens einen Spitzenschutzwagen fahren und 40 Kilometer in der Stunde nicht überschreiten. Bei Transportzügen werden die mit Personen besetzten Wagen am Schluß beigestellt. Urlauber- und Reisezüge erhalten noch einen Schutzwagen hinter der Lok. Wir haben vor der Lok auch einachsige Minenräumgeräte angebracht, die die Sprengung vorzeitig auslösen sollen. Sind durch Anschläge oder Luftangriffe Wasserstationen ausgefallen, so erhalten die Lokomotiven einen Zusatztender. Wenn die Verständigung zwischen den Zugfolgestellen unterbrochen ist, werden die Züge im Lotsenbetrieb weitergeführt. Bei Überfüllung der Knoten wird bereits auf Vorbahnhöfen umgespannt. Bei längeren Sperrungen werden die Lok abgespannt und anderweitig ausgenutzt. Um der Führung der Partisanen den Einblick in die Transportplanung möglichst zu erschweren, werden Betriebs- und Transportferngespräche auf das geringstmögliche Maß beschränkt und nichtabhorchbare Leitungen benützt. Die Decknamen für Fronturlauber-, Muni-, Betriebsstoff- und TruppenZüge werden periodisch gewechselt. Man verstärkt den Streckenschutz durch nächtlichen Einsatz von Marschbataillonen, die am Tage wieder weiterfahren.
Durch all diese Maßnahmen verhüten wir ungezählte Anschläge, lindern die Folgen der trotzdem nicht zu vermeidenden und erreichen ungeachtet der nach wir vor zahlreichen Streckensperrungen, daß Reserven und der wichtigste Nachschub ohne allzu schwerwiegende Verzögerungen dennoch zur Front kommen. Leider finden die Partisanen, die natürlich auch unter den einheimischen Hilfskräften des Fahr-, Bw-, Bau- und Werkstättenpersonals stecken, allen militärischen und bahnbetrieblichen Gegenmaßnahmen zum Trotze immer wieder neue Kniffe für die Minenlegung. Sie konstruieren Verzögerungszünder und Minen mit Entzündungsvorrichtungen verschiedenster Art, die zum Teil von ihnen selbst aus sicherem Versteck heraus erst abgezogen werden, wenn sich die Lok über ihnen befindet.“ Der Oberrat wischte sich den Schweiß von der Stirne; er hatte sich warm geredet. Vielleicht war er sich auch erst über seiner eigenen Schilderung so recht klar geworden, daß er trotz aller Kaltblütigkeit und Zähigkeit mit seinem ganzen Betrieb täglich auf des Messers Schneide tanzte. „Haben Sie denn bei diesem Durcheinander von Streckensperrungen, Umleitungen und tagelangen Aufenthalten überhaupt noch einen Überblick über die Züge?“ fragte Racke. „Glücklicherweise ja. Unsere Oberzugleitung hat nach ihren während des Einsatzes angesammelten umfangreichen Erfahrungen und dem alten Grundsatz: „Schwierigkeiten sind dazu da, daß sie überwunden werden“, einen bildlichen Überblick entwickelt und geschaffen, an dem zu jeder Zeit der jeweilige Stand der Nachschubzüge im ganzen Bezirk genau und einwandfrei zu erkennen ist. Dieser Überblick ist für die Betriebsführung wie auch für die militärische Führung und Planung von bedeutsamen Wert geworden. Gehn Sie mal zur Ozl 'rüber und überzeugen Sie sich selbst, dann wird Ihnen sofort vieles klarer und verständlicher sein.“ Das Stellwerk eines mittleren Bahnhofs zu leiten oder dem Bahnhof selbst vorzustehen, hätte sich Racke auch bei kritischer Selbstprüfung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ohne weiteres zugetraut, aber er hatte sich bisher nie darüber Gedanken gemacht, wie viel eigentlich bei der Reichsbahn im Verhältnis zum jeweiligen Dienstrang und zur Besoldungsstufe gekonnt und geleistet werden mußte! Das kam ihm zum ersten Mal zum
Bewußtsein, als er nun in dem einfach ausgestatteten Raum der Oberzugleitung Oberinspektor Petermann gegenüberstand. Schon rein äußerlich war dieser Kollege eine eindrucksvolle Erscheinung. Auf breiten Schultern, die der straffen Fülle des Körpers entsprachen, saß ein kraftvoller Kopf mit gutgeschnittenen, markanten Zügen. Sie trugen auf dem Untergrunde gesunden, lebens- und berufserfahrenen Verstandes und selbstsicherer Tatkraft das Gepräge geistiger Anspannung und wirkten infolgedessen etwas schärfer und besorgter, als der ruhig umgänglichen Natur dieses Mannes entsprechen mochte. Petermann, den man im Kameradenkreise auch den ,Duce der Ozl' nannte, stand nicht nur bis zu seinem höchsten Vorgesetzten und den weitverbreiteten zugleitenden Stellen im Bereich der Haupteisenbahndirektion Mitte im besten Ansehen, sondern war auch bei den militärischen Transportdienststellen bis zum General des Transportwesens bekannt. Rackes Blick fiel sofort auf jene Erfindung Petermanns, die große Tafel der ,bildlichen Zuglauf Überwachung'. Der Bezirk hatte eine Ausdehnung von rund 600 mal 600 Kilometern. Die Oberzugleitung - das „Auge und Ohr“ und die „Befehlsstelle“ des Betriebsleiters - hatte ihn in einen Süd-Ost-Bezirk und einen Nord-West-Bezirk unterteilt mit je drei Gruppenzugleitungen und Zugleitungen in den wichtigsten übrigen Knotenbahnhöfen. Der Arbeitsstab dieser größten Oberzugleitung der Reichsbahn bestand aus einem Leiter mit Vertreter, je drei Disponenten SüdOst- und Nord-West-Bezirk, vier Ozl-Lokdienstbeamten und drei Kräften für die ,Bildliche Zugüberwachung'. Trotz zeitweiser gestörter oder unterbrochener Fernsprechverbindungen war es dank der sorgfältigen Unterteilung und Gliederung gelungen, eine ersprießliche, wie ein Räderwerk ineinandergreifende Arbeit zu erzielen und den Lauf der Züge wirksam zu überwachen und zu steuern. Die vielen täglich auftretenden Anschläge mit ihren meist schweren Auswirkungen und die damit verbundenen, zum Teil längeren Streckenund Gleissperrungen, Abnahmebeschränkungen, sowie die nach der jeweiligen militärischen Lage zeitweise sehr zahlreich notwendig werdenden Zieländerungen in der Streckenführung erforderten häufige Umdisponierungen und Umleitungsmaßnahmen.
Racke erkannte, ohne daß der Oberinspektor viel zu erklären brauchte, beim genauen Studium der 2 auf 3 Meter großen Übersichtskarte an der Wand rasch, um welch einfache, in ihrer Wirkung aber glänzende Lösung des Problems es sich dabei handelte: Die 7 Transportstraßen des Bezirkes waren auf der Übersichtskarte durch verschiedenfarbige Schnüre dargestellt, die verschiedenen Zugarten durch verschiedenfarbige Fähnchen mit verschiedenfarbigen Aufstecknadeln entsprechend der vorgesehenen Streckenführung. Jeder Zug, der an den Grenzübergängen von den Nachbardirektionen oder Feldeisenbahnkommandos übernommen oder innerhalb des Bezirks gebildet wurde, erhielt sein Fähnchen, ausgenommen Planzüge, Reise- und Güterzüge, die listenmäßig überwacht wurden. So waren zum Beispiel die Fähnchen der PfeilTransporte braun, der Truppentransporte rot, der Munitionstransporte lila, der Betriebsstoffzüge orange, der Verpflegungszüge grün, der Ostdienstkohlenzüge blau, der Leerzüge weiß und sonstige Züge gelb. Für einen Teil der Züge waren die Fähnchen rechteckig, für die übrigen lanzenförmig. Sie wurden, soweit möglich, mit Fahrtnummern, Bewegung- oder Streckenführung, Kenn-Nummern oder Inhalt und Ziel beschriftet und bei Durchführung der Züge mit dem Tag, der Uhrzeit der Übernahme bzw. Abfahrt versehen. Die zur Durchführung befohlenen Züge wurden tageweise bei dem jeweiligen Übergang rechts und links der großen Übersichtskarte in den vorgesehenen Tageraum aufgesteckt. Von hier aus wanderten sie vom Zeitpunkt der Übernahme bis zur Übergabe oder Auflösung auf Grund der achtstündigen Meldungen der Zugleitungen auf den jeweiligen Streckenführungen oder Umleitungsstrecken durch den Bezirk. Abweichungen vom vorgesehenen Leitungsweg waren an der farbigen Nadel, die ja bei planmäßigem Lauf mit der Farbe der Streckenführung übereinstimmen mußte, sofort erkennbar. Dadurch ergab sich der Hinweis und die Möglichkeit, den betreffenden Zug oder die betreffenden Züge von einem geeigneten Unterwegsknotenbahnhof aus wieder auf den richtigen Leitweg zu bringen. An den jeweiligen Tagen am Grenzübergangsbahnhof nichtübernommenen Züge wurden in die Restspalte des Tages übernommen. Unterwegs abgestellte oder
zurückgestaute Züge erschienen in den Abstell- oder Rückstauspalten der jeweils zuständigen Zugleitung. So genügte trotz der durch Feindeinwirkung und Unfälle bedingten zeitlichen und streckenmäßigen Veränderungen der Zugläufe ein Blick auf die Überwachungstafel, um sofort zu sehen, ob, wo und wann ein Zug auf der Strecke zwischen zwei Lokwechselbahnhöfen zu suchen war, oder auf welchem Abstell-, Rückstau- oder Umspann-Bahnhof er sich befand. Hatte ein Zug sein Ziel erreicht oder den Bezirk verlassen, so wurde sein Fähnchen mit entsprechendem Ankunftseintrag versehen und, tageweise gesammelt, aufbewahrt. Daß Petermann wegen der unaufhörlichen Zerstückelung der Fahrstraßen durch die Banden trotz seiner berühmten Übersichtsstaffel mit dem Betriebsleiter zusammen das höchste Maß an Sorgen und Verantwortung zu tragen hatte, brauchte er Racke nicht im einzelnen auseinanderzusetzen. Der schrieb am Abend dieses Tages als Schluß seines Berichtes an das Reichsverkehrministerium: „Die technische Leistung und die menschliche Haltung der blauen Eisenbahner im Herrschaftsbereich der Partisanen des Ostens sind bewunderungswürdig.“
12. KAPITEL
Wie seltsam das Schicksal spielt! Was Günther Racke in der nächsten Phase der Kriegstragödie erleben sollte, war die Folge einer zufälligen Begegnung. In seinem Quartier stieß er am andern Morgen, es war der 5. August, auf dem Wege zum Waschraum höchst unsanft gegen einen Prellbock. Er entschuldigte sich. Der Prellbock, als Lokführer zu erkennen, lachte nur: „Hoffentlich haben Sie sich nichts gebrochen“ und setzte seinen Weg gemächlich fort. Racke blieb noch einen Augenblick stehen, bis seine erschütterten Körperzellen wieder ihr Gleichgewicht gefunden hatten. Aber den Prellbock sah er wieder, als er die Kantine betrat. Er saß in der Runde einiger ,schwarzer' Gesellen, drückte den links und den rechts neben ihm Sitzenden etwas zur Seite, stand auf und rief Racke zu: „Kommen Sie her, Inspektor! Hier ist noch Platz.“ Einen Meter achtzig groß stand er da und so stämmig, als könnte ihn nichts von der Stelle rücken. Man hätte sich ihn als Steuermann auf einem Schiff denken können. Auch aus der Unterhaltung mit ihm mochte man meinen, er wäre viel in der Welt herumgekommen. Auf jeden Fall mußte er sehr belesen sein: Seine Überzeugungen waren offenbar so stabil wie sein Knochenbau und seine Art, ihnen Ausdruck zu geben, mutete manchmal fast gewaltsam an. Zweifellos, das erkannte Racke im Laufe des Gesprächs untrüglich, zeichnete ihn unbeugsame Redlichkeit aus und der Mut, den Nacken steif zuhalten gegen jedermann. Er hieß Raschhof und war Westfale. Racke traute seinen Ohren nicht, als er hörte, daß dieser einfache Lokführer Betriebswerk-Vorsteher gewesen war. „Wo denn?“ fragte er ihn. „In Krolewschisna.“ „Wo ist denn das?“ „Etwa in der Mitte zwischen Molodetschno und Polozk. Am Rande der Sümpfe, in denen Napoleons Unglücksfluß, die Beresina, entspringt.“ „Und wie kamen Sie zu diesem Posten?“ Raschhof sah Racke aus leicht zugekniffenen Augen kurz aber scharf abschätzend an, dann erst antwortete er: „Es hatte einer
Dummheiten gemacht. Saufereien, Schießereien. In der Besoffenheit Ausfälligkeiten gegen Vorgesetzte von der Direktion. Diensteifer und Dienstleistung entsprachen dem chronischen Schnapskater im Schädel. Sie verstehen?“ „Hatte der Mann keinen Stellvertreter?“ „Sicher. Und der hatte auch den besten Willen, ließ sich aber mit hineinreißen.“ Racke verstand: Mancher scheute sich trotz eigener besserer Einsicht, ein Spielverderber zu sein. Er verstand auch das andere: Es verträgt nicht jeder das plötzliche Losgerissensein aus der gewohnten bürgerlichen Lebensordnung. Das rauhere, wildere Dasein bot viel mehr persönliche Freiheit und mancher, der daheim unbekannt und unbeachtet auf einem bescheidenen Fleckchen recht und schlecht seiner Pflicht genügte, verfiel hier, nicht zuletzt unter dem Schnapseinfluß, Starkmachertum und Herrentaumel. Abteilungspräsident Halden hatte den Lokführer Raschhof, der schon zuvor der wirklich leitende Kopf des Bw gewesen war, auf Anraten des Minsker Maschinenamtsvorstandes kurzerhand mit der Leitung selbst betraut und nur dem tatkräftigen, kameradschaftlichen Einsatz dieser drei Männer, des eigentlich Untergebenen und der hohen Vorgesetzten, hatten es die Gemaßregelten zu verdanken, daß sie nicht dem Kriegsgericht in die Hände gerieten, sondern mit einer blassen Lippe davonkamen. Racke und Raschhof frühstückten längst nicht mehr. Die Kantine hatte sich bis auf wenige Nachzügler geleert. Die zwei jedoch saßen noch immer und Racke hörte Raschhof zu, der mit jener Liebe, die an ihrem Werke hängt, und mit jener Genugtuung, die ihn mit Recht erfüllte, vom Ausbau des Betriebswerks Krolewschisna erzählte. Es war ein Schulbeispiel für hundert andere. In Racke lebten noch einmal die Zeiten des Einmarsches und Vormarsches der Deutschen Reichsbahn im Osten auf. Jene Zeiten, als es noch galt, fast ohne Hilfsmittel und ohne ausreichendes Material mit ungeahnten Schwierigkeiten fertig zu werden, ganz gleich wie. Als die 44 Mann, die von den Musteranlagen und dem Musterbetrieb der Heimat gekommen waren - jetzt waren es alles in allem fast 300 - am 26. August 41 aus dem Zuge stiegen, bekamen sie lange Gesichter. Das stattlichste am ganzen
Bahnhof war das noch recht gut erhaltene Empfangsgebäude gewesen, das Bw jedoch hatte lediglich aus einem Lokschuppen für zwei Lok ohne Schlepptender, einigen aufgebockten Waggons als Werkstatt, Magazin und Aufenthaltsraum bestanden. Ein Güterschuppen war im Bau begriffen. Das Stellwerk kam einem einfachen Weichenstellerposten gleich. Sie waren zunächst in der Schule einquartiert worden, denn noch machten die Feldeisenbahner Betrieb. Aber was hieß da „Quartier“? Keine Betten! Nicht einmal Decken, nicht einmal Stroh! Im übrigen hatten sie Zeit, sich entsprechend umzusehen und auf die Übernahme des Betriebes vorzubereiten. Im Güterschuppen lagerten große Mengen Zement und Rundeisen. In einem kleinen Sägewerk nahe hinter dem Güterschuppen war Bauholz aller Art gestapelt. Die Bevölkerung war bereits beim Beiseiteräumen gewesen, aber die Blauen hatten sich das unentbehrliche Baumaterial schleunigst für ihre Zwecke gesichert. Anfang September rückten die Feldeisenbahner weiter der Front nach. Die Blauen siedelten aus der Schule in das Gebäude des ehemaligen polnischen Betriebsamts über. Und nun ging der Jammer mit der russischen Schieferkohle los. Sie bildete eine geschlossene glasharte Schlackendecke. Die mußte immer wieder aufgerissen, auf einer kurzen Strecke ein halbes Dutzendmal ausgeschlackt werden. Man lud Holz auf die Tender und häufig mußte der Vorrat auf Unterwegsbahnhöfen oder auch auf freier Strecke, wo überall Holz in Menge gestapelt war, ergänzt werden, weil 40 Stunden Fahrzeit für 100 Kilometer keine Seltenheit waren. 60 Stunden durchschnittlich, aber auch bis zu 100 Stunden war das Lokpersonal unterwegs; es war gezwungen, auf dem Führerstand abwechselnd zu schlafen, so gut das gehen wollte. 11 Lokführer und Heizer standen nur zur Verfügung; man stellte polnisches Lokpersonal mit an. Rascher, als man es für möglich gehalten hatte, kam die Umspurung. Das Breitspurmaterial mußte frontwärts gefahren werden, denn von rückwärts her war schon Normalspur gelegt. Die Umspurkolonnen nagelten 10 Kilometer Schiene und mehr an einem einzigen Tage um. Die polnischen Hilfskräfte arbeiteten größtenteils willig mit, obgleich sie nur 10 Pfennig Stundenlohn hatten und viel hungern mußten, bis man endlich beim Verpflegungsamt durchgesetzt hatte, daß auch den einheimischen Eisenbahnern ein halbes Pfund Brot und ein
halbes Pfund Büchsenfleisch, etwas Machorka oder ein paar Zigaretten auf die Fahrt mitgegeben werden konnten. Der Winter kam und die Normalspurlok standen im Freien. Der Lokführer-Bw-Vorsteher aber hatte aus dem vorgefundenen Eisen vorsorglich auch Koksöfen herstellen lassen. Die wurden jetzt und weitere neu angefertigte dazu - bei allen Lok neben die Dampfzylinder und zwischen Lok und Tender gestellt, Tag und Nacht geheizt und im Bw Krolewschisna fiel den ganzen Winter über trotz seiner grausamen Kälte nicht eine einzige Lok wegen Frostschaden aus. Im Januar war die O.T. angerückt und hatte bei minus 20 und 30 Grad zunächst einmal einen Lokschuppen für vier Stände gebaut, sogar mit Entwässerungskanälen. Auch ein Auftaustand wurde geschaffen. Nun waren die eintreffenden vereisten Lokomotiven jeweils in kaum einer Stunde aufgetaut. In der inzwischen noch angebauten Werkstatt gingen die Reparaturen schnell vonstatten. Am meisten Sorge und Umstände bereiteten die 11 Pumpwerke des Bw-Bezirks, die in Betrieb gehalten werden mußten. Das eigene lag 7 Kilometer entfernt am Rande des Sumpfwaldes. Unablässig mußte durch Einheimische auf Schlitten Kohle dorthin gefahren werden. Die Hälfte der Kohlen verschwand unterwegs, außerdem brauchten die Schlitten infolge der Wegeschwierigkeiten ungewöhnlich lange und blieben immer häufiger ganz aus. Das Bw kaufte schließlich vom Kreislandwirt drei Pferde mit Schlitten. Mit der Kohlenversorgung des Pumpwerks klappte es nun besser, aber schon stand man einem neuen Übel gegenüber: Rohrbrüchen. Obgleich die Rohre eineinhalb Meter tief lagen, drang ihnen in diesem Winter die Kälte in den Leib. Man legte sie noch einen halben Meter tiefer. Bisher hatte man sich in allen Stücken selbst geholfen, inzwischen aber zog in der 18 Kilometer entfernten Kreisstadt Glebokie, die an der westwärts nach Pabrade-Wilna führenden Strecke lag, ein Gebietskommissar ein. Er schien seine Aufgabe darin zu erblicken, der Wehrmacht und der Eisenbahn Prügel zwischen die Beine zu werfen und das Leben noch schwerer zu machen, als es an sich schon war. Im Februar endlich kam mehr Lokpersonal. Es kamen Schlosser und Betriebsarbeiter. Endlich konnte man auch einmal in Urlaub fahren. Als man den ersten Winter einigermaßen überstanden hatte, begannen die Partisanen mit ihren Anschlägen. Sie sprengten
anfänglich mit Granaten, die sie sich ganz einfach in einem nahegelegenen Lager russischer Munition holten, bis diese nach dringenden Vorstellungen der Eisenbahner beim Ortskommandanten und nachdem schon viel Unheil angerichtet war, endlich abgefahren wurde. Ein neuer Wasserturm mit vier großen Kesseln, also einem Fassungsvermögen von 200 Kubik, wurde im Bw selbst gebaut, weil der alte wenig leistungsfähig war und am entgegengesetzten Ende des Bahnhofs in der Nähe der Bahnmeisterei stand. Man baute einen weiteren Lokschuppen für 9 Lokomotiven. Als Feuerschutz wurden Rohrleitungen mit je drei Hydranten zwischen die Gleise gelegt und zu gleicher Zeit ein Brunnen gebohrt, denn das Wasserwerk war dem Bedarf des groß gewordenen Betriebs nicht mehr gewachsen. Um Lokvorbereitung und -abrüstung zu erleichtern und zu beschleunigen, ließ man von der O.T. eine 50 Meter lange Ausschlackgrube anlegen. Zwei Wasserkräne und ein elektrischer Kohlenkran wurden aufgestellt. Somit brauchten die Lok zum Wasserfassen nicht mehr umzusetzen, was eine Stunde Zeitersparnis bedeutete, und Kohle mußte nicht mehr von Hand mit dem Galgen geladen werden, der nur zwei Zentner faßte und für den drei Mann Bedienung nötig waren. Der Bestand an Kohlen war auf 10 000 Tonnen angewachsen. Ein solches Lager mußte gegen Feuer gesichert werden. Durch zwei Meter breite Gassen wurden die einzelnen Kohlenberge voneinander getrennt. Drei Wohnbaracken und eine Küchenbaracke wurden gebaut, das Gebäude des einstigen polnischen, nachherigen russischen Betriebsamtes stand nun dem Personal des Bahnhofs allein zur Verfügung. Da aber die Bw-Belegschaft auf über 100 Mann deutsches Personal angewachsen war, konnte schon wieder nicht alles in die neuen Baracken gelegt, ein Teil mußte in nahen, leerstehenden Privathäusern untergebracht werden. Dank der freundschaftlich einsichtigen Haltung des Kreislandwirts, der seinen Sitz in Doczice hatte, konnte der erforderliche Kartoffelvorrat für den zweiten Winter eingekellert werden. Auch die einheimischen Bahnbediensteten erhielten so viel Kartoffeln, daß ihre Familien vor dem schlimmsten Hunger geschützt waren... Der unermüdliche Erzähler Raschhof freute sich des Interesses seines unermüdlichen Zuhörers. Erst im Frühjahr dieses Jahres
war Raschhof von einem Technischen Oberinspektor abgelöst und zu einem Lehrgang für Lokdienstleiter befohlen worden. Er fügte seiner Sachbeschreibung auch eine kleine, freundliche Beschreibung der wichtigsten und der originellsten Persönlichkeiten männlichen und weiblichen Geschlechts des Betriebswerkes und des Bahnhofs Krolewschisna hinzu. Die Kantine füllte sich wieder. Es war zu Rackes Überraschung Mittag geworden. Der Zug, den sich Racke am Vorabend zur Fahrt Richtung Orscha ausersehen hatte, war vor zwei Stunden abgegangen. Dafür waren zwei Jahre Arbeit und Leben der Eisenbahner in Krolewschisna an ihm vorübergezogen, so lebendig geschildert, daß er mit Bahnhof und Bw, mit manchem Beamten, Handwerker, Arbeiter, auch mit den deutschen und polnischen weiblichen Hilfskräften so vertraut war, als wäre er nicht der durch die riesigen Weiten des besetzten Rußland vagabundierende Reichsbahnreporter, sondern Bahnhofs- oder Bw-Vorsteher in diesem mehrfach abwechselnd polnisch-russisch gewesenen Städtchen. Durch seine Lage im weißruthenisch polnischen Sprachwinkel war es völkisch eigentlich auch beiden Staaten zuzuzählen. Auffallend war die außergewöhnlich große Zahl von Juden, die in dieser Gegend lebten. Von den 12 000 Einwohnern Glebokies waren 8000 Juden. Eine ganze Anzahl von ihnen arbeitete im Bw, war eine große Hilfe beim Umgang mit der Bevölkerung und wo es galt, den Deutschen für das private Leben diese oder jene Annehmlichkeit zuzuführen, von großem Nutzen. Die Haltung der deutschen Eisenbahner ihren jüdischen Hilfskräften gegenüber war freundlich. Raschhof und Racke aßen nun noch zusammen, dann schlenderten sie gemeinsam zum Empfangsgebäude, wo sich Racke nach dem nächsten Zug Richtung Orscha umsehen wollte. Er hatte gerade noch Zeit zum Einsteigen, stand schon auf dem Trittbrett, als beim Empfangsgebäude sein Name gerufen wurde. Der Aufsichtsbeamte, die Schaffner gaben den Ruf weiter. „Ja, was ist?“ rief Racke. „Telefon!“ wurde geantwortet. „Direktion!“ „Ich komme.“ Er stieg wieder ab. Die Pfeife des Aufsichtsbeamten trillerte, er hob den Befehlsstab. Der Zug fuhr ab. Racke sah einen Augenblick nachdenklich hinter ihm her. Zufall? Fügung?
Er ging zum Bahnhofsvorsteher hinein. Vom Hochhaus war angerufen worden: Ein ganzer Packen Post, der seit Wochen hinter ihm herfahre und ihn auch im Urlaub nicht mehr erreicht habe, sei soeben über die Generaldirektion wieder eingetroffen und unterwegs zum Bahnhof. Wenige Minuten später war sie da. Obenauf lag ein Brief von Liebedorn: „Ortsunterkunft, 1. Juli 1943... Du wirst lachen, ich bin, durch Vermittlung von Herrn Abteilungspräsident Halden wieder bei den Blauen gelandet. Sepp hat sich trotz seines zusammengeflickten Schädels wieder freiwillig zu den Blauen im Osten gemeldet. Die reizlose Dienstkost in der Heimat und auch sonst noch manches schmecke ihm nicht mehr. Sicher steht er eines Tages da. Besuche uns bald, ich habe lebensentscheidende Probleme dringendst mit Dir zu besprechen.“ „Ortsunterkunft! So ein Rindvieh!“ fuhr es Racke laut heraus. Wenn er nun nicht zufällig noch in Minsk wäre, würde es lange dauern, bis er endlich erfuhr, wie der Ort dieser Unterkunft hieß. Er telefonierte mit dem Vorzimmer des Personalchefs der Direktion und erhielt schon nach wenigen Minuten Bescheid. Er dachte, er höre nicht recht. „Wie bitte? Sagten Sie Krolewschisna? - Alle beide sind dort?“ Racke wäre sofort gefahren, aber die Strecke war an mehreren Stellen gesprengt. Er mußte bis zum Morgen warten. Es war ihm ganz recht; so fuhr er am Tag und konnte sich mit dem Schienenweg nach Krolewschisna vertraut machen. Im ersten Dämmerschein fuhr der Zug ab, wechselte in Molodeczno die Lok, fuhr gegen Mittag kurz hintereinander über einige unbedeutende Wasserläufe, die unter Überführungen oder in einfachen Durchlässen den Bahndamm kreuzten. „Beresina“, sagte der Zugführer. „Welcher von den Bächen?“ fragte Racke.
„Jeder“, antwortete der Graukopf.
Offenes Gelände wechselte mit Wald. Einige hundert Meter
linker Hand lag auf einer Bodenerhebung am Rande des Sumpfbusches ein Stützpunkt. Man sah den Wachturm über die Bäume ragen. Voraus tauchten Anhöhen mit Feldern und Wiesen auf. Auf der rechten Seite war die Landschaft flach und moorig, drei bis vier Kilometer entfernt unabsehbarer Wald.
Das Vorsignal zeigte Warnstellung, das Einfahrsignal stand auf Halt. Der Zug bremste und stand. Gleich über dem Heimatgleis drüben begann die Bw-Anlage, ganz nahe erhob sich das Quartiergebäude; vom Bahnhof würde es viermal so weit sein. Racke huckte seinen Rucksack, stieg aus und machte sich auf den Weg, querte gleich darauf das im flachen Bogen abbiegende Gleis nach Glebokie. Die Sonne brannte steil vom Himmel. Der Staub lag schuhtief. Kurz bevor er das Haus erreicht hatte, kam eine Eisenbahnerin aus der Türe. Sie sah wohlgemut aus und das Schifferl saß unternehmungslustig schief auf dem brünetten Haar. Freundlich neugierig musterte sie den fremden Inspektor mit den außergewöhnlichen Auszeichnungen. „Tag, Susi!“ lachte er ihr zu. Sie stutzte, blieb stehen, erwartete ihn. „Woher kennen Sie mich? Ich habe Sie doch noch nie gesehen!“ „Ich Sie auch nicht.“ „Dann sind Sie wohl Hellseher?“ „Erraten. Geben Sie mir Ihre Hand.“ Sie gab ihm die rechte. Er drückte sie freundschaftlich, dann sagte er: „Und jetzt die linke.“ Es war eine hübsche kleine Mädchenhand. Er betrachtete sie mit gespieltem forschendem Ernst. „Sie sind geboren“, sagte er feierlich und bohrte ihr einen beschwörenden Blick in die Augen. Sie erwiderte ihn ebenso beschwörend und sagte ebenso feierlich: „Stimmt.“ Er senkte das Auge wieder auf ihre Handfläche, sagte mit kurzen Zwischenpausen: „In Wien. - 21 Jahre alt. Dienstverpflichtet. - Sie haben einen Vater -“ „Stimmt“, lachte sie. „Unterbrechen Sie mich nicht“, tadelte er. „Einen Vater, der Rechtsanwalt ist.“ „Wer hat Ihnen denn das alles gesagt?“ fragte sie. Er überging die Frage mit einem Stirnrunzeln, fuhr fort: „Sie waren zuerst in Molodetschno.“ „Nein. Zuerst war ich in der Wiege.“ „Scherzen Sie nicht! Ihre Lebenslinie ist endlos. Sie werden hundert Jahre alt!“ „Um Gotteswillen!“
„Hundert Jahre reichen nicht einmal aus, wenn Sie auch nur ein Jahr mit jedem der Eisenbahner verheiratet sein wollen, die Sie nett finden.“ „Jetzt werden Sie frech!“ lachte sie, zog die Hand weg, rief „servus!“ und lief davon. Einen Augenblick sah er ihr nach. Sie hatte eine hübsche Figur und einen ungeziert lebhaften Gang. Er freute sich, daß ihm als erstes so ein nettes junges Weib über den Weg gelaufen war. Flüchtig ging ein leichter Schatten über seine Heiterkeit. Janka. Würde auch Sie ihm noch einmal über den Weg laufen? Wenn er nur wüßte, was damals mit ihr geschehen, was aus ihr geworden war? Er öffnete die Türe. Eine Katze miaute, strich ihm mit krummem Buckel an den Beinen herum. „Gut, daß du nicht schwarz bist“, sagte er laut. „Schwarze Katzen wandern in die Bratpfanne“, antwortete eine freundliche Stimme. Unter die offene Tür des ersten Raumes, neben der ein Schild „Hausverwalter“ hing, war ein Kollege getreten, eine Brille mit dicken Gläsern im schmalen Gesicht. „Tag, Pan Jupp“, begrüßte in Racke. „Wenn man Hunger hat, kann einem gewiß kein wichtigerer Mann in die Quere kommen als der, dem die Sorge für die Ernährung der Kollegen anvertraut ist“, und er grinste in das verblüffte Gesicht. Hinter der Schulter des Sekretärs Littken tauchte ein rundes, lebensfrohes Antlitz auf. „Da ist ja auch gleich der Zahlmeister!“ lachte Racke und streckte die Hand aus. „Was machen die Bestrahlungen der verstauchten Hüfte, Pan Eric? Lauern die Neidhammel immer noch vor dem Schlüsselloch?“ Der Kassier der Bahndienststelle Krolewschisna fragte schmunzelnd: „Sie sind wohl verkappter Geheimpolizist?“ Racke schüttelte lachend den Kopf, stellte sich vor, nannte ihnen seine Aufgabe und seine besondere Absicht diesmal: die beiden alten Kameraden zu überraschen. Die hätten heute einen freien Tag und seien nach Glebokie gefahren. Er treffe es im übrigen gut. Sie hätten am Abend eine Einladung ins Schloß. Die zwei kämen auch hin und er sei selbstverständlich mit eingeladen. Er müsse aber dafür sorgen, daß er hungrig sei wie ein Wolf, denn wenn er nicht stundenlang essen könne, werde man ihn für einen unhöflichen und
ungeselligen Menschen halten. Um 18 Uhr führen Sie mit dem LKW vom Bahnhof ab. Gerne käme er mit, stimmte Racke zu, er müsse aber trotzdem erst mal mittagessen. Das habe er am nächsten in der Bw-Kantine, beschied ihn Littken, wohnen könne er mit Schepperl und Liebedorn zusammen; die hätten drei Betten in der Bude. Die beiden Sekretäre verließen das Haus. Racke ließ sich vom Hausmeister, einem alten Ladeschaffner, den die Arbeit zu sehr geplagt hatte, den Schlüssel zur Kammer der Freunde geben, brachte seinen Rucksack hinauf und suchte dann, wie es sich gehörte, zuerst den Vorsteher des Betriebswerks auf. Der Nachfolger des Lokführers Raschhof, der Technische Reichsbahnoberinspektor Scharmuth, hieß ihn freundlich willkommen. „Wenn Sie große Ereignisse sammeln wollen“, meinte er, „werden Sie hier kaum auf Ihre Kosten kommen. Hier geht alles seinen geordneten Gang. Die Bevölkerung ist freundlich. Wir stehen auf bestem Fuß mit ihr. Wenn Sie nicht den Ehrgeiz haben, nachts an der Strecke draußen Banden aufzulauern, die es auf Anschläge abgesehen haben, und wenn Sie die Wälder meiden, wo die Partisanen Tafeln angebracht haben ,Partisanengebiet - Zutritt verboten', dann können Sie sich hier zur Ruhe setzen.“ Das Essen war einfach aber gut zubereitet und reichlich. Nicht nur die Portion, die Racke erhielt. Racke sah sich die Küche an, streifte durch die Lokschuppen und zwischen Kohlenbergen herum, sah nun alles mit eigenen Augen, was ihm Raschhof geschildert hatte. Zur Zeit zählte die Bw-Belegschaft 106 deutsche und 202 einheimische Eisenbahner und Arbeiter. In der Werkstatt wurde Racke von einem ungewöhnlichen Bild überrascht. Da waren Feldgraue, die gleichwohl anders aussahen, als deutsche Landser. Lag es am Schnitt der Gesichter? Vielleicht lag es am helleren Ton des Grau? Oder schien das nur heller zu sein, weil die Uniformen noch neu waren? Sie hatten außerdem einen schwarzen Ärmelstreifen. „Druschina“, erklärte Scharmuth. „Deutsch-russisch ukrainischer Sicherheitsverband. Von SS ausgebildet. Mit eigenen Offizieren und Unteroffizieren, denen aber SS-Offiziere und -Unteroffiziere beigegeben und übergeordnet sind. Sie sollen hauptsächlich zum Schutz der Bahnstrecken und zu
Kesseltreiben gegen Partisanen eingesetzt werden. So weit dies schon geschehen ist, sollen sie fürchterlich unter ihnen gewütet haben.“ Das sah man ihnen gar nicht an. Sie waren lebhafte und fröhliche Gesellen. Sie holten eines ihrer Geschütze ab, das einen Rohrkrepierer gehabt hatte. Das gerissene Rohrstück war in der Bw-Werkstätte abgesägt worden, wobei man in 18stündiger Arbeit 25 doppelte Sägeblätter verbraucht hatte. Um die Rohrmündung war ein Ring geschmiedet worden. Geschossen werden konnte wieder damit, aber die Geschoßbahn war natürlich eine ganz andere geworden. „Ein ganzes Regiment liegt in Doczice“, sagte Scharmuth. „6000 Mann. Zug- und gruppenweise sind sie dann und wann hier, um Waffen reparieren zu lassen, soweit das mit unseren Maschinen und Werkzeugen möglich ist. Ich sehe sie allerdings lieber gehen als kommen.“ „Warum? Trauen Sie ihnen nicht?“ Scharmuth zuckte die Achseln. „Wo sind denn Abraham Trucz und Isaac Weinen?“ fragte Racke. „Und die anderen Juden, die hier arbeiten?“ Scharmuth sah Racke abschätzend von der Seite an, dann antwortete er zurückhaltend: „Im Ghetto in Glebokie. Sie dürfen nicht mehr heraus. Jetzt leben noch dreieinhalbtausend dort. Sie sollen in den nächsten Tagen nach Lublin gebracht werden.“ „Warum?“ Scharmuth schien die Frage überhört zu haben. Racke streifte noch eine Weile allein im Bw herum, dann kam ihn die Lust an, den verschwitzten Körper auszulüften. Er spazierte über das Nordgleis des Gleisdreiecks und am Westrand der Ortschaft, von deren zweieinhalbtausend Einwohnern nicht viel zu sehen war, die Anhöhe hinauf, bis er eine Stelle fand, von der aus er, zwischen Sträuchern liegend, ganz Krolewschisna überblicken konnte. Während er die Wohltat des erfrischenden Windes auf der nackten Haut genoß, gingen seine Augen durchs Fernglas auf Entdeckungsreise. Zu seinen Füßen lag die Masse des Ortes, nach Westen begrenzt von der Anhöhe, auf der er weilte, nach Osten von den Bahnanlagen, nach Süden vom Bw, nach Norden von der Straße, die zwischen dem alten Wasserturm und der Bahnmeisterei, von Iwanowschisna kommend, schienengleich und beschrankt die
beiden Durchgangsgleise querte und als Landstraße nach Glebokie führte. Am Südende der Bahnhofsanlagen führte, ebenfalls schienengleich und beschrankt, von Osten her die Straße Doczice-Babicze auf die Unterkünfte des Bw zu, bog dann vor ihnen an der Bahn entlang in die Ortschaft und gabelte sich hinter dem Elektrizitätswerk in die zwei Hauptstraßen. Die eine führte hinter den Häusern, die zu beiden Seiten des Empfangsgebäudes lagen, leicht ansteigend in etwa nördlicher Richtung zur Landstraße nach Glebokie, die andere schräg ab in einem leichten Bogen über Nordwesten nach Westen am Fuße des Sonnenbadhügels Rackes vorbei und mündete ebenfalls in die Glebokier Landstraße. Jenseits derselben stand auf etwas ansteigendem Gelände zwischen den Einmündungen der beiden Ortsstraßen die Kirche vor dem Rande eines Wäldchens, in dem sich ein russisches Benzinlager mit Gleisanschluß befunden hatte. Der Güterbahnhof besaß etwa ein Dutzend Gleispaare. Nahe seinem südlichen und seinem nördlichen Ende war je ein kleines Stellwerk im Bau, in der Mitte zwischen ihnen an seinem Ostrand stand der große Güterschuppen. Unweit hinter ihm lag das Sägewerk, zwischen Güterbahnhof und Sägewerk im Norden und der Straße nach Doczice im Süden lagen die Häuser von Babicze verstreut, über der Straße drüben, in Höhe des Güterschuppens, das große Schulgebäude, das jetzt das stützpunktartig ausgebaute Quartier einer Landesschützenkompanie war. Günther sah wie ein kleiner Junge den Zügen zu, die aus beiden Richtungen kamen, verfolgte Lokwechsel und Wiederabfahrt. Ein Leerzug wurde auf das Verladegleis vor den Güterschuppen rangiert. Noch wurden alle Weichen von Hand gestellt. Er beobachtete den Fuhrverkehr von und zum Sägewerk. Vor der Schule trat die Kompanie an. Die Abteilung Druschina marschierte mit dem im Bw abgeholten Geschütz an ihr vorbei. Sie winkten sich gegenseitig fröhlich zu. Na, Schepperl und Liebedorn hatten es gut getroffen. Von der Front waren sie nun endgültig fern genug und der Partisanen wegen brauchte man in Krolewschisna wirklich keine Sorge zu haben. Hier gab es für die Eisenbahner und die Bahnanlagen militärischen Schutz genug. Zudem waren 20 Mann Bahnschutz da und die OT-Männer hatten auch Gewehre. Allerdings ist einer noch lange kein Soldat, weil er ein Gewehr hat. Die Eisenbahner
hatten außerdem einen Selbstschutz organisiert und schoben nachts vor ihren Quartieren und den Bw-, Bahnhofs- und Bahnmeistereigebäuden Wache. Nach dem Sonnenbad stampfte Günther auf einem Feldweg in das Städtchen hinunter. Die Badeanstalt neben dem Elektrizitätswerk lockte ihn, er erfrischte sich mit einem Brausebad, bummelte dann zur Bahnmeisterei hinaus und zum Empfangsgebäude zurück. Bahnhof, Bahnmeisterei und Betriebswerk zusammen zählten rund 300 Köpfe deutsches Personal und 3000 einheimische Hilfskräfte. „Pan Eric“, der die Bahnhofskasse verwaltete, hatte oft eine Viertelmillion zu betreuen. Er war tage- und nächtelang unterwegs, um auch an den vielen Außenarbeitsstellen des großen Bezirks den Lohn auszuzahlen. Oft geschah es mitten in der Nacht. Was dieser Mann in seiner heiteren Ruhe an organisatorischer Leistung vollbracht hatte, war erstaunlich. Aus dem Nichts hatte er eine Kassenverwaltung aufbauen, auf einer großen Zahl gefährlicher Erkundungsfahrten über Hunderte von Kilometern der weitverzweigten Strecken, wo von deutschen Soldaten überhaupt nichts zu sehen war, erst einmal einen Überblick über seinen gewaltigen Kassenbezirk gewinnen müssen. 280 Kilometer davon waren, bar jedes deutschen Eisenbahners, nur von einheimischem Personal besetzt. Der Aufbau eines geordneten Bahnhofsbetriebs war überhaupt ganz allgemein mit geradezu grotesken Schwierigkeiten verbunden gewesen. Wieviel persönlicher Wagemut, wie viele persönliche Opfer waren von der Bahnhofsleitung gefordert worden. Aber die gemeinsame Not hatte die Kameradschaft geboren, schweißte sie alle wie Pech und Schwefel zusammen. Insbesondere Sekretär Littken, der ,Verpflegungsminister', ,Pan Jupp' im Munde der Einheimischen, hatte eine anfänglich unlösbar scheinende Aufgabe. Es gab in Krolew keine Verpflegungsstelle. Er mußte die Ernährung der Eisenbahner gewissermaßen aus dem Ärmel schütteln. Wie er das zuwege gebracht hatte, wie sie es geschafft hatten, eine Küche einzurichten, war ihm später selbst als ein Rätsel erschienen. Die Hauptgrundlagen waren der zum ehemaligen polnischen Betriebsamtsgebäude gehörende 2 Morgen große Gemüsegarten gewesen, der sogar ein Treibhaus hatte, und die Möglichkeit, gelegentlich gegen Bezahlung ein Stück Vieh zu bekommen.
Aber seine Sorge um die Ernährung seiner Kollegen, all seine leidenschaftliche Hingabe an seine Aufgabe hätten ohne die verständnisvolle und geschickte finanztechnische Mitwirkung Pan Erics scheitern müssen. Genau genommen wurde, wie Racke jetzt feststellte, der polnische Ortsname Krolewszczyzna geschrieben, aber Eisenbahner und Landser schrieben ihn einfach, wie auch die meisten anderen Namen, wie sie ihn aussprachen. Der Bequemlichkeit halber verschluckten sie dabei das tsch nach dem sch, befleißigten sich dagegen, das s nicht scharf, sondern nach einem etwas gedehnten i so weich wie möglich zu sprechen, also schi-sna und nicht schiss-na! Es war überhaupt eine lebendige und fröhliche Schar, die da auf dem Bahnhof Krolew - die Endung wurde der Kürze halber auch meist weggelassen - zusammengewürfelt war. Viele stammten aus dem Wuppertal und dem übrigen Bergischen Land, waren umgänglicher Art und nicht zimperlich gegenüber den Gelegenheitsgenüssen, die ihnen das Kriegsdasein zu bieten hatte. Tierischer Ernst gegenüber den reizvollen Unstimmigkeiten zwischen den Geboten genormten bürgerlichen Daseins nebst der Strenge dienstlicher Obliegenheiten einerseits und andererseits den Verlockungen und Gegebenheiten, sich das Leben in und außer Dienst möglichst leicht und freudenreich zu machen, lag ihnen nicht. Auf den mit Längsbänken möblierten LKW, der pünktlich um 18 Uhr vor dem Empfangsgebäude vorfuhr, stieg nur ein knappes Dutzend, offenbar der größte Teil der Prominenz, unter ihr Susi. Racke fühlte sich wohl in diesem Kreise; es war, als hätte er schon immer zu ihnen gehört und so wurde er auch von den Gastgebern im Schloß, dem Gutsverwalter und dem Landwirtschaftlichen Sonderführer, der als ,Stützpunktleiter' mutterseelenallein unter Polen und Russen auf der Klitsche saß, willkommen geheißen. Eben, als man sich zu Tische setzen wollte, kamen Schepperl und Liebedorn noch an. Es gab eine stilgemäß geräuschvolle Begrüßung. Plötzlich brach sie ab; es wurde mäuschenstill. Sie hatten Racke entdeckt. Schepperl schob den Kopf vor, als müßte er umgehend eine Mauer mit ihm einrennen. Er hatte eine schwarze Mütze auf, wie sie in der guten alten Zeit der Mensuren Studenten über den Verband des verhauenen Schädels trugen.
Liebedorn sah über diesen Kopf weg. Sein Adamsapfel ging auf und nieder, seine Nasenspitze zuckte schnuppernd, als müßte er sich mit seinem Riechschnabel erst von der Richtigkeit der Wahrnehmung seiner erstarrten Augäpfel überzeugen. Freude schoß in seine Züge, Schepperl dagegen sah so böse auf Racke, als wollte er ihn im nächsten Augenblick auf seine unsichtbaren Stierhörner nehmen, dabei hauchte er ganz sanft: „Ja, mi leckst“, ging langsam auf ihn zu mit dem ihm eigentümlichen Matrosengang, stieß beide Arme vor und packte mit seinen Arbeiterpratzen Rackes ausgestreckte Hand. Er schnaufte dabei eine ganze Weile stumm wie ein Asthmatiker, bis er endlich noch ein paar halblaute Wörtchen herausbrachte. „Ja, da schau her!“ Dann aber war es so weit. Er hatte die Heftigkeit seiner Wiedersehensfreude überwunden und trumpfte nun mit seiner natürlichen Brustkorblautstärke auf. „Ja, was waar'n iatz dees! Na Schihssna kemma und koa Schnauferl net toa! So a Trohpf, so a durchtriab'na, hintafohziga. Racke, oide Hütt'n loss di griass'n!“ Liebedorn, der bisher bescheiden hinter Schepperls Rücken gewartet hatte, drängte sich jetzt an seiner Seite vor, um Racke endlich auch die Hand zu drücken, und ließ einen begeisterten Begrüßungsschwall vom Stapel, Schepperl jedoch schob ihn mit einem entrüsteten Rumpfdrehen weg: „Wos magst nachher du mit dein hoibat'n Ohrwaschl? Da schaug' her!“ Er zog die schwarze Kappe ab und zeigte die gewaltige Narbe. „Wenn da Racke net waar', waar' i hi.“ Racke kam Sigi zu Hilfe. „Sei nicht ungerecht, Sepp. Allein hätte ich dich nicht nach Nowa Bavarija gebracht. Und sein halbes Ohr hat er deinetwegen verloren.“ „Geh weita, a hoibats! Bei deene Schlappohr'n!“ Liebedorn und Racke grinsten. Sie wußten genau, wie's dem Dickschädel ums Herz war. Er war nicht allein darum wiedergekommen, weil er den Rußlanddrall hatte. Das Essen begann. Die drei Freunde saßen zusammen. Zum Reden kamen sie nicht mehr viel, nicht einmal Liebedorn. Die Bewältigung der Speisenfolge verlangte den vollen Einsatz selbst seines Mundwerks. Sie begann mit einer halben Gans pro Kopf. Dann kam am Rost gebratenes Ochsenfleisch. Dann Eierkuchen. Dann Brot mit fingerdickem Schinken, zum Schluß ein ganzes gebratenes Huhn für jeden. Dazu nahm man nach Belieben Kapusta, mit Sahne getränktes, mit der roten Tscharniza-Beere
und einer besonderen Blätterart eigenartig wohlschmeckend eingemachtes Sauerkraut. Sie aßen, daß sie die oberen Hosenknöpfe öffnen mußten; sie taten es heimlich, obgleich russische und polnische Frauen an solch natürlichen Erleichterungen keinen Anstoß zu nehmen pflegen. Und sie tranken. Samajunka. Dieser Schnaps schmeckte gut. Er wurde aus einem Gemisch von Kartoffeln und Roggen hergestellt unter Zusatz von Hühnerdreck zur Gärung. Man trank aus kleinen Wassergläsern. Ohne die dauernde Schnapszufuhr wäre es unmöglich gewesen, so zu fressen. Hätte man aber nicht so gefressen, würde man die Gastgeber gekränkt haben. Das Trio Racke lernte, daß man das Glas so voll schenken mußte, daß es überlief, weil man sonst als ungastlicher, knickeriger und ungebildeter Mensch angesehen wurde. Man durfte den Teller nicht leer essen, man mußte etwas liegen lassen, weil man sonst den Eindruck erweckte, es habe einem nicht geschmeckt oder man habe nicht gewagt, sich satt zu essen, weil nicht genug aufgetragen wurde. Pan Jupp und Pan Eric schienen den vielen „na strowie!“ - auf deine Gesundheit! - und „stola stolat!“ - hundert Jahre! - gemäß bei den Einheimischen besonders bekannt und beliebt zu sein. Aber auch alle anderen konnten sich nicht darüber beklagen, daß ihnen zu wenig zugetrunken worden wäre. Etwa dreißig Personen umfaßte die Tafelrunde, zur einen Hälfte Deutsche, zur anderen Polen und Russen in bunter Reihe, wie es diesem stets schon polnisch-russisch gemischten Bevölkerungswinkel entsprach. Sie erschienen wie eine einzige fröhliche Familie. Man hätte glauben mögen, es wäre längst Friede und Versöhnung unter den drei Nationen. Die Nacht war viel zu kurz für den unerschöpflichen Stoff an Unterhaltung und sie verlief so ruhig und ungestört wie eine Nacht in einem Schloß in irgendeinem Walde in irgendeinem Lande ohne Krieg. 28 Liter Samajunka waren getrunken worden, dennoch stiegen die Eisenbahner nach zahllosen Abschiedsumarmungen und Wangenküssen um 3 Uhr in der Frühe auf ihren LKW, ohne mehr als vortrefflich gelaunt zu sein. Nur Susi konnte ihren netten Schwips nicht verbergen. Eigentlich hätte es schon tagen müssen, doch hatte sich der Himmel stark bewölkt. Der Weg war schlecht zu sehen. Sie mußten mit Licht fahren, wenn sie überhaupt fahren wollten.
Racke, der ehemalige Frontsoldat spitzte die Ohren: Das war gefährlich. Nach einiger Zeit hörte er ein Flugzeug brummen. Es flog ziemlich tief, zweifellos unter den Wolken. Die anderen mußten es auch hören, aber es schien niemand zu kümmern. Dem Geräusch nach war es eine mehrmotorige schwere Maschine. „Ich würde doch das Licht löschen und stoppen“, sagte Racke. „Keine Bange!“ rief der Fahrer. „Die wirft keine Bomben und schießt auch nicht. Entweder ist's eine eigene oder eine Transportmaschine für die Partisanen, die einen ihrer Lande- oder Abwurfplätze in den Wäldern sucht.“ Daß der Mann recht hatte, wurde gleich darauf deutlich: Hinter ihnen schoß ein Lichtstrahl aus der Nacht. Dreimal kurz hintereinander zuckte er von irgend einem erhöhten Platz aus ziemlich flach ostwärts. Das Flugzeug kurvte, wie deutlich zu hören war, und das Motorengeräusch verklang in der Richtung, die der Lichtpfeil gewiesen hatte. „Sehen Sie, was habe ich gesagt?“ lachte der Fahrer. „Ja wird denn von unserer Luftwaffe nichts dagegen unternommen?“ fragte Racke. „Da müßten dauernd Polizeiflugzeuge über den Wäldern patrouillieren. Woher sollte man sie nehmen? Und wenn man sie hätte, würde der Sprit fehlen.“ „Aber das Zeichengeben könnte doch unterbunden werden!“ „Das ist immer mal versucht worden, aber nie gelungen. Kostet nur unnütz Menschenleben.“ „Ist denn da hinten ein Hügel oder Turm?“ „Nein. Warum?“ „Weil doch der Lichtstrahl von einer erhöhten Stelle ausging.“ Man stellte ziemlich gleichmütig fest, daß das Zeichen vom Schloß aus gegeben worden sein mußte. Racke wäre am liebsten umgekehrt, gab ihnen aber recht: er würde nichts mehr entdecken können. „Man muß sich auf die Lauer legen“, sagte er. „Oder die Polizei müßte in der Nacht unvermutet vom Keller bis zum Dachboden das ganze Schloß durchsuchen.“ Da sie keine Tarnkappe habe, würde bei ihrer Ankunft auch nichts mehr zu finden sein, wurde ihm sachkundig ruhig bedeutet.
Racke dachte: da tafelt man vergnügt und friedlich im Schloß, und dabei ist's ein Banditennest! Vielleicht waren die Partisanen sogar mit am Tisch gesessen! Na strowie! Stola, stolat! Wahrscheinlich hatten gerade sie die Gäste am herzlichsten auf die Backen geküßt! Er versank in Überlegungen. Susi scherzte mit deutlicher Betonung, warum er sich um ,so fern' liegende Dinge kümmere? Er brauche ja nur in Krolew zu bleiben, dann höre und sehe er von all dem überhaupt nichts. Sie kamen nach Krolew. Sie sahen schon von weitem in Richtung Front ungewöhnlich viele Züge stehen. Und sie hörten, ungeduldig erwartet, allerhand. Auf der eingleisigen Strecke, die bei Woropajewo von der Glebokier Bahnlinie nach Druja abzweigte, waren in der Nacht 11 Brücken zerstört, auf 14 Kilometer Länge sämtliche Schienenstöße gesprengt und 267 Telefonmasten abgesägt worden. Das wäre noch angegangen, denn diese Nebenstrecke besaß für die Front keine besondere Bedeutung. Aber in der Nähe von Polozk war auf einem kleinen Bahnhof ein furchtbares Unglück geschehen. Am späten Abend war dort ein Bewegungszug mit schweren Panzern, Werfern und Infanteriegeschützen eingetroffen. Sie sollten im Rahmen einer neuen Großrazzia gegen eine mit schweren Waffen ausgerüstete vieltausendköpfige Bande eingesetzt werden, die sich in verlassenen und vergessenen Bunkern der einstigen Stalinlinie eingenistet hatte. Während die Truppe an der Rampe des Abstellgleises noch beim Ausladen war, fuhr auf dem Frontgleis ein Munizug ein. Er hielt, weil die Lok einen kleinen Schaden hatte, und da der Lokführer versicherte, er werde ihn in zehn Minuten behoben haben, wenn ihm das Bahnhofspersonal mit zur Hand gehe, bestand der Vorsteher nicht darauf, daß der Zug solange außerhalb der Station abgestellt wurde, zudem ausnahmsweise kein Fliegerwetter war. Er gab gleich darauf einem Kohlenleerzug auf dem Heimatgleis die Durchfahrt frei. Die wenigen Überlebenden, die weit genug entfernt gewesen waren und sofort Deckung gegen den Explosionssturm gefunden hatten, sagten später aus, daß einer der Leerwagen plötzlich krachend Feuer gespien und mit seinen Holz- und Eisenteilen um sich geworfen habe. In der nächsten Sekunde sei auch schon der am nächsten befindliche
Wagen des Munizuges wie ein riesiger Feuerhügel geborsten und dann habe sich der ganze Bahnhof mit ohrenbetäubendem Getöse in einen ausbrechenden Vulkan verwandelt. Als man wieder etwas sehen konnte, gab es keinen Munizug, keinen Bewegungszug und keinen Kohlenleerzug mehr, auch keinen Bahnhof und in weitem Umkreis weder Haus noch Baum, gab es überhaupt nichts Zerstörbares mehr. Wo die Bahnanlagen gewesen waren, dehnte sich nun ein langgestreckter, tiefer, wildzerrissener Krater. Außerdem war die halbe Ortschaft zerstört. Über 500 Meter weit mußte die Bahn neu gebaut und um den Platz der Katastrophe herumgeführt werden. Die Explosion der Lore des Kohlenleerzuges war zweifellos auf eine in Polozk angebrachte Magnetmine zurückzuführen. Der Sonderzug der Direktion sei mit den Abteilungsleitern bereits unterwegs, der Präsident fliege im Fieseler Storch nach. Die Bahnmeisterei Krolew hatte den Auftrag, alles verfügbare Material und alle entbehrlichen Arbeitskräfte an die Baustelle zu bringen. Der Hilfszug war schon abgefahren. Racke fuhr mit der Kastendraisine der Bahnmeisterei. Die Unglücksstätte bot einen schauerlichen Anblick. Tote fand man nur in einiger Entfernung, hauptsächlich Zivilisten, von der Bahnhofsbesatzung und den Zugpersonalen nicht einen. Auch von den Landsern, die beim Ausladen der Kampfwagen, Werfer und Geschütze gewesen waren, wurden die meisten vermißt. Die Zahl der Opfer stand noch nicht fest; man schätzte über hundert Landser allein. Racke kehrte am Abend im Direktionszug zurück. Es war im Gegensatz zur Tafelrunde in der vergangenen Nacht keine besonders fröhliche Gesellschaft. Seit der letzten großen Säuberung war kaum eine Woche vergangen. Sogar der Heeresbericht hatte ihren Erfolg bekannt gegeben: zahlreiche Banden seien aufgerieben, 4200 Banditen getötet, 6000 gefangen genommen, 154 Lager und 151 Bunker zerstört, 60 Geschütze, große Mengen von Handwaffen, Munition, Sprengstoff, Fahrzeugen und Ausrüstung aller Art erbeutet worden. Aber was halfen diese auf einige hundert und wenn schon einige tausend Quadratkilometer beschränkten Schläge! Der Direktionsbezirk umfaßte ein Gebiet doppelt so groß wie Bayern, Württemberg, Sachsen, Thüringen und Baden zusammen.
Der Partisanen konnte man nicht mehr Herr werden. Das war die betrübliche Erkenntnis. Dazu kamen wieder Rückschläge an der Front. Orel war verloren gegangen. Bei Belgorod und Wjasma drückten die Russen die deutschen Linien weiter und weiter zurück. Im Donezbecken und am Kuban drohten sie zu zerbrechen. Aus Charkow, Ljubotin, Merefa fuhren bereits wieder die Räumungszüge. Der Kampf in Afrika war zu Ende. Verloren. Die Reste des berühmten Korps Rommels, die sich aus dem Räume von Tunis nach Sizilien abgesetzt hatten, mußten auch dort bereits wieder weichen. Racke war müde. Er hatte eine Nacht ohne Schlaf und wieder einen langen Tag hinter sich. Er sah in die Waldlandschaft hinaus. Überall waren Holzfällerkolonnen an der Arbeit, teilweise mit Motorsägen. Für den Bereich der Heeresgruppe Mitte war befohlen worden, daß die Sperrzone beiderseits der Strecken, das Niemandsland, ohne Rücksicht auf die Bodenbedeckung auf 300 Meter Breite zu erweitern sei. Aller Wald- und Buschbestand, auch alle Häuser mußten beseitigt werden, sofern es sich nicht um bahneigene oder von deutschen Truppen oder Dienststellen belegte Gebäude handelte. Dadurch gewannen auch die Bewachungsstützpunkte, die kleinen Bahnhöfe und einsamen Blockstellen größere Sicherheit und Feuerwirkung. Landwirtschaftlich genutzte Flächen mußten, vom Bahnkörper gemessen, 100 Meter breit sofort abgeerntet werden. Nach Einbringung der Gesamternte hatten die Felder auf 300 Meter Tiefe brach liegen zu bleiben. Es wurde dunkel. Fern über dem Schwarz der Wälder stand plötzlich ein greller Stern. Er verschwand für Sekunden, blitzte wieder auf, verlosch wieder. Racke wurde stutzig. Das war kein Stern, das war ein Licht, mit dem Zeichen gegeben wurden. Ein Wegweiser. Seine Vermutung wurde bestätigt. „Blinkzeichen der Partisanen für ihre Flugzeuge“, sagte sein Gegenüber, ein Betriebskontrolleur, so seelenruhig, als wäre das selbstverständlich und hätte nichts weiter auf sich. Der Lichtpfeil vom Schloß war also keine Sensation. Racke war empört. „Man merkt, daß Sie in unserer Gegend neu sind, weil Sie sich darüber aufregen“, sagte der Kollege. „Hier handelt es sich wahrscheinlich nur um eine Abwurfstelle. Aber in den Wäldern bei
Lepel haben die Partisanen einen regelrechten Flugplatz. Dort landen und starten Transportmaschinen, meist erbeutete Ju, mit allem, was die Banden zu ihrer Versorgung benötigen. Rackes Empörung wuchs. „Ja, warum wird denn das nicht unterbunden?“ „Der Flugplatz liegt so versteckt mitten in einem Sumpfgebiet, daß er bisher nicht gefunden wurde. Man mochte Spähtrupps schicken, so viel man wollte, es ist nie auch nur ein Mann von ihnen zurückgekehrt.“ „Aber aus der Luft muß man ihn doch entdecken können!“ „Nein, das ist auch nicht gelungen. Die Tarnung scheint schlechterdings vollkommen zu sein.“ „Warum schließt man denn nicht einfach auch dort das ganze Gebiet ein und rückt dann nach dem Mittelpunkt vor. Da muß man doch schließlich hinkommen!“ „Durch jene Sumpfwälder kommt man nicht mit schweren Waffen und von einem konzentrischen Eindringen kann keine Rede sein. Die Partisanen aber haben Flak und Werfer in Hülle und Fülle aus der Luft. Ihre Stützpunkte, die den Flugplatz abschirmen, sind Todesfallen für jede deutsche Abteilung, ganz gleich wie schwach oder wie stark sie ist. Und dränge man doch einmal bis zum Flugplatz selbst vor, dann fände man bestimmt weiter nichts mehr, als eben einen ebenen Platz, groß und fest genug für Landung und Start schwerer Maschinen.“ „Man könnte aber das Gebiet mit Flak, Scheinwerfern und Horchgeräten umstellen und so dem nächtlichen Flugbetrieb ein Ende machen.“ „Von diesen Abwehrmitteln hat man nicht einmal mehr genug für die Front und zum Schutz der großen Versorgungszentren und Nachschubbasen gegen Luftangriffe. Und wenn man hätte, käme man nicht nahe genug hin. Außerdem würden sofort tausendköpfige Banden über den Sperrgürtel herfallen. Woher sollte man all die Bataillone nehmen, die notwendig wären, um ihn zu verteidigen?“ Immer wieder tauchte der Signalstern auf. Die Zeichenfolge war stets dieselbe: Kurz-lang-kurz-kurz. Drei Sekunden Pause. Lang-kurz-kurz-lang. Fünf Sekunden Pause. Lang-lang-lang. Zwei Sekunden Pause. Kurz-kurz-kurz. Schluß.
Er notierte sich die Zeichen, obgleich er ihre Bedeutung nicht kannte und anzunehmen war, daß sie häufig gewechselt wurden. Wahrscheinlich handelte es sich einfach um eine Ortsangabe.
13. KAPITEL
Sie kamen gegen Mittag in vollem Kriegsschmuck von der Beresina zurück. Zwei hatten gebadet, der dritte geangelt und dabei die Augen offen gehalten. Der dritte war Schepperl. Trotz seines Widerspruchs nahm Racke den Weg über die dem Bw südlich vorgelagerte Anhöhe. Schepperl japste und brummte. Oben setzten sie sich in den Schatten einer Baumgruppe. Der Bahnhof lag wie ein Kinderspielzeug in der Ferne. Beim Güterschuppen sammelte sich Vieh. Es wurde einzeln und in kleinen Herden angetrieben, meist von Frauen und Kindern. Neben der Waage hatte sich mit Zahltisch und Stuhl die feldgraue Abnahmekommission aufgebaut. Aus Richtung Molodeczno dampfte ein Zug an, hielt. Das Einfahrsignal stand auf Halt. Er hatte Baumaschinen, Krane, Brückenbauteile, Oberbaustoffe, Schwellen, Schienen, Barackenholz geladen. Aus einem Bremserhäuschen nahe beim Zugschluß stieg ein Schaffner, schlenderte an den Wagen entlang, blieb stehen und sah sich so um, wie man sich umsieht, wenn man im Freien etwas zu tun sich anschickt, wobei man keine Zuschauer haben will. Daß er dann aber unter dem Wagen verschwand und, als er nach kurzem wieder zum Vorschein kam, sich genau wieder so sorgsam umsah, erweckte Rackes Mißtrauen. Er betrachtete den Mann durchs Glas. Sicher war's ein Pole, sonst jedoch war nichts besonderes an ihm. Auch an dem Wagen nicht, es war der siebte von hinten. Aber es ließ Racke keine Ruhe. Er überwand mit einem inneren Ruck das Beharrungsvermögen der durchschnittlichen menschlichen Trägheit, sprang auf, rief den andern zu: „Ich muß rasch mal telefonieren!“ und rannte los, in gerader Richtung durch Wiese und Feld zum Quartierbau hinab. Der Signalarm klappte hoch, die Lok pfiff, fuhr an. Atemlos stürzte Racke an den Apparat im Hausverwalterzimmer. Im Bahnhof war Susi an der Strippe. Sie begrüßte ihn mit einem Scherz.
„Bitte, geben Sie mir schnell die Bahnpolizei!“ sagte Racke hastig. „Nachher will ich mich gerne mit Ihnen unterhalten. Jetzt habe ich keine Zeit.“ „Sie haben nie Zeit“, antwortete sie halb lachend, halb schmollend und stellte die Verbindung her. Ein Bahnschutzmann meldete sich. „Ich kann Ihnen keine lange Erklärung geben!“ rief Racke ins Telefon. „Es fährt gerade ein Zug ein. Suchen Sie rasch das Fahrgestell des siebten Wagens von hinten ab! Verdacht Magnetmine. Täter der Schlußschaffner. Es ist möglich, daß gar nichts los ist, aber sicher ist sicher.“ Racke wurde auf dem Bahnhof mit Hallo begrüßt. BahnpolizeiZugführer Witzel, der die beiden in Krolew stationierten Gruppen führte, hatte tatsächlich eine Klebmine gefunden. Der polnische Schaffner hatte versucht zu entkommen und war erschossen worden. Er hatte, in die innere Manteltasche eingenäht, eine zweite Mine bei sich gehabt. Witzel nahm ein kurzes Protokoll über Rackes Wahrnehmung und telefonische Meldung auf. Er war gedienter Soldat, ein stattlicher und gediegener Mensch, der seine Aufgabe ernst nahm. Ein ganzes Buch voller Erlebnisse und guter und böser Erfahrungen mit Polen, Russen und - Deutschen hatte er hinter sich. Racke lernte nun auch die Bahnpolizei, mit der er bisher nur flüchtig in Berührung gekommen war, näher kennen. Die Abteilungen, die den Kompanien der Wehrmacht entsprachen und 140 bis 150 Mann stark waren, hatten drei Züge zu je vier Gruppen. Die Dienstgrade hießen Rottenführer, Gruppenführer, Unterzugführer, Zugführer, Oberzugführer, Abteilungsführer, Oberabteilungsführer, Abteilungshauptführer, Bezirksführer und Dezernent bei der Direktion. In der Heimat trug die Bahnpolizei blaue, im rückwärtigen Frontgebiet graugrüne Uniformen mit schwarzen, weiß paspelierten Spiegeln und Stoffachselklappen mit Abzeichen für die Unteroffiziersgrade wie beim Militär. Die Rangabzeichen der Offiziere entsprachen ebenfalls denen der Wehrmacht, silberne Schulterstücke, silberne Spiegel, weiß umrandet. Es wurde laufend Ersatz eingezogen und in München ein viertel Jahr lang infanteristisch ausgebildet. Bewaffnet war die Bahnpolizei mit Gewehren und Pistolen, auch Maschinenpistolen und LMG. Unter der Kokarde an der Schirmmütze befand sich ein
aus weißem Blech gestanztes Flügelrad, am Schifferl und an der Bergmütze ein gesticktes. Racke und Witzel verließen das Dienstzimmer miteinander, um zum Essen zu gehen und jetzt war mit einemmal ein Hund an Witzels Seite. „Na nu!“ rief Racke aus. „Sind Sie Zauberkünstler im Nebenberuf?“ „Nein, aber als Polizeihundeführer ausgebildet. Ola lag die ganze Zeit hinter Ihrem Stuhl. Ich habe ihr nämlich zu allem anderen Können und Gehorchen beigebracht, sich in Gegenwart von Fremden nicht sehen und nicht hören zu lassen, außer sie geht oder steht an meiner Seite.“ Ola war eine echte Wolfshündin. Racke hatte bisher nicht gewußt, daß sich ein Wolfshund von einem deutschen Schäferhund wesentlich unterscheidet. Witzel zog den Wolfshund vor, obgleich er in seinem schlichten Wolfsgrau und mit seiner kleineren Gestalt unansehnlicher war als der auf Schönheit hochgezüchtete, darum eben auch empfindlichere Schäferhund. Der echte Wolfshund sei wilder, furchtloser, ausdauernder und zuverlässiger. Polizeihundezuchtanstalten der Reichsbahn befanden sich in München-Freimann, Frankfurt a. M. und Berlin, nun auch in Warschau und Lublin. Ola war als Schutzhund und als Fährtenhund ausgebildet. „Da ist das Tier ja ein Juwel. Schade, daß ich mir's nicht ausborgen kann.“ Racke erzählte von den Lichtzeichen, die - seiner Meinung nach - vom Schloß aus für das Flugzeug gegeben worden waren. Eine gewöhnliche Taschenlampe war das nicht, mindestens eine große Stablampe mit außerordentlich starker Batterie. Die Geschichte lasse ihm keine Ruhe. Das sei eine ganz einfache Sache, sagte Witzel. Selbstverständlich müsse an den SD nach Glebokie eine Meldung gemacht werden. Der umstelle in der Nacht das Schloß und verhafte die ganze Gesellschaft, dann werde sich auch der Scheinwerfer finden. „Dieses Unglück für die Bewohner möchte ich gerade nicht heraufbeschwören“, erwiderte Racke. „Wahrscheinlich geht es meinen Kollegen auch so. Denn dann werden mit dem oder den Schuldigen auch Unbeteiligte aufgehängt, oder überhaupt nur Schuldlose.“
„Sie sind mitschuldig, weil sie den Partisanen nicht entgegentreten.“ „Das würde sie das Leben kosten.“ „Nicht unsere Sache.“ „Doch. Soweit wir verhüten können, daß Unschuldige leiden und sterben müssen, haben wir auch die menschliche Pflicht, es zu verhüten.“ „Und wie wollen Sie das machen?“ „Auf die Lauer legen und den Signalisten schnappen.“ „Wahrscheinlicher ist, daß Sie geschnappt würden.“ „Mit Ola nicht - wenn Sie mitkämen.“ „Ich bin den Einsatz meines Lebens und des Lebens meines Hundes dem Schutz der Bahn schuldig; ich habe nicht die Pflicht, ich habe nicht einmal das Recht, es einiger Polen und Russen wegen in Gefahr zu bringen.“ Nach dem Essen schlenderten sie draußen noch ein paar Minuten herum. Pan Jupp und Pan Eric kamen vom Güterschuppen her über die Gleise. Sie waren strahlender Laune. Der Stabsveterinär hatte ihnen zum Selbstkostenpreis drei Kühe für zusammen 85 Mark, einen 700 Kilo schweren Bullen für 35 Mark und vierzehn Schafe für 21 Mark abgelassen. Die Tiere hatten sich Verletzungen zugezogen, an denen sie wahrscheinlich schon auf dem Transport in die Feldschlächtereien verenden würden. Das traurige Gegenstück: Der frühere Bahnhofsvorsteher von Polozk war erschossen worden, weil er zum Zwecke der Verbesserung der mehr als dürftigen Verpflegung seines Personals aus einem Viehtransport ein einziges Stück ,organisiert' hatte. Racke verabschiedete sich. Dabei sagte er zu Witzel: „Es ist durchaus nicht sicher, daß die Lichtsignale vom Schloß aus gegeben wurden. Reden Sie noch mit den beiden Kollegen hier.“ Er ging ins Quartier, packte. Schepperl legte den Kopf schief und musterte ihn mit zugekniffenen Augen. Liebedorn protestierte entrüstet: „Du willst doch wohl nicht schon wieder abreisen, Mensch?“ „Natürlich will ich. Hier gibt's für mich nichts Neues mehr. Aber ich komme bald einmal wieder.“ Jetzt sagte auch Schepperl etwas: „Wo wuist nachher hi?“ „An die Betriebsspitzen Richtung Orel und Richtung Belgorod.“
„Di holt no amoi da Deifi“, knurrte Schepperl, ging hinaus und schlug die Türe zu. Liebedorn druckste an etwas herum, schließlich sagte er: „Ick wollte doch noch wat mit dir bereden.“ „Dazu hast du schon Zeit genug gehabt.“ „Weeste - unter vier Oochen.“ „Na, dann schieß los! Ich bin ja noch da.“ „Denkste ooch nich, dat ick -“ Er sprach nicht weiter. „Doch, das denke ich“, sagte Racke. „Weeßte, ick hab' doch vier Bräute.“ „Weiß ich.“ „Un nu is wat passiert.“ „Geht in Ordnung. Heirate sie.“ „Welche?“ fragte Liebedorn kleinlaut. Racke hörte auf mit Packen, sah ihn mit einem strafenden und einem lachenden Auge an: „Du wirst doch nicht gleich zweimal Vater werden!“ Liebedorn hauchte: „Drei Mal.“ Racke verschlug es die Sprache, dann pfiff er leise durch die Zähne und daraus wurde Sigis Lieblingsschlager: Was kann der Sigismund dafür... „Mensch, hör uff! Ick kann et nich mehr hören!“ bat Liebedorn mit Leidensstimme. Er stand mit hängendem Kopf. Er wagte gar nicht mehr aufzusehen. „Ick bin doch diesmal so lange in Berlin jewesen! Nu denkste doch, dat ick'n schlechta Mensch bin.“ „Nein, das bist du nicht, aber ein Kamel. Steh' nicht herum wie drei Tage Regenwetter! Hättst’ deinen Kopf vorher hängen lassen!“ Racke packte weiter, sagte nach einer Weile: „Da weiß ich dir nur einen Rat: Wandere aus in den Orient, nimm die drei mit und werde Türke. Die können auch tüchtige Eisenbahner brauchen.“ „Ick hab' ooch schon jedacht, det ick auswandere. Aber man alleene.“ „Du bist doch ein schlechter Mensch und kein Kamel!“, lachte Racke. „Laß dich nur in Berlin nicht mehr sehn!“ „Eben. Du hast doch janz oben ne jroße Numma. Leg mal n'jutes Wort for mir in, det se mir möchlichst weit wech versetzen.“ „Ich würde mir an deiner Stelle keine verfrühten Sorgen machen. Noch ist Krieg und was werden wird, weiß keiner.“
Sie mußten die Unterhaltung unterbrechen. Racke wurde ans Telefon gerufen. Witzel war am Apparat. „Haben Sie Lust zu einem Jagdausflug in die Schloßwälder?“ „Mensch“, stotterte Racke, „Sie sind ein Prachtkerl!“ „Ich erwarte Sie in einer Stunde am Bahnübergang Babitsche. Jagdgewehre bringe ich mit.“ „Ich werde dort sein.“ Racke sprang die Treppe hinauf, packte wieder aus. Auch Schepperl war zurückgekommen. „Was machst'n für'n Theater?“ brummte er. „Ich bleibe noch bis morgen“, erklärte Racke. „Der Bahnschutzführer hat mich zu einem Jagdausflug eingeladen.“ „So? Jagdausflug? Du, deen Jagdausflug kenn' ma scho. Mach', was d'mogst, aba dees sell sog i da: Wannst nimma kimmst, i kümma mi net um di. Net amoi zum Fensta schaug i außi, obst kimmst oda net. Na. I net. Dees merkstda.“ Racke lachte nur und stand zur vereinbarten Zeit am Bahnübergang. Vom Ort her rollte staubaufwirbelnd ein Pferdegespann, nebenher lief ein Hund. Der Hund war Ola. Es war eine altmodische zweisitzige Kutsche mit Verdeck, zwei kleine Braune davor, und Witzel kutschierte. Racke stieg zu, bestaunte die beiden Jagdgewehre. „Daß wir leidenschaftliche Jäger sind, hat sich bereits auf dem ganzen Bahnhof herumgesprochen. Es wird also weder im Schloß noch sonstwo Alarm geben. Mit den Lichtzeichen könnten wir Glück haben. Der Himmel bezieht sich. Wahrscheinlich werden wir naß werden.“ „Schadet nichts“, sagte Racke, „wenns endlich einmal regnet. Ist ja eine schweinemäßige Hitze in dieser Gegend. Außerdem hat die Kutsche ein Dach.“ „Aber wir werden sie im Waldhof einstellen.“ Der Waldhof lag mitten im Walde. Vom Wege zum Schloß gabelte zwei Fußstunden hinter den letzten Häusern von Babicze fast im rechten Winkel ein schnurgerader, unbefestigter, autobahnbreiter Waldweg ab. Nach einer halben Fußstunde lag der Hof in einer ausgedehnten Waldlichtung zwischen ein paar Äckern und Wiesen. Witzel kannte die Familie. Der Mann war Witwer. Ein Kerl wie eine Eiche. Er hatte fünf erwachsene Töchter. Junge Eichen. Er brauchte weder Knecht noch Magd. Der Hof stand bei der Bevölkerung in schlechtem Ruf.
Auch Racke dachte, das ist doch eine Räuberhöhle. Witzel sagte „I wo!“ und sah vergnügt aus. „Hier kann ich meinen Kopf beruhigt in jeden Schoß legen.“ Sie scherzten mit den Jungen Eichen' ein wenig hin und her, stellten Wagen und Pferde unter einen offenen Schuppen, hängten die Jagdflinten über die Schulter, schlugen den Weg nach Doczice ein, dem Schloß entgegengesetzt. Zum Schloß gab es keinen Weg. „Vielleicht bleiben wir über Nacht in Doczice“, hatte Witzel gesagt. Sie verschwanden nach einer Viertelstunde in einer urwaldhaften Dickung. „So“, sagte Witzel, „hier warten wir, bis es so dunkel ist, daß man nur noch auf wenige Schritte sehen kann.“ „Und von hier wollen Sie bei Nacht zum Schloß finden?“ „Ich kenne die Gegend von einem kleinen Partisanentreiben her. Ola auch.“ Der Himmel bedeckte sich immer mehr, es wurde rasch stockfinster. Sie brachen auf. Witzel ging nach dem Leuchtkompaß. Nach zwei Stunden sagte Racke: „Ich glaube, wir kommen ewig nicht hin.“ „Gleich sind wir da“, sagte Witzel. Der Wald öffnete sich. Sie gingen über Wiesen. Es wetterleuchtete. Nach einer Minute stolperte Racke beinahe in einen Wassergraben. Drüben war ein Zaun. Jenseits des Zaunes stand eine Wipfelkulisse. Der Park. Es begann zu regnen. Sie sahen ferne Blitze, hörten den Donner. „Rechts liegt eine Baumgruppe, unter der wir geschützt sind und von der man einen freien Durchblick auf die Rückseite des Schlosses hat“, flüsterte Witzel. Ola blieb stehen mit vorgestellten Lauschern. Witzel stockte sofort, hielt Racke wortlos am Ärmel zurück. Ola sträubte die Haare ohne einen Laut. Gleich darauf fuhr ihnen wütendes Gebell in die Knochen. Sie hörten den Hund kommen, es mußte ein großes Vieh sein. Ola rührte sich nicht. „Aus“, sagte Witzel leise. „Es hat keinen Zweck, Verstecken zu spielen. Der Hund ist nicht allein.“ Dann brüllte er befehlend in die Nacht hinein: „Rufen Sie den Hund zurück!“ Ein Blitz, der wie ein vielverzweigtes Geäder die Nacht von oben bis unten spaltete, gab zwei Sekunden lang hell. Sie sahen die Baumgruppe, auf halbem Wege den Hund, ein gelbbraunes, gedrungenes Tier. Sie hörten einen gellenden Pfiff, aber sie
sahen keinen Menschen. Dann war es wieder nacht. Der Pfiff wurde wiederholt, ein scharfer Ruf folgte. Von dem fremden Hund war nichts mehr zu hören. „Schade“, sagte Witzel. „Ola hätte ihn sicher gerne abgewürgt.“ „Den großen, schweren Burschen?“ fragte Racke ungläubig. „Das macht ihr nichts. Sie ist eine Wölfin. Sie hat ihn sofort an der Drossel.“ Und wieder rief er nach der Baumgruppe hin: „Sie mit dem Hund! Kommen Sie mal hierher!“ Niemand antwortete, niemand kam. Racke sagte: „Wenn der Berg nicht zum Mohammed kommt -“ „Ich werde mich hüten“, unterbrach ihn Witzel „den Banditen so billig vor die Gewehre zu laufen.“ „Wenn sie schießen wollten, hätten sie das doch schon tun können.“ „Wir sind noch zu weit weg. Die Blitze geben zu kurzes und unsicheres Licht. Sie schießen nur, wenn sie sicher sind, daß wir nichts mehr erzählen können.“ „Was dann?“ „Wir verkrümeln uns.“ Witzel wandte sich um und ging an dem Graben entlang. Racke folgte. „Und die Lichtzeichen?“ fragte er. „Sie sehen jetzt doch“, brummte Witzel, „daß man das ganze Schloß umstellen muß, wenn man etwas ausrichten will.“ „Aber wir könnten in der Nähe bleiben, um festzustellen, ob sie von hier aus oder vom Schloß selbst gegeben werden.“ „So lange wir in der Nähe sind, werden sie überhaupt nicht gegeben.“ „Sie wissen ja nicht, daß wir noch in der Nähe sind.“ „Das stellen sie mit ihrem Hund genau so leicht fest, wie ich von Ola weiß, daß man hinter uns herkommt. Und man wird nicht von unseren Fersen weichen, bevor es nicht Tag ist.“ „Warum haben sie dann Zeichen gegeben, als wir vorletzte Nacht mit dem Pkw kaum zwei oder drei Kilometer entfernt waren?“ „Vielleicht nahmen sie an, ihr wäret rascher gefahren und würdet den Scheinwerfer nicht mehr sehen. Oder sie schätzten die gute Laune und freundschaftliche Gutmütigkeit von ,gutt Kamrad Eisenbahn' eben richtig ein. Es bleibt uns doch nichts anderes übrig, als die Sache der Polizei in Glebokie zu überlassen.“
„Dann wären wir besser zu Hause geblieben.“ „Nein, Inspektor. Ich habe Ihnen den guten Willen gezeigt. Daß wir gleich bei der Ankunft ertappt werden würden, wußten wir ja nicht. Wir hätten auch mehr Glück haben können.“ Sie kehrten nicht durch den Wald zurück, sondern umgingen das Schloß, in dem sich nichts rührte, bis zur Straße nach Krolew. Blitz und Donner hatten aufgehört, es regnete nur noch. Sie waren naß, aber noch nicht durchnäßt und sie konnten sich nun am Straßenrand unter den Bäumen halten. Witzel marschierte mit langen Schritten. „So eine Eselei!“ brummte er einmal. „Singen darf man nicht, pfeifen darf man nicht, rauchen darf man nicht.“ Dann rauchten sie doch und nun war die Enttäuschung erträglicher. Auch der Regen hörte ganz auf; sie trockneten allmählich. Ola ging schon eine Weile ganz ruhig; verfolgt wurden sie also nicht mehr. Der Wald trat links der Straße etwas zurück, rechts hörte er ganz auf. Sie mochten noch eine halbe Stunde bis zur Weggabelung Waldhof haben, als Flugzeuggeräusch hörbar wurde. Eine Transportmaschine war es nicht. Außerdem konnte es auch eine deutsche sein. Dennoch ärgerte sich Racke, daß sie schon so weit vom Schloß weg waren. „Ich könnte mich ohrfeigen, daß wir nicht doch gewartet haben“, maulte er Witzel an. „Wenn es ein russisches Flugzeug ist, werden ihm die da hinten jetzt in aller Ruhe den Weg weisen.“ „Sie nehmen alles viel zu wichtig“, sagte Witzel. „Was glauben Sie, was in diesem Krieg schon alles schief gegangen ist und noch schief gehen wird? Bei uns hüben und bei denen drüben!“ Racke gab keine Antwort. Er setzte seinen Gedankengang fort: Und die Abwurfstellen oder Landeplätze in den Wäldern werden ihre Lichtmorsezeichen geben - Er griff in einer jähen Eingebung nach der Taschenlampe, hob sie nach oben und knipste: kurz-lang-kurz-kurz. Witzel fiel ihm in den Arm. „Sind Sie verrückt, was machen Sie denn?“ stieß er durch die Zähne, zwischen denen eine halbgerauchte Zigarette steckte, und hastig hinterher: „Ola, Fuß!“ Denn der Hund hatte im nächsten Augenblick Rackes Arm gepackt. „Lassen Sie doch los, Witzel! Ich will sehen, wie der Flieger reagiert.“
„Ich bin gar nicht neugierig“, knurrte Witzel. „Wenn wir Glück haben, landet er!“ „Und wenn wir Pech haben, wirft er uns eine Bombe auf die weiche Birne.“ „Wenn Sie Angst haben, laufen Sie weg!“ Rote Sterne, die schräg über ihnen aus dem Nachthimmel zuckten, machten der Auseinandersetzung ein Ende. Witzel ließ Rackes Arm los, starrte mit offenem Munde. Rackes Herz schlug einen Wirbel. Er stolperte ein Stück von der Straße ins offene Gelände und dann morste seine Stablampe von vorne. Er brauchte das Notizbuch gar nicht zu Hilfe zu nehmen. Die Reihenfolge der Zeichengruppe, die verschiedene Länge der Pausen hatten sich ihm so eingeprägt, wie wenn er sie eine Nacht lang im Schlafe auswendig gelernt hätte. Während der Zeichen war das Motorengeräusch rasch näher gekommen. Nun war es über ihnen. Zweifellos, das Flugzeug kreiste. Ein rotes Licht tauchte auf, kurz dreimal hintereinander. Racke morste noch einmal, aber irgend etwas stimmte wohl nicht, denn gleich darauf entfernte sich das Flugzeuggeräusch nach Norden, war nach einer halben Minute nicht mehr zu hören und kam auch nicht mehr zurück. „Das ist vorbeigelungen“, sagte Witzel, als Racke wieder bei ihm war. Racke gab keine Antwort. Er zündete sich eine Trostzigarette an und sie setzten ihren Weg fort. Zwanzig Schritte, dann blitzten zum zweiten Male rote Sterne aus dem Nachthimmel; sie waren viel größer, viel näher. Wie war denn das möglich? „Die Maschine hat den Motor abgestellt und ist im Gleitflug zurückgekommen“, sagte Racke, rannte wieder von der Straße fort und morste. „Sie wird sich das Genick brechen“, sagte Witzel, der diesmal mit ihm gelaufen war. „Soll sie ja.“ „Und wenn es eine deutsche ist?“ „Unsinn, die hat ja Funkverbindung mit den Flugplätzen.“ „Das Gerät kann versagen oder zerschossen sein.“ „Dann würde sie weiße Leuchtbomben werfen, um das Gelände auszuleuchten und nicht Sternchen schießen, die man kaum tausend Meter weit sieht. Meine Morserei würde ihr verdächtig sein und sie vertreiben statt anlocken.“
Sie starrten in das Dunkel über sich. Es war nichts zu sehen, nichts zu hören. Racke ließ den Lampenschein über das Gelände gleiten. Es schien in der Nähe nicht sehr uneben und, außer einem einzigen großen Baum nur wenig bewachsen zu sein. Wenn die Maschine Glück hatte, kam sie mit einer Bauchlandung davon. Jetzt spuckte sie wieder Sternchen aus. Sie konnte nicht mehr höher als fünfzig Meter sein oder weniger. Sie hörten den leichten Abschußknall der Leuchtpistole. Racke wunderte sich, daß der Pilot den Motor überhaupt nicht mehr anließ; er hatte doch damit zu rechnen, daß er noch einmal hochziehen mußte. Es wurde ihm nun auch etwas unheimlich. Er kreiste die Lampe über seinem Kopf und klemmte sie dann so in eine der Astgabeln eines mannshohen Bäumchens fest, daß sie ihren Schein über die Erde warf. Dann rannte er mit Witzel schleunigst zu dem großen Baum; man konnte nicht wissen, wo die Maschine aufprallte. Sie hatten ihn noch nicht einmal erreicht, da heulte Ola einmal kurz auf. Ein riesiger Schatten stürmte auf sie los, ein Windstoß fuhr sausend über sie hin. Sie wußten nicht, hatte er sie niedergeworfen oder der Schreck, oder der Instinkt. Racke sah einen ungeheueren schwarzen Vogel über sich, im nächsten Augenblick brachen Äste, rauschte der Wipfel des Baumes, als schüttelte ihn ein Orkan. Noch drei Sekunden ohne Atem, dann krachte und polterte es und die Erde schlitterte wie von den Stößen einer Dampframme. Racke erhob sich, eilte zu seiner Lampe, knipste sie aus. Langsam und möglichst geräuschlos, die Pistolen schußbereit, näherten sie sich dem Platz, wo das Flugzeug liegen mußte. Eine rauhe Stimme scholl ihnen entgegen und befreite sie von ihrer Beklemmung. Es waren russische Flüche, Verwünschungen. Sie kannten einige davon. Als sich die Gestalt des Riesenvogels abzuheben begann, blitzten ihre Lampen auf. Es war kein Flugzeug, sondern ein Lastensegler. Eine der mächtigen Tragflächen war dicht beim Rumpfe abgebrochen. Sie lag ein Stück abseits. Der anderen war die Spitze abgeknickt. Das Steuer war zerschlagen. Ein Mensch rappelte sich hoch. Er trug die Uniform eines Piloten der roten Luftwaffe. Sein Geschimpf brach erst ab, als sie dicht vor ihm standen und er erkannte, daß er es mit Deutschen zu tun hatte. Er machte eine unwillkürliche Fluchtbewegung, hielt aber sofort
wieder inne, er hatte offenbar gleichzeitig eingesehen, daß es zu spät war. „Ich nicht Partisan, ich Soldat ist“, sagte er und hob die Arme hoch. Witzel nickte und nahm ihm aus jeder Manteltasche eine der dickköpfigen russischen Eierhandgranaten. Dann ließ er ihn die Arme herabnehmen und machte ihm mit Worten und Gesten verständlich, daß er sie und die Beine ruhig halten müsse, weil ihm sonst der Hund an die Kehle springe. „Gutt, gutt“, grinste der Gefangene. Es schien ihm allmählich zum Bewußtsein zu kommen, daß er allen Grund hatte, sich darüber zu freuen, bei dieser verteufelten Landung mit dem Leben davongekommen zu sein. Der Rumpf des Flugzeugs war eingedrückt. Die Ladung bestand aus Maschinengewehren, Munition, Eierhandgranaten und „Seife“. Racke und Witzel kannten die gelben Sprengstoffpäckchen nur zu gut. Die Beute mußte so rasch wie möglich in Sicherheit gebracht werden. Es erschien ihnen am richtigsten, daß einer zum Waldhof lief und dann, was die Gäule hergaben, nach Krolew fuhr, um die Wehrmacht zu holen. Er nahm den Gefangenen mit, damit der Zurückbleibende nicht behindert war, wenn er Zivilisten vom Lastensegler fernhalten oder ihn gegen Partisanen verteidigen mußte. Es fragte sich nur, wer ging, wer blieb? „Das ist überhaupt keine Frage“, entschied Racke. „Daß die Wehrmacht mit Sicherheit und größter Beschleunigung alarmiert wird, ist das Wichtigste. Darum müssen Sie das machen, denn erstens kann ich nicht richtig kutschieren und zweitens haben Sie den Hund, der Ihnen den Weg sichert und den Gefangenen bewacht.“ Witzel winkte dem Gefangenen und verschwand mit ihm und Ola in der Dunkelheit. Racke setzte sich auf die abgebrochene Tragfläche. Im Osten stand schon das erste Morgenlicht. Die Landschaft bekam ihre Farben. Auch Rackes Herz hob sich aus dem feindlichen Dunkel wieder in das freundliche Licht des anbrechenden Tages. Die Sicht wurde von Minute zu Minute weiter. Linkerhand, dem Schlosse zu, übersah er die Straße ziemlich weit, bis sie vom Walde verschluckt wurde. Rechterhand verschwand sie schon nach einem kurzen Stück in zunehmender Unebenheit und stärkerer Bedeckung des Geländes. Nach rückwärts dehnten sich buschverwachsene weideartige Flächen, durch die sich ein
Wasserlauf wand. Und von dort kamen die ersten Laute, die Rackes Aufmerksamkeit erweckten. Bald erkannte er ihre Ursache: Eine Viehherde wurde vorbeigetrieben. Er sah durchs Glas an den Seiten des langen Trecks Frauen und Kinder mit großen Stecken und ein ziemliches Stück voraus und hinten nach ein paar Männer und auch Frauen, die statt Stecken Gewehre trugen. Ein Versorgungstreck der Partisanen, wenigstens hundert Stück Vieh. Es war doch eine tolle Gesellschaft! Racke hatte aber nicht viel Zeit, sich darüber in Gedanken zu verlieren, denn von der Straße her aus Richtung Krolew klang Peitschenknallen, Räderknarren und dumpfes Hufgetrappel. Das konnte doch nicht schon Witzel sein? Warum nicht? Vielleicht war er schon unterwegs auf Wehrmacht gestoßen! Das Gefährt tauchte auf. Es war ein sehr wackeliger Einspänner, nicht viel mehr als eine plumpe Kiste auf Rädern. Schepperl führte die Zügel, Liebedorn schwenkte die Peitsche. Eben kam die Sonne über den Wald herauf und beleuchtete das Bildchen. Es war wie aus einem humoristischen Film geschnitten, obgleich Schepperl gar nicht heiter, sondern wie ein bitterböser Nußknacker und Liebedorn kummervoller als ein Leichenbitter dreinsah. Racke lachte laut auf, eingedenk der Abschiedsworte Sepps, der geschworen hatte, seinetwegen nicht einmal zum Fenster hinauszuschauen! Da kam er schon! Getrieben von seiner Sorge um den Kameraden! Sie hörten Rackes Lachen nicht. Er sprang auf, winkte, rief ihnen zu. Ihre Köpfe flogen herum nach ihm. Liebedorn schwenkte vergnügt die Peitsche über dem Kopf, Schepperl jedoch drehte die Knollennase sofort wieder nach vorne und es hatte ganz den Anschein, als fiele ihm gar nicht ein, zu halten. Sigi schien vergeblich auf ihn einzureden. „So halte doch endlich, du Sonntagskutscher!“ schrie Racke und lief zur Straße. Schließlich machte Schepperl „brr“ und zog die Zügel an. Der Rumpelkarren stand. Racke grinste in Schepperls abweisendes Gesicht: „Was macht ihr denn hier? Es ist recht gefährlich, so allein im Wald spazierenzufahren.“ Und mit besonderer Absicht und besonderer Betonung fügte er noch hinzu: „Das hättet ihr meinetwegen nicht tun dürfen.“
Wie gedacht, so geschah es. Schepperl fuhr sofort auf, legte soviel Geringschätzung wie nur möglich in seine Mienen und in seine Antwort: „So, moanst? Deinetweg'n? Naa, mei Liaba! Ja so a Depp wann i waar, daß i zweng deina in den g'fahrlich'n Woid einig'fahr'n waar! Naa Nia! Nix hamma woi'n, wia a kloane Spazierfahrt mach'n, zum Schloß hintere, zu'ra Brotzeit. Daß d'as woaßt.“ Racke grinste unverschämt weiter. „Da will ich euch natürlich nicht aufhalten. Nur eine Frage: Habt ihr den Bahnpolizisten und seinen Hund getroffen?“ Liebedorn sagte: „Nee - warum?“ Schepperl drehte den Kopf schief, dabei entdeckte er den Lastensegler. Er machte sein zweitdümmstes Gesicht, drückte wortlos Liebedorn die Zügel in die Hand, stieg ab und ging hinüber. Racke kümmerte sich nicht darum, er war Witzels wegen beunruhigt. Die beiden Kutschen hätten einander doch begegnen müssen! Liebedorn hatte die besten Ohren. Er wandte den Kopf der Stelle zu, wo die Straße zum Schloß im Walde untertauchte. Dort erschienen Spitze und Verbindungsleute einer Marschsicherung. Helles Feldgrau, schwarze Armstreifen, eine schwarze Uniform dabei - Druschina. Die Spitze hielt. Der SS-Mann nahm das Glas vor die Augen. Racke winkte. Sie kamen, die Gewehre unterm Arm. Hinten tauchte eine feldgraue Kolonne aus dem Walde, voraus eine Reihe SS. Auch am Schluß. Dann Fahrzeuge. Der Gefechtstroß. Racke wurde vergnügt. Die Bergung der Ladung des Lastenseglers war gesichert. Kommandos klangen. Die Kompanie hielt, trat an die Seite der Straße. Hinter ihr kam eine zweite aus dem Wald. Eine kleine SSReitergruppe sprengte vor. „Was ist denn hier passiert?“ rief ihr Führer, sprang aus dem Sattel, starrte Racke eine Sekunde verblüfft an. Racke hatte den SS-Standartenführer ebenfalls sofort erkannt. Das war jener ehemalige SD-Obersturmführer von Nowo Wieczyczy, dem er ein Dutzend Todgeweihter aus den Händen gewunden hatte. Krugenberg. „Ich freue mich, daß Sie unsere Begegnung damals nicht vergessen haben“, sagte Racke.
„Vergessen nicht, im Gegenteil. Aber verwünscht oft genug!“ „Warum?“ „Weil ich mich von Ihrer erfahrungslosen Menschenfreundlichkeit besoffen machen ließ. KVK-Ritterkreuz? Gratuliere. Sie müssen schon ein Kerl sein! Aber nun sagen Sie erst mal, was ist hier los?“ Racke erzählte, umstanden von den SS-Dienstgraden, mit knappen Worten. Auch Schepperl stand dabei; er war zurückgekommen und machte ein Gesicht, wie wenn er den Lastensegler heruntergelockt hätte. Krugenberg befahl, daß der Bataillonstroß die Ladung des Lastenseglers mitzunehmen und die als letzte marschierende Kompanie zu seiner Sicherung zurückzubleiben hatte. Die drei anderen Kompanien brachen sofort wieder auf. Das Bataillon hatte einen anstrengenden Übungsnachtmarsch hinter sich und in den nächsten Tagen mit größeren Einsätzen zu rechnen. Die Eisenbahner wußten sicher schon von ihrem Bahnhof, daß anderntags eine wichtige Truppenbewegung begann, die zum größten Teil über, die Krolewer Strecke geführt wurde. Er solle mit seinen Kameraden doch mitkommen, forderte Krugenberg Racke auf; er würde gerne noch mit ihm zusammen sein. Auch ein Abstecher zum Waldhof werde sich lohnen, denn dort gebe es einen noch besseren Samajunka als im Schloß. Racke stimmte gerne zu. Er hatte sowieso vorgehabt, sich zu überzeugen, daß Witzel und das Jagdwägelchen nicht mehr dort waren. Krugenberg band sein Pferd an den Schepperlkarren und kletterte neben Racke auf den Rücksitz; so konnten sie sich am besten unterhalten. Er erzählte von seiner neuen Aufgabe der Ausbildung und Führung des Hiwi-Regiments. Ob er denn glaube, daß diese Freiwilligen zuverlässig seien? fragte Racke. Sie machten zwar einen ganz guten Eindruck, aber schließlich seien es doch Russen und Ukrainer. „Gewiß“, antwortete Krugenberg lebhaft, „aber es sind Nationalisten mit glühendem Haß auf die Bolschewisten. Der russische General Wlassow stellt sogar eine ganze Armee auf, die an unserer Seite für die Befreiung Rußlands von der Gewaltherrschaft des Bolschewismus kämpfen will.“ Nach einer Stunde kamen sie zu dem einsamen Gehöft im Walde. Nirgends zeigte sich ein Mensch. Auch im Hause nicht. Weder der Alte, noch eine seiner Töchter.
Racke ging zum offenen Schuppen. Die altmodische Kutsche und die beiden Braunen waren nicht mehr da, aber an einem der Pfosten, die das Dach trugen, hingen ein Mann und ein Hund. Der Mann war bis aufs Hemd ausgezogen und verstümmelt. Er hatte eine Viehkette um den Hals. Der Hund war, von Kugeln durchlöchert, an der Rute angenagelt. Es war Ola. Der Mann war Witzel. *** Aus Schepperls lustigem Karren war eine trübselige Fuhre geworden. Die drei Eisenbahner, einer so müde wie der andere, rauchten und schwiegen. Zu ihren Füßen lagen die Leichen des Bahnschutzzugführers Witzel und der Polizeihündin Ola Seite an Seite und mit der gleichen Zeltbahn zugedeckt. Bei ihrer Ankunft in Krolew rissen die Kollegen Mund und Augen auf über das, was sie zu hören bekamen, beunruhigt aber waren sie nicht. Was in den Wäldern alles los war, hatten sie schon immer gewußt, man brauchte ja nachts seine Nase nicht hineinzustecken. Um ihre Sicherheit in Krolew selbst waren sie so wenig besorgt wie bisher. Sie standen unter dem Schutze einer Wehrmachtkompanie, deren Unterkunft stützpunktartig ausgebaut war. Ein zweiter Stützpunkt mit 24 Mann Besatzung lag zwischen Bahn und Beresinasümpfen. Um den ganzen Bahnbereich einschließlich Ort waren Schützenlöcher und MG-Stände vorbereitet. Ein Verteidigungsplan war aufgestellt. Das Personal des Bahnhofs, die Belegschaft des Betriebswerkes, die Bahnmeisterei, Bahnpolizei und Bahnhofskommandantur, auch die Organisation Todt hatten ihre Abschnitte im Verteidigungsring. Jeder kannte seinen Platz im Falle eines Alarms. Sie machten bei Tag Dienst und schoben bei Nacht Wache. Überrumpeln und wehrlos abmurksen konnte man sie nicht. Und wenn sie auch meist friedliche Bürger und ohne militärische Ausbildung, nur mit teils recht fragwürdigen Knarren holländischer, französischer, polnischer Herkunft bewaffnet und zugegebenermaßen auch nicht darauf erpicht waren, als Helden ihr Leben in die Schanze zu schlagen - wenn's ihnen ans Leben ginge, würden sie sich ihrer Haut schon wehren! Im Notfall konnten noch Wehrmacht und Gendarmerie aus Glebokie und die Druschina in Doczice zu Hilfe
gerufen werden. Das war ein ihre Zuversicht noch bestärkender Rückhalt. „Wenn man sich bei uns nicht leichtsinnig in Gefahr begibt“, sagte Susi zu Racke, und dabei sah sie ihn freundschaftlich vorwurfsvoll an, „dann kommt man auch nicht in ihr um.“ Du bist wirklich ein netter Kerl, mußte Racke denken. Sicher schlug das Herz der kleinen Wienerin ein wenig für ihn. Sie würde ein guter Kamerad sein. So begegneten sich viele, die Herzen lächelten einander an und dann trennte man sich wieder. Er ging in sein Quartier, um für den Ortskommandanten eine kurze Meldung und für die Direktion in Minsk einen ausführlichen Bericht zu schreiben. Immer wieder fielen ihm dabei die Augen zu. Pan Jupp schickte ihm eine Portion starken Kaffee und Zigaretten. So hielt er durch, bis die Adressen auf die Umschläge geschrieben waren. Ein Eisenbahner, der zum Bahnhof ging, nahm die Briefe mit. Racke warf sich angekleidet aufs Bett, schlief unverzüglich ein, wurde kurz darauf wieder wachgerüttelt. Er starrte verständnislos in das Gesicht des Mannes, der immerzu auf ihn einredete. Endlich begriff er, wer es war und was er wollte: Der Bahnhof habe angerufen, er möchte doch sofort nach Minsk kommen und sich beim Bahnhofsoffizier melden. „Was? Beim Bahnhofsoffizier in Minsk? Warum denn?“ Das wußte der Hausverwalter nicht. Racke stellte sich seufzend auf die Beine, ging ans Telefon, aber Susi konnte ihm auch nicht mehr sagen. „Der Teufel soll's holen!“ murrte Racke übel gelaunt. „Na hören Sie!“ lachte Susi in den Apparat. „Sie könnten mir zum Abschied etwas Hübscheres sagen.“ „Ich werde das morgen beim Wiedersehn tun.“ „Fein! Was denn?“ Sie lachte wieder, aber zugleich hängte sie ein; leider konnte er seine freche Antwort nicht mehr anbringen. Immerhin hatte ihn die Frische des Mädels munter gestimmt. Es war Mittag vorbei. Vor 20 oder 21 Uhr war er nicht in Minsk. Ob er sein Gepäck mitnahm? Ja, man konnte hierzulande nie wissen, wenn man einen Ort verließ, ob man auch wieder zurückkam. Der Schienenwegvagabund Racke schon gar nicht. Im übrigen hatte er Glück mit dem Zug. Er konnte gerade noch einsteigen, da rollten die Räder, außerdem hatte er Platz, seine
Zeltbahn als Hängematte aufzuknüpfen. So schaukelte er, ohne einmal aufzuwachen, schlafend bis Minsk. Die Stadt lag schon grau in grau, aber der Himmel über ihr war noch blau. Auf den Kirchturmspitzen, dem Opernhaus und dem oberen Drittel des Hochhauses lag das letzte Sonnenlicht. Wenige Minuten nach der Ankunft saß Racke einem Feldwebel der Bahnhofswache gegenüber; der Kommandant war abberufen worden. „Wissen Sie, warum wir Sie bitten ließen, hierherzukommen?“ „Keine Ahnung. Und auch noch eine Militärdienststelle! Das begreife ich überhaupt nicht.“ Der Feldwebel griff zum Telefon, wählte eine Nummer, sagte: „Herr Inspektor Racke ist da“ und legte wieder auf. „Woher wußten Sie überhaupt von mir und wo ich mich aufhalte?“ fragte Racke. „Wir haben uns bei der Direktion erkundigt.“ Racke forschte in den Zügen seines Gegenübers; die waren völlig gleichmütig. Um etwas Schlimmes konnte es sich also wohl kaum handeln. Aber weshalb befaßte sich eine Wehrmachtsstelle mit ihm? Es klopfte, kurz, kräftig. Der Feldwebel rief „herein!“ Racke saß mit dem Rücken zur Türe; er hörte sie aufgehen und aus Höflichkeitsgründen drehte er sich um. Auf der Schwelle stand ein Mädchen in einem weißen Kleid. Langsam erhob er sich, machte ein paar Schritte auf sie zu, schüttelte endlich den Bann ab, in den ihn das unerwartete Wiedersehen geschlagen hatte und streckte freudestrahlend beide Hände aus: „Janka!“ Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt, stand noch immer auf der Schwelle, war ganz bleich geworden und ihre Hände lagen wie leblos in den seinen. „Was meinen Sie, Polizeimeister?“ hörte Racke die heitere Stimme des Feldwebels hinter seinem Rücken. „Mir scheint, das ist Beweis genug, daß das Mädchen die Wahrheit gesagt hat.“ Jetzt erst fiel Racke die graugrüne Uniform im Halbdunkel des Flurs hinter Janka auf. „Das kann ich beschwören“, antwortete der draußen. „Die Sache ist erledigt.“ Racke hatte Janka noch nie so gesehen. Das weiße Kleid ging gerade bis über die Knie. Die Beine waren nackt, die Füße
steckten in weißen Sandaletten. Der Knabenscheitel an der Seite war geblieben, auch die Stille ihres Wesens. In das schmale Antlitz war das Blut wieder zurückgekehrt. Ihr Auge sah nichts als ihn. Er zog sie zum Tisch, rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Es hätte schief gehen können“, erklärte der Feldwebel. „Sie hat sich schon seit Tagen beim Bahnhof herumgedrückt, wurde schließlich kontrolliert, hatte keinen Ausweis und gab bei ihrer Vernehmung keine oder unklare Antworten. Erst als sie der Gestapo übergeben werden sollte, die ja nicht lange fackelt, rückte sie damit heraus, daß sie einen Eisenbahner suche, von dem sie bei der Einnahme Charkows durch die roten Truppen getrennt worden sei. Sie habe es darum nicht gleich gesagt, weil sie nicht wisse, ob es Ihnen recht sei. Auf Ihren Namen konnte sie sich nicht besinnen, sie hatte sich durch die Beschreibung Ihrer Person und Ihrer Auszeichnungen hinter Ihnen hergefragt und unsere Rückfrage bei der Direktion ergab, daß es sich nur um Sie handeln konnte. Eine unvermutete Gegenüberstellung erschien uns und der Polizei der beste Weg zu einer einwandfreien Klärung. Nun sind Sie im Bilde und ich brauche Sie nicht länger aufzuhalten. Ich freue mich. Wär' doch schad' gewesen um das Mädel.“ Racke bedankte sich und ging mit Janka hinaus. Sie hatte noch kein Wort gesprochen; jetzt fragte er: „Willst du mit mir nach Krolewschisna kommen?“ Sie nickte. „Meine Freunde sind dort.“ Er beschrieb Schepperl und Liebedorn mit ein paar Handbewegungen. Sie nickte. „Du könntest auf dem Bahnhof arbeiten.“ „Ja“, sagte sie. „Ich werde nicht dort bleiben, aber von Zeit zu Zeit wiederkommen.“ Sie schwieg. Er erkundigte sich nach einem Zug. Infolge mehrerer Anschläge war die Strecke seit einer Stunde kurz vor Molodeczno beidgleisig gesperrt. „Gut, fahren wir morgen“, sagte Racke und fragte Janka, wo sie wohne. „Bei Freunden“, sagte sie leise.
„Dann schlafe dort noch einmal und komme morgen, wenn es Tag ist, wieder zum Bahnhof.“ Er mußte sie begleiten, weil sie bei Nacht nicht allein auf der Straße sein durfte. Es kam ihm ganz unwirklich vor, daß er ein halbes Jahr nach der plötzlichen Trennung in Charkow ebenso unerwartet neben ihr her durch Minsks dunkle Straßen ging. Was damals in Charkow geschehen sei? fragte er sie. Ein Mann war in den Wagen zu ihnen hereingestürzt, erzählte sie, und hatte geschrieen: „Rote Soldaten und Partisanen sind da!“ Alexandra hatte sie rasch fortgetragen, während schon überall gebrüllt und geschossen worden war. Nachher war alles gut gewesen. Die Wunde war geheilt, die Deutschen waren zurückgekommen und sie hatte wieder gehen können. Überall, wo Eisenbahner waren, hatte sie nach ihm gefragt und eines Tages hatte einer gesagt: „Frage in Poltawa.“ „Wie kamst du hin?“ Sie war zu Fuß gegangen, meist nachts. Er sei in Konotop, hatte sie dann erfahren. Sie war mit Zügen gefahren. Schwarz. „Das war gefährlich.“ Sie nickte. Einmal war sie erwischt worden. „Und?“ Sie hatte sich losgekauft. Er fragte nicht weiter. Sie war abends nach Konotop gekommen. Er sei am Morgen nach Charkow gefahren, wurde ihr gesagt, werde aber sicher bald wieder zurückkommen. Man hatte ihr Arbeit in der Kantine gegeben und sie hatte auf ihn gewartet. „Ich bin ja auch wiedergekommen“, sagte Racke. „Hast du das nicht erfahren?“ Ja, aber er sei gleich nach Deutschland gefahren. Vor einer Woche habe ihr einer gesagt: „Du mußt nach Minsk fahren, dort ist er jetzt.“ Das kleine Haus, in dem Janka wohnte, war in einem Armeleuteviertel ganz am Rande der Stadt. Racke war schon wieder ein Stück zurückgegangen, als ihm der Gedanke durch den Kopf ging, daß er sie doch besser gleich auf dem Bahnhof hätte behalten sollen. Das Haus würde er wahrscheinlich auch nicht mehr finden. Er nahm seine Unruhe mit in den Schlaf. Als er am Morgen erwachte, war er wieder zuversichtlich, aber es wurde Mittag,
Janka kam nicht. Jetzt lief er los, versuchte das Haus wiederzufinden, wo sie wohnte. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen: er fand es nicht mehr. Er rannte zur Gestapo. Nein, es war kein Mädchen verhaftet worden. Er lief zu anderen Polizeistellen. Niemand wußte etwas von Janka. Er kehrte zum Bahnhof zurück, fragte bei den Eisenbahnern herum, befragte die Wache, befragte die Bahnschutzmänner. Das Mädchen war nicht mehr gesehen worden. Aber ganz zuletzt erfuhr er, daß kurz vor Tagesanbruch in den Häusern eine Razzia nach weiblichen Arbeitskräften für Deutschland stattgefunden habe. Zweitausend Frauen und Mädchen. „Wo sind sie?“ Der Transport war vor einer Stunde abgegangen. „Richtung? „ „Molodeczno.“ „Wann fährt der nächste Zug?“ „In wenigen Minuten.“ Es handelte sich um einen Bauzug. Racke rannte nach seinem Gepäck und stieg in den Wagen des Zugbegleitpersonals. Der Zug fuhr ab, aber nicht aus dem Bahnhof hinaus, sondern hin und her und dann stand er auf einem abgelegenen Abstellgleis. „Na nu? Was ist denn los?“ „Die Strecke nach Molo ist auf Befehl der Transportkommandantur bis auf weiteres für alle Züge außer Bewegungszügen gesperrt.“ Racke nahm sein Gepäck und ging wieder in sein Quartier. Am Abend saß er im Kino. Allmählich schwand seine Unruhe und Verstimmung über Jankas Schicksal. In Deutschland arbeiten zu müssen, war noch lange nicht das größte Übel. Sie war ja von niemand losgerissen worden und es würde ihr nicht schlecht gehen.
14. KAPITEL
Der für Polozk bestimmte Bauzug fuhr gegen Mittag des folgenden Tages. Er kam flott voran. Der Lokwechsel in Molo nahm kaum fünfzehn Minuten in Anspruch und am frühen Abend war der Zug in Budslaw. Dort war es aus. Die Züge stauten sich seit den späten Nachmittagsstunden von Porpliszcze zurück. „Warum denn?“ Genaues wisse man nicht. Mit Krolew sei keine Verbindung und von Molo seien noch keine Weisungen ergangen. Warum denn von Porpliszcze nicht mal einer nach Krolew gegangen sei? Die könnten sich beherrschen. Zu denen seien zwei Landser der Krolewer Wehrmachtskompanie gekommen und hätten erzählt, daß Krolew von Tausenden von Partisanen überfallen worden sei. Außer ihnen lebe kein Schwein mehr. Racke dachte, er höre nicht recht. „Und die Eisenbahner?“ fragte er. „Alles niedergemacht.“ Nein! das glaubte er nicht. Schepperl, Liebedorn, Jupp, Eric, Susi, Scharmuth! Er konnte sich das nicht vorstellen. Dreihundert Eisenbahner! Unmöglich! Warum unmöglich? Hatte es nicht schon größere Katastrophen gegeben? „Gebt mir die Draisine!“ Er bekam sie nur ungern und keiner bot sich an, mitzufahren. Er nahm es ihnen nicht übel. Er hätte gar keinen mitgenommen; er dachte an Witzel. Er fuhr los, kam nach Parafianow. Dort war Alarmzustand, aber mehr als in Budslaw konnte er hier auch nicht erfahren. Er fuhr weiter. Es dämmerte schon stark. Vor dem Block Porpliszcze stand jener erste Zug, der nicht mehr weitergekommen war; schon kurz nach fünfzehn Uhr. Auf der Lok war nur der Heizer; er sorgte dafür, daß das Feuer nicht ganz ausging. Das Blockwärterhaus war mit Schwellen verbarrikadiert. Der Lokführer und die Zugschaffner hatten sich den beiden Bahnwärtern zugesellt. Außerdem waren drei Bahnschutzmänner stationiert und die beiden Krolewer Landesschützen dageblieben.
„Ihr seid ja ein ganzes Armeekorps!“ lachte Racke, aber er sah, daß es ihnen nicht sehr wohl war in ihrer Haut. Klare, bestimmte Angaben konnten die beiden Landser nicht machen. Sie waren gerade auf dem Weg von der Schule zum Süd-Stützpunkt gewesen, als die Schießerei begonnen hatte, vor ihnen und hinter ihnen, auf allen Seiten zugleich. Sie behaupteten, Hunderte von Angreifern gesehen zu haben. Racke wollte nicht in den Kopf, daß Partisanen die Frechheit besaßen, am hellen Tage einen so großen Bahnhof, bei dem sich außerdem eine ganze Kompanie Wehrmacht befand, anzugreifen. Das mußte schon eine ganz besondere Bewandtnis haben. „Wie sah die Bande denn aus?“ fragte er. „Wie wir auch“, meinten die zwei. Aber das konnte ja gar nicht sein, gaben sie selber zu. Sie wußten wirklich nicht, wie es gekommen war, daß sie sich das eingebildet hatten. „Wahrscheinlich habt ihr vor lauter Angst die Augen zugemacht“, sagte Racke. Aber es war ihm selbst nicht mehr recht wohl in seiner Haut, als er ins nächtliche Ungewisse hineinfuhr. Das Draisinchen machte sich keine Gedanken, es surrte fröhlich dahin und nebenher summte der Wind. Die BeresinaLäufe blinkten aus dem Dunkel. Nun kam gleich der Bahnstützpunkt linker Hand. Racke ließ die Draisine stehen und pirschte sich hinüber, belauerte ihn geduldig von allen Seiten, ohne einen menschlichen Laut zu hören, ohne von einem Posten etwas zu sehen. Auch auf dem Wachturm rührte sich nichts. Diese Stille war verdächtig. Die Wachen der deutschen Besatzung würden sich auf keinen Fall so lautlos verhalten, also mußte der Stützpunkt verlassen sein oder Partisanen hatten ihn in der Hand. Racke arbeitete sich vorsichtig an den Eingang heran; er war geöffnet. Wenn das keine Falle war? Er begann zu stöhnen, immer lauter. Ohne Ergebnis. Schließlich sprang er hinein. Der Stützpunkt war nicht verlassen. Die Besatzung war zur Stelle. Ein Feldwebel, drei Unteroffiziere und 25 Mann. Erschossen, erstochen, erschlagen. Das war schlimmer, als er erwartet hatte. Und jetzt sah er auch dem Schicksal des Bahnhofs mit ernster Besorgnis entgegen. Er
durchforschte die Unterkunftsräume, jeden Winkel, er fand keinen Lebenden mehr. Von den Gegnern keine Spur. Racke kehrte nicht zur Draisine zurück. Jetzt noch zu fahren, war zu gewagt. Er hielt die gerade Richtung zum Bw, den Laut der Tritte dämpfend, immer wieder in guter Deckung verharrend, spähend, lauschend. Bald hörte er einzelne Schüsse fallen, die in lebhaftes Schützenfeuer übergingen, das sich weithin ausdehnte und allmählich wieder versickerte. Es wurde noch gekämpft. So wie dem Waldstützpunkt war es Krolew selbst also doch nicht ergangen. Er näherte sich der Abzweigstelle nach Glebokie, darauf gefaßt, daß sich der Himmel rot färben, daß er Brände flackern sehen würde. Aber die Nacht um Bw und Bahnhof wurde durch keinen Feuerschein erhellt. Beim Einfahrsignal stockte sein Fuß. Ganz deutlich hörte er Geräusche, Stimmen, auch halblaute Rufe. Es waren fremde Laute. Er versuchte, dem Gleis nach Glebokie folgend, das Bw zu umgehen; es war unmöglich. Immer wieder mußte er weit zurückweichen, um nicht unter die Gestalten zu geraten, die überall in großer Zahl hörbar und sichtbar wurden. Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Also doch! Er kam vom Bw her. Racke schlug sich nach der Babiczer Seite durch. Es war dasselbe. Zum Bahngelände oder auch nur zur Schule oder zum Sägewerk zu kommen, war unmöglich. Geschütze krachten. Es gab Geschrei und Gelaufe. Gewehre knatterten immer wieder. Allmählich wurde ihm klar, daß die Verteidiger auf dem Hausberg des Städtchens saßen und daß sie dort offenbar eingeschlossen waren. Noch hatte er nicht feststellen können, um was für einen Gegner es sich handelte, aber daß er an Zahl vielfach überlegen war, stand außer Frage. Wenn da bis Tagesanbruch nicht mindestens ein Bataillon Wehrmacht zum Entsatz anrückte, waren die Deutschen auf der Anhöhe erdrückt. Er mußte nach Glebokie! Besser noch, er lief, so rasch ihn die Beine trugen, nach Doczice. Dort standen Krugenbergs sechstausend Mann Druschina. Eines der Bataillone würde bestimmt anzutreffen sein. Racke arbeitete sich aus dem Gerümpel zwischen einigen der Häuschen von Babicze, in dem er sich verkrochen hatte, wieder heraus. Schräg gegenüber, jenseits der Straße, hob sich der große schweigende Klotz der Schule gegen den Himmel ab, den der nahende Morgen heller zu färben begonnen hatte. Er hörte
Geräusche, zog sich schleunigst wieder in sein Versteck zurück. Die ganze Gegend wurde lebendig von Schritten, von Stimmen. Überall tauchten Gestalten auf, sie schienen alle der Schule zuzustreben. An seinem Versteck kam ein ganzes Rudel Banditen, rauchend und sich unterhaltend, vorbei, so nahe, daß er sie jetzt in der Dämmerung schon ganz deutlich sehen konnte. Aber das war doch - ! In jäher Freude sprang er auf. Das war ja Druschina! Das waren die feldgrauen Uniformen mit dem Schriftband um den Ärmel und den gelben Winkeln! Was war er für ein Esel! Kroch stundenlang um die eigenen Kampfeinheiten herum, dabei war es der Gegner, der auf der Anhöhe zusammengetrieben und eingeschlossen worden war! Aber - hatten nicht die geflohenen Landesschützen behauptet, die Partisanen hätten genau so ausgesehen wie Landser? Racke überlief es heiß und kalt zugleich. Eine SS-Uniform sah er nirgends. Er wagte nicht mehr, auch nur ein Glied zu bewegen, jede Sekunde gewärtig, daß sie mit Gebrüll über ihn herfielen. Doch keiner schien auf das Geräusch geachtet zu haben, das er verursacht hatte, keiner schien ihn zu sehen. Ihr ganzes Augenmerk war nach der anderen Seite gerichtet. Dort wurde eine dunkle Masse sichtbar, unter der immer weiter hin das hellere Band der Straße verschwand. Man vernahm das dumpfe Stampfen vieler hundert Stiefel. Es verklang in der Ferne. Niemand kam mehr in Rackes Nähe vorüber. Dennoch hielt er es für ratsam, in seinem Winkel zu verharren, obgleich er über die Rolle der Druschina wieder starke Zweifel hegte. Eine Viertelstunde verging, ohne daß er noch etwas anderes wahrzunehmen vermochte, als daß es Tag wurde und daß aus der Schule eine stark zusammengeschossene, ausgebrannte Ruine geworden war. Motorgeräusch riß Rackes Kopf nach der anderen Seite. Vom Bahnübergang her kam ein Panzerspähwagen. Er fuhr ganz langsam. Hinter ihm und zu beiden Seiten ging, gefechtsbereit auseinandergezogen, grüne Polizei. Racke atmete tief auf und ging winkend der Straße zu. ***
In den drei Granatwerferständen, in den Grabenstücken und hinter den Wällen, die den Schulplatz umgaben, in den hintersten Winkeln der Keller, in den unteren Räumen der Schule, soweit sie dem Feuer nicht zum Opfer gefallen waren, lag die Besatzung. So wie im Stützpunkt, erschossen, erstochen, erschlagen. Beim Eingang zwischen einigen Unteroffizieren der Oberleutnant, der die Kompanie geführt hatte und Ortskommandant von Krolewschisna gewesen war. Ungläubig starrte Racke auf die Platzpatronen, die überall herumlagen, zum Teil auch noch in Ladestreifen in den Patronentaschen steckten. Eine Kiste noch halbvoll mit den blauroten Holzpatronen stand im Keller. Was hatte das zu bedeuten? War der Kompanie die scharfe Munition ausgegangen oder hatte man anfänglich bewußt nur mit Platzpatronen geschossen? Auch sonst wußte man über den Überfall noch kaum mehr, als daß man es tatsächlich mit der Hilfswilligentruppe zu tun gehabt hatte. Racke trieb die Sorge um Schepperl und Liebedorn auf dem nächsten Weg über den Güterschuppen zum Bahnhof. Außer den zahlreichen Geschoßeinschlägen im Mauerwerk und zertrümmerten Fenstern konnte er keine Zerstörungen wahrnehmen. Die Diensträume waren nicht geplündert. Aber das Personal war noch nicht zurückgekehrt. Er eilte am Elektrizitätswerk vorbei, das völlig unbehelligt geblieben war, vielleicht weil es die Angreifer als solches nicht erkannt oder nicht für wichtig gehalten hatten, zum Betriebswerk. Die Wohnbaracken, auch die Küchenbaracke mit dem Speisesaal und dem Verpflegungslager waren übel zugerichtet und ausgeplündert. Die Garage mitsamt dem Lkw war niedergebrannt, ebenso beide Lokschuppen, die Werkstätte und die Baracke der Lokleitung, während merkwürdigerweise dem Brunnen und dem Wasserturm nichts angetan worden war. Einige Lokomotiven standen mit verbrannter ,Haut', Lokpersonal aus Molodeczno hatten den Tod erlitten. Sie zuckten die Achseln, lachten und waren fröhlich kameradschaftlich mit den Landsern. Na, schön. Man mußte bei der werdenden russischen Freiheitsarmee mal ein Auge zudrücken. Da sie aber nach einer Stunde noch immer in der Nähe herumzigeunerten, wollte er wissen, wo ihre Offiziere seien. Sie lachten wieder unbekümmert, kauderwelschten und zeigten nach hinten. Um nun dem Unfug doch endlich zu steuern, gab
Burk dem einzigen Offizier, den die Kompanie noch hatte, Leutnant Weißling, den Auftrag, sich nach den SS-Führern umzusehen, um festzustellen, was eigentlich los war. Eine halbe Stunde, dreiviertel Stunden vergingen, Weißling kam nicht zurück. Jetzt stiegen Burk ernste Bedenken auf. Er ließ die Kampfstände besetzen, alarmierte telefonisch den Bahnhof und befahl sofort Alarmstufe 3, schickte eine Gruppe auf Suche nach dem Leutnant. Sie kam nicht mehr aus dem Stützpunkt hinaus. Sie erhielt Feuer, wo sie es auch versuchte. Die Schule war eingeschlossen. Der Unteroffizier und ein Mann, eben die beiden, die nun über den Hergang bis dahin berichten konnten, kamen auch nicht mehr hinter die Wälle zurück, konnten sich aber in eine unkrautverwachsene Erdhöhle retten, die früher wohl einmal als Kartoffelkeller gedient hatte. Fünf Minuten später krachten die ersten Granaten in das Gebäude und die Kampfstände. Der Alarm durch den Kampfkommandanten hatte im Bahnhof wie ein Blitz aus dem blauen Himmel eingeschlagen, der sich über Krolew spannte. Pan Eric legte den Federhalter weg, schlug sein Kassenbuch zu und schloß den Kassenschrank ab, rief dann zu Jupp hinein: „Sieh doch mal auf deinem Kalender nach, ob heute der 1. April ist!“ Der rückte seine dickglasige Brille zurecht und antwortete in dienstlichem Ernst: „Ich glaube nicht. Wenigstens war eben noch der 17. August. Vielleicht hat der Landesschützenpapa da drüben zu tief in die Samajunka-Flasche gesehen und sieht weiße Mäuse.“ Geschützdonner von der Schule her, lospolternde Maschinengewehre in nächster Nähe jagten ihnen die Scherze von den Lippen. Das unaufhörliche Gepatsch einschlagender Geschosse, ihr Geschrille auf den Schienen, zerklirrende Fensterscheiben, Kommandorufe und ein lautes Durcheinander aufgeregter Stimmen und trappelnder Füße machten ihnen klar, daß es sich um alles andere als um einen Aprilscherz oder weiße Mäuse handelte. Der ganze Ostrand des Güterbahnhofs war eine Feuerkette. Die Versuche der unbekannten Angreifer, vom Güterschuppen aus vorzubrechen, scheiterten jedoch an der Feuerwirkung der leichten Maschinengewehre und Gewehre der Bahnpolizei und
der Wache des Bahnhofskommandanten, die den Kampf bereits aufgenommen hatte. Das Personal des Bahnhofs und der Bahnmeisterei besetzte gleichfalls in aller Eile seine Verteidigungsabschnitte; mißlich dabei war, daß sich die Gewehre zum Teil in der Unterkunft befanden und nicht geholt werden konnten, weil der Weg durchs Bw bereits abgeschnitten war. Dessen ungeachtet wurde der Bahnhof mehrere Stunden gegen die mindestens zehnfache Übermacht gehalten. Um nicht umgangen und erdrückt zu werden, mußten sich dann die Verteidiger kämpfend auf die Krolewer Anhöhe zurückziehen. Der Mangel an Waffen und eintretende Munitionsknappheit im Verein mit der beginnenden Dunkelheit, in der die Übersicht über Kampffeld und Gegner verloren ging, verschlimmerte die Lage der Eisenbahner von Stunde zu Stunde. Von drei Seiten eingeschlossen, wurden sie mehr und mehr der einzigen noch offenen Seite, dem Rande der Beresina-Sümpfe zugedrängt. Nur behelfsmäßig konnten die Verwundeten verbunden werden, wobei eine Eisenbahngehilfin, die aus Nürnberg stammte, besonderen Mut und Geschicklichkeit bewies. Als Ersatz für das fehlende Verbandzeug opferte sie ihre Wäsche. Endlich erschien die Glebokier Gendarmeriekompanie auf dem Kampfplatz. Ihr Eingreifen hatte sich so lange hinausgezögert, weil sie ausgerechnet an diesem Tage 55 Kilometer weit entfernt, in Woropajewo, eingesetzt war und erst von dort zurückgeholt werden mußte. Wie viele Kameraden würden wohl ihr Ende in den Sümpfen gefunden haben, wenn nicht in letzter Stunde die Rettung gekommen wäre? Um Mitternacht endlich konnte man zum Notverbandplatz aufbrechen, der 4 bis 5 Kilometer weiter in Richtung Glebokie in einem Schulraum eingerichtet worden war. Dort gab es auch die erste leibliche Stärkung. Oberinspektor Scharmuth war nicht weniger verblüfft gewesen, als er nichtsahnend den Hörer vom schrillenden Apparat nahm und eine hastige Stimme hereinrief: „Hier Ortskommandantur. Ich melde Alarmstufe 3. Besetzen sie sofort Ihre laut Kampfplan festgelegten Stellungen!“ Ehe sich's Scharmuth versah, war wieder eingehängt. Er gab zunächst dem Bw-Selbstschutz den Befehl weiter und seine Männer rannten in die Waffenkammer, um Gewehre und Munition zu holen.
Scharmuth vergewisserte sich noch einmal durch eine Rückfrage. Der Befehl wurde wiederholt mit dem Zusatz „höchste Gefahr“. Aber um was für eine Gefahr und was für Angreifer es sich handelte, wurde nicht hinzugefügt. Die Eisenbahner bezogen im Sturmschritt ihre nach Westen und Südwesten das Betriebswerk abschirmenden Grabenstücke und Schützenlöcher. Man erwartete Partisanen. Statt dessen tauchten Feldgraue auf. Das Feuer wurde eingestellt, bis die Feldgrauen aus nächster Nähe mit „Urräh“- und „Hände Hoch“-Gebrüll sturmliefen. Jetzt wurde zwar gefeuert, was noch aus den Läufen ging, aber es war zu spät. Die Stellung war nicht mehr zu halten. Vom Gegner von einander getrennt, einzeln und in kleinen Gruppen, kämpfte sich die Bw-Belegschaft um ihr Betriebswerk und die Bahnhofsunterkunft herum, wo die Angreifer bereits zu Hunderten eingedrungen waren, durch Stunden hindurch Schritt für Schritt der Anhöhe zu. Am späten Abend erst, nachdem die Polizeieinheit mit zwei Panzerspähwagen und Pak von Glebokie eingetroffen war und in der beginnenden Dunkelheit nach mühsamer Aufklärung in den Kampf eingegriffen hatte, war es auch der Bw-Belegschaft gelungen, unter Mitnahme ihrer Verwundeten ebenfalls das schützende Wald- und Buschland auf und hinter der Krolewer Höhe zu erreichen. Traurig stimmte alle, daß Susi vermißt wurde. Trotz aller Warnungen war sie nach dem Alarm aus der Unterkunft ins Bw gelaufen, wahrscheinlich hatte sie es für ihre Pflicht gehalten, ihre Dienststelle im Empfangsgebäude aufzusuchen. Der Polizeioffizier hatte den Gesamtbefehl übernommen. Ein Teil der Eisenbahner kehrte noch in der Nacht nach gründlicher Aufklärung in den Ort zurück und stellte an den Hauptstraßen Streifen und Posten. Nur selten noch fielen Schüsse, aber zum Gegenstoß mußte der Morgen abgewartet werden. Als er anbrach und man vordrang, stieß man ins Leere. Der Gegner hatte sangund klanglos das Feld inzwischen geräumt. Seine Toten und Verwundeten hatte er mitgenommen, seine beiden 10,5 cmGeschütze aber zurückgelassen. Die Niederlage, die die Verteidiger erlitten hatten, war nicht so sehr der zahlenmäßigen Überlegenheit von über 2000 gegenüber 400 einschließlich Bahnpolizei und OT zuzuschreiben, als der unbegreiflichen Tatsache, daß der Kampfkommandant beim
Alarm nicht mitgeteilt hatte, daß ein Angriff der Druschina zu erwarten war. Vielleicht war Oberleutnant Burk anfangs noch so stark im Zweifel gewesen, daß er, um nicht nachträglich ausgelacht zu werden, diese Annahme verschwieg. Und als der Angriff tatsächlich begonnen hatte, war ihm wahrscheinlich keine Möglichkeit mehr geblieben, diese Mitteilung nachzuholen. Wie auch Versuche, nach Beginn der Schießereien Verbindung mit der Befehlsstelle in der Schule zu erhalten, erfolglos blieben. So war es geschehen, daß die feldgrauen Haufen, die teilweise winkend aus den Feldern und Waldstücken kamen, die auf diese Weise irregeführten Deutschen auf kürzeste Entfernung zu überrumpeln vermochten. Eine weitere Ursache der Niederlage bestand natürlich auch mit darin, daß dem gut ausgebildeten Kampfverband an Wehrmacht nur eine kurzfristig ausgebildete Landesschützenkompanie ohne jede Kampferfahrung gegenüberstand und daß, abgesehen von der Bahnschutzpolizei, sowohl die Eisenbahner wie auch die OT eben meist nur Zivilisten waren, gering bewaffnet oder überhaupt nicht. Gewiß hatte man die Besetzung des Verteidigungsringes um Bahnhofsanlagen und Ort in wiederholten Probealarmen bei Tag und bei Nacht geübt, aber es war etwas ganz anderes, ob das in friedlicher Ruhe und in dem Bewußtsein der Gefahrlosigkeit geschah oder in der Aufregung einer Kampfhandlung, die bereits begonnen und den Gegner, der zwei Stunden lang Zeit gehabt hatte, sich zu seinem Angriff bereitzustellen, schon zwischen und hinter den Verteidigungsring gebracht hatte. So hatte der Überfall insgesamt 96 Tote gekostet, darunter 12 Eisenbahner, und eine Anzahl Schwerverwundete. Auch Leutnant Weißling war gefunden worden, nur fünf Minuten von der Schule entfernt, mit tödlichen Hieb-, Stich- und Schußwunden und herausgeschnittener Zunge. Wie dies alles geschehen war, wußte man nun, aber warum es geschehen war, warum die Druschina gemeutert hatte, warum ausgerechnet Krolewschisna Ziel des Überfalls durch das II. Bataillon gewesen war, darüber konnte man nur Vermutungen anstellen. Manche meinten, daß sich die Freiwilligen vielfach von vornherein mit dem Vorsatz späteren Verrats gemeldet hätten, vielleicht zum Teil sogar aus den Reihen nationaler Partisanen selber stammten. Andere meinten, sie hätten inzwischen an der nationalsozialistischen Praxis in den besetzten Ländern Rußlands erkennen müssen, daß ihnen Hitler
nach seinem Siege keineswegs die nationale Freiheit geben würde. Manche glaubten, die Druschina habe lediglich nach Glebokie marschieren wollen, um den Abtransport der dort noch im Ghetto befindlichen dreieinhalbtausend Juden zu verhindern und Krolew nur angegriffen, weil es eben am Wege lag. Dem widersprach, daß der Hauptangriff, abgesehen von der vorbeugenden Vernichtung der Wehrmachtskompanie, dem Betriebswerk gegolten hatte. Seine Anlagen allein waren zerstört worden. Das nur schien also der Zweck des Überfalls gewesen zu sein. Die Truppenbewegung sollte lahmgelegt werden. Und wieder welche betrachteten die Meuterei einfach als Folge eines vielleicht ganz geringfügigen inneren Anlasses, eines Streites mit einem SSOffizier oder dergleichen. Aus Furcht vor einer drakonischen Bestrafung habe - was nur aus der slawischen Veranlagung zu verstehen war - das ganze Regiment vorgezogen, zu den Partisanen überzugehen und sofort einen Beweis der Aufrichtigkeit seines Entschlusses zu liefern. Niemand wußte, was richtig war. Vielleicht von jedem etwas. Es war auch unnütz, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Man hatte anderes zu denken und zu tun: Wiederherstellung der Ordnung, Wiederaufbau des Betriebswerks. Die Opfer des Überfalls wurden in Glebokie feierlich beigesetzt. Von den Meuterern wurde keiner mehr gesehen. Sühnen für die Druschina mußten die Juden in Glebokie. *** Racke erhielt Post. Reisinger schrieb aus dem Donezbecken. Der Rest der Kompanie Surfleisch war nach der KastornajaFlucht Ende Februar von Woroshba im Gerätezug nach Kiew verlegt, ihre fahrbare Heimat in einem Vorortbahnhof abgestellt worden. Drei Wochen später hatten sie eine große Freude erlebt: Viele im Räume Nishnedewizk eingeschlossen gewesene Kameraden kamen wohlbehalten zur Kompanie zurück. Sie waren mit den Einheiten der Wehrmacht zusammen nach Süden durchgebrochen und aus dem Raume Staryi Oskol unter ständigen Kämpfen die siebenhundert oder achthundert Kilometer nach Lgow marschiert. Surfleisch war u.k. gestellt worden. „Abgesägt“, sagte die Kompanie. Von Blümlein hatte er nichts
mehr gehört. Man konnte nur hoffen, daß er in Gefangenschaft gekommen war und nach dem Krieg eines Tages wieder in die Heimat zurückkehren werde. Sie machten im Raum Gorlowka Dienst. In Tschassow Jar baue die OT zur Zeit einen neuen Wasserturm. Der Iwan werde demnächst dankbar dafür sein. Auch ein Brief von Leutnant Brandner war da. Wenn Racke wolle, könne er zum zweiten Male die Räumung Charkows miterleben. Sie habe am 7. August begonnen. Diesmal seien allerdings keine Riesendepots und -magazine zu leeren. Die Feldwerkstättenabteilung 3 sei am 12. des Monats abgerückt und am 14. in Konotop eingetroffen. Die Strecken Woroshba-Ljubotin und Ljubotin-Poltawa seien bereits wiederholt unterbrochen gewesen. In Rumänien und Serbien stehe es eisenbahntechnisch nicht zum Besten. Schon am 18. Juli habe das F-Maschinenamt 1 nach Belgrad in Marsch gesetzt werden müssen. Auch in Italien müsse nachgeholfen werden, das F-Maschinenamt 13 sei über den Brenner hingerückt. Der besetzte Raum im Osten werde ja sowieso kleiner am laufenden Band. Da war noch ein Brief von unbekannter Hand mit einer Racke nicht geläufigen Feldpostnummer als Absender. Und daneben standen die Worte: „Es ist wenig Hoffnung.“ Racke riß ihn auf. Ein Sanitäter eines Feldlazaretts in Brjansk schrieb ihn für Bunz. Bunz fuhr jetzt beim Feldeisenbahnkommando 2 zur Frontspitze. Bei einem Feuerüberfall der russischen Ari war er schwer verwundet worden. Wahrscheinlich mußte das linke Bein abgenommen werden. Es gehe ihm nicht besonders gut und er würde sich sehr freuen, wenn er ihn besuchen könnte. Racke hatte den Brief kaum zu Ende gelesen, als er auch schon seinen Rucksack packte. Für Sepp und Sigi, die zur Erholung nach Glebokie gefahren waren, hinterließ er einen Abschiedsgruß. „Ich komme bald wieder.“ Er nahm der Frontlage nach an, daß er Brjansk über Minsk-Gomel sicherer und rascher erreichen würde, als über Polozk-Smolensk, obgleich er Smolensk, diesen ungeheueren Güterbahnhof, von dem behauptet wurde, daß er der größte der Welt sei, nach zwei Jahren des Ausbaues gerne wiedergesehen hätte. Zwei Stunden wartete er auf den nächsten Zug Richtung Molo, dann aber hatte er Zeit, sich auszuschlafen und auszuruhen. Er erlebte nun einmal selbst eine Fahrt durch den ganzen Bezirk der
HVD Minsk und hatte nicht e i n Mal, sondern ein dutzend Mal Anlaß, an Petermann und seine fast unlösbar gewordene Aufgabe zu denken, Züge noch an ihr Ziel zu bringen. Die Aufenthalte infolge Gleissprengungen und Streckensperrungen nahmen kein Ende. Wenn Racke nicht die Möglichkeit gehabt hätte, die Züge zu wechseln, wie es ihm beliebte, wäre er auch am fünften Tage nach seiner Abreise noch nicht in Brjansk gewesen. Er kam gerade zur rechten Zeit an: Wenige Stunden zuvor hatten ein paar tausend Partisanen das Bw gesprengt und einen Benzinzug in Brand gesteckt. „Wie ist denn das möglich?“ fragte er fassungslos. „In Brjansk muß es doch Wehrmacht und Wehrmachtsgefolge genug geben!“ „Sicher“, wurde ihm geantwortet. „Brjansk hat eine Unmenge von Dienststellen, aber es handelt sich eben größtenteils um Bürosoldaten oder um Bewachungstruppen, die an ihre Plätze gebunden sind. Bewegliche Kampfgruppen, die man gegen die einmal hier, einmal dort auftauchenden Banden so rasch einzusetzen vermag, daß die Anschläge verhindert werden könnten, stehen nicht zur Verfügung, jedenfalls nicht in einer auch nur annähernd ausreichenden Stärke. Man muß sich darauf beschränken, von Zeit zu Zeit alles zusammenzuraffen, was an Wehrmacht und Polizei in der Stadt und ihrer Umgebung vorhanden ist, um einen Vorstoß in die Urwälder zu unternehmen.“ Die Wälder erstreckten sich 300 Kilometer weit gegen Moskau. Man konnte sich aber nicht allzuweit hineinwagen, nicht einmal in voller Bataillonstärke, wenn man wieder herauskommen wollte. Eine Bande aufzustöbern, war ungemein schwierig, noch schwieriger aber war es, sie zum Kampf zu stellen. Durch die Wälder führte auch eine Nebenbahnlinie. Sie konnte Breitspur und Normalspur befahren werden, weil man nicht umgespurt, sondern nur eine Schiene auf Normalspurbreite dazwischen genagelt hatte. Man verwendete diese Nebenbahn in der Hauptsache für die Abfuhr des Holzes, das in den Wäldern geschlagen wurde. Nun, auf dieser Waldbahn hatten die Partisanen kürzlich aus dem Brjansker Bahnhof heraus eine ganze Reihe von Zügen abgefahren, Munition, Treibstoff, Verpflegung, Baracken. Racke ließ sich das Lazarett sagen, in das Bunz eingeliefert war und machte sich sofort auf den Weg. Der Sanitätsfeldwebel in
der ,Aufnahme' sah im Einlieferungsverzeichnis nach, sagte im Schreibstubenton: „Vorgestern gestorben.“ Racke fuhr hoch, als hätte er eine Ohrfeige erhalten: „Was ist er?“ „Sie hören wohl nicht gut?“ knurrte der Feldwebel und wandte sich einem andern zu. Racke starrte vor sich hin. Um ihn her ging es laut und grob zu und wenn die Türe aufging, kam ein Schwall Karbolgeruch herein. Er wurde zur Seite gedrängt, merkte es gar nicht. Mit Bunz hatte sein Sonderauftrag und sein Schicksal im Osten begonnen und wie viel hatten sie zusammen erlebt! „Kann ich ihn mal sehen, Kamerad?“ wandte er sich wieder an den Feldwebel. Er mußte zweimal fragen und half mit einer guten Zigarre nach. Wer Freundlichkeit sät, wird sie manchmal auch ernten. „Prima Marke“, sagte der Feldwebel, steckte sie an, wandte sich wieder ab. Racke mußte ihn nach einer Weile noch einmal an seine Frage erinnern. „Sehen?“ brummte der Feldwebel. „Geht schlecht. Er ist schon begraben.“ Mit einiger Mühe konnte Racke das Massengrab ausfindig machen, in dem Bunz seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Es war ihm trostlos zu Mut, als er vor dem Erdhaufen stand, der als einzigen Schmuck einen Holzpflock trug, auf den eine Nummer gemalt war. Nun lag Karl da unten. Er mußte an Anne schreiben. Wie aber sollte er sie trösten? Und die Kinder! Was war heute noch ein Toter? Millionen hatte der Krieg zwischen seine Mahlsteine gerissen. Wie wichtig kam sich der Mensch vor und was bedeutete er schon? Wenn die Erde zerbersten oder mit allen ihren Geschöpfen in die Sonne gerissen, in einem Atemzug in ihr verbrennen würde, es wäre im Universum Gottes nicht mehr, als wenn in der Welt des Menschen eine Motte in der Flamme einer Kerze vergeht. Und dennoch wurde der Mensch über die Tragödie des ständigen ungeheueren Sterbens in der Schöpfung hinausgehoben durch sein Wissen um ihre Unendlichkeit und durch seinen Glauben an die Unsterblichkeit seiner Seele. Vom Soldatenfriedhof nahm Racke seinen Weg zum Bahnhof zurück. Er suchte die verschiedenen Amtsvorstände auf, um
Einblick in die besonderen Brjansker Bahnverhältnisse zu bekommen. Der Vorstand des Feldeisenbahn-Maschinenamtes, ein Reichsbahnrat im Majorsrang, sagte zum Schluß der Unterredung: „Wenn Sie sich für das gesprengte Bw interessieren, werden Sie dort auch etwas ganz Neues sehen.“ Als Racke zur Werkstätte kam, sah er einen Panzerzug stehen. Nun, wenn er auch schon manchen Panzerzug gesehen hatte, interessant war es immerhin, insbesondere, weil ihm bisher nicht bekannt gewesen war, daß auch die Luftwaffe, wie er nun feststellte, Panzerzüge besaß oder unter ihren Befehl genommen hatte, aber wieso war ein Panzerzug etwas „ganz Neues“? „Der Panzerzug nicht“, sagte der leitende Werkmeister und führte ihn in die Halle. Da stand noch ein gepanzerter Wagen, eine Gruppe Bw-Schlosser dabei und darumherum ein Kreis von Zuschauern, meist Offiziere verschiedener Waffengattungen, an ihrer Spitze der Kommandant des Panzerzuges. Es war der Schlußwagen mit allerhand Rohren und MGFeuerschlitzen. Und mitten an seiner Rückwand steckte ein merkwürdiger senkrechter, eisengrauer Riegel in zwei starken Laschen. Er war übermannshoch, schenkeldick, die oberen zwei Drittel vierkantig, das untere dreikantig mit langgezogener Krümmung und dem Wagen zugerichteter Schneidkante. Dieses untere Drittel war einer massigen Pflugschar ähnlich. Die Spitze stand eine Handbreit über Schienenhöhe. „Eine Tonne Stahl“, sagte der Werkmeister stolz. „Wozu?“ fragte Racke. „Das werden Sie jetzt gleich sehen“, lachte der Werkmeister. Draußen pustete eine Lok. Das Schuppentor wurde geöffnet. Die Lok fuhr rückwärts an, wurde vorgespannt, zog den mit Tarnund Farbklecksen beschmierten rollenden Stahlbunker hinaus und paffte mit ihm im Rückwärtsgang über ein Dutzend Weichen ganz an den Rand der Gleisanlagen auf das äußerste, hundert Meter weiter an einem Schuttberg endende Schienenpaar. Es war rot von Rost, soweit es im Gras und Unkrautwuchs überhaupt zu sehen war. Die Schwellen waren völlig überdreckt und überwuchert. Der ganze Haufen der Eisenbahnlandser und der Offiziere ging nebenher bis zum Gleisende. Der feldgraue Bw-Vorsteher hob die Hand. Die Lok fuhr an. Der Panzerzugkommandant gab seinem Adjutanten einen Wink; der zog die Trillerpfeife. Das Signal übertönte hell alle anderen
Geräusche. Im gleichen Augenblick fiel der Stahlriegel in den beiden starken Führungslaschen wie ein Fallbeil nach unten. Die Pflugschar fuhr einen halben Meter tief in den Boden. Zugleich begann ein Krachen und Splittern, wie wenn Elefantenfüße hohlliegende Bohlen zerstampfen. Mitten durchgerissene, zerfetzte Schwellen hoben sich hinter dem mörderischen Zyklopenfinger aus der Bettung. Schotter und Kleineisenzeug klirrten, flogen da und dort zur Seite, Schienen bogen und wanden sich. Die Lok jedoch pustete vergnügt, als vollbrächte sie diesen Gewaltakt ohne Anstrengung, zog den Panzerwagen, zog den reißenden Zahn, ohne zu rucken, gleichmäßig durch Schwelle um Schwelle, wie ein Stier die Pflugschar durch den Ackerboden. Sie hatten alle große Augen, die Eisenbahner und die Soldaten. Die größten hatte Racke. Er hatte ja wohl als einziger überhaupt nicht gewußt, was da erdacht, konstruiert und soeben ausprobiert worden war. Aber die Vorzüge dieser Art der Zerstörung der Schienenwege, wenn sie aufgegeben werden mußten, gegenüber dem zeitraubenden und lebensgefährlichen Sprengverfahren waren außerordentlich. In der anschließenden Unterhaltung erfuhr er nun den Vorgang. „Sprengt doch - zum Donnerwetter nochmal - diese verfluchte Urwald-Bahnlinie endlich in Fetzen! „hatte der Kommandant von Brjansk getobt, als ihm die Entführung der Versorgungszüge durch Partisanen gemeldet worden war. Der Oberst der Eisenbahnpioniere hatte gemütlich gesagt: „B'fehl, Herr General!“ der Adjutant aber hatte seinem Oberst zugeflüstert: „Wissen Sie, was das bedeutet, fünfzig oder auch nur fünfundzwanzig Kilometer Gleise zu sprengen in einem Wald ohne Ende, der von Partisanen wimmelt wie eine Kate von Wanzen? Wir sehen von der Kompanie, die den Auftrag erhält, keinen Mann mehr. Sie ist aufgerieben, noch ehe sie auch nur einen Kilometer weit gesprengt hat.“ Sagte der Oberst: „Sie muß eben einen Schutzkordon erhalten.“ „Dazu wäre ein ganzes Regiment nötig“, belehrte ihn sein Adjutant.
Das Regiment konnte nicht gestellt werden, aber der Panzerzug der Luftwaffe. Und da sagte irgendwer: „Der sollte die Zerstörung selbsttätig durchführen können.“ Und ein anderer: „Man müßte ihm an einer langen Verbindungsstange eine Art Sämaschine anhängen, die Sprengpatronen mit Zeitzündern unter die Schienenstöße steckt.“ „Viel zu kompliziert! Einfach an armdicken Ketten oder Federn schwere zackige Eisenklötze anhängen wie Schleppanker. Die schlagen den ganzen Kram kurz und klein.“ „Vielleicht teilweise, aber bald werden die Ketten oder Federn reißen. Und wo soll man sie und die zackigen Eisenklötze herbringen?“ Wehrmacht und Eisenbahner unterhielten sich darüber. Am anderen Morgen war die Idee mit dem hochziehbaren Reißhaken am Panzerzugschluß geboren. Das war vor drei Tagen gewesen. Die Bw-Werkstatt hatte sich an die praktische Lösung dieser Aufgabe gemacht. Und nun konnten sie sich das Ergebnis betrachten: Sämtliche Schwellen der hundert Meter Bahnkörper waren etwa in der Mitte gebrochen und kaum eine Schiene übrig geblieben, die noch brauchbar war. Und nicht ein Gramm Sprengstoff war dazu nötig gewesen, nur ein Mann, der das Reißgerät niederfallen ließ und wieder hochdrehte. Wahrhaft wie eine Pflugschar die Erde auseinanderbricht, hatte dieses einfache, aber unwiderstehlich starke, scharfe Werkzeug die Schwellen zerbrochen. „Schwellenpflug.“ Auch wer diesen Namen zuerst genannt hatte, konnte später niemand mehr sagen. Später, das war am nächsten Abend, als der Panzerzug von der Urwaldstrecke zurückkam. Dreißig Kilometer weit war er eingedrungen. Es war zu keinem Gefecht gekommen. Zwar hatten die Banden Werfer und Geschütze genug, aber auch hier zeigte sich, daß sie Kämpfen auswichen, sofern sie es konnten, wenn von vornherein mit größeren Verlusten gerechnet werden mußte. Natürlich gelang es den SS-Polizeiund Landesschützeneinheiten, die dem Panzerzug zugeteilt waren, wenn auch nur anfänglich und nicht ohne eigene Verluste, kleinere Partisanengrüppchen überraschend zu stellen und aufzureiben. Mehrere Lager und Dörfer wurden niedergebrannt. Dann fuhr man zurück. Der Stahlhaken fiel und die Schwellen barsten, die Schienen wanden sich zu Schlangen. Innerhalb zwei Stunden waren dreißig Kilometer Schienenweg
unwiederherstellbar zerstört. Aus Brjansk fuhren die Banditen in Zukunft keine Züge mehr in die Wälder. Racke hatte die Razzia und die Zerstörungsfahrt des Panzerzuges mitgemacht. Er schrieb noch in der Nacht seinen Bericht an das Ministerium über die aus der Frontpraxis erfundene Vereinfachung der Streckenzerstörung. Aber „Pflug“ erschien ihm nicht als die richtige Bezeichnung für ein Werkzeug der Vernichtung. Wie der Zahn eines reißenden Tieres erschien es ihm, eines ungeheueren Wolfes, der den Schienenweg in Stücke riß. Als er am Morgen erwachte, schrieb er über diesen Abschnitt seiner Aufzeichnungen: „Der Schienenwolf“.
15. KAPITEL
Racke gab sich Marschbefehl, aber nicht auf dem nächsten Wege nach Krolewschisna, sondern nach Konotop zum FEK 3. Er kam wenige Stunden zu spät; es war abgerückt unter Zurücklassung von zwei Toten. Die beiden Kollegen waren im letzten Augenblick noch einer Fliegerbombe zum Opfer gefallen. Konotop lag zwar weit hinter der Hauptkampflinie, aber ihre Erschütterungen waren auch hier noch zu spüren. Aus den Heeresberichten konnte man den Zerfall der deutschen Kampfkraft ablesen. Nach der Erholungspause, die die Sowjets selbst gebraucht hatten, waren sie nun wieder ständig und überall im Angriff. Sie gewannen sowohl im Räume von Isjum als auch südwestlich Belgorod an Boden. Vor Tagen schon war zugegeben worden, daß Charkow wieder verloren gegangen war. Man tröstete den freundlichen Leser: Es habe schon öfter den Besitzer gewechselt und sei nur noch ein Trümmerfeld. So also, als hätte man nicht viel verloren. Südlich und westlich von Charkow und auch bei Orel und Wjasma war dann laut Heeresbericht der Feind immerzu vernichtet und Beute gemacht worden, bis man am 30. August dieses ersten Unglücksjahres 1943 - die Räumung von Tanganrog mitgeteilt hatte. Racke schrieb an die beiden Getreuen. „Ich komme noch nicht, aber ich komme“, und fuhr über Bachmatsch-Romadan nach Poltawa. Endlose Züge mit Pak, Sturmgeschützen, Ersatztruppen fuhren zur Front, Räumungszug hinter Räumungszug entfloh ihr. In den Etappenstädten fühlte man sich keine Stunde mehr vor den russischen Panzern sicher. Racke traf den Ljubotiner Bahnmeister, der sich nun zum zweiten Male und diesmal hoffnungslos für immer von seiner Bahnmeisterei hatte absetzen müssen. Aber Kroller - so hieß er - hatte ohne Befehl - es ging ja alles drunter und drüber - noch Millionenwerte an Oberbaustoffen in Leerzüge verladen und abfahren lassen. Viel wichtiger jedoch war, daß der unerschütterlich pflichtbewußte und tapfere Mann, der in keiner Lage den Kopf verlor, mochte sie auch noch so zur Flucht treiben, aus einem liegen gebliebenen Lazarettzug, um den herum schon der Kampf tobte und der bei der Truppe als verloren galt, noch sämtliche Verwundeten mit russischen
Kastendraisinen acht Kilometer weit zu einem rückwärts herangeholten Lazarettzug durchgeschleust hatte. Racke fuhr nach Dnjepropetrowsk. Eine direkte Verbindung gab es nicht mehr. Er mußte den dreifachen Weg über Krementschug machen. In Illarionowo stieß er auf Reisinger und Killemann. Die Begrüßung war ebenso geräuschvoll wie freudig. Am 30. August war der Iwan im Räume Gorlowka und Artemowsk eingebrochen. Der neue Wasserturm in Tschassow Jar war eine Stunde vor Mittag fertiggestellt gewesen, eine Stunde nach Mittag kam der Befehl zur Sprengung. Außerhalb der Durchbruchsräume des Iwan war planmäßig geräumt worden, wie man das ja nun schon in der Übung hatte. Hinter den letzten Zügen waren die Bahnhöfe in die Luft geflogen. Ungezählte Kilometer weit hatte man Schienenstoß um Schienenstoß gesprengt. Racke fuhr dem Sprengkommando der Pioniere im SchienenLKW ostwärts entgegen, um auch diesen Einsatz aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Als er sie noch gar nicht sehen konnte, hörte er schon die ununterbrochene krachende Kette der Sprengungen. Er bewunderte diese Männer, die wie Artisten ein Spiel mit dem Tode trieben. Auch ihr Oberleutnant beteiligte sich an diesem ,Spiel'. Natürlich war Vorschrift, mit Sprengkapseln und Zündschnüren peinlich vorsichtig umzugehen. Um die Sprengkapseln scharf zu machen, hatte man eine besondere Zange. Würgezange hieß sie. Aber wo wollte man im Ernstfalle die Zeit hernehmen? Der Oberleutnant und seine Kerle machten sie grundsätzlich mit den Zähnen scharf. Ein falscher Biß und der Kopf war gesprengt und noch ein bißchen was drumherum. Man arbeitete in überschlagendem Einsatz und alles geschah im Laufschritt. Nach zwei Kilometern pfiffen die Lungen und das Herz klopfte zum Zerspringen. Dann wurde der Sprengtrupp durch einen zweiten abgelöst, der sich inzwischen verschnauft hatte. Racke erzählte dem Oberleutnant von jenem Reißhaken am Brjansker Panzerzug. „Da müßte man sich mal 'nen schweren Eisenkarren mit so 'nem Ding dran zusammenbauen“, überlegte der Pionieroffizier und bedankte sich für die Anregung. Es leuchtete ihm sofort ein, daß mit dem ‚Schienenwolf' Zeit, Material, Mühe und Verluste erspart wurden.
Illarionowo hatte nur ein halbes Dutzend Gleise, aber eine riesenhafte Güterhalle. In ununterbrochener Folge überquerten die Räumungszüge aus den ostwärts des Dnjepr noch in deutscher Hand befindlichen Gebieten den Fluß. Wenn man das Kriegsmaterial sah, das zurückgefahren wurde, unter anderem Kolosse von Sturmgeschützen, 72 Tonnen schwer, auf gewaltigen Raupen laufend, mit vierzig Zentimeter starken Panzerplatten, dann wollte man nicht glauben, daß über all das die russische Lawine hinwegzurollen vermochte; sie mußte noch weitaus gewaltiger sein. In den letzten Septembertagen war es dann so weit. Die Halle ging in Flammen auf, der Bahnhof flog in die Luft, die Strecke wurde gesprengt, noch immer Schiene um Schiene. Racke begleitete die einstige Kodeiskompanie Surfleisch nach Melitopol. Sie betrieb die Strecke von Prischib bis Akimowka, das Mittelstück der Bahnlinie von Saporoshje zur Krim. Nördlich und südlich schloß blaues Personal an. Die Front verlief im Bereich von Melitopol parallel zur Bahn. Man lag unter Artilleriebeschuß. Außerdem bekam man Tag für Tag morgens und abends Fliegerbesuch. Einmal wurden innerhalb von 48 Stunden von Schlachtfliegern 31 Lokomotiven abgeschossen. Es war schon ein mehr kriegs-als etappenmäßiges Dasein. Racke fuhr südwärts zu den Blauen. Da war keine Front im Osten, sondern das Asowsche Meer und man machte dort, kaum vom Gegner behindert, soweit es mit dem Zulauf klappte, ziemlich friedensmäßigen Betrieb zur Krim hinunter und von Dshankoj bis kurz vor Cherson hinüber, wo die Bahn im Raum der Dnjeprmündung endete. Cherson war keine Großstadt; es zählte vor dem Krieg nicht viel mehr als 80 000 Einwohner. Aber es war Schlüsselpunkt der Verwertung der landwirtschaftlichen Erzeugung des DnjeprHinterlandes und der Dnjepr-Fischerei. Ein riesenhafter Getreidesilo beherrschte das ganze Stadtbild. Er stand am zwei Kilometer langen Kai, an dem selbst die großen Seeschiffe, die vom Schwarzen Meer über den Liman hereinkamen, anlegen konnten. Er faßte, wie Racke erfuhr, 52 000 Tonnen und war aufs modernste eingerichtet. Die Ladung von 5 000-Tonnen-Schiffen wurde durch Sauganlagen in wenigen Stunden gelöscht. Umgekehrt erfolgte das Beladen durch Fallrohre ebenfalls in
kürzester Frist. Ständige automatische Bewegung und Durchlüftung des Getreides in den Silokammern bewahrten es vor Verderb. Auch die übrigen, meist riesigen Lagerhäuser der Hafenstadt waren mit landwirtschaftlichen Gütern der Ukraine bis unters Dach gefüllt. Was da an Sonderführern der Erfassung und Verwaltung und des Fluß- und Landtransportes an der Quelle saß, lebte scheinbar unberührt von dem Unheil, das sich vom Osten heranschob, auch von Partisanen kaum gestört, wie der Vogel im Hanfsamen. So nahe lag das Paradies neben der Hölle, oder umgekehrt. An den Kai schloß sich der Stadt der eigentliche Hafen an. Auf der gegenüber in die gewaltige Wasserfülle des Stromes vorspringenden Halbinsel lagen die Werften, die nicht nur Schäden ausbesserten, sondern auch Fluß- und Seeschiffe bauten. Den Abschluß des Hafens bildete eine ausfahrbare Pontonbrücke, durch die Werftgelände und Stadt mit einander verbunden wurden. Bei dieser Brücke befand sich auch die Anlegestelle für die motorisierte Fischereiflottille. Racke erfuhr von den Kollegen in Unterhaltungen, die ganze Abende und halbe Nächte ausfüllten, zahllose Erlebnisse. Zu den unvergeßlichsten Erinnerungen gehörten die Teilnahme am Störfang mit dem Widderhorn, das den wertvollen, wohlschmeckenden, durch seinen Kaviar berühmten, bis zu fünf Meter langen Fisch anlockt. Oder das Angeln der wie Schweine fetten Welse in den Labyrinthen der Altwasser. Die Jagd auf Enten aller Art, die mit anderen Wasservögeln zusammen das Naturparadies ungezählter Inseln und der Uferdschungel zu Tausenden bevölkern. Auch die Szenen, wenn ganz Cherson, Groß und Klein, die in dem braungelben aber durchsichtigen Dnjeprwasser weithin silberglänzenden Heringsschwärme verfolgt, wenn sie aus dem Schwarzen Meer zu ihren Laichplätzen an der Ingulezeinmündung wandern. Er würde allein über Cherson, Leben und Arbeit seiner Bevölkerung, über landschaftliche Schönheiten und romantische Abenteuer im Raume der Dnjeprmündung ein ganzes Buch schreiben können. Es gab Eisenbahner, Landser und Sonderführer, die für immer hier bleiben oder nach dem Kriege in das befreundete Land zurückkehren wollten, so sehr hatten sie es mitsamt seiner Bevölkerung ins Herz geschlossen. Es gab nur einen Mißton: Die
braune Parteiuniform und was sie an Eselei und Tyrannei umschloß. Unter der Zivilverwaltung und den mehr oder weniger unangenehmen persönlichen Eigenschaften der Hoheitsträger und -trägerchen litten die Deutschen aller Besatzungsdienste, einschließlich der Parteimitglieder, auch derer, die in der Heimat eine Funktion ausgeübt hatten, nicht viel weniger als die Einheimischen. Am Morgen des dritten Tages seines Aufenthaltes fühlte sich Racke sterbenskrank. Er hatte hohes Fieber, sämtliche Knochen taten ihm so weh, wie wenn sie kurz und klein gebrochen worden wären. Die Kameraden brachten ihn ins Krankenhaus. „Wolhynienfieber“, sagte der Arzt. „Schmerzhaft aber nicht gefährlich. Erreger unbekannt. In drei Tagen sind Sie wieder auf den Beinen.“ Racke glaubte nicht an baldige Genesung, er ließ über Kiew telefonisch die Generalverkehrsdirektion in Warschau verständigen. Am Abend des dritten Krankenhaustages hatte er Post auf dem Dienstweg. Eva schrieb, fröhlich, mutig, sehnsüchtig, aber glücklich. Wolf Günther werde ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommen. Diese liebe Botschaft hätte ihn gesund machen müssen, aber noch die halbe Nacht fühlte er sich hundeelend wie bei einer schweren Grippe. Er erwachte erst, als ihm durchs offene Fenster die Sonne ins Gesicht schien, und war gesund. „Sie können aufstehn. Aber langsam, das Herz wird schwach sein“, sagte der Arzt. Am Abend war wieder Post da. Sigi schrieb. In Krolew selbst sei bisher alles ruhig. Sie hätten einen Panzerzug zur Streckensicherung bekommen. Trotzdem vergehe keine Nacht, ohne daß der Hilfszug hinausmüsse, um gesprengte Gleise auszubessern und Lokomotiven und Wagen aufzugleisen. Die zerstörte Nebenlinie Woropajewo-Druja sei nicht wiederhergestellt worden, weil andere Arbeiten immer wieder dringlicher gewesen seien. Nun hätten die Partisanen am Anfang und Ende des zerstörten Teiles Plakate angebracht mit der Aufschrift: „Wann gedenkt die Reichsbahn, die Strecke wieder herzustellen? Wir haben nichts mehr zu tun.“ Auf den Überlandstraßen, hauptsächlich der Rollbahn PolozkMinsk könnten Pferde- und Motorfahrzeuge nur noch im Geleitzug
und unter dem Schutz schwerer Waffen verkehren. Einzelne oder nur wenige Fahrzeuge ohne SMG- und Pak-Begleitung würden mit Sicherheit abgeschossen oder fortgeführt; man fände dann nur noch die Leichen. Da war noch ein Nachsatz: „Vor 3 Wochen stand plötzlich das Mädchen da. Du weißt schon, wen ich meine. Wir haben ihr gesagt, daß du wiederkommen würdest, aber wann wüßten wir nicht. Sie arbeitet im Güterschuppen. Mindestens einmal jeden Tag läuft sie mir oder Sepp über den Weg. Sie sagt kein Wort, sie schaut uns nur fragend an. Wir schütteln den Kopf und dann verschwindet sie wieder.“ Racke sah mit frohen Augen auf diese Zeilen. Janka war doch ein Teufelskerl! Wie das nun wohl wieder zugegangen war? Sicher war sie auf dem Transport nach Deutschland entflohen. An Eva schrieb er: „Ich bin ganz verrückt vor Freude! Überanstrenge Dich jetzt ja nicht! Zu Weihnachten nehme ich Urlaub.“ „Morgen kann ich Sie entlassen“, sagte der Arzt. „Aber gehen Sie noch einen Tag spazieren.“ Die Dienststellen waren zum ersten Male unruhig. Schlimme Gerüchte gingen um: Die Roten stünden vor Saparoshje und Dnjepropetrowsk. Die Strecke nach Melitopol-Dshankoj werde geräumt. Die deutschen Truppen zögen sich auf das Westufer des Dnjepr zurück. Racke schrieb an die Freunde, daß sich die Rückkehr nach Krolew noch einmal verzögere. Sie sollten Janka grüßen und ein bißchen auf sie aufpassen. Er fuhr über Apostolowo nach Saparoshje. Rückzug? Wieso? Kein Mensch wußte etwas davon. Im Gegenteil, es werde wieder vorwärts gehn. Starke Reserven seien im Anrollen. Racke atmete auf und fuhr nach Melitopol hinunter. Je näher er der Stadt kam, die an dem nach Osten vorspringenden Knie der Strecke lag, um so unaufhörlicher rollte der Frontdonner. Es war alles beim alten. Artilleriefeuerüberfälle und morgens und abends Fliegerangriffe. Die Eisenbahnpioniere hausten jetzt ganz im Bunker, wenn sie nicht auf den Dienstposten sein mußten. Zugleich mit Racke traf die Nachricht von einem furchtbaren Eisenbahnunglück ein. Zwischen Akimowka und der vorhergehenden kleineren Quetsche waren ein Truppentransporter, der von der Krim heraufgekommen war, und
ein Versorgungszug auf dem Weg nach Süden zusammengestoßen. Beide Lokpersonale, das blaue und das feldgraue, waren tot, auch ein Teil beider Zugbegleitpersonale. Dazu zwischen fünfzig und hundert Landser. Die genaue Zahl stand noch nicht fest. Natürlich hatte es auch eine Unzahl Verletzte gegeben. Die Flak-Schutzwagen vor den Lokomotiven waren völlig zertrümmert, die vorderen Wagen des Transportzuges ineinandergefahren. Die Leichen mußten stückweise geborgen werden. Die Ursache des Unglücks war noch nicht bekannt. Die Fernsprechleitungen seien zerstört gewesen. Man munkelte auch, das Bahnhofspersonal habe seinen Posten aufgrund eines panikerregenden Alarms verlassen. Russenpanzer sollen im Anrollen gewesen sein, hätten aber wieder abgedreht. Die Eisenbahnpioniere schwemmten die dumpfe Erschütterung mit Schnaps die Hälse hinunter, schoben Wache, spielten Karten. Das Leben war zur Ramschware geworden, es wurde ausverkauft. Da fuhren Landser, glücklich über die ,Friedenspause', die der Transport für sie bedeutete, plötzlich in ein gräßliches Ende hinein! „Komm, sauf!“ prostete Killemann Racke zu. „Morgen sind wir dran! Vielleicht noch heute!“ Er war nicht mehr Heizer, er fuhr selbst eine Lok. Er war auch nicht mehr der frische Junge wie damals in Kastornaja. Anderen Tages sickerte durch, daß im Norden bei den Blauen der planmäßige Rückzug Richtung Saporoshje begonnen habe. Das Gerücht bestätigte sich. Bei Prischib war die Zerstörung der Strecke bereits in Angriff genommen. Sie warteten stündlich auf den Räumungsbefehl für ihren Bezirk, er kam nicht. Statt dessen kam die Nachricht, daß der Russe am Südende ihres Bezirks durchgebrochen sei und sich in Akimowka häuslich einrichte. Über das Schicksal der dortigen Eisenbahner war nichts bekannt. Nun saßen sie also auf einer Insel. Dennoch kam kein Rückzugsbefehl. Sie holten aus eigener Initiative ihre Lokomotiven zusammen, 17 waren es noch, und brachten den Lokzug über die vorsorglich um Melitopol herum gebaute Umgehungsbahn in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht, die den Iwan durch einen unerwarteten Vorstoß vorübergehend von der Bahn zurückdrängte, nach Dshankoj. Von dort konnte er noch über Armjansk hinaus westwärts gefahren werden, ging aber die
Krim verloren, war auch all das verloren, was man jetzt unter Einsatz des Lebens noch rettete, denn man fuhr es ja in eine Sackgasse. In der Nacht platzte ein Unteroffizier in den Bunker mit der Alarmnachricht: „Russische Panzer im Stadtbereich!“ Sie zogen sich aus dem Bunker, in dem man wie eine Maus in der Falle gewesen wäre, und aus dem unübersichtlichen Bahngelände nach dem tausend Meter westlich liegenden Feldflughafen zurück. Er wurde gerade zur Sprengung vorbereitet. Als am Morgen die Lage zu übersehen war, wurden die noch im Bw stehenden drei Lok, die man für alle Fälle zurückbehalten hatte, nach Prischib abgefahren. Von dort ging es zwar nicht mehr weiter und wenn kein Gegenstoß die Strecke wieder in deutsche Hand brachte, hätte man sie auch gleich hier zerstören können, aber man mußte eben allen Möglichkeiten Rechnung tragen. Der Kompanieführer zog seine Bahnhofsbesatzungen in der kleinen nördlichen Nachbarstation von Melitopol zusammen und trat von dort aus mit ihnen den Marsch durch die Steppe an, Ziel Nikopol. Sie bekamen schließlich Funkverbindung mit dem Regimentskommandeur und nach zweitägigem Marsch kam ihnen eine Staubwolke entgegen. Eine LKW-Kolonne holte sie ab. Wieder einmal waren sie dem Iwan entkommen. * Es war Oktober geworden, der Rückzug der Eisenbahner allgemein. Feldeisenbahner, blaue Eisenbahner, Eisenbahnpioniere setzten sich in überschlagendem Einsatz von der westwärts wogenden Front ab; bald waren die einen, bald die andern am nächsten am Feind. Man war jetzt aber mitten im großen Bereich der Hauptverkehrsdirektionen und so waren es weit überwiegend die Blauen, in deren Händen der Betrieb bis zur letzten Stunde des Besitzes der Bahnhöfe und Strecken in der Westukraine lag. Reisingers Haufen wurde nach Nikolajew in Marsch gesetzt. Racke machte sich auf die Reise nach Krolewschisna. Aber „erstens geht es anders, und zweitens als man denkt“, zumal im Kriege. Zunächst kam er in Bobrinskaja in einen Fliegerangriff
und traf im Splittergraben zum dritten Mal nun einen alten Bekannten, den Ljubotiner Bahnmeister. „Wie klein ist Rußland!“ lachte der Überraschte. Aber an dieser Begegnung wurde beiden erschreckend klar, welche Riesenräume in nur etwa zwei Monaten von den Sowjetarmeen zurückerobert worden waren. Der Einsatzraum der ehemaligen Ljubotiner Bahnmeisterei war der Abschnitt Swenigerodka-Uman der wichtigen Querverbindung von der Hauptstrecke Kiew-Dnjepropetrowsk zur Hauptstrecke Lemberg-Odessa. Auch in dieser Gegend, am Rande des Tscherkassy-Kessels, in dem 1941 viele kämpf frische sowjetische Divisionen sich ergaben, nun, 1943, einige zusammengeschrumpfte deutsche Divisionen den Stalinorgeln und Riesenpanzern zäh und verbissen standhielten, wurden die Partisanenanschläge häufiger. Gleissprengungen und Überfälle auf kleine Bahnhöfe und Blockstellen waren jetzt selbst hier zu verzeichnen, wo die Bevölkerung zwar die Parteiuniformierten genau so haßte, wie sie die bolschewistischen Kommissare gehaßt hatte, in ihrer großen Mehrheit aber den deutschen Soldaten und vor allem den blauen Eisenbahnern ihre gute Gesinnung bewahrt hatte. Kroller, als Mensch ein recht stiller aber zäher Stammesgenosse Götz von Berlichingens, schleppte Racke in seinen Bezirk. Und da es von hier aus nicht mehr umständlich und nicht mehr allzu zeitraubend war, man ihm auch etwas von Tausenden von Eisenbahnwagen, die ins Schwarze Meer gefahren wurden, ins Ohr geflüstert hatte, fuhr Racke nun auch gleich vollends nach Odessa weiter. Das Besatzungs- und das friedensmäßig aufgezogene Verwaltungs- und Wirtschaftsleben in dieser bedeutendsten Handelshafenstadt der Sowjetunion, die nicht nur ihrer Einwohnerzahl von einer halben Million, sondern auch ihrem baulichen Gepräge und ihren kulturellen Einrichtungen nach Großstadt war, schienen von der Lage an der Front wenig berührt zu sein. Die Bahnhöfe Odessas waren auch jetzt noch vollgestopft mit Zügen aller Art, obgleich schon damit begonnen worden war, Luft zu schaffen. Hier waren Tausende von Wagen mit Räumungsgut abgestellt, mochte der Teufel wissen, wo das alles hergekommen und weshalb es nicht laufend weitergeleitet worden war. Vielleicht waren keine weiteren Fahrtziele angegeben gewesen. Vielleicht
auch hatte man das alles in diesen frontfernen Winkel gefahren, um die nördlichen Strecken möglichst den Truppen- und Versorgungszügen für die Kampfräume freizuhalten. Dabei hatte man wohl angenommen, daß sie hier dem Zugriff der Sowjetarmeen ein für allemal oder wenigstens für sehr lange Zeit hinaus entzogen wären. Jetzt, wo man an verantwortlicher Stelle erkennen mußte, daß man trotz allem bei Todesstrafe vorgeschriebenen Glauben an den Endsieg die Möglichkeit eines Verlustes der Hauptstrecke nach Kiew in Rechnung zu stellen hatte, sollten die Züge Hals über Kopf fortgejagt werden. Jedem Betriebsfachmann war klar, daß man sie in der voraussichtlich noch zur Verfügung stehenden Zeit bei weitem nicht alle hinausbringen konnte. Also mußte das wertvollste und unentbehrlichste Gut zuerst gefahren, das weniger wichtige - Schrott und ähnliches - zurückgestellt, das bedeutete praktisch vielfach: aus dem Wege geräumt werden. Es blieb, um aufgelockerte Betriebsverhältnisse zu schaffen, gar nichts anderes übrig als entschlossene Betriebsbrutalität, mochte sie dem Eisenbahner selbst auch noch so sehr ins Herz schneiden. Man legte mehrere Gleise bis an die Steilküste und drückte das zur Vernichtung verurteilte Material hinaus. Züge um Züge, Hunderte von Wagen mit und ohne Ladung stürzten über die zwanzig, dreißig Meter hohen Wände und Hänge hinunter auf den Sand- und Geröllstreifen, bildeten brennende, rauchende Trümmerberge bis ins Meer hinein. Da standen Lokführer und Ladeschaffner, da standen Rangierarbeiter, Bahnhofsvorsteher und Reichsbahnräte. Die einen lachten, aber es war ein merkwürdiges, ein verzweifeltes Lachen. Die andern fluchten, fluchten Zorn und Schmerz aus sich heraus. Mit schwerem Herzen fuhr Racke wieder nach Norden. In Miropol traf er viele bekannte Feldeisenbahner. Konotop lag für sie weit zurück. Sie machten auch nicht Betrieb, sondern Wachdienst und Kleinkrieg. Das Kommando selbst befand sich schon seit Wochen noch weiter rückwärts. In Rowno. Rowno? Ein Name aus den Anfangstagen des Ostfeldzuges! Sie waren im Zweifel, ob es überhaupt noch eine zusammenhängende Front gab. Nicht nur Partisanen, auch rote Truppen operierten nach Herzenslust in der deutschen Etappe
herum, kamen, richteten Unheil an, bekamen ein paar blutige Köpfe auf Gegenseitigkeit und verschwanden wieder. An den Bahnstrecken lagen ungarische Truppen. Ihre Offiziere waren temperamentvoll kameradschaftlich und gastfreundlich. Die Ungarn hatten keinen besonderen Militärbeamtenapparat, kommißmäßig verbürokratisiert bis auf das letzte Milligramm. Ihre Intendanten und Zahlmeister wurden einfach aus dem Offizierskorps genommen. Natürlich führte das nach der entgegengesetzten Seite zu Mißständen. Aber diese Mißstände beeinträchtigten nicht die Soldatenlust, sondern hoben sie. Auch die Weinzüge, die aus ihrem traubengesegneten Heimatland mit der Regelmäßigkeit und der Dringlichkeit wichtigster Versorgungszüge anrollten, trugen zu der Milderung aller Spannungen von der menschlichen Seite her bei. Allerdings entsprach dieser angenehmen charakterlichen Verfassung auch eine freundliche Lässigkeit in der Disziplin, im Verantwortungsbewußtsein und im Kampfeinsatz. Man handelte, wo möglich, nach dem stillen Grundsatz: Leben lassen und am Leben bleiben. Auf dem Bahnhof Schepetowka rannte Racke mit einem Leutnant zusammen. Beide entschuldigten sich gleichzeitig und beide lachten gleichzeitig laut auf. Der kleine Leutnant war Reichsbahnoberrat Brandner, der große Chef der maschinentechnischen Abteilung des FEK 3. „Kommen Sie mit nach Stary Konstantinow“, lud er ihn ein. „Dort ist unsere Maschinenabteilung 3 eingesetzt. Soldatisch natürlich.“ Racke fuhr mit und es lohnte sich für die Ergänzung seiner Aufzeichnungen über die Feldeisenbahner. Brandner wußte viel zu erzählen. Die Abfahrt des Kommandos von Konotop unterm Bombenhagel hatte er zwar nicht miterlebt; er war in der letzten Augustwoche in Urlaub gefahren. Als er zurückkam, wußte er nicht, wo er seine Dienststelle suchen sollte. Partisanen ersparten es ihm, lange umherirren zu müssen. Auf der Fahrt von Kowel ostwärts fuhr der SF-Zug eineinhalb Kilometer vor Miropol auf eine Mine. Eine Lok kam mit zwei Plattformwagen zu Hilfe und siehe da: Sanitätspersonal und ein Unterarzt des Kommandos waren dabei. Ausgerechnet in Miropol befanden sich Teile des Stabes. Der Kommandeur selbst saß in Shitomir. Viele Kameraden waren nach dem Westen gekommen, andere ins
Donezbecken kommandiert zur Hilfe bei der Räumung. Anfang Oktober bezog das Kommando Winterquartier in Rowno. Oberst von Bergen wurde durch einen Major Tuff abgelöst und in die Heimat versetzt. Auch in Offizierskorps gibt es Intriganten. In den Städten ging es von Woche zu Woche toller zu. Die Partisanen wurden immer dreister. Deutsche konnten sich selbst am hellen Tage nur noch in Gruppen sehen lassen und mit stets schußbereiter Waffe. In Soldatenheimen, Kinos, Dienststellen platzten Bomben. Generale und höchste Beamte wurden am hellen Tage, einer zum Beispiel in den Teppich seines Dienstzimmers gewickelt, entführt oder erschossen. Nie hatte es so viele spurlos verschollene Offiziere und Landser gegeben. Mit Hilfe der dazu gepreßten Bevölkerung montierten Banden in den Nächten die Strecken ab, daß nicht einmal der Bahnkörper selbst übrig blieb. An den Übergängen wurde oft erschossenes Vieh aufgefunden. Es stammte aus Trecks, die von Partisanen weggeführt wurden. In Unsicherheit über das Geräusch, das die Tiere machten, wurde nachts von Halte- oder Stützpunkten aus mit Maschinengewehren darauf geschossen. Es war auch gefährlich, sich in der Nacht einem eigenen Stützpunkt zu nähern, wenn man die örtlich ausgegebene Parole nicht wußte und nicht schon von weitem brüllte. Auf deutsche Uniform, gleich welcher Art, war ja kein Verlaß. Vor kurzem war von einer Streife ein LKW angehalten worden. Erst im letzten Augenblick hatte man erkannt, daß es sich um Partisanen handelte; sie hatten nämlich die Auszeichnungen auf der rechten Brustseite angebracht. Rackes Abstecher mit Brandner lohnte sich auch noch aus einem anderen Grunde. Der Bw-Vorsteher von Stary Konstantinow, ein Inspektor aus Niederbayern, betrieb im Nebenberuf einen kleinen Gutshof für die menschenwürdige Verpflegung der gesamten Bahnhofsbelegschaft. Abgesehen von der Schweineherde belief sich der Viehbestand zur Zeit noch auf 18 Ochsen und 50 Hammel. Das auffallendste an diesem Manne war der komische Sitz der Mütze auf dem borstig hochstehenden, spannlangen Haar und der feldgraue Lederbesatz auf der blauen Eisenbahnerstiefelhose. Er hielt nämlich auch mehrere Pferde und ritt selbst einen vorzüglichen Eisenschimmel, den er einem rumänischen General im Spiel abgewonnen hatte.
Vollmers Begrüßung lautete: „Ja grüß Gott, Herr Oberrat! Grüß Gott, Kollege! Wollt's a Knöchelsulz oder echt niederboarische Schwarzbrotknedel mit Wammerl?“ Sie entschieden sich für das zweite Angebot. Es war ein so ungewöhnlicher Genuß, daß sie erst zu essen aufhörten, als sie befürchten mußten, daß ihnen trotz reichlicher alkoholischer Verdauungshilfe der Magen platzte. Tags darauf fuhren sie noch gemeinsam nach Rowno. Nur 800 Mann, von denen über die Hälfte Eisenbahner waren, standen zur Verteidigung der Stadt bereit, wenn über kurz oder lang, wahrscheinlich über kurz, auch nach ihr der Iwan wieder greifen würde. Durch einen Hexensabbat von Schießereien und Sprengungen kam Racke in den nächsten beiden Tagen über Sarny, wo er Hauptmann Martini traf, der mit seiner Feld-Maschinenabteilung mehrere Stützpunkte besetzt hatte, quer durch die Pripetsümpfe nach Luniniec und weiter nach Minsk. Dort ging alles seinen Gang. Man verhinderte an Anschlägen, was zu verhindern war, im übrigen hatte man sich an die Unabwendbarkeit Tausender von Gleissprengungen und einiger Dutzend hochgehender Minen gewöhnt. Der Zähigkeit und Gerissenheit der Partisanen im Zerstören entsprachen der Zähigkeit und Gerissenheit der Eisenbahner und ihre zur Virtuosität gesteigerte Schnelligkeit in der Wiederherstellung. Es war lächerlich, aber Racke hatte Herzklopfen, als sein Zug in Krolewschisna einfuhr. Vielleicht hing das mit dem raschen Klimawechsel zusammen. Er kam aus der Oktoberhitze der südlichen Steppen und der Fieberschwüle der Schwarzen MeerLandschaft. Hier aber fiel das Herbstlaub erfroren von den Bäumen und Büschen und vom sturmverwehten Wolkenhimmel der erste Schnee. Er stieg beim Aussteigen Schepperl buchstäblich in die Arme. „Ja mi leckst!“ staunte Schepperl, pustete seine Schnupftabakkrümel aus der Nase wie die Lok den Ruß aus dem Schlot, packte ihn an beiden Schultern und rüttelte ihn hin und her. Die Freunde waren umgezogen. Ins bisherige Quartier des Bahnhofspersonals waren die obdachlos gewordenen Bw-Kumpel eingerückt. Lokschuppen und Werkstatt waren wieder aufgebaut mit den Steinen der Schulhausruine, die abgebrochen worden
war. Eine neue Landesschützenkompanie lag im Ort. Der Panzerzug stand für seine Streckenüberwachungsfahrt bereit, der Hilfszug für seinen allnächtlichen Einsatz. Das gehörte nun eben mal zum Leben wie das tägliche Brot. Von der Druschina hatte man nichts mehr gesehen und nichts mehr gehört. Von den Partisanen hatte man persönlich nichts zu befürchten, wenn man ihnen nicht auf den Leib rückte. Die Verbotstafeln, die ihre Waldreviere abgrenzten, waren um einige vermehrt worden. Wer das ,Paradies' trotzdem betrat, tat es auf eigene Gefahr. Ihr Luftverkehr ging weiter. Die Signale wurden in einer bisher undurchsichtigen Reihenfolge täglich gewechselt. Den Vogel der Frechheit schoß der ,Partisanenchef ab, als er an den Leiter der Kornmühle in gutem Deutsch ein höfliches Schreiben richtete mit dem Ersuchen, an drei Tagen in der Woche die Mühle den Partisanen zur Verfügung zu stellen, widrigenfalls sie niedergebrannt werde. Daß die Brandlegung nicht zu verhindern sein würde, war jedem klar, es war aber besser, wenigstens die halbe Woche für die Versorgung der deutschen Besatzung mahlen zu können, als überhaupt nicht. Man hatte zweifellos ein noch größeres Interesse an der Erhaltung der Mühle, als der Gegner. Der würde sich auch auf andere und wahrscheinlich die deutsche Versorgung viel schwerer schädigende Weise in den Besitz der nötigen Mehlmengen setzen. So nahm man den Vorschlag an. Am Abend des dritten ihrer Mahltage verließen die paar Deutschen die Mühle, am Morgen nach dem dritten der Partisanenmahltage zogen sie wieder ein. Die Arbeitskräfte waren offenbar die gleichen. Man wußte das nicht genau und niemand öffnete den Mund darüber. Das Übereinkommen wurde von beiden Seiten ehrlich und ohne Hinterhalte eingehalten und alles ging reibungslos vonstatten. Die drei alten Freunde saßen im Quartier zusammen und feierten Wiedersehn. „Rumtreiba!“ knurrte Schepperl und knallte zwar kein ganzes Kalb, aber einen mit Pan Jupps Einflußnahme in der Küche eingehandelten ,Kalbskopf garniert' auf den Tisch, Brot dazu und eine Flasche von seiner Geburtstagssendung eisern zurückgestellten echten Steinhäger. Dann ging's ans Erzählen. Soviel Racke zu berichten wußte, so wenig wußten die zwei andern über das Leben in Krolew zu
sagen. Nur eines hatte sich geändert: Janka arbeitete seit einigen Tagen nicht mehr im Güterschuppen. „Warum nicht?“ Sie wußten es nicht genau. Es hieß, daß wieder einmal Arbeitskräfte verschickt würden. Auch andere Frauen blieben seither ihren Bahnarbeitsstellen fern. „Habt ihr sie auch nicht mehr gesehen?“ Nein, seither war sie ihnen auch nicht mehr über den Weg gelaufen, so wie zuvor jeden Tag. Racke war wütend. Wahrscheinlich war Janka nun in die Wälder gegangen. Er schlief schlecht in dieser Nacht. Vielleicht hatte er sich den Magen zu voll gestopft. Am Vormittag lief er ziellos im Bahnhofsgelände herum, durchs Bw, zum Güterschuppen hinüber, zur Bahnmeisterei hinaus. Nach dem Essen machte er sich mißgelaunt an seinen Bericht über den Odessaer Züge-Friedhof. Als es schon dämmerte, kam Schepperl herein. „Kimm!“ sagte er, sonst nichts. Racke hörte mitten im Satz zu schreiben auf und ging mit; eine Frage war überflüssig. Sie kamen zum Empfangsgebäude. „Drie'm“, knurrte Schepperl, „am Gütaschupp'n.“ Eine Serie auffallender Wagen auf dem Frontgleis versperrte Racke den Weg. Eben rollte die neue Lok aus dem Bw an, wurde auf den Zug gestellt. Aus dem Dienstraum des Bahnhofsvorstehers trat ein hochgewachsener Mann mit einigen Begleitern. An die Stelle der ,Passanten', jener goldumlitzten roten Querlappen mit und ohne Rosetten als Abzeichen für Beamte vom Reichsbahnrat aufwärts, waren wieder angemessene geflochtene Schulterstücke getreten, die allerdings nicht mehr wie im ersten Kriegsjahr mit denen von Generalen oder Admiralen zu verwechseln waren. Es war Abteilungspräsident Halden. Racke konnte nicht mehr ausweichen, wollte es auch nicht. Es war ihm eine Freude, diesen außergewöhnlich sympathischen Beamten, von dem eine merkwürdige Sicherheit und Helligkeit des Wesens ausging, einmal wieder begrüßen zu können. Schepperl streckte die Pratze aus und riß den Mund auf, als wollte er eine herzhafte Ansprache halten, Liebedorn jedoch, der aus dem Dienstraum der Fahrdienstleitung gerannt kam, starrte ihren gemeinsamen Schutzheiligen nur bescheiden an, aus Augen, die vor Ehrerbietung feucht waren.
„Ach, Racke!“ rief Halden. „Wie geht's? Wollen Sie mitfahren nach Polozk? Ich erkläre Ihnen dann nachher, um was es sich handelt.“ Einen Augenblick zögerte Racke mit der Antwort. Aber konnte er nein sagen? Mit welcher Begründung? Wenn ein Abteilungspräsident von Minsk nach Polozk fuhr, durch das Partisanenparadies, dann hatte das schwerwiegende Gründe. „Ich müßte nur rasch ein paar Sachen holen“, antwortete Racke. „Was brauchen Sie groß? Zwei oder drei Tage kommen Sie auch ohne Zahnbürste aus. Seife und Handtuch können Sie von mir haben“, lachte Halden. Racke warf Schepperl einen Blick zu, den Schepperl mit einem gleichartigen beantwortete, und stieg hinter Halden in den C-Wagen. Die Dienstgarnitur bestand außerdem noch aus zwei Kontrolleurwagen. Halden stellte Racke den beiden Kontrolleuren vor, die ihn begleiteten. Ferner fuhren ein Betriebsarbeiter als Betreuer des C-Wagens mit und fünf Bahnschutzmänner. Unter vier Augen erklärte Halden seinem Gast den Grund der Fahrt. In das Streckendreieck Newel-Witebsk-Polozk waren starke sowjetische Kampfgruppen eingebrochen. Feldgraue und blaue Bahnhofs- und Bw-Besatzungen waren geflüchtet. Es galt, einer allgemeinen Panik entgegenzutreten, aber auch die Lage zu klären und etwa notwendige Sonderanweisungen zu geben. Es waren bereits Truppen im Anrollen, die die Lage wieder herstellen würden. Halden und die beiden Kontrolleure schickten die Eisenbahner wieder auf die verlassenen Dienststellen, soweit sie nicht nach dem ersten Schock aus eigenem Antrieb zurückgekehrt waren. Sie brauchten nicht viel zu reden. Schon daß ein Abteilungspräsident in der Gegend herumfuhr, beruhigte und beschämte. Er wetterte nicht, er sagte auf den kurzen Betriebsversammlungen von Bahnhof zu Bahnhof: „Ich kann es verstehen, wenn mal die Nerven mit einem durchgehen, aber denkt daran: Das Davonlaufen ohne Rückzugsbefehl oder ohne unmittelbare Feindberührung kostet bestimmt das Leben, dem russischen Soldaten aber kann man im letzten Moment noch entkommen. Also ausharren und seinen Dienst machen, aber immer auf dem Sprung sein! Es ist zweifellos besser, ausgezeichnet, als erschossen zu werden.“
Dann erzählte Racke von seinen Räumungs- und Fluchterlebnissen. Er färbte nicht schön. Dennoch ging Zuversicht von ihm über auf alle, deren Veranlagung zur Angst und Drang zur Selbstrettung nicht stärker waren als der Wille zur Mannhaftigkeit. Und zum Schluß sagte er immer ganz ruhig: „Ihr kennt den Bolschewismus von Angesicht zu Angesicht. Wollt ihr, daß die Roten Armeen über euere Frauen und Kinder kommen?“ Am Abend des sechsten Tages waren sie wieder in Polozk. Zur Heimfahrt ließ Halden seinen Dienstzug an einen kurzen Leerzug anhängen. Abfahrt 5.40 Uhr. Ein Gefreiter von der schweren Flak erhielt die Erlaubnis mitzufahren. Er war Vater von Drillingen geworden und hatte einen Sonderurlaub erhalten. Der Mann war rein aus dem Häuschen vor Freude. Ob mehr der Drillinge oder des Sonderurlaubs oder des Taufgeschenks wegen, das die Batterie unter Teilnahme der Offiziere bis zum Regimentskommandeur hinauf gesammelt hatte, war nicht festzustellen. Summa summarum war anzunehmen. Sie waren bis tief in die Nacht mit den Polozker Eisenbahnern zusammengesessen und keiner wachte ganz auf, als der Zug in der Frühe anruckte und die Räder zu rollen begannen. Erst Haldens Stimme weckte die andern: „Alles aufstehn!“ rief er heiter. „Es ist gleich 8 Uhr, meine Herrn!“ Sie öffneten die Vorhänge. Der Tag kam herein. Sie gähnten, reckten sich und begannen sich anzukleiden; man war bald in Krolewschisna. Racke fuhr gerade in die Stiefel, der eine der Inspektoren zog eben die Socken, der andere die Hose an, Halden schliff schon die Rasierklinge am Handballen, da warf sie alle miteinander ein heftiger Stoß, der vom scharfen Donner eines Sprengschlags begleitet war, zu Boden. Ein wüstes Gerüttel des Wagens, Krachen und Klirren des Zuges folgte. Dem stummen Augenblick des ersten Schreckens folgten teils wütende, teils ironische Ausrufe. Dann lachten sie, jeder über die Gesichter der andern. „Na“, sagte Halden und schickte sich an, aufzustehen, „daß sie ans Heimatgleis Minen legen, kommt auch selten vor.“ „Und dann erwischen sie ausgerechnet einen kleinen Leerzug!“ brummte der Bahnkontrolleur Wasche. Er war verärgert wegen des Aufenthalts. Er wußte ja überhaupt nicht mehr, wo anfangen und wo aufhören mit der Arbeit!
Halden bückte sich wieder, die Rasierklinge war ihm entfallen, die andern knieten herum und suchten mit. In dieser Sekunde prasselten Mg-Garben durch den Wagen. In Fensterhöhe. Die Männer platschten auf die Bäuche, starrten sich an. „Glück muß der Mensch haben“, flüsterte Racke. Haldens Rasierklinge verdankten sie, daß sie in diesem Augenblick noch am Leben waren. Aber sie mußten raus! So schnell wie möglich! Das war die nächste Überlegung. Zwischen den Feuerstößen griffen sie hoch, zogen die restlichen Bekleidungsstücke zu sich herunter, zogen sie, die vielfach durchlöchert waren, im Kauern, im Liegen hastig an. Kilz, der Wagenbegleiter, stürzte herein, in Hemd, Unterhose, Socken. „Hinliegen!“ schrie ihn Halden an. Er gehorchte, sprang jedoch sofort wieder auf und zum Wagen hinaus. „Bleiben Sie bei uns!“ rief ihm Halden nach. Der Mann hörte nicht. In und beim Zug krachten Gewehre. Die Bahnschutzwache erwiderte das Feuer. Halden und seine Begleiter krochen durch die Wagen zum Zugschluß, kamen glücklich hinaus. Gerade diese letzten paar Meter des Zuges waren vom Gegner nicht einzusehen. Von der Höhe links, von der Höhe rechts schossen Maschinengewehre. Und sie alle hatten nur einfache Gewehre und eine einzige Maschinenpistole! Racke hatte nichts als die kleine Mauser. Nicht nur seine Zahnbürste, auch seine MP war infolge des unerwarteten Aufbruchs im Quartier geblieben. Er war wütend und beunruhigt. Jetzt mußte er zusehen, wie andere kämpften, und von ihnen sein Leben verteidigen lassen. Halden befahl den Bahnschutzmann mit der MP zu sich, sie wollten den Schluß des Zuges sichern. Die andern sollten sich vorarbeiten und an der Spitze des Zuges, wenn notwendig, den Kampf aufnehmen. Halden, Racke und der Bahnschutzmann sprangen auf die Ostseite des Bahndammes, ein kurzes Stück den Hang hinauf hinter eine Hecke. Es war noch mehr Schnee gefallen seit Rackes Ankunft in Krolew und das ganze Land weiß. Sie erkannten auf halber Höhe am Rande des Waldes, 150 Meter entfernt, eines der feindlichen Maschinengewehre, nahmen es unter Feuer. Sie sahen zwei Mann stürzen, hörten oben Stimmen brüllen „na bravo!“ - nach rechts! „Kommen Sie weg hier!“ rief Racke Halden ins Ohr. „Das hat doch keinen Sinn gegen diese Übermacht!“
Sie rannten über den Bahnkörper zurück, vom Zugschluß weg, suchten und fanden Deckung in einer kleinen Bodenmulde. Der Bahnschutzmann war nicht mehr bei ihnen. Das ganze Tal hinaus hämmerten die Maschinengewehre. Und jetzt schlugen bei der Lok sogar Granaten ein. Zu sehen war von den eigenen Leuten außer Kilz, der immer noch in Hemd, Unterhose und Socken planlos am Zug herumlief, niemand mehr, weder die Bahnschutzmänner, noch die Inspektoren, noch das Lok- und Zugbegleitpersonal. Mutterseelenallein kauerten die beiden in ihrem Versteck. An den Enden der Hecke drüben stürzten Gestalten vor. Sie schwangen Gewehre und Handgranaten und - Racke erstarrte: trugen Uniformen. Sie hatten graugrüne Mäntel an. Druschina! Sie stürmten auf die Dienstwagen los. Zwanzig, dreißig. Halden ging in Anschlag, Racke sagte leise „nicht“ und zog den Karabiner zur Seite. „Wir haben nur eine Chance, mit dem Leben davonzukommen: nicht entdeckt zu werden.“ Die Bande schleppte Benzinkanister herbei, plünderte die Wagen aus, steckte sie in Brand, verschwand wieder, aber das Tal hinaus nahm die Schießerei noch immer kein Ende. Daß dieser Überfall kein x-beliebiges Sonntagsvergnügen war, sondern ein genau vorbereiteter Anschlag auf den Dienstzug des Abteilungspräsidenten, war völlig klar. Die Mine war so gelegt und die Maschinengewehre waren auf beiden Seiten so aufgebaut, daß ihnen der Zug dort, wo er zum Stehen kommen mußte, mit all seinen Reisenden bei freiem Schußfeld unentrinnbar ausgeliefert war. Nur die paar Wagenmeter am Zugschluß, die im toten Winkel geblieben waren, hatten einen vollen Erfolg des Anschlags vereitelt. Daß diese Annahme, soweit es sie selbst betraf, wohl verfrüht gewesen war, kam Halden und Racke bald darauf zum Bewußtsein. Sie erhielten plötzlich Feuer. Erst glaubten sie noch an zufällig in der Nähe einschlagende Geschosse, aber dann erkannten sie, daß sie von hinten angegriffen wurden. Vielleicht hatten ihre Tritte im Schnee oder ihr Atem ihr Versteck verraten. Mit dem Näherkommen ließ sich der Gegner allerdings Zeit. „Wieviel Patronen haben Sie?“ fragte Racke, der vorsichtig beobachtete. „Noch zwanzig“, antwortete Halden.
„Bitte, schießen Sie nur, wenn Sie ein sicheres Ziel haben.“ Racke suchte nach den anderen Seiten die Umgebung ab. Dabei fiel ihm Bewegung an beiden Hängen auf, auch das Tal herein war Unruhe. Gefechtslärm lebte wieder auf, kam näher. Die feindlichen MG bauten ab, sonst war nicht viel zu sehen. „Ich glaube, Kameraden kommen“, flüsterte Racke. Er hatte sich nicht geirrt. Die Partisanen, von denen, wie sie jetzt erst erkannten, ihre strauchverwachsene Bodenkulle inzwischen beinahe völlig eingeschlossen gewesen war, verkrümelten sich mehr und mehr. Etwa eine Stunde später konnten Halden und Racke aufstehn. Sie warfen noch einen Blick auf das verschneite Fleckchen, das nun, obgleich sie keine Hoffnung mehr gehabt hatten, doch nicht ihr Grab geworden war, sahen sich kurz in die Augen und gingen langsam zum Zuge hinüber, wo Eisenbahner schon dabei waren, den noch brennenden Kontrolleurwagen abzukuppeln, damit der Brand nicht auf die anderen Wagen übersprang. Sie fühlten jetzt erst, daß sie froren, schlugen mit den Armen und stampften mit den Füßen. Der sechzigjährige Inspektor Boll hatte sich mit einem der Bahnschutzmänner in dem Wassergraben auf der linken Seite des Bahndammes unter ständigem Beschuß über einen Kilometer weit zur Blockstelle Borowe durchgeschlagen. Dort wurden sie von einer Bahnschutzwache empfangen, die es vorgezogen hatte, ihre Haut nicht zu Markte zu tragen. Wenn sie wegen jeder Schießerei losschwirren wollten, begründeten sie diese Vorsicht, kämen sie überhaupt nicht dazu, ihren Auftrag, die Blockstelle selbst zu schützen, zu erfüllen. Außerdem hätten sie geglaubt, kommunistische und nationalistische Partisanengruppen lieferten sich ein Gefecht. Der Hilfsweichenwärter war allein losgegangen, um Verbindung mit dem überfälligen, zweifellos überfallenen Zug, aufzunehmen. Er war auf den schwerverwundeten Bahnkontrolleur Wasche und einen verwundeten Bahnschutzmann gestoßen und hatte sein Hemd zerrissen, um sie zu verbinden. Wasche hatte einen Halsdurchschuß dicht neben der Schlagader und einen Schuß durch Schulter und Oberarm, der andere einen Granatsplitter im Sitzfleisch. Der grauköpfige Inspektor Boll hatte der Borower Bahnschutzwache, die es nicht einmal für nötig gehalten hatte,
sich wenigstens zu vergewissern, ob nicht Kameraden in Not waren, Beine gemacht. Auch fünf Mann Militärstreife, die gerade hinzukamen, machten sich auf, um dem überfallenen Zug Hilfe zu bringen, dessen Personal sich mit drei Bahnschutzmännern allmählich auch bei der Blockstelle einfand. Sie hatten sich durch den Wald der westlichen Höhe durchgeschlagen. Der Bahnhofsvorsteher von Podswile hatte nach Verständigung sofort Hilfe geschickt. Vier Todesopfer hatte der Überfall gekostet: Inspektor Wasche hatte die Augen für immer geschlossen. Der Wagenbegleiter Kilz war an einem schweren Brustschuß an Ort und Stelle gestorben, der Bahnschutztruppführer hatte einen Kopfschuß, der glückliche Urlauber, der zu seinen Drillingen fuhr, wurde mit einem Herzschuß aufgefunden. Kurze Zeit später traf ein Hilfszug ein mit Arzt und Sanitätern aus Glebokie und am Nachmittag schüttelten sich Abteilungspräsident und Inspektor, zu Kampfkameraden geworden, auf dem Bahnsteig in Krolewschisna die Hände. „Es ist doppelt so schön zu leben, wenn man dem Tode so nahe war“, sagte Halden.
16. KAPITEL
Die beiden Freunde hatten dienstfrei und Racke stürmte ins Quartier hinüber. Er war so von Lebenskraft und Daseinsfreude erfüllt, daß er sich vor dem Krieg und den Millionen von ihm Geschlagenen und Getöteten schämte. Woher kam ihm nur dieses Glücklichsein, das nach jedem Kampf und jeder Angst, das aus all seinem Hader mit dem Unglück dieses Krieges, der ihm doch den Vater und den Bruder genommen hatte, wieder in ihm auferstand? Wie oft hatten sich sein Leib und seine Seele im Bombenhagel, im Granatfeuer, im Kugelregen gegen den Griff des Todes aufgebäumt, sein Lebenswille gemeutert gegen Pflicht und Befehl. Wie oft hatte der Anblick tausendfachen Grauens und Sterbens sein Denken und Empfinden erschüttert! Und doch wurde er immer wieder in jene rätselhafte Erhabenheit des Denkens und Empfindens emporgerissen, die jenseits des zeitlichen Grauens und Sterbens das zeitlose Grauen und Sterben der ganzen Schöpfung sah. Seit Millionen von Jahren gebar die Erde Milliarden von Menschen und verschlang sie wieder. Wie sie Hekatomben von Pflanzen und Tieren gebar und wieder verschlang. Wie das All die Erde ausgespien hatte und wieder verschlingen würde. Was war vor dieser Ungeheuerlichkeit des Ganzen das Schicksal des Einzelnen? Schepperl und Liebedorn saßen am Tisch mit der Miene zweier armer Sünder, die zum mittelalterlichen Schindanger geführt werden. Der Eindruck auf Racke war so komisch, daß er auflachend die Mütze auf sein Bett warf und fragte: „Hat euch die Reichsbahn rausgeworfen oder geht morgen die Welt unter?“ Sie standen beide auf. Auch das war komisch. Aber keiner sagte etwas. Rackes heitere Laune schwand. „Ist was los?“ fragte er kurz. Liebedorn nickte. Schepperl murmelte: „I moan scho.“ Janka! schoß es Racke durch den Kopf. Mit Janka ist etwas passiert. „So red doch einer!“ fuhr er sie beide an. Schepperl druckste an irgendetwas herum, schüttelte den Kopf. „Da Sigi soi da's sog'n.“
Liebedorn sah Racke hilflos an, schluckte ein paarmal, da raffte sich Schepperl auf und sagte: „A Depesch'n is kemma!“ Er hatte sich räuspern müssen, um es herauszubringen. Racke herrschte ihn an: „Gib sie her!“ Und dann stieß ihm das Blut zum Herzen, obgleich er mit Gewalt alles Denken verdrängte. „I hob's net.“ „Wer hat sie dann?“ Jetzt antwortete Liebedorn: „Die Jeneralverkehrsdirexjong. Minsk hat et telefoniert.“ „Was?“ fragte Racke leise. Er konnte den zitternden Gedanken an Eva nicht mehr wehren. Er hatte ihr doch geschrieben, überanstrenge dich nicht! Vielleicht war sie auch ungeschickt gefallen. „Sollst glei hoamfahr'n“, murrte Schepperl, wie wenn er auf ihn wütend wäre und fügte nach kurzem Zögern, weil es doch einmal herausmußte, entschlossen und mit fester Stimme hinzu: „Bei'n Fliegaangriff hot's dreiß'gtausend Tote ge'm.“ Racke wurde langsam grau im Gesicht. Sein Blick wurde starr. Seine Hände krampften sich zusammen. Die Zähne mahlten aufeinander. Die Kehle wurde ihm eng. Er würgte an einem Wörtchen, würgte es endlich heraus. „Tot?“ Schepperl nickte. Er sah dabei aus, als wollte er einen unsichtbaren Maßkrug an einem unsichtbaren Schädel zerschlagen. „Der Kleene ooch“, schluchzte Liebedorn auf, sank auf den nächsten Stuhl und heulte. An Racke rührte sich nichts mehr. Vielleicht hatte er das garnicht gehört. Er stand und starrte ins Leere. Er sah aus wie ein Irrer. Und brüllte plötzlich auf. Trommelte mit der Faust gegen seine Stirne, als wollte er sich selbst erschlagen. Brüllte! Brüllte! „Warum bin ich heut morgen nicht verreckt? Warum nicht? Warum muß ich das erleben? Diese Mörder! Diese Mörder!“ Er haßte den Krieg. Er haßte Gott. Er lästerte ihn so furchtbar, daß Liebedorns Tränenfluß stockte, daß Schepperl ein heimliches Stoßgebet zum Himmel schickte: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für ihn, wenn's aa a Ketza is! Weil a doch scho vui zvui leid'n muaß...“ Racke hatte einen Stuhl gepackt, schlug ihn kurz und klein. Im Haus wurde es laut. Liebedorn rannte hinaus, Schepperl sagte
„guat is“ und schob dem Tobenden den nächsten Stuhl hin. Racke hielt plötzlich inne, starrte auf den Stuhl, starrte auf Schepperl, sagte leise: „Entschuldige, Sepp“, wandte sich ab und begann seine Sachen zusammenzutragen und zu packen. Schepperl verlor kein Wort weiter, half ihm. Die Tür ging auf. Halden kam herein. Liebedorn hatte ihn geholt. Racke richtete sich auf, sah in das Antlitz, dessen Helligkeit von einem ruhigen Ernst überschattet war, nahm die Hand, die ihm entgegengehalten wurde, fühlte einen leichten Druck und hörte Worte, die auch allmählich die Wand vor seinem Begreifen durchdrangen. „Ich fühle mit Ihnen, Kamerad Racke. Ich will Sie nicht mit Trostworten quälen. Ich will Sie abholen. Sie können gleich mit mir nach Minsk fahren. Ich habe mit meiner Abteilung telefoniert. Sie hat eine Ju ausfindig gemacht, die Sie bis Berlin mitnehmen wird. Sie startet heute nacht 2 Uhr. Dann sind Sie schon morgen abend zu Hause. Das Staatsbegräbnis für die Opfer findet erst übermorgen nachmittag statt.“ Zehn Minuten später gingen die vier zum Zuge hinunter. Schepperl trug Rackes Rucksack, Liebedorn die MP. Er hielt alle zurück, die Racke ihr Beileid aussprechen wollten. Sie meinten es gut, klar, aber jeder Blick, jeder Händedruck würde die Wunde noch tiefer reißen. Racke ging mit weiten, harten Schritten, mit verschlossenem Gesicht, eine steile Falte zwischen den Brauen. Der Schmerz brodelte in ihm wie kochendes Wasser in einem Kessel. Er sah alles, hörte alles und sah doch nichts, hörte nichts. Halden brachte ihn in einen Wagen, sagte: „Hier sind Sie allein. Es wird Sie niemand stören.“ Da lag eine Schachtel Zigaretten, da stand eine kleine Flasche Kognak, noch halb gefüllt. Da stand ein Teller mit kaltem Fleisch und Brot. Daß alles aus Pan Jupps Verpflegungslager stammte, wußte er nicht. Er rauchte nicht, er trank nicht. Er legte die Arme auf die Tischplatte und preßte den Kopf hinein. Er hörte noch Schepperls rostige Stimme beim letzten Händedruck, aber er wußte nicht, was er gesagt hatte. Er sah die Tränen auf beiden Seiten neben Liebedorns langer Nase herunterlaufen.
Freunde. Ja. Gute Freunde. Aber auch das war tot in ihm. Auch alles Freundliche, was er für Janka empfunden hatte. Er hatte sie nicht mehr gesehen. Er hatte nicht nach ihr gefragt. In ihm war nichts mehr als ein wütender, schneidender Schmerz. Von Zeit zu Zeit, wenn er ihn wie ein Fieberanfall schüttelte, krampfte er die Hände um die Stuhllehne und grub die Zähne in die Tischkante. Nur einmal, als es schon dunkel war, ging die Türe. Eine Stimme fragte: „Wünschen Sie etwas zu essen?" „Nein, danke", antwortete er leise. Es stand noch alles da. „Wollen Sie nicht Licht?" „Nein danke." Am liebsten wäre ihm gewesen, es würde nie wieder Tag, er brauchte nie wieder ins Licht zu sehen. Dann war wieder eine Stimme. „Wir sind in Minsk", sagte sie. Es war Halden. Ein Schaffner nahm Rackes Gepäck. Sie brachten ihn zum PKW, der ihn zum Flugplatz fuhr. Dort wehte ihn jener unpersönlich mitleidlos rauhe Ton an, der in ständigem Umgang mit Gefahr und Tod dem Manne eigen wird. Er tat ihm so wohl wie der Wind, der ihm den naßkalten Schneeregen ins Gesicht klatschte. Sie landeten am frühen Morgen auf dem Tempelhofer Feld. Ein Eisenbahner kam auf ihn zu, nahm sein Gepäck. Er kannte ihn schon. Dr. Dorpmüllers Fahrer Hieronymus. „Ich soll Sie zum Herrn Minister bringen", sagte er. Racke fühlte seine schwere Erschöpfung erst, als er nach so langer Zeit seinem höchsten Chef gegenüberstand. Dr. Dorpmüller drückte ihn auf einen Stuhl, behielt seine Hand in der seinen und sagte: „Racke, ich spreche Ihnen mein aufrichtiges Beileid aus. Der Krieg hat Ihnen schon neben Ihrem tapferen Bruder auch den Vater genommen. Lassen Sie mich die wenigen Minuten, die ich Ihnen widmen kann, Ihr Vater sein." Der Minister zog sich einen Stuhl her und setzte sich zu ihm, sprach in seiner ruhigen, festen Art weiter. „Ich weiß, daß es keinen Trost gibt für Ihren Schmerz. Sie müs sen ihn allein tragen. Aber glauben Sie einem alten Manne, der es am eigenen Herzen erfahren hat: Aus Ihrem Schmerz werden Ihnen größere seelische Kräfte und tiefere Weisheit des Lebens erwachsen, als Sie zuvor besessen haben. Denken Sie nicht an die entsetzliche Vernichtung des geliebten Körpers und Ihres
unschuldigen kleinen Knaben, denken Sie, daß für Ihr Weib und Ihr Kind Grauen und Leid geendet haben, daß sie zurückgekehrt sind in den ewigen Schoß der göttlichen Schöpfung, dem alles Leben entspringt und in den alles Leben mündet. Auch meines. Auch Ihres." Unter den Worten des großen Mannes, denen willig zu lauschen, sich Racke aus Gehorsam und Verehrung gezwungen hatte, wich die Starre von seinem Gehirn, von seinem Herzen. Zum erstenmal wurde er weich und hatte er bisher keine Tränen finden können, jetzt vermochte er ihrer nicht mehr Herr zu werden. „Weinen Sie, junger Freund", sprach der Minister weiter. „Je älter Sie werden, um so mehr werden Sie erkennen: Dem Glück gehört die Stunde, dem Leid das Leben. Ich beneide Sie dennoch. Um Ihre Jugend. Ich beneide Sie, weil Sie, wenn Sie dieses Massenmorden überleben, an einem neuen Geiste in der Welt wirken dürfen. Dem Geiste des Friedens aller weißen Völker untereinander, dem Geiste der Kameradschaft, der dem ihnen gemeinsamen Schicksal entspringen wird, sobald auf allen Seiten die Vernunft über den Fanatismus der Torheiten, die Wahrheit über die Lügen gesiegt hat, an denen die Welt sonst vollends zugrunde geht." Rackes Tränen versiegten, er trocknete Augen und Wangen. Der Minister ging zum Schreibtisch sagte: „Ich habe noch eine dienstliche Aufgabe zu erfüllen." Racke erhob sich sofort, trat vor ihn. „Inspektor Racke, ich möchte Ihnen zunächst meine persönliche Anerkennung und meinen Dank aussprechen für Ihre wertvolle Mitarbeit und für die Ehre, die Sie in besonders hervorragender Weise dem Rock des Eisenbahners machen. Ich bin stolz auf Sie und befördere Sie mit sofortiger Wirkung zum Oberinspektor." Er machte eine kleine Pause, griff nach einem hübschen Kästchen, das da stand und fuhr fort: „Auf Vorschlag des Herrn Generals des Transportwesens wurde Ihnen das Deutsche Kreuz in Gold verliehen. Ich habe mit Rücksicht auf Ihre Trauer davon abgesehen, es Ihnen im Rahmen eines Appells meines Ministeriums feierlich an den blauen Rock zu heften, aber ich freue mich, es Ihnen persönlich überreichen zu können.“
Racke fühlte sein Herz bis in den Hals schlagen. Er dachte im gleichen Augenblick an Eva und Wolf Günther und auf die neue Auszeichnung tropfte Zähre auf Zähre. Dr. Dorpmüller legte ihm die Hand auf die Schulter. „Noch ein letztes persönliches Wort. Sie brauchen eine durchgreifende seelische Erholung. Zwar haben Sie wahrscheinlich gerade jetzt den Drang, Ihren Schmerz zu betäuben, irgendwo in der Gefahr, im Kampf blindlings ihren Haß auf das Schicksal auszutoben. Betäubung aber ist kein Heilmittel und ich will nicht, daß sie den Tod herausfordern. Ich beurlaube Sie daher vier Wochen und ich verbiete Ihnen, vor Ablauf dieser Frist an die Front der Eisenbahn zurückzukehren. Und wenn ich Ihnen dazu einen Rat geben darf: Ziehen Sie sich irgendwo in die Einsamkeit der Natur zurück. Das braucht ihr Gemüt um zu heilen.“ *** Gegen Mittag fuhr der Schnellzug. Am Abend, nach Überwindung großer Schwierigkeiten, bürokratischen Widerstands, aber auch menschlich wohlgemeinten Abratens stand Günther Racke vor seinem Weibe und seinem Jungen. Er stand nicht vor zwei Leichen, er stand vor einem merkwürdigen mumienartigen Gebilde, gleich einer großen Alraunwurzel, das nur noch andeutungsweise menschliche Form hatte. Er mußte sich festhalten, damit er nicht umsank. Er war totenbleich. Seine Knie wankten und alles um ihn her schwankte. Niemand hätte gewußt, daß es sich um die Leichen von Eva und Wolf Günther Racke handelte, wenn nicht ein Nachbar, ein halbgelähmter Greis, Zeuge ihres Endes gewesen wäre. Er hatte mit seiner krebsleidenden Frau unter den brennenden Resten eines Hauses schräg gegenüber im Kellerraum gestanden, bis zum Halse im Wasser, das aus einem gebrochenen Rohr lief und den Keller gefüllt hatte. Die beiden Alten hatten das schmale, in Straßenhöhe liegende Kellerfenster eingeschlagen. So lief das Wasser ab, ohne bis an die Decke zu reichen und sie ertranken nicht. Zugleich bewahrte sie das Wasser vor dem Hitzetod, weil es die Glutluft darüber ein wenig milderte, sie auch den Kopf hineintauchten und ihn nur hoben, um Atem zu holen. Auch das
Wasser wurde wärmer und wärmer, aber nicht heiß, weil ja immer kaltes zufloß. Die beiden Nachbarn, die zu den wenigen mitten in diesem Inferno Überlebenden zählten, kannten Eva und sahen, als sie, das Kind an sich gepreßt, aus dem schwarzen Qualm des Hauses, in dem sie wohnte, auf die Straße lief. Sie sahen, daß sie den Mund aufriß und nach Luft rang und sich ganz weit über den Jungen neigte. Ihre Schuhe blieben im Asphaltbrei stecken. Sie taumelte mit schmerzverzerrtem Gesicht ohne Schuhe weiter, sank erschöpft nieder, versuchte, das Kind unter sich haltend, auf einer Hand und den Knien fortzukommen. Es regnete von den brennenden Häuserzeilen zur Rechten und Linken Glut auf sie nieder und plötzlich wurde sie vom Glutsog an die Feuerwand des Nachbarhauses gerissen und verbrannte. Abgesehen von 7000 in den Luftschutzkellern erstickten oder erschlagenenen Männern, Frauen und Kindern, so wurde Racke gesagt, seien Tausende von Leichen aufgefunden worden, darunter ungezählte in ähnlicher Weise Verbrannte - teils in Winkeln ausgebrannter Häuser, teils auf den Straßen und in den Höfen. Nur in Ausnahmefällen war es möglich gewesen, sie zu identifizieren. Das Wohnviertel war, Welle auf Welle, so dicht mit Sprengbomben und Luftminen, dann mit Stabbrandbomben, Phosphorkanistern und Phosphorregen belegt worden, daß Löschversuche oder irgendwelche Hilfsmaßnahmen völlig unmöglich waren. Zwanzig Straßengevierte brachen zusammen, Haus bei Haus, brannten vollkommen aus, ein einziges Feuermeer. Die Fassaden glühten wie Kohle, die Eisengerippe strahlten Weißglut aus und krümmten sich wie Würmer. Der Asphalt schmolz und brannte, wälzte sich träge wie Lava auf den Straßen bergab. Ein Feuersturm von der Gewalt eines Tornados brauste über diese grausige Stätte des Untergangs. So erfuhr Racke die Todesgeschichte Evas und Wolf Günthers. *** Durch Schnee und Frost eines neuen Winters schleppte sich der Krieg im Osten, schleppte er sich nun auch in der Heimat. Aus der Luft fiel er über das deutsche Volk her. Die Sirenen heulten und die Bombenteppiche fielen.
Wie draußen im Osten, so sanken in zunehmendem Maße nun auch im Reiche selbst die Bahnhöfe, Betriebswerke und Ausbesserungswerke, Stellwerke und Brücken in Trümmer. Wie draußen in Rußland und Polen und Italien, so wurden nun auch in Deutschland die Züge von Kampfflugzeugen überfallen, die Lokomotiven mit Bordkanonen, die Reisenden und das Zugpersonal mit Maschinengewehren abgeschossen. Auf den Landstraßen wurden die Menschen gejagt und die Bauern auf dem Felde. Reichsbahnoberinspektor Günther Racke war nach dem befohlenen Urlaub aus der traumhaften Stille der göttlichen Natur in die tobende Wirklichkeit der entgöttlichten Welt unbegreiflichen menschlichen Wahnwitzes zurückgekehrt. Sein Herz war ausgebrannt von den Flammen seines Schmerzes, seine Seele hatte sich ausgeweint. Inzwischen war das Jahr 1944 angebrochen. Überall begegnete man dem Eisenbahner mit dem KVKRitterkreuz und dem Deutschen Kreuz in Gold an den Betriebsspitzen aller Fronten und an den Leidensstätten der Reichsbahn und ihrer Männer und Frauen in allen deutschen Gauen. Wo Empfangsgebäude loderten, wo Brücken in den Flüssen lagen, wo Züge hilflos auf den Dämmen standen oder neben den Dämmen die Achsen zum Himmel streckten, die Kessel der Lok zerrissen, die Wagen von MG-Garben durchlöchert, Lokführer und Heizer tot auf ihrem Stand, weibliche Zugführer und Schaffner zwischen toten Frauen und Kindern neben den Gleisen in ihrem Blute lagen - überall war Oberinspektor Günther Racke, der Sonderberichter des Reichsverkehrsministers, und zeichnete die Chronik der stählernen Straßen auf. Er floh mit seinem Gram um Deutschland wieder in den Wilden Osten, weilte Tage und Nächte auf kleinsten Bahnhöfen und Blockstellen, im Norden des Mittel-, im Süden des Nordabschnittes, wo die Bevölkerung nicht wußte, was Freude am Leben ist, wo es fünf Jahreszeiten gab. Die fünfte war der Hunger. Seit Jahrhunderten. Er fuhr nach Süden in die Westukraine, traf nicht mehr auf den Bahnhöfen, sondern in den Wäldern zwischen Christinowka und Uman die Eisenbahner des Raumes Swenigerodka. Suchte und fand auch den Ljubotiner Bahnmeister Kroller wieder, zusammen
mit vielen seiner getreuen, noch aus Charkow stammenden Bediensteten, die ihm freiwillig und mit Frauen und Kindern bis hierher gefolgt waren, immer noch auf einen deutschen Sieg hoffend. Ihnen allein hatten er und seine Männer noch Leben und Freiheit zu verdanken. Er hatte sie vor einer Zwangsverschickung nach Deutschland gewarnt, statt sie der Kommission des Gebietskommissariats auszuliefern. So waren sie verschwunden gewesen, als sie ausgehoben werden sollten. Ein plötzlicher Angriff russischer Panzer hatte ihn vor der Verhaftung bewahrt. Und nachdem er und seine Eisenbahner vier Tage lang abgeschnitten gewesen waren, ihr Schicksal besiegelt schien, waren sie von den Ukrainern in letzter Stunde in Panjewagen quer durch teilweise von Partisanen besetzte Wälder durchgelotst worden. Nun aber galt es, Abschied von ihnen zu nehmen. Die Bahnmeisterei kam nach Rumänien. Die Getreuen mußten ihrem Schicksal überlassen werden. Würden sie sich den roten Henkern entziehen können? Racke erlebte diesen Abschied mit und sah die Tränen auf beiden Seiten, bei den Ukrainern und bei den Deutschen. Und er floh weiter vor dem Gram, der ihm das Herz aufbrechen wollte, und sah in Frankreich den Marquis, Kommunisten und Chauvinisten Arm in Arm aus den Schlupfwinkeln kommen, erlebte auch im Westen Anschläge auf die Züge nach dem Vorbild der Russen. Es hielt ihn nicht lange da drüben, es trieb ihn zurück nach dem Osten. Und er sah vom aufklärenden Fieseler Storch das sowjetische Wunder: Iwanzüge ohne Brücken und Schienen schäumend über Flüsse fahren. Und die einfache Lösung: Die Gleise lagen auf dem Eis und waren im flach drüberflutenden Wasser verborgen. Nach der Rasputiza wurden sie auf Holzbrücken genagelt, die ein bis zwei Handbreit unter Wasser lagen. Er stand an den Flüssen Italiens, sah in der Nacht Zug hinter Zug über Brücken rollen, die es am Tage gar nicht gab. Sie wurden in der Morgendämmerung in volle Deckung abgefahren und bei Anbruch der Dunkelheit wieder gebracht. Er traf viele jener Eisenbahner, denen er einst zwischen Charkow und Stalingrad begegnet war, in allen Ländern Europas, in Frankreich und Serbien, in der Tschechei und in Italien, in Ungarn und Rumänien. In Florenz stieß er auf Dr. Dornberg und Romer. Er
prallte in Budapest mit dem unverwüstlichen Brandner zusammen, der dem langweiligen ungarischen Bahnbetrieb von der maschinellen Seite her auf die Sprünge helfen sollte und staunte über ganze ungarische Armeen, die fröhlichen Muts in ihrem Lande aushielten und außer auf den Schießständen noch keinen Schuß abgegeben hatten. Er bestaunte auf den Bahnlinien Rumäniens die neuen wintersicheren Lokomotiven der Reichsbahn, die den Eifer der rumänischen Bahn anfeuern sollten. Die Verbündeten mußten auch eisenbahnerisch am Gängelband geführt werden. Racke steckte den Kopf in die Heimatdirektionen, in die Ämter der großen Knotenbahnhöfe, in die Lok- und Wagenfabriken, die Walzwerke, die nun kaum noch geringere Schwierigkeiten und Gefahren zu meistern hatten, als die draußen, wo der Donner der Kämpfe rollte. Er erhielt Einblick in die Forschungs- und Konstruktionsarbeit der Reichsbahnversuchsanstalt in München. Techniker und Ingenieure aller Zweige zerbrachen sich den Kopf darüber, wie den Eisenbahnern draußen wirksam gegen die unaufhörlichen Minenanschläge geholfen werden könnte. Man wollte der unzureichenden militärischen Bewachung der Strecken zu Hilfe kommen, entwickelte eine selbsttätige Alarmanlage. Stolperdrähte sollten unsichtbar längs der Strecke gezogen werden. Sie waren mit elektrischen Klingelanlagen verbunden und hatten leicht lösbare Brechkupplungen. Wenn der Draht unterbrochen wurde, trat die Alarmvorrichtung in Tätigkeit. Abschnittsweise Unterteilung verriet sofort, wo die Partisanen zu suchen waren. Racke war skeptisch. Es war gut gemeint, aber die Drähte würden noch gar nicht fertig gelegt sein, da hatten die Banden schon Wind davon. Am andern Morgen würde die Alarmanlage verschwunden sein und anstatt der Bahnstrecken die Schlupfwinkel der Partisanen sichern. Vielleicht gelang es jedoch, sie bei örtlich begrenzten Anlagen wie Brücken, Blockstellen, Wasserstationen vorübergehend mit Erfolg zu verwenden. Vielleicht würde es auch da und dort mal schrillen und die Partisanen verschwanden. Gut, dann war der Zweck, die Verhütung des Anschlags, erreicht. Aber in den meisten Fällen würde eine Bande trotz des Alarms unter entsprechendem Feuerschutz ihre Absicht durchführen, denn was
da an Deutschen ankommen würde, war ja zahlenmäßig und bewaffnungsmäßig der unterlegene Teil. Mehr Hilfe versprach sich Racke von der Gleisüberwachungsanlage „Güwa“. Es handelte sich um eine elektrische Meßeinrichtung, die auf Blockstellen einzubauen war und durch Stromstöße ermittelte, ob sich die Gleise im Bereich der Blockstelle in Ordnung befanden. Waren Sprengungen erfolgt oder auch nur die Laschen abgeschraubt, so zeigte das die Signalvorrichtung sofort an und die gefährdeten Züge konnten rechtzeitig angehalten werden. Man war auch dabei, ein besonderes Minensuchgerät herzustellen. Die Geräte der Wehrmacht waren für die Schienenwege unbrauchbar. Der Einfluß der großen Metallmenge mußte ausgeschaltet werden. Die Versuchsanstalt hatte daher ein elektrisches Kompensationsverfahren entwickelt, infolge der metallischen Unsymmetrien ergaben sich aber zu viele Fehlanzeigen und entsprechende Verbesserungen hätten das Gerät überkompliziert. So hatte man sich den Kopf über eine Möglichkeit zerbrochen, die Explosion der Minen herbeizuführen, noch ehe dies durch den Zug selbst geschah. Das Ergebnis dieser Bemühungen hieß „Rema“. Der Name war zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Worte seiner Nutzanwendung: Räumungsfahrzeug, das Eisenbahnminen mechanisch auslöst. Es fuhr einige hundert Meter vor dem Zug, den es zu schützen hatte, und bestand aus einem Motorwagen, der an einer zwanzig Meter langen Druckstange einen zwei Tonnen schweren Zündwagen vor sich herschob. Der Zündwagen war aus Altmaterial hergestellt, aus alten Achsen, unbrauchbaren Siederohren. Auf die Radreifen waren Raupen aufgeschweißt, die während der Fahrt starke mechanische Schwingungen erzeugten. Sie übertrugen sich vom Zündwagen her auf das Gleis und brachten dadurch die Minen mit Erschütterungszündern zur Auslösung. Kontaktminen wurden durch den Zündwagen selbst ausgelöst, weil er trotz geringen Gewichts infolge der Schläge der Schweißraupen die Schienen stärker durchbog, als eine Lok von 20 Tonnen Achsdruck. Stabminen wurden durch einen Bügel ausgelöst, wie er im Osten von den Betriebswerken selbst schon ersonnen und an den Schutzwagen angebracht war. Zur Auslösung jener Minen, die von den Partisanen selbst mit
Abzugschnüren, Brennschnüren oder elektrischen Kabeln gezündet wurden, hatte man noch ein stachliges Schleppseil angebracht, das Kabel und Schnüre abriß oder durchschnitt. Der Motorwagen fuhr unbemannt. Er wurde auf der Ausgangsstation von einem Fahrer in Gang gesetzt, der rechtzeitig absprang und auf der Lok des Zuges mitfuhr. Kam es vorher zu keinem Unterwegshalt infolge Sprengung, dann wurde das „Rema“ auf den Bahnhöfen durch ein besonderes Anhaltegestell, das der Fahrdienstleiter neben das Gleis setzte, gestoppt. Explodierte eine Mine, so schaltete ein auf höheren Luftdruck ansprechender Kontakt den Motor ab, betätigte die Vierradbremse und einen Sandstreuer und aus seiner durchschnittlichen Geschwindigkeit von 25 bis 30 Stundenkilometern kam der Motorwagen auf etwa zehn Meter vor dem Sprengloch zum Stehen. Fuhr der Zündwagen auf ein Hindernis oder in ein bereits vorhandenes Sprengloch, so wurde der Motorwagen über die in vier Teile zerlegbare Druckstange durch einen Zerreißkontakt angehalten. Hielt das Rema, so zeigte es dies dem nachfahrenden Zug durch Blink- oder Stopplicht an. Im Frühjahr traf Racke das Rema in Serbien und Polen an, bald jedoch verschwand es wieder von den Strecken. „Warum?“ fragte er verwundert in den Betriebswerken. Ganz einfach. Es hatte keinen Sinn mehr. Die Partisanen konstruierten ihre Mienen nun so, daß sie durch den darüberfahrenden Zünd- und Motorwagen erst geschärft wurden. Das Minenräumfahrzeug fuhr unbehelligt über die Mine, aber wenn nach zwei oder drei Minuten die Lok kam, dann krachte es. Also ersann das Elektrotechnische Versuchsamt der Reichsbahn ein Zusatzgerät. Im Motorwagen sollte ein Hochfrequenzsender untergebracht werden. Er hatte eine Dipolantenne am Zündwagen zu speisen. Über die Antenne schloß sich unter der Schiene hindurch ein elektromagnetisches Feld, das trotz des noch geöffneten Zündstromkreises der Mine einen Stromstoß in dem Glühzünder hervorrufen mußte. Dagegen noch ein Gegenmittel zu finden, würde auch den gerissensten Technikern unter den Partisanen und ihrer Oberleitung im sowjetischen Generalstab nicht mehr möglich sein. Aber alles dauert seine Zeit. Als Racke Mitte Juni wieder nach München kam, hatten die Versuche mit Sender und Antenne
eben erst begonnen. Es konnte Monate dauern, bis man so weit war. Die Erfindungen, an denen außerdem im Versuchsamt oder durch Beamte des Versuchsamtes bei anderen Behörden oder Privatunternehmen gearbeitet wurde, und zwar im Auftrag des Ministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion, um den Gegner allgemein technisch zu überrunden, erschienen dem Betriebsoberinspektor wie Wunderdinge. Man entwickelte zum Beispiel eine Anzahl Typen von Störsendern, um das Erkennen von Eisenbahnzielen bei geschlossener Wolkendecke oder bei Nacht durch die Radargeräte der Feinde zu verhindern. Er erfuhr zum ersten Male etwas von Gleitbomben des Gegners mit eingebauter Ultrarotsteuerung gegen Wärmeziele, wie Bahnkraftwerke, Lokomotivanlagen, Ausbesserungswerke. Tarnoder Abwehrmaßnahmen sollten gefunden werden. Vorarbeit war der Bau von UR-Geräten, mit denen die Wärmeziele vermessen werden konnten. Der Reichsforschungsrat hatte empfohlen, Tieffliegerangriffe auf Lokomotiven durch Splittergeschosse abzuwehren. Man wollte sie an den Lokomotiven anbringen, selbsttätig auslösen auf elektroakustischem Wege. Was würden die fliegenden Jäger für Augen machen, wenn der Lok-Hase plötzlich selbst Feuer spie und seinen Jäger zerfetzte! Man war weiter dabei, Raketengeschosse sowohl mit elektro akustischer als auch mit Ultrarot-Zielsteuerung zur Abwehr von Luftangriffen zu konstruieren. Wenn das einmal so weit war, dann waren die mangelnden deutschen Jagdflugzeuge und Jagdflieger ersetzt. Aber wieviel mußte zuvor noch erforscht und berechnet werden! „Man hätte dies alles vorher erfinden und herstellen und dann erst den Krieg beginnen müssen“, sagte einer der Elektrotechniker zu Racke. „Ich fürchte, daß Front und Heimat zusammenbrechen, ehe dies alles so weit sein wird.“ Auch einem anderen Übel wollte man zu Leibe gehn. Züge mit Wehrmachttransporten waren zur Abwehr von Tieffliegern mit leichter Flak ausgerüstet. Auf elektrifizierten Strecken konnten die Geschütze jedoch nicht schießen, ohne daß die Fahrleitung zerstört wurde. Es sollte nun ein optisch-elektrisches Feuergerät geschaffen werden, das den Abschuß sperrte, sobald Teile der Fahrleitung in die Schußlinie kamen.
Das Märchenhafteste für Racke aber war ein Gewehr, das die Fantasie jedes Schriftstellers und mit seiner Wahrheit Münchhausens Lügen übertrumpfte. Es besaß ein Zielfernrohr und einen Scheinwerfer, der in der Nacht irgend einen Gegenstand, einen Banditen oder Banditenhaufen mit unsichtbarem Licht anstrahlte. Das unsichtbar Angestrahlte, also für jedes andere Auge und das Auge des oder der Angestrahlten selbst nach wie vor in Dunkelheit Gehüllte, wurde jedoch mit Hilfe eines Bildwandlers taghell sichtbar für das Auge hinter dem Zielfernrohr dieser Wunderwaffe. Auf Hunderte von Metern schon konnten Partisanen, die sich in der Dunkelheit in völliger Sicherheit wähnten, abgeschossen werden. „Jeder Lokführer müßte ein solches Gewehr erhalten!“ rief Racke aus. „Ein einziges kostet 20-30000 Mark“, dämpfte der Reichsbahnrat, der ihn vertraulich in diese Forschungs- und Arbeitsgebiete eingeweiht hatte, seine Begeisterung. „Und eine serienweise, fabrikmäßige Herstellung ist bis auf weiteres auch nicht möglich. Auf Panzerzügen wurde es aber bereits mit Erfolg eingesetzt.“ „Und die kriegsentscheidende Geheimwaffe, wissen Sie etwas von ihr?“ fragte Racke. „Ja“, antwortete der Ingenieur. „Aber schon eine Andeutung, um was es sich handelt, würde mich den Kopf kosten.“ „Glauben Sie an ihre Verwirklichung?“ „Unbedingt.“ „Und wie lange muß bis dahin die Wehrmacht vor Deutschlands Grenzen noch standhalten?“ „Ein Jahr.“ Racke senkte den Kopf. Ein Jahr? Nach solchen Verlusten an Menschen und Material? Bei solchem Mangel an allem, wessen die Front bedurfte, um bestehen zu können! Ohne Möglichkeit, von der Heimat die Bombengeschwader abzuwehren! Und im Westen hatte die Invasion begonnen! Er fuhr wieder hinaus, sah, wie sich im Osten die sowjetischen Armeen weiter und weiter fraßen. Er fuhr wieder zu den Betriebsspitzen, lauschte auf den Atem der Front, gequält von seiner steigenden Furcht vor dem trostlosen Ende, das sich seinem mißtrauischen Sehen und Hören und Denken nun auch
im Westen, nur schlecht abzuzeichnen begann.
bemäntelt,
immer
untrüglicher
17. KAPITEL
Oberinspektor Schweick wurde jeden Tag bleicher vor Grimm. Zum erstenmal in seinem Leben und zum erstenmal, seh er seine Reitstiefel auf den Boden des Knotens Baranowicze gesetzt hatte, um Zugleitung und Gruppenzugleitung dieses wichtigen Bezirks zu übernehmen, war die Heiterkeit seines rheinpfälzischen Temperaments völlig in einem verbissenen Leistungswillen untergegangen. Die kleine, jünglingshaft straffe Gestalt war mit Energie geladen. Die Männer der Zugleitung und des Bahnhofs sagten, er schlafe nur noch stundenweise stehend in seinen geliebten Langschäftern. Aber war auch seine Stirne von Sorgen umwölkt, die dunklen Augen unter den dichten schwarzen Brauen verrieten keine Müdigkeit. Seit Beginn der sowjetischen Sommeroffensive im Mittelabschnitt war Baranowicze Schlüsselbahnhof für eine Truppenbewegung nach der anderen und auch mehrere zugleich. Die Decknamen der Einheiten, wie ,Magdalena' und ,Pallas', ,Hagelsturm' und Lieselotte' und wie sie alle hießen, würden die Gemüter erfrischt haben, wenn man an ihren guten Stern hätte glauben können. Wer aber gab sich noch Illusionen hin? Am 22. Juni, dem dritten Jahrestage des Einmarschs der deutschen Wehrmacht in Sowjetrußland waren die roten Armeen zum Angriff angetreten und rascher, als man je befürchtet hatte, zwischen Orscha und Borissow durchgebrochen. Was ihnen in so knapper Frist an rückwärtigen Reserven hatte entgegengeworfen werden können, war nicht imstande gewesen, den Durchbruch aufzufangen und die Einkesselung der deutschen Kräfte im Raume Mogilew-Orscha-Witebsk zu verhindern, in dem auch ein großer Teil der Eisenbahner des F.E.K. 2 und der RVD Minsk abgeschnitten und kämpfend gefallen oder in Gefangenschaft geraten war. Die sowjetischen Stoßkeile waren über die Beresina hinweg südlich und nördlich der West-Ost-Linie Minsk-Orscha in den Bezirk der blauen Direktion eingedrungen, die schon gegen Ende des Vorjahres und späterhin eine Reihe von Streckenabschnitten an die zurückweichenden Feldeisenbahner abgegeben hatte.
Damals, wie auch schon im Frühjahr 43, als die Strecken Welikie Luki-Newel an die Eisenbahn-Feldbetriebsabteilung, die Strecken Newel-Witebsk-Smolensk und Orscha-Smolensk an das Feldeisenbahnkommando 2 zurückgegeben worden waren, hatte es sich um ein allmähliches, planmäßiges Zurückweichen gehandelt, jetzt jedoch überrollten die russischen Panzer und andere schnellen Verbände die dünnen deutschen Widerstandslinien oder weit auseinander liegenden Igelstellungen, überrollten die Etappe und trieben die Stäbe aller Art, die Bau- und Nachschubbataillone, die Einheiten der Organisation Todt, die Technischen Kompanien, Feldschlächtereien, die Kriegsgerichte und Lazarette, Landesschützen, Gendarmerie, Polizei, den ganzen militärischen und halbmilitärischen Besatzungs- und Verwaltungsapparat vor sich her. Und überrollten die Eisenbahner, die ja oft als letzte standhielten und befehlsgemäß ,ohne Rücksicht auf Verluste' räumten, bis ihnen die Bahnhöfe über den Köpfen und die Züge vor der Nase und unter den Füßen zusammengeschossen wurden. Am 27. Juni hatten die Schatten, die das nahende Unheil vorauswarf, zum erstenmal die Zugleitung Baranowicze erreicht: Der Bahnhof Sluzk hatte keine Verbindung mehr mit Osipowitschi. Die wildesten Gerüchte liefen um, aber verbürgte Nachrichten waren nicht zu erhalten. Schweick hatte kurz entschlossen den Streckenabschnitt Derewczy-Sluzk in seine Zugleitung übernommen. „Niemand verläßt die Bahnhöfe“, befahl er, „so lange dies der Feind selbst nicht erzwingt! Die Räumungszüge werden weiter abgefertigt, allen anderen voran die Lazarettzüge! Denkt an das Los der hilflosen Kameraden, wenn ihr versagt!“ Kurz darauf hieß es, die Pfitsch-Brücke bei Daraganowo sei gesprengt. Nach einer Stunde kam die Meldung: „Bahnhof Dorogi wird angegriffen“. Von den zwölf Räumungszügen, die dem Bahnhof Sluzk von Osipowitschi noch angekündigt worden waren, trafen nur drei ein, darunter ein Lazarettzug. Schweick zog die Besatzungen der Bahnhöfe ostwärts Sluzk, die noch telefonisch erreichbar waren, bis Uredschje zurück. Uredschje wurde um 13 Uhr zum Spitzenbahnhof bestimmt. Am Abend dieses 27. Juni fuhr ein Kübelwagen vor. Der Kommandeur der Panzerdivision, die im Süden abgezogen und unter dem Decknamen ‚Josefine' von Kowel her auf dem
Schienenweg im Anrollen war, stieg aus. Der einarmige, grauköpfige General sagte: „Die Nachrichten sind schlecht. Wenn in zwei Tagen meine Tiger hier sind, werfen wir den Russen über die Beresina zurück oder bringen ihn wenigstens zum stehen. Wenn nicht - ist es zu spät.“ Zwei Tage! Und die Züge lagen noch zwischen Kowel und Brest, schon auf diesem Wege endlos aufgehalten durch Anschläge am laufenden Band! Dabei waren die Frontgleise aller Strecken schon voll von Truppen- und Munitionstransporten und die Heimatgleise mit Räumungs- und Lazarettzügen! Schweick saß Stunde um Stunde über den Strecken- und Bahnhofsplänen, über den Regel- und Sonderfahrplänen, fast ständig dabei den Hörer am Ohr, Meldungen entgegennehmend und Weisungen erteilend. Er besprach sich mit der Oberzugleitung in Minsk. Petermann prüfte seine Zugüberwachungstafel. Auch da gab es keine Lücken und Schleichwege, nur Zerstörung an Zerstörung durch Fliegerbomben und Banditenanschläge. Es gab keine Möglichkeit, ‚Josefine' ohne Verzug durchzuschleusen. „Wenn ich irgend einen Weg finde“, sagte er zu Schweick, „rufe ich dich sofort an.“ Schweick hatte kaum angehängt, da kam Fliegeralarm. 22:35 Uhr. Nach sechs Minuten fielen die ersten Bomben. Hauptbahnhof und Ostbahnhof waren die Hauptziele. Schwerste Kaliber verwüsteten die Anlagen. Dutzende von Gleisen und Weichen flogen in die Luft. Die Gebäude brannten, sanken in Schutt und Trümmer. Telefonverbindungen gab es nicht mehr. Eine einzige tobende Wolke von Staub, Dreck, Rauch und fliegenden Fetzen und Trümmern lag über den Bahnhöfen, hüllte die Züge ein, die entladen und beladen wurden, und die Durchgangszüge, die man nicht mehr hatte hinausbringen können. Es war der schwerste Luftangriff, den Baranowicze jemals erlebt hatte. Der Iwan wußte warum. Und die Eisenbahner wußten es auch. Man hätte nach dem Angriff glauben müssen, hier würden auf Tage keine Züge mehr fahren. Aber sie fuhren schon nach wenigen Stunden wieder. Die Beamten der Zugleitung standen draußen auf den Bahnhöfen und lenkten den Betrieb an Ort und Stelle. Er wurde über Bara Süd geleitet; hier waren nur geringe Schäden entstanden. Fieberhaft wurde an der
Wiederherstellung der Schienenwege und Fernsprechleitungen gearbeitet. Was niemand für möglich gehalten hätte: Es gab keinen Rückstau. Der einarmige General stand am Morgen wieder da. Petermann hatte nicht angerufen. „Wären meine Panzer jetzt zur Stelle, könnte sich noch alles wenden“, sagte der General. Aber noch nicht einer der Züge war angekommen. Sie mußten neuer Reihensprengungen und durch Fliegerbomben zerstörter Gleise wegen von Brest aus über Wolkowysk umgeleitet werden; das bedeutete einen weiteren Tag Verzögerung. Auch der BvTO, der Bevollmächtigte Transportoffizier, wußte keinen Rat. Die Eisenbahner konnten nicht mehr tun, als sie schon taten. Daß sie trotz der unablässigen Störungen, Unterbrechungen, Sperrungen und Umleitungen überhaupt noch einen Verkehr zu Wege brachten, ihn in Fluß hielten, war an sich schon eine Leistung, die man bewundern mußte. Und der Russe rückte näher. Uredschje ließ sich im Laufe des Vormittags dieses 28. Juni als Betriebsspitze nicht länger halten, die Ein- und Ausladungen mußten bereits in Sluzk erfolgen. Dort war noch ein Kriegslazarett zu räumen. Denken, richtig denken und im gleichen Augenblick handeln, richtig handeln - darauf kam es an! Und darauf, daß man, Frontsoldaten gleich, auf dem Posten blieb, im Bombenhagel wie bei Schlachtfliegerbeschuß und auch noch, wenn schon die Panzer in die Bahnhöfe schossen. Wohl selten in diesem Kriege hatte das Schicksal der Landser so sehr am opferwilligen Einsatz der Eisenbahner gehangen, wie in diesen Tagen im Bezirk der RVD Minsk. Schweick schickte alles Leermaterial, schickte jede aufzutreibende Lok nach Sluzk, um das Lazarett herauszuholen. Es gelang noch in der Nacht. Um sechs Uhr früh mußte Sluzk aufgegeben werden; Betriebsspitze wurde Bahnhof Timkowitsche. Was aber wäre aus der Versorgung und nunmehrigen Räumung des Gebietes zwischen Osipowitschi und Timkowitsche geworden, wenn nicht diese einstige Endstation der Bahnlinie Osipowitschi-Sluzk durch Bau einer neuen, sechzig Kilometer langen Strecke von Rusino über Klezk mit Baranowicze verbunden worden wäre? Auch die Russen hatten versucht, solch eine Verbindungsstrecke durch das Wald- und Sumpfland herzustellen; es war ihnen nicht gelungen. OT und Kodeis
Baukompanien hatten es fertiggebracht. Gewaltige Dämme waren notwendig gewesen, aber es war gescharrt worden. Daß die RVD Minsk, nachdem sie im Januar aufgrund des Feinddrucks von Süden her noch weitere Streckenabschnitte an die Feldeisenbahner abgegeben hatte, in kluger Voraussicht auch Uredschje und Staruschi mit einander verbunden und die eingleisige Strecke Bobruisk-Staruschi ausgebaut hatte, war nicht nur für die Versorgung der Truppen im Pripet-Gebiet, sondern mehr noch jetzt beim Rückzug von größter Bedeutung gewesen. Millionenwerte waren auch nur deshalb der Vernichtung oder dem Zugriff des Feindes entgangen, weil entbehrliche Gleise, Weichen, Stellwerke, maschinelle Anlagen in Bahnmeistereien, Betriebs- und Ausbesserungswerken, sowie nicht unbedingt benötigte Bestände an Oberbau-, Bau- und Betriebsstoffen schon damals vorsorglich nach rückwärtigen Lagern abtransportiert worden waren. Schweick war an allen Ecken und Enden. Seine nächsten Mitarbeiter, ein Inspektor, ein Sekretär, ein Assistent, waren zu Fahrdienstleitern und Streckenläufern geworden. In endlosen Ketten von Zügen floß der Räumungsverkehr aus den Richtungen Minsk und Sluzk und der Truppentransportund Versorgungsverkehr in beiden Richtungen in die noch unter den Nachwirkungen des Luftangriffs leidenden Baranowiczer Bahnhöfe und nach möglichst beschleunigtem Lokwechsel wieder hinaus. Es gab keine begrenzte Dienstzeit mehr, weder für das Personal der Zugleitung, noch der Bahnhöfe, noch der Betriebswerke, noch der Bahnmeistereien. Man kam den ganzen Tag über kaum auf einen Stuhl und kurz nach 22 Uhr flogen die Bomber an. Diesmal war in erster Linie der Südbahnhof auserkoren. Aber der Betrieb mußte weitergehen. Niemand durfte an sein Leben denken. Sieben Gleise wurden unbefahrbar, zwei Züge brannten teilweise aus. Das Empfangs- und das Betriebsamtsgebäude, in denen sich auch die Dienst- und Wohnräume der Zugleitung befanden, erhielten Treffer. Erneut waren die Telefonverbindungen unterbrochen. Aber es wurde gelöscht, aufgeräumt, ausgebessert und umrangiert und schon kurz nach dem Angriff kam der Betrieb wieder in Fluß, obwohl der größte Teil der einheimischen Kräfte davongelaufen war. Der 30. Juni brach an. Der Verkehr, insbesondere der Zulauf von Räumungs-, sogenannten ,Richardzügen' und der Bewegung
‚Ingeborg' wurde immer dichter. Die Gleisanlagen bewältigten den Andrang nicht mehr. Und während nun auch damit begonnen werden mußte, Baranowicze selbst zu räumen, trafen noch immer Frachten aus der Heimat ein. Bei den Transportoffizieren der rückwärtigen Bezirke ging es noch nach dem Regelschema. Sie waren von der veränderten Lage entweder noch nicht unterrichtet oder wagten nicht, ohne Befehl von oben die Weiterleitung der Güter zu unterlassen! Schweick aber mußte die Annahme dieser Züge verweigern. So standen sie draußen herum und erschwerten die Lage. Der letzte Tag des Juni war außerdem dadurch ausgezeichnet, daß die Einheimischen anfingen, auch ohne Bomben-Anlaß der Arbeit fernzubleiben und daß in den Nachmittagsstunden Timkowitschi aufgegeben wurde. Ab 16 Uhr war Klezk Betriebsspitze. Von Stunde zu Stunde wurde die militärische Lage im Raum ostwärts Polozk-Minsk-Baranowicze hoffnungsloser. Die Direktion von Minsk war für alle Fälle, bis auf eine Restgruppe der Oberzugleitung und des Sicherungswesens, schon vor Tagen in zwei Befehlszüge übergesiedelt. Am Abend erhielt Schweick die Mitteilung, daß sich der eine der Züge bereits am Vortage, der andere soeben nach Wilna abgesetzt habe. Vor Minsk stand der Russe. Schweick preßte die Lippen zusammen. Es wurde dunkel. Es schien, als würde dadurch der Brand- und Schuttgeruch stärker und alles unheimlicher. Und da stand der einarmige Graukopf wieder. „Morgen“, antwortete Schweick dem schweigenden Blick des Generals. „Wenn die Strecke Wolkowysk-Bara heute nacht einmal verschont bleibt, treffen die beiden ersten Josefine-Züge noch am Vormittag ein.“ „Morgen“, murmelte der General und starrte ins Leere. Von einer Bereitstellung der Division konnte keine Rede mehr sein. Ohne den Partisanenkrieg aber wäre sie bereits seit Tagen im Kampf und der russische Vormarsch gestoppt worden. Inzwischen hatte er jedoch den Gegner so nahe auf dem Hals, daß die Division, um ihr überhaupt die notwendige Bereitstellung und Entwicklung zu einem sinnvollen, erfolgverbürgenden Einsatz zu ermöglichen, schon irgendwo da hinten ausgeladen werden müßte. Durfte er aber gegen seinen Einsatzbefehl handeln? Er hatte die russischen Panzerspitzen ostwärts der Linie Minsk
Stolpce-Baranowicze zurückzuwerfen und das Rückgrat der Hauptkampflinie zu bilden. Die schwachen deutschen Kräfte warteten seit Tagen und von Stunde zu Stunde verzweifelter auf die Tiger, ohne die sie verloren waren. Wo aber war nun diese Hauptkampflinie? War überhaupt noch eine vorhanden? Mit gesenktem Kopf ging der General mit seinem Adjutanten zum Wagen. Schweick verlangte Minsk; die Verbindung war unterbrochen. Er rief Stolpce. Stolpce antwortete nicht. Er sah auf die Uhr. 21 Uhr. Horodziej, Porgorzelce meldeten sich. Auch sie hatten keine Verbindung mit Stolpce mehr. Was los war, wußten sie noch nicht. Um Mitternacht wurde es bekannt. Nichts Tragisches: Partisanen, südlich und nördlich Stolpce kilometerweit verstreut, hatten in der Dämmerung Hunderte von Telefonmasten abgesägt. Das war nicht von ungefähr geschehen. Stolpce sollte isoliert werden. Es war entweder das Ziel einer Sonderaktion der Partisanen oder eines bevorstehenden Vorstoßes der roten Truppen. Schweick, der in diesen Tagen immer bleich war vor Grimm und vor Schmerz um den sichtlichen Zusammenbruch der deutschen Macht, wurde rot vor Wut. Hatte er nicht rechtzeitig und immer wieder und mit allem Nachdruck Funkeinrichtungen angefordert? Er hatte sie nicht erhalten. Was galten schon bei den Herren der Militärverwaltung die Anforderungen eines blauen Eisenbahners! Was wußten sie davon, daß in diesen Tagen eine Zugleitung so gut wie ein Generalstab war! Wie soll ein General Truppen lenken, wenn er keine Meldungen von ihnen empfangen, keine Befehle an sie erteilen kann? Und Bahnhöfe hatten nicht einmal motorisierte Melder! So brach die Nacht zum 1. Juli an. Obgleich man Tag und Nacht weitergearbeitet hatte, um die Bombenschäden vollends zu beseitigen, waren Hauptbahnhof und Südbahnhof noch nicht voll aufnahmefähig. Dabei waren 50 Züge zu erwarten. Aus allen Richtungen stauten sie sich schließlich in den letzten Bahnhöfen vor dem Knoten. Man schickte ihnen die frisch bekohlten und bewässerten Lokomotiven entgegen, damit schon auf den Vorbahnhöfen umgespannt werden konnte. Man schickte Stolpce Lok um Lok zu Hilfe. Man schaffte mit freundlichen und wütenden Worten Arbeitskräfte herbei, damit auch im Ostbahnhof weitere Gleise instand gesetzt werden konnten.
Schweick hoffte schon, den Verkehr bald wieder in Fluß gebracht zu haben, da kam die Unglücksbotschaft: Zwischen Porgorzelce und Ksawerowo waren infolge mehrerer Bandenanschläge seit 3 Uhr in der Nacht beide Gleise gesperrt. Die Züge zwischen Minsk und Ksawerowo blieben liegen und wie Geier auf hilflose Tiere stießen, als es Morgen war, die Ratas auf sie herab. Mit allen Mitteln wurde die Freimachung der beiden Gleise und ihre Wiederherstellung bewerkstelligt. Es wurde Mittag, lange dauern würde es nicht mehr und um keine Minute zu verlieren, führte Schweick die zurückgestauten Züge bündelweise an die Baustelle heran. Um 16 Uhr endlich war es so weit, da kam das zweite Unheil: Obgleich die höchstzulässige Geschwindigkeit vorgeschrieben war, fuhr der endlich angekommene erste Zug der Bewegung ‚Josefine’ zwischen Sawonie und Horodziej auf den unerwartet haltenden Vorzug auf. Es gab, abgesehen von den Verlusten an Eisenbahnern, Soldaten und Panzern, einen fürchterlichen Haufen, der erneut beide Gleise sperrte und langwierige Räumungsarbeit erforderte. Es war zum Verrückt werden! Schweick, ohnmächtig wie ein an allen Gliedern gefesselter Löwe, hätte alles zusammenschlagen mögen. Zwei Hilfszüge und ein Bauzug wurden losgeschickt; es war fast nicht möglich, sie auf der überfüllten Strecke überhaupt durchzulotsen. Und dann ratterten, um das Maß voll zu machen, wiederum russische Schlachtflieger an, berotzten die Zugbündel die ganze Strecke entlang mit Bordkanonen und Maschinengewehren und stürzten sich besonders hartnäckig auf Bauzug und Hilfszüge. Die kehrten bei Anbruch der Nacht zurück und brachten die Hiobsbotschaft mit, daß russische Panzerspitzen den Unfallzug beschossen und daß ihnen die noch auf den Wagen befindlichen bewegungsunfähigen deutschen Panzer fast hilflos ausgeliefert seien. Auch der Bahnhof Stolpce und die Niemenbrücke wurden bereits vom Gegner beschossen. Kurz darauf erfuhr man über Brest, daß sich in Minsk keine Eisenbahner mehr befänden. Fast die ganze Strecke von Polozk bis nahe Molodeczno sei in den Händen des Iwan. Über die Bahnhofsbesatzungen sei noch nichts bekannt. Minsk verlassen! Was wollten sie da noch in Bara? überlegte Schweick. Gewiß, es waren noch Bewegungszüge im Anrollen,
es standen noch Räumungszüge, die auf freie Fahrt warteten. Aber es war doch überhaupt nicht mehr durchzukommen! Und dennoch mußte bis zum letzten befahrbaren Schienenkilometer und bis zum letzten Atemzug gearbeitet werden, um der Wehrmacht vielleicht doch in letzter Minute noch eine Chance zu verschaffen oder um wenigstens zu retten, was zu retten war. Schweick bestimmte ab Stunde 21 Bahnhof Ksawerowo als Betriebsspitze. Nachts um 2 Uhr versuchte er noch einmal, wenigstens den Hilfszug Bara an die Unfallstelle zu bringen. Es erwies sich trotz starken Wehrmachtsschutzes als unmöglich. Russische Truppen waren zu den Partisanen gestoßen. In der 10. Stunde des 2. Juli mußte Bahnhof Porgorzelce als Spitze bestimmt werden. Alle Bemühungen, auf telefonischen Wegen und Umwegen noch etwas über die Entwicklung der Lage an der Strecke und in Stolpce in Erfahrung zu bringen, scheiterten. Der Bahnhofskommandant unternahm einen Erkundungsflug im Storch. Schweick zählte die Minuten, bis er zurückkam. „Was haben Sie festgestellt, Herr Hauptmann?“ „Zwischen Horodziej und Minsk liegen 55 Züge auf der Strecke. Eine Anzahl brennt, bei anderen ist die Lok zusammengeschossen.“ Betriebsamtsvorstand Reichsbahnrat Keller besprach sich mit Schweick und dem BvTO Ergebnis: Der Betrieb geht weiter. Truppenzüge, die wohl oder übel kunterbunt eintreffen, werden nach den Frontbetriebsspitzen weitergeleitet: In Richtung Stolpce war das Porgorzelce, in Richtung Sluzk Klezk, in Richtung Luniniec Hancewicze. Ausgeladen wird, den von Stunde zu Stunde wechselnden Notwendigkeiten entsprechend, auf allen Bahnhöfen, die für die taktischen Pläne der Kommandeure geeignet sind, und wo nicht mehr anders möglich, ohne besondere Anweisung auch auf freier Strecke. Die Leerzüge aller Bewegungen werden im Eiltempo nach Luniniec abgeräumt, um die Leistungsfähigkeit der Heimatgleise in Richtung Brest, Bialystok und Lida ganz den Zügen mit Räumungsgut vorzubehalten. Am Abend des 2. Juli trafen Eisenbahner und Landser des Unfallzuges ein. Der Bahnhof Stolpce stehe in Flammen. Die Eisenbahner befänden sich auf dem Fußmarsch nach Bara. Am 3. Juli war das Schicksal der Bewegung ‚Josefine' entschieden. Gerade der Antransport der Panzerdivision hatte
von Anfang an unter einem besonderen Unglücksstern gestanden, als wären nicht nur die Banden und Flieger, sondern der Himmel selbst gegen sie verschworen. Am Morgen dieses 3. Juli wäre ihre Hauptmasse in Bara eingetroffen, aber in der Nacht hatten Partisanen die Strecke Wolkowysk-Bara so nachhaltig zerstört, daß die Züge der Panzerwaffe nochmals einen mehr als doppelt so weiten Weg, nämlich über Lida, umgeleitet werden mußten. Was noch auf der direkten Strecke von Brest unterwegs war, lag vor Lesna fest, wo ebenfalls infolge Bandenanschlags 12 Wagen ineinandergeschoben und beide Gleise gesperrt waren. Die militärische Transportleitung erfuhr, daß Horodziej vom Feind frei sei. Es sollte wieder Betriebsspitze werden. In der Nacht fielen Bomben auf die Betriebsspitze Klezk und fast sämtliche Bahnhöfe der Strecke Bara-Luniniec, Reytanow und Hancewicze erlitten besonders umfangreiche Schäden. Mit telefonischer Verständigung war es wieder einmal aus. In der Frühe unternahm der neu bestimmte Dienstvorsteher, ein Reichsbahnsekretär, einen Erkundungsvorstoß, um die befohlene Wiederbesetzung von Horodziej vorzubereiten. Man wollte außerdem noch einmal alles daransetzen, die Unglücksstätte des 1. Juli freizubekommen, um die zwischen ihr und der Niemenbrücke eingeschlossenen Züge herauszuholen. Die Eisenbahner kamen unverrichteter Dinge zurück. Der Bahnhof Horodziej selbst war zwar zur Stunde vom Feinde noch oder wieder frei, lag aber unter ständigem Beschuß und brannte. Außerdem verlief laut Unterrichtung durch einen Stab der Kampftruppe die Hauptkampflinie bereits an der Usza, zwischen Ksawerowo und Horodziej. Am Nachmittag brachten geflüchtete Eisenbahner die nächste schlechte Nachricht: Seit 12 Uhr stand der Iwan in Reytanow. Die Personale der Bahnhöfe Honczary bis Hancewicze zogen sich in Richtung Luniniec zurück. Damit hatte der Verkehr von und nach Osten aufgehört. Betriebsspitze war Bara Süd. Was nun endlich von der Bewegung ,Josefine' eintraf, wurde in Porgorzelce und weiter auf freier Strecke in Richtung Ksawerowo und teilweise auch in Richtung Klezk ausgeladen. Meist knallten den deutschen Panzern die Granaten der T 34 vor den Bug und in die Flanken, noch ehe sie überhaupt wußten, was eigentlich los war oder noch ehe sie
aufgetankt hatten. Schweick sah an diesem Tag einen einarmigen, grauköpfigen General weinen. Er hatte keine Möglichkeit mehr, eine Schlacht zu schlagen. Es blieb ihm nichts mehr übrig, als zu den Resten seiner Division zu stoßen, um ihr Ende zu teilen. Baranowicze war nun selbst so unmittelbar bedroht, daß Schweick zur Beschleunigung und Sicherung des restlichen Räumungsverkehrs noch in der Nacht einen Teil seiner Männer als Hilfszugleitung nach Slonim absetzte. Gingen die direkten Strecken nach Lida und nach Brest über kurz oder lang verloren, so standen doch von Slonim aus immer noch drei Rückzugswege offen: über Lida, Bialystok und Brest. Fiel die Zugleitung in Bara selbst aus, infolge Verlust des Lebens, plötzlichem Vorstoß des Iwan oder dergleichen, so saß in Slonim bereits ein neuer, eingespielter Apparat, der die Endräumung des Restraumes von Bara bewältigen konnte. Eine Stunde nach Abfahrt der Hilfszugleitung, genau um Mitternacht, ging wieder - man hatte es schon gar nicht mehr erwarten können - ein Bombenhagel auf den Bahnhof nieder. Die Militärrampe wurde zerstört, ein Panzerzug getroffen, sowie ein Munizug, der seltsamerweise nicht in die Luft flog. Im Bw wurden das Öllager und der große Rundschuppen zerstört, wobei auch zwei Lok ihr Ende fanden. Telefonverbindungen? Niema! Aber dieser Zustand war ja üblich. Mit Bara Süd war nichts mehr zu wollen und so war denn am Morgen des 5. Juli schließlich Bara Hbf. selbst Betriebsspitze. Auch der kleine Rest der Strecke Bara-Minsk hatte zu bestehen aufgehört. Die Räumungszüge wurden in allen drei Richtungen, Brest, Wolkowysk und Lida, auf Sicht auf die Reise geschickt. Zugbegleitpersonal Fehlanzeige. Lokführer oder Hilfslokführer und Heizer oder Hilfsheizer - das war alles. Dabei wurden nach wie vor Truppen ausgeladen, Truppen eingeladen, während das Geballer und Getacke der russischen Flieger über den Straßen, den Gleisen und Rampen von Bara und auf die Strecken und Züge um Bara kein Ende mehr nahm. Die Stadt brannte. Die Bevölkerung machte sich, in Rauch und Staubwolken gehüllt, größtenteils davon. Die Strecke nach Lida verstopfte sich. Um sie zu entlasten, wurden eine Anzahl Züge zurückgeholt und über Wolkowysk geleitet. Der Bahnhof Illiornice, kurz vor Wolkowysk, wurde am
Nachmittag von Schlachtfliegern heftig heimgesucht. Es gelang ihnen, aus einem dringlichen Zug, der LKW geladen hatte, fünf Wagen in Brand zu schießen und Gleisanlagen zu zerstören. Der bei Bara Süd gelegene Flughafen wurde gesprengt, die Sprengungen gefährdeten und behinderten den Betrieb, dennoch wurden Leerzüge zur Verladung weiteren Räumungsgutes angefahren und volle Züge ausgeladen. Zu den Betriebserschwerungen, die ein Fliegerangriff auf Jegiornica zur Folge hatte, kamen in der Nacht Bandenanschläge bei Slonim und am Morgen steckten dreizehn Richardzüge zwischen Polonka und Slonim fest. Da bewährte sich die Hilfszugleitung. Es gelang ihr, nicht nur die Züge durch mehrfaches Überwechseln vom Heimatgleis zum Frontgleis in kurzer Frist weiterzutreiben, sondern gleichzeitig noch dringende Gegenzüge nach Bara durchzubringen. Noch wurden auf der Brester Strecke in Kosow, Iwacewicze, Domanowo und besonders in Lesna Truppen- und Versorgungszüge aller Art entladen. Schweick, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, erkundete die Strecke, beantragte beim Betriebsamt Brest die Einrichtung einer Hilfszugleitung in Bereza Kartuska, wo sich auch ein Bw befand. In Bara verblieben nur Wendelok, zu bekohlen und zu bewässern war aber nach wie vor möglich. Über Baranowicze gingen in sämtlichen Bahnhöfen der Brester Strecke, so weit Schweick kam, die tollsten Gerüchte um. Er entkräftete sie. Er erfuhr hier auch von Landsern, die bei Stolpce gekämpft hatten, daß die Pioniere auf der Niemen-Brücke drei Lokomotiven als Panzersperre hatten zusammenfahren lassen und daß die Bahnhofsbesatzung, auf die man in Bara vergeblich gewartet hatte, in Richtung Lida getürmt war. „Blöde Hammel, gescheite!“ knurrte Schweick. „Über hundert Kilometer Luftlinie, riesige Wälder und alles voller Banden! Wenn die lebend angekommen sind, freß ich meine Langschäfter!“ Als er wieder in Bara war, erkundigte er sich bei den Lokführern, die von Lida zurückkamen. Sie hatten von Stolpcer Eisenbahnern nichts gehört. Aber sie meldeten, daß jede Stunde mit der Unterbrechung der Strecke nach Lida gerechnet werden müßte. Schweick wollte sich selbst vergewissern. Er fuhr mit einer Draisine zur Erkundung über Borowcy nach Domascewicze. Was er sah und hörte, genügte. Stellenweise wurde schon dicht an der
Bahnlinie gekämpft. „Räumen!“ befahl er in Domascewicze. „Alle Bahnhöfe bis Nowojelnia!“ Bei der Rückfahrt wurde die Draisine mehrmals von Schlachtfliegern angegriffen. Die Hauptkampflinie war inzwischen bereits auf Borowcy zurückgenommen worden. Pak sicherte noch die Bahnlinie. Schweick verlegte seinen Dienstsitz in den Hauptbahnhof. Alles, was an Eisenbahnern in Bara lag, wurde in Räumungszügen nach Slonim in Marsch gesetzt. Nur Schweick mit einem seiner Inspektoren, vier Mann des Hauptbahnhofs und einige Lokführer und Heizer blieben zurück. Überall waren schon die Sprengungen im Gange; die ungarischen Sprengzüge wollten noch rechtzeitig das Weite suchen. Man mußte aber noch Leermaterial zum Schlachthof fahren. Die Schlächterkompanie war zwar längst in ihren LKW abgerückt, aber das Vieh mußte noch verladen werden. Und es wurde verladen, während die ganze Nacht die Sprengungen blitzten und krachten. Baras Bahnhöfe und Bara Stadt waren eine einzige Wolke von Staub und Rauch, durch die Feuerschein geisterte. In der Frühe wurden vom Schlachthof 42 mit Vieh beladene Wagen abgezogen. Es war für Lokpersonal und Rangierer dasselbe Gefühl, als müßten sie sich auf ein Pulverfaß setzen, an das schon die Lunte gehalten wurde: Sie waren an keiner Stelle und in keinem Augenblick mehr sicher, nicht mit hochzugehen. Aber es mußten auch noch die letzten Richardzüge fertiggemacht und abgefahren und Spezialwagen zur Verladung von Schadpanzern an der kleinen Rampe bereitgestellt werden, die dann als letzte zu sprengen war. Schweick war überall selbst. Er war nicht mehr bleich vor Grimm wie in den ersten Tagen. Der Untergang seines Bahnhofs zerriß ihm auch nicht mehr das Herz. Er war nichts mehr als unnachgiebigste Entschlossenheit. Seine Männer wollten nicht länger. Die russische Artillerie schoß die Stadt zusammen. Schlachtflieger brausten alle paar Minuten über die Köpfe. Das Geballer der Bordkanonen, das Gehämmer der Maschinengewehre nahm kein Ende mehr. Was kam es bei diesem Zusammenbruch noch auf einige Schadpanzer und ein paar Züge mit Heeresgut an? Sie hatten nicht die geringste Lust, auf dem verlorenen Bahnhof so lange zu bleiben, bis der Heldentod fällig war.
„Wollt ihr mich alloin lasse?“ fragte Schweick. „Mir müsse durchhalte. Da hilft koin Herrgott nix.“ Die Sprengzüge mußten sich zeitweise aus dem Staube machen. Plötzlich war das Wasser alle. Wie sich herausstellte, war das Pumpwerk in Mischanka in Brand geschossen und der Wärter, ein Pole, geflüchtet. Glücklicherweise, hätte man sagen mögen, denn als Schweicks Inspektor zur Notbewasserung nach Mischanka fuhr, kam er gerade noch zurecht, um die schon vorbereitete Sprengung der Brücke zu verhindern. Dann wäre der letzte Rückzugsweg abgeschnitten gewesen. Es war zehn Uhr vormittags. Zwangsläufig war nun auf der Strecke von Brest her Hintzewicze Betriebsspitze. Der letzte Räumungszug wurde beschleunigt abgefahren. Bis die Schadpanzer verladen waren, konnte nicht mehr gewartet werden, doch wurde mit den Militärdienststellen, auch mit dem Chef des Betriebsstofflagers ,Benno' vereinbart, daß das nötige Eisenbahnpersonal zurückkommen werde, um die noch beladenen Züge herauszuholen, wenn die Strecke nicht bis dahin gesprengt sein würde. Rund zweihundert Räumungszüge waren im Raum Bara gebildet und abgefahren worden. Jetzt gab Schweick den Befehl zum Abrücken. Am 7. Juli Stunde 11 setzten sich die letzten Eisenbahner von Bara in den Wagen des Befehlszuges der Zugleitung, die dem letzten Räumungszug angehängt waren, in Richtung Slonim ab. Betriebsspitze der Strecke Wolkowysk-Baranowicze war ab Stunde 13 Polonka. Hier ging die Arbeit mit Hochdruck weiter. Anrollende Truppenzüge wurden entladen, Schadpanzer verladen. Und am Abend fuhr Schweick mit seinem Inspektor gemäß seiner Zusage noch einmal mit einem Leerwagen nach Bara hinein, obgleich die Strecke bereits zur Sprengung freigegeben war. Die Stadt stand in hellen Flammen, noch immer aber war sie feindfrei. Der Iwan schoß sie kurz und klein. Wahrscheinlich bildete er sich ein, sie würde hart verteidigt werden. Dabei leisteten nur noch kleine Trüppchen vor dem Stadtrand hinhaltenden Widerstand. Schweick schimpfte wie ein Rohrspatz, denn das Benzinlager war entgegen der Vereinbarung bereits in Brand gesteckt und verlassen. Hunderte von Fässern mußten dem Feuer überlassen werden. Von den Schadpanzern waren nur zwei verladen worden
und auch das war zwecklos gewesen, denn sie konnten nebst den drei leeren SSyms-Wagen nun doch nicht mehr abgefahren werden, weil die Zufahrtsweiche, ebenfalls gegen die Absprache, gesprengt worden war. Er hatte mit seinen Männern sinnlos Kopf und Kragen riskiert! Zwischen Granateinschlägen rasselten sie davon, wurden unterwegs von Partisanen beschossen, hatten aber wenigstens das Glück, gerade noch vor der Sprengung der Strecke durchzukommen. Am Tage darauf war auch die Räumung Slonims in vollem Gange, während gleichzeitig starker Zulauf von Wolkowysk zu bewältigen war. Polonka mußte aufgegeben, der Bahnhof gesprengt werden. Betriebsspitze war nun Albertin. Ein Teil der Zugleitung verblieb in Slonim, der Befehlszug des Betriebsamtes fuhr nach Zelwa, der Grenze der Direktionen Minsk und Königsberg. Luftangriff folgte auf Luftangriff, dabei wurden Truppen aus- und Verwundete eingeladen. Die Beamten der Zugleitung machten Rangierdienst. Am 9. Juli wurde Albertin aufgegeben, Betriebsspitze war nun Slonim selbst. Während schon der Gefechtslärm zu hören war und zwei Schlachtfliegerangriffe durchgestanden werden mußten, wurden noch Schadpanzer verladen und das Verpflegungslager Vimy geräumt. Nach kurzer Besserung der taktischen Lage wurde die Bedrohung des Bahnhofs und der Strecke durch den Feind so stark, daß die Eisenbahner gegen 11 Uhr Slonim verließen. Auf der Szczawa-Brücke lagen Treffer der russischen Artillerie, aber man mußte hinüber und kam hinüber. Das Restkommando der Zugleitung übernahm nun die Führung der neuen Spitze Jegiornica. Der BvTO Wolkowysk befahl jedoch gegen Mittag Fortsetzung der Entladung in Slonim und insbesondere Zuführung von Spezialwagen zum Abtransport von Schadpanzern. Schweick ließ einem Zuge, der eben beim Panzerausbesserungswerk Zelwa entladen worden war, 20 SSyms-Wagen entnehmen und fuhr mit aufgesessener Pak und Infanterie los. Der Zug wurde von einer zurückgehenden Sicherungstruppe, die viele Verwundete mit sich führte, angehalten: Der Schienenweg nach Slonim war an der Szczawa zu Ende; die Brücke war gesprengt. Der Auftrag des BvTO Wolkowysk war undurchführbar. Schweick nahm die Verwundeten auf und fuhr zurück.
Die Restabwicklung der Geschäfte des Betriebsamtes Baranowicze war am Abend dieses Tages abgeschlossen. Es löste sich auf, fuhr von Zelwa ab und meldete sich nachts 3 Uhr in Lapy beim Befehlszug der ehemaligen RVD Minsk, der inzwischen die Betriebsführung der bisherigen Bezirke Grodno, Wolkowysk, Bialystok und Czeremcha der Reichsbahndirektion Königsberg übertragen worden waren. Oberinspektor Schweick erhielt den Befehl, mit seinen Männern, die nicht nur durch die gemeinsam bestandenen Gefahren und vollbrachten Leistungen wie Pech und Schwefel zusammengeschweißt waren, sondern auch ein Höchstmaß von Erfahrung und Geschick in der Durchführung der schwierigsten Aufgaben auf des Todes Schneide gewonnen hatten, die Zugleitung Wolkowysk zu übernehmen. Die leitenden Eisenbahner von Bara wußten, daß das bisherige Betriebsamt samt seiner Zugleitung eilig abgerückt war und keine musterhaften Verhältnisse zurückgelassen hatte. Aber darum war ihnen nicht bange. Das würden sie rasch in Ordnung gebracht haben. Doch was würde sonst werden? Würde die Front endlich halten? „Ich fürchte, wir werden weiter räumen müssen“, sagte Schweick finster. „Räumen und Absetzen am laufenden Band.“ Er behielt recht. Was für sie in Bara, was vor eineinhalb Jahren mit Stalingrad begonnen hatte, ging weiter und weiter. Von Bahnhof zu Bahnhof. Überall flohen die einheimischen Eisenbahnbediensteten, so mußten die Züge ohne Zugbegleitung, ohne Zugschluß und mit überhoher Achsenzahl gefahren werden. Es gab keine Regel mehr. Jede Direktion, jeder Zugleiter oder Bahnhofsvorsteher in der Heimat hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Improvisation war alles, schnellste Entschlußkraft und Frechheit auf Biegen oder Brechen Vorbedingung des Erfolges. Man fuhr Truppen- und Munitionszüge, man fuhr Leermaterial bis in die Kampfzone. Man jagte Räumungszüge in Bündeln aus brennenden Bahnhöfen bis zu dem Augenblick, wo die Pioniere die vorbereiteten Sprengungen auslösten. Man rangierte in zerbombten Gleisanlagen, über Schienenbrüchen und geflickten Weichen. Man löschte brennende Wagen, man wechselte krankgeschossene Lokomotiven, man bekohlte und bewässerte lachhaft behelfsmäßig. Für keinen gab es ein Unmöglich, solange auch nur noch der Schein einer Möglichkeit des Gelingens
vorhanden war, und das scheinbar Unmögliche wurde geschafft. Es gab keine dienstlichen Abgrenzungen mehr. Die Oberinspektoren und Inspektoren, Obersekretäre, Sekretäre und Assistenten waren alles: Zugleiter und Fahrdienstleiter, Aufsichtsbeamte, Weichenwärter und Rangierer. Und rings um die Eisenbahner Brand und Lärm, Einschläge schwerer Granaten, Rückzugsstaubwolken der motorisierten und bespannten Kolonnen und die not- und schreckensvolle Flucht der Bevölkerung! Und über den Eisenbahnern die Bomber und Schlachtflieger, die wie Meuten blutdürstiger Hunde über die Bahnhöfe und Strecken jagten! Und Partisanenanschläge, hochgehende Minen, heimtückische Feuerüberfälle aus dem Hinterhalt! Zusammenstöße, Entgleisungen! Und menschlicherweise auch Eisenbahner, die in der Gefahr versagten, die Nerven verloren oder einfach das Weite suchten. In den Spitzenbahnhöfen wurden stets bis Zur letzten Stunde Leerzüge für Verwundetenverladung und Abtransport kampfunfähiger Panzer gehalten. Eine Hauptbehinderung des Betriebs in den Spitzenbahnhöfen stellten die Sprengzüge dar. Den Lokomotiven wurden Kohlenwagen mitgegeben und Zusatzwassertender. Bei der Übernahme neuer Bezirke mußte man das reinste Medium sein, um sich von einer Stunde zur anderen an Hand der Bahnhofs- und Streckenpläne in die unbekannten Verhältnisse und örtlichen Tücken des Betriebs einzufühlen. Und fast alle Entschlüsse mußten ohne Weisung der vorgesetzten Stellen gefaßt werden, mit denen, gerade wenn es dann hart auf hart ging und die größere Übersicht der Oberzugleitung, Entscheidungen des Betriebsleiters oder Weisungen des BvTO notgetan hätten, in der Regel keine Verbindung mehr war, weil die Telefonleitungen zerstört waren. So räumte Schweick mit seinen Kameraden, deren Seele er war, auch den Bezirk Wolkowysk. „Ich hätte gleich in den Stiefeln geboren werden müssen“, sagte er. Und den andern ging es nicht anders. Am 12. Juli, zehn Minuten nach Mitternacht, waren sie in ihrem neuen Knoten eingezogen, nach knapp 23 Stunden verließen sie ihn wieder, nachdem der Räumungsauftrag restlos erfüllt war. Es waren 23 Stunden pausenlosen Einsatzes gewesen. Berge von Schwierigkeiten hatten überwunden werden müssen. Sie waren überwunden worden, insbesondere auch
dank tatkräftiger Unterstützung durch das Maschinenamt in Bialystok, das nicht nur für Lokomotiven gesorgt, sondern auch Lokpersonal auf Kraftwagen geschickt hatte. Betriebsspitze am 13. Juli war Andrejewicze, am 14. ab 21 Uhr Swislosc und am 15. um 22 Uhr Hajnowka. Narewka hatte übersprungen werden müssen, weil dort die russischen Panzerspitzen schon im Anrollen waren. Am 16. Juli um 19 Uhr fuhr die Zugleitung Wolkowysk über Czeremcha nach Bialystok. Würde man hier endlich zur Ruhe kommen? Ruhe im Sinne eines endgültigen oder wenigstens längeren Verbleibens hinter einer wiedergefestigten Front? Truppentransport auf Truppentransport wurde an die Betriebsspitzen im Osten, Süden und Norden herangefahren. Man schöpfte Hoffnung, daß die Stoßkraft der Sowjetoffensive jetzt gebrochen werden konnte. Aber schon kamen auch hier die Räumungsbefehle, Tag für Tag wurde auch der Bezirk Bialystok enger zusammengedrückt und am 22. Juli war in Richtung Grodno der Hauptbahnhof von Bialystok selbst Betriebsspitze. Der Schienenwolf riß das letzte Streckenstück Bialsk-Bialystok kurz und klein. Der Betrieb ging an die Feldeisenbahner über. Der Befehlszug des ,blauen' Betriebsamtes fuhr um 15 Uhr nach Lapy ab, um sich bei der Direktion zu neuem Einsatz zu melden. Schweick saß mit seinen engsten Kameraden zusammen. Er und sie alle waren schmal geworden in diesen vier Wochen. In ihren Zügen, ihren Augen prägte sich das Erlebnis aus. Sie starrten schweigend durch die Fenster hinaus. Nur von Zeit zu Zeit fielen ein paar Worte. „Wo wird das enden?“ „Wie?“ „Wie weit hat der Iwan noch bis zur deutschen Grenze?“ „Nicht so weit wie von Orscha nach Minsk.“ „Das hat er in acht Tagen geschafft.“ „Jetzt geht es langsamer.“ „Ja, aber stetig.“ „Und wenn die Front auch an der deutschen Grenze nicht hält?“
18. KAPITEL
Wenn einer in Minsk bei Beginn der russischen Offensive vorausgesagt hätte, daß der Russe nach acht Tagen vor den Toren der weißruthenischen Hauptstadt stehen werde, würde er für verrückt erklärt worden sein. Keine Dienststelle der Wehrmacht, der Wehrmachtsgefolge und der Zivilverwaltung war vom Zusammenbruch an der Front so rasch und umfassend unterrichtet, wie die Oberzugleitung der Reichsverkehrsdirektion. Petermanns Telefone gaben keine Minute mehr Ruhe, eine Hiobsbotschaft folgte der andern. Nach dreimal 24 Stunden genügte ein Blick auf die Zugüberwachungstafel, um an den verlorenen Bahnhöfen und Streckenabschnitten, an den immer neuen, immer westlicher liegenden Betriebsspitzen und den Aufzeichnungen über die Verluste an festem und rollendem Material die Durchbrüche der Sowjetarmeen, die Einkesselung der deutschen Truppen, mit ihnen großer Teile des Feldeisenbahnkommandos 2, und das unaufhörliche Vordringen der feindlichen Stoßkeile durch den Direktionsbezirk zu erkennen. Die ersten Fluchtzüge kamen an, die ersten planmäßigen Räumungszüge, die ersten feldgrauen und blauen Eisenbahner, die entkommen waren und von denen erzählten, die in den eingeschlossenen Städten saßen oder niedergemacht oder in Gefangenschaft geführt worden waren. Züge mit Kampftruppen fuhren frontwärts, Etappendienste in Räumungszügen und endlosen PKW-, LKW- und Pferdekolonnen westwärts. Am 25. Juni war bereits der gesamte Bezirk ostwärts der Linie Polozk-Minsk-Baranowicze-Luniniec in fortschreitender Räumung begriffen. Daß Minsk selbst bedroht war, konnte nicht verkannt werden. Der Gebietskommissar lehnte jeden Gedanken an Räumung ab: Minsk ist Festung, ein General Kommandant. Wir stehen oder fallen. Der General befehligte 500 Mann! 48 Stunden später war die Zivilverwaltung sang- und klanglos verschwunden. Hals über Kopf wurde geräumt. Die RVD siedelte bis auf ein Restkommando aus dem Hochhaus in ihre beiden Befehlszüge über.
Die Bahnhöfe standen voll von Zügen. Überall wurde verladen. In Minsk waren große Werke im Aufbau. Die OT wollte wenigstens die Maschinen, denen kriegsentscheidende Bedeutung beigemessen wurde, in Sicherheit bringen. Und fort mit den Lazaretten! Da waren noch Tausende von Verwundeten und Kranken, Ärzte und Sanitätspersonal, Rotkreuzschwestern, Nachrichtenhelferinnen. Fort mit den Frauen! Fort mit den Verwundeten! Alles Leermaterial, alle Lok zuerst für sie! Der Etappe Minsk brannte das Feuer auf den Nägeln. Zuverlässige Nachrichten über den Verlauf der Kämpfe waren nicht zu erhalten. Es gab keine Hauptkampflinie, es gab nur noch kämpfende Abschnitte und zwischen ihnen Niemandsland. Und es gab Überreste geschlagener und zerschlagener deutscher Truppenteile, erschöpft an Leib und Seele, die der brüllenden, alles zerreißenden und zerstampfenden Hölle der russischen Feuerwalze entronnen waren. Dennoch schöpfte man noch einmal Hoffnung: 2 Züge mit Tigerpanzern trafen ein, Mannschaft und Offiziere ungebrochen kampffreudig und zuversichtlich. Guten Muts rollten sie in ihre Einsatzräume, aber sie erreichten sie schon gar nicht mehr, steckten unversehens mitten in Schwärmen von russischen Kampfwagen und schnellen Panzerabwehrverbänden. Sie kämpften wie Löwen und vernichteten ein Mehrfaches ihrer eigenen Zahl, aber dann war es mit dem Treibstoff aus oder mit der Munition oder mit beidem, weil ein Spritzug entgleist oder von Ratas in Brand geschossen oder weil eine Muni-Kolonne von tausendköpfiger Bande abgefangen worden war. Die Tiger blieben abgeschossen liegen oder mußten gesprengt werden; nur ein kleiner Teil kam mit knapper Not wieder zurück. Die Gerüchte, daß russische Panzerspitzen nördlich Minsk schon weiter nach Westen vorgestoßen seien, nahmen kein Ende. Befehlszug 1 mit dem Präsidenten verließ Minsk am 29. Juni. Befehlszug 2 folgte am 30. nach Wilna nach. Südlich Minsk war der Iwan in Stolpce und hatte angeblich die Bahnstrecke in Richtung Lida bereits überschritten. Für die Direktion lag keine dienstliche Notwendigkeit vor, in Minsk bis zum letzten Räumungszug oder so lange zu bleiben, bis sie unentrinnbar in der Falle saß. Sie hielt es im Gegenteil im Interesse der weiteren Erfüllung ihrer Aufgaben für geboten, sich so weit abzusetzen, wie erforderlich war, um den Überblick über den Restbezirk und
die Verbindung mit allen Räumungsstrecken zu bewahren und nach jeder Seite, durch Feindeinwirkung möglichst unbehindert, eingreifen zu können. Die RVD Minsk, ihr Präsident mit seinem Stab, war die letzte höhere Kommandostelle, die Minsk verließ. So befand sich im Hochhaus nur noch das Restkommando unter Führung von Oberrat Butek, dem Sicherungsdezernenten der Direktion. Er hatte im ersten Minsker Jahr mit 42 StellwerksBauzügen die Hauptstrecken sicherungstechnisch ausgebaut, erst dann hatte Tempo 72 gefahren werden können, d. h. auf jeder Strecke 72 Züge in 24 Stunden in beiden Richtungen. Nun hatte ihn der Präsident ausersehen, zusammen mit Oberinspektor Meister von der Zugleitung des Betriebsamts Minsk den Räumungsbetrieb noch so lange wie möglich durchzuführen. Drei Fernmeldetechniker und zwei weitere Beamte der Oberzugleitung - das war ihr ganzer Stab! Sieben Mann in dem sonst gähnend leeren Reichsbahn-Flügel des Hochhauses! Vielleicht waren sie überhaupt die einzigen Deutschen noch in dem ganzen Riesenbau. Keine Wache mehr, keine Posten! Was wußten sie, was in all den Stockwerken und endlosen Gängen, den Hunderten von Räumen und in den Kellern jetzt vorging? Wie lange sich die Bevölkerung noch zurückhalten, die Partisanen noch in ihren Schlupfwinkeln verharren würden? Es war eine unheimliche Stimmung, aber sie hatten keine Zeit, sich ihrer klar bewußt zu werden und trotz der sommerlichen Hitze mit einer Gänsehaut ihren Dienst zu machen. Sie wußten nicht, wie sie mit den auf sie einstürmenden Fragen und Entscheidungen fertig werden sollten. 40 Züge oder mehr, die man glücklich über Bara nach Brest abgesetzt hatte, lagen zwischen Minsk und Stolpce fest und mußten zurückgeholt und über Molo geleitet werden. Dabei war jedem ein Rätsel, wie man auch nur das auf diese Strecke bringen sollte, was in Minsk selber stand und was über Minsk-Ost noch zulief. Im Norden war der Iwan zwischen Krolewschisna und Polozk ebenfalls bis zur Bahnlinie vorgestoßen. Krolew mußte geräumt werden. Wie lange würde die Strecke über Molo noch feindfrei sein? In jeder Minute hatten Butek und Meister neue Hindernisse zu beseitigen, neue Schwierigkeiten zu überwinden, aber mit einer Regelmäßigkeit, als liefen die Züge automatisch an Schnüren ab, rollten sie im Zehn-Minutenabstand auf die letzte Strecke nach
Westen, den einzigen Weg des Entkommens. Und während Butek jeden Augenblick eines Anrufs oder einer Meldung gewärtig war, der dem allem ein jähes Ende setzte, ging die Türe auf und herein kam Reichsbahnrat Gruhner, der Dezernent für Verpflegung und Betreuung. Butek traute seinen Augen nicht. „Gruhner! Menschenskind! Was wollen Sie denn noch hier?“ Er sprang auf und schüttelte ihm die Hand. „Seit wann stellen Sie so komische Fragen?“ antwortete der Ankömmling. „Aus dem Urlaub will ich mich zurückmelden.“ „Da hauen Sie nur gleich wieder ab! Die Direktion ist in Wilna.“ „Hab das auf dem Bahnhof erfahren. Schon der Bahnhofsvorsteher in Brest meinte, ich brauche gar nicht erst herzufahren, das Hochhaus liege unter Aribeschuß. Aber ich hab' auf die Nachricht vom Beginn der Sowjetoffensive meinen Urlaub doch nicht bloß zum Spaß abgebrochen. Ich ließ in Brest meinen Wagen an einen Munizug anhängen. Stolpce brannte; ich glaube, ich hab' den letzten Zug erwischt, der dort von Bara her noch durchgekommen ist.“ Das Telefon rasselte. Butek griff zum Hörer, lauschte, seine Miene verfinsterte sich. „Ich werde persönlich mit dem Kommandeur reden“, beendete er das Gespräch. „Der SS“, erklärte er Gruhner, „ist der Schutz der Bahn und der Eisenbahner übertragen worden. Eben wird mir gemeldet, daß die Wachen eingezogen werden.“ Er griff zur Mütze, rannte zum SS-Führer. „Was wollen Sie?“ wurde ihm gesagt. „Minsk ist eingeschlossen. Wir werden in der Nacht durchbrechen. Wenn Sie wollen, können Sie sich mit Ihren Eisenbahnern anschließen.“ Es klang so, als wäre den Eisenbahnern nicht viel Schneid zuzutrauen. Der Oberschlesier war zwar eine umgängliche, aber auch temperamentvolle Natur. „Bedauere“, antwortete er. „Dann bleiben wir eben ohne militärischen Schutz. Minsk ist nicht eingeschlossen, denn unsere Züge fahren noch nach Molo. Und so lange sie durchkommen, so lange hauen wir Eisenbahner nicht ab, sondern räumen weiter, zumal noch Verwundete verladen werden.“ Als Butek ins Hochhaus zurückkam, war Gruhner immer noch da. Er war zwar nicht Betriebsfachmann, hatte aber durchaus die Absicht zu bleiben.
„Dumm von Ihnen, aber großartig“, freute sich Butek. Es war gut, noch einen Kameraden an der Seite zu haben. „Dann werden wir also zusammen den Laden hier vollends schmeißen.“ Gruhner sah sich zunächst einmal im Hause um. „Chef! Chef!“ wurde er von den Russen der Hauskolonne begrüßt. Sie küßten ihm die Backen, die Hände, die Rockärmel, was sie gerade erwischen konnten. Im übrigen waren sie dabei, alles zusammenzusaufen, was sie an Trinkbarem fanden, und alles fortzuschleppen, was sie brauchen konnten oder glaubten, brauchen zu können. Auch nichtbahnbedienstete Einheimische durchstöberten, Plünderungsvorschau haltend, das fast ganz verlassene, nicht mehr bewachte Gebäude. Gruhner lachte mit den freudig Erregten: „Ihr Halunken! Wenn euch die SS erwischt, hängt ihr!“ „SS kaput! Woina kaput!“ grinsten sie. Ja der Krieg war ,kaput'. Ein im übrigen friedfertiges Sprengkommando war gerade dabei, Bomben um das Haus herum aufzustellen. Aber in den Kellern war noch allerhand Mitnehmenswertes: Lampen, Fernsprechgeräte, Schuhe, Arbeitsanzüge. Butek besprach sich mit Gruhner, was alles mitgenommen werden sollte und konnte. Das Hochhaus hatte Gleisanschluß. Leermaterial wurde angefahren. Die Russen, für die genug übrig blieb, halfen eifrig verladen. Die fertigen Wagen ließ man auf dem leichten Gefälle zum Bahnhof einfach ablaufen. Wo das Gleis die Straße querte, stand ein Posten mit roten Fetzen, der nahende Fahrzeuge und Fußgänger warnte. Die Wagen rollten über die gestellten Weichen im Bahnhof aus und stellten sich selbst zusammen. Da kam auch noch ein Eisenbahner angetreckt, der Verwalter von „Gut Tannenhöhe“, das die Direktion für die Sicherung der Verpflegung ihres Personals und als Erholungsstätte in eigener Regie betrieb. Es war ein alter Zugführer und er hatte kein Verlangen danach gehabt, noch eine Wanderung nach Sibirien anzutreten, aber das Vieh hätte er ums Leben nicht im Stich gelassen. Und nun sorgte er unermüdlich dafür, daß es getränkt wurde, daß es verladen wurde und daß auch sein Transport bei der ersten Gelegenheit in einer Lücke der vordringlichen mit hinausschlüpfte. Die Nacht kam. Bomben krachten. Brände brachen aus. Sprengungen donnerten. Ruhe gab es nicht. Die Arbeit ließ
keinen los. Wer hätte an rasten oder gar schlafen auch nur denken können! Im Hochhaus war ihres Bleibens nicht länger. Sie quartierten sich in einem Güterwagen ein, statteten sich mit Streckenfernsprechern aus, hängten eine Lok davor: Der Befehlszug der Restdirektion war fertig. Ohne Unterbrechung, selbst während eines schweren Luftangriffs, fuhren die Züge im Zehn-Minuten-Rhythmus. ROI Meister war ein Meister im Improvisieren, in der Handhabung ungewöhnlichster Mittel, den Verkehr durch alle Störungen hindurch flüssig zu erhalten. Das Bahnhofspersonal übertraf sich selbst bis zum letzten Rangierer und Weichensteller herab. Der 1. Juli brach an, strahlend blau. Telefonische Verbindungen über die nächsten Bahnhöfe hinaus gab es nicht mehr, Nachrichten über die militärische Lage ebensowenig. Der Tag wurde unmenschlich heiß. Man kam um vor Durst. Ein findiger Kopf dachte an die Limonade-Fabrik. Tausende von Flaschen Sprudel wurden angefahren. Auch Verpflegung gab es, Fleisch, Schinken, aber kein Brot. Immerzu trampten Landser an, einzeln, zu zweien, in kleinen Gruppen, bärtig, lumpig, an Stöcken hinkend, mit verbundenen Köpfen, Armen, Beinen, hoffnungslos niedergeschlagen und zum Umsinken erschöpft. Viele wurden mit abtransportiert und wenn sie in den Wagen waren, schliefen sie noch im Stehen ein. Die meisten von denen, die überhaupt noch fähig waren zu gehen, ließen sich jedoch nicht halten. Sie schnappten sich eine Flasche Wasser, tranken sie leer in einem Zug, warfen sie weg und stapften weiter. Aus ihren abgezehrten, stoppelbärtigen und vollbärtigen Gesichtern, aus dem Ausdruck ihrer Augen war zu lesen, was Krieg war, wenn der Gegner gegen einen Schützen zehn, gegen einen Panzer zwanzig, gegen eine Granate hundert setzte. Wenn der andere siegte. Und wenn dieser andere kein Soldat nach europäischem Muster war, sondern jene Wesensart und politische Erziehung verkörperte, für die Kampf und gnadenloses Töten dasselbe war. Oberrat Butek erkannte aus allen Anzeichen, daß nun auch für die letzten Eisenbahner die Stunden in Minsk gezählt waren. Mit der Zehnminuten-Zugfolge kam man nicht zu Rande. Die Züge mußten nun auf Sicht aus dem Bahnhof gepeitscht werden. Das Restkommando der Direktion, das Restpersonal des Bahnhofs
harrte aus, obgleich immer wieder Gefechtslärm zu hören war und keiner wußte, ob nicht im nächsten Augenblick Stalinpanzer auftauchen würden. Ihr Lohn war die Achtung, die sie vor sich selbst haben durften, und waren die dankbaren Worte und Blicke der hilflosen Verwundeten, die wußten, welches Los ihrer harren würde, wenn die blauen Kameraden vom Schienenweg nicht mehr wären. Pioniere kamen, bereiteten die Sprengung der Bahnanlagen vor. Der Russe sei am Ostrand der Stadt eingebrochen. Butek konnte ein längeres Verbleiben nicht mehr verantworten; er gab den Befehl zum Abrücken. Die einheimischen Bediensteten sollten auf Wunsch mitgenommen werden. Viele jedoch, wie auch die Hauskolonne im Hochhaus, zogen es vor, in die Wälder zu gehn, bis alles vorüber war. „Nix mehr gutt“, meinten sie treuherzig. „Deutsche kaputt“, machten das Zeichen des Aufhängens und verabschiedeten sich mit sorglosem Kinderlachen unter einem Schwall von Dankesworten, Umarmungen und Segenswünschen. Sie stanken alle, wie wenn sie die Hosen voll hätten, aber das kam nur vom Machorkarauchen. Frauen dagegen, meist Mütter mit Kindern, stellten sich in Scharen auf dem Bahnhof ein, baten kniefällig, mitgenommen zu werden und man verfrachtete sie, so gut es gehen wollte. Die acht vom Befehlszug und ein paar Bahnschutzmänner blieben noch, sowie das Lokpersonal für die letzten Züge. Butek und Gruhner, Meister und ihre Mitarbeiter waren alles in allem, Amtsvorstand und Bahnhofsvorsteher, Fahrdienstleiter, Rangierer und Weichensteller. Die Züge fuhren gebündelt, es durfte keine Minute mehr verloren werden; die Swislocz-Brücke konnte jeden Augenblick in die Luft fliegen. Es war schon Nacht, als die acht letzten Eisenbahner von Minsk aus dem Bahnhof polterten. Man fuhr langsam. Man hätte nebenher gehen können. Immer wieder gab es Stockungen, immer wieder mußte man eingreifen, teils indem man ein Telefon an die Leitungen schloß, teils, indem man kilometerweit an den Zügen entlang ging, bis man zur Ursache der Stockung kam und sie beheben konnte. Aber, wenn auch langsam, so ging zunächst doch alles gut. Auf den Blockstellen, Bahnhöfen, Haltepunkten wurden die noch verbliebenen Kollegen vom letzten Zug mitgenommen. Kurz vor Radoschkowitschi war es jedoch vorbei mit dem Weiterkommen.
Dort hielt eine unabsehbar lange Schlange von Zügen. In Richtung Molodeczno herrschte ein fürchterlicher Krach, der nichts Gutes ahnen ließ. Gruhner ging mit einem Telefon und zwei Bahnschutzmännern los, fragte von Zug zu Zug: „Wißt ihr, warum's nicht weitergeht?“ Niemand wußte es. Kein Transportleiter hatte für nötig gehalten, sich darum zu kümmern. „Das müssen Sie doch wissen, warum Euer Sauladen nicht klappt!“ raunzte ihn ein Kommandeur an. „Sie sind doch Eisenbahner!“ „Aber kein Hellseher!“ raunzte Gruhner zurück und ging pfeifend weiter. Er kam an einem Nachtjagdzug vorbei, einem jener Spezialzüge der Luftwaffe mit den riesigen Horchgeräten. Er stand unter dem Befehl eines Oberleutnants, der schon befürchtete, die kostbaren Geräte vernichten zu müssen. „Dazu ist immer noch Zeit. Warten Sie erst ab, ob wir nicht doch noch weiterkommen“, redete ihm Gruhner zu. In Radoschkowitschi war nichts festzustellen als der unausgesetzte Donner eines heftigen Artilleriekampfes. Im Bahnhof standen Heeresbeamte und Etappenoffiziere herum. Untätig. Ratlos. Damit, daß man einen Zivilisten in eine Uniform mit Schulterstücken steckt, macht man noch keinen Soldaten aus ihm. Der rangälteste Offizier war ein österreichischer Major. Er könne nicht aufklären lassen, er habe keinen Fieseler Storch. Eine Streife zu schicken, lehnte er ab. Im Bahnhof stand ein Zug mit beschädigten Panzern. Ein Leutnant war dabei. „Wollen Sie hier raus?“ fragte Gruhner. „Natürlich will ich.“ „Was fehlt Ihren Panzern? Können sie schießen?“ „Kann ich. Nur nicht fahren.“ „Munition haben Sie auch?“ „Jawohl, ziemlich.“ „Gut, dann schlagen wir uns auf alle Fälle durch. Denn daß da vorne gekämpft wird, beweist ja, daß wir auf eigene Truppen stoßen werden. Ich fahre auf einer Lok mit meinen beiden Bahnschutzmännern voraus. Sie geben mir eine Leuchtpistole mit, damit ich Signal schießen kann. Ich werde Ihrem Lokführer sagen, daß er auf Sicht nachzufahren hat. Ich werde sofort die nötigen Anweisungen geben.“
Sie dampften los. Der Gefechtslärm hatte sich inzwischen entfernt. Kurz vor Krasnoje lag der erste T 34 kopfüber dicht beim Bahnkörper. Nach hundert Schritten ein zweiter und dann lagen ein ganzes Dutzend russische Kampfwagen verschiedener Typen nördlich der Bahnlinie im Gelände verstreut. In der Ferne sah man noch eine Anzahl klein wie Käfer davonkrabbeln. Eine einzige 7,5 cm Flakbatterie hatte das feindliche Panzerrudel niedergekämpft. Von ihr selbst war allerdings auch nicht mehr viel übrig. Der Schienenweg nach Molodeczno war zunächst wieder frei, was dort aber los war, lag völlig im Dunkeln. Telefonanschluß war nicht zu bekommen. Die Spitze der Kolonne von Zügen kam bis Toloschin, kurz vor Molo. In der Nacht weiterzufahren, konnte nicht gewagt werden. Die hinter ihnen liegenden Züge kamen auch nicht. Was zum Teufel war da wieder los? In der Frühe des 3. Juli brach Gruhner mit seinen beiden Hanseln zu Fuß nach Molodeczno auf. Vom Iwan war nichts zu sehen, auch von Partisanen blieben sie unbehelligt. Die Bahngebäude waren rauchende Trümmerhaufen, die Gleise unbrauchbar, das Heimatgleis ausgenommen. Ein gemächlich brennender Zug stand da; wenn er Munition geladen hatte, fuhr durch diesen Bahnhof auch auf dem Heimatgleis kein Zug mehr. Der Lokschuppen und mehr als ein Dutzend Lokomotiven darin, waren unversehrt. Und an einem Wasserbassin, das wohl Feuerlöschzwecken gedient hatte, saßen gemütlich etliche Lokschlosser herum, zwischen ihnen der Betriebskontrolleur der Direktion, Amtmann Wutscher. Sie hatten eine Fischerpumpe hergerichtet und mittels Feuerwehrschläuchen eine Notbewasserung in Gang gebracht. Sie hatten nicht geglaubt, daß von Minsk her noch etwas kommen würde und sie hatten über den alten Artillerieoberst gelacht, der noch Geschütze verladen ließ. Gruhner ging zu ihm hinüber. Einzelne Ratas kamen, warfen kleine Bomben. Meist trafen sie nicht viel, weil sie merkwürdigerweise immer quer zur Strecke anflogen. Der alte Oberst ließ sich nicht stören. Als sich ein junger Leutnant auf den Bauch warf, sah er eine Weile auf ihn hinunter und sagte dann ruhig: „Wollen Sie nicht wieder aufstehen, junger Mann?“ Der Angriff der Ratas schien mehr der nahen Rollbahn zu gelten, über der die Staubwolken der Kolonnen lagen, auch
solcher, die feindwärts marschierten. Allmählich liefen die Räumungs- und Truppenzüge von rückwärts auf. Gegen Mittag verließ der erste Zug wieder Molodeczno. Bald darauf kam der Hilfszug des Bw zurück. Man brachte eine Notbewässerung in Gang. Die Soldaten bekohlten von Hand, zunächst von herumstehenden Lokomotiven, später am Kohlenhaufen. Gegen 17 Uhr kam ein zweiter Zug mit weiterem Molodecznoer Bw- und Bahnhofspersonal zurück. Sie erzählten die Räumungsgeschichte Molos: Aufgrund der bedrohlichen Lage hatte der Maschinenamtsvorstand am Abend des 1. Juli die Abfahrt des Personals angeordnet. Die PKW und LKW setzten sich zunächst bis zur Bahnkreuzung Wilna-Lida ab. Bw-Zug und Bf-Zug standen abfahrbereit besetzt. Küchenbaracke, Wohnbaracke fingen zu brennen an und gleich darauf auch der Rechteckschuppen. Angeblich waren sie von Luftwaffensoldaten in Brand gesteckt worden. Noch vor Tagesanbruch traf ein völlig erschöpfter Eisenbahner ein; er gehörte zum Werkstattzug Krolewschisna. Bei Wilejka sei der Russe durchgebrochen und habe mit Panzern und Infanterie die Räumungszüge von Krolew überfallen. Zwei Lok wurden geschickt, sie kamen nur mit einigen Wagen zurück. Die Züge konnten nicht geholt werden. Auch waren weitere Rettungsversuche unmöglich, weil nach ihrer Rückfahrt die Uschabrücke gesprengt worden war. Über die Mittagsstunden griffen Flugzeuge in drei Wellen den Bahnhof an. Gleich die erste traf einen für die Ausladung bereitgestellten Bewegungszug mit einer schweren Batterie. Er fing Feuer. Pferde brachen aus, die Muniwagen explodierten. Die Batterie erlitt große Verluste. Bei der zweiten Welle erhielt der bereitgestellte Bahnhofszug, eine SF-Garnitur, zwei Volltreffer. Ein Anzahl einheimische und acht deutsche Eisenbahner wurden getötet. Nach der dritten Welle brannte es rings um die Bahnanlagen herum, die mit Bombentrichtern übersät waren. Viele Eisenbahner, die aus dem Bf- und dem Bw-Zug geflüchtet waren, kamen nicht mehr zurück. Sie setzten die Flucht gleich selbständig fort unter Zurücklassung ihres ganzen Gepäcks. Artilleriebeschuß aus Richtung Wilejka vertrieb den Bw-Zug in Richtung Lida, der neu zusammengestellte Bf-Zug folgte ihm nach, nahm das Bahnhofspersonal von Poloczany mit und blieb über Nacht in Wolozyn. Eine Lagebesprechung des
Amtsvorstandes und der Dienstvorsteher mit dem Bahnhofskommandanten und Offizieren des Transportkommandos führte zur Rückfahrt eines ausreichenden Teiles des Personals nach Molo. Auch Bahnhof Poloczany wurde wieder besetzt. Reichsbahnrat Gruhner richtete sich in einem Bunker zwischen den Gleisen bei der Kreuzung Wilna-Lida ein. Er schleuste die letzten Molodecznoer Räumungszüge und die von Minsk her einlaufenden, sobald sie bekohlt und bewässert waren, einmal links Richtung Lida, einmal rechts Richtung Wilna durch. Dabei versuchte er fortwährend, mit irgendwelchen Bahndienststellen Verbindung zu erhalten, schloß seine Apparate an alle möglichen Leitungen an. Militärische Stellen meldeten sich, konnten ihm jedoch keine Auskunft über die Lage auf den Strecken geben. Zu seinem Erstaunen aber rappelte plötzlich ein Apparat und eine Stimme, die vor Getöse in der Leitung kaum zu verstehen war, rief: „Bahnhof Molodeczno, Achtung! Molodeczno! Keine Züge mehr in Richtung Wilna! Strecke bei Smorgoni durch Feind unterbrochen!“ „Wer spricht denn dort?“ fragte Gruhner. Er bekam keine Antwort mehr. Sekundenlang starrte er vor sich hin. Durfte er diesem Anruf trauen? Konnte er nicht von Partisanen oder einer russischen Truppendienststelle erfolgt sein, um alle Züge auf die Strecke nach Lida zu locken, weil nämlich gerade diese und nicht die nach Wilna irgendwo von ihnen besetzt war? Was aber blieb ihm anderes übrig, als zu glauben? Er durfte unmöglich den Betrieb stundenlang abstoppen, um eine Erkundung durchführen zu lassen. Also sperrte er die Strecke nach Wilna. „Alle Züge nach Lida!“ befahl er. Den Vorrang hatten nach wie vor die Verwundetenzüge. Immer wieder kamen Ratas, immer wieder fielen Bomben. Es gab Verletzte, es gab Tote. Aber es war unmöglich, jedesmal vom Betrieb wegzulaufen; dann wäre man überhaupt nicht mehr weitergekommen. Es gab rabiate Truppenkommandeure, die mit der Pistole in der Faust die vordringliche Abfertigung ihres Zuges verlangten. Mit der Pistole in der Faust machten ihnen die Eisenbahner klar, daß vordringlich nur die Lazarettzüge waren und daß im übrigen nach betriebstechnischen Gesichtspunkten gefahren wurde,
nämlich so, daß in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Züge auf die Strecke gebracht wurden. „Bomber im Anflug!“ gellte eine Stimme. Ja, das war nicht das Nähmaschinengeräusch der Ratas. Das wurde ernst. Aus den Zügen quollen die Landser, ohne Waffenröcke, ohne Mützen, rannten, was Herz und Lunge hergaben, um aus dem Bahngelände herauszukommen. Und schon fielen die ersten Bomben. Der einzige noch nicht abgegangene Hilfslazarettzug wurde getroffen. Die nicht gehfähigen Verwundeten schoben sich aus den Türen der Güterwagen, Landser ohne Beine ließen sich einfach fallen, blieben liegen, krochen, wälzten sich fort. Landser ohne Arme, Ärzte, Sanitäter, Zugpersonal rannten taumelnd durcheinander, brachen blutend, verstümmelt zusammen. Wagen zerbarsten, schleuderten die Menschen aus sich heraus. Überall standen schwarze Riesenpilze aus Dreck, Rauch, Trümmern. Sanken langsam in sich zusammen, verhüllten die Bilder des Grauens. Markerschütterndes Geschrei erfüllte den Bahnhof von einem Ende zum andern. Nachts 1 Uhr traf Oberrat Butek mit dem Minsker Restkommando ein. Es war der letzte Zug. Zehn Züge mußten verloren gegeben werden. Sie waren schon zwischen Sasslawl und Krasne liegen geblieben. Opfer von Panzern und Fliegern. Auch Butek hatte Zusammenstöße mit Offizieren gehabt. So war das Minsker Zugbündel einmal wieder zum Halten gekommen, weil Partisanen das Gleis ein beträchtliches Stück weit gesprengt hatten. Der vorderste Zug war ein Lazarettzug mit Schwerverwundeten. An Wiederherstellung war nicht zu denken, zudem ja Hilfs- oder Bauzüge nicht beigebracht werden konnten. Die Züge mußten also zum nächsten Bahnhof zurückgedrückt werden, damit sie auf das falsche Gleis geleitet werden konnten. Man hätte nicht glauben mögen, daß es Offiziere gab, die sich dieser Maßnahme widersetzten. Bis Butek und Meister die Pistolen zogen. Nach einigen Stunden klebte man wieder einmal. Der Iwan hatte die Strecke unterbrochen. Ein Rudel T 34 stand auf dem Bahndamm. Entfernung 6 Kilometer. Butek ging vor und kam zu den großen Horchgeräten des Spezialzuges der Luftwaffe. „Sie haben doch Funk. Funken Sie mal die Generalverkehrsdirektion in Warschau für mich an!“ forderte er den Offizier auf.
Der hatte Bedenken: „Wenn uns der Iwan auspeilt, haben wir in zwei Stunden seine Bomber über uns.“ „Die kommen sowieso. Oder die Panzer rollen an. Eben darum funken Sie! Sagen Sie: Hundert Züge mit Lazaretten, Truppen und unersetzlichen Maschinen liegen zwischen Minsk und Molodeczno Wir brauchen Jagdfliegerschutz. Und wir brauchen Panzer, die uns da vorne die Strecke freikämpfen.“ Es hatte geklappt. Nach einer Stunde flitzten deutsche Jäger über den Zügen, keine Rata ließ sich mehr sehen und kein Bomberpulk kam auf. Zwei Stunden später trieben ein paar ,Tiger', die von irgendwoher vorgestoßen waren, die russischen Panzerspitzen von der Bahnlinie zurück und es ging weiter. Am Morgen blieb man wieder liegen. Partisanen hatten die Strecke gesprengt. „Wir fahren auf dem falschen Gleis vor und stellen sie wieder her“, erklärte Butek dem Kommandeur eines Truppentransportes. „Aber wir brauchen Wehrmachtsschutz.“ Er konnte ihn nicht bekommen. Auch das gab es: Offiziere, die ihre Schulterstücke entfernt hatten, Kommandeure, denen nicht mehr gehorcht wurde. Landser, die geistig und körperlich so sehr am Ende waren, daß sie seit drei Tagen nur noch schliefen. „Alle Eisenbahner“, schrie Butek, „die Lokführer ausgenommen, mit Karabinern antreten!“ Sie rückten an die Sprengstellen und während die einen nach allen Seiten sicherten und sich mit den immer wieder aus dem Hinterhalt schießenden Partisanen herumschlugen, flickten die andern die Gleise. Klein beigeben hatte es nicht gegeben. So war das Minsker Restkommando wieder zusammen. Es hatte an dem erfahrenen und tatkräftigen Betriebskontrolleur Wutscher noch eine hervorragende Hilfe gefunden und schleuste mit dem zurückgekehrten Teil des Molodecznoer Bw- und BfPersonals weiter Zug auf Zug aus dem übel zugerichteten Bahnhof. Dabei wurden auch noch eine große Anzahl Bewegungszüge hereingeholt und an der Rampe ausgeladen. Ein Sprengzug der Eisenbahnpioniere rollte an, am Zugschluß hing ein offener, hochbordiger eiserner Karren, das Schwellenaufreißgerät. Gehört hatten sie schon von diesem Streckenmordinstrument, aber die meisten sahen es zum erstenmal. Oberleutnant Ramm, der die Feldgrauen führte, brachte neuen Auftrieb in die Reihen seiner blauen Kameraden. Der Ostfeldzug hatte ihn hartgeschweißt. Er konnte manches Lied
singen. Auch vom grünen Tisch. „Gut, daß hierher keine Kommissionen kommen!“ lachte er. „Sie würden mich nämlich zur Rechenschaft ziehen, weil wir Schwellen und Schienen zerstören, anstatt sie unter listenmäßiger Erfassung jeder Schraube sorgsam auszubauen und in die Heimat zu befördern!“ Er hatte einmal das friedensmäßig vorgeschriebene Maß für eine Rampe zwangsläufig um einige Zentimeter unterschritten, prompt hatte er sich vor den Paragraphenreitern rechtfertigen müssen. Im härtesten Winter, als es ganz unmöglich gewesen war, für ein wiederherzustellendes Streckenstück einen Unterbau zu schaffen, hatte er die Schwellen einfach auslegen und die Schienen draufnageln lassen, dann war er langsam mit der Lok darübergefahren, hatte den Tender geöffnet und das Wasser auslaufen lassen. Im Nu waren Schienen, Schwellen und Boden eisern miteinander verbunden und die Züge rollten darüber wie über den besten Unterbau. Er aber wäre dafür beinahe in des Teufels Küche gekommen. „Unsere deutsche Pedanterie hilft uns, den Krieg verlieren!“ sagte er. Was waren die Russen dagegen für Kerle! Bei der Belagerung Leningrads hatten sie tollkühn auf dem zugefrorenen Ladogasee Schwellen und Schienen gelegt. Fielen bei ihnen Lokomotiven aus, spannten sie einfach Pferde oder die nächstbesten Zivilisten vor die einzelnen Wagen und fuhren weiter. Bei gesprengten Brücken schafften sie die Waggons kurzerhand auf roh gezimmerten Fähren über den Fluß und stellten den Zug auf der anderen Seite wieder zusammen. Oberleutnant Ramm hätte stundenlang erzählen können, aber es war noch anderes zu tun. Da standen kalte Lok herum; er ließ sie schleunigst zu einem Lokzug zusammenstellen und abfahren. Noch in der Nacht zum 5. Juli, im Scheine der lodernden Brände, verließ der Zug mit den Minskern den Bahnhof. Um 4 Uhr 30 folgten die Letzten vom Betriebswerk und Bahnhof Molodeczno selbst. Sie sahen noch, zehn Minuten später, von der großen Kurve aus die Sprengung des Bw und des Wasserturms. Die Fahrt nach Lida war für alle Züge ein einziges Spießrutenlaufen unter den Bomben, Bordkanonen und Maschinengewehren der russischen Flugzeuge, unter den Granaten russischer Panzer, die bald hier, bald dort auftauchten. In den Mittagstunden wurde der Bahnhof Wolozyn von
Tieffliegern und Bombern angegriffen. Immer wieder mußte gehalten werden. Man wußte nicht, warum. Kilometerweise, hundertmeterweise ruckten die Zugbündel vorwärts, oft dauerte die Stockung nur Minuten, oft Stunden. Immer wieder mußten Butek oder Gruhner oder Meister mit einigen ihrer Männer auf dem falschen Gleis vorfahren, wo das unmöglich war, stundenweite Eilmärsche machen, um zur Ursache der Aufenthalte zu kommen. Da war einmal ein Zug auf seinen Vorläufer aufgefahren, hatte dessen drei letzte Wagen ineinandergeschoben. Auf ihnen waren die Eisenbahner gewesen; es lebte keiner mehr. Es gab keinen Kran. An einem fünfzig Meter langen Seil, an das sich hundert Mann hängten, wurde der Wagenhaufen aus dem Weg gezerrt. Es dauerte Stunden und ungezählte Male mußte man vor den Ratas von der Strecke verschwinden. Den Lokomotiven ging das Wasser aus. Oder die Kohle. Oder beides. Landser waren meist willig zur Hand. Sie wußten ja, daß alles für sie selbst geschah. Sie schlugen unter Führung der Eisenbahner Holz in den Wäldern, mußten es zur Bahn schleppen. Sie bildeten Eimerketten, um aus Bächen und Tümpeln die Tender zu füllen. Lokführer fielen aus, mußten durch Bw-Arbeiter ersetzt werden. Bahnhöfe, die verlassen waren, weil das Personal die Flucht ergriffen hatte oder gefallen war, wurden von Bürobeamten besetzt, die den Mut hatten, noch auszuharren und bis zum letzten noch ausstehenden Zug die verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen. Statt fünf Stunden brauchte man dreißig und fünfzig Stunden nach Lida. Aber auch dort war es mit Mühe und Not, Verderben und Tod nicht zu Ende. Sie hefteten sich an die Züge, hefteten sich den Eisenbahnern an die Fersen, man konnte sie nicht mehr abschütteln. Auch auf Lida prasselten Bomben, zerstörten die Anlagen, verwundeten und töteten Landser und Eisenbahner. Auch hier loderten in Bahnhof und Stadt die Brände, die Zeichen des bevorstehenden Endes. Am 8. Juli nachmittags begannen die Sprengungen. Feindliche Bomber und Geschütze waren behilflich. Wutscher stellte dem Minsker Zug die Weiche. Plötzlich sank der Körper zusammen und die Kameraden sahen mit aufgerissenen Augen, daß er keinen Kopf mehr hatte. Ein Bombenscherben oder eine Granate
mußte ihn weggerissen haben. Keiner sprach ein Wort, aber alle sahen sie aus, wie wenn sie am liebsten Erde und Himmel mit den Fäusten zusammengeschlagen hätten. In Skrzybowce war durch einen Wasserbauzug zusätzlich eine Notbewasserung eingerichtet worden, die sich gut bewährte. Der Bahnhof mußte jedoch freigemacht werden, damit dort Truppenzüge unbehindert entladen werden konnten. Die Fahrt nach Bialystok verlief im großen Ganzen etwas flotter und ungestörter, als man seit Minsk gewohnt war, kurz vor dem Ziel jedoch ging auch hier ein Hagelwetter von Bomben auf die Züge nieder. Die Minsker, zusammengeschweißt in diesen Tagen auf Leben und Tod, rannten querfeldein, fuhren in einen Kartoffelkeller wie gehetzte Füchse in den Bau. Weiber mit Säuglingen und kleinen Kindern hockten drin. Es stank wie nach Sautrog. Die Erde wackelte unter den nahen Einschlägen und die Menschen wackelten mit. Die Kinder plärrten und die Weiber rangen die Hände und sabberten Gebete. Es war nicht zum aushalten. „Maul halten!“ brüllte Meister und ließ eine Flasche Schnaps herumgehn, auch bei den Weibern. Sie soffen, wurden ruhiger und gaben aus ihren Mäulern auch den Kindern einen Schluck. Der Schnaps gebar neuen Mut. Und da war noch eine zweite Flasche. „Lisa, Lisa, schenk' dem Reservemann Himbeerwasser ein -“ stimmte einer an und die anderen fielen ein. Sie hatten alle heisere Stimmen. Man mußte viel scharfe Sachen durch die Kehle gießen, wenn man seelisch auf den Beinen bleiben wollte.
19. KAPITEL
In dem Augenblick, als Günther Racke am Morgen des 1. Juli kurz nach einem Luftangriff in Minsk von einer Lok aus Richtung Kolodischtschi stieg, sahen ihn Jankas Augen an. Sie sahen ihn aus dem schmalen, blassen Antlitz einer Luffwaffenhelferin an, die am offenen Fenster eines Räumungszuges des Flughafens Minsk stand, der eben den Bahnhof verließ. Die Lok seines Zuges wurde abgespannt, die neue Lok auf den Zug gestellt - er stand noch an der gleichen Stelle und starrte hinter den Augen her, die mit jenem Zuge schon lange entschwunden waren. Er starrte über die Bombentrichter zwischen den Gleisen, die zerfetzten Schienen und Schwellen und die Bua-Rotten hinweg, die überall beim Aufräumen und Ausbessern waren. Er sah von alledem nichts, er sah nur die Augen im Antlitz des fremden Mädchens, die wie die Augen Jankas gewesen waren. Als hätten sie einen Damm in ihm zerrissen, so stürzten die Erinnerungen an sie über ihn her: Das Mädchen im Pripetmoor, der knabenhafte Soldat im Partisanenlager der Donsteppe, die niedergeschossene Partisanin auf dem Bett der Kate in Priko, von der das Blut wie Wasser aus einem Brunnen floß. Die Tage in Charkow und die Trennung, das Wiedersehen in Minsk All das, wie alles, was an Licht und Freude in seinem Leben gewesen war, Liebe, Güte, Mitgefühl mit andern und Freundschaft hatte der Schmerz um Weib und Kind mit wütender Hand wie toten Plunder aus seinem Herzen gefegt. Dann war auch der Schmerz um Eva und Wolf Günther erstarrt. Alles Empfinden in ihm war erstorben. Er war von einem Einsatzgebiet der deutschen Eisenbahner zum anderen gefahren, durch ein halbes Dutzend Länder, und hatte seinen Auftrag erfüllt, ohne innere Anteilnahme erlebend, ohne innere Anteilnahme berichtend. Ohne menschliche Wärme war er im Umgang mit seiner Umwelt geworden, schroff gegen andere in seinem Bedürfnis, allein zu sein, schroff gegen sich selbst, wenn ihn wie ein schleichendes Fieber plötzlich doch wieder der Schmerz anfiel und wie einen leeren Sack schüttelte. Neun Monate hatte er Janka, sieben Monate die neben Bunz besten Freunde, Schepperl und Liebedorn, nicht mehr gesehen.
Er hatte ihre Briefe, die anfänglich gekommen waren, wie alle Briefe, außer der Dienstpost, ungelesen verbrannt. Er wollte an nichts erinnert werden. Er fürchtete die Gedanken an die Zeit seines großen Glücks. Er floh vor all jenen vermuteten gutgemeinten Worten, die an ihm reißen würden, bis die Narben aufbrachen. Und jetzt hatten ein paar Mädchenaugen von einem Atemzug zum andern das Grab seines Herzens gesprengt. Da war Janka, ein Geschöpf, für das er Glück und Leben bedeutete! Da waren zwei Kameraden, die er von sich gestoßen hatte! Da war das Leben und rief nach ihm! In den schwarzen Rauch aus dem Lokschlot mischten sich puffende weiße Dampfballen. Die Kolbenzylinder zischten, die Räder fingen langsam, fast unmerklich an sich zu drehen. Racke zog seine Gedanken und seinen Willen an sich, ein tiefer Atemzug weitete seine Brust. Er entdeckte, daß noch der Rauchund Staubschleier und Geruch des Luftangriffs über den Gleisen hing und der Qualm schwelender Brände vorüberzog. Er enterte die Loktreppe hoch. „Ich fahre mit.“ Er bekam keine Antwort. Der Lokführer hatte seine Hände an Regler und Steuerung, die Augen an der Fahrstraße und der Heizer riß gerade die Feuertüre auf, schaufelte Kohlen in den glühenden Rachen. Sie hatten, trotz seiner für einen Eisenbahner außergewöhnlichen Auszeichnungen, kaum einen flüchtigen Blick auf den Oberinspektor geworfen. Ihr Sinnen und Trachten schien nur noch auf ein Ziel ausgerichtet zu sein: Weg! So rasch und so weit wie möglich weg vom Russen! Sie hatten Glück und waren glücklich, daß ihr natürliches menschliches Interesse zugleich ihrem Dienstbefehl entsprach. Nur ruckweise ging es vorwärts. Gegen Mittag stand der Zug, eine lange Kette von Zügen auf Sicht vor und hinter sich, nahe Molodeczno. Racke fragte von der nächsten Blockstelle im Bahnhof an, ob mit baldiger Weiterfahrt gerechnet werden könne? Er wurde grob abgefertigt: Wo sollten sie hinkommen, wenn jeder die Leitungen in Anspruch nehmen wollte, um blöde Fragen zu stellen! Er dachte, recht haben sie und machte sich kurz entschlossen auf den Weg. Nach eineinhalb Stunden war er im Bahnhof. Noch keiner der Züge war inzwischen angekommen. Molo war bis zum letzten Gleisende vollgestopft. Züge aus Richtung Krolewschisna
wurden überhaupt verweigert, sie stauten sich schon bis Wilejka. Wilde Gerüchte über russische Panzer in dieser Gegend gingen um. Beim Maschinenamt erfuhr er, daß der Amtsvorstand aufgrund der militärischen Lage schon am Vorabend dem Bw in Krolewschisna befohlen hatte, sich um 23 Uhr nach Molo in Marsch zu setzen. Die Bahnhöfe Zahacie und Ziabki dicht nordwestlich Krolew waren nämlich von russischen Panzerspitzen erreicht worden und die Besatzungen geflohen. Da aber die Strecke zwischen Budslaw und Kniahinin infolge Sprengungen durch Partisanen noch gesperrt gewesen war, hatten die drei BwZüge ihre Fahrt erst am frühen Morgen antreten können. Seither war nichts mehr von ihnen bekannt. Die Telefonverbindungen waren unterbrochen. „Und die Bahnhofsbesatzung von Krolew?“ fragte Racke. Achselzucken. Racke wußte, er konnte von einer Dienststelle zur andern laufen, gleichgültig ob Bahn oder Wehrmacht, und würde nicht mehr erfahren; er mußte handeln. Aber wie? Züge in Frontrichtung Nord fuhren nicht. Die Truppentransporte und Versorgungszüge wurden schon in Molo ausgeladen. „Gebt mir eine Draisine!“ „Sie müssen doch einsehen, daß die hier unentbehrlich sind.“ Er sah es ein. Er war wütend, daß er nicht Kraftfahrer war, er hätte ein Motorfahrzeug einfach gestohlen! Da sah er bei der BwWerkstätte etwas anderes stehen. Dieses Etwas war der Motorwagen eines Remafahrzeuges. Gegen Empfangsbescheinigung hatte er ein paar Minuten darauf die Erlaubnis, mit dem Krempel zu machen, was er wollte. Ein BwSchlosser zeigte ihm die Bedienung, Anlassen und Abstellen des Motors, bremsen, Sandstreuen. „Aber Sprit brauchen Sie“, sagte er und kratzte sich hinter den Ohren. „Mit der Pfütze, die noch drin ist, kommen Sie nicht mehr zum Bahnhof hinaus.“ „Und wo bekomme ich ihn her?“ „Ja, da ist guter Rat teuer.“ „500 Zigaretten“, sagte Racke. Er hatte in Borissow 1000 vor einem brennenden Magazin auf der Straße aufgelesen. Es dauerte eine halbe Stunde, dann war Sprit da. „Bis Krolew kommen Sie damit“, sagte der Lieferant. Racke rannte zum Fahrdienstleiter, ließ sich auf das Frontgleis Richtung Molo durchschleusen und rasselte mit 25
Stundenkilometern in die Gegend. Es war keine Luxuslimousine, aber es ließ sich darin sitzen. Auch der Rucksack hatte Platz und wenn's sein mußte, konnte sich noch ein zweiter Mann in eine Ecke klemmen. Ohne auf ein Hindernis zu stoßen, fuhr er auf dem Frontgleis am Korso der Räumungszüge vorbei. Die Eisenbahner machten nach seinem ulkigen Kasten, der wie ein vorn und hinten zugespitzter Käfig aussah, lange Hälse; mancher, der das Ding kannte, wenn es auch diesmal keinen Zündwagen vor sich herschob, winkte ihm lachend zu. Racke ließ kein Auge von der Strecke, an den Blockstellen vorbei und durch die Bahnhöfe fuhr er im Schritt. Den mißtrauischen Landsern an den Unter- und Überführungen und Brücken zeigte er sich stets vorsichtshalber, bevor sie ihre Schießprügel in Anschlag brachten, und wies sich mit Zurufen aus, die sowohl nach Begriffen wie Aussprache keinen Zweifel an seiner deutschen Echtheit zuließen. Das Anhalten aber sparte er sich, nachdem er sich mehreremale vergeblich erkundigt hatte, was auf der Strecke nach Krolew los sei und was sie vom Iwan wüßten. Sie redeten zwar viel, aber genau genommen wußten sie nichts, weder was den Betrieb, noch was den Iwan betraf. Man wartete eben, machte Witze, spielte Karten, erzählte sich wahre und unwahre Begebenheiten aus allen Ressorts des dienstlichen und privaten Lebens. Es würde schon mal weitergehn. Sich darum zu kümmern, war Sache der Zugleitungen und der Amtsvorstände. Sie hatten Zeit. Wenn der Iwan auftauchte, ging man eben stiften. 14.30 Uhr hielt Racke beim Empfangsgebäude Wilejka. „Wissen Sie etwas von den Räumungszügen von Krolewschisna?“ fragte er den Kollegen. Zwei stünden seit Mittag vor dem Einfahrsignal. Eben scheine noch ein dritter gekommen zu sein. Solange Molo den Rückstau nicht angenommen habe, könnten sie die Züge nicht hereinholen. Racke fuhr weiter, hielt neben der Lok des ersten Zuges. Hier und beim nächsten, der dicht aufgeschlossen war, ging es lebhaft zu. Im ersten waren nicht nur Räumungsgüter, in der Hauptsache Werkzeugmaschinen, sondern auch ein großer Teil der einheimischen Hilfskräfte des Bw, etwa 150 Männer und einige Frauen, im zweiten die deutsche Bw-Gefolgschaft, abzüglich der Urlauber und der Lokpersonale, die sich unterwegs befanden,
auch mehr als 100 Mann. Der vor kurzem angekommene dritte Zug, der Hilfszug des Bw, führte auch den Drehereiwagen eines Werkstättenzuges mit, der in Krolew abgestellt gewesen war, ferner zwei betriebsfähige und zwei Schadlok. Am Zugschluß hatten Pioniere ihren Wagen angehängt. Die beiden vorderen Züge standen unter dem Befehl des Bw-Gruppenleiters, den Hilfszug, der nur mit elf Schlossern besetzt war, führte der Einsatzgruppenleiter, der technische Reichsbahnobersekretär Hüll. Racke kannte sie beide und noch viele andere. „Was ist mit der Bahnhofsbesatzung?“ fragte er. „Der Bahnhof hatte noch Dienst zu machen, als wir abfuhren“, erzählte Hüll. „Es waren noch einige Züge über Glebokie abzufertigen und in Parafianow wurde ich ans Telefon geholt. Krolew verlangte die Rückkehr des Hilfszuges, weil kein Wasser mehr da war. Die 200 Kubik aus dem Bw-Wasserturm waren schon verbraucht worden und es mußten noch zwei Lok für den Schwellenreißer der Eisenbahnpioniere bewässert werden. Das Pumpwerk hat schon am Vorabend nicht mehr gearbeitet. Dem Wärter war es in seiner Waldeinsamkeit zu unheimlich geworden, als die Stützpunktbesatzung abgerückt war. Er wollte sich nicht den Hals abschneiden lassen und handelte nach dem Grundsatz, was euch recht ist, ist mir billig.“ Hüll sagte, er habe die Rückkehr des Hilfszuges als überflüssig abgelehnt. Es genüge, hatte er ihnen gesagt, wenn er mit dem Kraftwerkswagen zurückkomme. Dann könne mit der Uta-Pumpe der Bw-Brunnen betrieben und der Wasserturm noch einmal gefüllt werden. „Der Kraftwerkswagen“, fuhr Hüll fort, „steckte aber im Zug 1, bei dem sich der Bw-Vorsteher befand. Ich konnte ihn in Budslaw telefonisch erreichen. Scharmuth fuhr darauf selbst mit dem Kraftwerkswagen und 5 Schlossern nach Krolew zurück. Das war schon gegen 9 Uhr früh. Seither habe ich von Krolew nichts mehr gehört. Den Bahnhof telefonisch zu erreichen, ist unmöglich.“ „Na, dann machen Sie's gut“, sagte Racke. „Ich werde mal hinfahren.“ „Was wollen Sie denn noch dort?“ riet Hüll ab. „Bis Sie hinkommen, ist der Bahnhof sicher schon geräumt und gesprengt. Außerdem sollen die Pioniere bereits mit der Zerstörung der
Bahnanlagen zwischen Krolew und Budslaw begonnen haben. Wahrscheinlich kommen Sie gar nicht mehr durch.“ „Und Bahnhof und Bahnmeisterei?“ „Die werden sich wohl über Glebokie absetzen. Die Strecke war zwar heute früh ab Woropajewo noch unterbrochen, inzwischen ist sie aber zweifellos instand gesetzt. Sie riskieren, daß Sie in Krolew schon vom Iwan oder Partisanen in Empfang genommen werden.“ Racke sah nachdenklich am Bahnkörper entlang. Im schmalen Schattenstreifen auf der Ostseite der Züge lagen und schlenderten viele Eisenbahner herum, deutsche, russische, polnische. Auch Landser waren dazwischen. Sie waren da und dort unterwegs zugestiegen, ob mit oder ohne Marschbefehl, stand dahin; nun, das hatten sie ja selbst zu verantworten. Viele der Männer hatten nackte Oberkörper, manche nur eine Badehose oder kurze Arbeitsdiensthose an. Sie versuchten, in der frischen Luft der drückenden Hitze ein wenig zu entgehen. Racke dachte, vielleicht hat Hüll recht. Und Schepperls und Liebedorns wegen brauchte er sich, wie ihm nun klar war, keine Sorgen zu machen. Sie rechneten sowieso nicht damit, von einem solch traurigen Verräter an ihrer Kameradschaft, wie er einer war, jemals wieder etwas zu hören. Wenn ihm Schepperl einmal beim Wiedersehen eine Ohrfeige gab, würde er ihm auch die andere Wange hinhalten. Neben dem Zug 2 hatte sich eine dichte Gruppe Eisenbahner und Landser gebildet. Von ihr her scholl Gesang. Auch ein Akkordeon war zu hören. Sie sangen das Leib- und Magenlied der Front und der Heimat, das große Lied der kleinen Lale Andersen, das der Soldatensender Belgrad sogar bei den Feinden beliebt und berühmt gemacht hatte. „Unter der Laterne vor dem großen Tor...“ Racke ging langsam auf die Gruppe zu. Er würde auf jeden Fall nach Krolew fahren. Janka wartete auf ihn. Auch andere näherten sich den Singenden. Aus den Fenstern der nächsten Wagen hingen immer mehr Köpfe. Und dann stand einer in dem dichter und dichter werdenden Kreis und sang allein, sich selbst begleitend. Eine stattliche Gestalt in ölverschmiertem schwarzen Zeug, eine ebenso schwarze und verschmierte Schirmmütze aufs Ohr gedrückt. Lokschlosser oder Heizer. Ein junges, rundes, heiteres Gesicht. Ein hoher Tenor.
Er sang ein Walzerlied. Die Stimme war nicht geschult, aber sie war naturrein kraftvoll, Sie strahlte von Glanz und Leben. War sie einmal ausgebildet, kam sie zweifellos den größten und schönsten gleich und würde von den Bühnen der Theater und den Podien der Konzertsäle die Welt begeistern. „Einmal noch küssen, einmal im Mai, einmal noch lieben, eh' es vorbei!“ Racke wollte sich nach dem Ende des Liedes mit dem Manne unterhalten. Der gehörte nicht auf die Lok und nicht ins Bw. Seine Arbeit konnten tausend andere auch machen, aber nicht einer unter hunderttausend hatte eine Stimme wie er. Racke war gerade dabei, sich durch den Ring der Zuhörer Bahn zu brechen, als er eine unbekümmert laute Stimme hinter sich hörte, die er überall vermutet hätte, nur hier nicht: „Du da vorn mit dein g'schnickelt'n Schifferl! Drah di amoi um, daß i siech, ob's d'as bist oda ob's d'as net bist!“ Racke drehte sich nicht nur um, er fuhr herum und sah einige Reihen weiter zurück Schepperls Gesicht zwischen den Schultern zweier Vordermänner, die er mit seinen klobigen Pratzen gepackt hatte und auseinanderdrückte. Und über Schepperls gesträubter Haarbürste tanzte Sigis Adamsapfel erregt auf und ab. „Er is's!“ schrie Schepperl, ohne sich um die erlesenen Schimpfworte zu kümmern, die ihm wegen seiner Störung des Gesangs an den Kopf flogen. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, hörte Racke die Stimme in heller Aufregung. „Siggst as, Sigi! Hob i d'as g'sagt, er is's, oda hob i d'as net g'sagt?“ Wie ein Rammbock stieß er seine beiden Vordermänner rechts und links zur Seite und Racke drückte sich ihm rasch entgegen, damit es nicht noch zu einer Rauferei kam, drückte ihn rückwärts aus dem Haufen der murrenden Zuhörer hinaus. „Ja servus, Racke! Oide Hütt'n! laß di griaß'n!“ schrie Schepperl. Er gab ihm keine Ohrfeigen, viel schlimmer: er zerquetschte ihm die Hand in der rechten Faust und hämmerte ihm die linke gegen den Brustkorb, daß es nur so dröhnte. Racke kam kaum dazu, auch Liebedorn die Hand zu geben. „Was macht denn ihr hier? Seit wann gehört denn ihr zum Bw?“ fragte er kopfschüttelnd. Er bekam nicht sofort Antwort. Liebedorns wasserblaue Kinderaugen hingen ebenso fassungslos an Rackes
Beförderungssternen und an dem Deutschen Kreuz in Gold, wie an seinen hart gewordenen Zügen, den kalten Augen, und Schepperl hatte, während sie sich an die Böschung setzten, erst einmal zu einer gründlicheren Begrüßung Atem geholt. „Ja gibt's 'n des aa? Du Hodalump, du abscheiliga!“ fuhr er los. „Weglaffa und nix meh hör'n laß'n! Koa Antwort net ge'm auf koan Brieaf net! De oid'n Spezl'n koa Wort net zuakemma lass'n! Ja so a Hammi, so a ohdrahta! Ja was bist nacher du für a Tropf, für a eiskoita, ausgschamta!“ Jetzt mußte er erneut Atem schöpfen. Liebedorns Gurgelknopf war die ganze Zeit nicht mehr zur Ruhe gekommen. Seine Blicke beschworen Racke, Schepperls Schmähungen um Gottes Willen nicht übelzunehmen. Racke dachte nicht daran. Die Härte seiner Züge, die Kälte seiner Augen schienen im Gegenteil milder geworden zu sein und er legte die Arme um beider Schultern. „Recht, Sepp. Das hat mir gut getan. Aber von allem andern haltet's Maul. Und eins weiß ich immer noch nicht: „Wieso ihr zwei Erzgauner hier seid und nicht bei der Bahnhofsbesatzung in Krolew?“ „Weil da Sigi oiwai d' Hos'n voll hat.“ „Nö-nö!“ wies Liebedorn den Vorwurf entrüstet zurück. Er hatte sich sogar vor drei Tagen freiwillig mit Schepperl auf die Blockstelle Porpliszcze gemeldet, als Partisanen die zwei Eisenbahner dort geklaut hatten. Aber heute morgen waren Pioniere gekommen und hatten gesagt: „Was macht ihr denn noch hier? Haut bloß ab, ihr Nachtwächter!“ Und kurz darauf waren die Bw-Räumzüge angerollt. Da sie angeblich die letzten Züge auf der Strecke waren, hatten sie vorgezogen, da einzusteigen, statt mit ihrem Gepäck zwei, drei Stunden lang nach Krolew zu latschen. Racke zog Zigaretten aus der Tasche. Sie rauchten. „Jawoi hot a d'Hos'n voll“, behauptete Schepperl noch einmal nachdrücklich. Liebedorn machte nämlich schon seit drei Stunden an ihm herum, er solle mit ihm nach Molodetschno tippeln. Wann die Züge führen und ob sie überhaupt noch führen, wisse man nicht, aber uff ihre Hammelbeene könnten sie sich verlassen. Schepperl hatte natürlich abgelehnt: Er könne ja einen vierstündigen SA-Gepäckmarsch machen, aber ihm seien seine Haxen zu schade.
„Jetzt warten wir schon vier Stunden“, sagte Liebedorn vorwurfsvoll „und säßen längst gemütlich in Molo.“ „Aba net g'müatlicha wia do“, brummte Schepperl. „Und wenn nu Fliecha kommen?“ „Moanst in Molo kemma s' net?“ „Ick meen, ick hör so wat.“ „So? Mit dein sechst'n Sinn?“ sagte Schepperl wegwerfend, spitzte aber doch die Ohren. Ein neues, fröhliches Lied klang von der Sängergruppe herüber: „Und kommt der Frühling in das Tal...“ sonst war außer dem Lärm des Lebens und Treibens in und an den Zügen entlang wirklich nichts zu vernehmen. Schepperl fiel jetzt die Frage wieder ein, die ihm von Anfang an auf der Zunge gelegen hatte. Sein Kopf ruckte zu Racke herum: „Was machst nacher du pfeigrod in deen Kaff do?“ „Ich bin auf der Fahrt nach Krolew.“ Kurzes Schweigen, dann hustete Liebedorn und dann sagte Schepperl: „Do g'we'n is.“ Liebedorn nickte gewichtig. Wieder Schweigen. „Jeden Tag is do g'we'n“, bekräftigte Schepperl. „... küß'-ich-die-Lore noch einmal!“ scholl's bei aller Hitze frisch und munter in den sonnigen Tag. „Mit was foahrst'n nacher?“ fragte Schepperl und sah sich um. Racke deutete nach der anderen Seite, wo der RemaMotorwagen neben dem Hilfszug auf dem Frontgleis stand. „Wos?“ fuhr es Schepperl heraus. „Mit deem Scheeserl, dem windig'n?“ Racke nickte. „Nicht windiger als eine Draisine.“ „Und ganz alloa? Wo scho oiss 'türmt is auf da Streck'n?“ Racke gab keine Antwort. „Naa, oida Freind, so an Selbstmord leid' i net“, protestierte Schepperl weiter. „Iatz fahrst mit uns nach Molo!“ „Nein, Sepp. Sei mir nicht böse. Ich muß nach Janka sehen.“ „Sso!“ Schepperl sah wütend in die Gegend, dann wuchtete er den stämmigen Körper auf die nicht weniger stämmigen O-Beine und befahl: „Guat, Sigi. Hol' ma 's Graffl.“ „Lore! Lore! Lore! Lore!“ brüllten die Sänger. Liebedorn starrte mit hängender Unterlippe in Schepperls entschlossene Miene, warf dann Racke einen hilfesuchenden
Blick zu. Er sah auf einmal trotz des Sonnenscheins aus wie drei Tage Regenwetter. Und da fiel Racke etwas ein. „Sigi, dir darf man ja nun wohl mehrfach gratulieren?“ sagte er. Liebedorn schlug die Augen nieder und hauchte: „Kondolieren.“ Schepperl grinste: „Vierfacha Vadda und net amoi 'n Stammhoita!“ „Wieso vierfacher?“ fragte Racke teilnahmsvoll. „Zweng Zwilling!“ nahm Schepperl dem Tiefgebeugten die Antwort ab. Racke sah ins Leere und dann sagte er leise: „Eigentlich ist das schön. Ich an deiner Stelle würde mich freuen.“ „Uff de kleenen Meechens freu' ick mir ooch, aba -“ Er brauchte nicht weiter zu reden, das andere war klar. Und Racke stand auf und sagte: „Nun fahr ich natürlich erst recht allein.“ Und log: „Es ist auch nicht mehr Platz.“ „'n Sigi laß' ma do, aba mi nimmst mit!“ beharrte Schepperl. „Geh weita, Sigi, hol' mei Kofferl! Daß a ma net davofahrt, dea Spitzbuamheiptling, dea hintafohzige!“ Liebedorn war ein Stein vom Herzen gefallen. Er war entschlossen, doch noch den Weg nach Molo unter die Beine zu nehmen. Kamen die Räder inzwischen ins Rollen, hatte er unterwegs Gelegenheit genug, wieder irgendwo einzusteigen. Racke sagte zu ihm: „Du brauchst Schepperls Gepäck nur aus dem Wagen zu holen. Ich fahre hierher zurück.“ Liebedorn nickte vergnügt und schob los. Racke und Schepperl machten sich auf den Weg zum Hilfszug hinten. Der Gesang begleitete sie. „In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiederseh'n!“ Man hörte es den Sängern an, daß ihr Optimismus echt war. Das Gleis war richtig! Und aus dem Chor der Stimmen heraus jubelte der Tenor. Plötzlich packte Racke Schepperls Arm und riß ihn mit auf den Boden, schnellte zugleich, ihn mitzerrend, auf die Westseite des Bahnkörpers. Instinkt? Oder hatte er das kilometerferne mehrfache Aufblitzen erkannt? Eine Zehntel Sekunde das unheimliche Sausen gehört? Gespürt? Hundert Schritte entfernt, beim Schluß des Zuges, von dem sie eben herkamen, stieg krachend ein schwarzer Springbrunnen hoch, ein zweiter, dritter dort, wo eben noch zwanzig, dreißig
Eisenbahner- und Landserkehlen vom Wiedersehen in der Heimat gesungen hatten. Schepperl sah es mit aufgerissenen Augen. Grau im Gesicht starrte er über die Kante der Schiene. Der Lärm der Einschläge wurde abgelöst von wildem Geschrei. Er sah Eisenbahner davonstürzen, sich davonschleppen, unter die Wagen kriechen, hinter dem Zuge, so wie sie waren, mit nacktem Oberkörper, in Badehosen in die Wiesen und Felder laufen. Er sah Liebedorn zwischen ihnen. Auch Racke erkannte ihn. Und sie sahen die Toten liegen, dort, wo sie vor kurzem selbst noch gestanden hatten. Ein Dutzend Körper, lang und breit ausgestreckt die einen, verkrümmt die andern, zu zweien, dreien übereinandergeworfen. Einer saß und preßte beide Hände vor die Brust, ein anderer schob sich flach auf dem Bauche mit Fäusten und Ellenbogen fort, die Beine, leblos ausgestreckt, hinter sich herziehend. Andere sprangen hinzu, schleppten ihn und den Sitzenden mit weg. Neue Einschläge krachten neben dem Zuge, Volltreffer zerrissen die Wagen. Und nun kamen MG-Garben dazu. Wagen brannten. Auch beim vorderen Zuge flohen die Menschen, Männer, Frauen, Kinder. Sie rannten in weit aufgelösten Scharen den fernen Häusern zu. Racke suchte mit dem Glase nach dem Gegner. Er war leicht zu erkennen. Einzelne Panzer standen gegenüber weithin im Gelände verstreut. Vielleicht war das jenes vermeintliche Flugzeuggeräusch gewesen, daß Sigis sechster Sinn wahrgenommen hatte. Oder er hatte die Motoren der gepanzerten Kraftfahrzeuge gehört. Mit aufgesessener Infanterie rollten sie auf der Straße an, die von Osten her schräg auf die Bahnlinie zuführte und in Höhe des Einfahrsignals nach Süden zur Ortschaft abbog. Von ihnen kam das MG-Feuer. Auch ein abgesessenes Schützenrudel war schon ziemlich nahegekommen. Sein Ziel schien der Hilfszug zu sein, sie wollten ihn wohl möglichst unbeschädigt in ihre Hände bekommen. Racke riß an Schepperls Schulter, schrie: „Wir müssen hier weg! Los! Zu meinem Fahrzeug!“ Einzelne Eisenbahner schossen nun unter den Wagen vor und aus den Fenstern heraus in die Gegend. An anderen Stellen der Züge flatterten weiße Lappen. Racke und Schepperl rannten so gebückt wie möglich; um zu kriechen war keine Zeit. Auch beim Hilfszug wurde geschossen.
Es waren Hulls Leute. Sie hatten auch zwei leichte Maschinengewehre. Die Landesschützen, die unterwegs zugestiegen waren, hatten das Weite gesucht, ihre ganze Ausrüstung hatten sie in den Wagen im Stich gelassen. Hull selbst war bei der Lok. Sie hatte einen Treffer erhalten, war aber betriebsfähig. Eben kam der Oberleutnant der Pioniere gelaufen, der seinen Wagen mit Sprengmunition am Hilfszug angehängt hatte. „Menschenskinder!“ rief er, „es hat doch keinen Sinn, hier herumzuballern! Der Zug ist verloren! Wir werden ihn sprengen! Ihr setzt euch im Fußmarsch ab! Aber rasch, sonst ist's zu spät!“ „Mein Zug ist noch nicht verloren und wird nicht gesprengt!“ erwiderte Hull heftig. „Wir hauen ab, aber mit dem Zug. Und zwar nach Krolew.“ „Sei doch vernünftig, Mensch! Ist ja Blech! So weit kommt ihr doch gar nicht mehr! Die Bahnhöfe sind nicht mehr besetzt. Überall ist schon die Zerstörung der Bahnanlagen im Gange.“ „Wie weit ich komme, wird sich herausstellen. Hier kann ich auf jeden Fall noch weg. Also muß ich weg. Dann habe ich wenigstens alles getan, um den Hilfszug zu retten. Türmen können wir überall und je weiter wir erst von hier weg sind, um so sicherer.“ „Sie haben ganz recht, Kollege“, pflichtete Racke dem Obersekretär bei. „Ich werde mit meinem Motorkarren vorausfahren, dann kann ich Sie warnen, wenn dem Zug eine Gefahr droht.“ Aus dem Vorausfahren wurde zunächst nichts, denn der Hilfszug fuhr gleichzeitig ab. Der Lokführer gab Volldampf. Es patschte noch ein paarmal. Der Iwan schickte ihm jetzt schleunigst noch ein paar Granaten nach, aber die Einschläge lagen zu kurz oder zu weit abseits und zur Verfolgung schienen die Panzer keine Lust oder keine Zeit oder keinen Sprit zu haben. Vergnügt rasselte Rackes Motorwagen nebenher, blieb aber bald weiter und weiter zurück. „Guat is ganga“, sagte Schepperl aufatmend, als das Kampffeld und die brennenden Züge in der Ferne verschwunden waren. Nur die Rauchwolke über Bahnhof und Ort Wilejka sahen sie noch. „Aba, da Sigi und mei Kofferl - da stinkt a ma scho!“ „Der Sigi wird schon durchkommen“, tröstete Racke. „Naa. Den schnappt da Iwan oda d'Partisana.“
„Warum denn?“ „Weils a so a großer Depp is, daß ganz aus is.“ „Ich glaube, daß er Glück hat.“ „I net.“ „Warum nicht?“ „Weil er si furcht“ vor sein Glück. Woaßt scho! Wia an Magnet ziagt's 'n nach Sibirien.“ „Quatsch“, sagte Racke. „Aber Hauptsache ist, daß er nicht drauf geht.“ „Na, draufgehn tuat dea nia! Do is a aa z'dumm dazua.“ Nach einigen Kilometern holten sie den Hilfszug ein. Hüll hatte halten lassen und den Streckenfernsprecher an die Leitung geschlossen. Er klatschte sich gerade auf die Schenkel vor Freude. Nicht ein Bahnhof an der Strecke hatte sich gemeldet, aber nach langer Mühe hatte er Krolewschisna erreicht. Man war dort allerdings bereits im Aufbruch begriffen. In wenigen Minuten würden die Züge mit Marschziel Pabrade abgehen. Die Pioniere seien bei der Vorbereitung der Sprengung der Anlagen. Auch das Zerreißgerät sei schon bespannt. „Nein!“ schrie Hull in den Apparat. „Sag Scharmuth, daß er alles tun soll, damit meine Fahrstraße nach Glebokie in Ordnung bleibt.“ „Augenblick“, sagte der Kollege am Apparat. „Da kommt gerade der Pionierhauptmann. Sprich selber mit ihm.“ Der Hauptmann sagte, als er Hull angehört hatte, mit ruhiger Stimme: „Ihr werdet nicht mehr durchkommen bis hierher. Auf der ganzen Strecke wird schon gesprengt.“ „Herr Hauptmann, ich beschwöre Sie!“ bat Hull inständig, „verständigen Sie alle Kommandos, die Sie erreichen können, daß wenigstens das Heimatgleis, auf dem ich komme, befahrbar gelassen wird. Es ist jetzt 17.15 Uhr. In drei Stunden spätestens sind wir dort. Der Hilfszug braucht nicht verloren zu gehen. Wir haben diese Sorte nicht im Überfluß!“ Einige Augenblicke war es still in der Leitung, dann antwortete der Hauptmann: „Gut. Ich will versuchen, Ihnen den Weg offen zu halten. Hier lasse ich für den Schwellenreißer ein Restkommando zurück mit dem Befehl zu warten, bis ihr da seid, falls ihm der Iwan nicht vorher schon auf den Leib rückt. Das kann allerdings jede Stunde passieren. Bei Docschize und Podswile sind schon Panzer gemeldet. Schluß. Hals- und Beinbruch!“
Racke überlegte sich, ob er nun nicht besser mit dem Hilfszug selbst fuhr. Wenn dann aber der Zug doch irgendwo liegen blieb? Nein, er rasselte lieber mit seinem kleinen Fahrzeug weiter, auch wenn er zurückblieb. Besser, mit dreißig Stundenkilometern durchkommen, als mit achtzig liegen bleiben. Aber diesmal kam er annähernd mit, ja er wurde manchmal sogar vorausgelassen, denn der Zug wußte ja nie, was ihm vor und in den Bahnhöfen blühte. Gefahr der Fahrt, Spannung und Erregung stiegen von Bahnhof zu Bahnhof. Zunächst war noch alles in Ordnung, aber kein Eisenbahner mehr zu sehen. Kniahinin war ebenfalls verlassen, Wasserturm und Wasserkrane waren zerstört, das Bahnhofsgebäude brannte. Die Holzbrücke über den Fluß vor Budslaw brannte. Man fuhr durch Rauch und Flammen, doch man kam hinüber. Budslaw brannte lichterloh, aber die Durchgansgleise waren ganz. Parafianow stand in Flammen, alles war gesprengt, nur die Gleise noch nicht. Pioniere versicherten, daß bis Krolew und in Krolew noch alles in Ordnung sei. Erst vor einer halben Stunde war ihr Hauptmann in einem Schienen-LKW dagewesen. Der Tender hatte nur noch ein halbes Kubik Wasser. Ein Teich nahe außerhalb des Ortes bot die letzte Gelegenheit zum bewässern. In fliegender Eile wurde eine Eimerkette gebildet, in die sich auch Racke und Schepperl und die Pioniere einreihten. Racke überlegte sich zum zweiten Male, ob sie nun nicht doch mit dem Zuge selber fahren sollten. „I moan“, sagte Schepperl, „iatz bleibma vollends bei unsan Scheeserl. Sicha is sicha.“ Racke zuckte die Achseln: „Sicher ist weder das eine, noch das andere.“ Der Lokführer fuhr mit Volldampf drauflos. Bis diesmal der Motor des Scheeserls ansprang, war der Zug schon außer Sicht. Unversehens war die Sonne untergegangen. In der Ferne tauchte die Blockstelle Porpliszcze auf, Schepperls und Liebedorns letzte Dienststelle. Der Motor begann zu stottern. Das Fahrzeug bockte, lief wieder. Der Motor verstummte, die Räder rollten aus, standen still. Alles, was sie versuchten, nützte nichts. Der Motor sprang nicht wieder an. Nach zehn Minuten dachte Racke an den Treibstoff. Er sah nach, der Tank war leer. Schepperl platzte schier vor Wut. „Latschen! Mit mein' Seitenstechen!“
Racke zerrte schweigend seinen Rucksack heraus, huckte ihn. Schepperl versetzte dem Motorwagen einen Tritt und schrie ihn an: „Du Saggramentsschees'n, du varreckte!“ Schepperl hatte keine Waffe, Racke gab ihm seine kleine Mauser. „Was soll i mit dean Spuizeig?“ sagte Schepperl verächtlich. Racke nahm sie ihm wieder weg, hängte ihm die Maschinenpistole um. „Nun mußt du aber auch vorausgehn.“ Schepperl wuchs einen Zentimeter in die Höhe und einen Dezimeter in die Breite. „Host Bollen?“ sagte er und schunkelte los. Auf dem Damm. „Es ist vorsichtiger, wir pirschen uns nebenher“, mahnte Racke. „Heroben is kommoda“, versetzte Schepperl kurz und bündig. Racke blieb unten. Obgleich er sich dabei vielfach über Stock und Stein und durch Dick und Dünn schlagen mußte, hatte er bald einen kleinen Vorsprung; es war besser so. Schepperl war selbst in der Dunkelheit eine zu unverfehlbare Zielscheibe. Zwei Stunden waren sie schon marschiert. Als sich Racke wieder einmal umwandte, war Schepperl verschwunden. Racke wartete, er kam nicht. Racke ging zurück. Schepperl saß nach hundert Metern am Rand des Bahnkörpers. „Was machst du denn?“ fragte Racke beunruhigt. „Siggst as ja. Ausrasten tua i. A Seit'nstech'n hob i, daß ganz aus is.“ „Zum Ausrasten ist keine Zeit“, fuhr ihn Racke grob an, „sonst sind in Krolew auch die Pioniere schon weg und wir können wer weiß wie weit hinter den Zügen herlatschen.“ ,,D' Fiaß volla Blos'n hob i aa“, murrte Schepperl. „Schlapper Hund! Dann häng dich eben an meinem Rucksack ein!“ Im nächsten Augenblick war Schepperl auf den Beinen. „Wos host g'sagt? I-i-i? A schlappa Hund? Ja, wia red'st 'n du mit mia? Ja, gibt's 'n des aa?“ Er bekam keine Antwort. Racke hatte ihm die kleine Pistole hingeworfen, die MP wieder an sich genommen und war nicht mehr zu sehen. Schepperl fluchte halblaut vor sich hin und beeilte sich nachzukommen. Er tröstete sein schwer getroffenes Gemüt vorläufig im Stillen mit dem ganzen Schatz seiner Kraft- und Schmähworte und war so in sich selbst versunken, daß ihm plötzliches Gebrüll „rucki werch!“ und ein blitzschneller und
krachender Feuerstoß buchstäblich niederschmetternd in die Knochen fuhren. Er patschte mit einer Wucht zwischen die Gleise, als hätte ihm einer die Haxen unter dem Bauch weggeschlagen, wagte nicht zu atmen und kein Glied zu bewegen. „Aus is“, dachte er, „da Racke is scho hin“, und schickte einen traurigen Stoßseufzer in die Ewigkeit voraus. Sekundenlang rührte sich nichts, dann rief nahe vor ihm halblaut eine Stimme, die er trotz ihrer Grobheit für die eines Engels hielt: „Lieg“ nicht so faul da rum. Geh her, sieh dir das mal an!“ Racke kauerte zehn Schritte vor ihm im Strauchwerk neben dem Damm. Zu sehen war eine Lücke in den Schienen und eine eineinhalb Meter tiefe und drei Meter lange Grube im Bahnkörper. Jenseits dieser Falle lagen zwei dunkle Gestalten. „Wenn's uns in das Loch hineingehauen hätte“, sagte Racke leise, „wären wir aus dem Kasten nicht herausgekommen. Wir hätten die Türe nicht aufmachen können.“ „Moanst, dia hamm uns gmoant?“ „Nein, den Kaiser von China.“ „Nacher is guat, daß da Sprit ausganga is.“ Schepperl ging um das Loch herum zu den beiden Zivilisten, die kein Lebenszeichen mehr gaben. „Hast du s' umg'legt?“ fragte er. „Nein, der liebe Gott!“ „Du, gell, tua fei net lästern! Bois du net z'erst g'schoss'n hätt'st, hätten s' di umg'legt. Oda moanst net?“ „Nein dich, du Rindvieh! Los, nimm die Gewehre und Munition von den Kerlen und trag meinen Rucksack! Ich renn' jetzt voraus, vielleicht erwisch' ich die Pioniere noch. Bleib herunten vom Bahndamm und wenn dir mein Rucksack zu schwer wird, wirf ihn eben weg.“ „Wos? Z'schwar? Mia? Des windig Sackl, des windig?“ Racke lief schon, als Schepperl nachträglich das ,Rindvieh' und der ,schlappe Hund' wieder einfielen. Er war wieder zu spät dran, aber aufgeschoben war nicht aufgehoben. Racke lief und lief. Die letzte Biegung kam und hinter ihr war der Himmel rot. Krolew brannte. Er lief, lief. Durchhalten! Ein paarmal flackerte starker rötlicher Lichtschein, erlosch wieder. Freude durchfuhr ihn: der kam aus offenen Feuerbuchsen. Sie waren noch da!
Weiter! Weiter! Haushalten mit dem Atem, mit dem Herzen! Grelles Licht zuckte dann und wann hin und her. Taschenlampen. Es donnerte von Zeit zu Zeit, kurz, dumpf. Sie sprengten noch. Jetzt sah er die kleinen matten Lichtbahnen zweier abgeblendeter Lokscheinwerfer. Sie kamen näher, schwenkten links ab, verschwanden. Dafür hörte er nun den stampfenden Atem der Lok, das Rasseln und Rauschen des Zuges. Hörte es stärker werden und rasch wieder verklingen. Der Zug war in die Abzweigung nach Glebokie abgebogen. Es konnte nur der Hilfszug gewesen sein. Racke sah auf die Uhr. 0 Uhr 35. Spurt! Damit ihm nicht auch noch die Pioniere vor der Nase davonfuhren! Er trabte jetzt zwischen den Gleisen; es ging rascher. Er trabte am Einfahrsignal vorbei. Zwanzig Schritte weiter warf es ihn lang hin, als hätte ihn ein Puffer in den Rücken gestoßen. In den gleichzeitigen Donnerschlag mischte sich Eisengeklirr. Die Schienen schrillten und der Bahnkörper schütterte unter seinem Leib. Steine, Erde und sonst noch wohl allerhand, prasselte um ihn, über ihn. Er schnellte zur Seite, sah sich um: Dicht hinter ihm lag der Signalmast quer über die Gleise. Er sprang auf, lief weiter, wurde an der Abzweigstelle angerufen, schrie „Eisenbahner!“ und lachte wie ein Verrückter, ließ sich fallen, wo er ging und stand. Man konnte jetzt im Schein der Brände schon gut sehen. Sie kamen her zu ihm, die Schußwaffen im Anschlag, ein Unteroffizier und drei Mann. „Bist du verwundet?“ „Nein, ich muß mich nur eine Minute verschnaufen.“ Ein paar Worte hin und her, dann wußten sie und er, was los war. Sie gehörten zum Restkommando der Eisenbahnpioniere. Die beiden Lok mit ihrem Wagen und dem Reißkarren standen noch bei der Bahnmeisterei, aber jetzt würde es gleich losgehen. Wenn der Zug da war, würden sie hinter ihm die Weichen sprengen und dann zusteigen. Er könne gleich hierbleiben. Racke hatte sich wieder erhoben. „Ich muß in den Bahnhof“, sagte er. „Aber hinter mir her kommt noch ein Eisenbahner. Auf den muß gewartet werden! Es kann sich nur um Minuten handeln.“ Dann lief er. Überlegte: Wenn Janka da war, würde sie beim Güterschuppen sein. Aus den Bw-Anlagen schossen Feuergarben in den Himmel. Die Mauern des Empfangsgebäudes standen schon als Ruinen
vor dem Glutherd im Innern. Er sah, daß sich dort Pioniere sammelten. Er winkte und schrie hinüber, sie winkten und schrien zurück. Zu verstehen war nichts. Gleichwohl, sie wußten nun, da war noch einer! Er konnte draußen bei der Bahnmeisterei die beiden Lokomotiven erkennen: Die Dampffahnen aus ihren Schloten leuchteten rosenrot. Und rosenrot leuchtete das Kleid, das Janka trug. Sie stand, als er an dem Trümmerhaufen des Südstellwerks vorbei war, dicht vor der einen Ecke des bis zum Sockel niedergebrannten Schuppens. Der knabenhaft schmale Körper stand in dem dünnen Sommerkleid wie nackt vor der Glut des Hintergrundes. Sie rührte sich nicht. Sie kam ihm nicht entgegen. „Komm, Janka! Rasch! Wir müssen uns eilen!“ rief er ihr zu. Sie kam nicht, sie wich zurück, ohne sich umzukehren, ging seitwärts aus dem Glutschein, wartete im Schatten eines dichten, verkohlten Gestrüpps. Etwas Fremdes lag in ihrer Haltung. Racke lief nicht mehr, langsam ging er auf sie zu. Sie stand ganz still, mit hängenden Armen. Er sah, daß das Kleid weiß war, nur der Glutschein hatte es rosa gefärbt. Und er sah, daß ihr Gesicht schmäler war als je. Umso größer schienen die dunklen Augen. Kein Traum vom Glück spiegelte sich mehr in ihnen. Es waren wieder die Augen stummer Ergebung in ein glückloses Schicksal. Nun stand er ganz dicht vor ihr. Er hörte in der Ferne die Schienenwolf-Lokomotiven fauchen. „Janka“, flüsterte er. „Was hast du? Nun bin ich doch da. Nun komm mit mir!“ Ihre schmalen Lippen zuckten, aber sie öffneten sich nicht. Nur mit dem Kopf machte sie eine fast unmerklich verneinende Bewegung. Er begriff es nicht. „Warum nicht? Janka, warum nicht?“ „Nicht mehr können“, sagte sie leise. „Janka müssen wieder schnell weg vor Razzia. Nicht mehr können bleiben Statione. Nix mehr Arbeit. Nix mehr Essen. Müssen in Wald zu Freunde.“ Das dumpfe Bummern des Schienenwolfs wurde vernehmbar. „Janka, warum kamst du dann jetzt?“ Sie flüsterte: „Du mir verzeihen. Nur einmal wollen noch sehen.“ Behutsam zog er sie an sich, sagte: „Janka, ich bin nur gekommen, dich zu holen. Meine Frau ist tot, mein Kind ist tot. Du
bist das einzige, was ich noch habe, was ich noch liebe in diesem grauenhaften Leben.“ Jetzt sah sie ihn an und er sah hinter ihrer Blässe das Aufbrennen ihres Herzens, wie man in den Fingern das Blut schimmern sieht, wenn man sie im Dunkel vor eine Kerzenflamme hält. Er sah das Nein von ihrem Wesen weichen, das Ja in ihren Augen stehen. Sie brauchte es nicht zu sagen. Die Pioniere brüllten vom Empfangsgebäude herüber; wütend. Der kurze Zug stand schon da, die beiden Lok stampften auf der Stelle. Unweit nördlich klang Gewehrfeuer. „Schnell, Mädel, sie warten auf uns!“ Er wollte sie mitziehen, aber sie machte sich mit einer unerwarteten Bewegung los, stieß ein zorniges Wort aus. Er stand und begriff nicht. Sie lächelte doch! Und sie zischelte, hastig, mit leicht geöffnetem Mund, ohne die Lippen zu bewegen: „Nicht! Augen von Partisan! Gewehr von Partisan! Ganz nahe! Wenn gehen mit dir, Partisan schießen tot. Dich und mich. Ich kommen. Janka laufen schnell wie Pferd, springen auf Zug - „ „Wirst du denn davonlaufen können?“ fragte er leise. „Ich tun kleine List“, flüsterte sie. Gellend pfiff die Lok. Janka sprang zurück. Ehe er sich's versah, war sie hinter dem verkohlten Gestrüpp seinen Blicken verborgen. Sekundenlang starrte er ins Dunkel. Er wußte, dort lauerte einer. Und Jankas Körper deckte ihn nicht mehr. Er stand im wabernden Licht der Brände. Wenn nun Jankas Einfluß nicht stark genug war? Ein Schauer rieselte ihm über den Rücken. Jede Sekunde konnte ihm die Kugel dessen das Herz durchbohren, der mit Recht sein Feind war. Aber er durfte keine Furcht zeigen, durfte nichts davon wissen. Ohne Hast wandte sich Racke um, schrie und winkte zu den Pionieren hinüber, aber er lief nicht, er ging ohne Eile, er mußte Janka Zeit verschaffen, vor dem Zug an der Strecke nach Glebokie zu sein. Daß er von den Pionieren wenig freundlich empfangen wurde, sah er ein. Das Gewehrfeuer war noch näher gekommen und lebhafter geworden. Ein junger Leutnant kotzte ihn trotz des Ritterkreuzes und des Deutschen Kreuzes in Gold aus einem Wagenfenster an wie ein Spieß den krümmsten Rekruten. „Sie haben durchaus Recht“, sagte Racke ruhig und
kletterte auf die vordere Lok; die Räder drehten sich schon. „Servus!“ rief er den beiden schwarzen Gesellen zu; er bekam keine Antwort. Hinten begann das gleichmäßige Rumpeln und das Krachen der Schwellen, das Klappern des Kleineisenzeugs, der metallene Laut sich krümmender Schienen. „Du hör mal!“ schrie er dem Lokführer ins Genick. „Da vorne irgendwo will noch ein Mädel mit!“ Er bekam wieder keine Antwort. Racke nahm es ihm nicht übel, es war verständlich. An der Abzweigstelle gab es sowieso noch einen Aufenthalt. Vielleicht war auch Schepperl noch nicht da. Racke starrte auf der Heizerseite aus dem Lokfenster. Die Brände blieben zurück, ihr Schein wurde matter. Der dunklere Himmel hatte Sterne. Im Südosten kam der Mond über die Wälder. Voraus blinkte ein rotes Lichtsignal. Im kurzen Lichtkegel der Lampen tauchte die Abzweigstelle auf. Die Pioniere standen da, Schepperl bei ihnen, neben Rackes Rucksack auf zwei Gewehre gestützt. Der langsame Zug wurde noch langsamer, fuhr über die Weiche, ein paar Loklängen weit, und hielt. Racke winkte zu Schepperl hinunter. „So, bist do?“ rief der herauf. „Wos tuast'n auf da Lok? Waar ma gnua! Kimm oba!“ Racke kletterte hinunter. Schepperl sah in schief an. „Is' net do g'we'n?“ „Doch, aber sie konnte nicht gleich mitkommen.“ „Zweng wos net?“ Racke beantwortete diese Frage nicht, er sagte nur: „Wenn sie nicht da ist, bis wir hier abfahren, wird sie irgendwo weiter vorne aufspringen. Darum bleibe ich auf der Lok.“ Schepperl nahm Rackes Rucksack und die Gewehre mit, polterte in den Wagen hinein. Der Unteroffizier und seine drei Mann hatten im Handumdrehen die Sprengladungen mit Zeitzünder an den Weichen angebracht. Jetzt liefen sie herbei, stiegen auf, während die Räder schon zu rollen begannen. Janka war nicht gekommen. Racke blieb auf dem zweituntersten Treppentritt der vorderen Lok stehen. Beide Lok gaben Volldampf. Er fauchte aus den Schloten und hallte mit dem Hacken der Räder und dem Gepolter am Zugschluß weithin durch die Nacht.
Die Geschwindigkeit nahm zu. Racke durchbohrte mit den Augen das Halbdunkel. Würde Janka noch kommen? Wenn es ihr nun nicht gelungen war, wegzulaufen? Er vertrieb die Zweifel, die ihn befallen wollten. Janka war ein Kind dieses Landes. Ein Geschöpf harter Daseinsbedingungen. Erfahren in den Gefahren. Unerschrocken. Sie würde eben ihren Grund gehabt haben, weshalb sie nicht zur Abzweigstelle gekommen war. Sicher war sie dem Zug voraus. Rackes Annahme hatte nicht getrogen: mit einemmal sah er sie stehen. Ganz deutlich hob sie sich vom Bahnkörper ab. „Sie ist da!“ schrie er zum Lokfenster hinauf. Jetzt traf sie schon der kurze Kegel der Lichter. Racke hatte keine Zeit festzustellen, ob der Lokführer oder der Heizer seinen Ruf gehört hatten. Er hängte sich mit dem steifen Ellenbogen in die Griffstange, beugte sich weit hinaus, streckte den Arm nach dem Mädchen aus. Da wuchs dicht hinter Janka eine dunkle Gestalt hoch. Janka fuhr nach ihr herum. Racke hörte den Schrei, den sie ausstieß. Sie warf sich zur Seite, versuchte tollkühn, noch vor der Lok über das Gleis zu schnellen. Es war zu spät. Der Mann hatte sie gepackt, zurückgerissen und schleuderte sie vor die Räder, ehe Racke auch nur einen Gedanken der Abwehr hatte fassen können. Selbst wenn er die Pistole in der Hand gehabt hätte, wäre es unmöglich gewesen, die Untat zu verhindern; er hätte Janka getroffen, nicht den Mörder. Der war schon wieder wie vom Erdboden verschwunden. Nach Sekunden erst löste sich die Starre des Entsetzens von Rackes Kehle. „Halten!“ brüllte er. Heizer und Lokführer streckten erst die Köpfe aus dem Fenster und es schien Racke eine Ewigkeit zu dauern, bis der Regler geschlossen war und die Bremsklötze anschlugen. Er sprang ab. Der kurze Zug rollte noch ganz an ihm vorbei, ehe die Räder stillstanden. Aus dem Wagen der Pioniere brüllte der Leutnant: „Himmelkreuzdonnerwetter! Was ist denn schon wieder los?“ Racke gab keine Antwort. Er starrte auf den zerfetzten Körper, der ein paar Schritte hinter dem Aufreißkarren im Gewirr der letzten zerspellten Schwellen lag.
20. KAPITEL
Rückzug und Räumung nahmen kein Ende. War es ein Wunder? Das Gegenteil wäre verwunderlich gewesen. Der Landser und der Eisenbahner an und hinter der Front wußten davon nur, was sie selbst erlebten und hinterher, wie das deutsche Volk, was man aus den Heeresberichten erfuhr. Klang nicht all das, unentwegt seit Stalingrad, als ob die Siege des Gegners und die eigenen Niederlagen nicht der Rede wert wären? Als ob Front und Heimat durchaus nicht etwa Grund zur Besorgnis, zum Zweifel am Endsieg hätten! So war es auch diesmal gewesen. Der Beginn der sowjetischen Sommeroffensive am 22. Juni hatte im Heeresbericht des 23. Juni so ausgesehen: „Im mittleren Frontabschnitt haben die Bolschewisten mit den erwarteten Angriffen begonnen... in harten Kämpfen abgewiesen... örtliche Einbrüche... bereinigt. Beiderseits Witebsk sind noch erbitterte Kämpfe im Gange.“ 24. Juni: „... nahm der sowjetische Großangriff an Wucht zu und dehnte sich auf weitere Abschnitte aus... gelang es stärkeren feindlichen Infanterie- und Panzerkräften östlich Mogilew, beiderseits der Smolensker Rollbahn und beiderseits Witebsk in unsere vordersten Stellungen einzubrechen. Die Abwehrschlacht geht hier mit steigender Heftigkeit weiter. Die Bolschewisten verloren...“ 25. Juni: „Es gelang dem Feind nur östlich Mogilew, an der Smolensker Rollbahn und im Räume von Witebsk seinen Einbruch zu erweitern. An allen anderen Stellen brach der feindliche Ansturm... zusammen.“ 26. Juni: „... Die Sowjets wurden in den meisten Abschnitten abgewiesen. Südlich und östlich Bobruisk konnte der Feind jedoch einen Einbruch erzielen. Auch östlich Mogilew gewann der Feind... weiter Boden.“ 27. Juni : „... in den Abschnitten von Bobruisk, Mogilew und Orscha in heftigen Abwehrkämpfen... Westlich und südwestlich Witebsk auf neue Stellungen zurück... östlich Polozk brachen zahlreiche Angriffe zusammen.“
28. Juni: „... dauern die erbitterten Kämpfe im Räume Bobruisk und Mogilew an. Nach der Räumung der Städte Orscha und Witebsk hat sich die schwere Abwehrschlacht in den Raum östlich der mittleren und oberen Beresina verlagert. Südöstlich Polozk scheiterten wiederholte Durchbruchsversuche...“ 29. Juni: „... gewannen die Sowjets... weiter Raum.“ 30. Juni: „... Zwischen Sluzk und Bobruisk... feindliche Angriffsspitzen....aufgefangen. Bei Borissow und südwestlich Polozk...“ 1. Juli: „... In Sluzk Straßenkämpfe. Auch im Räume von Osipowitschi und Borissow... Starke Angriffe am Oberlauf der Beresina... Angriffe westlich und südwestlich Polozk aufgefangen.“ 2. Juli: „... Sluzk wurde aufgegeben...“ 3. Juli: „... setzten sich unsere Divisionen... mit dem nachdrängenden Feind in den Raum von Minsk ab... Um die Stadt Polozk wird erbittert gekämpft.“ 4. Juli: „... Der bis an die Bahnlinie Baranowicze-Minsk vorgedrungene Feind wurde von unseren Panzerdivisionen... zurückgeworfen. Bolschewistische Panzerkräfte drangen in Minsk ein und stießen weiter nach Westen vor. Südöstlich der Stadt... unsere Verbände... von allen Seiten angreifenden Feind... kämpften sich nach Westen zurück. Bei Molodeczno feindliche Angriffsspitzen... geworfen. Im Raum westlich Polozk... an der Düna... Die Stadt Polozk wurde aufgegeben.“ 5. Juli: „... Kowel wurde planmäßig geräumt. Im Mittelabschnitt dauert das harte Ringen um die Landenge zwischen den Sümpfen im Raume von Baranowicze und Molodeczno an. Südwestlich von Minsk, vor Baranowicze... Sowjets in Riegelstellungen aufgefangen... südlich Minsk weiter zurück... Um Molodecno wird erbittert gekämpft.“ Was aber die Heeresberichte nicht verrieten, war die Tatsache, daß von vornherein feststand, daß es den auf 1000 Kilometer verteilten 42 stark geschwächten deutschen Divisionen, einer einzigen bereits stark mitgenommenen Panzerarmee bei zudem zahlenmäßig vielfacher Luftunterlegenheit gar nicht möglich sein konnte, die 150 aufgefrischten Schützenund 45 Panzerdivisionen der Sowjets abzuwehren. So kam es, daß Stalins Armeen von ihren Ausgangsstellungen ostwärts der Linie Witebsk-Orscha-Mogilew-Bobruisk in wenigen Wochen über
Hunderte von Kilometern bis Warschau und bis an die ostpreußische Grenze vorzustoßen vermochten. Hunderttausende von deutschen Soldaten waren überrannt, in die Flucht getrieben oder eingekesselt und noch als Gefangene zu Tausenden niedergemacht worden. Man mußte diese Katastrophe in ihrem ganzen Umfange vor Augen haben, um voll beurteilen zu können, was die feldgrauen und die blauen Eisenbahner, deren gesamten Bezirke auf sowjetrussischem und nord- und ostpolnischem Boden nun in der roten Flut untergegangen waren, an eisenbahntechnischer Leistung, an menschlicher Aufopferung, an soldatischer Tapferkeit bei der Räumung ihrer Bahnhöfe und Strecken unter gleichzeitiger Durchführung der Truppenbewegungen und des Antransports von Muni-, Treibstoff -und Verpflegungszügen vollbracht hatten. Nun saßen die „Minsker“, so weit sie noch nicht - an die Wehrmacht abgegeben - in den Kampfdivisionen steckten, seit einigen Wochen auf den ostpreußischen Bahnhöfen, der Reichsbahndirektion Königsberg zugeteilt. Und sie saßen friedlicher als die Kollegen im Inneren des Reiches, wo die angloamerikanische Luftwaffe, kaum noch abgewehrt, alltäglich und allnächtlich nebenbei auch Bahnhöfe und Eisenbahnbrücken zerstörte. Die Minsker hatten, dem Beispiel der amtlichen Evakuierung aus dem Westen nach dem Osten des Reiches folgend, zum Teil ihre Familien aus der Heimat kommen lassen, im guten Glauben, daß sie hier ihres Lebens sicherer wären. Es war ja nur allzumenschlich, daß sie den Sirenenklängen der Propaganda Glauben schenkten, der Vormarsch der Sowjets sei nun, an der Grenze des Reiches selbst, ein für allemal zu Ende. Daß sie vernunftgemäß wähnten, man werde eher die Armeen aus dem Westen holen, selbst wenn man die englischen und amerikanischen Truppen unabgewehrt einmarschieren lassen mußte, damit dem deutschen Volke wenigstens das entsetzliche Los erspart bliebe, den roten Armeen und bolschewistischen Kommissaren preisgegeben zu sein. Daß sie wähnten, obgleich sie manchesmal bange Zweifel befielen, man würde, wenn die Gefahr bestand, daß der Krieg im Osten auf deutschem Boden fortgesetzt werden mußte, auf alle Fälle die nichtkampffähige Bevölkerung, die Frauen und Kinder, die Greise und die Jugendlichen rechtzeitig in Sicherheit bringen und auch das für
die Ernährung des Volkes unentbehrliche bewegliche landwirtschaftliche Hab und Gut. Niemand wußte, wie dünn die deutsche Linie war und wie überwältigend die Übermacht, die sich ihr gegenüber in aller Ruhe zum Angriff sammelte. *** Seit Jankas Tod war Schepperl nicht mehr von Rackes Seite gewichen. Sie hatten in Glebokie den Hilfszug erreicht und waren vom Schienenwolfzug umgestiegen. Sie hatten in Woropajewo die anderen Krolewer Räumungszüge eingeholt. Sie lagen dort fest, weil Partisanen die Strecke bis Postavij durch nicht weniger als 1500 Sprengungen unbefahrbar gemacht hatten. 2 Eisenbahnpionierkompanien waren dabei, sie im Eiltempo wieder instandzusetzen. Am 5. Juli trafen sie in Wilna ein. Eine Unzahl von Zügen und Lokomotiven, so hörte Racke, seien in Litauen und Lettland; sie müßten so weit wie möglich westwärts, möglichst nach Ostpreußen abgeräumt werden. Besondere Angelpunkte der Räumung waren Walk an der estländischen Grenze und Riga. Im Bezirk Riga standen 400 Lok und der Russe drängte zur Rigaer Bucht. So folgte Racke, seinem Auftrage getreu, nicht den Eisenbahnern der RVD Minsk nach Nordwestpolen und Ostpreußen hinein, sondern fuhr nach Riga. Vorher versuchte er, Schepperl abzuschütteln. „Was willst du überhaupt noch im Kriegsgebiet? Jetzt sind doch wieder Zehntausende von Osteisenbahnern überflüssig geworden. Du mit deinem Dachschaden kannst jetzt ruhig nach Hause gehn, wo du hingehörst.“ Nicht seinetwegen wollte er ihn loswerden. Um Schepperls selbst willen, seiner Anni und seiner Kinder wegen wollte er den treuen Kameraden trennen von dem gefährlichen Weg, den er gehen mußte, bis er bei Kriegsende vor den Minister treten und sagen konnte: Auftrag erfüllt. Schepperl stippte sich einen Schmalzler in die geblähten Nasenlöcher und sagte gemütlich: „Mei Dachschad'n is ma liaba wia da dei. Dr mei is bloß aißerlich. Und wo i hi'g'hör', woaß i selba.“
„Gut, dann hau ab.“ „Ganz o konträr“, sagte Schepperl vornehm. „Mensch, du mußt dich doch wieder bei deiner Direktion melden!“ „Da Sigi meld' sich aa net.“ „Quatschkopf, der kann es ja nicht.“ „I aa net. I woaß net, wo s' is.“ „Sie werden dich schon beim Kanthaken kriegen.“ „Dia? Mi? Ja gor nia!“ „Was willst du denn sagen, wenn du gefragt wirst, wieso du dich bei fremden Direktionen herumtreibst?“ „Dir bin i zuatoalt!“ „Von wem denn?“ „Von dia, du Depp!“ „So? Als was denn?“ „Als was d'mogst.“ „Als gar nichts.“ „Guat. Dees ma 's liabare. Nacher bin i dei Dolmetscha odä dei Stoivatreta.“ „Und dein Dienstausweis?“ „Bist du.“ „Und wo willst du Verpflegung fassen?“ „Bei dia.“ „Ich bin größtenteils Selbstversorger.“ „I no mehra. Host mi?“ Racke gab's auf. Schepperl blieb und vielleicht war das sein Glück. Denn der Räumungszug, den ,Pan Eric' führte und mit dem er sonst gefahren wäre, wurde auf der Fahrt nach Grodno bei Klepatsche von einer Bande überfallen. 5 Eisenbahner fanden dabei den Tod, 14 wurden zum Teil schwer verwundet. Racke und Schepperl waren kaum in Riga angekommen, da verlief die Hauptkampflinie schon unweit im Räume Mitau. Die Strecke von Riga nach Süden war abgeschnitten. O du Teufel! fluchten die Eisenbahner und grinsten und spuckten in die Hände und bauten in ein paar Tagen eine Verbindungsbahn von Tuckum an der Strecke Mitau-Windau nach Elisenhof bei Frauenburg an der Strecke Mitau-Liebau. Sie war 22 Kilometer lang. Man hatte natürlich keine Zeit, durch die Wald- und Moorlandschaft einen Bahnkörper oder gar Dämme zu bauen. In unzähligen Windungen wurde die Linienführung dem Gelände angepaßt, wurden
reihenweise Bäume gefällt und der Boden auf 2 Meter Breite geebnet. Man legte Schwellen aus, nagelte Schienen drauf, baute ein paar Ausweichstellen ein und schaukelte die Züge im Blockabstand durch die verblüffte Gegend. Es war zum Lachen. Die studierten Herrn hätten die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen. Aber es ging. Bahnhof gab es auf den 22 Kilometern keinen. Die Blockstellen waren mit einem oder zwei Weichenwärtern besetzt, die sich wie Eremiten vorkamen. Sie hatten sich Unterstände neben den Weichen gegraben, eine irgendwo organisierte Wellblechbude zwischen die Bäume gesetzt, eine weder luft- noch wasserdichte Hütte aus rohen Stämmen gezimmert, oder mangels Zeit oder Lust einfach eine geklaute Zeltbahn über drei Stöcke gehängt. Von den Zügen herunter, deren Personale sich wie betrunkene Seiltänzer vorkamen, flog ihnen die Verpflegung an den Kopf. Das ganze hieß „die Gummibahn“ und über diese Gummibahn schwankten, wie Schiffe auf wogender See, Lokzüge und Räumungszüge am laufenden Band. Es hätte eine fröhliche Sache sein können, wenn die Frontumstände nicht so mulmig, die Lage nicht so gefahrdrohend gewesen wäre, die Eisenbahner in Riga und an der Gummibahn nicht wie auf einem Pulverfaß gesessen hätten. Längst waren noch nicht alle Räumungszüge, die sich von Walk her in Riga gestaut hatten, längst nicht alle Lok über die Gummibahn auf die Strecke nach Liebau und von dort ins Memelland gerollt, als der vor Riga-Mitau aufgebaute Wall der Streitkräfte der Heeresgruppe Nord unter dem unaufhörlichen Anprall der sowjetischen Sturmwogen zu brechen begann. Des Bleibens der Eisenbahner war nicht länger mehr. Sie rückten ab. Racke und Schepperl gehörten zu den letzten, die in Memel eintrafen. Es war Ende August und die Russen waren an der Rigaer Bucht zum ersten Male zur Ostsee durchgebrochen. Deutsche Reserven traten zum Gegenstoß an, warfen sie wieder zurück, aber im weiteren Verlauf der Kämpfe mußten die deutschen Armeen Estland räumen, wenn sie nicht ins Meer gedrängt werden wollten, und nach Lettland ausweichen. Wenige Wochen später hatten die sowjetischen Streitkräfte nördlich Memel einen Keil bis zur Ostsee vorgetrieben. Bei den Eisenbahnern im Brückenkopf Memelland saßen Racke und Schepperl. Es war September geworden. Man räumte
Tag und Nacht. Im Sichtabstand. Finnland schloß Frieden. Rumänien war Ende August abgefallen, die deutschen Armeen befanden sich auf dem Rückzug da, auf der Flucht dort, mehr und mehr zerschlagen und aufgerieben. Das Morden der Russen und Rumänen unter der deutschen Bevölkerung des Banats begann. Das Morden der serbischen Partisanenheere in den jahrhundertealten deutschen Siedlungsgebieten, das Einpferchen und Verhungernlassen Hunderttausender von Männern, Frauen und Kindern in Riesenlagern schloß sich an. Das Grauen dessen, was slawischer Nationalhaß, asiatische und bolschewistische Kriegführung und Gewalt des Sieges bedeuteten, warf seine Schatten auf das nun bereits am unmittelbarsten bedrohte Ostpreußen voraus. Ein Alb lastete auf den Menschen. Aber ihr instinktiver Drang zur Flucht wurde erstickt vom Schwall des von Goebbels gezüchteten Parteigewäschs oder mit Gewalt unterbunden durch die von dem ,siegreich' aus der Ukraine abgezogenen Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Koch befehligte Parteimaschine. Die deutschen Generale sahen, was kommen würde, kommen mußte. Sie versuchten alles, um wenigstens jetzt, angesichts des den Osten des Reiches selbst bedrohenden Unheils, Hitler zur Vernunft zu bringen. Hier aber stand ihnen die auf dem Glauben an die baldige Fertigstellung jener geheimen Waffen, die den Krieg über Nacht mit dem totalen Siege Deutschlands beenden würden, gründende unnachgiebige Auffassung gegenüber, daß der deutsche Soldat und Offizier auf dem Platz, auf dem er stand, ohne nach Sieg oder Niederlage zu fragen, bis zur letzten Patrone und zum letzten Atemzug zu kämpfen habe und lebend nicht einen Fußbreit weichen dürfe. Zu erwarten aber und zu befehlen, daß aus Hunderttausenden größtenteils abgekämpfter Soldaten, seelisch erschöpfter Menschen Hunderttausende von Heroen würden, war nicht Strategie, sondern Irrwahn. Und dieser Irrwahn war auch der Vater des Gedankens des Volkssturms. Als ob Knaben, Greise, Gebrechliche und notorische Drückeberger und Kampfunwillige mit einer lächerlichen Ausbildung und einer noch lächerlicheren Bewaffnung Wehrmachtdivisionen ersetzen oder auch nur zuverlässig unterstützen könnten! Dieser zur Idiotie gewordene Fanatismus lief darauf hinaus, daß sich notfalls Männer, Frauen, Kinder mit bloßen Fäusten den Panzern entgegenzuwerfen hätten, damit den Siegern von ihrem Siege
nichts übrig bliebe, als ein Volk von Leichen und eine Wüste von Trümmern. Am 9. Oktober begann es mit dem Brückenkopf Memel. Die Räumung der Strecke des Memellandes nach Tilsit-Insterburg war noch in vollem Gange. Racke kam am Morgen dieses Tages mit seinem Schepperl in den Dienstraum der Hilfszugleitung, warf einen forschenden Blick auf den Inspektor, der eben mit verärgerter Miene den Hörer auf seinen Apparat warf. Die Fenster klirrten leise von fernem Geschützdonner. »Morgen, Base. Was ist los?“ „Ich kann keine Verbindung mit Krottingen bekommen.“ Krottingen war der Knotenbahnhof auf litauischem Boden mit der Abzweigung nach Schaulen. Base kämpfte sich auf den Streckenfernsprechern von Bahnhof zu Bahnhof bis Deutsch-Crottingen durch. Auch dort war die Verbindung nach Norden unterbrochen. Warum, war noch nicht festgestellt. „Wir setzen uns sofort wieder in Verbindung mit euch, wenn wir's wissen“, versprach der Vorsteher des Bahnhofs. Schepperl kniff ein Auge zu und wich nicht mehr von der Quelle der Nachrichten. Eine Stunde verging. Zwei. Dt. Crottingen ließ nichts von sich hören. Als Base es wieder zu erreichen versuchte, kam er nur noch bis Kollaten. Dt. Crottingen und schon der Haltepunkt Clauspuszen meldeten sich nicht mehr. Schepperl pfiff durch die Zähne, reckte entschlossen den kurzen Hals aus den Schultern und stampfte ins Quartier, wo Racke mit dem Reichsbahnbildberichter Bolew über dessen Photos von der Gummibahn saß. „Pack' dei G'lump zamm!“ befahl Schepperl. „Ma foahr'n!“ „Wohin? Nach Krottingen?“ fragte Racke spöttisch. „Magst mi dableck'n? Nach Tilsit fahrma!“ „Jetzt, wo's hier interessant wird?“ „Wirst scho sehn'g, wia intressant as is, bois di da Iwan an Gnade hot.“ „Du kannst ja vorausfahren, wenn du Angst hast.“ „Angst? I? Naa, i net! Aba nacher latsch'n miass'n, dees war ma z'wida!“ „Besorg dir eben einen Hubschrauber.“ Schepperl brummte: „Trohpf, eiskoita!“ und polterte hinaus. Es gab noch mehr ärgerliche Dinge an diesem Tag. Zwischen Mestellen und Heydekrug fuhren zwei Züge ineinander. Die
Gleise sollten von Eisenbahnpionieren freigemacht werden. Es war unmöglich, russische Ari nahm die Unfallstelle unter Feuer. Die Memeler Eisenbahner pfiffen durch die Zähne und machten vorsorglich ihre Bahn-Räumungszüge fahrbereit. „So!“ fauchte Schepperl Racke an. „Waar'ma glei g'foahrn, waar ma no durchkemma!“ „In der Nacht wird die Strecke bestimmt wieder frei werden“, tröstete Racke. Da ein Unglück nicht allein kommt, kam alsbald die zweite Unfallmeldung: Zwischen Kollaten und Försterei war ein Zug auf seinen Vorzug aufgefahren und hatte dessen letzte sechs Wagen über die Böschung geworfen. Das war der Lok schlecht bekommen, außerdem war sie entgleist, Hilfszug und Ersatzlok konnten jedoch nicht geschickt werden, weil das Streckenstück Memel-Försterei mit Räumungszügen im Sichtabstand verstopft war. „Aller schlechten Dinge sind drei“, daher riß gegen 18 Uhr die Verbindung mit Tilsit ab. „Sind drei und mehr“, mußte das Wort ergänzt werden, denn gleich darauf kam von Heydekrug die erste alarmierende und auch letzte Meldung: „Russische Panzer im Anmarsch. Stadt und Bahnhof unter Beschuß.“ Der Schienenweg nach Ostpreußen war abgeschnitten. Schepperl kochte vor Wut und war von Stund an unsichtbar. Auch die dienstfreien Eisenbahner gingen an diesem Abend nicht zur Ruhe. Die Artilleriekämpfe waren näher gerückt. Um 22 Uhr schlugen die ersten russischen Granaten in die Stadt, orgelten über das Bahngelände in die Hafenanlagen. Da stand ein Benzinzug zur Abfüllung. Damit war's vorüber. Abgefahren werden konnte er auch nicht mehr. Statt ihn in Flammen aufgehen zu lassen, konnte man auch etwas anderes versuchen. Die Bahnmeisterei verlängerte das Gleis bis zur Kaimauer. Die 11 Kesselwagen wurden mit einer Lok ins Wasser gestoßen. Wahrhaftig, sie schwammen! Man verband sie mit Stahltrossen und Marineprähmen zogen sie durchs Haff nach Pillau. Stunde 1 des 10. Oktober gab der Bahnhof Försterei die Meldung durch, daß in Bajohren ein mit Panzern und Panzerspähwagen beladener Zug von russischen Panzern beschossen werde. Die Kämpfe zögen sich näher. 5 Uhr 35 gab die Wehrmacht Befehl, den Bahnhof zu räumen. Das Personal sammelte sich und setzte übers Haff auf die Kurische Nehrung
über. Eine Stunde später verwüstete hinter ihnen ein Luftangriff Bahnhof und Stadt. Sie marschierten ab. Einer fehlte noch immer. Schepperl. Racke wartete auf eine Gelegenheit zurückzufahren. Es dauerte lange, dann kam ein Ponton der Pioniere herüber. Es brachte einen alten Klepper und Schepperl, der ihn an der Trense führte. „Wos stehst nacher do herum?“ fuhr Schepperl den Kameraden an. „In da Stadt san scho Stroaß'nkämpf. Mach, daß d'fortkimmst!“ Er wälzte sich auf den sattellosen Pferderücken in den Damensitz, schnalzte mit der Zunge, schrie „Hiöh!“, zerrte am Zügel und ritt auf und davon. Racke lachte und schritt aus. Nach zwei Stunden hatte er die beiden eingeholt. Schepperl ging zu Fuß und zog den Klepper hinter sich her. „Er ko nimma“, sagte er. „Und i woass aa net, was ma 's liabare is: wundglaafene Hax'n oda a wundgritt'na Arsch.“ Sie kamen am Rande der schweren Kämpfe drüben überm Haff, in denen die Heeresgruppe Nord sich vergeblich gegen die völlige Abtrennung von der Heeresgruppe in Ostpreußen zur Wehr setzte, den 100 Kilometer langen Weg durch die Dünenlandschaft der Nehrung nach Cranz. Am 16. Oktober morgens trafen sie in Königsberg ein. In der Stadt war alles, als wäre der Russe so weit von ihr wie der Mond von der Erde. Hätte man Befürchtungen wegen ihres Schicksals geäußert, wäre man als Sonderling betrachtet oder als Defaitist ,vernichtet' worden. Am Nachmittag erhielt die Direktion die ersten Nachrichten vom Beginn einer Offensive gegen Ostpreußen. Am anderen Morgen standen Racke und Schepperl auf dem Bahnsteig Richtung Rastenburg. „Sepp“, sagte Racke. „Ich fahr zu den Betriebsspitzen. Du solltest auf den Bahnsteig nach Elbing gehen.“ „So? Zweng wos?“ „Weil du jetzt unter allen Umständen nach Hause fahren wirst.“ Schepperl würdigte ihn keiner Antwort mehr. Und als er dann hinter Racke in den Wagen stieg, knurrte er in Rackes abweisende Mine hinein: „I foahr aa zu de Betriebsspitzn. Host mi?“ Je weiter sie nach Osten kamen, um so heftiger wehte sie der Rückenwind der Front an, um so dichter und lauter waren die Wehrmachtsdienststellen, um so stiller die Bevölkerung, um so schwieriger die Bahnbetriebsverhältnisse. Der Knoten Lötzen
ertrank in der Flut der Versorgungszüge, die für die Festung Boyen bestimmt waren. „Bleib' ma do“, schlug Schepperl vor. „Do is Betrieb gnua und do samma sicha.“ „Bleib du da“, antwortete Racke und er meinte es ernst. „Ich fahre nach Treuburg.“ Sie fuhren beide. In Treuburg lief ihnen Schweick in die Arme. Racke kannte den kleinen Oberinspektor in den hohen Stiefeln von Bara her. Er freute sich dieses Wiedersehens. Schweick hatte weder an Temperament noch an Unternehmungsgeist verloren. Er war von Lyck gekommen. Auf ausdrücklichen Wunsch der Wehrmacht hatte er dort die Zugleitung übernommen. Er gehörte auch zu denen, die ihre Familien herevakuiert hatten samt Hausrat. „Vom Rhein bis hinter die Masurischen Seen!“ lachte er. „Ein weiter Weg!“ Racke lachte nicht. „Zu weit. Haben sie keine Sorgen?“ fragte er. Schweick war Optimist. „Nein“, sagte er überzeugt. „Hier ist das doch wieder etwas ganz anderes als vor einem Vierteljahr zwischen den verfluchten Partisanenbanden!“ Lebhaft erzählte er von den tollen Truppen-Entladungen der ganzen letzten Wochen an den Betriebsspitzen seines Bezirkes: Ossowez, Augustow und Sudauen. „Fürchten Sie nicht, daß auch hier die Front weichen muß? Vor 10 Tagen haben, die Russen bei Memel gesiegt.“ Eine Niederlage der 4. Armee hielt Schweick für ausgeschlossen. Eben hatten sie für die Truppe einen Eisenbahnbluff inszeniert: Scheinausladungen. Darum war er nämlich hier. Dabei war der Entlastungsangriff viel weiter nördlich angesetzt. Es war der 21. Oktober und es wurde ein fröhlicher Abend bis tief in die Nacht. Bei Tagesanbruch nahm das Rumoren der Front zu, schien auch näher zu kommen. Gegen Mittag schlug wie ein Blitz die alarmierende Meldung ein, der Russe sei bei Goldap durchgebrochen. Goldap lag nur 30 Kilometer weiter nördlich. Der Bevölkerung wurde versichert, daß Treuburg nicht gefährdet sei. Zum Teil brach sie doch zur Flucht auf, zum Teil wartete sie zitternd, was werden würde. Am Abend wußte man, daß der Russe auch Nemmersdorf genommen hatte und nordwärts auf
Gumbinnen vorstieß. Die Nachrichten über fürchterliche Greueltaten häuften sich. Schweick fuhr nach Lyck zurück. Racke über Angerburg nach Insterburg. In Angerapp unterbrach er die Fahrt. Tausende von Flüchtlingen aus der Gegend von Goldap und den Ortschaften im Raum der Straße nach Gumbinnen bevölkerten die Stadt. Eisenbahner aus den überrannten Bahnhöfen, zum Teil wie Irre verstört, erzählten so Entsetzliches, daß viele Zuhörer Weinkrämpfe bekamen. Frauen waren lebend an Scheunentore genagelt, Lokführer lebend in die Feuerung geworfen worden. Tags darauf fuhr Racke nach Insterburg weiter. Die Stadt war ein Heerlager, der Bahnhof mit Zügen vollgepfropft. Und auch hier begegnete er einem guten Bekannten. Petermann. Der alte Hase von Minsk war von der Direktion Königsberg geschickt worden, um den Betrieb wieder in Fluß zu bringen. Auch die Strecken waren weither verstopft, sämtliche Überholungsgleise, ja Hauptgleise mit Zügen besetzt. Diesen Knäuel zu entwirren, den Verkehr wieder in zügige Bewegung zu bringen, war nicht mehr Betriebsführung, sondern Betriebsakrobatik. Alle möglichen widrigen Umstände und stundenlange Fliegerangriffe hielten die Züge endlos an den Verladerampen fest. Und knapp 25 Kilometer Ost-Süd-Ost lag Nemmersdorf und sein Grauen. In 5 Stunden konnte man ohne Eile zu Fuß nach Gumbinnen gehn und herwärts der Straße Gumbinnen-Nemmersdorf-Goldap wurde bis aufs Messer gekämpft, um die rote Bestie aufzuhalten. Weder Petermann, noch irgendein anderer Eisenbahner hatte Zeit, sich um die drohende Gefahr zu kümmern. Und sie wurde abgewandt. Vielleicht war es gerade den Schilderungen der den Sexualverbrechen und Metzeleien Entkommenen zuzuschreiben, daß sich die Landser, taktisch ausgezeichnet geführt, mit einer Todesverachtung ohnegleichen diesen Horden von Unmenschen entgegenwarfen, daß die sowjetische Übermacht schon am dritten Tage an dem verzweifelt grimmigen Widerstand der deutschen Regimenter zerbrach. Vielleicht war es der eigene Anblick der Entsetzensbilder, der die viel schwächeren deutschen Divisionen zu einem Gegenangriff entflammte, der in den letzten Oktobertagen auch einen zweiten Durchbruch der Sowjetheere auffing und ihnen in den ersten Novembertagen den eroberten ostpreußischen Raum wieder entriß.
Vielleicht hatte es nur an einem Haar gehangen und der Frontabschnitt der 4. Armee wäre zerbrochen. Dann hätte ganz Ostpreußen das Schicksal Goldaps und Nemmersdorfs erlitten. Ein schauerlicher Gedanke. Die schon im Herbst begonnene Aushebung von Panzer- und Schützengräben im rückwärtigen Frontgebiet durch Hunderttausende von gebrechlichen Männern, durch Frauen und Kinder wurde mit brennendem Eifer und bis zur Erschöpfung der unterernährten Menschen fortgesetzt. Aber sie waren meist laienhaft angelegt und wo waren die Reserven, um sie auch besetzen zu können? Wo waren die Artillerie und Stuka, die die sowjetischen Panzer und Geschütze daran hindern konnten, in 24 Stunden einzuwalzen und zusammenzutrommeln, was in Monaten in heißem und gläubigem Bemühen geschaffen worden war? So blieb im Grunde genommen alles beim alten. Die Sowjets pumpten Tag für Tag, Woche um Woche ihre gesamte Front von Tilsit bis zu den Beskiden voller und voller mit Truppen und Panzern und Geschützen aller Kaliber und ihre Soldaten weiter mit Haß und mit der Gier zu rauben, zu vergewaltigen, zu morden. Und dieser Kampfmacht stand nicht der zehnte Teil an Soldaten, und, von wenigen strategischen Hauptpunkten abgesehen, oft nur der fünfzigste, ja nur der hundertste Teil an Panzern und Artillerie, das heißt, so gut wie überhaupt nichts von diesen entscheidenen Waffen gegenüber. Zwei bis drei Fußtsunden jedoch hinter der Hauptkampflinie lebte das ostpreußische Volk und lebten die vor den Luftangriffen im Westen in Sicherheit gebrachten Frauen und Kinder. Die Parteidiktatur hielt sie mit Versprechungen, daß die Ostfront unter keinen Umständen zerbrechen werde, und, wo ihnen nicht mehr geglaubt wurde, mit Verboten und Gewalt zurück. Ostpreußen rettete sich vor der bohrenden Furcht und der gärenden Verzweiflung in die sittliche Kraft, zu der Pflicht des Ausharrens zu stehen, weil man kurz vor der endgültigen Wende des Krieges zum Endsieg durch die neuen deutschen Waffen stehe. Man rettete sich seelisch in den Wunschtraum, daß alles gut gehen werde, weil das Gegenteil einfach unausdenkbar war. Die Eisenbahner saßen auf ihren Bahnhöfen von Tilsit bis Ostrolenka und in Westpolen bis zur Tatra, und dahinter im Warthegau und in Oberschlesien und bewältigten einen Verkehr,
der das Letztmögliche an Leistung aus den Bahnhöfen, aus den Strecken, aus den Menschen herausholte, brachten die Truppen und Versorgungszüge an ihre Etappenbestimmungsorte und an die Frontentladespitzen nicht anders als einst vor Stalingrad, Woronesh, Moskau und Leningrad. Der November verging, der Dezember. Abgesehen von unwesentlichen Einzelkämpfen geschah nichts. Im Süden allerdings standen die Armeen des Weltbolschewismus inzwischen vor der Hauptstadt Ungarns und im Westen war der letzte Versuch, die Invasionsheere zurückzuwerfen, die Ardennen-Offensive, gescheitert. Um das große gemeinsame Fest der christlichen Nationen herum, das Fest der Geburt Christi, mehrten sich die Zeichen, daß sich die rote Front vor dem Ostrande des Reiches zu rühren begann. Die Bevölkerung des deutschen Ostens klammerte sich an die Hoffnung, daß der allmächtige Gott der Liebe sie, die doch nicht schuldiger war als die Bevölkerung irgend eines anderen Gaues des Reiches und gewiß nicht schuldiger als irgendein anderes Volk auf Erden, nicht ohne Gnade und Barmherzigkeit den Schändern und Mördern der Heere des Antichristen opfern konnte. Der rote Sturm brach an in den eisigen Wintertagen der Januarmitte. Er brach an im Raume von Warschau und überrannte den Warthegau. Er brach an bis zu den Beskiden hinab und ins oberschlesische Industriegebiet hinein. Er brach gegen Ostpreußen an. Aus dem Memelraum stieß eine ganze Heeresgruppe gegen die schwache 3. Panzerarmee vor mit dem Stoßziel KönigsbergSamland, eine zweite Heeresgruppe vom Narew aus gegen die nicht weniger schwache 2. Armee, von Südosten nach Nordwesten quer durch Ostpreußen mit dem Stoßziel ElbingDanzig. Damit sollte die mittlere deutsche, die 4. Armee, die sich von ihrem zwar siegreichen, aber verlustreichen Ringen Ende Oktober und Anfang November noch nicht voll erholt hatte, und mit ihr der Osten und die Mitte Ostpreußens abgeriegelt werden. In wenigen Tagen war es geschehen. Im Norden und Süden geriet die erst mit den Etappenkolonnen flüchtende Bevölkerung, unter ihr die Eisenbahner und ihre Familien, zwischen und hinter die zerschlagen sich zurückkämpfenden deutschen Truppen, wurde von Panzern überrollt, von den roten Kompanien eingeholt; vielfach kam sie überhaupt nicht mehr zur Flucht. Die eis- und
schneebedeckten Straßen des russischen Sieges im Norden und Süden, die Dörfer und Städte, Gutshöfe, Hütten und Schlösser, die Bahnhöfe und die auf den Strecken eingeholten Züge hallten wieder vom Geschrei der Gepeinigten, der gefolterten Männer, der bis in den Tod vergewaltigten Frauen, der Mädchen, die noch Kinder waren, und sie dampften vom Blut der Ermordeten. Zwischen diesen beiden Zangen des Grauens lagen Mitte und Westen Ostpreußens zunächst noch unberührt. Auf den Bahnhöfen von Königsberg bis Insterburg, von Elbing bis Lyck fuhren die Züge in den ersten acht Tagen der ostpreußischen Offensive in Richtung Front und in Richtung Reich wie zuvor. Dann jedoch jagten die Unglücksnachrichten durch die Telefone, folgten die Räumungsbefehle an die nächsten Bahnhöfe hinter der Front der 4. Armee und am Rande der feindlichen Vormarschräume. Zug auf Zug wurde nach Westen gejagt. Die Betriebsspitzen rückten täglich, halbtäglich, ja stündlich von Osten, von Norden, von Süden weiter nach Westen. Hunderte von Zügen entkamen. Züge mit Räumungsgut, Züge, die mit Flüchtlingen und ihren Koffern, Kisten, Körben, Säcken mit Kleidern, Wäsche, Bettzeug vollgestopft waren. Auf den vereisten Dächern der Wagen lagen die Menschen, auf den vereisten Puffern saßen sie, auf den Trittbrettern hingen sie. Sie glitten und stürzten ab, kamen unter die Räder, wurden verstümmelt, getötet. Sie konnten sich in den Wagen nicht rühren, es war kein Durchkommen zu den Klosetten, die sowieso mit Menschen oder Gepäck vollgestopft waren. Man kam auch auf den Bahnhöfen nicht hinaus, wo es gelungen wäre, wagte man's nicht, weil man nicht mehr hineingekommen wäre. Der Zwang, dennoch seine Notdurft zu verrichten, wurde zur grausamen Geißel. Die Lücke im Westen wurde enger und enger. Auch die 4. Armee vermochte nicht, sie offen zu halten. So schloß sich auch das letzte Loch bei Elbing. Die Züge konnten nur noch nach Norden fahren, in den Raum von Königsberg. Für die Flüchtlinge blieb nur eine Möglichkeit des Entkommens: von Pillau aus auf Schiffen nach Danzig oder in deutsche Ostseehäfen, auf Fähren oder übers Eis hinüber auf die Frische Nehrung und auf ihr zu Fuß weiter nach Westpreußen. Ostpreußen auf der Flucht! Aber nur für einen Teil der Bevölkerung gab es Möglichkeiten und nur einem Bruchteil dieses Teiles gelang sie. Die Reichsbahn schaffte bis zum
letztmöglichen Augenblick die Menschen aus den Städten. Die Eisenbahner trotzten aller Panik und allen betrieblichen Schwierigkeiten. Wissend, daß das Bahnnetz eingeschlossen war, fuhren sie doch, fuhren die Flüchtlingszüge, fuhren die Räumungszüge in den immer kleiner werdenden noch freien Raum zusammen. Sie gaben nicht auf, retteten Menschen und bargen Heeres-, Eisenbahn- und Industriegut, denn wer konnte wissen, ob nicht doch noch eine Rettung kommen würde? Aber wenn die Strecke durch Entgleisungen oder Zusammenstöße blockiert war, wenn Bahnhöfe oder Brücken zerstört waren, wenn Stalinpanzer oder Flugzeuge Lok und Wagen zusammenschossen, dann hatte auch ihr Rettungswerk ein Ende. Die Züge blieben liegen und die Flüchtlinge schleppten sich weiter mit einem bißchen Habe, das sie noch schleppen konnten. Dann ließen sie auch das Letzte liegen und dann blieben sie selbst liegen, erstarrten im Frost, wurden vom Schnee begraben. Oder verkrochen sich, wie die entschlußlos oder hilflos Zurückgebliebenen in Häusern, Ställen und Scheunen, auf Dachböden und in Kellern, und starrten stumpf oder von Grauen geschüttelt ihrem Ende unter den Panzerraupenketten, unter den Pistolen und Messern und den Leibern der nahenden Heerhaufen der bolschewistischen Völkerbeglückung entgegen.
21. KAPITEL
Schweick räumte wieder. Obgleich die 4. Armee nur an den Flügeln angegriffen wurde und sie zurückbiegen mußte, um ihre Flanken zu schützen, und die Front vor seinem Zugleitungsbezirk nicht bedroht war, hießen die Spitzenbahnhöfe schon wenige Tage nach Beginn der Sowjetoffensive nicht mehr Sudauen, Augustow, Ossowice, sondern Treuburg, Prostken, Johannisburg. Und dann kam der Befehl: „Raus aus Lyck!“ Schweick runzelte die buschigen Brauen und brachte seine Familie mit tausend anderen Frauen und Kindern auf die Achse. Möbel? Hausrat? Niema nix. Nur fort! Das Leben in Sicherheit bringen! Denn da stimmte doch irgendetwas nicht! Er atmete auf, als der Zug in der Ferne verschwand. Wenige Tage später räumte Schweick bereits den Bahnhof Lötzen und die Wehrmacht räumte Lyck. Kampflos. Das verstand er nicht. Truppenzüge fuhren nach Westen! Ziel Allenstein! Ziel Zinten! Die Bevölkerung wußte ja nichts in der ersten Zeit, die Eisenbahner nicht viel mehr. Man wußte nichts von der Zange der vielen sowjetischen Divisionen, deren Backen länger und länger wurden und sich schon weit im Westen um ganz Ostpreußen zu schließen drohten. Lötzen-Boyen war Festung, bis an den Rand gefüllt mit allem, wessen eine Festung auf Monate hinaus bedarf. Aber die Reichsbahn räumte. Und am Ende der Räumungszug-Schlange kam Schweick mit seinem Befehlszug nach Rastenburg. Da war immer noch das Führerhauptquartier und die 25 000 Einwohner und Evakuierten schienen sich im Schutz der nahen ,Wolfsschanze' friedlich geborgen zu fühlen. Eines Tages stand Racke da. „Macht, daß ihr hier rauskommt!“ sagte er zu Schweick. „Der Iwan steht vor Allenstein.“ Schweick rempelte mit dem Kreisleiter zusammen. „Wir haben Hunderte von leeren Wagen hier, wir können die Frauen und Kinder mitnehmen.“ „Unsinn! Wo denken sie hin? Allenstein wird gehalten und kein Bolschewist wird in Rastenburg eindringen.“
Die Wagenschlangen fuhren leer. Racke begleitete Schweick im Befehlszug nach Korschen. Schweick sah finsterer aus als je. Ob es auch nicht mehr enden würde, so wie es damals von Bara bis Grodno nicht mehr geendet hatte? „Wo haben Sie denn Ihren Freund Schepperl gelassen?“ fragte er Racke, um sich von seiner Bedrückung zu befreien. „Der ist vor Weihnachten in Urlaub gefahren und ich habe veranlaßt, daß er von seiner Direktion zurückgehalten wird. Seine ehemalige Direktion Minsk ist ja längst aufgelöst.“ Wer aber stand bei ihrer Einfahrt in Korschen auf dem Bahnsteig? Schepperl. Eine rote Mütze auf dem Kopf und den Befehlsstab in der Hand. Er strahlte über das ganze Gesicht. Rackes Miene wurde verschlossen. Das tat der Heiterkeit Schepperls keinen Abbruch. Er riß Racke den gesunden Arm fast aus dem Kugellager. „Beinoh waar i nimma durchkemma!“ schrie er. Er mußte schreien, weil ein furchtbarer Lärm im und um den Bahnhof war. „Bei Elbing hot scho da Iwan umanandknallt.“ Racke antwortete: „Ich möchte dir deinen Befehlsstab am liebsten links und rechts um die Ohren schlagen.“ „Zum Raffa hamma koa Zeit iatza“, gab Schepperl trocken zurück. Es war wirklich keine Zeit dazu. Korschen lag bereits im Kampfbereich und offenbar auf der russischen Seite, soweit überhaupt noch eine russische und eine deutsche Seite voneinander unterschieden werden konnten. Schepperl und ein paar ansässige Eisenbahner brachten die letzten Züge auf die Strecke, dann brausten sie in Schweicks Befehlszug mit ab. Mit dem Brausen war's bald zu Ende, es wurde ein mühsames Weiterstottern daraus. Wie Alleebäume standen in der Ferne die Granatpilze. Die Männer mit dem Flügelrad auf den Kragenspiegeln waren alle ruhig. Sie hatten ihre Aufgabe zu erfüllen. Für die Landser, für die leidenden Menschen. Man durfte sich nicht ans Leben klammern, sonst wurde man in die Hetze und Panik der Flucht hineingerissen. Man mußte, wie der Soldat, die seelische Kraft aufbringen, mit dem Leben abzuschließen. Es war hart, aber wenn man weich war gegen sich selbst, wenn man die Furcht vor dem Tode in sich Herr werden ließ, war es noch härter.
Schepperl hatte im letzten Augenblick eine Kiste angeschleppt. Racke erinnerte sich, wie er mit einer noch größeren vor fast genau zwei Jahren in Tazinskaja angeschwankt war. Wenn er sich nicht irrte, hatte sich Schepperl aber diesmal vergriffen. „Was ist denn drin?“ fragte er ihn. „Wirst as scho sehn'g“, fertigte Schepperl ihn ab. „Du Sepp, wenn ich aber einen so großen Durst hab?“ Sepp machte auf. Handgranaten! Er wollte die Kiste zum Fenster hinauswerfen. „Vielleicht können wir sie noch brauchen“, sagte Racke. „So? Mechst wieda amoi Kriag spui'n?“ „Nicht mögen, aber vielleicht müssen.“ Jetzt erst fiel Schepperl auf, daß Racke seine Auszeichnungen nicht trug. „Zweng wos?“ fragte er. „Ich weiß auch nicht recht“, antwortete Racke zögernd. „So eine Art Schamgefühl vor den Bildern des Grauens und all dem Elend und Jammer. So wie man sich schämen würde, bei einem Leichenbegängnis einen hellen Anzug und eine bunte Krawatte zu tragen.“ Racke fiel auch an Schepperl etwas auf. „Du bist Sekretär geworden, Sepp. Gratuliere.“ „I scheiß ma nix drum“, brummte Schepperl, „aba Zeit dazua is scho lang g'wen“. Die Gegend der Kämpfe blieb zurück. Bartenstein lag friedlich. Ein Muni-Zug und ein Flak-Zug standen im Bahnhof, sie trauten sich nicht, weiterzufahren: Die Strecke nach Heilsberg liege unter Panzerbeschuß. „Warum denn über Heilsberg?“ fragte Schweick. Weil über die direkte Strecke Eylau-Königsberg und auch über die Parallelstrecke Richtung Friedland schon die Front verlief. „Raus müß' mr“, entschied Schweick. „Über Hoilsberg kann's no glücke. Jede Stund, die mr länger warte, sitz' m'r unentrinnbarer in der Fall. Aber d' Frauen und d' Kinder bring' m'r fort.“ Die warteten im Bahnhof und um den Bahnhof herum zu Hunderten darauf. Der Kreisleiter erhob auch hier Einspruch. Er kam so ungefähr mit Machiavelli, dem politischen Denker des 16. Jahrhunderts: „Man darf sich in keiner Lage selbst aufgeben, das Blatt kann sich plötzlich wenden.“
Racke fuhr ihn wütend an: „Sehen Sie denn nicht ein, daß diese Lebensweisheit auf die Lage dieser wehrlosen Menschen nicht angewendet werden kann? Daß sie von ihnen im Gegenteil fordert, nicht stumpfsinnig sitzen zu bleiben, sondern alles zu tun, um das Leben zu erhalten?“ „Mein Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar hat das Verlassen der Wohnsitze verboten. Wir weichen nicht von dem uns heiligen Boden der Heimat.“ Und dann kam er mit Goebbels Phrase: „Die Weltgeschichte hätte ihren Sinn verloren, wenn Deutschland diesen Krieg verlöre.“ Er warf den Arm hoch und ging ab mit „Siegheil!“ Die Eisenbahner starrten ihm einen Augenblick schweigend nach, dann brummte der eingefleischte Parteigegner Schepperl: „Jo pfüat di Gott Siegheil!“ Und sein Freund, der Pg. Racke, sagte: „Blödheit eines Einzelnen zum Selbstgebrauch ist Privatsache. Wenn sie aber mit Gewalt über viele verknüpft ist, wird sie gemeingefährlich.“ Schweick sagte nichts. Er ließ einen langen Zug mit Personenwagen bilden. Nach zwei Stunden fuhren 3 Züge ab. Als erster der Flak-Zug, als zweiter auf Sicht ein Zug mit über tausend Frauen und Kindern. Als letzter in vorsichtigem Abstand der Muni-Zug. Racke fuhr auf der Lok des Flüchtlingszuges, Schepperl im letzten Wagen. Racke hatte die Kiste mit den Handgranaten als Sitzbank mitgenommen. Er suchte durchs Glas voraus Bahnkörper und Gelände ab. Es schien alles in Ordnung, von Granateinschlägen war nichts zu sehen. Der nächste Haltepunkt aber war verlassen, die Ortschaft zeigte kein Leben. Der Flak-Zug vorne legte immer mehr Tempo zu. „Ranbleiben! Mehr Dampf!“ drängte Racke den Lokführer. Auch der Bahnhof Kraftshagen war menschenleer, der Ort wie ausgestorben. Wenige Kilometer weiter begann es. Hinter dem Flak-Zug wehte plötzlich eine graue Rauchfahne. Der Rauch kam jedoch nicht von seiner Lok, wie gleich darauf zu erkennen war, sondern von den vom Wind abgetriebenen Sprengwolken von Granateinschlägen. Wo die Geschütze oder Kampfwagen standen, konnte Racke selbst mit dem Glas nicht feststellen. Als der Lokführer den Laden roch, auch ohne Glas, schloß er hastig den Regler. „Nein, Mensch!“ schrie Racke. „Im Gegenteil: Volldampf! Dann kommen wir mit ein bißchen Glück noch genau
so durch, wie der Flak-Zug durchgekommen ist. Wenn wir halten, erwischen sie uns bestimmt!“ „Und wenn wir mit Volldampf in ein Granatloch fahren?“ „So viel ich sehen kann, liegen alle Einschläge zu kurz.“ „Auf Ihre Verantwortung“, brummte der Lokführer und öffnete den Regler wieder. Racke sah in einer Biegung zurück. Der MuniZug kam; er hatte auf wenige hundert Meter aufgeholt. Das war viel gefährlicher. Racke, Lokführer und Heizer richteten, als sie durch die Beschußzone fuhren, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Gleis voraus, um möglichst noch rechtzeitig zu entdecken, ob es von einem Treffer unterbrochen war, doch immer wieder verhüllten die Rauchschleier der Einschläge die Sicht. Eine Minute lang fuhr der Flüchtlingszug am Rande des krachenden Verderbens und die Minute hatte tausend Sekunden. Mit Schweiß auf der Stirne, mit kurzem, verhaltenem Atem, jeden Nerv gespannt, der Lokführer die linke Faust um den Regler geklammert, die rechte am Bremsventil, standen die drei auf der jagenden Lok. Dann wurde die Sicht wieder frei, dicht vor ihnen tauchte der Flak-Zug auf. Der Lokführer schloß den Regler und nach einer Viertelstunde hielten beide Züge vor dem geschlossenen Einfahrsignal von Heilsberg. Zwei Stunden hielten sie da. Der Munizug kam nicht nach. Endlich rollten sie in den Bahnhof, von einem Transportkommandanten mit Gebrüll empfangen. „Was soll der Flüchtlingszug hier? Wer hat Ihnen Fahrbefehl gegeben? Wissen Sie nicht, daß hier Front ist? Ich kann den Zug hier nicht brauchen. Weg mit!“ „Wohin?“ fragte Racke. „Dorthin, wo Sie hergekommen sind.“ „Leider unmöglich.“ „Dann fahren Sie, wohin Sie wollen, aber verschwinden Sie hier! Wissen Sie, wie viele russische Divisionen von Allenstein her im Anmarsch sind? In zehn Minuten ist der Zug weg! Verstanden?“ Racke rannte zum Fahrdienstleiter. Der wußte keinen Rat. Richtung Wormditt darf ich Sie nicht abfertigen. Von Braunsberg her ist eine Bewegung im Anrollen. An der direkten Strecke nach Zinten aber wird gekämpft. Wo ist noch unklar. Die Bahnhöfe sollen zum Teil zerstört sein. Telefonverbindung besteht nicht.“
„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Strecke nach Zinten zu fahren“, sagte Racke. „Bitte lassen Sie die Fahrstraße herstellen und geben Sie uns Ausfahrt.“ „Das kann ich nicht auf mein Gewissen nehmen“, antwortete der von Überarbeitung und Sorgen zermürbte Beamte. „Wir drücken den Zug zurück, laden die Flüchtlinge hier aus und werfen die Wagen von den Schienen.“ „Und ich kann nicht verantworten, die Flüchtlinge hier zu lassen“, widersprach Racke. „Das wäre das alleraussichtsloseste für sie, aber unseren Zug bringen wir vielleicht noch ziemlich weit in Richtung Zinten und können dann in nur ein- oder zweitägigem Fußmarsch nach Westen die Mehlsacker Strecke erreichen.“ Racke setzte dem Lokführer „Peter“ und seinem Heizer „Paul“ die Lage auseinander. Sie teilten Rackes Standpunkt, zudem sie in Königsberg zu Hause waren. Raus aus der Falle, so lange noch nicht feststand, daß man drin sitzen bleiben mußte! Eine halbe Stunde später verließ der Flüchtlingszug den Bahnhof. Der Munizug war immer noch nicht eingetroffen, würde also auch nicht mehr kommen. Sie würden daher auch Schweicks Befehlszug nicht wiedersehen. Hoffentlich gelang es ihm, sich mit seinen Männern anderswie durchzuschlagen; der Kerl dazu war er ja. Es wollte Racke beinahe befremdlich erscheinen, daß Kilometer um Kilometer unter den Rädern abrollte, daß sie an Neuendorf-Nerfken vorbeifuhren, daß sie nach Salworschienen kamen, ohne daß sich das Geringste ereignet hatte. Nur daß man durch Niemandsland fuhr, war augenscheinlich: die Bahnhöfe standen leer, von Bevölkerung war nichts zu entdecken, nichts von Soldaten, auch keine Zerstörung, keine Spur von Kämpfen. Hier war der Russe noch nicht gewesen, aber die Stimmung war so unheimlich, als lauerte er hinter jedem Busch und Baum, in jedem Graben, in jedem Haus. Und plötzlich wuchsen auch dicht am Bahnkörper Gestalten aus dem Boden, Gestalten mit Stahlhelmen und Gewehren. Für Augenblicke nahm es den drei auf der Lok den Atem, dann lachten sie kurz auf, mit ganz blöden Gesichtern. Es war Wehrmacht. Racke ließ halten; vielleicht wußten die Landser über die Lage an der Strecke Bescheid. Trotz seiner mäßigen Geschwindigkeit rollte der Zug noch ein Stück an den Feldgrauen vorbei. Sie grinsten, winkten, einige aber tippten gegen die Stirnen, eine
Geste, die unschwer zu deuten war und Racke erst die volle Gewißheit gab, daß es sich nicht um rote Soldaten in deutscher Uniform handelte. Die Gruppe sicherte einen Regimentsstab, der sich im Bahnhof Landsberg eingenistet hatte, gegen Überraschungen von dieser Seite. Das Regiment stand an der Elm entlang in Kämpfen mit dem Iwan, der aus dem Raum Pr. Eylau nach Westen drückte. Nach Zinten hinauf schloß sich das Nachbarregiment an. Wie's dort an der Bahn aussah, wußten sie nicht. Die Einwohner von Landsberg waren bis auf den Volkssturm und die Frauen und Mädchen, die einfach nicht gegangen waren, weggebracht worden. Beim Regimentsstab wurde der Zug ebenfalls mit Hallo und Kopfschütteln zugleich begrüßt. Racke hatte ihn schon vor der Einfahrt halten lassen; er stand da gedeckter gegen Flieger und die Umgebung war zur kollektiven Erledigung unabweisbarer Bedürfnisse geeigneter, als der Bahnhof selbst. Der Major, der das Regiment führte, war ein wüster aber großartiger Landsknecht. Von seinen Kerlen unterschied er sich nur durch den Dienstgrad, das taktische Können und die Verantwortung für sie. „Zug mit Flak oder Pak“, polterte er, „wär’ mir lieber gewesen als tausend Menscher! Nach Zinten hinauf ist dicke Luft, besonders am Walsch-Übergang zwischen Wildenhoff und Sangnitten. Ob Sie dort noch durchkommen, ist fraglich. Das Nachbarregiment hat die Sprengung der Brücke bereits vorbereitet. Vorschlag: Ich werde funken lassen, die Lage nochmal genau eruieren, gegebenenfalls Ihren Zug anmelden. Inzwischen kochen unsere Feldküchen eine Fleischsuppe für Ihre Flüchtlinge. Die kleinsten können warme Milch bekommen. Kümmern Sie sich darum, daß alles klappt. In einer Stunde melden Sie sich wieder bei mir.“ Der Adjutant hing bereits an der Strippe und gab die notwendigen Befehle und nach 2 Stunden fuhr der Zug weiter. Zeit durfte nicht verloren werden. Die Frauen hatten unter Anleitung des Heizers und Schepperls, der inzwischen in seinem Schlußwagen der große Mann geworden war, die Lok bekohlt und bewässert. Nun stob sie, eine weiße Dampffahne, die länger war als die Wagenschlange, hinter sich herschleppend, drauflos mit der an Leib und Seele erfrischten menschlichen Fracht. Von der
besonderen Gefahr, in der sie schwebten, wußten die Flüchtlinge ja nichts. Racke hatte es schon in Heilsberg für richtig gehalten, nicht Angst und Sorge zu verbreiten, sondern die zuversichtliche Stimmung zu erhalten, die seit dem glücklich überstandenen Beschuß Platz gegriffen hatte. Ohne Aufenthalt und ohne bedrohliche Anzeichen, denn das Artilleriefeuer, das zu hören war, lag weit seitwärts ihres Schienenweges, erreichte der Zug Wildenhoff. Sie unterhielten sich mit Sanitätern, die da in einem Keller vorsorglich eine Revierstube eingerichtet hatten. Es war alles ruhig bis auf das Kampfrumoren in der Ferne. Kaum jedoch hatte der Zug den Bahnhof verlassen, als hinter ihm Granaten in die Gebäude und Gleisanlagen schlugen. Schwere Brocken. Die drei Männer auf dem Lokführerstand sahen sich wortlos an. Peter machte soviel Dampf auf, wie er hatte. Plötzlich gab es Gerüttel, Geklirr, die Bremsklötze schlugen kreischend gegen die Räder: Die Notbremse war gezogen worden. Fluchend schloß Peter den Regler, bremste zusätzlich, auch mit dem Sandstreuer, gab Gegendampf. Paul warf den Hebel der Tenderbremse um. Racke lehnte sich zur Luke hinaus. Den ganzen Zug entlang hingen die Köpfe aus den Fenstern. Es war auch Geschrei, und jetzt sah er, daß einige Wagen zurückblieben. „Zugtrennung!“ schrie er den andern zu. Die Lok stand, er sprang hinunter, lief zurück. Der viertletzte Wagen war entgleist, die Kupplung gerissen. Die linke vordere Wagenecke war zerfetzt, die Achse gebrochen. Er steckte mit dieser Ecke im Schotter. Die drei Wagen hinter ihm waren aus den zerschlagenen und verbeulten Schienen gesprungen. Der Abstand vom vorderen Zugteil betrug etwa 50 Meter. Glücklicherweise hatte es weder Tote noch Schwerverletzte gegeben. Beulen und Prellungen dagegen ohne Zahl. Frauen und Kinder waren aus den Wagen geklettert, standen mit bleichen Gesichtern und Augen voller Schreck herum. Auch Schepperl war zur Stelle, zum Zeichen, daß er im Dienst war, an Stelle des Zugführerbandeliers die rote Mütze des Aufsichtsbeamten auf dem Quadratschädel. Er betrachtete sich den Schaden mit schiefem Kopf, zog seine Schnupftabakdose aus der Tasche, stopfte sich die Nasenlöcher voll und sagte: „Guat is ganga.“ Racke sagte: „Bißchen übertrieben.“
Der Zug war in einem kurzen künstlichen Geländedurchschnitt zum Halten gekommen. Auf den glatten Steilhängen links und rechts lief eine dichte Hecke niedriger Fichten entlang. Wo mochte der Schuß hergekommen sein? „Moanst, 's war a Granat'n?“ fragte Schepperl nachdenklich. „Nein, eine Knallerbse, du Döskopf“, antwortete Racke genau so wütend, wie er über den Aufenthalt war. „Muaßt du oiwei stänkern?“ sagte Schepperl in einem Ton, wie wenn er soeben gemütskrank geworden wäre. Racke hatte keine Zeit, sich mit dieser Anwandlung zu befassen; er stieg eilends den etwas höheren westlichen Hang hinauf, duckte sich ebenso eilends hinter die Hecke. 400 Meter seitlich rückwärts fuhr eben ein russischer Panzerspähwagen - ausgerechnet einer, der mit einer Kanone bestückt war - mit ein paar aufgesessenen Soldaten von einem kleinen bewachsenen Hügel herunter. Er rollte in gerader Richtung auf den dünnen Rauchfaden zu, der von der Lok über den Bahneinschnitt aufstieg. Ganz am Horizont erkannte Racke im Glas mehrere Schützenrudel vor einer Kolonne. Schon im nächsten Augenblick wandte er sich um, schrie: „Alles raus aus den Wagen hier! Auf die vorderen verteilen! Aber rasch!“ sprang den Hang hinab, rannte zur Lok vor. Hinter sich hörte er den aufgeregten Lärm der Frauen und Kinder und Schepperls strenge aber beruhigende Kommandostimme. Während des Laufens jedoch wurde ihm klar, daß es sinnlos war, davonfahren zu wollen. Sobald die Lok aus dem Geländeeinschnitt vorkam, wurde sie abgeschossen. Es gab nur eine Möglichkeit der Rettung: Erst den Spähwagen niederzukämpfen und dann, bevor die da hinten da waren, mit Volldampf abzuhauen. Das Gelingen hing ganz vom Verhalten des Spähwagens ab. Ob er den Zug als ungefährlich erkannt hatte und sorglos nahe genug heranfuhr - - Ein bißchen nachzuhelfen, war sicherer. Beim vordersten Wagen schrie er: „Rasch, ein paar mutige Frauen zu mir! Auch ein paar größere Kinder! Gleich umringte ihn eine ganze Schar. „Lauft mal da vor, wo der Einschnitt aufhört, und den Hang hier rauf durch die Hecke durch! Ein Panzerspähwagen kommt. Wenn ihr ihn seht, lauft ihr mit allen Zeichen des Schreckens wieder zurück und macht, daß ihr in die Wagen kommt. Ihr braucht euch
nicht zu fürchten, er wird nicht schießen. Sie wollen euch ja zuerst lebend haben! Aber wir werden rechtzeitig davonfahren.“ Er hätte gewünscht, selbst so sicher zu sein, wie er sich stellte. Die Frauen zögerten, dann gehorchten sie, ein paar größere Mädchen und Knaben voraus. Peter und Paul starrten ihm schweigend entgegen. Er kletterte die Loktreppe hinauf. „Abhauen können wir jetzt noch nicht. Wenn wir vor den Einschnitt kommen, schießen sie die Lok in Klump.“ Er hängte mit einem Griff die Maschinenpistole um, seine alte treue Gefährtin seit Kriegsbeginn, riß die Kiste auf, schob sich ein halbes Dutzend Handgranaten unter den steifen Arm, rief: „Bringt die andern und Draht und Zange!“ Hastig stieg er den Hang hinauf, der von hier aus entlang dem Bahnkörper wieder absank. Die Frauen und Kinder kamen gerade wieder herunter. Sie hatten das Erschrecken nicht zu spielen brauchen, es war echt geworden. Racke spähte durch die Schneehecke. Er war zufrieden. Der Panzerspähwagen hatte seine Richtung beibehalten. Er war noch fast 200 Meter entfernt und war es für den Zug verhängnisvoll gewesen, daß er ausgerechnet einer der selteneren war, die eine Kanone hatten, so kam dem Zug jetzt zugute, daß der Spähwagen langsam war weil er noch zu den veralteten gehörte, nicht auf vier Achsen lief, sondern nur vorne ein paar Räder, hinten aber Raupenkettengetriebe hatte. Vier erdfarbene Kerle saßen auf, Maschinenpistolen und Gewehre um den Hals gehängt, zwei oder drei würden drin sein. Jetzt kamen auch die Flüchtlinge zurück, die sich vor dem Einschnitt draußen gezeigt hatten. Wenn die Brüder aber trotzdem mißtrauisch waren und auf die Schützenrudel da hinten warteten? Anschleichen konnte er sich nicht, dazu war das Gelände zu offen. Dann war's aus. Mit ihnen allen. Racke hatte einmal einen Zug mit Flüchtlingen gesehen, der durchgebrochenen Roten, die kurz darauf eingekesselt werden konnten, in die Hand gefallen war. Der Anblick hatte ihm übel gemacht. Der Spähwagen hielt nicht und änderte seine Richtung nicht. Die vier auf ihm saßen nicht mehr, sondern standen, reckten die Hälse und gestikulierten. Das Brummen des Motors und das eifrige Geratsche der Raupenkette war jetzt deutlich zu hören.
Racke schraubte die Stiele von 4 Handgranaten und flocht die Becher mit einer fünften zusammen. Jetzt waren auch die Kameraden von der Lok mit den andern da und folgten seinem Beispiel. Schepperl kam angeschnauft; er hatte auch erst noch den Lufthahn am neuen Zugschluß geschlossen. „Was ist?“ fragte er, schob den Schädel mit der roten Mütze über die Hecke hoch. Racke ließ hin gewähren; wahrscheinlich würde die Galamütze die Russen nur zum Lachen reizen und in ihrer Annahme bestärken, daß sie es lediglich mit ein paar harmlosen Eisenbahnern zu tun hatten, die die Hände hochnehmen und sich ohne Gegenwehr totschlagen lassen würden. Die Deutschen hatten ja so komisch sanftmütige Vorstellungen vom Krieg! Schepperl stieß ein verblüfftes „O Bluatsau!“ aus und fuhr alsbald zurück. Er hatte ja bisher nicht gewußt, was eigentlich los war. Er kauerte sich neben Racke und stöhnte: „Do werd's hoaß hergehn!“ Er dachte dabei weniger an das nahende Kanonenrohr, das zwar lang, aber kaum dicker war als sein Handgelenk, mehr Sorge machte auch ihm instinktiv, was in der Ferne alles dahinterherkam. „Halt nicht Maulaffen feil!“ herrschte ihn Racke an. „Mach’ dir eine geballte Ladung!“ „Guat is“, sagte Schepperl. Er war dankbar für den groben Ton, er stellte sein etwas ins Wanken gekommenes seelisches Gleichgewicht wieder her. Und er munterte sich auch selber noch auf, zumal die zwei schwarzen Gesellen weder besonders kampffreudig, noch zuversichtlich aussahen, und fügte in Abwandlung eines volkstümlichen Biertrinkergrundsatzes hinzu: „Kämpfst, stirbst, kämpfst net, stirbst aa, also kämpfst!“ Racke wußte auch nicht, wie's ausgehen würde; der Panzerspähwagen war noch nicht auf Wurfnähe da. „Wenn du zu Hause geblieben wärst, hättest du kämpfen und sterben nicht nötig“, sagte er grimmig. Dann war zur Unterhaltung keine Zeit mehr. Der Panzerwagen war auf Steinwurfweite nahe gekommen. Der Zug lag jetzt, alle Fenster geschlossen, so still zu Füßen seiner Verteidiger, als wäre nicht eine Menschenseele in den Wagen. Was für eine Angst mochten sie ausstehen! Nun hatte jeder der vier eine geballte Ladung vor sich, Racke zwei. „Ihr werdet sehen, es geht ganz leicht“, weckte er ihr Vertrauen. Er konnte unbesorgt laut reden. Im nahen Lärm des
Motors und Kettenratschens und des Gezischs der Lok, die inzwischen Überdruck hatte, drang seine Stimme nicht weit. „Wir warten, bis er auf 10 Meter ran ist. Ich versuche, eine geballte Ladung so zu werfen, daß sie kurz über ihm noch in der Luft krepiert. Du, Sepp, wirfst ihm dein Päckchen auf den Kühler oder darunter zwischen die Räder. Schnur abziehen! Auf fünf zählen, ausholen und werfen! Das Treffen nicht vergessen. Die beiden andern Ladungen sind Reserve. Ich glaube nicht, daß wir sie noch brauchen werden.“ Inzwischen war der gepanzerte Gegner auf 30 Meter nahe gekommen, jetzt aber drehte er die Nase weg. Racke lief es kalt über den Rücken. Zu sicherem Werfen war es noch zu früh. Hatten die Kerle doch Bedenken bekommen? Er griff schon nach den noch daliegenden einzelnen Handgranaten, mit denen er auch auf diese Entfernung wenigstens die aufgesessene Besatzung erledigen konnte, da erkannte er, daß der Spähwagen lediglich die Richtung um einige Grade gewechselt hatte und nun dem Ende des Einschnitts zufuhr. „Mitkommen! rief er seinen Gefährten zu. „Aber unten! Nicht sehen lassen!“ Er rannte mit seinen beiden geballten Ladungen voraus, mit dem Spähwagen um die Wette, warf sich kurz vor dem Ende des Einschnitts hinter die kaum noch meterhohe Böschung, sah ihn durch die Hecke unmittelbar vor sich, zog die Zündschnur ab, zählte wie auf dem Übungsstand, sprang bei der drittletzten Sekunde kurz auf, holte aus, warf und lag schon wieder auf dem Bauch, zog für alle Fälle das zweite Bündel ab, hörte, mit dem Zählen beginnend, das böse, grelle Krachen und Splittern, hörte Sprengstücke in die Fichten klatschen, über seinen Kopf fortjaulen, war schon wieder hoch und schleuderte, mit einem Blick erkennend, daß die erste Ladung schon ganze Arbeit gemacht hatte, die zweite auf den Kühler, ließ sich wieder fallen, ließ Sprengschlag, Gepfeif, Gejohle und Gebrumm der Sprengstücke verklingen, schob sich an der Böschung hoch und spähte zwischen den Fichtenstämmchen über ihren Rand. Der Panzerspähwagen war eine bewegungslose, rauchende Ruine, auf ihm, neben ihm, hinter ihm lagen ebenso bewegungslose Körper. Vier Tote.
Aber da hob sich doch noch der Deckel, ein strupphaariger Kopf, ein paar Schultern schoben sich hoch. Eben kam Schepperl keuchend vor Atemnot neben Racke an. Racke grinste. „Du kommst zu spät.“ „Wos? I? Z'spat? Ja, wer sogt'n dös? Siggst'n du deen net, den Schlawihna, den g'schiß'na?“ schnaubte Schepperl los, zerrte, ehe Racke es verhindern konnte, an der Abreißschnur seines Handgranatenbündels und warf es, gewaltig ausholend, hinüber. „Blöder Hund!“ schrie ihn Racke an, riß ihn zu sich nieder. „Wer wird denn mit Kanonen auf Spatzen schießen!“ Und was er vermutet hatte, war richtig. Schepperls geballte Ladung traf weder den Russen, der da noch ausbootete, sondern zerplatzte wirkungslos 20 Meter weiter. Doch im gleichen Augenblick schoß eine Stichflamme aus dem Spähwagenwrack, Racke brauchte die MP nicht mehr in Anschlag zu bringen. „Auf die Lok und fort!“ schrie er und lachte, wie wenn er plötzlich verblödet wäre. Schützenschleier und Kolonne in der Ferne waren verschwunden; jetzt würden sich zweifellos erst Spähtrupps vortasten, Gewehrfeuer aus dieser Entfernung würde dem Zug nicht gefährlich werden, selbst von MG-Feuer waren kaum Verluste zu befürchten, zudem sie binnen zwei Minuten dem Feuerbereich ganz entronnen sein würden. „Lauf nicht erst hinter! Komm mit auf die Lok!“ rief Racke zu Schepperl hinunter, der mit finsterem Gesicht vorbeirannte. Schepperl sah nicht einmal herauf. Sein Fehlwurf und der Hieb mit der Kanone und den Spatzen hatte sein Ehrgefühl aufs tiefste getroffen. Auch gut, dachte Racke und lachte fröhlich hinter ihm her. Vielleicht konnte er ihn auf diese Weise endgültig nach Hause treiben. Paul riß die Feuertüre auf und schaufelte, was das Zeug hielt. Racke hängte sich aus dem Fenster und als Schepperl den neuen Zugschluß erreicht hatte, schrie er „abfahren!“ und horchte mit jubelndem Herzen auf das Zischen der Kolbenzylinder, das Pusten des Schlotes, das Klirren der sich spannenden Kupplungen, das Rattern der Räder. Der Zug rollte aus dem Einschnitt, er fuhr, schneller und schneller werdend, hundert, zweihundert, fünfhundert Meter schon über die offene Strecke nicht ein Schuß fiel. Die rauchenden Trümmer des Panzerspähwagens verschwanden bereits in der Ferne, nicht eine Kugel Haschte gegen Wagen oder Lok. Die drei auf dem
Führerstand grinsten sich an und Paul holte eine Schnapsflasche aus der Tasche, hielt sie Racke hin und sagte: »Da, sauf mal! Du bist ein toller Kerl.“ Er wußte ja nichts von Rackes soldatischer Laufbahn und von seinen Auszeichnungen. „Noch vier Kilometer bis zur Walschbrücke“, sagte Peter nach einigen Minuten und schloß den Regler halb. „Du hast recht“, stimmte Racke zu. „Wir wollen so langsam ranfahren, daß wir auf kürzeste Entfernung halten können.“ Der Abend senkte sich. Racke zündete sich eine Zigarette an, ließ die Erregung der vergangenen Viertelstunde in sich abklingen, sah zur linken, sah zur rechten Seite in die Landschaft hinaus. Nach einer Weile drehte er sich zu Paul herein, sagte: „Jetzt kann es doch kein Gewitter geben? Es wetterleuchtet.“ Sie achteten nun alle drei darauf. Und sie hörten auch das ferne Murren des Donners. Es war natürlich kein Gewitter, sondern Geschützfeuer. Racke sah Peter fragend an. Der schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „das ist ziemlich weit rechts von der Brücke.“ Die Zuggeschwindigkeit war auf 40 Stundenkilometer gesunken und nahm langsam noch mehr ab. Racke hängte sich weit aus dem Fenster, belauerte das schwache Aufblitzen, belauschte den Klang des Donners. Zweifellos ein Panzergefecht. Gut, der Zug war nicht bedroht. „Wie weit ist's noch zur Brücke?“ fragte er Peter. „Paar Minuten“, sagte der Lokführer. Man hörte seiner Stimme an, wie er aufatmete. „Kurz vor der Brücke gehe ich auf 10 Kilometer herunter. Wenn alles in Ordnung ist, fahren wir im Schritt hinüber.“. Paul stieß einen Ruf aus. Ihre Köpfe fuhren nach ihm herum; es hatte erschrocken geklungen. Sie brauchten nicht zu fragen, warum. Sie starrten über seine Schultern zum linken Fenster hinaus. Panzer! Ein Riese von einem Panzer. Auf eine Zuglänge voraus stand er 600 Meter seitlich entfernt vom Bahnkörper. Er stand nicht, er bewegte sich vorwärts. Und während sie wie gelähmt standen, unfähig, etwas anderes zu denken, als daß der Zug in ein paar Minuten nicht die Walschbrücke erreicht haben, sondern zu einem Haufen Schrott und tausend Leichen zusammengeschossen sein würde, sahen sie hinter dem Stahlriesen einen zweiten auftauchen, einen dritten. Nahm es
denn kein Ende? Vier. Fünf. Sie kamen in einigem Abstand auf Vordermann, wie Schiffe in Kiellinie, aus einer, dem Auge nicht erkennbaren Geländefalte. Sechs. Sieben. Es sah aus, als tauchten sie aus dem Boden auf. Jetzt vernahmen die drei auch trotz des Lok- und Zuggeräusches das tiefe Brummen der Motoren und das heisere Rasseln der Ketten. Gebannt starrten sie auf diesen ungeheuren Aufmarsch des Verderbens, hilflos des Augenblicks harrend, da die Rohre herüberschwenken würden. Es geschah nicht. Die dunklen Ungetüme rollten, als führe da gar kein Zug, in einem Winkel von 60 Grad schräg gegen die Bahnlinie zu, das war von ihnen aus gesehen, Richtung Brücke. Und sie würden sie vor dem Zug erreicht haben, wenn die beiderseitige Geschwindigkeit so blieb, wie sie jetzt war. „Ich werde halten“, sagte der Lokführer. Seine Stimmer zitterte. Racke fiel ihm in den Arm. „Warte noch!“ In seinem Kopf jagten sich die Gedanken, rangen um Klarheit, um einen Entschluß. Die Panzer waren im Vorstoß gegen die Brücke. Ihre Aufmerksamkeit und ihre Kanonen waren also auf die zu erwartende deutsche Abwehr gerichtet. Über den Flüchtlingszug, der da so kindlich angerollt kam, grinsten sie höchstens. Sie würden ihre Munition für den Kampf zusammenhalten. Was hätten sie davon, wenn sie ihn abknallten? Sie konnten im Gegenteil einen entscheidenden Nutzen aus ihm ziehen. Flog die Brücke vor ihrer Nase in die Luft, kamen sie nicht über den Fluß. Während aber ein Zug mit tausend Menschen im Anrollen oder gar schon auf der Brücke war, würde sie nicht gesprengt werden. Wenn ich Kommandeur der Panzer wäre, dachte Racke, würde ich unter keinen Umständen einen Trümmerhaufen aus dem Zuge machen, sondern alles daransetzen, um unmittelbar vor oder hinter ihm über die Brücke zu rollen. Und er hätte darauf geschworen, daß der Iwan da drüben kein Haar anders dachte. Es war natürlich möglich, daß die Russen im Falle des Mißlingens ihres Planes den Zug im letzten Augenblick doch noch zusammenschossen. Aber wenn er jetzt hielt oder sich rückwärts abzusetzen versuchte, war das Schicksal der tausend Frauen und Kinder unabwendbar besiegelt. „Nein, Peter, wir halten nicht!“ schrie Racke. „Im Gegenteil, gib Volldampf!“ „Ausgeschlossen! Wenn wir weiterfahren, hauen sie uns zusammen.“
„Das glaube ich nicht. Aber wenn schon - mehr als draufgehn können wir nicht. Und wenn wir nicht über die Brücke kommen, gehn wir bestimmt drauf.“ Der Heizer kam Racke zu Hilfe. Er hatte sich inzwischen gefaßt. „Los! Er hat doch recht!“ Und da Peter immer noch zögerte, griff er selbst zum Regler, klappte dann die Feuertüre auf, riß mit der Feuergabel den Glutberg auseinander, stieß ihn tiefer in die Kiste, breitete ihn nach den Seiten aus. Racke hatte inzwischen mit dem Wasserschlauch die Kohlen genäßt und nun schaufelte Paul. Grellgelb flammte der Brand auf. Die Klappe flog zu, nach Sekunden wieder auf. Zehn Schaufeln Kohle drauf und wieder zu. Und zum dritten Mal. Als Paul den Regler wieder geöffnet hatte, war noch keine Minute seit dem Auftauchen der Panzer vergangen gewesen. Seitdem hatte die Geschwindigkeit mit jeder Achsumdrehung zugenommen. Schon war sie von 40 auf 50 Stundenkilometer gestiegen, wuchs stetig. Peter hatte mit verbissenem Trotz die Führung der Lok wieder in die Hand genommen. Eine Art Dämonie des Verderbens kam über ihn. Gut! Dann fuhren sie eben mit Volldampf in die Hölle! Ein Lokführer, ein Heizer und ein Narr! Und tausend Frauen und Kinder! Eine Granate ins Getriebe - es würde ein wilder aber schneller Tod sein. So wie wenn der Fuß des Menschen einen kleinen Käfer zertritt. Peter kümmerte sich um nichts mehr als um seine Griffe und seine Instrumente. Er ließ kein Auge von den Skalen und mit einfühlsamer Hand, millimeterweise bediente er Regler und Steuerung. Rackes Auge dagegen hing unausgesetzt an den Panzern. Obgleich der Zug längst schneller war als die unbeholfenen Kolosse, kamen sie näher, weil ihre Marschrichtung und der Schienenweg aufeinanderzuliefen. Aber ihre Kuppeln rührten sich nicht, die Rohre drehten sich nicht. Würden sie es noch tun? Den Zug von den Schienen werfen, wie ein Sturm Kartenhäuser umwirft? Die Panzer blieben zurück, da sie aber seitlich näher und näher kamen, wurden die Rohre dadurch automatisch mehr und mehr dem Zuge zugekehrt. Racke durchbohrte sie förmlich mit den Blicken, als könnte er sie mit hypnotischer Kraft unter seinen Willen zwingen. Als er einmal einen kurzen Blick auf Peter warf, zeigte der Geschwindigkeitsmesser 75 Stundenkilometer. Das
Rennen war entschieden, aber der vorderste Panzer auf 300 Meter nahe gekommen. Es gehörten Nerven dazu hinüberzusehen. Es waren fürchterliche Kanonen. Sie schwitzten alle drei Blut. „Wie weit ist's noch bis zur Brücke?“ fragte Racke Paul. Er brachte die Worte kaum aus der Kehle heraus. „Dort vorne. Kannst sie schon sehen. Halber Kilometer.“ Auch die Antwort klang mühsam und gepreßt. „Ich muß jetzt mit der Geschwindigkeit runtergehn!“ schrie Peter herüber. Racke nickte ihm zu. Klar, mit 80 auf die Brücke zu rasen, war zu gefährlich. „Gib Signal!“ schrie er hinüber. „Damit sie uns nicht noch in letzter Sekunde mit der Brücke in die Luft jagen!“ Die Dampfpfeife heulte los, steinerweichend, unaufhörlich. Und als wäre das ein Feuerkommando, begann es seitwärts der Brücke auf dem andern Flußufer zu blitzen und zu krachen, stiegen noch im gleichen Atemzug seitlich rückwärts, wo die Stalinpanzer marschierten, schauerlich grölende, feuerzuckende Drecktürme hoch, trieb schon Rauch aus einem der ungeschlachten, rollenden Bunker, schlugen Flammen aus einem andern. Aber auch ihren Rohren entfuhren dröhnend Granate auf Granate, fetzten in sekundenrascher Folge in die Stellungen der Flak jenseits des Flusses. Der Höllenlärm des plötzlichen Artilleriekampfes drang selbst durch das hohle Sausen des Zuges, das dumpfe Stampfen der Lok, das Klirren der Tenderbrücke. Dennoch atmete Racke auf; dieser Kampf bedeutete die Rettung des Zuges, denn nun schossen die Panzer um ihr eigenes Leben. Er und die beiden andern nahmen gleichzeitig die Mütze ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn. Mit der abgebremsten Geschwindigkeit von 50 Kilometern polterte der Zug auf die Brücke. Niemand war auf ihr zu sehen, auch nicht an ihrem jenseitigen Ende. Dunkel dröhnte der eiserne Bau, zitterte und federte unter der Wucht der Lok und der schwankenden Wagenschlange. Noch immer donnerten die Abschüsse, krachten die Einschläge hüben und drüben. Racke warf einen Blick zurück, konnte jedoch außer den beiden abgeschmierten keinen der Panzer sehen. Die Lok hatte das Ende der Brücke erreicht, fuhr eben wieder auf festen Damm. Und jetzt brüllte Peter los: „Wir haben's geschafft! Paul! Paul! Wir haben's geschafft!“ Und der Heizer
tanzte wie ein Verrückter auf den Eisenplatten herum, schlug Racke mit der Kohlenpratze auf die Schulter, schrie: „Mensch! Du bist doch ein Aas!“ Er zerrte wieder die Flasche aus der Tasche: „Da sauf! General!“ Racke nahm sie lachend, er konnte einen Schluck brauchen. Wenn es aber schief gegangen wäre, dachte er, was würde Paulchen dann zu ihm sagen, falls er noch etwas sagen könnte? Das war der Augenblick, wo sie alle drei das Gleichgewicht verloren und durcheinanderflogen. Die Flasche zerklirrte. Die Lok ruckte und zerrte, als würde sie von ungeheuren Fäusten zurückgerissen und wieder vorwärts gestoßen. Ein ohrenbetäubendes Geheul, Donnern, Bersten und Krachen, Jaulen und Schrillen, orkanartiges Brausen lähmte ihre Sinne. Peter lag bewußtlos in seiner Ecke, Paul saß mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen auf der Tenderbrücke, Racke hatte mit beiden Armen den Anprall des Kopfes gegen die Feuertüre abgewehrt, taumelte hoch, stieß mit einem Fuß die Scherben zur Seite, zog den Regler zu, bremste rücksichtslos, klammerte sich hüben und drüben an und starrte durchs Fenster nach rückwärts, sah Feuer zum Himmel fahren und Schienen, Schwellen, Bohlen, T-Träger, Eisenplatten, Eisenstangen wie riesige Vögel vom Himmel stürzen. Die Erde bebte, die Gleise schienen sich mitsamt der Lok zu heben und zu senken, als brächen gewaltige Preßlufthämmer unter ihnen die Erde auf, und das Getöse, als schlügen Riesenhämmer auf Riesenambosse, nahm kein Ende. Noch ehe die Räder still standen, kletterte Racke die Leiter hinunter, sprang ab, lief zurück. Angstgeschrei und Kinderweinen war am ganzen Zug entlang, fast alle Fenster waren zerbrochen. Die Kette der Wagen war dreimal auseinandergerissen. Der dritte, hinterste Teil, noch dicht beim Ende der Brücke, sah aus, als wäre er unter einen Steinhagel geraten. Der letzte Wagen lag quer zum Bahnkörper auf der Seite, aus den Fenstern der anderen Seite, die nun Dach war, kletterten jammernde und schluchzende Frauen und Kinder mit Verletzungen und Knochenbrüchen aller Art, vielfach schwerer Natur. Überall klangen Hilferufe, Schmerzensschreie. Viele Frauen stürzten davon, viele liefen herbei um zu helfen. Auch Landser waren da, griffen zu, verbanden, scherzten zart und grob. Sie sahen aus wie Urmenschen und Wegelagerer.
Eben wollte Racke nach Schepperl schreien, da sah er - Es war, als schlösse sich eine eiskalte Hand um sein Herz: Das hier war gar nicht der letzte Wagen gewesen. Dessen Reste hingen im zerschlagenen Eisengerüst des in den Fluß niedergebrochenen diesseitigen Brückenanfangs oder sie starrten zwischen verklemmten Eisschollen aus dem schwarzen Wasser. Und im zerrissenen Brückengestänge, zwischen geknickten Pfeilern und gebrochenen Streben, in Wagentrümmern, zwischen Achsen und zerknitterten Plattformtreppen, auch auf der schmutzgrauen, zerschlagenen Eisdecke hingen und lagen Menschen und Teile von Menschen. Frauen. Kinder. Hier war kein Schreien und kein Weinen. Hier war alles still. Kein Leben mehr. Unter dem in die Luft starrenden Ende der gegenüberliegenden Brückenhälfte lagen zwei Stalinpanzer. Der eine steckte fast senkrecht im strudelnden Wasser, nur das Heck sah heraus. Der andere lag quer über ihm, an ein abgestürztes Brückenstück gelehnt, den Bauch nach oben. Schwarzer Qualm drückte aus allen Fugen. Es war alles ganz klar. Diese beiden Kampfwagen hatten die Brücke erreicht, noch ehe der Zug sie ganz verlassen hatte. Die Landser in den schwachen Bunkern hatten nicht gewagt, länger mit der Sprengung zu warten. So hatte es den letzten Wagen noch erwischt. Wenn sie nur noch zehn Sekunden gewartet hätten! Aber die Ungeheuer waren doch schon auf der Brücke! Und die Flak stand weit seitlich ab. Und sie hatten Befehl Zehn Sekunden nur! Nur fünf! Aber es war alles in Ordnung. Die armen Teufel waren auch nur Menschen. Immer wieder rief Racke Schepperls Namen. Mit müde suchenden Augen kletterte er in dem Chaos der Brücken- und Wagentrümmer herum, steckte den Kopf in jeden Winkel des Gewirrs. Wenn er den guten Kerl nicht so gekränkt hätte, wäre er zu ihm auf die Lok gestiegen. Er hatte ihn aus Freundschaft gekränkt, um ihn nach Hause zu ekeln - Ein Unteroffizier der Pak kam hinter Racke her, half ihm nach ein paar Worten suchen. Sie starrten hinter die Pfeiler und in die schwarzen Spalten und Löcher, in denen das Wasser gurgelte.
Es dunkelte rasch. Sie hatten alles abgesucht. „Den hat der Fluß mitgenommen“, sagte der feldgraue Kamerad sachlich. „Ja, ich glaube auch“, antwortete Racke ebenso sachlich und kletterte mit dem andern zurück. Er hatte sich um den Zug, um die Lebenden zu kümmern. Droben sagte der Unteroffizier: „Mach's besser“ und verschwand in seinen Bunker. „Du auch“, sagte Racke und ging weiter. Er war allein. Und da liefen ihm die Tränen über die Wangen. Wieso? Er weinte doch gar nicht - -
AUSKLANG
Der Bunker zitterte fortwährend. Es gab keinen Augenblick, wo nicht irgendwo Bomben fielen oder Artillerie schoß oder Granaten einschlugen. Wenn man am Hafen ging oder durch Pillaus Straßen, mußte man fortwährend über Leichen steigen. Racke schob die Blätter zurück, die er während der Nacht beschrieben hatte. Er legte sie zu den andern in den Pappkarton. Der war nun voll bis zum Rand. Auf den Blättern standen die Berichte über das Ende der Reichsbahn in Ostpreußen. Sie waren zugleich das Bild des schauerlichen Gesamtdramas des Landes und seiner Menschen. Sein Auftrag war erfüllt. Es gab nicht nur hier, es gab bis auf kümmerliche Überreste in dieser oder jener Ecke der ehemaligen Direktionsbezirke überhaupt keine Reichsbahn mehr. Denn das Reich war, einen Zipfel deutscher Erde im Süden ausgenommen, bereits die totale Beute der Sieger geworden. Kämpfende Inseln noch waren Königsberg, Breslau, Berlin. Sie standen vor dem Fall. Und da war auch noch die Pillauer Landspitze. Schweick kam herein. „Die Direktion fährt heute mit einem Frachter nach Hela hinüber. Was willst du noch hier? Fahr' mit.“ Schweick warf sich müde auf die Pritsche. „Nein,“ sagte Racke. Die beiden Männer waren, seit sie sich in Rastenburg getroffen hatten, sehr schmal geworden. Ihre Augen hatten den Ausdruck solcher, die lebend aus der Hölle kommen. Nach der Trennung in Korschen waren sie sich im Walde von Zinten wiederbegegnet. Wenn man in diesem Walde in der Nacht jemand begegnet war, hatte man nicht gewußt, ob es ein Russe oder ein Deutscher war. Seitdem hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. Das war nicht verwunderlich. Der Raum der deutschen Verbände war immer mehr zusammengeschrumpft und mit ihm der Reichsbahnbezirk Königsberg. Alles, was an Räumungs- und Flüchtlingszügen weiter östlich und südlich noch entkommen war, hatte nach dem 29. Januar keinen Ausgang aus dem Kessel mehr gefunden, war in dem schmalen Dreieck Königsberg-Mehlsack-Braunsberg
zusammengedrängt worden. Man hatte nicht nur Truppenzüge, Munition und Verpflegung auf diesen letzten Streckenabschnitten gefahren, sondern auch an Eisenbahnbaustoffen abgebaut und abgefahren, was am wertvollsten war, ohne Rücksicht darauf, daß das meiste doch verloren gehen würde, wenn sich der Bewegungsbereich der Züge noch weiter verengte, denn ein Abtransport mit Schiff aus dem Pillauer Hafen kam wohl kaum in Frage. Es handelte sich dabei nicht um den Geldwert, sondern um die Unmöglichkeit, diese Stoffe zu ersetzen. Geld war bei manchen Kassen der Bahnhöfe und Ämter zu Hunderttausenden von Mark, insgesamt Millionenbeträge, liegen geblieben. Alles, was man noch im Busen an Hoffnung genährt hatte auf einen Entsatz Königsbergs, eine Wiederbefreiung Ostpreußens, war enttäuscht worden. Auch die letzten Strecken waren kürzer und kürzer geworden. Man fuhr noch eine Zeitlang zwischen Braunsberg und Kobbelbude, zwischen Zinten und Heiligenbeil. Und man fuhr zwischen Königsberg und Pillau mit einer dreiwöchigen Unterbrechung ab 30. Januar. Da hatte der Russe die Strecke bei Metgethen abgeschnitten, ausgerechnet an einem Tag, an dem dort infolge eines Unfalls, der die Gleise sperrte, alles voller rückgestauter Züge stand, meist Flüchtlingszügen aus Königsberg. Als sie am 19. Februar, hauptsächlich von Hitlerjugend, wieder freigekämpft und von der Truppe der Ring um die Stadt noch einmal gesprengt war, erstarrten die Augen und Herzen vor all dem Entsetzlichen, was an den Deutschen, wiederum ja meist Frauen und Kindern und gebrechlichen Greisen, unter ihnen viele Angehörige von Königsberger Eisenbahnern, in den Zügen und in den Häusern und den verschneiten Weiten geschehen war. Racke und Schweick waren seitdem zusammengeblieben. Schweick hatte den Auftrag erhalten, in Pillau eine Zugleitung einzurichten. Was hatten sie alles an Flüchtlingselend im Hafen und in den Straßen der Stadt gesehen! Was hatten sie alles an Verzweiflung gesehen! An Panik, die den Nächsten erschlug, um sich selbst zu retten! Wieviel Erbärmlichkeit gab es doch unter den Menschen! Wieviel aber auch Edelmut, Opfersinn und Liebe bis in den Tod! Die Leiden der Flüchtlinge waren maßlos. Zu Tausenden warteten sie ohne ein Dach über dem Kopf in Eis und Schnee, in Sturm und Regenschauern, hungernd, erschöpft bis an die
Grenze des Lebens, aber in der Hoffnung, auch einmal von einem Dampfer über die Ostsee gerettet oder wenigstens auf Frachtern nach Heia gebracht oder doch mit Fähren auf die Nehrung übergesetzt zu werden. Racke und Schweick sahen Dampfer ausfahren, vollgestopft mit Flüchtlingen, und freuten sich für diese Glücklichen, und erfuhren nach Stunden oder Tagen, daß sie mit den trotz Begleitschutzes torpedierten Schiffen auf den Grund des Meeres gesunken waren. Sie sahen die Trecks, die unter unsagbaren Leiden wenigstens dem Schlimmsten entronnen waren, den Weg über das Eis des Haffs nehmen, sahen sie, Mensch und Vieh, hingemäht von den Bordkanonen und Maschinengewehren der Schlachtflieger, und sahen sie später, als das Eis brach, in den Spalten versinken. Die Zugleitung Pillau, Schweick mit vier Männern, hauste schon seit Wochen in diesem Bunker beim Hafen. Und dieser Racke. Heute war der 13. April. Die Odyssee der Direktion war nun also auch zu Ende. Sie war schon lange unstet und flüchtig geworden. Racke hatte sie Ende Januar mit dem Führungsstab im Befehlszug in Heiligenbeil getroffen; in Königsberg war der Befehlsstab zurückgeblieben. Ein Teil der Direktion hatte eine Zeitlang auch in Zinten gehaust. Später, als der Ring noch einmal geöffnet wurde, war man nach Königsberg zurückgekehrt und schließlich hatte der Befehlszug in Fischhausen gestanden. Die letzten Eisenbahner fuhren zwar noch Züge. Auf der Strecke Fischhausen-Pillau. Sie war 6 Kilometer lang. Die Direktion konnte mit gutem Gewissen diesen „Bezirk“ verlassen. *** Bahnhof Pillau war Sammelstelle für die in dieser einzigen noch feindfreien Ecke Ostpreußens zusammengedrängten Eisenbahner. Am 14. April kamen 350 Mann des letzten, seit Februar noch zwischen Palmniken und Pillau eingesetzten Bauzuges zu Fuß an. Alles, was zuvor im zusammenschrumpfenden Restbezirk Königsberg an technischen Eisenbahnern - Rottenkräften, Signalwärtern, Lokführern, Heizern und Schlossern - freigeworden war, hatte man ihm zugeteilt. Wenige Kilometer vor Pillau hatte der Zug infolge Artilleriebeschuß stehenbleiben müssen, auch wäre er der
vollgefahrenen Gleise wegen sowieso nicht mehr weiter gekommen. „Auf der Frischen Nehrung Landestege bauen“, lautete der neue Einsatzbefehl. Sie hatten zwar gedacht, der Krieg wäre nun endlich auch für sie zu Ende, aber sei's drum, es geschah ja um der Marine das Anlandbringen der Pillauer Flüchtlinge drüben zu erleichtern. Es gab indessen für Eisenbahner gar keine Möglichkeit auf die Nehrung hinüberzukommen. Der einzige Dampfer, der im Hafen lag, war Verwundeten und Frauen mit Kindern vorbehalten. Einzelnen Fluchtbesessenen allerdings gelang es, an Tauen das Schiff zu entern oder sich in Frauenkleidern an Bord zu schmuggeln. Da wurde der Einsatzbefehl des Bauzuges zum „Sesam öffne dich!“ für die Eisenbahner. Er erwirkte dem Bauzugführer einen Durchlaßschein des Festungskommandanten. So ordnete sich das Bauzugpersonal zuzüglich dreier weiblicher Bürokräfte der Direktion, die noch in Pillau zurückgeblieben waren, und einschließlich eines Bauernwagens, auf dem sie das Gepäck verluden und den sie mit Muskelkraft mit sich führten, in die Marschkolonnen und Trosse der Wehrmacht ein. Als sie in Neutief ankamen, waren aus 350 Bauzug-Eisenbahnern 1400 aller Dienstzweige geworden. Von einem Landestegbau war drüben nichts bekannt; man schickte sie weiter. Auf ein Stück Betonstraße folgte Holperpflaster, dann kam Sand. Es regnete. Sie schleppten sich bis in die Nacht hinein und waren glücklich, als sie eine Waldarbeiterunterkunft entdeckten, in der sie sich verkriechen konnten. Der Morgen kam. Sie machten sich auf den Weg nach einem Städtchen, das Kahlberg hieß und 20 Kilometer entfernt war. Was für eine Marter sind wundgelaufene, von aufgeplatzten Wasserblasen brennende Füße! 40 000 Schritte, jeder Schritt eine Pein! Hunderte erlebten an sich selbst, daß es kein einfacheres Mittel gibt, einen Menschen seelisch und charakterlich zu zerbrechen, als unaufhörliche körperliche Qualen. Bewundernswert hielten sich die drei Frauen. Sie betreuten die Männer, als brauchten sie selbst weder Schlaf noch Ruhe. Bei jeder Rast verbanden sie ungezählte Füße, sie kochten, nähten, flickten. Als man endlich die kleine Stadt erreicht hatte, gab es
keine Stelle, die für weitere Befehle oder Verpflegung zuständig war. Man konnte Brot kaufen, ein Scheibchen pro Magen. In Nickelswalde gebe es Fahrgelegenheit über die Danziger Bucht nach Heia, hieß es. 60 Kilometer! Der Elends- und Hungermarsch wurde fortgesetzt. Der Gepäckwagen mußte zurückgelassen werden, weil kurz außerhalb des Städtchens die Straße von russischer Artillerie beschossen wurde. Als man endlich die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte, stieß man auf Ordnungs- und Auffangkräfte der 4. Armee. Der Durchlaßschein der Eisenbahner hatte nur für den Bereich der 2. Armee Gültigkeit. 400 Eisenbahner wurden in die Wehrmacht eingereiht, die anderen konnten schließlich weiterziehen, aber in Nickelswalde erwartete sie ein neuer Schlag: Für den Abtransport war eine vom Reichsverteidigungskommissar, dem Gauleiter, ausgestellte Zulassung notwendig. Inzwischen hatte sich die Nehrung mit Truppen belebt und der Bauzugführer konnte glücklicherweise mit Kraftfahrzeugen nach Neutief zurückfahren. Als er mit dem vom stellvertretenden Gauleiter ausgefertigten Dokument wiederkam, schrieb man den 24. April. Die Überfahrt nach Heia konnte nun stattfinden, drüben aber gab es wieder einen Einsatz: Flugplatzbau. Unterkünfte und Verpflegung fanden sie diesmal in den halbzerstörten, verlassenen Häusern genug. Nach zwei Tagen wurden sie in mehrere Gruppen geteilt und eingeschifft. Bomber flogen an. Es gab Volltreffer, eine große Zahl Tote und Verwundete und manche Ertrunkenen. Viele andere konnten aus dem eiskalten Wasser noch lebend geborgen werden. Die Fahrzeuge kehrten nach Hela zurück. Der folgende Tag brachte einen neuen Schrecken: Russische Schnellboote griffen den Hafen an. Es ging noch einmal gut. Sie wurden abgewiesen. Wer aber hatte noch Hoffnung, daß man sich noch nach Westen würde retten können? Und doch gelang es schon am Tage darauf: in viele kleine und kleinste Gruppen aufgelöst, wurden die Eisenbahner auf Fischereifahrzeugen und Kanonenbooten teils nach Danzig, teils nach Stralsund gebracht. Hier wie dort indessen mußten sie unverzüglich wieder die Flucht ergreifen: Die roten Armeen waren auch da schon im Anmarsch.
Der Bauzugführer selbst hatte mit 70 Mann und den drei Frauen auf einem ehemaligen Ostasiendampfer Platz gefunden, der im Geleitzug am 30. April wohlbehalten Kopenhagen erreichte. Die Flucht der 1400 letzten Eisenbahner aus dem ehemaligen Direktionsbezirk Königsberg war zu Ende. Es waren nur noch einige hundert. *** Die Tage vergingen und das Todesdrama von Königsberg ging zu Ende. Auch die Reste der deutschen Truppen, die seit Wochen ihren Sperriegel vor der Halbinsel, dem letzten Zufluchtsort, der noch ein Entkommen ermöglichte, gehalten hatten, schmolzen mehr und mehr zusammen und wurden, trotz der Verbissenheit und Tapferkeit, die nicht mehr nach dem Tode fragte, kämpfend und fallend, auf Pillau selbst zurückgedrängt. Da sah man noch bespannte Einheiten, die mit der Fähre auf die Nehrung übersetzten. Von Neutief herüber kam ein Kurier. Er brachte nun auch der Zugleitung Pillau den Befehl, sich abzusetzen. Schweick und seine vier Letzten packten ihre Sachen zusammen und Racke mit ihnen. Sie gingen durch die Nacht zur Fähre. Schweick dachte an seine Heimat am Rhein. Würde er sie wiedersehen? Würde er einmal wieder auf einem friedlichen Bahnhof bei Weib und Kindern sein? Die Silhouette Pillaus stand schwarz vor dem Feuerhimmel des fernen Königsberg. Geschützdonner erschütterte die Stille der Nacht. Die Festung schoß noch mit zwei Batterien. Wind wehte, das Meer rauschte, sie spürten das Salz in der Luft auf der Zunge. Ein Schuß fiel. Schweick rief: „Was ist los?“ Eine Stimme antwortete gleichmütig: „Es hat sich einer erschossen.“ Schweick sah sich um. Wo war Racke? Eine andere, eine erregte Stimme rief: „Hat er nicht recht? Daß man nach all dem noch lebt, ist das nicht verrückt? Daß man noch leben will! Leben kann? Wozu?“ Eine Weile war es still, dann sagte eine ruhige Stimme: „Wozu? Ich will es dir sagen. Damit das Herz Deutschlands wenigstens in uns weiterschlägt.“
Es war die Stimme Rackes. Ende
Von demselben Verfasser erschien im gleichen Verlage: BAHNHOF RUSSKINAJA MELDET SICH NICHT Als der zweite Weltkrieg über das deutsche Volk hereinbrach, zog nicht nur der Soldat hinaus, sondern auch der Eisenbahner. Je mehr die deutschen Heere in den russischen Raum vordrangen, um so mehr wurde der Nachschub zum Schlüsselproblem der Kriegführung. Die Schwierigkeiten waren unvorstellbar. Die Anforderungen an Führung und Personal überstiegen menschliches Maß. Der Osteisenbahner, vom Präsidenten bis zum Bahnarbeiter, hat dieses Problem gelöst. Der kämpfenden Truppe auf dem Fuße folgend, stellten die Eisenbahner die zerstörten Strecken wieder her, spurten um auf die Achsenbreite der deutschen Lokomotiven und Wagen, bauten Bahnhöfe und Betriebswerke wieder auf, verbesserten und mehrten die Betriebseinrichtungen, improvisierten den Zugverkehr und bauten ihn zum friedensmäßigen Regelbetrieb aus. Davon erzählt dieses Buch. Die stählernen Straßen von Minsk bis Woronesh, von der russisch-polnischen Grenze bis Charkow, ins Donezbecken, in den Kaukasus, bis in die Vororte von Stalingrad, alle die Bahnhöfe und Blockstellen in Städten und Dörfern, die Urwälder, Moore und Steppen sind sein Schauplatz; Lokführer und Heizer, Präsidenten und Generale, Bahnhofsvorsteher und Weichenwärter die Handelnden. Im Mittelpunkt des Romans aber stehen Erlebnis und Schicksal einer kleinen Gruppe von Eisenbahnern, die man nie wieder vergessen wird. Aus Griechenland fährt der Pak-Feldwebel Günther Racke, in Zivil Reichsbahn-Inspektor, in Urlaub, rettet seinen Urlauberzug und einen serbischen Bahnhof vor der Vernichtung, die ihnen durch einen brennenden Munitionszug droht. Er erleidet eine schwere Verletzung. Der linke Ellenbogen bleibt steif. Im Lazarett findet er Eva. Aus der Wehrmacht entlassen, führt ihn die kriegsgerichtliche Verurteilung des Lokführers Bunz, seines Freundes, zum höchsten Eisenbahner, dem Reichsverkehrsminister, der ihn im weiteren Verlauf der Ereignisse als seinen persönlichen Sonderberichter nach dem Osten schickt.
Als blauer Eisenbahner zieht Racke hinaus. In Minsk trifft er mit drei Eisenbahnern zusammen, mit denen er schicksalhaft verbunden bleibt. Es sind der Berliner Betriebs-Sekretär Sigismund Liebedorn, der Thüringer Betriebs-Assistent Hans Glück und der oberbayerische Betriebswart Josef Schepperl. Ein Partisanenanschlag mit furchtbaren Folgen führt Racke ins Pripetmoor und bringt ihm die Bekanntschaft mit dem Partisanen Jendik und dem Mädchen Janka. Die Suche nach seinem Bruder Wolf, der als Sonderführer im Hauptmannsrang bei einem Feldeisenbahn-Kommando als Betriebskontrolleur Dienst macht, mündet in ein gemeinsames Unternehmen WehrmachtEisenbahn gegen einen Bahnhof hinter der russischen Linie. Dabei wurde Racke als Führer der Eisenbahner und Major Normann, der Kommandeur eines Infanterie-Bataillons, zu Kameraden. Mit schweren Verwundungen wird Racke von seinem Bruder Wolf nach Poltawa ins Lazarett gefahren. Eva kommt als freiwillige Rotkreuzhelferin. Sie wird seine Frau. Einbrüche der Russen und die Rasputiza, die Schneeschmelze mit ihren riesenhaften Überschwemmungen, bringen Bahnstrecken und Eisenbahner in größte Gefahr. Bei der Rettung eines Lazarettzuges aus Wassersnot stößt Racke wieder auf Schepperl und Liebedorn, die während des Winters auf einer wichtigen Abzweigstelle des Bahnhofs Russkinaja eine packende Fülle an Idyllischem und Dramatischem, Tragischem und Heiterem erlebt hatten. Der Dritte in ihrem Bunde, „Hans im Glück“, hatte den Tod gefunden. Rackes Bruder Wolf, dessen Herz für Eva entflammt, fällt in den Reihen der Eisenbahner, die sich freiwillig an der Seite der Wehrmacht der russischen Offensive entgegenwerfen. Im Zuge der anschließenden deutschen Offensive, die Stalingrad erreicht, werden Schepperl und Liebedorn, die inzwischen in die feldgraue Eisenbahnerkluft gesteckt worden sind, auf das Bahnhöfchen Tapor an einer neugebauten Feldbahn tief in die Donsteppe verschlagen. Sie entkommen beim Zusammenbruch des rumänischen Frontabschnitts mit knapper Not einer Steppenhorde, Racke jedoch, der sich auf dem Wege zu den beiden Kameraden befindet, fällt in die Hände der Partisanen und steht dann, den Tod vor Augen, mit einem Male Jendik und Janka gegenüber. Jendik trägt die Uniform eines russischen Offiziers,
Janka die eines Soldaten. Racke erschlägt Jendik im Kampf und wird von Janka in die Freiheit geführt. Auf dem Kriegsschauplatz aber hat für Wehrmacht und Eisenbahn die Wende vom Siege zur Niederlage, vom Vormarsch zum Rückzug begonnen.