Der Sandelf
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Der Sandelf
Inhalt
von Edith Nesbit aus dem Englischen von Sybil Gräfin Schönfeldt mit Illustrationen von Sabine Friedrichson
Edith Nesbit
Der Sandelf
1. Folge: “Was für ein Abenteuer!”
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2. Folge: “Schreckliche Schönheit”
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3. Folge: “Nie wieder Blödsinn!”
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4. Folge: “Arm trotz Reichtum”
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5. Folge: “Verflixtes Geld!”
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6. Folge: “Himmlischer Wunsch”
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7. Folge: “Schrecken der Lüfte!”
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8. Folge: “Gestrandet!”
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9. Folge: “Alarm im Pfarrhaus!”
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10. Folge: “Auf dem Kriegspfad!”
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11. Folge: “Indianer! In England!”
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12. Folge: “Der letzte Wunsch”
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13. Folge: “Ende gut, alles gut!”
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Folge 1: Was für ein Abenteuer!
thea hinzu. »Na gut, wenn das euer Wunsch ist«, antwortete die Stimme, und der Sand geriet in Bewegung und kreiselte und wurde weggeblasen, und etwas Braunes und Pelziges und Dickes ließ sich in die Grube rollen, und dann glitt der Sand von ihm ab, und es saß da und gähnte und rieb sich die Augen mit den Pfoten.
Cyril, Anthea, Robert, Jane und das Baby »Lamm« verbringen herrliche Ferien in einem weißen Haus auf dem Land, ohne störende Eltern, nur mit ihrem Kindermädchen Martha. Beim Spielen in einer Sandkuhle entdecken sie das seltsamste Wesen der Welt…
Die Kinder standen im Kreis um das Loch herum und betrachteten das Wesen, das sie entdeckt hatten. Und das lohnte sich wahrhaftig! Seine Augen saßen wie Schneckenaugen an langen Stielen, und es konnte sie wie Teleskope einziehen und ausfahren. Seine Ohren glichen Fledermausohren, und sein molliger Körper war wie ein Spinnenbauch geformt und mit dichtem Fell bedeckt. Arme und Beine waren ebenfalls behaart, und es hatte Hände und Füße wie ein Affe. »Was ist das um Himmels willen?«, erkundigte sich Jane. »Können wir es nicht mit nach Hause nehmen?« Das Wesen richtete seine Stielaugen auf sie, um sie genau betrachten zu können, und antwortete: »Schwatzt sie immer solchen Unsinn, oder macht nur das Zeugs auf ihrem Kopf sie so dämlich?«
Plötzlich schrie Anthea: »Cyril! Komm her! Komm schnell! Es ist lebendig! Schnell! Sonst läuft es weg!« Alle rannten zu ihr zurück. »Das ist sicher eine Ratte«, stellte Robert fest. »Vater sagt, an alten Orten wimmelt es von Ratten, und diese Kuhle muss ganz schön alt sein, wenn hier vor Tausenden von Jahren das Meer gewesen ist.« – »Vielleicht ist es eine Schlange«, sagte Jane und schüttelte sich. »Sehen wir doch mal nach«, rief Cyril und sprang in die Grube. »Ich hab keine Angst vor Schlangen, ich mag sie gern. Wenn es eine Schlange ist, dann zähme ich sie, und sie folgt mir auf Schritt und Tritt, und nachts darf sie sich um meinen Hals ringeln.« – »Nein, das kommt nicht infrage«, widersprach Robert mit fester Stimme. Er schlief mit Cyril in einem Zimmer. »Aber eine Ratte kannst du zähmen.«
Bei diesen Worten musterte es verächtlich Janes Sonnenhut. »Sie wollte nichts Kränkendes sagen«, antwortete Anthea sanft. »Du brauchst auch keine Angst zu haben, wir wollen dir bestimmt nicht wehtun.« – »Mir wehtun!«, sagte es. »Mir Angst einjagen! Das ist doch wohl die Höhe. Du redest ja wirklich, als ob ich überhaupt nichts Besonderes wäre.« Sein Fell hatte sich wie das einer Katze gesträubt.
»Ach, seid doch nicht so trottelhaft«, unterbrach sie Anthea. »Das ist keine Ratte, es ist viel größer. Es hat Füße, ich hab sie gesehen, und Fell hat es auch! Nein – nicht mit der Schaufel! Du tust ihm ja weh! Grab mit den Händen.« – »Damit es mir wehtun kann? Das würde dir wohl so passen?«, fragte Cyril und griff nach der Schaufel. »Nein, nein!«, rief Anthea. »Bitte nicht! Ich… Es klingt albern, aber es hat etwas gesagt. Wirklich!« – »Was denn?« – »Es hat gesagt: ›Lass mich in Ruhe.‹« Dazu bemerkte Cyril, dass seine Schwester offenbar den Verstand verloren habe, und er und Robert gruben mit ihren Schaufeln weiter. Anthea ließ sich am Rande der Kuhle nieder und sprang von Zeit zu Zeit vor Aufregung auf.
»Sieh mal«, fuhr Anthea freundlich fort, »wenn wir wüssten, wer du wirklich bist, dann könnten wir vielleicht etwas sagen, worüber du dich nicht ärgern musst. Bis jetzt scheinst du dich über jedes Wort geärgert zu haben. Also, wer bist du? Und bitte, schimpf nicht wieder! Wir wissen es nämlich tatsächlich nicht.« – »Ihr wisst es nicht?«, fragte es. »Ich wusste ja, dass sich die Welt geändert hat, aber – also wirklich – wollt ihr mir im Ernst einreden, dass ihr ein Psammed nicht mehr erkennt, wenn es vor euch sitzt?«
Auf einmal rief sie: »Ich hab keine Angst, dass es mir wehtut! Lasst mich jetzt weitergraben.« Damit kniete sie sich hin und begann, den Sand wie ein Hund wegzuscharren. »Oh, ich kann das Fell spüren«, rief sie halb lachend und halb weinend, »ganz deutlich!« Da ertönte plötzlich eine trockene heisere Stimme aus dem Sand. Sie sprangen zurück, und ihre Herzen begannen wie rasend zu klopfen. »Lasst mich in Ruhe«, sagte die Stimme. »Aber wir wollen dich sehen«, antwortete Robert tapfer. »Ich wünschte, du kämst heraus!«, setzte AnEdith Nesbit
»Ein Psammy? Das kommt mir spanisch vor.« – »Es ist nicht spanisch, sondern griechisch«, antwortete das Wesen scharf. »Es heißt Psammed, und das ist: ein Sandelf. Könnt ihr also wirklich einen Sandelf nicht erkennen, wenn ihr ihn vor der Nase habt?« Er schaute dabei so bekümmert und beleidigt drein, Der Sandelf
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dass Jane hastig erwiderte: »Ja, natürlich, jetzt sehe ich es ganz deutlich. Man braucht dich ja nur anzuschauen.« – »Du hast mich schon eine ganze Weile genau anschauen können«, stellte das Psammed ärgerlich fest und begann, sich wieder in den Sand einzubuddeln. »Oh – geh noch nicht fort! Erzähl uns noch mehr!«, rief Robert. »Ich habe nicht gewusst, dass du ein Sandelf bist, aber ich hab gleich beim ersten Blick gemerkt, dass du das wunderbarste Wesen bist, das ich je gesehen habe.« Daraufhin wurde der Sandelf wieder etwas zugänglicher. »Das Reden macht mir gar nichts aus«, antwortete er, »ihr müsst euch nur benehmen. Also, sagt etwas.« Natürlich fiel keinem etwas Vernünftiges ein, aber schließlich brachte Robert doch eine Frage zustande: »Wie lange lebst du schon hier?« – »Ach, ewig – ein paar Tausend Jahre«, antwortete das Psammed. »Erzähl uns doch davon, bitte.« – »Das steht alles in Büchern.« – »Da steht aber nichts von dir!«, sagte Jane schnell. »Erzähl uns doch bitte alles über dich! Wir wissen überhaupt nichts von dir, und du bist so nett.« Der Sandelf strich seinen langen Rattenschnurrbart glatt und lächelte. »Ja, bitte, erzähl!«, riefen die Kinder im Chor.
Das Psammed zog seine Augen ein und sagte: »Wie stark die Sonne brennt – ganz wie in alten Zeiten. Wo bekommt ihr jetzt eure Megatherien her?« – »Unsere was?«, fragten die Kinder alle auf einmal. »Und gibt es jetzt genug Pterodactylen?«, fuhr das Psammed fort. Die Kinder wussten nicht, was sie antworten sollten. »Was esst ihr denn jetzt zum Frühstück?«, fragte der Sandelf ungeduldig. »Und wer bringt es euch?« – »Wir essen Spiegelei mit Schinken und Butterbrot mit Milch und Porridge und all so etwas. Das bringt uns Mutter. Was ist denn ein Mega-Dingsda und ein Ptero-Soundso? Und wer isst sie zum Frühstück?«
aufgetragen, sich ein Megatherium zu wünschen, natürlich ausgenommen und bratfertig. Das war ein Riesenfaultier, fast so groß wie ein Elefant; es hatte ganz schön viel Fleisch auf den Knochen.«
»Dann müssen aber doch Berge von kaltem Fleisch übrig geblieben sein«, sagte Anthea. »O nein«, antwortete das Psammed, »das kam nie vor. Nein, nein, bei Sonnenuntergang hat sich der Rest des Fleisches natürlich in Stein verwandelt. Ich habe mir sagen lassen, dass man die versteinerten Knochen von Riesenfaultieren und all den anderen Sauriern selbst heute noch überall in der Gegend verstreut finden kann. Dort, wo ich gelebt habe, ist fast überall Sand gewesen, und die Kohle ist auf den Bäumen gewachsen, und die Blüten des Immergrüns waren so groß wie Teetabletts. Ihr könnt sie heute noch finden, sie sind auch versteinert. Wir Sandelfen wohnten am Meeresufer, und die Kinder kamen häufig mit ihren kleinen Schaufeln aus Feuerstein und bauten uns Burgen, in denen wir leben konnten.«
»Na, zu meiner Zeit hat jedermann Pterodactylen zum Frühstück gegessen. Sie sind ein Zwischending zwischen Krokodilen und Vögeln gewesen, Saurier oder Flugechsen kann man auch dazu sagen. Gegrillt haben sie besonders gut geschmeckt. Es war nämlich so: Damals hat es ganze Scharen von Sandelfen gegeben, und morgens ging man los und fing sich einen. Und wenn man einen erwischt hatte, dann musste er einem einen Wunsch erfüllen. Die Leute schickten damals ihre kleinen Jungen vor dem Frühstück zum Strand, um sich den Tageswunsch zu besorgen. Und dem ältesten Sohn der Familie wurde meistens Edith Nesbit
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»Aber warum lebt ihr denn heute nicht mehr in solchen Burgen?«, erkundigte sich Robert. »Das ist eine sehr traurige Geschichte«, antwortete das Psammed niedergeschlagen. »Sie bestanden darauf, einen Graben um ihre Burgen zu ziehen, und dadurch kam das eklige nasse Meerwasser herein, und dann hat sich der Sandelf meistens erkältet und ist gestorben. So sind wir immer weniger geworden, und wenn später noch jemand ein Psammed aufstöberte, hat er sich immer ein Megatherium gewünscht und gleich die doppelten Portionen gegessen, denn es dauerte oft Wochen, bis er den nächsten Wunsch anbringen konnte.«
bis es doppelt so dick und pelzig wie vorher war. Plötzlich stieß es den Atem in einem langen Seufzer aus. »Ich fürchte, ich schaffe es nicht«, sagte es entschuldigend. »Ich muss aus der Übung sein.« Die Kinder waren tief enttäuscht. »Ach, versuch es doch noch einmal!«, baten sie.
»Nur noch eine Frage bitte«, bettelten die Geschwister, »kannst du immer noch Wünsche erfüllen?« – »Natürlich«, sagte das Psammed. »Hab ich dir nicht vor ein paar Minuten einen erfüllt? Du hast gesagt: ›Ich wünschte, du kämst heraus!‹ Und das ist geschehen.« – »Ach bitte, dürfen wir uns noch etwas wünschen?« – »Ja, aber macht schnell. Ihr langweilt mich allmählich.«
Nachdem der Sandelf so groß geworden war, dass er fast das ganze Sandloch ausfüllte, waren alle sehr erleichtert, als er plötzlich den Atem wieder fahren ließ und seine gewöhnliche Größe annahm. »Das wäre geschafft«, sagte er und keuchte heftig. »Morgen wird es leichter gehen.« – »Hat es sehr wehgetan?«, erkundigte sich Anthea. »Ich hab’s nur an meinem armen Schnurrbarthaar gemerkt. Danke schön«, sagte er. »Aber du bist ein liebes und verständnisvolles Kind. Auf Wiedersehen.«
»Gut«, antwortete das Psammed. »Ich hab nämlich eben etwas Kraft zurückbehalten, damit ich jedem von euch seinen eigenen Wunsch erfüllen kann. Wenn ihr damit zufrieden seid, dass ihr euch einen Wunsch pro Tag untereinander teilt, dann kann ich mich wahrscheinlich weit genug aufblasen. Seid ihr einverstanden?« – »Ja, o ja!«, riefen Jane und Anthea. Die Jungen nickten. Sie glaubten nicht, dass der Sandelf Wünsche erfüllen konnte. Mädchen sind meistens leichtgläubiger als Jungen. Das Psammed streckte seine Augen noch weiter heraus und schwoll und schwoll und schwoll. »Hoffentlich tut es ihm nicht weh«, flüsterte Anthea. »Und er platzt nicht aus der Haut«, setzte Robert aufgeregt hinzu.
»Und bist du auch nass geworden?«, fragte Robert. Der Sandelf schüttelte sich. »Nur einmal«, antwortete er, »an der Spitze des zwölften Haares meines oberen linken Schnurrbartes – bei feuchtem Wetter kann ich es immer noch spüren. Es ist nur einmal geschehen, aber mir hat es gereicht. Und jetzt sage ich nichts mehr.«
Ihr habt euch sicher oft ausgemalt, was ihr sagen würdet, wenn ihr drei Wünsche frei hättet, und für die Leute in den Märchen, die mit ihren Wünschen nichts anzufangen wussten, nur Verachtung übrig gehabt. Ihr glaubt bestimmt, dass ihr, ohne zu zögern, drei sinnvolle Wünsche wüsstet, wenn ihr in die gleiche Situation kämt. Auch diese Geschwister hatten oft über das Problem gesprochen, aber jetzt konnten sie sich nicht entscheiden.
Er schaufelte plötzlich wie wild mit Händen und Füßen und verschwand im Sand. Die Geschwister schauten einander an, und jedes Kind fand sich plötzlich allein zwischen drei wildfremden Kindern von strahlender Schönheit. Einen Augenblick lang verharrten sie in absolutem Schweigen. Jedes von ihnen meinte, dass sich seine Geschwister fortgeschlichen und diese fremden Kinder sich ebenso leise herangeschlichen haben mussten, während es selbst zuschaute, wie der Sandelf anschwoll…
»Schnell«, sagte der Sandelf ärgerlich. Keinem der Kinder fiel etwas ein. Nur Anthea konnte sich an einen geheimen Wunsch erinnern, den sie und Jane hegten, den sie den Brüdern nie gestanden hatten. Sie wusste, dass sich die Jungen nicht für diesen Wunsch interessieren würden, aber er war immer noch besser als nichts. »Ich wünsche, dass wir alle bildschön sind«, sagte sie schnell. Die Kinder schauten einander an, aber jedes konnte sehen, dass die anderen keinen Deut schöner als gewöhnlich aussahen. Das Psammed fuhr seine Stielaugen aus, schien die Luft anzuhalten und begann anzuschwellen, Edith Nesbit
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Folge 2: Schreckliche Schönheit!
Der Kleine wachte gerade auf, als sie zu ihm kamen, und alle Kinder waren erleichtert, als sie feststellten, dass wenigstens das Lamm nicht bildhübsch geworden, sondern genauso wie vorher geblieben war. »Vermutlich ist er noch zu klein, als dass der Wunsch von selber auch für ihn mit gilt«, sagte Jane. »Das nächste Mal müssen wir das Lamm extra erwähnen.« Anthea lief zu ihm und streckte die Arme aus. »Komm zu Anthea, mein Kleiner«, lockte sie.
Cyril, Anthea, Robert, Jane und das Baby »Lamm« verbringen die Ferien mit ihrem Kindermädchen Martha auf dem Land. Beim Spielen finden sie einen Sandelf – und dieses merkwürdige Wesen erfüllt Wünsche! Deshalb starren die Kinder einander gerade verwirrt an: Sie sind strahlend schön geworden…
Der Sandelf schaufelte plötzlich wie wild mit Händen und Füßen und verschwand im Sand. Die Geschwister schauten einander an, und jedes Kind fand sich plötzlich allein zwischen drei wildfremden Kindern von strahlender Schönheit. Einen Augenblick lang verharrten sie in absolutem Schweigen. Jeder von ihnen meinte, dass sich seine Geschwister fortgeschlichen und diese fremden Kinder sich ebenso leise hergeschlichen haben mussten, während es selbst zuschaute, wie der Sandelf anschwoll. »Entschuldigung«, sagte Anthea überaus höflich zu Jane, die jetzt riesige blaue Augen und dichtes kastanienbraunes Haar hatte, »hast du vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen hier irgendwo in der Gegend gesehen?« – »Das Gleiche wollte ich gerade dich fragen«, antwortete Jane.
Der Kleine schaute sie missbilligend an, dann streckte er seinen rosigen, sandigen Daumen in den Mund. Anthea war seine Lieblingsschwester. »Ja, so komm doch«, wiederholte sie. »Geh weg!«, sagte das Lamm. »Komm doch zu deiner Pussy«, säuselte Jane. »Will zu Antha«, sagte das Lamm abwehrend, und seine Lippe begann zu zittern. »Los, komm, nun komm schon, alter Junge«, sagte Robert. »Komm huckepack auf Robys Rücken!« – »Nein, nein, böse, böse!«, heulte der Kleine hemmungslos. Und da wussten die Kinder, dass das Schlimmste eingetreten war: Ihr Kleiner erkannte sie nicht mehr. Sie schauten einander verzweifelt an, und es war in dieser unglücklichen Situation grässlich, in die wunderschönen Augen von wildfremden Kindern blicken zu müssen statt in die vergnügten, freundlichen, alltäglichen, zwinkernden und vertrauten Augen der Geschwister.
Da schrie Cyril: »Das bist ja du! Ich erkenne das Loch in deiner Schürze. Du bist doch Jane. Oder? Und du bist Anthea! Ich seh die Blutflecken in deinem Taschentuch! Du hast vergessen, dir ein frisches einzustecken, nachdem du dich in den Daumen geschnitten hattest. Donnerwetter! Der Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen. Sagt mal, bin ich genauso schön wie ihr?«
»Dies ist wirklich schrecklich«, stellte Cyril fest, nachdem er versucht hatte, das Lamm aufzuheben, und nachdem ihn das Lamm wie eine Katze gekratzt und dabei wie ein Stier gebrüllt hatte. »Wir müssen uns tatsächlich mit dem Lamm anfreunden! Ich kann es nicht nach Hause tragen, wenn es wie am Spieß brüllt. Stellt euch vor: sich mit dem eigenen Bruder anfreunden zu müssen! Das ist wirklich idiotisch!« Aber genau das war es, was sie tun mussten. Es dauerte über eine Stunde, und die Aufgabe wurde nicht gerade erleichtert dadurch, dass der Kleine inzwischen hungrig wie ein Löwe geworden war und vor Durst fast umkam.
»Wenn du Cyril bist, dann hast du mir vorher besser gefallen«, sagte Anthea entschieden. »Mit deinen goldenen Haaren bist du das Abbild eines zarten Chorknaben. Und wenn der andere Robert ist, dann sieht er jetzt wie ein italienischer Drehorgelspieler aus mit seinen rabenschwarzen Haaren.« »Und ihr beiden Mädchen seht wie Weihnachtsengel aus, ätsch! Wie blöde Weihnachtsengel!«, rief Robert wütend. »Und Janes Haar ist karottenrot!« In Wirklichkeit schimmerte es in jenem goldenen Kupferton, der von Malern so geliebt wird.
Schließlich gestattete er diesen Fremden, ihn abwechselnd zu tragen, aber weil er sich strikt weigerte, sich an seinen neuen Bekannten festzuhalten, war er doppelt so schwer, und alle gerieten ins Schnaufen.
»Ach, es hat keinen Sinn, dass wir aufeinander rumhacken«, sagte Anthea. »Wir wollen das Lamm wecken und allesamt zum Mittagessen gehen. Auf jeden Fall werden uns die Köchin und Martha glühend bewundern, ihr sollt mal sehen!« Edith Nesbit
»Gott sei Dank, wir sind zu Hause!«, seufzte Jane und taumelte durch die Gartenpforte, wo schon Martha, die Kinderfrau, mit der Hand vor den Augen stand und ängstlich Ausschau hielt. »Hier! Nimm doch bitte den Kleinen!« Der Sandelf
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euch nicht davonschert, und zwar ein bisschen plötzlich, dann hol ich die Polizei!« Damit knallte sie das Fenster zu.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Anthea. »Lasst uns bloß von hier weglaufen, bevor sie uns ins Gefängnis stecken!« Die Jungen sagten, das sei Unsinn und man könne nicht ins Gefängnis kommen, nur weil man bildschön sei, aber sie folgten ihren Schwestern doch hinaus auf den Weg.
»Nach Sonnenuntergang werden wir wahrscheinlich wieder so aussehen wie vorher«, vermutete Jane. »Wer weiß«, murmelte Cyril bedrückt. »Vielleicht klappt das nicht mehr so wie früher – seit der Zeit der Saurier hat sich ja vieles geändert.« – »Oh!«, rief Anthea plötzlich. »Vielleicht werden wir bei Sonnenuntergang versteinert! So wie die Riesenfaultiere, damit von uns kein Rest für morgen bleibt!« Sie brach in Tränen aus, und Jane stimmte in ihr Schluchzen ein. Selbst die Jungen wurden blass. Der Nachmittag war schrecklich. Es gab kein Haus in der Nähe, wo sich die Kinder ein Stück Brot oder zumindest ein Glas Wasser hätten erbitten können. Sie trauten sich nicht, in den nächsten Ort zu gehen, denn sie hatten Martha mit einem Korb dorthin aufbrechen sehen, und in dem Ort gab es einen Polizisten. Zugegeben, sie waren atemberaubend schön, aber das stillt nicht den Hunger und löscht nicht den Durst.
Martha riss ihr das Kind aus den Armen. »Jetzt ist wenigstens das Lamm in Sicherheit«, sagte sie. »Wo sind die anderen? Und wer seid denn ihr alle, um Himmels willen?« – »Wir sind natürlich wir!«, rief Robert.
Sie machten noch dreimal den Versuch, Martha dazu zu bewegen, sie ins weiße Haus einzulassen und sich ihre Geschichte anzuhören. Schließlich ging Robert allein vor. Er hoffte, dass er in eines der Fenster auf der Rückseite des Hauses einsteigen und auf diese Weise den anderen die Haustür öffnen könnte. Aber die Fenster lagen alle zu hoch, und Martha goss ihm aus einem der Fenster einen Krug kaltes Wasser über den Kopf und schrie: »Hau ab, du kleiner, widerlicher Lackaffe!«
»Und wer ist wir, wenn ich bitten darf?«, erkundigte sich Martha vorwurfsvoll. »Wir sind es wirklich, wir sind nur bildschön«, fiel Cyril ein. »Ich bin Cyril, und das sind die anderen. Wir kommen um vor Hunger. Lass uns rein und stell dich nicht so an.« Martha stieß nur wütend die Luft aus und versuchte, Cyril die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Ich weiß, dass wir anders aussehen, aber ich bin wirklich Anthea, und wir sind alle schrecklich müde. Es ist ja auch schon weit über Mittag.« – »Dann geht nach Hause und esst zu Mittag, wo immer ihr wohnt. Und wenn unsere Kinder euch angestiftet haben, mich mit diesem Theater zum Narren zu halten, dann könnt ihr ihnen von mir einen schönen Gruß bestellen. Sie wissen schon, was ihnen blüht, wenn ich sie erwische!« Damit knallte sie die Tür zu.
Am Ende setzten die Geschwister sich nebeneinander vor die Hecke und warteten auf den Sonnenuntergang. Dabei dachten sie unaufhörlich darüber nach, ob sie, wenn die Sonne unterging, versteinern oder nur in ihr altes Ich zurückverwandelt werden würden. Jedes von ihnen fühlte sich zwischen den fremden Kindern einsam und verlassen und vermied es, die anderen anzuschauen, denn obgleich ihre Stimmen dieselben geblieben waren, waren ihre Gesichter so strahlend schön, dass es fast wehtat, sie zu betrachten.
Cyril läutete wie verrückt, aber niemand öffnete. Nach einer Weile streckte die Köchin den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus und schrie: »Wenn ihr Edith Nesbit
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»Ich glaube nicht, dass wir wirklich zu Stein werden«, bemerkte Robert endlich und brach damit das lange, trübselige Schweigen. »Der Sandelf hat gesagt, dass er uns morgen wieder einen Wunsch erfüllen will, und das könnte er doch nicht tun, wenn wir aus Stein sind. Oder?« Die anderen antworteten: »Nein.« Aber sie fühlten sich trotzdem nicht getröstet.
hübsch hässlich aus mit deinen alten Sommersprossen und deinen braunen Strubbelhaaren und deinen kleinen Augen. Und ihr anderen auch!«, setzte sie hinzu, damit Jane und Robert sich nicht zurückgesetzt fühlten.
Als sich aber herausstellte, dass nur Cyrils Fuß eingeschlafen war, weil er so lange darauf gesessen hatte, und als mit Stechen und Prickeln die Durchblutung wieder einsetzte, riss den anderen die Geduld. »Uns solche Angst für nichts und wieder nichts einzujagen!«, fauchte Anthea.
»Hunger! Das kann ich mir vorstellen«, sagte Martha ärgerlich, »wenn man sich den ganzen Tag draußen herumtreibt. Ich hoffe nur, dass ihr euch das eine Lehre sein lasst und nicht wieder mit fremden Kindern durchbrennt. Und merkt euch: Wenn ihr sie wiederseht, dann redet erst gar nicht mit ihnen. Kein einziges Wort. Kommt sofort zu mir und sagt mir Bescheid. Ich werd ihnen ihre Schönheit schon austreiben!« – »Wenn wir sie wirklich noch einmal wiedersehen, dann werden wir es dir sagen«, versprach Anthea.
Als die Geschwister nach Hause kamen, mussten sie zu allererst ein Donnerwetter von Martha über sich ergehen lassen, die ihnen von den fremden Kindern erzählte. »Und wo seid ihr die ganze Zeit gewesen, ihr ungezogenen kleinen Rangen?« – »Draußen auf dem Weg.« – »Und warum seid ihr nicht schon längst nach Hause gekommen?« – »Wir konnten nicht – wegen…«, erklärte Anthea. »Weswegen?« – »Wegen dieser bildschönen Kinder. Sie haben uns bis zum Sonnenuntergang festgehalten. Wir konnten nicht nach Hause, ehe sie weg waren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie grässlich wir sie fanden! Aber, bitte, gib uns jetzt schnell was zu essen – wir haben solchen Hunger.«
Darauf folgte ein noch längeres und noch trübseligeres Schweigen. Es wurde von Cyril unterbrochen, der plötzlich sagte: »Ich will euch Mädchen ja nicht erschrecken, aber ich habe das Gefühl, dass es bei mir schon beginnt. Mein Fuß ist ganz tot. Ich werde zu Stein, ich spüre es ganz genau, bei euch wird’s auch gleich anfangen.« – »Reg dich nicht auf«, antwortete Robert freundlich. »Vielleicht bist du der Einzige, der versteinert wird. Wir anderen bleiben völlig normal, und dann verehren und pflegen wir dein Standbild und schmücken es mit Girlanden.«
Das dritte und allertrübseligste Schweigen wurde von Jane beendet. Sie sagte: »Wenn wir das alles heil und gut hinter uns bringen, dann sollten wir das Psammed bitten, es immer so einzurichten, dass Martha und die Köchin nichts merken, ganz egal, was wir für Wünsche äußern.« Die anderen grunzten nur. Sie fühlten sich zu elend, um einen Entschluss zu fassen oder über die Zukunft nachzudenken.
Robert verschlang mit den Augen schon das kalte Rindfleisch, das die Köchin gerade auf einem Tablett hereinbrachte, und setzte mit bedeutungsvollem Nachdruck hinzu: »Aber wir werden uns hüten, ihnen noch einmal zu begegnen.«
Schließlich brachten Hunger und Angst und Ärger und Erschöpfung – vier höchst unangenehme Dinge – doch etwas Gutes, nämlich den Schlaf. Die Kinder lagen nebeneinander und schliefen, und ihre wunderschönen Augen waren geschlossen, während ihre wunderschönen Münder offen standen.
Anthea wachte zuerst wieder auf. Die Sonne war gesunken, und die Dämmerung breitete sich aus. Anthea kniff sich kräftig in den Arm, und als sie das Kneifen deutlich spüren konnte, schloss sie daraus, dass sie nicht versteinert war, und kniff die Geschwister. Sie fühlten sich ebenfalls weich an. »Aufgewacht!«, rief Anthea und brach fast in Freudentränen aus. »Es ist alles wieder gut, wir sind nicht zu Stein geworden. Ach, Cyril, was siehst du Edith Nesbit
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Folge 3: Nie wieder Blödsinn!
Traum hat uns nicht einmal der Kleine erkannt, und die Köchin und Martha haben uns aus dem Hause gejagt, weil unsere blendende Schönheit wie eine voll-
Die vier Kinder Cyril, Anthea, Robert und Jane haben einen Sandelf gefunden,
kommene Verkleidung gewirkt hat, und…«
der Wünsche erfüllen kann. Das ist weniger großartig als erwartet: Ihr erster Wunsch, strahlende Schönheit, hat den Kindern nichts als Ärger eingebracht. In Zukunft wollen sie vorsichtiger sein…
Auf der anderen Seite des Ganges erklang die Stimme ihres ältesten Bruders. »Los, Robert, sonst kommst du wieder zu spät zum Frühstück – außer du wäschst dich ebenso wenig wie am Dienstag.« »Komm doch mal rüber«, antwortete Robert. »Übrigens habe ich mich am Dienstag doch gewaschen, und zwar nach dem Frühstück in Vaters Ankleidezimmer.« Cyril erschien halb angezogen in der Tür.
Am nächsten Morgen erwachte Anthea aus einem Traum, der ihr sehr wirklich erschienen war. Sie ging im strömenden Regen ohne Schirm durch den Zoo. Den Tieren behagte der Regen gar nicht; sie fühlten sich höchst ungemütlich und knurrten und brummten missmutig. Als Anthea aufwachte, hielten das Knurren und der Regen an. Das Knurren entpuppte sich als der schwere, regelmäßige Atem ihrer Schwester Jane, die sich etwas erkältet hatte und noch fest schlief. Der Regen tropfte aus dem nassen Zipfel eines Badehandtuches auf Antheas Gesicht, und das Handtuch wurde von ihrem Bruder Robert gehalten, der das Wasser sanft aus dem Handtuch drückte, um sie aufzuwecken. »Ach, lass das doch!«, rief sie ziemlich ärgerlich.
»Hör mal«, sagte Anthea, »wir haben alle so was Komisches geträumt. Und zwar, dass wir einen Sandelf gefunden haben.« Unter Cyrils verachtungsvollem Blick erstarb ihre Stimme. »Geträumt?«, sagte er. »Ihr kleinen Dummköpfe! Das haben wir wirklich erlebt. Deswegen bin ich ja so scharf darauf, dass wir früh aus dem Haus kommen. Gleich nach dem Frühstück gehen wir wieder hinaus, und dann äußern wir den nächsten Wunsch. Nur – ehe wir weggehen, sollten wir uns genau darüber im Klaren sein, was wir uns nun eigentlich wünschen wollen, und keiner darf sich ohne das Einverständnis der drei anderen etwas wünschen. So was wie unwiderstehliche Schönheit darf es nicht noch einmal geben. Nur über meine Leiche!«
Er gehorchte sofort, denn er war durchaus kein brutaler Bruder. Allerdings war er recht erfinderisch, wenn es darum ging, Fußangeln zu legen, Betten mit Überraschungen zu versehen, originelle Methoden zum Wecken von schlafenden Verwandten und andere kleine Tricks zu ersinnen, die das Familienleben so behaglich machen. »Ich habe einen komischen Traum gehabt«, begann Anthea.
Die anderen drei zogen sich leicht verwirrt an. Wenn ihr Traum von dem Psammed Wirklichkeit war, dann kam ihnen dieses wirkliche Kleideranziehen fast wie ein Traum vor. Jane glaubte gleich, dass Cyril recht hatte, aber Antheas Zweifel wurden erst durch Martha vertrieben, die sich noch einmal in aller Deutlichkeit über ihr schlechtes Benehmen von gestern beklagte. Danach war auch Anthea überzeugt. »Denn«, sagte sie, »Kindermädchen träumen meistens nur von solchen Sachen, die im Buch für Traumdeutung stehen, zum Beispiel von Schlangen und Muscheln und Hochzeitsglocken; die bedeuten eine Beerdigung, und Schlangen sind falsche Freundinnen, und Muscheln sind Babys.«
»Ich auch«, fiel Jane ein, die urplötzlich ebenfalls hellwach war. »Ich hab geträumt, wir hätten einen Sandelf in der Sandkuhle gefunden, und der hat gesagt, er sei ein Psammy, und wir könnten ihm jeden Tag einen neuen Wunsch sagen, und…« »Aber genau das habe ich auch geträumt«, rief Robert. »Das wollte ich euch gerade erzählen – und den ersten Wunsch durften wir gleich auf der Stelle äußern. Und dann hab ich geträumt, dass ihr Mädchen euch wie Gänse benommen habt. Ihr habt gewünscht, wir sollten alle bildschön sein, und genau das sind wir geworden, und es war ganz grässlich.« »Können denn verschiedene Menschen genau das Gleiche träumen?«, erkundigte sich Anthea, während sie sich im Bett aufsetzte. »Außer vom Zoo und vom Regen habe ich nämlich ebenfalls davon geträumt, und in meinem Edith Nesbit
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»Da wir gerade von Babys reden«, unterbrach sie Cyril, »wo ist das Lamm?« – »Martha nimmt es nach Rochester mit, wo sie ihre Cousinen besucht. Mutter hat es ihr erlaubt. Sie zieht dem Kleinen gerade seine feinsten Sachen an«, antwortete Jane. »Gib mir mal die Butter, bitte.« – »Sie scheint ihn gern mitzunehmen«, bemerkte Robert im Tone tiefster Verwunderung. 8
»Mädchen zeigen Babys immer gern in der Verwandtschaft herum«, erklärte Cyril. »Das hab ich schon früher festgestellt. Besonders wenn die Babys in Sonntagskleidchen stecken.« – »Vielleicht erzählt sie, das Lamm sei in Wirklichkeit ein Prinz oder ein Herzog«, sagte Jane träumerisch, während sie sich Marmelade nahm. »Martha findet das alles sicher himmlisch.« – »Sie kann es nicht himmlisch finden, unser Prinzenbaby nach Rochester mitzuschleppen«, unterbrach sie Robert. »Stell dir mal vor: bis nach Rochester mit dem Lamm auf dem Buckel! Grauenhafte Idee«, sagte Cyril aus voller Seele. »Der Fuhrmann nimmt sie doch mit«, sagte Jane. »Kommt, wir bringen sie hin, das ist erstens nett und höflich, und zweitens wissen wir dann ganz genau, dass wir sie für heute los sind.«
Sie brachen alle auf. Martha trug ihr Sonntagskleid, das in zweierlei Purpurrot erstrahlte und über der Brust so eng war, dass sie kaum aufrecht stehen konnte. Dazu hatte sie ihren blauen Hut mit den rosa Kornblumen und dem weißen Band aufgesetzt. Ihr gelber Spitzenkragen war mit einer grünen Schleife zugebunden, und das Lamm trug sein bestes cremefarbenes Seidenmäntelchen und einen kleinen Hut. Es war ein elegantes Paar, das beim Kreuzweg in den Wagen des Fuhrmanns kletterte. Als das weiße Verdeck und die roten Räder langsam in einer Wolke von Kalkstaub verschwanden, rief Cyril: »Und jetzt ab zum Psammy!«
»Und stellt ihr beide euch vor, dass wir Mädchen euch ablösen«, schlug Jane lachend vor. »Für euch scheint es schon zu heiß zu sein.« – »Ich stelle mir lieber vor, dass ihr eure dämlichen Nasen nicht überall hineinsteckt«, sagte Robert, der nun wirklich vor Wut zu kochen begann. »Das tun wir ja gar nicht«, antwortete Anthea. »Sei doch nicht so eklig, Robert, wir sagen jetzt auch kein einziges Wort mehr, und du sollst für uns alle mit dem Psammy reden und ihm sagen, auf welchen Wunsch wir uns geeinigt haben. Du kannst das viel besser als wir!«
Die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau und ohne eine einzige Wolke. Der Sand war bereits so heiß, dass man ihn kaum berühren mochte. »Stell dir vor, es wäre doch nur ein Traum gewesen«, sagte Robert, während die Brüder ihre Schaufeln aus dem Sandhaufen hervorzogen, in dem sie sie verscharrt hatten. Dann begannen sie zu graben. »Stell dir vor, du wärst ein Mensch mit Grips«, antwortete Cyril hitzig. »Das eine ist genauso wahrscheinlich wie das andere.« – »Und stell du dir vor, dass du deine Frechheit verlierst«, fauchte Robert.
Das Psammed richtete sich auf und schüttelte den Sand aus dem Fell. »Wie geht es deiner linken Schnurrbartspitze heute früh?«, erkundigte sich Anthea höflich. »Darüber wollen wir lieber nicht reden«, antwortete es. »Sie hat mir eine ziemlich schlaflose Nacht bereitet. Aber danke für die freundliche Nachfrage.«– »Fühlst du dich heute in der richtigen Verfassung, um Wünsche zu erfüllen?«, fragte Robert. »Wir haben nämlich neben dem Tageswunsch noch einen Extrawunsch. Aber der Extrawunsch ist ziemlich klein«, setzte er beruhigend hinzu.
»Stellt euch vor, wir redeten alle nur halb so viel Unsinn«, murmelte Robert schon etwas besänftigt. »Passt auf! Grabt jetzt mit den Händen!« Das taten sie, und nach kurzer Zeit hatten sie den spinnenförmigen braunen pelzigen Körper, die langen Arme und Beine, die Fledermausohren und die Schneckenaugen des Psammeds freigelegt. Jeder stieß einen tiefen, erleichterten Seufzer aus, denn jetzt konnte es wirklich kein Traum mehr gewesen sein.
Sie rannten los und einigten sich während des Laufens über den Wunsch, den sie vorbringen wollten. Obwohl sie es eilig hatten, kletterten sie nicht über die Böschung der Sandkuhle, sondern nahmen den unteren, sicheren Weg. Sie hatten um den Platz, an dem der Sandelf verschwunden war, einen Ring aus Steinen gelegt; deshalb fanden sie ihn gleich wieder.
Edith Nesbit
Der Sandelf
9
»Hmpf!«, machte der Sandelf. »Hmpf! Wisst ihr, bis ich euch direkt über meinem Kopf hab streiten hören – und obendrein noch so laut –, da hab ich wirklich gedacht, ich hätte euch alle nur geträumt. Ich träume nämlich manchmal die sonderbarsten Sachen.« – »Wirklich?«, fragte Jane. Und dann setzte sie höflich hinzu: »Ich wünschte, du könntest uns von den Träumen erzählen. Sie müssen schrecklich aufregend sein.«
unvorstellbar reich, das geht nicht, verstehst du? Wie viel Geld genau soll es sein? Und wollt ihr es in Gold oder in Noten haben?« – »In Gold, bitte schön – und am liebsten ein paar Millionen.« – »Würde diese Sandkuhle voll genügen?«, fragte der Elf leichthin und so, als ob das gar nichts wäre. »O ja!«
»Dann macht euch davon, ehe ich anfange, sonst werdet ihr bei lebendigem Leibe begraben.« Er reckte seine Pfoten hoch empor und wedelte derart furchteinflößend mit ihnen herum, dass die Kinder, so rasch sie konnten, den Karrenweg entlangrannten, der aus der Kuhle herausführte. Nur Anthea besaß genug Geistesgegenwart, um im Davonrennen noch atemlos zurückzurufen: »Auf Wiedersehen, hoffentlich geht es deiner Schnurrbartspitze morgen besser!«
»Ist das der Wunsch des Tages?«, fragte der Sandelf und gähnte. Cyril murmelte irgendetwas von »typisch Mädchen«, und die anderen schwiegen verlegen. Wenn sie jetzt Ja sagten, dann konnten sie den anderen Wunsch, auf den sie sich geeinigt hatten, für heute abschreiben. Wenn sie aber Nein sagten, so wäre das ziemlich unhöflich. Deshalb seufzten sie erleichtert, als der Sandelf jetzt fortfuhr: »Wenn ich euch von meinen Träumen erzähle, dann hab ich nicht mehr genug Kraft, um euch einen zweiten Wunsch zu erfüllen; nicht einmal, wenn ihr euch solche Kleinigkeiten wie gutes Benehmen, Selbstdisziplin, Vernunft und Haltung wünscht.«
Auf der Straße drehten sie sich um und schauten zurück. Sie mussten ihre Augen sofort wieder schließen und öffneten sie nur langsam und millimeterweise wieder, denn der Anblick war so blendend, dass ihre Augen sich dagegen sträubten. Es war, als ob man mittags im Hochsommer direkt in die Sonne starrte. Denn die ganze Sandkuhle war bis zum äußersten Rand mit neuen glänzenden Goldstücken angefüllt. Schon da, wo der Karrenweg in die Sandkuhle einmündete, lag das Gold in Haufen; in der Kuhle selbst aber wölbte sich ein schimmernder Hügel zu den Steilwänden empor. Und der ganze blitzende, strahlende und funkelnde Berg bestand aus gemünztem Gold. Die Kinder standen mit offenem Mund da und brachten kein Wort hervor.
»Oh, dieser Dinge wegen wollen wir dich gar nicht bemühen, damit kommen wir schon selbst zu Rande«, beeilte sich Cyril zu sagen, während sich die anderen schuldbewusste Blicke zuwarfen und insgeheim wünschten, dass der Elf nicht immerfort über gute Manieren und Haltung reden, sondern ihnen einmal kräftig seine Meinung sagen und dann wieder Ruhe geben würde.
»Na gut«, sagte das Psammed und ließ ein langes Schneckenauge so plötzlich herausfahren, dass es fast gegen die Pupille von Robert stieß, »dann nennt mal den kleinen Wunsch zuerst.« – »Wir wollen, dass Martha und die Köchin nichts von dem merken, was du uns verleihst.« – »Was du uns freundlicherweise verleihst«, flüsterte Anthea. »Was du uns freundlicherweise verleihst, wollte ich sagen«, verbesserte sich Robert.
Schließlich bückte sich Robert und hob eine der Münzen auf, die am Rande des Haufens auf dem Karrenweg lagen, und betrachtete sie. Er schaute sich beide Seiten an. Dann sagte er mit einer leisen, veränderten Stimme: »Das sind keine Sovereigns*«.
*Sovereign ist die Bezeichnung einer englischen Goldmünze, mit der in England Anfang des 20. Jahrhunderts noch bezahlt werden konnte. Der Sandelf hat den Kindern nun aber goldene Guineas beschert, die in den Läden zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr angenommen wurden.
Der Elf blies sich ein wenig auf, ließ dann den Atem wieder aus sich herauszischen und sagte: »Das ist erledigt. Es war auch ganz leicht, denn die meisten Leute merken sowieso nicht viel. Und wie steht es mit dem nächsten Wunsch?« – »Wir möchten«, antwortete Robert langsam und bedächtig, »unvorstellbar reich werden.« – »Habsüchtig, nicht wahr?«, fragte Jane unsicher. »Genau das«, entgegnete der Elf unerwartet. »Doch es wird euch nicht viel nützen, das ist der einzige Trost«, murmelte er in seinen Bart. »Aber hör mal, Edith Nesbit
Der Sandelf
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Folge 4: Arm trotz Reichtum!
musste sich wieder hinsetzen. »Wirf ein bisschen Ladung wieder über Bord«, riet ihm
Robert, »sonst geht das Schiff unter, alter Knabe. Das hast du nun von deinen neun Ta-
Der Sandelf hat Cyril, Anthea, Robert und Jane ihren Wunsch erfüllt: eine ganze Sandkuhle voller Gold! Doch leider sind es Münzen einer alten Währung, für die man nichts mehr kaufen kann. Obwohl sie die Taschen voller Geld haben, werden die Kinder immer hungriger, durstiger und staubiger…
schen.«
Cyril blieb nichts anderes übrig, als Roberts Rat zu folgen. Dann brachen sie auf, um
ins Dorf hinunterzugehen, das etwa zwei Kilometer entfernt lag. Die Straße war stau-
big, und die Sonne brannte immer heißer. Das Gold in ihren Taschen wurde schwerer
Schließlich bückte sich Robert und hob eine der Münzen auf, die am Rande des Hau-
und schwerer. Schließlich sagte Jane: »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie wir so viel
fens auf dem Karrenweg lagen, und betrachtete sie. Er schaute sich beide Seiten an.
Geld ausgeben wollen. Wir müssen ja alle zusammen weit über tausend Pfund in unse-
Dann sagte er mit einer leisen, veränderten Stimme: »Das sind keine Sovereigns.«
ren Taschen haben. Ich lasse etwas von meinem Gold hier hinter dem Baumstumpf in
(»Sovereign« ist die Bezeichnung einer englischen Goldmünze, mit der in England am
der Hecke liegen. Und wenn wir ins Dorf kommen, kaufen wir uns sofort ein paar Kek-
Anfang des 20. Jahrhunderts noch bezahlt werden konnte. Der Sandelf hat den Kin-
se. Ich weiß ganz genau, dass es weit über Mittag ist.« Sie nahm ein oder zwei Hand-
dern nun aber goldene Guineas beschert, die in den Läden zu diesem Zeitpunkt längst
voll Goldmünzen aus den Schürzentaschen und versteckte sie in den Astlöchern eines
nicht mehr angenommen wurden.)
alten Weißdorns. »Wie rund und gelb sie aussehen«, sagte sie nachdenklich. »Ich
»Es ist aber immerhin Gold«, tröstete Cyril. Und dann begannen alle auf einmal zu
wünschte, es wären Ingwerkekse und wir könnten sie essen. Ihr nicht?«
sprechen. Sie griffen mit vollen Händen in den Goldschatz hinein und ließen die Mün-
»Was soll’s? Es sind nun einmal keine, und deshalb können wir sie auch nicht es-
zen wie Wasser durch die Finger rinnen, und das leise Klingeln und Klirren, das die
sen«, sagte Cyril. »Los jetzt!« Aber sie waren erschöpft und kamen nur mühsam vor-
Goldstücke beim Fallen verursachten, klang ihnen wie wundervolle Musik. Zuerst dach-
wärts. Ehe sie das Dorf erreicht hatten, war mehr als ein Baumstumpf in der Hecke
ten sie überhaupt nicht daran, wie sie das Geld ausgeben wollten, denn es machte ein-
zum Hüter eines verborgenen Schatzes geworden. Sie kamen aber immerhin noch mit
fach Spaß, damit zu spielen. Schließlich aber sagte Cyril: »Wenn wir von dem Geld
1200 Guineas in den Taschen im Dorf an. Trotz dieses Reichtums wirkten sie jedoch
etwas haben wollen, dann hat es keinen Sinn, die ganze Zeit mit offenem Mund hier
ganz alltäglich, und keiner hätte ihrem äußeren Erscheinungsbild nach mehr als eine
rumzustehen. Lasst uns lieber die Taschen vollstopfen und einkaufen gehen. Und
halbe Krone in jeder ihrer Taschen vermutet. Der heiße Sommerdunst und der blaue
denkt daran, es hält nur bis zum Sonnenuntergang. Ich wünschte, wir hätten das Psam-
Holzrauch mischten sich zu einem zarten Nebel, der über den roten Dächern des Dor-
my gefragt, warum nichts mehr versteinert. Aber vielleicht wird doch was zu Stein. –
fes schwebte.
Passt mal auf: Im Dorf gibt es ein Pony-Gespann.«
Die vier ließen sich erschöpft auf der ersten Bank nieder, an der sie vorüberkamen.
»Willst du das kaufen?«, erkundigte sich Jane. »Nein, wir werden es mieten. Und
Sie stand zufällig vor dem Gasthaus Zum blauen Wildschwein. Sie hatten entschieden,
dann fahren wir nach Rochester und kaufen lauter Sachen. So, und jetzt stecken wir so
dass Cyril in das Blaue Wildschwein hineingehen und erkunden sollte, ob es dort Ing-
viel ein, wie wir tragen können. Aber es sind keine Sovereigns. Auf der einen Seite ist
werkekse gab. Denn Anthea hatte gesagt: »Es ist nicht unpassend, wenn Männer in
ein Männergesicht und auf der anderen Seite etwas, das wie ein Herz aussieht. Stopft
Gasthäuser gehen, nur für Kinder ist es verboten. Und Cyril ist fast ein Mann, denn er
euch die Taschen voll, und dann los.« Cyril hockte sich nieder und begann, sich die Ta-
ist der Älteste.« Deshalb ging er hinein, und die anderen saßen in der Sonne und war-
schen zu füllen. »Ihr habt über mich gelacht, weil Vater mir neun Taschen in meine Ja-
teten.
cke hat machen lassen«, sagte er, »aber nun seht mal her!«
»O Mann, was ist das heiß«, stöhnte Robert. »Hunde strecken ihre Zungen raus,
Sie hatten wirklich etwas zu sehen, denn nachdem sich Cyril seine neun Jackenta-
wenn sie schwitzen. Ob es uns wohl auch abkühlt, wenn wir unsere Zungen rausstre-
schen und außerdem den Platz zwischen seiner Brust und dem Vorderteil seines Hem-
cken?« – »Wir können es ja mal versuchen«, sagte Jane. So streckten sie alle die Zun-
des mit Goldmünzen vollgefüllt hatte, wollte er aufstehen. Er taumelte jedoch und Edith Nesbit
Der Sandelf
gen so weit wie möglich hinaus, wobei sie sich fast die Gurgeln verrenkten. Es schien
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sche zu holen. So macht man sich ja verdächtig«, erwiderte sie. »Ich hab einfach ei-
nem jungen Mann eine Münze vor die Nase gehalten und hab ihn gefragt: ›Wissen Sie, was das ist?‹ Und er hat gesagt: ›Nein‹, und er wolle lieber seinen Vater rufen. Und
dann ist der alte Mann gekommen und hat gesagt, das sei eine alte Goldmünze. Und
dann hat er gefragt, ob sie mir gehöre und ob ich damit tun dürfe, was ich wolle, und ich hab Ja gesagt, und dann hab ich ihn wegen des Ponywagens gefragt und gesagt, dass
er die Guinea behalten könne, wenn er uns nach Rochester führe. Und er heißt S. Crispen. Und dann hat er gesagt: ›Ist in Ordnung.‹«
Es war ein ganz neues Erlebnis für die Geschwister, in einem flotten Ponywagen
über ländliche Straßen gefahren zu werden. Erstens machte es Spaß (was bei neuen
Erlebnissen nicht immer der Fall ist), und zweitens dachte sich jedes Kind während der Fahrt die herrlichsten Pläne fürs Geldausgeben aus, aber sie behielten sie für sich,
denn sie hatten das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, den Gasthausbesitzer an ihren verschwenderischen Gedanken teilnehmen zu lassen. Der alte Mann setzte sie hinter der Brücke ab.
sie jedoch nur noch durstiger zu machen, und außerdem ärgerte es alle Leute, die vor-
»Wenn Sie einen Pferdewagen kaufen würden, zu wem würden Sie da gehen?«, er-
übergingen. So zogen sie ihre Zungen wieder ein, und gerade in dem Moment tauchte
kundigte sich Cyril so leichthin, als ob er nur nach einem neuen Gesprächsthema such-
von dem ich mir eigentlich Kaninchen kaufen wollte«, verkündete er. »Sie wollten mir
aus der Pistole geschossen, »obwohl ich mich immer hüte, jemanden zu empfehlen,
Cyril mit dem Ingwerbier auf. »Ich hab es von meinem Taschengeld bezahlen müssen,
te. »Zu Billy Peasemarsh im Gasthaus Zum Sarazenen«, antwortete der alte Mann wie
das Goldstück nicht wechseln. Und als ich dann eine ganze Handvoll Gold herauszog,
wenn es um Pferde geht. Ich würde mir auch von keinem raten lassen, wenn ich wel-
da lachte der Mann und sagte, das sei nur Spielgeld. Ich hab auch noch Kuchen ge-
che kaufen wollte. Aber wenn euer Vater eine Kutsche mit Gespann und allem Zubehör
kauft und ein paar Kümmelbrötchen.«
kaufen will, dann gibt es keinen redlicheren Mann in Rochester und auch keinen um-
Der Kuchen war weich und trocken zugleich, und die Brötchen waren auch trocken
gänglicheren als Billy. Das könnt ihr mir glauben.« – »Danke schön«, antwortete Cyril,
und ein wenig ledern, was Brötchen eigentlich nicht sein sollten. Aber das Ingwerbier
»also im Gasthaus Zum Sarazenen.«
glich alles wieder aus. »Jetzt bin ich dran, mit dem Geld etwas zu kaufen«, sagte An-
Und nun erlebten die Geschwister, wie sich eines der Naturgesetze auf den Kopf stell-
thea. »Ich bin die Nächstälteste. Wo ist denn dieser Ponywagen?« Er war im Wirtshaus
te und in sein Gegenteil verwandelte. Jeder Erwachsene wird euch versichern, dass
dass kleine Mädchen die Bar eines Gasthauses nicht betreten durften. Als sie wieder
war leicht zu bekommen gewesen und nicht nur schwer, sondern fast gar nicht auszuge-
Zum Schachbrett, und Anthea ging über den Hof hintenrum hinein, denn sie wusste,
Geld schwer zu verdienen und leicht auszugeben ist. Aber das Geld vom Psammed
zurückkam, sah sie zufrieden aus. »Er ist in einem Augenblick fertig, hat der Mann ge-
ben. Zuerst wollte sich Anthea einen neuen Hut kaufen, weil sie sich unglücklicherweise
sagt«, berichtete sie, »und er will einen Sovereign dafür haben, dass er uns nach Ro-
am Vormittag auf ihren Hut gesetzt hatte. Sie suchte sich ein Prachtexemplar aus, das
chester und wieder zurück fährt. Und er wartet dort so lange, bis wir alles besorgt
mit rosa Rosen und blauen Pfauenfedern geschmückt war. Es stand im Fenster und
haben, was wir kaufen wollen. Ich glaube, das hab ich ganz gut gemacht.«
war mit einem Schild ausgezeichnet, auf dem stand »Pariser Modell, 3 Guineas«. »Ich
»Eigenlob stinkt«, antwortete Cyril mürrisch. »Wie hast du es denn geschafft?« –
bin nur froh«, murmelte sie, »dass da Guineas steht, denn dann wird man ja auch Gui-
»Ich bin auf jeden Fall nicht so dumm gewesen, das Geld mit vollen Händen aus der TaEdith Nesbit
neas haben wollen und nicht Sovereigns, die wir nicht besitzen.« Der Sandelf
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Die Millionäre aßen ihre Brötchen im Park auf. Doch obwohl das Gebäck rosinen-
Aber als sie drei der goldenen Guineas auf ihrer mittlerweile recht schmutzig gewor-
denen Hand vorzeigte, da starrte die in schwarze Seide gehüllte junge Dame im Hutla-
reich und weich und köstlich war und die Gemüter der vier Kinder wieder aufrichtete,
noch gestrenger dreinblickenden Dame, die auch in schwarzer Seide steckte, und dann
Mr. Billy Peasemarsh im Gasthaus Zum Sarazenen sagen würde, wenn sie bei ihm
schlug doch selbst das Herz der Tapfersten bei dem Gedanken schneller, was wohl
den sie misstrauisch an und rauschte davon und flüsterte eindringlich mit einer älteren,
Pferd und Wagen kaufen wollten. Die Jungen hätten den Plan am liebsten fallen las-
gaben sie ihr das Geld zurück und sagten, das sei keine gängige Münze. »Es ist ech-
sen, aber Jane war immer optimistisch, und Anthea neigte zur Dickköpfigkeit, und so
tes Gold«, protestierte Anthea, »und es gehört mir wirklich.« – »Das glaube ich schon«,
behielten die Mädchen am Ende die Oberhand. Die ganze Gesellschaft, die unterdes-
antwortete die Dame. »Aber es ist nicht das Geld, das heute im Umlauf ist. Und des-
sen unbeschreiblich schmutzig war, brach also zum Sarazenen auf. Die Hinterhofme-
halb interessiert es uns nicht.«
thode des Angriffs, die sich beim Wirtshaus Zum Schachbrett so gut bewährt hatte,
»Wahrscheinlich denken sie, wir hätten es gestohlen«, klagte Anthea, als sie wieder
wurde hier abermals angewandt.
zu ihren Geschwistern stieß. »Meine Hände sind auch so schmutzig, das macht die
Leute natürlich misstrauisch.« Sie versuchten es noch in mehreren anderen Geschäften, in einem Spielzeugladen und einer Drogerie; sie versuchten, seidene Taschentücher und Bücher zu kaufen, Briefpapierkassetten und Fotografien von
Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Aber niemand in Rochester wollte an diesem Tage Guineas wechseln, und während sie von Geschäft zu Geschäft schlichen, wurden ihre Hände immer schmutziger und ihre Haare immer strubbeliger. Zum Schluss rutschte Jane aus und fiel gerade da auf die Straße, wo kurz vorher ein Wasserwagen vorüber-
gefahren war. Sie hatten großen Hunger, aber sie fanden niemanden, der ihnen für ihre Goldstücke etwas zu essen verkaufen wollte. Nachdem sie es in zwei Bäckereien ver-
geblich versucht hatten, waren sie vom Geruch der frischen Kuchen so hungrig geworden, dass sie flüsternd einen Kriegsplan ausheckten und ihn mit Todesverachtung
ausführten. Sie stürmten zum dritten Bäcker hinein, der Beale hieß, und ehe die Leute
hinter der Theke wussten, was geschah, hatte jedes Kind drei frische Rosinenbrötchen geschnappt, sie mit seinen Schmutzfingern fest zusammengepresst und kräftig in alle drei auf einmal hineingebissen. Mit insgesamt zwölf Rosinenbrötchen in den Händen
und vollem Mund stellten sie sich sodann dem Feind. Der verblüffte Bäcker schoss hinter dem Ladentisch hervor.
»Hier«, sagte Cyril so vornehm und gelassen wie möglich und streckte ihm eine Gui-
nea entgegen, die er schon vor dem Betreten des Ladens in die Hand genommen hatte. »Rechnen Sie’s davon ab.« Mr. Beale nahm die Münze, biss hinein und steckte sie
in die Tasche. »Hinaus mit euch«, sagte er streng. »Und das Wechselgeld?«, fragte Anthea, die immer ans Sparen dachte. »Wechselgeld!«, rief der Mann. »Ich werd euch
was wechseln! Raus mit euch! Seid froh, dass ich nicht die Polizei rufe, um herauszukriegen, woher ihr’s habt!« Edith Nesbit
Der Sandelf
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Folge 5: Verflixtes Geld!
Euer Hochwohlgeboren vorübertraben lassen?« – »Bitte schön«, antwortete Robert, »wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Wir wären Ihnen sehr verbunden.«
Cyril, Anthea, Robert und Jane hatten gehofft, in der kleinen Stadt Rochester
groß einkaufen zu können: Schließlich hat der Sandelf ihnen einen ganzen Haufen Gold beschert. Leider müssen sie feststellen, dass Kinder, die die Taschen voller Geld haben, den meisten Kaufleuten verdächtig vorkommen. Ehe sie sich versehen, landen sie auf der Polizeiwache…
Mr. Peasemarsh steckte die Hände in die Taschen und lachte. Aber dieses Lachen behagte den Kindern ganz und gar nicht. Dann rief er: »Willem!« Ein buckliger Pferdeknecht erschien in der Stalltür. »Hier, Willem, schau dir mal diesen jungen Herzog an! Will mir den ganzen Stall leer kaufen, samt Wagen, Zaumzeug und Hafersack. Und dabei hat er keinen Penny in der Tasche, darauf könnt ich wetten!« Willems Augen folgten dem ausgestreckten Zeigefinger seines Dienstherrn mit verächtlichem Interesse. »Hat er nicht, wie?«, fragte er.
Die Millionäre aßen ihre Brötchen im Park auf. Doch obwohl das Gebäck rosinenreich und weich und köstlich war und die Gemüter der vier Kinder wieder aufrichtete, schlug doch selbst das Herz der Tapfersten bei dem Gedanken schneller, was wohl Mr. Billy Peasemarsh im Gasthaus »Zum Sarazenen« sagen würde, wenn sie bei ihm Pferd und Wagen kaufen wollten. Die Jungen hätten den Plan am liebsten fallenlassen, aber Jane war immer optimistisch, und Anthea neigte zur Dickköpfigkeit, und so behielten die Mädchen am Ende die Oberhand. Die ganze Gesellschaft, die unterdessen unbeschreiblich schmutzig war, brach also zum »Sarazenen« auf.
Aber da antwortete ihm Robert, obwohl die beiden Schwestern ihn an der Jacke zupften und flehentlich baten, den Rückzug anzutreten. Er antwortete, weil er wütend war, und er sagte: »Ich bin kein junger Herzog, und ich hab auch überhaupt nicht so getan, als ob ich einer wäre. Und was das Geld angeht, was sagen Sie denn dazu?« Bevor die anderen ihn daran hindern konnten, hatte er zwei Hände voll schimmernder Guineas aus der Tasche gezogen und hielt sie Mr. Peasemarsh vor die Nase. Der bekam Stielaugen, packte eine Münze mit Zeigefinger und Daumen und biss darauf.
Die Hinterhof-Methode des Angriffs, die sich beim Wirtshaus »Zum Schachbrett« so gut bewährt hatte, wurde hier abermals angewandt. Mr. Peasemarsh hielt sich zufällig gerade auf dem Hof auf, und Robert begann die Verhandlungen mit den Worten: »Ich habe gehört, dass Sie Pferde und Wagen zu verkaufen haben.« Sie waren übereingekommen, dass Robert in diesem Fall der Sprecher sein sollte, weil in Geschichten immer die Männer und nicht die Damen Pferde kaufen und weil Cyril im »Blauen Wildschwein« schon an der Reihe gewesen war. »Dann hast du die Wahrheit gehört, junger Mann«, antwortete Mr. Peasemarsh. Er war ein großer, hagerer Mann mit stahlblauen Augen und einem verkniffenen Mund.
Jane erwartete, dass er nun sagen würde: »Das beste Pferd in meinem Stall steht zu Ihrer Verfügung!« Ihre Geschwister waren klüger. Aber obwohl sie längst alle Hoffnung aufgegeben hatten, traf es sie dennoch wie ein Schlag, als Mr. Peasemarsh grimmig befahl: »Willem, mach das Hoftor zu!«, und als Willem grinste und lostrabte, um sie einzuschließen.
»Wir denken gar nicht daran, Ihre Pferde zu kaufen«, rief Robert hastig. »Da können Sie jetzt sagen, was Sie wollen. Ich hoffe, dass Ihnen das eine Lehre sein wird.« Er hatte eine kleine Seitentür gesehen, die offenstand, und während er sprach, ging er auf sie zu. Aber Billy Peasemarsh stellte sich ihm in den Weg. »Nicht so geschwind, mein Bürschchen!«, sagte er. »Willem, hol die Polizei.«
»Wir möchten gern welche kaufen«, sagte Robert höflich. »Das kann ich mir vorstellen.« – »Würden Sie uns bitte welche zeigen? Damit wir uns die Richtigen aussuchen können?« – »Was soll denn das heißen?«, erkundigte sich Mr. Billy Peasemarsh. »Wer schickt euch denn überhaupt?« – »Ich habe Ihnen doch gesagt«, wiederholte Robert, »wir wollen ein Paar Pferde und einen Wagen kaufen. Ein Mann hat uns gesagt, dass Sie aufgeschlossen und zugänglich sind, aber ich habe fast das Gefühl, er hat sich geirrt.« – »Da hört doch alles auf!«, sagte Mr. Peasemarsh. »Soll ich vielleicht meinen ganzen Stall an Edith Nesbit
Willem lief davon, und die Geschwister drängten sich wie erschrockene Schafe zusammen, während ihnen Mr. Peasemarsh eine Strafpredigt hielt. Er sagte vielerlei, unter anderem auch Folgendes: »Ihr seid ja nette Früchtchen, führt ehrliche Leute mit euren Guineas an der Nase herum!« – »Aber es ist Der Sandelf
doch unser Geld!«, antwortete Cyril tapfer. »Darüber wissen wir noch gar
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nichts, windige Behauptungen – das wird sich erst herausstellen! Und auch noch kleine Mädchen mit in die Sache verwickeln! Hier – ich lass die Mädels laufen, wenn ihr ohne Geschrei mit mir zur Polizei geht.«
scheinlich haben Sie recht. Ich werd sie auf jeden Fall erst mal wegen unrechtmäßigen Besitzes in Gewahrsam nehmen. Dann kann man die Untersuchung immer noch abwarten. Der Magistrat wird sich schon mit dem Fall beschäftigen. Die beiden Geistesgestörten werden dann vermutlich in eine Anstalt eingewiesen und die Jungen in ein Erziehungsheim geschickt. So, und jetzt kommt mit, Kinder! Widerstand ist sinnlos. Nehmen Sie mal die Mädchen unter Ihre Fittiche, Mr. Peasemarsh, ich kümmere mich um die Jungen.«
»Wir wollen gar nicht, dass Sie uns laufenlassen«, erwiderte Jane in heldenhaftem Ton. »Wir gehen nicht ohne unsere Brüder. Es ist genauso gut unser Geld wie ihres, Sie böser alter Mann.« – »Wo habt ihr’s denn her?«, erkundigte sich der Mann, der plötzlich ganz ruhig wurde, was das Gegenteil der Reaktion war, die die Jungen nach Janes Unverschämtheit erwartet hatten.
Die vier Geschwister, die vor Wut und Entsetzen sprachlos waren, wurden durch die Straßen von Rochester getrieben. Tränen der Scham stiegen ihnen in die Augen, sodass sie alles nur noch verschwommen sahen. Darum erkannte Robert auch die Passantin nicht, die er beinah umgerannt hätte, bis eine vertraute Stimme sagte: »Nanu, was ist denn das? Oh, Master Robert, was hast du jetzt ausgefressen?« Und eine genauso bekannte Stimme krähte: »Antha! Will zu Antha!« Sie waren Martha und dem Baby in die Arme gelaufen!
Jane warf den Geschwistern einen stummen Blick der Verzweiflung zu. »Na, hast du jetzt die Sprache verloren? Eben konntest du doch noch so gut schimpfen. Los jetzt, antworte!« – »Aus der Sandkuhle«, antwortete die ehrliche Jane. »Denk dir was Besseres aus«, schimpfte der Mann. »Das stimmt aber«, entgegnete Jane. »Da ist ein Elf, ganz aus braunem Fell, mit Fledermausohren und Schneckenaugen, der erfüllt einem jeden Tag einen Wunsch.«
Martha benahm sich bewunderungswürdig. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort von Mr. Peasemarshs und des Polizisten Geschichte zu glauben. Sogar dann noch, als sie Robert in einen Torweg führten und ihm befahlen, seine Taschen auszuleeren. »Ich kann überhaupt nichts sehen«, sagte Martha zu den Männern. »Sie haben offenbar beide den Verstand verloren! Da ist kein Gold – nur die Hände des armen Buben, ganz zerkratzt und schmutzig, die reinsten Schornsteinfegerhände. Dass ich so etwas erleben muss!« Die Geschwister hielten Martha zuerst für ungeheuer edelmütig, aber dann fiel ihnen das Versprechen des Psammed ein, dass Martha und die Köchin seine Gaben nicht bemerken würden. Martha konnte also das Gold gar nicht sehen, und deshalb sprach sie nur die reine Wahrheit.
»Die ist wohl nicht ganz richtig im Kopf?«, fragte der Mann mit gedämpfter Stimme. »Ihr Jungs solltet euch schämen, dass ihr ’ne kleine Verrückte in eure schändlichen Betrügereien hineinzieht.« – »Sie ist nicht verrückt, und was sie sagt, ist wahr«, unterbrach ihn Anthea. »Da ist wirklich ein Elf. Und wenn wir ihn jemals wiedersehen, dann will ich mir etwas für Sie wünschen, dass Sie sich wundern werden!« – »Grundgütiger!«, stammelte Billy Peasemarsh. »Noch ’ne Verrückte!« In diesem Augenblick kehrte Willem hämisch grinsend in Begleitung eines Polizisten zurück. Mr. Peasemarsh vertiefte sich sogleich in eine lange, heiser geflüsterte Unterhaltung mit dem Polizisten, der schließlich laut sagte: »Wahr-
Die Dämmerung brach schon herein, als sie die Polizeistation erreichten. Der Polizist erstattete einem Inspektor, der in einem großen, kahlen Raum saß, seinen Bericht. »Lassen Sie mal die Münzen sehen«, sagte der Inspektor. »Leer deine Taschen aus«, sagte der Polizist. Cyril steckte seine Hände verzweifelt in die Taschen, stand einen Augenblick regungslos und begann dann zu lachen. Es war kein freudiges Lachen, es hörte sich fast wie ein Schluchzen an. Seine Taschen waren leer, genauso leer wie die Taschen seiner Geschwister. Denn bei Sonnenuntergang war das Psammedgold selbstverständlich verschwunden. Edith Nesbit
Der Sandelf
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»Leer deine Taschen aus und sei still!«, sagte der Inspektor. Cyril drehte seine Taschen um, jede der neun Taschen, die seine Jacke zierten. Und alle Taschen waren leer. »Nanu!«, sagte der Inspektor. »Ich weiß nicht, wie sie das angestellt haben – gerissene kleine Taschenspieler! Ich habe sie den ganzen Weg vor mir hergehen lassen, damit ich ein Auge auf sie haben konnte und damit sie keinen Aufruhr verursachen und den Verkehr nicht behindern.« – »In der Tat höchst merkwürdig«, sagte der Inspektor und runzelte die Stirn.
schwunden, und er hatte ein Loch hineingebohrt und sie an seine Uhrkette gehängt. Was aber das Goldstück anging, das der Bäcker bekommen hatte, so hatten die Kinder das Gefühl, dass sie sich nicht so große Sorgen darum zu machen brauchten.
Am nächsten Tag regnete es. Es regnete so stark, dass die Kinder nicht draußen spielen und schon gar nicht jemanden wie den Sandelf stören konnten, der auf Wasser so empfindlich reagierte, dass er noch nach Tausenden von Jahren an der Stelle Schmerzen empfand, wo ihm einmal die linke Schnurrbart-
»Wenn Sie Ihre Stirn genug über meine unschuldigen Kinder gerunzelt haben«, verkündete Martha, »werde ich eine Pferdedroschke mieten, und dann können wir ja wohl endlich heimfahren zum Hause des Vaters dieser Kinder. Aber Sie werden noch von uns hören, junger Mann! Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, dass sie keine Goldmünzen haben, als Sie so taten, als ob Sie Geld in ihren armen hilflosen Händen entdeckt hätten. Es ist für einen diensthabenden Polizisten ein bisschen früh am Tag, um seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Und was den anderen Herrn angeht, so erübrigen sich ja wohl alle Worte. Er ist der Wirt vom Gasthaus ›Zum Sarazenen‹ und weiß wohl sicher am besten, wie gut Schnaps schmeckt.« – »Bringen Sie die Kinder um des Himmels willen fort«, sagte der Inspektor ärgerlich. Aber nachdem sie die Polizeistation verlassen hatten, sagte er noch viel ärgerlicher zu dem Polizisten und zu Mr. Peasemarsh: »Na hören Sie mal!«
spitze nass geworden war. Der Tag zog sich endlos hin, und erst am Nachmittag kam den Geschwistern die Idee, ihrer Mutter zu schreiben. Robert stieß bei dieser Gelegenheit ein volles, außerordentlich großes Tintenfass um. Es ergoß sich gerade über die Ecke von Antheas Schreibpult, an der sie sich aus Klebstoff und Pappkarton etwas zurechtgebastelt hatte, was sie als Geheimfach bezeichnete. Gleichzeitig rann ein Tintenstrom über Antheas halbfertigen Brief, der nun lautete: »Liebe Mutter, ich hoffe, es geht dir gut, und ich hoffe, Großmutter ist wieder gesund. Gestern waren wir…« Was dann kam, hatte die Tinte verdeckt, und ganz unten waren die letzten Sätze mit Bleistift geschrieben: »Ich habe die Tinte nicht umgekippt, aber es hat so lange gedauert, bis wir alles aufgewischt hatten, deshalb nichts mehr für heute, denn die Post wird gleich abgehen. Von Deiner Dich liebenden Tochter Anthea.«
Auf Martha konnte man sich verlassen. Weil das Fuhrwerk nicht mehr da war, fuhr sie mit den Kindern in einer großartigen Kutsche nach Hause, aber obwohl sie sie auf der Polizeistation so wacker verteidigt hatte, schimpfte sie die Geschwister für die »eigenmächtige Herumstromerei in Rochester« so gehörig aus, dass niemand den alten Mann mit seinem Ponywägelchen zu erwähnen wagte, der vor Rochester auf sie wartete. Und dann wurden die Kinder nach einem Tag unvorstellbaren Reichtums zur Strafe sofort ins Bett geschickt. Sie waren nur um zwölf Rosinenbrötchen reicher geworden, die sie schon längst verdaut hatten. Am meisten beunruhigte sie der Gedanke, dass die Goldmünze des alten Mannes genauso wie alle anderen bei Sonnenuntergang verschwunden war. Und deshalb gingen sie am nächsten Tag in das Dorf hinunter, um sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihn im Stich gelassen hatten. Der Besitzer des Ponywägelchens begrüßte sie jedoch sehr freundlich. Die Guinea war nicht ver-
Edith Nesbit
Roberts Brief wurde nicht einmal begonnen. Zunächst hatte Robert ein Schiff auf das Löschpapier gekritzelt, während er darüber nachdachte, was er schreiben wollte. Dann war das Tintenfass umgefallen, und er musste Anthea helfen, ihr Pult sauber zu wischen. Dabei versprach er ihr, ein neues Geheimfach zu kleben, das noch besser sein würde als das alte. Sie bat: »Mach es aber gleich!« Und deshalb brachte er bis zur Ankunft des Postwagens keinen Brief zustande, obwohl das Geheimfach auch nicht fertig wurde. Cyril schrieb ganz schnell einen langen Brief und machte sich dann – nach der Bauanleitung aus dem »Gartenfreund« – daran, eine Schneckenfalle zu konstruieren.
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Folge 6: Himmlischer Wunsch!
chard gehörte zu den netten Verwandten. Er kaufte ihnen in Maidstone Spielsachen, und er nahm sie sogar mit in das Geschäft hinein und ließ sie selbst etwas aussuchen.
Cyril, Anthea, Robert und Jane haben einen Sandelfen gefunden, der Wünsche erfüllen kann. Eigentlich eine feine Sache, doch die Gaben des seltsamen Wesens haben die Kinder bisher nur in Schwierigkeiten gebracht. Jetzt aber ist sich Anthea sicher, was sie brauchen: Flügel!
Es gab keine Beschränkung in Bezug auf den Preis und keine Predigten, dass die Sachen nützlich oder lehrreich sein müssten. Robert suchte sich allerdings doch, und zwar ganz aus Versehen, etwas Lehrreiches aus. Er entschied sich im letzten Moment für eine Schachtel mit Abbildungen von geflügelten Stieren mit Menschenköpfen und geflügelten Menschen mit Adlerköpfen. Er dachte, in der Schachtel wären Tiere von der Art, wie sie auf dem Deckel abgebildet waren. Aber zu Hause entdeckte er, dass es sich um ein großes Puzzle mit Bildern von der antiken Stadt Ninive handelte.
Cyril schrieb ganz schnell einen langen Brief und machte sich dann – nach der Bauanleitung aus dem Gartenfreund – daran, eine Schneckenfalle zu konstruieren. Als die Postzeit heranrückte, konnte er seinen Brief nicht wiederfinden; er war und blieb spurlos verschwunden. Vielleicht hatten ihn die Schnecken gefressen.
Janes Brief war der einzige, der sich einigermaßen vorzeigen ließ. Sie wollte ihrer Mutter vom Psammed berichten – das hatten die anderen eigentlich auch vorgehabt –, aber sie dachte so lange darüber nach, wie man das Wort Psammed schreibt, dass ihr keine Zeit mehr blieb, die Geschichte ordentlich zu erzählen. Ihre Mutter musste mit Folgendem zufrieden sein:
Seine Geschwister wussten sofort, was sie haben wollten, und bekamen Dinge, an denen sie lange Freude hatten. Cyril suchte sich eine Modelllokomotive aus, die Schwestern wählten jede eine Puppe. Außerdem bekamen die beiden Mädchen noch ein Teegeschirr aus Porzellan mit Vergissmeinnicht darauf. Das gemeinsame Geschenk für die Brüder war ein Bogen mit Pfeilen.
»Allerliebste Mami, wir sind so brav, wie wir können, genau wie Du uns gesagt hast. Der Kleine ist ein bisschen erkältet, aber Martha sagt, es ist nicht schlimm. Er hat nur gestern den Goldfisch über sich gekippt. Als wir gestern auf dem gefahrlosen Weg, den auch die Karren fahren, in der Sandkuhle gewesen sind, da haben wir einen…« Eine halbe Stunde verstrich, bis Jane davon überzeugt war, dass keiner von ihnen wusste, wie man Psammed schrieb. Sie fanden das Wort auch nicht im Lexikon, in dem sie nachschlugen. Schließlich beendete Jane ihren Brief in aller Eile: »Wir haben ein komisches Ding gefunden, aber gleich wird die Post abgeholt, und deshalb für heute nichts mehr von Deiner kleinen Tochter Jane.
Danach fuhr Onkel Richard mit ihnen Boot, und später gab es in einer herrlichen Konditorei Tee und Kuchen. Als sie nach Hause kamen, war es viel zu spät, um sich noch etwas zu wünschen.
Der Tag nach dem Tag, an dem Onkel Richard sie so verwöhnt hatte, war sehr heiß. Die Leute, die das Wetter in der Zeitung voraussagen, schrieben später, es sei der heißeste Tag seit vielen Jahren gewesen. Wer schon einmal an einem strahlenden Sommertag morgens um fünf aufgestanden ist, der weiß, wie schön das ist. Das Morgenrot glänzt rosig und golden, und Gras und Bäume sind mit Tautropfen übersät. Die Schatten fallen genau andersherum als am Abend, und deshalb hat man das Gefühl, in einer neuen Welt zu sein.
PS. Wenn Wünsche in Erfüllung gingen, was würdest Du Dir dann wünschen?« Dann hörten sie den Postwagen herankommen, und Robert rannte in den Regen hinaus, um ihn anzuhalten und dem Postboten die Briefe mitzugeben. Auf diese Weise erfuhr die Mutter nichts von dem Sandelf, obgleich alle Kinder ihr davon hatten erzählen wollen. Es gab noch andere Gründe für ihre Ahnungslosigkeit, aber dazu kommen wir später.
Anthea wachte um fünf Uhr auf. Sie hatte sich das fest vorgenommen, und bei ihr klappte so etwas immer. In dem Moment, in dem sie die Augen aufschlug, hörte sie die schwarzgoldene Standuhr unten im Esszimmer elf schlagen. Da wusste Anthea, dass es genau drei Minuten vor fünf war. Die schwarzgoldene Uhr schlug nämlich immer falsch, aber wenn man genau wusste, auf welche Weise sie falsch schlug, wusste man auch, was sie in Wirklichkeit ansagen wollte.
Am nächsten Tag kam Onkel Richard zu Besuch und nahm die Geschwister, außer dem Kleinen, in einer offenen Kutsche mit nach Maidstone. Onkel RiEdith Nesbit
Der Sandelf
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Anthea war noch sehr müde, aber sie sprang aus dem Bett und tauchte Gesicht und Hände in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Das ist das beste Zaubermittel gegen den Wunsch, wieder ins warme Bett zurückzuspringen. Dann zog sie sich an und faltete ihr Nachthemd ordentlich zusammen. Sie nahm die Schuhe in die Hand und schlich leise die Treppen hinunter. Sie öffnete das Esszimmerfenster und kletterte hinaus. Genauso gut hätte sie durch die Haustür gehen können, aber Durchs-Fenster-Klettern war romantischer, und außerdem konnte Martha sie so nicht hören.
Oh, das war doch noch kein Wunsch. Das hab ich doch bloß so gesagt! Ich wäre so froh, wenn du dich nicht aufblasen würdest, sodass du fast platzt, um mir einen Wunsch zu erfüllen. Warte bitte damit, bis die anderen auch hier sind.« – »Na ja«, sagte es nachsichtig, aber es zitterte dabei.
»Möchtest du«, fragte Anthea liebevoll, »möchtest du vielleicht auf meinem Schoß sitzen? Da hättest du es wärmer, und ich könnte dich noch in meinen Rock einwickeln. Ich bin auch ganz vorsichtig.« Anthea hatte es nicht erwartet, aber das Psammed war einverstanden. »Ich danke dir«, sagte es. »Du bist wirklich sehr verständnisvoll.« Es kroch auf ihren Schoß und kuschelte sich dort ein, und sie nahm es mit einer noch ängstlichen Zärtlichkeit in die Arme. »Nun denn!«, sagte es.
Ich stehe jetzt immer um fünf Uhr auf, nahm sie sich vor, das ist zu schön. Ihr Herz schlug schnell, denn sie hatte sich ganz allein einen bestimmten Plan ausgedacht. Sie wusste nicht genau, ob es ein guter Plan war, aber sie war fest davon überzeugt, dass er nicht besser geworden wäre, wenn sie ihn mit den Geschwistern besprochen hätte. Und ob er nun gut war oder schlecht, auf jeden Fall wollte sie ihn lieber allein ausführen.
»Ja, also«, begann Anthea, »alles, was wir uns gewünscht haben, ist schrecklich schiefgegangen. Ich möchte so gern, dass du uns einen Rat gibst. Du bist so alt, da musst du doch auch sehr weise sein.« – »Ich bin von Kindesbeinen an großzügig gewesen«, antwortete der Sandelf. »Ich habe alle meine wachen Stunden nur dazu benutzt, Wünsche zu erfüllen. Aber eines gedenke ich nicht zu tun, und das ist: jemandem etwas raten.«
Auf den roten und gelben Steinplatten unter der Veranda zog sie sich die Schuhe an, lief dann geradewegs in die Sandkuhle, suchte den Platz des Psammed und grub es aus. Es war ziemlich ungehalten.
»Das ist ja grässlich«, knurrte es und plusterte sein Fell so auf, wie es die Tauben um die Weihnachtszeit herum tun, »eiskaltes Wetter, und dazu noch mitten in der Nacht.« – »Es tut mir so leid«, sagte Anthea sanft und knöpfte sich die weiße Spielschürze ab. Sie wickelte das Psammed darin ein, aber seinen Kopf, seine Fledermausohren und seine Schneckenaugen ließ sie frei. »Danke schön«, sagte es. »So ist’s schon besser. Was ist der Wunsch des Morgens?« – »Ich weiß es nicht«, antwortete sie, »das ist es ja eben. Sieh mal, wir haben bis jetzt so viel Pech gehabt. Darüber wollte ich mich mit dir unterhalten. Aber – würdest du bitte damit einverstanden sein, mir vor dem Frühstück keinen Wunsch zu erfüllen? Es ist so schwer, sich mit jemandem zu unterhalten, der einen immer gleich auf Wünsche festnagelt, die man in Wirklichkeit gar nicht erfüllt haben wollte.« »Du solltest dir nichts wünschen, was du nicht haben willst. In den alten Zeiten wussten die Leute immer ganz genau, ob sie nun ein Megatherium oder einen Ichthyosaurus zum Essen haben wollten.« – »Ich will’s ja versuchen«, versprach Anthea, »aber ich wünschte …« – »Pass auf!«, warnte das Psammed und begann sich aufzublasen. Edith Nesbit
»Aber sieh mal«, fuhr Anthea fort, »es ist doch so fabelhaft – so ein fabelhafter, unbeschreiblicher Glücksfall. Es ist so gut und lieb und nett von dir, unsere Wünsche zu erfüllen. Und es ist so ein Jammer, dass das alles für die Katz ist, nur weil wir zu dumm sind, um uns das Richtige zu wünschen.« Genau das hatte Anthea einmal klar aussprechen wollen, aber nicht in der Gegenwart ihrer Geschwister. Es ist etwas anderes, wenn man sich allein eingesteht, dass man dumm ist, als wenn man das in Anwesenheit anderer Menschen tut.
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»Kind«, sagte der Sandelf schließlich, »ich kann euch nur raten, vor dem Reden nachzudenken…« – »Aber ich dachte, du wolltest nie jemandem etwas raten.« – »Dieser kleine Wink zählt nicht«, antwortete er. »Ihr werdet euch ja doch nicht danach richten! Und außerdem, er stammt auch gar nicht von mir. Es steht in jedem Lesebuch.« – »Was würdest du denn zum Beispiel davon halten, wenn wir uns Flügel wünschten? War das ein dummer Wunsch?«
Anthea kam zu spät zum Frühstück. Robert ließ gerade in aller Seelenruhe einen Löffel Sirup auf den Spielkittel vom Lamm tropfen, sodass der Kleine gleich nach dem Frühstück noch einmal wieder von Kopf bis Fuss gewaschen werden musste. An und für sich war das ja ziemlich unartig, aber es hatte doch zwei Vorteile: Es entzückte den Kleinen, der besonders gern rundum klebrig war, und es beschäftigte Martha so lange, dass sich die Geschwister ohne das Lamm zur Sandkuhle davonschleichen konnten.
»Flügel?«, fragte er. »Das wäre das Dümmste nicht. Ihr müsst nur aufpassen, dass ihr bei Sonnenuntergang nicht mehr zu hoch seid. Ich habe mal von einem kleinen Jungen aus Ninive gehört. Er war einer von König Sanheribs Söhnen, und ein Reisender brachte ihm ein Psammed mit. Er hielt es sich in einem Sandkasten auf dem Palasthof. So etwas ist natürlich eine schreckliche Schmach und Schande für unsereins, aber der Junge war immerhin der Sohn eines assyrischen Königs. Eines Tages wünschte er sich nun Flügel und bekam sie auch. Aber er dachte nicht mehr daran, dass sie bei Sonnenuntergang zu Stein werden würden, und als das geschah, stürzte er direkt auf einen der geflügelten Löwen, deren Standbilder seines Vaters breite Schlosstreppe krönten. Was dabei passierte – na, eine schöne Geschichte ist das nicht! Aber bis zu dem Augenblick hat der Junge das Fliegen, glaub ich, sehr genossen.«
»Sag mir doch«, fragte Anthea, »warum versteinern unsere Wunschsachen nicht mehr? Warum verschwinden sie nur einfach?« – »Andere Zeiten, andere Sitten«, erwiderte das Psammed. »Was ich damit sagen will, ist dies: In jenen alten Zeiten wünschten sich die Leute handfeste, vernünftige Alltagsdinge, Mammuts und Flugsaurier und Ähnliches, und das ließ sich ziemlich leicht in Stein verwandeln. Aber heutzutage wünschen sich die Leute meistens irgendetwas Überkandideltes. Wie willst du denn Schönheit versteinern lassen oder die Tatsache, dass sich alle um dich reißen? Du wirst einsehen, dass das unmöglich ist. Und weil man nicht nach zwei verschiedenen Regeln arbeiten kann, darum verschwindet jetzt einfach alles. Wenn sich der Wunsch, bildschön zu sein, tatsächlich versteinern ließe, so würde das furchtbar lange dauern, verstehst du – länger, als dir lieb wäre. Schau dir doch die griechischen Statuen an. Es ist schon besser so. Leb wohl. Ich falle um vor Müdigkeit.« Es sprang von ihrem Schoß, scharrte wie wild und verschwand. Edith Nesbit
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Folge 7: Schrecken der Lüfte!
Aber sie erhielt keine Antwort, denn Robert hatte seine Schwingen ausgebreitet und war in die Luft gesprungen, und nun stieg er langsam empor. Er sah in seinem Anzug etwas komisch aus, besonders seine Stiefel hingen ziemlich hilflos herab, und sie schienen viel größer zu sein, als wenn er mit ihnen herumlief. Es war den Geschwistern jedoch völlig gleichgültig, wie Robert oder wie sie selbst aussahen. Denn jetzt breiteten sie alle die Flügel aus und stiegen in die Höhe. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Gefühl es ist, wenn man die Luft am Gesicht entlanggleiten fühlt. Die Schwingen waren unbeschreiblich groß, und die Geschwister mussten in großem Abstand voneinander fliegen, damit sie sich nicht gegenseitig im Wege waren. Aber Kleinigkeiten dieser Art lernt man ja schnell.
Endlich mal ein Wunsch, von dem man wirklich etwas hat: Cyril, Anthea, Ro-
bert und Jane sind begeistert von den Flügeln, die der Sandelf ihnen geschenkt hat. Es ist wunderschön, durch die laue Sommerluft zu gleiten – und dem Besitzer eines Pflaumenbaums gewaltige Angst einzujagen…
Während sie den Wiesenweg entlangrannten, stieß Anthea atemlos hervor: »Ich möchte vorschlagen, dass wir uns mit dem Wünschen abwechseln. Das heißt, es sollte natürlich niemand etwas wünschen, was den anderen nicht gefällt. Seid ihr einverstanden?« – »Wer soll denn den ersten Wunsch haben?«, erkundigte sich Robert. »Wenn ihr nichts dagegen habt, ich«, antwortete Anthea. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht – mein Wunsch sind Flügel.«
Wenn man von oben auf die Felder und Wälder hinabblickt, hat man das Gefühl, auf eine wunderschöne lebendige Landkarte zu schauen, nur dass die bunten Flecken auf dem Papier echte sonnige Wälder und grüne Felder sind. Es war alles in allem atemberaubender und viel zauberhafter als alles andere, was sich die Kinder bisher gewünscht hatten. Sie flatterten und flogen und schwebten auf ihren mächtigen regenbogenfarbenen Schwingen zwischen der grünen Erde und dem blauen Himmel dahin. Sie flogen direkt über Rochester und stoben dann in Richtung Maidstone davon. Allmählich begann ihnen der Magen zu knurren. Das fiel ihnen erstaunlicherweise gerade in dem Moment auf, als sie ziemlich niedrig über einen Obstgarten hinwegflogen, in dessen Bäumen eine frühe Pflaumensorte rot und reif zwischen den Blättern leuchtete.
Daraufhin schwiegen alle. Sie versuchten, an der Sache einen Haken zu finden, aber das war schwierig, weil schon das Wort »Flügel« jedes Herz in freudiger Erregung schneller flattern ließ. »Nicht übel«, bemerkte Cyril großzügig, und Robert fügte hinzu: »Wirklich, Anthea, manchmal bist du gar nicht so dumm, wie du aussiehst.« – Jane sagte: »Das könnte himmlisch werden, das ist wie ein fantastischer Traum!« Sie fanden den Sandelf sofort. Anthea sagte: »Ich wünschte, dass wir alle schöne Flügel zum Fliegen bekommen.« Der Sandelf blies sich auf, und im nächsten Augenblick hatte jedes der Kinder ein sonderbares Gefühl an den Schultern, halb war es Schwere, halb war es Leichtigkeit. Das Psammed legte den Kopf auf die Seite und richtete seine Schneckenaugen der Reihe nach auf jeden von ihnen. »Gar nicht so übel«, sagte es verträumt, »aber du, Robert, du bist doch nicht ganz so engelhaft, wie du aussiehst.« Robert wurde rot.
Sie schwebten auf der Stelle. Ich kann nicht erklären, wie man das macht. Ihr müsst es euch wie Wassertreten vorstellen; Habichte können es ganz ausgezeichnet. »Diebstahl bleibt Diebstahl, auch wenn man Flügel hat«, sagte Cyril, obwohl noch niemand etwas gesagt hatte. »Findest du wirklich?«, fragte Jane keck. »Wenn man Flügel hat, ist man doch ein Vogel, und bei Vögeln sagt kein Mensch etwas, wenn sie gegen die Zehn Gebote verstoßen. Das heißt, manche Leute haben vielleicht einiges dagegen, aber Vögel machen schließlich immer so etwas, und Schelte kriegen sie nie.«
Die Flügel waren gewaltig und prachtvoller, als man sie sich vorstellen kann, denn sie waren sanft und glatt, und jede Feder schmiegte sich ordentlich an die nächste. Und alle Federn schimmerten in zauberhaften Regenbogenfarben. »Aber – können wir denn auch fliegen?«, fragte Jane, die ängstlich von einem Fuß auf den anderen trat. »Pass auf!«, rief Cyril. »Du trittst mir auf die Flügel.« – »Tut das weh?«, erkundigte sich Anthea. Edith Nesbit
Es war wirklich gar nicht so einfach, sich auf dem Pflaumenbaum niederzulassen, denn die Regenbogenflügel waren ungeheuer groß. Aber irgendwie schafften sie es, und die Pflaumen waren wahrhaftig köstlich süß und saftig. Der Sandelf
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Sie griffen zu, bis sie so viele Pflaumen gefuttert hatten, wie sie vertragen konnten. Da entdeckten sie einen stämmigen Mann, der so aussah, als ob ihm die Pflaumenbäume gehörten. Er kam mit einem Knüppel durch die Obstgartentür gerannt, und wie auf Befehl befreiten alle auf einmal ihre Schwingen aus dem Gewirr der Pflaumenzweige und flogen auf. Der Mann blieb mit offenem Munde wie angewurzelt stehen. Er hatte gesehen, dass die Zweige seiner Obstbäume auf und nieder tanzten, und er war sofort aus dem Haus geschossen, denn die Dorfjungen hatten ihm im Laufe des vergangenen Sommers beigebracht, dass man Pflaumen gut bewachen muss. Als er nun die Regenbogenschwingen aus dem Pflaumenbaum emporschlagen sah, dachte er, er hätte den Verstand verloren. Anthea beobachtete, wie sein Mund langsam aufklappte und dann offen blieb und wie sich sein Gesicht nach und nach mit grünen und violetten Flecken überzog, sie rief laut:
»Sie brauchen keine Angst zu haben!« Schnell suchte sie in ihrer Schürzentasche nach einem durchbohrten Dreipennystück, das sie sich als Glücksbringer an einem Band um den Hals hatte hängen wollen. Dann schwebte sie einmal um den unglückseligen Pflaumenbaumbesitzer herum und sagte dabei: »Wir haben ein paar von Ihren Pflaumen gegessen, wir haben das eigentlich nicht für einen Diebstahl gehalten, aber jetzt bin ich doch unsicher geworden. Nehmen Sie deshalb dieses Geld als Bezahlung.« Sie stieß zu dem schreckensstarren Pflaumenbaumbesitzer hinab, ließ die Münze in seine Jackentasche gleiten und war mit ein paar raschen Flügelschlägen wieder bei ihren Geschwistern. Der Bauer saß wie hingeschmettert auf seinem Rasen. »Gott bewahre mich«, stammelte er, »das muss ja wohl das sein, was die Doktors Halluzinationen nennen. Aber dies hier ist eine Münze«, er zog sie aus der Tasche und biss darauf, »und die ist völlig echt und wirklich. Ja, ab heute will ich ein besserer Mensch werden. So ein Erlebnis zeigt einem das Leben in einem ganz neuen Licht. Ich bin nur froh, dass es bloß Flügel sind, mit denen ich es zu tun habe. Ich sehe immer noch lieber Vögel, die es gar nicht gibt und die es auch gar nicht geben kann, selbst wenn sie so tun, als ob sie sprechen könnten, als andere Sachen, von denen ich lieber gar nicht reden will.«
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Er stand schwerfällig und ächzend auf und ging ins Haus. Und er behandelte seine Frau den Tag über so liebevoll, dass sie sich ganz glücklich fühlte und insgeheim dachte: Was mag denn nur über diesen Mann gekommen sein? Dann machte sie sich ein bisschen zurecht und band sich eine blaue Schleife um den Kragen, und damit sah sie so hübsch aus, dass er noch netter zu ihr wurde.
»Na gut«, sagte Cyril mit fester Stimme, »wenn das Land, in dem man sich befindet, einem keine Lebensmittel verkaufen will, dann muss man sie sich eben nehmen. So jedenfalls steht es in allen Kriegsbüchern. Und selbst in anderen Geschichten lässt kein guter Bruder seine kleinen Schwestern mitten im Überfluss verhungern.« – »Überfluss?«, wiederholte Robert, und auch die beiden Schwestern warfen einen flüchtigen Blick auf die kahlen Bleiplatten des Kirchendaches und murmelten: »Mitten in was?«
So hatten die geflügelten Geschwister an diesem Tage eine gute Tat vollbracht. Sie blieb jedoch die einzige, denn wenn man in Schwierigkeiten geraten will, dann braucht man nur Flügel zu haben. Wenn man allerdings in Schwierigkeiten gerät, dann sind Flügel auch das beste Mittel, um ihnen wieder zu entfliehen.
»Ja«, sagte Cyril mit Nachdruck, »auf der einen Seite des Pfarrhauses ist ein Speisekammerfenster, und in der Kammer hab ich die Vorräte gesehen, Pudding und kaltes Huhn und Zunge und Pasteten und Marmelade. Das Fenster liegt ziemlich hoch, doch mit Flügeln…« – »Es ist aber unrecht«, mahnte Anthea. »Unsinn«, antwortete Cyril. »Es ist nur Mundraub.« – »Wir können trotzdem alles Geld, das wir bei uns haben, zusammenlegen und damit die Sachen bezahlen. Findet ihr nicht auch?«, schlug Anthea vor. »Nicht alles, aber etwas«, meinten die anderen.
Das erlebten die Geschwister zum Beispiel, als sie ein wenig später ihre Flügel so schmal wie möglich zusammenfalteten und auf eine Bauernhaustür zugingen, um etwas Brot und Käse zu erbitten; denn trotz der Pflaumen verspürten sie bald darauf wieder einen nagenden Hunger. Dabei sprang sie plötzlich ein bissiger Hund an. Wenn die Geschwister vier normale flügellose Kinder gewesen wären, hätte der Hund sicher das braunbestrumpfte Bein von Robert erwischt, der ihm am nächsten gekommen war. Aber beim ersten Knurren erhob sich ein Flügelrauschen, und der Hund blieb unten an seiner Kette zurück, an der er, auf den Hinterpfoten tanzend, so zog und zerrte, als ob auch er davonfliegen wollte.
Jeder leerte nun seine Taschen auf der Plattform des Turmes aus, wo Besucher aus den letzten einhundertfünfzig Jahren ihren Namen und den namen ihrer Liebsten mit Federmessern ins weiche Blei geritzt hatten. Insgesamt besaßen die Kinder fünf Schilling und siebeneinhalb Pence. Sie einigten sich schließlich auf eine halbe Krone, die sie für einen angemessenen Preis hielten.
Sie versuchten es bei einigen anderen Bauern, die keinen Hund hatten, aber die Leute waren so entsetzt, dass sie nur schrille Schreie ausstießen, und nachdem es schließlich fast vier Uhr geworden war und ihre Flügel sich erbärmlich steif und müde anfühlten, ließen sie sich auf der Plattform eines Kirchturms nieder und hielten Kriegsrat. »Also, es ist unmöglich, dass wir den ganzen Weg ohne einen einzigen Bissen im Magen wieder nach Hause fliegen«, stellte Robert fest. »Aber kein Mensch wird uns etwas zu essen oder zu trinken geben«, sagte Cyril. »Vielleicht tut das der Pfarrer hier«, meinte Anthea. »Wenn er schon über Engel Bescheid weiß…« – »Jeder sieht doch auf den ersten Blick, dass wir keine Engel sind«, widersprach Jane. »Schau dir doch Roberts Stiefel an und den karierten Schlips von Cyril.« Edith Nesbit
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Folge 8: Gestrandet!
Pfiff sein. So, wie sie es macht, klingt es natürlicher und vogelhafter. Und jetzt: Ab mit uns!«
Ein bisschen zu lange haben Cyril, Anthea, Robert und Jane nach ihrem Pick-
Stehlen ist natürlich unrecht. Man muss aber immerhin sagen, dass den Kindern ihr Unternehmen in dieser Lage nicht wie Diebstahl vorkam. Sie betrachteten es als ehrlichen Handel. Weil zu Hause entweder Martha oder die Köchin alle Lebensmittel einkauften, hatten die Geschwister keine Ahnung, dass eine ganze gekochte Zunge, anderthalb Brathähnchen, ein Laib Brot und eine Siphonflasche in jedem Geschäft wesentlich mehr als eine halbe Krone gekostet hätten. Das alles reichte nämlich Cyril als »lebensnotwendige Nahrungsmittel« zum Speisekammerfenster hinaus, nachdem er seine Geschwister unentdeckt und ohne Zwischenfall an diesen erfreulichen Ort geleitet hatte. Er fand es heldenhaft, dass er den Versuchungen der Marmelade, der Apfeltaschen, des übrigen Gebäcks und der kandierten Orangenschale widerstand. Er war auch stolz, dass er den Vanillepudding stehen ließ, aber dieser Entschluss war nicht ganz so heldenhaft, denn dann hätte er die leere Schüssel wieder zurückbringen müssen.
nick auf dem Kirchturmdach geschlafen – nun ist die Sonne untergegangen, und ihre Flügel sind verschwunden. Wieder hat der Sandelf sie in eine vertrackte Lage gebracht! Jetzt hilft nur noch mörderisches Geschrei…
Jeder leerte nun seine Taschen auf der Plattform des Turmes aus, wo Besucher aus den letzten einhundertfünfzig Jahren ihren Namen und den Namen ihrer Liebsten mit Federmessern in das weiche Blei geritzt hatten. Insgesamt besaßen die Kinder fünf Shilling und siebeneinhalb Pence. Sie einigten sich schließlich auf eine halbe Krone, die sie für einen angemessenen Preis hielten. Anthea hatte zufällig ihr letztes Zeugnis in der Tasche, und nachdem sie ihren eigenen und den Namen der Schule davon abgerissen hatte, schrieb sie auf die Rückseite: »Hochwürden, wir sind sehr hungrig, weil wir den ganzen Tag haben fliegen müssen, und wir denken, dass es kein Diebstahl ist, was einen vor dem Hungertod errettet. Wir mochten Sie nicht fragen, denn wir hatten Angst, dass Sie Nein gesagt hätten, weil Sie zwar über Engel Bescheid wissen, aber uns doch nicht für Engel halten würden.«
Niemand, und war er noch so hungrig, hatte das Recht, Porzellanteller mit kleinen rosa Blümchen zu stehlen. Mit der Siphonflasche war es etwas anderes. Sie mussten etwas zu trinken haben, und da der Name des Herstellers auf dem Etikett stand, dachten sie, dass die Flasche auf jeden Fall zu ihm zurückfinden würde. Wenn sie noch Zeit hatten, wollten sie sie selber zurückbringen. Der Hersteller schien in Rochester zu wohnen, und das lag ja ohnehin auf ihrem Heimflug.
»Nun mach doch schon Schluss«, sagten die Geschwister. So setzte Anthea nur noch hastig hinzu: »Glauben Sie uns bitte, dass unsere Beweggründe nicht unehrenhaft sind. Anbei eine halbe Krone als Beweis für unsere Aufrichtigkeit und Dankbarkeit. Nochmals besten Dank für Ihre Gastfreundlichkeit. Wir vier.« Die halbe Krone wurde in den Zettel eingewickelt, und die Kinder hatten das Gefühl, dass der Pfarrer nach der Lektüre dieses Briefes alles verstehen würde, soweit man überhaupt etwas verstehen konnte, ohne ihre Flügel gesehen zu haben.
Sie brachten alles auf die Turmplattform hinauf und legten es auf ein Stück Butterbrotpapier, das Cyril im obersten Regal der Speisekammer entdeckt hatte. Als er es entfaltete, bemerkte Anthea: »Das gehört aber nicht zu den lebensnotwendigen Dingen.« – »Gehört es wohl«, widersprach er. »Wir müssen die Sachen doch irgendwo hinlegen, wenn wir sie teilen wollen. Jetzt aber los! Ich kann gar nicht sagen, wie hungrig ich bin.«
»Nun los«, sagte Cyril. »Die Sache ist natürlich nicht ohne Risiko. Wir sollten am besten auf der anderen Seite des Turmes senkrecht nach unten fliegen und uns dann dicht über den Büschen des Friedhofs halten. Dort scheint niemand zu sein, aber man kann nie wissen. Das Fenster liegt gerade über dem Gebüsch. Ich steige hinein und reiche die Sachen hinaus. Robert und Anthea nehmen alles entgegen, und Jane kann aufpassen. Sie hat die schärfsten Augen. Wenn sie jemanden sieht, dann pfeift sie. Halt den Mund, Robert! Für unsere Zwecke kann sie gut genug pfeifen. Es soll auch lieber gar kein richtiger Edith Nesbit
Das Picknick auf dem Kirchturm war unbeschreiblich. Die vier genossen die guten Sachen, und jeder aß, so viel er konnte: zuerst aus schierem Hunger und dann, weil alles so herrlich schmeckte. Aber nachdem sie so viel gegessen hatten, wie nur in sie hineinging, und nachdem auch der letzte Tropfen MiDer Sandelf
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Sie starrten sich gegenseitig an. Cyril, der die Siphonflasche aufhob, sprach als Erster: »Wir ziehen lieber gleich los und sehen, dass wir dieses lästige Ding loswerden. Jetzt ist es schon so dunkel, dass wir die Flasche auch vor die Haustür des Pfarrers stellen können. Los, kommt!«
In einem kleinen Vorbau an einer Ecke des Umganges war eine Tür. Sie hatten sie schon beim Essen entdeckt, sich aber natürlich nicht darum gekümmert, denn wenn man Flügel hat, mit deren Hilfe man den ganzen Himmel erforschen kann, hält man Türen selbstverständlich für nebensächlich. Jetzt aber schauten sie die Tür an. »Hier geht’s natürlich raus«, sagte Cyril. Das stimmte sicher, aber die Tür war von der anderen Seite abgeschlossen. Die Welt wurde immer dunkler, sie waren noch weit von zu Hause entfernt, und die leere Siphonflasche mussten sie auch noch irgendwie loswerden.
Ob eins der Geschwister geweint hat? Auf jeden Fall waren sie alle eine Zeit lang ziemlich fassungslos. Als sie wieder etwas ruhiger geworden waren, steckte Anthea ihr Taschentuch in die Schürzentasche, schlang ihren Arm um Jane und sagte: »Morgen früh können wir mit unseren Taschentüchern winken. Bis dahin sind sie auch wieder trocken. Und dann wird schon jemand heraufkommen und uns hinauslassen…« – »Und die leere Siphonflasche entdecken«, unterbrach Cyril sie niedergeschlagen, »und dann werden wir wegen Diebstahls ins Gefängnis geworfen…« – »Du hast gesagt, es sei kein Diebstahl. Du hast gesagt, du wärst ganz sicher, dass es keiner ist.« – »Jetzt bin ich aber nicht mehr so sicher«, antwortete Cyril kurz.
neralwasser getrunken war, wurden sie mit einem Mal unaussprechlich müde, besonders Anthea, die ja sehr früh aufgestanden war.
Ein Kind nach dem anderen verstummte und lehnte sich zurück, und ehe eine Viertelstunde verstrichen war, hatten sie sich alle ausgestreckt und mit ihren großen, weichen, warmen Schwingen zugedeckt und schliefen tief und fest. Die Sonne begann im Westen zu sinken. Der Schatten vom Kirchturm kroch über den Friedhof, über das Pfarrhaus, über das Feld, an welches das Pfarrhaus angrenzte. Und kurz darauf gab es gar keine Schatten mehr, die Sonne war gesunken, und die Flügel waren fort.
»Wirf das verdammte Ding doch in die Büsche«, schlug Robert vor. »Dann kann uns niemand etwas anhaben.« – »O ja!« Cyril stieß ein bitteres Lachen aus. »Und dann fliegt es jemandem auf den Kopf, und wir sind zu allem andern auch noch Mörder.« – »Wir können doch nicht die ganze Nacht hier oben bleiben«, stieß Jane hervor. »Ich will mein Abendbrot haben.« – »Abendbrot brauchst du sowieso nicht mehr«, stellte Robert fest. »Wir haben doch gerade erst zu Mittag gegessen.« – »Ich will es aber trotzdem«, sagte Jane. »Und erst recht, wenn wir die ganze Nacht hier oben bleiben müssen. O Anthea, ich will nach Hause!«
Die Kinder schliefen immer noch. Sie schliefen aber nicht mehr lange. Die Dämmerung ist zwar sehr romantisch, aber sie macht einen frösteln. Die vier flügellosen Geschwister zitterten vor Kälte und erwachten. Und da saßen sie nun, mitten auf dem Umgang um die Kirchturmspitze im dämmerigen Zwielicht, blaue Sterne zogen zuerst einzeln und dann zu zweit und zu zehnt über ihren Köpfen auf, sie waren Meilen von zu Hause entfernt, hatten nur noch etwas Kleingeld in der Tasche und ein schlechtes Gewissen wegen der Sache mit der »lebensnotwendigen Verpflegung«.
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»Pscht, pscht«, machte Anthea, »nicht, mein Herzchen, es wird schon alles wieder gut, nicht, nicht…« – »Lass sie doch weinen«, rief Robert verzweifelt. Der Sandelf
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»Wenn sie laut genug heult, hört uns vielleicht jemand und lässt uns heraus.« – »Und sieht die Siphonflasche«, warf Anthea geschwind ein. »Sei nicht so
nicht gehen!«, jammerte sie. »Nicht allein. Jessie!« Das Mädchen war wieder zu sich gekommen und stürzte aus der Küche herbei. »Andreas soll kommen!
Nach einer Weile sagte Cyril langsam: »Seht mal, das mit dem Siphon müssen wir riskieren. Ich steck ihn in meine Jacke. Vielleicht sieht ihn da keiner. Ihr anderen geht eben möglichst dicht vor mir. Im Pfarrhaus brennt Licht, man ist also noch nicht zu Bett gegangen. Wir werden so laut schreien, wie wir können. Alle auf einmal, nachdem ich bis drei gezählt habe. Robert, du musst wie eine Lokomotive heulen, so, wie du es immer tust, wenn du Eisenbahn spielst. Die Mädchen können es machen, wie sie wollen. Eins, zwei, drei!« Ein vierfaches Gebrüll zerriss den Abendfrieden. Ein Hausmädchen, das im Pfarrhaus gerade die Gardinen zuzog, hielt erschrocken inne.
»Wenn man den dabei bloß nicht selber zu fassen kriegt«, murmelte Jessie insgeheim, als sie wieder in die Küche zurückging. »Hör mal, Andreas«, sagte sie dann, »da schreit jemand in der Kirche wie verrückt, und die Frau sagt, du sollst rübergehen und ihn zu fassen kriegen.« – »Nicht allein, kommt gar nicht in Frage«, murmelte Andreas leise, aber entschlossen. Zu seinem Herrn sagte er jedoch nur: »Ja, Sir?« – »Hast du diese Schreie gehört?« – »Ja, ich glaub, ich hab da irgendwas gehört«, antwortete Andreas. – »Nun gut, dann vorwärts!«, befahl der Pfarrer. »Liebe Margret, die Pflicht befiehlt mir, dass ich gehe!« Er führte seine Frau mit sanfter Gewalt ins Wohnzimmer zurück, schlug die Tür zu und stürzte hinaus, wobei er Andreas am Arm mit sich zerrte.
herzlos, Robert! O Jane, sei doch ein Mann!« Jane versuchte, ein Mann zu sein, und dämpfte ihr Geheul zu einem Schluchzen.
Ein gefährlicher Wahnsinniger steckt in der Kirche! Andreas muss sofort hinüberlaufen und ihn zu fassen kriegen.«
»Eins, zwei, drei!« Noch ein Schrei, vielstimmig und gellend. Er scheuchte die Eulen und die Spatzen auf, die mit wildem Geflatter von ihren Schlafplätzen im Turm aufstoben. Das Mädchen ließ die Pfarrhausgardine im Stich und rannte die Pfarrhaustreppe hinunter in die Pfarrküche. Dort fiel sie in Ohnmacht, nachdem sie einem Diener und der Köchin und dem Vetter der Köchin erklärt hatte, dass sie einen Geist gesehen hätte. »Eins, zwei, drei!«
Ein Schwall von Rufen begrüßte sie. Als danach abermals Stille herrschte, rief Andreas: »He, Sie da! Haben Sie gerufen?« – »Ja«, riefen vier entfernte Stimmen zurück. – »Die Rufe scheinen aus der Luft zu kommen«, bemerkte der Pfarrer. »Sehr merkwürdig.« – »Wo sind Sie?«, rief Andreas, worauf Cyril mit seiner tiefsten Stimme so laut wie möglich antwortete: »Kirche! Turm! Spitze!« – »Dann kommen Sie runter!«, befahl Andreas, und dieselbe Stimme antwortete: »Unmöglich! Tür verriegelt.«
Der Pfarrer stand bereits auf der Schwelle seines Hauses, und der Schrei, der ihm diesmal entgegenschlug, ließ keinerlei Zweifel mehr zu. »Um Himmels willen«, sagte er zu seiner Frau, »ich glaube, in der Kirche wird jemand ermordet! Reich mir meinen Hut und einen dicken Stock, und sag Andreas, dass er mir folgen soll. Vermutlich ist es der Wahnsinnige, der den Aufschnitt und die Zunge gestohlen hat.«
»Du meine Güte«, sagte der Pfarrer. »Andreas, hol die Stalllaterne. Vielleicht wär es ganz gut, wenn wir noch einen Mann aus dem Dorf holten.« – »Damit ich unterwegs dann die ganze Bande, die vermutlich dahintersteckt, auf dem Hals habe! Nein, Sir, wenn das keine Falle ist, will ich Otto heißen! Der Vetter von der Köchin ist gerade da. Er ist Wildhüter, Sir, und daran gewöhnt, mit verdächtigen Typen umzugehen. Und er hat sein Gewehr bei sich.«
Die Geschwister hatten das Licht aufblitzen sehen, als der Pfarrer die Haustür geöffnet hatte. Sie erkannten seine schattenhafte Gestalt auf der Schwelle und unterbrachen ihr Geschrei, um Luft zu holen und um abzuwarten, was er tun würde. Als er sich nach seinem Hut umdrehte, sagte Cyril hastig: »Jetzt denkt er, er hätte sich nur eingebildet, dass er etwas gehört hat. Ihr habt nicht laut genug geschrien! Noch mal! Eins, zwei, drei!« Das war der beste Schrei der Nacht, und die Frau des Pfarrers klammerte sich mit beiden Armen an ihren Mann und schrie vor Schreck mit. »Du darfst Edith Nesbit
Der Sandelf
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Folge 9: Alarm im Pfarrhaus!
den die Glockenseile herabpendelten, deren Handgriffe weich und pelzig waren wie riesige Raupen. Und weiter ging es die nächste Wendeltreppe in die Turmspitze hinauf. Dort hingen die großen Glocken. Danach folgte eine Leiter mit breiten Tritten und schließlich eine steinerne Stiege, die auf eine kleine Tür zuführte. Diese Tür war von der Treppenseite her durch einen Riegel verschlossen.
Cyril, Anthea, Robert und Jane sitzen auf dem Dach des Kirchturms fest. Ihr gellender Hilfeschrei ruft den Pfarrer und den Wildhüter auf den Plan: Nette Leute, aber niemand, dem man das Problem mit dem Sandelfen erklären könnte… Du meine Güte«, sagte der Pfarrer. »Andreas, hol die Stall-Laterne. Viel-
leicht wäre es ganz gut, wenn wir noch einen Mann aus dem Dorf holten.« – »Damit ich unterwegs dann die ganze Bande, die vermutlich dahintersteckt, auf dem Hals habe! Nein, Sir, wenn das keine Falle ist, will ich Otto heißen! Der Vetter von der Köchin ist gerade da. Er ist Wildhüter, Sir, und daran gewöhnt, mit verdächtigen Typen umzugehen. Und er hat sein Gewehr bei sich!«
Der Vetter der Köchin, der Wildhüter, schlug gegen die Tür und sagte: »Hallo, Sie da!«
Die Geschwister auf der anderen Seite der Tür klammerten sich zitternd vor Angst aneinander. Vom vielen Schreien waren sie ganz heiser geworden und konnten kaum mehr sprechen. Cyril schaffte es, eine Antwort zu krächzen: »Hallo, Sie da!« – »Wie sind Sie da raufgekommen?« Es hatte keinen Zweck, »Wir sind geflogen« zu sagen, und deshalb antwortete Cyril: »Als wir oben waren, haben wir gemerkt, dass die Tür verschlossen war, und da konnten wir nicht wieder hinunter. Lassen Sie uns bitte heraus!«
»Hallo, hallo!«, rief Cyril vom Kirchturm herab. »Kommen Sie doch, und lassen Sie uns raus!« – »Und ob wir kommen«, antwortete Andreas. »Ich hol nur die Polizei und ein Gewehr.« – »Andreas«, rügte der Pfarrer, »das ist nicht die Wahrheit.« – »Aber doch fast, Sir. Für solche wie die gibt’s da keinen Unterschied.«
»Wie viele seid ihr denn?«, erkundigte sich der Wildhüter. »Nur vier«, antwortete Cyril. »Seid ihr bewaffnet?« – »Ob wir was sind?« – »Ich hab mein Gewehr griffbereit – also keine faulen Tricks«, sagte der Wildhüter. »Wenn wir die Tür aufmachen, versprecht ihr dann, friedlich herunterzukommen und keine Geschichten zu machen?« – »Ja – o ja!«, riefen die Geschwister durcheinander. »Gott steh mir bei«, murmelte der Pfarrer. »Da war ohne Zweifel eine weibliche Stimme darunter.«
Andreas holte also die Laterne und den Vetter der Köchin herbei, und die Frau des Pfarrers flehte alle an, sehr, sehr vorsichtig zu sein. Sie stolperten über den Friedhof, denn es war unterdessen stockfinster geworden, und sie unterhielten sich im Gehen. Der Pfarrer war davon überzeugt, dass ein Wahnsinniger auf dem Kirchturm saß, und zwar derjenige, der den verrückten Brief geschrieben und die kalte Zunge und alles andere gestohlen hatte. Andreas hielt das Ganze für eine Falle. Nur der Vetter der Köchin behielt die Ruhe.
»Soll ich die Tür aufmachen, Sir?«, fragte der Wildhüter. Andreas wich ein paar Stufen nach unten zurück, »um den anderen Platz zu machen«, wie er später behauptete. »Ja«, befahl der Pfarrer, »machen Sie die Tür auf. Bitte, denken Sie daran«, setzte er durch das Schlüsselloch hinzu, »dass wir zu Ihrer Befreiung herbeigeeilt sind. Ich hoffe, Sie halten Ihr Versprechen und vermeiden jede Gewalt.« – »Wie fest der Riegel sitzt«, bemerkte der Wildhüter. »Da möchte man glauben, der ist seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr benutzt worden.« Mit dieser Bemerkung traf er den Nagel auf den Kopf.
»Viel Geschrei und nichts dahinter«, brummte er. »Gefährliche Kerle sind stiller.« Er hatte überhaupt keine Angst, aber er besaß schließlich auch eine Waffe. Er wurde daher gebeten, als Erster die ausgetretenen, dunklen Stufen im Kirchturm hinaufzusteigen. So übernahm er denn die Führung mit der Laterne in der einen und dem Gewehr in der anderen Hand. Andreas ging als Zweiter. Später behauptete er, das hätte er getan, weil er tapferer als sein Herr sei, aber in Wirklichkeit fürchtete er, in eine Falle zu geraten. Er mochte nicht als Letzter gehen, weil er Angst hatte, dass sich jemand leise in der Dunkelheit anschleichen und ihn bei den Beinen packen könnte. Sie tappten die kleine Wendeltreppe immer höher hinauf, dann hatten sie den Glockenboden erreicht, auf Edith Nesbit
Nachdem der Riegel zurückgezogen war, sprach der Wildhüter mit tiefer Stimme eine letzte Warnung durchs Schlüsselloch. »Ich mache nicht auf«, sagte er, »bevor ihr nicht in die äußerste Ecke des Turms zurückgegangen seid. Der Sandelf
Und wenn sich nur einer von euch nähert, dann schieße ich. Jetzt!«
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»Wir sind alle in der Ecke auf der anderen Seite«, antworteten die Stimmen. Der Wildhüter war überaus zufrieden mit sich und hielt sich für einen kühnen und gescheiten Mann. Als er aber die Tür aufstieß, auf die Plattform hinaustrat und das volle Licht der Stall-Laterne auf das Grüppchen der Verzweifelten fallen ließ, die sich im entferntesten Winkel des Umganges gegen eine Turmzinne drängten, da ließ er den Lauf sinken, und die Laterne fiel ihm fast aus der Hand. »Gott bewahre mich!«, rief er. »Das sind ja nur ein paar Kinder!«
Jetzt näherte sich der Pfarrer. »Wie seid ihr hierhergekommen?«, fragte er streng. »Gesteht es mir auf der Stelle!« – »Ach, nehmen Sie uns doch bitte mit runter«, flehte Jane und klammerte sich an seinen Rock. »Dann erzählen wir Ihnen alles, was Sie hören wollen. Sie werden uns zwar doch nicht glauben, aber das spielt gar keine Rolle. Oh, nehmen Sie uns bitte mit hinunter!«
»Oder vielleicht ist in der Nähe ein Hotel, wo wir uns einen Wagen mieten könnten«, sagte Anthea. »Martha wird jetzt schon außer sich sein.« Der Pfarrer war, überwältigt von Erregung und Verwunderung, in seinen Sessel gesunken. Cyril hatte sich auch hingesetzt und stützte – wegen des Siphons – die Ellbogen auf die Knie.
So wurden sie also hinuntergeführt. Es ist alles andere als ein Vergnügen, einen fremden Kirchturm im Dunkeln hinabzusteigen, selbst wenn der Wildhüter einem hilft. Allerdings musste Cyril der Siphonflasche wegen auf alle Hilfe verzichten. Die Flasche war so furchtbar glatt und schwierig zu verbergen. Mitten auf der Leiter verlor er sie fast. Er erwischte sie zwar noch eben am Griff, aber dabei trat er fast ins Leere. Als sie den Fuß der Wendeltreppe erreicht hatten und auf den Platz vor der Kirchentür hinaustraten, zitterte er am ganzen Leibe und war totenbleich.
»Aber wieso seid ihr denn oben auf dem Kirchturm eingesperrt gewesen?«, fragte der Pfarrer. »Wir sind hinaufgegangen«, antwortete Robert langsam, »und dann sind wir müde geworden und alle eingeschlafen, und als wir aufwachten, haben wir gemerkt, dass die Tür verschlossen war, und da haben wir geschrien.«
»Und wie ihr geschrien habt!«, sagte die Pfarrersfrau. »Ihr habt uns fast um den Verstand gebracht! Ihr solltet euch was schämen!« – »Das tun wir ja auch«, antwortete Jane sanft. »Aber wer hat die Tür denn zugeschlossen?«, erkundigte sich der Pfarrer. »Das wissen wir wirklich nicht«, antwortete Robert, womit er die reine Wahrheit sagte. »Bitte, schicken Sie uns jetzt nach Hause.«
Plötzlich packte der Wildhüter Cyril und Robert am Arm. »Sie können die Mädchen übernehmen, Sir!«, rief er. »Sie und Andreas werden schon mit ihnen fertig.« – »Lassen Sie mich los!«, sagte Cyril. »Wir laufen schon nicht weg. Und Ihrer alten Kirche haben wir auch nichts getan. Lassen Sie mich los!« – »Ihr kommt schön mit«, sagte der Wildhüter, und Cyril wagte nicht, ihm heftig zu widersprechen, weil der Siphon schon wieder ins Rutschen geriet.
»Nun ja«, murmelte der Pfarrer, »das müssen wir wohl tun. Andreas, spann das Pferd an, du kannst sie nach Hause fahren.« – »Nicht allein, ich denk nicht dran«, murmelte Andreas in seinen Bart. »Und«, fuhr der Pfarrer fort, »lasst euch das eine Lehre sein…« Er redete und redete, und die Kinder hörten ergeben zu.
Sie wurden alle in das Arbeitszimmer des Pfarrers geführt, und dann kam die Frau des Pfarrers angestürzt. »Oh, William, bist du heil und gesund?«, rief sie. Robert beeilte sich, ihre Ängste zu vertreiben. »Ja«, antwortete er, »er ist noch heil und gesund. Wir haben ihm nichts getan. Und bitte, wir sind so schrecklich spät dran, zu Hause wird man schon in großer Aufregung sein. Könnten Sie uns wohl in Ihrem Wagen nach Hause fahren lassen?« Edith Nesbit
Der Sandelf
Nur der Wildhüter hörte nicht zu. Er musterte den unglücklichen Cyril. Er kannte sich gut mit Wilderern aus, und deshalb wusste er auch, wie Leute aussehen, die etwas zu verstecken haben. Der Pfarrer sprach gerade davon, dass 27
Kinder«, sagte der Pfarrer, »dann wollen wir nicht mehr darüber sprechen. Erklärt mir nur noch, warum ihr so einen sonderbaren Brief geschrieben habt.« – »Ich weiß nicht«, sagte Cyril. »Sehen Sie, Anthea hat das alles nur ganz schnell aufgeschrieben.«
Kinder für ihre Eltern ein Segen sein sollten und dass sie ihnen weder Kummer noch Schande bereiten dürften, da platzte der Wildhüter heraus: »Fragen Sie ihn mal, was er unter seiner Jacke hat!«
Da wusste Cyril, dass die Geheimnistuerei ein Ende hatte. Er stand auf, reckte seine Schultern und versuchte, so edel, tapfer und aufrecht wie die Helden in seinen Kinderbüchern auszusehen. Dann zog er die Siphonflasche heraus und sagte: »Na ja, hier ist sie.«
»Nichts mehr davon!«, rief die Pfarrersfrau. »Aber das nächste Mal denkt lieber vorher über die möglichen Folgen nach, ehe ihr anderen Leuten den Aufschnitt wegnehmt. So – vielleicht etwas Kuchen und Milch, bevor ihr aufbrecht?«
Schweigen breitete sich aus. Weil ihm nichts anderes übrig blieb, setzte Cyril schließlich hinzu: »Ja, wir haben sie aus Ihrer Speisekammer genommen und etwas Hühnerfleisch und Zunge und Brot. Wir waren schrecklich hungrig, aber wir haben wirklich nichts Süßes genommen. Keinen Pudding und keine Marmelade. Und wir haben eine halbe Krone als Bezahlung dagelassen. Und einen Brief haben wir auch hinterlegt. Es tut uns allen furchtbar leid. Mein Vater bezahlt sicher eine Geldbuße oder was Sie wollen. Aber bitte, lassen Sie uns nicht ins Gefängnis werfen. Mutter würde das nicht ertragen. Sie wissen doch, Sie haben es eben selbst gesagt, dass man ihnen keine Schande bereiten soll. Tun Sie uns das bitte nicht an! Weiter wollen wir ja gar nichts. Es tut uns alles schrecklich leid. So.«
Als Andreas kam und sagte, dass er angespannt habe und sich erkundigen wolle, ob er wirklich mutterseelenallein in die Falle hineinfahren müsse, die er von Anfang an genau durchschaut habe, da sah er die Geschwister gemütlich Kuchen essen und Milch trinken und über die Späße des Pfarrers lachen. Jane saß auf dem Schoß der Pfarrersfrau. Der Wildhüter kam ebenfalls herein, um sich zu verabschieden und um zu fragen, ob er mit den Kindern mitfahren könne. Da fiel Andreas ein Stein vom Herzen, denn nun hatte er doch einen Gefährten, der ihn im Notfall beschützen konnte. Er glaubte nämlich immer noch felsenfest an eine Falle. Als der Wagen das weiße Haus der Kinder zwischen der Kalkgrube und der Sandkuhle erreichte, waren die Geschwister zwar sehr müde, aber sie hatten das Gefühl, dass sie und der Wildhüter Freunde fürs Leben geworden waren. Wortlos ließ Andreas die Kinder an der schmiedeeisernen Gartenpforte aus dem Wagen klettern. »Lauft ins Haus«, sagte der Vetter der Pfarrersköchin, »ich marschiere auf Schusters Rappen heim.«
»Wie um Himmels willen seid ihr denn zum Speisekammerfenster hinaufgekommen?«, fragte die Pfarrersfrau. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Cyril mit fester Stimme. »Ist das die volle Wahrheit, die ich da von euch gehört habe?«, erkundigte sich der geistliche Herr. »Nein«, antwortete Jane plötzlich, »es ist zwar alles wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die können wir Ihnen nicht erzählen, und es hat auch gar keinen Zweck, wenn Sie uns danach fragen. O bitte, verzeihen Sie uns, und bringen Sie uns nach Hause!« Sie lief zu der Frau des Pfarrers hinüber und warf sich ihr in die Arme. Die Pfarrersfrau beruhigte sie, und der Wildhüter flüsterte dem Pfarrer hinter der Hand zu: »Die sind in Ordnung, Sir; vermutlich wollen sie einem Freund beistehen. Irgendwer hat sie dazu gebracht, und jetzt wollen sie nicht petzen. Anständige kleine Kerle.«
Andreas musste also allein fortfahren, was ihm sehr gegen den Strich ging; der Wildhüter aber, der Vetter der Pfarrersköchin, begleitete die Geschwister zur Haustür und blieb noch eine Weile da, nachdem die Kinder unter Vorwürfen und Ermahnungen ins Bett gescheucht worden waren. Denn er wollte Martha und der Köchin genau erklären, was passiert war. Und diese Erklärung muss so zufriedenstellend ausgefallen sein, dass Martha noch am nächsten Vormittag die Liebenswürdigkeit selbst war. Er tauchte später noch viele Male auf, um Martha zu besuchen und schließlich… Aber das ist eine andere Geschichte, wie Mr. Kipling immer sagt.
»Sagt mal«, fragte der Pfarrer freundlich, »wollt ihr jemanden schützen? Hat noch ein anderer mit der Sache zu tun?« – »Ja«, antwortete Anthea, wobei sie an das Psammed dachte, »aber es war nicht seine Schuld.« – »Nun gut, liebe Edith Nesbit
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Folge 10: Auf dem Kriegspfad!
Nerven. Durch die Bemerkung des Psammed wussten sie ganz genau, dass sie sich etwas Ärgeres als sonst gewünscht haben mussten, und sie verbrachten Stunden in lähmender Ungewissheit. Erst kurz vorm Mittagessen stolperte Jane über Der letzte Mohikaner, der aufgeschlagen auf dem Fußboden lag, und als Anthea das Buch aufgehoben hatte, schrie sie: »Ich hab’s!«, und setzte sich niedergeschmettert auf den Teppich.
Nach dem Abenteuer mit den Flügeln hatten sich die Kinder eigentlich nach ei-
ner ruhigen Zeit gesehnt. Natürlich vergeblich! Denn ohne zu überlegen hat Cyril beim Frühstück einen Wunsch getan, dessen Erfüllung ihn und die Geschwister in echte Gefahr bringt. Wenn Cyril nicht gerade Der letzte Mohikaner gelesen hätte, wäre der nächste Tag wohl friedlicher verlaufen. Die Geschichte geisterte noch beim Frühstück durch seinen Kopf, und als er sich die dritte Tasse Tee eingoss, sagte er träumerisch: »Ich wünschte, es gäbe in England Indianer – keine richtig großen, wisst ihr, lieber kleine, die ungefähr so groß sind wie wir, damit wir mit ihnen kämpfen könnten.«
»Oh, Jane, wie schrecklich! Er hat sich Indianer gewünscht! Cyril, beim Frühstück, weißt du noch? Er hat gesagt: ›Ich wünschte, es gäbe in England Indianer‹, und jetzt sind sie da, und wahrscheinlich ziehen sie schon durchs Land und skalpieren Leute.« – »Vielleicht bleiben sie in Nordengland«, sagte Jane beschwichtigend. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Leuten, die so weit weg waren, wirklich wehtun würde, skalpiert zu werden.
Niemand stimmte zu, und keiner maß dieser Bemerkung eine Bedeutung zu. Aber etwas später liefen sie in die Sandkuhle und wünschten sich hundert Pfund in Zwei-Schilling-Stücken mit dem Kopf der Königin Victoria drauf, um allen Irrtümern vorzubeugen. Das war der Wunsch, der ihnen als ein wirklich vernünftiger Wunsch vorgeschwebt hatte. Und da stellten sie fest, dass es wieder passiert war. Denn das Psammed war noch sehr ärgerlich und müde und sagte nur: »Stört mich nicht immer wieder! Ihr habt euren Wunsch doch schon.«
»Nein«, widersprach Anthea. »Das Psammed hat gesagt, dass wir uns was Schönes eingebrockt hätten, und das bedeutet, dass sie hierher kommen. Stell dir vor, wenn sie nun den Kleinen skalpieren!« – »Vielleicht würde das Skalpieren bei Sonnenuntergang wieder rückgängig gemacht«, sagte Jane, aber ihre Stimme klang nicht mehr so hoffnungsvoll. »Bestimmt nicht!«, widersprach Anthea. »Die Dinge, die durch die Wünsche entstehen, vergehen nicht. Das siehst du an den fünfzehn Schilling. Jane, ich werde jetzt etwas kaputt machen, und du musst mir außerdem alles Geld geben, was du besitzt. Die Indianer kommen hierher, begreifst du das nicht? Das hat das grässliche Psammed doch ganz deutlich gesagt. Du weißt sicher schon, was ich vorhabe. Los jetzt!«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Cyril. »Erinnerst du dich vielleicht an gestern?«, fragte der Sandelf noch unwirscher. »Du hast mich darum gebeten, dass ihr euch etwas wünschen könntet, wo immer ihr auch gerade seid, und du hast dir heute früh schon etwas gewünscht. Du hast es auch bekommen.« – »Ach, wirklich?«, fragte Robert. »Was war das denn?« – »Das habt ihr vergessen?«, fragte das Psammed, das schon wieder dabei war, sich einzuscharren. »Macht nichts, ihr werdet es schon früh genug merken. Ich wünsche euch viel Vergnügen dabei. Ihr habt euch wieder etwas Schönes eingebrockt.« – »Irgendwie tun wir das immer«, bekannte Jane betrübt.
Jane begriff gar nichts. Aber sie folgte ihrer Schwester gehorsam in das Schlafzimmer der Mutter. Anthea nahm den schweren Wasserkrug vom Waschtisch. Das Keramikmuster mit Störchen und langen Gräsern, das ihn zierte, sollte Anthea nie vergessen. Sie trug den Krug ins Badezimmer und leerte ihn vorsichtig in die Badewanne aus. Dann trug sie ihn ins Schlafzimmer zurück und ließ ihn auf den Boden fallen. Ihr wisst: Wenn man aus Versehen etwas fallen lässt, dann gibt es tausend Scherben. Wenn man dagegen etwas mit Absicht hinwirft, dann verhält es sich anders. Anthea ließ den Krug dreimal fallen, aber er dachte nicht daran, kaputtzugehen. Schließlich musste sie den Stiefelknecht des Vaters nehmen und den Krug damit in Stücke schlagen. Als Nächstes brach sie ihre Spardose mit dem Feuerhaken auf. Jane verkündete
Sonderbarerweise konnte sich wirklich keiner von ihnen daran erinnern, dass sie sich an diesem Morgen schon etwas gewünscht hatten. Auf den Satz mit den Indianern hatte niemand geachtet. Es war ein sehr unruhiger Vormittag. Jeder versuchte sich krampfhaft darauf zu besinnen, was er sich gewünscht haben könnte, und weil es keinem gelang, hatten alle das Gefühl, dass in der nächsten Sekunde etwas Entsetzliches passieren müsste. Das zerrte an ihren Edith Nesbit
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natürlich, dass man das nicht dürfe, aber Anthea presste die Lippen zusammen und sagte: »Red keinen Unsinn, es geht um Leben und Tod.«
noch gehst, falls Mutter morgen nach Hause kommt. Du weißt ja, sie hat doch gesagt, dass sie vielleicht schon morgen kommt.«
Viel war ohnehin nicht in der Sparbüchse, nur sieben Schilling und vier Pence, aber die Schwestern hatten insgesamt noch vier Schilling außerdem, sodass sie alles in allem elf Schilling besaßen. Anthea knotete das Geld in einen Zipfel ihres Taschentuches. »Komm mit, Jane«, sagte sie und lief zum Bauernhof hinunter. Sie wusste, dass der Bauer am Nachmittag nach Rochester fuhr. Sie hatten nämlich verabredet, dass er sie mitnehmen sollte. Aber das war noch in jener glücklichen Zeit gewesen, als sie glaubten, vom Psammed die hundert Pfund in Zwei-Schilling-Stücken bekommen zu können. Sie hatten dem Bauern für die Fahrt zwei Schilling für jedes Kind angeboten. Jetzt erklärte ihm Anthea, dass sie nicht fahren könnten. Ob er wohl stattdessen Martha und das Baby mitnehmen würde? Er stimmte zu, aber er war nicht sehr begeistert, dass er jetzt nur eine halbe Krone statt acht Schilling bekam.
»Aber ihr fahrt doch selber in die Stadt«, unterbrach sie Martha. »Wenn wir den neuen Krug bezahlen müssen, können wir uns das nicht mehr leisten«, antwortete Anthea, »aber wenn du den Kleinen mitnimmst, können wir für dich mitbezahlen. Ach, liebste Martha, fahr doch, ich schenke dir auch diese Dose. Sieh mal, wie hübsch sie ist – echtes Silber, mit Elfenbein und Ebenholz eingelegt, wie König Salomons Tempel.« – »Ja«, sagte Martha, »nein, ich will deine Dose nicht haben, Anthea. Du möchtest doch nur das Lämmchen für heute Nachmittag los sein. Denk nur nicht, dass du mir etwas vormachen kannst.« Damit traf sie den Nagel so genau auf den Kopf, dass Anthea alles am liebsten blindlings und heftig abgestritten hätte. Martha hatte kein Recht, so viel zu wissen. Anthea hielt aber dann doch lieber den Mund. Martha knallte das Brot so wütend auf den Tisch, dass es vom Holzbrett flog. »Ich möchte die Kanne aber gern haben«, sagte Anthea mit ihrer sanftesten Stimme. »Du gehst doch, nicht wahr?«
Danach rannten die Mädchen wieder nach Hause. Anthea holte eine kleine Dose aus ihrer Eckschublade und machte sich auf die Suche nach Martha, die gerade den Tisch deckte und nicht die allerbeste Laune hatte. »Hör mal«, begann Anthea, »ich hab den Wasserkrug aus Mutters Schlafzimmer zerbrochen.« – »Typisch, immer Flausen im Kopf«, sagte Martha und stellte ein Salzfass mit energischem Schwung auf den Tisch. »Sei nicht böse, liebe Martha«, bat Anthea, »ich habe genug Geld, um einen neuen zu kaufen. Wenn du nur so lieb wärst und ihn für uns besorgtest! Deine Cousinen haben doch ein Porzellangeschäft, nicht wahr? Ich möchte so schrecklich gern, dass du heute
»Na gut, heute macht es mir nichts aus. Aber ein für alle Mal: Macht keinen Unsinn, wenn ich weg bin. Das wär’s.« – »Der Bauer fährt aber früher, als er eigentlich wollte«, sagte Anthea eifrig, »lauf lieber, und zieh dich um. Ach bitte, zieh doch den schönen roten Rock an, Martha, und nimm den Hut mit den rosa Kornblumen und den gelben Spitzenkragen. Jane deckt schon den Tisch, und ich wasche unterdessen den Kleinen und mache ihn zurecht.«
Während Anthea das widerstrebende Lamm in seine besten Sachen steckte, warf sie von Zeit zu Zeit einen Blick aus dem Fenster. Bis jetzt war noch alles in Ordnung, keine Indianer zu sehen. Als der Kleine und Martha schließlich in der üblichen Aufregung und Hetze verabschiedet waren, stieß Anthea einen tiefen Seufzer aus. »Jetzt ist er in Sicherheit«, sagte sie, warf sich zu Janes Entsetzen auf den Boden und brach in wahre Tränenströme aus. Jane konnte überhaupt nicht verstehen, wie sich eine Person erst so tapfer aufführen und dann plötzlich zusammenbrechen konnte. Es ist natürlich besser, wenn man nicht zusammenbricht, aber immerhin war Anthea so lange stark geblieben, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie hatte ihren geliebten Kleinen
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aus der Gefahrenzone gebracht; denn sie war fest davon überzeugt, dass die Rothäute in der Nähe des weißen Hauses auftauchen würden. Das Fuhrwerk des Bauern würde bestimmt nicht vor Sonnenuntergang zurück sein. So konnte sie es sich leisten, ein wenig zu weinen. Sie weinte teils aus Erleichterung, dass sie jetzt weinen durfte, und teils aus Stolz, weil sie das durchgesetzt hatte, was sie sich vorgenommen hatte. Sie weinte etwa drei Minuten lang, und Jane hielt sie betrübt umschlungen und sagte in Abständen von fünf Sekunden: »Wein doch nicht, wein doch nicht!«
fen. Aber was die Rothäute angeht – du weißt doch allmählich ganz genau, dass die Wünsche fast in der selben Minute erfüllt werden. Wenn wir uns also wirklich Rothäute gewünscht hätten, so wären sie schon lange hier.«
Aber das sind sie ja vermutlich auch«, erwiderte Anthea. »Sie verbergen sich im Unterholz, das weiß doch jedes Kind. Ich finde dich wirklich ganz gemein.« – »Indianer liegen immer auf der Lauer, das stimmt doch, nicht?«, warf Jane ein, die für Frieden sorgen wollte. »Nein, das tun sie nicht«, antwortete Cyril scharf, »und ich bin nicht gemein, sondern ich sage die Wahrheit. Und ich sage dir, es war vollkommen verrückt, den Krug zu zerbrechen und die Spardose zu plündern. Ich glaube, das ist schwerer Diebstahl, und man bekommt…«
Schließlich rieb sich Anthea die Augen so energisch mit dem Schürzenzipfel, dass sie den ganzen Tag lang rot blieben, und machte sich auf, um den Brüdern alles zu erzählen. Aber gerade in diesem Augenblick läutete die Köchin zum Essen. Daher musste sie mit ihrem Bericht noch warten, bis sich alle vom Rinderhaschee genommen hatten. Dann ging die Köchin hinaus, und Anthea berichtete. Es ist jedoch ein Fehler, wenn man eine aufregende Geschichte bei einem guten Essen zum Besten gibt. Es schien irgendetwas an dem Rinderhaschee und den Pellkartoffeln zu sein, was die Vorstellung von Rothäuten unglaubwürdig machte. Die Jungen brachen tatsächlich in Gelächter aus und nannten Anthea einen kleinen Angsthasen.
»Kannst du nicht damit aufhören?«, fragte Robert. Aber das konnte Cyril nicht. Er hatte das Gefühl, dass er verantwortlich wäre, wenn tatsächlich Indianer auftauchen sollten, deshalb wollte er nicht an sie glauben. Und gerade dieser Versuch, gegen besseres Wissen etwas abzuleugnen, macht einen besonders gereizt und ungerecht.
»Es ist völlig idiotisch«, fuhr er fort, »sich über Indianer zu unterhalten, wenn es einfach auf der Hand liegt, dass Janes Wunsch erfüllt worden ist. Schaut doch nur das schöne Wet… – oh, oha!« Er hatte sich zum Fenster umgewandt und seine Geschwister auch. Cyril erstarrte – das Wort blieb ihm im Halse stecken, und den anderen war ebenfalls nicht danach zumute, das Schweigen zu brechen. Denn dort, zwischen den roten Blättern des wilden Weins, gerade in der Fensterecke, dort kam ein Gesicht zum Vorschein, ein braunes Gesicht mit einer scharfen Nase und einem schmalen Mund und großen, klaren Augen. Es war bunt bemalt, von langen schwarzen Haaren umrahmt, und in diesem Haar steckten Federn. Den Kindern im Esszimmer blieb vor Entsetzen der Mund offen. Der Siruppudding auf ihren Tellern wurde kalt und fest. Sie waren wie gelähmt. Da zog sich das federgeschmückte Haupt plötzlich zurück, und der Zauber war gebrochen. »Da!«, stöhnte Anthea. »Ich hab’s euch doch gesagt!«
»Und außerdem«, sagte Cyril, »weiß ich genau, dass, bevor ich von den Indianern sprach, sich Jane für heute schönes Wetter gewünscht hat.« – »Nein, das stimmt nicht«, sagte Jane kurz. »Na, und wenn’s wirklich Indianer sein sollten«, fuhr Cyril fort, »Salz, bitte schön, und Senf auch, ich krieg dies durchgedrehte Fleisch sonst nicht runter – also wenn es wirklich Indianer wären, dann hätten sie die Gegend hier schon längst unsicher gemacht, das weißt du ganz genau.« – »Und warum hat das Psammy dann gesagt, dass wir uns was Schönes eingebrockt hätten?«, erkundigte sich Anthea. Sie war sehr aufgebracht. Sie wusste genau, dass sie mit Geschick und Edelmut gehandelt hatte, und danach trifft es einen hart, wenn man als Angsthase bezeichnet wird. In dem Schweigen, das sich jetzt zwischen den Geschwistern ausbreitete, räumte die Köchin die Essteller fort und brachte den Siruppudding herein. Sobald sie sich wieder zurückgezogen hatte, begann Cyril noch einmal.
Der Siruppudding war nun wirklich ungenießbar geworden.
»Ich will damit natürlich nicht gesagt haben, dass es nicht ein guter Einfall war, uns Martha und das Lamm für den Nachmittag aus dem Weg zu schafEdith Nesbit
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Folge 11: Indianer! In England!
Nach gründlicher Erkundung waren sie davon überzeugt, dass sich keine Indianer im Hühnerhof herumtrieben. Robert brach auf. Fünf Minuten später war
Das weiße Ferienhaus wird belagert, und Cyril, Anthea, Robert und Jane versuchen, so indianisch auszusehen wie möglich. Indianermäßigen Mut brauchen sie auch …
er wieder da, blass, aber mit vielen Federn. »Passt mal auf«, sagte er, »die Lage ist verdammt ernst. Ich habe die Federn abgeschnitten, und als ich mich umdrehte, um wieder rauszugehen, da linste mich ein Indianer aus dem alten Hühnerkorb heraus an. Ich hab nur schnell die Federn genommen, dann gab ich ein Indianergeheul von mir und war weg, ehe er unter dem Korb hervorkriechen konnte. Anthea, hol die bunten Wolldecken aus unseren Betten, ja?«
Dort, zwischen den roten Blättern des wilden Weins, in der Fensterecke, dort kam ein Gesicht zum Vorschein, ein braunes Gesicht mit einer scharfen Nase und einem schmalen Mund und großen klaren Augen. Es war bunt bemalt, von langem schwarzem Haar umrahmt, und in diesem Haar steckten Federn. Den Kindern im Esszimmer blieb vor Entsetzen der Mund offen. Der Siruppudding auf ihren Tellern wurde kalt und fest. Sie waren wie gelähmt. Da zog sich das federgeschmückte Haupt plötzlich vorsichtig zurück, und der Zauber war gebrochen. »Da!«, stöhnte Anthea. »Ich hab’s euch doch gesagt!« Der Siruppudding war nun wirklich ungenießbar geworden. Sie wickelten ihre Portionen hastig in Zeitungspapier ein und versteckten sie in dem großen Eisenkorb, in dem Anmachpapier für den Kamin gesammelt wurde. Dann stürzten sie nach oben, um Kriegsrat zu halten.
Mit Wolldecken, Federn und bunten Halstüchern kann man sich ziemlich leicht als Indianer verkleiden. Leider hatte keines der Geschwister lange schwarze Haare, aber es war noch eine Menge schwarzes Papier übrig, das sie gekauft hatten, um die Schulbücher darin einzuschlagen. Sie schnitten es zu lauter dünnen Streifen und banden es sich mit goldgelben Bändern von den Sonntagskleidern der Mädchen um den Kopf.
»Aber unsere Gesichter haben nicht die richtige Farbe«, wandte Anthea ein. »Wir sind alle viel zu blass, und Cyril sieht geradezu wachsbleich aus.« – »Tu ich überhaupt nicht«, sagte Cyril. »Die echten Indianer draußen sehen bräunlich aus«, warf Robert hastig ein, »aber ich finde, wir sollten richtig rot aussehen: Wenn man eine Rothaut ist, dann muss man auch rote Haut haben.« Die Farbe, mit der die Köchin die Backsteine in der Küche wieder schön rot machte, war das Roteste, was es im ganzen Haus gab. Die Geschwister verrührten das Farbpulver in einer Untertasse mit etwas Milch. Dann bemalten sie sich sorgfältig die Gesichter und die Hände, bis sie so rot waren, wie es sich für eine Rothaut gehört. Es wurde ihnen gleich bewiesen, wie fürchterlich sie aussahen, denn im Flur kam ihnen die Köchin entgegen und stieß bei ihrem Anblick einen schrillen Schrei aus. Dieser Test befriedigte die Kinder ungemein. Sie flüsterten ihr hastig zu, sie solle sich nicht anstellen, es sei doch nur ein Spiel, und dann stürzten die vier wolldeckenumwickelten, gefiederten Rothäute los.
»Waffenstillstand!«, sagte Cyril mit einer ritterlichen Geste, sobald sie das Schlafzimmer der Mutter erreicht hatten. »Anthea, tut mir leid, dass ich so ein Hornochse war.« – »Schon gut«, antwortete Anthea. Vom Fenster aus konnten sie keine weiteren Spuren von Indianern entdecken. »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Robert. »Mir ist nur eines eingefallen«, antwortete Anthea, die von allen als Heldin des Tages betrachtet wurde, »und zwar dies: Wir sollten uns so indianisch anziehen, wie es geht, und dann aus dem Fenster schauen oder sogar aus dem Haus gehen. Dann denken sie vielleicht, dass wir mächtige Häuptlinge eines großen Nachbarstammes sind, und … und dann tun sie uns vielleicht nichts, weil sie Angst vor der Rache unseres Stammes haben.« »Aber was geschieht mit der Köchin?«, fragte Jane.
»Hast du das wieder vergessen? Sie können doch nichts merken«, sagte Robert. »Ich glaube, Anthea hat recht«, meinte Cyril, »aber wir werden schrecklich viele Federn brauchen.« – »Ich laufe schnell in den Hühnerstall hinunter«, schlug Robert vor. »Einer von den Truthähnen ist auch im Stall. Ich könnte ihm die Federn abschneiden. Hol mir doch mal meine Ausschneideschere.« Edith Nesbit
Entlang der Hecke, die den wildwachsenden Garten von den Beeten trennte, war eine Reihe von dunklen Häuptern zu sehen, alle in prachtvollem Federschmuck. »Es ist unsere einzige Chance«, flüsterte Anthea, »und es ist auf jeden Fall besser, als ihre blutrünstige Attacke abzuwarten. Wir müssen wie wild angeben. Also los. Jippii!« Mit einem vierfachen Kriegsgeheul stürmten Der Sandelf
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»Wer aber bist du, erhabene Rothaut?«, fragte der Goldene Adler plötzlich Robert, der so verdutzt war, dass er nur antworten konnte, er sei Bob, der Hauptmann der Berittenen Kap-Polizei. »Und jetzt«, fuhr der Schwarze Panther fort, »jetzt brauchen wir nur zu pfeifen, dann werden unsere Krieger auftauchen, die eurer kleinen Streitmacht zahlenmäßig bei Weitem überlegen sind. Widerstand ist also zwecklos. Kehrt deshalb heim in euer Land, o Brüder, raucht die Friedenspfeife in euren Wampums mit euren Squaws und euren Medizinmännern, kleidet euch in eure schönsten Wigwams und verzehrt dazu die saftigen Mokassins.«
sie durch die Pforte und stellten sich in kriegerischer Haltung vor der Reihe der Indianer auf. Diese waren fast alle gleich groß, genauso groß wie Cyril.
»Ich hoffe nur, dass sie unsere Sprache sprechen«, murmelte Cyril. Anthea war davon überzeugt. Sie hatte ein weißes Handtuch an einen Spazierstock gebunden. Das sollte eine Unterhändlerfahne darstellen, und sie schwenkte sie in der Hoffnung, dass die Indianer dies begriffen. Offensichtlich war das der Fall, denn ein Indianer, der brauner als die anderen war, trat einen Schritt vor.
Ihr wollt eine Versammlung?«, fragte er in fließendem Englisch. »Ich bin Goldener Adler, ich gehöre zum mächtigen Stamm der Felsbewohner.« – »Und ich«, antwortete Anthea geistesgegenwärtig, »ich bin der Schwarze Panther, der Häuptling des … des … des Mazawattee-Stammes. Meine Brüder, die Mazawattees, liegen hinter dem Kamm des jenseitigen Hügels auf der Lauer.« – »Und was sind dies hier für mächtige Krieger?«, fragte Goldener Adler, wobei er sich den anderen zuwandte. Cyril sagte, dass er der Häuptling Rotfuß sei, vom Kichernden Kongostamm, und als er sah, dass Jane an ihrem Daumen herumsaugte, weil ihr offensichtlich kein Name für sich selbst einfiel, setzte er hinzu: »Dies ist der große Krieger Wilde Katze, Pussy Ferox, wie wir sie in diesem Lande nennen, der Häuptling des gewaltigen Shikisee-Stammes.«
»Du hast alles verwechselt«, murmelte Cyril wütend. Aber der Goldene Adler schaute Anthea nur abwartend an. »Deine Sitten sind anders als die unsren, Schwarzer Panther«, antwortete er, »bring deinen Stamm herbei, damit wir mit ihnen eine festliche Versammlung halten können«
»Wir werden sie schon herbeiholen«, drohte Anthea, »mit ihren Pfeilen und Bogen und Tomahawks und Skalpiermessern und mit allem, was ihr euch nur vorstellen könnt, wenn ihr jetzt nicht auf der Stelle von hier verschwindet.« Sie hatte zwar tapfer und energisch gesprochen, die Herzen der Geschwister schlugen aber trotzdem wie wild, und sie atmeten keuchend und aufgeregt. Denn die kleinen echten Rothäute schlossen einen Kreis um sie und rückten ihnen mit grimmigem Murmeln immer näher, sodass sie sich plötzlich von lauter dunklen, drohenden Gesichtern umringt sahen.
»Es hat keinen Zweck«, flüsterte Robert, »ich hab‘s von Anfang an gewusst. Wir müssen uns zum Psammed retten. Es kann uns vielleicht helfen. Und wenn nicht – na ja, bei Sonnenuntergang werden wir wahrscheinlich wieder lebendig werden. Ich möchte nur wissen, ob das Skalpieren wirklich so wehtut, wie sie immer sagen.« – »Ich schwenke jetzt wieder die Fahne«, kündigte Anthea an. »Wenn sie zurückweichen, rennt los!«
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Sie schwenkte das Handtuch, und der Häuptling befahl seinen Kriegern, zurückzutreten. Da machten die vier Geschwister einen Ausfall an der Stelle, wo die Reihe der Indianer am dünnsten war. Sie rissen im ersten Ansturm ein halbes Dutzend Indianer um und sprangen über ihre mit Decken umhüllten Körper. Dann liefen sie in die Sandkuhle. Diesmal hatten sie keine Zeit, den sicheren Karrenweg zu nehmen, sie sprangen einfach über den steilen Rand und hüpften und rutschten und stolperten und stürzten durch die gelben und
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und lachten. »Ihre Skalpe sind in unserer Hand«, sang der Häuptling, »und sie saßen ihnen nur lose auf den Unglücksschädeln! Sie glitten glatt in die Hände der Sieger – ohne Kampf, ohne Widerstand, eine leichte Beute für die siegreichen Felsbewohner! Ah, was ist ein Skalp denn wert, der sich so leicht gewinnen lässt!«
blassblauen Blumen und das verwelkte Gras, an den Nestausgängen der Schwalben vorbei, und ließen sich das letzte Stück einfach rollen.
Der Goldene Adler und seine Stammesgenossen holten sie gerade an der Stelle ein, wo sie am Morgen das Psammed gesehen hatten. »Ihr habt uns angelogen, Schwarzer Panther von den Mazawattees, und auch du, Großer Häuptling Rotfuß, auch ihr, Pussy Ferox und Bob von der Berittenen Kap-Polizei. Nicht mit Worten habt ihr uns belogen, sondern durch euer Schweigen. Ihr habt uns unter dem Schutz der Friedensfahne der Bleichgesichter belogen. Es ist niemand von eurem Stamm in der Nähe. Sie sind fort, weit fort und jagen den Hirsch und das Reh. Zu was wollen wir sie verurteilen?«, schloss er.
Gleich holen sie sich unsere echten Haare, das wirst du schon sehen«, sagte Robert, indem er etwas von der roten Farbe auf Gesicht und Händen abzuwischen versuchte. »Um unsere gerechte und glühende Rache sind wir betrogen worden«, ging der Kriegsgesang weiter. »Oh, das fremde, widernatürliche Land, wo es kein Holz zu finden gibt, das man braucht, um seine Feinde zu rösten! Oh, ihr endlosen Wälder unserer Heimat, wo sich ein Baum an den anderen reiht, Holz genug, um alle Feinde zu verbrennen! Ach, wären wir doch wieder in den Wäldern unserer Heimat!«
»Lasst uns ein Feuer entfachen!«, riefen die Indianer, und schon meldete sich ein Dutzend von ihnen freiwillig, um Holz zu suchen. »Heißt das, dass ihr uns zuerst skalpieren und danach braten wollt?«, erkundigte sich Anthea entsetzt. »Natürlich!«, Die Rothaut warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »So wird es immer gemacht.« Die Indianer schlossen einen Kreis um die Kinder und setzten sich in den Sand. Diejenigen von ihnen, die zum Holzsuchen ausgeschwärmt waren, kamen allmählich wieder zurück, aber mit leeren Händen. Sie hatten kein Holz gefunden, womit sie einen Feuerstoß hätten errichten können. Das ist in jener baumlosen Gegend von Kent kein Wunder. Die Kinder stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, der sich jedoch nur zu bald in ein Schreckensstöhnen umwandelte. Denn jetzt blitzten blanke Messer um sie herum auf, und im nächsten Augenblick wurde jedes Kind von einem Indianer gepackt. Die Gefangenen kniffen die Augen zu und warteten auf den scharfen Schmerz des Messerschnitts. Er blieb jedoch aus.
Mit einem Mal blendete die Kinder nur noch hell wie ein Blitz der gelbe Sand. Bei den letzten Worten ihres Häuptlings waren alle Indianer verschwunden. Das Psammed musste die ganze Zeit in der Nähe gewesen sein, und es hatte dem Indianerhäuptling seinen Wunsch erfüllt.
Martha brachte einen Krug mit einem Muster aus Störchen und Schilfgräsern heim. »O Martha, du bist ein Schatz!«, seufzte Anthea und schlang die Arme um sie. »Ja«, kicherte Martha, »genießt das mal, solange ihr mich noch habt. Sobald eure Mutter da ist, werde ich ihr sagen, dass ich gehen will.« – »Aber Martha, sind wir denn so schlimm zu dir gewesen?«, fragte Anthea entsetzt. »Ach, das ist es doch nicht, Anthea.« Martha kicherte immer heftiger. »Ich werd mich verheiraten. Es ist Bill, der Wildhüter. Seit ihr neulich mit ihm vom Pfarrer nach Hause kamt, hat er mir einen Heiratsantrag nach dem anderen gemacht, und heute hab ich ihm mein Jawort gegeben.«
Einen Moment später wurden sie freigelassen und sanken erschöpft zu Boden. Ihr Kopf tat überhaupt nicht weh, er fühlte sich nur überraschend kühl an. Wilde Kriegsschreie gellten in ihren Ohren, und als sie die Augen aufzuschlagen wagten, da sahen sie vier ihrer Feinde mit wilden Sprüngen und Schreien um sie herumtanzen, und jeder der vier schwenkte einen Schopf langes schwarzes Haar in der erhobenen Faust. Sie fuhren mit den Händen zum Kopf – ihre eigenen Haarschöpfe waren an Ort und Stelle! Die Indianer hatten die Kinder tatsächlich skalpiert, aber sie hatten sie nur ihrer schwarzen Papierlocken beraubt. Die Geschwister fielen einander in die Arme und schluchzten Edith Nesbit
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Folge 12: Der letzte Wunsch
»Es ist ein wahres Wunder, dass wir noch heil und gesund frühstücken können«, sagte sie düster. »Wieso? Was ist denn passiert?«, fragten alle durcheinander. »Oh, nichts«, antwortete Martha, »man muss nur offensichtlich heutzutage schon froh sein, wenn man nicht in seinem Bett ermordet wird.« – »Wieso?«, erkundigte sich Jane, der es kalt den Rücken herunterlief. »Ist jemand in seinem Bett ermordet worden?« – »Das nicht direkt«, antwortete Martha, »aber es hätte leicht geschehen können. Drüben im Schloss haben sie eingebrochen. Bill hat es mir gerade erzählt. Sie haben den ganzen Schmuck von Lady Chittenden mitgehen lassen, alle Diamanten und Juwelen, und was sie sonst noch hat. Und sie fällt von einer Ohnmacht in die andere, zwischendurch hat sie nur immer gerade genug Zeit, um ›Ach, meine Diamanten!‹ zu jammern. Und Lord Chittenden ist ausgerechnet jetzt nicht da. Er ist nach London gefahren.«
Diesmal haben sich Cyril, Anthea, Robert und Jane wirklich ganz genau überlegt, was sie haben wollen: ein Pony für jedes Kind! Doch wieder kommt alles anders – und schlimmer, als sie dachten… Am nächsten Tag hatten die Geschwister die verlockendsten Einfälle. Wäh-
rend es ihnen in den vergangenen Wochen schwergefallen war, auf einen vernünftigen Wunsch zu kommen, steckten sie jetzt auf einmal voll von prächtigen Ideen. »So ist es immer«, stellte Jane später fest. Sie waren an diesem Morgen früh aufgestanden und besprachen ihre Pläne im Garten vor dem Frühstück. Das alte Verlangen nach hundert Pfund in moderner Währung stand immer noch an erster Stelle, aber es gab inzwischen noch andere Wünsche, die es fast verdrängten. Der beliebteste: ein Pony für jedes Kind. Dieser Wunsch schien viele Vorteile zu haben. Man konnte sich morgens das Pony wünschen, den ganzen Tag darauf reiten, ließ es bei Sonnenuntergang verschwinden und wünschte es sich am nächsten Morgen wieder. Das war wegen Stall und Futter überaus praktisch.
»Lady Chittenden«, murmelte Anthea, »die haben wir doch neulich gesehen. Sie trug ein rotweißes Kleid. Eigene Kinder hat sie nicht, und anderer Leute Kinder kann sie nicht ausstehen.« – »Ja, das ist sie«, sagte Martha, »und deshalb versucht sie sich mit Geld und Reichtümern zu trösten, und da kann man mal sehen, wie weit man damit kommt. Es heißt, dass die Diamanten und der andere Kram Tausende und Abertausende von Pfund wert sind. Ein Halsband war dabei, und eine Tia… Tia… na, wie das heißt, und so viele Armbänder, dass man sie nicht zählen konnte. Aber jetzt steh ich herum und schwatze, und dabei muss ich doch alles saubermachen, ehe eure Mutter kommt.«
Aber beim Frühstück ereignete sich zweierlei. Zunächst kam ein Brief von Mutter. Es ging der Großmutter besser, und Mutter und Vater hofften, noch am selben Nachmittag nach Hause zu kommen. Die Geschwister brachen in Jubelschreie aus und verwarfen dieser Nachricht wegen alle Pläne, die sie vor dem Frühstück geschmiedet hatten. Denn jetzt war ja sonnenklar, dass sich der Wunsch des Tages auf etwas beziehen musste, was der Mutter und nicht ihnen Vergnügen bereitete. »Wenn ich nur wüsste, was sie wirklich gern möchte«, überlegte Cyril. »Dass wir brav sind«, sagte die artige Jane. »Ja, aber das ist für uns so grässlich langweilig«, sagte Cyril, »und außerdem sollte man annehmen, dass wir das auch ohne die Hilfe des Psammed fertigbringen.«
»Ich weiß gar nicht, warum die so viele Diamanten haben soll«, bemerkte Anthea, nachdem Martha hinausgerauscht war. »Ich finde, sie war eine ziemlich unangenehme Dame. Mutter hat überhaupt keine Diamanten, eigentlich noch nicht mal Schmuck. Die Topaskette und der Saphirring, den Vati ihr zur Hochzeit geschenkt hat, und der Granatstern und die kleine Perlenbrosche mit Urgroßpapas Locke drin, das ist alles.«
»Denkt an gestern«, sagte Anthea warnend. »Vergesst nicht, dass sich unsere Wünsche jetzt immer schon dann erfüllen, wenn wir ›ich wünschte‹ sagen. Wir wollen nicht wieder in irgendeine Dummheit schlittern, ausgerechnet heute nicht.« – »Gut, gut«, antwortete Cyril, »du brauchst mir das aber nicht immer wieder unter die Nase zu reiben.« Da tauchte Martha gerade mit einem Krug voll heißem Wasser für den Tee auf und schaute die Kinder bedeutungsvoll an. Edith Nesbit
»Wenn ich groß bin, dann kauf ich Mutter ganze Haufen Diamanten«, verkündete Robert. »Jedenfalls, wenn sie welche haben will. Dann bin ich Forscher in Afrika, und damit verdiene ich so viel Geld, dass ich sowieso nicht weiß, was ich damit anfangen soll.« – »Wär das nicht schön«, sagte Jane träumerisch, »wenn Mutter all diese herrlichen Sachen hier vorfinden könnte, die Halsbänder und Diamantenanhänger und Tias?« – »Das heißt Tiara«, korriDer Sandelf
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gierte Cyril. »Na meinetwegen, Tiaras. Stellt euch vor, die und alles andere Geschmeide von dieser Lady, das wartete hier im Zimmer auf Mutter, wenn sie nach Hause käme! Ach, ich wünschte, das wäre alles für sie da.«
eine Hehlerin, und du weißt ganz genau, dass das noch schlimmer ist.« Sie durchsuchten die Sandkuhle noch einmal ganz gründlich, aber das Psammed blieb unauffindbar. Die Geschwister zogen langsam und niedergeschlagen wieder nach Hause.
Die Geschwister starrten sie entsetzt an. »Und ob es da sein wird«, sagte Robert. »Du hast es dir eben gewünscht, meine beste Jane, und jetzt können wir nur hoffen, dass wir das Psammed finden; und wenn es zufällig einmal gute Laune haben sollte, dann besteht die schwache Hoffnung, dass es den Wunsch umtauscht. Wenn nicht, na, der Himmel mag wissen, was uns dann erwartet. Die Polizei auf alle Fälle und… So heul doch nicht, du Dummkopf! Wir lassen dich nicht im Stich. Vater sagt immer, man hat nichts zu fürchten, wenn man nichts Böses tut und bei der Wahrheit bleibt.« Cyril und Anthea schauten sich bei diesen Worten trübselig an. Sie erinnerten sich nur zu gut daran, wie wenig überzeugend die Wahrheit über das Psammed damals auf die Polizei gewirkt hatte.
Mir ist das egal«, sagte Anthea tapfer. »Wir erzählen Mutter eben, wie das Ganze gekommen ist, und wenn sie die Juwelen dann einfach wieder zurückgibt, ist alles in Ordnung.« – »Bildest du dir das wirklich ein?«, fragte Cyril. »Meinst du, dass sie uns glauben wird? Kann denn überhaupt jemand an ein Psammed glauben, wenn er es nicht gesehen hat? Sie wird denken, dass wir uns das alles nur eingebildet haben. Nein, es hat keinen Sinn, Mutter etwas davon zu sagen.«
»Aber es ist doch wahr«, widersprach Jane. »Natürlich ist es wahr, aber wenn es Erwachsene glauben sollen, dann ist es eben nicht wahr genug«, sagte Anthea. »Cyril hat recht. So, und jetzt stellen wir Blumen in alle Vasen und denken nicht mehr an die Diamanten. Schließlich hat alles ja auch sonst ein gutes Ende gefunden.« Sie pflückten also Astern und Zinnien und die späten Rosen von der Mauer im Hof und füllten alle Vasen damit, bis das ganze Haus wie eine Blumenlaube aussah.
Es war ein richtiger Pechtag. Sie konnten das Psammed natürlich nicht aufstöbern. Und den Schmuck fanden sie auch nicht, sooft sie das Zimmer ihrer Mutter auch von oben bis unten durchsuchten. »Das ist ja ganz klar«, sagte Robert, »nicht wir sollen das Geschmeide finden, sondern Mutter wird diejenige sein, die es sieht. Vielleicht denkt sie, das Zeugs hat hier immer schon gelegen, und kommt gar nicht auf die Idee, dass es in Wirklichkeit gestohlene Sachen sind.« – »Großartig«, fuhr ihm Cyril über den Mund, »dann ist Mutter
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Und fast unmittelbar nachdem das Mittagessen abgeräumt worden war, traf Mutter ein und wurde von acht liebevollen Armen umschlungen. Es fiel den Kindern schwer, nicht sofort vom Psammed zu erzählen, denn sie hatten die Angewohnheit, ihr immer alles brühwarm zu berichten. Aber sie schafften es diesmal, den Mund zu halten. Mutter war über die Blumenpracht im Haus ganz entzückt, und jetzt, da sie wieder daheim war, schien den Geschwistern alles so normal und friedlich zu sein, dass sie schließlich dachten, sie hätten vom Psammed nur geträumt.
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Als Mutter aber auf die Treppe zuging, um sich oben in ihrem Schlafzimmer etwas frisch zu machen, da umklammerten sie acht Arme mit verzweifelter Heftigkeit. »Geh nicht hinauf, Herzensmami«, sagte Anthea. »Lass mich doch deine Sachen hinaufbringen.« – »Das kann ich auch machen«, bot sich Cyril an. »Du musst unbedingt gleich mit hinauskommen und die Rosenhecke anschauen«, rief Robert dazwischen. »Ach, bleib unten!«, flehte Jane hilflos. »Was für ein Unsinn«, antwortete Mutter. »Ich bin doch keine alte Frau, die ihre Garderobe nicht selber wegpacken kann. Außerdem muss ich mir die Hände waschen. 36
Folge 13: Ende gut, alles gut!
Sie sind schwarz.« Mit diesen Worten lief sie hinauf, und die Geschwister warfen einander unheilverkündende Blicke zu. Mutter setzte ihre Reisekappe ab, eine bildhübsche Kappe, die mit weißen Rosen geschmückt war. Danach ging sie zum Ankleidetisch hinüber, um sich die Haare zu richten. Auf dem Tisch lag ein grünes Lederetui zwischen den Nadelkissen und der Ringschale. Mutter machte es überrascht auf. »Oh, wie entzückend!«, rief sie aus. Es war ein Ring mit einer großen Perle, die von funkelnden Diamanten umgeben war. »Woher kommt das denn?«, fragte Mutter und steckte den Ring an den Finger. Er passte wie angegossen. »Wie ist er hierhergekommen?«
Der Sandelf hat es endgültig satt, Wünsche zu erfüllen. Aber Cyril, Anthea, Robert und Jane brauchen ein letztes Mal seine Hilfe – anders können sie sich nicht aus dem Schlamassel befreien, in das sie sich hineingewünscht haben. Zeit für einen Handel… Es wäre doch viel sicherer gewesen, wenn sie damit sofort geflohen wären?« – »Ja, aber nimm mal an«, sagte Cyril, »dass sie lieber auf den Sonnenuntergang, äh, ich meine: auf die Nacht warten wollten, bevor sie sich davonmachten. Außer uns hat ja niemand gewusst, dass du heute zurückkommst.« – »Ich muss sofort die Polizei holen«, sagte Mutter etwas abwesend. »Ach, ich wünschte, Vater wäre hier!« – »Wäre es nicht besser, auf ihn zu warten?«, fragte Robert, der genau wusste, dass sein Vater nicht vor Sonnenuntergang kommen würde. »Nein, nein, ich kann keine Minute länger warten! Dies alles hier bedrückt mich zu sehr«, rief Mutter. »Dies alles hier« war ein Stapel von Schmucketuis auf dem Bett. Sie räumten sämtliche Etuis in den Schrank, und Mutter schloss ihn zu. Dann rief sie nach Martha.
»Das wissen wir nicht«, antworteten alle Kinder wahrheitsgemäß und wie aus einem Munde. »Vater muss Martha beauftragt haben, ihn hierherzulegen«, vermutete Mutter. »Ich werde sie gleich fragen.« – »Lass ihn mich doch anschauen«, bat Anthea, die genau wusste, dass Martha den Ring nicht sehen konnte. Und als Martha gefragt wurde, stritt sie natürlich ebenso wie die Köchin ab, dass sie den Ring dorthin gelegt hatte.
Mutter ging ins Schlafzimmer zurück und war sehr aufgeregt und erfreut wegen des Ringes. Als sie jedoch die Schublade des Ankleidetisches aufzog und darin ein langes Etui entdeckte, das ein unschätzbar wertvolles Diamanthalsband enthielt, da stieg ihre Aufregung zwar noch, aber dafür verschwand die Freude. Dann entdeckte sie im Schrank eine Tiara und verschiedene Broschen, und im Laufe der nächsten halben Stunde tauchte das übrige Geschmeide an den verschiedensten Stellen des Raumes auf. Die Geschwister schauten immer verlegener drein, und schließlich begann Jane zu schluchzen.
Mutter schaute sie mit großem Ernst an. »Jane«, sagte sie, »ich bin davon überzeugt, dass du irgendetwas hierüber weißt. Denk jetzt bitte nach, ehe du den Mund aufmachst, und sag mir dann die Wahrheit.« – »Wir haben einen Elf gefunden«, antwortete Jane gehorsam. »Bitte, keinen Unsinn«, sagte ihre Mutter scharf. »Sei nicht albern, Jane«, rief Cyril rasch dazwischen. Dann fuhr er verzweifelt fort: »Wirklich, Mutter, wir haben die Sachen noch nie gesehen, aber vorige Nacht ist der Lady Chittenden im Schloss drüben der ganze Schmuck gestohlen worden. Ob er das nicht sein könnte?« Alle stießen einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie fühlten sich gerettet. »Aber wie sollten die Einbrecher den Schmuck hierhergebracht haben? Und warum hätten sie das tun sollen?«, fragte Mutter.
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»Martha«, sagte sie, »ist irgendein Fremder in meiner Abwesenheit in meinem Zimmer gewesen? Antworten Sie mir bitte ehrlich.« – »Nein, Madam«, antwortete Martha, »das heißt – also, was ich sagen wollte…« Sie verstummte. »Kommen Sie«, sagte Mutter freundlich, »ich merke schon, dass jemand hier gewesen ist. Sie müssen mir sofort alles erzählen.« Martha brach in heftiges Schluchzen aus. »Ich wollt Ihnen ja gleich Bescheid sagen, Madam, dass ich zum Ende des Monats kündige. Weil ich nämlich einen ehrenwerten jungen Mann glücklich machen will. Wildhüter ist er von Beruf, Madam. Und er heißt Bill. So wahr, wie ich hier stehe. Es ist, weil Sie so in Hetze hier aufgetaucht sind, und ich hab doch vorher kein Bescheid bekommen, und da hat er gesagt, Martha, mein Schatz, ich kann das nicht mit ansehen, wie du so schuftest, und ich soll dir nicht helfen! Das hat er gesagt. Und deshalb hat er mir beim Fensterputzen geholfen, aber nur von außen, Madam, die ganze Zeit, und ich hab drinnen geputzt.« »Sind Sie die ganze Zeit mit ihm zusammen gewesen?«, fragte Mutter. »Er draußen, ich drinnen, so war’s«, antwortete Martha. »Nur einmal hab ich einen frischen Eimer Wasser und das Ledertuch geholt.« – »Das reicht«, sagDer Sandelf
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te Mutter, »ich bin nicht entzückt darüber, Martha, aber Sie haben die Wahrheit gesagt, und das ist die Hauptsache.«
hier befinden. Nur diese abgefeimten Einbrecher, die sich versteckt haben, wissen es. Robert, du bleibst im Garten und beobachtest die Fenster. So, ich verlasse mich auf euch. Ich glaube nicht, dass sie es vor dem Einbruch der Dunkelheit versuchen werden, ihr seid also sicher. Auf Wiedersehen, Kinder.«
Nachdem Martha gegangen war, drängten sich die Geschwister um die Mutter. »Ach, liebste Mami«, rief Anthea, »Bill kann nicht daran schuld gewesen sein, ganz bestimmt nicht! Er ist schrecklich nett, und er ist ehrlich und ehrenwert und treu wie Gold. Lass ihn nicht von der Polizei verhaften, Mami!« – »Gibt es hier irgendwo einen Wagen?«, erkundigte sich Mutter aufgeregt. »Ich muss sofort nach Rochester fahren und der Polizei Bericht erstatten.« Die Geschwister brachen in Schluchzen aus und sagten: »Der Bauer hat einen Wagen, aber bitte, fahr nicht! Warte lieber, bis Vati nach Hause kommt.« Mutter beachtete die Einwände der Geschwister jedoch nicht. »Hör mal, Cyril«, sagte Mutter, »du passt hier auf. Bleib im Ankleidezimmer. Die Tür zum Treppenabsatz ist offen, die andere hab ich abgeschlossen. Lass niemanden in mein Zimmer. Denk daran, außer mir und euch weiß niemand, dass sich die Juwelen
»Sie ist ein geborener General«, sagte Cyril, »aber ich weiß wirklich nicht, was aus uns werden soll. Selbst wenn ihr Mädchen jetzt loslauft und dieses niederträchtige Psammy auftreibt und dazu bringt, das Geschmeide wieder wegzuzaubern, würde Mutter doch nur daraus schließen, dass wir nicht ordentlich aufgepasst haben, sodass die Einbrecher zurückkommen und ihre Beute mitnehmen konnten. Oder die Polizei denkt, dass wir den Schmuck genommen haben. Das ist wirklich das schlimmste Kuddelmuddel, in das wir jemals hineingeschlittert sind. Wahrhaftig!«
Robert trabte in den Garten. Anthea und Jane flüsterten unten im Flur miteinander, und aus der Küche drang Marthas Stimme. Sie schimpfte ausgiebig und unüberhörbar. »Es ist wirklich zu schrecklich«, sagte Anthea. »Und ist es denn überhaupt sicher, dass alle Schmuckstücke hier sind? Wenn nicht, dann muss die Polizei doch denken, dass Vater und Mutter das Übrige genommen haben und dass sie nur einen Teil der Wahrheit zugeben, um den Rest zu verschleiern.« Was können wir nur machen?«, fragte Jane. »Gar nichts, wir können höchstens das Psammed noch einmal suchen. Es ist heute wieder sehr heiß, vielleicht ist es herausgekrochen, um sich sein Schnurrhaar zu wärmen.« – »Heute wird es uns keinen Wunsch mehr geben«, sagte Jane niedergeschlagen. »Es wird von Mal zu Mal ärgerlicher. Ich hab das Gefühl, es hasst es, dass es Wünsche erfüllen muss.« Anthea hatte den Kopf trübselig hin und her gewiegt. Jetzt richtete sie ihn so plötzlich auf, dass es aussah, als spitze sie die Ohren. »Was ist denn?«, erkundigte sich Jane. »Ist dir etwas eingefallen?« – »Unsere einzige Chance!«, rief Anthea dramatisch. »Die letzte Hoffnung der Verlorenen! Komm mit!« Sie liefen in einem stetigen Trab zur Sandkuhle. O Freude, da saß das Psammed eingekuschelt inmitten eines golden glänzenden Sandloches und putzte sich in der glühenden Nachmittagssonne zufrieden den Schnurrbart. Als es die Mädchen erblickte, wirbelte es herum und begann sich einzuscharren. Es schien seine eigene Gesellschaft
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Pause. »Und ich wünsche«, sagte plötzlich Jane, »dass Mutter die ganze Diamantengeschichte vergisst.« – »In Ordnung«, hauchte das Psammed mit
ganz offensichtlich der ihren vorzuziehen. Aber Anthea war schneller. Sie packte es sanft, aber energisch bei den pelzigen Schultern und hielt es fest.
schwacher Stimme. »Möchtest du dich ein bisschen verschnaufen?«, erkundigte sich Anthea mitfühlend.
»Lass mich gefälligst los!«, fauchte das Psammed. Anthea hielt es jedoch fest. »Liebes, gutes Psammy«, sagte sie atemlos. »Ach ja, ich weiß schon«, sagte es, »du willst noch einen Wunsch haben. Aber ich kann es nicht mehr aushalten, den ganzen Tag zu schuften, nur damit die Leute ihre Wünsche erfüllt bekommen. Ich muss endlich einmal wieder etwas Zeit für mich selber haben.« – »Findest du es denn so schrecklich, Wünsche erfüllen zu müssen?«, erkundigte sich Anthea sanft, wobei ihre Stimme vor Aufregung zitterte.
»Ach ja, bitte«, antwortete das Psammed. »Aber ehe wir fortfahren: Würdest du etwas für mich wünschen?« – »Kannst du dir denn nicht selber Wünsche erfüllen?« – »Natürlich nicht«, antwortete es. »Man hat damals damit gerechnet, dass wir Psammeds uns gegenseitig unsere Wünsche erfüllen würden. Viel brauchten wir uns in der guten alten Steinzeit ja auch gar nicht zu wünschen. Würdest du dir also bitte für mich wünschen, dass keiner von euch jemals imstande sein wird, etwas von mir zu erzählen?« – »Warum?«, fragte Jane.
»Natürlich find ich’s widerlich«, antwortete es. »Lass mich jetzt los, oder ich beiße! Du, das ist mein Ernst!« Anthea nahm den möglichen Biss in Kauf und hielt das Psammed weiter fest. »Lass das Beißen sein«, sagte sie, »hör mir lieber richtig zu. Wenn du nur noch heute tust, was wir wollen, dann wünschen wir uns unser ganzes Leben lang nichts mehr von dir.« Das Psammed war tief gerührt. »Ich will euch einen Wunsch nach dem anderen erfüllen, solange ich es nur aushalte, wenn ihr mich dafür vom heutigen Tag an nie, nie wieder um etwas bittet. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unangenehm es mir ist, mich für die Wünsche anderer Leute aufblasen zu müssen. Und was für eine Angst ich immer habe, dass ich mir einen Muskel dabei zerre! Und dann jeden Morgen aufzuwachen und zu wissen: Heute musst du wieder ran. Du ahnst gar nicht, was das bedeutet, nein, das kannst du wirklich nicht ahnen.« Vor lauter Selbstmitleid brach ihm die Stimme, und das letzte Wort war nur noch ein Quieker.
»Warum? Kannst du dir das nicht denken? Wenn ihr den Erwachsenen davon erzählt, hab ich mein Lebtag keine Ruhe mehr. Sie würden mich erwischen, und dann würden sie sich nicht nur so einen Unfug wie ihr wünschen, sondern richtig ernsthafte Sachen. Und die Wissenschaftler würden es schon so hinkriegen, dass die Wünsche länger als bis zum Sonnenuntergang dauern, darauf kannst du Gift nehmen. Sie würden sich lauter gefährliche und langweilige Sachen wünschen. Und die würden sie auch alle bekommen und behalten, und die ganze Welt würde auf dem Kopf stehen. So wünsch doch schon! Schnell!«
Anthea wiederholte den Wunsch des Psammeds, und es blies sich auf, bis es einen so gewaltigen Umfang wie nie zuvor erreichte. »Und jetzt«, keuchte es, nachdem es wieder in sich zusammengefallen war, »kann ich noch etwas für dich tun?« – »Nur noch eine einzige Sache. Dann, glaube ich, ist alles klar. Ich wünsche, dass Martha den Diamantring vergisst und dass Mutter vergisst, dass der Wildhüter die Fenster geputzt hat.« – »So«, sagte das Psammed erschöpft, »jetzt bin ich aber erledigt. Gibt’s noch was?« – »Nein, nur vielen Dank für alles, was du für uns getan hast. Und hoffentlich kannst du jetzt gut schlafen. Aber ich hoffe auch, dass wir dich eines Tages wiedersehen.«
Anthea setzte es sachte in den Sand zurück. »Jetzt ist alles vorbei«, sagte sie tröstend. »Wir versprechen, dir nach dem heutigen Tage mit keinem Wunsch mehr zu kommen.« – »Na, dann schieß los«, sagte das Psammed, »damit wir es hinter uns bringen.« – »Wie viel kannst du noch tun?« – »Ich hab keine Ahnung. Ich muss sehen, wie lange ich’s aushalten kann.« – »Zuerst wünsche ich mir, dass Lady Chittenden zu der Überzeugung kommt, dass sie ihren Schmuck gar nicht verloren hatte.«
»Ist das ein Wunsch?«, hauchte es mit matter Stimme. »Ach, bitte, ja«, antworteten die Schwestern wie aus einem Munde. Da blies sich das Psammed zum letzten Male in dieser Geschichte auf und sackte jählings wieder zusam-
Das Psammed blies sich auf, fiel wieder zusammen und sagte: »Geschafft.« – »Ich wünsche weiterhin«, fuhr Anthea etwas langsamer fort, »dass Mutter nicht zur Polizei geht.« – »Erledigt«, sagte das Psammy nach der üblichen Edith Nesbit
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men. Es nickte ihnen zu, zwinkerte noch einmal mit den langen Schneckenaugen, scharrte sich ein und verschwand, wobei es bis zum letzten Moment wie wild kratzte, sodass der Sand über ihm zusammenrann. »Hoffentlich war das richtig«, sagte Jane. »Ganz bestimmt«, antwortete Anthea. »Komm nach Haus, wir wollen es den Jungen erzählen.«
Als sie mit ihrem Bericht zu Ende waren, kam Mutter erhitzt wieder angeeilt. Sie erzählte, dass sie nach Rochester gefahren sei, um Schulkleider für die Mädchen zu kaufen, und dass die Achse gebrochen und dass sie um ein Haar dabei aus dem Wagen gefallen sei. Sie war nicht verletzt worden, aber sie hatte zu Fuß nach Hause gehen müssen. »Ich brauche jetzt dringend eine Tasse Tee! Seht mal nach, ob das Wasser schon kocht«, sagte sie. – »Siehst du, es ist in Ordnung«, flüsterte Jane. »Sie hat alles vergessen.« – »Und Martha auch«, sagte Anthea, die sich nach dem Tee erkundigt hatte. Als Martha und die Köchin beim Tee saßen, schaute Bill, der Wildhüter, herein. Er brachte die Nachricht, dass der Schmuck von Lady Chittenden überhaupt nicht verloren gewesen war; Lord Chittenden hatte ihn mitgenommen, damit er neu gefasst und gereinigt würde, und das Kammermädchen, das Bescheid gewusst hatte, war gerade auf Urlaub. So war also auch dies in Ordnung. »Ich möchte wirklich wissen, ob wir das Psammed noch einmal sehen«, sagte Jane nachdenklich, als die Kinder später durch den Garten gingen. »Natürlich werden wir das tun«, sagte Cyril, »wenn du es dir wirklich gewünscht hast.« – »Wir haben aber versprochen, dass wir uns nie wieder etwas wünschen wollen«, sagte Anthea. »Danach habe ich auch gar kein Verlangen mehr!«, rief Robert aus tiefstem Herzen.
Die fünf Kinder haben das Psammed tatsächlich wiedergesehen, aber nicht mehr in dieser Geschichte. Und es war auch nicht in einer Sandkuhle, sondern an einem ganz anderen Ort. Aber davon will ich jetzt nichts verraten.
Sandelf-Illustration: Sabine Wilham
Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Edith Nesbit
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