Marc Tannous
Der Prediger aus der Bronx Version: v1.0
Es waren seine von den graffitiübersäten Wänden widerhallenden ...
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Marc Tannous
Der Prediger aus der Bronx Version: v1.0
Es waren seine von den graffitiübersäten Wänden widerhallenden Schritte, die den Ankömmling ver rieten. Er gab sich keine Mühe, besonders leise zu sein. Auch erweckte er nicht den Eindruck, als sei ihm daran gelegen, die finstere Gasse im finstersten Teil der Bronx so bald wie möglich hinter sich zu lassen. Er ging zügig, aber nicht so schnell wie jemand, der sich nur zufällig in diese Gegend verirrt hatte. Dennoch ließ sein Gang keinen Zweifel daran, dass er nicht hierher gehörte. Er war nicht wie jene drei, die sich unwillkürlich in die Schatten eines Müllcontainers zurückzogen, dabei mit glitzernden Blicken beobachteten, wie sein über dimensionaler Schatten über die Hauswand kroch …
Keiner von ihnen war älter als achtzehn. Jeder trug eine Baseball mütze, Lederjacke und weite Hosen. Dieses Viertel war ihr Revier. Ihr Jagdgrund … Sie beobachteten ihre Beute genau. Jenen Mann, der genau auf sie zukam. Seine Kleidung und die Art, wie er sich bewegte, bestätigten den Verdacht, dass es keiner aus dem Viertel war. Scott Tomasino ließ die Klinge seines Springmessers aufschnappen und wollte sich aus dem Schutz des Müllcontainers lösen, als ihn eine Berührung an der Schulter zurückhielt. »Warte noch!«, zischte Julio Mendoza, der hinter ihm stand und ihn um einen guten Kopf überragte. Der länger werdende Schatten des Ankömmlings kroch an dem Container vorbei wie eine sich ausbreitende Öllache. Der Hall der näher kommenden Schritte mischte sich mit dem schweren Atmen von Ray Chapwick, dem dritten Jugendlichen. Er war ein stiernackiger Bulle mit kahl rasiertem Schädel. Scott senkte den Kopf und zählte in Gedanken bis drei, bevor er sich aufrichtete und ohne jede Eile auf den schmalen Bürgersteig trat. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel und bauten sich mit verschränkten Armen hinter ihm auf. Der Fremde war noch etwa fünf Meter entfernt. Das war nicht weit genug, um noch die Flucht zu ergreifen. Zur Überraschung der drei Schläger hatte er das offenbar auch gar nicht vor. Er ging weiter, so als würde ihn die Anwesenheit der drei bewaffneten und finster aussehenden Jugendlichen nicht im Mindesten beeindrucken. Kurz bevor er Scott erreichte, wich er nach rechts aus und wollte sich an ihm vorbei schieben. Da trat ihm dieser in den Weg. Sekundenlang taxierten sich beide Männer stumm. Schließlich brach der Fremde das Schweigen. »Würden Sie mich bitte vorbei lassen?«
Scotts Lippen zogen sich in die Breite. Es handelte sich mehr um ein Zähnefletschen als ein Grinsen. »Das hier ist unsere Gasse. Wer hier durch will, muss eine kleine Abgabe leisten.« Der Mann schien in höchstem Maße verwundert. Seine Stirn zog sich in Falten. »Wofür?« Scott lachte leise auf und schüttelte den Kopf. »Wir sorgen dafür, dass hier alles sicher ist. In der Gegend treibt sich jede Menge licht scheues Gesindel herum.« Rays höhnisches Kichern begleitete seine Worte. Der Fremde trug einen weiten Mantel, hatte halblanges dunkles Haar und ein schmales, hageres Gesicht. Er schien weder irritiert, noch verängstigt. Lediglich ein Hauch von Verwunderung spiegelte sich in seinem Blick wieder. Im nächsten Moment zweifelten die Möchtegern-Schläger an ih rem Verstand. Die Züge des Fremden veränderten sich. Es sah aus, als sei sein Kopf in einem unsichtbaren Schraubstock gefangen, der beide Gesichtshälften unnachgiebig aufeinander zuschob und sie überein ander faltete. Seine Haare schoben sich von beiden Seiten wie ein Vorhang vor sein Gesicht, bis sie es zur Gänze bedeckten. Und wenn Scott geglaubt hatte, dass dieser Vorgang in seiner Merkwürdigkeit durch nichts zu übertreffen war, so wurde er kurz darauf eines Besseren belehrt. Der Kopf des Mannes begann sich um 180 Grad zu drehen! Jetzt wies der Hinterkopf des Fremden auf die drei Jugendlichen. Scott stockte der Atem, als sein Blick auf jenes ›Etwas‹ fiel, das sich durch die Verschiebung der Kopfhaut aus dem Hinterkopf des Mannes hervorgeschält hatte. Es war ein zweites Gesicht! Gesicht? Das Antlitz hatte kaum etwas Menschliches an sich. Vielmehr
handelte es sich um eine teuflische, von Geschwüren überzogenen Dämonenfratze, die ihn höhnisch angrinste. »Heilige Sch …«, wollte Scott fluchen, doch die Worte gefroren ihm auf den Lippen. Er hörte die aufgeregten Schreie seiner Freunde und wie sie mit schnellen Schritten das Weite suchten. Er selbst fühlte sich wie erstarrt. Er konnte sich nicht abwenden, vermochte nicht, herumzuwirbeln und zu fliehen. Mit bebenden Nüstern trat er zurück, bis … Hinter ihm räusperte sich jemand. Aufgeschreckt wirbelte Scott herum und starrte in die Dunkelheit hinter sich. Wenige Schritte von ihm entfernt stand ein zweiter Mann. Auch er war mit einem langen Mantel bekleidet. Sein Gesicht war nur ein tintenschwarzer Fleck. »Walker!«, zischte das janusköpfige Monster in Scotts Rücken. »Wo warst du so lange?« Der Angesprochene trat einige Schritte vor. Die Schatten flossen aus seinem markanten Gesicht. »Wieso?«, fragte er mit einem schwachen Lächeln. »Du hast die Si tuation doch bestens im Griff.«
* Jack Bakula, der Mann mit dem Januskopf, war zwar ein Dämon, dennoch war er gegen herkömmliche Waffen – wie etwa ein brutal in seinen Leib gestoßenes Springmesser – genauso wenig gefeit, wie ein normaler Mensch. Insofern war sein Vorwurf durchaus be rechtigt, wie Dan Walker zugeben musste. Dennoch hatte er es sich nicht verkneifen können, die Reaktion der
drei Halbstarken auf Bakulas Verwandlung abzuwarten. Zuweilen sitzt eben auch einem gestandenen Dämonenjäger der Schalk im Nacken. »Was seid ihr nur für Freaks?«, keuchte der Junge mit dem Spring messer, während sein Blick zwischen Walker und Bakula hin und her flog. »Ich glaube, das ging in erster Linie gegen dich«, meinte Walker. Bakula zweites Ich fletschte die nadelspitzen Zähne in einem be drohlich anmutenden Grinsen. »Dabei bin ich doch so eine Schön heit …« »Trotzdem solltest du etwas gegen dein Hautproblem unter nehmen.« Walker und Bakula kannten sich schon seit Jahren. Genauer gesagt hatte Walker seine Bekanntschaft gemacht, kurz nachdem er im Auftrag des Vatikans damit begonnen hatte, weltweit gegen Vampi re, Geister und andere Dämonen zu kämpfen. Der dämonische Privatdetektiv stammte wie Walker aus New York. Woher er seine seltene Gabe hatte, wusste er selbst nicht. Überhaupt wusste er recht wenig über sich oder seine Herkunft. Er kannte nicht einmal seine leiblichen Eltern. Bakula war in einem Waisenhaus aufgewachsen. Sein Januskopf hatte sich zum ersten Mal an seinem vierzehnten Geburtstag be merkbar gemacht. Er selbst hatte davon zunächst nichts mitbekom men. Ayleos, das seltsame Wesen mit dem er sich seinen Körper teilte, besaß eine völlig eigenständige Persönlichkeit. Wenn es die Kon trolle übernahm, schaltete sich Bakulas Identität völlig aus, wie bei einem Schizophrenie-Patienten. So hatten die Berichte über ein unheimliches Monster, das des Nachts die Flure des Waisenhauses unsicher machte, auch ihn zu nächst beunruhigt. Nachdem er schließlich herausgefunden hatte,
was es mit dem Monster auf sich hatte, war er in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Waisenhaus geflohen und hatte die darauf folgenden Jahre auf der Flucht verbracht. Später war er nach New York zurückgekehrt und hielt sich seitdem als Privatdetektiv über Wasser. Walker hatte ihn im Rahmen eines Falls kennen gelernt, auf den sie beide unabhängig voneinander angesetzt worden waren. Und seitdem waren sie die dicksten Freunde. Walker versäumte es nie ihn zu besuchen, wenn er mal zufällig in der Stadt war. Da er heute in Rom lebte, kam das relativ selten vor. Den letzten Besuch hatte er der alten Heimat vor gut drei Jahren abgestattet. Obwohl Walker stets unterwegs war, konnte er, im Gegensatz zu den Dämonen, nicht überall sein. Daher war er froh, dass es Leute wie Bakula gab, die ihn andernorts im Kampf gegen die Mächte der Finsternis unterstützten. Sein aktueller Fall hatte ihn von Mailand aus über Prag, Mexiko und zuletzt den Nordosten Kanadas in den Big Apple geführt. Hier, so hoffte er, würde er endlich das Geheimnis um jene Reliquie zu lüften, auf die er zum ersten Mal in Mailand gestoßen war. Das sagenumwobene Tablett, auf dem sich König Herodes dem Alten Testament nach den Kopf von Johannes dem Täufer hatte bringen lassen. Die Legende berichtete davon, dass die Gabe des Täufers, die Massen in seinen Bann zu ziehen, im Moment seines Todes auf das Tablett übergesprungen war. Wer es besaß, besaß gleichzeitig die Macht, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das jedenfalls befürch tete Monsignore Travelli, Prälat des Vatikan und Walkers Mentor. Tatsächlich schien irgendjemand zu versuchen, alle Teilstücke des viergeteilten Tabletts in seinen Besitz zu bringen. Nachdem Walker eines der Stücke bereits in den Händen gehalten hatte, war er von einer Horde Unsichtbarer überfallen worden, die es ihm wieder abgenommen hatten. Dieselben Unsichtbaren, mit denen er vor
wenigen Tagen in der Villa des kanadischen Milliardärs Samuel Rockford erneut konfrontiert worden war. Und obwohl ihm die Geister des unheimlichen Hauses dabei geholfen hatten, sich der Unsichtbaren zu erwehren, war es Zweien von ihnen gelungen, mit der Hälfte des Tabletts zu flüchten. Walker war kurz davor gewesen, die Reliquie für immer verloren zu geben, als er am Unterarm des dritten ›Unsichtbaren‹, der im Kampf gestorben war, ein Tattoo bemerkt hatte, das ihm bekannt vorgekommen war. Mit ziemlicher Sicherheit handelte es sich bei der stilisierten Schlange um das Zeichen einer Gang, die in der Bronx ihr Unwesen trieb. Ohne zu zögern hatte Walker den nächsten Flug nach New York genommen und gleich nach seiner Ankunft das Büro seines alten Freundes Jack Bakula aufgesucht. Dieser hatte sich sofort bereit er klärt, ihn nach Kräften zu unterstützen. Und da waren sie nun – in jenem Teil der Bronx, der des Nachts den Gangs und Herumtreibern gehörte, die nur darauf warteten, dass ihnen jemand aus dem besseren Teil der Stadt vors Messer lief. »So wie er aussieht, gehört er nicht zu den Snake-Eaters«, stellte Bakula fest, nachdem er wieder sein eigenes Gesicht aufgesetzt hatte. »Die Snakes?« Die Augen des Jungen weiteten sich, als wollten sie aus den Höhlen quellen. »Weißt du, wo wir sie finden?«, fragte Walker. Der Halbstarke schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt nicht mehr viele davon.« »Wie meist du das?«, zischte Bakula und trat näher an ihn heran. »Die meisten von ihnen sind spurlos verschwunden. Manche sagen, sie hätten die Stadt verlassen.« Walker runzelte die Stirn. »Die gesamte Gang?« »Mehr weiß ich doch selbst nicht«, heulte der Messerstecher und
stolperte in respektvollem Abstand an Bakula vorbei. »Na gut«, knurrte Walker. »Dann hau ab!« Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen. Blitzschnell drehte er sich und rannte wie ein Wahnsinniger die Gasse hinunter. »Denkst du, es war klug, den Kerl vom Haken zu lassen?«, fragte Bakula, als die Schritte des Jungen verhallten. Walker zuckte mit den Schultern. »Ihn weiter auszuquetschen hät te nicht viel gebracht. Er hat vermutlich die Wahrheit gesagt.« In Gedanken war er schon dabei, die neuen Informationen zu ver arbeiten und sie in einen Zusammenhang mit seinen jüngsten Erleb nissen zu bringen. Konnte es sein, dass eine ganze Gang freiwillig ihr Revier aufgege ben hatte, um weltweit nach dem Tablett des Johannes zu suchen? Und was verlieh ihnen die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen? Walker und Bakula hatten sich gerade in Bewegung gesetzt, als sie auf eine krächzende Stimme aufmerksam wurden. Sie erklang aus einem unbeleuchteten Hauseingang, nur wenige Schritte von ihnen entfernt. Der Wind trug den Geruch von billigem Fusel in ihre Richtung. Ganz schwach nur sah Walker die Umrisse einer in Lumpen ge kleideten Gestalt. Sie hatte sich auf den Stufen zusammengerollt, um der nächtlichen Kälte möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. »Sprichst du mit uns?«, fragte Walker, der kein Wort von dem verstanden hatte, was der Kerl da vor sich hin brabbelte. »Ihr seid auf der Suche nach den Snakes?«, fragte die Gestalt keu chend aus dem Halbdunkel. Walker und Bakula nickten synchron. »Hier werdet ihr sie nicht finden.« Die Stimme des Obdachlosen klang halb belustigt, halb höhnisch. »Du weiß etwas darüber? Was ist mit ihnen passiert?« Walker sah eine dürre, knochige Hand, die sich ihm aus dem Dun
kel entgegen schob. Seufzend griff er in den Mantel, zog seine Brieftasche hervor und zählte mehrere kleinere Scheine in die Hand des Obdachlosen. »Das muss reichen«, knurrte er dann. »Spuck aus, was du weißt! Was ist mit den Anhängern der Snake-Eaters passiert?« »Der Prediger hat sie zu sich geholt …« Walker und Bakula tauschten einen schnellen Blick. »Hör mal zu, du Mistkerl«, zischte der Privatdetektiv und ballte die Faust. »Wenn du denkst, du kannst uns …« Er verstummte, als sich Walkers Hand beschwichtigend auf seine Schulter legte. »Prediger …«, sagte der Dämonenjäger. »Ist das sein Vor- oder sein Nachname?« Der Obdachlose kicherte meckernd. Es klang als würden mehrere Erbsen hintereinander in eine Blechbüchse fallen. »Er ist nicht so, wie du denkst. Er ist anders als du und ich.« »Anders?« »Er besitzt die Macht, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Sie kommen von überall aus der Stadt, nur um ihn reden zu hören.« »Sie?« Walker kam sich allmählich vor wie ein Papagei. »Die Kinder der Straße. Die Heimatlosen, die nirgends einen Platz haben. Er holt sie zu sich, schenkt ihnen ein neues Leben. Und dann«, wieder wurden die Worte von einem Kichern unterbrochen, »holt er sich ihre Seelen!«
* Die Stimme des Alten klang noch in Walkers Worten nach, als er und Bakula bereits den stillgelegten U-Bahn-Tunnel betraten. Irgendwo hier – unterhalb der Straßen von Manhattan, so hatte
der Obdachlose behauptet – hatte der Prediger sein Domizil aufge schlagen. Walker wusste, dass es zahlreiche von der Gesellschaft Ausge stoßene gab, die vor allem in kalten Winternächten Zuflucht im Un tergrund der Stadt suchten. Bis vor einigen Jahren waren es noch Tausende gewesen, die in den Tunneln und Schächten unter den Straßen New Yorks gelebt hatten. Einige hatten sich zu regelrechten Tunnelkolonien zusammengeschlossen. Zu eigenen kleinen Gesell schaften mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Handelte es sich auch bei der Gruppe um den ominösen Prediger um eine solche Gemeinschaft? Sie kommen von überall aus der Stadt, nur um ihn reden zu hören … Nach allem was Walker seit seiner Ankunft in Erfahrung gebracht hatte, bestand kaum ein Zweifel, dass es sich bei dem Prediger um jene Person handeln musste, der die Unsichtbaren befehligte, die sich offenbar hauptsächlich aus Mitgliedern der berüchtigten SnakeEater-Gang zusammensetzten. Falls diese Vermutung tatsächlich stimmte, so hatte der Prediger mittlerweile mindestens drei der vier Tabletteile in seinen Besitz ge bracht – jenes, das dem Mailänder Vampir Luigi gehört hatte sowie die beiden aus Samuel Rockfords Besitz. Doch wer war der Kerl? Und was führte er im Schilde? Um das herauszufinden, hatten sich Walker und Bakula in Lum pen gekleidet, bevor sie den Untergrund betreten hatten. Nur wenn man auch sie für Obdachlose hielt, würde es ihnen gelingen, sich unauffällig an die Fersen des Predigers zu heften. Walkers Gedankenfluss wurde jäh unterbrochen, als Jack Bakula stehen blieb. »Hörst du das auch?«, fragte der Privatdetektiv. Walker stoppte und spitzte die Ohren.
Tatsächlich … Da war etwas. Es klang wie weit entferntes Stimmengewirr. Langsam gingen sie weiter, achteten jedoch darauf, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. »Da drüben!«, zischte Bakula plötzlich und huschte in eine schma le Einbuchtung, die jenseits der verrosteten Schienen in die Tunnel wand eingelassen war. Als Walker neben ihn trat, hatte sich der Detektiv bereits auf den Boden gekniet. Gemeinsam schauten sie in das quadratische, ungesi cherte Loch im Boden, das offenbar auf eine tiefere Ebene führte. Schwacher Lichtschein sickerte ihnen von dort unten entgegen und auch das Stimmengewirr wurde mit jeder Sekunde lauter. Es dauerte nicht lange, bis seine Verursacher auftauchten. Walker zählte ein halbes Dutzend junger Leute, die mit Taschen lampen bewaffnet unter ihnen vorbeigingen. Alle sahen aus, als hät ten sie zumindest die letzten Wochen auf der Straße genächtigt. Ihre Kleidung war schmutzig, ihre Haare strähnig und ungepflegt. Walker wartete bis das Licht ihrer Lampen zu einem schwachen Schimmer geworden war, dann deutete er auf das Loch und fragte: »Willst du zuerst, oder soll ich?« Bakula klemmte sich seine Stablampe zwischen die Zähne und stellte den Fuß auf die oberste Sprosse der Metalleiter, die unterhalb der Luke in der Tunnelwand befestigt war. »Wir sehen uns ein Stockwerk weiter unten«, sagte er und verschwand in der Tiefe. Walker wartete, bis sein Freund von der Leiter weggetreten war und folgte ihm. Als er auf dem Boden aufkam, war Bakula bereits einige Schritte weitergegangen und sah sich in dem schmalen Schacht um, der eindeutig kein stillgelegter U-Bahn-Tunnel war. Es schien sich dabei mehr um eine Art Nebengang zu handeln.
Schnell machten sie sich daran, der Gruppe der Obdachlosen zu folgen, solange sie noch deren Lichter in der Ferne sehen konnten. Es dauerte nicht lange und der Gang endete an einer provisorisch angebrachten, offenbar aus mehreren Holzkisten zusammen ge zimmerten Tür. Sie hing schief in den Angeln, dennoch war nicht zu erkennen, was sich dahinter befand. Lediglich ein schwacher Licht schein und leises Gemurmel sickerte durch den Spalt. Der Detektiv wollte gerade etwa sagen, als beide den Schatten be merkten, der plötzlich von hinten über sie fiel. Sie drehten sich abrupt um – und starrten in das Antlitz eines kahlköpfigen Hünen, der sie höhnisch angrinste. Obwohl weder Walker noch Bakula als Pygmäen durchgegangen wären, überragte der Glatzkopf beide von ihnen. Doch das war nicht das wirklich Bedrohliche an ihm. Es waren vor allem die Zähne, die ihm wie Zacken aus dem Mund ragten und ihm ein fast schon monströses Aussehen verliehen. Of fenbar hatte er sie sich anspitzen lassen … Walker, der furchtlose Dämonenjäger, kam sich einen Moment lang vor wie ein kleiner Junge, der dem Schwarzen Mann begegnete. »Wollt ihr nicht reingehen?«, fragte der Hüne mit tiefer Stimme. »Wie es aussieht, seid ihr die Letzten.« Die Letzten? Walker versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er keine Ahnung hatte, wovon der Kerl sprach. Er nickte und zog die Tür auf. Sein Blick fiel in einen kleinen Raum, in dem sich neben den sechs Jugendlichen zwei weitere Obdachlose in seinem Alter eingefunden hatten. Einige von ihnen saßen auf dem Boden, andere standen, aber alle starrten neugierig in ihre Richtung. Nachdem er und Bakula eingetreten waren, folgte ihnen der Kahl
kopf und schloss die Tür hinter sich. Er warf noch einen langen Blick in die Runde, bevor er sagte: »Ihr seid also alle gekommen, um dem Prediger zu begegnen?« Kollektives Nicken setzte ein, dem Walker und Bakula sich eifrig anschlossen. Der Dämonenjäger hatte den Verdacht, dass das erneute Grinsen des Hünen nur dazu diente, ihnen erneut seine angefeilten Zähne zu präsentieren. »Ihr werdet ihn treffen«, sagte der Kerl im nächsten Augenblick. »Aber es gibt einige Regeln, die es dabei zu beachten gilt. Regel Nummer eins: Niemand spricht, ehe der Prediger ihn dazu auf fordert. Regel Nummer zwei: Niemand nähert sich dem Prediger auf mehr als zehn Schritte. Regel Nummer drei …« Er zögerte, sah jeden einzelnen der Anwesenden nacheinander an. »Das Wort des Predigers ist Gesetz. Ihr werdet es befolgen, ohne es zu hinterfragen. Falls ihr mit einer dieser Regeln nicht einverstanden seid, steht es euch jetzt frei zu gehen.« Wieder ging ein Nicken durch die Runde, auch wenn manche der Anwesenden dabei zu Boden sahen. Walker glaubte, so etwas wie Zweifel in einigen Gesichtern zu erkennen. Dennoch nahm niemand das Angebot des Hünen an, sie alle blieben wie verwurzelt an ihren Plätzen stehen. Der Glatzkopf nickte zufrieden, dann trat er auf einen Stapel leerer Kisten zu, die an der Rückwand des Raumes aufeinander gestapelt waren. Er rückte sie zur Seite und legte damit einen weiteren Durch gang frei, der gerade groß genug war, dass ein Erwachsener ihn ge bückt passieren konnte. Er trat zur Seite und signalisierte den Anwesenden mit einer Handbewegung, hindurch zu treten. Einer der Jugendlichen, ein etwa 18-jähriger Junge mit blonden Rasta-Locken, machte nach kurzem Zögern den Anfang. Als Jack Bakula ebenfalls vortreten wollte, hielt Walker ihn mit einer Berührung an der Schulter zurück. Ihm war es lieber, die
Gruppe vom Ende der Schlange aus im Auge zu behalten. Erst als alle außer dem Hünen durch das Loch geschlüpft waren, folgte er ihnen. Dahinter wartete ein weiterer, finsterer Gang, der noch enger war als jener, durch den sie zuvor gekommen waren. Walker vermutete, dass sie sich hier auf Pfaden bewegten, die nicht einmal in den Plänen der Stadtverwaltung verzeichnet waren. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, als er daran dachte, welche Ge heimnisse der New Yorker Untergrund beherbergen mochte, von denen niemand auch nur etwas ahnte. Durch die leise Unterhaltung, die die beiden Männer vor ihm in der Reihe führten, erfuhr er, dass beide den mysteriösen Prediger nur vom Hörensagen kannten. Er schien innerhalb weniger Monate zu einer Art Legende geworden zu sein, über die man die höchstens hinter vorgehaltener Hand sprach. Den Kommentaren seines Vordermanns entnahm er, dass der seltsame Unbekannte bereits Dutzende von Anhänger um sich geschart hatte und diese für ihre Loyalität reich beschenkte. Weshalb er selbst in einer Kloake wohn te, schien keiner der beiden ernsthaft zu hinterfragen. Der Marsch führte durch ein weit verzweigtes System aus Gängen und Schächten, durch Türen und über Treppen, die mal in die Höhe, dann wieder in die Tiefe führten. Als sie nach etwa einer halben Stunde eine weitere, massivere Tür erreichten, gab der Glatzkopf den Befehl, stehen zu bleiben. Er schob sich an der Schlange vorbei bis zu ihrem Anfang, wo er einen Schlüssel aus der Tasche zog, ihn ins Schloss steckte und einmal her um drehte. Die Tür schwang auf und ein kühler, nach altem Öl und Abwasser riechender Hauch wehte den Männern und Frauen entgegen. »Seine Hoheit scheint nicht viel wert auf Gemütlichkeit zu legen«, flüsterte Walker, während er sich halb zu Bakula umdrehte. »Warte es doch erst einmal ab. Vielleicht verbirgt sich dahinter
eine Luxusappartement mit Sauna und Whirlpool.« Bakulas Hoffnung erfüllte sich nicht. Hinter der Tür befand sich lediglich eine Treppe, die weiter in die Tiefe führte und in einem kleinen leeren Raum mit einer weiteren Tür endete. »Der Prediger wird nun jeden von euch einzeln empfangen. Die anderen warten, bis sie an der Reihe sind.« Der Blonde mit den Rastas wollte protestieren, doch sein Kumpel, ein unrasierter Junge mit halblangen strähnigen Haaren, die zur Hälfte sein Gesicht verdeckten, hielt ihn zurück. »Ich sehe, wir haben einen Freiwilligen«, höhnte der Glatzkopf. Er öffnete die Tür und forderte den Blonden mit einer ausladenden Geste dazu auf, über die Schwelle zu treten. Walker stellte sich leicht auf die Zehenspitzen und versuchte, über die Köpfe der anderen hinweg einen Blick ins Innere des dahinter liegenden Raumes zu erhaschen. Doch alles was er sah, war tinten schwarze Dunkelheit. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis er an der Reihe war. Nachdem der Blonde verschwunden war, vergingen knapp fünf Minuten, dann öffnete der Glatzkopf erneut die Tür. Der Kerl mit den strähnigen Haaren protestierte. »Hey! Was ist mit Jim?« »Er wartet auf der anderen Seite«, gab der Glatzkopf zurück. »Geh nun hindurch!« Der Junge zögerte noch einen Moment, beugte sich vor, um durch die geöffnete Tür zu spähen und trat schließlich doch wie in Trance über die Schwelle. Der Vorgang wiederholte sich knapp ein Dutzend Mal, bis Walker an der Reihe war. »Wünsch mir Glück!«, zischte er Bakula noch zu, während die Tür
vor ihm aufschwang. Die Antwort des Detektivs hörte er schon nicht mehr. Mit einemmal glaubte er, eine lockende Stimme zu hören, die sich un nachgiebig in seine Gedanken drängte. Komm zu mir … Ich weiß, was du brauchst … Walker erinnerte sich an seine Begegnung mit dem Vampir Luigi in der Mailänder Kapelle. In jenem Moment hatte er denselben Lockruf vernommen, der sich auch jetzt in seinem Kopf manifes tierte. Denselben Sog, der die Kontrolle über sein Denken übernahm und ihm die Illusion von Geborgenheit vermittelte – während er mit offenen Augen in sein Verderben lief. Walker trat über die Schwelle und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss und ging vorsichtig weiter. Er konnte kaum etwas er kennen. Plötzlich stieß gegen einen weichen Widerstand und verstand endlich, weshalb er zuvor nichts als Schwärze gesehen hatte. Da war eine Art dunkles Tuch, der wenige Schritte hinter der Tür gespannt war. Komm zu mir!, lockte die Stimme weiter. Hab keine Angst! Walker fand eine Lücke in dem dunklen Vorhang. Obwohl seine Instinkte ihn warnten, schlüpfte er auf die andere Seite, blieb dort stehen und … Er stöhnte leise auf. Die Atmosphäre in dem kleinen Raum war so erdrückend, dass es ihm schwer fiel, sich aufrecht zu halten. Etwas in ihm drängte ihn, sich auf die Knie zu werfen. Eigentlich sollte er sich angesichts der Erhabenheit jener Gestalt, die da vor ihm saß, so klein und unbedeutend wie möglich machen. Noch hielt er diesem Zwang stand. Doch er spürte, wie die Fesseln, die sich um seinen Willen geschlungen hatten, gewaltsam an ihm zerrten, um ihn zum Einsturz zu bringen.
Ihm war, als würde die Zeit einen Moment lang gefrieren, als wollte sie ihm die Möglichkeit geben, den schaurigen Anblick in allen Einzelheiten in sich aufzusaugen. Da war zum einen dieses monströse Etwas, am gegenüber liegenden Ende des Raumes – ein aus unzähligen blanken Knochen zusammengesetzter Thron, dessen gewaltige Lehne bis zur Decke reichte. Es waren keine menschliche Knochen, so viel konnte Walker er kennen. Dazu waren sie viel zu klein, viel zu dünn. Vielmehr schien es sich dabei um die Gebeine kleinerer Säugetiere zu handeln. Und als Walker sich umschaute, kam ihm auch schon eine Idee, welche Spezies für den Bau des Thrones hatte herhalten müssen. Sie waren überall! Auf den Rücken- und Armlehnen des Throns, auf dem Boden da vor. Ja sogar auf dem Kopf und den Armen jener Kreatur, die in dem Thron saß, hatten sich einige von ihnen niedergelassen. Ratten! Es waren gut zwei Dutzend von ihnen, die Walker aus listigen Augen anfunkelten. Der Dämonenjäger fröstelte. Auf eine kaum zu beschreibende Weise wirkten sie intelligent. So, als wüssten sie genau, weshalb er vor sie getreten war. Sie verharrten starr auf dem Fleck und nur ihre leicht bebenden Körper verrieten, dass sie tatsächlich lebten und nicht etwa ausge stopft waren. Walkers zweiter Blick galt der Gestalt, die mit verschränkten Beinen auf dem Thron kauerte. Sie war so dürr und ausgemergelt, dass sie in dem wuchtigen Möbelstück regelrecht versank. Ihre Haare waren lang und strähnig und verbargen den Großteil ihres eingefallenen, spitzen Gesichts. Ihr Körper steckte in einem schmutzigen Gewand, das aussah, als sei es aus mehreren alten
Lumpen zusammengeflickt worden. Tritt näher! Wieder war die tonlose Stimme nur in Walkers Kopf zu hören. Wieder wehrte er sich dagegen. Er blickte in die Runde seiner Schicksalsgenossen, die links und rechts an die Wände gelehnt oder im Schneidersitz auf dem Boden kauerten. Ihre Blicke war leer und abwesend, als würden sie unter einer Art Hypnose stehen. TRITT NÄHER! Diesmal war es wie ein Blitzschlag, der mit in seinen Gedanken explodierte. Walker gehorchte. Er konnte nicht anders, als der Stimme zu folgen. Knie nieder! Er tat auch das und bemerkte dabei, wie sein eigener Wille zunehmend schwächer wurde. Während er auf die Knie sank, sah er noch den schimmernden Gegenstand, den der Prediger in seinen auf dem Schoß gefalteten Händen hielt. Das Tablett des Johannes!, erkannte er. Kurz darauf versank sein Bewusstsein in einem wabernden Nebel …
* Walker kam erst wieder zu sich, als einen stechenden Schmerz im rechten Unterarm verspürte. Es war als würde er aus einer Vollnarkose erwachen. Alles um ihn herum wirkte wie in Watte gepackt. Sämtliche Geräusche drangen nur gedämpft bis zu ihm vor. Sein Kopf dröhnte, als habe sich ein Hornissenschwarm darin eingenistet.
Nachdem sich Walkers Sicht langsam geklärt hatte, schaute er sich um. Jetzt erst stellte er fest, dass er im Schneidersitz auf dem Boden saß. Er befand sich noch immer in dem Raum mit dem gewaltigen Knochenthron. Neben ihm saß Jack Bakula, wie er mit einem schnellen Seitenblick feststellte. Er war es wohl auch gewesen, der seinen Fingernagel tief in seinen Unterarm gebohrt, ihn damit aus seiner Trance gerissen hatte. Walker hatte schnell geschaltet und gab sich Mühe, seinen in sich gekehrten Blick beizubehalten. Er fragte sich, was der Prediger mit den Obdachlosen vorhatte. Of fenbar verpasste er ihnen eine Art Gehirnwäsche, um sie … Ja, was? Der Glatzkopf betrat soeben den Raum und begab sich zu dem Thron, wo er einen kurzen Kniefall vollzog. Dann trat er an den Prediger heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Walker nutzte die Gunst des Augenblicks. Er wandte sich zu Bakula um und zischte: »Das Tablett! Er hat es!« Er sprach so leise, dass der Privatdetektiv die Worte zur Hälfte von seinen Lippen ablesen musste. Dennoch nickte dieser und sagte ebenso leise: »Schnappen wir es uns! Und dann raus hier!« Vorsichtig griff Walker in Innenseite seiner zerschlissenen Jacke. Seine Hand umschloss den Griff der Magnum, die er dort verstaut hatte. Zum Glück waren sie nicht nach Waffen durchsucht worden. An scheinend fühlte sich der Prediger ziemlich sicher in seiner Haut. Und das wohl aus gutem Grund. Walker wusste, dass er ohne Baku las Hilfe nicht in der Lage gewesen wäre, sich aus dem Bann dieser merkwürdigen Gestalt zu lösen. Aus irgendeinem Grund schien der Privatdetektiv immun gegen das Gedankengift des Predigers zu
sein. Beide Männer verständigten sich mit einer knappen Geste – und Bakula sprang auf. In Gedankenschnelle stand er neben dem Glatzkopf, der sich ge rade zu ihm umdrehte und presste ihm den Lauf der Pistole, die er zuvor gezogen hatte, auf die Stirn. Der Hüne war so überrascht, dass er zu keiner Gegenwehr mehr fähig war. Walker bemerkte, wie das Heer der Ratten in Aufruhr geriet. Einige von ihnen sprangen Bakula bereits an, krallten sich in seiner Kleidung fest und schlugen ihre Zähne in sein Fleisch. Tapfer die Schmerzen ignorierend drängte der Detektiv den Glatz kopf weiter zurück, so dass sich sein Freund dem Prediger widmen konnte. Walker war nicht untätig geblieben. Er befand sich direkt hinter Bakula. Jetzt sprang er vor und hetzte zum Thron. Noch bevor er ihn erreicht hatte, rannten ihm bereits einige Ratten entgegen und verbissen sich in seine Hosenbeine. Er schleuderte sie beiseite. Eine von ihnen flog quer durch den Raum und knallte gegen die Wand. Die anderen nahmen zunächst quiekend Reißaus, nur um sich kurz darauf von Neuem zu nähern. Sie schienen einem lautlosen Befehl zu folgen, der sie dazu zwang, nicht von Walker abzulassen. Vermutlich hatte auch das mit der Macht des Tabletts zu tun, auch wenn Walker bislang geglaubt hatte, dass seine Magie nur bei Men schen anschlug. Die Nager mit dem Fuß abwehrend, wandte er sich dem Thron zu, blieb jedoch in einigem Abstand davor stehen. Der Prediger saß da wie versteinert. Die Ratten, die sich auf ihm niedergelassen hatten, stellten sich auf ihre Hinterbeine und fauchten Walker böse an.
Irgendetwas schien sie jedoch noch davon abzuhalten, sich auf ihn zu stürzen. Walker richtete den Lauf der Magnum aus kürzester Distanz auf den dunklen Schatten, der das Gesicht des Predigers überlagerte. Unter normalen Umständen hätte er mit dieser ausgemergelten, kränklich wirkenden Gestalt leichtes Spiel gehabt. Spätestens seit seiner ersten Konfrontation mit dem Prediger wusste er jedoch, dass er nicht zu unterschätzen war. Lass die Waffe sinken!, ertönte es da in seinem Kopf. Es war nicht einfach nur ein Befehl, der von außen kam. Vielmehr fühlte es sich an, als sei es sein eigener Wille, der dieses verlangte. Walker beobachtete hilflos, wie seine Hand langsam nach unten sank. Obwohl er wusste, dass er damit seinen Vorteil aufgab, hatte er auf einer höheren Ebene seines Bewusstseins das Gefühl, dass es richtig war, was er tat. Das verfluchte Tablett!, durchzuckte es ihn. Reiß dich zusammen! Als würden zwei Kräfte in seinem Innern miteinander ringen, schoss seine Linke vor. Sie klammerte sich ebenfalls um den Griff der Waffe und drückte die Magnum wieder nach oben, so dass er er neut auf das Gesicht des Predigers zeigte. Walker konzentrierte sich ganz darauf, die Pistole auf seinen Gegner gerichtet zu halten. Schweiß rann ihm über die Stirn. Plötzlich griff er nach dem reflektierenden Gegenstand, den sich der Prediger wie einen Rettungsanker an den Körper gepresst hielt und riss ihn ihm mit einem Ruck aus der knochigen Klaue. Neiiiin! Der mentale Schrei des Predigers dröhnte in Walkers Be wusstsein, als würden ihn Tausend Kehlen gleichzeitig ausstoßen. Mit einem Hauch von Enttäuschung stellte er fest, dass es sich le diglich um ein Viertel des Tabletts handelte. Wo war der Rest? Gleichzeitig spürte er die magische Kraft der Reliquie, die in diesem Moment auf ihn übersprang. Es fühlte sich an, als würde sei
ne Haut mit leichten Stromstößen malträtiert. »Machen wir, dass wir hier weg kommen!« Es war Bakulas Stimme, die Walker aufrüttelte. »Es ist nur ein Viertel!«, rief er zurück. Und an den Prediger gerichtet brüllte er: »Wo sind die anderen Teile?« Ganz kurz glaubte er, ehrliche Verwirrung bei seinem Gegenüber auszumachen. Sollte der Prediger tatsächlich nur dieses eine Teil besitzen? Er dachte zurück an die beiden Unsichtbaren, die mit der Hälfte des Tabletts aus Rockfords Villa geflohen waren. Hatten sie es am Ende tatsächlich nicht geschafft, sondern waren irgendwo im Schneesturm stecken geblieben und erfroren? Nun, das würde er auf die Schnelle wohl nicht herausfinden können. Vermutlich war es ratsam, zunächst dieses eine Teil in Si cherheit zu bringen und notfalls noch einmal zurückzukommen. Die Waffen weiter auf die beiden Männer gerichtet, folgte er Baku la durch die Tür. »Hast du dir den Weg gemerkt?«, fragte er, als sie auch den Vor raum hinter sich ließen. Die Frage war berechtigt. Der Glatzkopf hatte sie durch ein verschachteltes Labyrinth aus zahlreichen Gängen geführt, ehe sie den Thronsaal des Predigers erreicht hatten. Zu Walkers Erleichterung nickte der Detektiv und tippte sich an die Stirn. »Alles hier drin …«
* Tatsächlich führte Bakula sie innerhalb kürzester Zeit zurück an die Oberfläche. Nur ein einziges Mal mussten sie auf ihrem Weg durch das Labyrinth umkehren, weil sie in eine Sackgasse gelangt waren.
Erst als sie die Treppe des stillgelegten U-Bahn-Tunnels hinter sich gelassen hatten, wagte es Walker, erleichtert aufzuatmen. Zumindest eines der Teile befand sich jetzt in seinem Besitz. Dennoch waren zahlreiche Fragen offen geblieben. Was hatte es mit den Unsichtbaren auf sich? Weshalb war er im Reich des Predigers keinem von ihnen begegnet? Waren sie ihm vielleicht bereits auf den Fersen, um ihn zu überwältigen und ihm seine Beute abzunehmen, wie sie es in Mailand und Kanada schon einmal getan hatten? Irgendwie hatte er das quälende Gefühl, dass alles zu leicht ge gangen war. Dass er irgendetwas übersehen hatte. Und dass es längst nicht vorbei war. Nun, zunächst einmal musste er den Schatz in Sicherheit bringen. Alles Weitere würde er später klären. Walker hatte vor, das gute Stück fürs Erste im Hotelsafe zu deponieren. Er hatte nicht ohne Grund beschlossen, die Spesenrech nung des Vatikan zu strapazieren und im Manhattener Ritz Carlton abzusteigen. Bei diesem Luxushotel konnte er sich wenigstens sicher sein, dass dort auf seinen Schatz gut Acht gegeben wurde. Doch was, wenn die Helfer des Predigers das Hotel stürmten? War das Ritz auch gegen den Angriff einer Horde Unsichtbarer gewapp net? Vielleicht war es doch nicht so ratsam, das Tablett aus der Hand zu geben. Vielleicht sollte er sofort ins nächste Flugzeug steigen und … Seine Gedanken gerieten ins Stocken, als Bakula ihren Wagen an einer roten Ampel auf der Fifth Avenue zum Stehen brachte. Sein Blick fiel auf ein Grüppchen junger Leute, die offenbar gerade aus irgendeinem Club kamen und nun überlegten, wo sie als Nächs tes hingehen sollten. Eine von ihnen, eine junge Frau mit langen blonden Haaren, zeigte angewidert vor sich auf den Boden.
Walkers Blick folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger und ent deckte – eine wuselnde Masse, die in diesem Moment aus der Ka nalisation gekrochen kam. »Ratten!«, entwich es ihm atemlos. Bakula, der gerade wieder angefahren war, trat so plötzlich auf die Bremse, dass der Wagen hinter ihm um ein Haar aufgefahren wäre. Wild hupend und gestikulierend teilte der Fahrer dem Detektiv mit, was er von dessen Fahrweise hielt, während er links an ihm vorbei zog. Bakula hatte dafür keinen Blick. Wie Walker starrte auch er auf das gute Dutzend Ratten, die aus der Kanalisation quollen. Schon hatte die erste die junge Frau erreicht, die mit einem spitzen Schrei zurücksprang. Doch sie war zu langsam. Der Nager war bereits auf ihr Bein ge sprungen und kletterte an ihrer Strumpfhose entlang in die Höhe. Eine weitere junge Frau begann, mit ihrer Handtasche nach dem Tier zuschlagen, während sich dessen Artgenossen um das Grüpp chen verteilten und aus allen Richtungen weitere Angriffe starteten. Bakula lenkte den Wagen an den Straßenrand, während Walker bereits die Beifahrertür aufriss und ins Freie stürmte. »Gehen Sie zurück!«, forderte der Dämonenjäger. Die jungen Leute gehorchten. Walker riss der blonden Frau die Ratte vom Körper und schleu derte sie zur Seite. Gleich darauf begann er, nach den übrigen Nagern zu treten. Als ihm kurz darauf Bakula zu Hilfe eilte, beschlossen die Tiere, ihr Heil doch besser in der Flucht zu suchen. »Danke«, keuchte die Blonde. »Vielen Dank …« Sie lehnte an einer Hauswand, die Handflächen auf die Knie ge stützt und atmete tief durch. »Nichts zu danken«, gab Walker zurück, während seine Gedanken bereits abschweiften und er sich hektisch umsah.
In der unmittelbaren Umgebung war alles ruhig. Handelte es sich bei dem Zwischenfall mit den Ratten möglicher weise nur um Zufall? Immerhin wimmelte es im Big Apple von diesen kleinen Monstern. Derart aggressiv hatte er bisher jedoch keine von ihnen erlebt. »Der Prediger?«, fragte Bakula, während sie zurück zum Wagen gingen. Walker zuckte mit den Schultern und wollte gerade etwas ent gegnen, als er ein spitzer gellender Schrei durch die Straßenschluch ten hallte. »Da vorne!« Bakula deutete zur Kreuzung, wo gerade eine Frau in einem für diese Jahreszeit viel zu knapp geschnittenen Rock die Straße überquerte. Überquert hatte, denn sie war stehen geblieben und trat mit den Pfennigabsätzen ihrer Stöckelschuhe nach einem pelzigen Etwas, das immer wieder versuchte, sie anzuspringen. »Verdammt!«, knurrte Walker. Sollte der Prediger nach ihrer Flucht aus seinem Reich tatsächlich seine Ratten aufgehetzt haben? Aber wie war da möglich? Walker hatte ihm das Tablettstück abgenommen. Entweder besaß er tatsächlich noch ein zweites, oder … Egal. Jetzt war keine Zeit für Spekulationen. Noch bevor sie die junge Frau erreichten, war es dieser bereits ge lungen, den pelzigen Angreifer in die Flucht zu schlagen. Wütend starrte sie die 56. Straße hinunter, in der das Tier verschwunden war. »Habt ihr das gesehen?«, begrüßte sie die beiden Männer. »Diese Mistviecher werden immer dreister und … Holy Shit!« Walker drehte sich um, folgte ihrer Blickrichtung – und ver steinerte.
Die 56. Straße war von wuselndem Leben erfüllt. Ein Teppich aus Hunderten pelzigen Leibern wälzte sich über den Asphalt. Und er bewegte sich genau in ihre Richtung!
* »Kommen Sie!« Walker packte die junge Frau an der Schulter, riss sie aus ihrer Starre und zog sie mit sich, die Fifth Avenue entlang zu Bakulas Wagen. »Wohnen Sie hier irgendwo in der Nähe?«, fragte er, nachdem er mit ihr auf dem Rücksitz Platz genommen hatte und Bakula den Wagen in weitem Bogen wendete. Dummerweise fühlte er sich jetzt für sie verantwortlich. Schließ lich konnte er sie schlecht zurück auf die Straße schicken. »Brooklyn«, keuchte sie atemlos, während sie sich umdrehte und durch das Rückfenster die Flut der Rattenleiber beobachtete, die sich in diesem Moment über die Kreuzung wälzte und hinter ihnen in die in die Fifth Avenue einbog. »Drück auf die Tube!«, rief Walker an den Privatdetektiv gewandt. »Ich drück ja schon!« Bakula beschleunigte und jagte den Wagen ohne mit der Wimper zu zucken über eine Ampel, die kurz davor auf rot geschaltet hatte. Zum Glück hielt sich der Verkehr in diesem frühen Morgenstunden in Grenzen. »Wo in Brooklyn?«, fragte Walker, um die Frau abzulenken. Sie nannte die genaue Adresse. Auf dem Weg dorthin schaltete Bakula das Radio ein. Ein New Yorker Lokalsender berichtete von vermehrten Meldungen über An griffe durch Ratten. Es wurden bereits Mutmaßungen über eine
mögliche Tollwut-Epidemie angestellt. Ein Experte riet allen Ein wohnern, in ihren Wohnungen zu bleiben, Fenster und Türen gut zu verschließen und am besten auch den Toilettendeckel zu beschwe ren. »Shit!«, zischte die junge Frau, die sich ihnen als Jennifer vorge stellt hatte. »Ich will schon seit Jahren weg aus dieser Stadt. Aber mein Freund …« Sie ließ sich noch eine Weile über darüber aus, wie mies die Gegend in den letzten Jahren geworden war. Sowohl Walker als auch Bakula waren froh, als sie sie endlich vor ihrer Wohnung in einem recht gepflegten Viertel in Brooklyn ab setzen konnten. »Was jetzt?«, fragte Bakula anschließend. »Wir müssen uns wohl oder übel diesen Prediger noch einmal vor knöpfen. Sonst haben seine Freunde bis morgen früh das Kom mando über die Stadt übernommen.« »Hältst du ihn für einen Dämon?« »Nicht unbedingt«, antwortete Walker. »Mir sind durchaus Be richte über Menschen bekannt, die die Fähigkeit besitzen, mit be stimmten Tieren zu kommunizieren und sie nach ihrem Willen zu steuern. Diese Gabe kann angeboren sein. Sie kann aber auch erlernt werden. Außerdem …« »Schon gut«, winkte der Detektiv ab. »Ich hätte nicht fragen sollen …« Auf dem Rückweg nach Manhattan kamen sie immer wieder an tumultartigen Szenen vorbei. Bürger, die sich mit provisorischen – manchmal sogar mit richtigen – Waffen der kleinen Biester erwehrten. Einmal sahen sie einen Mann, der eine Schusswaffe gezogen hatte und sein ganzes Magazin in einen Pulk von gut fünfzig Nagern feuerte. Und aus allen Richtungen war Sirenengeheul zu hören.
»Nicht mehr lange und die Nationalgarde rückt an …«, brummte der Privatdetektiv. Bakulas Kommentar war scherzhaft gemeint, dennoch war Walker sich nicht sicher, ob sich diese Befürchtung nicht doch noch bewahr heiten würde. Sie erreichten die stillgelegte U-Bahn-Station und Bakula brachte seinen Wagen quer davor zum Stehen. Er war die Treppen bereits zur Hälfte hinunter gerannt, als er bemerkte, dass Walker stehen ge blieben war. Japsend kehrte er zurück und sah, dass dessen den Blick auf eine mannshohe Mauer gerichtet hatte. Darauf saß eine riesige fette Ratte. Sie war mindestens dreimal so groß wie die meisten ihrer Artgenossen. Sie stand auf den Hin terbeinen, hatte die Schnauze in die Luft gereckt. »Sieh dir das an«, flüsterte Walker. »Sie sieht aus, als wolle sie uns irgendetwas mitteilen.« »Das ist nicht Lassie, sondern eine verfluchte Virenschleuder«, knurrte Bakula. In dem Moment sprang die Ratte von der Mauer auf die andere Seite und war nicht mehr zu sehen. Walker trat vor und spähte über die Mauer. Und tatsächlich … Die Ratte hatte sich dahinter in einer Entfernung von mehreren Metern auf dem Boden niedergelassen und sah in Walkers Richtung, als würde sie auf ihn warten. »Sie will, dass wir ihr folgen«, stellte Walker fest und machte sich daran, über die Mauer zu klettern. »Na toll«, maulte Bakula weiter. »Jetzt lass ich mir schon von einer Ratte vorschreiben, wie ich mein Wochenende zu verbringen habe …« Walker ignorierte ihn und kletterte bereits über die Mauer. Kaum war er auf der anderen Seite aufgekommen, drehte sich die Ratte
um und lief weiter. Der Dämonenjäger folgte ihr – und Bakula folgte Walker, auch wenn er immer wieder den einen oder anderen Fluch vernehmen ließ. Der Weg des seltsamen Gespanns führte über einen Hof, dann über eine schmale, unbefahrene Straße, bis zu einem alten Bürokom plex, der laut Beschilderung in wenigen Tagen abgerissen werden sollte. Hier war offenbar das Ziel der Ratte. Sie sah noch einmal hinter sich, als wollte sie sichergehen, dass Walker und Bakula auch wirklich Bescheid wussten und huschte anschließend durch die of fene Tür ins Treppenhaus des Gebäudes. Als Walker ihr folgte und seine Stablampe einschaltete, fehlte von ihr jede Spur. »Was jetzt?«, fragte Bakula. »Nach oben!«, schlug der Dämonenjäger vor und deutete die Treppe hinauf. Der Detektiv war noch unschlüssig. »Und wenn es eine Falle ist?« »Es ist ganz sicher eine Falle«, sagte Walker bestimmt. »Aber allein die Tatsache, dass wir das wissen, verschafft uns einen Vorteil.« Ob das stimmte, dessen war er sich zwar selbst nicht hundertpro zentig sicher. Vor allem die Tatsache, dass er noch immer das Tablettstück unter der Jacke bei sich trug, machte ihm Sorgen. Schon zwei Mal hatte er auf der Jagd nach dem Schatz den Kürzeren gezo gen. Ein drittes Mal, so hatte er es sich geschworen, sollte ihm das nicht passieren. Es anderweitig zu unterzubringen, dazu war es jedoch zu spät. Vielleicht konnte er die Magie des Tabletts ja sogar für seine Zwecke nutzen. Kurz bevor sie das Ende der Treppe erreichten, hielt Walker noch einmal inne und lauschte.
Das Sirenengeheul, das die Straßen der Stadt erfüllte, war noch immer nicht abgeklungen. Der kalte Novemberwind, der durch die leeren Fenster wehte, trug die Geräusche ins Innere des Hauses, wo sie schaurig zwischen den Wänden widerhallten. »Warte du hier!«, schlug Walker vor. »Wir sollten uns nicht zu zweit in die Höhle des Löwen begeben. Ich benötige dich vielleicht noch als Rückendeckung.« Bakula nickte und beobachtete, wie Walker die restlichen Stufen in den zehnten Stock huschte und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand …
* Als Walker die oberste Stufe erreicht hatte, zog er seine Waffe und sah sich in dem breiten Flur um, dessen Boden von einem schmut zigen, weinroten Läufer bedeckt wurde. Schutt und Glasscherben knackten unter seinen Schuhen, während er den Gang langsam und nach allen Seiten sichernd abschritt. Ein schwacher Lichtschein sickerte ihm aus einer Tür an dessen Ende entgegen. Links und rechts zweigten ehemalige Büroräume ab. In jeden warf Walker einen vorsichtigen Blick, um sich den Rücken freizuhalten. Doch sie waren alle leer. Endlich erreichte der Dämonenjäger das Ende des Flurs. Vorsichtig blieb er an der Schwelle stehen und spähte in den erleuchteten Raum dahinter. Er war größer als die anderen. Vielleicht war das einst das Chefbü ro gewesen. In der gegenüberliegenden Wand befand sich eine wei tere Tür, die ins Freie auf eine Art Terrasse führte. Tritt ein! Die Stimme schien von überall her gleichzeitig zu kom men. Walker war sich nicht sicher, ob er sie auf telepathischem Wege wahrgenommen hatte, oder ob es an der Akustik des leer geräumten
Hauses lag. Obwohl er dieses Mal keinen inneren Zwang verspürte, kam Wal ker der Aufforderung nach. Bereits als er sich der Terrassentür näherte, erkannte er eine dürre Gestalt, deren Silhouette sich vor dem sternenlosen Nachthimmel abzeichnete. Ihre langen Haare wehten ungestüm um ihren Kopf, als seien sie von einem unheimlichen Eigenleben erfüllt. »Du hast etwas, das mir gehört«, stellte der Prediger mit sanfter und eigenartig klangloser Stimme fest. Walker bemerkte, dass er ihn zum ersten Mal wirklich sprechen hörte. Es schwang kein Vorwurf in diesen Worten mit. Es war einfach nur eine Feststellung. »Wer bist du?«, fragte Walker, nachdem er im Türrahmen stehen geblieben war. »Ein Ausgestoßener … So wie du …« Walker stutzte. Er war sich nicht sicher, ob der Prediger damit auf sein Inkognito als Obdachloser anspielte oder auf seine wahre Existenz. Manchmal fühlte Walker sich wirklich wie ein Ausgestoßener, der in der Welt der Dämonen zuweilen mehr zu Hause war, als in der der Menschen. »Sie behaupteten, ich sei verrückt«, fuhr der Prediger fort, nach dem er eine Weile geschwiegen hatte. »In Wahrheit fürchteten sie meine Gabe.« »Deine Fähigkeit, mit Ratten zu kommunizieren?«, fragte Walker interessiert. »Nicht nur das. Seit meiner Geburt besitze ich mehr oder minder ausgeprägte PSI-Kräfte. Telepathie, Telekinese … Such dir etwas aus. Das war es, was sie ängstigte …« »Sie?« »Meine Eltern war überaus religiös«, sagte der Prediger. »Sie
waren der Überzeugung, ich sei vom Teufel besessen. Und vielleicht hatte sie damit sogar Recht.« »Was taten sie mit dir?« Walker hatte das Gefühl, er würde alles erfahren, wenn er nur beharrlich weiterbohrte. »Sie schickten mich von zu Hause fort und gaben mich in die Ob hut des Führers jener religiösen Sekte, der sie angehörten. Er ver suchte, den Teufel aus mir auszutreiben.« Er zögerte kurz. »Tritt nä her!« Walker tat, wie ihm geheißen. Er hatte nicht das Gefühl, sich in unmittelbare Gefahr zu begeben. Noch während er auf den Prediger zutrat, öffnete dieser sein Ge wand und ließ es über seine Schultern gleiten. Walker richtete die Stablampe auf ihn und knipste sie an. Was er sah, schockierte ihn zutiefst. Der dürre Körper des Predigers war von unzähligen schlecht verheilten Narben übersät. Es sah aus, als seien sie ihm mit einem Skalpell in die Haut geritzt worden. Doch es waren keine zufällig zugefügten Schnitte … Walker konnte nicht anders, als sich dem Prediger weiter zu nä hern. So weit, bis er sah, was es mit den Narben auf sich hatte. Sie stellten Buchstaben dar, bildeten dabei Worte und Sätze, die Walker alles andere als unbekannt waren. Es waren Bibelzitate, die fast jeden Fleck seines Oberkörpers bedeckten. »Mein Gott …«, flüsterte der Dämonenjäger. »Jahrelang hielten sie mich gefangen. Als sie merkten, dass ihre Methoden versagten, steckten sie mich in ein Sanatorium, wo ich restlichen Jahre meines Lebens dahinvegetierte.« Walker war verwirrt. »Aber wie bist du …?« »Er holte mich fort von diesem Ort. Und er gab mir eine Aufgabe, die meiner würdig war.« »Wer ist ›Er‹?«
»Irgendwie musste er von meinen besonderen Fähigkeiten erfah ren haben. Ich erschien ihm wohl nützlich für seine Zwecke. Ausge stattet mit einem magischen Gegenstand sollte ich Anhänger aus den Reihen der Ausgestoßenen um ihn scharen. Menschen, die nie mand vermisste und nach denen deshalb auch niemand suchte. Sie sollten dabei helfen, die Ankunft eines neuen Zeitalters vorzuberei ten …« Walker verstand. Offenbar war auch der Prediger nur ein Handlanger einer höhe ren, gefährlicheren Macht. Aber wer steckte hinter all dem? Wer versuchte, die Macht über die Menschheit an sich zu reißen? Der Prediger schloss seinen Umhang wieder und streckte die Hand aus. »Gib mir zurück, was mein ist. Er hat es mir geschenkt. Du hattest kein Recht, es mir zu nehmen.« »Und wenn ich mich weigere?« Der Andere schwieg, drehte sich nur um und richtete seinen Blick über die Balkonbrüstung. Walker sah, dass irgendwo in der Ferne Flammen loderten und Rauchsäulen in den Himmel stiegen. Sirenengeheul und vereinzelte Schreie bildeten eine ständige Geräuschkulisse, die er während der letzen Minuten aus seiner Wahrnehmung ausgeblendet hatte. »Die Ratten sind dabei, die Stadt zu übernehmen. So wie ich es ih nen befohlen habe. Nichts wird sie davon abhalten. Auch du nicht. Es sei denn …« »Es sei denn, ich gebe dir was du willst«, beendete Walker den Satz. Der Prediger sagte nichts. »Ich könnte dir auch einfach eine Kugel in den Schädel jagen«, drohte Walker und hob die Magnum. »Vielleicht würde das ja deinen Einfluss auf die Tiere brechen.«
»Versuch es!«, forderte der Prediger mit fester Stimme. Der Dämonenjäger hielt den Bluff noch einige Sekunden lang auf recht, dann senkte er die Waffe wieder. Es war zu riskant. Mögli cherweise würde der Tod des Predigers alles noch schlimmer ma chen. Walker fluchte innerlich. Hatte er eine andere Wahl, als die Forderung des Rattenkönigs zu erfüllen? Sein oberstes Ziel musste es zunächst einmal sein, die ganze Welt zu schützen. Aber war dieser Preis – das Chaos in den Straßen New Yorks – nicht zu hoch? Langsam griff er unter seine zerschlissene Jacke und zog jenen Gegenstand hervor, dessentwegen er in den letzten Tagen um die halbe Welt gereist war. Er zögerte kurz – und hielt ihn dem Prediger entgegen. Dieser streckte seine knochige Hand danach aus und … Plötzlich war es da. Ein leichtes Flirren in der Luft, rechts neben ihnen. Walker wollte das Tablettstück zurückreißen, doch da war es be reits geschehen. Etwas – jemand! – griff danach und riss es ihm weg, so dass es aussah, als würde es durch die Luft schweben. Die Unsichtbaren! Sie waren hier! Aber weshalb griffen sie ein? Sie steckten doch mit dem Prediger unter einer Decke. Walker wollte den Lauf der Waffe auf die Stelle richten, an der er den Unsichtbaren vermutete, als ihn ein heftiger Schlag in den Nacken in die Knie zwang. Gleichzeitig hörte er den erstickten Schrei des Predigers, der auf einmal von unsichtbarer Hand in die Luft und über die Brüstung gehalten wurde.
»Du hast versagt!«, sagte eine dunkle Stimme. »Du hast die Macht, die er dir geschenkt hat, für deine eigenen Ziele missbraucht. Er ist darüber sehr verärgert.« Ein Röcheln war die einzige Antwort des Predigers. Irgendetwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren. Walker wollte sich auf die Beine stemmen, doch jemand hielt ihn von hinten fest und zwang ihm die Arme auf den Rücken. Hilflos musste er dabei zusehen, wie der Prediger sekundenlang über der Brüstung schwebte und dann, ohne jede Vorwarnung, in die Tiefe gestoßen wurde. Das Letzte was er von ihm hörte, war ein markerschütternder Schrei, der kurz darauf wie abgehackt verstummte. »Keine Bewegung!« Es war Bakulas Stimme, die plötzlich über die Terrasse donnerte. Kurz darauf löste sich die Umklammerung um Walkers Arme und schnelle Schritte waren zu hören. »Halt sie auf!«, schrie Walker. Der Detektiv war verwirrt, sah sich unschlüssig um, ohne ir gendjemanden zu sehen. Stöhnend hob der Dämonenjäger seine Waffe auf, sprang in die Höhe und preschte los. »Die Unsichtbaren!«, rief er seinem Freund im Vorbeirennen zu. »Sie waren hier! Und jetzt haben sie das vierte Tablettstück!« Walker hetzte durch das Treppenhaus nach unten. Doch es war vergeblich. Er fand keine Spur von ihnen, hörte nicht einmal Schritte. In seinen Ohren hallte noch immer der Schrei nach, den der Prediger kurz vor seinem Tod ausgestoßen hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es nicht einfach nur ein Schrei des Entsetzens gewesen war. Der Prediger hatte etwas gerufen. Einen Namen …
Und auf einmal wusste Walker, wer jener Unbekannte war, der dem Rattenkönig das Tablettstück überlassen hatte …
* Auf ihrer Fahrt durch die nächtlichen Straßen New Yorks stellten Walker und Bakula zu ihrer Erleichterung fest, dass sich die Lage beruhigt hatte. Wie es aussah, hatte der Prediger geblufft. Mit seinem Tod schien tatsächlich auch der Amoklauf der Ratten beendet zu sein. Gerade noch rechtzeitig …, dachte Walker. Am Horizont graute bereits der Morgen. Ein neuer Tag brach an. Und mit ihm machten sich Millionen von Menschen bereit, die Stra ßenschluchten der Metropole mit Leben zu erfüllen. Bis dahin würde er der Stadt bereits den Rücken gekehrt haben, um sich in eine andere Stadt zu begeben. Ins Zentrum der Macht … ENDE