C.H.GUENTHER
Der Herr
der Inseln
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1.
Drei große Flüsse Amerikas tragen d...
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C.H.GUENTHER
Der Herr
der Inseln
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1.
Drei große Flüsse Amerikas tragen den Namen Colorado. Der eine mündet in den Golf von Californien, der zweite durchfließt Argentinien und der dritte den Staat Texas. Dieser, auch der östliche Colorado genannt, entspringt in der öden Hochfläche der Llano-Estacados auf 1400 Meter Höhe. Er windet sich durch das ehemalige Land der Coman chen-Indianer, tobt sich in Katarakten aus, erreicht die Stadt Austin und 320 Meilen später die Matagordabay am Golf von Mexiko. Schiffbar ist der Colorado auf etwa vierhundert Kilometer Länge. Ab Austin ist dies nur noch mit flachen Spezialboo ten während der vier Hochwassermonate möglich. Der Colorado gilt als verhältnismäßig sauberer Strom. Auf zwei Dritteln seines Laufes durchfließt er eine fruchtbare Gegend. Kurz vor seiner Mündung, nahe der Stadt Bay City, kaufte sich Winston Lomax vor wenigen Jahren ein Stück Land. Die kleine Ranch, knapp 20 Acres groß, war von zwei ält lichen Mexikanerinnen bewirtschaftet worden. Sie hatten Angoraziegen gezüchtet. In einem feuchten Winter rafften Seuchen alle Muttertiere dahin. Aus Gram darüber waren ihnen die zwei Schwestern im Februar ins Jenseits nachge folgt. Die verwahrloste Ranch wurde von den First Texas & Na tional-Banken versteigert. Doch niemand außer Winston Lomax brachte Interesse auf. Er bezahlte achttausend Dollar dafür. Aber nicht um Zie gen zu züchten oder auch nur einen Halm Getreide anzubau en. Winston Lomax ging es um eine Besonderheit der Ranch. Sie lag unmittelbar am Westufer des Colorado. Weil der Fluß dort ein Knie bildete, gab es auch ein paar tiefe Stellen. In diesen Untiefen standen Hechte und Barsche. Doch Winston Lomax hatte weder Zeit noch Lust, um zu angeln. 3
Eigentlich brauchte er die Ranch nur für wenige Stunden und eine einzige schnelle Sache. Sie sollte irgendwann im kommenden Sommer stattfinden, in einer mondlosen dunk len Nacht. * Winston Lomax, von seinen Freunden Winnie genannt, arbeitete draußen im Golf bei den Texaco-Bohrtürmen als Taucher. Immer wenn sich bei den riesigen Ölplattformen etwas verhedderte, wenn das Meißelgestänge brach oder Stürme sie beschädigten, dann mußte Winnie Lomax runter, um es wieder in Ordnung zu bringen. Er konnte unter Was ser Geräte montieren, reparieren und schweißen wie kaum ein anderer. Keine See war ihm zu rauh, keine Tiefe zu gefährlich. Und Angst vor Haien hatte er auch nicht. Sein Job wurde entsprechend gut bezahlt. An manchen Wochen machte er mit Überstunden zweitausend Dollar. Sein Zuhause war ein Appartement in Bay City und Her mines Bar in der Main Street. Dort saß Lomax an den Wochenenden mit seinen Compa neros und pokerte. Während Lomax fast immer gewann, verlor der kleine Mestroso ebenso regelmäßig. „Wie machst du das bloß?“ fragte Mestroso beim Nach hausefahren. „Ich glaube, du bescheißt, Winnie.“ „Klar, aber du kommst nicht dahinter“, sagte Lomax la chend. „Ich will dir etwas verraten, Mestroso. Dein Pech hat andere Gründe. Tortenbäcker lieben Würste, Musiker lieben die Stille, und wer den ganzen Tag mit Geld umgeht, den meidet es abends einfach. Das ist ein Naturgesetz.“ „Du mit deinen selbstgestrickten Naturgesetzen“, maulte Mestroso. „Gehn wir noch einen trinken?“ „Wie war’s mit Weibern? In Donna Carolas Schuppen ha ben sie e in paar neue.“ „Ich habe doch Lolita“, sagte Mestroso. 4
„Und ich habe morgen Weekendschicht“, bedauerte Lo max, „also werde ich schlafen gehn. Denn wie lautet Natur gesetz Nummer zwei? Sei besser als die anderen. Wenn sie saufen, dann halte dich fit.“ „Und wo bleibt der Spaß?“ „Der kommt mit Vierzig, wenn du mehr vom Leben ver stehst. Bis dahin mußt du es allerdings beisammen haben.“ „Mit neunzig Dollar pro Woche?“ „Okay“, sagte Lomax. Es war ein warmer Sommerabend. Also bewegte er seinen Impala noch einmal um den Block. „Okay, du hast am Freitag neunzig in der Tasche. Und wi e viel hast du am Donnerstag hinter dir im Wagen?“ „Das ist verschieden. Manchmal nur zehn Millionen, manchmal vierzig. Die wiegen dann fast eine Tonne.“ Die Reflexe der bunten Leuchtreklamen zuckten über ihre Gesichter und spiegelten sich im weißen Lack des Cabrios. Aus den offenen Türen der Bars und Imbißstuben plärrte Lautsprechermusik und mischte sich mit dem Lärm von Lomax Auto-Stereoanlage. „Sag nur Bescheid“, wandte sich Lomax an den kleinen Mestroso, „wenn du mal sechzig Millionen Dollar in der Karre hast. Es muß sich ja lohnen.“ Mestroso kniff die Augen zu. Aber nicht wegen der nack ten Beine einer Mestizin, die mit fliegendem Rock dicht vor dem Kühler die Main-Street überquerte, sondern vor Ver blüffung. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte Mestroso. „Gegen sechzig Millionen“, antwortete Lomax, „ist auch mein Verdienst nur Kupfermünze. Und ich habe einen todsi cheren Plan.“ Mestroso schielte nach links zu dem Mann hin, den er vorbehaltlos bewunderte. „Sicher für dich, tödlich für mich.“ „Schwachkopf“, schalt ihn Lomax.
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Der weiße Kastenlieferwagen, ein Chevrolet Zweitonner, verringerte auf der Districtstraße Nr. 35 von Houston nach Corpus-Christie plötzlich das Tempo. Der Fahrer hatte den Gang herausgenommen und ließ den gepanzerten Geldtrans porter am rechten Rand ausrollen. „Ist was, Cliff?“ fragte Mestroso. „Bist du müde? Wir müssen heute noch rauf bis San Antonio. Die warten aufs Geld.“ „Mann, ist mir übel“, keuchte Cliff und übergab sich durch die Lenkradspeichen hindurch auf Schalter und Armaturen. „Fahr du weiter.“ Mestroso zog Cliff nach rechts, entriegelte die Panzertü ren, stieg aus, lief herum und rollte gleich wieder los. Nach drei Meilen kam eine Abzweigung. Er wartete, bis die Straße in beiden Richtungen frei war, und kurvte dann rechts nach Süden zum Fluß hinüber. Schon nach wenigen Metern verdeckte ihn dichtes Buschwerk. Der Weg war feucht, die Staubwolke fiel zusammen. Ein Mann mit einem Motorrad tauchte auf und folgte ihnen. Hinten am Motorrad war eine Querstange befestigt. Sie sah aus wie ein überdi mensionaler Kamm. Nur hatte er anstelle fester Zähne Gummistreifen, Ketten und Piasavaborsten. Sie schliffen auf dem Fahrweg und verwischten die markante Reifenspur des Transporters. Das Motorrad folgte dem weißen Chevi bis zu einem Ranchgatter. Dort stoppte der Geldlieferwagen. Lomax riß die Gattertür auf. „So einfach ist das“, sagte er. Mestroso nahm das Mikrofon der CB-Funkanlage vom Halter, drückte die Sprechtaste und machte die Kontroll durchsage. „CO… CO“, meldete er sich. „Mein QTH ist Ganado. Bis jetzt guter Flug. Nehme QSY auf sieben vor. Bitte um QSL.“ Aus dem Lautsprecher kam ein QSL, die Empfangsbestä tigung. 6
„Roger und QRT. Cheerio und vierundvierzig“, sagte Me stroso und hängte auf. „Jetzt denken sie, ich sei auf dem Weg nach San Antonio. Wir haben eine Stunde Zeit.“ „Wieviel?“ fragte Lomax. „Dreißig Metallkisten à zwei Millionen.“ „Wasserdicht?“ „Ja, wasserdicht. So ein spinnöser Millionär wollte seinen Jahresgewinn in bar sehen, also tat die Bank ihm den Gefal len. – Die Container sind wasser- und feuerfest.“ Lomax deutete auf Mestrosos bewußtlosen Kollegen. „Wie geht es ihm?“ Mestroso tippte ihn an. Der Fahrer kippte nach vorn, schlug sich den Kopf am Armaturenbrett an, schlief aber weiter. „Dachte schon, das Zeug wirkt nicht mehr.“ „Tetrodotoxin ist ein Gift des Fugo-Fischs. Es bringt im mer seine Wirkung“, sagte Lomax, „erst recht im Kaffee. – Du folgst mir bis zum Haus. Dort steige ich zu. Dann schaf fen wir die Karre weg. In einer Stunde sind die Polizeihub schrauber da.“ „In drei Stunden der Sheriff, seine Leute und die Hunde. Die schauen dann in jede leere Zigarettenschachtel von SüdTexas.“ „Mach dir keine Sorgen, Junge.“ „Und ich?“ fragte der ein wenig überforderte Mestroso, „was wird aus mir?“ „Du nimmst meinen Impala. Ticket, Paß und Geld liegen im Haus. Noch ehe die Nachricht im Radio durchkommt, bist du in der Luft. Du hast es gut. Ferien in Europa. Möchte ich auch mal machen.“ „Leider gelte ich als tot.“ „Für dreißig Millionen Dollar sterbe ich täglich zweimal“, sagte Lomax. „Wann kommst du nach?“ wollte Mestroso wissen. 7
„Nicht vor dem Winter. Für mich wäre Abhauen jetzt ver dächtig.“ Alles war zehnmal durchgesprochen. Weitere Diskussio nen verwirrten nur. Lomax fuhr voraus und stellte die Yamaha in die Scheune. Dann übernahm er den Transporter, nicht, ohne letzte An weisungen zu geben. „Ich muß ihn auf siebzig Meilen beschleunigen, damit er den Sprung ins tiefe Wasser schafft. Zehn Meter vor der Kante springst du ab. Spätestens, bevor er aufkommt. Re a dy?“ „Und was wird aus ihm?“ Mestroso deutete auf seinen Kollegen. „Der ist tot, falls du es nicht bemerkt haben solltest. – Fer tig?“ Mestroso nickte, stemmte sich ein und packte mit der rech ten Hand den Türgriff. Lomax gab Gas. Nach etwa hundert Meter Anlauf hatte der Lieferwagen seine Endgeschwindigkeit. Der Motor jaulte in Übertouren. Das Gelände senkte sich leicht zum Flußufer hin. Dort sorg te eine Bodenwelle für den nötigen Sprungschanzeneffekt. Die Welle schleuderte den Wagen hoch. Dadurch kam er nach Lomax’ Berechnung in eine Flugbahn, die ihn genau in die tiefe Stelle warf. Noch 20 Meter, noch eine Wagenlänge. Mestroso warf sich gegen die Tür. „Springen!“ schrie Lomax im schüttelnden ratternden Wa gen seinem Partner zu. Doch der brachte die Tür nicht auf. „Verriegelt“, schrie er verzweifelt. „Halt an, Winnie!“ Das war unmöglich. Lomax blieb auf dem Gas. Der Pan zerwagen erreichte die Uferkante, schoß hinaus, flog fünf sechs Meter frei durch die Luft. Bevor er aufklatschte, hatte sich Lomax mit einem kraft vollen Sprung von ihm gelöst. Sekunden später war der gepanzerte Lieferwagen in den 8
Fluten des Colorado verschwunden. Ein paar Wirbel kräu selten noch an der Stelle, ein paar Luftblasen kamen hoch. Lomax tauchte sofort. Der Wagen lag auf der linken Seite. Durch das Fenster der rechten Tür sah er, wie Mestroso verzweifelt um sein Leben kämpfte. Aber die Tür war wie zugeschweißt und die Scheibe bestand aus Panzerglas. Langsam entwich die letzte Atemluft durch einen Spalt. Minuten später war Mestroso tot. Lomax schwamm ans Ufer und zerrte eine alte graubraune Segeltuchplane aus dem Gebüsch. Sie hatte die Farbe des Flußbettes. Diese Plane zog er über den Lieferwagen und tarnte ihn, daß ihn die Suchflugzeuge nicht finden konnten. Die Plane saugte sich rasch voll Wasser und legte sich dicht um den weißen Lieferwagen. Erschöpft wankte Lomax ins Ranchhaus, kleidete sich um, verwischte die letzten Spuren, demontierte den Rechen am Motorrad und verbrannte ihn im Kamin. Danach fuhr er nach Galveston zum Hubschrauberlandeplatz der Texaco. Um 18 Uhr an diesem Donnerstag im August begann seine Wochenschicht. * Der Sheriff von Cuero, in dessen Zuständigkeit der Überfall auf den Geldtransport fiel, war immer wie aus dem Ei ge pellt. Wenn man davon absah, daß es sich bei seiner Klei dung nur um eine Uniform handelte, wirkte er stets adrett und frischgebügelt. Genau so verhielt er sich auch bei der Arbeit. Alle Probleme wurden von ihm korrekt und systematisch ge löst. Deshalb brachte ihn diese Geldr aubgeschichte auch ziem lich ins Schleudern. Diesmal war alles anders, mysteriös, rätselhaft, unerklärlich. Der Vorgang widersprach jeder polizeilichen Erfahrung mit kriminellen Aktionen ähnlicher Art. 9
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatten allein in den USA mehrere hundert Überfälle auf Geldtransporte stattge funden. Bei jedem hatte es gewisse Anhaltspunkte wie ve r dächtige Tätergruppierungen, Spuren, Hinweise aus der Bevölkerung, Augenzeugenberichte oder Parallelen in der Tatausführung gegeben. In diesem Fall nichts von alledem. Weil es keine Fakten gab, die der Sheriff von Cuero fein säuberlich hätte ordnen können, empfand er den Vorgang als absolut chaotisch. „Es ist ein Chaos“, erklärte er, „in das ich nicht einzugrei fen vermag. Und das macht mich krank.“ Sein Assistent, ein junger Spund, vor drei Monaten hatte er noch die Bänke der Polizeischule in Denver gedrückt, ließ eine Weisheit los: „Wir haben nichts“, sagte er, „und nichts ist klarer und lo gischer als das absolute Nichts, Sir.“ „Irrtum“, entgegnete der Sheriff, ein Stäubchen Asche vom Hemdärmel blasend, „in Ihrem klaren absoluten Nichts versteckt sich die Tatsache, daß 60 Millionen Dollar in ei nem weißen Chevrolet-Zweitonner verschwunden sind, besetzt mit Fahrer und Beifahrer. Beide waren bewaffnet. Und das nicht etwa bei Nacht und Nebel, sondern an einem sonnigen Nachmittag vor unserer Nase bei San Antonio. Wenn das nichts ist.“ Noch einmal gingen sie alle Maßnahmen durch, die man in Zusammenarbeit mit der City-Police von Houston und San Antonio, mit Air Force und Army ergriffen hatte. Der spurlos verschwundene Wagen war auf allen Straßen, auf allen beiderseits seiner Fahrroute liegenden Nebenstra ßen, Geschäften und Anwesen von Hunderten von Polizisten in Streifen- und Geländefahrzeugen, von Militär- und Mari nehubschraubern, von der Flußpolizei und von der Navy im Golf gesucht worden. Spezialeinheiten der Pioniere hatten die Sümpfe und Inseln der Flußmündung durchgekämmt. Alle verfügbaren Hunde hatte man nach der Besatzung des Geldtransporters schnüffeln lassen. 10
Die Kripo hatte Kontakte mit den V-Leuten der Unterwelt aufgenommen. Doch dort hielt man entweder ungewöhnlich dicht, oder man wußte einfach nichts. Die großen Bosse, die für solche Supercoups in Frage ka men, wurden verhaftet, verhört, unter Druck gesetzt. Aber alle hatten sie Alibis, und am Ende mußte man sie laufenlas sen. „Vielleicht waren es doch Amateure“, meinte der HilfsSheriff. „Es gibt da oft verdammt begabte Einzelgänger, Sir.“ Der Sheriff saß mit gespreizten Beinen in seinem Drehses sel. Er schlug sie selten übereinander, schon um die Schärfe der Bügelfalte nicht zu beeinträchtigen. „Profis oder Amateure“, murmelte der Sheriff von Cuero, „was macht das aus? Laut dem letzten CB-Funkspruch Me strosos passierte es in meinem District. Aber den haben wir besenrein ausgefegt. Hier war es nicht, ich lasse mich fres sen dafür. Das mit dem Funkspruch war auch nur ein mieser Trick. Es passierte ganz woanders. So spurlos kann ein Auto nicht verschwinden. Nicht in so kurzer Zeit.“ „Ich erinnere mich eines Falles“, sagte der Assistent, „da gruben Gangster in der Wüste ein tiefes Loch. Nach dem Überfall auf einen Geldtransport schmissen sie den Wagen rein und baggerten die Stelle erst mal zu. Man fand den Wagen schließlich, weil sich die Ganoven wie üblich um die Beute stritten.“ „Der Sheriff seufzte tief und stützte seinen Kopf auf. „Das war kein authentischer Fall“, wandte er ein, „es war im Kino. Ich habe den Film auch gesehen. Heute würde man den Panzerwagen auch unter Wüstensand mühelos finden. Einmal durch Falschfarbenfotografie. Sie zeigt an, ob im Gelände tief ergehende Planierarbeiten ausgeführt wurden. Zweitens durch Magnetsonden an Hubschraubern.“ „Hat man dies alles gemacht?“ wandte der Assistent ein. „Wenn es Sie beruhigt, man ist noch dabei.“ „Dann haben wir ja noch eine Chance.“ 11
Der Sheriff schüttelte den Kopf. Der Fall paßte nicht in sein Weltbild, also hielt er ihn auch nicht für lösbar. „Kein Täter“, faßte er zusammen, „und keine Spur. Das ist wie verschüttete Milch auf einem weißen Tischtuch.“ „Und Milch hinterläßt keine Rotweinflecke, Sir“, wagte der Assistent zu scherzen. Der Sheriff ging zum Spiegel und brachte eine Haarsträh ne seiner Frisur, die sich eine andere Position einzunehmen erdreistet hatte, an die Stelle, wo sie hingehörte. „Ich werde“, schwor er, „entweder den Panzerwagen fin den, oder beweisen, daß der Überfall nicht in meinem Di strict stattfand. Und wenn ich ein Jahr mit diesem Problem zubringen muß.“ Eine Reihe hervorragender Kriminalisien machte sich auf die Suche nach den verschwundenen 60 Millionen Dollar. Eine Sondergruppe der Polizei war monatelang nur mit diesem Verbrechen befaßt. Das FBI schaltete sich ein, und erfolgsgewohnte Versicherungsdetektive bosselten verge bens an seiner Aufklärung. Der Fall zog Terroristen Jäger und Privatinvestigators an. Trotz einer Wiederbeschaffungs prämie von sechs Millionen Dollar hatte man nach drei Jahren nichts als die Überzeugung, daß die Täter und die Beute irgendwo auf der Welt existieren mußten. An die bemitleidenswerten Opfer dachte schon lange kei ner mehr. 2. Am 14. März des vergangenen Jahres verließ der sowjeti sche Passagierdampfer Karaganda die australische Hafen stadt Sidney für eine Kreuzfahrt durch die Südsee. Der 22 000 Tonner war kein Luxusliner allererster Katego rie. Zuweilen funktionierte die Klimaanlage nicht, oft waren die Stewards mürrisch und das Essen ein wenig monoton. Aber Krimsekt und Kaviar waren sehr preiswert. Im übrigen buchte man die vierzehntägige Reise zu einem Preis, wie sie 12
keine westliche Reederei hätte bieten können. In Brisbane, das kurz angelaufen wurde, kamen die letzten Passagiere an Bord. Unter anderem auch das amerikanische Ehepaar Bill und Maud Frazer. Die Frazers bezogen eine der teuersten Firstclass-Kabinen auf dem A-Deck mit Terrasse nach achtern. Bill Frazer hatte eine leitende Funktion bei der TelevisionGesellschaft ABC und seine Ehefrau, eine attraktive, aber kühl wirkende Blondine, schrieb Fernsehserien über Ehe und Familie. Solange die Frazers an Bord offiziell in Erscheinung tra ten, sei es bei Mahlzeiten, an Deck oder auch in einer Bar, gingen sie so vertraut lässig miteinander um wie ein seit zehn Jahren glücklich verheiratetes Ehepaar. Der Austausch von Blicken, Küssen oder Zärtlichkeiten konnte hie und da beobachtet werden. Das alles fiel weg, sobald sich die Kajütentür hinter Bill und Maud Frazer ge schlossen hatte. Sofort benahmen sie sich nur noch wie Geschäftspartner und überhaupt nicht wie verheiratet. Sie unterhielten sich über ihre Eindrücke auf diesem Schiff, ergänzten einander gegenseitig darin, machten Noti zen und nahmen Analysen vor. „Was hältst du von den Japanern?“ fragte Maud, „das sind doch Geheimdienstleute.“ „Dann müßte ich sie kennen“, meinte Bill. „Und die zwei englischen Junggesellen. Sehn die nicht nach MI-6 aus?“ „Sie sehen wie Homosexuelle aus“, sagte Bill, „die sich einen Südseeurlaub leisten.“ „Was ergab der Einblick in die Passagierliste?“ „Ich hatte sie nur kurz“, bedauerte Bill. „Der Zahlmeister ist todsicher vom KGB. Unter der Besatzung wimmelt es nur so von Agenten. Und ich wollte mir nicht anmerken lassen, wer wir in Wirklichkeit sind.“ Maud legte den Zeigefinger an den Mund und stellte erst 13
einmal das Radio lauter. Immer wenn sie über ihren Auftrag sprachen, taten sie das entweder im Freien oder bei Radio musik. Zwar hatten sie mit dem Suchdetektor die Kabine nach Minispionen abgesucht, aber der Einbau von Wanzen war Minutensache und ließ sich vornehmen, wenn sie zum Dinner gingen. „Ist das alles“, fragte Maud, „was dir mißfällt?“ „Nein“, sagte Bill. „Sie machen fürchterliche Martinis. Sie verwenden den falschen Gin, und ihre Steaks taugen auch nicht viel.“ „Mehr hast du nicht vorzutragen?“ „Doch, eines noch. Diese Burschen, die an Deck immer zusammenhocken, gefallen mir nicht. Sie treten nie anders auf als in der Gruppe. Sei es am Swimmingpool, beim Shuf fle, in der Bierstube oder beim Sektflaschenschießen, und sie schießen erstaunlich gut.“ „Nur beim Essen sieht man sie nie.“ „Sie speisen vielleicht mit der Besatzung.“ „Sechsunddreißig Mann“, sagte Maud, „keiner älter als dreißig. Normalerweise fliegt man in diesem Alter auf Frauen. Und Frauen gibt es doch verdammt hübsche und ausrei chend viele an Bord. Eunuchen werden sie doch nicht sein, oder?“ Bill verkniff ein Grinsen. „Aber gutgedrillte Experten.“ „Experten wofür?“ „Keine Ahnung. Wenn du genau hinsiehst, erkennst du deutlich Vorgesetzte und Untergebene.“ „Zum Beispiel, wenn sie sich Feuer reichen, oder wenn sie Platz nehmen.“ „Richtig. Dann scheinen einige unter ihnen besonders re spektiert zu werden. Das müssen die Offiziere sein, die Oberexperten.“ Maud wiederholte ihre Frage: „Experten wofür?“ 14
„Nun, wir werden bald wissen, ob die Meldung stimmt oder nicht. Dazu sind wir hier.“ „In drei bis vier Tagen müßte es soweit sein“, schätzte Maud. „Zwischen den Fidschi-Inseln und Tahiti, denke ich.“ „Ab morgen gehen wir Wache“, schlug Bill vor. „Gern, ich kann ohnehin nicht gut schlafen bei der Hitze.“ „Oder sind es die Nerven?“ fragte Bill. „Ich gebe zu“, gestand Maud, „daß ich diese Reise mit ei nem anderen Herrn lieber gemacht hätte als mit dir.“ „Du stehst nicht auf mich?“ „Zumindest habe ich nicht den Wunsch, das Ehepaar auch im Bett weiterzuspielen.“ „Dienst ist Dienst“, bedauerte Bill seine attraktive Kolle gin. „Ich will versuchen, nett zu dir zu sein.“ „Bitte nicht“, sagte Maud, „bitte nicht zu sehr. Ich bin auch nur eine einsame Frau.“ * Nachdem sie vier Nächte lang abwechselnd Wache gescho ben hatten, warf die Karaganda in einer malerischen Pal menbucht der Pitcairn-Insel Anker. Zubringerboote brachten die Passagiere zu jenen Stränden, wo vor zweihundert Jahren Fletcher Christian und die Meu terer der Bounty ihre letzte Zuflucht gefunden hatten. „Stimmt es eigentlich“, fragte Maud, neben Bill im Sand dösend, „daß Fletcher Christian die Bounty verbrennen ließ, um die Rückkehr unmöglich zu machen?“ „Man hätte sie in England sowieso nur enthauptet.“ „Captain Blight erreichte Timor und schwor blutige Ra che.“ „Der alte Blight“, sagte Bill. „Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn immer in der Gestalt von Charles Laughton.“ „Und wenn ich an Fletcher Christian denke“, gestand Maud, „weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ob für Clark Gable oder für Errol Flynn.“ 15
„Nimm lieber Marion Brando“, schlug Bill vor und flü sterte: „Was machen unsere Experten? Hast du sie heute schon gesehen?“ Maud blieb die Antwort schuldig, denn vor ihnen stand ein Schiffssteward und erkundigte sich, ob die Herrschaften Drinks wünschten. Bill nahm einen Orangensaft mit Wodka und Maud einen Wodka mit Limonensaft. Als der Steward gegangen war, flüsterte Bill: „Seit gestern vermisse ich unsere 36 Genossen.“ „Ob sie schon ausgestiegen sind?“ „Wo? Auf hoher See vom fahrenden Schiff? Kaum. Der Augenzeuge hat gemeldet, bei ihm hätte das Schiff heimlich gestoppt.“ „Warten wir es ab“, meinte Maud. „Noch liegen zehn Ta ge vor uns.“ „Und die einsamste Ecke der Südsee.“ Sie saugten an ihren abgeknickten Strohhalmen. Nach denklich bemerkte Maud: „Ich frage mich, ob die Russen das nötig haben. „Und wie“, murmelte Bill, nach Leuten mit richtmikrofon ähnlichen Gegenständen Ausschau haltend, und wie nötig sie es haben. Den Sowjets fehlt es doch an Basen. Überall fliegen sie raus. In Ägypten, in Afrika, in Indochina fällt keiner mehr auf ihre Tricks rein. Sogar Castro hätte sie lie ber heute als morgen von Kuba weg. Andererseits braucht eine Weltmacht dringend Stützpunkte. Weil sie die nicht haben, greifen sie zu solchen Mitteln.“ „Wenn“, überlegte Maud halblaut, „dieser Kreuzfahrt dampfer eine Art schwimmender Tender ist, dann finde ich die Reise eigentlich ganz schön teuer.“ „Du meinst, dann müßte sie ganz umsonst sein.“ „Wenn wir schon ahnungslos zur Tarnung dienen.“ „Auch die Kommunisten verbinden gern das Nützliche mit dem Profit.“ 16
„Genaugenommen ist es eine Unverschämtheit, eine fried liche Kreuzfahrt mit so etwas zu verbinden.“ „Es weiß ja keiner“, erwiderte Bill. „Mir genügt, wenn ich es weiß“, schimpfte Maud. Der Drink war auch nicht von einer Qualität, die sie milder stimmte. Es fehlte Eis darin und ein Tropfen Angostura fehlte auch. * Dann kam die Nacht, in der sich ihr Verdacht bestätigte. Die Karaganda näherte sich auf Südwestkurs der Datumsgrenze. In allen Decks feierte man rauschende Partys. Die Schiffsführung spendierte jedem Passagier eine Fla sche Krimsekt. Die Korken knallten, die Kapellen spielten pausenlos. Aber kurz nach Mitternacht war plötzlich Schluß. Im Gegensatz zu vorhergegangenen Feten, die sich bis in den Morgen hinzogen, begaben sich die meisten Passagiere schon früh zu Bett. Nur ein paar unentwegte saßen noch in der Balalaika-Bar. Doch selbst ausgepichte Zecher hingen bald schwertrunken auf ihren Hockern. „Was ist los heute?“ fragte Mrs. Frazer Mister Frazer. „Der Krimsekt“, deutete Bill an. „Du glaubst doch nicht etwa?“ „Es ist ungeheuerlich“, sagte Bill, „aber Tatsache. Jeder Passagier erhielt als Kapitänsspende eine Flasche Krimsekt. Es muß sich um eine KGB-Sonderabfüllung handeln.“ „Geschmeckt hat er prima. Fast wie Champagner.“ „Moderne Schlafmittel“, meinte Bill, „entgehen selbst den feinsten Zungen. Warum glaubst du, habe ich unsere Fla schen in den Palmenkübel gekippt? Wenn ein Iwan schon Geschenke macht, dann muß etwas faul sein, dachte ich mir.“ „Aber irgendwie regte er an.“ „Das erste Glas“, schränkte Bill ein. „Beim zweiten haben 17
alle verstohlen gegähnt, und jetzt schnarchen sie längst in ihren Kojen.“ „Neunhundert Passagiere“, murmelte Maud kopfschü t telnd. „Einschließlich des kanadischen Holzfällerkönigs da drü ben“, sagte Bill. „Sonst macht der pro Abend zwei Flaschen Wodka leer. Heute haben sie ihn geschafft.“ Der Kanadier war sanft eingeschlummert. Der Barsteward näherte sich den Frazers. „Bring jetzt deine Glanznummer“, flüsterte Bill. Maud ließ sich in den Sessel zurückfallen, streckte Arme und Beine von sich und lallte: „Schlaf Kindlein schlaf…“ „Würden Sie bitte“, wandte sich Frazer gähnend an den Steward, „mir helfen meine Frau… A-Deck… Suite Num mer acht… glaube ich…“ „Aber mit Vergnügen, Sir“, sagte der Steward. * Kaum hatten sie die Kabinentür hinter sich versperrt, lösch ten sie im Salon das Licht und öffneten die Tür zur achteren Terrasse. Bill Frazer deutete auf das Kielwasser. Es verlief nicht mehr schnurgerade wie bei Schiffen, die strikt von A nach B fuhren, sondern beschrieb einen sanften Bogen nach Süden. „Sie haben den Kurs geändert“, sagte Maud. „In den nächsten neunzig Minuten muß es geschehen, denn um fünf geht die Sonne auf. Hier unten ist noch Som mer.“ „Wir beschreiben eine Suchkurve.“ „Und langsamer werden wir auch.“ Es war gespenstisch anzusehen, wie der große Musik dampfer, immer noch über die Toppen illuminiert, seinen vorgesehenen Kurs nach Neuseeland verließ und mitten im Südpazifischen Ozean, wo es auf 2000 Meilen im Umkreis keine Insel gab, plötzlich ein geheimnisvolles Manöver 18
einleitete. Bill öffnete seinen Handkoffer und entnahm ihm ein Gerät, das wie ein schweres Fernglas aussah, aber eine Reihe von Extras besaß, die käuflich in keinem Optikerladen zu erwerben waren. Das Glas verfügte über eine Kombination von Infrarotund Restlichtverstärker. Man konnte es wie ein normales 12 x 60 Marinenachtglas gebrauchen. Auf Knopfdruck jedoch machte es versteckte Wärmequellen sichtbar. Wenn man den Knopf eingedrückt nach links schob, setzte es das Licht der Sterne zum Aufhellen des Bildes ein. Bei Dunkelheit gestat tete dies sogar das Lesen einer Zeitung. Bill setzte das Glas vor die Augen und suchte die See in einem Sektor von hundertsechzig Grad achteraus ab. Mit der optischen Schaltung war nichts zu erkennen. Mit der Restlichtverstärkung auch nichts. Aber mit der Infrarot blende erkannte er einen hellen langgezogenen Fleck, der auf den Wellen zu schweben schien. „Schau dir das an“, sagte er leise zu Maud und reichte ihr das Glas. „Als steige der Mond aus dem Meer.“ „Hier strömt warmes Wasser an die Oberfläche.“ „Warmes Wasser von was?“ „Kühlwasser eines Atomreaktors“, erklärte Bill. „Gibt gar keine andere Erklärung. Bald wird das Gehäuse des Reak tors zu sehen sein.“ Etwa 12 Meter unter ihnen, auf dem Bootsdeck des Damp fers, setzte eine hektische Tätigkeit ein. Pinassen wurden klargemacht und lautlos in den Davits ausgeschwenkt. „Perfekt“, staunte Maud, „sie verursachen nicht den leise sten Ton.“ „Sie tragen Handschuhe und dicke Gummisohlen.“ „Und sogar schwarze Gesichtsmasken.“ Zu den Dampfermatrosen gesellte sich jetzt eine wohlge ordnete Schar von Männern, etwa drei Dutzend, in Doppel reihe. Jeder hatte einen Seesack auf dem Rücken. 19
„Unsere Experten“, flüsterte Bill. „Gleich geht es los.“ Plötzlich fehlte etwas, an das sie sich im Lauf der Reise gewöhnt hatten. Das vibrierende Summen, das Tag und Nacht aus der Tiefe des Schiffsleibes gedrungen war, es hatte aufgehört. „Die Hauptdiesel stehen“, murmelte Bill. „Sie haben die Maschinen abgestellt… Wir liegen gestoppt. – Schreib auf. 27. März, null zwei Uhr zehn Ortszeit. 160 West, 39 Süd.“ Bill packte seine Partnerin am Arm. „Da schau hin!“ Der Turm eines U-Bootes hob sich langsam aus dem Was ser. An der Seite waren Hammer und Sichel aufgemalt. Die Nummer hatten sie überpinselt, aber mit Infrarotblende war sie zu erkennen. „Atom-U-Boot“, stellte Bill fest, „Taxi-Klasse. Minde stens dreitausend Tonnen.“ * Sie hielten jede Phase auf superempfindlichem Nachtfilm material fest. Das Manöver lief mit militärisch gedrillter Präzision ab. Die Experten gingen in die Boote, die Boote wurden we g gefiert und fuhren zu dem U-Boot hinüber. Eine neue Mannschaft stieg auf das Atom-U-Boot, die alte kam an Bord der Karaganda. Danach fuhren die Boote noch zweimal. Vermutlich brachten sie Ersatzteile oder Frischverpflegung an Bord des U-Kreuzers. Dann wurden die Boote gehievt. Kaum waren sie aus dem Wasser, nahm der Passagierdampfer wieder seine Fahrt auf. Backbord achteraus tauchte das U-Boot wieder in die Tie fen des Südpazifik. Bill drückte auf die Digitalstoppuhr. „Achtundvierzig Minuten. Das werde ich Admiral Shoo maker unter die Nase reiben. Damit kann er sein Bild über 20
den angeblich miesen Ausbildungsstand der Roten Marine revidieren. Das war absolute Bestzeit.“ Maud entnahm der Kamera die letzte Filmkassette und legte sie in die bleigefütterte strahlungssichere Büchse. „Wenn wir bloß schon in Neuseeland wären“, sagte sie. „Nur noch zwei Tage.“ „Die haben uns doch genauso im Visier wie wir sie.“ „Glaube ich nicht.“ „Benimm dich nicht wie Admiral Shoomaker und unter schätze sie.“ „Selbst wenn sie uns die Filme mit Röntgen kaputtstrah len“, meinte Bill, „was wir gesehen haben, können sie uns nicht nehmen.“ „Es sei denn, sie nehmen uns hoch.“ „Die werden sich hüten, einen Passagier anzutasten. Wenn das bekannt würde, bekämen sie keinen einzigen mehr an Bord und könnten das Kreuzfahrtgeschäft begraben.“ Am nächsten Morgen lief das Leben an Bord weiter wie in den Wochen vorher. Lediglich ein Passagier erkundigte sich beim zweiten Offizier, ob das Schiff in der Nacht vielleicht gestoppt hätte, es sei ihm so vorgekommen. „Wir hatten einen Schaden an der Rudermaschine“, hieß es. „Ist schon behoben, Sir.“ Auch die Expertengruppe, diese wie Studenten in Seme sterferien wirkenden jungen Russen, tauchten am Nachmit tag wieder auf dem Promenadendeck auf. Sie benahmen sich wie immer, waren gekleidet wie immer und sahen fast genau so aus wie immer. Nur ihre Hautfarbe war merkwürdig grau. Kein Wunder bei U-Boot-Leuten, die seit einem halben Jahr keine Sonne mehr gesehen hatten.
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3.
Rief doch tatsächlich so ein Vollidiot an und fragte nach den Schrottpreisen. – In diesem kühlen verregneten Juli, der kein rechter Som mer, aber auch kein Winter war, hatte der BND-Agent Ro bert Urban zu nichts große Lust. Auch nicht zum Telefonie ren. Reisen haßte er, weil er beruflich immer unterwegs war. Schwimmen, Segeln, Boxen, Fliegen, mit dem Auto herum flitzen, Kreuzworträtsel lösen, Puzzle zusammensetzen, das war für ihn kein Sport. Sein Job verlangte es ihm täglich ab. Exquisit essen machte auch keinen Spaß mehr, seitdem die großen Köche nur noch labbriges halbgares Gemüse und hauchdünne Filets vom Kaninchen auf die Teller brachten. Trinken, ein handfester Männerspaß, schädigte angeblich die Leber, und mit Frauen war es immer dasselbe, die Ton leiter rauf, die Tonleiter runter. Am wenigsten Lust hatte Urban zu arbeiten. Am liebsten war es ihm noch, in seinem zweigeschossigen Penthouse auf dem obersten Stock eines Schwabinger Cityhauses den toten Mann zu spielen. Und dann kam dieser Vollidiot und fragte nach den Schrottpreisen. „Was interessiert mich“, knurrte Urban in den Draht, „was eines Tages für meinen Korpus bezahlt wird?“ „Ich spreche von Stahlschrott.“ „Dreifuffzig das Pfund.“ „Stimmt ja nicht.“ „Warum fragst du dann ausgerechnet mich“, entgegnete Urban unfreundlich. „Weil“, setzte der Anrufer an, „man es von mir wissen wollte und ich auch keine Ahnung habe.“ „Dann nervst du einen anderen, der auch keinen Schimmer hat.“ „Dachte, du seist kompetent für sämtliche Lebenslagen. Dynamit sprengt alles, Dynamit weiß alles.“ 22
Ganz unfreundlich wollte Urban nicht sein. Wenn er dem BND-Kollegen einen Tip gab, hatte er ihn vielleicht vom Hals. „Ich kenne da einen Typ. Wenn ein Mensch in diesem, un serem Lande über Schrott Bescheid weiß, dann ist er es.“ „Name, Anschrift, Telefonnummer bitte.“ „Staatssekretär Hartmann im Wirtschaftsministerium, Ab teilung Recycling.“ „Recycling bedeutet Wiederaufbereitung von Abfällen.“ „Oder so ähnlich“, bemerkte Urban. „Danke, das war leider ein ganz bescheidener Tip, Bob.“ „Hartman oder keiner“, betonte Urban noch einmal. „Dann keiner“, erklärte Urbans Kollege. „Vom Wirt schaftsministerium, von Staatssekretär Hartmann, kommt nämlich die Anfrage, was mit dem Schrott los ist und war um.“ Urban seufzte schwer. „Seit wann lassen sich Fußballtrainer von Eskimos die Ar beitsregel erklären.“ „Es hörte sich an, als gebe es in Bonn Probleme.“ „Mit Schrott gab es sie immer“, sagte Urban. „Entweder sie hatten zuviel und wußten nicht wohin damit, oder sie hatten zu wenig, weil gerade mal kein Krieg war oder die Italiener alles aufkauften. Schrotthändler weinen immer, als hätte es ihnen die Blüten verhagelt. Aber daß Schrott je zu einem solchen Problem wurde, daß man deswegen beim Geheimdienst anfragt, das… das muß ein Übermittlungsfeh ler sein.“ „Mal gucken“, sagte Urbans Kollege draußen im Haupt quartier. „Entweder du hörst wieder von mir…“ „… oder nicht“, sagte Urban. „Dann lieber nicht.“ Er wälzte sich auf die andere Seite seines Himmelbetts, in dem schon der Schmied von Kochel seine Söhne gezeugt hatte. Ein Druck auf einen Schalter. Irgendwo im Haus begann eine Musikkassette anzulaufen, Tonköpfe tasteten sie ab. 23
Verstärker schickten die elektromagnetischen Schwingun gen in verteilt aufgehängte 60-Watt-Boxen. Sie waren ganz leise gestellt, aber Gershwin hob einen immer wieder auf rosa Wolken. * An den entlegenen Piers der großen deutschen Seehäfen, in Hamburg, Bremen, Kiel, Cuxhaven und Lübeck stauten sich uralte schrottreife Frachter. Die meisten gehörten noch der Kriegsgeneration an. Sie hatten jetzt vierzig Jahre Fahrens zeit auf dem Buckel und wurden ausgemustert, weil sie technisch so unrentabel geworden waren wie ein Pferde fuhrwerk im Güterfernverkehr. Für die rostigen Zossen wurde gewöhnlich pro tausend Tonnen fünftausend Mark bezahlt. Dazu kam dann noch die Abwrackprämie für den Eigner. Aber für dieses Geld war weit und breit kein Meter Kiel zu kaufen. Die etablierten Schrotthändler telefonierten sich die Finger wund. Nirgendwo ein Angebot, nicht einmal zu Überprei sen, als sei der Markt für Schiffsschrott leergefegt. Die schrottverarbeitenden Stahlwerke mußten ihre Kon verter mit minderwertigem Automobilschrott füttern, und das, obwohl zwischen Ostsee und Mittelmeer Hunderte von rostigen Kähnen herumlagen. Irgend jemand hatte sie erst klammheimlich, dann in einer Blitzaktion aufgekauft. Die Schrottbosse standen vor einem Rätsel, und ihre Ver tragsabnehmer machten ihnen die Hölle heiß. Als dem Einkaufsdirektor eines Bochumer Stahlkochers am Morgen gemeldet wurde, daß statt der erwarteten vierzig Waggons Stahlschrott wieder nur sieben Wagen eingetroffen seien, diktierte er ein geharnischtes Fernschreiben nach Hamburg. Weil das Fernschreiben ohne Antwort blieb, rief er bei der 24
Elbschrott AG an. – Doch dort hatte man auf Anrufbeant worter geschaltet. „Das darf nicht wahr sein“, tobte der Stahlmanager, „wenn das so weitergeht, fahren wir nächste Woche nur noch eine Schicht und in zehn Tagen gehen die Öfen aus. Und das bei einem Auftragsbestand von neunzigtausend Tonnen Grob blech.“ In der Vorstandsitzung würde man ihm wieder den Vor wurf machen, daß er sich zu sehr auf die Elbschrott als Lie feranten verlassen habe, anstatt die Aufträge für das Rohma terial zu streuen. Er würde diesen Vorwurf damit abschmet tern, daß die Weserschrott und die Belgier, die Holländer und Franzosen auch nicht liefern konnten. Irgend jemand hatte den Schrottmarkt total dichtgemacht. Aber Begründungen jedweder Art hielten Hochöfen und Walzstraßen nicht am Laufen. Rohware mußte her. Dr. Steinheil bestellte den Hubschrauber für 10 Uhr. Kurz vor Mittag landete er auf dem Besitz des größten Schrotthändlers der Bundesrepublik am Elbufer nahe Wedel. Doch Hein Bowens war nicht da. Der Butler drückte es allerdings gepflegter aus. „Der Herr Konsul“, sagte er, „weilt auf See.“ Dr. Steinheil von den Bochumer Hütten war sicher, daß sein alter Freund Hein Bowens nicht auf See, sondern tief im Keller bei seiner Spielwarensammlung weilte. Die Jacht und das Motorboot lagen nämlich am Steg. Wenn Hein Bowens Sorgen hatte, versetzte er sich anhand seiner alten Lokomotiven und Blechautomobile gern in die Vergangen heit zurück. Der Stahlmanager schob den Butler beiseite, er durchbrach gewissermaßen die Absperrung, eilte durch die weiträumige Villa, nahm den ihm bekannten Weg in das Souterrain und stand bald vor einem bulligen Mann mit Doggengesicht, der verzückt ein altes Feuerwehrauto polierte. „Wo brennt’s denn?“ rief Dr. Steinheil spöttisch. Überrascht legte der Schrottboß das wertvolle rote Blech 25
spielzeug weg, wischte die Ölfinger an einem weichen Lap pen ab und bot seinem Gast Whisky und Havannas an. „Warum gehst du auf Tauchstation?“‘ fragte Steinheil sei nen Freund. Hein Bowens, nach landläufigen Begriffen war er ein steinreicher Bursche, massierte seinen Nacken, als habe er sich einen Muskel verrenkt. „Weil ich mich schäme“, gestand er. Sie tranken alten Chivas Regal. „Warum läßt du mich so aufsitzen?“ fragte Steinheil. „Faß mal einer nackten Lady in die Taschen.“ „Die Welt ist groß genug“, entgegnete Dr. Steinheil, „auf allen Meeren in allen Häfen wird zu jeder Stunde Schiff schrott reif. Und du bist der cleverste Junge, der es je mit zwei Telefonen zum Multimillionär brachte. Also laß uns nicht verhungern.“ „Vorher“, antwortete der Schrottboß, „geht ein anderer vor die Hunde. Nämlich ich. Wegen der Konventionalstrafen.“ „Die könntest nicht einmal du bezahlen.“ „Deshalb haue ich auch morgen ab.“ „Stimmt“, spottete der Stahlmanager, „der Herr Konsul weilen bereits auf See.“ Hein Bowens massierte seinen Nacken jetzt mit zwei Hän den, mit seinen zwei schwarzbehaarten Pranken. „Weißt du, was du zu liefern hast?“ „Vierzig Waggons täglich“, sagte Hein Bowens. „Meine Abwracker stehen seit Montag tatenlos herum mit den kalten Schweißbrennern unterm Arm.“ „Gestern waren es neun Waggons, heute nur sieben.“ „Morgen gar keiner“, ergänzte der Schrotthändler mit To dessehnsucht im Blick. „Und alle Häfen liegen voll Rohware.“ „Die mir nicht gehört.“ „Warum hast du nicht rechtzeitig gekauft?“ „Ich habe immer für sechs Monate im voraus disponiert, 26
um die Preise nicht in die Höhe zu treiben. Das machen alle so. Schon im Januar bekamen wir kaum noch Ware.“ „Gab dir das nicht zu denken?“ „So was kommt öfter vor. Engpässe gibt es immer. Wenig später schichten sie uns dann wieder die Piers voll.“ „Diesmal offenbar nicht.“ „Nein, diesmal verlief es antizyklisch, wie man so schön sagt. Der Engpaß blieb und wurde enger, bis der Nachschub ganz versiegte.“ „Aber, zum Teufel, die Häfen liegen doch voll Ware“, fluchte Steinheil. „Sie gehört einem anderen.“ „Wem?“ fragte der Stahlmanager. „Das kann doch nur ein Spekulant sein. Zahlt ihm, was er verlangt.“ Hein Bowens steckte sich eine Havanna an, doch die Zi garre schmeckte ihm offenbar nicht. „Erstens“, sagte er, „wissen wir nicht, wer diese vierhun dert Schrottdampfer aufkaufte, zweitens will der Hamsterer gar nicht verkaufen.“ „Und das in unserer Zeit, wo jeder von jedem alles weiß. Das gibt’s doch gar nicht. Was steckt denn dahinter?“ „Mindestens zwanzig Millionen Dollar“, rechnete Bo wens. „Und wer gibt die aus?“ „Keine Ahnung.“ „Mensch, Hein, du kennst doch jeden krummen Typ von Hammerfest bis Madagaskar“, erwiderte Dr. Steinheil, „das kannst du mir nicht erzählen.“ Mit einer Stimme, als verrate er höchste Betriebsgeheim nisse, sagte der Schrotthändler: „Wir haben uns zusammengetan. Kollegen aus London, die Italiener und ich. Wir beauftragten einen Privatdetektiv. – Ergebnis, etwas weniger als Null.“ „Damit gabst du dich aber nicht zufrieden.“ „Stimmt“, gestand Bowens, „ich erinnerte mich, daß ich pro Jahr 55 Prozent meines Gewinns an Steuern entrichte. 27
Das ist eine Zahl mit sechs Nullen. Jetzt sollen die in Bonn gefälligst was tun, dachte ich mir.“ „Das Wirtschaftsministerium?“ „Staatssekretär Hartmann. Den Knaben haben wir tüchtig angespitzt. Der ist gleich losgewetzt und hat seinen Apparat anlaufen lassen. In Bonn funken sie jetzt auf allen Kanälen. Auf Kanal eins zur obersten Montanbehörde LuxemburgBrüssel. Auf Kanal zwei via Bundeskriminalamt-InterpolInternationale Schiffsregister. Auf Kanal drei, Richtung Geheimdienst.“ „Schließlich stehen ein paar Arbeitsplätze auf dem Spiel“, ergänzte der Stahlmanager. „Das allein ist es nicht“, meinte Bowens, „könnte ja ir gendeine Aktion dahinterstecken, die die Sicherheit be droht.“ „Gewöhnlich bedrohte zuviel Schrott die Sicherheit der Schiffahrt.“ „Aber wenn es auf dem ganzen internationalen Markt plötzlich keinen, sagen wir mal Tennisball, mehr gibt, macht man sich doch seine Gedanken.“ „Klar, die Russen könnten sie aufgekauft haben, um damit die Auspuffrohre aller NATO- Militärfahrzeuge zu verstop fen. Im Falle eines Krieges wäre das eine Katastrophe.“ „Eigentlich“, sagte der Schrotthändler, „ist uns gar nicht zum Scherzen zumute, oder?“ Sie nahmen beide noch einen doppelten Scotch. Dann schaute Bowens auf seine protzige mit Brillanten besetzte Platin-Rolex. „Will mal in Bonn anrufen. Hartmann hat mir verspro chen, daß er sich meldet, wenn er gesicherte Anhaltspunkte hat. – Aber vielleicht muß man ihm auf die Hühneraugen treten, damit er den Tritt weiterreicht.“
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An diesem grauen Sommertag leitete die BND-Zentrale München-Pullach zuständigkeitshalber drei Auslandsge spräche zu Bob Urban um. Das erste erreichte ihn morgens in seiner Küche bei der Überlegung, ob er die Kaffeemaschine anheizen sollte oder ob die halbe Flasche Champagner, die vom Abend Übrigge blieben war, auch als Frühstück taugte. Er entschloß sich, erst den Champagner zu leeren, der moussierte so schön kalt im nüchternen Magen, und dann mit einer Tasse Mocca nachzuwärmen. In diesem Moment rief London an, der Geheimdienst Ihrer britischen Majestät, abgekürzt MI-5. Eine Stunde später, Urban saß gerade in seinem BMWCoupé, summte der Funktelefonanschluß. Paris war in der Leitung. Gil Quatembre vom SDFCE schüttete sein Herz aus. Im Prinzip ging es Gil um dasselbe wie dem Londoner Kollegen. Urban fertigte auch ihn ab. Kaum hatte er sein Büro im BND-Hauptquartier betreten, war Rom auf Apparat eins. Nachdem er auch dieses Gespräch mit hinhaltenden Ant worten beendet hatte, kam Urban zu dem Ergebnis, daß er sich jetzt endlich mit dem Problem befassen müsse. Angeblich, so erklärten die anderen Geheimdienste, liege der Schwerpunkt des Geschehens in der Bundesrepublik. Eine rein routinemäßige Behauptung, um einen unangeneh men Fall erst einmal vom eigenen Schreibtisch zu entfernen. Doch dann erwischte ihn Staatssekretär Hartmann vom Wirtschaftsministerium voll. „Was haben Sie unternommen?“ wollte der Beamte wis sen. „Nichts“, gestand Urban. „Ohne Auftrag geht bei mir so wenig wie beim Tischler.“ „Nun das, das ist aber doch…“ „Korrekt“, ergänzte Urban. „Hier wird nämlich mit wilden Gerüchten und Vermutungen nur so herumgeschmissen. 29
Wenn ein paar Schrottgangstern der Nachschub ausgeht, ist das noch lange kein Grund, gleich nach dem Geheimdienst zu schreien. Oder anders ausgedrückt, Herr Hartmann: Es gibt den sogenannten Instanzenweg. Das Kanzleramt ist für die G-Dienste zuständig. Wird von dort die Dringlichkeit befürwortet, dann läuft das über den BND-Präsidenten via Operationsabteilung schon zur richtigen Stelle.“ „Danke“, sagte der Staatssekretär verschnupft, „das ist mir bekannt. Dachte immer, Sie seien ein unbürokratischer Mensch.“ „Gerne, bei Gefahr im Verzug.“ „Stehe im Bedarfsfall auch nicht zu Ihren Diensten. Wie derhören.“ Bonn legte auf und Urban steckte sich eine MC an. Da könnte, dachte er, da könnte ja jeder kommen. Die Bauern mit dem Schweineberg, die Stromerzeuger mit ihrem Reaktorberg, die Kultusminister mit ihrem Lehrerberg. Die Kinobesitzer mit ihrem Zuschauerschwund, die Bäcker mit dem Nachtbackverbot, die Gewerkschaften mit der 24 Stunden-Woche. Sein Telefon summte. Eine angenehm kühle, nach Blondine klingende Frauen stimme war dran. Sie sprach American-Englisch. Urbans Laune hellte sich sofort auf. „Maud, mein Darling“, rief er, „du bist in München. Klar habe ich Zeit für dich. Endlich ein Lichtblick.“ Sie verabredeten sich zum Essen. * Die Behauptung, Maud Fisher sei die attraktivste blonde Agentin, die der amerikanische Geheimdienst CIA zur Zeit beschäftige, war nicht aus der Luft gegriffen. Man konnte noch weiter gehen und sagen, sie sei sogar hübscher als alle rothaarigen CIA-Agentinnen, und dies schon mindestens sechs Jahre lang. Seitdem sie für Langley arbeitete. 30
Urban musterte ihre Makellosigkeit kopfschüttelnd. „Wie machst du das“, fragte er, „immer so taufrisch, so elegant und freundlich obendrein.“ „Staatsgeheimnis“, sägte Maud. Hinter halboffenen Lip pen bissen ihre Zähne andeutungsvoll zu. „Ich bin aber verschwiegen.“ Sie machte die dunkelblauen Augen ein wenig schmäler. Ihre Perlmuttfingernägel glitten an der blonden Haarwelle, die ihr Gesicht umrahmte, entlang. „Haben wir schon miteinander geschlafen, Bob?“ „Du weißt es genau.“ „Wie oft?“ „Dreimal, denke ich.“ „Okay“, sagte sie lachend, „dann brauchst du nicht zu fra gen. Du kennst die Quelle, an der ich mich labe.“ Daß das Essen nur mittelmäßig war, dafür konnte Urban nichts. Es lag an Mauds Flugplan. Zwischen der Landung ihrer Maschine aus Athen und dem Weiterflug nach New York blieben ihr nur knappe zwei Stunden im Flughafenre staurant. „Wird diesmal nichts mit Nummer vier“, bedauerte Urban. „Es sei denn, wir machen schnell.“ „Und wo?“ fragte er lachend. Sie bestellte noch einen Aperitif. „Lassen wir es diesmal beim Geschäft“, schlug sie vor. Urban fiel die Asche von der Zigarette. „He, du bist beruflich da?“ „Und wie. Dringlichkeitsstufe eins.“ „Kleine Rundreise zu den befreundeten Geheimdiensten.“ „Und du bist der letzte, weil der Liebste.“ Urban ging mit den Schultern zurück bis an die Lehne. Dabei blickte er hinaus zum Rollfeld. Weit draußen hatten sie ein kaputtes Flugzeug abgestellt, eine alte Caravelle. Aluschrott. Plötzlich hatte er eine Ideenverbindung. „Stahlschrott“, murmelte er. Maud griff das Stichwort auf. 31
„Alte Dampfer“, ergänzte sie. „Haufenweise.“ „Unregelmäßig verteilt. Hier ganze Berge und dort über haupt nichts.“ Urban runzelte die Stirn. „Auch bei euch drüben in den USA?“ „Es läuft seit ungefähr sechs Monaten. Jetzt wird es akut.“ „Die Hüttenwerke in Philadelphia haben Mangel an Nach schub für ihre Hochöfen. Stimmt’s?“ Maud hob die bildschön geschwungenen Brauenbögen in Richtung Haaransatz. „Woher weißt du das?“ „Den Hochöfen an der Ruhr, in Belgien, in Nordfrank reich, um Brescia herum und in Birmingham ergeht es ähn lich. Was steckt dahinter?“ „Ein Perverser“, fragte Maud, „ein Normaler, der sich sei ne Abartigkeit etwas kosten läßt.“ „Im Gegenteil. Seine Abartigkeit kostet ihn nichts, son dern bringt Geld. Inzwischen ist Dampferschrott um fünfzig Prozent gestiegen. Er könnte seine Beute mit Millionenge winn abstoßen.“ „Unsere Aufklärungsabteilung“, berichtete Maud, „hat weltweit fast achthundert schrottreife Dampfer gezählt, die für ihn an der Leine liegen. Alles respektable Objekte zwi schen drei und zwölftausend Tonnen. Auch große Tanker sind dabei. Was zum Teufel hat er damit vor?“ „Vielleicht wartet er ab, bis der Tonnenpreis noch weiter klettert.“ „Bis das Zeug zu Gold wird, he? – Aber vielleicht hat er etwas ganz anderes vor.“ „Die Antwort darauf“, bemerkte Urban, „kann er uns nur selbst geben.“ „Und wer, bitte, ist er?“ „Was, bitte, ist das Geheimnis der Schwerkraft“, fragte Urban dagegen. 32
Mit einer Stimme, die ihm bis in die Haarspitzen ging, flü sterte Maud: „Vielleicht wissen wir es, wenn wir das vierte Mal… du weißt schon was.“ Während sie Limonencreme als Nachspeise löffelten, wurde ihr Flug aufgerufen. Urban brachte Maud zum Zoll. Er konnte mit Maud durchgehen. Die Kollegen vom Bundesgrenzschutz kannten ihn. Im Transitraum ließ Maud ganz nebenbei noch einige Be merkungen fallen. „Die meisten Zahlungen liefen über eine Schweizer Bank.“ „Die sind, was Informationen betrifft, zugeknöpft wie eine Ordensschwester.“ „Wir konnten einen Scheck fotografieren. Er ist gezeichnet mit L und S in weiblichen Schriftzügen.“ „Lucy Smith.“ „Oder Lana Seilers“, sagte Maud. „Es gäbe Tausende von Möglichkeiten, wenn da nicht noch ein kleiner Haken dran wäre.“ „Unter uns Liebesleuten“, bat Urban, „mach es nicht so spannend, Darling.“ Sie drückte ihren Körper’ abschiednehmend an den seinen. „Zwischen dem L und dem S ist ein kleiner Haken.“ „Mit Punkt?“ fragte Urban. Sie nickte. „Ein Haken mit Punkt kann ein V sein und ,von’ bedeu ten.“ „Eine L von S also.“ „Das Von vor dem Namen gibt es nur noch in Deutsch land. Die Österreicher haben die Adelstitel abgeschafft. Eine Deutsche mithin.“ „Ich schicke dir eine Kopie der Kopie.“ „Warum“, fragte Urban, „hast du sie nicht dabei?“ „Nobody is perfect“, antwortete die schöne Maud Fisher. 33
„Wenn ich dich jetzt in meinem Schlafzimmer hätte“, drohte Urban. „Würde ich meinen Flieger versäumen. Und den nächsten auch noch.“ „Wer wartet auf dich?“ wollte er wissen. „Eine Quelle, die mich labt“, log sie. Dann mußte sie an Bord der 747. 4. Für gewöhnlich liefen sowjetische Fischtrawler keine frem den Häfen an. Sie waren nirgendswo beliebt, außerdem mußten die Liegegebühren in harten Devisen entrichtet werden. Mitunter machten es aber die Umstände erforderlich, daß die Fischdampfer unter roter Flagge westliche Küstenstädte aufsuchten. Sei es zum Schutz vor schwerem Wetter, aus technischen Gründen bei Maschinenschäden oder Defekten an der Kühlanlage. Die Geheimdienste sahen dies mit gemischten Gefühlen, denn es gab kaum einen sowjetischen Tr awler, der neben dem Fischfang nicht auch Spionageaufträge erledigte. Kein Wunder also, daß sich der Trawler Dwina-44 längst in den Ferngläsern der militärischen Abwehr befand, als er am Donnerstag nachmittag den Tejo aufwärts tuckerte, um im Fischereihafen von Lissabon festzumachen. Zwei Marineoffiziere in Zivil verfolgten in einem dunkel blauen Renault sitzend den Trawler. Mit langsamer Fahrt lief der angerostete SechshundertTonner am Belem-Turm vorbei flußaufwärts. „Die üblichen Funkanlagen“, sagte der Capitan, „nichts Besonderes.“ „Das Besondere bei denen ist unsichtbar, Senhor“, be merkte der Leutnant. „Ich gehe rasch mal telefonieren“, erklärte der Capitan. Da die Überwachungswagen noch nicht über Autotelefone 34
verfügten, bezogen sie ihre Beobachtungsplätze möglichst in der Nähe einer Telefonzelle. Der Capitan kam nach wenigen Minuten zurück. „Er hat beim Hafenmeister um Zuteilung eines Liegeplat zes nachgesucht.“ „Für wie lange?“ „Die üblichen 24 Stunden.“ „Und der Grund, Senhor?“ Der Capitan deutete auf den grauen Koloß hinter der Sala zarbrücke, der wie ein riesiges auf die Spitze gestelltes Drei eck im Wasser ruhte. „Sie glauben, Capitan“, sagte der Leutnant, „daß es den Russen um die Saratoga geht?“ „Russische Fischdampfer interessieren sich immer für amerikanische Flugzeugträger.“ „Den kann er auch draußen in der Biskaya abpassen.“ „Nur läuft ihm dort der Träger mit seiner dreimal so hohen Geschwindigkeit auf und davon. – Während er ihn hier in Sichtweite hat.“ „Aber nur für 24 Stunden.“ „Genug Zeit, um neue Funkfrequenzen einzupeilen.“ „Was“, fragte der Leutnant seinen Vorgesetzten, „gab der Russe als Grund an?“ Ohne darauf einzugehen, erzählte der Capitan eine kurze Geschichte: „In Toulon erlebte die französische Abwehr einen komi schen Fall. Im Winter lief ein russischer Trawler ein, angeb lich wegen havarierter Schraube. Natürlich ging es ihnen um die französischen Atom-U-Boote. Die Franzosen ließen die Russen für sechs Stunden ins Dock. Die Russen wechselten die Schraube und hauten wieder ab. Kaum hatten sie den Hafen verlassen, machten sie kehrt. Angeblich wieder we gen einer verbogenen Schraube. Und das wiederholte sich dreimal. Schließlich stellte man sich folgende Frage…“ „Bestanden die Schrauben aus sich selbstverbiegendem Blech?“ fiel der Leutnant dem Capitan ins Wort. 35
„Man stellte sich die Frage, wie machen die Russen das, daß immer dann, wenn es für sie wichtig ist, was kaputt geht.“ Der Leutnant wiederholte seine Frage von vorhin. „Und was gibt Dwina-44 als Grund an?“ Der Capitan grinste kopfschüttelnd. „Sie werden es nicht für möglich halten. Der Funker hat Kiefervereiterung.“ „Ob das stimmt, wird man ja in einer Zahnklinik feststel len können.“ „Der Zahnarzt wurde schon in die sowjetische Botschaft beordert.“ „Ein portugiesischer?“ „Nein, ein italienischer“, erklärte der Capitan. „Sie ließen ihn extra aus Genua einfliegen. Merkwürdige Sache, finden Sie nicht auch?“ „Seitdem ich dieser Abteilung angehöre“, gestand der Leutnant, „bin ich an so manches gewöhnt, Senhor Capi tan.“ * Der italienische Zahnarzt war kein Italiener, von Beruf nicht Zahnarzt und kam auch nicht aus Genua. Das einzig Überprüfbare an seiner Story war die Tatsache, daß er mit der 14 Uhr-Maschine aus Madrid landete. Sein Paß wies jedoch eine Qualität auf, die den stets miß trauischen Beamten am Lissaboner Flughafen keinen Anlaß gab, Dr. Enzo Volari die Einreise zu verweigern. Der Inhalt seines Handkoffers entsprach der beabsichtigten Aufenthaltsdauer. Hemd, Wäschestücke zum wechseln, Seife und Rasierzeug und eine Stange amerikanische r Ziga retten, mehr war nicht darin. „Wie lange bleiben Sie?“ fragte der Beamte. „Bis morgen.“ „Wo wohnen Sie, Senhor?“ 36
„Hotel Penta.“ Dr. Volari bekam seinen Stempel und war durch. Vor dem Flughafengebäude nahm er ein Taxi. „Fahren Sie mich ein wenig in der Stadt herum“, sagte er zu dem Fahrer. Der zeigte dem Ausländer ein paar Sehenswürdigkeiten. Das Hyronimuskloster, die Altstadt, die ehemals prächtige Avenida da Liberdade. Der Fahrgast kannte alles schon. Ihm ging es darum festzustellen, ob er beschattet wurde. Als er nichts dergleichen feststellen konnte, verließ er das Taxi am Rossio und nahm dort ein anderes. „Sowjetbotschaft“, rief er. Der Fahrer schaltete die Uhr und fädelte sich in den Ver kehr ein. Wenige Minuten später waren sie angelangt. Beim Betreten der Botschaft der UdSSR war die Überprü fung wesentlich schärfer als auf dem Flugplatz. Sie dauerte zehn Minuten und reichte von der Gepäckkon trolle über Leibesvisitation bis zu einem kurzen, aber schar fem Verhör. Als der Botschaftsangestellte Dr. Volari nach dem Grund seines Besuches fragte, sagte dieser nur ein Wort: „Pjabtiha.“ „Es heißt Pjabtschiha“, verbesserte ihn der Angestellte. „Ich kenne nur seine Bedeutung“, antwortete der angebli che Zahnarzt. „Es bedeutet Rost“, erklärte der Russe. „Aber damit kann ich wenig anfangen.“ Der Besucher fand allmählich, daß seine Geduld unnötig strapaziert wurde. „Hören Sie“, sagte er, „wenn Ihnen die Bedeutung dieses Kennwortes nicht geläufig ist, dann sind Sie der falsche Gesprächspartner für mich. Ich bitte jetzt zum zuständigen KGB-Experten gebracht zu werden. Sie vergeuden meine Zeit, junger Mann.“
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Der Funker der Dwina-44 hatte nur solange eine geschwol lene Backe, wie zu befürchten war, daß er von der portugie sischen Abwehr beschattet wurde. Kaum hatte sich das Tor der sowjetischen Botschaft hinter ihm geschlossen, nahm er die Tampons aus dem Mund und warf sie in den Spucknapf. „Wo ist Volari?“ fragte er mürrisch. „Wenn Sie mir in den abhörsicheren Raum folgen wollen, Admiral“, sagte der KGB-Major. Die magere Gestalt des Fischdampferfunkers straffte sich. Plötzlich wirkte er nicht mehr wie ein nach Kabeljau stin kender Fahrensmann, sondern wie ein hoher Offizier des Flottenstabes. Auch der Gast im kleinen Konferenzraum sah nicht aus wie ein Italiener, sondern eher wie ein Amerikaner. Er war rotblond mit grauen Schläfen, rundem Farmergesicht, etwa fünfeinhalb Fuß groß und Ende Dreißig. Er grinste freund lich über alle Zähne wie die meisten Amerikaner, auch wenn sie gar keinen Grund dazu hatten. „Doktor Volari“, grüßte der Admiral zurückhaltend kühl. Volari packte die Hände des Russen, schüttelte sie und sagte, wie erfreut er sei, daß man sich träfe. „Ganz meinerseits“, sagte der Admiral. „Sie sehen mich so glücklich und zufrieden wie einen Mann, der sich an Bord eines Zerstörers von der Ostsee bis in die Biskaya schaukeln ließ und dann noch auf einen Fischdampfer umsteigen muß te, nur weil Sie sich nicht entschließen konnten, zu uns nach Moskau zu kommen.“ – „Ich habe meine Gründe“, antwortete Volari. Der Admiral hob die Faust und ließ sie auf die filzbezoge ne Tischplatte sausen. „Sie hätten selbstverständlich unter unserem Schutz ge standen.“ „Der reicht aber nicht von Moskau bis Paris, Admiral.“ „Wir hätten ein Arrangement getroffen, das niemand durchschaut hätte. In Paris gastiert das Bolschoi-Ballet. Es 38
war geplant, Sie für Ihre Moskaureise dort als Tänzer einzu schleusen.“ „Die westlichen Geheimdienste hätten das sicher spitzge kriegt“, wandte Volari ein. „Sie hätten die Köpfe der Bal lettgruppe durchgezählt und siehe da, es wäre einer zuviel gewesen.“ „Unsinn, man sucht Sie seit vier Jahren, ohne Sie zu krie gen.“ Volari bekam, wenn er lachte, wässrige Augen. „Jedenfalls liegt mein Inkognito im Interesse unserer Ge schäfte. Und unser Geschäft liegt im Interesse der Moskauer Globalstrategie.“ „Sonst säße ich nicht hier“, betonte der Admiral. „Haben Sie die Pläne dabei?“ „Nur Kopien auf dünnem Reispapier.“ „Lassen Sie sehen.“ Dr. Volari knöpfte sein elegantes Mailänder Maßjackett aus dunkelbraunem Nadelstreifentuch auf und zupfte solan ge an der Ecke des Herstelleretiketts, bis eine flachge quetschte Zigarette zum Vorschein kam. Es handelte sich um eine gepreßte Dünnpapierrolle. Nachdem Volari sie aufgefaltet und geglättet hatte, sah man auf der Vorderseite eine Weltkarte, auf der Rückseite technische Zeichnungen und Zahlenkolonnen. „In großen Zügen kennen Sie meine Vorschläge ja“, be gann Volari. „Die Schwierigkeiten sitzen immer im Detail.“ „Ich habe sie alle gelöst.“ „Sie meinen, Sie verbesserten die Ideen Ihres Vorden kers“, bemerkte der Admiral. „Denn daß das alles auf Ihrem Mist gewachsen ist, werden Sie uns nicht erzählen wollen.“ Dr. Volari ließ dem Admiral Zeit, sich alles anzusehen, aber nicht länger. Keinesfalls sollte er sich jede Einzelheit einprägen können. „Um was geht es denn?“ fragte Dr. Volari jetzt ebenfalls ein wenig ironisch, „daß Sie endlich von der Hand-in-den 39
Mund-Versorgung abkommen und Ihre tapferen Männer im weltweiten Einsatz das kriegen, was Ihre Gegner, die Ame rikaner, im Ausland als Little America verkaufen. Ein Little Rußland also.“ „Ob das jemals funktioniert“, zweifelte der Admiral. „Ve r suche gab es schon in Mengen. Schon vor dem Krieg. Aber alle scheiterten.“ „Das Risiko übernehme ich“, sagte Dr. Volari. „Aber Sie verlangen einen hohen Betrag von uns.“ „Bezahlung erst nach Erfolg.“ Der Russe runzelte die Stirn. Wo sitzt hier der Haken? schien er zu überlegen. Wenn er nach Moskau zurückkam und die Sache nicht un ter Dach hatte, dann machte man ihm Vorwürfe. Brachte er sie aber auf eine Weise unter Dach, daß sie sich am Ende als Betrug herausstellte, dann war er nicht nur der Blamierte. Dann konnte er seine Koffer packen und sich eine Datscha in Sibirien bauen. „Zahlung erst nach Erfolg“, wiederholte der Admiral. „Einverstanden. Zu welchem Preis?“ „Kommt darauf an, wo wir beginnen. Ich muß natürlich eine Mischkalkulation vornehmen. Ist ja wohl ein Unter schied, ob ich zum Beispiel ein Haus im Gebirge auf 2000 Meter Höhe errichte, oder im Flachland neben einer Ziegelei an einer Straße mit Kanal-, Strom- und Wasseranschluß.“ „Bitte ersparen wir uns die Erwähnung von Selbstver ständlichkeiten“, sagte der Admiral. „Was verlangen Sie, wenn wir im Mittelmeerraum damit beginnen?“ Dr. Volari entnahm seinem Jackett einen flachen elektro nischen Taschenrechner, de r dem Russen sofort ins Auge stach, weil er zusätzlich eine eingebaute Digitaluhr mit Ka lender enthielt. Ein Programm wählend und einige Tasten drückend, sagte Dr. Volari: „Bei sofortigem Baubeginn Fertigstellung noch vor Winteranfang, Kostenpunkt etwa tausend Rubel pro Quadratfuß.“ 40
„Das sind ja neuntausend für den Quadratmeter.“ „Dafür“, antwortete Volari, „können Sie in Paris nicht mal einen Quadratmeter Eigentumswohnung kaufen. Falls es sich nicht um sozialen Wohnungsbau handelt.“ „Bei einem halben Quadratkilometer macht das dann wie viel?“ Dr. Volari tippte wieder ein paar Tasten an. „Etwa fünf Milliarden Rubel. Und das ist vergleichsweise billig.“ „Haltbarkeit?“ „Zwanzig Jahre garantiert.“ „Und Sie können das liefern?“ „Einen Viertelquadratkilometer mit Sicherheit.“ „Das wären also rund drei Milliarden Rubel.“ „Nur ein kleiner Teil des Rüstungsetats der UdSSR.“ „Festpreis?“ vergewisserte sich der Russe. „Bei sofortigem Vertragsabschluß ja.“ „Und“, der Admiral drückte sich vorsichtig aus, „Ort der Lieferung?“ „Die Pläne sind mit Ihrem Oberkommando abgestimmt“, erwähnte Dr. Volari, „ich denke, man hat sich für 3811 entschieden.“ „Ja, für 3811 kann ich abschließen“, sagte der Admiral zö gernd. Als auch in diesem Punkt Übereinstimmung bestand, goß der Admiral sein Glas aus der geeisten Wodkaflasche voll. Nachdem er getrunken hatte, schien ihm ein Stein vom Herzen zu sein. „Wie“, fragte er plötzlich jovial, „wie schaffen Sie das ei gentlich, junger Mann?“ „Mit Tatkraft und Phantasie“, wich Volari aus. „Aber ohne Kapital geht das nicht. Die Vorbereitungen kosten doch Unsummen. Der Bau verschlingt Abermillio nen.“ „Es ist“, erläuterte Dr. Volari, „ein ineinander verzahntes übereinandergreifendes System von Systemen. Finanzie rung, Materialbeschaffung, Durchführung.“ 41
„Und das alles organisiert von nur einem Mann?“ staunte der Admiral. „Der genaugenommen seinen Kopf nicht heben darf, weil man ihm diesen sonst absäbelt.“ „Der Kopf hat sich in all den Jahren stark verändert“, er widerte der Mann, der kein Italiener war. „Trotzdem.“ „Zunächst lasse ich andere Leute die Köpfe für mich he ben, wenn dies notwendig sein sollte.“ „Manchmal müssen Sie aber selbst an die vorderste Front, Doktor, so wie heute.“ „Ihr Sowjets“, sagte Dr. Volari, „seid doch immer ein biß chen in der Klemme, genau wie ich. So etwas verbindet. Wir bilden die Internationale der Eingeklemmten. Ich mag euch Russen nicht, das gebe ich offen zu, aber als Geschäftspart ner seid ihr mir lieb und teuer.“ „Sie uns auch“, versicherte der Russenadmiral, „für drei Milliarden Rubel.“ „In Gold bitte. Ein falsch konzipiertes U-Boot-Programm kostet ein Vielfaches davon.“ „Mühsam erarbeitet von den Werktätigen unseres Volkes.“ „Das Projekt Pjabtschia dient seiner Sicherheit, Admiral.“ „Wollen wir es hoffen“, sagte der Admiral und grinste mit einemmal. „Es amüsiert mich, wenn ich bedenke, daß Ban ken im kapitalistischen Westen die Sache ahnungslos für uns vorfinanzieren.“ „Das enthält für mich den Vorteil“, bemerkte Dr. Volari mit einer versteckten Drohung im Hintergrund, „daß der Westen mein Projekt kaufen würde, falls Sie als Abnehmer ausfallen.“ „Und Ihr Gewinn“, wollte der Russe wissen, „wo steckt der?“ „Er liegt im Rahmen des üblichen, Admiral.“ „Wie viele hundert Prozent macht er aus?“ „Genug“, gab Volari zu. „Und wie steht es“, fragte der Russe blinzelnd, „mit der Genehmigung?“ 42
„Die brauchen wir nicht. Es gibt noch einige Dinge auf Erden, die frei und unverteilt sind. Der Südpol, der Welt raum, die Meere, die Gedanken.“ „Sie gefallen mir irgendwie“, sagte der Admiral. Dr. Volari klappte seinen taschenkalenderähnlichen Rech ner zusammen, steckte ihn ein, holte ihn dann wieder heraus und überreichte ihn dem Admiral. „Darf ich mir erlauben, Sir.“ Der Admiral wehrte ab. „Nein, das kann ich nicht annehmen.“ Dr. Volari hatte das Ding in einem Londoner Kaufhaus 30 Pfund gekostet, kaum 60 Dollar. „Damit können Sie mit Hilfe einer Basisformel den Stand ort eines Schiffes auf See berechnen“, sagte er. „Schneller als jeder russische Bord-Röhren-Dampf-Computer. Zur Verblüffung Ihrer Herren Offiziere.“ „Ich verblüffe immer gern“, gestand der Admiral. „Kom men wir also zur Vertragsparaphierung.“ Eine Stunde später verließ der Admiral die Sowjetbo t schaft in Lissabon, um an Bord des Trawlers zurückzukeh ren. Vorsichtshalber hatte er sich wieder einige Tampons in die Backe geklemmt. Eine Geschwulst klang nicht so rasch ab. Auch nicht nach einer Kieferoperation. Nicht einmal nach einer Kieferoperation, die wegen einer nicht vorhandenen Kieferhöhlenvereiterung gar nicht durchgeführt worden war. 5. „Lotte von Salza“, nannte der Mann aus der EDVAbteilung als letzten Namen. „Dichterin, Goethezeit“, sagte Urban. „Vergiß sie.“ Er hatte die Kopie eines Schecks vor sich liegen. Den Scheck hatte laut Aufdruck die Bank de Suisse in Genf ausgegeben. Empfänger der 84000 Dollar war eine kleine liberianische Reederei mit Büro in Liechtenstein. 43
Nur der Teufel wußte, wie die CIA-Kollegen an diesen Scheck gekommen waren. An ihm lag es nun festzustellen, ob die Zahlung etwas mit den geheimnisvollen Schrottge schäften zu tun hatte. Zunächst nahm Urban noch einmal die Unterschrift unter die Lupe. Zweifellos handelte es sich um die drei Buchsta ben LvS, allerdings waren sie so schwungvoll ineinander verschlungen, daß es sich wie ein Name las. Selbst wenn man aus dem V ein U machte und Lus daraus machte, er brachte das wenig. Urban blickte den Kollegen von der Datenverarbeitung an. „Wenn ihr alle nur möglichen Kombinationen mit L.V.S. durchgecheckt habt, dann macht mit LuS weiter.“ „Was ist das?“ „Keine Ahnung.“ Der Experte klemmte den Kugelschreiber an seinen we i ßen Mantel und erhob sich. „Wir schalten uns jetzt auf den BKA-Computer und zap fen auch die Datenerfassung im Innenministerium an. Alle Personen mit L.v.S. sogar Hunde und Katzen, werden über prüft.“ Urban hob müde die Hand. Als er allein war, rief er in Vaduz an. Unter der Nummer der Liberia Steamship Corporation meldete sich ein Anwalt namens Rössliman. Urban nannte den Namen einer norddeutschen Schrottfir ma und sagte, er habe gehört, bei der Liberia seien noch alte Frachter zu haben. Sehr höflich fragte ihn der Anwalt, woher er solch unsin nige Informationen beziehe. „Von einem Kollegen“, sagte Urban. „So werden Gerüchte zu Lügen“, meinte der Anwalt. „Die Liberia-Reederei existiert nicht mehr. Sie hatte wirtschaftli che Schwierigkeiten und wurde liquidiert.“ Normalerweise hätte diese Auskunft genügt. Urban genüg te sie jedoch nicht. 44
„Mein Kollege hat drei Schiffe zum Schrottpreis von 84 888 Dollar gekauft. Und das ist kein Gerücht.“ Aus welchem Grunde auch immer, vielleicht hatte er noch Provisionen zu bekommen, stieg der Anwalt jetzt ein. „Ich bin Liquidator der Liberia“, sagte er, „wie lautet der Name dieser Schrottfirma?“ Urban wich aus. „Die Zahlung lief über eine Bank in Genf. Wenn Ihnen das genügt.“ „Ist der Käufer vielleicht Celestoso in Barcelona?“ Urban notierte eifrig mit. „Nein, nicht in Barcelona.“ „Kam die Zahlung aus Nizza? Es kann eigentlich nur noch in Nizza gewesen sein.“ Urban notierte auch Nizza und gab das letzte As aus der Hand. „L.v.S.“, erwähnte er, „fällt Ihnen dazu etwas ein?“ Der Anwalt wiederholte langsam. „El Vau Es. – Nein, leider. Bedaure.“ Urban ritzte ihn hier und da noch ein wenig an, aber plötz lich war der Mann ziemlich verschlossen. Wenig später war das Gespräch zu Ende. Immerhin hatte Urban auf seinem Block etwas stehen. Celestoso Barcelona und Nizza. Nun arbeitete er auf zwei Schienen weiter. Schiene eins kümmerte sich um die inzwischen liquidierte Liberia-SteamShip Corporation und deren alte Pötte. – Schiene zwei um Schrottbüros in Barcelona und Nizza. Wie sich ergab, war weder Barcelona noch Nizza ein Schrotthandelsplatz von Bedeutung. Die Experten räumten zwar ein, daß sowohl in Barcelona als auch in Nizza ein Agent kurzfristig ein Büro eröffnet haben mochte, dazu genügte ein Hotelzimmer und ein Telefon, aber eine Schrotthandelsfirma Celestoso sei nirgendwo bekannt. Die Schiene endete also am Prellbock. Nun mußte Urban versuchen, das Bankgeheimnis zu durchlöchern. Das war immer höchst schwierig, gelang ihm 45
aber mit Hilfe einer kleinen Privatbank, an der der BND über eine Tarnfirma beteiligt war. Er nannte dem Prokuristen die Scheckdaten und fragte, ob es möglich sei, damit an den Aussteller heranzukommen. „Das geht nur mit ein paar Tricks.“ „Dann würde ich darum bitten, sie anzuwenden“, sagte Urban. „Das Bankgewerbe ist da aber sehr komisch. Man darf zwar Tricks anwenden, aber wenn man mit einem auf die Nase fällt, ist man erledigt.“ „Dann würde ich darum bitten, statt Trick vierzehn-A viel leicht Trick einundzwanzig-B in Erwägung zu ziehen.“ „Wir lassen uns etwas einfallen“, versprach der Bankpro kurist. Daraufhin ging Urban erst einmal Kaffeetrinken. * Spät am Abend meldete sich die Bavaria-Bank bei ihm. „Wir sind prompt auf die Nase gefallen“, bedauerte der Prokurist. „Ich rief in Genf an, sagte, daß uns soeben ein Scheck über dreimal Hunderttausend, Aussteller L.v.S. vorgelegt werde und fragte, ob das in Ordnung ginge. Ihr Computer gab wohl das Zerozeichen. Daraufhin wollten sie die Schecknummer wissen. Ich nannte eine, die etwas höher lag, als die auf der Kopie und fügte hinzu, daß mir die Un terschrift nicht gefalle. Ich erkundigte mich, was denn L.v.S. bedeute, ob dies eine Abkürzung darstelle, ob man sie als Unterschrift registriert habe und welcher Kunde dahinterste he. Die Geschäftsverbindung sei durch ihre Niederlassung in Nizza eröffnet worden, erklärte man mir, bestehe aber nicht mehr fort. Ich solle den Einlöser aufhalten, die Polizei rufen und den Kunden festnehmen lassen. Vermutlich handle es sich um ein Betrugsmanöver.“ „Na fabelhaft“, sagte Urban. „Also Fehlanzeige.“ „Die Bank de Suisse rief dann kurz vor 17 Uhr noch ein 46
mal an. Ich erklärte dem Genfer Kollegen, daß der Kunde es vorgezogen habe, das Weite zu suchen. Sie glaubten mir offenbar nicht recht. Daher rührt mein Eindruck, auf die Nase gefallen zu sein.“ „Begießen Sie sie mit Alkohol“, frotzelte Urban, „das hilft. Ich habe es soeben ausprobiert. Ich falle heute schon zum drittenmal auf dieselbe.“ Diese Schrottaufkäufer hatten sich tatsächlich nach allen Seiten abgesichert. Sie eröffneten am Montag eine Filiale, tätigten Abschlüsse und brachen dann Büro und Bankve r bindungen ab wie andere Leute ein Campingzelt am Wo chenende. Urban wußte aus Erfahrung, daß man durch Verschachte lungen und Verkettungen ein Firmengebilde so konstruieren konnte, daß niemals festzustellen war, wer im Hintergrund die Hebel stellte. Um Mitternacht war er wieder dort angelangt, wo er am frühen Morgen begonnen hatte. Bei L.v.S. Er legte die Scheckkopie auf seinen Schreibtisch, zog die Lampe tief herunter und betrachtete die drei Buchstaben noch einmal mit der Lupe. Dabei kam ihm eine Idee. Vom Stralman-Archiv ließ er sich per Boten den neuesten Brockhaus bringen. Er blätterte das Lexikon bis zum Buch staben S durch, fand was er suchte und bat den Kollegen von der EDV-Spätschicht herauf. Der war noch so mürrisch wie am Morgen, nur sah er et was zerknitterter aus. „Bis jetzt kein Ergebnis“, meldete er. „Aber das wäre auch telefonisch zu übermitteln gewesen.“ Urban massierte seine Augenbrauen und sagte: „Karteileute lieben doch Eingrenzungen.“ „Sie erleichtern die Arbeit.“ „Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, daß es sich um die Buchstaben L.v.S. oder L.u.S. handelt, und zwar in lateini scher Schreibschrift.“ 47
„In lateinischer Lyzeumshandschrift“, präzisierte der Da tenexperte. „Was meint der Schriftsachverständige dazu?“ „Einwandfrei die Handschrift einer Frau.“ „Aber daß es nicht die lateinische ist, das fiel ihm nicht auf. Was beschäftigen wir bloß für Pflaumen.“ „Nicht lateinisch also“, vergewisserte sich der andere. „Nein“, bestätigte Urban, „sondern das was man früher die feinsäuberliche deutsche Handschrift nannte, oder auch die Sütterlinsche.“ Der Computermensch blinzelte auf das Lexikon. „Muß eine sehr alte Ausgabe sein. Nie was von Sütterlin gehört.“ Urban las ihm die kurze Eintragung vor: „Sütterlinschrift. Die von dem Graphiker Ludwig Sütterlin geschaffenen Schriftvorbilder wurden 1915 in den Schulen Preußens, später auch in anderen Ländern und 1934 in allen deutschen Schulen amtlich eingeführt.“ „Und wenn sie im Kriege nicht verbrannt ist, lebt sie heute noch. – Aber wo bitte liegt fahndungstechnisch gesehen die Vereinfachung?“ „Die Schreiberin muß eine Deutsche sein“, folgerte Urban. „Und eine deutsche Schule besucht haben.“ „Zumindest aber eine deutsche Schule im Ausland, wo Sütterlinschrift noch längere Zeit auf dem Stundenplan stand.“ „Das ist keine Vereinfachung“, seufzte der EDVMann, „das bedeutet eine Erweiterung des in Frage kom menden Personenkreises um den Faktor zehn.“ „Ihr jammert ja immer“, bemerkte Urban und fuhr in die Stadt hinein, um irgendwo noch einen Bissen zu essen. Et was Besseres als den Casinofraß fand er in jeder Schasch likbude. Er hatte gerade die Wolfratshausener Straße hinter sich und rollte durch das nächtlich schlafende Sendung, als sein Funktelefon summte. 48
„Ergebnis“, berichtete der Mann, mit dem er vor einer Viertelstunde noch debattiert hatte, „wir haben via Sütterlin erst einmal alle L.V.S. im Preußen vor 1935 abgefragt. In der Mark Brandenburg gab es tatsächlich einen Gutsbesitzer namens Ludwig von Sensburg. Ehefrau Lodita von Sens burg, geborene von Arnheim. Sohn wieder Ludwig von Sensburg, Tochter Lollo von Sensburg, genannt Lolita.“ „Wann ist die Tochter geboren?“ „Anno zweiundfünfzig, als die Sensburgs aus der DDR flohen.“ „Wo wohnen sie jetzt?“ „Sie blieben kurz in Wuppertal und wanderten dann in die USA aus. Darüber sollten Akten zu finden sein. Der Verfas sungsschutz müßte etwas registriert haben.“ „Nachfassen“, verlangte Urban. „Sonst noch was?“ „Der Grund, warum sich die Sensburg-Clique aus der Ost zone absetzte, ist nicht uninteressant.“ „Sag’s mit zwei Worten“, bat Urban. „Der alte Sensburg war Canaris-Mann.“ Das schlug bei Urban voll ein. Er vergaß, daß er bereits die siebente Überstunde machte. „Sensburg war Mitglied des deutschen Geheimdienstes?“ „Als Korvettenkapitän und Experte für Auslandsstütz punkte.“ „Nachfassen“, sagte Urban noch einmal. „Ich komme.“ * Mitten auf der Plinganser Straße wendete er in einem Zug und fuhr zurück zur BND-Zentrale. Im endlos langen Montblanc-Alpentunnel, den Urban auf seiner Fahrt nach Süden benutzte, hatte er eine Halluzinati on. Vermutlich wurde sie durch die monoton vorbeiziehen den Lampen verursacht. Sie fixierten den Blick. Dazu kam die Einengung des Denkens durch den Tunneleffekt. Ein Phänomen, das bis zur Hypnose führen konnte. 49
Bei Urban führte es nur soweit, daß er die Fakten so deut lich sah, als hingen sie wie Lampen aufgereiht an einer Schnur. Da war der Komplex Sensburg. Korvettenkapitän Sens burg hatte in der Organisation Canaris als Experte für Aus landsstützpunkte gesessen. Vermutlich hatte sich seine Ve r antwortung von der Einrichtung solcher Stützpunkte bis zu ihrer Versorgung und Nutzung erstreckt. Vor dem Krieg und erst recht später im Krieg war Deutschland auf solche Stütz punkte angewiesen. Es gab sie in fast allen Ländern. Man konnte sagen vom Nordkap bis zur Antarktis. Die meisten waren geheim. Sie dienten der Unterstützung von Agenten oder als Sammelpunkte für Geheimkommandos. Sie wurden auch von U-Booten angelaufen oder von Langstreckenflug zeugen angeflogen. Die Einrichtung solcher Stützpunkte wurde vermutlich immer raffinierter, weil auch die Fähigkeit des Gegners, sie aufzuspüren und zu vernichten, zunahm. Dies ließ den Schluß zu, daß Korvettenkapitän von Sensburg bezüglich der Stützpunkte einiges in der Schublade gehabt hatte. Ab 1943, wo es nur noch ums Überleben ging und Canaris weitgehend ausgeschaltet wurde, ließen sich seine Projekte gewiß nicht mehr verwirklichen. – Später hatte die Gestapo die Canarisleute übernommen. Ein Grund mehr, um Sensburg nach dem Krieg zu verfol gen. Deshalb hatte er sich wohl auch aus der DDR abgesetzt. Der Komplex zwei war weitgehend von der CIA beige steuert worden. Urban rief sich sein letztes Gespräch mit Maud Fisher ins Gedächtnis. „Was doch drei Buchstaben bewirken können“, hatte sie gesagt. „Vorsicht bewirkt oft das Gegenteil“, hatte er gemeint. „Drei Buchstaben als Unterschrift machen natürlich neugie riger als ein ausgeschriebener Name.“ „Wir haben den Weg der Familie Sensburg we iterve r folgt“, berichtete ihm Maud. „Sie nennt sich in den USA Sinborg.“ 50
„Stimmt Texas?“ fragte Urban. „In den Auswanderungs akten steht als Ziel Dallas. Lodita Sensburg hatte dort Ver wandte.“ „Sie ließen sich in Houston nieder.“ „Wovon lebten sie?“ „Der alte Herr mäkelte ein wenig mit Immobilien, bezog aber eine Pension als aktiver Offizier. Der Sohn fiel in Viet nam als B-52 Pilot, und von der Tochter Lolita weiß man seit drei Jahren fast nichts.“ „Fast nichts ist mehr als gar nichts.“ „Sie war“, berichtete ihm die schöne Maud am Telefon weiter, „mit einem Jungen verlobt. Aber die Verlobung hatte wenig Substanz. Der Junge studierte sechs Jahre bis zum ersten Examen, verließ dann die Universität und verdingte sich als Truck-Driver. Er fuhr Lastzüge kreuz und quer durch die USA. So was bekommt keinem Verlöbnis. Später kam er wohl irgendwo in Texas ums Leben. Einzelheiten überprüfen wir gerade noch.“ „Und seitdem ist Lolita abwesend“, faßte Urban nach. „Sie hatte auch nicht viel Spaß am Studium, nahm eine Lehrerinnenstelle an einem Privatcollege an, ließ sich bald beurlauben und trampte erst mal nach Indien. Seitdem hörte die Familie nur noch sporadisch von ihr.“ „Darf ich hoffen, daß die CIA bemüht ist, die Wissenslük ken zu schließen.“ „Du hörst von mir, Darling“, hatte Maud gesagt und hin zugefügt: „Wäre übrigens besser gewesen, ich hätte meine Maschine in Riem versäumt. Die Quelle hier, sie labte mich nicht sehr.“ „Es gibt“, hatte Urban bemerkt, „immer wieder Flugzeuge, die man versäumen kann.“ – Der Tunnel nahm kein Ende. Jetzt nach zehn Kilometern wurde die Luft schon recht dick in seinem 633 CSi. – Komplex Nummer drei umfaßte die Tätigkeit dieser nicht erfaßbaren Schrotthandelsfirma. Irgendeiner kaufte rostige Dampfer en gros auf. Weil Loli 51
ta von Sensburg dafür kaum in Frage kam, woher hätte sie das Kapital nehmen sollen, war anzunehmen, daß sie für diese Firma tätig war. – Das Schließen des Ringes bot sich geradezu an. Der alte Sensburg war Marineoffizier gewesen. Schrottschiffe hatten auch etwas mit der Seefahrt zu tun. Durch Elternhaus und Erziehung war Lolita fachlich ein wenig vorbelastet – Einerseits war dies Urban zu weit her geholt, andererseits konnte es im Kern doch etwas damit zu tun haben. Seine Zweifel wuchsen wieder. Vor seiner Abfahrt in München hatte ihn Maud noch ein mal angerufen. „Der alte Sensburg“, hatte sie berichtet, „wird bald acht zig. Zum Geburtstag bekam er einen Brief vom Töchterchen nebst Foto. Sie liegt an Deck einer Jacht. Italienische Flag ge. Name des Schiffes…“ „Kann gechartert sein“, hatte Urbans Einwand gelautet. „Name des Schiffes, Isola Mia.“ „Meine Insel“, übersetzte Urban. „Wo wurde der Brief ab gestempelt?“ „In Nizza.“ „Ich kümmere mich darum“, versprach Urban. „Kümmert ihr euch weiter um Lolitas Freundeskreis in Houston. Natür lich hat sie in drei Jahren Tramperleben ihre Clique völlig ausgewechselt, aber…“ „Wir sind ja auch noch Freunde“, sagte Maud, „und es ist länger her als drei Jahre.“ „Das alles“, bemerkte Urban, „kann auch ein Griff in eine Trickkiste sein. Man haut ab, trennt sich, eröffnet sich scheinbar neue Welten, und dann sind es doch dieselben alten Typen, die beisammenhocken und ein Ding ausbrü ten.“ „Aber was für ein Ding?“ fragte Maud. „Uns wachsen schon bald graue Haare. Den Kollegen in London geht es ebenso. – Übrigens, ich unternahm da mal eine Reise in die Südsee. Vor einigen Jahren. Mit Bill Frazer.“ 52
„Was interessieren mich deine Affären mit anderen Quel len“, sagte Urban und hatte aufgehängt. Die Spur, anfangs so dünn wie der Netzfaden einer Spin ne, war jetzt schon so dick wie ein Menschenhaar. In der Ferne kam endlich ein grauer Punkt in Sicht. Das Ende des Tunnels. * Der Kahn liege in Bordighera, hatte ihm der französische Geheimdienst SDECE versichert. Also verließ Urban drei Kilometer hinter der Grenze die Autoroute und fuhr zum Meer hinunter. Wegen des Prachtwetters waren die Marinas ziemlich aus gedünnt. Wer Zeit hatte und ein Schiff, verbrachte die Sommertage draußen auf dem Wasser. Nur wenige Boote lagen an den Stegen. Die Isola mia, eine britische Ecclestone-Steel, dümpelte am Festmacher. Das Radar und der Niedergang waren mit Persennings verschalt. Der weiße zweimotorige Kajütkreuzer sah nicht aus, als würde er gleich in See stechen. Urban trieb sich solange in ihrer Nähe herum, bis es den Leuten von der Marina auffiel. Einer kam vom Büro herüber, ein windiges Kerlchen, dunkelhaarig mit dem nervösen Blick der Messerstecher. Er war aber überaus freundlich, so daß ihm Urban insgeheim Abbitte leistete. So konnte man sich bei einem Menschen irren, nur weil er ein bißchen wie eine Ratte aussah. „Darf ich Ihnen helfen, Signore?“ fragte der Italiener. „Das ist die Isola mia“, stellte Urban fest. „Leider nicht zu verkaufen. Schönes Schiff, so gut wie neu. Wird kaum benutzt, aber zu verkaufen ist es nicht.“ „Obwohl es nicht benutzt wird“, sagte Urban, „sollte Mon sieur doch darauf achten, daß die Versicherung bezahlt wird. 53
„Monsieur?“ fragte der Mann von der Marina verwundert, „mir ist als Besitzer nur eine Dame bekannt.“ „Pardon“, sagte Urban, „Madame Sinborg meine ich na türlich.“ Dabei gab er seinem Italienisch einen französischen Klang und durchsetzte es mit einer Reihe französischer Ausdrücke. Dann fing er zu jammern an, wie schwierig es mit auslän dischen Versicherungsnehmern sei. Immer müsse man sei nen Prämien hinterherlaufen. „Haben Sie denn die Adresse nicht?“ fragte der Italiener ehrlich besorgt. „Nur die in Nizza. Ich habe geschrieben und telefoniert und war mehrmals da. Die Herrschaften sind einfach nicht anzutreffen.“ Der Italiener wirkte richtiggehend bekümmert, als empfin de er Urbans Probleme zutiefst mit. „Diese reichen Commendatores, die haben soviel Geld, daß sie gar nicht auf die Idee kommen, darüber nachzuden ken, wie hart unsereiner seine paar Lire verdienen muß. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“ „Das wäre wirklich, also überaus freundlich wäre das“, sagte Urban. „Wann benutzt die Signora denn das Schiff?“ „So hin und wieder. In letzter Zeit sehr selten.“ „Dann muß ich hier wohl mein Zelt aufschlagen.“ „Ich hätte eine bessere Idee“, meinte der Mann von der Marina. „Wie wä r’s, wenn Sie Madame Sinborg in Monaco besuchten.“ Urban blieb stehen und blinzelte. „Hat sie in Monaco auch eine Wohnung?“ „Ich würde es den Hauptwohnsitz nennen. Sie lebt eigent lich nur in Monaco. Im Sun Tower, oberstes Stockwerk. Eines von den Terrassenappartements.“ „Sie sind wirklich ein fabelhafter Kerl“, sagte Urban. „Nun“, erklärte der Italiener, „ich bin Agent und Sie sind Agent. Ich verchartere Boote und Sie verkaufen Versiche rungen. Wir kleinen Leute müssen zusammenhalten. Die 54
Cooperative der Armseligen gegen die Mächtigen. Sie wis sen, was ich meine. Wenn wir nur solidarisch genug wären, könnten die uns alle. Denn ohne uns läuft nichts.“ Vor dem Büro ließ der Italiener Urban warten. Drinnen telefonierte er kurz und kam dann wieder heraus. „Uns schuldet sie auch siebzigtausend für Bojengebüh ren“, schimpfte er. „Aber warum haben Sie telefoniert?“ „Sie ist zu Hause“, sagte der Italiener blinzelnd. „Ich habe sie angerufen und gleich wieder aufgelegt. Wenn Sie sich beeilen, kriegen Sie sie todsicher. Signora Luella Sinborg.“ „Ich habe Lolita in meinen Papieren stehen.“ „Diese Luxusweiber ändern ihre Vornamen wie die Haar farbe. Lola, Lolita, Luella. Die Adresse kennen Sie jetzt ja. Aber passen Sie auf, wenn Sie von der Grand Corniche herunterkommen. Dort oben hat es eine Menge Einbahnstra ßen. Am besten Sie lassen den Wagen irgendwo stehen. Den Sun Tower sehen Sie schon von weitem.“ „Ich fahre vom Hafen aus hoch“, sagte Urban, dankte noch einmal für die Auskunft und trank in einer Bar am Hafen erst einen Espresso, ehe er zu seinem BMW ging. – Der nette Italiener sollte nicht merken, daß er ihn beschwindelt hatte und in einen Wagen mit deutschem Kennzeichen stieg. Wegen des einsetzenden Feierabendverkehrs brauchte er vierzig Minuten, bis er die Grenze bei Menton überquert und in Monte Carlo, am Park unterhalb des Sun Tower, eine Lücke gefunden hatte. Dieses superelegante Apartmenthaus mit seinem weiten Blick über Stadt, Hafen, Küste und Meer, hätte er sich als Ruhesitz für seine alten Tage vorstellen können.
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Urban betrat das marmorverkleidete Foyer, wartete bis einer der Lifte herunterkam und fuhr dann nach oben. Auf dem Weg zur Penthouse-Etage legte er sich seinen Spruch zurecht. Der Lift glitt langsamer und hielt an. Aber schon in der siebten Etage. Die Aluminiumlamellen der Lifttür öffneten sich. Auf dem blauen Velourteppich vor Urban stand der freundliche Italiener vom Jachthafen. Seine dunklen Pupil len führten radarähnliche Pendelbewegungen aus, damit ihnen auch nichts entging. Sein Rattengesicht zeigte noch dieselbe Freundlichkeit, aber in seiner Hand lag eine schwe re Beretta-Pistole. Damit drückte er Urban wieder in die Liftkabine und betä tigte die G-Taste in der Schaltkonsole. „Was sollen wir in der Tiefgarage?“ fragte Ur ban, uner schütterlich grinsend. „Hände hoch, prego“, bat der Italiener und half mit dem Pistolenlauf nach. „Gehören Sie dazu?“ fragte Urban, „zu dieser Schrott dampfer-Blase?“ „Ich bin nur der Köder“, erklärte der Italiener. „Einer der Köder. Es gibt ja mehrere Möglichkeiten sich vor Neugieri gen zu schützen. Da gibt es zum Beispiel Alarmanlagen. Die sind ziemlich unsicher und von jedem Radiobastler auszu schalten. Dann gibt es Leibwachen. Aber wer läßt sich schon gern auf Schritt und Tritt von Gorillas begleiten. Und dann gibt es noch die Ködersysteme. Man placiert an allen Anlaufpunkten einen. Der Köder signalisiert das Eintreffen der Maus an die Falle. An einer Stelle, wo man es nicht erwartet, schnappt die Falle dann zu.“ So kann man sich irren, dachte Urban. Er hatte den Italiener für einen hilfsbereiten Mitmenschen gehalten. Wäre besser gewesen, seinem ersten Eindruck zu folgen. Aber Menschenkenntnis war das eine, und die richti gen Schlüsse daraus zu ziehen, das andere. 56
Das hatte man davon, wenn man den HumanismusAposteln glaubte und sich an ihre Sprüche hielt, daß die meisten Menschen nicht so seien wie sie aussahen. Die meisten waren nämlich genauso, wie sie aussahen. Ausnah men gab es nur selten. Der erste Eindruck stimmte meistens. Es war idiotisch gewesen, diesen Erfahrungsgrundsatz zu mißachten. Das hatte er jetzt davon. Eine entsicherte 9 Millimeter-Beretta vor dem Bauch. „Du transpirierst“, sagte der Italiener, „das ist verständlich. Aber mach dir keine allzugroßen Sorgen, Amico. Ehe dein Schweiß trocknet, ist es vorbei. Wir machen immer kurzen Prozeß. Denn wir sind freundliche Burschen.“ Der Lift hielt an. Unterste Etage, Tiefgarage. Die Tür ging auf. Vor der Tür standen noch zwei so Ty pen, ebenfalls mit Kanonen in der Hand. Wenn Urban noch eine winzige Chance gesehen hatte, den Italiener auszuspielen, jetzt sah er keine mehr. 6. Das bewährte Team Frazer-Fisher landete mit einer von Maud gesteuerten Beechcraft 76 in Houston Texas. Der zweimotorige Tiefdecker rollte vor den Hangar der Privatmaschinen. Maud stellte die Motoren ab und zog die Kopfhörer von den Ohren. „Geschafft.“ Bill hatte schon die Tür auf und stand mit einem Fuß auf der Fläche. „Wo zum Teufel ist der Wagen“, fluchte er. „Wird schon kommen.“ Bill ließ sich wieder auf den Sitz fallen. „Was glaubst du, warum sie uns dieses Flugzeug zur Ver fügung stellten und uns nicht in einen Linienjet setzten?“ „Weil es gerade unbenutzt herumstand“, sagte Maud. „Weil wir diese Sache in 24 Stunden über die Bühne zu bringen haben“, verbesserte Bill seine blonde Kollegin. 57
„Ist das eine Geheimorder?“ „An diesem Fall gibt es wenig Geheimes. Eigentlich wäre er etwas für die Kripo. Aber wenn die eine Akte geschlossen und abgelegt hat, dann ist, sie nur noch Futter für die Pa pierwürmer.“ Über den Rasen, den die gnadenlose Texassonne braunge brannt hatte, kam ein cremefarbener Buick geschaukelt. Er visierte die Beechcraft an, beschrieb dann eine elegante Kurve, um sie nicht über den Haufen zu fahren und stoppte. Maud nahm ihre Umhängetasche, Bill seine Pfeife und den Tabakbeutel. „Wird aber Zeit“, raunzte er den Fahrer an, während er sich in das gekühlte Innere der Limousine schob. „Washington gab uns als Landezeit neun Uhr fünfzehn durch. Jetzt ist es neun Uhr zehn, Sir.“ „Soll ich mich für den Rückenwind entschuldigen?“ fragte Maud. „Nein, für Rückenwind kann man nichts“, sagte der Fahrer oberschlau. „Hoffentlich genießen wir hier auch ein wenig Rücken wind“, murmelte Bill und schaute auf die Uhr. „Könnten ihn gebrauchen. Noch neunzehn Stunden.“ „Abzüglich Rückflug nur noch vierzehn.“ „Fahr schneller“, forderte Bill den Chauffeur auf. * Erst setzte der Dienstwagen Bill Frazer vor dem FBIBuilding von Houston ab, dann brachte er Maud in eine Bungalowsiedlung an der Straße nach Pasadena. Ein flaches Haus in spanischem Stil, weiß, umgeben von gepflegtem Rasen, links und rechts eine Palme, das war das Heim der Sinborgs. Die alte Dame erwartete die Besucherin aus Wa shington schon. Sie war grauhaarig, mochte zwischen sieb zig und achtzig sein und wirkte bei aller Freundlichkeit vornehm zurückhaltend. 58
„Mein Mann hätte Sie gerne begrüßt“, erklärte Lodita Sin borg, „aber er mußte ins Hospital. Die Leberwerte stimmen wieder einmal nicht.“ Maud faßte sich kurz. „Sie wissen, weshalb ich hier bin, Madam. Bringen wir es hinter uns. – Ihre Tochter lebt in Frankreich?“ „Wir wissen leider recht wenig von ihr.“ „Sie gab vor vier Jahren ihre Stellung auf und fing an zu trampen.“ „Nur mit einem Rucksack. – Wir waren entsetzt.“ „Wer oder was veranlaßte sie wohl dazu?“ Die alte Dame zögerte mit der Antwort. Maud half ihr. „Gewöhnlich wird so ein Entschluß durch Ereignisse oder den Einfluß von Freunden ausgelöst. Verkehrte Lolita in… Globetrotterkreisen…“ Madam schüttelte den Löckchenkopf. „Sie ist eigentlich nie weiter als bis Florida gekommen. Wenn man davon absieht, daß wir ja aus Ostdeutschland einwanderten.“ „Ihre Tochter war verlobt.“ Die alte Dame lächelte fein. „Nun, der junge Mann bezeichnete es als Verlobung. Mei ne Tochter war recht unschlüssig. Es hätte wohl kaum zu einer Ehe geführt. Aber Mister Mestroso kam dann auf my steriöse Weise ums Leben.“ „Ein Autounfall, hörte man.“ „Das wurde nie aufgeklärt.“ „Wie ist das möglich?“ Madam faßte es in zwei Sätze. „Mister Mestroso war Fahrer des Panzerwagens einer Geldtransportfirma. Der Wagen verschwand eines Tages zwischen Houston und San Antonio spurlos. Man fand nie wieder etwas. Weder von dem Geld noch von den zwei Begleitern.“ „Theoretisch kann Mister Mestroso also noch am Leben sein.“ 59
„Dann wäre er in dieses Verbrechen verwickelt, und das glaube ich nicht. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber meine Tochter hätte sich niemals mit einem Mann eingelas sen, der auch nur entfernt kriminelle Anlagen gezeigt hätte.“ „War der Tod Mestrosos der Anlaß für Ihre Tochter, nur mit einem Matchsack we gzugehen?“ „Nein.“ Die alte Dame zögerte wieder. „Vielleicht war es für sie die Befreiung und die Reaktion darauf.“ Maud erkundigte sich nach dem weiteren Freundeskreis von Lolita Sinsborg. Ihre Mutter nannte Namen von angesehenen Personen, die die CIA längst überprüft hatte. „Könnten Sie mir“, fragte Maud, „auch Namen aus dem Freundeskreis von Mister Mestroso nennen?“ „Sorry“, bedauerte die alte Dame, „damit habe ich mich zu wenig befaßt. Ich weiß nur, daß Mister Mestroso sehr an einem Mann namens Winston Lomax hing. Lomax arbeitete damals als Taucher-Ingenieur bei den Ölplattformen von Texaco, draußen im Golf. Mein Mann, der, wie Sie wissen, selbst Marineoffizier war, führte mit Mister Lomax gerne Fachgespräche. Wenn sie zusammen waren, konnten sie gar kein Ende finden. Aber Mister Lomax stellt in unserem Freundeskreis wirklich nur eine Randfigur dar. Nach Me strosos Verschwinden arbeitete er noch ein Jahr bei Texaco und bohrt jetzt irgendwo im Persischen Golf nach Öl. – Oder auch in der Nordsee bei den Briten. Genau weiß ich das nicht“ „Winston Lomax“, notierte Maud, „mit einem M?“ Die alte Dame hob die mageren Schultern. Maud bat noch um Schriftproben von Lolita, um Fotos, die sie zurückzusenden versprach und um Fingerabdrücke. Aber damit konnte Mrs. Sinsborg nicht dienen.
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Bill Frazer fluchte. „Ich dachte imme r, nur Journalisten seien Halunken. Poli zisten sind es auch.“ „Du bist doch von derselben Fakultät“, entgegnete Maud. „Aber ich werfe keine Akten weg, nur weil der Fall Sand im Getriebe hat“, schimpfte er. „Man stelle sich das einmal plastisch vor: Ein Panzerwagen mit sechzig Millionen Do l lar beladen verschwindet am hellichten Tag spurlos. Das gibt’s doch nicht, so was.“ „Offenbar doch“, sagte Maud. „Denen werde ich die Hölle heiß machen.“ „Aber wie?“ „Es war das Geld einer Texanischen Bankengruppe. Der Geldraub fand im Dunstkreis von L.v.S. statt. Hier muß man den Hebel ansetzen. – Die Banken sind durch Transportve r sicherungen gedeckt, aber einer kommt bei solchen Gang sterstreichen immer ins Minus. In diesem Fall die Asseku ranz. Schön, die greifen auf ihre Rückversicherungen zu rück, aber wem gehören die Rückversicherungen? – Doch wieder den Banken. Man muß die Herrschaften daran erin nern, daß da noch ein Haufen Geld in der Luft hängt. Inzwi schen haben wir eine wirtschaftliche Rezession. Wenn sie die Sache vergessen haben, werde ich sie drauf stoßen. Die Banken sollen der Polizei Pfeffer geben, die Polizei macht FBI Feuer unterm Hintern, und der Fall rollt wieder.“ Maud saß ziemlich geschafft in den Polstern. „Und was haben wir davon? Ich meine, wie nützt es unse rem Auftrag?“ „Mit dem Geld könnte irgend etwas angekurbelt worden sein.“ Maud bezweifelte das allmählich. „Wer viel Geld hat, der genießt es und kurbelt nicht lange an ungewissen Projekten herum.“ „Es sei denn, er ist habgierig und zum Bersten dyna misch.“ 61
„Und er träumt davon, aus sechzig Millionen hundert zu machen.“ „Dann hätte er vierzig Millionen ehrliche Dollars.“ „Auf Basis von sechzig Millionen heißen Dollars.“ „Jedes Vermögen fing einmal mit zwei Dingen an, mit ei ner Leiche im Keller und mit heißem Geld. Zumindest aber mit1 Unrecht. Und Unrecht läßt sich meistens in Dollar und Cent ausdrücken.“ Maud steckte sich eine Zigarette an, Bill seine Pfeife. „Wohin fährt er?“ fragte Maud, auf den Fahrer deutend. „Zur First Texas & National.“ „Bank.“ „Nein, Würstchenbude“, knurrte Bill. * Nach dem rätselhaften Geldraub vor vier Jahren war das Management der First Texas & National-Banken ausge wechselt worden. Mit der Erklärung, der Präsident und sein Vize hätten an dere Aufgaben im Konzernbereich übernommen, hatte man sie schlicht gefeuert. Der wahre Grund der Entlassung war der, daß die Verantwortlichen es riskiert hatten, sechzig Millionen Dollar in einem Panzerwagen der Kategorie S/3 zu transportieren. Selbst für einen mit allen Raffinessen ausgestatteten Wagen der Kategorie S/1 waren zwanzig Millionen Dollar schon die Obergrenze. Vielleicht hätte man von harten Maßnahmen abgesehen, wenn der Betrag wiederzubeschaffen gewesen wäre. Da dies mißlungen war, mußten Köpfe rollen. Darauf bestanden schon die mit den Banken verbundenen Versicherungen. Maud Fisher und Bill Frazer standen bei ihrem Besuch al so einer völlig neuen Führungsmannschaft gegenüber. Der Bankpräsident, ein knapp vierzigjähriger Wirtschafts professor, beantwortete zwar alle Fragen ausreichend, beton te aber immer wieder, daß der Geldraub, einzig dastehend in 62
der Geschichte der First Texas & National, vor seiner Zeit stattgefunden habe. „Für uns ist das Ganze nur noch eine Episode“, tat Profes sor Nathan Peller die Affäre ab. „Verstehe“, antwortete Bill Frazer, erstaunt darüber, wie locker der Manager die Sache nahm. „Sie haben den Verlust längst ausgeglichen oder steuermindernd abgeschrieben.“ „Welchen Verlust?“ fragte der Bankpräsident. „Nun, die sechzig Millionen Dollar, die sich im Panzerwa gen befanden. Eine, auch unter Berücksichtigung der im Bankgeschäft üblichen Gewinne, recht ansehnliche Sum me.“ „Es gab keinen Verlust“, betonte Nathan Peller. „Für Sie vielleicht nicht, aber doch wohl für die Versiche rungen, die voll dafür eintreten mußten. Und die Versiche rung wiederum ist ein Tochterunternehmen der First Texas & National-Banken. Oder umgekehrt.“ Der elegante Wirtschaftsprofessor wechselte die Brille. Er nahm eine dunkle. Trotz schräggestellter Jalousetten wurde es sehr hell in seinem Büro. „Selbst wenn Sie es so sehen, bleibt der Verlust in Gren zen“, erwiderte er. Bill blickte Maud an, dann zur Decke, ehe er antwortete. „Gibt es vielleicht eine Entwicklung, Sir, die wir nicht kennen und die Sie die Summe leichter verschmerzen ließ?“ Der Bankmanager steckte sich eine Havanna an. Dann tat er so, als riefe er gnädig in Erinnerung, was eigentlich alle Welt wissen müßte. „Unser Nettoverlust belief sich lediglich auf sechs Millio nen Dollar, Mister Frazer.“ Bill drückte die Schultern nach hinten. Er straffte sich im mer erst, bevor er ungehalten wurde. Aber diesmal kam ihm Maud zuvor. Mit dem gewinnendsten Lächeln fragte sie: „Vor kurzem hörte man es anders. Hing damals nicht noch eine Null dran? Sechs Millionen wäre genau die Wiederbe 63
schaffungsprämie gewesen. Darf ich diesen Betrag vielleicht so verstehen, Sir, daß die sechzig Millionen gefunden wur den und 54 Millionen davon in Ihre Kassen zurückflossen?“ Der Präsident nickte, als sei das nun wirklich ein alter Hut. „Sie dürfen es genau so verstehen, Gnädigste, denn es ist so.“ Maud mußte ziemlich hartnäckig nachfassen, um zu erfah ren, was nach Meinung der Bank jedermann wußte und was für die Fahnder doch eine Neuigkeit war. „Vor zwei Monaten“, rückte Peller schließlich heraus, „wurde die seinerzeit geraubte Summe an uns rücküberwi e sen, abzüglich der Wiederbeschaffungsprämie von zehn Prozent.“ Bill stand auf und ging erregt hin und her. „Und das haben Sie nicht sofort gemeldet?“ rief er verär gert, „damit man den Spuren dieser Zahlungen nachgehen konnte?“ Peller grinste amüsiert. „Wir waren froh, daß wir das Geld wieder hatten. Außer dem wurden wir durch ein diskretes Fernschreiben aufge fordert, unsere Anzeige zurückzunehmen. Was auch ge schah.“ „Was heißt Anzeige zurücknehmen?“ wollte Bill Frazer wissen. „Immerhin handelt es sich um Geldraub. Das ist ein schweres Delikt. Möglicherweise kamen dabei zwei Männer ums Leben.“ „Nur hat man dafür keine Beweise“, entgegnete Peller. „Ebensogut konnte der Panzerwagen von außerirdischen grünen Männchen, die mit einer fliegenden Untertasse lan deten, zur Galaxis entführt worden sein.“ „Wir haben leider andere Hinweise“, zischte Frazer. „Hinweise“, sagte Peller, „und Beweise, das ist ein Unter schied wie zwischen Gras und Kuhmilch. Bitte verzeihen Sie, wenn ich das so ausdrücke.“ Der Bankmanager war von dieser Seite nicht zu fassen. Er redete sich darauf hinaus, daß die Sache nicht in seine Zu 64
ständigkeit falle, und daß außerdem durch die Rückzahlung kein Verlust entstanden sei. „Beschäftigen wir uns also mit den Fakten“, schlug Bill Frazer vor. „Woher kam das erwähnte Fernschreiben?“ Professor Peller berichtete, offenbar genüßlich: „Es wurde irgendwo in Südamerika aufgegeben, zur Nachtzeit an einem Wochenende im Citybüro einer Kaffee handelsgesellschaft in Rio. Wir ließen pflichtgemäß nach forschen. Der Fernschreiber muß von einem Unbekannten mißbraucht worden sein. Fernschreiber und Telefone kann man ja nach Belieben vergewaltigen, wenn man nur wenige Minuten mit ihnen alleine ist.“ Maud mischte sich jetzt ein. „Und die 54 Millionen Dollar, auf welchem Wege flossen die zu Ihnen zurück?“ „Eine Firma in Tokio die ausschließlich für diese Transak tion gegründet wurde, nahm über Schweizer Banken alle nötigen Überweisungen vor.“ „Vielleicht auch über die Bank de Suisse in Genf?“ „Das läßt sich deshalb nicht zurückverfolgen, weil auch Konteneröffnungen mit Bareinzahlungen im Spiele sind.“ „Sie haben also schon nachgefaßt.“ „Nun, es hat uns rein banktechnisch interessiert, wie das gemacht wurde. Aber seien Sie versichert, von irgendeinem Punkt ab kommen Sie nicht mehr weiter. Der Mann im Hin tergrund hat sich total abgeschottet.“ „Mit den sechs Millionen, die er für sich behielt.“ „Die ihm sehr wohl zustehen.“ „Man raubt also eine Bank aus“, faßte Bill zusammen, „gibt neunzig Prozent der geraubten Gelder zurück und behält zehn Prozent für sich. Hübsches Geschäft, wenn der Betrag nur groß genug ist.“ „Juristisch ist daran nicht zu rütteln“, meinte der Bankma nager, „solange nicht zu beweisen ist, daß Täter und Wie derbeschaffer ein und dieselbe Person sind.“ Bill Frazer nahm seinen Hut. „Danke, Mister Peller“, sagte er. 65
Auf dem Weg zum Flugplatz geriet Bill Frazer so sehr in Zweifel über seine Theorie, daß Maud Mühe hatte, ihn am Aufgeben zu hindern. „Mit vergleichsweise lausigen sechs Millionen Dollar“, sagte Bill kopfschüttelnd, „läßt sich ein so riesiges Schrott geschäft gar nicht aufziehen.“ „Vorausgesetzt, es besteht überhaupt eine Querverbin dung.“ Die Querverbindung existierte in Bill Frazers Vorstellung schon lange, wurde jetzt aber wieder brüchig. „Wo ist hier der Haken“, murmelte er. „Wo?“ „Ja, es muß einen geben.“ „Was haben wir unberücksichtigt gelassen?“ fuhr Bill fort und schmiedete die Kette noch einmal. „Houston-GeldraubMestroso-Lolita Sinborg seine Verlobte – ihre Unterschrift auf dem Scheck für Schrottschiffe – Korvettenkapitän Lud wig von Sensburg, Marinesachverständiger für Flottenstütz punkte.“ „Und weiter?“ fragte Maud. „Merkst du etwas?“ „Ja, daß irgendwo ein Denkfehler sitzt.“ Leise fluchend rief Bill Frazer dem Fahrer zu, er möge sich beeilen. Er habe keine Lust, in Washington eine Nacht landung vorzunehmen. Dann wandte er sich wieder an Maud: „Wo müssen wir jetzt ansetzen?“ „Robert Urban hat in Europa den Fall übernommen.“ „Dein hochgeschätzter Mister Dynamit.“ „Er sucht nach Lolita und läßt die Jahre des Korvettenka pitäns Sensburg bei Canaris überprüfen.“ „Ein Mann allein?“ „Urban geht meistens allein. Er ist gut genug für solche Solonummern. Es gibt Leute, die können es besser ohne Partner.“ Der Dienstwagen der CIA bog auf den Airport-Zubringer ab. 66
„Aber so etwas von Unverfrorenheit habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Zahlen diese Gangster doch tatsächlich neunzig Prozent der geraubten Summe zurück.“ „Hätte er sie behalten sollen?“ murmelte Maud. „Zumindest wäre es logischer gewesen. Dieses Verhalten irritiert mich. Welchem Typ von Täter steh’n wir da gegen über? – Einem Verrückten. – Dann ist von dem Jungen noch einiges zu erwarten. Ein normaler Mensch setzt sich mit 60 Millionen zur Ruhe.“ „Ein normaler Mensch“, betonte Maud. „Aber wer ist schon normal.“ 7. Tiefgarage, Sun Tower, Monte Carlo. Der Lift hielt. Die Türlamellen öffneten sich. Im Halbdun kel der Garage warteten noch zwei Typen, ähnlich dem, der hinter Urban stand. Sie hatten ebenfalls Kanonen in der Hand. Wenn der BND-Agent Nr. 18 noch eine Chance gesehen hatte, den Italiener vom Segelhafen zu überlisten, jetzt hatte er keine mehr. Drei Revolver gegen einen Unbewaffneten, das war zu viel. Trotzdem nahm er alles präzise wahr. Die feuchte Beton kühle der Tiefgarage, den Gestank nach Benzin und Aus puffgasen. Der Druck in seinem Kreuz verstärkte sich. Er wurde aus dem Lift auf die wartenden Revolvermänner zugeschoben. Sie sahen aus wie Killer und waren wohl auch welche. Diesmal gab sich Urban keinen falschen Hoffnungen hin. Für zwanzigtausend Franc, keine zehntausend Mark, legten sie hier noch immer einen Mann kaltlächelnd um. „Er kann die Pfoten runternehmen“, sagte derjenige, der 67
auf einem Streichholz kaute zu dem Italiener. „Übersetz’ es ihm.“ „Ich spreche französisch“, erklärte Urban. „Und mit Pfo ten unten verhandelt es sich auch leichter. Sie sind ein Gentleman, Monsieur.“ Der Killer brachte in einem lange geübten Zusammenspiel von Lippen Zunge und Zähnen das Streichholz blitzschnell in den anderen Mundwinkel. „Es gibt nichts zu verhandeln. Und ein Gentleman bin ich auch nicht.“ „Ist Ihnen das Wort Killer lieber?“ Der Streichholzbeißer grinste. „Es entspricht mehr der Wahrheit, Monsieur.“ Sie bildeten eine Art Dreieck um Urban und gingen mit ihm um die Säule, wo ein schwarzer Citroen CX-Pallas stand. Eine Limousine mit Platz genug für vier. Bevor sie einstiegen, hielten sie einen kurzen Stehkonvent ab. „Hier oder draußen?“ „Hier und draußen“, schlug der kleine Italiener vor. „Den Knall hört hier keiner. Draußen schon. Die Leiche findet draußen keiner, hier schon. Also hier und draußen. Wir nehmen ihn in die Mitte. Merkt keiner, daß wir einen Toten spazierenfahren. Und am Kap in den Strudel mit ihm.“ Bob Urban hatte jetzt die Bestätigung, um was es ging. Er blieb immer ziemlich lange cool. Es mußte schon extrem kommen, bis er in Temperatur geriet. Dieser Moment, das war so einer. Tu etwas, hämmerte es in ihm, auch wenn es falsch ist. Besser im Weglaufen von einer Kugel eingefangen zu we r den, als sie knieend erwarten. Da Urban äußerlich völlig emotionslos wirkte, vermutete niemand bei ihm einen so spontanen Ausbruch von Energie oder Willenskraft. Blitzschnell ließ er sich fallen. Mit einem Hechtsprung se gelte er auf den Beton und nahm dabei, mit einer geschickt 68
angesetzten Beinschere, den Italiener mit. Er brachte spezi ell ihn außer Aktion, weil der Feind im Rücken immer der gefährlichste war. Der Italiener taumelte. Ein Schuß bellte hallend durch die Tiefgarage. Jemand schrie einen Befehl. Kaum lag Urban flach, wälzte er sich so rasch er konnte unter einen hochräd rigen Lieferwagen. Dort wartete er, lauernd und schwerat mend gegen den staubigen Beton gepreßt. Er sah die Nar ben, mit denen der Beton auf geraunt wurde, diese millime tergroßen geometrisch angeordneten Punkte, und dachte, weniger als so ein Punkt bist du jetzt. Der Italiener keuchte vor Schmerz. Er war im Fallen mit der Wange an der rauhen Säule entlanggeschrammt. – Na schön, einer weniger. – Das war so eine Situation, wo sich Urban seiner 7.65er Mauser erinnerte. Sie lag gut geölt im Handschuhfach des BMW. Die Beine der zwei noch intakten Killer entfernten sich voneinander. Der eine schlich links um den Lieferwagen herum, der andere sicherte von schräg hinten. Urban mußte sich beeilen, bevor das letzte Loch dicht war. Er robbte in Richtung rechtes Vorderrad. Da gab es noch eine Lücke. Er wälzte sich herum, versuchte sich aufzurich ten. Da entdeckte er ein drittes Paar Hosenbeine genau dort, wo er durchbrechen wollte. Er zog sich zurück und versuchte es zwischen dem Kühler des Lieferwagens und der Garagenmauer. Wie ein Aal wand er sich hoch, sah den Schatten und bekam den Schlag. Urban ließ seine Faust abschnellen wie eine mittelalterli che Steinschleuder. Sie wühlte sich ins Weiche, wurde von einem Hüftknochen gebremst. Dann war einer hinter ihm und einer neben ihm, und er saß böse in der Klemme. So mußte er den Doppelschlag schlucken. Der zweite war wie das versteckte Echo des ersten. Aus, dachte Urban und fühlte den Espresso bitter hoch kommen. Er krümmte sich zusammen, um den Schmerz auf 69
diese Weise zu vermindern. Und plötzlich hatte er den Lauf der Beretta an der Stirn. „Los, drück ab, der ist gefährlich“, rief der Italiener. „Moment noch.“ Urban hörte einen Wagen wegfahren. Dann war Stille. „Jetzt.“ „Worauf wartest du?“ „Halt, stop“, sagte eine Stimme, die Urban in diesem Trio noch nicht vernommen hatte. * Urban blickte in die Richtung, aus der die neue Stimme gekommen war. Aber er hatte zuviel Flüssigkeit in den Au gen. Außerdem war es dunkel. Mehr als verschwommene Konturen waren nicht auszumachen. „Überlaßt ihn mir“, erklärte die Stimme. Es war die einer Frau. Also hatte das vierte Paar Beine ihr gehört. „Er ist ein Teufel, Madame.“ „Ich weiß. – Zu gerissen für euch. Überlaßt ihn mir.“ Urban brachte sich einigermaßen in Ordnung, trocknete mit dem Taschentuch die Feuchtigkeit in den Augen. Aus den unscharfen Konturen wurde das Gesicht einer Frau, Ende Zwanzig, dunkelhaarig und ganz hübsch, vorausge setzt, man mochte selbstbewußte sportliche Frauen. Sie trug einen dunkelbraunen Pullover mit V-Ausschnitt, der im Farbton zu der engsitzenden Hose paßte. Zwischen Hose und Pullover deutete ein Krokogürtel die Sektoren grenze an. Lässig im Mund, aber nicht im Winkel, sondern genau in Lippenmitte, hatte sie eine Zigarette. Die Zigarette bewegte sich wenn sie sprach. „Ins Auto mit ihm. Vorne rechts. Ich fahre selbst.“ Urban wurde neben sie placiert. Hinten hockten die drei Leibwächter, Gorillas, Killer, oder was immer sie in diesem Verein darstellten. Den Italiener, 70
der noch recht matschig war, hatten sie in die Mitte genom men. Unter ihren Jacketts hielten sie die Hände an den Ka nonen. Der Anlasser ging, der CX fuhr los. An der Rampe ein Blinksignal. Die Rolltür ratterte hoch, schräges Sonnenlicht umfing sie. Hinter dem Sun Tower rollte der Citroen gleich bergwärts. „Wer sind Sie?“ fragte das Mädchen. „Nennen Sie mich Robert.“ „Von welcher Versicherung?“ „Maritime.“ „Meinen Leuten ist da ein Mißgriff unterlaufen“, bedauer te sie. „Ich habe tatsächlich vergessen, die Prämie zu bezah len.“ „Kommt vor“, erwiderte Urban und verstand die Wendung noch immer nicht. „Schicken Sie die Rechnung an meine neue Adresse.“ „Ich werfe sie in Ihren Briefkasten, Gnädigste“, sagte Ur ban. „Können Sie den Zwischenfall vergessen?“ wollte sie wis sen. „Welchen Zwischenfall?“ fragte Urban lächelnd. „Merci“, sagte sie. Urban kapierte immer weniger. Diese Frau, die offenbar der Boß der drei war, kannte ihre Probleme natürlich besser als ihre Gorillas. Folglich war sie sich auch klar darüber, daß Urban nicht gekommen war, um eine lächerliche Versiche rungsprämie zu kassieren. Also mußte sie jedes Interesse daran haben, daß er ausgeschaltet wurde. Trotzdem verhielt sie sich völlig abnormal. Warum? – Das war es, was Urban nicht verstand. „Wo haben Sie Ihren Wagen stehen?“ fragte sie. „Am Park.“ „Ich muß dringend nach Cannes. Nehmen Sie ein Taxi oder den Bus. D’accord?“ „Kein Problem, Madame.“ 71
„Und vergessen Sie die Rechnung nicht“, erinnerte sie ihn noch einmal. „Oder besser, rufen Sie mich mal an. Ich beab sichtige, eine Vollkaskoversicherung abzuschließen. Gültig für den ganzen Mittelmeerraum. Ist das möglich?“ „Wir versichern sogar Kolibris gegen Stimmbruch Gnä digste“, erklärte Urban todernst. Sie nannte ihm ihre Nummer. „Wann darf ich mich melden, Madame?“ „Heute abend. Damit das endlich erledigt wird.“ Sie hielt an. Er stieg aus. Sie hob zum Gruß weder die Hand noch lächelte sie ihm zu. Und daß ihm die drei Goril las zulächelten, konnte er auch nicht erwarten. Humpelnd ging Urban hinunter zum Park. Was, zum Teu fel, lief da eigentlich? – Am Abend, wenn er mit ihr telefo niert hatte, hoffte er klüger zu sein. * Im Hotel duschte er heiß und beschmierte seine Blessuren dick mit Lebertranzinkcreme. Dann legte er sich aufs Bett, ließ einen Imbiß kommen und eine Flasche Champagner. Mit halbvollem Magen fühlte er sich rasch besser, rief München an und erfuhr das Neueste. „Frazer-Fisher wollten Sie sprechen“, berichtete Sebastian. „Genügten Sie den beiden nicht?“ erkundigte sich Urban ironisch. „Ich kann mich nicht um jeden faulen Apfel kümmern“, sagte der Alte, „um jede fußkranke Division. Ihre Freunde gaben mir ein paar Stichpunkte. Schreiben Sie mal mit.“ „Ich kann es mir noch merken“, versicherte Urban. Der Alte begann: „Die ursprüngliche Annahme der CIA, die Finanzierung der Schrottkäufe könnte mit Mitteln erfolgt sein, die aus einem Geldraub in Texas stammen, muß verworfen werden. Auch wenn der Quasi-Verlobte von Lolita Sinborg daran beteiligt war.“ 72
„Verworfen werden“, bestätigte Urban. „Und warum, bit te?“ „Von den seinerzeit geraubten sechzig Millionen Dollar wurden neunzig Prozent, also die Summe abzüglich der Wiederbeschaffungsprämie, an die Banken zurückbezahlt. Deshalb verfolgt die Polizei den Fall auch nicht weiter.“ „Interessant“, gestand Urban. „Das ändert aber nichts dar an, daß eine klare Linie von hier zu Korvettenkapitän Sin borg verläuft. Er war ein Mann, der sich unter anderem mit der Verwendung von Schiffschrott befaßte. An derselben Strippe hängen seine Tochter, die Schecks für Dampfer wracks ausstellte, und ein Verlobter, der als Begleiter eines Geldtransporters zufällig mit 60 Millionen verschwand. Das dürfen wir nicht einfach beiseite wischen, Großmeister. Sonst kann ich nämlich gleich nach Hause fahren.“ „Der BND hat inzwischen einen klaren Auftrag erhalten“, bestätigte der Oberst. „Aufklärung der Hintergründe dieser Schrottkäufe. Aber Sie müssen sich einen anderen Weg einfallen lassen, Nummer achtzehn. Die Gruppe Sensburg ist von sich aus gar nicht in der Lage, die Schrottkäufe zu finanzieren. Die Beute wurde, wie gesagt, zurückgegeben. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.“ „Und mit sechs Millionen Dollar läßt sich so ein Geschäft nicht aufziehen“, kommentierte Urban. „Allein was in deut schen Häfen an Schiffen herumdümpelt, ist das Doppelte wert.“ „Herumdümpelte“, verbesserte ihn sein Chef. „Inzwischen ist nämlich folgendes passiert: Alle Schrottdampfer, die noch in der Lage sind, mit eigener Kraft den Kiel durchs Meer zu bewegen, haben die Häfen verlassen. Die nicht fahrfähigen Schiffe werden zu Schleppzügen zusammenge faßt.“ „Seit wann?“ fragte Urban. „Laut Meldung von heute morgen.“ „Schon wieder so eine Blitzaktion. Diese Leute machen nur Blitzaktionen.“ 73
Urban wollte gerade vorschlagen, die Seeaufklärung der NATO möge sich doch darum kümmern, wohin die Schiffe fuhren, als der Oberst ihm ausführlich schilderte, welche Maßnahmen getroffen worden waren. „Natürlich ist das zu wenig“, meinte er abschließend, „immerhin handelt es sich um Dutzende von Pötten, die sich in alle Winde zerstreut zu haben scheinen.“ „Aber wohl mit einem einzigen Ziel“, bemerkte Urban. „Wenn sie alle nur ein Ziel haben, werden jetzt oder heute nacht die Schrottdampfer in den übrigen Häfen in England, Frankreich, Spanien und Italien ebenfalls auslaufen. Dann verlieren wir den Überblick erst recht.“ „Wir können ihn gar nicht verlieren“, spottete Urban, „denn wir hatten ihn noch nie.“ „Egal, was Sie jetzt unternehmen“, sagte Sebastian, „ge hen Sie davon aus, daß die Sache nicht mit dem Texas-Geld finanziert wurde. Das ist eine Grundvoraussetzung. Wenn wir sie nicht berücksichtigen, laufen wir in eine Sackgasse.“ „Ich werde es berücksichtigen“, versprach Urban hoch und heilig. Wie neun von zehn Gesprächen, die er mit Obe rst Sebasti an führte, war auch dieses zwar informativ, jedoch wenig herzlich gewesen. Vielleicht schloß das eine das andere aus. Urban schaute auf die Uhr. Noch zu früh, um bei Madame anzurufen. Er verließ das Hotel und kaufte ein paar Zeitungen. Es war immer dasselbe. Stets beherrschten die gleichen Themen die Schlagzeilen. Die Abrüstungsgespräche mit der UdSSR stagnierten, Frieden zwischen Israel und Ägypten blieb ein schöner Traum, Streik in Italien, Trockenheit in Abessinien. Der Dollar fiel, der Schweizer Franken stieg unaufhaltsam.
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Vom Hotel de Paris rief Urban im Sun Tower an. Unter der Nummer, die ihm Lolita gegeben hatte, meldete sich niemand. Kaum hatte Urban aufgelegt, summte sein Zimmerapparat. Die Reception teilte ihm mit, daß er in der Bar erwartet wurde. Urban band den Schlips um, ging in den Glenchecksakko und stieg wieder in die Slipper. In einer schummrigen Ecke, so weit wie möglich von der Bar und den immer neugierigen Ohren des Mixers entfernt, saß Lolita. Sie trug ein schlichtes, aber raffiniert geschnitte nes schwarzes Kleid. Der tiefe Ausschnitt lief haarscharf an der Brustrundung vorbei. Der enge Rock war geschlitzt. Die schlanken Beine hatte sie übereinandergeschlagen, eine Nerzstola übergehängt. Dunkle Augen blickten reaktionsschnell unter den tiefen Bubikopf fransen hervor. „Auch einen Chivas Regal?“ fragte sie. „Ich bevorzuge Bourbon“, sagte Urban. „Warum treffen wir uns hier und nicht bei Ihnen, Gnädigste?“ „Die Frage ist berechtigt“, sagte sie. „Einerseits liegt mir daran, nicht mit Ihnen gesehen zu werden, andererseits er warte ich heute abend noch Gäste. Ihr Weggehen und die Ankunft meiner Gäste könnten sich überschneiden.“ Urbans Bourbon mit Eis und ein paar Tropfen Martini dar in kam. Lolita Sinborg wartete, bis der Kellner außer Hö r weite war und fuhr dann fort: „Mein Verhalten wundert Sie?“ „Ich bin einiges gewöhnt, Madame.“ „Es muß Sie in Erstaunen versetzen. Erst griffen Sie meine Spürhunde, dann entreiße ich Sie ihren Zähnen. Das reimt sich schlecht.“ „Nach meiner Erfahrung reimt sich immer alles, wenn man nur Bescheid weiß“, sagte er. „Sie sind Deutscher?“ Er nickte. 75
„Wie Sie, Madame.“ „Ich sah es sofort. Außerdem wurde mir gemeldet, daß Sie einen BMW mit Münchner Kennzeichen fahren. Daraus schloß ich, daß Sie nicht von der französischen Polizei oder von Interpol sind.“ „Hätten Sie die zu fürchten?“ „Die wohl weniger“, antwortete Lolita, „als andere Dinge. Aber nun wieder zu Ihnen, Robert. Hat die Presse Wind bekommen? Sind Sie Reporter?“ Er riskierte einen ersten Nadelstich. „Weder das, noch Schweizer Bankbeamter, Gnädigste.“ Sie überspielte es mit einem Lächeln. „Versicherungsagent sind Sie auch nicht. Was verschafft mir also dieses Vergnügen?“ „Der deutsche Geheimdienst.“ Ihre Lider senkten sich. „Ich dachte es mir.“ „Und hielten Ihre Killer trotzdem zurück. Was ist der Grund dafür?“ Sie zögerte mit der Antwort. Die Nerzstola fiel nach hin ten. Parfüm duftete von ihrer Haut, wie ein tropischer Gar ten, der in voller Blüte stand. „Ich habe auf so einen Moment gewartet“, flüsterte sie. „Um Ihr Herz auszuschütten?“ Plötzlich wurde ihre Stimme fest und kristallklar. „Nein, um auszusteigen.“ „Dann tun Sie es doch.“ „Das ist schwer. Ich stecke zu tief drin. Stehe zu stark un ter Kontrolle. Und ich habe zu wenig Erfahrung auf diesem Gebiet. Bisher wurde mir das Denken abgenommen. Ich war nur Befehlsempfänger und folgsamer Handlanger. Ich kann das nicht ohne Hilfe. Ich müßte untertauchen, sehr tief. Helfen Sie mir dabei?“ So spontan versprach er seine Unterstützung nicht, wollte sie aber auch nicht grundsätzlich verweigern. „Um was geht es denn, Lolita?“ 76
„Es geht um mein Leben, letztenendes.“ „Sie verstehen mich falsch, Gnädigste“, erklärte er. „Was sind die Ziele Ihrer Gruppe? Warum wurden Hunderte von Schrottschiffen mit fast zwei Millionen Tonnen gekauft?“ Ihr Mund verkniff sich deutlich. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Bob.“ „Unter anderem von Schecks, die Sie unterzeichneten, und von einem Mann, der Ihnen nahestand und an einer der größten Geldraubaktionen dieses Jahrhunderts beteiligt war. Nur davon spreche ich. Wenn ich Ihnen helfen soll, dann muß mir die Frage danach erlaubt sein.“ Ihre Hand bewegte sich über die Glasplatte des Bartisches auf seine zu. „Bitte helfen Sie mir, ohne zu fragen. Ich antworte Ihnen vielleicht später, Bob.“ „Oder zu spät“, wandte er ein. „Das Ganze nimmt Dimensionen an, denen ich nicht zu stimmen kann. Ich fürchte mich. Ich habe Angst.“ „Dann reden Sie. Reden erleichtert.“ Sie schüttelte in einer kurzen heftigen Bewegung den Kopf. „Ich darf nicht. Es wäre tödlich.“ „Und die Verbrechen, die hier verübt werden, sind sie nicht auch tödlich?“ „Es sind keine Verbrechen“, entgegnete Lolita, „aber viel leicht doch tödlich, wenn auch auf andere Weise.“ Urban glaubte, daß es zuviel verlangt wäre, sie jetzt schon zu einer Aussage zu bewegen. Er ging also auf ihren Wunsch ein. „Schön, ich helfe Ihnen.“ „Wie? Es wird sehr schwer sein.“ „So gut ich kann jedenfalls. Wir werden versuchen. Sie in einem unserer Sanatorien in dem Bayrischen Alpen unterzu bringen. Bis alles vorüber ist.“ „Vorüber ist“, wiederholte sie bitter auflachend. „Sie ha ben ja keine Ahnung.“ 77
„Leider“, gestand er. „Solange Sie uns nicht helfen.“ Lolita Sinborg schaute auf ihre goldene Damen-CartierUhr. „Würden Sie… würden Sie meinen Rückzug, meine Flucht organisieren?“ „Wann sind Sie reisefertig?“ fragte Urban sachlich. „Morgen früh. Ich rufe Sie an.“ „Ich warte.“ Während sie ging, kniff er die Augen zu, um festzustellen, ob das alles beim Öffnen der Augen noch der Wirklichkeit entsprach, oder ob er träumte. Es war noch da, das Scotchglas der Lolita von Sensburg, der Duft ihres Parfüms. Das ist die plumpste Manipulation, dachte er, die billigste Gehirnwäsche, die je an dir versucht wurde. * Obwohl Bob Urban nur siebzig Sekunden nach Lolita das Hotel de Paris verließ, sah er sie nicht mehr. Aber die Taxi fahrer an der Place du Casino würden ihm sagen können, ob eine dunkelhaarige Frau mit Nerzstola einen Wagen ge nommen hatte. Im Begriff, hinüberzugehen, entdeckte er Lolita drüben beim Spielcasino im Lichtschein eines Kandelabers, etwa neunzig Meter entfernt. Offenbar trug sie sich mit dem Gedanken, das palastartige Gebäude zu betreten. Also hatte sie die Unwahrheit gesagt Sie erwartete gar keinen Besuch zu Hause. Urban legte einen Zahn zu und schloß auf. Sobald Lolita aus der Schattenzone zwischen zwei Later nen ins Licht kam, verschwand Urban im Dunkeln. Ein Rolls Royce fuhr vor. Eine platinblonde französische Schauspielerin, Urban hatte sie in irgendeinem Film gese hen, stieg aus. Ein Gentleman im Smoking mit weißem Turban reichte ihr den Arm. In dezentem Abstand folgten 78
die Diener des Maharadscha. Dann hielt ein Taxi, aus dem mehrere betrunkene Amerikaner herausquollen. Immerhin hatten sie auf ihre gestreiften Schlafanzughosen verzichtet. Das Casinopublikum war auch nicht mehr das von einst. Man wurde sogar in Jeans eingelassen, Hauptsache, man trug eine Krawatte. Selbst wer keine Krawatte besaß, konnte sich eine mieten. Blitzschnell ging Urban hinter einen Peugeot in Deckung, denn Lolita war stehengeblieben und drehte sich um. Wenn sie jetzt noch eine Zigarette ansteckt, dachte Urban, wird sie glatt für eine Nutte gehalten und innerhalb einer Minute angequatscht. Durch den Park näherten sich Wagenscheinwerfer dem Casinoportal. Der Wagen beschrieb einen leicht ausholen den Bogen, kam herum und wurde butterweich gebremst. Die rechte Fondtür ging auf. Ein Mann mit Bürstenfrisur und breitflächigem Gesicht steckte den Kopf heraus. „Entschuldigen Sie, Madame“, rief er, „daß wir Sie warten ließen.“ „Bin soeben erst beim Friseur fertiggeworden“, antwortete Lolita. „Wir fahren erst essen. Sind Sie einverstanden, Liebste?“ Urban bekam nicht mehr mit, ob Lolita die Einladung an nahm, denn mit sattem Schlag rastete hinter ihr die Merce des-Tür ins Schloß. Doch was er registriert hatte, genügte ihm vorerst. Lolita hatte nicht nur ihn beschwindelt, sondern auch die zwei Herren im Taxi. Ihre Frisur war zwar sehr hübsch, aber direkt vom Friseur kam sie nicht. Und wenn er nur die Spur einer Ahnung vom Akzent französisch sprechender Auslän der hatte, dann stammten die Herren weder aus England noch aus Spanien, sondern aus Moskau.
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Noch einmal rief Urban das Hauptquartier an. „Jetzt kommen die Russen ins Spiel“, meldete er. „Der Fall kriegt Farbe.“ Reportergeschwind setzte er seinen Chef ins Bild, wurde aber von Sebastian gestoppt wie ein losrasender Sprinter vom Doppelschuß aus der Starterpistole. „Sie vergessen das große Loch. Wie auch immer unsere Theorien lauten mögen, alle scheitern sie an der Finanzie rungsfrage. Daß sich die UdSSR in ein Abenteuer stürzt, müssen wir von vorneherein ausschließen.“ „Egal was da läuft“, erklärte Urban, „die Finanzierung ist gesichert.“ „Mit sechs Millionen Dollar?“ „Mit fünfzig“, antwortete Urban, „mindestens.“ Der Alte fluchte. „Zum Teufel, die wurden doch zurückerstattet.“ Urban vertraute ihm an, zu welcher Schlußfolgerung ihn die Ze i tungsschlagzeile Dollar weiter gefallen, Franken steigt un aufhaltsam gebracht hatte. Mit wenigen Worten machte er eine Rechnung auf. „Zur Zeit des Geldraubs stand der Dollar bei drei D-Mark, oder dreieinhalb Schweizer Franken. Die oder der Täter tauschten diese sechzig Millionen Dollar um und bekamen dafür rund zweihundert Millionen Franken.“ „Na schön, und weiter?“ drängte der Chef. „In diesem Frühjahr stand der Do llar an den Börsen bei Kauf großer Mengen kurzfristig unter einskommafünf Fran ken.“ „Ist der Dollar so gefallen?“ bemerkte der Alte verblüfft. „Wo leben Sie, Großmeister?“ fragte Urban und fuhr fort: „Wenn Sie jetzt für Ihre zweihundert Millionen Franken wieder Dollar kauften, wieviel bekamen Sie dann dafür zurück?“ „Ungefähr einhundertunddreißig Millionen Dollar“, rech nete der Alte überschlägig. „Ohne die Zinsen.“ 80
„Dachte der Franken verzinst sich nicht hoch.“ „Bei internationaler Anlage bestimmt mit sechs Prozent.“ Urban faßte zusammen: „Durch das Währungsgefälle, durch Kursspekulationen und Verzinsung hat der Panzerwagenknacker einen schönen Batzen verdient. Gewinn rund hundert Millionen Dollar. – Jetzt sind Sie dran, Großmeister.“ Sebastian äußerte zunächst gar nichts. „Ja, wenn das so ist, ich meine, wenn das möglich war.“ „Dazu gehören nur ein wenig Grips und ein Telefon.“ Der Alte glaubte es noch immer nicht recht. „Da hätte ich aus meinem Vermögen ja auch das Doppelte machen können.“ „Jeder hätte es“, sagte Urban, „mit dem nötigen ‚Gewußt wie’.“ „Der Dollarverfall war doch nicht vorherzusehen.“ „Wenn die Geldräuber die Dollar in Franken umtauschten, war das eben ihr Glück. Auf den Bermudas in britischen Pfund angelegt, hätte es ihnen nur Verluste eingebracht, und zwar ganz schlimme.“ „Glück“, sagte der Alte, „ist eben unabdingbar. Sehen Sie zu, daß Sie weiterhin Glück haben.“ „Wie steht es mit den Ermittlungen im Canaris-Archiv?“ erkundigte sich Urban. „Das bringt doch nichts.“ „Wer weiß“, sagte Urban, „Es gibt noch genug unsichtbare Phasen in diesem Spiel. – Ich glaube zwar nicht, daß Kor vettenkapitän von Sensburg selbst mit drinhängt, aber ge wisse Anregungen könnten von ihm ausgegangen sein. Die Projekte, die er für Canaris und die Großdeutsche Marine entwickelte, sind möglicherweise wichtig zur Beurteilung der Gesamtlage.“ „Ich habe drei Mann angesetzt“, erklärte Sebastian, „gegen meine Überzeugung.“ „Wie steht es mit neuen Informationen über die Bewegun gen der Schrottdampfer?“ 81
„Warten wir den morgigen Tag ab.“ „Versuchen auch Sie, etwas Glück zu haben“, riet Bob Urban und hängte auf. 8. Ein Patrouillenflugzeug des Marinefliegergeschwaders II war am späten Vormittag von Nordholz bei Cuxhaven ge startet. Mit zwölf Mann Besatzung, einem doppelten Pilotenteam und acht Elektronikern an Bord begab es sich erst einmal auf Nordkurs. Die Breguet 1150 Atlantic überquerte die deut sche Bucht und flog in Höhe zweitausend an der Westküste Dänemarks entlang Richtung Skagerrak. Von der Südspitze Norwegens sollte sie einen weiten Suchkreis beschreiben, der sie bis zu den Färöer-Inseln hinausführte, um Schottland und Irland herum in den Golf von Biskaya und durch den Ärmelkanal wieder zur Basis zurück. Die Piloten richteten sich auf einen Achtzehnstundentörn ein. Ihr Auftrag lautete, wenigstens einige der Schrottdamp fer, die in der vergangenen Nacht ihre Häfen verlassen hat ten, ausfindig zu machen. Doch was sie suchten, das fanden sie nicht. Ihre Elektronik war zwar in der Lage, jede Abgas fahne eines Kutters zu schnüffeln, getauchte Unterseeboote, ja sogar dicke Heringsschwärme zu orten, aber die Meßgerä te zeigten nur regulären Schiffsverkehr an. Tanker mit Nordkurs, Küstenmotorschiffe, Frachter, Fischdampfer, ein paar Patrouillenboote. „Teufel“, murmelte der Breguet-Kommandant, ein Korve t tenkapitän, „es waren allein in den fünf großen deutschen Häfen über sechzig Schiffe. Wo sind die hingekommen?“ Der zweite Pilot, ein Oberleutnant, sagte: „Nehmen Sie eine Tasse voll Erbsen, Herr Kapitän, und entleeren Sie diese mit Schwung über einen Fußballplatz. Sie werden immense Schwierigkeiten haben, auch nur ein paar davon wiederzufinden.“ 82
„Klar, weil die Erbsen grün sind und der Rasen auch grün ist, und weil sich die kleinen Erbsen zwischen den Gräsern verstecken.“ „Unsere technischen Einrichtungen können eine ganze Menge“, entgegnete der Oberleutnant, „die Magnetsonden registrieren Eisen. Die C-O-Kohlendioxydsonden stellen Motorabgase fest, die Infrarotaugen jede Wärmequelle, das Radar die Konturen, und die Augen der Videokameras we r fen sogar durch Dunst und Nebel Bilder der Schiffe auf die Kontrollschirme. Aber das hat alles wenig Sinn, wenn uns niemand genau sagt, wie sich von oben betrachtet ein altes von einem weniger alten Schiff unterscheidet.“ „Vielleicht durch seine Geschwindigkeit“, wandte der Kommandant ein. „Diese alten Pötte laufen gerade noch vier oder fünf Meilen. Die Schiffe mit Dampfmaschinen müssen sie ohnehin schleppen, weil man zuviel Leute braucht, um die Kesselanlagen unter Druck zu bringen.“ „Mit ein paar Mann läßt sich ein Diesel-Pott allemal fah ren“, meinte der Oberleutnant. „Ich war Seemann, bevor ich Pilot wurde. Ein Mann an der Maschine und einer auf der Brücke genügen, wenn die Reise nicht allzulange dauert und es ohnehin Richtung Schiffsfriedhof geht.“ „Und der Rest wird geschleppt“, ergänzte der Komman dant. Wie auf Stichwort kam ein Anruf über ICS aus dem Zen tralen Arbeitsraum. „Schleppzug in 335 Grad. Distanz sechzig Hundert. Ge schwindigkeit drei Meilen. Kurs um null Grad“, meldete der Oberbootsmann. Sie leiteten eine Linkskurve ein und näherten sich dem Objekt. Sie suchten, daß ihnen die Augen schier aus dem Kopf fie len. Minuten später wußten sie Bescheid. „Eine Bohrinsel“, sagte der Kommandant, „läuft nach Sta vanger rauf. Vermutlich ins Ölfeld Ekofisksieben.“ Sie gingen wieder auf den alten Kurs zurück. 83
Am späten Nachmittag, als sie zweihundert Kilometer öst lich von Island standen, entdeckte ihre Elektronik ein an triebslos treibendes Schiff von viertausend Tonnen Größe. „Das muß einer sein“, behauptete der Oberleutnant. „Dem ist die Maschine zusammengebrochen. Aber was tut der so weit hier oben?“ „Sie machen eine Doppelsternfahrt“, meinte der Kom mandant. „Bei Doppelsternfahrt begibt man sich erst einmal sternförmig auseinander, um sich dann wieder, wie auf den Strahlen eines neuen Sternes, dessen Zentrum zu nähern.“ „Und wo liegt das Zentrum?“ „Wenn das die NATO wüßte, müßten wir uns nicht die Nacht über dem Nordatlantik um die Ohren schlagen.“ Die deutsche Brequet-Atlantic hatte inzwischen sechs Stunden ihres Patrouillenfluges und dreitausend ihrer insge samt neuntausend zu absolvierenden Kilometer hinter sich. Die Kopfhörer schmerzten auf den Ohren, die große Müdig keit kam und mit ihr die Nacht. Laut Vorschrift wechselte jetzt die Pilotenschicht. Das zweite Team erschien im Cockpit, das erste Team ging in die Kojen. „Bei Erkennen eines Schleppzugs oder bei mehr als zwei langsam laufenden Schiffen auf ein und demselben Kurs sofort wecken“, befahl der Korvettenkapitän. Er konnte ungestört bis 02 Uhr morgens durchschlafen. Die Seepatrouillenmaschine flog an den Hebriden entlang, an der irischen Küste herunter und stieß bis 20 Grad West in den Atlantik vor. Überall, in allen Planquadraten, herrschte völlig normaler Schiffsverkehr, keine Massierungen, kaum Schleppzüge. Der Wachhabende im zentralen Beobachtungsraum melde te sich über Bordsprechanlage beim Kommandanten. „Ein Notruf auf 500 Kilohertz. Eine Privatjacht. Sonst nichts. Wir haben jetzt die Begegnungen hochgerechnet“, fügte er noch hinzu. „Während sich für gewöhnlich die Zahl der nach Norden und Süden laufenden Schiffe die Waage 84
hält, haben wir heute ein Übergewicht der nach Süden ge henden. Etwa sechzig zu vierzig.“ „Das liegt noch innerhalb der Toleranzen, oder?“ „Durchaus, Herr Kapitän. Soll ich es zum Oberkommando durchgeben?“ Der Kommandant hatte noch eine Zusatzfrage: „Südkurs ist ein recht weitläufiger Begriff. Können Sie aus den Kurswerten Genaueres herauslesen?“ „Vorwiegende Generalrichtung Nordafrika, Casablanca würde ich sagen.“ „Wir warten noch eine Stunde“, entschied der Komman dant, „mal sehen, was in der Biskaya los ist.“ Aber die Biskaya hatten schon die Seeaufklärer der Royal Airforce abgesucht, ohne ein befriedigendes Ergebnis an den Lordadmiral in London melden zu können. Strahlend stieg die Sonne aus dem Meer. Der Himmel war blau und wolkenlos. Das Meer war ruhig und glatt, aber auch leergefegt von schrottreifen Schiffen wie die Häfen an Nordsee und Atlantik. „Da muß eine hervorragende Organisation dahinterstek ken“, sagte der Kommandant der deutschen Brequet zu seinem zweiten Piloten. „Eine Organisation, die mindestens ebenso gut funktioniert wie die unsere. – Oder es hat die Schrottdampfer nie gegeben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.“ * „Hier Admiral Borschnoj“, brüllte der Russe ins Telefon. „Spreche ich mit Dottore Volari?“ Obwohl der Mann, der nicht Volari hieß, weder Doktor noch Italiener war, zehn Sekunden vorher noch fest geschla fen hatte, antwortete er hellwach. Er haßte es, mit gähnen den Leuten zu verhandeln und richtete sich selbst danach. „Trotz der frühen Morgenstunde“, sagte Volari, „immer zu Ihren Diensten, Admiral.“ 85
„Was wollen Sie. Ist doch schon fünf Uhr“, scherzte der Russe. „Bei Ihnen vielleicht. Bei uns ist es gerade vier“, antworte te Volari. „Was haben Sie für Sorgen, Admiral?“ „Es geht um unser Pjabtiha-Projekt.“ „Das läuft.“ „Seit wann?“ „Ich gab das Startsignal vor genau 26 Stunden“, bestätigte Volari. „Alle Schiffe mit noch funktionierendem Eigenan trieb haben in Abständen ihre Liegeplätze verlassen und steuern auf vorgeschriebenen Umwegen die Ausgangspunk te an.“ „Wozu noch die Umwege?“ „Einmal, um den Suchflugzeugen und Patrouillenfahrzeu gen der NATO zu entgehen, zum zweiten, weil die Schiffe über unterschiedliche Geschwindigkeiten verfügen. Da sie die Ausgangspositionen aber gleichzeitig erreichen sollten, muß ich ihnen verschieden lange Anlaufstrecken vorgeben.“ Der Admiral hatte einen Einwand. „Warum lassen Sie die Schnellen nicht einfach langsamer fahren?“ „Dann würde man aus der Massierung schon Tage vorher auf die Position schließen können. So aber treffen sie erst im letzten Moment an den Ausgangspunkten zusammen, und zwar acht Stunden vor X-Zeit. Dann ist die Aktion durch nichts mehr aufzuhalten.“ „X-Zeit und X-Position“, bemerkte der Admiral, „sind Sie auch sicher, Dottore, daß das niemand vorher der NATO hinterbringt?“ „Die X-Position kennen nur Sie und ich“, beruhigte ihn Dr. Volari, „und die X-Zeit kennen nicht einmal Sie genau. Wenn also etwas dazwischenkommt, liegt die undichte Stel le bei Ihnen.“ „Und Ihre Mitarbeiterin, wie steht es mit der?“ „Für sie lege ich meine Hand ins Feuer“, erklärte Volari. „Außerdem, was machen Sie sich Sorgen, Admiral? Bis X 86
Zeit auf X-Position trage ich allein das Risiko. Sie haben bis zur Stunde nicht einen Rubel investiert.“ „Aber wir sind am Ergebnis interessiert. Sonst hätten wir diesen Vertrag nicht abgeschlossen.“ „Erfüllen Sie Ihren Vertrag“, riet ihm Volari, „ich erfülle meinen binnen einer Woche.“ „Sie sind sehr optimistisch“, bemerkte der Admiral. Was will der eigentlich, dachte Volari, will er nur so rum quatschen, weil er nicht schlafen kann, oder will er sich an meiner Zuversicht stärken. „Ich bin meiner Sache sogar ganz sicher“, betonte Volari. „Trotzdem“, setzte der Admiral an, „sollten Sie sich ein wenig um Ihre Mitarbeiterin in Monte Carlo kümmern.“ Jetzt wurde. Volari stutzig. „Ich arbeite seit Jahren mit ihr zusammen. Wir haben ein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis. Sie ist über alle Maßnahmen und Schritte unterrichtet.“ „Wirklich über alle?“ fragte der Russe besorgt. „Nun, mit Einschränkungen“, gestand Volari. „Aber ich bin über ihre Schritte unterrichtet und dies ohne Einschrän kungen.“ Der Russe ließ nicht locker. „Madame Sinborg ist eine Frau, vergessen Sie das nicht.“ Die Hartnäckigkeit des Russen mißfiel Volari. „Ich kenne meine Mitarbeiterin. Sie kennen sie nicht“, entgegnete er scharf. „Pardon, aber wir kennen sie auch ein wenig.“ „Persönlich, Admiral? Von wo rufen Sie denn an? Aus Ostberlin? Berlin ist weit.“ „Der KGB hat seine Augen überall, Dottore.“ Volari steckte sich eine Zigarette an. „Nun legen Sie schon los, Admiral. Was haben Sie auf dem Herzen?“ Der Admiral machte nur Andeutungen. „Es geht für uns um handfeste strategische Interessen“, sagte er, „deshalb erlaubten wir uns nicht nur, Sie zu über 87
prüfen, sondern auch Ihr Büro in Monte Carlo. Dabei stell ten wir fest, daß Ihre Mitarbeiterin gestern Kontakt zu einem Mann hatte, der uns äußerst mißfällt.“ „Das ist unmöglich“, entgegnete Volari. Unbeirrt fuhr der Admiral fort: „Dieser Mann war auf Ihre Spur gesetzt und näherte sich dem Sun Tower. Ihr Abschirmdienst bekam ihn in die Hän de, aber Madame begnadigte ihn. Später traf man sich sogar in der Bar des Hotels de Paris.“ „Vielleicht ein harmloser Flirt“, wandte Volari ein. „Mit einem Agenten des Bundesnachrichtendienstes Deutschland? Wohl kaum.“ Volari lachte. „Wir haben mit den Deutschen nichts im Sinn.“ „Aber gegen die NATO einiges.“ „Sie irren sich gewiß, Admiral.“ „Nun“, meinte der Russe, „wir sind nicht gerade in Panik, aber soviel sollen Sie wissen, daß es sich bei besagtem BND-Agenten um einen der gefährlichsten Männer über haupt handelt. In einschlägigen Kreisen ist er weltweit unter dem Namen Mister Dynamit bekannt.“ „Mag sein, daß ich von ihm schon einmal gehört habe“, antwortete Volari, „aber auch er kann uns nicht mehr gefähr lich werden.“ Volari hatte schon gefürchtet, der Mann, den er in Cardiff angeheuert hatte, ein Weltklasseexperte auf dem Gebiet der Wrackbergung, ein Taucher und Schlepperkapitän namens Will Green, sei vielleicht zu neugierig geworden und vor der Zeit nach Monte Carlo gereist. Ohne diesen Mann wäre er kaum klargekommen. Erleichtert stellte er fest, daß es nur um einen deutschen BND-Agenten ging. „Unser Projekt nähert sich seiner kritischen Phase“, beton te der Admiral, „deshalb ist jeder Agent, der sich in dieser Woche an Sie heranmacht, gefährlich.“ „Schön, ich werde meine Mitarbeiterin fragen.“ „Besser, Sie stellen sie zur Rede“, forderte der Russe. 88
„Einverstanden“, versprach Volari, „in beiderseitigem In teresse.“ „Wann?“ wollte der Admiral wissen. „Sofort. Ich fahre sofort nach Monte Carlo.“ „Bitte halten Sie uns auf dem laufenden.“ „Das tun doch schon Ihre KGB-Schnüffler“, sagte Volari und war froh, als das Gespräch beendet war. Quertreibereien konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Aber mit Lolita würde er ein ernstes Wörtchen reden müssen. Er verließ das Bett, ging ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Bevor er sich darunterstellte, meldete er ein Ferngespräch nach Cardiff in England an. * Volari rührte gerade seinen Nescoffee um, als Cardiff kam. Ein Mann mit typischem Bristol-Akzent meldete sich. „Hier Volari“, sagte der Anrufer, der diesen Decknamen für alle seine Aktionen verwendete, „Sie sind noch zu Hau se, Green?“ Im Grunde war Volari erleichtert. Der wichtigste Mann, das entscheidende Rad im Getriebe, wirkte ruhig und zuverlässig wie bei allen Ferngesprächen, die sie bis heute geführt hatten. „Ich packe gerade die Koffer“, bestätigte Kapitän William Green. „Wann können Sie hier sein?“ „Morgen, Sir.“ „Haben Sie mit irgend jemand über unseren Kontakt ge sprochen?“ „Werde mich hüten, Sir“, sagte der Engländer. „Meine Anzahlung erhalten?“ „Danke, Sir, alles allright.“ „Wir werden noch einige zusätzliche Sicherheiten einbau en“, schlug Volari vor. „Gibt es Anlaß dazu, Sir?“ 89
„Man kann nicht vorsichtig genug sein“, meinte Volari. „Wir treffen uns nicht in Genua und auch nicht in Bordhige ra. Sie nehmen in Paris die Maschine nach Nizza.“ „Wie Sie wünschen, Sir.“ „In Nizza begeben Sie sich per Taxi zu einer Bar in der Rue de Rose.“ „Name der Bar?“ „Martinique. Dort fragen Sie nach Fitzgerald. Das ist der Barmixer. Er hat einen Brief für Sie, der alles Wichtige enthält.“ Der Kapitän in Cardiff bestätigte die neue Anweisung. Aber Volari war noch nicht zufrieden. „Ich muß Sie Fitzgerald beschreiben“, sagte er. „Wie sind Sie gekleidet, Green?“ „Wie Sie es gern hätten, Sir.“ „Möglichst nicht wie ein Kapitän in Blau mit goldenen Ärmelstreifen. Machen Sie es lieber unauffällig, William.“ „Wie gefällt Ihnen Pilotenjacke und Jeans?“ „Einverstanden. Mit oder ohne Schlips?“ „Ich reise nicht gern wie ein Globetrotter. Hemd und Schlips. Okay, Sir?“ „Das Kennwort ist X-Day.“ Der Engländer bestätigte es. Jetzt erst war Volari sicher, alles Erforderliche getan zu haben. Der Anruf des Admirals hatte ihn mehr irritiert als er sich eingestand. Er schaute auf die Uhr. Gleich sieben. Tat ihm leid, Lolita aus dem Bett werfen zu müssen, aber der Verdacht der Russen mußte ausgeräumt werden. Zuviel stand auf dem Spiel. Er verließ sein Appartement, holte seinen Lamborghini aus der Garage und fuhr die paar Kilometer nach Monte Carlo hinüber. Wenn man clever ist, dachte er, kann das Leben sehr lang und sehr angenehm sein. Aber niemand kann dieses Leben lebend überstehen. 90
9.
Die Tür im Dachappartement von Lolita Sinborg war nur angelehnt. Urban drückte trotzdem den Summer. Aber nie mand meldete sich. Es ging auf 09 Uhr. Er war keine Minute zu früh und keine zu spät. Wenn es mit rechten Dingen zuging, mußte Lolita da sein und ihn erwarten. Vor 70 Minuten hatten sie noch telefoniert und sich hier verabredet. Weil sich nichts rührte, ging er hinein. In der Garderoben nische hing die Nerzstola, die sie in der Hotelbar getragen hatte. Im Badezimmer waren die Fliesen noch beschlagen, als habe sie gerade erst geduscht. Urban nahm die drei Stufen vom Entree hinunter in den sonnendurchfluteten Living-room. Dort war sie dann, aber anders, als er erwartet hatte. Sie lag am Boden und schien zu schlafen. Sie hatte nur ei nen weißen Bademantel an. Der Gürtel hatte sich geöffnet. Sie lag mehr auf als in dem Bademantel. Den Kopf hatte sie in den angewinkelten Arm gelegt, ihre Augen waren geschlossen. Sie lächelte ein wenig überrascht. Ihr nackter Körper wies keine noch so winzige Beschädi gung auf. Trotzdem war sie tot. Urban brauchte weder die Pupillenprobe zu machen noch ihr einen Spiegel vor die Nase zu halten. Er sah es an der Haltung, er spürte es einfach. Der Tod war noch im Zimmer. Vorsichtig hob er Lolitas Kopf an. Darunter schimmerte es dunkelrot und feucht. Der Blutfleck würde nicht so schnell aus dem Teppich zu kriegen sein. Aufgesetzter Schläfenschuß aus einer kleinkalibrigen Pi stole, schätzte er, höchstens Kaliber 6,35. Urban schaute sich, in der trügerischen Hoffnung, er kön ne einen Hinweis auf den Täter f inden, in der Wohnung um. Nach wenigen Minuten wußte er, daß dies auch einem ausgebildeten Team von Spurensicherungsleuten kaum 91
möglich sein dürfte. Die Tür wies keinerlei Beschädigung auf. Der Täter war also nicht gewaltsam eingedrungen. Über die Dachterrasse wäre dies bei der Höhe des Sun Tower auch nicht möglich gewesen. Der Täter hatte also einen Schlüssel gehabt, oder Lolita hatte ihm arglos geöffnet. Auf dem Nachttisch standen zwei Espressotassen, beide noch randvoll. Vielleicht hatte Lolita die Absicht des Täters durchschaut und ihn hinzuhalten versucht Sie wußte ja, daß Urban kommen würde. Der Weggang des Täters und sein Kommen hatten sich nur um wenige Minuten überschnitten. Lolita war noch warm. Die Starre hatte noch nicht eingesetzt. Urban durchsuchte ihren Schreibtisch, die Ablage der Fernschreiben, alles was in Frage kam. Der Papierkorb quoll über von Konfetti. Offenbar wurden hier alle geheimen Papiere sofort durch den Reißwolf gedreht. Er fand nichts, keinen Hinweis, der ihn weitergebracht hätte. Nur auf dem Notizblock stand, zwischen mehreren durch gestrichenen also erledigten Positionen, ein Name. William Green, Cardiff. Ankunft Mittwoch. Genua. Treffpunkt Bor dighera Jachthafen. Dort würde der Italiener Green in Empfang nehmen. Aber wohl freundschaftlicher als ihn. Gewiß handelte es sich bei William Green aus Cardiff um einen Mann, der zu der Or ganisation gehörte. Urban prägte sich die Notiz ein, tippte mit zwei Fingern einen Abschiedsgruß an die Stirn und ging. Beim Verlassen des Sun Tower lag ihm daran, niemandem zu begegnen. * Vom Hotel aus rief er sofort das Hauptquartier an. Nachdem er den neuesten Lagebericht abgegeben hatte, schlug er vor, die britische Spionageabwehr zu verständigen. 92
Es gehe um einen Mann namens William Green, wohnhaft in Cardiff, der sich vermutlich heute oder morgen Richtung Genua in Marsch setzte. „Dieser Bursche hängt offenbar mit drin“, fügte Urban hinzu. „MI-5 soll ihn festnehmen und verhören. Er kann sich zu einem Dreh- und Angelpunkt entwickeln.“ „Kann, muß aber nicht“, ergänzte Sebastian. „Wie machen Sie weiter, jetzt wo Ihre Kontaktperson Nummer eins tot ist?“ „Ausgeschaltet wurde“, verbesserte Urban. „Ich muß mir eine neue Kontaktperson suchen.“ „Und da sticht Ihnen dieser William Green ins Auge?“ „Vielleicht“, meinte Urban, „wird er an die Hauptfigur herangeschleust. Ich meine zu diesem Kopf, der hinter allem steht.“ „Woraus schließen Sie das?“ „Es war nicht vorgesehen, daß sich Green mit Lolita traf, sondern daß er sich in Bordighera melden sollte.“ „Aber die Notiz stand in Frau Sinborgs Terminkalender.“ „Das besagt wenig. Ich muß schnellstens wissen, was die ser Green für ein Mann ist.“ „Ich rede gleich mit London“, versprach Sebastian. „Die NATO-Seeaufklärung ist leider nicht viel weiter als vor 12 Stunden.“ „Diese Leute arbeiten mit allen Tricks.“ „Noch ein paar Namen sind aufgetaucht“, unterrichtete ihn der Oberst. „Das CIA-Team in Houston brachte sie mit. Der eine Name ist Mestroso.“ „Bekannt“, bestätigte Urban. „Mestroso ist der Exverlobte von Lolita Sinborg.“ „Dann gab es auch noch einen Winston Lomax.“ „Der ist neu“, sagte Urban. „Was hat Lomax mit dem Fall zu tun?“ „Nichts. Er war Angestellter einer Ölfirma und arbeitete als Taucher bei den Bohrplattformen im Golf von Texas. Er galt als Freund von Mestroso und konnte es recht gut mit 93
dem alten Korvettenkapitän von Sensburg. Im Herbst vor drei Jahren kündigte er seinen Job bei der Texaco und jobte seitdem für einen Ölscheich am Persischen Golf. Leider gelang es den Amerikanern bislang nicht, ihn dort ausfindig zu machen.“ „Macht Sie das stutzig?“ „Wenn es danach ginge, könnte man hier nur noch stut zen.“ Urban glaubte, den Unterton herauszuhören. „Haben Sie noch eine hübsche Neuigkeit?“ „Wir konnten einiges über Sensburgs Tätigkeit bei Canaris ausgraben. Er war ein äußerst phantasievoller Mann.“ „Woran bastelte er?“ „Die Unterlagen wurden zusammengefaßt und auf Band gesprochen. Können wir einen Schnelldurchlauf machen?“ „Muß nur den Recorder aus dem Auto holen.“ „Dann rufen wir in fünfzehn Minuten zurück. Inzwischen spreche ich mit Lord Babington in London.“ Urban bereitete die Aufnahme des Schnelldurchlaufs vor. Er klemmte das Recordermikro an die Hörmuschel des Tele fons. Bei Blitzaufnahme lief sowohl in München als auch in Monte Carlo das Magnetband mit Rückspulgeschwindigkeit an den Tonköpfen vorbei. Texte von Stundenlänge ließen sich auf diese Weise in einer halben Minute übertragen. Bis das Telefon summte, leerte Urban die Kanne. Der Kaf fee war kalt. * „Fertig“, sagte Urban, als Pullach wieder im Draht war. „Augenblick noch“, schaltete sich Sebastian ein. „Ihr Wil liam Green ist Bergungsfachmann und Inhaber eines Kapi tänspatents für Hochseeschlepper. Er soll ein besonderes System zur Wrackbeseitigung entwickelt haben. Angeblich ist er damit in der Lage, die Wracks gesunkener Schiffe nach einem neuen Verfahren von Stellen, wo sie für die 94
Schiffahrt gefährlich sind, an jene Stellen zu bringen, wo sie niemandem im Wege steh’n.“ „Also so eine Art Unterwasserrangiermeister“, ergänzte Urban. „Genauere Einzelheiten kommen im Laufe des Tages noch durch. Jedenfalls kümmert sich die britische Spionageab wehr um Kapitän Green.“ „Ich muß soviel wie möglich über ihn wissen“, betonte Urban. „Wann er nach Genua fliegt, wie er aussieht, wie er sich kleidet.“ „Was haben Sie vo r?“ fragte der Alte. „Green ist das letzte Loch“, sagte Urban, „durch das wir schlüpfen können, um die harte Nuß von innen zu knacken.“ „Angenommen“, wandte der Oberst ein, „Sie versuchen in die Rolle dieses Green zu schlüpfen, dann scheitert der Ve r such von vorneherein daran, daß er sich in Bordighera mel den soll. Dann können wir doch gleich die Leibwächter hochnehmen.“ „Die wissen zu wenig“, befürchtete Urban. „Die sind nur Gehilfen.“ „Und Sie erkennt man schon eine Meile gegen den Wind.“ „Mir fällt schon was ein“, sagte Urban. „Hat ja noch ein paar Stunden Zeit.“ „Ich verbinde Sie jetzt mit N-2“, sagte Sebastian. Sekunden später wurde der Schnelldurchlauf vorgenom men. Mit dem vollgefütterten Recorder legte sich Urban aufs Bett, ließ das Band zurücklaufen und hörte sich an, was die Ermittlungen ergeben hatten. Der Bericht begann mit der militärischen Karriere des Ludwig von Sensburg. Geboren 1898 war er im Kriegsjahr 1917 nach dem Abitur als Kadett bei der Kaiserlichen Kriegsmarine eingetreten. Er brachte es noch bis zum Leutnant zur See. Aufgrund guter Beziehungen gelang es ihm, in die Marine des Weimarer Hunderttausend-Mann-Heeres übernommen zu werden. Dort stieg er vergleichsweise langsam auf. Es sah ganz so aus, als 95
würde er den kritischen Sprung vom Kapitänleutnant zum Stabsoffizier niemals schaffen. Vermutlich lag es daran, daß er als Kommandant eines Minensuchbootes im Nebel eine Fahrwassertonne gerammt hatte. Im Jahre 1930 konnte sich so ein Versagen auf die Karriere eines Marineoffiziers noch tödlich auswirken. Doch dann kam die Machtübernahme durch Hitler. Auch die Flotte wurde gewaltig aufgerüstet. Der Mangel an Stabsoffizieren brachte es mit sich, daß Sensburg schließlich Korvettenkapitän wurde. – Dennoch schien ihm die ganze Marschrichtung bei der aktiven Flotte nicht mehr zu behagen. Da er Admiral Canaris, den Chef des damaligen Amtes Ausland/Abwehr im OKW gut kannte, wurde er nach Berlin versetzt. Dort übernahm er bald einen Sonderauftrag. Die Marineleitung erarbeitete verschiedene geheime Pro jekte, unter anderem auch solche, die sich mit dem Krisen fall und dem daraus resultierenden totalen U-Boot-Krieg beschäftigten. Der Krieg würde, so nahm man an, weltweite Dimensionen erreichen und somit auch einen weltweiten Einsatz der U-Boote erforderlich machen. Boote mit einem Aktionsradius, der das Operieren in Fernost ermöglichte, hatte man aber erst auf dem Reißbrett. Also mußten Überle gungen, die Versorgung der vorhandenen Boote betreffend, angestellt werden. „Es gab mehrere Möglichkeiten“, fuhr die anonyme Stim me auf dem Informationsband fort. „Einmal den Bau von Fernkampfbooten, die ein halbes Jahr und länger ohne An laufen einer Basis am Feind bleiben konnten. Dann die Ein richtung von Versorgungsschiffen, oder die Einrichtung geheimer Stützpunkte. Versorgungsschiffe waren leicht zu erkennen, ausfindig zu machen und zu versenken. Um Stützpunkte einzurichten, benötigte man Häfen, zumindest Küstenabschnitte oder Inseln. Da es keine neuen Inseln gab, die bekannten aber alle in festen Händen waren und es der deutschen Diplomatie gegen den Widerstand der Engländer, Amerikaner und Franzosen auch nicht gelang, Häfen, Kü 96
stenabschnitte und Buchten in Fernost und Südamerika zu pachten, verfiel Fregattenkapitän Sensburg auf eine Idee. Sie wurde unter dem Code „Prokin“ als geheime Kommandosa che eingestuft. Wie wir im Berliner Marinearchiv heraus fanden, bedeutet der Code Prokin im Klartext Projekt künst liche Insel. Die Forschungsgruppe unter Korvettenkapitän Sensburg hatte sich folgendes ausgedacht. Auf freier See, an ozeani schen Positionen, die einsatzstrategisch wichtig sind, sollten Untiefen ausgemacht werden. Das waren Stellen, die nicht tiefer lagen als zwanzig bis dreißig Meter, also Riffe, Atolle et cetera, wo man vorgefertigte künstliche Inseln erstellen wollte.“ „Den heutigen Bohrplattformen entsprechend“, fiel Urban der elektronischen Stimme ins Wort, „nur eben ein bißchen größer.“ Die Stimme auf dem Tonband ließ sich nicht beirren. „Die Erfindungsgabe von Sensburg ging aber noch einen Schritt weiter. Er sagte sich, daß der Antransport der erfor derlichen Materialien natürlich auffallen und möglicherwe i se zu Einsprüchen von Seiten der Großmächte oder zu Sabo tageaktionen führen würde. Schließlich kam der Korvetten kapitän auf die geniale Idee mit den schrottreifen Schiffen. Das fertig durchgerechnete Projekt ‚Prokin’ sah vor, daß uralte Dampfer, die gerade noch fahrfähig waren, nicht in der Werft abgewrackt wurden, sondern zum Bau künstlicher Inseln an ausgesuchten Positionen versenkt werden sollten. Wenn man in geringen Tiefen ein Wrack auf das andere schichtete, nebeneinanderpackte wie Sardinen in der Büch se, mit Stahlträgern verband und mit Spezialbeton ausgoß, mußte das ein ausreichend stabiles Fundament für eine Platt form ergeben. Auf der Plattform würde man dann die deut sche Flagge hissen, sie zu deutschem Territorium erklären und mit dem Ausbau als Flottenstützpunkt oder als Lande bahn für Flugzeuge beginnen. – Im Verlauf des Krieges war der Bau solcher Inseln zuerst 97
unnötig, weil man mit Japan in Ostasien einen Verbündeten hatte. Später, als die USA gegen Japan in den Krieg eintrat, erwies sich der Bau als nicht mehr durchführbar.“ Es folgten noch einige technische Angaben. Urban schaltete ab. Das also war des Rätsels Lösung. Der Mann im Hinter grund hatte alle erreichbaren Schrottschiffe gekauft, um irgendwo eine solche Insel zu bauen. Natürlich nicht für sich selbst, auch nicht als privates Hobby. Für wen wohl? Als Käufer kam nur eine Großmacht in Frage, die Stützpunkt probleme hatte. Die UdSSR also. Damit wurde der Fall heiß. Jetzt war auch klar, daß man den geringsten Versuch, den Bau dieser Insel zu verhindern, mit allen Mitteln abwürgen würde. Der Mord an Lolita war in diesem Zusammenhang wirk lich nur eine Nebensache. Bei Geschäften in Milliardengrö ße, was bedeutete da ein Menschenleben? * Urban sprach selbst mit London. „Wir haben ihn vorläufig festgenommen“, meldete ihm das MI-5. „Ohne triftigen Grund ist das jedoch illegal. Ge gen den Mann liegt nichts vor. Wir verhören ihn, werden ihn aber laufenlassen müssen.“ Urban erklärte kurz, um was es ging. Dem Mann in London, selbst ehemaliger Seeoffizier, blieb die Spucke weg. „Kann matt das überhaupt verhindern“, fragte er, „den Bau dieser Inseln?“ „Juristisch wohl ebensowenig“, meinte Urban, „wie Sie Kapitän Green einsperren können.“ „Was sehen Sie für Möglichkeiten, Bob?“ „Störaktionen“, sagte Urban, „und zwar an der für den Bau der ersten Insel vorgesehenen Position.“ „Zum Beispiel?“ 98
„Langwierige Flottenmanöver der NATO.“ „Das hindert die Leute doch nicht, irgendwann ihre Pötte abzusenken.“ „Wenn man die genaue Position hat, vielleicht schon.“ „Und haben Sie die?“ „Bis jetzt nicht“, gestand Urban. „Die Position der ersten Insel ist das Alpha und das Omega. Vielleicht gibt es einen Weg, sie zu bekommen, ehe es zu spät ist.“ „Wenn Sie die Hintermänner nicht einmal kennen.“ „Deshalb muß jemand Greens Rolle übernehmen.“ „Ein Himmelfahrtskommando.“ „Vor allem dann, wenn Sie Green nicht daran hindern, nach Genua zu fliegen.“ „Man muß sich etwas einfallen lassen.“ „Meine Gehirnzellen verkrampfen sich schon“, sagte Ur ban, „so sehr denke ich nach. Wann fliegt Green?“ „Er schweigt beharrlich“, bedauerte der Kollege in Lon don. „Aber soviel wissen wir, daß er die Absicht hat, mor gen die Maschine nach Mailand und weiter nach Genua zu nehmen.“ „Wie sieht er aus?“ „Einsfünfundachtzig groß, Gewicht etwa achtzig Kilo, dunkelhaarig mit grauen Strähnen. Augen blau. Er spricht Cardiff-Dialekt. Eigentlich ein netter Bursche, dieser Green.“ „Kleidung?“ „Marineblau, Kapitänsstreifen auf Jackett und Mütze.“ „Eine Uniform kann ich mir hier beschaffen“, sagte Urban. „Aber ihr müßt ihn festhalten.“ In London wollte man es versuchen. „Wir durchstöbern sein Vorleben. Wenn wir Glück haben, gibt es darin eine Sache, die nicht ganz astrein war.“ „Bei wem gibt es die nicht. – Viel Glück.“ „Noch etwas“, fragte der Mann von MI-5, „was können wir tun, wenn der Sender Urban ausfällt?“ „Nichts“, bedauerte Urban. „Die Drahtzieher haben zwar 99
vor Jahren in Texas einen Geldtransport überfallen, aber das dürfte ihnen so schwer nachzuweisen sein wie der Mord heute morgen an ihrer Partnerin.“ „Da kommt ja einiges zusammen.“ „Zusammen schon“, sagte Urban, „aber welches Konto sollen wir damit belasten?“ „Viel Glück“, wünschte der Mann von MI-5 noch einmal. Daraufhin begab sich Urban zu den Schiffausstattern am Hafen, um für ein brauchbares Kostüm zu sorgen. Daß sein Äußeres einigermaßen dem Aussehen des Kapi tän Green entsprach, war die Voraussetzung, daß er nicht in ein offenes Messer lief. 10. Die Engländer gaben sich große Mühe mit Käptn Green. Der aber hatte nur ein müdes Lächeln für ihren Eifer. „Ich bin sauber, Gentlemen“, betonte er immer wieder. „Ich verlange entweder meinen Anwalt, Vorführung vor den Untersuchungsrichter oder sofortige Freilassung.“ Die Beamten von MI-5 zogen das Verhör solange hin, bis der Experte aus London in Cardiff eintraf und den Fall in die Hand nahm. Ehe er den Verhörraum betrat, massierte er seine Hände wie ein Klaviervirtuose vor dem Auftritt. „Den kriegen wir schon irgendwie“, sagte er. „Wäre der erste Mensch, dem ich begegne, der nicht Dreck am Stecken hat. Was liegt Verwertbares gegen ihn vor?“ „Nicht mal eine Verkehrsstrafe“, lautete die Auskunft. „Wohnung durchsucht?“ „Wir sind dabei.“ „Seht zu, daß ihr eine Waffe findet.“ „Er besitzt keine, mit Ausnahme einer Kinderarmbrust.“ Der Experte runzelte die Stirn. „Wo liegt die Armbrust?“ „Hängt an einem Haken in der Garage.“ 100
„Das ist außerhalb des Hauses. Eine Armbrust ist eine Schußwaffe. Damit habe ich ihn. Und sei es nur für eine Stunde. Betreibt er ein Hobby?“ „Er züchtete Orchideen, gab es aber auf, weil ihm die Din ger eingingen, wenn er längere Zeit auf See war.“ Der Experte aus London flüsterte einem Kollegen aus Cardiff etwas zu, woraufhin dieser sofort das Büro verließ. Nun wandte sich der Experte aus London an den Mann, der Green festgenommen hatte. „Wo bekamen Sie ihn?“ „An der Tankstelle hundert Meter von seinem Haus ent fernt.“ „Wie wies er sich aus?“ „Mit dem Führerschein.“ „Was hatte er vor?“ „Er tankte voll und trug sich mit der Absicht in CooksReisebüro zu fahren, um seine Tickets abzuholen.“ Auch der zweite MI-5 Mann bekam Anweisungen. Noch einmal ließ der Londoner Experte die Finger in den Gelen ken knacken und begab sich endlich zu Kapitän William Green. Er begann ganz freundlich: „Der gelbe Rover mit dem Kennzeichen CMS-654, ist das Ihr Wagen?“ „Ich habe es jetzt satt“, antwortete Green erbost, „ich sage kein Wort mehr.“ „Schade“, entgegnete der Mann aus London, „dann sind Sie selbst schuld, wenn wir Sie noch lange festhalten. Der gelbe Rover steht im Parkverbot. Jetzt muß die Polizei erst umständlich ermitteln, ob Ihnen der Wagen auch wirklich gehört. Könnte ja sein, daß er gestohlen ist. Sie sind aber auch kein bißchen kooperativ, Mister Green.“ Green blieb die Spucke weg. „Leben wir eigentlich in einer südafrikanischen Diktatur, oder wo leben wir?“ Der Mann aus London begann ein Bonbon zu kauen. 101
„Wir sind stolz auf das Maß persönlicher Freiheit, das wir unseren Bürgern gewähren“, sagte er grinsend, „das wollen wir uns aber auch erhalten. Sie sind im Besitze einer Schußwaffe, Mister Green. Haben Sie einen Waffenschein?“ „Ich besitze keine Waffe.“ „Das ist eine Falschaussage, Sir“, bedauerte der MI-5 Beamte. „Die Waffe befindet sich sogar außerhalb Ihres Hauses, was einwandfrei gegen gewisse Gesetze verstößt.“ Der Kapitän sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Stirnadern schwollen an. „Ich bin einen Vertrag mit einer Firma in Italien eingegan gen. In wenigen Stunden muß ich nach Genua. Wenn Sie mich daran hindern, mache ich Sie für den Schaden verant wortlich, der mir und meinem Arbeitgeber entsteht. Für die Konventionalstrafen müssen Sie auch aufkommen.“ „Mit wem haben Sie Kontakt?“ fragte der Abwehrbeamte. „Das geht Sie nichts an.“ „Welcher Art ist Ihre Aufgabe?“ „Wrackbeseitigung“, sagte Green schroff. Das Telefon summte. Der Mann aus London nahm den Hörer ab, nickte, legte wieder auf. „Wissen Sie“, fragte er, „um was es sich bei V-777 han delt?“ Green schien nachzudenken. „Ich denke, es ist ein Gift.“ „Glauben Sie, daß man Menschen damit töten kann?“ „Gewiß. Aber zum Teufel, worauf wollen Sie hinaus?“ „Wir fanden eine Kilobüchse V-777 in Ihrem Haus.“ Green wischte sich übers Gesicht und öffnete die Augen überweit. Dann fing er zu lachen an. „Was Sie als Gift bezeichnen, ist ein Pflanzenschutzmit tel.“ „Sie gaben selbst zu, daß man Menschen damit töten kann.“ „Menschen kann man auch mit klarem Quellwasser töten. Kommt immer auf die Menge an.“ 102
„Es geht um V-777“, präzisierte der Mann aus London. „Was hatten Sie damit vor? Wie viele Menschen, glauben Sie, kann man damit umbringen, wenn man den Inhalt dieser Büchse in einen Brunnen schüttet?“ Green fand das Verhör fast schon amüsant. „Ich verwende V-777 nur für meine Orchideen. Es gibt ein paar Orchideenkrankheiten, die sich damit verhindern las sen.“ Der Mann aus London konterte eiskalt. „Wir fanden in Ihrem Haus aber keine Orchideen, Mister Green.“ „Klar, weil sie mir alle eingegangen sind. Ein Seemann sollte keine Blumen züchten. Ich übernahm sie von meiner Mutter.“ „Und ich denke, Sie lügen uns verdammt etwas vor, Käpt’n Green“, entgegnete der Experte aus London. „Sie züchteten niemals Orchideen und benutzten das V-777 für andere Zwecke.“ Plötzlich fand Green das Gespräch gar nicht mehr so amü sant. „Sie drehen einem ja das Wort im Munde herum.“ Der Mann aus London zählte jetzt zusammen: „Eine Schußwaffe und keinen Waffenschein. Ein hochgiftiges Pflanzenschutzmittel und keine einzige Orchidee. Kaum haben wir Ihren Lack angekratzt, schon kommen interessan te Dinge zutage. Wir werden jetzt ein wenig tiefer bohren müssen. Das ist unsere Pflicht. Erzählen Sie uns mal, wie Ihre Aufgabe in Genua wirklich aussieht. Warum nennen Sie uns den Arbeitgeber nicht? Stehen Sie unter Kontrakt bei verbrecherischen Organisationen, bei Terroristen, oder arbeiten Sie als Spion für eine fremde Macht?“ Green wurde nervös. Er steckte sich eine Zigarette an. „Ist doch alles Irrsinn“, sagte er, „was Sie da an den Haa ren herbeiziehen. Sie wollen mich nur in irgendeine üble Geschichte verwickeln. Und weil Sie nichts finden, fangen Sie an, alles aufzubauschen. Ich hatte Streichhölzer in der 103
Tasche, also bin ich ein Brandstifter. Ich besitze ein Messer, vielleicht habe ich Mahatma Gandhi erstochen. Ich…“ An der Tür wurde geklopft. Der Mann aus London ging hinaus und erschien nach wenigen Minuten strahlend wie der. „So kommt eines zum anderen“, sagte er. „Eine kleine Unwahrheit, ein Schwindel, eine faustdicke Lüge. Ich sehe mich nicht mehr in der Lage, Mister Green, Ihnen auch nur ein Wort zu glauben.“ Green hatte offenbar erkannt, daß er sich längst zwischen den Zahnrädern einer riesigen Maschinerie befand, gegen die man sich nicht stemmen konnte. Man konnte ihnen höchstens ausweichen. Aber sein Temperament ließ es ein fach nicht zu, daß er sich anpaßte. „Was Sie mit mir machen, ist Freiheitsberaubung“, schrie er, „eine mutwillige Konstruktion von Verdachtsmomenten, um mich festhalten zu können. Aber das werde ich Ihnen heimzahlen. Das hänge ich an die große Glocke. Ich nehme mir den besten Anwalt des Landes. Ganz mies werden Sie dann dastehen, Mister. Das kostet Sie Ihre Karriere.“ Der Experte aus London bekam einen fast traurigen Blick, als er das hörte. „Was“, fragte er, „kostet ein Flug nach Genua?“ „Ich glaube, ich habe achtzig Pfund bezahlt“, antwortete Green resignierend. „Dann kriegen Sie ja noch was raus“, spottete der MI-5 Experte. „Der Flug Paris-Nizza ist nämlich elf Pfund billi ger.“ „Was ist denn das für ein Unsinn?“ „Ich stelle nur fest, daß Sie uns abermals hinters Licht füh ren wollten. Sie haben gar nicht die Absicht, Genua anzu fliegen. Die Buchung wurde über Paris-Nizza vorgenom men. Warum, Mister Green, versuchen Sie, Ihre Reise zu verschleiern? Was steckt dahinter? Sehen Sie, darum geht es uns. Um die Wahrheit und um nichts anderes.“ Green fühlte sich wie auf einer schiefen Ebene, die mit 104
Schmierseife beschichtet war. Er verlor zusehends mehr den Halt, begann abzugleiten, immer schneller, unaufhaltsam. – Wenn nur diese verdammte Sache vor zwei Jahren im Roten Meer nicht gewesen wäre. Er hatte dort ein Wrack beseiti gen müssen. Bevor er es unter Wasser sprengte, sollte der Inhalt des Tresors geborgen werden. Der Tresor hatte eine Kassette mit neunzigtausend Dollar enthalten. Er war ganz allein unten gewesen und hatte behauptet, daß die Explosi on, die zum Sinken des Schiffes führte, auch den Tresor zerstört habe. Wenn sie ihm dahinterkamen, daß er sich die Dollars angeeignet hatte, dann war er für immer erledigt. Also mußte er sie am Weiterbohren hindern. Dies war nur durch freiwillige Mitarbeit möglich. „Ich wurde umdisponiert“, sagte er, „von Genua nach Monte Carlo.“ „Wann treffen Sie dort wen wo?“ schoß der MI-5 Experte seine nächste Frage ab. „Nach meiner Ankunft begebe ich mich in eine Bar na mens Martinique in der Rue de Rose. Dort frage ich nach Fitzgerald. Er hat einen Brief für mich. Mit Anweisungen.“ „Wie händigt er ihn aus?“ „Auf Kennwort.“ „Und wie lautet dieses?“ „X-Day“, sagte Green. „Zum Teufel, warum wollen Sie alles wissen, Sir?“ Jetzt spielte auch der Abwehrmann mit offenen Karten. „Sie sind uns als guter, wenn auch ein wenig sturer Staats bürger bekannt, Käptn Green“, sagte er, „aber jetzt sollten Sie uns helfen. Wir sind da einem gigantischen Spiel mit heißem Schrott auf der Spur, das, wenn es gewonnen wird, zu einem Krieg führen könnte. Wir müssen Sie allerdings um absolutes Stillschweigen bitten.“
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Bob Urban ließ sich die Ankunftszeiten der Linienmaschi nen in Genua durchgeben, schlug die Fahrzeit GenuaBordighera dazu und beschieß, um 18 Uhr den Treffpunkt am Jachthafen aufzusuchen. Bis dahin hatte er noch drei Stunden Zeit. Er goß einen doppelten Bourbon aus der Flasche ins Glas, gab Eis hinein und streckte sich aufs Bett. Was er mit Lolita Sensburg gemeinsam hatte, war der gleiche schöne Ausblick wie vom Sun Tower. Nur daß Loli ta ihn nicht mehr genießen konnte. Man hatte sie umgebracht, weil man in ihr eine Gefahr sah. Vielleicht waren sie gestern abend in der Hotelbar beo bachtet worden, und sie hatte sich nicht geschickt genug herausreden können. Der Mord an Lolita sah nach einer reichlich überstürzten und nervösen Reaktion aus. Sie erklärte sich nur dadurch, daß alles auf den Kulminationspunkt zutrieb. Der Bau dieser Insel aus Schrott, und um nichts anderes ging es, stand also unmittelbar bevor. Der Atlantik war zu groß, als daß er sich überwachen lie ße, als daß man aus den Bewegungen der Schiffe den Ort hochrechnen konnte, an dem die Insel gebaut werden sollte. Das ließ sich erst in der Endphase erkennen. Vorausgesetzt, die Kurse der Schrottschiffe waren überhaupt zu registrie ren. Selbst dann war es bereits zu spät für Gegenmaßnah men. Um zwei Dinge ging es also: um Ort und Zeit. Wo sollte eine Insel erbaut, wann dort in einer Blitzaktion die Schrottdampfer versenkt werden? Urban hatte keine andere Wahl. Er mußte die letzte Gele genheit wahrnehmen. Wie eine Mikrobe mußte er sich in das Innere dieses Organismus einschleichen. Am Nachmittag hatte Sebastian noch einmal angerufen. Die Engländer hielten Green fest, hatte ihm der Oberst übermittelt. Von ihm drohe keine Gefahr, nicht für die näch sten 24 Stunden. 106
Urban rauchte eine MC, ließ den Whiskyrest vom Glas auf die Zunge tropfen, schaute auf die Uhr. – Als er wieder auf die Uhr schaute, war es höchste Eisenbahn. Statt seiner Glencheck zog er die Kapitänsjacke an, er stand im Hotel noch eine Londoner Zeitung, dazu britische Zigaretten und ließ ein Taxi kommen. Nachdem er Platz genommen hatte, nannte er dem Fahrer die Adresse. Der Chrysler ordnete sich in den Verkehr ein und rollte Richtung Italien. „Wie lange fahren wir?“ erkundigte sich Urban. „Jetzt um diese Zeit überqueren die Pendler die Grenze. Zwanzig Minuten, Monsieur.“ Noch eine halbe Stunde Galgenfrist, dachte Urban und überlegte, wie er reagieren würde, wenn er dem kleinen Italiener gegenüberstand. Er würde ihm klarzumachen ver suchen, daß er das Denken besser anderen Leuten überließ, nachdem er sich schon einmal bei ihm vergriffen hatte. Der Fahrer musterte ihn durch den Rückspiegel. „Ist Ihnen nicht gut, Monsieur?“ fragte er. „Fühle mich blendend“, log Urban. „Sie sehen sehr blaß aus, Capitaine. – Oder mißfällt es Ih nen, daß die Polizei hinter uns herfährt? Schon seit fünf Minuten.“ Urban drehte sich um. Tatsächlich hing hinter dem Taxi ein Peugeot in Schwarz und Weiß, Drehlicht auf dem Dach, Police-Beschriftung auf der Kühlerhaube. „Der meint uns nicht“, sagte Urban. „Wüßte auch gar nicht warum, mon Capitaine“, bemerkte der Fahrer und wischte bei Ampelwechsel noch über die Kreuzung. Das Polizeiauto folgte ihnen, obwohl es rot hatte. Der Streifenwagen war mit drei Mann besetzt. Zwei in Uniform und einem Zivilisten. Er blieb dicht hinter ihnen. Er forderte sie nicht zum Halten auf, bog aber auch nicht ab. Noch vier Kilometer bis zum Grenzübergang. 107
Endlich hatte das Taxi den Abendverkehr hinter sich ge lassen. Die Steigung nach Beausoleil hinauf gab der Fahrer Gas. Die Straße war auf etwa 200 Meter Länge frei. Plötzlich schaltete der Streifenwagen hinter ihnen die Scheinwerfer ein, überholte mit hochtourendem Motor, wurde scharf nach rechts herumgerissen und bremste voll. Der Taxifahrer fluchte. Dicht hinter dem Streifenwagen brachte er seinen Chrysler zum Stehen. Dort stieg nur der Zivilist aus. Die Hände in den Hosenta schen schlenderte er herum. Er wandte sich an Urban. „Ihre Papiere bitte, Capitaine“, verlangte er. Urban hatte sie aus Sicherheitsgründen im Hotel zurückge lassen. „Bedaure.“ „Dann muß ich Sie bitten mitzukommen“, entschied der Kriminalbeamte. Urban nahm seine Reisetasche, entlohnte den Taxifahrer und stieg bei den Polizisten zu. Im Streifenwagen schob er eine Zigarette in den Mund und sagte: „He, spinnst du, Gil?“ Der Zivilist, ein Agent des französischen SDECE namens Gil Quatembre, gab Urban Feuer und fragte: „Wer machte das schöne Mädchen tot?“ „Ich doch nicht.“ „Wer dann?“ „Wenn ich das wüßte, könnte ich auf diese Maskerade verzichten.“ Der Franzose, er mochte Mitte Dreißig sein, hatte aber das Aussehen und das übereifrige Gehabe eines Konfirmanden, reagierte mit Kopfschütteln. „Wenn ich dich nicht seit zehn Jahren kennen würde…“ „Was dann?“ knurrte Urban. „Wie lange willst du mich davon abhalten, Europa vor der nächsten Krise zu retten?“ „Ich halte dich nur davon ab, deinen Kopf leichtfertig aufs 108
Spiel zu setzen“, erklärte der französische Geheimagent. „Wir sind natürlich über das meiste informiert. Aus London, Washington und München. Mit deinem Boß sprach ich vor zwanzig Minuten. Er versuchte dich noch im Hotel zu erwi schen, aber du warst schon weg.“ „Dann bist du mir also nachgefahren, um mir Grüße zu bestellen. Danke schön, merci.“ „Um dich und Europa vor einer Krise zu retten“, spottete Quatembre. „In London muß was schief gelaufen sein.“ „Ist ihnen Green entwischt?“ „Das nicht, aber sie gaben ein paar Stichworte durch, die ich dir unbedingt nennen sollte, bevor du in Bordighera Selbstmord begehst.“ Urban atmete tief durch. „Los, dann sag sie mir.“ Gil zählte sie auf. „Neuer Treff Nizza. Rue de Rose, Martinique-Bar. Ein Brief liegt bei Fitzgerald. Kennwort X-Day.“ „Ist das alles?“ Quatembre musterte Urban kopfschüttelnd. „Kleidung Jeans, Pilotenjacke, Hemd und Schlips.“ „Wo soll ich das jetzt hernehmen.“ „Wird zu beschaffen sein“, erklärte Gil. „Notfalls rauben wir ein paar Boutiquen aus.“ Gil wandte sich an die Streifenwagenbesatzung. „Wann machen die Kaufhäuser hier dicht?“ „In einer halben Stunde, Monsieur.“ „Dann wenden und Blaulicht einschalten.“ Der Streifenwagen reiste wieder in die Stadt hinein. Das Heulen seiner Sirene brach sich zwischen den Fassaden der Häuser.
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11.
Am nächsten Morgen, neunzig Minuten nach der Landung des Flugzeugs aus Paris, betrat Bob Urban im alten Hafen von Nizza das Deck eines Fischloggers. Der Logger, größer als ein Kutter, aber kleiner als ein Fischdampfer, diente schon lange nicht mehr dem Zweck, zu dem man ihn einst erbaut hatte. Er war strahlend weiß gestrichen und stank so wenig nach Fisch wie ein Parfumladen auf den Champs Elysees. Der jetzige Besitzer hatte den Logger völlig umgebaut. Wo früher der Fang gelagert wurde, gab es jetzt einen Salon und vier Kabinen. Zwar nicht superelegant, aber recht be quem ausgestattet. Auf der Loggerbrücke war der urtümliche Magnetkompaß durch moderne Navigationseinrichtungen wie Radiopeiler, Radar, Kursrechner und eine leistungsfähige Funkanlage ergänzt worden. Vom alten Logger stammte nur noch der massive Stahl rumpf und der schwere Diesel. Das alles wußte Bob Urban schon nach den ersten zehn Minuten. Noch einmal überflog er den Brief aus der Martinique-Bar. – Nehmen Sie ein Taxi und fahren Sie unverzüglich zum Hafen – lautete Punkt eins der Anweisungen. Punkt zwei beschrieb den Logger. – Mit Punkt drei wurde verlangt, daß Urban den Logger auf See bringen sollte. Nach einer Stunde Südkurs mit sechs Meilen Geschwindigkeit würde er über Funk weitere Befehle erhalten. – Sofort war Urban klargeworden, daß damit der Kontakt zu seinen Freunden zwangsläufig erschwert wurde. Im Taxi hatte er noch eine Notizbuchseite vollgekritzelt und sie beim Verlassen des Wagens zu Boden fallen lassen. Nun hoffte er, daß sein Beschatter, Gil Quatembre und ein Mann von MI-5, die Nachricht fanden und sich darauf ein stellten. 110
Zunächst also sollte er nach Süden laufen. Der Funkbefehl für mehrfache Kursänderungen konnte ihn leicht bis zur Dunkelheit beschäftigen. Irgendwann in der Nacht würde sein Auftraggeber dann an Bord kommen. Unter diesen Umständen war zu befürchten, daß seine Freunde den Kontakt völlig verloren. Urban ließ sich mächtig Zeit. Jede Minute, um die er das Auslaufen verzögerte, vergrö ßerte die Chance seiner Freunde, die Verfolgung zu organi sieren. – Schließlich warf er die Leinen los, ließ den Diesel an, legte ab und steuerte den Logger langsam an den ande ren Schiffen vorbei Richtung Hafenausfahrt. Es ging auf Mittag. Das Meer war so glatt wie ein Billard tisch. Nur vor dem Kranz der Seealpen stauten sich ein paar Wolken. Ansonsten schimmerte der Himmel azurblau. Es war so heiß, daß selbst die Möven bald umkehrten und landwärts flogen. * Nachdem Urban den schweren Loggerdiesel auf gemächli che 180 Umdrehungen pro Minute eingeregelt hatte, was laut Umrechnungstabelle sechs Stundenmeilen Geschwin digkeit entsprach, arretierte er das Ruder mit Hilfe eines Leinenauges auf Kurs Süd und schaute sich die Funkanlage an. Es handelte sich um ein älteres Telefunkengerät Sender und Empfänger waren in massiven Blechgehäusen unterge bracht und verfügten auch über getrennte Endstufen. Am Sender gab es eine besondere Raffinesse. Eine Vor richtung ähnlich der Bauart von Automobil-Zündschlössern verhinderte die Inbetriebnahme des Gerätes. Ohne den pas senden Schlüssel war nichts zu machen. Vermutlich unter brach das Schloß die Stromzuführung und den Antennen kontakt. Ohne den Schlüssel konnte man den Sender schon vergessen. 111
Eine weitere Sicherheitsmaßnahme also von seiten des Herrn der Inseln. Mit Vorsicht war das schon nicht mehr zu erklären, nur noch mit Mißtrauen. Weit und breit auf der silbrig schimmernden Wasserfläche der Baie des Anges konnte Urban kein Fahrzeug entdecken. Dennoch fühlte er sich beobachtet. Deshalb befolgte er präzise alle Anordnungen. Lediglich eine Freiheit nahm er sich heraus. Er verließ für wenige Minuten das Ruderhaus, ging in die Pantry und genehmigte sich einen doppelten Bourbon mit Eiswürfeln. Genau dies schien dem unsichtbaren Auge seines Auftrag gebers zu mißfallen. Aus versteckten Lautsprechern tönte eine Stimme. Sie sprach ein Italienisch, wie man es schlecht und recht auf der Straße und in Kneipen lernte, wenn man ein paar Jahre an der Levanteküste gelebt hatte. „Solange Sie für mich tätig sind, Kapitän Green, verbiete ich Ihnen jede eigenmächtige Handlung. Wer hat Sie zu einem Drink eingeladen? Ich kann mich nicht erinnern, es getan zu haben. Begeben Sie sich sofort wieder ans Ruder. Hier spricht Dottore Volari.“ Kopfschüttelnd nahm Urban noch einen Schluck. Der Bourbon war von hervorragender Güte und dieser Doktor Volari ein Spinner. Wie wollte er kontrollieren, was Urban unter Deck trieb? Und wie kam ein Bursche, der so mies italienisch sprach, bloß auf die Idee, sich Volari zu nennen und dann noch Doktor? „Auf Ihr Wohl, Dottore“, sagte Urban, leerte das Glas und begab sich wieder auf die Loggerbrücke. Beim Verlassen des Salons fiel sein Blick auf die Reiseta sche. Er hatte sie achtlos neben das Ledersofa gestellt. Das war vor reichlich drei Stunden gewesen. Sie stand immer noch da, aber mit dem Verschlußbügel nach Backbord. Er trug die Tasche stets auf eine Weise, daß der Verschluß nach rechts zeigte. Und so hatte er sie auch abgestellt. Wenn 112
er sich recht erinnerte. Keine Regel ohne Ausnahme, dachte er und zog die Schiebetür hinter sich zu. Obwohl der Logger keine Selbststeueranlage hatte, war er nur wenige Grad aus dem Kurs gelaufen. Urban legte das Ruder backbord fünf, kam langsam auf und stützte etwas, da der Logger nach Osten herumschwin gen wollte. Die Kompaßrose stand präzise bei 180 Grad, als wieder diese Stimme dröhnte. „Sie haben ihn schon gut im Griff, Käptn Green. Auf Ihr Wohl, übrigens.“ Urban fuhr herum. Diesmal kam die Stimme nicht aus dem Lautsprecher, sondern aus dem Munde eines lebenden Me n schen. Hinter ihm stand ein Mann, groß und wuchtig. Er war ele gant gekleidet. Mit dem hellbeigen Maßanzug, dem rosa Hemd, der weißen Krawatte und dem ebenfalls weißen Hut lag er allerdings ein bißchen an der Grenze zum Mafioso. Die obere Hälfte seines Gesichtes verbarg eine Sonnen brille, die untere ein dunkler Kinnbart. „Ich bin Dottore Volari“, sagte er. * „Kümmern Sie sich um das Schiff!“, befahl Volari. „Was es zu sagen gibt, hören Sie auch, ohne mich dabei anzusehen. – Zunächst einmal heiße ich Sie willkommen, Green. Ich mußte meine Maßnahmen aus Sicherheitsgründen abermals ein wenig ändern. Dürfte ich jetzt um Einsicht in Ihre Papie re bitten?“ „Liegen in meiner Tasche“, antwortete Urban. „Da sind sie bedauerlicherweise nicht“, erklärte Volari. „Ich habe mir nämlich erlaubt, eine Sichtung des Inhaltes vorzunehmen.“ Der Italiener war mitten im Satz auf Englisch übergegan gen, das er erstaunlich perfekt sprach. 113
„Dann muß er hier sein“, sagte Urban und holte den briti schen Paß heraus. Urban hoffte, daß die Auswechslung des Fotos nicht auf fiel. Zwar war sie von Profis vorgenommen worden, aber im Gegensatz zu dem abgegriffenen Paß glänzte das Foto noch recht neu. „Der erste Paß“, bemerkte Volari und musterte Urban da bei kritisch, „wo das Foto mit dem Aussehen des Inhabers übereinstimmt.“ Urban bekam den Paß zurück. „Offenbar sind Sie wirklich William Green.“ „Ich denke schon, Sir. Haben Sie Zweifel daran?“ „Wir registrierten in den letzten Tagen einige beunruhi gende Vorgänge. Man versuchte, meine Pläne im letzten Moment zu stören und machte sich an Personen meines Vertrauens heran. Das kann ich jetzt, fünf Minuten vor zwölf, nicht zulassen.“ Urban hielt Kurs und fragte nach einer angemessenen Weile: „Wann schlägt es zwölf Uhr, Sir?“ „Binnen achtundvierzig Stunden, Käptn.“ „Und wo schlägt die Uhr vom Turme, Sir?“ Darauf erhielt Urban zunächst noch keine Antwort. „Ihre Stimme klingt anders als am Telefon“, bemerkte Vo lari unvermittelt. „Ihre auch, Sir“, konterte Urban lächelnd. „Viel älter. Ich hielt Sie für fünfzig.“ Damit hoffte er einem neuen in Volari keimenden Ver dacht die Spitze genommen zu haben. Volari schnitt das Hauptthema an. „Sie sind Experte für Wrackbeseitigung.“ „Unter anderem, Sir.“ „Sie versicherten mir, daß es sowohl möglich sei, Wracks durch Sprengung zu beseitigen, als auch nahe beieinander gelegene Wracks durch richtig angesetzte Sprengsätze an einanderzuschweißen.“ Urban fiel rechtzeitig eine gute Antwort ein. 114
„Ähnlich dem bekannten Sprengschweißverfahren, Sir“, erklärte er. „In diesem Falle handelt es sich aber mehr um punktuelles Schweißen.“ „Hauptsache, es ist haltbar.“ „Dafür garantiere ich, Sir“, versprach Urban alias Green und hoffte, den Beweis niemals antreten zu müssen. Von Land her näherte sich ein Hubschrauber. Er flog je doch mit vierhundert Meter Abstand an dem Logger vorbei und schwenkte dabei nach Westen ab. Urban beobachtete ihn mit dem Glas solange, bis Volari erstaunt fragte: „Interessieren Sie sich für Helikopter?“ „Eine französische Aluette zwo“, sagte Urban, „mit Schwimmern zum Landen auf dem Wasser. Erwarten Sie Besuch, Sir?“ „Wüßte nicht von wem“, erklärte Volari. Im Gegensatz zu dem Dottore hätte Urban nichts gegen einen Besuch gehabt. Aber der Helikopter war eine Privat maschine und kümmerte sich offenbar nicht um sie. * Nach zwölf Stunden Fahrt tauchten am Horizont die Lichter von Cape Corse auf. Es ging auf 23 Uhr. „Suchen Sie eine ruhige Bucht, Käptn“, sagte Volari, „werfen Sie Anker, und dann kommen Sie zu mir in die Kajüte. Ich möchte Sie endlich mit Ihren Aufgaben be kanntmachen.“ Urban hielt mit dem Logger solange auf die Küste zu, bis die schroffe Nordkante Korsikas mit schwarzer Silhouette immer höher herauswuchs. Dicht unter Land steuerte er Südkurs und drückte den Logger in die nächste Bucht. Laut Karte hatte sie ausreichend Tiefe, und Strömung herrschte auch kaum. Er stellte den Diesel ab, ging nach vo rn, löste den Anker 115
stopper und ließ die Kette ausrauschen bis der Anker satt auflag. Dann drehte er den Stopper dicht und stieg nach unten zu seinem Boß. Der hatte eine Zigarre im Mund, vor sich ein Glas mit Bourbon und unter Glas und Flasche eine entrollte Seekarte des Gebietes zwischen Sizilien und Nordafrika. Als er Urban kommen hörte, warf er den Stechzirkel weg, lehnte sich zurück und saugte an der Havanna, daß die Glut aufleuchtete. Ohne Umschweife kam er zur Sache. „Ich plane“, sagte er, „halten Sie sich bitte fest, Käptn, den Bau einer künstlichen Insel. Oder sagen wir besser, einer Plattform auf Basis von versenkten Schrottdampfern. Mein Auftraggeber wünschte die Insel möglichst zentral im Mit telmeer liegend. Dies besonders deshalb, weil Stützpunkt verhandlungen seiner Diplomaten mit der Regierung von Malta fehlschlugen. Voraussetzung für den Bau der Insel sind geringe Wassertiefen sowie eine Position abseits von Inseln und Küsten und somit möglichen Hoheitsansprüchen von Anliegern. Wenn so eine Insel zentral im Mittelmeer gebaut werden soll, bietet sich nur eine einzige Stelle dafür an.“ Er winkte Urban näher. „Wo wohl?“ Mit der Lupe überprüfte Urban den Seebereich von Sizili en bis Nordafrika. Dann hob er die Brauen. „Überall Wassertiefen zwischen fünfhundert und zweitau send Metern, Sir.“ „Sehen Sie genau hin.“ „Na schön“, sagte Urban, „im Schnittpunkt der Verlänge rung von Cap Marsala auf Sizilien nach Westen und der Linie von Cap Bon am Golf von Tunis nach Norden, an diesem Schnittpunkt kommt der Meeresgrund bis auf hun dert Meter herauf.“ Jetzt grinste Volari kopfschüttelnd. „Bis auf dreißig Meter, mein Bester“, sagte er. „Gemäß 116
Präzisionsmessungen eines alten Freundes von mir und laut Nachprüfung dieser Messungen beträgt die Tiefe inzwischen nur noch zweiundzwanzig Meter. Hier werden nämlich ab und zu ein paar unterirdische Vulkane tätig.“ „Okay“, sagte Urban. „Und wann geht es los?“ „Meine Armada, bestehend aus 246 alten Schrottfahrzeu gen, läuft seit Einbruch der Dunkelheit auf diesen Punkt zu.“ „Eintreffen, absenken, zusammensprengen, und eine neue Insel ist geboren“, kommentierte Urban. „Danach erfolgt das Einbringen der Tragkonstruktion für die Betonauflage und das Hissen der Flagge.“ „Welcher?“ fragte Urban. „Der roten mit Hammer und Sichel“, eröffnete ihm Volari. „Außer der kommt wohl keine in Frage.“ Urban gähnte. Er war rechtschaffen müde. „Ich mache jetzt Klüsen dicht“, sagte er. „Einen Moment noch“, bat Volari. „Falls Sie sich wun dern, wenn Sie morgen die Kajüte verlassen wollen und die Tür versperrt finden, sollen Sie wissen, daß ich auch nachts meine Sicherheitsmaßnahmen treffe. „Klar, jetzt wo es keine Geheimnisse mehr gibt.“ „Auch meine Frachterkapitäne erfahren die X-Position erst wenige Stunden vor der Versenkung ihrer Schiffe.“ „Ich würde nicht anders handeln, Sir.“ „Deshalb ist auch der Sender nicht ohne meinen Start schlüssel funktionsfähig.“ „Bereits bemerkt, Sir“, bestätigte Urban. „Ich bewundere Ihre Umsicht.“ Was sollte er anderes machen, als gute Miene zum bösen Spiel. Er belegte sich noch zwei Brotschnitten mit Käse und Sa lami, nahm eine Flasche Rose-Wein mit und betrat die Kammer, die ihm Volari zugewiesen hatte. Draußen wurde der Schlüssel zweimal gesperrt. Urban prüfte Schloß und Tür. Beide hatten massiven Cha rakter. 117
Er überlegte, ob es, nachdem er schon soviel wußte, nicht klüger gewesen wäre, gleich die Karten auf den Tisch zu legen. Weil er jedoch das Gefühl hatte, daß es noch eine Menge zu erfahren gab, spielte er noch eine Weile mit. * Nach einem kurzen, aber tiefen Schlaf erwachte Urban mit bleischweren Gliedern. Zunächst dachte er, die Sonne habe ihn geweckt, aber es war Dr. Volari. Der Dottore stand neben Urbans Koje und berührte seinen Hals mit dem Lauf eines Trommelrevolvers Kaliber 38. „Komischer Wecker“, sagte Urban und wollte aufstehen. „Bleiben Sie gleich liegen“, befahl Volari und hatte etwas irritierend Kaltes in der Stimme. Urban versuchte den Lauf der Waffe von seiner Schlag ader weg in Richtung Bulleye zu schieben. Der Lauf bekam mehr Druck und bohrte sich noch fester in die Haut. „Neue Vorsichtsmaßnahmen?“ fragte Urban. „Wer wird denn seine Mitarbeiter dezimieren, noch ehe sie tätig wur den?“ Statt einer Antwort bekam er ein Foto vorgelegt. Zweifel los die Vergrößerung der Aufnahme einer Agentenkamera. Das Foto zeigte einen Mann in der Bar des Hotel de Paris in Monte Carlo. Neben dem Mann saß eine junge Frau. „Sind Sie das?“ forschte Volari. „Kaum zu erkennen, Sir.“ „Aber die Dame kennen Sie ja wohl.“ „Bedaure, nein“, log Urban. „Sie sind der BND-Agent Robert Urban, Codenummer achtzehn“, fuhr Volari fort. „Das fehlte mir noch“, sagte Urban. In seinem Kopf jagten sich die Überlegungen. – Volari war gestern zwar mißtrauisch gewesen, hatte sich 118
aber deutlich bemüht, das Mißtrauen abzubauen. Er hatte Urban in seine geheimsten Pläne eingeweiht. Ein Risiko, das er niemals eingegangen wäre, wenn er schon um Mitternacht von Urbans wahrer Identität gewußt hätte. Also hatte er die Informationen ganz taufrisch erhalten. Mit der Morgenpost. Urban machte einen letzten Versuch. „Sie sind mir aber einer, versuchen mich da in was reinzu bluffen. – Okay, Spiel durchschaut, machen wir Frühstück.“ „Sie sind also nicht Mister Dynamit?“ „Mister wer?“ fragte Urban säuerlich blickend. Der Druck der Waffe lockerte sich. Aber nur deshalb, weil Volari Unterstützung von draußen bekam. Ein Mann tauchte in der Tür auf und hinter ihm noch einer. Wenn das nicht die Typen aus dem Taxi vor dem Spielca sino waren, die Burschen, auf die Lolita Sinborg gewartet hatte, dann brauchte er eine Brille. Sie warfen einen kurzen Blick auf Urban. „Er ist es“, entschied der eine. „Foto und Person sind identisch“, murmelte der andere. „Das ist Ihr Todesurteil“, erklärte Volari. „Alle Achtung, wie Sie das gemacht haben. Erst meine Vertraute auf Ihre Seite zu ziehen, dann Green abzufangen. – Schade, daß Sie nicht unser Mann sind. – Aber das ist Ihr Todesurteil, Mister Dynamit.“ Urban hob zwar träge die Schultern, griff dann aber blitz artig zu. Er packte Volaris Kanone, drückte sie von sich weg. Der Hahn spannte sich unter seiner Hand, so sehr würgte Volari am Abzug. Der Schuß fiel. Die Kugel schlug in die Holzverschalung. Volari wäre kein Problem gewesen, aber der Russe machte kurzen Prozeß. Er schlug mit einer Handkante zu, die auch ein Roß betäubt hätte. Urban entspannte bis zur völligen Kraftlosigkeit. Er lag da, zu keiner Gegenreaktion mehr fähig. Am ganzen Körper wurde er pelzig. Nur sein Hirn arbeitete noch. Aber was war ein Kopf ohne die Hände. 119
„Ich bin ganz sicher“, sagte Volari, „daß er mit Lolita nicht mehr sprechen konnte.“ „Das will ich hoffen“, äußerte der Russe. „Der Rest ist Ih re Sache, Volari. Ich habe ihn jedenfalls vom Hubschrauber aus erkannt. Mehr als Sie noch einmal warnen, konnten wir nicht tun.“ „Dafür“, sagte Urban, „werden Sie eines Tages hängen, Dottore Volari.“ „Hängen, warum?“ antwortete Volari lachend. „Wenn ich schon sterben muß, dann auf die angenehmste Weise. – Etwa so, wie man in Texas zu Tode gebracht wird.“ Sie gingen hinaus. Die Tür schlug zu, der Schlüssel wurde umgedreht. Draußen fielen noch ein paar Sätze. „Er ist einer der besten Geheimagenten des Westens“, sag te der Russe. „Gewiß hat er seine Operation mit den anderen NATO-Geheimdiensten abgestimmt.“ „Sie meinen also, man kennt dort dieses Schiff?“ „Mit Sicherheit. Man wird es suchen und finden und wei terverfolgen, Dottore.“ „Dann muß ich es versenken. Mit ihm. Hier in dieser Bucht.“ „Sonst ist das Projekt Pjabtiha gefährdet, Dottore.“ „Es ist der einfachste Weg“, überlegte Volari laut, „ver senken mit Mann und Maus.“ „Und der sicherste“, betonte der Russe, „in unser aller In teresse.“ Wenige Minuten später wurde eine Hubschrauberturbine angelassen. Im Verlauf der nächsten Stunde verholte Volari den Kutter zu einer tieferen Stelle der Bucht. Wieder warf er den An ker, kletterte dann unter Deck und durch ein Mannloch hin ab in die Bilge. Dort dreht er die Bodenventile auf, dachte Urban. Es dauerte nicht lange, bis er ein Geräusch, das an das Rauschen geöffneter Wasserhähne erinnerte, vernahm. 120
Das Rauschen, erst hell, wurde bald dumpfer und hörte schließlich ganz auf. Der Wasserspiegel in der Bilge hatte schon die Zuflußöffnung erreicht. Der Logger begann zu sinken. * Vierzig Minuten später nahm der Logger Schräglage ein. Unter der Kommode hervor verbreitete sich ein Rinnsal über den Spannteppich. Das Rinnsal weitete sich rasch zur Pfütze aus. Bald wurde es zu einer heftig sprudelnden Quel le. Im Nu war der Ganze Boden benetzt. Das Wasser stand schon fingerhoch, der Papierkorb begann zu schwimmen. Es gab einen Ruck. Der Logger legte sich seitlich um meh rere Grad nach Backbord über. Jetzt rauschte es auch unter der Tür herein. Der Rumpf stand mindestens halb voll Seewasser. Nun würde es schnell gehen. Urban lag auf der Koje, immer noch unfähig, mehr zu tun, als mit Gedanken an seiner Rettung zu basteln. Und das Wasser stieg. Es drückte schon so in die abge schlossene Kajüte herein, daß es schäumte und Gischt bilde te. Wenige Minuten später hatte es die Unterkante der Koje erreicht. Die Matratze saugte sich voll. Urban lag in der Nässe. Er versuchte sich aufzurichten. Es ging nicht. Kaum, daß er die Arme hochbrachte. Endlich bekam er den Bücherbord zu fassen und versuchte einen Klimmzug. Dann saß er da, die Beine bis zu den Waden im Wasser. Das Wasser stieg. Immer beängstigender legte sich der Logger auf die Seite. Bald würde der Moment kommen, wo er wegsackte. Ir gendwann bahnte sich die Luftblase, die ihn noch trug, den Weg nach außen. Der Rest war Sekundensache. Die Kajüte hatte jetzt 40 Grad Schräglage. Das Bulleye 121
schnitt schon unter. Es war undicht und ließ noch mehr Wasser herein. Urban arbeitete sich bis zum Türgriff, rüttelte verzweifelt daran. Vergebens. Er suchte eine Art Dietrich, fand aber nichts in der alten Pilotenjacke. Um die Tür einzutreten, war er einfach zu fertig. Und dann kam das Ende. Der Logger bäumte sich noch einmal auf und sackte dann über Steuerbord nach achtern weg. Urban dachte in diesem Augenblick nicht, wie bedauerlich es war, daß er sein Wissen nicht weitergeben konnte. Me i stens kam es ja so, daß man das Beste mit ins Grab nahm. – Er dachte nur daran, sein Leben zu retten. Er dachte so in tensiv daran, wie selten zuvor. Vielleicht deshalb, weil er weniger Hoffnung hatte zu überleben, als je in seinen 15 Dienstjahren. Der Logger sank. Der Wasserspiegel in der Kajüte stieg unaufhaltsam. Sanft setzte der Logger auf dem Grund auf. Der Druck des Wasser preßte die Luft an der Decke stark zusammen. Urban schwamm auf und hielt den Kopf in der Luftblase. Er schätzte ihre Größe ab. Vielleicht ein Kubik meter. Noch eine halbe Stunde Leben. – Er atmete und versuchte den Kopf oben zu halten. Bald war er so erschöpft, daß er ans Aufgeben dachte. Ein tiefer Atemzug Seewasser, und es war vorbei. Ertrinken war we niger schlimm als man annahm. Man behauptete sogar, Ertrinken sei eine von den angenehmsten Todesarten. Er wußte es nicht. Er hatte wenig Erfahrung darin. Als er sich nur noch wenige Minuten gab, als er sein Le ben nur noch in Sekunden maß, entstand Bewegung hinter dem meergrün schimmernden Glasauge des Bulleyes. Erst dachte er, es sei ein neugieriger Fisch. Aber es war ein verdammt neugieriger Fisch mit ungeheu er großen Augen gewesen. Und seit wann trugen Fische Gummimasken und Preßluftatemgeräte? 122
Die Bewegung am Bulleye kam von einem Taucher. Er hämmerte mit einem Gegenstand gegen das Glas. Der Lichtstrahl einer Lampe fiel herein. Darin sah er wohl, welch verzweifelten Todeskampf Ur ban kämpfte. Plötzlich war der Taucher verschwunden. Wenn er sich beeilt, dachte Urban, hast du noch eine Chance. Aber nur wenn er sich beeilt. 12. In Texas war es heiß wie immer. Maud Fishers Nähe erhöhte die Umwelttemperatur noch um einige Grad. Zum Glück hatte ihr Dienstwagen Klimaan lage. Sie musterte Urban mit ihren dunkelblauen Augen. „Du hast es gut überstanden“, sagte sie von seinem Ausse hen befriedigt. „Meinst du den Flug oder meinen Badeurlaub vor Korsika, Darling?“ „Unsere Taucher konnten einfach nicht schneller kom men.“ „Gewöhnlich helfe ich mir in einer solchen Lage selbst“, antwortete Urban. „Ein Handkantenschlag läßt sich immer irgendwie verdauen. Türen und Bulleyes kann man auch in sinkenden Schiffen öffnen. Aber eingesperrt in einem ge sunkenen Schiff und von einem soliden Treffer narkotisiert, da kam einfach zuviel zusammen.“ „Sonst wäre dir Dr. Volari nicht entkommen.“ „Wir haben seine Pläne im letzten Moment verhindert“, sagte Urban, „das allein ist schon ein hübsches Erfolgser lebnis. Wenn ich ihn jetzt noch bekäme, wäre ich fast glück lich.“ „Verlang nicht zuviel“, riet ihm Maud. „Du hattest schon letzte Woche mehr als Glück. Benson von MI-6 und dieser Franzose, wie heißt er doch, ließen sich ganz schön abhän gen. NATO-Süd mußte die 6. Flotte und die komplette Luft 123
raumüberwachung mobilisieren, daß sie den weißen Logger wiederfanden. Und bis sie die Froschmänner heranbrachten, vergingen noch einmal mehrere Stunden. Man konnte das Schiff ja nicht kapern, ohne dich dabei zu gefährden.“ „Auf mich kam es schließlich an“, bemerkte Urban ein wenig bitter. „Natürlich nicht auf meine Person, sondern auf das Wissen, von dem man hoffte, daß ich es mittlerweile hätte.“ „Du hattest es“, beendete Maud das Thema. Urban steckte sich eine MC an. Der Luftstrom der AirCondition drückte den blauen Rauch durch die Abluftöff nungen des Buick. „Die Schrottdampferflotte wurde abgefangen“, murmelte er, „die Hochöfen können wi eder mit Schiffstahl gefüttert werden. Aber wo ist Volari?“ Maud hatte die Limousine auf den Zubringer gebracht und rollte im Mittagsverkehr nach Houston hinein. Sie deutete auf das Handschuhfach. „Schau dir das Foto an.“ Urban öffnete die Klappe, holte das Bild heraus und hielt es ins beste Licht. „Flüchtig betrachtet, ist er es nicht.“ „Dann betrachte es ausgiebig.“ „Volaris Haarfarbe war dunkelbraun. Hier ist sie hellrot.“ „Haar soll man färben können.“ „Volari wirkte massig. Dieser Mann ist eher drahtig.“ „Drei Jahre Fettlebe als Multimillionär verändert die Fi gur.“ „Der da hat keinen Bart.“ „Dann denk ihn dir dazu.“ „Okay, aber wie bitte soll ich mir Volaris Kinn denken? Ist es rund, kantig, gekerbt, glatt vorstehend oder fliehend?“ „Zerstöre mir nicht alle Hoffnungen“, bat ihn Maud. „Er muß es sein. Es gibt nur noch einen Mann, der dafür in Fra ge kommt.“ „Ich dachte, es gab mindestens zwei.“ 124
Maud bog vor der City nach Westen ab. „Mestroso hatte einfach nicht die Intelligenz dazu, nicht die Energie und nicht die technische Ausbildung.“ „Aber er ist seitdem verschwunden.“ „Um das zu klären sind wir hier.“ „Also Winston Lomax“, murmelte Urban. „Hast du einen besseren auf Lager?“ „Das wäre ein Streit um des Kaisers Bart, Darling. Um mit dir zu streiten, bin ich nicht zehntausend Kilometer geflo gen.“ „Um mich zu lieben, kamst du auch nicht nach Texas“, bedauerte sie. „Laß uns erst die Arbeit tun“, schlug Urban vor. „Wir müssen diesen Burschen kriegen. Und dann muß er uns eine ganze Menge erzählen. Die Gefahr, daß die Russen sein System kopieren, ist einfach zu groß. – Er kennt die Punkte, wo die Sowjetunion künstliche Inseln bauen wollte. Die muß er mir noch nennen. Dann soll ihn meinetwegen der Henker kriegen.“ * Maud Fisher bewegte den Buick über den Victoria-Freeway Richtung Bay City. Auf der westlichen Seite der großen Colorado-River-Brücke bog sie nach Süden ab. Sie fuhren noch etwa 10 Meilen durch die flache Flußnie derung, an Mais und Tabakfeldern vorbei. Dann nahm Maud eine ungepflegte Privatstraße unter die Räder, die sich wie der dem Fluß näherte. „Ziemlich verkommen das alles“, stellte Urban fest. „Kein Wunder, wenn man sich jahrelang nicht darum kümmert.“ „Dann hat er jetzt auch keine Zeit dazu.“ „Aber irgendwo muß ich ja einhaken, oder?“ Maud stoppte den Buick vor dem rostigen Stacheldraht zaun. „Du wartest besser hier“, sagte Urban. 125
„Wie lange?“ „Bis ich zurück bin. Wird wohl nicht ewig dauern.“ Beim Aussteigen überfiel ihn die Hitze wie ein Hammer. Zügig marschierte er auf das Ranchhaus zu. Es stand auf einem kleinen Hügel unter Ulmen. Dahinter schimmerte blelig der Fluß. Das Haus war so heruntergewirtschaftet wie alles hier. Um so überraschter war Urban, als ihm ein alter Mann aus der Scheune entgegenkam. Er mochte reichlich achtzig Jahre auf dem Buckel haben. Der Alte trug einen Hut aus Maisstroh mit ausgefranstem Rand, eine blaue Schürze und rauchte eine Pfeife, die er sich wohl selbst geschnitzt hatte. Das weiße Haar wucherte ihm hinten in den Hals und seit lich über die Schläfen. Offenbar nahm er ab und zu eine Schere, um es selbst zu kürzen. Seine Gesichtshaut bestand aus einem Netz fadendünner Falten, aber seine Augen wirk ten noch recht lebendig. Winston Lomax war das auf keinen Fall. Selbst ein großar tiger Maskenkünstler hätte eine solche Tarnung nicht zuwe ge gebracht. Der Alte war absolut echt. „Zu Mister Lomax“, sagte Urban. „Was wollen Sie von ihm?“ fragte der Alte neugierig. „Steuerbehörde“, antwortete Urban. „Dann zeigen Sie mir Ihren Ausweis.“ „Den zeige ich gern Mister Lomax“, erklärte Urban. „Ich bin nur Steuerpflichtigen gegenüber zur Legitimation an gehalten.“ „Okay“, brummte der Alte, „dann lassen Sie Ihren Aus weis stecken und fahren Sie wieder nach Hause. Ich habe Mister Lomax seit Monaten nicht mehr gesehen. Was sage ich da, seit Jahren nicht mehr.“ „Sind Sie ein Verwandter von ihm?“ „Ja, seine Tante“, sagte der Alte kichernd. „Und was tun Sie hier?“ 126
„Bißchen für Ordnung sorgen. Mal reißt der Wind eine Schindel weg, mal ist eine Fensterscheibe kaputt.“ „Überanstrengen Sie sich dabei aber nicht“, riet ihm Ur ban. „Ich tu’s freiwillig.“ „Hausrecht haben Sie also keines.“ „Wenn Sie damit etwas Schriftliches meinen“, bedauerte der Alte, „dann nein.“ „Kann ich mich ja umsehen“, Urban fing gleich damit an. Gegen den Protest des Alten ging er um das Haus herum, von hinten in das Haus hinein, nach oben, in den Keller und vorne wieder hinaus. Urban betrachtete die Gegend, die Lage der Ranch mit den Augen eines Mannes, der die Absicht hatte, hier einen Geld transporter zu verstecken. Denn daß Winston Lomax die Hand dabei im Spiel gehabt hatte, das konnte Urban keiner mehr ausreden. Auch daß damals der ganze District abge sucht worden war und man in dieser alten Ziegen-Ranch natürlich nichts gefunden hatte, das besagte wenig. – Verbrecher waren meistens phantasiebegabter als die Poli zei. Urban folgte einem Pfad zum Fluß hinunter. Jetzt war er von Gras überwachsen und von Haselnußgestrüpp überwu chert. Daß es ihn einmal gegeben hatte, sah man nur von oben. Urban wandte sich an den Alten. „Wie kommt man über den Fluß?“ Der Greis grinste: „Da Sie nicht Jesus sind, müssen Sie wohl schwimmen oder ein Boot nehmen oder die Brücke benutzen, mein Sohn.“ „Gab es früher eine Fähre oder so etwas?“ „Ist aber schon lange her, Mister.“ „Haben Sie“, fragte Urban und fixierte den Alten, „das noch erlebt?“ 127
„Ja, in meiner Jugend gab es eine Fähre“, erzählte der alte Mann. Urban wußte sofort, daß er log. Aber er tat es so ungeniert, wie es nur ein steinalter Greis fertigbrachte, der die Wahr heit vergessen hatte. Durch einen drei Meter breiten Einschnitt im ehemaligen Hochwasserdamm trat Urban ans Flußufer. Seitdem der Colorado weiter oben durch das Stauwerk re guliert worden war, hatte man an der Mündung die Dämme nicht mehr gepflegt. Wozu auch. Am Wasser stehend sah Urban, daß es vom Ufer aus ziem lich flach hineinging. Aber nach wenigen Metern schon wurde das Wasser dunkelgrün. Dort fiel das Flußbett steil ab und bildete ein Loch, wenigstens fünf Meter tief. Auch diese Stelle betrachtete er mit den Augen eines Mannes, der einen Zwei-Tonner verschwinden lassen wollte. Mit dem nötigen Schwung war sogar ein Fünftonner an diese Stelle zu bugsieren. Die Frage war nur, wie man ihn ohne schweres Bergungsgerät wieder herausbrachte. Urban schlug sich gegen die Stirn. Wozu wieder rausholen, überlegte er, da liegt er doch be stens. Er zerrostet allmählich. Schlick, Kies, Tang und An schwemmungen bedecken ihn. Wer nicht gezielt danach sucht, wird ihn niemals finden. Kurz entschlossen zog er sein Jackett aus. Er wollte gerade die Slipper abstreifen, als ihn von hinten eine Stimme an seinem Tauchverhaben hinderte. Es war nicht das kratzig zittrige Organ des Alten. – Die Stimme klang schneidend und klar. „Das tun Sie besser nicht, Sir.“ * Beim Umdrehen blickte Urban erst einmal in die Lauföff nung einer Schrotflinte. Er verfolgte die Linie des Laufes bis zum Kolben. Hinter 128
Korn und Kimme sah er ein dunkles Auge und ein zusam mengekniffenes Gesicht. Trotzdem erkannte er es. „Sie haben recht, Dottore Volari“, sagte Urban, „das Was ser ist kalt und schmutzig. Außerdem erübrigt sich die Nachschau. Der Panzerwagen kann nur hier liegen und nir gend anderswo. Doch das ist jetzt Sache der Polizei.“ Volari ließ das Gewehr sinken, behielt es aber im Hüftan schlag. Dabei lachte er. Es war dasselbe Lachen wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Logger. „Die Polizei weiß von nichts. Sie ist so unfähig wie vor vier Jahren schon. Und Sie werden nichts weitererzählen können, Mister Dynamit. Sie haben mir einmal das Projekt meines Lebens vermasselt. Ein zweites Mal kriege n Sie mich nicht.“ Urban steckte sich, Überlegenheit vorgaukelnd, eine Ziga rette an. „Was Sie auch unternehmen, Dottore, keine Anstrengung wäre der Mühe wert“, versicherte er. Der Mann, der sich in Europa Volari genannt hatte, schien nicht überzeugt davon. „Die Mühe, Sie abzuknallen, ist um einiges geringer als eine Tonne Dollarnoten in gemischten Scheinen aus dem Wasser zu holen.“ „Nach Europa zu bringen“, ergänzte Urban, „dort anzule gen und diese Wahnsinnsidee mit der Schrottinsel auszubrü ten. Wenn ich darüber nachdenke, Mister, dann sind Sie ganz schön irre.“ Die Schrotflinte starrte ihn bedrohlich an. Trotzdem fuhr Urban unbeirrt fort: „Verrückt und brutal sind Sie. Ich gehe jede Wette ein, daß dort drüben, unter Wasser und Schlamm, im Fahrerhaus des Panzerwagens, die zwei Männer liegen, die man niemals fand. Der Fahrer und Ihr Freund Mestroso.“ „Erraten“, gestand Volari. 129
„Sie töteten sie so kalt wie Sie Lolita umbrachten, als sie eine Gefahr für Sie wurde.“ „Und wie ich jetzt Sie umlegen werde, Sir.“ Urban machte noch einen Schritt auf Volari zu und erklär te, den Fuß millimeterweise versetzend: „Ihre Ranch ist umstellt. Geben Sie auf, Winston Lomax.“ Wieder dieses Lachen tief aus der Kehle. „Umstellt“, bemerkte Lomax, „von einer einzigen Frau? Sie mag ja eine hübsche Person sein, Ihre Kollegin, aber ihr beide gegen uns, das ist wohl ein bißchen zu wenig Über macht.“ Es krachte im Gebüsch. Zweige bewegten sich. Maud trat ins Freie. Aber sie kam nicht freiwillig. Der alte Mann hatte ihr die Hände nach hinten gebunden und stieß sie vor sich her. In der Linken hatte er eine Axt. Als Waffe war sie nicht zu verachten. Als Maud die Situation überblickte, als sie Urban sah und vier Meter von ihm entfernt Lomax mit angeschlagenem Gewehr, fing sie gellend an zu schreien. Urban dankte ihr dafür. Er wußte, daß sie nicht aus Angst schrie. Eine Frau wie Maud fürchtete sich vielleicht vor Mäusen, aber nicht vor Killern. Sie schrie, um Lomax abzu lenken und Urban damit eine Chance zu geben. Urban nützte sie. Mauds Schrei gellte noch über den Colorado-River, als Urban mit kräftigem Stoß des Schienbeins die Slipperspitze zentimetertief im Ufersand, eine gelbe Wolke in Richtung Lomax auf den Weg brachte. Die Wolke stäubte hoch, und Urban ließ sich fallen! Lomax hatte durchgezogen. Urban spürte, wie die Schrot kugeln seine Stirn und die Kopfhaut ritzten. Zum Glück befand er sich nur am Rande ihrer Streuung. Im Nu war er wieder auf den Füßen. Seinen Gegenangriff wehrte Lomax mit dem Flintenkol ben ab. Er hielt die Waffe am Lauf und schwang sie um sich wie ein Ritter seinen Zwe ihänder. Er konnte sich nicht an 130
ders verteidigen, denn er sah nichts mehr. Mit feinen Sand körnern im Auge war man so gut wie blind. Urban unterlief den Kolben, rammte Lomax und warf ihn zu Boden. Im Nu hatte er ihn auf den Schulterblättern. Lomax war stark und mutig. Daß er so schnell aufgab, lag daran, daß ihm der Dreck in den Augen ungeheuer zusetzte. Aber Urban hatte nicht mit dem alten Mann gerechnet. Der stand jetzt hinter ihm. Den linken Arm um Mauds Hals gepreßt und das Beil in der erhobenen Rechten, keuchte er: „Lassen Sie ihn los, oder ich bringe Sie und diese Frau um.“ „Das würde sich nicht lohnen“, entgegnete Urban. „Überlassen Sie gefälligst mir, dies zu beurteilen.“ „Sie wissen ja nicht, was er tat“, sagte Urban, in die deut sche Sprache verfallend. Der Alte antwortete jetzt ebenfalls auf deutsch: „Er ist mein Freund.“ „Nur deshalb, weil er Ihre alten Canaris-Pläne zu verwirk lichen suchte, Kapitän von Sensburg?“ Die Erwähnung seines Namens und die Tatsache, daß er sich mit der Sprache hatte übertölpeln lassen, brachte den Alten ein wenig aus dem Konzept. Doch er faßte sich rasch wieder. „Mein Beil wird Sie töten“, sagte der alte Mann bebend vor Zorn. „Warum mich“, fragte Urban, „warum nicht denjenigen, der Ihre Tochter Lolita in Monte Carlo eiskalt tötete, weil sie endlich von ihm loskommen wollte?“ „Das ist eine Lüge“, keuchte Sensburg, „eine verdammte gemeine Lüge. Er hat sie geliebt.“ „Er spricht die Wahrheit“, bestätigte Maud. „Ich bin Maud Fisher von der CIA, und er ist Agent des BND.“ Die Verwirrung des Alten wuchs mit jeder Sekunde. Sie wurde so stark, daß er bald von Zweifeln und Ungewißheit übermannt wurde und nicht mehr wußte, was er tat. Er blick te nicht mehr durch und verlor die Kontrolle. 131
Mit einem verzweifelten Schrei ließ er das Beil auf Urban heruntersausen. Urban rollte sich augenblicklich zur Seite, auch wenn er Lomax dadurch freigab. Das Beil traf Lomax. Lomax brüllte auf vor Schmerz, griff unter die Jacke, riß einen Revolver heraus und feuerte wild in die Richtung, wo er den Alten keuchen hörte. Alle drei Kugeln trafen. Urban warf sich auf den Schützen, entriß ihm die Waffe und rief Maud zu: „Lauf!“ schrie er, „lauf weg, so schnell du kannst.“ * Maud Fisher tat keinen einzigen Schritt. Sie deutete auf den alten Mann. „Er ist tot.“ „Dann“, sagte Urban erleichtert, „eilt er seinem Schüler nur voraus. Drei Morde allein in Texas. Ich fürchte, Lomax, Sie kommen um den Henker nicht mehr herum.“ Lomax lag da. Die Beilwunde blutete heftig, aber den Schmerz schien er nicht zu spüren. „Ich wußte“, gestand er, „daß Sie mich kriegen werden. Als ich erfuhr, daß man Sie aus dem Logger gerettet hatte, da wußte ich es. Trotzdem zog es mich hierher. Hier bin ich geboren, und wenn ich schon sterben sollte, dann in Texas.“ Urban suchte Lomax ab. Lomax hatte keine Waffe mehr, nur noch ein Messer. Das nahm ihm Urban weg und schnitt Mauds Fesseln auf. Maud holte Verbandszeug. Damit versorgten sie Winston Lomax’ Wunde. Etwas später trafen der Sheriff und der Krankenwagen ein. „Niemand soll mir vorwerfen“, sagte Urban, „ich hätte nicht alles für Sie getan. Nachdem Sie in Korsika versuch ten, alles für mich zu tun.“ „Ich bin Ihnen ja auch sehr dankbar“, höhnte Lomax. 132
„Okay, dann zeigen Sie sich erkenntlich und erzählen Sie mir etwas über Ihre Abmachungen mit den Russen. – Los, packen Sie aus, Lomax. Sie können es auch Miß Fisher erzählen, sie ist ebenfalls zuständig für diese Informationen, aber beichten Sie endlich, Mann, wir sind auch nur gehetzte Agenten, die sich über ein kleines Trinkgeld freuen.“ Lomax ließ sich überreden. Er erzählte ihnen, was er wuß te und was ihm trotz des Schocks, unter dem er stand, ein fiel. Eine Stunde später übergaben sie Lomax den Behörden. Maud versprach, daß sie am nächsten Tag im Headquar ters vorbeikommen wolle, um den Ablauf des letzten Aktes auf der Ranch zu Protokoll zu geben. „Warum erst morgen“, fragte Urban, als sie nach Houston zurückfuhren. „Ich muß mich erst gründlich laben“, sagte Maud mit ra schem Blick nach rechts. „Hast du eine Quelle?“ „Ja, eine ganz bestimmte“, deutete Maud an. „Und wie ist sie?“ „Köstlich erfrischend“, schwärmte Maud. „Es liegt zwar schon viele Jahre zurück, daß ich das letztemal bei ihr war, aber die Erinnerung ist heute noch so lebendig in mir, daß es schon ein außerordentlich starkes Erlebnis gewesen sein muß.“ „Dann fahr schneller“, sagte Urban. ENDE
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