GÖTTINGER JUGENDBÜCHER
OTFRID VON HANSTEIN
ISBN 3 439 02533 0
Titelbild und Illustrationen: Kurt Schmischke Gesamth...
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GÖTTINGER JUGENDBÜCHER
OTFRID VON HANSTEIN
ISBN 3 439 02533 0
Titelbild und Illustrationen: Kurt Schmischke Gesamtherstellung: Fischer-Druck, Göttingen Alle Rechte vorbehalten
Es wird dramatisch: Die Engländer haben den Schlupfwinkel der chinesischen Seeräuber gefunden. Aber noch sind die Chinesen nicht überführt. Der Mandarin beschwert sich bitter über den Überfall auf seine „friedliche“ Farm. Der britische Kreuzerkommandant ist davon überzeugt, sich mitten im Versteck der Seeräuber zu befinden, aber er hat noch keine Beweise. Jörg beschließt, auf eigene Faust Detektiv zu spielen. Er will die Seeräuber überlisten, um einen Beweis liefern zu können. Schließlich gelingt ihm das auch tatsächlich, und der Mandarin sieht nur einen Ausweg: er sprengt sich und das Haus in die Luft.
Die englischen Soldaten machten kehrt und besetzten die rückwärtige Mauer. Hin und her peitschten die Schüsse, und Menschen sanken zu Boden. Die Mehrzahl der Chinesen aber warf sich auf die Knie und bat mit erhobenen Händen um ihr Leben. Indessen ließ der Kreuzer „Thistle“ die Anker fallen, und Boote wurden herabgelassen, in denen der Kommandant und die anderen Soldaten an Land gingen. Der Überfall war gelungen, das ganze Schlupfnest der Seeräuber befand sich nun in den Händen der Engländer. Während jetzt Mister Johnson, der Kommandant des Kreuzers, seine Mannschaft sammelte, ging strahlend die Sonne auf. Bei Tage hatte Jörg das Lager noch nicht gesehen. Damals, als er zum erstenmal von der Höhe des Felsens einen Blick hinunter gewagt hatte, hatte er sehr schnell den Kopf wieder zurückgezogen und eben nur das Gewimmel der Chinesen in Arbeitskleidung wahrnehmen können. Nachts war er dann über die Mauer gestiegen, hatte das Zelt entdeckt und die beiden Mädchen entführt.
Es war ein sehr großer, ebener Platz, auf dem, ringsum verteilt, verschiedene Gebäude standen, die den Eindruck von Farmhäusern machten und aus dem Holz der Kokospalmen erbaut waren. Nur im Hintergrund, dort, wo das Zelt gestanden hatte, befanden sich zwei viereckige, steinerne Häuser. Auf dem freien Platz lagen gewaltige Stapel von Kokosnüssen und Baumstämmen. Ein Blick belehrte Jörg, daß auch die vielen Wracks zwischen den Klippen des Hafens verschwunden waren. Kommandant Johnson betrachtete mit einiger Verwunderung diese Umgebung. Nun öffnete sich die Tür des einen Steinhauses, und ein Mann trat heraus. Ein Mensch, der keinesfalls den Eindruck eines Räubers machte, sondern vornehme chinesische Tracht trug. Die Soldaten wollten ihn sofort verhaften; aber er hob mit einer würdevollen Bewegung die Hand. „Ich bin Wang Fo, der Hausmeister Seiner Exzellenz, des Mandarins der zweiten Klasse, rühmvollen Ministers des Generals Ngüh Siang, des großen Befehlshabers der chinesischen Nordarmee und des zukünftigen Herrn des chinesischen Weltreichs. Ich wünsche mit dem Anführer dieses Schiffes, das unseren Frieden stört, zu reden.“ Kommandant Johnson trat näher und stand diesem Manne abwartend gegenüber. „Ich bin der Kommandant.“
Der Mann sprach wieder in tadellosem Englisch: „Seine Exzellenz der Mandarin Djeng Djing Tcho wünscht mit Ihnen zu reden und Ihre Rechtfertigung entgegenzunehmen, weshalb Sie uns in der Dunkelheit der Nacht überfallen haben.“ „Sagen Sie dem Seeräuberhauptmann Djeng Djing Tcho, daß es lächerlich ist, diese Komödie fortzusetzen, die er lange genug gespielt hat.“ „Es scheint, als ob mein ehrwürdiger Großvater in einem traurigen Irrtum befangen und völlig falsch unterrichtet ist.“ In Anbetracht dessen, daß der Chinese es in seiner Verehrung des Alters für nötig hält, jeden Mann, den er zu ehren wünscht, wenigstens zum Großvater und achtzigjährigen Greis zu ernennen, mußte der junge Offizier sich diese Anrede gefallen lassen. Der anmaßende Chinese fuhr fort: „Es hätte dem üblichen Brauch entsprochen, daß der Gast, der unseren Hafen betritt, den erhabenen Mandarin um seine Unterredung bitten ließ. Seine Exzellenz glaubt zu wissen, daß der Kommandant des englischen Kanonenbootes das Opfer eines Irrtums ist. Er läßt sich herab, seine Gäste persönlich eines Besseren zu belehren.“ Jetzt öffnete sich die Tür des Steinhauses, und ein feierlicher Zug trat aus diesem heraus. In genau derselben Weise, wie es geschehen war, als in Telok Betong der Mandarin an Bord kam, schritten zunächst Chinesen in gelben Jacken heran, die Ahnentafeln und
Fahnen trugen. Dann wurde in einer gleichfalls gelb ausgeschlagenen Sänfte der sogenannte Mandarin herangebracht. Er war wiederum prächtig gekleidet und trug auf dem Haupt die Mandarinenmütze mit der wehenden Pfauenfeder. Djeng Djing Tcho winkte, die Träger hielten, und er erhob sich. In würdevoller Haltung stand Djeng Djing Tcho jetzt dem Kommandanten gegenüber, und mit zornigem Gesicht begann er gleichfalls in gutem Englisch zu reden: „Ich muß bittere Klage führen. Mit welchem Recht wird meine Farm überfallen?“ Der Kommandant hatte einen Wink gegeben, und die Soldaten stellten sich im Halbkreis um ihn herum auf. Johnson hatte ein spöttisches Lächeln um den Mund. „Ich fordere Sie nochmals auf, diese lächerliche Szene zu beenden. Sie wissen sehr gut, weshalb wir hier sind, und ich denke, Ihre Rolle ist ausgespielt!“ Der Chinese hatte nun fast etwas väterlich Abgeklärtes in seinem Ton: „Ich meine es gut mit Ihnen. Ich will Sie und Ihre Regierung vor weiteren Mißgriffen bewahren. Ich fürchte fast, daß Sie mich und meine Farm mit den schurkischen Streichen der Seeräuber in Verbindung bringen, unter denen auch ich zu leiden hatte. Sie befinden sich hier auf einer friedlichen Farm. Ich sehe, daß ich Ihnen Beweise geben muß. Treten Sie in mein Haus ein, ich werde Ihnen zeigen und beweisen,
daß diese Insel mein rechtmäßig erworbenes Eigentum ist. Wenn Sie es für Ihre Pflicht halten, lassen Sie die Farm durchsuchen.
Sie werden sich überzeugen, daß hier ein Betrieb des Friedens ist, Waffen, die Sie finden werden, sind zur Verteidigung bestimmt. Ich stelle mich unter Ihren Schutz, Herr Kommandant Sie sehen, ich. trete Ihnen auch jetzt friedlich gegenüber. Nehmen Sie meinen
Kopf, wenn Sie auf dieser Insel nur einen einzigen Gegenstand finden, der unrechtmäßig erworben ist. Lassen Sie sich von meinem Verwalter führen. Es ist dies ein vollkommen freiwilliges Zugeständnis, denn ich mache Sie darauf aufmerksam, daß sich diese Insel bereits innerhalb der amerikanischen Hoheitsgrenze befindet, Sie also durchaus kein Recht haben, hier einzudringen! Ich bin klug genug, Sie zu verstehen. Hier in der Nähe wurde der Dampfer ,Tovredenheit’ von mehreren meuternden Matrosen und mit diesen verbündeten Seeräubern überfallen. Ich selbst wurde ja nur dadurch gerettet, daß meine eigenen Boote mir entgegenkamen und die Schurken die Flucht ergriffen. Ich habe dann meine Menschenpflicht erfüllt, habe mich der beiden Gefangenen der Räuber, des Kapitäns der ,Tovredenheit’ und der Tochter des Deutschen, der mein Freund wurde, angenommen. Sie haben hier in meiner Farm als Gäste gelebt, und ich habe auch die Kisten, die ich gleichfalls den Räubern abnahm und die mir durch mündlichen Vertrag von dem Deutschen verkauft waren, in Verwahrung genommen. Ich habe bösen Dank geerntet. Jener Kapitän, der nur zum Schein überfallen wurde und in Wahrheit wohl die Seele des ganzen Raubes war, hat mich bestohlen und ist in der Nacht mit der wertvollen Ladung und einem meiner Boote entflohen. Das Mädchen, das ich gerettet habe, ist mir entführt
worden und dazu meine eigene Tochter. Ich habe bereits bei der Regierung in Manila Klage erhoben. In diesem Augenblick wird auch mein Protest in Hongkong sein. Wenn mein Name mißbraucht wurde, ist das ein weiteres Verbrechen der Räuber. Ich bin selbst ein abgeklärter Mann und halte Ihre Tat dem Übereifer Ihrer Jugend zugute. Wenn Sie sich mir gegenüber entschuldigen und den sieben Kulis, die zum Glück nur leicht durch Ihre Soldaten verwundet wurden, eine entsprechende Entschädigung zahlen, bin ich bereit, den Vorfall zu verschweigen und auch den Regierungen nichts zu melden.“ Der englische Seeoffizier war in einer schwierigen Lage. Innerlich war er noch jetzt davon überzeugt, daß dieser Mann der Anführer der Seeräuber war. Es war auch sonderbar, daß sich ein Mandarin, der sich wirklich unschuldig fühlte und so schwer beleidigt wurde, so sanftmütig zeigte. Aber – er konnte sich andererseits nicht verhehlen, daß die Rede des Mannes gut klang. Er wußte auch, wie sehr die Behörden in Manila die Partei des Mandarins genommen hatten. Sollte er wegen eines Deutschen, der in Manila im Gefängnis saß, etwa einen Konflikt mit China und Amerika heraufbeschwören? Konnte er auf das Zeugnis eines siebzehnjährigen Leichtmatrosen hin unter Umständen einen chinesischen
Hochwürdenträger unschuldig verhaften? Trotzdem fragte er: „Ich habe erfahren, daß in diesem Hafen Trümmer gescheiterter oder zum Scheitern gebrachter Schiffe lagen. Wo sind sie? Haben Sie die wegschaffen lassen?“ Der Mandarin hatte wieder sein überlegenes Lächeln. „Warum leugnen, daß die Bucht früher einmal ein Schlupfwinkel des Räubergesindels war. Die Wracks waren da! Vor wenigen Tagen noch! Sie stammten aus alten Zeiten, und weil der Anblick mich nicht erfreute, habe ich sie sprengen und versenken lassen.“ Für jedes hatte der Mandarin eine Begründung, die schwer zu widerlegen war. Trotzdem! Wenn er frech log? Wenn er, Johnson, jetzt nachgab und sich bereden ließ, und der Mandarin dennoch der gesuchte Räuber war! Djeng Djing Tcho lächelte. „Sie glauben mir nicht. Sie sollen mir auch nicht glauben, sondern sich überzeugen. Ich werde hier sitzen und warten. Sie sind jung, sind ein tüchtiger Offizier und möchten keinen Fehler begehen. Durchsuchen Sie also die Farm, lassen Sie sich von meinem Verwalter führen!“ „Ich werde mich überzeugen.“ Der Erste Offizier übernahm das Kommando der Soldaten, und der Kommandant selbst begann mit
einem kleineren, allerdings schwerbewaffneten Trupp das Lager zu besichtigen. Da waren große Stapel eben geernteter Kokosnüsse, dort standen Schneidemaschinen, in denen die älteren Nüsse zu Kopra, dem wichtigen, als Viehfutter bedeutungsvollen Exportartikel, verarbeitet wurden. Auch Ölpressen und Maschinen gab es, die das Choir, die Bastschicht der Nüsse, zu Kokosfasern verarbeiteten. Aber auch Kinos waren vorhanden, das sind nicht etwa Lichtspieltheater, sondern Schuppen, in denen der rötliche Saft der Eukalyptusstämme, die an der Küste wachsen, zu kleinen Kugeln getrocknet wird. Daraus wird später das wertvolle Eukalyptusöl gewonnen. Der Verwalter öffnete die Häuser: große Baracken, in denen die chinesischen Arbeiter wohnten, aber auch gewaltige Mengen aufgestapelter Vorräte und Waren aller Art lagerten. Sie konnten recht gut die Beute aus zahllosen Raubzügen sein, ebensogut aber auch Dinge, die ein reicher Mandarin ehrlich erworben haben konnte. Auf manchen standen noch deutlich die Bezeichnungen der Schiffe, die sie gebracht hatten, auf den meisten waren diese aber entfernt. Das konnte zwar ein Verdachtszeichen sein, aber – es war kein Beweis. Vieles war merkwürdig. Hier standen Kisten mit Bestandteilen von Autos und Flugzeugen. Dort lagen große Mengen von Stoffen aller Art, wie sie ein
Farmer kaum gebrauchen kann. Daneben gab es wissenschaftliche Instrumente, sehr große Waffenvorräte, kurz, ein wildes Durcheinander verschiedenster Gegenstände, allerdings sorgfältig und gewissenhaft nach Art und Gattung geordnet. Johnson wurde es immer klarer, daß er sich hier mitten im Beutearsenal der Räuber befand. Aber er mußte nach Beweisen suchen. Jörg war natürlich mitgegangen, stillschweigend. Der Mandarin hatte ihn noch gar nicht gesehen, da Jörg sich vorher hinter den Soldaten gehalten hatte. „Herr Kommandant, da unten, die Kiste in der untersten Reihe trägt das Signum des Dampfers ,Juliette V’.“ Johnson trat heran, der Verwalter folgte seinen Blicken und erklärte ruhig: „Sehen Sie, auch Strandgut gibt es auf solcher Insel. Dort, jene Kiste stammt von dem französischen Dampfer ,Juliette’, der vor einigen Wochen von den Seeräubern gekapert wurde. Wir hatten noch keine Gelegenheit, die Kiste, die uns übrigens als angeschwemmtes Gut rechtmäßig gehören würde, mit nach dem Festland zu nehmen. Wenn Sie sich die Mühe geben würden, alles genau zu prüfen, würden Sie noch mehr solcher Strandprisen unter den aufgestapelten Dingen finden.“ – Keine ungeschickte Erklärung. Der Kommandant beriet sich mit dem Ersten Offizier. „Was meinen Sie, Sir?“
Der Gefragte erwiderte mit ernstem Gesicht: „Daß dies die Höhle der Räuber ist und jene Sachen das Raubgut sind.“ „Wenn ich nur wüßte, was ich tun darf und soll?“ „Wahrscheinlich gar nichts. Die Beweise reichen nicht aus, um den Mandarin zu verhaften, ohne große Unannehmlichkeiten heraufzubeschwören.“ Der Verwalter hatte das Flüstern der beiden bemerkt und griff ein: „Es wird den Herren auffallen, daß hier allerhand Dinge zusammengetragen sind, die anscheinend auf einer Farm nicht gebraucht werden. Ich meine zum Beispiel die vielen Waffen und die Autos. Sie müssen bedenken, daß Seine Exzellenz sich gewissermaßen in Verbannung befindet und auf die Zukunft hofft. Er bereitet sich darauf vor, Material für eine spätere politische Betätigung, für einen neuen Aufstieg des Generals Ngüh Siang zu sammeln.“ Jetzt endlich glaubte Johnson einen Angriffspunkt gefunden zu haben. „Und diese Kisten, die als Grammophone und Radioapparate bezeichnet sind?“ „Liebhaberei Seiner Exzellenz. Er hat sie in Europa gekauft, lange bevor er ins Exil ging. Es ist gut, Grammophone an die Soldaten zu verteilen, um deren Stimmung zu erhalten, und Radioapparate sind noch nicht allzu häufig in China. Seine Exzellenz sind auch ein guter Geschäftsmann.“
Die Besichtigung war vorüber. Sie waren überall herumgegangen. Nirgends ein unterirdischer Gang, nirgends der sichtbare Eingang zu einer Höhle, falls eine solche nicht unter dem Wohnhause des Mandarins lag. Mit seinem gewohnten Lächeln begrüßte Djeng Djing Tcho seine „Gäste“: „Sind Sie nun zufriedengestellt? Haben Sie sich überzeugt?“ Der Kommandant hatte einen Ausweg gefunden. „Ich werde an Bord meines Kreuzers zurückkehren und von meinen Vorgesetzten Weisungen erbitten.“ Der Mandarin nickte. „Sie tun nur Ihre Pflicht, wenn Sie so handeln.“ „Sobald ich Weisungen aus Hongkong erhalte, werde ich Ihnen von diesen Mitteilung machen.“ Während der Chinese ruhig an seinem Platz blieb, zogen sich die Engländer in ihre Boote zurück. Sie konnten im Augenblick nicht anders handeln und setzten zum Kreuzer über. Der Kommandant kam sich vor, als hätte er eine Schlacht verloren, und winkte dem Ersten Offizier, ihm in das Kartenhaus zu folgen.
Der Zweite Offizier, der auf dem Schiff geblieben war, hatte inzwischen den genauen Standort ausgerechnet. Er berichtete seinem Kommandanten: „Die beiden Inseln sind auf den Seekarten ohne Namen und als wüste, unbewohnte Eilande angegeben.“ „Wo verläuft nun die amerikanische Hoheitsgrenze?“ „Ich habe sie genau festgestellt. Sie verläuft über die Nordküste dieser herrenlosen Insel. Der Hafen, in dem wir liegen, ist jedenfalls außerhalb der amerikanischen Hoheitsgrenze, dagegen nicht die Gebäude dort hinten.“ „Dann haben wir also unsere Befugnisse durch den Landmarsch überschritten, aber wir können hier ankern. Ich bin trotz allem fest überzeugt, daß wir an der richtigen Stelle sind. Rufen Sie den Funkoffizier. Wir können in der Tat nichts anderes tun, als auf Weisungen aus Hongkong zu warten.“ Jetzt erst fiel es ihnen auf, daß Jörg nicht mit an Bord zurückgekommen war. „Ist das ein faules Zeichen? Sieht er ein, daß er unrecht hatte? Ist er etwa geflohen?“ „Oder sucht er auf eigene Faust nach Beweisen?“ Jörg hatte den ganzen Verlauf der Dinge mit angesehen und war in der Tat auf der Insel zurückgeblieben. Er hatte sich hinter den Häusern versteckt und beobachtet, was nach dem Abzug der Engländer geschah.
Der Mandarin war ganz ruhig in seinem Sessel sitzengeblieben, bis das letzte Boot der Engländer die Insel verlassen hatte. Dann stand er auf, verschmähte seine Sänfte, winkte dem „Verwalter“ und kehrte mit langsamen Schritten in sein Haus zurück. Auch jetzt verriet er mit keiner Bewegung, welche Gedanken er hatte. Er glaubte sich auch jetzt noch beobachtet. Sobald er aber verschwunden war, begann ein emsiges, geschäftiges Treiben. Der Verwalter stand mitten auf dem freien Platz und gab Befehle. Chinesen – Jörg konnte ihre Gesichter nicht erkennen – kamen von allen Seiten herbei, schleppten in großen Körben die Kokosnüsse fort und setzten die Scheidemühle in Bewegung. Wenn man vom Kreuzer aus mit Fernrohren beobachtet wurde, mußte es den Eindruck machen, als sei alles bei eifrigster Farmarbeit. Jörg allerdings gewann ein ganz anderes Bild. Er hatte erkannt, daß es ganz alte Nüsse waren, die da lagerten, und jetzt wurden sie einfach von einem Stapel genommen und nahe dem Hafen, so daß man recht deutlich sehen konnte, wieder aufgeschichtet. Die Schneidemühle, aus deren Schornstein mächtige Dampfwolken kamen und um die herum Menschen zu hantieren schienen, lief leer, und die Chinesen taten in Wirklichkeit nur so, als ob sie arbeiteten. Allmählich wurde der Beobachtungsposten, den Jörg sich erwählt hatte, recht unbequem. Er bestand aus einem großen Haufen alter Bretter, unter denen er
sich versteckt hatte, und es war unter ihnen unglaublich heiß. Audi quälten ihn die Ameisen, die an ihm hochkrochen. Jörg verbrachte eine in jeder Weise qualvolle Zeit. Was würde der Kreuzer beginnen? Wenn er abfuhr und ihn allein auf der Insel zurückließ? Ein Gong ertönte. Er wurde von den Chinesen absichtlich laut geschlagen, daß man ihn auf dem Kriegsschiff hören mußte. Mittagspause! Sehr auffällig warfen die „Arbeiter“ ihre Werkzeuge fort und verschwanden in den großen Baracken. Es zeigte sich jetzt, daß eines der Gebäude als Küche diente. Große Töpfe mit Essen wurden herausgebracht und in die Baracken getragen, dann kamen wieder die Diener und brachten verdeckte Schüsseln in das Haus, in dem Djeng Djing Tcho verschwunden war. Unwillkürlich lief Jörg das Wasser im Munde zusammen. Seit er in der vergangenen Nacht die Barkasse verlassen hatte, hatte er nichts zu essen bekommen. Er hielt trotzdem aus. Wenn erst alle den Platz geräumt hatten und bei ihrer Mahlzeit saßen, hatte er vielleicht Gelegenheit, den Platz zu wechseln und einen weniger unangenehmen Posten zu beziehen. Endlich war der Platz leer. Langsam schob er sich aus dem Gerümpel heraus, aber – sofort kroch er wieder zurück. Etwas höchst Merkwürdiges geschah. Einer der Kulis kam aus der Küche, trug einen Topf,
sah sich vorsichtig um und – kam geradewegs auf Jörg zu. Dieser erschrak. War er entdeckt worden? Es sah fast so aus, aber – der Mann ging vorüber. Allerdings gar nicht weit, nur bis zu einem zweiten Bretterstapel hinter dem Hause, der vom Schiff aus nicht beobachtet werden konnte. Der Kuli bückte sich, nahm ein paar Bretter fort und – verschwand mitsamt seinem Topf. Atemlos sah Jörg ihm nach und rührte sich nicht. Aber es dauerte immerhin fast eine Viertelstunde, bis der Chinese wieder erschien. Sorgfältig legte er die Bretter zurecht, so daß es aussah, als seien sie dort einfach zusammengeworfen, und verschwand dann wieder in dem Küchenhaus. Jörg fühlte, daß seine Pulse schlugen. War dort der Schlüssel zu dem Geheimnis des Mandarins? Warum brachte der Kuli Essen hin, wenn dort nicht ein Mensch war? Ein Gefangener? Kapitän Christians etwa? Vorsichtig verließ Jörg sein Versteck, Pralle Mittagssonne brütete über dem großen, schattenlosen Platz, keine Menschenseele war zu sehen. Mit raschen Sprüngen hatte der Junge den anderen Stapel erreicht. Er hatte sich die Bretter gemerkt, warf sie zur Seite und sah eine kleine Treppe vor sich, die hinunterführte in einen ummauerten Raum. Er stieg einige Stufen hinab, dann suchte er die Bretter wieder über sich zusammenzuschieben.
Die Treppe führte ziemlich tief hinunter und bildete den Anfang eines Höhlenganges, ganz ähnlich jener Höhle auf der anderen Seite des Berges, in der er damals mit Heinesius gelagert hatte. Es war vollkommen dunkel.
Dann stand er vor einer Tür, konnte sie aber nicht öffnen, weil sie mit eisernen Querbändern und einem großen Vorhängeschloß gesichert war, zu dem er natürlich keinen Schlüssel besaß. Eine kurze Überlegung. Gewißheit mußte er haben um jeden Preis: Er trommelte gegen die Bohlen der Tür.
„Was ist?“ antwortete jemand in englischer Sprache. Kapitän Christians war es also nicht. „Wer sind Sie? Sind sie gefangen? Rettung kommt.“ Jetzt schoben sich Schritte heran. „Wer ist denn dort?“ „Schnell, sagen Sie mir, wer Sie sind! Es ist ein englischer Kreuzer im Hafen.“ „Sie sind kein Engländer?“ Der Mann drinnen schien mißtrauisch. „Ich bin ein Deutscher, aber ich habe den englischen Kreuzer hierhergeführt. Ist dort Kapitän Christians?“ Nun klang die Stimme wie zitternd vor Erregung: „Nein, ich bin Benjamin Wesley.“ „Der Farmer von der Insel Bezoen?“ „Sie wissen davon?“ „Ich war dort. Wie kommen Sie hierher?“ „Die Chinesen haben mich zum zweitenmal gefangen.“ „Sie wissen nichts von Kapitän Christians?“ „Nein.“ „Verhalten Sie sich ganz ruhig! Ich muß die Nacht abwarten, dann bringe ich Hilfe. Wer hat Sie gefangen? Sagen Sie schnell den Namen.“ „Der Schuft, der sich Mandarin Djeng Djing Tcho nennt und das Haupt der Seeräuber ist.“ „Wie oft kommt der Chinese zu Ihnen?“ „Einmal am Tag, um mir Essen zu bringen.“ „Sie sind im Dunkeln?“ „Ich habe eine Lampe.“
„Wie lange sind Sie in diesem Kerker?“ „Erst seit gestern abend, sonst war ich in einem der Steinhäuser.“ „Wahrscheinlich haben die Kerle doch Wind von unserer Ankunft bekommen. Haben Sie Geduld! Und wenn einer der Chinesen kommt, verraten Sie ja nicht, daß ich bei Ihnen war!“ Jörg hastete zurück. Er schob langsam die Bretter auseinander und spähte durch die Lücke. Der Platz war noch immer leer, es waren ja nur wenige Minuten verstrichen. Vorsichtig kroch er heraus und legte die Bretter wieder zurecht. In diesem Augenblick ertönte abermals der Gong. Die Chinesen wollten offenbar den Engländern eine sehr arbeitsame Farm vortäuschen, Jörg hatte eben noch Zeit, wieder in sein altes Versteck zu schlüpfen, als auch schon eine Gruppe von Chinesen vorüberkam. Dann wurde es wieder still um ihn. Dennoch konnte er nicht weg. Noch schien die Sonne, noch konnte er gesehen werden; er mußte warten, bis es dunkel war. Wieder litt er Höllenqualen, obgleich er jetzt gar nicht mehr an die Ameisen dachte. Wenn der Kreuzer inzwischen abfuhr? Der Kommandant konnte nicht ewig überlegen. Die Antwort aus Hongkong mußte bald kommen. Jörg hielt jetzt den Beweis in der Hand. Noch mehr: er erinnerte sich daran, daß der Erste Offizier den Namen Benjamin Wesley kannte!
Endlich kam die Dämmerung und nach ihr die Dunkelheit. Es war aber noch früh, also unglaublich leichtsinnig, sich zu zeigen, da die Chinesen immer noch auf dem freien Platze waren, aber Jörg wagte es. Er kroch auf allen vieren über den Platz, war an der Mauer, schwang sich hinüber und eilte, immer ängstlich auf Deckung bedacht, dem Ufer zu. Den ganzen Tag über hatte Kommandant Johnson auf Antwort aus Hongkong gewartet. Sie kam erst am Abend: „Sie können nichts tun. Bewahren Sie Haltung, und wenn Sie keine Beweise finden, sagen Sie dem Chinesen, Sie hätten Weisung bekommen, umzukehren. Kommen Sie nach Hongkong zurück!“ Johnson war innerlich wütend. „Jetzt kann ich den Seeräuber noch um Verzeihung bitten und habe mich blamiert. Barkasse herunter!“ Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so unwillkommenen Befehl erhalten zu haben, aber – er mußte sich fügen, und die Barkasse setzte ab. „Hallo, da schwimmt ja ein Mensch!“ „Unglaublich – hier müssen doch Krokodile sein! Da taucht schon eines auf!“ Die Barkasse fuhr schnell auf den Schwimmenden zu, die Krokodile tauchten unter, völlig erschöpft kletterte Jörg in das Boot. „Was, Sie hier im Wasser!?“ rief Johnson. Jörg mußte erst zu Atem kommen. Mühsam brachte er hervor: „Dem Himmel sei Dank, daß Sie noch da sind!“
„Wo kommen Sie denn jetzt her?“ „Ich habe die Beweise, daß der Mandarin der Seeräuber ist. Ein Engländer wird drüben gefangengehalten. Ich habe ihn selbst gesprochen.“ Der Kommandant war außer sich vor Erregung. „Wissen Sie, wie er heißt?“ „Benjamin Wesley! Derselbe Mann, der die Farm auf Bezoen hatte!“ „Lord Benjamin Wesley? Das ändert die Sache! Zum Kreuzer zurück!“ Auch in der nächsten halben Stunde schien der Kreuzer ganz harmlos und ruhig im Hafen zu liegen. Aber auf seiner dem Ufer abgewandten Seite wurden alle Boote herabgelassen und mit Soldaten bemannt. Dann glitt die Barkasse, wieder mit Matrosen besetzt, dem Strand entgegen. Eine kurze Salve wurde abgefeuert. Am Ufer wurde es lebendig, Fackeln blitzten auf, der Verwalter kam herbei. Man hatte genau beobachtet, daß es nur die eine Barkasse war, die sich näherte. Die anderen Boote waren noch im Schatten des Kreuzers auf dessen Backbordseite verborgen. „Ich komme, feierlich Seine Exzellenz um Verzeihung zu bitten“, sagte Kommandant Johnson. Ein Lächeln der Befriedigung ging über das Gesicht des Chinesen. Er fand es selbstverständlich, daß auch der Kommandant jetzt von einer Ehrenwache begleitet war.
„Seine Exzellenz erwartet den Herrn Kommandanten.“ Umgeben von seiner „Ehreneskorte“ schritt Kommandant Johnson, Jörg an seiner Seite, über den Platz. Die Tür des „Mandarinhauses“ war weit geöffnet, und mit einem Lächeln der Genugtuung erwartete Djeng Djing Tcho seine Gäste.
Mandarin Djeng Djing Tcho streckte mit einer herablassenden Bewegung seine Hand aus. „Sie haben sich von Ihrem Irrtum überzeugt? Bitte, treten Sie ein!“ „Einen Augenblick. Ich möchte auch in dieser Stunde die Verantwortung für meine Handlung nicht allein tragen. Wollen Sie mir das Vergnügen bereiten, Seine Lordschaft Sir Benjamin Wesley, den außerordentlichen Bevollmächtigten Englands beim Kommandanten der chinesischen Südarmee, zu bitten, unserer Unterredung beizuwohnen?“ Der Chinese erbleichte einen Augenblick. „Ist Seine Lordschaft denn hier?“ „Jawohl, er ist hier!“ Diesmal antwortete die Stimme eines anderen. Kein Chinese hatte in der Freude über den „Sieg“ darauf geachtet, daß der Erste Offizier des Kreuzers mit einigen Soldaten unter Jörgs Führung hinter das Haus gegangen war. Schnell hatten die Männer, von einer Eskorte unter Gewehr bewacht, die Bretter fortgeräumt, die ihnen Jörg bezeichnete. Die Stufen der Treppe lagen frei, und bei dem Licht ihrer elektrischen Taschenlampen
waren die Männer durch den Gang geeilt. Ein paar kräftige Hiebe mit Seitengewehren und Flintenkolben hatten das Bohlentor zerschmettert, und – Sir Wesley trat ihnen entgegen. Auch dem Ersten Offizier war der Lord, der sich längere Zeit in Hongkong aufgehalten hatte, bekannt. Ein paar rasche Worte, dann trat der Mann, den man schon seit Monaten als schiffbrüchig betrauert hatte, aus seinem Kerker heraus und folgte den Herren in den „Palast“ des Räubers. Der Kommandant begrüßte den Lord, und – Djeng Djing Tcho stieß einen Fluch aus. „Euer Lordschaft waren gefangen?“ fragte Johnson. Wesley, ein hagerer, großer Mann, dem man ansah, daß er schwer gelitten hatte, trat vor. „Seit vier Monaten war ich Gefangener dieses Schurken, seit er mit seiner Räuberbande die Jacht ‚The white Bird’, auf der ich von Hongkong nach Kanton wollte, überfiel und mich hierher entführte. Ich kann…“ In diesem Augenblick ertönte ein gewaltiger Krach, das ganze Haus schien zu wanken und zu bersten. Eine gewaltige Feuersäule schoß empor. Was war geschehen? Djeng Djing Tcho hatte sich trotz allem als mutiger Mann erwiesen. Kaum hatte er nämlich begriffen, daß er verloren war, da gab er sofort einem Chinesen einen Wink. Dieser rannte mit glimmender Lunte in den Keller, und da die Chinesen auf alles vorbereitet waren und
überall Sprengladungen gelegt hatten, trat sofort die gewünschte Katastrophe ein. Jeder der Räuber wußte, daß ihm der Tod gewiß war, sobald er vor dem Richter stand. Der Kommandant, Lord Wesley, Jörg und all die Männer, die sich im letzten Moment noch retten konnten, waren von dem ungeheuren Luftdruck der Explosion zu Boden gerissen worden. Sie erhoben sich bald wieder, nur Lord Wesley blieb liegen. Der Rauch verzog sich langsam. Aus den Trümmern des Hauses drangen Qualmwolken. „Wasser her! Löschen!“ Während der Erste Offizier die Arbeiten der Matrosen leitete, bemühte sich der Kommandant um den ohnmächtigen Lord. Auf der Insel war inzwischen eine wilde Schießerei ausgebrochen. Als der Kommandant die Wohnung des Mandarins betreten hatte, waren die übrigen Boote des Kreuzers unter Führung des Zweiten Offiziers gelandet. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. Die übriggebliebenen Seeräuber wurden in eine Gruppe zusammengetrieben, die Soldaten waren dabei, sie zu fesseln. Lord Wesley, der von einem Stein leicht verletzt worden war, erwachte aus der Ohnmacht. Bald war er in der Lage zu berichten: „Man hat mich zuerst auf eine andere Insel gebracht. Man wollte mich hindern, meinen Auftrag bei der
Südarmee auszuführen, und hat mir meine Dokumente abgenommen. Bei Gelegenheit wollte man mich dann dem Kommandanten der Nordarmee, Ngüh Siang, ausliefern. Ich habe wochenlang ganz einsam in einem verlassenen Farmhaus auf jener anderen Insel gelebt, habe täglich nach einem Schiff Ausschau gehalten. Endlich zeigte sich auch ein Schiff, aber es war abermals einer der Dampfer der Chinesen. Sie nahmen mich wieder gefangen und brachten mich hierher. In einigen Tagen sollte ich nach einem Küstenhafen und zu Ngüh Siang gebracht werden. Der Umstand, daß Sie kamen, Herr Kommandant, machte die Schufte besorgt, und man sperrte mich in den unterirdischen Kerker. Ich halte den Mandarin für das Haupt der Räuber.“ „Sie haben Beweise, Sir?“ „ Vielleicht. Es ist mir aufgefallen, daß sich die Chinesen im Besitz einer großen Anzahl von Motorbooten befinden, die sehr wahrscheinlich die Rettungsbarkassen geraubter Dampfer sind. Zudem kam vor einiger Zeit hier ein solches Boot an, auf dem ein Mann und ein junges Mädchen gebracht wurden. Der Mann, der wie ein Kapitän aussah, verschwand nach wenigen Tagen, das junge Mädchen war etwa vor einer Woche plötzlich gleichfalls verschwunden, Ich wurde auf das strengste gehindert, mit diesen beiden in Verbindung zu treten, übrigens
lagen bis vor wenigen Tagen Wracks gescheiterter oder zum Scheitern gebrachter Schiffe in der Bucht.“
Nach einigen Stunden waren die Löscharbeiten beendet und der Erste Offizier trat heran. „Die Sprengladungen sind in der Hast des Augenblicks nur zum kleinsten Teile hochgegangen. Der Mandarin ist tot, zwanzig tote Chinesen wurden
gefunden. Wir sind dabei, die Keller und das Haus auszuräumen.“ Jörg hielt sich jetzt wieder zurück, aber er beteiligte sich an den Bergungsarbeiten. Man stieß auf einen ganzen Stapel von Papieren und Akten, die zum Teil vom Feuer angekohlt und vom Wasser durchnäßt waren. Als man sie zusammentrug, rief Jörg: „Holla!“ Der Offizier sah ihn an. „Wollen Sie bitte nachsehen, es sind die Schiffsbücher und Papiere der ,Tovredenheit‘ die ich rettete und die der Chinese uns mit dem Boot in Bezoen raubte.“ „Also ein neuer Beweis!“ Vor den Trümmern der Wohnung des Mandarins stellte man Tische aus Brettern auf, die Schiffsingenieure hatten rasch ein langes Kabel gelegt für einige Scheinwerfer. Der Kommandant war mit Hilfe einiger Matrosen mit der Sichtung der gefundenen Papiere beschäftigt. „Das Logbuch des Dampfers ,Juliette‘! – Hallo, das ist der wichtigste Fund: Korrespondenz des Mijnheer van Kempen aus Telok Betong!“ Der Kommandant stand auf. „Kein Zweifel, hier liegt der Schlüssel zu allen Taten der letzten Monate.“ Jörg sagte laut entrüstet: „Und Herr Heinesius sitzt in Manila im Gefängnis!“ „Wir werden bald nach Manila fahren.“ Und dann wandte er sich an seinen Ersten Offizier. „Geben Sie sofort ein ausführliches Telegramm nach Hongkong
durch. Man soll ein oder zwei Schiffe senden. Geben Sie die Lage der Insel genau an. Wir können die ganze Beute unmöglich in den Kreuzer laden.“ Jörg war betrübt. „Alles ist gefunden, nur die Kisten nicht und Kapitän Christians auch nicht.“ Der Lord sah auf. „Wer ist der junge Mann?“ „Ein Leichtmatrose vom Dampfer ,Tovredenheit‘, dem wir unsere ganze Entdeckung und Sie Ihre Freiheit zu danken haben.“ „Derselbe, der mich gefunden hat? Junger Mann, ich werde dafür sorgen, daß Sie belohnt werden.“ „Wenn Sie das wollen, dann helfen Sie mir, Kapitän Christians zu finden.“ „Wir werden wenigstens drei Tage hierbleiben müssen. Eher können die angeforderten Schiffe nicht kommen. Suchen Sie also, junger Mann, ich stelle Ihnen zehn Soldaten zur Verfügung, um Ihnen zu helfen.“ Jörg nahm sich kaum Zeit, etwas zu essen. Während die anderen Soldaten nun dabei waren, die übrigen Häuser zu durchsuchen, war er selbst unermüdlich. Jeder Bretterstapel, der eine Öffnung verdecken konnte, wurde fortgeräumt. Jeder Keller genau durchsucht. Die Nacht verging, es war längst wieder Tag geworden – es zeigte sich nirgends der Eingang zu einer anderen Höhle. Jörg war todmüde. Er lag während der Mittagsglut im Schatten eines Hauses.
Weder Christians noch die Kisten waren zu finden. Es wurde wieder Abend… Mitten in der Nacht schreckte er auf. Er vermochte nicht wieder einzuschlafen und wanderte auf dem Platze umher. „He, Großvater!“ Jörg blieb stehen und horchte. „Großvater, hier!“ Es war ein Chinese, der ihn anrief und ihm diesen für einen kaum siebzehnjährigen Jungen seltsamen chinesischen Ehrentitel gab. Er sah sich um und bemerkte im Dunkel eine Gruppe Gefangener, die noch nicht auf den Kreuzer geschafft worden waren. Jörg trat näher. „Setz dich zu mir, damit uns die Wachen nicht sehen.“ Jetzt sprach der Kerl ein gebrochenes Englisch, und Jörg setzte sich neben ihn. „Laß mich frei!“ „Ich denke nicht daran.“ „Ich weiß, wo der ist, den du suchst. Der weiße Teufel, der der Kapitän von der ,Tovredenheit‘ war.“ „Nun erkannte Jörg, daß der Mensch gar kein Chinese, sondern – der Zimmermann der ,Tovredenheit‘ war.“ „Du weißt, wo der Käptn ist?“ „Ich glaube es zu wissen. Wenn du mich befreist und mir versprichst, mich laufen zu lassen, werde ich es verraten.“
Jörg ging zu dem Kommandanten, der jetzt selbst über das Lager wachte, und sagte ihm, was er gehört hatte. „Einen von den Lumpen begnadigen? Ausgeschlossen!“ „Wenn er aber den Kapitän rettet?“ Johnson überlegte. „Gut, wenn er den Kapitän bringt.“ Er ging mit zu den Gefesselten. „Du weißt, wo der Mann ist?“ „Ich glaube es zu wissen, aber es ist ein weiter Weg. Ich werde Jörg führen.“ „Ich werde Ihnen einige Soldaten mitgeben, Mister Jörg.“ Der Zimmermann schüttelte den Kopf. „Dann werde ich nicht führen. Ich will mit dem da allein gehen.“ „Warum? Wenn ich dir die Freiheit fest zusichere – “ „Ich will nicht. Ich weiß nicht, ob Sie Wort halten. Ich werde hier auf der Insel bleiben, dort, wo jetzt der Käptn ist.“ „Dann bleibst du eben gefangen.“ Der Kommandant wandte sich kurz ab, aber Jörg trat an ihn heran. „Lassen Sie ihn frei und mit mir gehen!“ „Das wäre Wahnsinn, ich verbiete es Ihnen. Der Mann wird es sich überlegen und die Soldaten führen.“ Ein Signal kam vom Kreuzer, das den Kommandanten an Bord rief, und er ließ Jörg stehen.
Dieser trat noch einmal zu dem Gefangenen, der nun etwas abseits von den anderen lag. „Du könntest es mir doch sagen, Zimmermann. Ich habe dir nie etwas zuleide getan.“ „Der Käptn auch nicht. Er war ein guter Mann, und ich will ihn ja retten, aber mich auch. Mach meine Fesseln los, dann werde ich dich führen; tust du es nicht, dann hast du den Käptn auf deinem Gewissen.“ „Wenn ich dich befreie, bin ich selbst eines Verbrechens schuldig.“ „Nein, ich selbst habe gar nichts getan, ich mußte nur mitmachen mit den anderen.“ In den Augen des Gefangenen glühte ein sehnsüchtiges Feuer. Jörg hatte oft mit dem Mann gesprochen. Er war auch noch jung, war ihm immer anständiger erschienen als die übrigen, und – es war schließlich verständlich, daß ihm seine eigene Freiheit über alles ging. Jörg ging in schweren Sorgen auf und nieder, er blickte nach Osten – in einer Stunde mußte die Sonne aufgehen. Jetzt war noch Zeit, im Augenblick war niemand in der Nähe. „Zimmermann, wenn ich es tue…“ „Zeige ich dir den Ort, wo der Käptn ist.“ „Du gibst mir dein Wort?“ „Ich gebe es dir.“ Noch einen Augenblick der Überlegung, des Zauderns, dann riß Jörg sein Messer aus der Tasche und – schnitt die Fesseln durch.
Einen Augenblick lag der Zimmermann noch ganz still, er dehnte seine Glieder, dann sprang er auf, huschte schnell wie eine Katze über den Platz, war an der Mauer und schwang sich hinüber. Jörg rannte ihm nach, kletterte auch über den Steinwall und sah sich um. Er bereute schon. Der Mann rannte, was er rennen konnte, dem Gebüsch entgegen und gewann Vorsprung. Jörg hinter ihm her. Nun war es geschehen – der Mann floh, und er hatte ihn befreit, ohne Erlaubnis des Kommandanten einen Meuterer befreit. „Steh!“ Jetzt fiel Jörg ein, daß er nicht einmal eine Waffe bei sich hatte. Der Mann deutete auf das verbergende Gebüsch, dann stand er wirklich und ließ Jörg an sich heran. „Glaubst du, ich werde stehen, solange mich die Soldaten da noch sehen können?“ Jörg stand bei ihm, das Lager war ganz ruhig, man hatte die Flucht des Gefangenen nicht bemerkt. „Komm!“ Sie waren jetzt schon gedeckt durch das Gebüsch, und der Zimmermann schritt schnell und wortlos weiter. Jörg klopfte das Herz. Er hatte eine Riesendummheit begangen, hatte einen Räuber befreit und war nun mit ihm allein, und der führte ihn nun mitten in die Wildnis. Bestimmt in der Absicht, sich plötzlich auf ihn zu werfen und ihn zu ermorden. Der Zimmermann war ein großer, baumstarker Mensch. Er hatte einen dicken Knüppel aufgelesen,
der ihm als Stütze diente, den er aber jeden Augenblick als Waffe benutzen konnte. Und Jörg fiel eben ein, daß er sogar sein Messer liegengelassen hatte, mit dem er die Fesseln des Zimmermanns durchschnitten hatte. Es wurde ein anstrengender Marsch, und er führte ihn bis dicht an die Höhle, in der er mit Heinesius die erste Nacht auf Brumelong verbracht hatte. Der Zimmermann schritt weiter und stieg wiederum einen Berg hinauf. Sie waren nun schon mehrere Stunden gegangen, der Mittag kam, und der Meuterer warf sich im Schatten einiger großer Eukalyptusbäume zur Erde. „Hier wollen wir rasten.“ Auch Jörg war todmüde und setzte sich hin. Der Zimmermann schien sofort fest zu schlafen. Jörg kämpfte gegen seine große Erschöpfung an. Schlief er jetzt selbst ein, dann war er in der Hand dieses Mannes, vielleicht eines Mörders! Entweder machte er sich davon, oder… Er fühlte, daß er nicht mehr denken konnte. Bleierne Müdigkeit drückte ihm die Augen zu.
Als er erwachte, dämmerte es schon, und – er war allein. Jörg sprang auf. Der Zimmermann war weg! Und er? Jetzt hatte er sich schuldig gemacht. Hatte der Zimmermann ihn belogen? Da hörte er Schritte. Der Zimmermann war es! Er trug einen Arm voll Bananen und warf sie neben Jörg auf die Erde. „Wir müssen essen!“ sagte er. Es war Jörg, als müßte er den Mann um Entschuldigung bitten. Sie gingen weiter. Es war Nacht geworden. Die Stimmen des Urwaldes waren wach geworden. Brüllaffen ließen sich hören. Nachtvögel schrien. Jörg und der Zimmermann stiegen noch immer bergauf; dann aber, oben angekommen, sahen sie im Mondschein auf eine herrliche Landschaft. Ein breiter Bach wälzte sich zwischen einer wunderbaren Vegetation der anderen Seite der Insel entgegen. Immer in der Nähe des Baches stiegen sie hinab. Etwa eine halbe Stunde entfernt stand dicht am Flußufer ein Haus. Vielleicht einmal von irgendeinem Farmer erbaut, aber halb in malaiischem Stil, denn ein
Teil des Hauses war auf Pfählen direkt in den Fluß hineingebaut und bildete eine Art Plattform.
Am Ufer bestiegen beide ein dort liegendes Boot. Jörg griff zu den Rudern und brachte das Boot ans Haus. Da hob der Zimmermann den Arm. „Dort wohnt Käptn Christians.“ Jörg dachte erst jetzt daran, daß es um Mitternacht war; dann pochte er an der Tür. „He, hallo, was ist?“ rief die bekannte Stimme des Kapitäns. „Käptn Christians, machen Sie auf!“
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, in der Tür, vom Mondschein beleuchtet, mit struppigem weißem Haar, erschien ein Mann und starrte Jörg an. „Dunnerslag – Jörg! Junge, wie kommst du hierher?“ Jörg wurde übermütig in aufwallender Freude, „Ich muß mir doch endlich die Ohrfeigen holen, die Sie mir noch schulden.“ „Bengel, Bengel, jetzt haben sie dich auch?“ „Nein, aber ich hab’ sie! Das heißt, ich hab’ einen englischen Kreuzer hergeholt, das Nest ist ausgehoben, und jetzt hol’ ich Sie.“ „Langsam, langsam, das ist zuviel für meinen kaputten Verstandskasten. – Dunnerlüchting, da ist ja auch der Lump, der Zimmermann!“ „Lassen Sie’s gut sein, Käptn, der Mann hat mich zu Ihnen geführt, ihm haben Sie Ihre Rettung zu danken.“ Das wurde eine seltsame Nacht. Jörg sah, daß der Kapitän hinkte und den linken Arm kaum gebrauchen konnte. Er machte Feuer, denn der Kapitän brachte noch einige Vorräte herbei, sogar etwas Kaffee. Jörg mußte berichten, was inzwischen geschehen war, dann war die Reihe an Christians. „Im Lager wollten mich die Burschen nicht haben, ich sollte hier bleiben, bis das Lösegeld bezahlt wäre. Ein paar Chinesen und der da haben mich hierhergeschleppt.“
Mit Nachdruck erklärte der Zimmermann: „Käptn, ich konnte wirklich nicht anders! Sie hätten mich totgeschlagen, wenn ich nicht mitgemacht hätte! Aber ich habe es bereut, darum habe ich den da geführt. Jetzt werden wir Sie zum Lager bringen.“ Als es Morgen wurde, begann der Rückmarsch. Kapitän Christians hatte große Schmerzen an seinem Fuß, und immer wieder mußten sie rasten. Bis zu der Höhle, in der Heinesius und Jörg geschlafen hatten, führte sie der Zimmermann. Dann sagte er: „Ich kehre jetzt um“ und verschwand mit raschen Schritten im Wald. Erst am Abend des nächsten Tages kam Jörg mit dem völlig erschöpften Kapitän wieder im Lager an. Zwei kleine Frachtdampf er lagen am Ufer. Der Kommandant machte ein erstauntes Gesicht, als Jörg jetzt den schwer hinkenden Kapitän heranführte. „Alle Wetter, da sind Sie!“ „Und hier bringe ich Käptn Christians.“ Dieser aber war jetzt ohnmächtig zusammengesunken, und der Schiffsarzt wurde herbeigerufen. Jörg sagte: „Herr Kommandant, ich weiß, daß ich unrecht getan habe, als ich den Gefangenen eigenmächtig befreite. Es war der Schiffszimmermann der ,Tovredenheit‘. Er hat mich aber richtig geführt. Ihm selbst hat es bitter leid getan, was mit dem Käptn geschah.“ Jörg trat an ihn heran. „Zürnen Sie mir?“
„Als Kommandant muß ich es, ja, aber als Mensch – geben Sie mir die Hand, junger Mann. Käptn Christians, alle Achtung! Er hat sein Leben für Sie aufs Spiel gesetzt. Zu Schiff, meine Herren!“ Im Morgengrauen stach der Kreuzer in See, Die beiden kleinen Frachtdampfer, die man nicht neuen Gefahren aussetzen wollte, zur Seite, fuhr der Kreuzer „Thistle“ in großer Fahrt der Insel Luzon und damit der Hauptstadt Manila entgegen. Im großen Saal des Schwurgerichts in Manila stand Direktor Heinesius vor den Richtern. Es waren nun acht Tage her, seit er in Haft genommen war, und Mijnheer van Kempen hatte auf beschleunigte Durchführung des Verfahrens gedrängt, weil sein Urlaub abgelaufen war und er nach Telok Betong zurück mußte. Mister William Harbour, ein amerikanischer Advokat, vertrat den Mandarin Djeng Djing Tcho, der inzwischen abgereist war. „Meine Herren! Der vorliegende Fall liegt besonders kraß. Ein Deutscher, angesehener Direktor eines Weltunternehmens, hat sich hinreißen lassen, zwei Vertreter großer Nationen in der unglaublichsten Weise zu beleidigen. Es mag ihm zugebilligt werden, daß er selbst Schweres erlitten hat. Er ist beraubt worden. Sehr traurig! Aber darf der Mann deshalb einen Hochwürdenträger des uns befreundeten chinesischen Reiches beleidigen? Noch mehr: ihn selbst als den Anführer einer gemeinen Räuberbande
bezeichnen? Ihn, dem er noch dazu großen Dank schuldet! Der seine Tochter aus den Händen der Räuber befreite! Der eben diese Schätze, die gestohlen wurden, den Räubern abjagte, um sie ihm zu bewahren! Kann Mandarin Djeng Djing Tcho dafür, daß dann ein deutscher Kapitän, der mit seiner meuternden Mannschaft gemeinsame Sache machte, den Mandarin bestahl? Meine Herren, gerade weil es sich bei dem Angeklagten Hei-ne-si-us um einen gebildeten Mann handelt, muß ich doppelt schwere Sühne fordern!“ Nach ihm sprach Mijnheer van Kempen selbst und forderte gleichfalls Strafe: „Mich, den unbescholtenen, ehrenreinen Beamten der niederländischen Regierung, hat dieser Mann beschuldigt, mit Seeräubern gemeinsame Sache gemacht zu haben. Meine Existenz steht damit auf dem Spiel, mein Vaterland ist in meiner Person beleidigt.“ Zum letztenmal wandte sich der Richter an Direktor Heinesius. „Mein Herr, ich rate Ihnen, nehmen Sie Ihre Anschuldigungen zurück, sehen Sie ihren Mißgriff ein!“ „Ich habe nichts mehr zu sagen. Meine Überzeugung ist und bleibt: Dieser sogenannte Mandarin ist das Haupt der Räuber, und Mister van Kempen hat ihm bei seinem Werk in die Hände gearbeitet! Ich weiß, was meine Augen gesehen haben. Ich weiß auch, daß
Kapitän Christians, der nicht hier ist und sich nicht verteidigen kann, mich noch in Brunei dazu bewegen wollte, mit meiner wertvollen Ladung das Schiff zu verlassen. Weiter kann ich nichts sagen.“ Die Rede des angesehenen Anwalts und des Mijnheer van Kempen, der vielen Geschworenen bekannt war, hatte natürlich viel tieferen Eindruck gemacht als die Worte des fremden Deutschen, Zumal da hier das chinesische Element überwog. Dann hieß es, die Geschworenen zögen sich nunmehr zur Beratung zurück. Zu derselben Zeit erhielt der Generalgouverneur unerwarteten Besuch. Er warf einen Blick auf die Karte, die ihm ein Diener reichte. Mit unbewegter Miene sagte er: „Ich lasse Seine Lordschaft bitten.“ Allerdings machte er ein etwas verstimmtes Gesicht, als hinter Benjamin Wesley der Kommandant Johnson vom Kreuzer „Thistle“ eintrat, von dem er vor acht Tagen einen so wenig freundlichen Abschied genommen hatte. „Ich bin entzückt“, sagte er aber, „Euer Lordschaft so wohl zu sehen. Es waren uns traurige Gerüchte zu Ohren gekommen.“ „Ganz recht, und wie Sie mich sehen, Exzellenz, komme ich geradewegs aus der Höhle der Räuber, aus der mich Herr Kommandant Johnson befreite.“ „Sie waren…?“ „In den Händen chinesischer Seeräuber, allerdings! Mehr noch: in den Händen des Anführers jener
Räuberbande, die seit Monaten die Meere unsicher macht. Jetzt ist ihr Nest ausgenommen. Diese Schurken haben mehr als zehn Frachtdampfer, darunter drei amerikanische, geplündert und versenkt, und der Chef dieser Bande war kein anderer als Mandarin Djeng Djing Tcho, der ehemalige Parteigänger des Generals Ngüh Siang!“ Der Gouverneur sprang auf. „Das ist unmöglich!“ Er rang nach Fassung. Der Lord stand hochaufgerichtet. „Ich selbst war Gefangener dieses Schurken! Ich war Zeuge seiner Taten, und ich habe Beweise in Händen, die ihn überführen. Herr Johnson, legen Sie bitte seiner Exzellenz die gefundenen Schiffsbücher und die Briefe mit dem schurkischen Mijnheer van Kempen vor, der sich zur Ausraubung des Deutschen Heinesius mit den Räubern zusammentat.“ „Das kann ja nicht wahr sein!“ Trotz seines Zweifels griff der Gouverneur nach den Papieren und las die Briefe, die van Kempen geschrieben hatte. „Meine Herren, ich bin völlig verwirrt. Ich habe geglaubt…“ stieß er hervor. Der Lord wehrte ab. „Ich bin ebenso fest von der Korrektheit der amerikanischen Regierung überzeugt wie davon, daß die niederländische Regierung den ungetreuen Beamten aufs schwerste bestrafen wird.“
„Euer Lordschaft! In diesem Augenblick spricht das Gericht dem Deutschen das Urteil. Würden Sie mich in das Gerichtsgebäude begleiten?“ Eben waren die Geschworenen zurückgekehrt, und der Richter wollte die Sitzung wieder eröffnen, als ein Gerichtsdiener eintrat und verkündetet „Seine Exzellenz der Generalgouverneur bittet um Unterbrechung der Sitzung. Er ist hier.“ Der Gouverneur, von Lord Wesley und dem Kommandanten Johnson begleitet, trat ein. Van Kempen wollte den Saal verlassen, aber der Gouverneur rief: „Dieser Mann dort ist zu verhaften!“ Gerichtsdiener traten neben van Kempen, die Zuschauer waren in höchster Erregung. „Herr Präsident, dieser Herr hier, Lord Wesley…“ Heinesius sprang auf, als er diesen Namen hörte, der ihn an die Insel Bezoen erinnerte. „… Lord Benjamin Wesley hat mir soeben durch den Herrn Kommandanten Johnson vom englischen Kreuzer ‚Thistle’ den Beweis erbracht, daß der Mann, den wir bisher nur als den Mandarin Djeng Djing Tcho kannten, das Haupt der Seeräuberbande ist!“ Mister Harbour schrie: „Ich protestiere!“ „Hier sind die Beweise“, hielt der Gouverneur dem Gericht entgegen. „Hier die Logbücher der vernichteten Schiffe, deren geraubte Ladung bereits auf dem Wege nach Hongkong ist. Hier, Herr van Kempen, sind die Briefe, die Sie mit dem Mandarin gewechselt haben. Darin haben Sie ihn selbst auf die
wertvolle Ladung der ,Tovredenheit‘ aufmerksam gemacht. Oder wollen Sie leugnen, daß Sie diese Briefe geschrieben haben?“ Van Kempen brach zusammen. Sein Aussehen war bereits ein Geständnis. Einen Augenblick herrschte Stille im Gerichtssaal, dann sagte der Präsident: „Das Verfahren gegen den Direktor Heinesius ist eingestellt. Die Sitzung ist geschlossen.“ Der Gouverneur trat auf Heinesius zu. „Ich habe Sie um Entschuldigung zu bitten, Sir. Sie müssen überzeugt sein, daß wir nicht anders handeln konnten. Wir wollen dem Himmel danken, daß Seine Lordschaft zur rechten Zeit kam. Es ist selbstverständlich, daß wir sofort die niederländische Regierung benachrichtigen, und ich werde dafür Sorge tragen, daß dieses Protokoll augenblicklich ausgefertigt und einen zugestellt wird.“ Der plötzliche Umschwung bewegte Heinesius aufs tiefste. Die Haft hatte ihn seelisch schwer bedrückt. Der Lord reichte ihm die Hand: „Kann ich noch irgend etwas für Sie tun?“ „Ich danke Ihnen, danke Ihnen von ganzem Herzen. Mein einziger Wunsch ist jetzt, so schnell wie möglich nach Hongkong zu meiner Tochter zu kommen.“ Kommandant Johnson nickte. „Wenn es Ihnen bei dem beschränkten Platz unseres Kreuzers nicht zu eng
ist – wir wollen morgen früh wieder in See gehen und fahren nach Hongkong.“ „Wenn Sie mir den bescheidensten Platz anweisen wollen, an dem ich eine Hängematte für mich anbringen darf, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein.“ Der Gouverneur unterbrach sie freundlich lächelnd: „Nun also! Ich darf die Herren bitten, heute meine Gäste zu sein. Natürlich Sie auch, Herr Direktor Heinesius.“ „Wäre es möglich, vorher an meine Tochter zu telegraphieren?“ Johnson antwortete: „Gar nicht nötig. Ich habe bereits vorausgesetzt, daß Sie unser Gast sein werden, und unsere Regierung in Hongkong hat das deutsche Konsulat, in dem Ihr Fräulein Tochter wohnt, bereits von dem Verlauf der Dinge in Kenntnis gesetzt.“ Das war nun allerdings ein anderer Abend als die vorhergegangenen Abende. Heinesius saß bequem im schattigen Garten der Gouverneursvilla bei eisgekühlten Getränken. Er fühlte sich zum erstenmal wieder als freier Mensch und hätte glücklich sein können, wenn ihn nicht der Verlust seiner wertvollen Kisten bedrückt hätte. „Es ist doch merkwürdig, daß gerade diese Kisten verschwunden sind.“ „Eigentlich gar nicht so merkwürdig. Die hat eben der Mandarin zuerst in Sicherheit gebracht. Da er selbst tot ist, wird allerdings kaum je zu ergründen
sein, was aus ihnen geworden ist. Im übrigen, Herr Direktor, danken Sie Ihrem Schöpfer, daß Sie selbst frei sind und daß Ihr Kind wiedergefunden wurde.“ „Sie haben recht, Herr Kommandant, aber es war nicht nur mein Vermögen, es war auch das unserer Gesellschaft. Ich bin Rechenschaft schuldig. Meine Schuld war es, daß ich das kostbare Gut diesem Dampfer anvertraute und nicht auf den Rat des Kapitäns Christians hörte.“ Der Lord lächelte. „Sir, sogar der Generalgouverneur von Luzon hat sich von dem Mandarin täuschen lassen. Trinken Sie, vergessen Sie, und seien Sie zufrieden, daß alles wenigstens soweit gut geworden ist.“
Auch Jörg war an Land. Er hatte sich in diesen Tagen mit mehreren Matrosen von der „Thistle“ angefreundet. In der Gesellschaft dieser neuen Kameraden wanderte er durch die Straßen von Manila. Er war froh: sowohl Agnes Heinesius als auch sein Kapitän waren gerettet, wenn dieser auch in dem engen Lazarett des Kreuzers vorläufig nicht ohne Schmerzen lag. Sie wanderten zunächst durch das amerikanische Viertel mit seinen modernen Geschäftshäusern und großen Hotels, dann aber in das Chinesenviertel. Jetzt war ihm fast wehmütig zumute. Freilich, er war fest entschlossen, in Hongkong auf einem Dampfer, der nach Europa fuhr, eine Heuer anzunehmen und in die Heimat zurückzukehren. Aber würde er sie dann noch einmal wiedersehen, diese bunte Märchenwelt, die ihn hier umgab, die ihn an den Palmenstrand von Telok Betong gemahnte…? Sie wanderten weiter aus der Stadt hinaus, sahen Eingeborenenhütten, große Plantagen – es war wieder wie in Sumatra! Dann wurde es Nachmittag, sie fühlten Hunger, Als sie auf dem Rückweg an einem Haus vorbeigingen,
vor dessen Tür ein paar Chinesen auf einem eisernen Herd eine Art fliegende Küche eingerichtet hatten, ließen sie sich eine Schüssel mit Reis und ein großes Stück Schweinefleisch geben. Sie setzten sich auf eine der Matten, die man ihnen gab, und aßen mit gutem Appetit. Jörg hatte ja Geld in der Tasche! Der Kommandant hatte ihm selbst eine Summe gegeben. „Ich denke, in Hongkong wird mehr für Sie abfallen“, hatte er gesagt. Dabei hatte er seltsam und vielsagend gelächelt, aber Jörg achtete kaum darauf. Er dachte gar nicht daran, daß er etwa belohnt werden könnte. So saßen sie beisammen, aßen und beobachteten die Männer, die auf ähnlichen Matten um sie herum hockten. Jörg wunderte sich eigentlich, wie gut er jetzt schon die Chinesen verstand. Es war ziemlich spät, als der junge Hamburger mit seinen Kameraden wieder in der Hauptstraße am Hafen ankam. Sogar höchste Zeit war es, denn die Sirene des Kreuzers ertönte eben, und die Barkasse, die die Landurlauber abholen sollte, stand zur Abfahrt bereit. Als sie eben einsteigen wollten, zeigte sich ein seltsames Bild: Direktor Heinesius kam, völlig außer Atem, in Frack und Zylinder über den Platz vor den Piers gerannt. Richtig gerannt wie ein Junge oder ein verfolgter Spitzbube. „Jörg! Misters!“
„Aber was denn?“ „Kommen Sie, kommen Sie schnell!“ „Ist denn schon wieder eine Gefahr in Sicht?“ „Nein, aber Sie müssen mir helfen! Bitte kommen Sie rasch!“ Der Maat, der das Kommando auf der Barkasse führte, schüttelte den Kopf. „Unmöglich, die Urlauber müssen zum Schiff zurück.“ „Auf meine Verantwortung! Sie kennen mich – der Herr Kommandant ist beim Generalgouverneur – er weiß Bescheid – schicken Sie zu ihm – es ist keine Zeit zu verlieren.“ Auf dem Schiff ertönte wieder die Sirene. „Es geht nicht, meine Pflicht!“ Dabei blieb der Maat. „Ich komme mit!“ Jörg hatte nichts mit dem Kommando zu tun, er war ja kein englischer Matrose, sondern Gast des Kreuzers. Während die Barkasse abstieß, eilte er mit dem Direktor in die Stadt zurück. „Erklären Sie mir doch…“ „Kann nicht – bin – tot – habe Stiche. Ach, endlich, da – sind – wir!“ Sie waren vor einem alleinstehenden Haus angelangt. Vor dem Eingang – eigentlich mehr auf der Straße – standen vier große Kisten. Das Holz war teilweise zerbrochen, so daß man deutlich den Inhalt sah – runde Behälter aus Blei. Jörg wußte sofort Bescheid. „Das ist…?“
„Ja ja! Aber die Matrosen sind nicht mitgekommen. Wie schaffe ich die Kisten zum Schiff?“ Jörg überlegte. „Setzen Sie sich darauf und warten Sie einen Augenblick.“ Jörg lief zu dem Laden eines Chinesen, der zu ihrem Glück englisch sprach. „Haben Sie eine Schubkarre?“ „Natürlich.“ „Leihen Sie sie mir!“ „Ich verleihe nichts.“ „Verkaufen Sie sie mir.“ Er hätte kein Chinese sein müssen, der brave Mann, wenn er nicht ein gutes Geschäft gewittert hätte, er forderte einen unglaublichen Preis. Aber Jörg überlegte nicht lange und warf rasch die Münzen auf den Tisch. Es war der Rest dessen, was er vom Kommandanten erhalten hatte. Dann bekam er die große Karre und war geschwind wieder bei Heinesius. Es war ein komisches Bild, wie er keuchend die Karre mit den schweren Kisten vor sich her schob, während der Direktor, im beschmutzten, zerrissenen Frack, nebenher ging, die Hände auf die Kisten gelegt, als wolle er sich nie mehr von ihnen trennen. Das Boot mit den Matrosen war natürlich längst am Schiff, am Ufer aber lag die Barkasse, die den Kommandanten abholen sollte.
Diesmal führte der Dritte Offizier das Kommando. Er schüttelte den Kopf über den seltsamen Aufzug, vor allem als er den Direktor erkannte, der rot vor Aufregung, staubig und aufgelöst war. „Ich bitte – lassen Sie die Kisten sofort an Bord bringen.“ „Das sind doch nicht etwa…?“ „Doch, doch!“ Der Offizier sah nach der Uhr. „Der Kommandant kommt erst in einer halben Stunde. Angefaßt – die Kisten an Bord!“
Jörg, selbst von der Anstrengung und Hetze dieser letzten Minuten erschöpft, mußte den Direktor fast das Fallreep hinauftragen. Dann sank Heinesius in einen Sessel, während der Maat die Kisten verstaute. Jörg konnte nun endlich fragen: „Wie sind Sie denn bloß an die Kisten gekommen?“ „Alte Sache! Auch der geriebenste Spitzbube verrät sich“, begann der Direktor zu erklären. „Ich sitze beim Gouverneur – Abendessen – hatte mir in der Eile noch Frack und Zylinder besorgt – große Gesellschaft – da klingelt das Gericht an – der Richter war auch beim Gouverneur: Gefangener van Kempen verlangt dringend mit seinem Anwalt zu reden. Der Richter antwortet: Bewilligt, aber Gespräch belauschen! Nach zehn Minuten neuer Anruf: Van Kempen hat verfügt, daß seine gesamte Habe noch heute auf den in der Nacht abgehenden Dampfer nach Amsterdam gebracht wird. An seine Frau adressiert, die dort lebt. Der Richter bewilligt auch das. Mir kommt ein Gedanke: Wie wäre es, wenn der Kerl meine Kisten hätte?“ Der Gouverneur ruft die Polizei und rät mir: „Am besten, Sie gehen mit, sehen nach.“ Es geschieht, ich gehe mit. Es sind viele Kisten, sollen eben die Treppe hinuntergebracht werden, sehen aber fremd aus. Da stolpert einer der Träger, eine Kiste fällt, sie platzt – ich erkenne meine Sachen an der besonderen inneren Verpackung. Schnelle
Untersuchung der anderen Kisten. Auf den Behältern steht meine Firma. Der Konstabler ist ein fixer Kerl, er sagt: Ich rate Ihnen, verschwinden Sie mit Ihren Kisten. Wenn das erst dem Gericht gemeldet wird, dauert es Tage oder Wochen, die Sie hier warten müssen.“ Alles andere wird in die Wohnung zurückgeschafft, ich stehe neben den vier Kisten, der Konstabler muß aufs Gericht. Ich habe ihm etwas in die Hand gedrückt. „Sehen Sie zu, daß Sie mit den Kisten an Bord sind, wenn ich mit der Kommission zurückkomme. Ich denke, es wird eine halbe Stunde dauern.“ Er zwinkert mir zu und verschwindet. Ich kann die vier Kisten nicht tragen, kein Wagen ist in der Nähe. Da bin ich zum Schiffspier gerannt! Habe die halbe Million auf der Straße stehenlassen, um Menschen zu holen. „Es ist gutgegangen – nicht wahr, sie sind alle in Sicherheit?“ Inzwischen kam der Kommandant. Er lachte. „Aber, lieber Herr Direktor! Was machen Sie für Geschichten! Sie durften die Kisten ja gar nicht ohne Gerichtsbeschluß nehmen!“ „Schadet nichts, sie gehören ja mir!“ „Der Gouverneur, der mich bis ans Ufer begleitete, hat herzlich gelacht. Aber mit dem Frack werden Sie keinen Staat mehr machen können.“ „Macht nichts!“
„Und recht hatten Sie auch, denn jetzt können wir abfahren. Ich habe mich entschlossen, noch in der Nacht die Anker zu lichten. Lord Wesley zieht es vor, mit dem Postdampfer übermorgen zu fahren.“ Alle Wetter, was war nur mit Hongkong geschehen?! Das war doch eigentlich eine recht trübselige Stadt gewesen, damals, vor vierzehn Tagen, als sie, Heinesius und Jörg, mit dem japanischen Segler dort ankamen. Und nun lag der herrliche Hafen im schönsten Sonnenschein, die weißen Villen blitzten nur so aus dem Grün der Parks, und der Pik lachte von oben herab. Es war aber auch eine fröhliche Gesellschaft, die da den Kreuzer verließ: Direktor Heinesius, der, vor Freude weinend, seine Tochter in die Arme schloß, und Jörg, der Christians von Bord führte. Der Kapitän hinkte allerdings noch und trug den linken Arm in der Schlinge. Dann aber gab der Direktor keine Ruhe, der Kapitän und Jörg mußten mit ihm in das Pikhotel, und der Kommandant war am Abend ihr Gast. Der Engländer fragte Jörg: „Was werden Sie denn nun machen?“ „Irgendeine Heuer annehmen und nach Deutschland heimkehren.“ „Als was wollen Sie anheuern?“ „Als Leichtmatrose natürlich.“ Johnson hatte ein eigentümliches Schmunzeln um seinen Mund. „Morgen werden Sie anderes zu tun
haben. Ich bin auf der Kommandantur gewesen. Sie sind für morgen zehn Uhr auf das Seemannsgericht geladen. Herr Heinesius und Kapitän Christians ebenfalls.“ Jörg erschrak. „Sollen wir – eingesperrt werden?“ „Ganz so schlimm wird’s nicht werden. Sie sollen nur über die Seeräuber aussagen.“ Das geschah dann auch am anderen Tag. Aber Jörg machte große Augen, als der Richter am Schluß der Vernehmung sagte: „Bekanntlich ist eine hohe Belohnung für denjenigen ausgesetzt worden, der das Versteck der Seeräuber in der Weise auskundschaftet, daß es ausgehoben werden kann. Das ist Ihnen gelungen, Mister Georg Uhlentweet. Ich habe das Vergnügen, Ihnen zu danken und Ihnen diesen Scheck zu überreichen.“ Jörg hielt das Papier verlegen in seiner Hand und bedankte sich linkisch. Als sie wieder draußen waren, hielt er den Zettel dem Direktor hin. „ Was ist denn das?“ „Eine Bescheinigung, mit der Sie in jedem Augenblick zur Bank von Hongkong gehen und dort dreitausend englische Pfund abheben können.“ Jörg starrte ihn an. „Aber – das sind ja…“ „Das sind allerdings nach heutigem Kurswert sechzigtausend Mark.“ „Und was ist mit denen?“
„Die gehören Ihnen, weil Sie die Seeräuber den Behörden ausgeliefert haben.“ Der junge Leichtmatrose war ganz fassungslos. „Mir?“ fragte er. „Die gehören mir? Mit denen kann ich tun, was ich will?“ Direktor Heinesius nickte lächelnd. „Allerdings.“ Er saß nun ganz in sich versunken in dem Wagen, der sie wieder in das Hotel brachte. Dann waren sie zusammen, Heinesius, Agnes, der Kapitän und Jörg. Christians sah den Jungen mit halbgeschlossenen Augen an. „Was nun? Jetzt wird Lebeschön gemacht und das Geld verjuxt?“ Jörg hatte fast Tränen in den Augen. „Kann ich davon auf die Steuermannsschule gehen und das Examen machen? Kann ich damit so weit kommen, daß ich mal ein richtiger Kapitän von einem großen Lloyddampfer werde?“ „Ja, min Jung’, das kannst du!“ „Ich möchte aber noch eins.“ „Was denn noch?“ „Ich möchte, daß meine Mutter sich nicht mehr quälen müßte und da draußen in Blankenese ein kleines Häuschen hätte. Das wollte sie immer gern.“ „Kannst du auch machen.“ „Wirklich? Und was machen Sie, Käptn?“ „Komme mit nach. Deutschland, kann nicht mehr fahren, bin ja ein Wrack, aber wird schon gehen. Die niederländische Regierung, in deren Dienst ich
Invalide wurde, muß mir eine Pension zahlen. Werde mir auch einen Unterschlupf suchen.“ „In Blankenese, Käptn! Dann wohnen Sie als Mieter bei meiner Mutter.“ „Wäre nicht schlecht. Darüber ließe sich reden.“ Jetzt sagte Heinesius: „Lieber Jörg, ich bin auch noch da. Jetzt gebe ich Ihnen nichts, zuviel auf einmal ist nicht gut. Aber schließlich – Sie haben ja nicht nur mich und meine Tochter, sondern auch die kostbare Ladung für unsere Gesellschaft gerettet, denn wären Sie nicht gewesen, dann wären die Kisten verloren. Es ist natürlich, daß Sie da auch eine Belohnung bekommen, und die wird nicht klein sein. Vorläufig werde ich Sie dem Direktor vom Norddeutschen Lloyd empfehlen, wenn Sie wirklich etwas Tüchtiges werden wollen.“ Johnson nickte. „Werde Ihnen auch einen Brief mitgeben, junger Freund. Ich hab’s ja nun erlebt, daß ein Leichtmatrose von einem Frachtdampfer einmal Lotse auf einem englischen Kreuzer war und sich bewährt hat. Das war nicht oft da. Wenn Sie fleißig sind, können Sie ein tüchtiger Kapitän werden.“ Jörg antwortete nicht, das war zuviel auf einmal für ihn. Er nickte nur und ging hinaus. Das war dann eine prachtvolle Fahrt mit dem Lloyddampfer „York“, auf dem Kapitän Christians und Jörg, dieser allerdings nicht als Leichtmatrose, sondern als Passagier, der Heimat entgegenfuhren.
Direktor Heinesius blieb mit seiner Tochter noch ein paar Wochen in Hongkong. Der Kapitän Größling, ein großer, vornehmer und liebenswürdiger Herr, der natürlich auch von den seltsamen Abenteuern des Leichtmatrosen Jörg gehört hatte, nickte ihm freundlich zu, wenn er ihn sah. Jörg dachte: „Wartet nur, so ein Kapitän in der schönen Uniform und der sauberen Wäsche werde ich auch einmal!“ Dann aber kam das Allerschönste. Gar nicht weit von der Reeperbahn in Hamburg saßen in einem kleinen Stübchen drei Menschen zusammen: Eine Mutter, die vor Glück weinte, ein ehemaliger Kapitän und ein glücklicher, junger Mensch mit lachenden Augen. Und noch ein Tag kam, nicht viel später: Draußen in Blankenese ein einfaches Häuschen mit einem kleinen Garten, in dem Kapitän Christians Rosen pfropfte, und wieder die Mutter, diesmal aber fast noch froher. Vor ihnen stand Jörg, nein, „Herr Georg Uhlentweet“ in der kleidsamen Uniform des Norddeutschen Lloyd. „Mutter, ich bin in die Steuermannsschule aufgenommen. Paß auf, ich werde noch einmal Kapitän von der ,Europa‘.“ Kapitän Christians lachte. „Aber ein Racker bist du doch! Bist der erste Bengel, um dessentwillen ich wortbrüchig geworden bin.“
„Warum denn das?“ „Ich habe dir doch versprochen, dir eine Ohrfeige zu geben, und kann mein Wort nicht halten.“ übermütig lachte Jörg. „Das Wort haben Sie dem Schiffsjungen gegeben, aber ein Leichtmatrose läßt sich nicht ohrfeigen – und ein Steuermannsschüler noch weniger!“ Frau Uhlentweet ging hinaus. Sie konnte in diesen Wochen nicht immer ihren Tränen gebieten, aber es waren Tränen des Glücks! Nach einigen Minuten kehrte sie zurück, mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit Grog standen. Zwei davon waren nicht von schlechten Eltern! „So ist’s recht, Mutting!“ Der Kapitän schmunzelte. „Jetzt stoßen wir mal an. Es lebe der künftige Kapitän, es lebe die christliche Seefahrt! Und wenn du wieder mal einen Mann aus dem Sumpf holst, paß auf die Krokodile auf! Denn du siehst, was alles davon kommen kann! Prosit, Jörg!“