Christopher Monger
Der Engländer der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam
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Christopher Monger
Der Engländer der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam
scanned by ab corrected by moongirl Seit Jahrhunderten leben die Bewohner des kleinen walisischen Dorfes Ffynnon Garw im Schatten »ihres« Berges. Doch dann tauchen plötzlich zwei Landvermesser aus dem fernen London auf, die kurzerhand behaupten, dass es sich bei dem Berg lediglich um einen Hügel handelt: Es fehlen zwanzig Fuß, und deshalb soll die Erhebung für immer von allen Landkarten verschwinden. Nur mit zwei Dingen haben die beiden Landvermesser nicht gerechnet – mit der Kraft der Liebe und der schlichten Tatsache, daß Berge ebenso wie Menschen über sich hinauswachsen können. ISBN: 3-442-43146-8 Original: The Englishman Who Went Up A Hill But Came Down A Mountain Aus dem Englischen übertragen von Susanne Goga Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 1996 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Buena Vista International
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Geboren wurde ich in einem kleinen Bett in einem kleinen Zimmer in einem kleinen Haus in einem kleinen Dorf im südwestlichen Zipfel eines sehr kleinen Landes namens Wales. Wie die meisten anderen walisischen Dörfer bestand auch unseres aus einem Gewirr langer Straßen und Gassen, die sich zwischen dem Fluß und den Hügeln eines engen Tales drängten. Ganz im Westen des Dorfes erhoben sich die Hänge des Ffynnon Garw Berges, im Osten die des Hügels Peny-Graig. Wie in allen walisischen Dörfern dieser Größenordnung wußte auch bei uns jeder über jeden und dessen Privatangelegenheiten genau Bescheid. Jeder von uns hätte durchs Dorf laufen und aufzählen können, wer in welchem der Häuser wohnte. Von jedem kannten wir die Onkel, Tanten sowie die Cousins ersten und zweiten Grades. Wir kannten Familiengeschichten und Familienskandale: wer wen geheiratet hatte und warum, wohin sie gezogen waren und wie es ihnen ergangen war, bevor sie wieder in unser Nest im Schatten des Berges zurückkehrten. Daß sie irgendwann zurückkehrten, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Unser Nachbar auf der einen Seite war Mr. Evans, der Schuster, auf der anderen Seite lag der Kolonialwarenladen von Mr. Williams. Genau gegenüber gab es eine Werkstatt, die von einem weiteren Mr. Evans betrieben wurde, der gleich neben dem Fleischer wohnte, der ebenfalls Mr. Evans hieß. Als hätte diese Verwirrung noch nicht gereicht, existierten zwei Pubs, deren Inhaber beide Mr. Morgan hießen. Alle anderen Einwohner trugen die Namen Thomas, Jones oder Evans. Wir hießen Monger und waren damit Exoten. Allerdings beschränkte sich dieses Namensphänomen keineswegs auf unser Dorf. Aus unerklärlichen Gründen, 2
die in den Nebeln der Zeit verschwunden sind, herrscht ein außergewöhnlicher Mangel an walisischen Familiennamen. Öffnen Sie mal ein walisisches Telefonbuch: Seite um Seite die Namen Davies, Evans, Jones, Morgan, Thomas und Williams. Sicher, es gab einen Cheyenne Jones in meinem Dorf, dessen Vater Western liebte, und einen Groucho Evans, dessen Vater man aus der örtlichen kommunistischen Partei ausgeschlossen hatte. Er rächte sich dafür bei der Taufe seines Sohnes. Eher üblich sind aber die Vornamen David, Evan, John, Morgan oder Thomas. In jedem walisischen Pub trifft man den unvermeidlichen David Davies, Evan Evans, John Jones, Morgan Morgan oder William Williams. Ganz zu schweigen von Evan Morgan, Morgan Evans, William Davies oder David Williams. Waliser umgehen dieses Problem, indem sie dem Familiennamen eine Berufsbezeichnung oder eine persönliche Eigenheit hinzufugen. In meinem Dorf beispielsweise wohnten Evans die Flasche, ein stadtbekannter Trinker; Evans das Weltende, der in der Überzeugung lebte, daß der Weltuntergang unmittelbar bevorstand und ein dementsprechendes Schild um den Hals trug; Williams die Zapfsäule, dem die Werkstatt gehörte; Williams die Telefonzelle, der auf einem entlegenen Bauernhof wohnte – die Leute zogen es allerdings vor, ihn mit dem Namen an den ungewöhnlichen Ort seiner Geburt in einer bitterkalten Schneenacht zu erinnern. Dann waren da Evans der Schuster, Evans der Fleischer und Evans der Preiskohl, dessen Name sich sowohl auf sein Hobby als auch auf seine Persönlichkeit bezog. Außerdem gab es Jones die Kohle und Jones den Stempler, der arbeitslos war, und sogar eine Mrs. Jones Weiter In Wales, die aus dem Westen von Wales stammte 3
und für unsere Ohren mit einem stärkeren walisischen Akzent sprach. Außerdem lebten im Dorf Williams der Eimer, unser örtlicher Bestattungsunternehmer, den man nicht mit Williams dem Tod verwechseln sollte, der seinen Namen seiner ewig kränklichen, aschgrauen Gesichtsfarbe verdankte. Ich kann mich an die Unterhaltung zwischen zwei Männern erinnern, nachdem er gestorben war: »Williams der Tod ist also tot«, sagte Evan. »Ach, erzähl mir doch nichts«, erwiderte Morgan. Evan schüttelte den Kopf. »Ganz im Ernst, er ist abgetreten.« Pause. Morgan mußte das erst verdauen, bevor er mit seinem trockensten Lächeln bemerkte: »Na ja, ehrlich gesagt wurde es ja Zeit, und es paßt auch ganz gut zu ihm.« Als ich ein Kind war, erschienen mir zwei Namen äußerst verwirrend. Einmal der von Tommy Evans Vater, der als Evans Komm Her Zu Mir Geh Weg Von Mir bekannt war. Ich hielt ihn für einen Seemann, einen Wandervogel oder vielleicht auch für einen Schürzenjäger. Erst Jahre später entdeckte ich ihn in der örtlichen Blaskapelle, und plötzlich verstand ich, warum er so hieß: Er spielte Posaune – na klar, Evans Komm Her Zu Mir Geh Weg Von Mir. Der andere stellte mich vor ein noch größeres Rätsel, da sein Besitzer Engländer war und ohnehin einen ungewöhnlichen Namen trug. Angesichts der Tatsache, daß es diesseits der walisischen Grenze keine anderen Ansons gab, hätte man ihn einfach Mr. Anson nennen können. Wenn es wichtig war, ihm einen Titel zu verleihen, hätte man ihn Anson der Lehrer oder Anson die Schule rufen können, aber mein Lehrer hatte den längsten 4
und rätselhaftesten Namen von allen. Ich war vielleicht zehn Jahre alt, als ich meinen Großvater zum ersten Mal fragte, warum eigentlich Mr. Anson-der-Engländer-der_einen-Hügel-hinaufgingaber-einen-Berg-herunterkam genannt wurde. Ich hatte eine knappe Antwort erwartet, doch mein Großvater sagte zunächst gar nichts und warf einen Blick auf seine Uhr. »Hm. Das ist eine lange Geschichte …« »Na los, erzähl schon«, bettelte ich. Er überlegte einen Moment und verzog das Gesicht. »Eigentlich ist es sogar eine sehr lange Geschichte.« Mit seinem Versuch, mich von meinem Wunsch abzubringen, erreichte er das genaue Gegenteil. Meine Neugier war geweckt, und während der folgenden Tage quetschte ich den größten Teil der Geschichte stückchenweise aus ihm heraus. Den größten Teil der Geschichte? Nun ja, mein Großvater fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut, weil er sich fragte, was davon für Kinderohren bestimmt war. Sollte er mir von Morgan dem Ziegenbock und seiner Meute unehelicher Kinder erzählen? Von Betty aus Cardiff und ihrer schillernden Vergangenheit? Von der Dezimierung der Dorfbewohner durch den Ersten Weltkrieg und seinen Auswirkungen auf Johnny mit der Bombenneurose? Von Grubenunglücken, die ganze Häuserzüge voller Witwen hinterließen? Er wollte mir die Geschichte erzählen und trotzdem eine ernsthafte Auseinandersetzung mit meiner Mutter vermeiden. Daher hörte ich die zensierte Fassung, was im übrigen bei vielen Geschichten der Fall war. Es gab Fassungen für jedes Lebensalter: für Kinder, für Jugendliche, für Erwachsene – und besonders die Versionen für Fremde. Erst mit der Zeit erfuhr ich alle Einzelheiten. 5
Die Geschichte, die ich auf den folgenden Seiten erzählen möchte, ist nach und nach wie ein Puzzle aus den Berichten meines Großvaters, meiner Eltern, Tanten und Onkel entstanden. Obgleich ich den Titel des Verfassers für mich in Anspruch nehme, ist es im Grunde ihre Geschichte. Ihre und die eines walisischen Dorfes – und die von Engländern, von denen einer nicht nur ein Engländer war, sondern ein Engländer, der einen Hügel hinaufging, aber einen Berg herunterkam. An einem heißen Sommertag im Jahre 1917 setzten George Henry Garrad und Reginald Arthur Anson erstmals einen Fuß auf walisischen Boden. Vor ihnen lag eine ungeheure Aufgabe: Sie sollten große Gebiete von Wales für die Karten der amtlichen Landesaufnahme Seiner Majestät neu vermessen. Offensichtlich war das ein wichtiger Auftrag. »In Kriegszeiten muß man sein Terrain genau kennen«, hatte Garrads Vorgesetzter erklärt, als er ihn von Whitehall aus mit einem Bündel Landkarten und einer Wagenladung von Meßinstrumenten auf den Weg schickte. Im Grunde genommen war diese Aufgabe jedoch dazu gedacht, zwei Soldaten auf einen sicheren Posten zu versetzen. In George Garrads Fall sollte man es vielleicht anders formulieren: Man wollte ihn aus dem Weg haben, möglichst weit weg von London, wo er bereits die halbe Stadt zu Tode gelangweilt hatte. Die beiden gaben ein seltsames Bild ab, als sie in ihrem offenen Wagen, der ihre Ausrüstung kaum fassen konnte, mit zehn Meilen pro Stunde einen Hügel hinaufrumpelten. Garrads Hände umklammerten das Steuer so fest, als befände er sich nicht auf einer Landstraße, sondern blicke auf der Rennstrecke von Le Mans dem Tod direkt ins Auge. Garrad war nicht groß, aber kräftig. Der lebenslange Genuß von hochprozentigen Getränken und üppigem 6
Essen hatte seine Wangen purpurrot gefärbt. Da Garrad sein ganzes Leben in den entlegensten Winkeln des Britischen Weltreichs verbracht, mit jedem seiner Mitmenschen im Streit gelegen und in jeder Ecke einen Hinterhalt vermutet hatte, waren seine Züge von tiefem Mißtrauen geprägt. Hundefalten zogen sich von Augen und Mund hinab, und seine Augen lugten unglücklich unter den hängenden Lidern hervor. Er wirkte wie jenseits der Fünfzig, obwohl er kaum die Vierzig überschritten hatte. Im Gegensatz zu ihm war Anson in den Dreißigern, sah aber um einiges jünger aus. Er war hochgewachsen, geschmeidig wie ein Athlet und besaß die offenen Gesichtszüge eines Jugendlichen. Seine Haut war blaß, beinahe durchscheinend. In seinen Augen funkelte eine angeborene Neugier auf das Leben. Während Garrad die meiste Zeit damit verbracht hatte, sich aus seiner Umwelt zurückzuziehen, versuchte Anson seit kurzem, wieder zum Leben zu erwachen. Garrad starrte durch seine dicke Autobrille auf die Straße und erblickte das gefürchtete Schild: »Willkommen in Wales.« Er stieß ein Grunzen aus und murmelte etwas in seinen Bart, dessen genauer Wortlaut vom Dröhnen des gequälten Motors verschluckt wurde. »Wollen Sie wirklich nicht, daß ich fahre?« fragte Anson. Im Vergleich zu Garrad wirkte er völlig entspannt und betrachtete seine Umwelt mit der aufrichtigen Freude eines Mannes, der dem Tod sehr nahe gekommen ist und nicht damit gerechnet hat, jemals wieder eine so idyllische Landschaft wie diese zu sehen. Aus den Hecken sprossen Blumen, ein Mauersegler begleitete sie ein Stück, eine Kuh muhte vor sich hin, die Landschaft erstreckte sich vor ihnen bis ins Unendliche … 7
»Nein danke, mir geht es bestens.« Garrad mißbilligte Ansons Angebot. Als vorgesetzter Offizier betrachtete er den Wagen als sein Eigentum und darüber hinaus sich selbst als einzig fähigen Fahrer. »Ich dachte nur, Sie wären vielleicht müde«, ergänzte Anson munter. »Sehe ich etwa so aus?« grollte Garrad. Wollte Anson damit andeuten, daß er alt war? Himmel, er war vielleicht ein wenig älter, aber so alt nun auch wieder nicht! »Nein, nein, nicht im geringsten, ich wollte nur höflich sein«, gab Anson lächelnd zurück. Garrad kaute beleidigt an seinem Schnurrbart. »Außerdem«, bellte er, »hatte ich mir überlegt, daß wir bald anhalten sollten. Können Sie irgendwo auf der Karte dieses erste gottverdammte Dorf entdecken?« Ein zweiter Grund, weshalb Garrad lieber selbst fahren wollte: Nach zwanzig Jahren Dienst für das Britische Weltreich war es ihm noch immer nicht gelungen, auch nur die einfachste Landkarte zu lesen. Während Anson das Entsetzen der Feldschlachten erlebt und beinahe jede verfügbare Auszeichnung erhalten hatte, mit der britische Soldaten geehrt werden konnten, hatte Garrad seinen Weg nach oben durch eine Serie spektakulärer Fehlschläge gemacht. Seine ausgesprochen lästige Persönlichkeit war ihm dabei außerordentlich hilfreich gewesen. Befehlshabende Offiziere versäumten es nie, ihn für einen »geeigneteren Posten« zu empfehlen, der vorzugsweise am anderen Ende der Welt lag. Er war unfähig, Befehle auszuführen. Daher war er in die höheren Ränge befördert worden, wo er weniger Schaden anrichten konnte, weil er nun den Männern unterstand, die wirkliche Entscheidungen trafen, und diese als Befehl wiederum an jene Männer weitergab, die die Entscheidungen 8
letztendlich in die Tat umsetzen mußten. Er war bei weitem zu langweilig, um irgendeinen Posten länger zu bekleiden. Also hatte man ihn kreuz und quer durchs gesamte Britische Empire geschickt. Nach Indien, Afrika, dem Mittleren und Fernen Osten war nur eine Gegend übriggeblieben, in der er noch nicht gedient hatte: Wales. Wales! Schon bei der bloßen Erwähnung dieses Namens stieg ihm die Galle hoch. Eine unbedeutende Region voller Vogelscheuchen und Zigeuner, Bergarbeiter und verkommener Subjekte. Die Straßen waren zerfurcht, die Häuser indiskutabel und die Hügel gespickt mit verdreckten, blökenden Schafen. Die Waliser waren ein Haufen von Schurken und dafür bekannt, daß sie ihre Kinder ebenso wie ihre Gärten verwildern ließen. Man erzählte sich sogar, daß sie die englische Krone verhöhnten. Es war schon schlimm genug, in den entlegenen Gegenden des Weltreichs mit solchen Problemen zu kämpfen, aber dieses Land lag verdammt noch mal direkt vor der englischen Haustür. Die ganze Gegend war nichts als ein peinlicher Schandfleck! Um all dem noch die Krone aufzusetzen, gaben die Eingeborenen vor, eine eigene Sprache zu sprechen, bei der es sich – wie Garrad insgeheim vermutete – um einen deutschen Dialekt handelte. Demzufolge war er sich nicht so sicher, auf welcher Seite ihre Sympathien in dem Großen Krieg lagen, der augenblicklich tobte. Garrad hatte den Eindruck, daß er in ein ausgesprochen hinterhältiges Land kam, dessen Einwohnern man weder trauen konnte noch sollte. Der Wagen erreichte eine Hügelkuppe, von der aus sich ein spektakulärer Blick auf die aufragenden Bergkämme bot. Dann ging es auch schon wieder in schnellerem Tempo bergab. Garrad klammerte sich ans Lenkrad und 9
versuchte herunterzuschalten. Das Getriebe krachte. Anson warf nur einen kurzen Blick auf die Karte und verkündete augenblicklich: »Ich glaube, wir müßten das Dorf bald erreichen.« Er hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als Ffynnon Garw schon vor ihnen auftauchte. Dieser verfluchte Anson, dachte Garrad, muß er denn wirklich jedesmal recht haben? Morgan der Ziegenbock war ein rothaariger Taugenichts, dessen Durst ebenso unstillbar war wie seine Lust. An eben diesem Sonntagmorgen lag er im Bett und betrachtete mit wehmütigem Blick eine Schönheit namens Betty aus Cardiff, die ihre sinnlichen Formen gerade in eine weitere Schicht von Unterröcken zwängte. Er haßte es, wenn sie ihren Körper mit Kleidern verhüllte – es war, als wollte man einen reifen, saftigen Pfirsich in eine Papiertüte packen, anstatt ihn zu essen. Was für eine Verschwendung! Wäre es nach Morgan gegangen, hätte Betty niemals wieder einen Fetzen auf dem Leib getragen oder sein Schlafzimmer verlassen. »Ich werde nicht mehr herkommen«, verkündete Betty. »Sag doch nicht so was«, erwiderte Morgan und versuchte, seinem Gesicht einen engelhaften Ausdruck zu verleihen. »Mein Herz würde brechen.« »Dein was?« »Mein Herz!« »Haha.« »Aber Betty, Liebste«, flötete Morgan. »Deine Liebste? Wenn ich deine Liebste wäre, würdest du mich als deine Frau empfangen – und als deine Partnerin, fifty-fifty.« 10
Genau das hatte Morgan ihr versprochen, als er sie Monate zuvor verführt und sich dann Geld von ihr geliehen hatte. Seit kurzem schien er das allerdings vergessen zu haben. Es war ihr schwer verdientes Geld, und sie wollte verdammt sein, wenn sie Morgan so einfach davonkommen ließ. »Du bist eine harte Frau«, seufzte Morgan. Im Laufe der Jahre hatte er vielen leichtgläubigen Frauen übereilte Versprechungen gemacht. Warum nahm Betty das alles nur so persönlich? Ein herankommendes Motorgeräusch lenkte sie von einer Antwort ab. Sie nahm an, daß es der Wagen war, der sie abholen sollte »Er kommt heute früh«, bemerkte sie. Morgan war plötzlich froh sie loszuwerden. Schließlich kann man auch einer noch so schöner Sache einmal überdrüssig werden. Dieser Wagen kam allerdings nicht, um Betty abzuholen. Bei der Ankömmlingen handelte es sich um niemand anderen als Garrad und Anson. Wenn das Dorf überhaupt ein Zentrum besaß, dann waren sie hier genau richtig. Sie hielten an einem kleinen Platz, der von einer Kirche, der Versammlungshalle der Bergarbeiter, einem Gasthof mehreren Häusern und einer Polizeiwache eingerahmt wurde. An einem Fahnenmast in der Mitte des Platzes flatterte der Union Jack. Diese Flagge – die Flagge des Königs, die Flagge des Empire, sein Flagge – und die Polizeiwache gaben Garrad ein gewisses Gefühl der Zuversicht. Er blieb im Auto sitzen und wartete, während Anson zum Gasthof ging. Garrad würde sich nicht aus seinem bequemen Fahrersitz erheben, bevor er nicht genau wußte, daß dieses Lokal geöffnet war. Er erweckte gern den 11
Eindruck, als spürte er bei warmem Wetter seine Kriegsverletzungen, doch die einzige Verwundung, die er sich während seiner gesamten Laufbahn zugezogen hatte, war wenig ruhmvoll. Er hatte sich mit seinem eigenen Paradeschwert durchbohrt, als er nach einer gindurchtränkten Nacht voller Glücksspiele die Stufen eines Restaurants in Bombay hinuntergetaumelt war. Anson blieb stehen, um einen Blick auf den Hügel zu werfen, der hinter dem Pub zu sehen war. Er dachte, daß dies wohl der erste Hügel sein mußte, den sie vermessen würden. Er konnte es kaum erwarten, sich wieder in der frischen Luft zu bewegen. Aus der Kirche drang der Gesang eines Chores. Garrad überlief ein Schauer. Sie sangen walisisch, die Töne klangen überaus fremdartig und schrecklich traurig. »Na los, Anson! Wir wollen doch nicht den ganzen Tag hier verbringen!« Anson erwachte aus seinen Tagträumen – der Hügel sah im Morgenlicht so hübsch aus, die Sonne tanzte über das Heidekraut – und klopfte an die Tür des Pubs. Garrad runzelte die Stirn, als er das Schild entdeckte. »Yr Fflynnon«, schon wieder diese Sprache! »Inhaber M. Morgan, Lizenz für den Verkauf von Wein, Spirituosen und Tabak.« Na ja, zumindest war der wichtige Teil in Englisch gehalten. Anson klopfte erneut. Im oberen Stockwerk richtete Betty gerade ihr Haar, als Anson so beharrlich an die Tür pochte. »Sag ihm, ich komme, so schnell ich kann.« Morgan schob die Decke beiseite, ging träge ans Fenster und stieß es auf. Zwei unbekannte Gesichter starrten zu ihm herauf. Ohne zu überlegen, sprach er sie auf walisisch an und verfluchte die Fremden, die ihn an einem Sonntagmorgen zu einer Zeit störten, in der jeder 12
anständige, gottesfürchtige Mensch in der Kirche saß. Reginald Anson warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Einen Moment lang erkannte er Morgans Worte gar nicht als Sprache, bevor er dann langsam und betont deutlich fragte: »Entschuldigen – Sie – bitte, – aber – spricht – hier – jemand – Englisch?« »Verfluchtes Englisch!« schimpfte Morgan auf walisisch, dann rang er sich ein Lächeln ab und fuhr auf englisch fort. »Oh, Sie sind Engländer? Das erklärt alles. Die sind alle in der Kirche, ist doch Sonntag.« »Ja«, sagte Anson, »wir wissen, daß heute Sonntag ist, aber wir haben uns gefragt …« Er verstummte, da Morgan der Ziegenbock das Fenster zugeknallt hatte und verschwunden war. Morgan bestätigte jedes einzelne Vorurteil, das Garrad mit sich herumtrug: ein halbnackter, rotmähniger, deutsch sprechender Geistesschwacher mit dem Benehmen eines heidnischen Affen. »Wirklich charmant«, bemerkte er. »Was halten Sie davon, wenn wir weiterfahren?« Anson wollte gerade wieder ins Auto steigen, als sich die Pubtür öffnete und Morgan hinausstolperte. Er war im Begriff, ein Hemd überzuziehen, das schon bessere Tage gesehen hatte. In einer Hand schwang er einen Bierkrug. »Und?« fragte Morgan. »Wollen Sie nun reinkommen oder nicht?« Als Garrad das alkoholische Getränk in der Hand von Morgan dem Ziegenbock erblickte, entschied er auf der Stelle, daß er für diesen Tag eigentlich genug gefahren war. Er stieg aus dem Wagen und hinkte in das Pub, so schnell ihn seine gichtigen Beine trugen. Wie ungewöhnlich, dachte Anson, während er Morgan 13
und Garrad mit ungläubigem Blick folgte. Gerade hatten sie einander noch voller Mißtrauen beäugt, und nun waren sie in der internationalen Bruderschaft des Alkohols vereinigt. Kopfschüttelnd machte er sich daran, ihren Gepäckberg auszuladen. *** Wie Morgan gesagt hatte, waren die gottesfürchtigen Gemeindemitglieder in der Kirche – somit alle außer Morgan dem Ziegenbock und dem örtlichen Polizeisergeanten, dessen Aufgabe darin bestand, den Bezirk vor der Invasion zu schützen, während der Rest des Dorfes ins Gebet vertieft war. Gesang erfüllte die Luft – und der Geruch von Mottenkugeln, die großzügig verwendet wurden, um die Sonntagskleidung zu schützen. Als die Hymne beendet war, setzte sich die Gemeinde vorsichtig hin, um Knitterfalten zu vermeiden, und machte sich auf das Schlimmste gefaßt, als Reverend Jones die Kanzel betrat und die mächtige Bibel aufschlug, um seinen Predigttext zu suchen. Bevor er begann, bedachte er die versammelte Menge mit einem so durchdringenden Blick, als kenne er jede einzelne ihrer Sünden. Obwohl bereits ein älterer Mann mit wäßrigen Augen, war der Reverend eine ehrfurchtgebietende Erscheinung. Sein zerbrechlicher Körper konnte ein wahres Tigergebrüll hervorbringen. Aus den Tiefen seines Gedächtnisses kramte er Predigten heraus, die selbst die frömmsten Zuhörer erzittern ließen. Der Reverend galt als das eigentliche Oberhaupt des Dorfes. Auch während der Woche reiste er kreuz und quer durch seine kleine Gemeinde im eifrigen Bemühen, moralische Erbauung zu 14
spenden. Seinem scharfen Adlerauge entging nichts. Und da er die Dorfbewohner schon an sechs Tagen in der Woche besuchte, war es am siebten Tag an ihnen, zu ihm zu kommen und ihm ihre Achtung zu erweisen, morgens und abends. »Oh, die Waffen der Sünder sollen zerbrochen werden!« setzte der Reverend mit einem Zitat aus dem Alten Testament an. Er liebte das Alte Testament, weil es so viel saft- und kraftvoller war als der neumodische Kram mit seinem ganzen Gerede von Liebe und Vergebung. Für den Fall, daß seine Gemeinde den Worten nicht genügend Beachtung schenkte, wiederholte er sie noch einmal und betonte jede Silbe mit einem Schlag auf die Bibel, der einem jugendlichen Holzfäller zur Ehre gereicht hätte. Dadurch erregte der Hirte die Aufmerksamkeit seiner Schäfchen. Dann starrte er wieder schweigend auf sie hinunter. Was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Seitdem die meisten jungen Männer in den Krieg gezogen waren, vermerkte er einen starken Zuwachs an unverheirateten Müttern mit rothaarigen Babies. Reverend Jones zweifelte keine Sekunde daran, wer der Vater dieser illegitimen Schar war, und so predigte er Woche um Woche gegen Morgan den Ziegenbock – und gegen den Krieg in Deutschland (obwohl er Morgan natürlich niemals namentlich erwähnte). »Nun gut, die Waffen der Sünder sollen zerbrochen werden«, er senkte den Kopf und blitzte sie unter seinen buschigen Augenbrauen an. Dies war sein furchterregendster Gesichtsausdruck. Erwachsene männliche Gemeindemitglieder erzitterten. Kinder verkrochen sich in den Armen ihrer Mütter. Selbst die Kirchenbänke schienen vor ihm zurückzuweichen. Mit diesem Blick hätte er einen wütenden Stier gebremst. 15
»Wäre es nicht wunderbar, wenn alle Deutschen auf den Schlachtfeldern Frankreichs zu finden wären, gut sichtbar, gut zu bekämpfen, einfach so?« Für einen Moment wurde sein Gesicht weich, und er lächelte sanft, dann ging er urplötzlich zum Überraschungsangriff über, brüllte sein Publikum an und pochte mit knöchernem Finger auf die Kanzel: »Aber! Das ist nicht der Fall! Einige von ihnen sind hier, in eben diesem Dorf!« Er deutete mit einem arthritischen Finger auf ein Fenster in der Südwand der Kirche, hinter dem sich – für jeden sichtbar – Morgans Pub befand. Für den Reverend waren alle Pubs – und ganz besonders Morgans Etablissement – das Werk des Teufels. Hätte man ihn unter Druck gesetzt (was kaum einer wagte), so hätte er wohl oder übel zugeben müssen, daß Alkohol an verschiedenen Stellen in der Bibel erwähnt wurde und daß selbst der heilige Paulus ein gutes Wort dafür eingelegt hatte. Andererseits konnte der Reverend damit kontern, daß er schon so viele Männer gesehen hatte, die am Alkohol zugrunde gegangen waren. Es gab einfach nichts, was für das Trinken sprach. Schlimmer noch traf ihn das Schicksal der Familien, die hungern mußten, weil das Haushaltsgeld im Pub verpulvert worden war. Am allerschlimmsten war jedoch die Zügellosigkeit, in die betrunkene Menschen verfielen, wenn sie die Kontrolle über sich verloren. Hätte der Reverend bei Gott einen Wunsch freigehabt, wäre es die Bitte um einen Blitzschlag gewesen, der Morgan samt seiner Kneipe treffen möge. *** Anson stolperte mit dem Gepäck durch die niedrige Tür und mußte feststellen, daß Garrad es sich bereits mit 16
einem Gin Tonic an der Bar bequem gemacht hatte. »Und Sie?« »Wie bitte?« Morgan sprach langsam und deutlich. »Was möchten Sie trinken?« Das war doch nicht so schwer. Dieser Engländer schien von der beschränkten Sorte zu sein. »Oh!« Anson setzte mühsam einige schwere Gegenstände ab, während Garrad keinen Finger rührte. »Mir war gar nicht bewußt, daß man in Wales am Sonntag trinken darf.« Morgan verdrehte die Augen und ahmte Ansons affektierte Grammatik nach. »Nun ja, man darf es nicht, aber Sie sind mein Gast. Was möchten Sie?« Anson wischte sich den Schweiß von der Stirn, die Meßgeräte waren alles andere als leicht. »Nun, in dem Fall hätte ich gern einen Krug Bitter.« »Kommt sofort«, sagte Morgan und begann zu zapfen, als plötzlich eine Stimme aus dem oberen Stockwerk drang. »Morgan!« Morgan hielt inne und stürmte wortlos eine klapprige Wendeltreppe hinauf. Anson starrte auf sein halbgezapftes Bier. Na ja, Morgan würde wohl jeden Moment zurückkommen … Als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, schaute er sich um. Niedrige Eichenbalken stützten eine unebene, rauchgeschwärzte Decke. Der Fliesenboden war nicht gerade sauber, aber auch nicht richtig schmutzig. Auf den derben Bänken und Tischen standen zumeist noch die Überreste vom vergangenen Abend. Von der Bar führten drei Stufen in einen kleineren Raum mit einem großen 17
Kamin und bequemen Stühlen. Zwei Fenster gingen auf den Dorfplatz hinaus, das dritte gestattete einen Blick in einen verwilderten Garten mit einem Dickicht aus Wildblumen. Anson erschien es friedlich, fast bezaubernd. »Eigentlich ganz schön hier«, bemerkte er. »Kann schon sein«, gab Garrad zurück und kippte seinen Gin hinunter. »Zumindest für walisische Verhältnisse.« Morgan tauchte wieder auf, und Anson sah das Bier bereits vor seinem geistigen Auge. Morgan rannte jedoch zur Kasse und riß einige Geldscheine heraus, wobei er erklärte, oben warte »ein besonders geschätzter Stammgast«. Ohne ein weiteres Wort rauschte er wieder hinaus. Langsam wurde Anson sehr, sehr durstig. Betty war inzwischen ausgesprochen sauer. Mitten in ihrer Auseinandersetzung über das Geld, das Morgan ihr schuldete, war er verschwunden, um Fremde in sein Haus zu lassen. Natürlich hatte er sofort mit ihnen getrunken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als wie eine ordinäre Schlampe nach ihm zu brüllen. Und nach einer ausgedehnten Schimpftirade wagte er es nun tatsächlich, mit einigen lächerlichen Scheinen zu ihr zu kommen. »Eine kleine Anzahlung, damit du über die Runden kommst«, sagte er und streichelte ihren Hintern. »Du warst dein Geld wirklich wert, Süße.« Was wollte er damit andeuten? »Du Schwein!« setzte sie an, beschloß dann aber, ihn am besten hier und jetzt mit der Bettpfanne zu verprügeln. Sie griff danach und holte aus. Morgan duckte sich, und eine Blumenvase ging krachend zu Bruch. »Nun komm schon, Schatz«, sagte Morgan. »Du könntest dir weh tun.« »Mir wehtun? Ich werde dir verdammt noch mal 18
wehtun!« keifte Betty, holte erneut aus und fegte ein Bild von der Wand. Unten harrten Anson und Garrad schweigend der Dinge, die da kommen sollten, und lauschten peinlich berührt dem über ihnen in walisischer Sprache tobenden Kampf. Sie waren bei weitem zu höflich und zu englisch, um über das Gehörte auch nur ein Wort zu verlieren. Statt dessen sahen sie sich im Zimmer um und suchten nach irgendeinem Gesprächsthema. Das war schwierig, da die Stimmen über ihren Köpfen beständig anschwollen und das Kampfgetöse immer lauter wurde. Die Spannung ließ nach, als ein Auto vor der Tür hielt und hupte. Anson war dankbar für die Gelegenheit, endlich etwas sagen zu können. »Scheint ein geschäftiger Ort zu sein«, bemerkte er. »So kann man es auch ausdrücken«, gab Garrad zur Antwort und nutzte Morgans Abwesenheit, um sich noch einen Gin zu genehmigen. Morgan kam hinkend die Treppe herunter und befingerte eine Beule auf seiner Stirn. »Wo war ich stehengeblieben?« fragte er, bevor sein Blick auf das halbgezapfte Glas fiel. »Ach, stimmt ja.« Er nahm das Glas und füllte es mit zwei heftigen Zügen am Zapfhahn bis zum Rand. Anson war seit geraumer Zeit über diesem Bier in Meditation versunken. Er war bereits durstig angekommen und hatte eine Menge Zeit gehabt, sich auf den Duft und die Kühle zu freuen. Nun stand er kurz davor, seinen Durst zu stillen … doch Morgan, der noch ganz mitgenommen war von seinem Kampf mit Betty, machte sich tatsächlich daran, das Bier selbst zu trinken. Voller Entsetzen sah Anson zu, wie Morgan sein Bier in wenigen, schnellen Schlucken hinunterstürzte. 19
»Entschuldigen Sie!« rief Anson, wurde aber durch Betty unterbrochen, die die Treppe herunterstürmte und Morgans Geld auf die Theke knallte. Anson wollte sich schon mit der jungen Dame bekannt machen, entschied dann aber, daß dies wohl nicht der rechte Zeitpunkt war. Sie durchbohrte Morgan mit einem Blick, der Medusa alle Ehre gemacht hätte. »Du kannst dir dein Geld in den …« zischte sie und konnte sich gerade noch bremsen, bevor ihr der wenig damenhafte Ausdruck entschlüpfte. Sie warf Morgan einen letzten giftigen Blick zu, drehte sich auf dem Absatz um und rauschte aus dem Zimmer. Heftig schlug sie die Tür hinter sich zu. Draußen auf dem Dorfplatz wartete ein Wagen mit Chauffeur. »Hatten Sie ein schönes Wochenende?« fragte er. »Dieser verdammte Morgan!« antwortete Betty und drängte den Chauffeur, schnell loszufahren, da sie den unwiderstehlichen Drang verspürte, ins Pub zurückzugehen und Morgan das Genick zu brechen. Anson und Garrad, Engländer bis ins Tiefste ihrer Seele, konnten weder sich noch Morgan in die Augen sehen. Sie waren nicht in der Lage, mit intimen Gefühlsausbrüchen fertigzuwerden, und somit der Überzeugung, daß sie den Zwischenfall mit Betty einfach nur ignorieren und verschweigen mußten, um ihn ungeschehen zu machen. Morgan hatte die Sache schon verdaut, als er die peinlich berührten Blicke seiner englischen Gäste bemerkte. »Sie kommt jedes Wochenende aus Cardiff wegen der Bergluft, sie hat es nämlich an der Lunge.« Er log das Blaue vom Himmel herunter, was ihm keineswegs schwerfiel. 20
»Den ganzen Weg von Cardiff her? Nur fürs Wochenende? Wie ungewöhnlich.« Dies war Garrads Art, höflich anzudeuten, daß er Morgan für einen Lügner hielt. Morgan entging der subtile Unterton. »Na ja«, grinste er und steckte das Geld wieder ein, das Betty als Rate für die Tilgung seiner Schulden verschmäht hatte. »Wenn Geld kein Thema ist …« Das klang ja alles sehr interessant, aber Ansons Durst steigerte sich ins Unerträgliche, und er wurde langsam ärgerlich. »Ich hätte jetzt wirklich gern einen Krug Bier!« Die Worte klangen heftiger als beabsichtigt. Diesen Ton hatte er sich angeeignet, seit er als Invalide aus dem Krieg zurückgekehrt war. »Ruhig«, beschwichtigte ihn Morgan ein wenig gekränkt. »Nun seien Sie doch nicht so englisch!« Er begann sofort, für Anson ein neues Bier zu zapfen. Nun seien Sie doch nicht so englisch! Garrad wollte gerade auf diese Diffamierung seines Nationalcharakters antworten, als die Tür aufging und der örtliche Polizeisergeant hereinkam. Garrad wußte nur zu genau, daß er strenggenommen gegen das Gesetz verstieß, wenn er an einem Sonntag Alkohol trank. Er hustete, als er sich an seinem Gin verschluckte. Im Grunde war er ein entsetzlicher Feigling. Dann riß er sich zusammen, setzte seine autoritärste Miene auf oder das, was er dafür hielt – und lächelte den Polizisten an, der ihn bis zu diesem Augenblick noch gar nicht bemerkt hatte. Der stämmige Sergeant plumpste auf einen Barhocker. Auf der Suche nach einem streunenden Hund, der angeblich Schafe jagte, war er bis zu den Kleingärten am Fluß entlanggeschlendert. Zweimal hatte er etwas gesehen, aber es war ihm entwischt. Für ein Wettrennen war es an 21
diesem Morgen ohnehin zu heiß. Er nahm den verschwitzten Helm ab und enthüllte einen roten Striemen, der sich quer über seine Stirn zog. Der Sergeant stieß einen Seufzer aus. »Mein Gott, wie ich den Sommer hasse.« Erst jetzt bemerkte er die beiden Fremden. Garrad fühlte die Verpflichtung, sich und seinen Begleiter offiziell vorzustellen und gleichzeitig eine Erklärung für seinen Alkoholgenuß zu liefen. Mit großer Geste sagte er: »Guten Morgen, George Garrad mein Name, und dies ist mein Assistent, Reginald Anson. Ich schätze, der Wirt kann bestätigen, daß wir seine Gäste sind.« Sergeant Thomas interessierte sich nicht die Bohne dafür. Was ihn betraf, so hatte man die Gesetze, die den Alkoholausschank regelten, einzig und allein für England und die Engländer erfunden. Allein ihnen schien der Alkohol etwas auszumachen, während die Waliser, Schotten und Iren den ganzen Tag trinken konnten, ohne darunter zu leiden. Er bemerkte Garrads Akzent und seine lächerliche Kleidung. »Sie sind aus England?« fragte er mit einem verschlagenen Grinsen. Anson lächelte zurück. »Ja, in der Tat.« Sein Lächeln verschwand, als er sah, wie Morgan dem Sergeanten ein Bier reichte. Das konnte doch nur sein Bier sein! Würde er denn niemals etwas zu trinken bekommen? Der Sergeant warf einen Blick auf ihren Gepäckberg und entdeckte zwei gestreifte Meßlatten, die aus dem Durcheinander von Koffern herausragten. »Sie sind also Landvermesser?« »Nein, eigentlich sind wir Kartographen«, erwiderte Garrad herablassend. Garrad sollte sich doch nennen, wie er wollte, aber der 22
Sergeant kannte diesen Typ Engländer gut genug, um zu wissen, daß er sich nur für eines interessierte. »Suchen wohl wieder mal nach Kohle, was?« Garrad berichtigte ihn. »Nein, wir sind Kartenzeichner.« Anson wollte Morgan fragen, wo zur Hölle sein Bier blieb, doch der Wirt hatte sich entfernt und sammelte die schmutzigen Gläser der vergangenen Nacht ein. Es war außerdem nicht leicht, den Sergeanten und Garrad zu unterbrechen. »Kartenzeichner?« Der Sergeant war ehrlich überrascht. Wer brauchte denn eine Karte von diesem Dorf? Es gab nur eine Handvoll Straßen, und selbst er hätte in wenigen Minuten eine Karte zeichnen können. Garrad fuhr ungerührt fort. »Wir sind hergekommen, um die Berge zu vermessen.« Der Polizist grinste. Was würde diesen Engländern bloß als nächstes einfallen? »Ist bestimmt sehr nützlich«, sagte er und nahm noch einen Schluck. Garrad gefiel der Ton des Polizisten ganz und gar nicht. Er wollte verdammt sein, wenn so ein Dorfbulle ihm und dem Werk des Britischen Weltreichs dumm kommen könnte. »Ich werde Ihnen das schon erklären, denn es ist ein wichtiger Bestandteil der Kriegsanstrengungen.« Er richtete sich auf seinem Hocker auf und warf sich in die Brust. Dann wiederholte er den Spruch, den ihm sein vorgesetzter Offizier eingehämmert hatte. »Man muß schließlich sein Terrain kennen.« Morgan fiel ihm ins Wort. »Gut, dann sind Sie hier genau richtig, denn Terrain haben wir mehr als genug.« Er deutete durch das hintere Fenster des Pubs auf den Hügel, den Anson schon früher bemerkt hatte. »Das ist der erste Berg in Wales«, verkündete Morgan voller Stolz. Sie gingen alle näher ans Fenster, um einen besseren 23
Blick nach draußen zu haben. »Was meinen Sie damit: der erste Berg in Wales?« fragte Garrad. »Naja, wenn man wie Sie aus England kommt …« begann Morgan. »Oder von der Küste …« fuhr der Sergeant fort. »Dann ist dies der erste Berg, auf den Sie treffen«, vollendete Morgan den Satz. »Wenn Sie den sehen, wissen Sie, daß Sie in Wales sind.« Wie absurd, dachte Garrad, das ist doch nur ein kleiner Hügel. »Wie heißt er denn?« fragte Anson, der ihn auch vergleichsweise klein, aber doch recht hübsch fand. »Ffynnon Garw«, erwiderten Morgan und der Sergeant wie aus einem Mund. »Guter Gott!« stieß Garrad hervor. »Diese walisischen Namen! Könnten Sie das noch einmal wiederholen?« Er war überzeugt, daß es sich nur um einen Witz handeln konnte. »Ffyn-non Gar-w«, kam der Sergeant seinem Wunsch nach. »Ich schreibe es Ihnen auf, damit Sie es auch richtig eintragen.« Garrad schnaubte. »Er wird natürlich nur auf den Karten erscheinen, wenn er über tausend Fuß hoch ist.« Morgan sah ihn an, als hätte sein Gegenüber den Verstand verloren. »Seien Sie doch nicht twp, sicher ist er über tausend Fuß hoch.« Anson und Garrad tauschten zweifelnde Blicke. Aber sie mußten der Sache ja nicht vorgreifen. Morgan ging an die Bar. Als sein Blick auf das leere Glas des Polizisten fiel, fragte er: »Noch ein Glas für Sie, Mr. Anson?« 24
*** Von der Kirche drangen die Schlußakkorde der letzten Hymne des Sonntagsgottesdienstes zum Pub herüber. Also hatte Sergeant Thomas gerade noch Zeit, ein weiteres Bier zu trinken, bevor er sich wieder seinen Pflichten widmen und den Anschein erwecken mußte, als hätte er die ganze Zeit hart gearbeitet, um das Dorf zu beschützen. Er wollte unbedingt vor der Kirche stehen, wenn die Gemeinde herauskam. Schließlich mußte er doch die Neuigkeiten überbringen. »Die Engländer sind im Pub, sie wollen den Berg vermessen,« berichtete er Megan Evans. »Hab’ sie mit eigenen Augen gesehen, es sind zwei, sie haben auch Meßgeräte mitgebracht«, erzählte er Davies dem Lehrer. »Sagen, sie vermessen alles für den Krieg«, erfuhr Thomas der Zug. Und Megan Evans erzählte es Blodwyn Davies, die es Branwen Jones berichtete, während Davies der Lehrer es zu Reverend Jones weitertrug, der es Jones von der Post sagte. Thomas der Zug teilte es Williams der Zapfsäule mit, der es an Thomas Twp weitergab. Dieser ging nach Hause, um es seinem Bruder zu erzählen. Keine Stunde später wußten jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Umkreis von fünf Meilen genauestens Bescheid über die beiden Engländer, das Auto, in dem sie hergekommen waren, und die Ausrüstung, die sie mitgebracht hatten. Außerdem erfuhren sie die höchst wichtige Tatsache, daß Garrad Gin bevorzugte, während Anson lieber Bier trank. Beide Männer hatten irgendwie mit der Armee zu tun, trugen aber keine Uniform. Der größte Teil des Klatsches betraf jedoch den Grund 25
ihres Besuches im Dorf: Sie waren hergekommen, um ihren Berg zu vermessen, den ersten Berg in Wales. Der erste Berg in Wales? hatte Garrad gefragt, was sein gutes Recht war. Doch diese Bezeichnung war eine uralte Dorftradition. Seit undenklichen Zeiten hatten die Bewohner dieses Recht für sich beansprucht. Sie konnten nicht damit prahlen, inmitten der höchsten Berge zu leben, denn die lagen weiter nördlich. Auch wirkten ihre Berge nicht so malerisch wie die im mittleren Teil des Landes. Doch sie waren stolz darauf, am Fuße des ersten Berges diesseits der Grenze zu leben. Und während sie den Ruf des Berges begründeten, hatte dieser Berg wiederum sie geprägt. Noch vor einigen Jahrhunderten hätte Morgan der Ziegenbock Anson und Garrad mit einem ordentlichen Schwerthieb begrüßt. In unseren zivilisierteren Zeiten hatte er sie statt dessen mit Bier und Gin in die Knie gezwungen. Die Strategie des Angriffs mochte anders sein, doch die Absichten blieben die gleichen. Das uralte Land Wales war zu einem englischen Fürstentum geworden, und die historischen Fronten hatten sich in bürokratisch gezogene Linien auf einer Landkarte verwandelt. Wenn auch die Grenze nicht länger politischer Natur war, so stellte sie dennoch einen tiefen, kaum überbrückbaren Spalt dar. Bis zu diesem Tag kann man die Straße entlangfahren, auf der Anson und Garrad damals herkamen, und man wird feststellen, daß die Menschen so lange englisch sprechen, bis die Hügel beginnen. Mit ihnen kehrt auch die tiefverwurzelte britische Sprache zurück: das Walisische. Bereits nach wenigen Meilen verändert sich das Aussehen der Bewohner. Blonde Sachsen weichen schwarz- oder rothaarigen Kelten. Auch die Vegetation ist plötzlich anders – statt Eichen und Sykomoren findet man 26
nun Birken und Bergeschen. Die robusten Kriechgewächse der walisischen Hügel verdrängen die üppigen Wiesen der englischen Grafschaften nahe der Grenze. Man kann nicht an der Grenze leben und dabei neutral bleiben: Entweder gehört man dem einen oder dem anderen Volksstamm an, ist Engländer oder Waliser. Der Hügel, den Garrad mit seinem vorurteilsbeladenen Blick betrachtete, kann als Ausläufer des englischen Flachlandes oder eben als erster Berg in Wales gesehen werden. Die Menschen von Ffynnon Garw hatten ihre Entscheidung bereits vor Jahrhunderten getroffen und blieben eisern dabei: Sie waren Waliser, dies war Wales, und das da drüben war und würde für immer der erste Berg in Wales sein. Während die überwiegende Mehrheit der Einheimischen im Tal lebte, trotzten einige von ihnen den steilen Abhängen der Hügel und Berge ringsum. Im näheren Umkreis des Dorfes gab es ungefähr ein Dutzend Bauernhöfe, die sich wie alte, verfärbte Zähne in die Kiefer der unwirtlichen Grate bohrten. Deshalb bestanden diese Höfe aus robusten, zweckmäßigen Gebäuden, die den schlimmsten Winterstürmen widerstehen mußten, die mit aller Macht vom Atlantik her bliesen. In einem dieser Bauernhäuser hielten zwei ältere Brüder den Blick starr auf den Berg gerichtet. Sie waren die Zwillingssöhne eines verstorbenen Ehepaares, Mavis und Thomas Jones, die reizend, aber ein bißchen verrückt und von einfachem Gemüt gewesen waren. Oder, wie man in Wales sagt, ein weniger twp. Für diese Eltern war es schon schwierig gewesen, einen Namen für ein Kind zu finden, geschweige denn für zwei. 27
Die Geburt der Zwillinge traf sie daher völlig unvorbereitet. Mit dem üblichen Mangel an Phantasie hatten sie den einen Sohn David Thomas, den anderen Thomas David genannt. Leider waren sie nicht in der Lage, die beiden auseinanderzuhalten. Manchmal hießen beide David, dann wieder Thomas. Schließlich beschlossen die Eltern, daß ihnen Thomas besser gefiel als David, und so waren die beiden inzwischen etwas älteren Jungen im ganzen Umkreis als Thomas Twp und Thomas Twp Zwo bekannt. Die Brüder bauten ein wenig Getreide an und besaßen eine kleine Herde Kühe, doch ihr Hauptgeschäft war die Schafzucht. Sie hätten zwar nicht sagen können, wie groß ihr Landbesitz war, kannten aber jeden Zentimeter davon wie ihre Westentasche. Tag und Nacht durchstreiften sie die Gegend von Ffynnon Garw, weil das ganze Jahr über ihre Herde dort weidete. Thomas Twp saß am Kaminfeuer und blickte zur Tür hinüber, wo sein Bruder Thomas Twp Zwo stand. Obwohl die Kühe zu verstehen gaben, daß sie gemolken werden mußten, rührte sich keiner der beiden von der Stelle. Sie waren wie gelähmt von den Fragen und Problemen, die die Ankunft der Engländer aufgeworfen hatte. »Ich kann mir das einfach nicht vorstellen«, sagte Thomas Twp. »Wie wollen sie ihn denn vermessen?« »Und was fangen sie mit dem Ergebnis an, wenn sie ihn vermessen haben?« fragte Thomas Twp Zwo. »Ja, das ist wirklich eine Frage«, antwortete Thomas Twp. Sie starrten weiter zum Berg hinüber, tief in Gedanken versunken. Schließlich brach Thomas Twp erneut das Schweigen. 28
»Die Engländer kommen nur her, wenn sie etwas wollen.« Zu eben diesem Schluß war auch Reverend Jones gelangt, als er heimwärts zu seinem kleinen, spartanisch eingerichteten Cottage schritt. In seinem langen Leben hatte er mit angesehen, wie die Engländer wegen der walisischen Kohle, der walisischen Steuern und der walisischen Soldaten, die dann in ihrem Krieg gegen die Deutschen kämpfen sollten, hergekommen waren. Für ihn gab es Wichtigeres als die Engländer und den Krieg, den sie gegen ihre europäischen Verwandten austrugen. In seinen Augen waren die Engländer ohnehin Deutsche. Woher waren die Sachsen denn gekommen, bevor sie auf den britischen Inseln eingefallen waren? Und nun starteten diese Barbaren die nächste Invasion, um den Berg zu vermessen, den Berg des Dorfes, seinen Berg. Während sich die Twps mit der Frage nach dem Wie beschäftigten, war Reverend Jones weit mehr an dem großen Warum interessiert. Er dachte an die Grundlagen und Methoden der Kartographie. Harmlos waren eigentlich nur jene Landkarten, die einem helfen sollten, den Weg von einem Ort zum anderen zu finden. Diese besaßen die Engländer bereits – wie sonst hätten sie herfinden sollen? Nein, solche Karten brauchten sie nicht mehr. Je länger der Reverend darüber nachdachte, desto weniger war er davon überzeugt, daß diese neuen Karten menschenfreundlichen Zwecken dienen sollten. Landkarten legten die Grenzen von Besitz fest, was nach Ansicht des Reverends stets den Besitzenden zugute kam. Außerdem zeichnete man Karten, um die Steuerbelastung für Landbesitz zu errechnen. Landkarten zogen Grenzen und gewannen in Kriegszeiten daher enorm an Bedeutung. 29
Zudem hatte er gehört, daß diese Herren von der amtlichen Landesaufnahme Seiner Majestät kamen. Die Sache mit der »Majestät« und der militärische Charakter dieser Organisation gefielen dem Reverend ganz und gar nicht. Ging es vielleicht darum, Minen zu legen und Schützengräben auszuheben? Sein Mißtrauen wuchs mit jeder Minute. Anson und Garrad hatten keinen blassen Schimmer von der Kontroverse, die durch sie entstanden war, und dösten friedlich im Garten des Pubs vor sich hin. Morgan hatte ihnen ein karges Mittagessen mit Brot und Käse serviert, garniert mit frischem Salat, den er aus dem Gemüsegarten eines Nachbarn stibitzt hatte. Zwar war das Essen eher mager ausgefallen, doch hatte Morgan die beiden Gäste danach mit seinem stärksten Bier abgefüllt. Garrad schnarchte in einer Hängematte, während Anson in einem alten Korbstuhl schlief. »Kann ich den Herren sonst noch etwas bringen?« fragte Morgan, als er sie aufweckte, um ihnen einen weiteren Krug mit dunklem, trübem Ale anzubieten. Garrad schreckte in die Höhe, da er sich für einen Moment wieder in Indien wähnte. »Guter Gott, nein!« Zum ersten Mal seit vielen Jahren lehnte er einen Drink ab, aber das walisische Bier und die Sommersonne hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch Anson wachte allmählich auf. Ihm war, als hätte ihn eine große Eiche mitten auf den Kopf getroffen, und er wäre einen felsigen Abhang hinuntergerutscht und läge nun auf dem Trampelpfad unter einer Herde galoppierender Elefanten. »Sehr nett von Ihnen«, stieß er mühsam hervor, »aber ich möchte wirklich nichts.« Morgan ließ das Bier für alle Fälle stehen. »Ich bin dann 30
mal weg«, sagte er. »Der Hund braucht Auslauf. Bitte bedienen Sie sich und warten Sie nicht auf mich. Ich glaube, das wär’s dann …« Er wollte sich eilig davonmachen, doch Garrad fiel etwas ein. »Noch ein Wort, Mr. Morgan. Ich weiß, daß es in diesen Zeiten schwierig ist, kräftige Männer zu finden, aber wir benötigen die Dienste eines Trägers.« »Für unsere Ausrüstung«, erklärte Anson. »Er sollte ziemlich stark sein.« Garrad fuhr fort: »Die amtliche Landesaufnahme Seiner Majestät wird eine Vergütung bewilligen.« Morgan sah ihn verständnislos an. »Vergütung?« Davon hatte er noch nie gehört. »Man bekommt etwas Geld dafür – allerdings nicht besonders viel«, erläuterte Anson. »Oh«, sagte Morgan und dachte angestrengt nach. »Die Männer, die nicht in Frankreich sind, arbeiten unter Tage. Aber da ist noch Johnny mit der Bombenneurose.« Ansons Gesicht verdüsterte sich, denn er kannte den Zustand, in dem manche Männer die Front verlassen hatten, nur allzu gut. Er hatte erlebt, wie Dutzende von ihnen zu stammelnden Idioten geworden waren, nachdem die monatelangen, unaufhörlichen Explosionen schwerer Geschütze ihren Verstand zerstört hatten. »Johnny wer-zum-Teufel?« fragte Garrad. »Johnny mit der Bombenneurose«, wiederholte Morgan noch einmal. »Der arme Kerl ist aus dem Krieg zurückgekommen und hat seither ein Rad ab. Lebt bei seiner Schwester.« »Hm«, murmelte Garrad. »Oh«, fügte Anson hinzu. 31
»Aber er ist stark und brauchbar, solange er nicht reden oder denken muß«, erklärte Morgan. »Könnten wir uns morgen vielleicht mit ihm unterhalten?« schlug Anson vor. »Kein Problem«, gab Morgan zurück. »Wenn das dann alles wäre …« Er gab ihnen nicht die Chance, noch eine weitere Frage zu stellen, und verdrückte sich auf dem schnellsten Weg. Garrad beobachtete den eiligen Rückzug. »Scheint ein ziemlich ungeduldiger Zeitgenosse zu sein, finden Sie nicht auch, Anson?« Anson hatte es gar nicht bemerkt, da er die ganze Zeit an Johnny mit der Bombenneurose denken mußte. Inzwischen dachte Morgan lieber an Johnnys reizende Schwester Blod, deren Armen er entgegeneilte. Es war ihm nun schon einige Monate lang gelungen, sie und Betty unter einen Hut zu bringen. Wie alle Frauen des Dorfes würde auch Blod niemals einen Fuß in das Pub setzen – für sie ein rein männliches Territorium. Betty hingegen kam samstags abends und verbrachte ihre Zeit im Pub, während Morgan dafür sorgte, daß sie sich im Dorf nicht blicken ließ. Wenn Betty eintraf, war Blod gewöhnlich auf dem Markt in Pontypridd, und wenn ihre Rivalin sonntags abreiste, saß Blod gerade in der Kirche. Morgan kam es so vor, tatsächlich das perfekte Lustarrangement entwickelt zu haben. Andererseits war es in Ffynnon Garw kaum möglich, Geheimnisse zu bewahren. Daher hatte Blod alsbald von der feinen Dame aus Cardiff erfahren, die jedes Wochenende »aus gesundheitlichen Gründen« herkam. Man hatte beobachtet, wie sie in einem Wagen mit Chauffeur anreiste. Ihre Kleidung wirkte sehr elegant, sehr 32
großstädtisch. Blods Mißtrauen wurde durch diese Tatsachen etwas beschwichtigt: Was um Himmels Willen sollte eine solche Frau von Morgan dem Ziegenbock wollen? Sie wußte allerdings nur zu genau, was Morgan von einer solchen Frau wollen würde … Blod stellte immer mehr Fragen, und Morgan war sich darüber im klaren, daß ihm die eine oder die andere Frau über kurz oder lang auf die Schliche kommen würde. Stets mußte Morgan neue Entschuldigungen erfinden, warum er sich samstags abends nicht mit Blod treffen konnte. Leider gingen ihm allmählich die Erklärungen aus. Blod kannte Morgan gut genug, um zu wissen, daß er sich wohl kaum mit einem Gast abgeben würde, der »so anspruchsvoll war, daß er die ganze Nacht aufbleiben mußte«. An diesem Abend jedoch hatte er mit seinem Bericht über die Engländer eine gute Ablenkung zur Hand. Abgesehen vom Polizeisergeanten war er der einzige Dorfbewohner, der die Besucher wirklich getroffen hatte. Er nutzte seine privilegierte Stellung nach Strich und Faden aus und beschrieb die Ankunft der Engländer so übertrieben, als hätte die Königin von Saba Einzug gehalten. Mr. Garrad nahm in Morgans theatralischem Bericht eine tragende Rolle ein. Er wurde zu einem höchst wichtigen, aufgeblasenen Einfaltspinsel, der in der Welt herumgekommen war und Morgans Gasthof des Vergleiches mit einigen der angenehmsten Orte, die er kannte, für wert befunden hatte. Anson hatte anscheinend weniger Eindruck hinterlassen. Morgan beschrieb ihn als trockenen Typen, der wahrscheinlich bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr gestillt worden war und bereits nach einem Tag in der Fremde unter Heimweh litt. Dies zum Thema Morgan als 33
Menschenkenner. »Wie lange wollen die bleiben?« fragte Blod. »Nun ja, so lange wie nötig«, erwiderte Morgan, der nicht die geringste Ahnung hatte. »Aber wie lange wird das sein?« »Tage«, antwortete Morgan und fügte mit plötzlichem Optimismus hinzu, »vielleicht auch Wochen.« Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wie sie den Berg vermessen wollten, und dachte in seiner Naivität, bei einem so großen Gegenstand würde es auch entsprechend lange dauern. Morgan freute sich auf einen äußerst lukrativen Sommer. Er hoffte, an diesen Engländern einiges zu verdienen. Wie dieser Garrad den Gin hinunterkippte … Vor seinen Augen tauchte bereits ein netter Gewinn auf. »Wochen?« Blod hatte auch keine Ahnung, wie man Berge vermaß, aber der gesunde Menschenverstand sagte ihr, daß es kaum Wochen dauern konnte, einen einzigen Berg zu vermessen, da es sonst wohl auf der ganzen Welt noch keine Landkarte geben würde. Morgan wich ihrer Frage aus. Er wollte gern gebildet erscheinen, besonders, da sie eine Frau war, und wechselte daher das Thema. »Ich glaube, ich könnte Johnny einen Job bei den Engländern besorgen.« »Johnny? Einen Job?« Sie schien nicht allzu erfreut zu sein. Johnny war noch nicht so weit. »Er muß einfach nur …« Doch Blod unterbrach ihn. »Darüber sprechen wir morgen früh.« ***
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Im Morgengrauen wurde Anson von einem vertrauten Geräusch geweckt: Männer in Nagelstiefeln marschierten durch die Straßen. Als er aufstand und aus dem Fenster sah, stellte er fest, daß es keine Soldaten waren, sondern Bergarbeiter, die von der Nachtschicht heimkehrten. Sie waren alle bedeckt mit dem gleichen steinschwarzen Staub. Ihre Augen stachen aus den Gesichtern hervor wie die der schwarzgeschminkten Künstler im Variete. Nur ihre Lippen waren sauber und wirkten seltsam feminin, als wären sie mit glänzendem Rouge gefärbt. Er versuchte weiterzuschlafen, doch gleich darauf brach ein ohrenbetäubender Lärm los, als alle Hausfrauen gleichzeitig wie verabredet zur Großreinigung ihrer Häuser schritten. Es folgten die Geräusche von Pferden und Wagen, als die Geschäftsleute des Dorfes aufbrachen, um die Waren für den Tag von den umliegenden Bauernhöfen zu holen. Minuten später waren die Straßen voller spielender Kinder. Anson beschloß, sich zu rasieren, und machte sich auf in die Küche, um nach heißem Wasser Ausschau zu halten. Morgans Küche war ein unerfreuliches, wenn auch nicht unerwartetes Chaos. Er selbst war noch nicht zu Hause. Die Asche von den Winterfeuern rieselte durch den Kaminrost. Offene Rechnungen quollen aus einer großen Schale. Abtropfgitter voller ungespülter Bierflaschen, die auf ihre Rückgabe an die Brauerei warteten, verbreiteten einen ekelerregenden Gestank. Sie nahmen den meisten Platz ein. Das einzige Möbelstück war ein großer, niedriger Sessel, dessen Sitz schon Jahre zuvor eingebrochen war. Morgan hatte den Sessel provisorisch mit einem Sack Mehl verkeilt. Nun, Jahre später, stand er noch immer so da. Ansons erste Handlung bestand darin, ein Feuer zu entfachen und sich durch einen Spülstein voller schmutziger Krüge und Teller hindurchzuwühlen. 35
Nach beinahe anderthalb Stunden fortgesetzter Plackerei wirkte der Raum annähernd respektabel. Er wollte sich gerade hinsetzen, um eine Tasse Tee zu trinken, als Garrad hereinkam. »Na, Anson, faulenzen Sie in der Küche herum?« fragte Garrad. »Damit werden Sie aber nicht weit kommen.« »Eine Tasse Tee, George?« konterte Anson, der Garrads Schwächen sehr genau kannte. »Tee wäre nicht schlecht«, erwiderte dieser. »Allerdings wittere ich schon das Frühstück.« Erließ sich in den Sessel fallen. »Ich habe nachgedacht und würde für diesen Morgen einen Fußmarsch zur Besichtigung des Hügels vorschlagen.« »Mit dem Pedometer?« fragte Anson, der am Tag zuvor genau diese Vorgehensweise vorgeschlagen hatte. Aus irgendeinem Grund mußte Garrad solche einfachen Ideen stets für die seinen ausgeben. »Genau«, sagte Garrad. »Und heute nachmittag dann die Barometer. Gibt es hier irgendwo Zucker?« Reverend Jones ging wie üblich um Punkt neun Uhr aus dem Haus. Er war ein Mann mit eisernen Grundsätzen. Aufstehen um sechs Uhr dreißig, Waschen und Rasieren, Gebet um sieben. Dann gestattete er sich selbst volle fünfundvierzig Minuten für die Lektüre der Zeitung und danach weitere fünfundvierzig Minuten, um in seinem Tagebuch zu schreiben. Dann war es an der Zeit für seinen Gang in und um das Dorf herum. Auf diese Weise blieb er mit seiner Gemeinde in Kontakt. Außerdem konnte er dabei nachdenken. In seinen Augen gab es nichts Besseres als einen strammen Marsch, um einen klaren Kopf zu bekommen. 36
An diesem Morgen gab es eine Menge zu bedenken. Beim Aufwachen hatten ihm viele Gedanken im Kopf herumgespukt, mit denen er schon zu Bett gegangen war. Eine Vorstellung quälte ihn mehr als alle anderen, wie ein Tor, das im Wind schlägt: Die Engländer hatten anscheinend daran gezweifelt, daß Ffynnon Garw tausend Fuß hoch war und - ja, da lag’s, wie Hamlet sagt – hatten erklärt, daß er aber über tausend Fuß hoch sein mußte, um auf ihrer Karte als Berg verzeichnet zu werden. Sergeant Thomas hatte ihm ganz beiläufig davon erzählt. Erst am Morgen war Reverend Jones die volle Bedeutung dieser Nachricht klar geworden. Möglicherweise war ihr Berg gar kein Berg. Und im schlimmsten Fall würde er nicht auf der Landkarte erscheinen! Das Dorf von Ffynnon Garw war viel zu klein, um auf irgendeiner Karte vermerkt zu sein, doch der Berg war in alle Karten von Wales eingezeichnet. In der Vorstellung der Bewohner waren Berg und Dorf untrennbar miteinander verbunden. Die Degradierung des Berges zum Hügel würde sie ihres einzigen Aushängeschildes berauben und ihre winzige Präsenz auf den Seiten der Geschichte auslöschen. Schweren Herzens setzte der Reverend seinen Weg fort. Er fühlte sich einsam und wünschte, es gäbe jemanden, mit dem er seine Sorgen teilen konnte. Gehörten seine Probleme in den Bereich der Geographie, der Naturgesetze oder möglicherweise eher zur politischen Wissenschaft? Gab es vielleicht einen Präzedenzfall? Schließlich hatte Ffynnon Garw immer als Berg gegolten. Hatte diese Tradition etwa keine Bedeutung mehr? Plötzlich überkam ihn eine Erleuchtung. Er lenkte seine Schritte von der Gasse auf die Wiese, die Abkürzung zur Schule. Dieses Problem mußte er mit einem gebildeten Menschen diskutieren. In Ermangelung eines wirklichen 37
Intellektuellen mußte er wohl mit Davies dem Lehrer vorliebnehmen. Morgan war noch im Bett, als Blod die Küchentür öffnete und ihre Nachbarin Megan das Maul davor erkannte. Megan gehörte zu jener Sorte Nachbarinnen, die nur dann auftauchen, wenn sie Klatschgeschichten wittern. »Megan«, sagte Blod vorsichtig. »Morgen, Blod«, erwiderte Megan mit einem boshaften Lächeln. »Ich hab’ eigentlich überhaupt keine Zeit, aber ich dachte, du solltest wissen, daß Betty aus Cardiff am Samstag schon wieder im Pub war, und sie ist die ganze Nacht geblieben.« »Und warum erzählst du das ausgerechnet mir?« fragte Blod. »Einfach nur so. Morgan ist hier, oder?« »Wie kommst du denn darauf?« gab Blod hochmütig zurück. »Ich weiß, daß er gern vorbeikommt, um nach Johnny zu sehen«, antwortete Megan mit der ganzen Unschuld, derer sie fähig war. »In dieser Hinsicht ist er wirklich einfühlsam, findest du nicht?« »Oh ja, sehr einfühlsam«, sagte Blod. »Ich meine, wann immer jemand in Not gerät, ist Morgan sofort zur Stelle. Da lasse ich nichts auf ihn kommen«, leierte Megan weiter. »Ich glaube, du bist heute morgen an die falsche Adresse geraten«, sagte Blod bissig und betete im stillen, daß Morgan nicht genau in diesem Moment in seiner Unterwäsche in die Küche taumelte. »Und wie geht es Johnny?« fragte Megan beharrlich. 38
»Sieh doch selbst nach«, gab Blod zur Antwort. »Er ist irgendwo im Garten. Vielleicht findest du Morgan auch dort.« Mit diesen Worten schlug sie Megan die Tür vor der Nase zu. Obwohl sich Megan nicht im geringsten für Johnnys Befinden interessierte, konnte sie einfach nicht widerstehen und schlich sich ums Haus. Es bestand ja die vage Möglichkeit, durch ein Fenster einen Blick auf Morgan zu erhaschen. Verlorene Liebesmüh! Sie sah sich plötzlich Johnny gegenüber, der stocksteif im Garten stand und eine Schildkröte anstarrte. Das Schlagen der Tür weckte Morgan auf. Doch er hegte noch keinen Verdacht, als er die Treppe hinunterstolperte und sein Hemd in die Hose stopfte. »Also, Blod, was hältst du nun davon, wenn Johnny für die Engländer arbeitet?« gähnte er. Blod kochte vor Wut, doch Morgan war zu verschlafen, um es zu bemerken. »Er ist noch nicht so weit«, zischte sie. »Komm schon, Blod«, bettelte Morgan. »Es wäre gut für ihn, er muß doch nur eine Latte gerade halten.« »Niemand wird dafür bezahlt, daß er eine Latte hält«, erwiderte Blod. »Außer vielleicht, man heißt Betty aus Cardiff.« Aha! Da lag also der Hund begraben. Blod konnte sich einfach nicht verstellen. Morgan kapitulierte mit erhobenen Händen. »Nun fang nicht wieder damit an!« »Megan sagt, sie sei am Samstag wieder im Pub gewesen, aufgetakelt wie eine Fregatte.« Dieses Detail hatte sie selbst hinzugefügt, weil es vermutlich der Wahrheit entsprach. 39
»Tatsächlich?« fragte Morgan mit gespielter Unschuld. Diese Taktik war bei Männern allgemein sehr beliebt. »Du hast wohl nur vergessen, es mir zu erzählen«, sagte Blod. »Ach ja? Ist mir wohl entfallen in der ganzen Aufregung über die beiden Engländer.« »Die Engländer sind also aufregender als Betty aus Cardiff?« war Blods Retourkutsche. »Wenn sie dermaßen aufregend sind, sollte ich sie mir wohl selbst einmal ansehen.« »Wie auch immer –« Morgan versuchte, sicheren Boden zu gewinnen. »Zum Arsch mit wie auch immer«, schnappte Blod, deren Ausdrucksweise der Morgans in keiner Weise nachstand. »Was hat sie denn schon wieder hier gewollt?« Morgan bemühte sich, ernst und feierlich zu erscheinen, was ihm seiner Ansicht nach beim Lügen half. »Mit ihrem erlesenen und verfeinerten Geschmack hat sie mich hinsichtlich der Neugestaltung meines Etablissements beraten.« Blod stieß ein höhnisches Lachen aus. »Neugestaltung deines Etablissements? So hat deine Kaschemme bis jetzt wohl noch keiner genannt!« Sie stürmte aus dem Zimmer, und Morgan nutzte die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen. Draußen im Garten warf Johnnys hagere Gestalt noch immer einen Schatten auf seine zahme Schildkröte. Er war erst neunzehn, doch der Krieg schien ihn Jahre seines Lebens gekostet zu haben. Als er Ffynnon Garw verließ, hatte sein Gesicht noch runde, kindliche Züge besessen. Als er nur ein Jahr später zurückkehrte, war sein Haar dünn geworden, die Augen lagen tief in den Höhlen. Seine ehemals kräftigen, geschickten Arme hingen wie 40
vertrocknete, brüchige Zweige von seinen Schultern. In einem einzigen kurzen Jahr hatte er mehr Schmerz erfahren und mit angesehen als andere Menschen in ihrem ganzen Leben. Kein Wunder, daß er durch den Krieg dermaßen gealtert war. Johnny wartete geduldig, bis der Kopf der Schildkröte zaghaft aus dem Panzer auftauchte. Dann klatschte er in die Hände, der Kopf verschwand. Johnny beobachtete das Tier, bis der Kopf wieder hervorkam, und klatschte erneut. Der Kopf zog sich wieder in den Panzer zurück. »Morgen, Johnny«, sagte Morgan. Johnny gab keine Antwort. Pflichtschuldig schloß sich Morgan für einige Minuten der Schildkrötenbetrachtung an und sah zu, wie Johnny klatschte und der Kopf verschwand und wieder herauskam. Morgan setzte die einseitige Unterhaltung fort. »Im Pub sind zwei Engländer, die Karten zeichnen. Wollen den Berg vermessen, diese dämlichen Trottel.« Er hielt inne. Johnny klatschte. »Jedenfalls suchen sie einen Helfer, der das trägt, was sie nicht tragen können – oder wollen.« Er schwieg wieder. Johnny zeigte keinerlei Reaktion. Er glotzte die Schildkröte an und klatschte in die Hände. »Dafür gibt es zusätzliche Lebensmittelkarten – die kannst du zu Geld machen«, fuhr Morgan fort, Garrads Worte bis zur Unkenntlichkeit entstellend. »So viel Arbeit wird es schon nicht sein.« Johnny wirkte völlig abwesend. Der Schildkrötenkopf blieb im Panzer verborgen. »Soll ich ihnen sagen, daß du interessiert bist?« Johnny sagte nicht ja, aber auch nicht nein. Für Morgan war das nichts Neues. »Also«, sagte er abschließend, »du kommst dann später ins Pub. Geht das klar?« Erst nachdem Morgan außer Sichtweite war, antwortete 41
Johnny ganz leise: »Geht klar.« Auf dem Weg zu der Furt, die durch den Fluß führte, prallte Morgan mit Reverend Jones zusammen. »Morgen, Reverend Jones«, grüßte er fröhlich und blickte in die Umgebung, um den schönen Sommertag zu bewundern. »Ich sehe, Gott ist im Himmel und die Welt in bester Ordnung.« Der Reverend holte tief Luft und sammelte seine Kräfte für eine passende Entgegnung, als er Blod bemerkte, die Morgan vom Fenster aus zuwinkte. Morgan hatte sein Halstuch bei ihr vergessen. Noch ein Opfer auf der Liste des Ziegenbocks! Das Gesicht des Reverends färbte sich purpurrot. »Hast du eigentlich überhaupt kein Schamgefühl?!« brüllte er herrisch. Morgan lachte. »Nein.« Er gab vor, seine Taschen zu durchsuchen. »Und ich habe auch absolut keine Ahnung, wo es abgeblieben sein könnte.« Morgan schwankte davon. Der Reverend sah ihm nach und fragte sich, ob der Herr ihm diesen Mann gesandt hatte, um entweder seinen Glauben oder seine Beherrschung auf die Probe zu stellen. Auf dem Dorfplatz vor Morgans Pub saßen die Thomas Twp Zwillinge auf der Bank, die den Fahnenmast vor der Polizeiwache umschloß. Nach einer sorgenvollen, schlaflosen Nacht waren sie von ihrem Bauernhof ins Dorf gekommen, um die Engländer mit eigenen Augen zu begutachten. Allerdings wußten sie nicht so genau, wie sie sich verhalten sollten. Sie hatten noch nie zuvor die Bekanntschaft von Engländern gemacht. Obgleich sie 42
englisch sprachen, waren sie nicht so sicher, ob man auf der anderen Seite der Grenze dasselbe Englisch sprach. »Vielleicht sollten wir einfach reingehen«, schlug Thomas Twp vor. »Nein, wir warten, bis die Engländer rauskommen«, entgegnete Thomas Twp Zwo. »Recht hast du, wir warten am besten, bis sie rauskommen«, stimmte Thomas Twp zu. »Vielleicht sollten wir ja doch reingehen«, sagte Thomas Twp Zwo voller Zweifel. Und so saßen sie da und überlegten, wie sie den Fremden nun gegenübertreten sollten, die hergekommen waren, um ihren Berg zu vermessen. Im Garten des Gasthofs thronte George Garrad inmitten von Landkarten und plante das Tagesprogramm wie ein General, der einen großen Feldzug vorbereitet. Insgeheim hatte er beschlossen, derart genaue Messungen aus Wales zu liefern, daß die nächste Auflage der Karten seinen Namen tragen würde. Für Jahre, besser noch Jahrzehnte, würde den Menschen »Garrads Wales« ein Begriff sein. Für Reginald Anson bedeutete dies unweigerlich einige höchst arbeitsreiche Wochen. Garrad war fest entschlossen gewesen, früh aufzubrechen, doch der ersten Tasse Tee war ein Toast gefolgt, wiederum ergänzt von einer weiteren Tasse Tee und einer zweiten Scheibe Toast. Um zehn Uhr schleppte er sich dann schließlich in den Garten, um einen Blick auf den Berg zu werfen – und eine weitere Tasse Tee zu trinken. Danach bestand die entfernte Möglichkeit, daß er sich tatsächlich in Bewegung setzen würde. Bis jetzt war die ganze Sache allerdings noch im Planungsstadium. Andererseits lag gerade in der Planung der Schlüssel zum 43
Erfolg einer militärischen Operation. »Na, Anson, sind Sie bereit, das Pedometer zu kalibrieren?« Anson war gerade dabei, das Barometer zu reinigen, die Richtplatte zu reparieren und den Richtkreis neu einzustellen. Er hob den Kopf. »Aber ja doch!« antwortete er lebhaft. Er hatte sich seit acht Uhr morgens bereitgehalten und konnte es kaum erwarten, zu einem kräftigen Fußmarsch aufzubrechen. Marschieren? Nun, vielleicht haben Sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, aber bis vor kurzem war das einfache Gehen eine der wichtigsten Methoden der Vermessung. Männer gingen und zählten dabei ihre Schritte mit Hilfe eines einfachen Instrumentes, das für ungeübte Augen eher wie eine Taschenuhr aussah. Dieses Pedometer bewegte sich immer einen Skalenstrich weiter, sobald man einen Schritt nach vorn machte. Um mit dieser Methode ein halbwegs exaktes Ergebnis zu erzielen, mußte der Mensch natürlich einen gleichmäßigen, ruhigen Gang haben. Jeden Morgen maß Reginald Anson die Zahl seiner Schritte im Verhältnis zu einer festgelegten Strecke, die er und Garrad in Gestalt einer Sechsundsechzig Fuß langen Kette mit sich trugen. Natürlich war all dies keinem Dorfbewohner bekannt. Daher kann man sich leicht vorstellen, welches Aufsehen Anson und Garrad erregten, als sie mit einer überdimensionalen Leinentasche auftauchten. Die Twp Zwillinge und einige andere Einheimische folgten ihnen in einer gewissen Entfernung. Amüsiert sahen sie zu, wie die beiden Engländer ein flaches Stück Straße auswählten und ihre Sechsundsechzig Fuß lange Kette auf den Boden legten. Warum, um alles in der Welt, wollten sie die 44
Entfernung von der Bäckerei zum Postamt messen? Das Erstaunen wuchs beträchtlich, als Anson sein Pedometer auf Null stellte und mit der Kontemplation eines ins Gebet versunkenen Mönches die gesamte Kettenlänge abschritt. Bei jedem Schritt ertönte ein leises Klicken. Klick, klick, klick, klick … »Eins, zwei, drei, vier«, zählte er leise mit. Garrad hinkte im Schneckentempo hinterher, wobei er Ansons Bewegungen mit dem Eifer eines Trainers überwachte, der sein bestes Pferd im Rennen hat. Anson blieb am Ende der Kette stehen und verglich seine eigene Zählung mit dem Stand des Pedometers. »Nun?« erkundigte sich Garrad. Anson lächelte. »Haargenau einundzwanzig Schritte.« Es waren immer einundzwanzig Schritte, da er einen bemerkenswert gleichmäßigen Gang hatte. Garrad kritzelte das Ergebnis in sein Notizbuch. »Ziemlich konsistent, Anson, Sie werden besser.« Wie vollkommen Anson auch sein mochte, Garrad wäre nie zufrieden gewesen. Anson machte sich nichts daraus und fällte lieber sein eigenes Urteil – das fiel gar nicht so schlecht aus. Als die beiden ihre Kette wieder aufrollten, mußten sie feststellen, daß mittlerweile das halbe Dorf ihr seltsames Treiben beobachtete. Die Twp Zwillinge befühlten sogar andächtig die Kette, als besäße sie magische Eigenschaften. Sie ließen sie wieder fallen, und die Menge zerstreute sich. Anson und Garrad blieben allein auf dem Dorfplatz zurück. Garrad fühlte sich unbehaglich, da er eine gewisse Abneigung gegen Horden von Ausländern hegte. 45
»Naja, wir sollten jetzt mal den Hügel da drüben in Angriff nehmen.« Schon wieder dieses bewußte Wort – Hügel. Garrad wartete auf Anson, der die Kette ins Pub zurückbrachte. Dann setzten sie sich von einem scheinbar willkürlich gewählten Punkt aus in Bewegung. Anson ging mit gleichmäßigen Schritten voran, Garrad hinkte ihm hinterher. Das Pedometer tat seine Arbeit und verkündete dies mit einem regelmäßigen Klick. Die Twp Zwillinge folgten ihnen in beträchtlichem Abstand. Sie waren nicht sicher, ob sie den wissenschaftlichen Wundern der Zukunft beiwohnten oder einfach nur zwei Geistesgestörte bei der Arbeit beobachteten. Reverend Jones wartete im Flur der Schule auf den Beginn der großen Pause. Er kam sich plötzlich so seltsam vor, wie er da zwischen Dutzenden von Kindermänteln auf dem Kinderbänkchen saß. Eigentlich hätte er sich wie ein Riese fühlen müssen. Statt dessen konnte er sich nicht des beunruhigenden Eindrucks erwehren, daß er allmählich auf die Größe dieser Mäntel zusammenschrumpfte. Bevor die Engländer gekommen waren, hatte er sich nie so gefühlt. Im Klassenzimmer malträtierte Davies der Lehrer eine Gruppe von Zehnjährigen, die kurz vor dem Einschlafen waren, mit seinen Belehrungen wie ein Holzhammer. Er hatte noch keine Ahnung, welch reizender Besuch draußen auf ihn wartete. Davies zeichnete sich durch einen auffallenden Mangel an Humor und Charisma aus. Er war der Überzeugung, daß er eigentlich für Besseres bestimmt gewesen war, doch aufgrund eines grausamen Streiches, den ihm das Schicksal gespielt hatte, war er hier in 46
Ffynnon Garw gelandet, um Kinder zu quälen. Er stammte nicht aus dem Dorf, sondern von der nordwalisischen Küste. Er hatte an einer kleinen englischen Universität studiert und gehofft, Dozent zu werden. Als er die Universität vor fünfundzwanzig Jahren verlassen und diesen Posten angenommen hatte, war er der Vorstellung erlegen, daß er ihn schnell zu Höherem führen würde. Dieser Glaube hatte sich allerdings als Falle erwiesen – niemand interessierte sich für einen Lehrer, dessen einzige Erfahrung in der Leitung einer obskuren Schule in einem Dorf mit einem unaussprechlichen Namen bestand. Es war nicht schwer gewesen, die Stelle zu bekommen, aber unmöglich, sie wieder loszuwerden. Einige Jahre hatte er tiefe Verbitterung darüber empfunden, doch inzwischen fehlte ihm selbst dafür die Energie. Er war in eine dumpfe, schläfrige Lethargie verfallen und gab einen denkbar schlechten Lehrer ab. Seine Geschichtsstunden verbreiteten tödliche Langeweile, da es ihm mühelos gelang, den historischen Gestalten jeglichen Charakter zu nehmen und ihre Kriege von aller Leidenschaft zu befreien. Tatsächlich hatte Morgan einmal sehr treffend bemerkt, daß eine Welt, die von Davies dem Lehrer in der Fortpflanzung unterrichtet würde, innerhalb einer Generation entvölkert wäre. Morgan hatte sich nicht genauso ausgedrückt – er zog eine blumigere Sprache vor –, doch es gibt den Kern seiner Worte wieder. »Und so«, dröhnte Davies, »wurde Llywelyn ap Gruffydd im Jahre 1283 im Verlauf einer weiteren heldenhaften Schlacht getötet.« Er schaute sich in der Klasse um. Gerade hatte er einen entscheidenden Moment der Geschichte ihres Landes beschrieben, und die Schüler saßen völlig gelangweilt und teilnahmslos da. Tommy Owen war damit beschäftigt, 47
seinen Namen in die Bank zu schnitzen. Marged Jones flocht ihr Haar. Morgan Evans bohrte wie üblich in der Nase. Er versuchte erneut, ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Und was haben die Engländer wohl mit seiner Leiche gemacht?« Einige besaßen wenigstens den Anstand, den Kopf zu heben, doch dann wanderten ihre Augen in Richtung Uhr. Sie waren nur Augenblicke von Spiel und Freizeit entfernt. Davies hob die Stimme: »Sie haben ihm den Kopf abgeschnitten und damit den Tower von London geschmückt!« Die Kinder begriffen, daß man eine Reaktion von ihnen erwartete, und stießen ein kollektives »Ooooh!« aus, bevor sie wieder in den einzigen Zustand verfielen, den Davies ihnen beigebracht hatte – Apathie. Der Lehrer stieß einen leisen Seufzer aus, warf einen Blick zur Decke und beendete die Stunde. »Und mit dem Tod von Llywelyn dem Letzten endete die Ära der walisischen Fürsten.« Vom Schulhof ertönte eine Glocke. Die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf, bevor er noch »Die Klasse kann gehen« sagen konnte. Davies ging an den Privatschrank, der sein eingerahmtes Universitätsdiplom und die Utensilien für die Teezubereitung enthielt. Gerade als er den Schlüssel ins Schloß stecken wollte – Kindern kann man nicht über den Weg trauen –, wurde er durch einen Eindringling gestört. »Kann ich hereinkommen?« fragte Reverend Jones. »Reverend Jones!« Davies freute sich, einen Erwachsenen zu sehen. »Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?« »Danke, sehr freundlich von Ihnen.« Schließlich war es die Aufgabe eines Reverend, wann immer er konnte, Tee 48
zu trinken. Reverend Jones setzte sich an ein Pult in der Nähe der Tafel und schaute fasziniert zu, wie Davies vorsichtig zwei Tassen Wasser abmaß und in den Kessel goß. Dann gab er zwei exakt gestrichene Löffel Tee in die Kanne. Davies vollzog diesen Akt mit einer derartigen Sorgfalt, daß Reverend Jones es nicht wagte, ihn dabei zu unterbrechen. Diese Art von Ritual hielt Davies anscheinend bei Verstand. Als seine Vorbereitungen abgeschlossen waren, mußte Davies noch warten, bis das Wasser kochte. Dann schenkte er dem Reverend seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Nun, Reverend, welchem Grund verdanke ich die Ehre Ihres Besuches?« »Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber wir haben zwei Besucher im Dorf. Und sie kommen aus England«, antwortete der Reverend. Dies entsprach nicht hundertprozentig der Wahrheit, da sich Anson und Garrad in eben diesem Augenblick auf der halben Höhe von Ffynnon Garw befanden. Sie hatten einen Punkt erreicht, an dem sich der Neigungswinkel des Hanges merklich veränderte. Anson war stehengeblieben, um sein Pedometer abzulesen: genau dreihundertundacht Schritte bei einem Winkel von 12 Grad. Er machte sich eine Notiz in sein Buch und berechnete dann mit Hilfe eines Neigungsmessers (oder Klinometers) die Steigung des nächsten Abschnitts. Je steiler der Winkel eines Abhangs wird, desto mehr verkürzen sich die Schritte. Die amtliche Landesaufnahme Seiner Majestät besaß Vergleichstabellen, mit denen er später genau berechnen würde, wie weit er vorwärts und aufwärts gegangen war. Er hielt inne und drehte sich zu George um, der soeben 49
einen Kampf gegen einen schlammigen Pfad und eine riesige Distel ausgetragen und daraufhin beschlossen hatte, daß es Zeit sei für ein Pauschen. Anson schlenderte zurück, um ein wenig zu plaudern. Garrad atmete schwer, da er schon lange keine körperlichen Anstrengungen mehr hinter sich gebracht hatte, die über das Strecken seines Ellenbogens hinausgingen. Als er Anson auf sich zukommen sah, beschäftigte er sich intensiv mit der Karte. »Ich schätze, wir sind ungefähr hier.« Er deutete wahllos auf irgendeinen Punkt auf der Karte. »Naja, beinahe«, erwiderte Anson vorsichtig. »Abgesehen davon, daß dies ein anderer Hügel ist und wir uns eher hier befinden.« Anson wies auf einen Punkt, der ein gutes Stück entfernt lag. »Genau diese Stelle hab’ ich doch gemeint, bin bloß mit dem Finger ausgerutscht«, sagte Garrad und faltete die Karte eilig zusammen, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. »Und wie sieht der nächste Abschnitt aus?« »Ein Winkel von beinahe zwanzig Grad, tut mir leid«, antwortete Anson. »Tatsächlich.« Er betrachtete die Tabelle mit den Neigungen und Schrittlängen. »Das wird die Länge unseres perfekten Schrittes beinahe halbieren.« Er konnte den boshaften Unterton in seiner Stimme nicht ganz verbergen. »Da haben Sie wohl recht.« Mehr gab es nicht zu sagen. Anson kramte in seiner Tasche herum. »So, Pedometer auf Null, und vorwärts und aufwärts …« Während ein beständiges Klicken aus seiner Tasche drang, setzte er mit einem keuchenden Garrad im Schlepptau den Aufstieg fort. 50
Die Twp Zwillinge hatten sich in sicherer Entfernung hinter einem Baum versteckt und beobachteten sie ebenso amüsiert wie interessiert. »Er klickt«, sagte Thomas Twp. »Und dann schreibt er etwas«, fugte Thomas Twp Zwo hinzu. Wurden so etwa Berge vermessen? »Tut mir leid«, sagte Davies der Lehrer, »aber Geographie ist wirklich nicht mein Fach.« »Aber sehen Sie denn nicht, worauf ich hinauswill?« fragte Reverend Jones. »Ab wann wird ein Hügel zum Berg?« »Verstehe, verstehe«, sagte Davies der Lehrer. »Es hat wohl etwas mit dem Verhältnis zu tun. Nehmen Sie beispielsweise den Himalaya auf dem indischen Subkontinent – da gibt es Berge, die zehntausend Fuß hoch sind und, soweit ich weiß, als Vorhügel bezeichnet werden.« »Unser Berg ist aber kein Vorhügel!« erwiderte Reverend Jones mit bebender Stimme. Davies der Lehrer wandte sich um und wies auf einen gerahmten Stich der Schweizer Alpen. »Das müssen Sie doch einsehen: Läge Ffynnon Garw in den Alpen, wäre er nicht einmal ein Hügelchen.« Reverend Jones wurde allmählich wütend. Die Gefühllosigkeit von Davies überstieg jegliches Vorstellungsvermögen. »Aber er liegt nicht in den Alpen!« brüllte Reverend Jones. »Er liegt genau hier, in Wales!« »Stimmt.« Reverend Jones versuchte, Fassung zu gewinnen. »Wer also entscheidet über britische Landkarten?« 51
Davies zuckte die Achseln, da er nicht den geringsten Schimmer hatte. Reverend Jones kam näher, packte ihn an der Schulter und sagte vertraulich: »Sehen Sie, die sagen – « Davies fiel ihm ins Wort. »Wer sagt was?« Der Reverend ging fast in die Luft. »Die Engländer!« Er versuchte, sich zu beherrschen. »Die Engländer sagen, daß er über tausend Fuß hoch sein muß, um auf der Karte als Berg zu erscheinen.« »Ach wirklich?« Davies überdachte die Sache einen Moment. »Ich hatte immer geglaubt, die Grenze läge bei fünftausend.« Der Reverend war inzwischen ernstlich böse, da sein Gegenüber anscheinend nicht verstehen wollte, worum es eigentlich ging. »Eintausend, fünftausend, ist doch egal!« Reverend Jones kam nun zum Kern der Sache. »Wie hoch ist Ffynnon Garw?« fragte er. »Tausend Fuß, zweitausend Fuß? Mehr?« Davies der Lehrer verzog spöttisch das Gesicht und spähte über seine Brille hinweg Richtung Berg. »Du lieber Himmel, ich dachte immer, er sei nur ein paar hundert Fuß hoch.« Reverend Jones’ Blut geriet in Wallung: ein paar hundert? Für eine Sekunde war ihm, als würde er vor Zorn die Besinnung verlieren. Dann durchbohrte er Davies mit seinem härtesten Blick, während sein Herz vor Abscheu überquoll. Mühsam riß er sich zusammen und grunzte: »Und ich hatte Sie immer für einen gebildeten Mann gehalten.« Als Reverend Jones das Schulhaus verließ, bemerkte er drei Kinder, die abseits der anderen standen. Sie starrten gebannt zum Berg hinüber. Er folgte ihrem Blick und konnte tatsächlich die winzigen Umrisse von Anson und 52
Garrad erkennen, die dem Gipfel zustrebten. Reginald Anson hatte inzwischen den Kamm des Berges erreicht und ging zu dem Steinhügel, der den Gipfel markierte. Pflichtgemäß las er den Stand des Pedometers ab und genoß dann nach getaner Arbeit die atemberaubende Aussicht. Im Osten erstreckten sich die Ebenen Englands mit ihren schachbrettartigen Feldern. Westlich des Gipfels veränderte sich die Landschaft dramatisch; man sah Hügel, so weit das Auge reichte. Ganz Wales glich von hier aus einem sturmgepeitschten, unterirdischen Ozean, der von ungeheuren Wellen aufgewühlt wird. Das Land wirkte zeitlos und uralt. Obgleich sie noch die Spuren früherer Schlachten und harter Zeiten trug, erschien die Gegend jetzt friedlich und würdevoll. Vielleicht hatte Frankreich vor dem Krieg ähnlich ausgesehen. Es schien kaum vorstellbar, daß die endlosen, von Schlamm und Kratern bedeckten Weiten, durch die er als Soldat gewatet war, einmal diesem Land geglichen hatten. Links von ihm, am Steilhang des Hügels, schwebte ein großer Vogel im Aufwind. Seine Flügel streiften ihn fast. Anson hatte den Eindruck, er müßte nur die Hand ausstrecken, um das Tier zu berühren. War es ein Adler? Ein Falke? Auf seinem Rücken bildeten rote Federn einen gezackten Blitz. Er fragte sich, ob es sich vielleicht um einen Roten Milan handelte. Mit einem katzenähnlichen Laut schoß der Vogel davon. Anson versuchte gerade, sich die verschiedenen Greifvogelarten ins Gedächtnis zu rufen, als er abrupt aus seinen Träumen gerissen wurde. Er drehte sich um und sah George Garrad, der schwer atmend zu Boden plumpste und dabei einen Ton von sich gab, als hätte sich jemand auf eine Ziehharmonika gesetzt. »Mein Gott, diese letzten Abschnitte sind steiler, als sie aussehen«, stöhnte Garrad, während er nach seiner 53
Taschenflasche suchte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr Pedometer hier eine große Hilfe ist.« »Wohl kaum«, stimmte Anson ihm zu, »aber trotzdem …« Er setzte sich neben ihn und nahm einen Rechenschieber zur Hand. Garrad schaute den Wolken nach, die so rasch wie der Dampf einer fahrenden Lokomotive über ihnen dahinzogen. Der Anblick stimmte ihn auch nicht fröhlicher. »Können Sie irgendeinen unserer Dreieckspunkte sehen?« Er meinte damit die beiden bereits vermessenen Hügel, die zum Zweck einer genaueren Bestimmung als Triangulationspunkte dienen sollten. Anson schaute in die Ferne. Er war sich nicht ganz sicher, da die Luft im Süden in der Hitze flimmerte. »Nein, aber ich sehe wieder die beiden Männer.« Garrad setzte sich auf. Tatsächlich. Die Twp Zwillinge waren ihnen die ganze Zeit in einiger Entfernung gefolgt. Sie standen inmitten des Farns, der am Fuß des letzten Abhangs vor dem Gipfel wuchs, und schauten verstohlen nach oben. Sie hatten sich zwar weit hinter Anson und Garrad gehalten, aber der Berg war hier oben so kahl, daß eine Entdeckung unvermeidlich war. Garrad gefiel das alles ganz und gar nicht. »Hm, ziemlich eigenartig, erinnert mich an die Beschattung in Abessinien im Jahre achtundachtzig.« Anson grinste still vor sich hin und setzte seine Berechnungen fort. Es hätte ihn sehr gewundert, wenn Garrad im Jahre achtundachtzig auch nur in der Nähe von Abessinien gewesen wäre. Johnny mit der Bombenneurose betrat das Pub, in dem 54
Morgan gerade eine Wettgemeinschaft organisierte. Er schrieb die Namen aller Gäste und ihre Tips über die Höhe des Berges auf eine kleine Tafel. »Also, Clem?« fragte er einen seiner Stammgäste. »Einen Penny in die Kasse, der Sieger kriegt alles. Wie hoch schätzt du nun den Berg?« Bisher bewegten sich die Wetten zwischen fünfzehnhundert und dreitausendsechshundert Fuß. Letztere Zahl stammte von Morgan selbst. Während sich Clem in seine Überlegungen vertiefte, fiel Morgans Blick auf Johnny. »Du Blödmann hast die Engländer verpaßt! Sie sind schon seit Stunden unterwegs.« Johnny zuckte die Achseln und nahm seinen angestammten Platz an der Bar ein. Prompt bekam er seinen üblichen Halbliterkrug Dunkelbier. Es war kaum zu glauben, doch der Abstieg gestaltete sich tatsächlich noch anstrengender und schwieriger als der Aufstieg. Garrad stolperte regelmäßig, und selbst Anson kam manchmal aus dem Tritt. Garrad betrachtete jeden Ausrutscher als persönliche Beleidigung, als Anschlag auf seinen Stolz, dessen Urheber der böswillige Berg war. Ein Grund, ihren Heimweg mit ausgiebigen Flüchen zu untermalen. Am demütigendsten war jedoch die Tatsache, daß sie für ihren ersten Erkundungsmarsch beinahe den ganzen Tag gebraucht hatten. Ursprünglich wollte Garrad diesen Teil und auch die Überprüfung mit den Barometern noch vor dem Tee erledigen. Inzwischen war es fast Zeit zum Abendessen. Hegte Garrad auch weiterhin keinen Zweifel daran, daß Ffynnon Garw ein Hügel war, überstiegen dessen Höhe und Steilheit doch seine kühnsten 55
Vermutungen. Bevor sie ins Dorf zurückkehrten, legte Garrad eine Pause ein, um seine Kleidung in Ordnung zu bringen. In diesem Zustand konnte und wollte er den Dorfbewohnern nicht gegenübertreten. Während er sich von Farnstreifen und Heidekraut befreite, fragte er Anson ganz nebenbei nach dessen Berechnungen. Dieser warf einen Blick in sein Notizbuch. »Neunhundertzweiunddreißig Fuß. Ist aber wahrscheinlich nutzlos.« »Wahrscheinlich schon«, sagte Garrad. Pedometer waren bekannt für ihre mangelnde Zuverlässigkeit bei der Vermessung unregelmäßiger Hänge. Vom Tal aus wirkte der Weg zum Gipfel des Ffynnon Garw regelmäßig mit ausgeglichener Steigung. Doch beim Aufstieg erwies sich diese Perspektive als trügerisch. Anson und Garrad waren sonntags angekommen. An diesem Tag war das Pub offiziell geschlossen. Daher überraschte sie die Menge neugieriger Männer, die sich zu ihrer Begrüßung versammelt hatte. Sie bevölkerten die verräucherte Bar, begierig auf die Fremden und ihre Meßergebnisse. Anson und Garrad hätten nicht im Traum gedacht, daß sich solche Horden einfinden würden, nur um sie beide zu sehen. »Aha«, sagte Morgan, »das sind genau die Leute, die wir brauchen. Mr. Garrad, Sir, Sie entscheiden über unsere Wette. Wie hoch ist Ffynnon Garw?« Betretenes Schweigen. Garrads Berechnungen waren noch niemals Gegenstand einer Wette gewesen. Er versuchte, der Antwort auszuweichen. »Kommen Sie, es ist noch viel zu früh, um sich festzulegen. Wir haben lediglich eine erste Erkundung vorgenommen.« 56
Er warf einen Blick zu Anson, um festzustellen, ob dieser mit seinen Berechnungen herausrücken wollte. Anson war leider kein geborener Redner und stammelte: »Noch nichts Genaues, tut mir leid.« Dann eilte er die Treppe hinauf. Garrad folgte ihm. Er konnte es sich trotzdem nicht verkneifen, eine Erklärung abzugeben, da Anson die Wahrheit erfahrungsgemäß nur selten verfehlte. Um mehr als fünfzig Fuß hatte er sich noch nie verrechnet. Daher drehte sich Garrad um, sah der Menge ins Auge und verkündete im aufgeblasensten Ton: »Ich mag mich natürlich irren, aber nach fünfundzwanzig Jahren in diesem Beruf möchte ich das bezweifeln: Ich schätze, die exakte Höhe von Ffynnon Garw dürfte bei neunhundertdreißig Fuß liegen.« Mit diesen Worten kehrte er der Versammlung den Rücken und ging die Treppe hinauf. Morgan und die Leute aus dem Dorf waren wie vor den Kopf geschlagen. Morgan riß sich mühsam aus seinem Schockzustand. Hatte er richtig gehört? Neunhundertdreißig? Alle Augen waren hilfesuchend auf ihn gerichtet. Schließlich lebten die Engländer unter seinem Dach. Morgan hatte mit ihnen geprahlt und die Wette um die Ergebnisse ihrer Messungen organisiert. Der Wirt dachte einen Augenblick nach und wandte sich dann an Williams die Zapfsäule: »Paß auf die Bar auf«, sagte er und rannte die Treppe hinauf. Als Morgan an Garrads Tür ankam, lag George bereits im Tiefschlaf. Sein Schnarchen drang bis auf den Korridor. Er ging zu Ansons Zimmer und klopfte an. »Kommen Sie herein.« Anson stand am Fenster und sah hinaus. In trauter Zweisamkeit marschierten die Twp Zwillinge quer über den Dorrplatz auf den Gasthof zu. 57
Morgan polterte ins Zimmer. »Mr. Anson«, wollte er gerade ansetzen, doch sein Gegenüber fiel ihm ins Wort. »Oh, Mr. Morgan, vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Wer sind diese beiden Herren dort unten?« Morgan warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, bevor er antwortete. »Ach, das ist bloß Thomas Twp mit seinem Bruder, Thomas Twp Zwo. Hügelbauern, sind nicht ganz bei Trost, bißchen zurückgeblieben, blöd, Schraube locker, eben twp.« Er überlegte kurz und setzte hinzu: »Der Linke ist Thomas Twp, der andere Thomas Twp Zwo, vielleicht auch andersrum, aber das ist nicht wichtig.« Anson versuchte, die Information zu verdauen. »Ich frage nur, weil sie uns den ganzen Tag über gefolgt sind.« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen.« Morgan warf sich in die Brust und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich muß sagen, Ihr Mr. Garrad hat beim Vermessen von Ffynnon Garw keine allzu gute Arbeit geleistet. Ein geübtes Auge erkennt doch sofort, daß es sich um einen Berg handelt.« »Verzeihung?« fragte Anson verwirrt. Dieses »Verzeihung« verwirrte wiederum Morgan, der es für eine echte Entschuldigung hielt. »Bitte, bitte«, gab er zurück. »Nein, so habe ich es nicht gemeint«, erklärte Anson. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen …« »Neunhundertdreißig Fuß?« dröhnte Morgan. »Ich hoffe, er hat nicht die Absicht, bei diesem offensichtlich isulorischen Ergebnis zu bleiben.« Wenn Morgan außer sich war, kam ihm die Sprache schon mal durcheinander. Anson verdrehte die Augen. Warum nur hatte George, der Trottel, ihnen ausgerechnet diese Zahl nennen 58
müssen? Er ließ sich auf einen Stuhl sinken und versuchte zunächst, den ungehaltenen Morgan zu beruhigen. »Mr. Morgan, wir haben Ihren Berg noch gar nicht vermessen. Wir haben lediglich eine Erkundung vorgenommen, die ein äußerst vorläufiges Ergebnis hervorbrachte.« Unten in der Bar gaben die Twp Zwillinge gerade die Geschichte aus ihrer Sicht zum besten. Thomas Twp schritt die gesamte Länge der Bar ab. »Klick, klick, klick«, sagte er bei jedem Schritt. »Und dann hat er in ein Buch geschrieben«, berichtete Thomas Twp Zwo. »Und das war schon alles?« fragte Williams die Zapfsäule belustigt. »Das war alles«, erwiderte Thomas Twp. »Sie haben geklickt, und dann haben sie geschrieben, dann haben sie geklickt und dann wieder geschrieben.« »Bis ganz nach oben«, fügte Thomas Twp Zwo noch hinzu. »Kein Wunder, daß sie so daneben liegen«, meinte Williams, und die gesamte Bar brach in dröhnendes Gelächter aus. Über ihren Köpfen war Anson gerade dabei, Morgan dem Ziegenbock die Grundbegriffe ihrer Arbeit zu erläutern. »Morgen messen wir mit Hilfe von Barometern.« Anson nahm ein Barometer und drückte es Morgan in die Hand. Dieser hielt es so vorsichtig wie eine Handgranate, die jeden Moment explodieren kann. »Die Werte sind ziemlich genau, wenn es die Wetterverhältnisse erlauben. Klimatische Veränderungen machen sie leider inopportun.« 59
»Inopportun«, wiederholte Morgan. Das würde er gern in seinen Wortschatz aufnehmen. Wenn er nur wüßte, was es bedeutete. »Wenn uns das Wetter einen Streich spielt und die Barometer nicht funktionieren, nehmen wir das hier.« Neben Anson stand ein verhüllter Gegenstand. Er griff nach dem Tuch, zog es schwungvoll zur Seite und enthüllte ein wunderschönes Messinginstrument auf einem Stativ. Es glich einem kleinen, hochkomplizierten Teleskop. Im Prinzip war es das auch. »Um diesen sogenannten Richtkreis zu benutzen, müssen die Gipfel von Newport Beacon und Whitchurch Hill deutlich zu sehen sein.« »Aber das sind keine Berge«, beschwerte sich Morgan, der Ansons Erklärungen nicht ganz folgen konnte. »Nein, es sind keine Berge«, stimmte Anson ihm zu. »Allerdings hat die Messung von achtzehnhundertsiebenundneunzig ihre jeweilige Höhe festgeschrieben. Mit Hilfe der Entfernung zwischen ihnen und Ffynnon Garw und den bestehenden Meßergebnissen können wir ziemlich genau die Höhe von Ffynnon Garw bestimmen.« Wenn er den Namen Ffynnon Garw aussprach, klang es wie der Brunftschrei eines wilden Tieres im brasilianischen Regenwald, was Morgan nicht weiter störte. Es war Musik in seinen Ohren. »So!« Morgan strahlte übers ganze Gesicht. »Sie wollen damit also sagen, daß er vielleicht doch nicht neunhundertdreißig Fuß hoch ist?« Anson lächelte. »Stimmt. Ich wäre sehr überrascht, wenn die heutigen Messungen zutreffen würden.« Morgan klopfte ihm auf die Schulter und ging zur Tür. »Wir sehen uns dann in der Bar.« Einen Hinweis mußte Anson aber noch anbringen, bevor 60
Morgan verschwand. »Mr. Morgan.« Er wußte nicht, wie er es ihm sagen sollte und wählte den direkten Weg. »Ja?« fragte Morgan freundlich. »Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß Ihr Berg deutlich höher als neunhundertdreißig Fuß ist …« Anson hielt inne, holte tief Luft und fuhr fort: »… allerdings sollten Sie sich daraufgefaßt machen, daß er auch niedriger sein könnte.« Niedriger? Morgan riß sich krampfhaft zusammen, bevor er wieder die Bar betrat. Niedriger? Das Wort hallte in seinen Ohren und summte in seinem Schädel wie eine Trockenerbse in einer Keksdose. Daß ein so kleines Wort solche Wirkung haben konnte. Niedriger! Er mußte sich auf die anderen Dinge konzentrieren, die Anson ihm gesagt hatte. Es war nur eine ungenaue Messung, die wahrscheinlich nicht stimmte. Sie würden erneut messen und wieder und wieder. Anson hatte gesagt, er könnte höher sein, jawohl, das hatte er gesagt. Er holte tief Luft, setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und kehrte in die Bar zurück. »Und?« fragte Williams die Zapfsäule. Wie ein Chor erklang ein Dutzend weiterer Stimmen. »Und?« »Und?« »Und?« »Verdammtes Echo hier drin«, sagte Morgan. »Jetzt hört mir mal gut zu. Es ist nur eine erste, ungenaue Schätzung; sie haben noch nicht richtig gemessen, das machen sie morgen und übermorgen.« Er hoffte, auf diese Weise weiteren Fragen zuvorzukommen. »Aber er hat gesagt …« setzte Williams die Zapfsäule wieder an. 61
Morgan unterbrach ihn. »Ich habe nicht mit Garrad geredet, sondern mit dem Jüngeren. Der hat mir alles genau erklärt. Er schätzt, daß er wahrscheinlich höher ist.« »Das sieht doch ein Blinder!« bemerkte Williams und erntete damit allgemeines Gelächter. Morgan ergänzte leise, weil er insgeheim hoffte, daß man ihn in all dem Lärm nicht verstehen würde: »Er sagte, er könne aber auch niedriger sein.« Das Gelächter versiegte wie ein Fluß in der Trockenzeit. Williams schaute sich um. »Niedriger?!« fragte er ungläubig. Er blickte von einem zum anderen. Hatten sie das gleiche gehört wie er? Dann hellte sich sein Gesicht auf, er warf sich in die Brust und brach in dröhnendes Lachen aus. »Niedriger!« Oh, diese aufgeblasenen, verrückten, dummen Engländer! Wie könnte er niedriger sein! Sie lachten und lachten und lachten. Nur Morgan konnte nicht so recht in ihr Gelächter einstimmen. *** Ich werde nun eine Pause einlegen und meinen nichtwalisischen Lesern, die sich vielleicht fragen, was dieses ganze Theater eigentlich soll, eine kurze Erklärung liefern. Warum spielte es überhaupt eine Rolle, ob Ffynnon Garw ein Hügel oder ein Berg war? Möglicherweise wäre es in jedem anderen Land völlig unwichtig, aber wir sind hier in Wales. Die Ägypter erbauten Pyramiden, die Griechen erbauten Tempel, doch wir Waliser haben das nie für nötig gehalten, da wir unsere Berge hatten. Die walisischen Berge stehen den Menschen feindselig 62
gegenüber. Sie sind schwer zu besteigen und dementsprechend schwer zu bewirtschaften. Andererseits haben diese felsigen Hänge die alten Briten mitsamt ihrer Sprache beschützt. Hierher sind sie geflohen, als die Römer, die Angeln, die Sachsen, die Wikinger und die Normannen ihr Land überfielen. Ein europäischer Volksstamm nach dem anderen überflutete Britannien. Die Invasoren bevorzugten jedoch die üppigen, fruchtbaren Ebenen, die sanften Hügel und Täler. Sie plünderten die Zentren der Gelehrsamkeit und entweihten die alten, geheiligten Stätten. Bis in die Berge kamen sie nie. Das zwang die Briten, hier im Hochland zu leben. Sie verloren alles, selbst ihren Namen, und wurden von den Eindringlingen zu allem Übel »weallas« – Waliser – getauft. Sie wissen doch, was »Waliser« heißt? Es bedeutet Fremde. Das muß man sich einmal vorstellen! In der Sprache ausländischer Plünderer als Fremder im eigenen Land bezeichnet zu werden. In diesen uralten Bergen vollzogen unsere Vorfahren ihre heiligen Riten und suchten die Begegnung mit ihren Göttern. Die Berge gelten als heilige Stätten, und Cader Idris im Inneren des Landes ist der heiligste von allen. Tapfere Männer bestiegen diesen Berg, um dort eine Nacht zu verbringen, denn man erzählte sich, daß ein Mensch, der eine Nacht auf dem Cader Idris überstanden, als Verrückter, als Dichter oder als sehr, sehr weiser Mann zurückkehren würde. So wurden die Waliser von den Bergen gerettet – eigentlich sogar von ihnen erschaffen. Wo die Berge beginnen, beginnt Wales. Und was würde passieren, wenn Ffynnon Garw kein Berg wäre? Für die Dorfbewohner war die Situation ganz eindeutig: Sollte Ffynnon Garw kein Berg sein, konnten Anson und Garrad gleich die ganze Grenze neu ziehen und sie damit 63
alle zu Engländern machen. Ehrlich gesagt würde jeder echte Waliser lieber sterben, als sich diesem Schicksal zu unterwerfen. *** Sergeant Thomas zuckte innerlich zusammen, als er im Morgengrauen auf die Polizeiwache zuging und Hughes die Briefmarke dort warten sah. Der Postbote trug ein großes, zylinderförmiges Paket unter dem Arm. Sergeant Thomas erkannte auf den ersten Blick, daß es sich um eine neue Verlustliste handelte, die er am Schwarzen Brett des Dorfes anschlagen mußte. Er nickte Hughes der Briefmarke flüchtig zu, und Hughes die Briefmarke nickte ebenso flüchtig zurück. Es gab nichts zu sagen. Beide Männer beteten im stillen, daß sie auf den neuen Listen nicht die Namen von Freunden und Verwandten entdeckten. Der Krieg dauerte nun schon drei lange Jahre. Niemand hatte sich vorstellen können, daß ein einziger Krieg so viele Menschenleben forderte. Die hehren Ziele der Anfangszeit waren seit langem vergessen. Nur wenige Leute im Dorf lasen überhaupt noch die Kriegsberichte in der Tageszeitung. Für die Menschen zählten lediglich zwei einfache Fragen: Wann war das alles endlich vorbei? Würden sie ihre Lieben lebend wiedersehen? Sergeant Thomas betrat die Polizeiwache, legte das Paket auf seinen Schreibtisch und warf einen langen Blick darauf. Nein, zuerst würde er das Feuer entzünden und eine Tasse Tee trinken. Er brauchte unbedingt eine Stärkung, um den Inhalt des Paketes zu ertragen und die Liste danach für alle sichtbar auszuhängen. Diesen Teil seiner Arbeit haßte er am meisten. 64
Im Bergwerk fuhr gerade die Nachtschicht nach oben. Als sie aus den Förderwagen stiegen, nahmen die Männer der Tagschicht sofort ihre Plätze ein. »Du hast gestern abend im Pub wirklich was verpaßt«, sagte Jones die Front, der nicht im Krieg gewesen war, aber die Frontseite eines Doppelhauses im Dorf bewohnte. »Ich verpasse jede verdammte Nacht einen guten Abend im Pub«, sagte Evans der Finstere. »Die Engländer haben vielleicht einen Quatsch verzapft – neunhundertdreißig Fuß haben die geschätzt!« Die ganze Nachtschicht brach in Gelächter aus, das heißt, alle außer Evans dem Finsteren. »Wirklich verdammt lustig, hahaha«, schnappte er. »Während wir hier unten Kohle hauen, vertreiben die sich die Zeit mit diesem dämlichen Berg …« Niemand hörte ihm zu, da alle nur an den Heimweg und das Bett dachten, das auf sie wartete. Mrs. Evans putzte gerade die Stufen vor ihrer Haustür, als der Pferdekarren mit den verrußten Bergarbeitern vor ihrer Tür hielt, um ihren mißgelaunten Ehemann abzuladen. »Scheißengländer«, brummelte der vor sich hin und hinterließ einen schmutzigen Fußabdruck auf ihrer sauberen Stufe. »Laß das gefälligst nicht an mir aus!« rief sie hinter ihm her, doch er schnarchte bereits am Küchentisch vor sich hin. Sergeant Thomas sah zu, wie der letzte Bergarbeiter am Dorfplatz abstieg. Ivor der Krämer war schon bei der Arbeit und kehrte den Gehweg vor seinem Laden. Bald würden sich die Kinder auf den Schulweg machen. 65
Sergeant Thomas konnte seine unangenehme Aufgabe nicht länger hinauszögern. Er hatte die Verlustlisten überflogen und den Namen eines Dorfbewohners entdeckt. Wieder eine neue Witwe, wieder drei Kinder ohne Vater. Wieder ein altes Paar ohne Sohn. Mit einem Gefühl der Übelkeit ging er auf den Dorfplatz und senkte die Flagge auf Halbmast. Er vermied es, Ivor dem Krämer in die Augen zu sehen und erledigte seine Aufgabe so rasch wie möglich. Ivor nahm den Hut ab und erwies dem Toten schweigend die letzte Ehre. Sergeant Thomas entdeckte eine Gruppe von jungen Frauen, die auf den Laden zuhielt. Bitte, mach, daß Enid Jones nicht unter ihnen ist, dachte er und verdrückte sich in Richtung Wache, damit sie ihn nicht sahen. Enid Jones selbst war nicht dabei, aber ihre Schwester und ihre beste Freundin. Ivor sah, wie sie weinend davoneilten, um die tragische Nachricht zu überbringen. Sie mußten es den Eltern erzählen, den Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen – vor allem aber der Frau und den Kindern. Plötzlich lag der Dorfplatz verlassen da. Überall zogen die Menschen die Vorhänge zu. Leuchtende Blumen verschwanden aus den Vasen. Ein neuer Tag der Trauer war angebrochen. Ivor konnte es nicht fassen – gerade eben hatte er sich noch über den schönen Sommermorgen gefreut, und nun schien selbst die Sonne ihren Glanz verloren zu haben. Reverend Jones kam auf ihn zu und runzelte die Stirn, als er die auf Halbmast gesetzte Flagge sah. Dieser verfluchte, wahnsinnige, nutzlose, englische Krieg! »Guten Morgen, Reverend«, sagte Ivor. »Ivor …« der Reverend verstummte. Beide betrachteten die Flagge. Schließlich brach Ivor das 66
Schweigen. »Ich kann keine Witwenkleidung mehr sehen.« Er meinte damit die schwarzen Schleier, in die sich immer mehr Frauen im Dorf hüllten. Der Ort geriet aus dem Gleichgewicht. Es gab alte Männer, Männer mittleren Alters und Jungen. Fast eine ganze Generation war verschwunden. Nur unter den Bergarbeitern gab es noch junge Männer. Reverend Jones nickte und seufzte tief. Wenn er erst anfing, vom Krieg zu sprechen, würde er den Rest des Tages hier verbringen. »Nun«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln, »zumindest hat der Herr im Himmel die Engländer gesandt, um uns ein wenig abzulenken.« Ivor unterdrückte sein Grinsen an diesem traurigen Tag, doch ganz zurückhalten konnte er es doch nicht. »Haben Sie gehört?« flüsterte er. »Die haben neunhundertdreißig Fuß errechnet.« »Ha!« Der Reverend verlor die Beherrschung. »Ein Irrtum von geradezu biblischen Ausmaßen! Aber was kann man von denen schon erwarten?« Ivor sah ihn fragend an. Der Reverend ließ sich nicht beirren. »Schließlich haben die beiden ihre Ausbildung in London erhalten!« Der Ton, mit dem er London erwähnte, erweckte den Eindruck, als wäre es ein schäbiger Marktflecken, was seiner Überzeugung ziemlich nahekam. »Sie wollen es heute nochmal versuchen«, sagte Ivor. »Na ja, eines muß man den Engländern lassen: Wenn sie die Chance haben, zwei Fehler zu begehen, werden sie sich nicht mit einem zufriedengeben.« »Morgan nimmt Wetten auf die Höhe des Berges an. 67
Soll ich einen Tip für Sie abgeben, unter anderem Namen natürlich?« fragte Ivor, obwohl er wußte, daß er sich auf gefährlichem Eis bewegte. »Ich bin entsetzt, daß Sie eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht ziehen«, sagte Reverend Jones. »Aber wo Sie es gerade erwähnen – es gibt da ein älteres Gemeindemitglied, einen Mann, der nicht mehr ins Pub gehen kann. Wenn Sie verstehen, worauf ich hinauswill …« »Wohl gebrechlich?« erkundigte sich Ivor, der sehr wohl verstand. »Ja genau, er ist gebrechlich.« »Welchen Tip würde er wohl abgeben?« fragte Ivor. Der Reverend suchte in seinem Gedächtnis angestrengt nach der Schätzung des imaginären Gemeindemitgliedes. »Ich glaube, er lag bei ungefähr dreitausendsechshundert Fuß.« »Also dreitausendsechshundert Fuß«, sagte Ivor. »Ich gebe den Tip unter dem Namen meines Cousins ab.« »Sehr gut, ausgezeichnet«, erwiderte der Reverend. »Wieviel sollte mein Freund wohl setzen?« »Einen Penny«, gab Ivor zurück. »Ich denke, das kann er sich leisten. Ich sorge dafür, daß Sie noch heute Ihr Geld bekommen.« Als er verschwunden war, lachte Ivor in sich hinein. Reverend Jones und Morgan der Ziegenbock hatten tatsächlich denselben Tip abgegeben. Im Garten des Pubs beobachtete Morgan mit Interesse, wie Anson und Garrad mit einigen Gegenständen hantierten, die wie kleine Messinguhren aussahen. Anson bemerkte Morgans aufmerksamen Blick. »Das sind Barometer«, erklärte er. 68
»Sicher doch«, erwiderte Morgan, als wären Barometer ein fester Bestandteil seines Lebens. Anson versuchte, auf beiden Instrumenten denselben Wert zu erhalten. Garrad widmete sich der weitaus gewichtigeren Aufgabe, schlechte Laune zu verbreiten. »Anson, ich dachte, Sie wüßten, wie man damit umgeht!« grollte er, ohne selbst den blassesten Schimmer davon zu haben. »Sicher«, erwiderte Anson. »Man braucht nur viel Geduld dafür und sollte es am besten nicht frühmorgens versuchen, wenn sich der Druck erst noch stabilisieren muß. Wenn wir noch ein oder zwei Stunden warten würden …« »Wir haben nicht einmal eine Stunde, Anson«, sagte Garrad. Er wollte unbedingt die verlorene Zeit wieder gutmachen. Inzwischen war es klar für ihn, daß Anson derjenige war, der sie gestern so aufgehalten hatte. Schließlich hatte er auf der Tasse Tee bestanden, und Garrad fragte sich, ob er diese Tatsache nicht in seinem Bericht erwähnen sollte. Und jetzt fummelte Anson an diesen Barometern herum, als wären es empfindliche, wissenschaftliche Instrumente. »Vielleicht haben wir keine ganze Stunde Zeit, aber wir müssen wenigstens fünf Minuten warten, bis sie sich stabilisiert haben«, sagte Anson. »Fünf Minuten hier, fünf Minuten da, und bald ist der ganze Tag im Eimer.« »Da haben Sie völlig recht«, gab Anson zur Antwort, »aber wir können einfach nicht aufbrechen, bevor die Geräte nicht übereinstimmen.« Sie hatten sich beide über die Barometer gebeugt und stierten sie an, als könnten sie mit bloßer Willenskraft erreichen, daß sie denselben Wert anzeigten. Ihre 69
Konzentration wurde allerdings von den Typ Zwillingen gestört, die durch das Tor geschlurft kamen, das vom Garten auf die Wiese führte. »Morgen, Thomas. Morgen, Thomas«, sagte Morgan. »Guten Morgen«, antworteten die Zwillinge wie aus einem Mund. »Und was kann ich für euch tun?« erkundigte sich Morgan. »Wir wollen die Männer sehen, die den Berg vermessen«, sagte Thomas Twp. George Garrad schaute sie an wie zwei dressierte Affen, die auf dem Bazar von Kairo mit Bananen jonglieren. »George Garrad«, blökte er, »und dies ist mein Assistent Reginald Anson. Vielleicht haben Sie bemerkt, daß wir es schrecklich eilig haben.« Er sprach in seinem strengsten Tonfall, mit dem er normalerweise kleinen Jungen und tollwütigen Hunden Angst einjagen wollte. Keiner der Twps rührte sich von der Stelle. Thomas Twp Zwo hatte sogar die Stirn, das Gespräch fortzusetzen. »Das ist mein Bruder Thomas Twp, und ich bin Thomas Twp Zwo.« »Wir haben nichts gelernt, und die meisten Leute halten uns für twp, aber wir sind nicht so twp, daß wir nicht wüßten, daß wir twp sind«, fügte Thomas Twp mit bemerkenswerter Offenheit hinzu. Schweigen. Anson und Garrad versuchten, den Sinn dieser Worte zu erfassen. Schließlich nahm Garrad seine fünf Sinne zusammen und startete einen weiteren Versuch, die Unterhaltung zu beenden. »Wie originell. Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, aber wir möchten Sie wirklich nicht länger aufhalten.« 70
Auch jetzt rührten sich die Twps nicht von der Stelle. Sie waren durchaus an wortkarge Unterhaltungen gewöhnt, die sich über den ganzen Tag hinzogen. Außerdem hatten sie den langen Weg von ihrem Hof bis hierher zurückgelegt und würden erst dann wieder gehen, wenn sie ihren Teil gesagt hatten. »Wir möchten wissen, wie Sie diesen Berg messen wollen«, sagte Thomas Twp Zwo. »Wir möchten dabei zusehen – und würden gern Ihr Lineal tragen«, fügte sein Bruder hinzu, fest davon überzeugt, daß die Engländer eine sehr lange Meßlatte mit sich herumtragen mußten. Anson hatte die beiden Bauern aufmerksam beobachtet. Er bewunderte sie, weil sie sich nicht von George einschüchtern ließen. Ihm gefiel auch, wie sie einfach stocksteif dastanden und mit tiefempfundener, ungeschönter Ehrlichkeit mit ihnen sprachen. Sie mochten zwar twp sein, besaßen aber eine Standhaftigkeit, die vielen sogenannten Gebildeten abging. Anson beschloß, sie zu mögen. »Ihr Angebot, unsere Ausrüstung zu tragen, ist wirklich verlockend«, sagte er, »aber leider haben wir heute gar nicht so viel zu tragen.« »Ja, Mr. Anson geht heute allein auf den Berg. Ich bleibe hier«, fugte Garrad hinzu. »Sie wollen von hier aus messen?« fragte Thomas Twp ungläubig. Er war erstaunt, daß Garrad solche Wunder vollbringen konnte. Garrad verdrehte die Augen und trat Anson unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Anson!« Er würde keinesfalls seine Zeit damit verschwenden, zwei walisischen Hügelbauern die Feinheiten der Barometermessung zu erklären – vor allem, weil er das 71
Prinzip selbst nicht ganz begriffen hatte. »Naja«, sagte Anson, »wir messen in Wirklichkeit nicht von hier aus, wir stellen Vergleiche an: Ich besteige den äh« – er wußte nicht recht, wie er ihn nennen sollte – »den Berg, mit einem Barometer …« Berg? Garrad warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Anson fuhr ungerührt fort: »Mr. Garrad bleibt derweil hier. Er hat auch ein Barometer, und wir lesen beide unsere Geräte im Abstand von zwanzig Minuten ab. Mr. Garrads Barometer dient der Kontrolle, während meines die Veränderung des Luftdrucks anzeigen wird. Aus der Differenz können wir die Höhe des Berges berechnen, da sich der Luftdruck mit zunehmender Höhe verändert.« Morgan der Ziegenbock lächelte den Twps zu. Er gab vor, Ansons Erklärungen verstanden zu haben und fragte: »Ist das jetzt klar, Jungs?« Die Twps lächelten zurück und schwiegen. Anson startete einen neuen Versuch. »Stellen Sie sich einfach mal vor, daß Sie auf allen Seiten von Luft umgeben sind. Und diese Luft reicht bis hoch oben in die Atmosphäre. Wir können es zwar nicht spüren, doch die Luft wiegt etwas. Und man kann ihren Druck messen. Wenn ich nun auf einen Berg steige, habe ich weniger Luft über mir, und der Druck nimmt ab. Ich messe also, wieviel Luft auf mich drückt, und Mr. Garrad hier unten mißt, wieviel Luft seinerseits auf ihn drückt. Aus dem Unterschied, der sich dann ergibt, kann man ersehen, wie hoch der – äh – Berg ist.« Wieder kam von den Twps als Antwort nur ein Lächeln. »Also«, Garrad machte eine weit ausholende Bewegung, um anzudeuten, daß die Pflichterfüllung im Dienst des Britischen Weltreichs höchstes Gebot war und sie ihre 72
Arbeit fortsetzen mußten. Am liebsten hätte er sich jedoch in die Hängematte gelegt und gar nichts getan. »Stimmen die Barometer jetzt überein?« Anson warf einen Blick auf die Geräte. Sie waren perfekt aufeinander abgestimmt. »Ich glaube, es kann losgehen.« »Fein«, sagte Garrad, »und nun zum Uhrenvergleich, Mr. Anson.« Anson und Garrad verglichen ihre Uhren. »Sieben Minuten nach neun«, meldete Garrad. »Auf meiner ist es erst fünf nach«, antwortete Anson. »Ich sagte sieben«, beharrte Garrad. Anson kapitulierte und stellte seine Uhr zwei Minuten vor. Die beiden Twps und Morgan sahen ihnen mit wachsender Verwirrung zu. Wurden die Messungen nun mit Barometern oder mit Uhren vorgenommen? Woher wußten sie, daß Garrads Uhr richtig ging und Ansons nicht? Das war befremdlich. »Ablesen um zwanzig nach, zwanzig vor und zur vollen Stunde«, ordnete Garrad an. »Geht in Ordnung. Ich mache mich auf den Weg«, sagte Anson. Er nahm sein Barometer und verließ den Garten. Thomas Twp folgte ihm, Morgan verschwand, um sich etwas Trinkbares zu holen, und Garrad fand sich in Gesellschaft von Thomas Twp Zwo wieder. »Ja?« fragte er. »Was ja?« fragte Thomas Twp Zwo zurück, während er sich auf einem Stuhl niederließ, um einen möglichst günstigen Blick auf das Barometer zu haben. »Wollen Sie etwa das Barometer beobachten?« Garrad war fassungslos. »Ja, Sie etwa nicht?« gab Thomas Twp Zwo zur Antwort. 73
»Ja und nein. Ich werde alle zwanzig Minuten den Wert ablesen – aber ich muß es dafür nicht die ganze Zeit im Auge behalten.« »Und wenn es sich bewegt, wenn Sie nicht hinsehen?« fragte Thomas Twp Zwo. »Das ist höchst unwahrscheinlich«, antwortete Garrad. »Also bewegt es sich nur, wenn Sie es anschauen?« fragte Thomas Twp Zwo unermüdlich weiter. Garrad hatte nicht die Absicht, diese absurde Unterhaltung fortzusetzen. »Ja, so ungefähr könnte man es ausdrücken.« »Gut, dann werde ich es die ganze Zeit beobachten, damit es sich wirklich nur für Sie bewegt.« Garrad war mit seinem Latein am Ende und legte sich lieber in die Hängematte. Genüßlich nahm er ein Buch über die Heldentaten des Gordon von Khartoum zur Hand. Draußen vor dem Pub bemerkte Thomas Twp, daß Anson stehengeblieben war. Er hatte die Verlustliste entdeckt und starrte sie völlig selbstvergessen an. Hunderte von Toten und noch weit mehr Verletzte verkündete die Überschrift. »Verletzte?« Das Wort klang so unpassend oberflächlich, ließ an einen Kratzer, eine Abschürfung, schlimmstenfalls eine Fleischwunde denken. Anson hatte Männer gesehen, die sich wünschten, tot zu sein, und doch verurteilt waren, weiter zu leben. Männer mit von Phosphor zerfressener Haut. Männer, deren Lungen vom Giftgas zerstört worden waren. Männer, die Gliedmaßen im Granatfeuer verloren hatten. Anson wußte nur zu gut, daß die Toten die eigentlich Glücklichen waren. Thomas Twp nahm die Mütze ab und blieb neben ihm stehen. Kurz darauf stieß Anson einen leisen Seufzer aus 74
und schien aus seinem Traum zu erwachen. Beinahe überrascht entdeckte er Thomas Twp an seiner Seite. Der Zwilling sagte nichts, lächelte leicht und zog Anson am Arm wie ein Hund, der vorsichtig an seiner Leine zerrt. Eine schlichte Geste, doch Anson erschien sie tröstlich und vertraut. Gemeinsam gingen sie schweigend durchs Dorf. Als sie den Ortsrand erreicht hatten, verließ Thomas Twp die Straße und nahm einen steilen Weg, der durch bewaldetes Gelände rührte. »Dieser Weg ist am schönsten«, sagte er. »Ich verrate Ihnen was: Mein Bruder sagt, der Weg ist genauso hübsch wie Betty aus Cardiff.« Er errötete bei diesen Worten. Anson fand es amüsant, daß ein älterer Mann auf so jugendliche Weise erröten konnte und fragte sich, ob Betty aus Cardiff wohl eine Jugendliebe der Zwillinge war. Lange brauchte er über diese Frage nicht nachzugrübeln, denn er wurde schnell abgelenkt. Sie fanden sich plötzlich auf einer Lichtung voller Wildblumen wieder. Die Sonnenstrahlen fielen durch das junge, sattgrüne Sommerlaub. Der Wind rauschte leise in den Zweigen, sanft wie ein Seidenband, das in einem Bach dahintreibt. Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Im Garten starrte Thomas Twp Zwo gebannt auf das Barometer. Seine Augen brannten allmählich. Manchmal bildete er sich ein, es hätte sich bewegt, dann wieder war es nur eine Hoffnung. Währenddessen wiegte sich Garrad genüßlich in der Hängematte, rauchte eine Zigarette nach der anderen und versank in Tagträume, in denen er der große General Gordon war. Anson und Thomas Twp verließen den Wald und 75
überquerten ein stark ansteigendes Feld. Anson warf einen Blick auf die Uhr – zwanzig nach neun. Er blieb stehen. »Zeit für unsere erste Messung.« Er gab Thomas Twp das Barometer und fischte in seinen Taschen nach Notizbuch und Bleistift. »Hat es sich bewegt?« fragte Thomas Twp. »Ja, sehen Sie hier, ein winziges bißchen.« »Und das kommt daher, daß wir jetzt höher sind?« erkundigte sich Thomas Twp. »Genau, Sie haben die Sache begriffen.« »Und wer hat das entdeckt?« Die moderne Welt mit ihren unglaublichen Erfindungen übte auf Thomas Twp eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. »Gute Frage«, sagte Anson. »Leider muß ich gestehen, so peinlich es auch ist, daß ich es nicht weiß. Ich kann es aber gern für Sie nachschlagen.« »Vielen Dank«, sagte Thomas Twp. Dann setzten sie ihren Aufstieg fort. Garrad hatte ebenfalls bemerkt, daß es Zeit für die Messung war, und wälzte sich aus seiner Hängematte. Er ging zum Tisch, an dem Thomas Twp Zwo nach wie vor mit eiserner Entschlossenheit das Barometer beobachtete. Garrad notierte den Wert. »Es hat sich nicht bewegt«, sagte Thomas Twp Zwo, sehr enttäuscht über diese Entwicklung. Garrad warf ihm einen langen, nachdenklichen Blick zu: »Nein, es hat sich nicht bewegt, aber wir müssen trotzdem die Tatsache festhalten, daß es sich nicht bewegt hat.« Garrad humpelte zurück zu seiner Hängematte und murmelte: »Ein Land von Debilen!« Glücklicherweise wußte Thomas Twp Zwo nicht, was 76
ein Debiler war. Außerdem wurden seine Gedanken abgelenkt, da Johnny mit der Bombenneurose gerade in den Garten kam, um bei den Engländern wegen des Jobs nachzufragen. »Hallo, Johnny«, sagte Thomas Twp Zwo, »setz dich zu mir. Ich beobachte das Barometer.« Johnny ließ sich neben ihm nieder, richtete den Blick ebenfalls auf das Barometer und warf Thomas Twp Zwo dann einen fragenden Blick zu. »Nein, es bewegt sich nicht, aber wir beobachten es trotzdem. Auf diese Weise messen sie Berge«, erklärte Thomas Twp Zwo fachmännisch. Er sah Johnnys Augen zu Garrad in der Hängematte wandern und flüsterte: »Nein, er bewegt sich auch nicht – ist ein fauler, alter Kerl.« Bei ihrem gemeinsamen Aufstieg zum Ffynnon Garw waren Anson und Thomas Twp alles andere als faul gewesen. Nachdem Thomas Twp ihm die Schönheiten des Waldes gezeigt hatte, führte er Anson zur Abwechslung nun einen ausgesprochen abschüssigen Hang hinauf. Das Peinliche war, daß sich der alte walisische Hügelbauer ebenso leichtfüßig und geschmeidig vom Rasen zum Fels und vom Fels zur Klippe bewegte wie die Schafe, die hier weideten. Anson rutschte mehr als einmal aus und konnte kaum Schritt halten. Er war in Schweiß gebadet und bemerkte daher nicht die Gewitterwolken, die sich im Westen zusammenbrauten. Unten im Garten schoß Thomas Twp Zwo mit einem Ruck in die Höhe. Die Nadel des Barometers hatte sich bewegt! Er war sich ganz sicher, hatte aber andererseits so lange auf das Gerät gestarrt, daß er sich nicht traute, etwas zu 77
sagen. Vielleicht spielten ihm seine Augen einen Streich. Er sah Johnny an, dieser nickte ihm zu - ja, auch ihm war nicht entgangen, daß sich die Nadel bewegt hatte. »Es hat sich bewegt!« rief Thomas Twp Zwo zu Garrad hinüber. »Reden Sie doch keinen Quatsch«, erwiderte Garrad und blätterte weiter – gerade wurde es richtig spannend. Gordon war dabei, es irgendwelchen rebellischen Eingeborenen in fernen Gegenden mal so richtig zu zeigen. »Ich schwöre, es hat sich bewegt!« sagte Thomas Twp Zwo mit Nachdruck. Es überraschte ihn nicht weiter, daß man ihn für dumm hielt, aber ein Lügner war er nicht. Garrad stieß einen langen, gequälten Seufzer aus und hievte seine birnenförmige Gestalt aus der Hängematte. Er reckte sich, reinigte seine Brillengläser und schlurfte schließlich die wenigen Schritte bis zum Tisch, um einen Blick auf das Barometer zu werfen. Zu seinem Kummer mußte er feststellen, daß sich die Nadel tatsächlich bewegt hatte. »Hm«, murmelte er, »es fällt, also ändert sich das Wetter.« Thomas Twp Zwo verstand nichts von fallenden Barometern. Er bevorzugte die von seinem Vater übernommene Methode – er starrte auf die Wiese hinaus, leckte an seinem Finger und hielt ihn in die Luf, um den aufkommenden Wind zu prüfen. Die heranziehende Luft war heißer und schwerer als zuvor. Er spürte das Gewitter. »Es wird regnen, ziemlich stark sogar«, sagte er. »Quatsch!« stieß Garrad hervor. »Das glaube ich nicht.« »Es wird Katzen und Hunde regnen«, fuhr Thomas Twp Zwo fort. 78
Johnny mit der Bombenneurose wußte, daß sich Thomas Twp Zwo beim Wetter niemals irrte. Er wollte kein Gewitter im Freien erleben. Seit er im Krieg gewesen war, haßte er den Donner. »Ich geh’ dann mal«, sagte er ganz leise und verließ den Garten. Garrad schaute wieder aufs Barometer. »Zeigt eindeutig keinen Regen an«, verkündete er im selben Moment, als der erste Blitz zuckte und der Donner direkt über dem Garten losbrach. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Oben auf dem Berg drängten sich Anson und Thomas Twp unter einem Regenschirm zusammen, während Anson die letzte Messung vornahm. »Ist wirklich sinnlos«, sagte er, »aber wenn wir schon mal hier sind …« Thomas Twp ließ nervös seine Augen wandern. Im vergangenen Jahr hatte er auf dem Gipfel bei einem Sommergewitter mehrere Schafe durch Blitzschlag verloren. Anson bemerkte seinen ängstlichen Blick und nahm an, daß Thomas Twp sich Sorgen um die Messung machte. »Ich mache das aus wissenschaftlichem Interesse, dauert nur zwei Minuten«, erklärte er. »Wir sollten runtergehen«, sagte Thomas Twp. »Hier kann es im Sommer einschlagen.« Anson war ganz in seine Zahlen vertieft. »Einschlagen?« fragte er. »Der Blitz, so was können Sie sich gar nicht vorstellen«, gab Thomas Twp zurück. Anson schaute sich um. Sie befanden sich auf dem höchsten Punkt in einem Umkreis von mehreren Meilen, mitten in einem Gewitter – und ihr einziger Schutz war ein 79
Regenschirm. Alles andere als tröstlich. »Sie haben recht«, sagte Anson. Er klappte den Schirm zusammen und warf einen letzten Blick auf seine Meßergebnisse, bevor sie fluchtartig den Gipfel verließen. Der Rückweg zum Gasthof war ein einziger Kampf. Das Straußgras wurde glitschig im Regen, die Wege verwandelten sich in Morast, der kleine Bach in einen reißenden Strom. Schlammtriefend erreichten Anson und Thomas Twp endlich den Gasthof. In Ansons besten Lederstiefeln schwappte das Wasser, und sein Notizbuch hätte er auswringen können. Er fand Garrad vor einem knisternden Feuer mit einem großen Glas Scotch in der Hand. »So ein Scheißtag«, nickte Garrad. »Sind draußen im Garten ganz schön naß geworden.« Anson warf ihm nur ein schiefes Lächeln zu und legte sein Notizbuch zum Trocknen ans Feuer, bevor er nach oben ging, um sich etwas anderes anzuziehen. Als er in die Bar zurückkehrte, wurde er zu seiner Überraschung schon von den Twps, Morgan dem Ziegenbock und einem halben Dutzend Dorfbewohner erwartet. Garrad nahm ihn zur Seite. Er sah ein wenig bleich aus und flüsterte Anson zu: »Die können kaum erwarten, das Ergebnis zu hören.« »Das Ergebnis?« fragte Anson verärgert. »Haben Sie es ihnen denn nicht erklärt? Ich glaube, das ist Ihre Aufgabe.« Er sprach so laut, daß die versammelte Menge es hören konnte. Alle Augen richteten sich auf Garrad, der vor sich hin stammelte: »Nun, es ist nicht sehr gut, tut mir leid …« 80
»Nicht sehr gut?!« donnerte Morgan, der nach Ansons Warnung hinsichtlich der weniger als neunhundertdreißig Fuß schon das Schlimmste befürchtete. »Mr. Garrad will sagen, daß unsere Berechnungen wahrscheinlich vom Wetter ruiniert worden sind«, sagte Anson. Morgan warf ihm einen fragenden Blick zu. Anson deutete auf Garrads Zahlen. »Diese Werte hier hätten eigentlich gleich bleiben müssen. Sie sollten als Konstante dienen – als Festwert, mit dem man meine Ergebnisse vergleichen kann –, aber wie Sie sehen, waren Mr. Garrads Zahlen mit dem Wetterumschwung einer schlagartigen Änderung unterworfen.« Was mochte das nun wieder heißen, fragte sich Morgan im stillen. »Solche Probleme hatte ich bei meinen Messungen in East Anglia nicht«, fiel Garrad ein. »Da brauchten wir keine verdammten Barometer; wunderbares Land, schön flach und herrliches Wetter – habe die ganze Gegend in wenigen Stunden vermessen.« Morgan war nicht weiter an East Anglia interessiert, wo immer das auch sein mochte. Er fragte enttäuscht: »Also ist alles nutzlos?« »Nun ja, nicht direkt, aber wahrscheinlich ungenau.« Anson nahm seinen Rechenschieber zur Hand und stellte einige Berechnungen an. »Vielleicht kommen wir ja doch zu einem Ergebnis.« Alle schwiegen ehrfürchtig, um seine Konzentration nicht zu stören. Von Zeit zu Zeit schrieb er eine Zahl auf oder rechnete eine Gleichung laut. »Dh ist gleich Delta dz …« In den Augen der Dorfbewohner hätte er ebensogut schwarze Magie betreiben können. Schließlich legte er den Stift hin und räusperte sich. »Wie ich bereits erwartet hatte, erhält man durch die 81
Schwankungen der Stadtlinie verschiedene Werte, so daß ich das Resultat nur schätzen kann …« »Ja?« Alle Augen waren auf ihn gerichtet. »… und zwar komme ich auf neunhundertfünfundsiebzig Fuß.« »Was?!« Morgan platzte der Kragen. »Aber«, fuhr Anson fort, »angesichts der Wetterverhältnisse ist diese Zahl keineswegs genau. Offensichtlich werden wir nur mit Hilfe des Richtkreises zu einer genauen Höhenangabe gelangen.« Er wandte sich an Garrad. »Ich furchte, wir brauchen einen weiteren Tag, George.« Garrad sah aus wie ein Mann, den man soeben zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt hatte. »Verdammt noch mal«, brummte er. Grabesstille senkte sich über das Pub. Thomas Twp brach nach einer ganzen Weile das Schweigen. »Er ist schon beinahe vierzig Fuß gewachsen«, sagte er lächelnd. »Stimmt, aber nach unseren Maßstäben ist es immer noch kein Berg«, erwiderte Garrad von oben herab. »Aber wenn er in dem Tempo weiterwächst, haben wir morgen einen Berg«, ergänzte Thomas Twp Zwo.
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Vielleicht sollte ich jene unter meinen Lesern, die noch nie in einem kleinen Dorf gelebt haben, mit einigen Gegebenheiten bekannt machen, die heute noch ebenso 82
zutreffen wie im Jahre 1917. Zunächst einmal passiert in einem kleinen Dorf nicht viel. Ereignisse wie Geburten und Todesfälle, die im Menschengewirr der Städte kein großes Aufsehen erregen, werden in einem Dorf genauestens besprochen, in ihre Bestandteile zerlegt und kommentiert. Doch nicht nur solche einschneidenden Erlebnisse sorgen im Dorf für Gesprächsstoff. Eigentlich genügen winzige Vorkommnisse wie der Kauf eines neuen Hutes, das Beschneiden eines Baumes, eine andere Frisur oder ein hartnäckiger Husten, um das Leben aus seinem gewohnten Trott zu reißen und eine angeregte Unterhaltung in Gang zu bringen. Wenn in einem solchen Dorf, in dem die kleinste Veränderung sofort zur Kenntnis genommen wird, Fremde auftauchen, ist ihnen natürlich doppelte Aufmerksamkeit sicher. In einer Großstadt begegnen sich auf der Straße Tag für Tag Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Menschen, so daß es einem völlig normal erscheint, von Fremden umgeben zu sein. In einem Dorf hingegen kennt jeder jeden. Vielleicht mag man seine Nachbarn nicht oder möchte nicht mit ihnen reden, aber man kennt sie genau, ihre Kleidung, ihre Gewohnheiten und ihre Vorlieben. Einen Fremden hingegen erkennt man instinktiv schon von weitem, selbst im Schatten oder im Dunkel der Nacht. Sein Verhalten mag noch so harmlos sein, es wird mit Sicherheit zum Gegenstand melodramatischer Vermutungen oder Verwicklungen. Aufgrund dieser Tatsachen und des besonderen Stolzes, mit dem die Bewohner von Ffynnon Garw ihren Berg – den ersten Berg in Wales – betrachteten, überraschte es niemanden, daß sich die gesamte Bevölkerung am dritten Morgen von Ansons und Garrads Aufenthalt in einem fieberähnlichen Zustand befand und ungeduldig auf das 83
endgültige Meßergebnis des heißgeliebten Gipfels wartete. Morgan der Ziegenbock wie auch Reverend Jones erwachten an diesem Morgen mit einem Gefühl der Vorahnung. Während sich der Rest des Dorfes noch in dem Glauben wiegte, Ffynnon Garw sei ein Berg, und einfach nur wissen wollte, wie hoch dieser Berg denn nun sei, litten Morgan und der Reverend unter gewissen Zweifeln. Dazu muß gesagt werden, daß sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben eine Empfindung oder Ahnung teilten. Ihre erste Übereinstimmung war die Annahme, der Berg sei über dreitausend Fuß hoch. Sie schienen wie besessen von den vorläufigen Meßergebnissen der Engländer. Anson hatte ihnen versichert, daß die Messungen falsch seien, was allerdings nichts an der Tatsache änderte, daß beide Ergebnisse unter tausend Fuß lagen. Die Pedometer-Messung von neunhundertdreißig Fuß zu ignorieren, war ein leichtes gewesen, aber bei der zweiten – ebenfalls zu niedrigen – Messung wurde die Sache schon schwieriger. Langsam zeichnete sich für die beiden Männer ein Muster ab, das ihnen nicht gefiel. Reverend Jones saß am Küchentisch und schaute nachdenklich in eine Tasse mit lauwarmem Tee. Er konnte doch unmöglich den ganzen Tag vor Angst gelähmt hier herumsitzen. Er gab sich einen Ruck und beschloß, Ffynnon Garw mit zu besteigen und die Messungen zu überwachen. Zumindest hatte der Reverend so die Gelegenheit, diese englischen Außenseiter im Auge zu behalten und sich davon zu überzeugen, daß sie kein krummes Ding drehten. Mit neuer Energie stand er auf, spülte die Tasse aus und zog seine derben Wanderschuhe an. 84
Morgan starrte aus dem Fenster des Pubs und bemerkte, daß Reverend Jones anscheinend nicht der einzige Dorfbewohner war, der mit auf den Gipfel steigen wollte. Ivor der Krämer hängte gerade das Schild »Heute Ruhetag« an seine Ladentür, Davies der Lehrer war mit seiner gesamten Klasse unterwegs, und viele weitere Dorfbewohner zogen auf dem Weg zum Berg am Pub vorbei. Diese Idioten, dachte Morgan, halten die Messungen wohl für eine Zirkusvorstellung. Er hatte die Engländer mit ihren Barometern gesehen und war davon überzeugt, daß die heutigen Vorgänge ungefähr so interessant sein würden wie eine Schafschur. Außerdem zeugte diese Prozession von Menschen von der abergläubischen Hoffnung, ihre Solidarität könne den Berg zum Berg machen. Welch ein Haufen, dachte Morgan und erwachte aus seiner Trance. Das Gewitter hatte die Luft geklärt, ein heißer Tag kündigte sich an. In dieser Hitze würden also zahlreiche Menschen einen steilen Berg besteigen und darauf warten, daß die Engländer ihr Werk vollbrachten. Vor seinem inneren Auge tauchte eine wunderbare Vision auf, und Morgan rechnete schnell durch, wieviel Bier, Zitronen- und Sarsaparille-Limonade, welche Mengen Brot, Pasteten und Sandwiches er heute auf dem Berg wohl verkaufen könnte. Es gab nur ein Problem – wie sollte er den ganzen Kram dort hinaufschaffen? In seinem Zimmer packte Anson gerade die letzten Teile des Richtkreises ein. Es war ein äußerst lästiges Gerät. Der Richtkreis selbst lag in einer schweren, mit Flanell ausgekleideten Kiste. Dazu gehörten außerdem noch das 85
solide Stativ, ein Senkblei und diverse kalibrierte Messingplatten für die Visiere. Ein einziger Mann konnte den ganzen Kram wohl kaum auf den Berg schleppen. Es klopfte. Garrad stand abmarschbereit vor der Tür. »Fertig, Anson?« »Ich glaube schon.« »Fein«, erwiderte Garrad. »Ich bin heilfroh, wenn wir diese Messung endlich hinter uns gebracht haben und weiterfahren können. Haben hier ohnehin schon zuviel Zeit vertrödelt.« Garrad machte keine Anstalten, auch nur ein Stück der Ausrüstung zu tragen. Anson versuchte es auf die taktvolle Art. »Ziemlich viel für einen Mann, was, George?« »Ja«, stimmte dieser zu und warf einen Blick auf die Uhr. »Wo bleiben nur diese verdammten Kulis?« »Kulis?« fragte Anson, der keine Ahnung hatte, wie Garrad in einem walisischen Dorf irgendwelche Kulis auftreiben wollte, verwirrt. »Die Twerps«, er sprach den Namen natürlich falsch aus. »Diese geistesschwachen Zwillinge. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten um Punkt neun Uhr hier sein.« »Neun …« sagte Anson. »Sehen Sie da irgendein Problem?« »Nein, ich frage mich bloß, ob die beiden wohl eine Uhr haben«, antwortete Anson. Sein Einwand schien berechtigt. »Das möchte ich bezweifeln«, bemerkte Garrad. »Aber damit kann man eine Verspätung wohl kaum entschuldigen.« Bei einem Blick aus dem Fenster entdeckte Anson die 86
Twps, die wieder einmal auf der Bank unter dem Fahnenmast saßen, die Augen starr auf den Gasthof geheftet. Tatsächlich waren sie bereits seit einer Stunde dort. »Ich nehme alles zurück, George. Die warten dort unten auf uns.« Beim Verlassen des Gasthofs bemerkten Anson und Garrad, daß jetzt einige Rentner und Witwen den Stammplatz der Twps auf der Bank unter dem Fahnenmast eingenommen hatten. Hinter ihnen gingen im Gleichschritt die Zwillinge mit der Ausrüstung. Als ihre Gruppe die Zuschauer passierte, standen alle geschlossen auf und folgten ihnen in einigem Abstand. Garrad gefiel das ganz und gar nicht. Er hielt inne. Die alten Leute blieben in angemessener Entfernung ebenfalls stehen. Als er weiterging, setzten auch sie sich wieder in Bewegung. »Ein solches Verhalten habe ich seit der Vermessung der Pyramiden von Gizeh nicht mehr erlebt«, tobte er. »Keine Sorge«, flötete Anson grinsend, »ich glaube, sie sind nicht bewaffnet.« Wie bei der Bergbesteigung am Tag zuvor gaben die Twps auch diesmal das Marschtempo an. Anson und Garrad mußten zu ihrer Schande gestehen, daß sie kaum Schritt halten konnten. Besonders George Garrad litt Höllenqualen. Auf halbem Weg blieb er stehen und verkündete dem Gefolge: »Zehn Minuten Pause.« Er glich einem Gouverneur, der seiner Kolonie großzügig einen Feiertag zugesteht. Die Twps nickten nur und gingen weiter. »Wir treffen uns oben«, sagte Thomas Twp Zwo. Zu allem Übel marschierten die Dorfältesten ebenfalls 87
weiter. So sehr Garrad die Erholungspause brauchte, er konnte sich nicht von diesen Leuten beschämen lassen. Er sah Anson vorwurfsvoll an, als wären sie nur seinetwegen stehengeblieben. »Kommen Sie, Anson«, sagte er laut. »Wir können hier nicht untätig herumstehen!« Er grunzte und keuchte wie eine alte Dampflok, während er sich weiter bergauf schleppte und verzweifelt versuchte, mit den Einheimischen Schritt zu halten. Garrad empfand bereits ihren ältlichen Hofstaat als äußerst nervenaufreibend, doch nichts hatte ihn auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm bot, als er den Gipfel von Ffynnon Garw erreichte: Der war - mit einem Wort – übervölkert. Schulkinder tobten durchs Heidekraut, überall standen die Dorfbewohner in Grüppchen herum und plauderten, und auf dem Steinhügel, der den höchsten Punkt markierte, thronte die krähenähnliche Gestalt von Reverend Robert Jones. Er überragte alles andere wie der personifizierte Wächter des Berges. Als die Engländer ankamen, wandte sich die Menge zu ihnen um. Am Steinhügel umringten sie die Neuankömmlinge. Jeder wollte hören, was Reverend Jones zu sagen hatte. Mit einem boshaften Funkeln in den Augen stellte Ivor der Krämer die Engländer Reverend Jones vor. »Haben Sie schon unseren Reverend kennengelernt?« Reverend Jones warf ihnen unter seinem schwarzen Hut, der sich auf jeder Beerdigung gut gemacht hätte, einen finsteren Blick zu. »Ich weiß, daß Sie jetzt Ihr Bestes tun werden …« sagte er mit dem ganzen Sarkasmus, den er an einem Wochentag aufbringen konnte. Anson und Garrad schüttelten ihm die Hand und 88
schreckten beide zurück vor dem eisernen Griff des alten Mannes. »Nun«, Garrad schaute sich um, »das werden wir auch, aber - und das ist ein gewaltiges Aber – wir können nichts unternehmen, bevor sich nicht die Nebel über Newport Beacon und Whitchurch Hill verzogen haben.« Alle Blicke wanderten nach Osten in Richtung England, zu den beiden Hügeln, die als Vergleichspunkte für Ansons Dreiecksberechnung dienen sollten. Sie lagen im Morgendunst verborgen. Reverend Jones lächelte hinterhältig. »Wir haben es nicht eilig – dieser Berg hat schon hier gestanden, bevor ihr Sachsen herkamt, und er wird noch hier stehen, nachdem ihr von der Bildfläche verschwunden seid.« Darauf folgte unbehagliches Schweigen. Alle Zuschauer suchten sich bequeme Sitzplätze, um in Ruhe das Verschwinden des Nebels abzuwarten. Thomas Twp sah seinen Bruder an. Thomas Twp Zwo schaute blinzelnd in den flimmernden Morgendunst und beobachtete dann den Flug der Krähen über ihren Köpfen. »Es wird sich heute nachmittag aufklären, so um die Teezeit«, prophezeite er. Garrad schnaubte verächtlich. »Eine umwerfend zuverlässige Vorhersage.« »Beim Wetter irrt sich mein Bruder nie«, erklärte Thomas Twp, und alle Dorfbewohner richteten sich auf eine lange Wartezeit ein. Unten im Dorf war es ruhig. Morgan hatte keinen einzigen Kunden und rasierte sich gerade vor dem Barspiegel, als Johnny mit der Bombenneurose auf der Suche nach den Engländern hereinkam. 89
Minuten später hatte Morgan ihn wie einen Packesel beladen. Das kleine Bierfaß war auf seinem Rücken festgeschnallt, die Flaschen mit der Sarsaparille-Limonade hingen an seinem Gürtel, in den Armen hielt er einen Korb voller Sandwiches. Morgan selbst erklärte sich freiwillig bereit, eine Kiste mit leichten Blechtassen zu tragen. Schließlich mußte er Johnny auf den Berg fuhren. »Komm, Johnny. Es ist wirklich nett, daß du mir hilfst. Darüber werden die sich da oben richtig freuen.« Morgans Timing hätte nicht besser sein können. Er und Johnny tauchten genau in dem Augenblick auf, als die Dorfleute das erste Magenknurren überkam. »Jemand an Mittagessen interessiert?« fragte er und grinste von einem Ohr zum anderen. Alles stürzte sich auf ihn, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich. »Ich habe Sandwiches und Fleischpasteten, SarsaparilleLimonade für die Frauen und Kinder – und Bier für die Herren.« Reverend Jones runzelte die Stirn und sonderte sich ein wenig von der aufgeregten Menge ab. Er würde eher verhungern oder verdursten, als Morgan etwas abzukaufen. »Ein Bier für Sie, Reverend?« neckte ihn Morgan. Reverend Jones bedachte ihn mit einem Blick, bei dem ein empfindsameres Gemüt zu Stein erstarrt wäre. »Er ist Abstinenzler«, erklärte Morgan an Anson gewandt, »und hält mich für einen Boten des Teufels.« Er fingerte in seiner Westentasche herum. »Wo habe ich denn nur meine Preisliste gelassen?« Während Morgan glänzende Geschäfte machte, suchte Davies der Lehrer die Nähe von George Garrad. Er hielt ihn für einen gebildeten, vielleicht sogar gelehrten Mann. 90
Dadurch hatten sie in Davies’ Augen eine Menge gemein. Es war an ihm, sich vorzustellen und Garrad auf diese Weise mit der intellektuellen Elite des Dorfes bekannt zu machen, deren einziger Vertreter er selbst war. »Sir«, sagte Mr. Davies, »darf ich mich vorstellen? Edward Davies, Leiter der hiesigen Schule, Bachelor of Science.« George Garrad geriet ein wenig aus der Fassung, weil er erstens noch nichts zu trinken bekommen hatte und zweitens sich in der Gesellschaft gebildeter Menschen äußerst unbehaglich fühlte, da er selbst nicht zu dieser Gruppe gehörte. Wichtiger war aber noch die Tatsache, daß er – nach dem sprichwörtlichen Grundsatz »Gleich und gleich gesellt sich gern« – sein Gegenüber sofort als ausgesprochenen Langweiler erkannt hatte. »Sehr erfreut«, erwiderte Garrad in dem Versuch, die Einleitung abzuwürgen und jedes nachfolgende Gespräch auf ein Minimum zu reduzieren. Er suchte lieber Morgans Nähe, um an einen wohltuenden Tropfen Alkohol zu gelangen. »Ich habe mich gefragt, ob Sie meinen Schülern vielleicht etwas über Kartographie erzählen könnten«, fuhr Davies fort, der sich an Garrads Fersen geheftet hatte. Garrad drehte sich um und lächelte scheinheilig. »Gern, jederzeit – aber leider bin ich so beschäftigt.« Er hoffte, Davies auf diese Weise loszuwerden, wurde jedoch bitter enttäuscht. »Ich persönlich finde das Thema ungeheuer faszinierend und dachte, da uns das Wetter im Augenblick einen Strich durch die Rechnung macht, Sie könnten vielleicht kurz zu den Kindern sprechen.« Garrad drang langsam zu Morgan vor. »Natürlich erst, nachdem Sie etwas gegessen haben.« Inzwischen hatte Garrad ein Bier und ein Sandwich 91
ergattert. Nichts würde ihn dazu bringen, eine Horde von Gören zu unterrichten, wenn es etwas zu essen gab. »Eigentlich sollten Sie mit meinem Assistenten Mr. Anson sprechen. Bei ihm sind Sie an der richtigen Adresse. Zudem kann er ausgezeichnet mit Kindern umgehen. Anson!« Anson kam herüber. »George?« »Dies ist der hiesige Lehrer …« sagte Garrad. Davies haßte diesen Titel wie die Pest! Der hiesige Lehrer? Bei diesen Worten kam er sich vor wie ein Veterinär. »Mr. Davies«, wiederholte er, da George seinen Namen offensichtlich vergessen hatte. »Ja, genau«, fiel Garrad ein. »Könnten Sie vielleicht kurz mit seinen Schülern reden? Anscheinend sind sie von Landkarten ganz fasziniert. Kann mir zwar nicht denken, weshalb sich Kinder für so etwas begeistern sollten, aber was soll’s.« Mit diesen Worten zog sich Garrad aus der Affäre und ließ sich in einiger Entfernung im Heidekraut nieder. Davies war gekränkt – er wollte nicht, daß seine Schüler von einem unbedeutenden Assistenten unterrichtet wurden. Damit verlor George Garrad seinen einzigen potentiellen Verbündeten im gesamten Umkreis von Ffynnon Garw. Anson wußte nur zu genau, daß er wieder einmal Garrads Fauxpas ausbügeln sollte. »Glauben Sie, die Kinder möchten einmal durch den Richtkreis sehen?« Während die Dorfbewohner aßen und tranken, hob Anson nacheinander jedes Kind hoch und ließ es durch den Richtkreis schauen. Geduldig zeichnete er Diagramme, um ihre Meßmethoden zu erklären. Am Ende 92
des Mittagessens wußten alle Kinder in Ffynnon Garw besser über das Kartenzeichnen Bescheid als George Garrad. Dieses improvisierte Picknick dauerte seltsamerweise genauso lange, wie Morgans Biervorrat reichte. Allmählich sanken die Erwachsenen ins Heidekraut, um ein Mittagsschläfchen zu halten. Einige Stunden später, genauer gesagt um die Teezeit, als das ganze Dorf unter der Wirkung von Morgans Bier schlafend dalag, warfen Thomas Twp und Thomas Twp Zwo einen Blick in die Ferne und stellten fest, daß sich die Nebel, der Vorhersage entsprechend, von Newport Beacon und Whitchurch Hill verzogen hatten. Die Gipfel waren nun deutlich zu sehen. Thomas Twp und Thomas Twp Zwo sahen einander an und blickten dann gemeinsam zu dem Richtkreis hinüber, den Anson auf dem Stativ befestigt hatte. Sie waren nicht sicher, ob der Richtkreis die Arbeit allein erledigen konnte oder ob Anson ihn auf irgendeine Weise bedienen mußte. »Glaubst du, er läuft schon?« fragte Thomas Twp. »Weiß nicht«, antwortete sein Bruder. »Meinst du, wir sollten sie wecken?« fragte Thomas Twp. Sie dachten einige Minuten über diese Frage nach und betrachteten dabei das Meer der schlafenden Menschen. Anson lag ausgestreckt auf dem Rücken, den Hut über den Augen, und wirkte sehr friedlich. Garrad schnarchte heftig. Die Twps störten die beiden nur ungern, aber letztendlich waren sie zum Arbeiten auf den Berg gekommen. »Ich glaube, wir sollten sie wecken. Einer muß es ihnen sagen«, sagte Thomas Twp Zwo. 93
Sie standen gemeinsam auf und traten zwischen die Dorfbewohner. »Es ist fast Teezeit«, verkündete Thomas Twp in alle Richtungen. »Wir haben klare Sicht.« »Wacht auf«, sagte Thomas Twp Zwo. »Wir haben klare Sicht.« Anson war im Nu auf den Beinen. Kurz darauf umringten ihn die Leute aus dem Dorf, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Nur Garrad fiel es schwer, die Augen zu öffnen und sich aufzurappeln. Er hatte geträumt, er wäre nach Indien zurückgekehrt und regiere nun das Empire von einem gepolsterten, mit Moskitonetzen umhüllten Sofa aus. »Entschuldigen Sie«, sagte Anson mit einem gewinnenden Lächeln und schob einige Dorfbewohner zur Seite, die ihm die Sicht sperrten. Nachdem er nachgeprüft hatte, ob sein Richtkreis nivelliert war, stellte er das Fadenkreuz des Teleskops auf den Gipfel von Newport Beacon ein. Sorgfältig notierte er Breite, Länge und Beugungswinkel, bevor er das Gerät auf Whitchurch Hill richtete. »Gut«, sagte Anson, dann schrieb er den Wert des zweiten Beugungswinkels und den Einfallswinkel zwischen den beiden Punkten auf. »Und?« fragte Morgan der Ziegenbock ungeduldig. »Haben Sie ein Ergebnis?« fragte Reverend Jones im selben Moment mit demselben Nachdruck. »Sie müssen verstehen, daß noch stundenlange Berechnungen vor uns liegen.« Garrad sagte dies in genau dem Tonfall, den er für unzivilisierte und ungebildete Völker bereithielt. Anson grinste. Garrad benutzte den Pluralis majestatis, da einzig und allein Anson am Rechenschieber schwitzen würde. 94
»Wir werden es heute abend wissen«, ergänzte Anson. Sofort bereute er seine voreiligen Worte. Jetzt wußten alle, wann sie mit dem Ergebnis rechnen konnten, und er hatte das dumpfe Gefühl, daß die Aufgabe, es ihnen mitzuteilen, an ihm hängenbleiben würde. Johnny mit der Bombenneurose bot sich nun die Gelegenheit, für die Engländer zu arbeiten. Er trat vor und griff nach dem Richtkreis. »Vielen Dank«, sagte Garrad und folgte ihm auf dem Fuß wie eine unverheiratete Tante, deren Lieblingskatze gerade entführt wird. »Aber passen Sie gut darauf auf.« Anson trug einige allgemeine Anmerkungen über die Wetter- und Sichtverhältnisse in sein Notizbuch ein. Ein Twp fragte leise: »Aber woher wissen Sie denn später, wie hoch er ist?« Anson war entschlossen, die Sache so gut wie möglich zu erklären. »Wir haben ihn mit den anderen Gipfeln verglichen.« »Und wie hat man die gemessen?« fragte der andere Twp. »Auf die gleiche Weise. Man hat sie mit anderen Hügeln verglichen.« Er lächelte den Brüdern zu und ging Garrad hinterher. Die Dorfbewohner wirkten noch immer verwirrt, doch wie gewöhnlich kleidete ein Twp die Frage in Worte. »Aber wer hat den ersten Hügel gemessen?« »Gott, mein Junge! Gott!« antwortete Reverend Jones. Morgan der Ziegenbock verdrehte die Augen. »Und wann war das genau?« erkundigte sich Thomas Twp Zwo. »An einem Sonntag«, amüsierte sich Morgan, »als 95
keiner sündigte und er nichts Besseres zu tun hatte.« Er grinste den Reverend übers ganze Gesicht an und schlenderte davon. An diesem Abend machte Morgan wieder ein glänzendes Geschäft, da sich alle im Pub versammelten, um das Ergebnis zu erfahren – alle außer Reverend Jones, der grundsätzlich keinen Fuß in diesen Sündenpfuhl setzte. Er hatte sich draußen auf der Bank unter dem Fahnenmast niedergelassen und kaute vor Nervosität an den Nägeln. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern war der Reverend nicht im geringsten an den Chancen seiner Wette interessiert, die Ivor für ihn abgegeben hatte. Für ihn zählte nur der Status ihres einzigen Aushängeschildes – des ersten Berges in Wales. Im Pub gab es nur noch Stehplätze, weil sich alle Männer im trinkfähigen Alter – und auch viele jüngere – in Morgans Lokal drängten. Die Tafel war vollgekritzelt mit Wetten. Außer Morgan und »Ivors Cousin« hatten nur noch zwei andere Männer denselben Tip abgegeben. Nicht gerade verwunderlich, denn es handelte sich um Thomas Twp und Thomas Twp Zwo. Der Ausschank lief auf Hochtouren. Seit der Geburt seines letzten Kindes hatte Morgan nicht mehr solche Mengen Bier gezapft. Davies der Lehrer kämpfte sich den Weg zur Theke frei. »Noch eins für Sie?« fragte Morgan. Davies der Lehrer lehnte ab. »Ich möchte meine Wette ändern.« Morgan überlegte für den Bruchteil einer Sekunde – es würde in Anarchie ausarten, wenn sämtliche Gäste auf einmal ihre Wetten änderten. »Nein, das geht nicht. Wette ist Wette«, sagte er fest. 96
»Dann möchte ich noch einen Tip abgeben«, sagte Davies. Alle verfielen in Schweigen. »Noch einen?« fragte Williams die Zapfsäule. »Ist doch nicht verboten, oder?« erkundigte sich Davies der Lehrer. »Ich bezahle ja auch noch einen Penny.« In Ansons Zimmer harrten dieser und Garrad der Dinge, die da kommen sollten. Sie spürten förmlich die brodelnde Menschenmenge unter sich, die nur auf das Ergebnis ihrer Messungen wartete. Gelächter drang zu ihnen hoch, dann herrschte plötzliche Stille. Schließlich log Garrad: »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen. Ich glaube, ich sollte mich hinlegen.« Anson hatte das schon kommen sehen. »Also soll ich es ihnen sagen?« »Nein, nein«, heuchelte Garrad. »Andererseits könnten Sie sich dadurch ein wenig im Umgang mit den Eingeborenen üben. Kann manchmal sehr nützlich sein.« »Stimmt genau«, erwiderte Anson trocken. Er haßte es, vor Publikum zu sprechen, aber dieser Prüfung würde er sich wohl nicht entziehen können. Allzu leicht wollte er es Garrad aber doch nicht machen. »Das wird ihnen vermutlich nicht gefallen.« »Wohl kaum«, gab Garrad zurück, der äußerst immun gegen Schuldgefühle war. »Aber diese Zahlen wurden wissenschaftlich errechnet. Und was ist Wissenschaft, Mr. Anson?« Nun würde eine von Garrads Lieblingsweisheiten folgen. Anson kannte sie nur zu gut, machte sich jedoch einen Spaß daraus, den Vergeßlichen zu mimen. »Ach, das ist mir entfallen.« »Kommen Sie schon – Wissenschaft ist keine 97
Leidenschaft, Mr. Anson«, wiederholte Garrad beleidigt. »Ja, sicher«, strahlte Anson. »Keine Leidenschaft! Ich frage mich, warum ich mir das nie merken kann, dabei ist es doch so einfach: keine Leidenschaft.« Unten in der Bar durchwühlte Davies der Lehrer seine Taschen und warf eine Münze in den Topf, der für Wetteinsätze bereitstand. Dann verkündete er seinen neuen Tip. »Neunhundertachtzig Fuß.« Einen Moment herrschte Stille. Dann erhob sich ein vielstimmiger Protest. »Das ist nicht fair!« schrie Williams die Zapfsäule. »Er ist ein gebildeter Mann und hat ihnen beim Messen zugeschaut. Vielleicht weiß er etwas.« Bei diesen Worten überlief alle ein kalter Schauer. Wenn Davies recht hatte, waren alle anderen im Unrecht – und Ffynnon Garw war kein Berg. Morgan fischte Davies’ Geld aus dem Topf und knallte es vor ihm auf die Theke. »Einspruch stattgegeben. Außerdem nehme ich keine Wette unter tausend Fuß an – Verräter!« »Judas!« zischte Williams die Zapfsäule. Davies der Lehrer bahnte sich beleidigt seinen Weg durch die wütende Menge und verließ das Pub. Morgan rief ihm noch nach. »Sind Sie sicher, daß kein englisches Blut in Ihren Adern fließt?« Das Gelächter dröhnte bis auf die Straße. Reverend Jones hörte den Lärm und entdeckte Davies, der auf ihn zugestürmt kam. »Gibt es ein Ergebnis? Haben die inzwischen ein Ergebnis?« fragte er beinahe flehend. »Nein!« gab Davies kurz angebunden zurück und marschierte davon. Man muß ja nicht gleich so unfreundlich sein, dachte 98
Reverend Jones. Eigentlich hatte er den Mann noch nie gemocht. Anson blieb oben an der Treppe stehen und bereitete sich seelisch auf seine Aufgabe vor. Er holte so tief Luft, daß ihm schwindlig wurde, und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Augen zu und durch, dachte er. Ich muß das schnell und sauber hinter mich bringen wie einen Sturmangriff. Schon nach den ersten Stufen hörte er, wie es still im Pub wurde – die Männer lauschten wie erstarrt auf seine Schritte. Noch nie war er eine Treppe so langsam hinuntergegangen. Er trat den versammelten Männern gegenüber. Ein Meer von Gesichtern war ihm zugewandt. Anson räusperte sich und versuchte zu lächeln. »Mr. Morgan, habe ich Ihre Erlaubnis?« Morgan stimmte mit einer schwungvollen Geste zu – die Bühne gehört Ihnen –, und Anson schluckte schwer. Sein Mund war plötzlich so trocken wie Papier, sein Hals ebenso verkrampft wie Garrads Arterien. »Nun, Gentlemen«, setzte er an. Seine Stimme erschien ihm fremd. Sie klang höher als sonst und unangenehm schrill. »Wir haben die Vermessung von Ffynnon Garw abgeschlossen.« Wieder klang das walisische Wort aus seinem Mund wie das Gebrüll eines außerirdischen Wesens. »Ich muß Ihnen mitteilen, daß er neunhundert« – ein Seufzen ging wie eine Welle durch den Raum – »vierundachtzig Fuß hoch ist.« Aus der Welle wurde kochende Brandung. Um ihn herum sah und hörte er nur meckernde, grollende, zischende und gestikulierende Männer. Anson hob die Arme, um dem Aufruhr Einhalt zu gebieten. »Ich weiß, daß es für Sie eine große Enttäuschung sein muß, aber es ist nur eine Messung.« Schweigen. »Diese Messung sollte 99
in keiner Weise die Bewunderung und den Stolz mindern, die Sie für diesen …« Ihm versagte die Stimme. Der Ordnung halber mußte er jetzt Hügel sagen. Zahllose Blicke waren auf ihn gerichtet, und er wendete sich ab. Die Augen folgten ihm. Anson blickte nach oben und sagte: »Diese Messung sollte in keiner Weise die Bewunderung und den Stolz mindern, die Sie für diesen – Hügel empfinden.« Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte die Treppe hinauf. Hinter ihm herrschte vollkommenes, beinahe feierliches Schweigen. Morgan ließ den Kopf auf die Theke sinken. »Hügel?« fragte er leise. Die Männer stellten die halbvollen Gläser ab und verließen das Pub. Angesichts dieser Enttäuschung – dieser Beleidigung – konnten sie einander jetzt nicht in die Augen sehen. Reverend Jones beobachtete, wie sich das Pub schlagartig leerte. Die Gesichter und die hängenden Schultern verhießen nichts Gutes. »Bitte sag es mir!« bat er Williams. »Er ist ein … Hügel.« Williams trabte mit gesenktem Kopf von dannen. »Ein Hügel …« seufzte Reverend Jones und verfiel in tiefe Trauer. Die Männer schlichen nach Hause, um ihren wartenden Familien die traurige Nachricht zu überbringen. Im ganzen Dorf zog man die Vorhänge zu, die Lampen wurden heruntergedreht, die Kerzen gelöscht, alle Gespräche verstummten. Todesstille senkte sich über das Tal. Die einzige Bewegung kam von Reverend Jones, der sich wie ein 100
verstörtes Baby auf der Bank unter dem Fahnenmast hinund herwiegte. Zwischendurch stieß er tiefe Seufzer aus, als wäre seine Seele dabei, seinen Körper zu verlassen. *** Vielleicht wäre ohne den Krieg alles ganz anders gewesen, doch man schrieb das Jahr 1917, und die Menschen konnten keine weiteren Verluste ertragen. Die jungen Männer gingen fort und kehrten entweder in einem Sarg zurück oder gezeichnet wie Johnny. Die wenigen, die bleiben durften, arbeiteten in den Bergwerken, um die Kohle für die Kriegsschiffe zu fördern. Die Schichten waren lang: zwölf Stunden Arbeit, zwölf Stunden frei – abwechselnd Tag und Nacht. Die Förderbänder standen niemals still. Die Männer griffen nach Hacken, die noch warm waren von den Händen ihrer Vorgänger. Stollen wurden vorangetrieben, die Kohle hastig losgehackt, die Sicherheitsvorkehrungen gelockert – wer die Deutschen überlebte, starb für die Kohle. Es war eine traurige Zeit. Die Menschen hatten Freunde, Söhne, Ehemänner, Väter, Brüder und Liebhaber verloren. Und nun kamen diese Engländer her und nahmen ihnen auch noch ihren Berg, löschten einen geliebten Punkt auf der Landkarte. Zunächst hatten die Fremden eine willkommene Abwechslung bedeutet. Der Klatsch brachte Licht in die langen, dunklen Tage. Inzwischen sah die Sache jedoch ganz anders aus. In Wirklichkeit waren sie hergekommen, um den Berg, den Namen des Dorfes und damit seinen ganzen Stolz auszuradieren. Wie sollten die Dorfbewohner den Kriegsheimkehrern in die Augen sehen, wenn es den Berg nicht mehr gab? Während sie gegen die Deutschen kämpften, hatten ihre 101
Familien den Berg an die Engländer verloren. Sie würden den Daheimgebliebenen die Frage stellen: Wie konntet ihr es zulassen, daß die Engländer unseren Berg stehlen, das Symbol unseres walisischen Erbes? *** Solche Gedanken schwirrten auch dem Reverend durch den Kopf. Seine Stimmung schwankte zwischen Verzweiflung, Trauer und Zorn. Plötzlich kam er sich in seiner Stellung als geistiger Führer des Dorfes sehr, sehr einsam vor. Er bemühte sich vergeblich, seine Wut zu unterdrücken, die jegliche Vernunft in ihm verdrängte. Wahrscheinlich mußte er sie einfach zulassen. Während der Zorn in Wellen durch seinen Körper flutete, kam ihm eine plötzliche Erleuchtung: Er würde es einfach nicht hinnehmen! Der Reverend wußte, daß alle im Dorf so fühlten wie er. Er konnte sie unter seiner Fahne versammeln. Sie alle würden nicht so leicht kapitulieren, sich nicht kampflos ergeben. Jones sprang von der Bank hoch und eilte zur Polizeiwache. Sergeant Thomas und Jones der Konstabier starrten schweigend ins Feuer, als der Reverend zur Tür hereinpolterte. »Erhebt euch von euren fetten Ärschen!« brüllte er mit markerschütternder Stimme. »Ich brauche das ganze Dorf, im Gemeindesaal, und zwar auf der Stelle!« »Im Gemeindesaal?« fragte der Sergeant. »Jetzt?« tönte der Konstabier. »Jetzt!!!« erwiderte der Reverend mit Nachdruck. 102
»Wollt ihr etwa hinnehmen, was diese Barbaren unserem Berg angetan haben?« Wie geölte Blitze schossen die Polizisten aus der Wache hinaus. »Versammlung im Gemeindesaal!« riefen sie, »Versammlung im Gemeindesaal!« Der Friedensrichter William Jones, Absolvent eines kleineren Colleges in Oxford, Besitzer eines kleineren Landsitzes am Rande von Ffynnon Garw und außerdem Träger eines Arsches, der weitaus fetter war als die der beiden Polizisten zusammen, hatte nur wenige wirkliche Aufgaben. Er lebte allerdings in dem Glauben, daß er allein aufgrund seines Titels die Geschicke des ganzen Dorfes lenken konnte. Seine Arbeit bestand hauptsächlich darin, einen Lebensstil zu pflegen, dem die Dorfbewohner nacheifern sollten, ohne ihn je erreichen zu können. Mit den nötigen Mitteln hätten sie auch jene Speisen genießen sollen, die sich auf seinem Tisch fanden. Seine Bibliothek enthielt die Bücher, die jeder Dorfbewohner gelesen haben sollte. Die Einrichtung seines Hauses wäre für jeden Dorfbewohner ein Augenschmaus gewesen, hätte er jemals die Schwelle überschritten. Seine Kinder lernten in englischen Schulen Latein, seine unbegabte Frau spielte Mozart auf einem mißtönenden, französischen Klavier. Und sein persönlicher Beitrag zum Wohl der Gemeinde bestand in der alljährlichen, donnernden Fuchsjagd, bei der er sein grobknochiges Pferd über die walisischen Felder hetzte. Jones das Urteil wahrte Abstand zu dem Dorf, über dessen Frieden er richten sollte, und ließ seinen magischen Einfluß lieber aus der Ferne wirken, statt sich in das Gemeindeleben zu mischen. Entspannt saß er an diesem Abend im Sessel, lauschte dem Hantieren seines Dieners, 103
der Schuhe putzte, und dem Lärm, den das Dienstmädchen beim Schrubben der Töpfe verursachte. Plötzlich schreckte er von einem Hämmern an der Haustür auf, kurz darauf drang die sonore Stimme des Sergeants an sein Ohr. Kam jetzt die Invasion? Besorgt erhob er sich aus seinem Sessel. Sergeant Thomas stand keuchend vor der Tür. Unter seinem Helm rann der Schweiß hervor. Vier Krüge Bier hatten ihre Wirkung auf seine Kondition nicht verfehlt. »Reverend Jones«, japste er, »hat eine Versammlung einberufen …« Er schnappte erneut nach Luft. »… im Gemeindesaal …« Wieder Luftholen. Den Richter erinnerte seine Redeweise an die Fortsetzungen der Wochenschau. »… und zwar jetzt. Sie sollen auch kommen!« Ein tiefer Atemzug. »Er sagt, Sie müssen kommen, es ist von größter Bedeutung.« »Eine Versammlung? Jetzt? War das geplant? Warum hat man mir nichts davon gesagt?« Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Nein, wurde gerade erst anberaumt, ist dringend, geht um die Engländer.« Er bellte die Informationen stückweise heraus. Jedes neue Detail trieb den Blutdruck von Jones dem Urteil in neue Höhen. Eine Versammlung im Gemeindesaal, weil Ffynnon Garw ein Hügel sein sollte? Waren die alle verrückt geworden? Zu gern hätte er nein gesagt. Es lag ihm förmlich auf der Zunge, doch etwas hielt ihn zurück, besser gesagt der Gedanke an eine Person. Reverend Jones … Obwohl Jones das Urteil ein Idiot war, schlimmer noch, ein fauler Idiot, reichte seine Intelligenz aus, um zu erkennen, daß die eigentliche politische Macht in diesem Dorf in den Händen der Kirche lag. Sich mit dem 104
Reverend zu überwerfen, hätte glatten Selbstmord bedeutet. Jones das Urteil verlangte nach Pferd und Kutsche und machte sich auf eine holprige Fahrt gefaßt. Anson war beim Packen, als er den Aufruhr auf der Straße bemerkte. Er warf einen Blick auf den Dorfplatz, auf dem sich die gesamte Bevölkerung versammelte. Zuerst glaubte er, sie wären auf dem Weg zum Pub und erinnerte sich mit Schrecken an George Garrads blumige Berichte von Eingeborenenaufständen in fernen Kolonien. Erleichtert stellte er fest, daß sie lediglich auf dem Weg zum Gemeindesaal waren. Er lachte über sich selbst. Wie hatte er nur so überheblich sein können zu glauben, daß sich all diese Menschen ihretwegen versammelten. Er wandte sich wieder seinem Gepäck zu. Als sich die Menschen in den Gemeindesaal drängten, riß Williams die Zapfsäule die Tür zum Pub auf. Nur einige Stammgäste waren geblieben, um mit dem tobenden Morgan ein Trinkgelage zu veranstalten. Er stöhnte vor Selbstmitleid. »Man wird uns von der Karte radieren! Von der gottverdammten Landkarte!« Er ging zur Treppe und brüllte zu den Engländern hinauf: »Und das unter meinem eigenen Dach, ihr ausländischen Besserwisser!« »Reverend Jones hält gleich eine Versammlung im Gemeindesaal ab!« japste Williams. Morgans Mundwinkel rutschten nach unten, und er warf Williams einen erstaunten Blick zu. »Was zum Teufel hat der alte Trottel vor? Will er dem Berg befehlen zu wachsen?« »Er will eine Petition einbringen«, antwortete Williams. Morgan rührte sich nicht von der Stelle. »Kommt ihr mit?« 105
Seine Trinkkumpane erhoben sich von ihren Hockern, doch Morgan blieb skeptisch. »Eine Petition?« fragte er verächtlich. Nachdem sich das ganze Dorf versammelt und Jones das Urteil seinen Platz auf der Bühne eingenommen hatte, brachte Reverend Jones den Saal zum Schweigen. »Danke, daß ihr alle gekommen seid.« Das war ihm in der Kirche noch nie über die Lippen gekommen. »Zunächst möchte ich Jones das Urteil um einige einführende Worte und seine Sicht der ganzen Angelegenheit bitten.« Jones das Urteil sank in sich zusammen. Er war nur unzureichend informiert. Jeder ging davon aus, daß er das ganze Theater um die Engländer und ihre Messungen genau verfolgt hatte, während ihm bis zu diesem Abend nicht einmal bewußt gewesen war, daß sie überhaupt existierten. Außerdem interessierte er sich nicht die Bohne, für den Status von Ffynnon Garw: ob nun Hügel oder Berg, auf der Karte oder nicht, was spielte das schon für eine Rolle? Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als eine ehrbare Tradition fortzusetzen, der Politiker bis zum heutigen Tage huldigen. Er sprach über etwas, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte, in einem Ton, der Autorität und Wissen suggerierte. Genauer gesagt flocht er Phrasen und Platitüden ineinander, die anscheinend eine wichtige Botschaft enthielten, im Grunde aber nichts aussagten. »Vielen Dank, Reverend Jones.« Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein, bevor er zu seinen politischen Nichtigkeiten überging. »Dies ist offensichtlich eine komplizierte Frage …« »Wieso?!« brüllte Thomas Twp aus dem Publikum. Jones das Urteil verlor vor Schreck sein Monokel, da er 106
nicht an Widerspruch gewöhnt war, und fuhr rasch fort: »Eine Frage von höchster Wichtigkeit und Bedeutung, doch muß ich sagen, daß ich zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht im Besitz aller Beweismittel bin.« Im Publikum wurde es unruhig. Darauf war er nicht vorbereitet. Meistens konnte er mit diesen aufgeblähten Plattheiten seine Zuhörer in die Knie zwingen. Hastig fuhr er fort: »Ich werde alles einer Prüfung unterziehen, die Fakten sammeln und bewerten müssen …« »Fakten?!« Der Reverend traute seinen Ohren nicht und schoß wie ein Springteufel in die Höhe. »Fakten?!« wiederholte er. »Welche Fakten brauchen Sie denn? Gestern war es ein Berg, heute ist es ein Hügel!« »Ja, ja, das sehe ich ein, aber …« Der Reverend fiel ihm erneut ins Wort. »Kein Aber! Ich schlage hiermit eine Petition vor mit der Forderung, Ffynnon Garw auf allen Landkarten Seiner Majestät als ersten Berg in Wales zu verzeichnen.« Das Publikum äußerte lautstark seine Zustimmung und brach in donnernden Beifall aus. Jones das Urteil nickte und überließ dem Reverend die Bühne. Bevor dieser jedoch fortfahren konnte, ertönte eine Stimme aus den hinteren Reihen. »Und wer soll diese Petition lesen?« Morgan der Ziegenbock stand in der Tür, die Hände entschlossen in die Hüften gestemmt. »Ich glaube, wir können auf Ihre Bemerkungen durchaus verzichten, Mr. Morgan …« legte der Reverend los, aber Morgan übertönte ihn mit seiner biergeölten Baßstimme. »Ich bin noch nicht fertig!« Die Zuhörer drehten sich in seine Richtung, und Reverend Jones ließ ihn großen gewähren. »Ich will nicht, daß Ffynnon Garw auf den Karten erscheint, weil wir darum gebettelt und gefleht haben«, 107
erklärte Morgan. »Wenn Ffynnon Garw tausend Fuß hoch sein muß, dann wird er auch tausend Fuß hoch werden!« Verwirrtes Schweigen. Bis jetzt begriff keiner, worauf Morgan hinauswollte. Was hatte er im Pub in zynischem Ton zu Williams gesagt? »Was zum Teufel hat der alte Trottel vor? Will er dem Berg befehlen zu wachsen?« Dabei war ihm eine Idee gekommen. Nach Williams’ Abgang hatte dieser Satz in Morgans Kopf herumgespukt und war zu einer Vision geworden. Sie müßten einfach nur etwas Erde auf den Gipfel von Ffynnon Garw schaffen, den Haufen festklopfen, und schon hätten sie einen Berg! Das Publikum starrte Morgan an. Noch immer verstanden sie seinen Gedankengang nicht. »Ein zwanzig Fuß hohes Häufchen, mehr brauchen wir nicht!« Für Morgan sah die Sache ganz einfach aus. Erstens hatte er keine Vorstellung davon, wie groß ein zwanzig Fuß hoher Haufen sein würde. Zweitens beabsichtigte er keineswegs, sich an der körperlichen Arbeit zu beteiligen. Morgan sah sich als Quelle der Inspiration, nicht der Transpiration. Allmählich begriffen die Leute, was er vorhatte, und ein Raunen ging durch die Menge. Jones dem Urteil mißfiel die ganze Sache. Es roch nach Verschwörung und Betrug. »Ich weiß nicht, ob das legal ist«, erwiderte er mit geballter richterlicher Autorität. »Oder ethisch!« fügte Reverend Jones hinzu. »Legal?« rief Morgan. »Ethisch? Wie legal ist es denn, einfach festzusetzen, daß tausend Fuß ein Berg sind, neunhundertvierundachtzig aber nur ein Hügel?« Die Dorfbewohner nickten zustimmend. Dem Reverend würde es schwerfallen, ein Gegenargument zu finden, denn insgeheim war er derselben Meinung. Morgan fuhr fort, die Menge anzustacheln. »Nennt man 108
einen kleingewachsenen Mann einen Jungen? Einen kleinen Hund eine Katze?« Alle lachten mit ihm, er hatte sie für sich gewonnen. Das war der Morgan, den sie kannten. Er warf sich heftig in die Brust und brüllte mit lauter Stimme: »Nein! Dies ist ein Berg, unser Berg, und wenn er tausend Fuß hoch sein muß, dann werden wir ihn bei Gott tausend Fuß hoch machen!« Erneuter Beifall, doch Reverend Jones donnerte zurück: »Ich würde es begrüßen, wenn Sie Gottes Namen nicht unnütz in den Mund nähmen, Mr. Morgan!« Der Saal verfiel abermals in Schweigen, um dem Reverend Achtung zu erweisen. In dieser Stille erhob sich Ivor der Krämer, um das Wort zu ergreifen. Der Reverend hielt ihn für einen guten, gottesfürchtigen Verbündeten und erteilte ihm das Wort. »Bitte, Ivor.« Ivor warf dem Reverend ein zaghaftes Lächeln zu. »Morgan der Ziegenbock«, setzte er an, und der ganze Saal brach in Gelächter aus. Jeder nannte Morgan hinter dessen Rücken Morgan den Ziegenbock, aber niemand hatte ihn jemals so angesprochen. Morgan machte ein Ich-bin-kein-Spielverderber-Gesicht, und Ivor entschuldigte sich. »Tut mir leid, Morgan.« Dann wandte er sich wieder an den Reverend. »Morgan hat ein gutes Argument. Ich habe Berge gesehen, auf deren Gipfel Grabkammern standen, und die Höhe der Kammern wird zur Höhe der Berge hinzugerechnet.« Reverend Jones war entsetzt. Wollte sich Ivor etwa auf die Seite dieses verkommenen Subjektes schlagen? Um es noch schlimmer zu machen, erhob sich jetzt Billy, ein kleiner, drahtiger Bergarbeiter, und verkündete, in Rhondda Fach gäbe es eine große Abraumhalde, die auf 109
sämtlichen Landkarten verzeichnet sei. Im Saal begannen nun umgehend lautstarke Diskussionen über Morgans Vorschlag. War es machbar? Wie konnte man es durchführen? Reverend Jones sah sich um und merkte, daß er an Einfluß verloren hatte. Er mußte sie im Zaum halten und stand auf. »Bin ich der einzige, für den an dieser Sache etwas faul ist? Dem es wie Schwindel vorkommt? Wie Betrug?« Peinliches Schweigen senkte sich über die Zuhörer. »Was wollen wir tun? Einen Teil unseres geliebten Berges abtragen, um damit den Gipfel aufzustocken? Ich weiß, daß Mr. Morgan irgend etwas in dieser Art plant.« »Nehmen Sie die Erde doch aus Ihrem Garten, wenn Sie sich dann besser fühlen.« konterte Morgan und sorgte damit erneut für Heiterkeit. Die Zuhörer sahen im Geiste schon den Garten des Reverends auf dem Gipfel von Ffynnon Garw. Der Reverend hielt eine entsprechende Antwort bereit. Er wußte, wie man den Leuten das Lachen austreibt. »Ja! Ich würde mich besser fühlen!«, brüllte er zornig. »Ich wäre glücklicher, wenn der Berg durch harte Arbeit, durch Schweiß, Mühe und Opfer wachsen würde!« Im Publikum herrschte nun tödliche Stille. Er hatte ihnen seinen geistlichen Einfluß aufgezwungen und damit diesen Saal zur Kirche gemacht. Er ließ seinen Blick von Gesicht zu Gesicht wandern und fuhr fort: »Nehmt sie aus euren Gärten, nehmt sie vom Flußufer, nehmt sie vom Grund des Tales! Dann werde ich mich besser fühlen!« »Dadurch machen Sie es unmöglich!« stöhnte Morgan. »Nein, Mr. Morgan, das mache ich nicht!« erwiderte der Reverend und hielt inne, um Luft zu holen. »Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben sind wir beide einer Meinung, aber nur in einem einzigen Punkt. Auch ich 110
möchte nicht bitten, betteln und flehen …« »Tatsächlich?« warf Morgan ein. »Oder betrügen!« donnerte der Reverend. »Wenn wir diesen Berg haben wollen, müssen wir ihn uns verdienen.« Morgan hielt den Vorschlag des Reverends für verrückt. Was machte es schon aus, woher die zusätzliche Erde kam? Nur die Höhe zählte. Den Engländern war die Herkunft der zusätzlichen zwanzig Fuß bestimmt egal. »Und wie genau wollen Sie diesen Berg aufschütten?« konterte er. »Wollen Sie Ihren Komposthaufen da hochkarren?« Kichern im Publikum. Der Reverend fühlte sich erneut in die Enge getrieben und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Plötzlich erhob sich zu seiner Überraschung Johnny mit der Bombenneurose von seinem Stuhl. Würde er in aller Öffentlichkeit sprechen? Alle schwiegen aus Solidarität zu Johnny, und Jones das Urteil ergriff die willkommene Gelegenheit, seine Autorität wiederherzustellen und diese unerträgliche Veranstaltung zu beenden. Er wollte nur noch nach Hause. »Dies ist eine …« fing er an, doch der Reverend gebot ihm zu schweigen. »Johnny?« forderte er ihn auf. Johnny sagte nichts. Sein Atem ging stoßweise, er hielt den Blick auf den Boden geheftet. Blod ergriff die Hand ihres Bruders. Das Publikum wollte sich schon abwenden, weil es so peinlich war, ihn anzusehen. »In Frankreich«, begann er dann so leise, daß nur seine nächsten Nachbarn ihn hören konnten. Blod drückte seine Hand fester. Er schluckte und fing noch einmal an, diesmal ein wenig lauter. »In Frankreich haben wir zehn Meilen lange Gräben ausgehoben … Wir holten dort die 111
Erde und bauten da die Hügel, wir trugen ganze Felder ab, ihr würdet es nicht glauben …« Er verstummte. Um sprechen zu können, mußte er sich die Worte ins Gedächtnis rufen. Mit den Worten kamen die Bilder, mit den Bildern die Erinnerungen, und die Erinnerungen brachten eine Welle von Emotionen mit sich, die ihm wieder den Mund verschloß. »Es ist machbar. Es ist nur harte Arbeit«, endete er schließlich. »Ich werde mithelfen.« Mit diesen Worten setzte er sich schnell wieder hin. Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Dann begannen alle gleichzeitig zu reden, zu organisieren und zu planen. Und so begann alles: Reverend Jones hatte eine Idee, aber Morgan hatte eine bessere, die der Reverend weiter ausbaute, und Johnny schließlich hielt es für machbar. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, daß Morgan der Ziegenbock nicht mit Reverend Jones und Reverend Jones nicht mit Morgan dem Ziegenbock sprechen wollte, und Johnny sprach überhaupt nur selten mit irgend jemandem. *** Morgan der Ziegenbock, Ivor der Krämer und Sergeant Thomas, die sich selbst als führende Persönlichkeiten des Dorfes betrachteten, kehrten ins Pub zurück, um bei einem guten Schluck ein neues, dringendes Problem zu diskutieren. Die Engländer beabsichtigten nämlich, das Dorf am nächsten Morgen zu verlassen. »Sie müssen hierbleiben und den Berg nochmal vermessen«, sagte Morgan. »So einfach ist das.« »Und wenn sie sich weigern?« gab Sergeant Thomas zu 112
bedenken. »Dann wirst du es ihnen befehlen!« antwortete Morgan. »Sei nicht twp!« sagte Sergeant Thomas. »Wie soll ich das machen? Sie verhaften?« Morgan dachte über diese Frage nach. So würde es wohl nicht gehen. »Na ja, du mußt ihnen zeigen, wer hier das Sagen hat.« »Ich?« fragte der Sergeant. »Es war doch deine Idee.« »Ivor?« Morgan hoffte auf dessen Überredungskraft. »Das kannst du vergessen«, sagte Ivor entschieden. »Verdammte Scheiße!« stöhnte Morgan. »Bleibt denn wirklich alles an mir hängen?« Er machte sich auf den Weg nach oben. Der Sergeant und Ivor verweilten an der Theke. »Nun kommt schon! Gebt mir Rückendeckung. Wir sind schließlich eine offizielle Delegation des Gemeinderates.« »Ach ja?« fragten der Sergeant und Ivor wie aus einem Mund. Die drei Abgeordneten blieben auf dem Treppenabsatz stehen und lauschten in die Richtung von Garrads Tür. Aus dem Zimmer drang lautes Schnarchen. Wortlos gingen sie zu Ansons Tür. Da bei ihm noch Licht brannte, klopfte Morgan leise an. Anson war ein wenig überrascht bei dem Anblick, der sich ihm bot. Die drei Männer füllten den Türrahmen aus. »Mr. Morgan? Sergeant?« Was mochte geschehen sein? »Mr. Anson«, sagte Morgan, der sogleich die Führung übernahm, »im Namen des Dorfes möchten wir Sie und Mr. Garrad davon überzeugen, noch hierzubleiben und unseren Berg erneut zu vermessen.« »Nochmal?« fragte Anson und schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich leid, aber die heutige Messung war sehr 113
genau …« »Wir werden ihn um zwanzig Fuß erhöhen«, fiel Ivor ein. Morgan bezweifelte, daß dies eine kluge Bemerkung war, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Ansons Kiefer klappte nach unten. »Was meinen Sie damit? Wie wollen Sie ihn um zwanzig Fuß erhöhen?« »Es ist doch legal, oder nicht?« erkundigte sich der Sergeant. Bevor Anson sich darüber Gedanken machen konnte, lieferten Ivor und Morgan ihm die richtige Antwort. »Auf den Gipfeln mancher Berge findet man Grabhügel«, sagte Ivor. »Sogar Abraumhalden«, fugte Morgan hinzu. »Das stimmt«, stotterte Anson, »dauerhafte Erhöhungen werden eingerechnet, aber zwanzig Fuß … Wie …?« »Gut!« bekräftigte Sergeant Thomas. »Also zwanzig Fuß!« »Wir können doch nicht hier herumtrödeln, bis Sie den Hügel um zwanzig Fuß erhöht haben …« stieß Anson hervor, als ihm allmählich die Ungeheuerlichkeit des Vorhabens aufging. »Wie um Himmels willen wollen Sie zwanzig Fuß hinzufügen?« »Das soll nicht Ihre Sorge sein«, beruhigte ihn Morgan. »Überzeugen Sie Ihren Mr. Garrad nur davon, daß er bleiben muß.« Das war nun wirklich zuviel verlangt! Garrad hatte in ihrem Zeitplan ursprünglich nur einen Tag für die Vermessung von Ffynnon Garw vorgesehen. Inzwischen waren daraus schon drei geworden. Er wollte unbedingt weiterfahren. Sie wollten früh am Morgen aufbrechen, und nichts, aber auch gar nichts, würde Mr. Garrad davon abhalten. 114
Anson schloß langsam die Tür. Diese ganze Unterhaltung war doch völlig absurd. »Tut mir leid, meine Herren, aber es ist spät, ich bin sehr müde, und wir brechen morgen früh auf.« Damit schlug er ihnen die Tür endgültig vor der Nase zu. Morgan brachte Ivor und den Sergeanten noch zur Haustür. »Es ist wirklich eine Schande«, sagte Sergeant Thomas. »Macht euch mal keine Sorgen«, erwiderte Morgan. »Die fahren nirgendwo hin.« Sergeant Thomas freute sich, das zu hören, aber in seiner Eigenschaft als Vertreter des Gesetzes wollte er lieber nicht wissen, was Morgan vorhatte. »Tut mir leid, Morgan, aber ich habe das nicht ganz mitbekommen. Auf diesem Ohr höre ich in letzter Zeit so schlecht.« Morgan lachte. »Ich sagte: Gute Nacht, Sergeant.« »Gute Nacht!« grinste der Sergeant und radelte schwankend davon. Morgan zog Ivor in den Schatten des Hauses. »Ich brauche zwei Pfund Zucker.« »Morgan, du weißt, daß er rationiert ist.« »Das ist mir klar, aber wir haben eine nationale Krise«, drängte Morgan. »Gleich zwei Pfund?« fragte Ivor. Die Wochenration für eine ganze Familie lag bei vier Unzen, ungefähr einem Viertelpfund. Morgan hätte genausogut nach einer Handvoll Diamanten fragen können. »Ich glaube nicht …« Morgan sah ihn drohend an. »Ich möchte den Leuten nicht sagen müssen, daß die Sache an dir gescheitert ist«, flüsterte er finster. Ivor seufzte. »Dann komm.« Er bog in eine Seitenstraße 115
ein. »Wo gehst du hin?« fragte Morgan erstaunt. Ivors Laden lag doch direkt neben dem Pub. »Ich kann nicht mitten in der Nacht durch die Vordertür gehen«, zischte Ivor. »Die Leute werden wittern, daß etwas im Busch ist.« »Es ist dein verdammter Laden«, sagte Morgan. »Entweder wir gehen hintenrum, oder wir gehen überhaupt nicht«, beharrte Ivor. »Fair ist fair«, stimmte Morgan zu und folgte ihm in die Finsternis. Im Licht eines Streichholzes kroch Ivor in seinem Lager umher. »Ich komme mir vor, als würde ich meinen eigenen Laden ausrauben«, jammerte er vor sich hin. »Kopf hoch, Ivor«, ermunterte ihn Morgan. »Es ist für eine gute Sache. Nach dem Krieg kann ich allen davon erzählen, und man wird dich als Helden feiern.« »Falls man mich bis dahin aus dem Gefängnis entlassen hat«, erwiderte Ivor säuerlich und deutete auf einen Sack Zucker. »Bitte schön.« »Her damit«, sagte Morgan und füllte eine Tüte. »Das hier ist das eigentliche Problem.« Ivor hielt ein Buch hoch, in dem er die Vergabe der Rationen eintragen mußte. Es konnte jederzeit überprüft werden. »Scheiße, die Bürokraten haben wirklich ein Rad ab«, schimpfte Morgan, als ihm die Sachlage klar wurde. »Kannst du nicht sagen, im Sack hätten zwei Pfund gefehlt?« »Glaubst du etwa, das hätte nicht jeder Idiot schon versucht?« 116
Sie setzten sich in der Dunkelheit auf den Boden und überlegten. »Ich hab’s«, sagte Morgan plötzlich. »Ich brauche ein Glas Tinte.« »Morgan …?« Aber es war bereits zu spät. Morgan hatte Ivor das Buch entrissen und eine ganze Flasche Tinte darüber verschüttet. Jetzt waren einige Seiten vollkommen unleserlich. »Himmel!« sagte er. »Was für ein Tolpatsch du bist, Ivor. Die ganzen Namen sind unter der Tinte verschwunden.« Ivor war sprachlos. »Wenn sie Schwierigkeiten machen, rufst du mich als Zeugen – ich war dabei, als du die Flasche verschüttet hast. War ein Versehen.« Kurz darauf schlichen Ivor und Morgan zum Auto der beiden Engländer und suchten den Benzintank. »Glaubst du wirklich, es funktioniert?« flüsterte Ivor. »Wenn wir erst mal den verfluchten Tank gefunden haben«, antwortete Morgan. Zweimal schlichen sie vergebens um den Wagen. Bei der dritten Runde entdeckten sie eine Chromkappe, die hinter dem Reserverad verborgen lag. »Na bitte.« Morgan schien zu erwarten, daß Ivor nun die schmutzige Arbeit vollendete. »Was mache ich hier eigentlich?« klagte dieser und fragte sich zum tausendsten Mal, wie er bloß in diese Betrügerei hineingeraten war. »Ist doch gar nichts dabei«, flüsterte Morgan. »Du kippst ihn rein, ich stehe Schmiere.« 117
Ivor schraubte langsam die Kappe ab. Bei jeder Drehung gab sie ein Krächzen von sich, doch dann hielt er sie in der Hand. Er legte sie auf den Boden, nahm die Zuckertüte und schüttete den gesamten Inhalt in den Tank. In seinen Ohren klang es wie ein Karren, der eine Fuhre Sand entlädt, und es schien ewig zu dauern. Morgan lehnte lässig an der Wand des Pubs und zündete sich eine Zigarette an. »Fertig?« »Ein bißchen hängt noch in den Falten der Tüte«, sagte Ivor. »Sehr schön.« Morgan nahm ihm die Tüte ab. Blod würde sich bestimmt darüber freuen. Als Morgan in dieser Nacht zu Blod kam, begrüßte sie ihn mit einer Frage. »Nun? Bleiben die Engländer hier?« Morgan lächelte boshaft. »Ich glaube, ich habe sie überredet, mein Schatz.« Blod gab ihm einen dicken Kuß und noch viel, viel mehr. *** Es gibt Tage, die sind einfach anders, beispielsweise der erste Weihnachtstag oder jeder andere Feiertag: Manchmal fallen sie auf einen Dienstag, dann auf einen Donnerstag oder Samstag, aber sie sind immer besonders. Die vertraute Umgebung scheint sich zu verändern das Sonnenlicht wirkt intensiver, man kann das Ereignis, das alle feiern, förmlich in der Luft spüren. Der Tag nach der Gemeindeversammlung war ein solcher Tag. Das ganze Dorf erwachte mit einem gemeinsamen Plan, alle waren arbeitshungrig und wollten Hand anlegen. Alle wußten, daß viel zu tun war. Wenn sie ihr Werk vollbracht hatten, wäre ihre Ehre 118
wiederhergestellt. Als sie an diesem Morgen aus dem Fenster sahen, hatte sich alles verwandelt. Die Felder waren voll sanfter Poesie, die Landschaft erschien wie das Werk eines Bildhauers, und als sie in ihre eigenen Seelen blickten, entdeckten sie dort Hoffnung. Johnny mit der Bombenneurose war als erster auf den Beinen. Im ersten Licht der Morgendämmerung schritt er die Wiese ab, die sich zum Fluß hinunterwand. Sie war zu feucht, um als Weideland zu dienen, und man konnte nichts darauf anbauen, weil sie im Schatten lag. Als Materialquelle für einen Berg war sie jedoch genau richtig. Johnny stieß die Ferse in den Erdboden, zog mit dem Fuß eine Furche und stellte sich dabei einen zwanzig Fuß hohen Hügel vor. Welchen Umfang mußte die Basis haben? Wie steil konnten sie ihn aufschütten? Er sah zu einem der Häuser am Flußufer hinüber. Zwanzig Fuß – das war ungefähr die Höhe bis zum Schlafzimmerfenster, wenn nicht sogar zum Giebel. In seiner Vorstellung zeichnete er die ungefähre Gestalt einer Pyramide auf und stellte sich dann die entsprechende Erdmenge auf der Wiese ausgebreitet vor. Diese grobe Berechnung ergab, daß die Dorfbewohner die gesamte Fläche der Wiese einige Fuß tief abtragen mußten. Das war ein großer Haufen Erde. Der Plan erschien ehrgeizig, wenn nicht sogar verrückt. Was für ein ungeheueres Unternehmen, die ganze Masse auf den Berg zu transportieren! Doch es gab noch ein Problem: Wie sollten sie ihren selbstgebauten Hügel messen? Diese Frage beschäftigte auch Sergeant Thomas, als er auf dem Weg zur Arbeit den Dorfplatz überquerte. Er warf einen Blick auf den Fahnenmast. Wie hoch mochte der sein? Ihm fiel ein, daß er ihn einige Jahre zuvor erneuert hatte, und er erinnerte sich an eine Höhe von etwa vierundzwanzig Fuß. Vom Fenster der Wache aus starrte 119
er mit der Teetasse in der Hand auf den Mast. Woher sollen die Leute wissen, wann sie zwanzig Fuß Erde aufgetürmt hatten? Es wäre schrecklich, wenn sie die ganze Masse hinaufgeschafft hätten und dann beim Vermessen erfahren müßten, daß immer noch ein paar Fuß fehlten. Sie brauchten irgendein Maß zur Orientierung. Sein Blick wanderte zurück zum Fahnenmast. Dann durchfuhr ihn ein Geistesblitz. In der Kiste, die unter der Treppe stand, wühlte er nach seiner Säge. Auf dem Twp-Hof hatten die Brüder die wichtigsten Arbeiten erledigt: die Kühe waren gemolken, die Hühner und Gänse gefuttert. Glücklicherweise konnten die Schafe im Sommer selbst für ihre Nahrung sorgen. Nun machten sich die beiden an das eigentliche Vorhaben. Sie spannten ihre stärksten Ackergäule ein, wählten den schwersten Pflug mit dem größten Tiefgang und brachen auf ins Dorf. Ivor kehrte frisch und ausgeschlafen in seinen Lagerraum zurück und suchte nach alten Säcken, Fässern und anderen Gefäßen, in denen man Erde transportieren konnte. In den Kleingärten ölten alte Männer ihre Schubkarren und reinigten die Spaten. In den Küchen leerten die Frauen Eimer und Blechbüchsen aus. Bettlaken wurden aus Schränken gekramt, alte Bettpfannen aus Abstellräumen geholt. Im Gasthof lagen Anson und Garrad noch im Tiefschlaf und träumten ihre letzten Träume, bevor sie in einem Dorf erwachen würden, das sich über Nacht völlig verwandelt hatte. 120
Reverend Jones saß am Schreibtisch und plante den Tagesablauf. Er bezweifelte, daß Morgan bei der körperlichen Arbeit eine herausragende Rolle spielen würde – er würde wahrscheinlich lieber im Bett bleiben. Daher mußte der Reverend sowohl als geistiger Führer wie auch als Stratege dienen. Er legte seine Sonntagssachen an, die nicht ganz zu seinen derben Stiefeln paßten, und verließ das Haus. Als die anderen Dorfbewohner die Wiese erreichten, hatten die Twps und Johnny schon harte Arbeit geleistet. Ein großer Streifen war bereits umgepflügt, und man sah die fette, lehmige Erde unter dem Gras. Nachdem er in eine Richtung gepflügt hatte, wendete Johnny den Pflug um hundertachtzig Grad, um denselben Streifen noch einmal zu bearbeiten. Beim ersten Durchgang hatte er die Erde freigelegt, der zweite würde die fest verwachsene Grasnarbe aufbrechen. Dies war nicht die übliche Technik der Bauern. Sie beruhte auf den unvergleichlich grauenhaften Erfahrungen, die Johnny in Frankreich gemacht hatte. Die eifrigen Dorfleute mit ihrer Batterie von Eimern, Handwagen und Schubkarren konnten sich nun über die aufgelockerte Erde hermachen. Davies der Lehrer übte gerade die Morgenhymne, als es an der Tür klopfte. »Es ist noch nicht neun!« rief er in der Annahme, es sei ein Schüler. Die Tür ging auf, und Reverend Jones streckte sein ausnahmsweise lächelndes Gesicht herein. »Ich hoffe, ich störe nicht.« Davies der Lehrer war überrascht und ein wenig mißtrauisch. Warum stattete ihm der Reverend zu dieser frühen Stunde einen Besuch ab? Er rang sich ebenfalls ein 121
Lächeln ab. »Nein, ganz und gar nicht, Reverend, kommen Sie herein.« Der Reverend hüpfte beinahe ins Zimmer. Davies wurde noch mißtrauischer. »Ich hielt Sie für eines der Kinder«, erklärte er. »Ach!« seufzte der Reverend bedeutungsvoll. »Genau darüber muß ich mit Ihnen sprechen.« »Wie bitte?« Davies war verwirrt. »Die Kinder, Ihre Schüler, die Kinder dieses Dorfes …« Davies fragte sich im stillen, worauf der Reverend hinauswollte. »Ja-a«, sagte er zögernd. Reverend Jones nahm den Hut ab und trat dicht vor Davies hin. »Heute ist ein historischer Tag! Historisch! Kommende Generationen werden von diesem Tag sprechen!« »Gibt es Neuigkeiten aus Frankreich?« fragte Davies. Vielleicht waren die verhärteten Fronten des Krieges, der allen Kriegen ein Ende setzen sollte, endlich in Bewegung geraten. »Nein«, erwiderte der Reverend lächelnd und deutete durchs Fenster auf den Berg. »Dort liegen die Neuigkeiten! Wir bauen heute einen Berg, und Ihre Schüler sollen mithelfen.« »Sie bauen einen Berg«, wiederholte Davies trocken. Er war auch bei der Gemeindeversammlung gewesen, hatte die ganze Aufregung aber für kindische Hysterie gehalten. »Wir erhöhen Ffynnon Garw um zwanzig Fuß«, sagte Reverend Jones für den Fall, daß Davies ihn nicht verstanden hatte. »Heute morgen noch ein Hügel, heute nachmittag ein Berg. Da können die Kinder eine Menge lernen.« 122
Davies stand von seinem Klavierhocker auf. »Ich bin nicht befugt, meine Schüler jemand anderem als ihren Eltern oder ihrem Vormund anzuvertrauen.« »Ihre Schüler!« polterte der Reverend. »Dies sind die Kinder des Dorfes.« »Meine Schüler!« beharrte Davies und wendete sich ab. »Meine Schüler sollen Ihnen bei der Arbeit helfen? Dabei, die Höhe zu verfälschen?« Da hatte er ins Fettnäpfchen getreten. Reverend Jones sprang ihn raubtiergleich an und packte ihn bei den Schultern. Er stieß seine Nase fast in Davies’ Gesicht. Seine Augen blitzten, in den Mundwinkeln sammelte sich Speichel, seine Stimme stieg in ungeahnte Höhen. »Verfälschen?!« donnerte er los. »Mr. Davies! Sowohl Ihr Gemeinschaftssinn als auch Ihre Wortwahl lassen sehr zu wünschen übrig!« Damit schubste er Davies auf einen Stuhl und überließ ihn seinem Schicksal. Reginald Anson quälte sich mit den letzten Gepäckstücken aus der Tür. Draußen wartete ein aufgelöster Garrad auf ihn. »Kommen Sie schon, Anson!« stöhnte er, als trüge er alle Last dieser Welt. »Helfen Sie mir mal mit der Kurbel!« Anson versuchte zu lächeln. Er verstaute das Gepäck und die Meßlatten im Kofferraum, ergriff die Kurbel und machte sich daran, den Motor zum Leben zu erwecken. Der Wagen keuchte, stotterte, furzte und verstummte. Anson versuchte es erneut. Rülpsen und Hicksen. »Hm«, brummte Garrad unschlüssig, während Anson den nächsten Versuch startete. Diesmal tat sich gar nichts. Garrad kletterte vom Fahrersitz und öffnete die 123
langgezogene, glänzende Motorhaube, unter der ein ölig schimmernder Motor auftauchte. Er war kein Mechaniker und hatte daher auch nicht die leiseste Ahnung, wonach er suchen sollte – die Partitur einer chinesischen Oper hätte ihm genausoviel gesagt. Anson trat neben ihn, und sie starrten gemeinsam den großen Stahlblock an, aus dem eine Reihe von Leitungen, Kupferröhren und elektrischen Drähten wuchs. »Vielleicht ist er feucht geworden«, sagte Anson, der auch nicht mehr davon verstand als Garrad. »Kann sein, kann sein«, murmelte Garrad. Er hoffte, sein bloßer Blick hätte den Motor geheilt und nahm wieder seinen geliebten Platz hinter dem Steuer ein. »Noch einmal, Anson.« Anson drehte mit einem wütenden Ruck die Kurbel, doch nichts passierte. Nicht mal ein Husten. Anson hätte sich bei der Anstrengung beinahe die Schulter ausgekugelt. »Sie müssen stärker kurbeln!« brüllte Garrad. »Ich kurble stärker«, keuchte Anson, dessen Geduld am Ende war. »Vielleicht sollten Sie es auch mal versuchen.« Er konnte es sich nicht verkneifen, leise hinzuzufügen: »Obwohl es mir leid täte, wenn Sie sich derart verausgaben müßten.« Garrad hatte diese Unverschämtheit seines Untergebenen sehr wohl gehört. »Wie war das?!« brüllte er los. Zu Ansons Glück kehrte in diesem Augenblick Morgan von seinem Besuch bei Blod zurück. »Gibt’s Probleme, Gentlemen?« »Leider ja«, brummte Garrad. »Schade, schade, schade«, sagte Morgan mitfühlend. 124
Er wollte gerade das Pub betreten, als Anson ihn aufhielt. »Mr. Morgan, können Sie mir sagen, was mit dem Fahnenmast passiert ist?« Anson und Garrad hatten an diesem Morgen sofort bemerkt, daß der Fahnenmast samt Garrads geliebtem Union Jack verschwunden war. Zurückgebheben war nur ein Stumpf. Morgan wußte es selbst nicht genau, hatte aber eine glänzende Idee. »Trockenfäule«, erklärte er lächelnd, ohne lange zu überlegen. Die Falten auf Garrads Stirn waren inzwischen tiefer als die Furchen auf der Wiese. »Trockenfäule? In Wales?« »Ist wirklich erstaunlich, was?« sagte Morgan und verschwand im Pub. Anson dachte in diesem Moment zum ersten Mal an Sabotage. Noch heute morgen hatte er beabsichtigt, Garrad von dem Besuch der Delegation am vergangenen Abend zu erzählen. Garrad war allerdings so schlechter Laune gewesen, daß Anson lieber Distanz hielt und sich um das Gepäck kümmerte. Er fragte sich, ob er es jetzt, wo ihr Wagen nicht anspringen wollte und der Fahnenmast verschwunden war, erwähnen sollte. Konnte das alles Zufall sein? Waren sie vielleicht einer Verschwörung zum Opfer gefallen? »Anson«, schnappte Garrad, »Sie träumen schon wieder mit offenen Augen.« Scheiß auf Garrad, dachte Anson, ich lasse mich eher kreuzigen, als mit ihm über die Sache zu reden … »Ich bin kein Tagträumer«, sagte Anson, »ich denke nach. Es soll manchmal helfen, wenn man in Schwierigkeiten ist.« »Das sind wir aber nicht«, erwiderte Garrad. »Wir haben lediglich ein kleines Problem, weil unser Wagen nicht anspringen will. Im übrigen würde ich vorschlagen, daß 125
Sie sich mal nach einem Helfer umschauen.« »Und wer sollte das sein?« fragte Anson. Schließlich befanden sie sich in einem kleinen, walisischen Dorf, weit entfernt von einer größeren Stadt, die sich eines in Automobiltechnik erfahrenen Mechanikers rühmen konnte. »Sie könnten versuchsweise mal den Kerl mit der Zapfsäule da unten an der Straße fragen.« Die friedliche Wiese am Fluß hatte sich inzwischen in ein Fließband zur Aufschüttung eines Berges verwandelt. Reihen älterer Männer schaufelten Erde in Eimer, die dann von Frauen auf Karren geleert wurden. Nur der entscheidende Schritt fehlte noch – bis jetzt hatte keiner auch nur einen Krümel auf den Berg getragen. Allerdings hatten der Sergeant, der Konstabier und Billy bereits den Fahnenmast hinaufgeschafft und ihn mit Hilfe einiger Stützbalken aufrecht gestellt, so daß er hoch über ihnen in die Luft ragte. »Das sieht viel höher aus als zwanzig Fuß«, sagte der Konstabier. »Es sind aber zwanzig«, erwiderte Billy. »Ich hab’s nachgemessen.« Dann zog er für jeden Fuß einen Strich, bis er nicht mehr höher reichte. Sergeant Thomas schüttelte den Kopf. »Jesus, Jungs, da brauchen wir eine Menge Erde, um bis an die Mastspitze zu kommen.« Er tauschte einen besorgten Blick mit dem Konstabier. Zum ersten Mal zweifelten sie, ob sich ihr Plan wirklich durchfuhren ließ. Für Morgan, den Reverend und Johnny war es ein Kinderspiel, sich im Gemeindesaal hinzustellen 126
und fröhlich von »nur zwanzig Fuß« zu reden. In der Wirklichkeit sah das ganz anders aus. Williams die Zapfsäule, dessen modernes Firmenschild auf landwirtschaftliche Maschinen, Schmieröle und Benzin hinwies, hatte im vergangenen Jahr eine Benzinpumpe installiert. Damit gehorchte er einer Zukunftsvision, die ihm sagte, daß Automobile im Kommen waren. Bis jetzt hatte sich die Zukunft allerdings standhaft geweigert, bis nach Ffynnon Garw vorzudringen. In der Umgebung gab es ein paar Motorräder, doch im Augenblick besaß nicht einmal der reiche Jones das Urteil ein Auto. Williams’ unterbeschäftigte Benzinpumpe war zu einem beliebten Witz geworden, sein neuer Spitzname Williams die Zapfsäule dementsprechend sarkastisch. Er hatte unten auf der Wiese mit den anderen gearbeitet und war eigentlich nur in die Werkstatt zurückgekehrt, um weitere Eimer zu organisieren. Dort traf er auf Reginald Anson. »Morgen. Wir haben da ein kleines Problem mit unserem Wagen. Können Sie uns vielleicht helfen?« Klar habt ihr ein Problem, dachte Williams, mit zwei Pfund Zucker im Tank. Er hustete. »Nun ja …« »Es wäre wirklich sehr nett von Ihnen«, fuhr Anson fort. Williams wußte nicht, wie er sich aus der Affäre ziehen sollte, ohne Verdacht zu erwecken. »Was für einen Motor haben Sie denn?« Diese Frage würde ein richtiger Mechaniker wohl stellen. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung«, antwortete Anson. »Für mich ist Motor gleich Motor.« »Da haben Sie in gewisser Weise recht«, stimmte Williams zu, der ungefähr das gleiche dachte. Während Garrad vor dem Pub auf Anson und Williams 127
wartete, rumorte Morgan im Hof herum und belud seinen Pferdekarren mit Bier, Zitronen- und SarsaparilleLimonade und Pasteten. Seit seinem durchschlagenden Erfolg beim Vermessungspicknick war er zuversichtlich, daß er um die Mittagszeit eine ganze Wagenladung verkaufen konnte. Er wollte als erster oben sein und für die hungrige, durstige Menge bereitstehen. Wenn sie schon so hart arbeiteten, war dies das wenigste, was er beisteuern konnte. Inzwischen kehrte Anson mit Williams im Schlepptau zum Auto zurück. »George, darf ich Ihnen Mr. Williams vorstellen? Er weiß alles über Automobile.« Garrad unterzog ihn einer eingehenden Prüfung und entschied, daß Williams’ verschmierte Kleidung einem echten Mechaniker angemessen war. Er öffnete die lange Motorhaube und sah zu, wie Williams den riesigen Motorblock begutachtete. Dieser hatte so etwas noch nie gesehen und griff zu einer Methode, die unter Mechanikern seither Tradition ist: Er wischte mit einem ölverschmierten Lappen über einen Teil des Motors, wackelte an einem Draht und stocherte in einer Röhre herum. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er da eigentlich tat. »Versuchen Sie es jetzt noch mal.« Anson kurbelte, nichts rührte sich. Williams wischte an einem anderen Teil des Motors herum, stocherte in einer anderen Röhre und spielte mit einem x-beliebigen Draht. »Und nochmal …« Anson drehte die Kurbel, der Motor schwieg. »Und?« schnappte Garrad, der auf dem Trittbrett saß und ärgerlich mit den Füßen im Kies scharrte. Eigentlich hatte er sich die Sache ganz einfach vorgestellt. Ein kurzer Blick unter die Motorhaube, ein Handgriff, und schon 128
wäre er unterwegs. »Nun …« sagte Williams zögernd. »Was nun?« fragte Garrad gebieterisch. Er war am Ende seiner Geduld. »Nun, was immer es auch sein mag, inzwischen haben Sie ihn jedenfalls absaufen lassen. Am besten lassen wir ihn zehn Minuten stehen.« Da sie ohnehin vor dem Pub standen, ergriff Williams die Gelegenheit und fragte: »Wie wär’s mit einem Schluck?« Ein Leuchten ging über Garrads Gesicht. »Es ist beinahe Mittag«, sagte er zufrieden und hinkte mit Williams in Richtung Theke. Anson starrte ihnen verwundert hinterher. Es war keineswegs Mittagszeit. Gerade noch konnte Garrad es kaum erwarten, von hier zu verschwinden, doch kaum witterte er Alkohol, ließ er alles stehen und liegen. Anson legte die Kurbel beiseite, klappte die Motorhaube herunter und folgte ihnen mit zögernden Schritten ins Pub. Gleich nachdem sie den Wagen stehengelassen hatten, schwebte die Gestalt des Reverends geistergleich um die Ecke. Abrupt blieb er stehen – die Engländer waren ja immer noch hier! Da stand das Auto, voller Gepäck und bereit zum Aufbruch. Der Reverend kochte innerlich noch von seiner Begegnung mit Davies dem Lehrer. Er sah sich vorsichtig um und holte ein kleines Federmesser aus der Tasche. Mit zitternden Fingern klappte er es auf und warf einen zerknirschten Blick zum Himmel. »Vergib mir, oh Herr«, flüsterte er, »denn sie wissen nicht, was sie tun.« Dann stach er in den Autoreifen und ließ das Messer wieder in seiner Tasche verschwinden. Er verließ den Schauplatz des Verbrechens unter lautem Lobgesang, um das Geräusch der entweichenden Luft zu 129
übertönen. »Brot des Himmels, Brot des Himmels, nähre mich mit deiner Kraft …« »Morgan?« rief Williams durch die leere Bar. Keine Antwort. Garrad ließ sich auf seinem Stammhocker nieder und warf einen verzehrenden Blick auf die Ginflasche. Anson sackte tödlich gelangweilt in einer Ecke zusammen. Williams rief erneut nach Morgan, auch diesmal ohne Erfolg. »Immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte er zu den beiden Engländern. »Ich suche ihn, weit kann er nicht sein.« »Wenn wir bloß Pferde hätten«, sinnierte Garrad und drehte sich zu Anson um. »Habe ich Ihnen jemals von meiner Zeit im Sudan erzählt, als unsere Pferde gestohlen wurden und wir statt dessen auf Kamelen reiten mußten?« »Nein, George, das haben Sie nicht«, erwiderte Anson und versuchte sich Garrads unförmige Gestalt auf einem Trampeltier vorzustellen. Während er die Schlafzimmer im oberen Stock durchsuchte, hörte Williams das Klirren von Flaschen im Garten. Vom Fenster aus konnte er sehen, wie Morgan seinen Karren belud. Williams nahm die Hintertreppe und stellte ihn zur Rede. »Morgan! Ich habe die ganze Zeit wie ein Volltrottel an der Theke gestanden!« »Bedien dich, aber schreib es auf der Tafel an«, sagte Morgan, der größere Pläne hatte. »Die Engländer sind bei mir.« Nun wurde Morgan hellhörig. »Sie wollen, daß ich ihr Auto repariere.« »Ach ja?« fragte Morgan. Gleichzeitig registrierte er zwei zusätzliche Hände, die anpacken konnten, und wies Williams an, die schweren Gegenstände aufzuladen. 130
»Was soll ich denn machen?« fragte Williams. »Stell den Wagen in deine Werkstatt und bau den Motor auseinander«, riet ihm Morgan. Ihm kam das alles ausgesprochen logisch vor. »Aber ich habe so etwas noch nie auseinandergebaut«, sagte Williams, dessen Erfahrung als Mechaniker sich auf einige Motorräder beschränkte. »Das ist doch kein einfacher Zweitakter.« »Egal, so anders kann er ja nicht sein.« »Du weißt nicht, wovon du redest«, klagte Williams. »Du solltest mal sehen, wie riesig dieses Ding ist. Der Motor allein ist so groß wie das ganze Motorrad von Tommy dem Zweitakter.« »Aber das Prinzip ist dasselbe«, erwiderte Morgan munter. »Es gibt bestimmt Nuten und Bolzen und Schrauben und solchen Kram.« »Selbstverständlich.« »Ja und?« Morgan begriff nicht, wo das Problem liegen sollte. »Was ist, wenn ich ihn auseinandernehme und nicht mehr zusammenkriege?« fragte Williams. Er wollte nicht den Zorn George Garrads aufsein Haupt laden. Morgan dachte kurz nach und sah in einer wunderbaren Vision die Einzelteile von Garrads Wagen in Williams’ Werkstatt verteilt. Er lächelte. »Wenn du ihn nicht mehr zusammensetzen kannst, tust du uns allen damit einen großen Gefallen. Wir werden dir ewig dankbar sein.« *** Der Anblick, der Reverend Jones unten auf der Wiese erwartete, war sehr erfreulich. Die gesamte erwachsene 131
Bevölkerung hatte sich versammelt und grub, was das Zeug hielt. Er ging umher und verteilte großzügiges Lob. »Gut gemacht, gut gemacht«, strahlte er. »Man kann die Sachsen auch mit anderen Waffen schlagen, was?« Im Mittelpunkt des Geschehens fand er Johnny, der aus Leibeskräften schaufelte. Der Reverend schüttelte Johnny fest die Hand. »Du bist eine Quelle der Inspiration für uns alle«, sagte er lächelnd, und Johnny errötete übers ganze Gesicht. Der Reverend ging weiter zu Ivor und dessen Frau Rachel. »Wo stecken denn eure Lausebengel? Wir könnten sie heute wirklich gut gebrauchen.« »Sie sind in der Schule«, antwortete Rachel. »So eine Zeitverschwendung für junge Menschen! Wollt ihr etwa nicht, daß sie an diesem Tag aller Tage dabei sind? Ihr solltet euch schämen, sie in der Schule faulenzen zu lassen, während wir hier einen generationenalten Kampf gegen die englischen Invasoren austragen!« So etwas ließ sich Rachel nicht zweimal sagen. Kurze Zeit später führte sie eine Phalanx von Müttern in Richtung Schule. Zwei Gläser Gin später verließen George Garrad, Reginald Anson und Williams die Zapfsäule das Pub, um sich wieder um den Wagen zu kümmern. Augenblicklich sahen sie sich mit einem neuen Problem konfrontiert: Beide Vorderreifen waren platt. »Verdammte Scheiße!« rief Williams. »Da muß ich Ihnen zustimmen«, sagte Anson. Garrad warf Williams einen bösen Blick zu. »Wissen Sie, wer dahintersteckt?« »Worauf wollen Sie damit hinaus?« fragte Williams aus 132
der Defensive. »Was ich andeuten möchte, Mr. Williams«, Garrad sprach langsam und deutlich, »ist, daß mir diese gehäuften Schwierigkeiten höchst verdächtig vorkommen. Sie stehen offensichtlich in Verbindung mit meiner Klassifizierung Ihres Berges als Hügel. Langsam vermute ich hinter diesen Anschlägen schlechte Verlierer, kindische Rachegefühle und …« »Halt!« warf Williams ein. »Halten Sie den Mund, bevor es Ihnen leid tut. Ja, viele Leute sind wirklich wütend, aber anzudeuten, daß …« Er richtete sich zu voller Größe auf, warf sich in die Brust und trompetete stolz: »Mr. Garrad, wir sind ehrbare Leute.« Diese Worte stieß er mit solcher Kraft und Überzeugung hervor, daß Garrad den Rückzug antrat. »Es tut mir leid, aber mir erschien es sehr, sehr eigenartig …« »Mag ja sein, aber wir müssen uns jetzt um den Wagen kümmern und ihn in die Werkstatt schaffen.« Anson war nun vollkommen überzeugt, Opfer einer großangelegten Verschwörung zu sein, und fragte augenzwinkernd: »Und wie lange wird die Reparatur Ihrer Ansicht nach dauern?« »Oh, Sie haben ihn bald wieder«, beruhigte ihn Williams. Lügen gingen ihm inzwischen flott von der Zunge. »Gut«, sagte Garrad, »ansonsten müssen wir eine andere Transportmöglichkeit finden.« Morgan hatte dieses Gespräch von seinem Schlafzimmerfenster aus belauscht und erstarrte: Er hatte nicht erwartet, daß sie das Dorf auch ohne ihr kostbares Auto verlassen würden. Es gab noch eine weitere, sehr einfache Möglichkeit, aus Ffynnon Garw wegzukommen: den Bahnhof. Morgan machte sich schnellstens auf und 133
rannte durch die Gasse hinter dem Haus, um Thomas dem Zug Bescheid zu sagen. »Wenn Sie also Ihr Gepäck herausnehmen und mich zur Werkstatt schieben würden«, sagte Williams abschließend. »Schieben?« Garrad hatte sich noch nie zu derart würdeloser, körperlicher Arbeit herabgelassen. »Leider ja«, erwiderte Williams. Garrad warf Anson einen hilfesuchenden Blick zu, wurde aber schmählich im Stich gelassen. »Dann also schieben«, sagte dieser, als wäre es für einen Ex-Brigadier wie Garrad die natürlichste Sache der Welt, an einem warmen walisischen Sommertag ein Auto quer durch ein Dorf zu schieben. *** Thomas der Zug goß gerade seine Tomatenpflanzen, als Morgan auftauchte. Ffynnon Garw war ein schläfriger, kleiner Bahnhof. Thomas hatte daher parallel zum Bahnsteig ein Mischbeet mit Blumen und Gemüse angelegt und vertrieb sich so die Zeit, während er auf die seltenen Personenzüge wartete. Aus dem Tempo, mit dem Morgan heranschoß, schloß er messerscharf, daß Ärger in der Luft lag. »Morgen, Morgan«, sagte er und zupfte einige Blüten aus, die inmitten seiner Tomatenpflanzen sprossen. »Möchtest du ein paar Blumen für Blod?« Für solche Kleinigkeiten hatte Morgan keine Zeit. »Möglicherweise kommen die Engländer nachher vorbei, um den Zug zu nehmen«, sagte er. Thomas hatte Angst vor dem, was nun folgen würde. 134
»Du mußt sie aufhalten.« »Sie aufhalten?« fragte Thomas ungläubig. »Und wie?« Eine berechtigte Frage. »Wie? Wann? Warum? Was ist nur los mit diesem Dorf?« klagte Morgan. »Kann denn keiner außer mir einmal die Initiative ergreifen?« Er meinte Initiative. »Du hast gut reden mit deinem ›du mußt sie aufhalten‹«, fuhr Thomas fort. »Wenn sie nun fest entschlossen sind, einen Zug zu nehmen …« »Dann mußt du verhindern, daß sie ihren Entschluß in die Tat umsetzen!« brüllte Morgan. »Thomas, die Sache ist doch ganz einfach: Ich möchte den Leuten nicht erzählen müssen, daß der Plan deinetwegen gescheitert ist.« Thomas sank in sich zusammen. Plötzlich sahen die Tomaten in seinen Augen kränklich aus, der Himmel verdüsterte sich, der Bahnhof wirkte schäbig. Morgan hatte ihm gründlich den Tag verdorben. Thomas war ein schlichter, ruhiger Mensch, der Streitereien möglichst aus dem Weg ging. Ihm gefiel das einfache Leben. Er verkaufte und kontrollierte Fahrkarten. Die Züge folgten einem Fahrplan, den bedeutendere Männer entworfen hatten. Er wünschte sich ein stilles, geregeltes Leben. Und hier stand Morgan und machte alles so schwierig. Thomas wurde es schwer ums Herz. »Laß mich nicht im Stich. Du würdest damit das ganze Dorf im Stich lassen.« Mit diesen Worten marschierte Morgan davon. Thomas seufzte und pflückte eine verwelkte Rose ab. ***
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Im Jahre 1917 wurden an die Konstruktion von Automobilen sehr hohe Anforderungen gestellt. Nach heutigen Maßstäben waren diese Wagen ungeheuer schwer, und George Garrad und Reginald Anson mußten gewaltige Mühe aufwenden, um das Auto über die Brücke bis zur Werkstatt von Williams der Zapfsäule zu schieben. Glücklicherweise war der Wagen so schwer, daß sich die beiden Männer beim Schieben tief hinunterbeugen mußten. Ansonsten hätten sie gesehen, wie das ganze Dorf am Flußufer damit beschäftigt war, jeden verfügbaren Wagen, Eimer und Karren mit Erde zu beladen. »Wir haben uns einen heißen Tag ausgesucht«, sagte Thomas Twp zu Reverend Jones. »Besser als Regen«, antwortete der Reverend, der seine Aufgabe nach wie vor darin sah, Optimismus zu verbreiten. »Später wird es aber regnen«, sagte Thomas Twp Zwo, der die Lerchen beobachtet hatte. Für seinen Geschmack stiegen sie viel zu hoch. »Dann wird uns der Regen um so mehr erfrischen«, sagte der Reverend, fest entschlossen, in allen Gaben des Herrn das Gute zu erblicken. Morgan hingegen tendierte dazu, immer das Schlimmste anzunehmen. Auf seinem Rückweg vom Bahnhof hatte er einen Umweg gemacht und dem Garten eines jungen, ausgemergelten Bergarbeiters namens Tommy dem Zweitakter einen Besuch abgestattet, einem der wenigen Motorradbesitzer des Ortes. Tommy gehörte zu den ersten jener Folge von begeisterten jungen Männern, die beim ersten Anblick eines Motorrads dem Rausch der Geschwindigkeit erliegen. Seine Gesundheit war bereits 136
angegriffen, doch er verschlimmerte seinen Zustand noch, indem er jede Überstunde wahrnahm, die sich ihm bot. Von dem so hart verdienten Geld hatte er sich ein eigenes Motorrad gekauft und es seither keine Sekunde bedauert. Motorradfahren schien ihm das Allergrößte. Anfangs war er kreuz und quer durch die Gegend gekurvt. Mit Begeisterung überbrachte er Botschaften der Dorfbewohner an Verwandte in den entlegensten Flecken und suchte immer nach einem Vorwand, um seinen freien Tag auf dem Motorrad zu verbringen. Morgan hatte als einer der ersten Tommys Dienste in Anspruch genommen. Die Sache war danach aber so ausgeartet, daß Tommys Frau zumindest eine Erstattung der Benzinkosten verlangte. Morgan hatte zögernd zugestimmt und betrachtete Tommys Dienste nun als sein Monopol. Heute brauchte er ihn für eine Fahrt, die mit seinem großen Plan hinsichtlich der Engländer und des Berges in Verbindung stand. Unglücklicherweise war heute Tommys freier Tag. Tommys Frau Elsie saß gerade im Garten und pulte Erbsen, als Morgan durchs Tor kam. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu. »Mein Mann fährt heute nirgendwo für dich hin. Er hatte Nachtschicht und schläft.« »Frau, du mußt ihn wecken!« verlangte Morgan. »Es geht um Leben und Tod!« »Scheiß auf Leben und Tod«, erwiderte Elsie und schnippte eine leere Erbsenschote zur Seite. Morgan schoß an ihr vorbei, hämmerte mit der Kohlenschaufel auf die Blechbadewanne und brüllte lauthals: »Tommy! Komm sofort runter!« Dieser Schrei hätte selbst Tote erweckt.
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Davies die Schule fuhr gerade mit der Geschichte Llywelyns des Letzten fort, als er zu seiner Überraschung eine Armee von Müttern quer über den Spielplatz auf das Schulgebäude zumarschieren sah. Schon drangen sie ohne anzuklopfen in sein Klassenzimmer ein. »Wir wollen unsere Kinder holen«, erklärte Rachel. »Sie werden zu Hause gebraucht«, fügte Mavis hinzu. »Aber das ist gegen die Vorschriften!« beklagte sich Davies. Seine Worte gingen unter in dem Wirbelwind, der durchs Klassenzimmer fegte und die Kinder von dannen trug. Nur ein Kind blieb übrig. Tommy der Zweitakter wischte sich den Schlaf aus den Augen und kratzte sich am Kopf. Das war alles zuviel auf einmal. »Es liegt an der Straße gleich hinter Cardiff, auf dem Weg nach Newport«, erklärte Morgan. So weit war Tommy noch nie gefahren. »Muß ich durch Cardiff?« erkundigte er sich. Er war noch nie mit dem Motorrad in einer Stadt gewesen, weil es ihm angst machte. Er liebte die breiten, menschenleeren Landstraßen. »Wenn du nicht willst, kannst du außen herumfahren.« »Naja …« Tommy war noch nicht überzeugt. »Und wenn ich mich verirre?« »Es liegt an der Hauptstraße von Cardiff nach Newport, ein verdammt großes Haus mit einer richtigen Auffahrt. Ganz schick. Nicht zu übersehen. Du fragst einfach nach Miss Elizabeth.« Morgan zeichnete eine grobe Skizze. »Aber Morgan, dafür brauche ich den ganzen Tag. Im Moment habe ich Nachtschicht.« 138
Morgan kannte kein Mitleid. »Manche von uns arbeiten halt Tag und Nacht«, konterte er. »Aber den ganzen Weg nach Cardiff und zurück …« Morgan zischte direkt vor Tommys Nase: »Ich möchte den Leuten nicht erzählen müssen, daß alles an dir gescheitert ist.« Seine Stimme war reiner Stahl, sein Blick eiskalt. Tommy erschauerte – aber nicht vor Kälte. Mit einem letzten Schwung schoben Anson und Garrad den Wagen in Williams’ Werkstatt. Garrad sank auf das Trittbrett und rang nach Luft. So erschöpft war er nicht mehr gewesen, seit ihn ein Eingeborener durch den Bazar von Kairo gejagt hatte. Würde sich sein Herzschlag je wieder normalisieren? Williams verschwand im Hinterzimmer. »Sehr schön, ich hole nur mein Werkzeug.« Anson schaute sich um. Wagenräder, Pflüge, ein Amboß – nichts, das irgendwie auf Erfahrung mit Autoreparaturen hinwies. Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. In diesem Moment tauchte Tommy der Zweitakter auf und schob sein Motorrad zur Zapfsäule. Mit der besessenen, detailverliebten Konzentration des echten Fanatikers schraubte er sorgfältig den Tankdeckel ab und säuberte ihn, bevor er den Schlauch in den Tank einführte und eine halbe Gallone Benzin hineinpumpte. »Ich habe eine halbe Gallone auf Kosten von Morgan dem Ziegenbock getankt!« rief er, nickte den Engländern zu und machte sich auf den Weg. Auf Kosten von Morgan dem Ziegenbock? Anson und Garrad warfen sich einen Blick zu. Sehr seltsam. Williams kehrte zum Auto zurück. Er hatte seine 139
einzigen brauchbaren Werkzeuge mitgebracht: einen riesigen Hammer und einen winzigen Schraubenzieher. »Dann mal an die Arbeit!« Er versprühte falsches Selbstvertrauen. »Entschuldigen Sie, aber habe ich diesen Burschen richtig verstanden? Mr. Morgan hat ein Konto bei Ihnen?« fragte Anson. »Ja-a«, sagte Williams vorsichtig. »Also hat er ein Auto?« »Nein«, erwiderte Williams wahrheitsgemäß. »Er hat bloß ein Konto.« Garrads unterentwickeltes Gehirn lief auf Hochtouren – er würde die Waliser niemals im Leben verstehen, und es hatte wohl auch keinen Zweck, es zu versuchen. Unten auf der Wiese waren die Pferde eingespannt, die Karren beladen, die Eimer gefüllt, doch niemand gab das Startsignal. Alle schienen auf ein Zeichen des Himmels zu warten. Da Reverend Jones einem Boten Gottes am nächsten kam, nahm er die Sache in die Hand, griff nach dem Eimer eines Kindes und marschierte los. »Folgt mir!« rief er. Das ganze Dorf und mehrere Tonnen Erde machten sich auf den Weg zum Gipfel von Ffynnon Garw. *** Anson und Garrad saßen im Schatten. Anson las eine alte Zeitung, während Garrad den Blick auf die Einzelteile seines Wagens gerichtet hielt, die auf dem ganzen Boden verteilt lagen. Williams steckte unter der Motorhaube und erzeugte furchterregende Geräusche mit seinem Hammer. »Glauben Sie, er hat auch nur die geringste Ahnung, was 140
er da eigentlich macht?« fragte Garrad. Anson schien sich insgeheim an dem Schauspiel zu erfreuen. »Er ist jedenfalls mit großem Optimismus bei der Sache«, erwiderte er. »Ich weiß, aber …« »Ich kenne mich mit Automobilen und den dazugehörigen Motoren überhaupt nicht aus«, gestand Anson. »Ich leider auch nicht«, sagte Garrad. Williams konnte ihrer Unterhaltung problemlos folgen und warf einen Blick auf die Überreste des Motors. Er brauchte dringend eine neue Idee. Anson wandte sich wieder der Zeitung zu. Garrad zwirbelte seinen Schnurrbart. Sie saßen nun bereits seit einer Stunde hier und hatten keine Menschenseele draußen auf der Straße gesehen. Äußerst verdächtig. »Ich weiß nicht so recht, ob mir dieses Dorf gefällt.« Erneut unterbrach Garrad Ansons Lektüre und verunsicherte Williams unter der Motorhaube noch mehr. »Kommt mir alles viel zu ruhig vor.« »Habe ich auch schon bemerkt, aber ich finde es angenehm«, sagte Anson. »Sie finden es angenehm? Guter Gott, Anson, Sie sagen manchmal die unmöglichsten Dinge.« In diesem Augenblick fischte Williams einen kleinen Stab aus dem Motorraum und zerbrach ihn unauffällig. »Aha! Meine Herren, ich glaube, ich habe das Problem gefunden.« Anson und Garrad sprangen auf. Williams zeigte ihnen den zerbrochenen Stab. »Wie ist das wohl passiert?« fragte Garrad. »Verschleiß«, erwiderte Williams. 141
»Verschleiß? Der Wagen ist praktisch neu!« beklagte sich Garrad. »In dem Fall würde ich sagen, er war von Anfang an kaputt. Sie sollten mit dem Hersteller reden, wenn Sie wieder in London sind.« Darauf war Williams wirklich stolz, es klang sehr fachmännisch. »Wie genau nennt sich dieser Teil?« erkundigte sich Garrad, damit er es in seinem Beschwerdebrief erwähnen konnte. »Ich kenne nicht das englische Wort dafür, aber hier in Wales nennen wir es Bethyngalw.« Den englischen Begriff wußte er tatsächlich nicht, aber ebensowenig den walisischen. Bethyngalw bedeutet soviel wie Dingsbums oder Sowieso. »Ein was?« Garrad war fassungslos. »Ein Börssaingalluus«, erklärte Anson, als habe er jede Silbe verstanden. »Verdammt nah dran«, lobte Williams. »Und wo können wir ein Ersatzteil bekommen?« wollte Garrad wissen. »Ooh.« Diese Frage schien für Williams eines der letzten ungelösten Rätsel der Menschheit zu sein. »Wahrscheinlich müssen wir Tommy den Zweitakter losschicken, sobald er zurück ist. Unter Umständen muß er bis Cardiff fahren.« »Cardiff?« stöhnte Garrad, der seine Fluchtmöglichkeiten schwinden sah. »Keine Sorge, George, wir müssen einfach noch ein paar Tage hierbleiben«, beschwichtigte ihn sein Assistent. Garrad warf ihm einen Blick zu, den Anson niemals vergessen würde. Dieser Blick hatte zahllose Aufstände im 142
Fernen und Mittleren Osten entfacht. »So, Mr. Williams, gibt es vielleicht ein anderes Transportmittel, das wir mieten können?« fragte Anson rasch. »Nein, die werden alle woanders …« Er biß sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, holte tief Luft und sammelte sich. »Ja, Mr. Williams? Werden alle woanders …?« bohrte Anson, dem inzwischen klar geworden war, wofür die ganzen Fortbewegungsmittel gebraucht wurden. Sie wollten tatsächlich einen Berg aus dem Hügel machen! Plötzlich erkannte er die Absurdität und den ganzen Witz dieser Situation. Hier stand der pompöse George Garrad mit seinem prächtigen Auto, das in alle Einzelteile zerlegt war, nur weil dieses unglaubliche Dorf statt des Hügels seinen blöden Berg wiederhaben wollte. Williams überlegte verzweifelt. »Es – es wird alles für den Krieg gebraucht.« Brillanter Einfall. Garrad würde das respektieren. Doch dieser war mit seinen Gedanken schon einen Schritt weiter. »Ich meine, ich hätte letzte Nacht einen Zug gehört«, sagte er. »Gibt es hier einen Bahnhof?« Williams war ratlos. Wenn er ihnen den Weg zum Bahnhof zeigte, würden sie mit dem Abendzug verschwinden. Verwirrt starrte er Garrad an. »Die Frage ist doch nicht so schwer zu beantworten. Gibt es nun einen Bahnhof oder nicht?« »Nein, nicht wirklich …« sagte Williams. Mehr konnte er unter diesen Umständen nicht tun. »Nicht wirklich?« Garrad wurde langsam ungeduldig.
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*** Anders als seine größeren Brüder wie dem Eiger oder dem Mount Everest kann man den Ffynnon Garw auf zahllosen Routen besteigen. Selbst der steilste Weg laßt sich ohne besondere Ausrüstung in einigermaßen derben Stiefeln bewältigen. Wer einen längeren Fußmarsch nicht scheut, hat die Möglichkeit, einen Feldweg oder einen Trampelpfad, den die Schafe benutzen, zu nehmen. Diese Pfade schlängeln sich in Serpentinen vom Tal bis zum Gipfel hinauf. Für Pferde und Wagen gab es allerdings nur eine brauchbare Strecke. Von der Wiese aus waren die Dorfbewohner am Pub und der Kirche vorbeigezogen und von dort weiter die Hauptstraße entlang bis zu einem Tor, hinter dem ein ansteigendes Feld lag. Am Ende des Feldes begann ein alter, baumbestandener Weg, der sich über den unteren Teil der Hänge von Ffynnon Garw zog. Nach einer Meile endete er in einer scharfen Kurve vor einem Felsvorsprung. Bis dahin konnte man mit einem Gespann ziemlich leicht gelangen. Morgan hatte sofort erkannt, wie günstig diese Stelle lag. Hier würden die Leute eine Pause einlegen, bevor sie die Erde in die Eimer schütten und bis zum Gipfel hinauftragen würden. Genau an diesem Ort – bis heute als »Limonadenstand« bekannt – hatte Morgan ein improvisiertes Zelt und einen sauberen Tisch aufgestellt. Darauf standen zwei große Bierfässer mit Zapfhähnen, mehrere Pintflaschen mit Zitronen- und Sarsaparille-Limonade sowie eine Auswahl Sommerfrüchte: Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Haferpflaumen. Als der Konvoi unter Führung von Reverend Jones in 144
Sicht kam läutete Morgan eine Glocke und rief der arbeitenden Menge zu »Bier! Limonade! Erfrischungen!« Er hielt sich und den Stand für einen willkommenen Anblick, was er für die meisten Leute auch war – ausgenommen natürlich Reverend Jones. Der gute Reverend stellte seinen Eimer ab und ging auf Morgan los. »Das ist typisch!« brüllte er. »Während sich das ganze Dorf- mit der bemerkenswerten Ausnahme von Davies dem Lehrer – dieser heroischen Aufgabe widmet, vergeuden Sie Ihre Kräfte, um Profit zu machen und …« – seine Stimme erhob sich parallel zum Grad seiner Wut –» … das Laster des Alkohols noch weiter zu verbreiten!« »Nun mal langsam, Reverend«, sagte Morgan lächelnd. »Ich glaube, die Hitze bekommt Ihnen nicht. Ich biete nur meine Dienste an.« »Ha! Ein wirklicher Dienst wäre kostenlos!« grollte Reverend Jones. »Sie können mir vertrauen. Ich mache hiermit keinen Profit.« Reverend Jones warf ihm einen niederschmetternden Blick zu. »Ihnen vertrauen? Ihnen? Der Tag muß erst noch erschaffen werden, an dem ich Ihnen vertraue.« Morgan bewegte sich wie üblich im Niemandsland zwischen Wahrheit und Lüge. Natürlich machte er Profit, doch wollte er damit seine Schulden bei Betty tilgen und sie zur Mithilfe bei seinem Plan bewegen. Im Gegensatz zum Reverend, der von dem Angebot an Erfrischungen keinen Gebrauch machte, waren viele Dorfbewohner dankbar für Morgans Idee. Zunächst jedoch wurden die großen und kleinen Karren bis zu einer Stelle 145
gefahren, an der sie sicher entleert werden konnten. Nacheinander kippten die Wagen ihre Ladung aus. Zu ihrem Entsetzen mußten die Dorfbewohner feststellen, daß der gesamte Erdhaufen kaum mehr als mannshoch war. Dafür also hatten sie den ganzen Morgen geschuftet und mußten die Erde auch noch den Berg hinauftragen. Der Tag würde wohl länger werden, als sie erwartet hatten. Während der Erfrischungspause bildeten sich zwei Gruppen: Die eine würde mit den Wagen und Schubkarren auf die Wiese zurückkehren, die andere mit den Eimern auf den Gipfel marschieren. Die Dorfbewohner machten keinen Unterschied zwischen den Aufgaben und verteilten sich ungeachtet ihres Alters oder Geschlechts auf die Gruppen. Alle waren vereint in einem Bestreben, das zu einem wahrhaft epischen Unternehmen werden sollte. Davies der Lehrer saß an seinem Pult und starrte schweigend aus dem Fenster auf die Menschenschlange, die sich den Berg hochwand. Was glaubten sie eigentlich damit zu erreichen? Provisorisch zeichnete er einen kegelförmigen Hügel auf ein Blatt Papier und betrachtete ihn von einem mathematischen Standpunkt aus. Das Volumen eines Kegels. Wie errechnete man doch gleich das Volumen eines Kegels? 1/3 x pi2 x Höhe Genau, das war’s! Und wenn die Höhe zwanzig Fuß betrug? Er fertigte eine grobe Skizze an. Der Durchmesser der Basis mußte wesentlich größer als zwanzig Fuß sein. Die haben Glück, wenn sie es mit dreißig Fuß schaffen, dachte Davies, aber auch dann war der Kegel noch sehr steil. Und wenn die Basis dreißig Fuß maß? Dann hätte man einen Radius von fünfzehn Fuß … 1/3X22/7X152X20 =? 146
Er zog einen Rechenschieber aus der Schublade und las Sekunden später die Antwort ab: Sie würden viertausendsiebenhundertvierzehn Kubikfuß Erde benötigen. Ein herkömmlicher Eimer faßte kaum einen Kubikfuß. Fünftausend Eimerladungen Erde! Das hatte wohl noch niemand berechnet. Darin lag der Unterschied zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten, dachte er stolz. Letztere mühten sich ab in der glücklichen Ungewißheit darüber, daß ihr Plan ans Unmögliche grenzte. Fünftausend Eimer voll! Davies der Lehrer frohlockte. Sein Lachen wurde von einem leisen Husten beantwortet. Über seinen Berechnungen war ihm völlig entfallen, daß noch ein kleines Mädchen im Klassenzimmer saß. Es hatte die Hand gehoben, um eine Frage zu stellen. Davies wußte genau, was jetzt kommen würde. »Geh nur«, sagte er resigniert. »Geh nach Hause zu dem verdammten Rest dieser geistig Armen.« An dieser Stelle möchte ich bemerken, daß dies der einzige überlieferte Fall ist, in dem Davies der Lehrer in Anwesenheit eines Kindes fluchte. Das Mädchen rannte aus dem Zimmer, bevor er es sich anders überlegen konnte. Nachdem er der Versuchung in Gestalt von Morgans Erfrischungen widerstanden hatte, machte sich Reverend Jones vom Ärger angetrieben auf den Weg zum Gipfel. Der Pfad war steil, doch in seinen alten Adern pulste reines Adrenalin. Nach vierzig Minuten hatte er den Gipfel erreicht. Mit großer Geste und lautem Keuchen entleerte er seinen Eimer am Fuß des Fahnenmastes. Dann ließ er sich zu 147
Boden sinken, um eine wohlverdiente Pause einzulegen. Als er sich erholt hatte, warf er einen Blick auf seine Eimerladung und die Eimerladungen derjenigen, die nach ihm gekommen waren. Ein wahrhaft trauriges Häufchen! Die ganze Sache gestaltete sich anscheinend schwieriger, als er geglaubt hatte. In der Theorie war ein zwanzig Fuß hohes Hügelchen kein Problem, besonders im Vergleich zu der Gesamthöhe vieler Berge. Der Reverend ging zwar nicht Davies’ präzisen Berechnungen nach, doch er stellte sich drei aufeinanderstehende Männer vor und die Erdpyramide, die nötig wäre, um sie verschwinden zu lassen. Der Plan erwies sich als sagenhafte Herausforderung. *** Williams fiel bei seiner Aufgabe, die Flucht der Engländer mit dem Zug zu verhindern, nichts Besseres ein, als sie in die falsche Richtung zu schicken. Dieser Trick wirkte allerdings nur vorübergehend, da die meisten Wege durch das enge Tal von Ffynnon Garw irgendwann die Bahngleise kreuzten, und diese wiederum führten zielsicher zum Bahnhof. Nach einigen Umwegen kamen Anson und Garrad schließlich dort selbst an. Sie hörten deutlich den Pfiff eines abfahrenden Zuges und sahen Dampfwolken von der Lokomotive aufsteigen. Die einzigen Passagiere, die in Ffynnon Garw ausstiegen, waren die heimkehrenden Tauben in den drei Körben, mit denen sich Thomas der Zug gerade unterhielt, als Anson und Garrad an den Fahrkartenschalter traten. »Ruckedigu«, gurrte er, »ruckedigu.« 148
»Entschuldigen Sie.« Thomas der Zug schnellte herum und sah beim Anblick von George Garrad, der soeben das Wort an ihn gerichtet hatte, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Es waren die Engländer. »Ja?« stammelte er. »Haben Sie einen Fahrplan?« fragte Garrad. Nach seinem Gefühl konnte man diese Frage am Fahrkartenschalter eines Bahnhofs durchaus stellen. Thomas runzelte die Stirn und sah Garrad verwirrt an. »Züge?« Es klang, als drehe sich die Unterhaltung um seidene Kniehosen aus der Zeit Ludwigs XIV. »Ja«, bestätigte Garrad, dem schon der Geduldsfaden riß. »Züge. Rattaratta …« fügte er für den Fall hinzu, daß Thomas des Englischen nicht mächtig wäre. »Sie sind doch Engländer, oder nicht?« fragte Thomas. Er hatte dies zwar schon aus ihrem Akzent und ihrer Kleidung geschlossen, wollte aber auf Nummer Sicher gehen. Garrad verdrehte die Augen und gab Anson einen Wink. »Ja, das sind wir«, bestätigte dieser und wußte nicht, woran er mehr Spaß hatte: am Schauspiel des Stationsvorstehers, der so tat, als gäbe es hier keine Züge, oder an Georges Wut. Das alles war überaus unterhaltsam. »Und wir möchten gerne einen Zug nehmen.« Thomas lächelte so unschuldig wie ein neugeborenes Kalb. »Keine Züge«, erwiderte er kategorisch. Schließlich hatte Morgan ihn angewiesen zu lügen, und das war genau die Lüge, an der er seine Freude gehabt hätte. »Guter Gott! Ich habe gerade eben einen Zug gehört! Ich habe die Pfeife gehört und den Dampf gesehen! Das hier ist doch ein Bahnhof, oder vielleicht nicht?« schnarrte 149
Garrad. Thomas rutschte das Herz in die Hose. Was um Himmels willen sollte er jetzt noch sagen, um das Schicksal aufzuhalten? Er schluckte, holte tief Luft – und dann kam ihm eine göttliche Erleuchtung. »Das war ein Kohlenzug«, erklärte er. »Kohlenzüge am Tag, Kohlenzüge bei Nacht, aber keine Personenzüge. Oder sehen Sie irgendwelche Personen?« Die Tauben bestätigten es mit »Ruckedigu.« *** Albert Evans, besser bekannt als Evans Dreißig Zu Eins, nachdem er in jüngeren Jahren eine beachtliche Wette gewonnen hatte, rannte so schnell er konnte zur Wiese. »Die Engländer kommen zurück zum Pub!« brüllte er. Sofort ruhte die Arbeit. Die endlose Prozession von der Wiese zum Pub und weiter den Berg hinauf hielt inne. Ivors Jüngster wurde die Straße hochgeschickt, um diejenigen zu warnen, die zurückkamen, um ihre Eimer und Karren zu beladen. Daher fanden Anson und Garrad bei ihrer Rückkehr zum Pub einen menschenleeren Dorfplatz und stille Straßen vor. Nur Evans Dreißig Zu Eins saß auf der Bank und starrte unschlüssig ins Leere. Anson lächelte ihm zu, doch Garrads Blick war eisig. Er wußte zwar nicht, was sich hier abspielte, aber irgend etwas erschien ihm anders. Etwas stimmte nicht mit diesem Dorf. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, das Pub zu betreten. Minuten später schnarchte er nach diesem so überaus anstrengenden Tag in seinem Bett, daß die Wände wackelten. Sobald die beiden Engländer außer Sichtweite waren, stieß Evans Dreißig Zu Eins einen leisen Pfiff aus, und die 150
Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Wagenladung auf Wagenladung, Schubkarre auf Schubkarre, Eimer auf Eimer, Blechwanne auf Blechwanne. Minute um Minute, Stunde um Stunde bewegte sich die Wiese stückweise auf den Gipfel von Ffynnon Garw. *** Es war wirklich nicht Tommy des Zweitakters Glückstag. Als er Ffynnon Garw verließ, hielt er Morgans flüchtige Wegskizze fest umklammert. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm jedoch bewußt, daß Morgan die elementarsten Einzelheiten ausgelassen hatte, beispielsweise Entfernungsangaben. Es ist schön und gut, jemandem zu erklären, er müsse die letzte Straße links vor der richtigen Stadt nehmen, solange dieser jemand weiß, wo die richtige Stadt liegt. Folglich war Tommy links abgebogen, sobald er etwas entdeckte, das entfernte Ähnlichkeit mit einer Stadt hatte. Unglücklicherweise war das jedoch nicht Cardiff gewesen. Tommy hatte allerdings einen recht guten Orientierungssinn. Mit Hilfe des Sonnenstandes war er so lange in südöstlicher Richtung gefahren, bis er sich zu seiner Überraschung am Meer wiederfand. Er hatte das Meer noch nie gesehen und wünschte, er wäre unter anderen Umständen hergekommen. Dann hätte er eine Runde schwimmen können. Obwohl er vom Anblick des Ozeans hingerissen war, begriff er angesichts dieser ungeheuren Wasserfläche, daß ihm die Wahl des Weges nun leichter fallen würde, da zumindest eine Richtung wegfiel. Mehr noch half ihm die Tatsache, daß er nun auf einer vielbefahrenen Straße fuhr, die sich als Hauptstraße von 151
Cardiff nach Newport entpuppte. Genau da wollte er doch hin. Unglücklicherweise war er bereits über sein Ziel hinausgeschossen und befand sich näher an Newport als an Cardiff. Aber dies war wenigstens die gesuchte Straße, die Richtung stimmte auch. Jetzt mußte er nur noch nach einem großen Gebäude auf der rechten statt auf der linken Seite Ausschau halten. Schließlich entdeckte er nach einer Kurve eine lange Mauer, die sich an der Straße entlangzog. Hinter einer solchen Mauer lag bestimmt ein großes Haus. Tommy suchte nach einem Schild. Nach einer Viertelmeile mündete tatsächlich eine Auffahrt in die Straße, und der Besitz kündigte sich als Assam House an. Tommy bog in die kiesbestreute, von majestätischen Ulmen gesäumte Auffahrt ein. Das Haus lag hinter den Bäumen verborgen. Langsam fragte er sich, ob er dieser Aufgabe überhaupt gewachsen war. Der Besitz wirkte einschüchternd wie die Photographien in den eleganten Zeitschriften. Als das Haus in Sicht kam, wurde er noch nervöser. Es war ein palastartiges, abweisendes Gebäude aus elisabethanischer Zeit. Tommy konnte nicht genau erkennen, wo sich der Haupteingang befand, da alles so imposant wirkte. Die Auffahrt zog sich durch einen gepflegten Garten, zwischen Hecken hindurch und mündete schließlich in eine riesige Rasenfläche, die mit Springbrunnen übersät war. Tommy kam sich plötzlich sehr klein vor. Er stellte sein Motorrad vor einer beeindruckenden, polierten Flügeltür ab und klopfte. Er rief sich ins Gedächtnis, daß er geschäftlich hergekommen war, genauer gesagt in Morgans Auftrag, und daß die fragliche Dame Morgans Freundin war. Tommy hatte sie einmal im Pub gesehen und war von ihrem feingeschnittenen Gesicht und den teuren Kleidern sehr beeindruckt gewesen. Ja, sie 152
wirkte einschüchternd, und ihr Haus war imposant, aber schließlich und endlich war er Morgans Bote. »Ja?« Ein älterer Butler unterzog ihn einer ausgiebigen Prüfung und warf einen verächtlichen Blick auf das Motorrad und die Spur, die es auf dem Kies hinterlassen hatte. Verdammt noch mal, dachte Tommy, von dem werde ich mich nicht einschüchtern lassen. Er sagte in seinem gewähltesten Tonfall: »Ich habe eine Nachricht für Miss Elizabeth.« Er hatte eine entsprechende Reaktion erwartet, doch der Butler warf ihm nur einen verwirrten Blick zu und fragte: »Miss Elizabeth?« »Ja, Miss Elizabeth«, bestätigte Tommy. »Tut mir leid, aber hier wohnt keine Miss Elizabeth«, sagte der Butler in klagendem Ton. »Seien Sie doch nicht blöd!« platzte Tommy heraus. »Morgan sagt, sie wohnt hier.« Dann kam ihm ein furchtbarer Gedanke. »Dies ist doch Assam House, oder nicht?« »Diese Frage kann ich bejahen. Dies ist Assam House, und hier gibt es absolut keine Miss Elizabeth.« Der Butler wollte gerade die Tür schließen, als ihm etwas einfiel. »Ach«, jetzt schwang deutliche Herablassung in seiner Stimme, »Sie können es ja mal bei Betty versuchen – am Hintereingang.« Mit diesen Worten knallte er die Tür zu. Tommy trabte um die Ecke und fand sich nach einem scheinbar endlosen Marsch bei den Stallungen wieder. Ein Gebäude hatte man zu einer Garage umgebaut, vor der ein großer Wagen stand. Tommy hatte ihn schon in Ffynnon Garw gesehen. Dies war sicher Miss Elizabeths Auto, und der Mann, der den Wagen gerade polierte, wohl ihr 153
Chauffeur. Tommy schlenderte auf ihn zu und wollte den Mann gerade ausfragen, als Miss Elizabeth aus einer Tür trat. Tommys Kiefer klappte nach unten. Sie war gekleidet wie ein Dienstmädchen. Da das Fenster in George Garrads Zimmer zum Dorfplatz hinaus ging, besaß er im Grunde einen ausgezeichneten Beobachtungsposten, um den faulen Zauber zu überwachen. Doch die Drinks vor dem Mittagessen in Verbindung mit der extremen körperlichen Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, ein Auto zweihundert Meter weit zu schieben, ganz zu schweigen von den Qualen, die ihm die Gespräche mit Geistesschwachen wie Williams der Zapfsäule und Thomas dem Zug bereitet hatten, forderten nun ihren Tribut. George schlief wie ein opiumbetäubtes Baby. Reginald Ansons Zimmer hatte ebenfalls ein Fenster zum Dorfplatz, und er beobachtete verwundert das seltsame Geschehen. Die Prozession über den Dorfplatz war ihm ebensowenig entgangen wie – bei einem Blick durch das hintere Fenster – die Schlange von Menschen, die sich zum fernen Fahnenmast hochwand, um dessen Fuß sich langsam ein beachtlicher Erdhaufen türmte. Anson konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Er gehörte weder zur Dorfmannschaft, noch stand er auf Garrads Seite. Keineswegs. Als unbeteiligter Zuschauer befand er sich außerhalb des Geschehens und konnte es daher im Licht seiner unbestreitbar komischen Elemente betrachten. Ihm kam es gar nicht ungewöhnlich vor, daß er strenggenommen seinen Posten verlassen hatte und desertiert war, statt seinen Vorgesetzten von den Vorgängen zu informieren. 154
Meilenweit entfernt in Assam House versuchte Tommy, seiner Verwirrung Herr zu werden. »Aber ich dachte …« War das nun Miss Elizabeth oder Betty? Sie fiel ihm ins Wort. »Es ist mir egal, was Sie gedacht haben. Was wollen Sie hier?« Sie hatte ihn wiedererkannt. Das war nicht sonderlich schwer, denn es gab nur wenige Männer auf Motorrädern, die sich gleich in mehrere Schals hüllten, um sich vor der Kälte zu schützen. »Morgan hat mich geschickt.« »Morgan? Was will er denn?« »Morgan sagt, Sie müssen sofort kommen.« »Und meinen Job verlieren, was?« fragte Betty. Irgend etwas war faul an Morgan. Wieso konnte er nicht begreifen, daß andere Leute ihr eigenes Leben führten und Verantwortung trugen? »Es handelt sich um einen Notfall«, verriet ihr Tommy. »Er hat gesagt: ›Sag ihr, daß ich ohne sie nicht zurechtkomme.‹« »Er kommt ohne mich nicht zurecht?« Betty traute ihren Ohren nicht. »Ja, er sagte etwas in der Art«, bestätigte Tommy, doch Betty hörte gar nicht mehr hin. Sie war wirklich überrascht. Das paßte so gar nicht zu Morgan. Wollte er ihr etwa eine Liebeserklärung machen? Wenn ja, dann war Tommy der Zweitakter ein äußerst seltsamer Liebesbote. »Und wie soll ich ins Dorf kommen?« wandte sich Betty nun der praktischen Seite zu. »An einem Wochentag würde es auffallen, wenn der Wagen nicht da ist.« »Draußen steht mein Motorrad«, antwortete Tommy. »Morgan erwartet von mir, daß ich auf einem Motorrad abhaue?!« 155
Sie war außer sich. Tommy wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Sie wog kurz das Für und Wider ihrer momentanen Situation ab. Sie haßte ihre Arbeit als Dienstmädchen, doch es war auch viel wert, überhaupt eine Stelle zu haben. Es gefiel ihr zwar, die schönen, abgelegten Kleider ihrer Herrin zu tragen, doch sie konnte die zugige Bude unter dem Dach des großen Hauses nicht mehr ertragen. Es war schön, ein bißchen Geld zu verdienen, aber die Arbeitszeiten waren so lang … »Warten Sie hier auf mich«, sagte sie dann zu Tommy. »Ich werde schnell packen.« »Ich kann unmöglich Sie und das Gepäck auf dem Motorrad mitnehmen«, erklärte Tommy, doch sie war bereits im Haus verschwunden.
*** Im Kohlenschuppen meines Großvaters befand sich ein ganz gewöhnlicher Gegenstand, dessen historische Bedeutung mir erst klar wurde, nachdem ich die Geschichte gehört hatte, die ich hier wiedergebe. Es war ein Eimer. Ein schlichter, alter, verbeulter Eimer. Das Besondere an ihm: Er war natürlich für den Sturm auf den Gipfel von Ffynnon Garw benutzt worden. Als mir mein Großvater davon erzählte, mußte ich zuerst lachen, weil ich glaubte, ein alter, zufällig herumliegender Eimer müßte für eine weitere Ausschmückung der Geschichte herhalten. Großvater wirkte gekränkt. Er forderte mich auf, mir den Eimer näher anzusehen. »Was ist anders an diesem 156
Eimer?« fragte er mich. Die in meinen Augen einzige Besonderheit war ein Streifen eines dreckigen, verschwitzten, alten Hemdes, den man um den Griff gewickelt hatte. Er sollte anscheinend die Hand des Trägers vor Blasen schützen. »Der Griff?« spekulierte ich. »Ganz genau«, bestätigte mein Großvater. Er erklärte mir, daß gegen zwei Uhr an dem Tag, an dem der Hügel aufgestockt wurde, alle Helfer die Handgriffe ihrer Eimer gepolstert hatten. »Du kannst im ganzen Dorf nachfragen«, sagte er, »und dich selbst überzeugen: Alle alten Leute haben irgendwo noch einen solchen Eimer stehen.« Ich kann nicht behaupten, ich hätte bei jedem älteren Menschen in ganz Ffynnon Garw nachgefragt, aber ich habe noch eine ganze Reihe umwickelter Eimergriffe gesehen. Ich wollte nicht so weit abschweifen, aber der Eimer ist ein treffendes Beispiel für das, was ich ausdrücken will: Es war Arbeit, harte Arbeit – und sie bedeutete Blasen, Rückenschmerzen, geschwollene Knie und Fingerkrämpfe. Am Morgen gruben die Dorfbewohner die Wiese um und verwandelten eine große, grüne Grasfläche in eine Reihe lehmiger Hügelchen. Gegen Mittag hatten sie den größten Teil der Erde auf Pferdewagen, Schubkarren und in Eimer gefüllt. Am frühen Nachmittag türmte sich ein beachtlicher Erdhaufen neben Morgans Limonadenstand. Für den Rest des Tages bildeten die Dorfbewohner drei Gruppen. Eine blieb auf der Wiese und förderte weiter Erde. Die zweite Gruppe transportierte die Erde zum Limonadenstand, wobei die Leute die Pferde mit der 157
Peitsche antrieben und einen vorher friedlichen Feldweg in eine aufgewühlte, schlammige Hauptverkehrsader verwandelten. Die dritte Gruppe schleppte die Erde bis zum letzten Krümelchen mit eigenen Händen vom Limonadenstand hoch auf den Gipfel. Auch der Tag teilte sich in drei Abschnitte. Als sich die Leute am Morgen versammelten, waren alle vom ersten Optimismus des Aufbruchs erfüllt. Das gemeinsame Unternehmen beflügelte die Phantasie. Ein wunderbarer Mechanismus lief ab: Die Menschen kamen zusammen, Pferde und Wagen fuhren heran, die Wiese wurde gepflügt und umgegraben. Es schien, als hätte der Reverend mit dem ersten Eimer im Nu den Gipfel erklommen. Doch danach verschlechterte sich die allgemeine Stimmung. Es dauerte unendlich lange und erforderte eine ungeheure Anstrengung, bis auch nur der Ansatz eines Hügelchens sichtbar wurde. Die erste Welle von Eimerträgern bestieg den Gipfel, leerte die Eimer aus – und war entsetzt, daß das Ergebnis kein kleiner Hügel war, sondern lediglich mehrere Eimerladungen Erde. Der zwanzig Fuß hohe Fahnenmast inspirierte die Menschen nicht mehr. Er erschien wie die verkörperte Ironie, die lachend auf sie hinabschaute. Zweifellos hätten viele zu diesem Zeitpunkt das Handtuch geworfen, wäre nicht der unermüdliche Reverend Jones gewesen. Er trug zwar beileibe nicht soviel Erde wie die anderen, bewegte sich aber ständig inmitten der Menschen, um sie zu ermutigen, die Müden anzuspornen und die Erschöpften mit Worten zu stärken. Wenn er irgendeinen Zweifel an der Unternehmung hegte, so zeigte er ihn nicht. Wieder und wieder zitierte er Johnny: »Es ist machbar! Es ist nur harte Arbeit!« Als sich der Tag neigte, gab es nochmal einen zweiten Aufschwung. Viele sagten, der psychologische Druck sei 158
zusammen mit der Sechs-Fuß-Marke geschwunden. Nun war der Hügel größer als ein durchschnittlich gewachsener Mann. Diese Tatsache übte auf die Menschen eine magische Wirkung aus und verlieh ihnen das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. An diesem Punkt verschmolzen die einzelnen Eimerladungen zu einem neuartigen Ganzen. Auf einmal konnte man das Resultat ihrer gemeinsamen, schweißtreibenden Arbeit von weitem erkennen – sogar von der Wiese unten im Tal aus. Thomas Twp Zwo bemerkte es als erster, begriff jedoch zunächst überhaupt nicht, was er da sah. »Was zum Teufel ist denn das?« fragte er seinen Bruder. Thomas Twp lachte. »Was glaubst du eigentlich, was du hier tust?« »Na ja, ich grabe Erde für den Hügel um«, antwortete Thomas Twp Zwo. »Und was wird das da oben dann wohl sein?« Sein Bruder konnte sich kaum halten vor Lachen. »Himmel, Arsch und Zwirn!« rief Thomas Twp Zwo. »Es funktioniert!« Bei diesem Jubelschrei unterbrachen die Leute auf der Wiese ihre Arbeit. Der Schrei wurde vom Aufwind nach oben getragen, und die Menschen auf dem Gipfel konnten die Begeisterungsrufe der anderen hören. Es war mitten im Sommer, und ihnen blieben noch einige Stunden Tageslicht. In der Dämmerung überkam die Dorfbewohner eine Art Arbeitswahn. Sie arbeiteten schneller anstatt langsamer. Die Eimer schienen trotz ihrer Last immer leichter zu werden. Kaum einer ruhte sich noch am Limonadenstand oder auf dem Gipfel aus. Doch als die Dunkelheit hereinbrach und die Leute sich auf den Heimweg machten, war der Hügel lediglich auf knapp vierzehn Fuß angewachsen. Reverend Jones, die 159
Twp Zwillinge, Ivor und Johnny standen mit trüber Miene auf dem Erdhügel um den Fahnenmast herum. Sie hatten sich von dieser ganzen Schufterei mehr erhofft. »Na, na«, versuchte der Reverend sie aufzumuntern. »Der Herr brauchte einen Tag, um Himmel und Erde voneinander zu scheiden. Wir können ihn wohl kaum übertreffen, aber das Schlimmste ist überstanden – wir haben beinahe vierzehn Fuß geschafft!« Johnny schniefte. »Wir haben noch nicht das Schlimmste überstanden«, sagte er sanft. Der Reverend konnte das nicht hinnehmen. »Doch, wir sind soweit, wir haben zwei Drittel geschafft!« »Aber so funktioniert es nicht«, erwiderte Johnny beharrlich. »Wir brauchen sehr viel mehr Erde, weil die Basis größer werden muß.« »Pah!« schnaubte der Reverend. »Er hat recht«, gab Thomas Twp zu. Vielleicht war er nur ein einfacher Hügelbauer, doch er begriff intuitiv, welchen physikalischen Gesetzen die Beziehung von Höhe, Breite und Volumen unterhegt. »Ihr seid solche Pessimisten!« sagte Reverend Jones. »Und du«, er deutete mit dem Finger auf Thomas Twp, korrigierte sich dann aber und wies auf Thomas Twp Zwo, »du hast gesagt, es würde regnen.« Thomas Twp Zwo warf einen Blick nach Westen. Er blieb felsenfest bei seiner Meinung. »Es wird auch regnen«, sagte er. Der Reverend machte eine verächtliche Geste in seine Richtung, stieg vom Hügel hinunter und begab sich auf den Heimweg. Er brauchte endlich seine wohlverdiente Ruhe.
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*** Für Tommy den Zweitakter war es ein langer Tag gewesen – und immer war noch kein Ende in Sicht. Auf den letzten Meilen bis Ffynnon Garw mußte er sich mächtig beeilen, um rechtzeitig zur Nachtschicht zu kommen. Der arme Mann hatte noch keine Minute Ruhe gefunden, seit Morgan ihn in der Frühe aus dem Schlaf gerissen hatte. Auf dem Heimweg verfuhren sie sich ausnahmsweise nicht, da Betty die Strecke kannte, aber das Motorrad war einfach nicht für zwei Personen plus Gepäck gedacht. Es quälte sich schon bei der leichtesten Steigung. Gelegentlich mußten sie absteigen und das überladene Gefährt die Hänge hinaufschieben. »Dafür bin ich nicht angezogen«, beschwerte sich Betty, die ihre elegantesten Kleider trug. »Und ich werde für das hier nicht bezahlt«, stöhnte Tommy. »Dann sind Sie ganz schön blöd«, erwiderte Betty, betrachtete sich selbst, wie sie in ihren feinen Unterröcken ein Motorrad die Hügel hinaufschob, und sagte resigniert: »Und ich bin noch blöder.« Die hereinbrechende Dämmerung machte Tommy noch nervöser. Sein Motorrad besaß nur einen völlig unzureichenden Scheinwerfer. Zu seiner großen Erleichterung tauchte Ffynnon Garw endlich vor ihnen auf. Es war eine halbe Weltreise gewesen, die einen Troubadour vergangener Zeiten sicher zu einem Gedicht inspiriert hätte: »Die Rittermär von Tommy, der beinahe bis Newport, nach Cardiff und zurück fuhr.« Das letzte Straßenstück bis in den Ort hinein fiel steil ab. Betty klammerte sich samt ihrer weltlichen Habe an 161
Tommy fest und fürchtete um ihr Leben. Es erstaunte sie, daß die Straßen voller Menschen waren, die gerade vom Berg zurückkehrten. Viele von ihnen hatten Sonnenbrand, trugen Eimer, und alle waren völlig verdreckt. Ein ausgesprochen seltsamer Anblick. Betty hatte nicht die geringste Ahnung, daß auch sie in naher Zukunft eine Rolle in diesem Kreuzzug übernehmen würde. Tommy setzte sie wenig feierlich am Pub ab und fuhr schnell nach Hause, um seine Arbeitskleidung anzulegen und sich zur Nachtschicht zu melden. Betty betrat unauffällig das Pub, weil sie Morgan überraschen wollte. Sie zwickte sich in die Wangen, um Farbe zu bekommen, und rief mit ihrer verführerischsten Stimme: »Morgan!« Nichts rührte sich. »Morgan!« rief sie noch einmal mit sinnlichem Unterton. Nichts. »MORGAN!« kreischte sie. Morgan hatte ihre Ankunft sehr wohl bemerkt und versteckte sich im Korridor hinter der Theke. Er wollte ihr nicht als erster begegnen. Dieses Vorrecht hatte er Anson zugedacht, lieber aber noch Garrad. Betty nahm den Hut ab und warf ihn schwungvoll auf die Theke. Typisch Morgan! Sie war von weit her gekommen, und er besaß nicht einmal den Anstand, sie hier zu begrüßen. Auf der Stelle tat es ihr leid, daß sie sich überhaupt entschlossen hatte zu kommen. Dieser Besuch würde kein gutes Ende nehmen, da war sie sicher. Sie trat hinter die Theke und schenkte sich ein Glas Sherry ein. Während George Garrad noch schlief, war Anson hellwach und durstig. Zehn Minuten zuvor hatte er auf der 162
Suche nach einem Drink einen Blick in die Bar geworfen, doch Morgan war wie vom Erdboden verschluckt. Als er Bettys Stimme hörte, dachte er, daß Morgan nun wohl auftauchen würde. Anson eilte erneut nach unten und entdeckte Betty, die mit dem Rücken zu ihm hinter der Theke stand. Sie fingerte an einer Flasche herum und wirkte wie ein Schankmädchen. »Entschuldigen Sie«, flötete Anson, »könnte ich bitte einen Krug Bier haben?« Sie fuhr herum. Anson grinste sie an wie ein Honigkuchenpferd. Er erinnerte sie an die Leute, für die sie arbeitete: glatt, selbstzufrieden, gutaussehend, englisch und höchstwahrscheinlich auch reich. Sie war nicht als Dienstmädchen hier, schon gar nicht als Schankmädchen! Wie konnte er es wagen? »Sehe ich etwa wie ein Schankmädchen aus?« fauchte Betty. Zu ihrer großen Überraschung tauchte Morgan in diesem Moment auf wie das Kaninchen aus dem Zylinder. »Schankmädchen? Niemals!« rief Morgan. Die beiden fuhren erschreckt zusammen. Morgan hatte gehofft, Anson oder Garrad würden von ihrer Schönheit geblendet sein. Er hatte in den Kulissen auf der Lauer gelegen, um im Notfall einzugreifen. Allerdings war Betty unerwartet schlecht gelaunt und machte sich nicht einmal die Mühe, den Engländer zu begrüßen. »Ich bin sehr überrascht, Mr. Anson«, fuhr Morgan fort, bevor jemand etwas sagen konnte, »daß Sie diese feine Dame mit einem Schankmädchen verwechseln. Miss Elizabeth ist unser Ehrengast.« Ehrengast? Wovon um Himmels willen sprach Morgan eigentlich? »Tut mir leid«, stotterte Anson, »aber Sie standen hinter 163
der Theke, und ich nahm an …« Betty wollte dem Fremden gerade klarmachen, daß er überhaupt nichts anzunehmen habe, und dann fragen, welchen Schwachsinn Morgan da bloß von sich gab. Doch der Wirt fuhr ihr über den Mund und sagte zu Anson: »Eine logische Schlußfolgerung, das gebe ich zu, aber ich schätze es, wenn sich meine Gäste wie zu Hause fühlen. Wann immer Miss Elizabeth etwas wünscht, sage ich einfach zu ihr: Mein Haus ist auch Ihr Haus!« Was zum Teufel war nur in Morgan gefahren? Mein Haus ist auch Ihr Haus? Jetzt drehte er sich zu Betty um und blinzelte ihr zu. »So bald wieder da?« Er ließ ihr keine Zeit zu antworten. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht so rasch nach Cardiff zurückkehren.« Er zwinkerte noch einmal, bevor er sich wieder an Anson wandte: »Sie hat es an der Lunge. Wenn ich Ihnen nun einen Drink anbieten dürfte?« Mit diesen Worten hob er Betty über den Tresen und setzte sie genau vor Reginald Ansons Nase ab. Miss Elizabeth? Ehrengast? Hat es an der Lunge? Betty war nicht auf den Kopf gefallen und begriff schnell, daß Morgan sie als jemand anders vorstellte, aber was war der Grund? Anson fand sich Angesicht zu Angesicht mit einer ausgesprochen hübschen, gutgebauten jungen Frau wieder. Er stammelte und lief rot an. »Was wollten Sie doch gleich trinken?« fragte Morgan. »Oh, ach ja, einen Krug Bitter, bitte, vielen Dank«, stotterte Anson. »Schreiben Sie es auf meine Rechnung«, fügte Betty hinzu und schenkte Morgan ein Lächeln, das einen Gletscher zum Schmelzen gebracht hätte. Dieses Spiel beherrsche ich so gut wie du, dachte sie. 164
»Ihre Rechnung?« Morgan war verwirrt, dann ging ihm auf, daß er bei ihrer Lüge wohl oder übel mitspielen mußte. Er erwiderte ihr Lächeln, da ihm nichts anderes übrigblieb. »Nein, nein, wirklich nicht nötig«, brabbelte Anson. »Ich bestehe darauf«, sagte Betty. »Zwischen uns soll doch kein böses Blut herrschen. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich habe wohl keinen guten Eindruck hinterlassen. Ich war vielleicht ungeduldig und nicht besonders freundlich.« Sie mühte sich mit dem vornehmen Akzent und der geschwollenen Grammatik ab, doch es klang sehr affektiert und unnatürlich. Anson fühlte sich noch immer unbehaglich in ihrer Nähe und trat einen Schritt zurück. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Reginald Anson.« »Elizabeth, Miss«, sagte Betty und zuckte innerlich zusammen. So stellte sich doch niemand vor. Dank diesem verdammten Morgan ging alles schief! Als Anson sie nun aus größerer Entfernung betrachtete, erkannte er sie wieder. »Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet.« »Ach ja?« staunte Betty und fragte sich, warum sie nicht eine elegantere Formulierung gewählt hatte. »Tatsächlich« oder »In der Tat«. Ihre ungewohnte Sprechweise ließ sie wirklich die dümmsten Dinge sagen. »Ja«, fuhr Anson fort, als hätte sie völlig normal gesprochen. »Ich glaube, Sie waren gerade auf dem Heimweg, als wir eingetroffen sind.« »War ich?« fragte Betty und wünschte zur gleichen Zeit, der Boden möge sich auftun und sie verschlingen. Glücklicherweise drängte sich Morgan mit Ansons Bier dazwischen. Er feixte wie die Grinsekatze aus Alice im 165
Wunderland. »Ich glaube, Sie beide haben sich viel zu erzählen.« Mit diesen Worten Überließ er Anson und Betty ihrem Schicksal. Betty hätte Morgan erwürgen können. Sie schluckte und versuchte, so normal wie möglich zu sprechen. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.« Das klang wirklich gelungen. »Mir ist gerade eingefallen, daß ich mit unserem Wirt einige Angelegenheiten zu besprechen habe, vielen Dank.« Sie rauschte hinaus und ließ einen verblüfften Anson zurück, der sich fragte, welcher Zug ihn da wohl gestreift hatte. Morgan hatte sich in der Küche verkrochen, doch Betty stöberte ihn auf. »Morgan!« tobte sie los. »Was zur Hölle geht hier vor? Tommy der Zweitakter taucht in verzweifelter Eile mit einer dringenden Nachricht bei mir auf, ich mache mich sofort auf den Weg …« »Es ist auch dringend, und wir sind verzweifelt!« fiel Morgan ihr ins Wort. »Verzweifelte Situationen erfordern dringende Nachrichten.« Er senkte die Stimme und zwinkerte wieder. »Verzweifelte Engländer.« »Verzweifelt?« Betty konnte es nicht fassen. »Dieser steife Kerl?« Ihr fielen zahlreiche Adjektive zu Reginald Anson ein, aber verzweifelt war nicht darunter. In Wahrheit hatte Betty Anson gegenüber bereits eine Haltung entwickelt, die typisch ist für junge Mädchen und ihre männlichen Altersgenossen: Sie fand ihn kurz gesagt dermaßen attraktiv, daß sie ihre einzige Zuflucht darin sah, so zu tun, als wäre er ihr aus tiefstem Herzen zuwider. Außerdem war Morgan anscheinend darauf erpicht, sie Anson buchstäblich an den Hals zu werfen. Ein weiterer Grund, ihm Abneigung vorzuspielen und damit seine 166
teuflischen Pläne zu durchkreuzen. »Ach, kümmer dich nicht um den, der hat nichts zu sagen«, erklärte Morgan. »Der andere ist viel wichtiger, ein echter Mann von Welt – und er entspricht viel eher Miss Elizabeths Geschmack.« Miss Elizabeths Geschmack? Wovon redete er bloß? Bevor sie irgend etwas sagen konnte, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Morgan ergriff den dicken Geldbeutel, dessen Inhalt er bei der bewußten Aktion auf dem Berg verdient hatte, und gab ihn ihr. Schon wieder dieses anzügliche Augenzwinkern. »Wo das herkommt, ist auch noch mehr.« Betty warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. »Paß lieber auf, was für Andeutungen du in meiner Gegenwart machst!« zischte sie. »Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst«, sagte Morgan. »Ich zahle doch bloß einen Teil meiner Schulden zurück.« »Wahrscheinlich ist es auch nur ein Zufall, daß du sie gerade jetzt bezahlst, was?« Reverend Jones ging langsam nach Hause. Jeder Knochen seines Körpers schmerzte ihn, seine Knie waren steif, und die Stiefel hatten seine Fersen wundgescheuert, die Hände bedeckten Blasen, doch auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln. Heute vierzehn Fuß, morgen ein Berg! Johnny hatte recht gehabt, es war machbar, und inzwischen schien das Ziel beinahe zum Greifen nah. Heute abend würde er seinen Füßen ein Salzbad gönnen und morgen – morgen ging es weiter, trotz der Blasen, der blauen Flecken, der ganzen Schmerzen. Morgen würde er wieder auf dem Gipfel sein und miterleben, wie der letzte, historische, 167
heldenhafte Eimer entleert … Tropf. Reverend Jones schreckte aus seinen Tagträumen und blieb stehen. Hatte er richtig gesehen, oder war es nur eine optische Täuschung? Tropf. Er streckte die Hand aus. Nein, es konnte keinen Regen geben, nicht heute abend, nicht gerade jetzt, nicht auf ihre frische Erde, nicht wenn sie noch einen schönen, trockenen Tag brauchten … Einen Augenblick blieb seine Hand trocken, und er entspannte sich. Doch gleich darauf fielen – plitschplatsch – zwei Tropfen genau in seine Handfläche. Es waren keine kleinen Tröpfchen, sondern dicke Gewittertropfen, die ersten Vorboten eines mächtigen Unwetters, das sich über ihm zusammenbraute. Der Reverend ließ den Kopf hängen und fluchte lauthals, obwohl er auf der geweihten Erde des Kirchhofes stand: »So ein verdammter Mist!« Ein Windstoß fuhr durch das Tal, fegte ins Zimmer und streifte George Garrads Nacken. Er wachte langsam auf und bemerkte schläfrig, daß er in einem fremden Bett lag, aber ein gar nicht so fremdes Gefühl verspürte: Er hatte einen Kater und war hungrig. Unten in der Küche hatte Morgan versucht, Betty über alles zu informieren, was sich seit ihrem letzten Aufenthalt zugetragen hatte. Es war nicht besonders schwierig, das Problem lag eher darin, ihr die volle Bedeutung der Ereignisse klarzumachen. Sie konnte einfach nicht glauben, was er ihr erzählte. Außerdem kochte sie vor Wut. Morgan baute also einen Berg und wollte sie 168
rekrutieren, um währenddessen zwei englische Landvermesser zu »unterhalten«? Sie entschloß sich, nicht weiter darauf einzugehen, legte die Hände um Morgans Hals und drückte ihm die Kehle zu. Als sie ihn fest im Griff hatte, schlug sie seinen Kopf heftig gegen die Küchenwand. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich wegen dir wahrscheinlich meine verdammte Stelle verloren habe«, fauchte sie, während sie die Wand mit seinem dicken Schädel traktierte. »Äh …« Betty hielt inne, als Garrads Stimme aus dem Korridor zu ihr drang. Sie drehte sich um und betrachtete ihr Gegenüber im trüben Licht der Küchenlampe. Diese korpulente Gestalt sollte eher nach Miss Elizabeths Geschmack sein? Betty ließ die Hände sinken, völlig erschöpft von der Absurdität der ganzen Situation. »Mr. Garrad, Sir«, dienerte Morgan, als wäre es nichts Ungewöhnliches, in seiner eigenen Küche von Frauen gewürgt zu werden, »was kann ich für Sie tun?« »Ich unterbreche Sie ungern«, sagte Garrad mit seinem angeborenen Mangel an Taktgefühl, »aber mir ist ein wenig flau im Magen. Könnten Sie mir vielleicht mit einem Sandwich helfen?« »Mit Freuden, Sir, mit Freuden.« Morgan wandte sich an Betty. »Bitte entschuldigen Sie mich, Madam.« Er verschwand in der Vorratskammer. Garrad warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu, doch sie ging an ihm vorbei in den Garten, um sich abzureagieren. Es begann gerade zu regnen. Daher stellte sie sich unter das Vordach und überdachte ihre Lage. Möglicherweise 169
hatte sie ihre Stelle verloren und kam vorerst auch nicht von hier weg. Morgen mußte sie sich unbedingt eine plausible Entschuldigung für ihre Arbeitgeber ausdenken und hoffen, daß man sie zurückkommen ließ. Vielleicht würde man ihr sogar einen Wagen schicken. Doch bis dahin blieb ihr keine andere Wahl, als hierzubleiben. Sie saß fest in Ffynnon Garw. Anson hockte im Hauptraum der Bar und überflog seine Notizen, als Garrad mit einigen großen Käsesandwiches aus der Küche kam. Es sah sich vorsichtig um und zischte dann: »Anson, hier ist irgend etwas faul.« »Tatsächlich?« Anson fragte sich, wieviel Garrad inzwischen wissen mochte. »Ich habe gerade eben mit Mr. Morgan gesprochen, und er war nicht im geringsten überrascht zu hören, daß wir noch eine Nacht hierbleiben.« Anson konterte nach kurzem Überlegen: »Machen Sie sich mal keine Sorgen, George, die Sache ist ganz einfach: Williams die Zapfsäule hat ihm bestimmt schon von unseren Schwierigkeiten erzählt.« »Meinen Sie?« Garrad schien ihm Glauben zu schenken. »Bestimmt.« Garrad wirkte wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht. »Oh …« Er ließ sich die Sache durch den Kopf gehen und konnte einer kleinen Ermahnung nicht widerstehen. »In exotischen Gegenden kann man gar nicht vorsichtig genug sein, Anson.« »George, wir sind hier nur in Wales.« »Immer noch exotisch genug«, schnappte Garrad. Betty kam aus dem Garten zurück und ließ sich 170
erschöpft auf einen Stuhl fallen. Morgan kuschelte sich an sie und versuchte, sie aufzuheitern. »Komm bloß nicht auf falsche Gedanken«, warnte ihn Betty. »Ganz ruhig«, sagte Morgan, »es ist doch für eine gute Sache.« Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, Morgan. All das Theater für eine blöde Landkarte?« »Eine blöde Landkarte? So siehst du das also. Eine blöde Landkarte!« Er starrte gedankenverloren auf ihren Busen. »Landkarten, meine Liebe« – Morgan konnte der Versuchung, sich ihrer Brust noch weiter zu nähern, nicht widerstehen – »Landkarten sind die Unterwäsche eines Landes.« Betty hatte seine gierigen Hände nicht bemerkt. »Sie verleihen ganzen Kontinenten erst Gestalt.« Genießerisch drückte er ihre Brust. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Betty griff nach einem Teetablett aus Metall. Morgan konnte sich der Attacke nur durch Flucht entziehen. Sie schmetterte das Tablett zu Boden und rannte hinter ihm her, fest entschlossen, ihn bei lebendigem Leib in Stücke zu reißen. Morgan sauste in die Bar, Betty blieb ihm auf den Fersen. Anson und Garrad sahen dieser Hetzjagd sprachlos und gebannt zu. Morgan wurde langsamer und lächelte, während Betty hinter ihm schlitternd zum Stehen kam. Zumindest war sie so gut erzogen, ihm nicht in Gegenwart der Fremden an die Gurgel zu gehen. Anson sagte lakonisch zu Garrad: »Haben Sie Miss Elizabeth schon kennengelernt?« »Ja, gerade eben«, erwiderte Garrad und erhob sich höflich von seinem Stuhl. »Und wie lange werden Sie hier 171
im Gasthof bleiben?« fragte er sie. »Das weiß ich noch nicht«, sagte Betty mit erzwungener Freundlichkeit. »Wenn ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann …« Im Bauernhaus der Twps stellte Thomas Twp gerade einen Wasserkessel auf den Herd, als die ersten schweren Regentropfen ans Fenster klatschten. Er wandte sich zu seinem Bruder um. »Du hattest recht.« »Beim Wetter irre ich mich nie«, antwortete Thomas Twp Zwo. Sie starrten gemeinsam in den Regen hinaus. »Das wird ein paar Tage so bleiben«, fuhr Thomas Twp Zwo nach angemessenen Überlegungen fort. »Und Donner?« fragte Thomas Twp. »Donner auch«, sagte sein Bruder, »jede Menge Donner.« Morgan schenkte Drinks ein und ging zur Eingangstür, um aufzuschließen. Zu seinem Entsetzen mußte er feststellen, daß es in Strömen regnete. »Verdammte Scheiße!« stieß er hervor. »Das ist ja eine wahre Sintflut!« Er hatte nicht unrecht. Der Regen fiel in Sturzbächen vom Himmel und spritzte vom Boden hoch wie tanzende Fontänen. Anson, Garrad und Betty traten zu ihm, um sich das Unheil anzusehen. »Guter Gott«, sagte Garrad. »Das erinnert mich an den Monsun während meiner Zeit in Indien. In solchen Nächten kam es häufig zu Schlammlawinen. Ganze Dörfer, Straßen und Tempel wurden fortgeschwemmt …« 172
Während Garrad seine zermürbende Litanei fortsetzte, blieb ein einziges Wort in Morgans Gedanken hängen. Schlammlawinen! Sein Bück wanderte zum Berg hinüber – der Hügel, die frische Erde … Morgans Befürchtungen waren durchaus berechtigt. Sein kostbarer Hügel schwamm bereits davon. Die frisch aufgeschüttete Erde besaß keinen Halt und verwandelte sich in einen schlammigen Brei, der bald wie ein breiter, brauner Strom zu Tal fließen würde. Morgan kehrte in die Bar zurück und goß eine neue Runde ein. Sich selbst gönnte er ein besonders großes Glas. Garrad sonderte weiter sein leeres Geschwätz ab, das jedoch an Morgan vorbeirauschte, der fieberhaft nachdachte, Schlammlawinen, Schlammlawinen, Schlammlawinen … Vor seinem inneren Auge sah Morgan das Ende all ihrer Bemühungen. Er wußte, daß die Arbeit des heutigen Tages nicht aufs Spiel gesetzt werden durfte, da die Dorfbewohner bis zur Erschöpfung geschuftet hatten. Sie würden noch einen Tag weiterarbeiten und das Werk vollenden, aber niemand konnte von ihnen verlangen, noch einmal von vorn anzufangen, wenn der Hügel verschwunden war. Was sollte er tun? Vielleicht war es nur ein kurzer Schauer. Er entschuldigte sich und ging durch die Küche in den Garten. Leider regnete es inzwischen noch stärker als zuvor. Die Wassermassen wurden dermaßen aufgepeitscht, daß Morgan kaum den nur wenige Meter entfernten Stall erkennen konnte. So schnell wird das nicht aufhören, dachte er. Schweren Herzens kehrte er in die Bar zurück. Er kam sich völlig hilflos vor. 173
Garrad erging sich noch immer in seinen weitschweifigen Erörterungen. Morgan schenkte sich ein weiteres großes Glas ein. »Ich hoffe, Ihr Mr. Williams ist so schlau und deckt den Wagen ab«, sagte Garrad. »Wie bitte?« fragte Morgan zerstreut. »Ich war mit meinen Gedanken woanders.« »Mein Auto. Die Teile sind überall verstreut. Ich hoffe, Williams war schlau genug, sie abzudecken.« »Gut, daß Sie das sagen«, erwiderte Morgan und schnappte sich seinen Mantel. »Ich gehe kurz hinüber und sehe nach. Bin sofort wieder da.« Er rannte zur Werkstatt von Williams der Zapfsäule. »Feiner Kerl«, bemerkte Garrad tief beeindruckt. »Er tut wirklich alles für seine Gäste.« Betty pflichtete ihm bei. »Ja«, sagte sie lächelnd, »Sie wissen gar nicht, wie hilfsbereit er ist.« Bei seinem Lauf durchs Dorf brach Morgan sämtliche Rekorde. So schnell war er nicht mehr gerannt, seit ihn ein eifersüchtiger Ehemann in einer kompromittierenden Situation überrascht hatte. Fluchend platschte er durch die Pfützen. Das Wasser bespritzte ihn bis zu den Hüften. Er hechtete über einen Bach, der sich mitten auf der Straße gebildet hatte, und stürzte in die Werkstatt. »Williams!« brüllte er, »Williams?« Williams die Zapfsäule hatte sich gerade zu seinem wohlverdienten Abendessen niedergelassen. Durch den Regen war er spät dran. Er hatte seine große Plane gesucht und den offenen Wagen des Engländers damit abgedeckt. Gerade wollte er gemütlich Tee trinken und einen Happen 174
dazu essen, als er Morgan draußen im Regen schreien hörte. Williams ging hinaus, um festzustellen, was zum Teufel denn nun schon wieder los war. »Morgan?« »Wir brauchen Planen für den Berg!« brüllte Morgan, um sich durch den prasselnden Regen hindurch verständlich zu machen. »Sonst war unsere ganze Arbeit umsonst!« »Ich habe nur die eine«, sagte Williams und wies auf die Plane, mit der er den Wagen abgedeckt hatte. »Die müßte reichen«, erwiderte Morgan und fing an, sie herunterzuziehen. »Aber Morgan!« Williams wollte ihn zurückhalten. »Ich möchte den Leuten nicht erzählen müssen, daß die Sache an dir gescheitert ist«, sagte Morgan wieder einmal und riß die Plane herunter. »Hol Johnny mit der Bombenneurose, und dann ab auf den Berg!« »Aber das Auto!« jammerte Williams. »Das ist ein Auto für jedes Wetter«, log Morgan. »Mr. Garrad hat es mir selbst gesagt.« »Aber Morgan!« Williams war außer sich. »Ich kann doch nicht alles allein machen!« stöhnte Morgan und verschwand in Richtung seines warmen, behaglichen Pubs. Williams warf einen Blick auf das Auto und dachte an den Hügel. Er suchte fieberhaft nach einer anderen Lösung, aber ihm fiel keine ein. Dieser verdammte Morgan! Williams faltete die Plane zusammen. Sie war bereits durchweicht und bleischwer. Ja, er würde Johnnys Hilfe brauchen. 175
Vielleicht wäre in dieser Nacht und an den folgenden Tagen alles ganz anders gekommen, hätte Johnnys Schwester Blod nicht eine Freundin besucht. Daher traf Williams Johnny allein zu Hause an. Zweifellos würde Blod verhindert haben, daß Johnny in einer solchen Nacht Ffynnon Garw bestieg – doch schwieg die Stimme der Vernunft, weil Blod, wie gesagt, nicht anwesend war. Williams und Johnny machten sich samt der schweren Plane auf den Weg zum Gipfel von Ffynnon Garw. Mit dem Wetter kann sich eine Landschaft in dramatischer Weise verändern. Wenn man die walisischen Hügel und Berge an einem schönen Tag betrachtet, ist es kaum vorstellbar, daß diese sonnigen Hänge voller Farn und Heidekraut jemals Gefahren in sich bergen können. Bei näherem Hinsehen finden sich auf den Gipfeln aber Grabhügel, Kreuze und kleine Gedenksteine, um an arme Seelen zu erinnern, die sich bei schlechtem Wetter im vertrauten Gelände verirrt haben und Opfer von Nebel und Kälte geworden sind. »Hier ruht der Bauer Thomas Jones …« »Begraben liegen hier die Gebeine von Trevor Hopkins, einem Jungen dieser Gemeinde …« »… entdeckt hier im Schnee des Jahres 1895 und zur ewigen Ruhe gebettet.« Der Weg, den die Pferdekarren genommen hatten – ganz zu schweigen von den vielen Füßen –, verwandelte sich zusehends in Morast. Johnny und Williams kämpften sich eine Viertelmeile mühsam dort entlang, bevor sie den Weg verlassen und eine kürzere, noch steilere Route wählen mußten. Williams verfluchte Morgan mit jedem Schritt, doch er ging trotzdem weiter. In einem Punkt hatte Morgan recht: 176
Wenn sie den Hügel nicht abdeckten, würde er restlos davongespült. Nachdem sie nicht einmal ein Drittel des Weges zurückgelegt hatten, mußten sie eine Atempause einlegen. Sie lehnten sich an eine Steinmauer, die ihnen wenigstens einen Hauch von Schutz vor dem prasselnden Regen bot. »Alles klar?« fragte Williams. Johnny nickte nur. »Du wärst lieber mit Blod unterwegs, nicht wahr?« scherzte Williams. Johnny lächelte wenig überzeugend. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Williams. »Jetzt schuldet Morgan uns aber etwas. Eine Woche kostenlos trinken, würde ich vorschlagen. Was hältst du davon?« Johnny lächelte wieder. »In Ordnung.« Williams rappelte sich hoch. »Auf geht’s – und dann ab nach Hause in die Badewanne.« Unten im Tal sahen viele Dorfbewohner zu, wie der Regen gegen ihre Fensterscheiben peitschte, oder lagen im Bett und hörten, wie das Wasser aufs Dach trommelte. Reverend Jones saß in seinem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer und betrachtete gedankenverloren die Muster, die der Regen an sein Fenster zeichnete. Bei jedem Rinnsal sah er im Geiste, wie sich eine weitere Schaufel Erde in Schlamm verwandelte, die Berghänge hinunterfloß und wieder zu ihrem ursprünglichen Ort am Flußufer zurückkehrte. Er war nicht abergläubisch, doch sein Glaube wurde an diesem Abend auf eine harte Probe gestellt. Ihm fiel das klassische Sisyphus-Motiv ein: eine Seele, die dazu verdammt war, Tag für Tag einen Stein auf einen Hügel zu schaffen und ihn dann wieder 177
hinunterrollen zu sehen … Er riß sich aus seinem Ausflug in die griechische Mythologie und suchte Trost in der Bibel. Ivor und Rachel sahen aus dem Küchenfenster. Sie dachten dasselbe, sprachen es aber in Gegenwart der Kinder nicht aus. Solche Sorgen mußten von Erwachsenen allein getragen werden. Davies der Lehrer, der die Ziele der Leute verachtete und der ganzen Unternehmung zynisch gegenüberstand, lächelte als einziger in dieser Nacht. In seinen Augen hatten die Dorfbewohner ihre Arbeitskraft dem Götzen Eitelkeit geopfert, ebenso wie die Vorväter Jungfrauen geopfert hatten, um die Götter zu besänftigen. Er freute sich schon auf die Entschuldigungen, wenn ein ernüchtertes Dorf seinen lächerlichen Fehler erkennen mußte. »Der Natur auf eigene Gefahr trotzen!« sagte er laut zu sich selbst. Ja, das gefiel ihm: Diese dämlichen Leute glaubten tatsächlich, daß Hügel mit ein paar Eimern voll Erde in etwas anderes verwandelt werden konnten. Ha! Wären sie gebildet – so wie er –, dann wüßten sie, daß diese Berge durch Erosion entstanden waren: Sie waren die Überbleibsel, wenn alles andere davongeschwemmt wurde. Glaubten die Leute denn wirklich, ihre kläglichen Bemühungen würden Wind und Regen standhalten? Während Davies schadenfroh lächelte, versuchte sich Morgan an einem winzigen Grinsen, da George Garrad ihn gerade mit einer seiner quälenden Geschichten erfreute. Bei diesem Wetter waren keine Gäste aus dem Dorf ins Pub gekommen, so daß Morgan mit Anson, Garrad und 178
Betty allein war. Diese verdammte Betty hatte sich mit dem scheuen Anson an einen Tisch gesetzt und Morgan dazu verurteilt, sich an der Theke Garrads Erlebnisse in seiner Lieblingskolonie Indien anzuhören. »Dieser Einheimische kam also mit einem großen Korb an, ungefähr dieser Größe«, Garrad breitete demonstrativ die Arme aus, »und ich nahm natürlich an, daß Früchte oder etwas ähnliches darin waren. Ich befahl ihm daher, den Korb zu öffnen.« Morgan nickte und rang sich ein Lächeln ab. Würden diese Geschichten denn niemals aufhören? »Sie können sich vorstellen, wie überrascht und zutiefst entsetzt ich war, als er ihn öffnete und – was glauben Sie wohl, was ich da sah, Mr. Morgan?« Morgan wäre es auch egal gewesen, wenn er den Turm am Strand von Blackpool dekoriert mit Tanzmädchen gesehen hätte. »Keine Ahnung, Mr. Garrad.« »Na los, raten Sie mal!« Was zum Teufel konnte in diesem verdammten Korb gewesen sein? Morgan warf ihm einen gelangweilten Blick zu. »Eine Giftschlange?« Garrads Kiefer klappte herunter. »Ja, Sie haben recht, eine Giftschlange, und sie war so dick wie mein Arm.« »Schön, schön, eine Giftschlange also.« Morgan heuchelte Interesse. Betty drehte sich auf ihrem Stuhl um. Sie hatte jedes Wort mitbekommen. »Eine Giftschlange!« wiederholte sie. »Die haben wir auch hier in Wales.« Sie durchbohrte Morgan mit ihrem Blick, bevor sie sich wieder Anson zuwandte. »Ich weise meine Gärtner immer an, sie auf der Stelle zu zertreten.« 179
Tommy der Zweitakter und die übrigen Männer der Nachtschicht merkten nichts von dem Regen, denn sie arbeiteten eine halbe Meile unter der Erde, schwitzten in engen Tunneln und bauten harte Flöze ab. Tommy bewältigte seine Arbeit nur mühsam. Inzwischen war er seit anderthalb Tagen ununterbrochen auf den Beinen. Der trübe Schein der Grubenlampen verstärkte seine Müdigkeit noch. Ihm war, als befände er sich in einer seltsamen Welt irgendwo zwischen Wachsein und Schlaf und träumte mit offenen Augen. Gerade noch hackte er in einem Flöz, im nächsten Moment nahm er auf seinem Motorrad eine scharfe Kurve auf einem steilen Hügel. Am Morgen war er stundenlang durch Südwales geirrt und fühlte sich noch immer verloren. Tommy wünschte sich nichts sehnlicher, als sich in einer dunklen Ecke zusammenzurollen und zu schlafen. Der Weg auf den Gipfel mit der ungeheuer schweren Plane im Schlepp zog sich endlos hin. Nach der Hälfte der Strecke waren Williams und Johnny in einer ähnlichen Verfassung wie Tommy der Zweitakter. Williams dachte nur noch an sein Zuhause: der bequeme Sessel vor einem flackernden Kaminfeuer und dann der Höhepunkt – sein warmes Bett. Oben auf dem Berg löste sich der aufgeschüttete Hügel in beängstigendem Tempo auf. Beinahe drei Fuß Erde waren schon davongeschwommen, die Zehn-Fuß-Marke wurde allmählich sichtbar. Die Erde verschwand so schnell wie die Sandburg eines Kindes, wenn die Flut einsetzt. Unten im Pub versuchte Morgan, Garrads Monolog zu 180
beschließen. »Es muß wirklich nett sein, Indien zu bereisen«, sagte er. »Bin überall gewesen«, fuhr Garrad munter fort. »Habe ich Ihnen eigentlich schon von meiner Zeit in Palästina erzählt?« »Da waren Sie also auch«, staunte Morgan, während er im Geiste die Hände rang. »Aber ja.« Garrad schlug ein weiteres Kapitel seines todlangweiligen Lebens auf. Betty fiel es ziemlich schwer, Anson in eine Unterhaltung zu verwickeln. Nicht, daß sie wirklich mit ihm hätte reden wollen, aber solange sie ihn bei sich behielt, blieb Garrad bei Morgan – zu ihrer großen Freude. »Sind Sie viel gereist, Mr. Anson?« fragte sie. »Nein, nur wenig im Vergleich zu George«, lächelte er und machte sich wieder daran, ein Meßinstrument zu polieren. Für Betty blieb er ein Rätsel. Sie war daran gewöhnt, von Männern entweder angehimmelt, angemacht oder zur Arbeit angetrieben zu werden. Anson wirkte schüchtern, nervös und zurückhaltend. Ihm fehlte anscheinend das übliche Selbstvertrauen seiner Klasse. Viele Männer in seinem Alter mußten immer und überall im Mittelpunkt stehen. Steckte man zwei von ihnen mit einer einzelnen Frau in einen Raum, übertrafen sie sich meistens gegenseitig mit Geschichten, Anekdoten und witzigen Bemerkungen, um zu zeigen, wer am unterhaltsamsten war. Solche Männer hätten Anson schlichtweg für fade gehalten, doch Betty schien es, als sei er verschlossen und gebe nicht viel auf die Meinung anderer. Ob er wohl keine Erfahrung mit Frauen hatte? Vielleicht 181
war er verheiratet oder verlobt. Ja, das mußte es sein. Dieser Mann hatte eine Liebste und wollte ihr treu bleiben. Nachdem sie dieses Urteil gefällt hatte, fand sie ihn noch anziehender als zuvor. Auf dem Hügel wurde inzwischen die Neun-Fuß-Marke sichtbar. Beinahe fünf Fuß Erde waren schon davongeschwemmt worden, bevor Williams und Johnny mitsamt ihrer durchnäßten Plane den Gipfel erreichten. »Fast geschafft, mein Junge«, sagte Williams und beschleunigte seine Schritte. Im nächsten Moment jedoch blieben sie unvermittelt stehen: Ein Blitz schoß gleißend hell durch den Regen und fuhr nur Meter von ihnen entfernt in den Boden. Williams warf sich nieder, mußte aber zu seinem Schrecken feststellen, daß Johnny wie gelähmt auf der Stelle stand und schrie. Noch nie im Leben hatte Williams einen solchen Laut gehört. Es klang wie ein Tier im Schlachthof, zuerst ein durchdringendes Wimmern, dann ein grauenhaftes Heulen, das aus den Tiefen der Hölle zu kommen schien. Johnny war wie zu Stein erstarrt, nicht einmal die Lider über seinen weit aufgerissenen Augen bewegten sich. Sein Mund war verzerrt von seinem langgezogenen Heulen. Über ihm rollte und krachte der Donner, der Blitz schlug auf dem Gipfel ein, doch Johnny nahm seine Umgebung nicht wahr. Er sah ein schlammiges Ufer in Frankreich, er hörte die Granaten, die Minen, die Schreie seiner Kameraden. Der Regen wurde zu Blut und spritzte hoch, als vor seinen Augen ein Freund in Stücke gerissen wurde. Er konnte Williams nicht hören, konnte nicht sehen, wo er sich befand, und obwohl er Angst hatte – mehr als bloße Angst –, fürchtete er sich nicht vor den Blitzen, denn für 182
Johnny existierten sie überhaupt nicht. »Runter mit dir!« schrie Williams. »Johnny! Die Blitze!« Johnny rührte sich nicht vom Fleck. Entsetzt sah Williams zu, wie gezackte Blitze überall um sie herum in die Erde sausten. Sie waren so nah, daß Williams spürte, wie sich die Haare auf seinem Kopf und den Armen statisch aufluden und zu Berge standen. Williams robbte flach auf die Erde gepreßt zu Johnny hinüber und riß ihn gewaltsam zu Boden. Johnny schrie noch immer. Williams würde diesen Ton niemals vergessen. Er klang überhaupt nicht menschlich. »Hör auf, Johnny! Hör endlich auf!« brüllte er und schlug ihm instinktiv ins Gesicht. Das Schreien wurde zu einem leisen Wimmern. Johnnys Zähne klapperten, sein ganzer Körper wurde von schrecklichen Zuckungen geschüttelt. Er starrte unverwandt geradeaus, als wäre Williams unsichtbar, als liefe ihm nicht der Regen in die offenen Augen. Er umklammerte die Plane wie ein Ertrinkender eine Leine. »Laß los, Johnny, Junge«, redete Williams ihm zu. »Komm schon, wir müssen endlich weg von hier.« Johnnys Finger waren völlig verkrampft. Williams bemühte sich, sie mit einer Hand zu öffnen. Mit der anderen streichelte er über Johnnys Gesicht, als wäre er ein Baby. Langsam, aber sicher gab die Hand die Plane frei. »Ich bin sofort wieder da«, sagte Williams und hetzte zum Hügel, um sein Werk zu vollenden. Das letzte Stück Weg war ein Alptraum. Es goß wie aus Eimern, der Donner krachte, die Blitze zuckten um ihn herum. Der ganze aufgeschüttete Hügel hatte sich in ein glitschiges graubraunes Ungeheuer verwandelt. Williams kroch auf allen vieren hoch und zerrte die Plane hinter sich 183
her. Die Erosion war schlimmer als erwartet. Zu seinem Schrecken entdeckte Williams die Neun-Fuß-Marke. Er bedeckte soviel wie möglich mit der Plane, doch das war ein schwieriges Unterfangen. Durch das aufgesogene Wasser hatte die Plane nun ein Vielfaches ihres eigentlichen Gewichts und wurde durch den Schlamm noch wesentlich schwerer. Williams rutschte und glitt aus, zog und riß an der Plane, trat und schob sie in Position. Der Wind und der Regen peitschten auf ihn ein und bissen so stark in seine Haut, daß Williams glaubte, sein Gesicht würde platzen und seine Haare ausgerissen. Das Wasser rann ihm in Bächen übers Gesicht. Als der Wind drehte, konnte er in der Ferne Johnny noch immer wimmern hören. Die Blitze zuckten weiter um sie herum, der Donner grollte unermüdlich, der Sturm verwandelte den friedlichen Berg in einen orkangepeitschten Felsen im tobenden Meer. Mit einer letzten Anstrengung, bei der er sich einen Nagel abbrach, sicherte Williams die Plane und rannte zu Johnny zurück. Trotz der Blitze hievte er Johnny auf seine Schultern. »Komm, Junge«, flüsterte er, »wir gehen nach Hause.« *** Mit Hilfe eines Damespielbretts, einiger Gläser, Pfeifenreiniger und Streichhölzer hatte George Garrad auf der Theke die Aufstellung seiner wichtigsten militärischen Auseinandersetzung plastisch dargestellt. Eigentlich hatte er diese Version von einer Schlacht General Gordons abgekupfert, doch in seinem ginvernebelten Hirn waren er selbst und der große General zu einer Person verschmolzen und damit auch Gordons kriegerische Unternehmungen und seine eigenen, von Unfähigkeit 184
geprägten Vermessungswanderungen durch den Mittleren Osten. »Also.« Garrad legte eine bedeutungsschwere Pause ein, um seine Gedanken zu ordnen, bevor er mit seinen Erläuterungen fortfuhr. »Meine Truppen standen hier, hier und hier. Der wichtigste strategische Punkt war natürlich Kairo.« »Natürlich«, echote Morgan. Gott, er war es so leid, Garrads einzigen Zuhörer zu mimen. Er hatte schon unzählige Male versucht, Betty und Anson ins Gespräch zu ziehen. »Miss Elizabeth, haben Sie gehört, daß Mr. Garrad in Kairo war?« Garrad schaute beleidigt hoch, weil Morgan seinen Erzählfluß unterbrochen hatte. Begriff dieser Kneipenwirt denn nicht, wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren? »Kairo, was?« Betty warf Morgan ein abfälliges Lächeln zu und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit sofort wieder dem scheuen Mr. Anson. »Mr. Anson, sind Sie jemals in Kairo gewesen?« flötete sie in verführerischem Ton, der mehr daraufgerichtet war, Morgan zu ärgern, als Anson zu stimulieren. »Nein, leider nicht, aber ich würde gerne einmal hinfahren.« »Höllenloch«, unterbrach ihn Garrad, der wieder an Boden gewinnen wollte. »Kann man in Gegenwart von Damen überhaupt nicht beschreiben. Nun, wie ich bereits erklärte, standen unsere Kräfte hier, hier und hier. Sagte ich schon, daß dieses Glas hier Kairo darstellen soll?« Und so dröhnte er weiter. Williams rutschte aus, hob Johnny wieder auf seine Schulter und schleppte ihn so schnell wie möglich weiter 185
talwärts. Williams wußte nicht genau, was mit Johnny passiert war, doch es mußte sehr, sehr schlimm sein. Er hatte ihn aus den Schützengräben zurückkehren gesehen, eine Gestalt aus Haut und Knochen, die sich monatelang in ihrem Zimmer verbarg. Ein Schatten von einem Mann, der bei leisesten Geräuschen zusammenzuckte und aufsprang, wenn ein Vogel an seinem Fenster vorüberflog. Er durfte nicht wieder in diesen Zustand verfallen. Williams sehnte sich zwar danach, Johnny sicher zu Hause zu wissen, doch auf die Begegnung mit Blod freute er sich ganz und gar nicht. Johnnys Schwester und wichtigste Beschützerin war berüchtigt für ihr Temperament. Wenn sie nun Williams die Schuld für diesen katastrophalen Abend gab … Endlich erreichten sie das Dorf. Trotz seiner bleischweren Beine rannte Williams fast die Hauptstraße entlang. Der Sohn von Charlie Evans kam gerade von seiner Großmutter. »Mr. Williams?« fragte er überrascht, als er die schlammbedeckten Gestalten entdeckte. »Ist alles in Ordnung?« Williams lehnte sich gegen einen Laternenpfahl, um Luft zu holen. »Ja, alles bestens.« Der Junge warf einen Blick auf Johnny, der über Williams’ Schultern hing. »Kann ich Ihnen helfen?« Das brachte Williams auf eine Idee. »Lauf zu Blod und sag ihr, sie soll so schnell wie möglich ins Pub kommen.« »Ist das Johnny?« fragte der Junge und versuchte, einen Blick auf das dreckverkrustete Gesicht zu erhaschen. »Ja, es ist Johnny«, sagte Williams traurig. Das Kind rannte davon, und Williams setzte seinen Marsch in Richtung Pub fort. Ja, dachte er, dieses eine Mal soll Morgan seine gerechte Strafe bekommen. 186
Garrad hielt einen Moment inne. Stand seine Armee nun in Palästina oder in Kairo? Er konnte sich nicht genau erinnern, vor allem, da er nie im Leben einen Trupp Soldaten kommandiert hatte und die Geschichte häppchenweise aus einigen heldenhaften Feldzügen der berühmtesten Generäle Großbritanniens zusammensetzte. »Noch einen für Sie, Mr. Garrad?« fragte Morgan in der Hoffnung, ein weiterer Gin würde seinem Gegenüber den Rest geben. »Nein, danke«, nuschelte Garrad. »Und Sie, Mr. Anson?« »Nein, danke«, erwiderte Reginald. »Ich nehme noch einen.« Betty strahlte Morgan wie einen langvermißten Verwandten an. »Und einen für den Gentleman – auf meine Rechnung.« Dieses Miststück, dachte Morgan. Ich habe ein Monster erschaffen. »Wie nett«, lächelte Garrad, dessen Durst auf magische Weise zurückgekehrt war, nachdem er gehört hatte, daß jemand anders die Zeche bezahlte, »dann nehme ich einen Doppelten.« »Oh, die Großzügigkeit von Miss Elizabeth kennt keine Grenzen«, zischte Morgan mit verkniffenem Gesicht. Er wollte gerade die Drinks einschenken, als die Tür krachend aufflog und zwei unidentifizierbare, schlammbedeckte Gestalten hereintaumelten. »Verdammte Scheiße!« sagte Morgan und wollte die beiden Landstreicher schon hinauswerfen, als er Johnny und Williams erkannte. »Nichts als Donner, und dann diese Scheißblitze!« keuchte Williams. Er ließ Johnny, der immer noch 187
unverwandt geradeaus starrte und keine Reaktion zeigte, unsanft auf den Fliesenboden fallen. Sein Wimmern war zu einem leisen, mitleiderregenden Stammeln geworden, als wäre er wieder ein Kind, das sprechen lernt. Er zitterte am ganzen Körper und wurde von heftigen Zuckungen geschüttelt, die ihn von Kopf bis Fuß durchfuhren und jeden Muskel verkrampften. Anson erhob sich rasch von seinem Stuhl und warf einen Blick auf die bemitleidenswerte Gestalt. Nicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben sah er einen Menschen, der sich in ein stammelndes Wrack verwandelt hatte. Morgan kam um die Theke herum und flüsterte Williams ins Ohr: »Was ist mit dem Hügel?« Williams verzog das Gesicht. Konnte Morgan denn an überhaupt nichts anderes denken? »Wir haben deinen blöden Hügel gerettet, keine Sorge«, sagte Williams und verließ den Raum. Einen Augenblick herrschte völlige Stille, bevor Anson das Ruder übernahm. »Um Himmels willen«, sagte er, »wir können doch nicht einfach hier herumstehen. Wir müssen dem armen Mann helfen! Mr. Morgan, Handtücher und Decken, aber schnell! Miss Elizabeth, einen Brandy, bitte!« So hatten sie Anson noch nie erlebt. Er konnte tatsächlich Anweisungen geben und Entscheidungen treffen. Er kniete neben Johnny nieder und bog seine verkrampften Finger auseinander. Nur Garrad hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er saß noch immer an der Theke und schaute den anderen zu, als wären sie die Figuren in einem Schauerroman, der nur zu seinem Vergnügen verfaßt worden war. Garrad hatte sich jedoch lange genug in den 188
ungefährlichen Randbezirken der königlichen Armeen herumgedrückt, um die Symptome einer Bombenneurose zu erkennen. »Armer Teufel«, verkündete er, bevor er einen weiteren Zug aus seinem Glas nahm, »in Sewastopol habe ich das oft erlebt.« »Scheiß auf Sewastopol!« fluchte Anson. »Sie können doch nicht einfach so herumsitzen. Helfen Sie mir lieber!« Garrad fiel fast vom Hocker bei diesen Worten. Wie konnte Anson es wagen, seinen vorgesetzten Offizier derart herumzukommandieren! Doch in seiner Stimme lag eine Schärfe, die George hochschnellen ließ. »Geben Sie mir Ihr Jackett«, sagte Anson. »Ich muß ihm etwas unter den Kopf legen. Helfen Sie mir mit den Fingern. Ich muß sicherstellen, daß er nicht seine Zunge verschluckt hat …« »Schon gut, schon gut«, stöhnte Garrad, als er sein Lieblingsjackett auszog und es unter den Kopf dieses verdreckten Walisers schob. Betty war verblüfft. Mit dem Selbstvertrauen eines erfahrenen Arztes hatte Anson die Initiative ergriffen. Er schien genau zu wissen, was zu tun war, und er tat es schnell und undramatisch. Das beeindruckte sie außerordentlich. Erneut flog die Tür mit einem Knall auf, und Blod stürzte herein. Betty und Blod wußten zwar von der Existenz der jeweils anderen, aber Morgan hatte dafür gesorgt, daß sie einander nie begegnet waren. Setzte ihn die eine Frau unter Druck, beschrieb er die andere stets im ungünstigsten Licht. Betty begriff sofort, daß dies Blod sein mußte. Wie hübsch sie war! Doch Blod sorgte sich so um Johnny, daß sie die gutgekleidete Frau, die mit einem großen Glas Brandy an der Theke stand, gar nicht 189
bemerkte. Als Morgan mit einem Stapel Handtücher und Decken in den Schankraum zurückkehrte, fielen ihm beinahe die Augen aus dem Kopf- seine schlimmsten Ängste hatten sich erfüllt. »Blod!« stammelte er. »Was zur Hölle machst du hier?« »Was hast du mit ihm gemacht?!« kreischte sie. »Ich habe überhaupt nichts gemacht!« wehrte sich Morgan. »Es waren der Donner und der Blitz …« Er versuchte, ihre Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Sein Blick fiel auf Betty, die immer noch mit dem Brandy in der Hand dastand, und er beging den taktischen Fehler, in Blods Gegenwart den einen, verbotenen Namen auszusprechen. »Betty, gib dem Mann den Brandy!« Blods Augen schossen Blitze. »Betty? Das also ist Betty! Was zum Teufel will sie hier?« »Nein, nein.« Morgan hoffte, der Boden würde sich auftun und ihn verschlingen. »Das ist nicht die Betty«, er verfiel in wilde Improvisationen, »sondern eine andere Frau namens Betty – eigentlich Miss Elizabeth –, und sie ist zufällig in Begleitung der beiden Herren hier. Stimmt doch, oder nicht?« Garrad sah verblüfft von einem zum anderen. Wovon zum Teufel sprach Morgan bloß? Anson schaute zerstreut hoch, da er noch mit Johnny beschäftigt war, und sah in Bettys Augen, die verzweifelt um Hilfe flehten. »Ja«, sagte Anson zu Blod, »sie gehört zu uns. Können wir unsere Aufmerksamkeit vielleicht wieder diesem armen Mann zuwenden? Er hat einen großen Schock erlitten.« »Tut mir leid«, sagte Blod zu Betty, »ich hatte Sie 190
wirklich für jemand anders gehalten.« Sie schob Anson sanft zur Seite und nahm ihren Bruder in die Arme. »Ist ja gut, ich weiß, was zu tun ist.« Sie wiegte ihn wie ein Baby und streichelte sanft seinen Kopf. Langsam verebbte das schreckliche Schluchzen. Alle schauten fasziniert zu, wie sie ihren Bruder zärtlich beruhigte. Als die Spannung aus Johnnys Körper wich, wandte Blod sich an Morgan. »Komm, hilf mir, ihn nach Hause zu bringen«, bat sie sanft. Und so tat Morgan an diesem Abend zum ersten Mal etwas Sinnvolles. Er hob Johnny auf seine Schultern und trug ihn wie einen Sack Kartoffeln nach Hause. Nachdem sie das Pub verlassen hatten, herrschte die tödliche Stille wie nach einem Wirbelsturm, der Spuren der Verwüstung hinterläßt. Alte Beziehungen zerbrechen, neue werden geboren. Anson, Garrad und Betty standen da und wichen dem Blick der anderen aus. Garrad war wütend. Anson hatte ihm Befehle erteilt, ihn wie einen jungen Kadetten abgekanzelt, und dann – Garrad konnte es immer noch nicht fassen – hatte er Lügen über ihre Beziehung zu dieser jungen Dame verbreitet. Er fühlte sich, gelinde gesagt, gekränkt. »Naja, diese Aufregung hat mir für einen Abend gereicht. Ich verabschiede mich.« Anson bemerkte, daß Garrads Jackett noch auf dem Boden lag, und hob es auf. »George …« Garrad fiel ihm boshaft ins Wort. »Gute Nacht!« donnerte er, schnappte sich das Jackett und marschierte schwankend die Treppe hinauf. Die beiden anderen sahen ihm schweigend hinterher, bevor Betty zur Vordertür ging und sie verschloß. Sie begegnete Ansons fragendem Blick. »Ich schließe nicht zum ersten Mal für Morgan ab«, sagte sie. »Er wird 191
heute nacht nicht wiederkommen.« Sie holte die Gläser vom Tisch und stellte sie auf die Theke. Anson wußte nicht, was er tun sollte. Er wollte noch nicht schlafen gehen, sondern lieber in der Nähe dieser attraktiven Frau bleiben. Er machte sich ebenfalls daran, Gläser einzusammeln. Als er an die Theke trat, preßte sich Betty zu seiner großen Überraschung an ihn und küßte ihn genau auf den Mund. »Danke, daß Sie mir mit Blod geholfen haben.« Anson war sprachlos. Er kam sich wie ein Idiot vor, wie er so dastand mit den Gläsern in den Händen und von einer fremden Frau geküßt wurde. »Na ja«, stotterte er, »es schien mir das einzig Vernünftige zu sein.« Er lächelte – und sie küßte ihn noch einmal. Betty hatte irgendeine Reaktion erwartet, vielleicht eine Erwiderung ihres Kusses, doch er stand ihr nur zitternd gegenüber. Einen Moment lang glaubte sie, seinen Herzschlag zu hören. Dabei war der Kuß so aufregend gewesen wie kalter Kaffee. Betty entschied, daß sie ihm besser die Möglichkeit zum Rückzug ließ, bevor er in Ohnmacht fiel oder sich übergeben mußte. »Nun denn«, druckste er weiter herum, »äh, ich …« Er ging zur Treppe. »Danke für den schönen Abend …« Mit diesen Worten wollte er verschwinden. Den ganzen Abend war Betty ein Problem nicht aus dem Kopf gegangen. »Sind Sie verheiratet?« fragte sie mutig. Diese etwas dreiste Frage ließ Anson innehalten. »Wie bitte?« erklang seine nun vollends verwirrte Stimme vom Treppenabsatz. »Sind Sie verheiratet?« »Nun … nein«, kam die stockende Antwort. Die 192
Treppenstufen knarrten mitleidig. Betty lächelte vor sich hin. »Nicht mal verheiratet!« Anson starrte sie an. Wer war diese Frau, und was genau wollte sie von ihm? Sie verwirrte, erschreckte und erregte ihn zur gleichen Zeit, weil sie anders war als jede Frau, die er jenseits der walisischen Grenze in England kannte. So küßte kein nettes englisches Mädchen aus der Mittelklasse, und es verbrachte auch nicht den Abend im Pub. Ganz zu schweigen von der indiskreten Frage, ob er verheiratet sei. »Gute Nacht, Mr. Anson«, sagte Betty freundlich. »Sie sind ein Gentleman.« Anson ließ sich diese Bemerkung kurz durch den Kopf gehen und eilte dann die Treppe hinauf. Erst als er vor seinem Zimmer stand, fiel ihm auf, daß er die Hände noch immer voller Gläser hatte. Vor dem warmen Küchenfeuer hielt Morgan Johnny fest, während Blod ihm die durchweichten, verdreckten Sachen auszog und ihn sanft mit einem Lappen abrieb. Dann trocknete sie ihn mit langsamen, zärtlichen Bewegungen ab. Wie eine Katze, die ihr Junges säubert, dachte Morgan. Blod summte dabei leise vor sich hin, ein einfaches Kinderlied mit einem kurzen Text, das Kinder einschläfern und Männer wie Johnny beruhigen sollte. Sein Zittern ebbte allmählich ab, und das Entsetzen wich aus seinen Augen. Seine Gesichtszüge wurden weicher, die Augen fielen ihm zu. Nachdem Morgan und Blod ihm den Pyjama angezogen hatten, brachten sie Johnny zu Bett. Morgan wartete an der Tür, während Blod ihren Bruder in die Decke hüllte. Die ganze Zeit über hatte sie Morgan 193
nicht einmal angesehen. Er war sich nicht sicher, ob sie wütend auf ihn war oder nur Augen für Johnny hatte. Vielleicht traf beides zu. Er würde es noch herausfinden. Blod glitt aus dem Zimmer und schloß leise die Tür. »Schläft er?« fragte Morgan. »Das hat er aber nicht dir zu verdanken«, erwiderte Blod. »Ich gehe nur schnell zurück ins Pub und schließe ab. Es dauert nicht lange.« Er wollte gerade gehen, als Blod ihm mit der Hand heftig auf die Brust schlug. Morgan schnappte nach Luft und mußte sich an die Wand lehnen. »Glaub ja nicht, daß du heute nacht hier schläfst!« zischte Blod. »Nach allem, was du Johnny angetan hast!« »Nun reg dich doch nicht so auf.« Betty gab ihm keine Chance. »Eines noch Morgan: Wenn das alles umsonst war, dann brauchst du hier nie wieder aufzutauchen.« »Aber Blod!« setzte er an. Ihre Antwort kam prompt. Blod trat ganz nah an ihn heran und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Verpiß dich, Morgan!« Er trat hinaus in den Regen, der noch stärker geworden war. Blod verschloß hinter ihm die Tür. Es schüttete wie aus Eimern, und die Trittsteine im Fluß waren völlig überschwemmt. Morgan konnte ihre Umrisse unter der Wasseroberfläche schemenhaft erkennen. Sollte er auf Nummer Sicher gehen und den längeren Weg über die Brücke nehmen? Nein, er war naß und wollte endlich nach Hause. Also machte er einen vorsichtigen Schritt. Gott, war das kalt! Glücklicherweise befand sich der erste Trittstein genau da, wo er ihn vermutet hatte. Er verlagerte 194
sein Gewicht und balancierte zum nächsten Stein. Jetzt stand er bis zu den Knien im eiskalten Wasser und spürte den Sog. Morgan konnte kaum das Gleichgewicht halten, die Steine wurden immer glitschiger. Dann warf er jede Vorsicht über Bord und versuchte, über die letzten Steine zu springen. Schon fand er sich kopfüber im Fluß wieder. Er stieß ein ganzes Wörterbuch von Flüchen aus, watete ans Ufer, schüttelte sich wie ein nasser Hund und rannte durch die Gasse und über die Hauptstraße zum Pub. Bei jedem Schritt spritzte das Wasser aus seinen Stiefeln, und nur der Traum von seinem warmen, trockenen Bett hielt ihn aufrecht. Er prallte heftig mit der Schulter gegen die Tür, die eigentlich hätte offen sein sollen. Sie rührte sich nicht. Morgan ließ sich wie ein nasser Sack zu Boden fallen. »Verdammte Scheiße!« murmelte er vor sich hin. Hatte Betty etwa abgeschlossen? Er preßte den Mund an den Briefkastenschlitz und zischte in die Dunkelheit: »Betty? Betty? Mach auf! Ich bin’s, Morgan!« Betty hatte sich oben in Morgans Bett gekuschelt und konnte jedes Wort verstehen. Sie zog sich ein zusätzliches Kopfkissen und eine zweite Wolldecke über den Kopf, damit sie ihn nicht hören mußte. Mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht schlief sie ein. Draußen im strömenden Regen rammte Morgan die Hände in die durchweichten Hosentaschen und lief durch die Gasse zum Stall. Garrad schnarchte wieder heftig in dieser Nacht, Anson schlief unruhig, Betty wie ein Stein, und Morgan schlief im Stall zwischen dem Pferd und dem Hund fast gar nicht. ***
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Im Hochsommer wird es in Wales früh hell. Reverend Jones ging um kurz vor sechs aus dem Haus, um Ffynnon Garw zu besteigen. Der arme Mann hatte in dieser Nacht kaum geschlafen. Bei jedem Regentropfen, der an sein Fenster klatschte, war vor seinem inneren Auge eine Handvoll Erde aufgetaucht, die auf Nimmerwiedersehen davonschwamm. Um Mitternacht hatte sich der Hügel in einen einzigen Eimer Schlamm verwandelt. Um zwei Uhr morgens fragte sich der Reverend allmählich, ob der Regen wohl noch einen Teil von Ffynnon Garw selbst wegspülen würde. Um vier Uhr früh tigerte er rastlos durch sein Schlafzimmer und verlor vor Sorge beinahe den Verstand. Würde dieser Regen denn niemals aufhören? Um fünf zog er sich schließlich an, verzichtete sogar auf sein Morgengebet, schlüpfte in die besten Wanderstiefel, griff nach dem robustesten Regenschirm und machte sich auf den Weg zum Gipfel. Thomas Twp war schon mit den Hunden unterwegs, um nach den Schafen zu sehen, als er den Reverend durch die Pfützen auf dem schlammigen Weg stiefeln sah. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. »Morgen, Thomas«, grollte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Reverend …?« gab Thomas verwirrt zurück und fragte sich, was dieser Mann wohl so früh am Morgen auf den überschwemmten Feldern zu suchen hatte. »Ich will unsere Arbeit inspizieren«, sagte Reverend Jones, »oder zumindest das, was nach dieser unheilvollen Nacht davon übriggeblieben ist.« »Da oben fegt der Wind noch immer ganz schön«, warnte ihn Thomas. 196
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Reverend. »Trotzdem muß ich mir den Schaden ansehen.« »Dann komme ich mit«, bot sich Thomas an, dem nicht wohl war bei dem Gedanken, daß der alte Mann allein bei diesem Wetter auf den Berg steigen wollte. »Ich hole nur schnell meinen Bruder.« Auch Anson stand früh auf, nachdem er den Versuch endgültig aufgegeben hatte, in seinem unbequemen Bett einen erholsamen Schlaf zu finden. Außerdem war er ausgesprochen hungrig, da sie seit ihrer Ankunft keine anständige Mahlzeit bekommen hatten. Morgan tischte nichts anderes auf als große Käsestücke mit noch größeren Brotscheiben. Garrad schien nicht unter Essensentzug zu leiden, da er sich tatsächlich von Gin ernährte. Doch Anson brauchte etwas Handfestes. Er zog sich rasch an und ging hinunter in die Küche, um nachzusehen, ob sich in den Tiefen von Morgans Räumlichkeiten auch etwas Nahrhafteres als Käse und Brot verbarg. Oben auf dem Berg betrachteten Reverend Jones und die Twps verblüfft das Hügelchen. Sicher, ein Teil war davongeschwemmt worden, doch Williams’ Plane hatte das Schlimmste verhindert. Allerdings konnte sich keiner von ihnen erklären, woher diese Plane kam. Sie bedeckte nur den obersten Teil des Hügels, und der Regen hatte fein säuberlich jene Stellen weggewaschen, die nicht geschützt waren. Gestern war er noch ein kegelförmiges Gebilde gewesen, jetzt ähnelte er mehr einem angenagten Souffle aus neun Fuß Erde, das steil aus einem Meer von Schlamm emporragte. Der Reverend schüttelte traurig den Kopf. Thomas Twp Zwo faßte die Sorgen in Worte. »Wir 197
können heute nicht arbeiten.« Er schaute nach Westen und sah neue Regenwolken heraneilen. »Nein«, pflichtete der Reverend ihm bei und folgte Thomas’ Blick. »Heute müssen wir beten …« Anson schnüffelte in der Küche herum. Er entdeckte einige Gläser mit eingemachtem Gemüse und etwas Trockenfleisch – nicht gerade das, was er suchte. Dann stieß er auf eine halbe, leider sauer gewordene Gallone Milch. Irgendwo mußte Morgan doch Eier und Speck versteckt haben. Unglücklicherweise wußte Anson nicht, daß hinter der Küche die Vorratskammer lag, bis unter die Decke mit Morgans besten Leckereien gefüllt. Er schnüffelte eben an einem weiteren, geheimnisvollen Glas, als die Tür aufging und Betty hereinkam. Sie trug ein fließendes, hauchdünnes Baumwollnachthemd, das nur unzureichend von einem seidenen Morgenmantel verhüllt wurde. Beide Kleidungsstücke hatte sie von ihren Herrschaften in Assam House übernommen. Dies war einer der wenigen Vorteile ihrer bisherigen Stellung. Anson fragte sich jedoch nicht, woher sie wohl stammen mochten, denn die Gegenwart einer halb bekleideten Frau war ihm ausgesprochen peinlich und trieb ihm das Blut in die Wangen. »Guten Morgen!« sagte Betty und schwebte an ihm vorbei. Das Zimmer drehte sich um ihn. Anson mußte nach einem Stuhl greifen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, was er allerdings auf den noch immer ungestillten Hunger zurückführte. »Sie stehen ja mit den Hühnern auf«, bemerkte Betty. 198
»Ja-a.« Mehr zu äußern, war er nicht in der Lage. »Konnten Sie nicht schlafen?« erkundigte sich Betty mit einem hinterhältigen Lächeln. »N-nein«, stammelte Anson. »Muß wohl der Regen gewesen sein, er hämmerte so auf das Dach, wissen Sie.« Er konnte sich plötzlich gar nicht mehr bremsen. »Ich glaube nicht, daß ich jemals so einen Regen erlebt habe …« Dann versagte ihm die Stimme. »Ich habe geschlafen wie ein Stein. Es ist so herrlich ruhig, wenn Morgan nicht durchs Haus poltert«, erklärte Betty. »Hm, ja«, Anson wußte diese Bemerkung nicht recht zu deuten. »Sie fahren heute ab?« Vielleicht war sie deshalb so früh aufgestanden? »Mal sehen«, sagte Betty, die nur zu genau wußte, daß sie bald ein Telegramm schicken und abwarten mußte, was das Schicksal für sie bereithielt. »Bei diesem Wetter möchte ich allerdings nicht aufbrechen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Lieber würde ich im warmen Bett bleiben und nur aus dem Fenster sehen.« Bei einem Blick in den Garten stellte sie fest, daß Morgan gerade aus dem Heu gekrochen kam. Sie lächelte verschmitzt. »Wenn die Dinge naß sind, sehen sie immer besser aus, nicht wahr?« »Ja, nun … « Wieder fehlten Anson die Worte. Was war nur los mit ihm? Entweder brachte er in Gegenwart dieser Frau keinen Ton über die Lippen oder er brabbelte so wirres Zeug wie Garrad nach einem Eimer Gin. Betty warf einen Blick auf das Glas in Ansons Hand. »Haben Sie Hunger?« Sie kam näher. »Ehrlich gesagt, ich bin völlig ausgehungert.« Er wich einen Schritt zurück. 199
»Ja.« Sie kam wieder gefährlich nah. »So sehen Sie auch aus. Soll ich mal nachsehen, was Morgan so versteckt hat? Vielleicht können wir etwas zusammen kochen …« Ansons Mund war ausgetrocknet. Dann rettete ihn Garrad, der in der Tür aufgetaucht war und hustete, um sich bemerkbar zu machen. Er wußte nicht genau, was er davon halten sollte. Er hatte die beiden am vergangenen Abend allein gelassen, und jetzt traf er sie schon wieder zusammen an. Und die Frau war nicht einmal anständig gekleidet. »Morgen«, sagte Garrad. Es klang wie ein Befehl. Betty ging zum Herd und setzte den Wasserkessel auf. Anson folgte ihr mit den Augen. »Nun, Anson«, sagte Garrad in seinem militärischsten Tonfall, »der Tagesbefehl lautet: Wagen auslösen!« Er bemerkte sofort, daß Anson ihm nicht zugehört hatte. Der Mann starrte diese kleine Nutte, die im Nachthemd durch die Küche schwebte, völlig ungeniert an. »Anson!« Seine Stimme wurde lauter. Anson schnellte herum. »Ja, George?« Gott, wie er es haßte, wenn Anson ihn George nannte! »Wir können nicht den ganzen Tag hier herumhängen und auf einen Dorftrottel mit einem Motorrad warten.« Betty machte ein langes Gesicht. »Sie reisen ab?« fragte sie. »Wieder nach England oder weiter nach Wales hinein?« »Nach Norden«, erklärte Anson, »genauer gesagt, in den Nordwesten von Wales.« Betty lachte. »Wenn es bei uns regnet, regnet es da oben noch viel stärker. Sie warten am besten hier, bis es aufhört.« Draußen platschten Schritte über den Hof. Morgan kam 200
vom Stall zur Küche geschlurft und hämmerte an die Hintertür. »Betty! Laß mich rein! Ich löse mich gleich auf!« Betty ging zur Tür. »Sie wollen doch wohl nicht lange da oben bleiben?« sagte sie zu Anson und Garrad. »Die Gasthöfe sind schrecklich. Man schläft wie im Stall.« Der letzte Satz war auf Morgan gemünzt, der völlig durchnäßt in die Küche stolperte. Stroh quoll ihm aus Haar und Socken. Seine Haut war unangenehm blaugrau verfärbt. Anson und Garrad starrten ihn an wie eine Geistererscheinung. Morgan warf ihnen ein breites Grinsen zu. »Morgen« sagte er, packte Betty, stieß sie in die Vorratskammer und schloß die Tür hinter sich. Anson und Garrad sahen sich an. War dies ein seltsamer walisischer Brauch? War es typisch für diese Gegend, daß junge Frauen in Vorratskammern gezerrt wurden? Sie schwiegen und rührten keinen Finger. In der Vorratskammer preßte Morgan Betty gegen eine geräucherte Speckseite. »Also?« fragte er anzüglich. »Also was?« zischte Betty. »Du weißt schon, letzte Nacht, Miss Elizabeth und die Engländer …« Betty ergriff ein Messer, das im Speck steckte, und fuchtelte damit vor Morgans Nase herum. »Erstens ist Miss Elizabeth im Schlaf gestorben, und zweitens sind das keine Tiere wie du, Morgan, sondern Gentlemen.« Am liebsten hätte sie ihm das Messer zwischen die Rippen gestoßen. Sie riß sich aber zusammen und rammte es statt dessen in den Räucherspeck. Sie stieß Morgan zur 201
Seite und ließ ihn mit dem toten Fleisch allein. Morgan dachte über ihre Worte nach. Gentlemen nannte Betty diese Leute … das war eine Sache, doch ihn hatte sie als Tier bezeichnet. Er empfand dies als das größte Kompliment, das ihm eine Frau jemals gemacht hatte. Morgan richtete sich zu seiner vollen Größe auf und ließ das Wort auf der Zunge zergehen. »Ein Tier!« Williams die Zapfsäule wälzte sich stöhnend im Bett herum. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie ein riesiger blauer Fleck, seine Gelenke krachten schmerzhaft. Dieser verdammte Morgan, dachte er, und verfluchte sich selbst, weil er so dumm gewesen und in diese ganze verrückte Unternehmung hineingerutscht war. Der Regen klatschte noch immer ans Fenster. Williams wollte sich gerade auf die andere Seite rollen und weiterschlafen, als ihm der Wagen des Engländers einfiel, der die ganze Nacht über völlig ungeschützt im Regen gestanden hatte. Er quälte sich aus dem Bett und warf einen Blick auf den Wagen, der unten im Hof parkte. Ihm wurde flau im Magen. Das Auto war voll wie eine Regentonne. In Sekundenschnelle hatte er sich angezogen und rannte durch die Gassen zu Morgans Pub. Eigentlich hatte Williams gehofft, er könne sich durch die Hintertür schleichen und mit Morgan unter vier Augen sprechen. Zu seinem Entsetzen stieß er in der Küche auf die beiden Engländer, die gerade bei einem herzhaften Frühstück saßen. »Morgen, Williams«, sagte Betty freundlich. »Möchten Sie auch Eier mit Speck?« Williams hätte liebend gern zugeschlagen, doch die Gesellschaft bereitete ihm Unbehagen. »Nein, danke«, sagte er tapfer. 202
»Ach, Mr. Williams, wie gut, daß ich Sie treffe«, legte Garrad los. »Ja, ich dachte, Sie wollten vielleicht aufbrechen«, erwiderte Williams. »Gibt’s was Neues?« fragte Anson. »Ich habe Tommy gerade losgeschickt«, log Williams. »Er müßte im Nu zurück sein.« »Im Nu?« fragte Garrad stirnrunzelnd. »Ich habe mich immer gefragt, was wohl ein Nu sein mag. Wie schnell ist er denn wohl nach meiner Zeitrechnung zurück?« »Er kommt bestimmt vor elf«, log Williams weiter und wandte sich an Betty. »Ist Morgan da?« Morgan stocherte gerade in einem großen Feuer hinten in der Bar und wärmte sich mit heißem Rum. »Morgan …« fing Williams an. »Halt bloß die Klappe! Blod ist auf mich losgegangen, Betty hat mich ausgesperrt, ich habe bei dem Scheißpferd im Stall geschlafen, und jetzt haben die Engländer meinen besten Räucherspeck entdeckt …« Er verschwieg sein Bad im Fluß, denn so dumm wollte er auch wieder nicht erscheinen. »Ihr verdammter Wagen steht voller Wasser!« flüsterte Williams. »Ach ja?« »Ach ja? Ach ja! Ich sollte mich schließlich darum kümmern!« »Denk dir eine Entschuldigung aus.« »Eine Entschuldigung? Morgan, um Himmels willen, ich habe das Auto völlig ruiniert!« »Erzähl ihnen doch, der Regen hätte die Plane fortgespült«, sagte Morgan, als wäre dies die 203
glaubwürdigste Entschuldigung der Welt. »Vom Regen fortgespült?« Williams konnte es einfach nicht fassen. »Was willst du ihnen sonst erzählen?« Reverend Jones verließ entmutigt den Gipfel. Schuld an seiner Stimmung war nicht die Tatsache, daß sie so viel Erde verloren hatten, obgleich das schon schlimm genug war. Er befürchtete, daß die Dorfbewohner ihre Antriebskraft, ihre Motivation eingebüßt hatten. Es schien nicht so schwer, sie einige Tage gemeinsam auf dem Berg arbeiten zu lassen, doch der anfängliche Schwung war nicht mehr da. Konnten sie das Werk in nur einem weiteren Tag vollenden? Johnnys Worte hatten ihn bis ins Mark getroffen. »Wir brauchen sehr viel mehr Erde, weil die Basis größer werden muß.« Ja, er hatte recht. Der Reverend versuchte, eine Berechnung anzustellen: Hatten sie ein Drittel der Erde hinaufgeschafft? Oder mehr? Vielleicht weniger? Konnte der Hügel an einem Tag vollendet werden? Oder in zweien? Oder dreien? Er verschwand geknickt in seinem Haus. Blod brachte Johnny einen starken Tee. Er war schon wach und blickte ins Leere. »Morgen, Johnny«, sagte sie und stellte erleichtert fest, daß seine Augen ihr folgten. Doch er sagte kein Wort. »Es regnet immer noch.« Johnny ergriff die Teetasse, trank gierig und hielt nur inne, um aus dem Fenster auf den regenverhangenen Gipfel von Ffynnon Garw zu schauen. Nach dem Frühstück ging Betty zum Postamt. 204
»Ich möchte ein Telegramm aufgeben«, sagte sie zu Jones von der Post. »Verstehe.« Jones war ein wortkarger Mensch und schob ihr ein Formular und einen Stift hinüber. Betty fragte sich, ob ein krankes Familienmitglied wohl als Entschuldigung ausreichte. War ein Todesfall vielleicht besser? Die Wahrheit konnte sie ihren Arbeitgebern sicher nicht mitteilen: »MUSSTE ENGLISCHE LANDVERMESSER UMWERBEN STOP BAUEN EINEN BERG STOP ALLES MORGANS SCHULD STOP.« Nein, das ging wohl nicht. Es mußte tragisch klingen – ja, Tragödie war genau das richtige Wort! »AUFRICHTIGE ENTSCHULDIGUNG FÜR PLÖTZLICHEN AUFBRUCH STOP FAMILIENTRAGÖDIE STOP KOMME BALD ZURÜCK STOP.« Sie schob Jones von der Post das Telegramm hinüber. »Wieviel macht das?« fragte sie. »Erste oder zweite Zustellung?« »Erste, so schnell wie möglich.« Jones, der gerade die Wörter gezählt hatte, las das Telegramm noch einmal durch. »Kann ich nicht verschicken«, sagte er. »Warum nicht?« »Weil es nicht stimmt. Es ist ein Vergehen, Lügen über den Telegrafendienst zu verbreiten.« »Und Sie maßen sich an zu entscheiden, was eine Lüge ist und was nicht?« Betty war außer sich. »Warum lesen Sie überhaupt mein Telegramm? Ich dachte, so etwas wäre privat.« »Stimmt«, sagte Jones. »Aber Sie haben es gerade gelesen!« 205
»Ich bin der Vorsteher des Postamtes, und daher ist es meine Aufgabe.« »Schön, Herr Postamts Vorsteher«, sagte Betty. »Sie kümmern sich um Ihre Arbeit und ich mich um meine: Ich bin hier, ich arbeite für Morgan und kümmere mich um diese Engländer. Wollen Sie alles kaputtmachen?« Jones von der Post zog die Nase hoch. Er wollte Morgan keinesfalls verärgern. Mit einer Warum-haben-Sie-dasnicht-gleich-gesagt-Miene zählte er noch einmal schweigend die Wörter. Bei ihrer Rückkehr ins Pub fand Betty Anson vor, der gerade ein weiteres Meßgerät auf Hochglanz brachte. »Damit werden Sie sich doch nicht den ganzen Tag beschäftigen, oder?« »Nun …« Anson hatte nichts Besonderes zu tun. »Morgan hat ein Damebrett in der Bar«, schlug Betty vor. »Sollen wir spielen?« Es regnete noch immer in Strömen, er hatte nichts vor: Wie konnte er da nein sagen? *** Morgan lag mit der Decke über dem Kopf im Bett und versuchte zu schlafen. Die Nacht in der Scheune war eine echte Tortur gewesen. Jeder Knochen tat ihm weh. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Seine Gedanken kreisten fieberhaft um wichtige Fragen: Wie lange konnte er die Engländer hier festhalten? Wie lange würde es noch regnen? Wie lange würden sie brauchen, um den Hügel auf Berghöhe zu vergrößern? Einen Moment lang glaubte er, der Regen hätte nachgelassen, und schlug die Decke zurück. Er hatte sich getäuscht. Es goß noch immer wie 206
aus Kübeln. Seufzend sah er zum Fenster hinüber. Auch George Garrad sah in den Regen hinaus, aber in anderer Stimmung. Vor Zorn sträubten sich seine Nackenhaare. Langsam verlor er die Kontrolle über Anson und ihre gesamte Unternehmung. Sie hielten sich inzwischen seit vier Tagen in Wales auf, und es war ihnen in dieser Zeit nicht gelungen, mehr als einen einzigen, völlig unbedeutenden Hügel zu vermessen. Sein Wagen hatte den Geist aufgegeben. Genau wie das Auto schien Anson ein Bethyngalw verloren zu haben. Er war nicht mehr der alte. Garrads Ansicht nach stand sein Kollege kurz davor, zum Eingeborenen zu werden, ein häßliches Phänomen, das er in allen Ecken des Empires beobachtet hatte. In Indien waren ihm einige abstoßende Beispiele untergekommen, und im Fernen Osten hatten geistig völlig gesunde Engländer bester Abstammung plötzlich ihre Kultur verloren und begonnen, sich wie die Einheimischen zu kleiden. Kurz darauf konnte man sie in Opiumhöhlen und Freudenhäusern antreffen. Einem Offizier, der Garrads Kommando unterstand, würde so etwas nicht passieren. Dafür würde er schon sorgen! Unglücklicherweise unterstand Anson strenggenommen nicht Garrads Kommando. Es war alles sehr verwirrend. Obwohl ihre Arbeit mit militärischen Überlegungen zu tun hatte, war es trotzdem ein ziviles Unternehmen, so daß auch die militärische Hierarchie in ihrer Beziehung zu wünschen übrig ließ. Sie waren eher Vorgesetzter und Angestellter, und Garrad hatte zwar die Leitung, aber kaum das Kommando. Anson und Betty saßen hinter ihm am Küchentisch und spielten Dame. Anson verlor. Irgendwie fehlte es ihm an Konzentration; warum, wußte er nicht genau. Bettys Steine sausten über das Brett, und sie kassierte die seinen 207
mit Leichtigkeit. »Das ist nicht gerade Ihre Stärke«, lachte Betty, als sie ihm wieder drei Steine abnahm. »Passen Sie doch mal auf!« Anson wollte gerade etwas erwidern, als sein Gedankengang von Garrad unterbrochen wurde, der sich abrupt vom Fenster wegdrehte und mit seinem unerträglichsten Gesichtsausdruck klagte: »Er wollte bis elf Uhr hiersein! Er sagte, er hätte die Teile! Verdammt, jetzt ist es beinahe Mittag!« Damit griff er nach seinem Südwester. »Kommen Sie, Anson!« Anson sah hoch. Kommen? Es goß in Strömen. Wovon redete George überhaupt? »Wohin genau soll ich kommen?« fragte er. Garrad starrte ihn fassungslos an. Wären sie bloß in der Armee! Er hätte diesen Mann auf der Stelle zu dreißig Tagen Brot und Wasser verurteilt, zum Kartoffelschälen für die Offiziersmesse, zu einigen strammen Fußmärschen mit schwerem Gepäck. Leider waren sie nur Kartenzeichner, und George war nicht Gordon von Khartoum, sondern George die Landkarte. »Wir holen das verdammte Auto!« donnerte er. »Was zur Hölle denn sonst? Guter Gott, Anson, Sie verlieren langsam den Verstand.« »Das Auto! Richtig, das Auto!« sagte Anson und erhob sich, um Garrad zu folgen. An der Haustür sah er Garrad schnurstracks durch die Pfützen in Richtung Werkstatt marschieren. Er erinnerte an einen Schleppkahn, der sich gegen den Wind stemmt. Anson rückte seinen Hut zurecht. Dieser Regen war unglaublich! Hinter ihm ertönte ein leises Klopfen – Betty winkte ihm vom Fenster aus zu. Er winkte zurück. Dann folgte er Garrads ungeduldigen Rufen und spurtete los wie 208
die Imitation eines Hundes, der die Stimme seines Herrn hört. *** Eines müssen Sie wissen: Wer niemals in Wales oder Irland gelebt hat, kennt die eigentliche Bedeutung des Wortes »Regen« nicht. Man erzählte mir einmal, die Eskimos hoch oben im Norden haben zahlreiche Wörter für »Schnee«. Aus ähnlichen Gründen benutzen die Waliser eine ganze Auswahl von Ausdrücken, um den Regen zu beschreiben. In Wales sagt man: es »schifft«, es »nieselt« oder es »regnet Bindfäden«. Es »schüttet aus Eimern«, es »tröpfelt« und »pladdert«. Es regnet »Katzen und Hunde« oder »Nadel und Faden«. Die Waliser sprechen von »Regenwänden«, »Regengüssen« und »Regenstacheln«. Sie unterscheiden zwischen »Noahs Regen«, »gutem Regen«, »schlechtem Regen«, »gottgesandtem Regen« und »bösem Regen«. Von »Regen, den wir brauchen« und »Regen, den wir nicht brauchen«. Sie sprechen von »bleibendem Regen« und »Regen, der woanders gebraucht wird«. Es gibt sogar »Regen, der für woanders bestimmt war«. Dieses Woanders liegt wahrscheinlich ebenfalls in Wales. Die Waliser kennen »weichen« Regen und »harten« Regen, »warmen« Regen und »kalten« Regen. Die Menschen hier sind so reichlich mit Regen gesegnet, daß sie wirklich ein eigenes Vokabular brauchen, um sich darüber zu unterhalten. Wir Waliser glauben gern, unsere Berge hätten die wiederholten Invasionsversuche aufgehalten, doch die traurige Wahrheit sieht anders aus: Es war das Wetter in 209
den Bergen. Der Regen hat alle potentiellen Eroberer besiegt, ganz ordinärer Regen … Die Römer nahmen Europa im Sturm, bis sie auf das kleine Land Wales stießen, auf die Waliser, ihre Berge und ihren Regen. Stellen Sie sich einen bedauernswerten römischen Legionär vor, der – nichts Böses ahnend – aus dem sonnendurchfluteten Italien kommt. An seinem ersten Tag in Wales regnet es; am nächsten Tag regnet es auch, der dritte Tag beschert ihm Regen von früh bis spät. So geht es tagein, tagaus. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der es von Anfang Oktober bis Ende März pausenlos regnete – wirklich pausenlos. Das ist schon für die Einheimischen frustrierend genug, ganz zu schweigen von einem Haufen junger Männer in Sandalen und Togen. Die Römer flohen aus Wales. Und da sie gehört hatten, Irland sei noch feuchter, machten sie sich gar nicht erst die Mühe, die Irische See zu überqueren. Solche banalen Dinge kamen George Garrad natürlich nicht in den Sinn. Für ihn war die Geschichte eine Abfolge heroischer Schlachten, die immer gewonnen und niemals verloren wurden. In Garrads Welt stellte man seine Gegner und machte mit ihnen kurzen Prozeß. Allerdings hatte Gordon von Khartoum nie mit Regen zu tun gehabt – oder mit einer Gestalt wie Williams die Zapfsäule, der selbstverständlich nicht zu Hause war, als Garrad sich an dessen Tür die Finger wundklopfte. »Vielleicht ist er unterwegs, um einen Wagen zu reparieren«, meldete sich Anson zu Wort. Williams hörte alles mit, dachte aber nicht im Traum daran, sein Versteck unter dem Küchentisch zu verlassen. George Garrad stieß die Tore zum Hof der Werkstatt auf und sah sich seinem bedauernswerten, ungeschützten Auto 210
gegenüber. Die Entdeckung des bis zum Rand mit Wasser gefüllten Innenraumes versetzte ihm einen Schock. Er öffnete eine Tür. Eine Kaskade, die den Niagara-Fällen zur Ehre gereicht hätte, schoß ihm entgegen und sammelte sich um seine gamaschenumwickelten Fußknöchel. Garrad sagte kein Wort. Er wagte nicht einmal einen Blick in Ansons Richtung. Das war auch gut so, denn Anson konnte sich nur mühsam das Lachen verbeißen. Garrad knallte die Tür zu, traf eine schnelle Entscheidung und eilte von neuer Wut getrieben durch den Regen davon. *** Unterdessen traf im Postamt ein Telegramm für Betty ein. Darin stand: NEHMEN IHRE ENTSCHULDIGUNG AN STOP MÜSSEN ABER SPÄTESTENS SONNTAG ABEND ARBEIT WIEDER AUFNEHMEN STOP SONST NEUE STELLE SUCHEN STOP. Jones von der Post zeigte seiner Frau das Telegramm. »Und?« fragte sie. »Schlechte Neuigkeiten für Morgan«, sagte Jones. »Oh, das tut mir aber leid«, entgegnete seine Frau schadenfroh. Sie hatte bei der Geburt einiger Kinder geholfen, deren Vater Morgan war. Daß auch eines der ihrigen ein Ableger von Morgan dem Ziegenbock war, wußte ihr Mann natürlich nicht. Jones zog seinen Mantel an. »Wo gehst du hin?« fragte seine Frau. »Wohin wohl?« Mit dem Telegramm in der Hand stapfte er in den Regen hinaus und fragte sich, was seine Frau eigentlich gegen Morgan hatte. Wahrscheinlich soll ich das Trinken 211
aufgeben, dachte er auf seinem Weg zum Pub. Morgan lag im Bett und zitterte noch immer am ganzen Leib. Er würde Tage brauchen, um wieder richtig warm zu werden. Jones von der Post kam ins Schlafzimmer wie ein Kammerherr, der die Gemächer seines leidenden Königs betritt. »Ich dachte, das würde dich interessieren«, sagte er und gab Morgan das Telegramm, das eigentlich für Betty bestimmt war. »Gut gemacht«, lobte ihn Morgan und warf es ins Feuer. »Das kannst du nicht machen!« sagte Jones entsetzt. »Tut mir leid, schon zu spät«, erwiderte Morgan fröhlich. »Das ist Eigentum der Krone«, protestierte Jones von der Post. »Ich dachte, es wäre für Betty.« »Das schon, aber es gehört dem Telegrafendienst Seiner Majestät, bis es dem Empfänger zugestellt wird.« »Na ja, dann habe ich es als Vollmächtiger für sie entgegengenommen«, entgegnete Morgan, der auf alles eine Antwort hatte. »Bevollmächtigter«, korrigierte ihn Jones. »Und was passiert, wenn sie keine Antwort bekommt?« Morgan nieste und dachte kurz nach. »Da hast du recht. Wir müssen ihr eine schicken.« Jones war sprachlos vor Wut. »Verdammt, wann hört dieser beschissene Regen endlich auf!« schimpfte Morgan. Jones von der Post hatte sich einigermaßen beruhigt und konnte wieder sprechen. »Wenn du glaubst, ich sende eine falsche Botschaft …« Morgan betrachtete ihn prüfend. »Ich sehe leider keine Alternative«, sagte er unschuldig. »Du hast selbst gesagt, 212
daß sie auf eine Antwort wartet.« Morgan schwang sich aus dem Bett, da er sich nun, mit einem klaren Ziel vor Augen, deutlich besser fühlte. »Komm, wir trinken einen, während ich eine Antwort formuliere.« Sie gingen in die Bar. Bevor er hinter die Theke trat und Jones einen einschenkte, lief Morgan hinaus und klopfte an Ivors Fenster. Kurz darauf lugte Ivor durch die Tür des Pubs. »Morgan?« »Morgen, Ivor. Du mußt mir einen Gefallen tun. Schick bitte deinen Jungen zu den Twps und laß fragen, wie lange der Regen noch anhalten wird.« »Das sind zwei Meilen, und es schüttet wie aus Eimern«, beschwerte sich Ivor. »Ich weiß verdammt noch mal, daß es regnet«, explodierte Morgan. »Sonst ließe ich wohl kaum bei den Twps anfragen, wie lange es noch dauert. Komm schon, Ivor, die Sache ist wichtig. Telegramme hängen davon ab!« »Tut mir leid, Morgan, aber ich brauche den Jungen im Geschäft«, entgegnete Ivor und wollte gehen. »Eins noch, Ivor«, sagte Morgan hinterhältig, »sieht so aus, als würdest du den freundlichen Nachbarn nicht brauchen, der die Sache mit der verschütteten Tinte bezeugt …« Ivor zählte langsam bis zehn. »Was genau soll er die Twps fragen?« Reverend Jones saß am Fenster und sah nachdenklich in den Regen hinaus. Was hatten er und das Dorf nur verbrochen? Womit hatten sie diese Strafe nur verdient? 213
Im Geiste versetzte er sich selbst eine Ohrfeige. Das war sicher Gotteslästerung. Als ob sich der gute Herr im Himmel um sie und ihre lächerlichen Probleme kümmern würde. Als ob der Herr im Himmel diesen Regen nur für sie gesandt hätte. Er wußte, daß solche Überlegungen absurd waren und schalt sich selbst, weil er in diesen finsteren Aberglauben verfallen war. Trotzdem erschauerte er bis ins Mark, denn solche Gedankengänge waren typisch walisisch. Wenn er ihnen schon nachhing, dann ging es seinen Mitmenschen im Dorf nicht anders. Tatsächlich unterhielt sich im Postamt Elsie die Zweitakterin in diesem Moment mit Mrs. Jones von der Post über eben dieses Thema. »Das Wetter war herrlich, bis wir das Theater mit diesem Hügel angefangen haben. Denken Sie an meine Worte, das Wetter in diesem Tal wird nie mehr wie früher sein«, sagte Elsie. »Psst«, warnte Mrs. Jones von der Post, »die Engländer!« Sie deutete auf die Tür. Elsie folgte ihrem ausgestreckten Finger und sah, wie ein durchweichter George Garrad, gefolgt von einem nicht minder nassen Reginald Anson, das Postamt betrat. Elsie sprach auf walisisch weiter. »Es stimmt, und wenn diese beiden nicht gekommen wären …« Sie warf ihnen einen höhnischen Blick zu und ging hinaus. Garrad zitterte vor Kälte. Er fragte sich, ob Elsies walisisches Kauderwelsch vielleicht ein alter Hexenfluch gewesen war. Mühsam riß er sich zusammen. »Ich würde gern«, hob er an und hielt inne. Er starrte 214
Mrs. Jones von der Post an: Dieses Postamt wurde tatsächlich von einer Frau betrieben. Garrad konnte es nicht fassen. »Anson!« knurrte er. Reginald übernahm einmal mehr das Reden. »Wir möchten ein Telegramm schicken«, sagte er. »Sehr gut, Sir«, erwiderte Mrs. Jones. »An unsere Hauptverwaltung«, fuhr Anson fort. »Und wo ist die, Sir?« »In London«, sagte Anson. Garrad starrte sehnsüchtig ins Leere und flüsterte leise: »London …« In seiner Stimme lagen Liebe und Pathos. Dieses einfache Wort drückte ein Gefühl aus – eine ganze verlorene Zivilisation, die er vielleicht niemals wiedersehen würde. »London …« Ihr Telegramm beschränkte sich auf das Wesentliche: DRINGEND STOP WAGEN KAPUTT STOP KEINE ANDERE TRANSPORTMÖGLICHKEIT VORHANDEN STOP BITTE AUSKUNFT WIE WEITER ZU VERFAHREN STOP BITTE UM UMGEHENDE ANTWORT STOP UMGEHENDE ANTWORT STOP. Anson überprüfte es noch einmal und lächelte bei dem Gedanken, daß die zahlreichen STOPS ihr Mißgeschick sehr viel besser beschrieben als die eigentliche Botschaft. »Sehr schön«, sagte Anson. Mrs. Jones von der Post schickte das Telegramm pflichtgemäß ab. Garrad schaute sich im vollgestopften Postamt um. Er entdeckte einen alten Sessel und ließ sich darin nieder. Mrs. Jones sah ihn an. »Noch etwas, Sir?« »Nein«, gab Garrad zurück, »aber wenn es Ihnen recht ist, warte ich hier auf die Antwort.« »Wie Sie wollen, Sir«, nickte Mrs. Jones und wandte 215
sich wieder ihrer Arbeit zu. »George?« Anson hielt es für keine gute Idee, in dem zugigen Postamt zu warten. »Ich will meine Antwort haben!« meckerte Garrad. Der Blick, den er Mrs. Jones zuwarf, verriet Garrads ganzes Vertrauen oder besser Mißtrauen in die Waliser im allgemeinen und in Mrs. Jones im besonderen. Ihr könnt bloß froh sein, daß nicht mein Mann dieses Telegramm schickt, dachte Mrs. Jones. Ivors Ladenjunge, ein pickliger Jüngling, der noch nie etwas Aufregendes erlebt hatte, bewältigte den ganzen Weg bis zu den Twps und zurück im gestreckten Galopp auf Ivors altem Pony. Keuchend und triefnaß kam er wieder im Pub an. »Und?« erkundigte sich Morgan. »Er weiß es nicht.« »Was soll das heißen, er weiß es nicht?« fragte Morgan. »Thomas Twp weiß immer über den Regen Bescheid.« Dann überlegte er: War nun Thomas Twp der Wetterprophet oder sein Bruder Thomas Twp Zwo? Morgan verwechselte sie ständig. »Hast du beide Brüder gefragt?« »Natürlich!« erwiderte Ivors Ladenjunge entrüstet. Er war doch nicht blöd. »Und er hat gesagt, es ist leicht zu wissen, wann er anfängt, aber viel schwerer zu sagen, wann er aufhört.« »Verdammter Mist!« stöhnte Morgan. »Hatte er denn gar keine Vorstellung?« »Er dachte, vielleicht am Sonntag, oder auch am Montag.« 216
Sonntag oder Montag? Bettys Telegramm befahl ihr, am Sonntag zurückzukehren, und genau dann würde er sie am dringendsten brauchen. »Danke«, sagte Morgan und schenkte Ivors Ladenjungen eine Flasche Ingwerbier zum Lohn für seine Mühe. »Und?« fragte Jones von der Post. »In dem Telegramm muß unbedingt stehen, daß es in Ordnung geht, wenn sie bis nächsten Mittwoch zurückkommt«, sagte Morgan. Jones warf ihm einen hinterhältigen Blick zu. »Das ist nicht die richtige Formulierung. Du weißt doch, wie die feinen Leute solche Sache schreiben«, erklärte Morgan. »Aber …« wollte Jones ansetzen, doch Morgan unterbrach ihn. »Ich möchte den Leuten nicht erzählen müssen, daß die Sache an dir gescheitert ist«, drohte er wieder einmal. »Außerdem wird Betty mir dankbar dafür sein. Glaub mir, sie haßt diese Stelle. In Ffynnon Garw ist sie besser aufgehoben.« Zwei lange Stunden mußten Anson und Garrad auf ihre Antwort warten. In dieser Zeit hatte Ivors Ladenjunge den Ritt zu den Twps erledigt, und das halbe Dorf war unter irgendeinem Vorwand ins Postamt gekommen, um einen Blick auf die Engländer zu werfen, die dort wie die Hühner auf der Stange hockten. Natürlich sprachen alle, die an diesem Morgen das Postamt betraten, walisisch. Dadurch wurden Anson und Garrad noch weiter ins Abseits gedrängt. Garrad fühlte seine Vermutung, daß alle gegen ihn seien, vollauf bestätigt. »Die werden bestimmt dafür bezahlt, hierzu sitzen«, sagte ein Kunde. 217
»Du solltest Gin ausschenken«, bemerkte jemand anders. »Wäre ein gutes Geschäft.« »Armer Kerl«, meinte ein dritter Kunde mit einem Blick auf den durchnäßten, unglücklichen Garrad. »Vielleicht sollten wir ihn einfach frankieren und nach Hause schicken.« Garrads Gehirn arbeitete fieberhaft. Er fürchtete die Verschwörung ebenso wie den Verlust seiner geistigen Gesundheit. Konnten sie denn wirklich alle gegen ihn sein? Wurden Menschen nicht verrückt, wenn sie sich so etwas einbildeten? Fielen nicht dieser irrationalen Angst auch Heerführer zum Opfer? Einen Moment dachte er, er hätte recht und müßte wie Gordon von Khartoum bereit sein, die Rebellion im Keim zu ersticken. Dann rief er sich wieder zur Ordnung und entschied, daß es an der Zeit war, die Lektüre über den großen General aufzugeben. Das Klicken des Telegrafenapparates riß ihn aus seiner Meditation. Mrs. Jones von der Post las die Botschaft, während sie gedruckt wurde. Ihr Gesicht zog sich in die Länge. »Ich glaube, das ist für mich«, sagte Garrad, bevor Mrs. Jones ein Grund für die Vernichtung seines Telegramms einfiel. Er schnappte es ihr weg und überflog den Text. Der Anfang NEHMEN SIE EINEN ZUG ließ Garrad schnauben. »Das hatte ich schon erwartet!« Er verließ das Postamt so schnell, wie es seine gewichtige Gestalt erlaubte. »Kommen Sie, Anson, ich glaube, der Stationsvorsteher ist uns eine Erklärung schuldig!« Mrs. Jones rannte ins Hinterzimmer. Nein, sie mochte Morgan nicht und gönnte ihm die Probleme mit Betty von ganzem Herzen. Andererseits sollte die ganze Sache nicht 218
ausgerechnet an ihr scheitern. Ihre jüngste Tochter Rhiannon saß am Kamin und las. »Schnell!« sagte Mrs. Jones. »Lauf zum Bahnhof und warne Thomas den Zug!« Ihre Tochter sauste aus dem Zimmer. »Nimm die hintere Gasse und lauf, so schnell du kannst!« rief sie ihr nach. Garrad war soeben vom Weg abgekommen und steckte bis zu den Knöcheln im Schlamm, als Anson eine lyrische Bemerkung von sich gab. »Ist Ihnen schon aufgefallen, daß dieses Dorf im Regen abwechselnd größer und kleiner zu werden scheint?« Garrad sah ihn an, als hätte Ansons Verstand endgültig ausgesetzt. Größer und kleiner im Regen? Garrad machte sich nicht die Mühe, auf diesen Schwachsinn zu antworten. »Ich will damit sagen«, fuhr Anson unbeirrt fort, »daß der Nebel die Sicht einschränkt, so daß es kleiner scheint; doch die Entfernungen sind schwerer abzuschätzen, und deshalb wirkt es größer.« »Habe ich Sie etwa um eine Erklärung gebeten?« knurrte Garrad. »Es fiel mir nur auf«, gab Anson leise zurück. Dann tauchte der Bahnhof vor ihnen auf. Rhiannon Jones war schon dort gewesen und hatte mit Thomas dem Zug gesprochen, als sie jetzt fröhlich winkend an ihnen vorbeilief. »Bore da!« Ihr höflicher Morgengruß klang in Garrads Ohren wie ein einheimischer Fluch. Thomas der Zug war völlig aufgelöst, als er sie auf den Bahnhof zukommen sah. Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung, einer Entschuldigung … Was um Himmels 219
willen sollte er den Engländern sagen? Seine Augen irrten durchs Zimmer und blieben an einer Pfütze hängen. »Guten Morgen«, ächzte Garrad. »Ja-a«, erwiderte Thomas. »Ich bin von meiner Hauptverwaltung angewiesen worden«, Garrad sprach in einem langsamen, abgehackten Rhythmus, »einen Zug zu nehmen, und zwar von hier aus – einen Personenzug nach Pontypridd.« Garrad hielt sein durchweichtes Telegramm in die Höhe als Beweis dafür, daß Thomas ihm eine Dienstleistung vorenthalten hatte. »Ja-a?« Der Stationsvorsteher versuchte, unschuldig zu wirken, eine Taktik, mit der die Waliser seit Urzeiten scheitern. »Aber Sie haben mir gesagt«, Garrad wurde leidenschaftlicher, »es gäbe keine Personenzüge …« »Die nach Osten gehen«, ergänzte Thomas und brachte Garrad damit völlig aus dem Konzept. »Nach Osten?« »Ja, es gibt keine Personenzüge in östlicher Richtung. Ich wußte ja nicht, daß Sie nordwärts nach Pontypridd wollten.« Garrad zählte langsam bis zehn. »Guter Mann, woraus haben Sie denn geschlossen, daß ich nach Osten wollte?« Thomas schenkte ihm ein breites Lächeln. »Weil Sie Engländer sind und England im Osten liegt.« Einen Moment lang erwartete Anson, Garrad würde über den Schalter greifen und Thomas dem Zug kurzerhand den Kopf abreißen. Statt dessen drehte er sich zu Anson um. »Anson!« Wieder übernahm dieser die Rolle des Vermittlers. »Wir möchten zwei Fahrkarten Erster Klasse … « Garrad warf ihm einen flammenden Blick zu. 220
Anson schraubte ihre Ansprüche herunter. »… zwei Fahrkarten Zweiter Klasse nach Pontypridd.« »Das liegt nördlich von hier!« fügte Garrad hämisch hinzu. Thomas lächelte freundlich. »Es tut mir furchtbar leid. Gestern hätten Sie fahren können, aber heute geht es nicht.« »Ach ja?« fragte Anson. »Und warum nicht?« Die Pfütze auf dem Boden sandte Thomas eine göttliche Erleuchtung. »Die Gleise sind überflutet.« »Überflutet?« Thomas lächelte noch immer. »Leider ja. Schreckliche Überflutungen bei diesem Regen.« Als sich Anson und Garrad zurück zum Pub schleppten, rumpelte ein Kohlenzug unüberhörbar durchs Dorf. *** Im Pub wurde Morgan soeben von Evans dem Weltende belästigt. »Du und dieser Priester, ihr habt einen Fluch über das Dorf gebracht«, behauptete Evans. »Jetzt red keinen Quatsch«, gab Morgan zurück. »Du klingst schon fast so blöd wie Thomas Twp.« »Du wirst noch an meine Worte denken«, beharrte Evans. »Dieser Hügel kündigt die zweite Sintflut an.« »Ach, vorher hatten wir wohl noch nie ein Unwetter mit Sturm und Regen?« »Keines wie dieses«, weissagte Evans bedeutungsvoll. »Nimm dich in acht: Wir sind verflucht.« Vom Fenster aus entdeckte Morgan Blod, die gerade 221
vorbeiging. Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. »Ich wünschte, die Sache wäre so einfach«, seufzte Morgan und fragte sich, ob er das Innere von Blods Haus – vor allem ihr Bett – jemals wiedersehen würde. Leider rissen ihn Anson und Garrad bei ihrem Eintreten aus seinen lüsternen Tagträumen. Anson wirkte ausgeglichen wie immer, doch Garrad sah ziemlich gequält aus. Beide waren sehr, sehr naß. »Gentlemen«, sagte Morgan schwungvoll, »Erfolg gehabt?« Garrad zuckte zusammen und warf Morgan eine Erwiderung im Telegrammstil hin. »Überflutung!« In seiner Stimme lag etwas, das stark an die Prophezeiungen von Evans dem Weltende erinnerte. Auch Garrads Antwort klang wie die Verkündung der Apokalypse. »Ja«, führte Anson die Unterhaltung in deutlich leichterem Ton fort, »und das ist ganz bemerkenswert, denn man scheint nur die Personenzüge gestrichen zu haben. Die Kohlenzüge fahren noch.« Er warf Morgan einen Blick zu, der besagte: Jetzt versuch mal, dich da herauszuwinden. Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. »Verschiedene Gleise«, improvisierte dieser. »Sehen Sie, George!« lächelte Anson. »Ich habe Ihnen doch gesagt, es gibt eine einfache Erklärung. Die Züge fahren auf verschiedenen Gleisen, und daher …« Garrad fiel ihm barsch ins Wort. »Halten Sie den Mund!« Morgan und Evans sahen sich bedeutungsvoll an. Dieser Ton war neu. Zum ersten Mal hatten sich die Engländer in der Öffentlichkeit gestritten. Der Spalt zwischen ihnen schien sich zu vergrößern, was Morgan ungeheuer 222
befriedigte. Garrad lehnte sich schwer gegen die Theke. Der arme Mann sah aus, als sei er dem Zusammenbruch nahe. »Ich glaube, ich ziehe mich für eine Stunde zurück. Ich muß diese nassen Sachen loswerden und mich ein bißchen hinlegen.« »Natürlich«, sagte Morgan verständnisvoll, »wir wollen ja nicht, daß Sie sich den Tod holen.« »Bringen Sie bitte zusätzliche Decken auf mein Zimmer und eine Flasche Pink Gin«, bat Garrad. »Wie Sie wünschen, Sir. Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Eine Stunde später klopfte es an Bettys Tür. »Wer ist da?« fragte sie. »Ich bin’s.« Morgan trat ein. »Habe ich dir gestattet hereinzukommen?« fragte Betty. »Nein, aber ich dachte, das würde dich interessieren.« Morgan gab ihr ein versiegeltes Telegramm. »Danke.« Sie las es durch. »Gute oder schlechte Nachrichten?« fragte Morgan, der den Inhalt nur zu genau kannte, weil er ihn selbst verfaßt hatte. »Das geht dich, ehrlich gesagt, überhaupt nichts an«, erwiderte Betty. Wie man sich doch irren kann … *** Der Regen setzte Donnerstagnacht ein, und es regnete den gesamten Freitagmorgen. Und es regnete den ganzen Freitagnachmittag. Und die ganze Nacht. 223
Am Samstagmorgen wurde das Hunderennen abgesagt, am Samstagnachmittag auch das Rugbytraining. Innerhalb weniger Tage versank das Dorf von Ffynnon Garw im üblichen Winterschlamm. Die Straßen verwandelten sich in Matsch, die Gärten färbten sich gelb. An den Innenwänden der Häuser tauchte schon jetzt der Schimmel auf, der sich sonst erst im August zeigte. An den Decken der Zimmer erschienen feuchte Flecken. Der kleine Fluß war zu einem reißenden Strom geworden, und man befürchtete, die Kleingärten könnten überschwemmt werden. Küchen und Geschäfte im Dorf waren von abergläubischem Gerede erfüllt. Mehr und mehr Dorfbewohner zweifelten an der Rechtmäßigkeit ihres Unternehmens. Sie als Leser werden vielleicht lachen, aber man darf nicht vergessen, daß diese Menschen mit der Bibel aufgewachsen waren. Viele von ihnen hatten mit dem Alten Testament lesen gelernt und waren durchdrungen von der Mythologie eines zornigen Gottes. Manche verglichen ihr Tun mit dem Turmbau zu Babel. Hatte Gott nicht jene verflucht, die ein Bauwerk errichten wollten, das sie dem Himmel näher bringen sollte? Andere betrachteten den Hügel als Ergebnis heidnischer Bestrebungen, als ein Götzenbild. Reverend Jones wurde ständig mit bangen Fragen konfrontiert. Er tat zwar sein Bestes, um die Leute zu beschwichtigen, doch ihm war bewußt, daß man an die Grundängste der Menschen gerührt hatte. Während das Argument, diese Regenflut sei ungewöhnlich, kaum zu halten war – Reverend Jones wies auf frühere Regenkatastrophen hin –, sahen doch viele in dem Schicksal, das Johnny und Williams ereilt hatte, eine göttliche Warnung. Der Herr sandte den Regen, um den 224
Hügel wegzuwaschen, und bedrohte Johnny und Williams mit Blitzen, um sie für ihren kühnen Rettungsversuch zu strafen. Das war natürlich Unsinn, aber ein machtvoller Unsinn, den die sehr realen Blitze, die aus einem tobenden Himmel schossen, noch verstärkten. Anders als Reverend Jones hatte Morgan wenig Zeit, sich um Aberglauben zu scheren. Für ihn hatte der Regen seine guten und schlechten Seiten. Sicher hatte er ihre Arbeit aufgehalten, doch er half auch dabei, die Engländer an der Flucht aus dem Dorf zu hindern. Garrad verkroch sich immer häufiger in seinem Zimmer. Anson verbrachte – zu Morgans großer Überraschung – immer mehr Zeit mit Betty. Morgan wußte nicht so recht, was er davon halten sollte. Einerseits war er verärgert, da ihn nun beide Frauen – sowohl Betty als auch Blod – völlig ignorierten. Andererseits hatte er Betty zu eben diesem Zweck herbestellt. Schließlich sollte sie die Engländer um den Finger wickeln, während Morgan sie als Geiseln festhielt. Nach seiner Strategie sollte Betty wie wild mit Garrad flirten. Er hatte gehofft, ihre Schönheit würde das Gehirn des alten Säufers noch mehr verwirren. Daß sie ihren Zauber statt dessen auf Anson wirken lassen könnte, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Er bezweifelte inzwischen, daß sie sich überhaupt noch an ihre Abmachung hielt. Sie weigerte sich, darüber zu sprechen. Wann immer Morgan sie darauf ansprach, stieß sie ihn mit einem kräftigen »Verpiß dich« zur Seite. Diesen Ausdruck hatte sie anscheinend von Blod übernommen. Wenn Betty Morgan schon in Erstaunen versetzte, übertraf Anson sie darin bei weitem. In ihrer Gegenwart wirkte er wie ein Schuljunge, der abwechselnd errötete und ein schüchternes Lächeln wagte. Dies war genau die Art von Benehmen, die Morgan bei Männern zutiefst 225
verabscheute. Konnte man Betty damit etwa beeindrucken? Wohl kaum. Doch die beiden schlichen ständig umeinander herum. Am Donnerstag hatten sie den ganzen Nachmittag mit der Reinigung von Ansons Ausrüstung zugebracht. Abends war Morgan in der Küche auf sie gestoßen. Betty putzte Gemüse, Anson rupfte ein Huhn. Sie schienen nicht miteinander zu sprechen, arbeiteten sogar in entgegengesetzten Ecken des Raumes, doch ihr Schweigen beunruhigte Morgan. Eine schweigsame Frau verhieß nach seiner Erfahrung immer Schwierigkeiten. Noch schlimmer war, daß alle drei Morgan die Haare vom Kopf fraßen. Er war nicht an Gäste gewöhnt, die mehrere gute Mahlzeiten am Tag verlangten. Wann immer er sie entdeckte, saßen sie über einem wahren Festmahl. Garrad arbeitete sich durch die Speckseite, während Betty und Anson sich der Hühner und Enten annahmen. Am Freitag unternahmen die beiden einen Spaziergang im Regen zum angeschwollenen Fluß. Sie mußten wirklich den Verstand verloren haben. Wer um Himmels willen würde bei dieser Sintflut ohne triftigen Grund das Haus verlassen? Engländer taten vielleicht solche verrückten Dinge, aber Betty? Langsam beschlichen Morgan gewisse Zweifel: Entweder war sie keine Waliserin, oder er kannte sie überhaupt nicht. An diesem Abend saßen Betty und Anson zusammen am Kamin, lasen und wirkten wie ein älteres Ehepaar, das mit sich und der Welt im reinen ist. Zumindest kam es Morgan so vor. Am Samstag traf ein ausführliches Telegramm aus London ein. Jones von der Post nahm es schweren Herzens entgegen. Es war so umfangreich, geschäftsmäßig und wichtig, daß er es Morgan auf keinen Fall zeigen durfte. Dieses würde er nicht unterschlagen. Jones konnte 226
die Zustellung nicht vor sich herschieben und machte sich auf den Weg zum Pub. Als er eintrat, stand Morgan hinter der Theke, Garrad saß davor. »Ein Telegramm für Mr. Garrad«, sagte Jones laut und bemerkte, wie Morgan vor Schreck einen Schwall Bier über sein Hemd kippte. »Jones?« fragte Morgan. »Du hast gehört, was ich gesagt habe.« Jones hatte seine Pflicht erfüllt, drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus. »Verräter!« zischte ihm Morgan auf walisisch hinterher. Das Telegramm enthielt eine Anweisung. Beigefügt war eine Zugfahrkarte, ausgestellt von der Landesaufnahme Seiner Majestät. Anson und Garrad sollten einen Zug nehmen, »der in Ffynnon Garw um 8.00 am Montagmorgen abfährt.« Der Ton war autoritär. Im Postamt angekommen, ließ sich Jones erschöpft auf seinen Stuhl fallen. »Hast du es überbracht?« fragte seine Frau. Er nickte, und zu seiner Überraschung umarmte sie ihn. »Es hat schon lange genug gedauert. Wir können wegen Morgan nicht auch noch das Gesetz brechen. Ich bin stolz auf dich.« Jones lächelte, doch es wirkte gezwungen. Er mußte seiner Frau alles erzählen. Die Lüge lastete zu sehr auf seinem Gewissen. »Aber ich habe schon etwas Schreckliches getan«, sagte er. Die Geschichte mit Bettys Telegramm sprudelte nur so aus ihm heraus. Mrs. Jones hörte mit verschränkten Armen und verkniffenem Gesicht zu. Wie die meisten Frauen im Dorf hatte sie wenig übrig für Betty aus Cardiff. In ihren Augen 227
war sie eine aufgetakelte Hure. Höchstwahrscheinlich polsterte sie ihre Brust aus, färbte sich die Haare und schnürte ihre Taille ein. Doch das alles änderte nichts an der Tatsache, daß Morgan eine Geschlechtsgenossin betrog. »Und was stand in dem ursprünglichen Telegramm?« fragte Mrs. Jones. Er erzählte es ihr. Sekunden später marschierte Mrs. Jones von der Post ohne Mantel durch den Regen. Das Pub war am Abend gut besucht. Normalerweise setzte keine Frau außer Betty einen Fuß in dieses Etablissement. Die Tür flog auf, und Mrs. Jones segelte herein. »Betty aus Cardiff?« fragte sie. Betty saß mit Anson in der kleineren Bar am Feuer. »Ja, bitte?« Mrs. Jones warf Morgan einen schrägen Blick zu. »Ich habe ein Telegramm für Sie«, verkündete sie laut und deutlich. »Es ersetzt alle vorherigen Telegramme.« Mit diesen Worten übergab sie Betty eine Abschrift des ersten Telegramms und verließ das Pub. Morgan schnappte nach Luft wie ein Goldfisch auf dem Trockenen. Nun hatte Betty doch noch die Wahrheit erfahren und würde am Sonntag abreisen müssen. Die Telegramme änderten alles. Plötzlich konnten sich Anson und Betty nicht mehr in die Augen sehen. Morgan ließ die beiden schon länger links liegen. Sein Auge und sein Verstand konzentrierten sich jetzt auf das Hauptproblem: das dreimal verfluchte Wetter. Morgans erster Blick nach dem Aufstehen galt dem wolkenverhangenen Himmel. Vor dem Schlafengehen stand er im Hof, wo er zu den Wolken hinaufstarrte und 228
versuchte, sie mit reiner Willenskraft verschwinden zu lassen. Den ganzen Tag lauschte er dem unaufhörlichen Trommeln der Tropfen. Sobald er eine Veränderung bemerkte, rannte er hinaus, um zu sehen, ob der Regen aufgehört hatte. Hätte die Sache noch länger gedauert, wäre er wohl als Morgan der Regenwächter in die Annalen von Ffynnon Garw eingegangen. Natürlich hatte es schon früher solche Regenperioden gegeben. Auch in Zukunft würde man so etwas mit schöner Regelmäßigkeit wieder erleben. Doch ebenso wie das Wasser in einem Kessel nicht kocht, wenn man es beobachtet, hört auch Regen nicht auf, wenn man darauf wartet. *** Betty befand sich in einem Dilemma. Sie hatte sich gegen ihren Willen und zu ihrer großen Überraschung in Anson verliebt. Das richtige Telegramm, das sie aus den Händen von Mrs. Jones von der Post empfangen hatte, war in scharfem Ton gehalten und kam ohne Umschweife zur Sache: Rückkehr am Sonntag oder arbeitslos am Montag. Anson und Garrad würden jedoch bis Montag hierbleiben. Konnte der eine Tag einen solchen Unterschied machen? Was ihre Stelle betraf schon, aber wie sah es mit ihrer Beziehung zu Anson aus? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, mußte sie einen Fluchtplan schmieden. Es war sinnlos, Morgan zu fragen, und die meisten seiner Geschlechtsgenossen würden ihr auch nicht helfen. Unter den Frauen des Dorfes war Betty nicht allzu beliebt, so daß sie einfach das nächstbeste Kind auf der Straße ansprechen mußte. 229
»Wo wohnt Tommy der Zweitakter?« fragte sie. Ethel Davies führte sie durch die Gasse zu Tommys Haus. Es war Abend. Elsie stand in der Küche und kochte Windeln aus. »Komm herein, Liebes!« rief sie im Glauben, es wäre ihre Schwester. Als sie Betty erblickte, zog sie ein langes Gesicht. »Tut mir leid, wenn ich Sie störe«, entschuldigte sich Betty, »aber ich muß dringend mit Tommy sprechen.« »Sie haben ihn leider verpaßt«, erwiderte Elsie ohne die geringste Spur von Bedauern. »Er ist gerade zur Arbeit gegangen – hat Nachtschicht.« »Er muß mich am Sonntag nach Cardiff zurückbringen«, sagte Betty. »Was Sie nicht sagen«, entgegnete Elsie mehr als kühl. »Es ist wichtig. Ich bezahle auch dafür.« »Wir wollen Ihr Geld nicht.« Elsies Blick deutete unumwunden an, wie dieses Geld ihrer Meinung nach verdient worden war. »Außerdem ist es sein einziger freier Tag. Nach der Wahnsinnsfahrt nach Cardiff am Donnerstag war er zu nichts mehr zu gebrauchen. Hat seinen ganzen Nachtschlaf versäumt – durch Ihre Schuld.« »Es war nicht meine Schuld«, beteuerte Betty. »Ich wollte gar nicht herkommen. Dieser verdammte Morgan hat mich übers Ohr gehauen! Der verfluchte Mistkerl!« Plötzlich wurde ihr klar, daß sie in Elsies Gegenwart zweimal geflucht hatte. »Bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise«, sagte Betty bedauernd. Elsie hatte dieser Frau, die sie mehr vom Hörensagen als durch eigene Erfahrung kannte, stets mißtraut. In ihrer Vorstellung war Betty sehr schick und voller Allüren. 230
Aber anscheinend sprach sie genau wie jede andere Frau im Dorf. Und wie jede andere Frau im Dorf ließ auch sie kein gutes Haar an Morgan. Diese Gemeinsamkeit stimmte Elsie milde. »Möchten Sie eine Tasse Tee?« fragte Elsie. Auf einmal war sie nur zu bereit, einem verwandten Geist in der Not zu helfen. Nach diesem Besuch war Betty verwirrter als je zuvor. Elsie hatte ihr versprochen, daß Tommy sie zurückfahren würde. So weit, so gut. Doch nun, da sie einen Ausweg gefunden hatte, geriet sie in Panik. Wie stand es mit ihrer letzten Chance bei Anson? Was war mit ihrer Beziehung? Sie rief sich zur Ordnung – mit welcher Beziehung denn? Anson umwarb sie nicht. Sie waren nichts als zwei Menschen, die dank Morgan einige Tage miteinander verbringen mußten. Sicher hatte Betty Anson im Durcheinander des ersten Abends geküßt, doch es war nicht wieder geschehen, und er hatte auch den Kuß nicht erwidert. Zwar wirkte er sehr glücklich in ihrer Gesellschaft, er begann aber nie von selbst eine Unterhaltung und schlug auch nicht vor, etwas zu unternehmen oder irgendwo hinzugehen. Immer mußte sie die Initiative ergreifen. Was er wirklich für sie empfand, wußte sie nicht. Er war mitgegangen, als sie einen Spaziergang vorgeschlagen hatte. Er half ihr beim Kochen. Er war immer in ihrer Nähe und umflatterte sie wie ein aufgescheuchter Vogel. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich mit ihr zu unterhalten, doch er schien ihre Gesellschaft zu schätzen. Sie wußte einfach nicht, was sie von alldem halten sollte. Ihr kam ein Gespräch vom vergangenen Nachmittag in den Sinn. Sie hatten in einem Zimmer gesessen und gelesen. Als sie aufschaute, bemerkte sie, daß Anson sie beobachtete. Schnell wandte er seine Augen wieder dem 231
Buch zu. »Fühlen Sie sich jemals einsam?« fragte sie. »Einsam? Kann schon sein. Fühlt sich nicht jeder Mensch ab und zu einsam? Ich meine, ist es nicht ganz natürlich und normal, sich von Zeit zu Zeit einsam zu fühlen?« »Mag sein«, gab Betty zurück. »Ich denke nicht besonders viel darüber nach«, ergänzte Anson. Das war eine Lüge. Während des Krieges hatte er sich überaus einsam gefühlt. So viele seiner Freunde waren gefallen, daß er sich kaum an ihre Gesichter und ihre Namen erinnern konnte. Man hatte ihn sehr schnell zum Offizier befördert, und die damit verbundene Verantwortung isolierte ihn von seinen Kameraden. Als er aus dem Lazarett entlassen wurde, fand er sich in einer fremden Welt wieder: Die Menschen in London hatten sich im Gegensatz zu ihm anscheinend nicht verändert. Sie gingen noch immer in ihre Clubs, zum Essen, ins Ballett, in die Oper. Das Leben verlief in seinen gewohnten Bahnen, als gäbe es überhaupt keinen Krieg. Sicher, die Menschen hatten so getan, als wären sie beeindruckt, und ihm zu seinem »Heldentum« gratuliert, doch er fühlte sich in dieser Welt wie ein Fremdkörper. Erst in dieser letzten Woche in Wales, in dieser herrlichen Landschaft voll arbeitender Menschen – und in Gesellschaft dieser jungen Frau – hatte er langsam seinen starren Kokon aufgebrochen. Wie konnte er die Frage nach seiner Einsamkeit auf die Schnelle beantworten? Da er den Eindruck hatte, daß Betty sie eher beiläufig gestellt hatte, war es am besten, sich mit einer kleinen Lüge aus der Schlinge zu ziehen. Betty konnte von seinen Erlebnissen und Empfindungen 232
nichts wissen und bemerkte nur, daß er nicht ebenfalls gefragt hatte, ob sie sich jemals einsam fühle. Wohin hätte wohl die Antwort auf diese Frage geführt? Am Samstagabend warf sich Betty unruhig im Bett herum und ließ die vergangenen Tage wieder und wieder an sich vorüberziehen. Dann erlaubte sie sich die gefährliche und schmerzhafte Spekulation: Und wenn er sie nun mochte? Wenn er in sie verliebt war? Würde ein Mann wie Anson eine Betty aus Cardiff heiraten? Würde ein Mann wie Anson Betty mit in seine Heimat nehmen, in sein durch und durch englisches Leben? Würde ein Mann wie Anson ihr zuliebe in einem Ort wie Ffynnon Garw bleiben? Ihr wurde schwer ums Herz. Das Ganze war vollkommen unrealistisch. Er zeigte wahrscheinlich nur seine guten Manieren. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ergab sein Benehmen durchaus einen Sinn. Vermutlich spielte es keine Rolle, ob er sie mochte oder nicht, da sie nicht seiner Klasse angehörte und daher für ihn als Frau nicht in Betracht kam. Er war charmant und höflich zu ihr, weil seine Herkunft und Erziehung es ihn so gelehrt hatten. Das war alles. Sie war dazu bestimmt, weiter als Dienstmädchen in Assam House zu arbeiten. Sie verglich ihr Leben mit dem anderer Frauen, die sie kannte. Eigentlich konnte sie sich glücklich schätzen, eine solche Stelle zu haben. Ja, sagte sie zu sich selbst, ich werde ohne Wenn und Aber am Sonntagmorgen nach Hause fahren. *** Es regnete und regnete und regnete und regnete. Und am Sonntagmorgen, als niemand mehr an ein Ende des Regens glauben mochte, geschahen zwei Wunder: Der 233
Regen hörte auf, und Morgan der Ziegenbock führte ein Gespräch mit Reverend Jones. Entschlossenen Schrittes ging Morgan in Richtung Kirche. Dabei probte er im Geiste eine äußerst beredte Ansprache. Als er sich jedoch dem ehrfurchtgebietenden, stolzen grauen Bauwerk näherte, verschwand die Entschlossenheit aus seinem Herzen und die Ansprache aus seinem Kopf. Er blieb eine Minute vor dem Portal stehen, faßte seinen ganzen Mut zusammen und klopfte an. Reverend Jones, der gerade den Vorraum der Kirche aufräumte, öffnete umgehend die Tür und stand seinem alten Gegenspieler von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Oh!« Morgan zeigte sich überrascht. »Reverend Jones!« Der Priester betrachtete ihn prüfend. »Morgan …« Seine Stimme klang spröde. »Es hat aufgehört zu regnen«, sagte Morgan. Reverend Jones schaute nach oben in den klaren, blauen Himmel. »Dessen bin ich mir durchaus bewußt.« »Heute fahren keine Züge«, fuhr Morgan fort. »Ja, am Tag des Herrn fahren keine Züge«, pflichtete ihm der Reverend etwas überrascht bei. Morgan riß sich zusammen. »Sehen Sie, ich will damit sagen, daß wir heute unsere letzte Chance haben, den Berg aufzuschütten. Aber weil Sonntag ist, gehen natürlich alle in die Kirche …« Vor dem zornigen Blick des Reverend versagte ihm die Stimme. »Die Messe beginnt wie immer um zehn Uhr dreißig, Mr. Morgan.« 234
Dieser verdammte Reverend! Verstand er denn nicht, worum es ging? Morgan verlegte sich aufs Bitten. »Niemand wird ohne Ihren Segen am Sonntag arbeiten. Morgen nehmen die Engländer den ersten Zug, und wir haben unsere Chance vertan.« Bevor ihn der Reverend unterbrechen konnte, sprach er weiter. »Ich kann sie nicht länger hier festhalten. Sie haben Telegramme und Fahrkarten von ihrer Hauptverwaltung bekommen, verstehen Sie das nicht, Mann? Die Devise ist: heute oder nie!« Reverend Jones atmete langsam durch die Nase ein und sah Morgan durchdringend in die Augen. Morgan zwinkerte. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Endlich atmete der Reverend aus und verkündete mit Stentorstimme: »Die Messe beginnt um zehn Uhr dreißig, Mr. Morgan«, er wurde lauter, »und es würde den Herrn sehr glücklich machen, wenn Sie einmal dabei wären!« Mit diesen Worten schlug er Morgan die Tür vor der Nase zu. Was zur Hölle hatte das zu bedeuten? Morgan wandte sich langsam zum Gehen und schlich zum Pub zurück wie ein ungezogener Schuljunge, der gerade eine Tracht Prügel bezogen hat. *** Betty beschnitt im Garten die Blumen, doch ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie hatte weder Morgan noch Anson davon erzählt, daß Tommy sie nach der Messe abholen wollte, und ihre Sachen gleich zweimal ein- und wieder ausgepackt. Sie gab sich der Vorstellung hin, Anson wäre ein junger Waliser, der ihrer eigenen Gesellschaftsschicht angehörte. 235
Könnte sie ihm dann sagen, daß sie ihn gern hatte? Auf diese Frage gab es wohl keine Antwort. Erstens hatte Betty noch niemals für einen jungen Waliser solche Gefühle gehegt, und zweitens zeigten junge Waliser, die sie gern hatten, ihr das meistens auf eine sehr deutliche Art. Als sie beispielsweise Morgan begegnet war, hatte es sie von den Füßen gefegt. Es geschah bei einem Einkaufsbummel am Markttag in Cardiff. Mit seinem anzüglichen Grinsen war Morgan direkt vor ihr aufgetaucht und hatte gesagt, ohne sich auch nur vorzustellen: »Mann, sind Sie schön!« Er war grob und geradeheraus, doch seine außergewöhnliche Vitalität und Begeisterungsfähigkeit hatten ihr sofort gefallen. Wenn Morgan etwas wollte, bekam er es auch. Meistens brauchte er dafür keinen Finger krumm zu machen. Dieser Mann war in ihren Augen das reinste Wunder. Bei Morgan gab es weder unklare Situationen noch schmeichelndes Werben. Doch wie umwarben Männer aus der englischen Mittelklasse die Frauen? Betty hatte Engländer beobachtet, die in Assam House zu Besuch waren und zu Bettys größter Überraschung plötzlich ihre Verlobung bekanntgaben. Zwischen den jungen Paaren schien es kaum zu knistern, die Ehen wirkten beinahe arrangiert. Sie hatte eine »Herzensaffäre«, die nur aus Briefen und kleinen Geschenken zu bestehen schien, genau verfolgt. Es kam ihr äußerst langweilig vor. Betty hatte sich Anson erfolglos in die Arme geworfen. Sollte sie ihm überhaupt sagen, daß sie abfuhr, oder einfach wie eine Gestalt aus einem Groschenroman auf mysteriöse Weise verschwinden? 236
Gelangweilt schnippelte sie an einer Blume herum. Dann hörte sie Schritte und drehte sich um. Anson stand lächelnd hinter ihr und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, als wäre die nasse Wiese heißer Wüstensand. »Guten Morgen«, sagte er schüchtern. »Ja.« Betty erwiderte eifrig sein Lächeln. »Es ist wirklich ein schöner Morgen.« Sie schauten zum blauen Himmel hinauf, an dem gerade die letzten Wolken entschwebten. Anson suchte nach einem Weg, mit ihr ins Gespräch zu kommen, und deutete auf die Blumen. »Sie sind sehr hübsch«, bemerkte er überflüssigerweise. Gott, warum war er nur so gehemmt in ihrer Gegenwart! Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Betty grinste. Was für eine blöde Bemerkung. »Ja, das sind sie. Aber nicht so hübsch wie ich.« Sie schaute ihm direkt in die Augen und bot ihm eine Chance. »Das war eigentlich Ihr Text.« Anson schluckte und wurde purpurrot wie die Rose, die Betty soeben gepflückt hatte. »Nun …« setzte er an. Doch Morgan stürmte aus dem Pub und schnitt ihm das Wort ab. »Betty!« brüllte Morgan und stolperte im selben Moment über einen Eimer. »Was ist denn?« fragte sie ungeduldig. Typisch, daß der Trampel von Morgan genau in diesem Augenblick auftauchte. »Hast du mich nicht gehört? Ich brauche ein sauberes Hemd!« »Sieh mich gefälligst nicht so an!« sagte Betty heftig. »Ich bin nicht deine Haushälterin.« »Aber ich muß eins haben, und zwar auf der Stelle!« »Dann mußt du dir eins leihen«, versetzte Betty und 237
hoffte, ihn damit loszuwerden. Morgan rührte sich nicht vom Fleck und wandte sich an Anson. »Ich würde Ihnen eines leihen«, sagte Anson. »Aber das Hemd, das ich trage, ist das einzige saubere.« Morgan schnaubte, sah Betty an und dann wieder Anson. »Wirklich.« Anson fühlte sich unter Druck gesetzt. »Es ist tatsächlich das einzige saubere Hemd, das ich noch habe.« *** Reverend Jones saß in der Sakristei und rang mit seinem Gewissen. Er hörte, wie sich die Gemeinde nebenan versammelte, doch in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Aus hundert Predigten konnte er Anregungen entnehmen, ebenso aus seiner jahrelangen Erfahrung als Priester. Er war in der Lage, die Bibel an einer beliebigen Stelle aufzuschlagen und zwanzig Minuten oder länger über einen Vers auf dieser Seite zu predigen. Aber … Als er an seinem Schreibtisch in der Sakristei saß und aus dem Fenster schaute, konnte er oben auf dem Gipfel von Ffynnon Garw den kleinen Hügel erkennen, den sie alle dort aufgeschüttet hatten. Leider wußte er nur zu gut, daß Morgan recht hatte und die Engländer morgen nach Hause fahren würden. Doch wie Morgan selbst gesagt hatte, war der Sonntag ein Tag der Ruhe. An diesem Tag wurden in Ffynnon Garw keine Geschäfte gemacht, wie auch im ganzen Rest von Wales. Die Läden blieben ebenso wie die Pubs geschlossen. Selbst die Kohlengruben lagen am Sonntag still. Familien mit Kindern gingen morgens und abends in die Kirche. Die Kinder kamen auch am Nachmittag, um die Sonntagsschule zu besuchen. 238
Es war einfach ein Tag des Friedens, für das gemeinsame Gebet, das gemeinsame Essen, Gespräche und Entspannung. Wie konnten sie gegen diesen feierlichen Brauch verstoßen und am Sonntag einen Berg bauen? Der Reverend stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatten versagt. Ihr Berg würde ein Hügel bleiben, das aufgeschüttete Hügelchen eine ewige Erinnerung an ihre Torheit. Man würde sie von der Landkarte löschen, und alle Arbeit und Mühe wäre umsonst gewesen. War dies ein Thema für eine Predigt? Wie sollte er den Menschen helfen, mit ihrer Niederlage fertigzuwerden? Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst er konnte keine positiven Seiten erkennen. Er sah unverwandt auf den Berg, schloß dann die Augen und betete um eine göttliche Eingebung. Ansons einziges frisches Hemd spannte so stark, daß Morgans Bauch zwischen den Knöpfen hervorschaute. Der Kragen ließ sich nicht schließen und wurde nur von der schlecht gebundenen Krawatte zusammengehalten. Dieses Hemd war das I-Tüpfelchen auf Morgans Anzug, den er zuletzt vor Kriegsausbruch getragen hatte und in dem er nun wie die Wurst in der Pelle steckte. Trotzdem kam diese Kombination der Sonntagskleidung der Dorfbewohner beim Kirchgang ziemlich nahe. Morgan eilte zur Messe und hielt zum zweiten Mal an diesem Tag vor der Kirchentür inne. Eigentlich wollte er gar nicht hineingehen. Eigentlich? Absolut nicht! Seit er ein Junge gewesen war, hatte er keine Kirche mehr von innen gesehen und fragte sich, warum er ausgerechnet jetzt von einem Prinzip abweichen sollte, das so tief in ihm verwurzelt war. Zudem wußte er, daß Reverend Jones ihn häufig in den Mittelpunkt seiner 239
Predigten stellte. Sich dieser ganzen Zeremonie auszuliefern, kam ihm vor, als lege er freiwillig seinen Kopf auf den Richtblock. Würde der Reverend von der Kanzel steigen und ihn im Höllenfeuer rösten? Seine Predigten konnten sich zu ungeahnten Höhen aufschwingen – und in tiefste Tiefen hinabsteigen. Vielleicht sollte er sich hineinschleichen und nach ganz hinten setzen … Er griff nach dem Türknauf, schaffte aber den Schritt über die Schwelle nicht. Die versammelte Gemeinde in der Kirche wurde langsam unruhig. Der Reverend war ungewöhnlich spät dran. Alle Augen blickten erwartungsvoll auf die Tür zur Sakristei. Viele fragten sich, worüber Jones heute predigen würde. Schließlich hatte er sie auf den Berg geführt oder, wie manche inzwischen sagten, aufs Glatteis. Die Versammlung im Gemeindesaal war seine Idee gewesen. Er hatte sie dazu angetrieben, die ganze Erde auf den Berg zu schleppen. In der Sakristei spürte der Reverend ihre Unruhe nur zu gut. Das wachsende Gemurmel störte seine Versuche eines stillen Zwiegesprächs mit Gott. Wütend öffnete er die Augen und schaute wieder zum Berg hinaus, bevor er die Bibel willkürlich aufschlug. Er hatte die Heilige Schrift bei den Psalmen, genau bei Psalm neunundneunzig geöffnet. Die Morgensonne fiel auf das Papier und erleuchtete Vers neun. Reverend Jones überflog kurz die Worte: »Erhebet den Herrn, unsern Gott, und betet auf seinem heiligen Hügel.« Und betet auf seinem heiligen Hügel!
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Heiliger Hügel! In seinem Kopf drehte sich alles. Das mußte eine Botschaft sein, doch was wollte sie ihm sagen? Da war dieses schreckliche Wort: Hügel … Wollte der Herr ihm mitteilen, daß sie sich mit ihrem Hügel zufriedengeben sollten? Wie betete man auf einem Hügel? Der Reverend ergriff das Buch der Bücher und ging festen Schrittes in die Kirche. Das waren Fragen, über die sich predigen ließ, die er bei der Predigt diskutieren konnte. Es gab zwar noch keine Antworten, aber er spürte, daß Gott auf seiner Seite stand, durch ihn sprach und seine göttliche Inspiration beim Predigen über ihn kommen würde. Für ihn und die anderen Priester seiner Generation war dies das eigentliche Wesen der Predigt. Sicher hatten sie ihre vorbereiteten Texte, doch die wirkliche Bedeutung lag darin, auf die Kanzel zu steigen und sich in Gottes Hände zu begeben, sich seinen Eingebungen zu öffnen. Geschah dies, erlangte ein Prediger Autorität, Überzeugungskraft, Stärke und vollbrachte eine außerordentliche Leistung. Die Waliser besitzen ein Wort dafür, das sich nicht übersetzen läßt. Sie nennen es Hwyl. Das Hwyl kann den zynischsten Zuhörern die Tränen in die Augen treiben, die Härtesten zum Lächeln bringen und die Kältesten erwärmen. Das Hwyl macht die Gläubigen aufspringen und gemeinsam ein Lied anstimmen. Reverend Jones schritt zur Kanzel mit dem festen Wissen, daß heute das Hwyl über ihn kommen würde. Der Organist intonierte die Einzugshymne, die Gemeinde erhob sich. Beim Klang der Orgel wußte Morgan, daß er sich nun entscheiden mußte. Jetzt oder nie! Er holte tief Luft, zupfte an seinem Jackett, trat die Zigarette auf dem Boden aus und hechtete mit gefalteten Händen in die Kirche. Die Gemeinde hielt die Gesangbücher bereit, und Reverend Jones bestieg gerade die Kanzel, als Morgan wie 241
eine Kanonenkugel durch die Tür schoß. Alle Blicke wanderten zu ihm, während er nach einem unauffälligen Platz in der Nähe der Tür suchte. Es gab keinen, die Kirche war zum Bersten voll. Am Ende einer Reihe entdeckte er einen freien Platz, eilte hinüber – und fand sich direkt neben Blod wieder. Sie schubste ihn mit einem kräftigen Schwung aus der Bank. »Glaub ja nicht, daß du dich neben mich setzen kannst!« zischte sie. Die ganze Gemeinde und Reverend Jones beobachteten schweigend, wie Morgan auf der Suche nach einem freien Platz immer weiter nach vorn durch die Kirche tappte. Schließlich fand er einen Platz in der dritten Reihe, ließ sich hineinfallen und wünschte sich, vom Erdboden zu verschwinden. Die Leute richteten die Aufmerksamkeit wieder auf den Reverend und erwarteten, daß er die erste Hymne anstimmen würde, doch zu ihrem Erstaunen änderte er die Abfolge und bedeutete ihnen, sich zu setzen. »Heute gibt es keine Morgenhymne.« Wieder wandten sich alle Augen Morgan zu, der den Gottesdienst gestört hatte. Jetzt mußte die Strafpredigt über den Sünder aller Sünder kommen, den großen Abtrünnigen, der es wagte, sein Gesicht im Hause Gottes zu zeigen. Der Reverend schwieg, bis die Gemeinde ihm endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Dann begann er langsam und mit schwankender Stimme: »Mein Bibeltext kommt heute aus den Psalmen, Psalm neunundneunzig, Vers neun …« Erneute Pause. »Erhebet den Herrn, unsern Gott, und betet auf seinem heiligen Hügel …« Die Gemeinde holte so tief Luft, daß der Windhauch die Fenster erzittern ließ. Morgan runzelte die Stirn. Hügel? 242
Wieder wartete der Reverend ab, bis sich die Unruhe seiner Schafe gelegt hatte, dann fuhr er fast beiläufig fort: »Ja, was für eine Woche haben wir erlebt! Wir haben gesehen, wie unser Berg zum Hügel wurde und haben unserer Hände Arbeit eingesetzt, um ihn wieder zum Berg zu machen …« Er lächelte väterlich, bevor er weitersprach. Seine Stimme klang noch immer zögernd, als taste er nach dem Weg. »Habt ihr Freude gehabt am Graben und Tragen?« Die Frage war rhetorisch gemeint. »Ich schon – oh, ich weiß, ich habe selbst nicht viel gearbeitet, habe euch eher moralische Unterstützung gespendet, doch es hat mir gut getan, das ganze Dorf versammelt zu sehen. Ihr habt gemeinsam für ein gemeinsames Ziel gearbeitet.« Er hielt inne und sah Morgan durchdringend an. »Für ein altruistisches Ziel.« Morgan schluckte. Er wußte zwar nicht genau, was altruistisch bedeutete, doch es meinte unter Garantie nicht den Verkauf von Bier und Limonade an die schwitzende Menge. Instinktiv wappnete er sich für eine mögliche Flucht zur Tür. Wollte der Reverend nun doch zu einer Strafpredigt ansetzen? Die Augen aller Dorfbewohner durchbohrten ihn wie Pfeile. Die Prozedur erinnerte Morgan an den häßlichen Zeitvertreib der Fuchsjagd. Er war der einsame Fuchs, der sich in einem kahlen Moorgebiet von einem Pack großer, kläffender Hunde umzingelt sah. Doch der Reverend änderte die Taktik: Er hob die Augen gen Himmel und sagte mit bebender Stimme, die an ein billiges Melodram erinnerte: »Und dann kam der Regen!« Morgan seufzte aus tiefster Seele, doch seine Erleichterung hielt nicht lange vor, da Reverend Jones nun von der Kanzel stieg, um direkt unter den Menschen zu 243
predigen. »›Oh‹, sagten einige, ›es ist wie Noahs Sintflut‹«, klagte der Reverend in perfekter Nachahmung von Evans dem Weltende. »›Oh‹, jammerten andere, ›wir haben Gott mißfallend‹« Der Reverend legte eine Pause ein und rollte bedrohlich mit den Augen. »›Oh-o-oh!!‹ heulten wieder andere, ›wir haben Gott so sehr mißfallen! ‹« Der Reverend blieb kurz vor Morgans Bank stehen, lächelte wider Erwarten und wandte sich munter an seine Gemeinde. »Kinder! Kinder! Wenn wir im Angesicht des Herrn beten, müssen wir diesen kindischen Aberglauben vergessen. Wir fürchten uns nicht vor der schwarzen Katze oder dem verkrüppelten Baum, der warzenbedeckten Kröte oder der kahlköpfigen Greisin. Wir fürchten nur den Herrn, und nicht ohne Grund, denn er gleicht in nichts den launenhaften Göttern der heidnischen Welt. Er richtet uns nicht für das, was wir erschaffen, sondern für das Gefühl, das wir in unseren Herzen tragen, wenn wir es erschaffen.« Jetzt stand er direkt vor Morgan. »Er züchtigt uns nicht für das Feiern, sondern für das, was wir feiern!« Morgan zuckte in seiner Bank zusammen, wartete auf die letzte Attacke und wünschte, diesen Ort mit seinem Gestank nach Frömmigkeit und Mottenkugeln niemals betreten zu haben. Doch Reverend Jones überraschte ihn erneut. Abermals sprach er die übrigen Gemeindemitglieder an. »Erhebet den Herrn, unsern Gott, und betet auf seinem heiligen Hügel …« Langsam näherte sich der Reverend der Kanzel. Nun diskutierte er in aller Öffentlichkeit mit sich selbst, kämpfte vor aller Augen mit seinen Gefühlen. »Ich sehe nichts Böses in unserem Tun, es ist ehrliche Arbeit ohne Profit. Ich sehe nichts Selbstsüchtiges in unserem Tun, es 244
nützt jedem von uns. Ich sehe, ich sehe …« Er senkte seine Stimme beinahe zu einem Flüstern, als er an den Stufen zur Kanzel stehenblieb. »Ich sehe es als ein Gebet, verewigt in Erde.« Ein Gebet, verewigt in Erde! Er hatte diese Worte so ausgesprochen, wie sie ihm in den Sinn kamen. Sie waren als Geschenk zu ihm gekommen. Dieses Geschenk würde ihm helfen, sich selbst und das ganze Dorf von der geheiligten Sonntagsruhe zu entbinden. Wenn ihre Arbeit ein Gebet war, dann konnten sie guten Gewissens am Sonntag einen Berg bauen. Der Reverend hatte die Antwort gefunden. Er nahm einige tiefe Atemzüge, schaute aus dem Fenster und verkündete den Entschluß, der die Geschichte von Ffynnon Garw verändern sollte. »Und daher«, seine Stimme klang ruhig und fest, »obwohl heute Sonntag ist – oder gerade weil heute Sonntag ist –, werdet ihr gleich nach dieser Predigt sehen, wie ich mit Gottes Erde in den Händen auf den Gipfel von Ffynnon Garw steige!« Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Die Leute wollten ihren Ohren nicht trauen und sahen einander zutiefst erstaunt an. Morgan saß wie verwandelt da. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wagte kaum zu glauben, was er da hörte. »Und ich werde diesen Hügel errichten«, fuhr der Reverend fort, »und ihn Gott weihen. Und ich werde diesen Hügel im Gedächtnis an die errichten …« Ihm versagte die Stimme, eine Träne rann ihm übers Gesicht, »… im Gedächtnis an unsere Lieben, die nicht aus dem Krieg heimkehren.« Jetzt war das Hwyl in ihm. Er predigte nicht, er sprach nicht, er sang. Es war reine Poesie wie das Libretto einer Oper, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. 245
Sein ganzer Körper wirkte auf einmal jünger und straffer, denn seine Stimme war die Stimme Gottes, die Stimme der Erzengel. »Ich werde diesen Hügel als demütiges Abbild der großen Berge errichten, die uns der Herr geschenkt hat. Ich werde diesen Berg bauen, um die Freude zu feiern, die er uns geschenkt hat. Und Gott der Herr ist an meiner Seite! Eines Tages werden die Kinder unserer Kinder dort spielen, wo wir heute die Erde auftürmen. Eines Tages werden viele von euch vom Tal hinaufblicken und sich an ihre Jugend erinnern, als ihr noch flink genug wart, um dort hinaufzuklettern. Diese Erinnerung gilt auch dem Tag, an dem wir dies vollbrachten, an dem wir alle vereint waren im Gebet, in Freude, in Hoffnung, in Arbeit, in Gott! Erhebt den Herrn, unsern Gott, und betet auf seinem heiligen Hügel!« Erschöpft legte er eine Pause ein, dann kam ihm ein letzter Gedanke. »Hiermit endet die heutige Predigt – und ich erwarte euch alle dort oben!« Mit diesen Worten schlug er die Bibel zu und strebte in Richtung Tür. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Dann erhob sich die Gemeinde geschlossen und begann, die Arbeit einzuteilen. Die meisten verabredeten, wo sie sich treffen wollten, nachdem sie sich umgezogen hatten. Morgan schoß wie ein geölter Blitz zur Tür. Kurz bevor er sie erreichte, packte ihn eine Hand am Kragen. Es war Reverend Jones. Er donnerte los. »Aber glaube auch nicht eine teuflische Minute lang, daß du deshalb am heiligen Sonntag Bier oder irgend etwas anderes verkaufen darfst!« ***
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Im Garten des Pubs schaukelte Betty gemütlich in der Hängematte, und Anson umkreiste sie wie ein junger, unerfahrener Schmetterling, der seine erste Landung auf einer Blume plant. Nur mit der Weste bekleidet kam er sich etwas komisch vor. Er hatte Morgan schließlich doch sein sauberes Hemd überlassen. Genau wie die Dorfbewohner war auch er Morgans Überredungskünsten zum Opfer gefallen. Anson und Betty hatten das Wetter als Gesprächsthema bis zur Erschöpfung durchgekaut. Von Gartenarbeit verstand er leider nichts. Dann versuchte er es mit einer Unterhaltung über Wales, doch der Versuch verlief im Sande, da er im Grunde ebensowenig über Land und Leute wußte wie George Garrad. Schließlich wagte Anson die Frage, die Betty selbst am meisten beschäftigte. »Wie lange wollen Sie denn noch im Gasthof bleiben?« erkundigte er sich gewollt beiläufig. Nun kam Betty zur Abwechslung einmal ins Stottern. »Ich weiß nicht«, sagte sie aufrichtig. »Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Es ist schwer, von hier wegzugehen, wenn man einmal da ist …« fügte sie lächelnd hinzu. Er nickte, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie dieses Nicken deuten sollte. »Und Sie reisen morgen ab?« Sie versuchte einen gleichgültigen Ton, doch ihre Kehle war verkrampft und die Worte klangen härter als beabsichtigt. »Leider ja«, bestätigte Anson und zwang sich zu einem Lächeln. »Wir nehmen morgen gleich den ersten Zug …« Dann fiel ihm das mögliche Hindernis ein. »Hängt natürlich ganz von Georges Zustand ab.« 247
Mr. Garrad hatte sich wie gewohnt an diesem Morgen noch nicht blicken lassen. George zog es nämlich vor, erst in den frühen Nachmittagsstunden aufzustehen. Betty lachte. »Gestern abend war er fürchterlich betrunken, am Abend davor übrigens auch. ›Habe ich mir damals in Indien angewöhnt, Madam‹«, imitierte sie Garrads Tonfall perfekt. »Ja …« Anson kam sich beinahe wie ein Verräter vor, als er sich zusammen mit Betty über Garrad lustig machte. »Ich nehme an, der arme Kerl ist da draußen nicht ausgelastet«, fügte er zur Verteidigung seines Vorgesetzten hinzu. »Oder hier drinnen«, sagte Betty. Sie dachte einen Moment darüber nach. »Sie könnten es auch nicht lange an einem solchen Ort aushalten. Auch Sie würden durchdrehen, oder nicht?« »Ich? Nein, das glaube ich nicht«, sagte Anson lächelnd. »Ich finde es wunderbar. So schön, still, freundlich …« »Aber Sie würden sich langweilen.« »Langweilen?« Er lachte – nach allem, was er in dieser Woche hier erlebt hatte? Noch nie war ihm ein solches Dorf untergekommen, in dem jeder Einwohner für ein gemeinsames Ziel mobilisiert werden konnte. »Nein, ich glaube wirklich nicht, daß ich mich an diesem Ort langweilen würde.« Er schwieg eine Weile. Dann rutschte ihm eine ganz schlichte Bemerkung heraus, eine Bemerkung, wie Reginald Anson sie selten machte: Er teilte seine Gefühle mit einem anderen Menschen. »Ich habe hier wirklich Spaß gehabt …« Als die Worte draußen waren, lief er rot an. »Tatsächlich?« Betty kicherte, und er fühlte sich äußerst unbehaglich. 248
Anson stotterte weiter. »Aber ich weiß nicht, wie ich mich an einem solchen Ort nützlich machen könnte.« Hatte er daran gedacht zu bleiben? Betty kam es beinahe so vor. Scheinbar war ihm vieles durch den Kopf gegangen, das mit dem Leben in diesem Dorf zu tun hatte. Sie wurde ganz aufgeregt und versuchte, ihn zu ermutigen. »Sie können alles tun! Sie sind doch ein gebildeter Mann.« Anson schien die Sache nicht ganz so einfach. »Ich bin nur für wenige Dinge ausgebildet … Unterrichten käme vielleicht in Frage …« Er hielt inne, sah Betty an und wollte etwas sagen, zögerte aber im letzten Augenblick, drehte sich um und schlenderte in Richtung Scheune, als hätte er dort etwas Wichtiges zu erledigen. »Was?« fragte Betty, die ihm folgte. »Was wollten Sie gerade sagen?« »Nichts.« »Bitte.« Anson trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Es war nur … Ich wollte Sie etwas fragen, aber es ist sicher indiskret.« »Macht nichts«, ermunterte ihn Betty, und Anson glaubte ihr. »Es ist nur … ich weiß über Sie eigentlich noch weniger als über ›Miss Elizabeth‹ …« Betty brach in Gelächter aus. »Miss Elizabeth! Dieses Theater habe ich nicht lange durchgehalten, was?« Was sollte sie ihm erzählen? Ihr Leben erschien so uninteressant, unkompliziert und alltäglich im Vergleich zu seinem. Sie war nicht sonderlich gebildet und hatte nicht die Welt bereist. Es gab einfach nichts, mit dem sie ihn beeindrucken oder auch nur unterhalten konnte. Also 249
blieb ihr lediglich die nackte Wahrheit. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich trabe mit dem Teetablett herein, neige den Kopf und trabe wieder hinaus. Mit anderen Worten: Ich bin genau die Sorte Mädchen, die Leute wie Sie meistens übersehen.« Sie wußte nicht, wie er reagieren würde, und wagte kaum, ihn anzuschauen. »Ich würde Sie niemals übersehen!« sagte Anson mit einem strahlenden Lächeln. Es klang so glatt und automatisch, daß Betty ihn anfauchte: »Oh doch, das würden Sie!« Es war leicht, solche Dinge zu sagen, wenn man in der Morgensonne in diesem hübschen Garten saß, einfach als Mann und Frau, wie sozial Gleichgestellte, die einander gefielen. Doch so war das Leben normalerweise nicht, jedenfalls nicht für Betty. Wenn Männer aus Ansons Gesellschaftsschichten sie überhaupt bemerkten, ging es entweder um eine häusliche Erledigung für ihre Frauen oder um eine stille, demütigende, kurze Liaison, weil man Gefallen an ihr gefunden hatte. Nein, unter normalen Umständen würde Reginald Anson sie nicht bemerken. Sie schwiegen. Anson hatte Bettys Tadel akzeptiert. Er sah hinaus auf die Wiese und konzentrierte sich auf die Gräser, die sich sanft im Wind wiegten. Eine Lerche stieg in den Himmel empor. »Kann ich Sie etwas fragen?« wollte Betty – wieder friedlich geworden – wissen. Anson zuckte zusammen, da sie ihn eben noch so scharf zurechtgewiesen hatte. »Nach diesem Tadel kann ich wohl kaum nein sagen.« »Warum sind Sie nicht in Frankreich?« Diese Frage hatte Betty ihm seit ihrer ersten Begegnung stellen wollen, da sie ihr keine Ruhe ließ. Sie weigerte sich, ihn als 250
Feigling oder Betrüger zu sehen, das paßte nicht zu ihm. Doch hier war er, ein junger Mann in der Blüte des Lebens, der als Landvermesser durch die Gegend schwirrte, während andere fähige Männer seines Alters in Frankreich kämpften. Sein Gesicht verdüsterte sich. »Naja …« fing er an, geriet ins Stottern und zupfte ein Stück Rinde von dem Baum, an dem er lehnte. »Ich war …« Pause. Betty bereute ihre Frage schon. Dann holte er rasch Luft, als laufe er ein Rennen. »Ich bin gleich neunzehnhundertvierzehn mit der ersten Welle hinübergegangen«, sagte er schnell. »Ich war in Verdun …« Betty wurde bleich. Jesus, der arme Mann war tatsächlich in Verdun gewesen! »Und ich kam zurück wie Johnny«, schloß Anson. Er lächelte ein wenig ungeschickt, als könne man diese Episode rasch vergessen, als müsse er sie nur ein paarmal erzählen und darüber lachen, und das Leben ginge weiter wie zuvor. Betty war wie betäubt und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Ihr war, als habe sie ihn einen Feigling genannt. Plötzlich ergaben sein ganzes Wesen und sein Verhalten einen Sinn: das Schweigen, die Unsicherheit, die Zurückhaltung. Er war schlicht und einfach ein Mann, der sich von einem schrecklichen Trauma erholte. Sie hatte ihn völlig mißverstanden, weil sie das Offensichtliche nicht erkennen konnte: Er floh nicht vor dem Krieg, er hatte ihn schon am eigenen Leib erfahren. Er trat dicht auf sie zu und lächelte. »Ist schon in Ordnung«, beruhigte er sie. »Mir geht es wirklich gut, ehrlich.« In diesem Moment drangen von der Straße laute 251
Anzeichen menschlicher Aktivität herüber – das Klappern von Pferdehufen und die Rufe der Leute, die die Tiere antrieben. »Was um Himmels willen …?« fragte Anson. Beide waren dankbar für die Unterbrechung und eilten ins Pub, wo Morgan an der Vordertür stand und vorbeiziehenden Bergarbeitern samt ihren Grubenponies zuwinkte. »Jetzt habe ich auch die Kumpel überredet!« grinste er. »Das ist ja wie Karneval!« lachte Betty. Noch nie hatte sie einen solchen Aufzug in Ffynnon Garw erlebt. Die Bergarbeiter mit den Ponies waren auf dem Weg zur Wiese, um Erde zu holen. Einige Dorfbewohner strebten schon mit Eimern beladen dem Berg zu. Ein Mann kam ihnen entgegengerannt, bewaffnet mit einem halben Dutzend leerer Eimer, einer Blechbadewanne und einem Nachttopf. Chaos regierte im Dorf. »Ich komme mir so schuldig vor«, sagte Anson aufrichtig. Beinahe wünschte er, er hätte die erste Berechnung gefälscht. Dann wäre all das nicht nötig gewesen. Die Menschen hätten glücklich und zufrieden weitergelebt mit ihrem Berg, dem ersten Berg in Wales. Morgan klopfte ihm auf die Schulter, seine Laune hatte sich seit dem Kirchgang prächtig entwickelt. »Keine Sorge. Sie müssen sich nur darum kümmern, daß Mr. Garrad nachher messen kann, denn zur Teezeit haben wir einen Berg für Ihre Landkarte!« Morgan verschwand im Gasthof und ließ Anson mit einem äußerst delikaten Problem allein: George Garrad. Betty warf ihm einen fragenden Blick zu. Anson riß sich zusammen und sagte entschlossen: »Gut, wenn Sie hier auf mich warten möchten.« 252
Tommy der Zweitakter war von der Samstagnacht-Schicht heimgekehrt und in einen tiefen, wunderbar erholsamen Schlaf gefallen. Er hatte eine höllische Woche hinter sich, in der er den bei der Fahrt nach Cardiff verlorenen Schlaf nicht hatte nachholen können. Jede Nacht in der Grube war ihm endlos erschienen, und der Schlaf reichte nie aus. Sein ganzer Rhythmus war durcheinandergeraten. Wenn er am Sonntagmorgen von der Schicht zurückkam, badete er normalerweise, ging zur Kirche und aß dann mit seiner Familie zu Mittag, bevor er sich einen besonders langen Schlaf gönnte. Am Sonntag lag die Grube still. Das Essen mit der Familie war Tommys Ausgleich für den Samstagabend. An diesem Sonntagmorgen war er jedoch nach einer Katzenwäsche sofort ins Bett gegangen. Er würde die Messe und wahrscheinlich auch das Mittagessen versäumen, doch das störte ihn nicht. Er wollte schlafen, bis er von selbst wieder erwachte – egal, wann das war. Natürlich hatte Elsie ihm nichts von ihren Plänen erzählt. Sie wurde von Gewissensbissen geplagt, wollte Betty aber nicht im Stich lassen. Diese Fahrt würde auch viel kürzer sein, da Tommy nun den Weg kannte und die Strecke zudem bergab ging. Trotz Passagier und Gepäck würden sie diesmal nicht anhalten und schieben müssen. »Tommy«, flötete Elsie verlockend, als sie aus der Kirche kam. Der Ärmste war erst seit wenigen Stunden im Bett. »Tommy, Liebster …« »Geh weg«, drang seine Stimme unter der Decke hervor. Er befürchtete schon gewisse sonntägliche Spielchen im Bett. »Etwas Furchtbares ist passiert«, änderte Elsie den Ton, 253
»und nur du kannst helfen.« Tommy blinzelte mit einem verschlafenen Auge. »Ja?« fragte er ungehalten. »Das arme Mädchen wird alles verlieren, das Dach über dem Kopf, ihre Stelle, die täglichen Mahlzeiten, die schöne Kleidung, kannst du dir das vorstellen?« »Von wem sprichst du eigentlich?« fragte Tommy. Das klang ja wirklich tragisch. »Womit hat sie das nur verdient? Es ist doch nicht ihre Schuld, und da steht sie jetzt, knapp vor dem Armenhaus, muß demnächst auf der Straße schlafen. Wo kann ein armes Mädchen in einer solchen Lage schon hingehen?« Tommy hatte den Köder geschluckt. »Von wem sprichst du? Was ist passiert?« Elsie holte tief Luft. »Es geht um Betty …« Tommys Gesicht verdüsterte sich. Er ahnte sofort, was als nächstes kommen würde. »Betty aus Cardiff«, ergänzte er säuerlich. »Ja, und sie muß nach Hause oder …« Elsie brach mitten im Satz ab. Tommy sagte: »Ich werde nicht hinfahren«, und steckte den Kopf wieder unter die Decke. »Bitte, Tommy«, flehte ihn seine Frau an. »Ich habe es ihr versprochen!« »Du hast was?« Sein Kopf tauchte erneut auf. »Wann hast du es ihr versprochen?« Das hätte Elsie nicht sagen sollen, aber es gab kein Zurück mehr. Also plapperte sie weiter. »Du mußt! Denk daran, was Morgan ihr angetan hat. Du kannst jetzt nicht nein sagen, das lasse ich nicht zu.« »Ich habe es gerade gesagt: Nein, ich fahre nicht hin«, erklärte Tommy entschlossen. 254
Elsie nahm allen Mut zusammen und feuerte ihre gefährlichste Waffe ab. »Dann werde ich von nun an mit den Kindern woanders schlafen …« Garrad lag tief in einen Traum vom Britischen Weltreich versunken. Er nahm einen Rang zwischen Oberst und König ein. Man hatte seine Brust mit Orden dekoriert und ihn gefeiert. Die Abenteuerzeitschriften kleiner Jungen erzählten von seinen Taten. Er war ein edler Ritter unter dem gemeinen Volk. Heute unterstand ganz Indien seinem Befehl … Anson blieb vor Garrads Zimmer stehen und erteilte sich selbst den Marschbefehl. Er mußte jetzt standhaft sein. Keine Ausflüchte, keine Kompromisse, sie würden das Dorf in dieser Situation nicht im Stich lassen … Er klopfte laut an die Tür. George Garrad fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. »Bring den Tee, Waliah!« rief er im Glauben, es wäre sein indischer Diener. Wahrscheinlich brachte der Mann Neuigkeiten über den Konflikt an der Grenze zu Kaschmir. Als er sich im Bett aufsetzte, fiel eine leere Ginflasche zu Boden. Anson öffnete vorsichtig die Tür. Garrad gab sich die größte Mühe, doch seine Augen wollten ihm partout einen Streich spielen. Sein Diener sah so schrecklich weiß aus … »George, ich bin’s, Anson«, sagte Reginald und trat näher. Er machte gleich wieder einen Schritt zurück, denn die Luft im Zimmer war unerträglich. Es war, als würde man die Socke eines Rugbyspielers inhalieren. »Anson!« erwiderte Garrad. Wie ungewöhnlich, ihn in Indien anzutreffen. Wie lange mochte er schon da sein? »Ich dachte, ich mache einen kleinen Spaziergang auf den Berg«, erklärte Anson sachlich. »Sieht so aus, als 255
hätten die Dorfbewohner eine kleine Korrektur der Höhe vorgenommen. Ich messe am besten mal nach.« Garrad starrte ihn an. Warum konnte er nicht einfach den Mund halten? Wovon redete er bloß die ganze Zeit? Dorfbewohner? Korrekturen? Hmm. Bloß nichts anmerken lassen. »Fein, fein«, sagte George, da ihm nichts Besseres einfiel. »Sie wollen nicht mitkommen, oder doch?« »Wohin?« erkundigte sich George. Er hatte sichtlich Schwierigkeiten, der Unterhaltung zu folgen. Vielleicht war ihm das Curry nicht bekommen, und er nahm sich vor, weniger davon zu essen. Man sollte sich vielleicht besser an das Angebot der Offiziersmesse halten. »Auf den Berg«, erklärte Anson. »Guter Gott, bloß nicht!« rief Garrad entsetzt. Auf einen Berg? Er war in einem Land namens Wales einmal auf einen Berg gestiegen und hatte nicht die Absicht, das Experiment zu wiederholen. Furchtbar langweilig. Nur Gras, Felsen, Schafscheiße, keine Aussicht auf Ruhm oder Profit, nichts zu erzählen, nein danke. »Ich bleibe hier«, setzte er hinzu. »Viel Papierkram, hab’ ’ne Menge aufzuholen …« Er konnte sich nicht erinnern, wann er den letzten Brief in die Heimat geschrieben hatte. Und dann stand noch der Bericht für das Foreign Office in London aus. »Schön«, sagte Anson, »ich mache mich schon mal auf den Weg.« Er versuchte noch einmal, tief durchzuatmen, aber es war schlichtweg unmöglich. »Soll ich das Fenster öffnen?« fragte er zuvorkommend. »Nein, vielen Dank«, gab Garrad zurück, wie immer auf der Hut vor diesen verteufelten Moskitos. Hatte mit angesehen, wie viele gute Männer an der Malaria 256
zugrunde gingen. Wurden am Ende zu stammelnden Idioten. Traurige Verschwendung! Wenn sie das Empire jemals verloren, dann nicht aufgrund irgendwelcher Aufstände oder Revolten, sondern wegen dieser dreimal verfluchten stechenden Viecher … Anson zog sich leise zurück und schloß die Tür. Garrad sah sich verwirrt um. Er wußte schon nicht mehr, was ihn aus dem Schlummer gerissen hatte. Konnte nichts Wichtiges gewesen sein. Er sank wieder in seinen komagleichen Schlaf. Als Anson herunterkam, stand Betty vor der Tür und betrachtete noch immer die Prozession, die am Haus vorüberzog. Er wählte seine Worte mit Fingerspitzengefühl. »Ich glaube, ich kann mich nicht auf Mr. Garrad verlassen, aber ich brauche einen Assistenten.« Betty sah ihn ausdruckslos an. Anson fuhr fort. »Ich wüßte gern, ob Sie vielleicht …?« »Ich?« fragte Betty ziemlich überrascht. »Warum denn nicht?« »Ich war noch nie in Kairo oder Abessinien oder Sewastopol – und ich kann auch nicht besonders lange wie eine feine Dame reden.« Anson lachte. »Spielt doch alles keine Rolle.« »Ich bin bloß ein Dienstmädchen.« Er lächelte. »Ich glaube nicht, daß der Begriff ›bloß‹ jemals auf Sie zutrifft.« »War das etwa ein Kompliment?« fragte Betty schelmisch. »Ja. Und da ich jetzt Ihretwegen rot geworden bin, müssen Sie mir assistieren.« 257
Sein Gesicht hatte in der Tat einen interessanten Purpurton angenommen. Betty kicherte vor sich hin. »Da Sie bitte gesagt haben und rot werden, komme ich mit.« »Gut, dann bereiten wir jetzt den Richtkreis vor.« »Den was?« erkundigte sich Betty. »Ich werde es Ihnen zeigen«, sagte er und wollte sie gerade ins Haus führen, als eine Fehlzündung losknallte und Tommy der Zweitakter postwendend auf der Bildfläche erschien. »Sind Sie fertig?« wollte er wissen. »Fertig für was?« fragte Anson. Betty sah ihn an. »Gehen Sie schon mal hinein und fangen mit dem Dingsbums an – ich komme sofort nach.« Anson zögerte einen Moment. »Na gehen Sie schon!« ermunterte sie ihn lachend. »Ich bin in einer Minute da!« »Betty?« Tommy verstand die Welt nicht mehr. »Tut mir leid, Tommy, aber ich habe es mir anders überlegt.« »Anders überlegt? Ich krieche extra aus dem Bett, und Sie überlegen es sich einfach anders?« stöhnte Tommy fassungslos. »Jedenfalls für heute …« »Für heute? Betty, ich kann morgen nicht fahren, nicht an einem Wochentag. Das hat mir wirklich den Rest gegeben«, jammerte Tommy. »Gut, vergessen Sie es einfach. Ich fahre heute auf gar keinen Fall.« Tommy schaltete den Motor aus, nahm die Schutzbrille ab und murmelte etwas über die unberechenbaren Launen der Frauen, bevor er sein Motorrad heimwärts schob. Zehn 258
Minuten später lag er wieder im Bett. Zur selben Zeit machten sich Betty und Anson samt Ausrüstung auf den Weg zum Gipfel von Ffynnon Garw. *** Wenn Tommy an diesem Tag einen Fehler begangen hatte, dann den, überhaupt aufzustehen. Sein zweiter Fehler war, zu glauben, er könne einfach zurück ins Bett gehen und weiterschlafen. Kurz nachdem die Leute Tommy erblickt hatten, wie er sein Motorrad nach Hause schob, versammelten sie sich vor seinem Haus und baten um einen Gefallen. »Er muß meinen Bruder herholen«, erklärte Thomas der Zug. »Vergiß nicht meine Cousins«, erinnerte ihn Ivor der Krämer. Die wunderbare Elsie stand wie immer als Schutzschild für ihren Mann bereit. Sie hörte sich die zahlreichen Bitten der Dorfleute mit verschränkten Armen an. Alle brauchten Tommy, damit er ihren Verwandten außerhalb des Dorfes Bescheid sagen konnte. Keiner von ihnen lebte besonders weit entfernt, müssen Sie wissen – vielleicht gleich hinter dem Berg, im nächsten Dorf oder weiter unten im Tal –, denn Waliser ziehen nicht gern aus ihrem Heimatort weg. Nach der Predigt des Reverends hatten die Leute das Gefühl, sie müßten diesen, genau diesen Tag unbedingt mit ihren Liebsten teilen. Brüder und Schwestern mußten benachrichtigt, Cousins und Cousinen herbeigerufen, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten und selbst entfernte Verwandte angeheuert werden – der ganze Stamm mußte sich versammeln, um seine Rolle im großen Spiel zu übernehmen. Einerseits war es eine notwendige 259
Bitte um zusätzliche Hilfskräfte, doch alle hatten außerdem das Gefühl, daß niemand diese Gelegenheit verpassen durfte. So ein Tag würde nie wieder kommen. Elsie wollte Tommy abschirmen, ihn schlafen lassen, doch bei all den Bitten erkannte sie, daß die Leute recht hatten. Die Parole mußte weitergegeben werden. »Ich würde ja mein Pferd nehmen und selbst durch die Dörfer reiten«, erklärte Ivor, der mit seinem Gespann regelmäßig Lebensmittel auslieferte, »doch Pferd und Wagen werden für den Berg gebraucht. Aber ein Motorrad? Damit kann man wohl kaum Erde transportieren.« Dieses letzte Argument überzeugte Elsie endgültig. »Tommy«, sagte sie, als sie ihn erneut aufweckte, »du hast es wirklich nicht weit. Nur bis Upper Boat und Pentyrch, dann nach Gwaelod und Llanharan, nicht zu vergessen Tongwynlais, Black Cock und Caerphilly …« »Laß mich schlafen, Frau!« stöhnte er unter dem Kopfkissen. »Sag Morgan und Blod, sie sollen sich verpissen!« »Es geht nicht um Morgan oder Blod.« Sie stieß ihn wieder an. »Da sind Ivor und Davies und Dai und Ianto und Mrs. Jones Weiter In Wales.« Ein blutunterlaufenes Auge tauchte langsam aus den Kissen auf. Sie gab ihm einen dicken Kuß. »Du wirst ganz bestimmt als Held gefeiert.« Um die Mittagszeit waren die Straßen in Richtung Ffynnon Garw von Verwandten verstopft, die alle an ihren Geburtsort zurückkehrten, um bei der Erfüllung der 260
ungeheuren Aufgabe, einen Berg zu bauen, mitzuhelfen. Reverend Jones legte eine Atempause ein und warf einen Blick aufs Dorf. Von seinem Sitzplatz aus konnte er die Reihe der Eimerträger sehen, die sich bis auf den Gipfel und zurück ins Tal erstreckte. An den unteren Hängen standen große Karren, bis zum Rand mit Erde gefüllt. Unten im Dorf traf gerade eine weitere Abordnung von Verwandten auf Fahrrädern ein. Für ihn hatte die ganze Sache biblische Ausmaße angenommen. Sie erinnerte ihn an Maria und Josef, die zur Volkszählung des Kaisers nach Bethlehem zurückkehrten … Er schrak aus seinen Tagträumen hoch und bestrafte sich für diese fast gotteslästerlichen Gedanken, indem er selbst zwei schwere Eimer ergriff.
*** Anson wußte bereits seit einer Woche, daß die Dorfbewohner die Höhe des Hügels ändern wollten, und hatte ihre Anstrengungen teilweise von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet. Doch die wahren Ausmaße dieses Unternehmens waren ihm noch nicht klar geworden, da er die Arbeit bisher nur aus der Ferne verfolgt hatte. Nun befand er sich selbst inmitten einer großen Menge von Eimerträgern und Pferdewagen, Blechbadewannen und Schubkarren. Wohin er auch blickte, bewegte sich Erde aus dem Tal über die Berghänge nach oben. Verwundert wandte er sich Betty zu. »Das ist ja wirklich unglaublich!« Sie erwiderte trocken: »Wenn Morgan sich einmal etwas in den Kopf setzt …« 261
In Frankreich hatte Anson zahlreiche Mobilisierungen miterlebt. Kolonnen von Soldaten samt militärischer Ausrüstung, die sich über endlose Meilen erstreckten. Doch damals wollten alle diese Männer nur nach Hause, und ihre Vorgesetzten wendeten jede Taktik – gutes Zureden, Befehle, sogar Drohungen – an, um sie voranzutreiben. Diese Menge hier verhielt sich völlig anders. Wie Betty bereits bemerkt hatte, herrschte unter den Menschen eine Art fröhlicher Karnevalsstimmung. Sie waren gut gelaunt und übermütig, freundlich und wirklich überaus verrückt. Eingedenk der Drohung des Reverends hatte Morgan zwar seinen Stand aufgeschlagen, doch er bot nur alkoholfreie Getränke an. Um sich den Sonntagsbräuchen noch weiter zu beugen, schenkte er alles kostenlos aus, was denen, die ihn kannten, beinahe beunruhigend großzügig erschien. Ivor war von Morgans Nächstenliebe derart beeindruckt, daß er eine Wagenladung Kekse, Eis, Brot und Pasteten beisteuerte, die zur Mittagszeit verteilt werden sollte. Das Dorf hatte sich einträchtig versammelt. Anscheinend wollte sich niemand diesen großen Tag entgehen lassen.
*** Doch es waren nicht alle da. Davies der Lehrer fehlte ebenso wie Johnny mit der Bombenneurose. Johnny saß auf den Stufen, die sich vom Haus seiner Schwester zum Fluß hinunter zogen. Der Fluß führte nach wie vor viel Wasser, und die Trittsteine waren noch 262
überflutet. Unbeweglich sah Johnny zu, wie der Fluß mit seiner Kraft langsam Moos von einem Stein ablöste und die grünen Punkte im Wasser davontrieben. Blod versuchte herauszufinden, was seine Aufmerksamkeit derart fesselte, doch das Wasser bearbeitete das Moos so langsam, daß sie es mit ihrem ungeübten Blick aus der Entfernung überhaupt nicht wahrnehmen konnte. Nach dem Zwischenfall auf dem Gipfel hatte Johnny einen ganzen Tag im Bett verbracht. Manchmal war er schreiend aus dem Schlaf hochgeschreckt wie in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Krieg. Am Samstagmorgen jedoch stand er wie gewöhnlich auf. Obwohl er ohnehin kaum ein Wort sprach, erschien er Blod noch schweigsamer als sonst. Die meisten Fragen beantwortete er nur mit einem Nicken oder Kopfschütteln. Blod sah ihn an und fragte sich, was er wohl denken mochte, wenn er denn überhaupt dachte. Wie mochte es sein, nicht zu denken? Sie konnte sich nicht vorstellen, gar nichts zu denken, keine Worte, Vorstellungen oder Erinnerungen im Kopf zu haben. Johnny bewegte sich unvermittelt. Er war so unberechenbar wie ein Kind oder eine Katze. Der bemooste Stein schien nicht mehr interessant genug, und er wandte seine Augen zum Gipfel, als würden sie magisch dorthin gezogen. Selbst hier unten vom Fluß aus konnte er deutlich die Umrisse der Gestalten erkennen, die sich die Hänge hinaufkämpften. »Johnny …« Blod berührte ihn sanft an der Schulter und deutete in die entgegengesetzte Richtung, wo sich einige Wolken am Himmel zeigten. Vielleicht gab es wieder Regen und Donner. Johnnys Blick kehrte zum Fluß zurück 263
– heute würde er es nicht wagen, auf den Berg zu steigen. *** Vielleicht war ein kleiner Junge namens Huw Hughes neben Davies und Johnny der einzige andere Mensch im Dorf, der an diesem Tag nicht auf dem Berg arbeitete. Offiziell galt er als Sohn von Hughes der Briefmarke, der die Post austrug, obwohl viele aufgrund seines flammend roten Haarschopfs, des feurigen Temperaments und seines angeborenen Unternehmergeistes (nicht zu Unrecht) vermuteten, daß er ein Hängemattenkind war. So nannte man die Früchte von Morgans Nachmittagsaffären. Während alle anderen im Schweiße ihres Angesichtes schufteten, zog sich Huw still und heimlich in ein Wäldchen bei Morgans Limonadenstand zurück und machte sich daran, einen Namen in einen sehr alten Baum zu schnitzen. Nicht etwa seinen eigenen oder den einer kleinen Freundin, sondern den Namen des großen walisischen Anführers, Llywelyns des Letzten. Huw arbeitete sehr sorgfältig. Als er fertig war, suchte er zwischen den Baumwurzeln nach Moos und stopfte es in die Einschnitte der Rinde. Es brauchte viel Zeit und Geduld, doch am Ende wirkte der bemooste Name so überzeugend, als hätte er Jahrhunderte an diesem Baum überdauert. Danach schlenderte Huw gemächlich zu den Dorfleuten hinüber, die gerade eine Pause eingelegt hatten, und bot sich an, ihnen gegen eine kleine Belohnung die Stelle zu zeigen, an der Llywelyn der Letzte seinen Namen in einen Baum geschnitzt hatte. *** 264
Betty und Anson erreichten inmitten einer Prozession bergauf und bergab marschierender Dorfbewohner den Gipfel. Der aufgeschüttete Erdhaufen war inzwischen wieder auf zwölf Fuß angewachsen. Anson blieb stehen und schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich glaube, die schaffen es tatsächlich.« sagte er. »Hatten Sie etwa daran gezweifelt?« fragte Betty. »Mit Morgan und dem Reverend als Anführern …« Drei Männer in Gestalt der Thomas Twp Zwillinge und Williams der Zapfsäule standen auf dem Hügel und verteilten die Ladungen bei ihrer Ankunft. Emsig wurden die Eimer hinaufgereicht, ausgeleert und zurückgegeben. »Macht nur, macht nur!« rief Williams und bemerkte Anson, der unten stand. Verdammt! Den wollte er nun wirklich als allerletzten sehen! Williams hatte sich in den letzten Tagen zu Hause versteckt gehalten. Er war so froh gewesen, wieder an die frische Luft zu kommen, und hier auf dem verfluchten Berg traf ihn nun seine Heimsuchung. Williams nahm seine Jacke und mischte sich unauffällig unter eine Gruppe Bergarbeiter, die zum Flußufer zurückgingen. »Hallo«, sagte Thomas Twp, als Anson näherkam. »Wir haben zwar im Regen eine Menge verloren, aber bald steht hier ein Berg für Ihre Landkarte.« »Ich glaube, Sie haben recht«, gab Anson zu und betrachtete die kleinen Strudel von trocknendem Schlamm, die sich am Fuß des Hügels bildeten. »Vielleicht sollten Sie ihn mit Rasensode abdecken«, schlug er vor. »Rasensode?« fragte Thomas Twp Zwo, dem diese Vokabel nicht geläufig war. »Er meint Gras mit Erde dran«, erklärte Thomas Twp. 265
»Ach so!« Thomas Twp Zwo warf einen Blick auf den wachsenden Hügel. »Da brauchen wir aber ’ne Menge Gras mit Erde dran.« »Allerdings«, pflichtete ihm Thomas Twp bei, dem einleuchtete, daß sie feste Grasnarbe benötigten, die schnell wuchs und dem Hügel Halt geben konnte. Die beiden Männer standen wie versteinert da, während um sie herum weiterhin Erde herbeigeschleppt und ausgeleert wurde. Anson kam es vor, als hätte er sie mit einem Bann belegt. »Ich dachte ja nur … kann man vielleicht später einmal machen«, sagte er entschuldigend und hoffte, das würde sie wieder zum Leben erwecken. Langsam schüttelte Thomas Twp den Kopf. »Nein, Sie haben recht, er muß abgedeckt werden.« »Wirklich gut abgedeckt werden …« kam das Echo von Thomas Twp Zwo. »Und wenn wir jetzt nicht damit anfangen …« Man darf nicht vergessen, daß diese Männer Bauern waren, bei denen sich Planungen gewöhnlich über lange Zeiträume erstreckten. Dann leuchteten die Augen von Thomas Twp Zwo auf, und er führte seinen Bruder beiseite. Anson und Betty sahen ihnen nach. »Naja, wir bauen besser den Richtkreis zusammen, denn den werden wir bestimmt brauchen.« »Gut«, stimmte Betty ihm zu, die von Richtkreisen soviel verstand wie Anson von der Zubereitung eines Fünfuhrtees. Die Twps traten an die Kante des Steilhangs und schauten ins Tal hinunter. »Na bitte«, sagte Thomas Twp Zwo und zeigte auf eine 266
große, sattgrüne Wiese. »Perfekt, würde ich sagen«, entgegnete Thomas Twp. Gemeinsam stiegen sie Ffynnon Garw hinunter und strebten dem Rugbyfeld zu. Irgendeine göttliche Eingebung mußte die Twps zum Rugbyfeld geleitet haben, doch wahrscheinlich wäre früher oder später auch jemand anders auf die Idee gekommen, da das Gelände am Flußufer beinahe ausgeschöpft war. Das ganze Gebiet war drei Fuß tief abgetragen worden und die Erde darunter völlig durchweicht. Statt des knirschenden Geräuschs der Spaten erklang nun ein schmatzendes Quietschen. Nahm man eine Schaufel Erde weg, füllte sich das Loch sofort mit Wasser. Die Dorfbewohner standen bis zu den Knöcheln im Schlamm. Daher erschien es nur logisch, die gesamte Operation auf das unberührte Rugbyfeld zu verlegen. Davies der Lehrer entspannte sich in seinem Wohnzimmer bei einem guten Buch, als die ersten Dorfleute auf dem Weg zum Rugbyfeld an seinem Fenster vorübertrabten. Zunächst hielt er sie für einige verirrte Helfer aus einem Nachbardorf. Doch dann kamen immer mehr, was Davies verwirrte und verärgerte, denn diese Ecke des Dorfes war bisher relativ friedlich gewesen. Jetzt aber strömten wachsende Mengen von Dorfbewohnern an seinem Haus vorbei. Wo um Himmels willen mochten sie hingehen? Dieselbe Frage stellte sich auch Johnny mit der Bombenneurose. Er schlenderte aus dem Haus, um einen Blick auf die Prozession zu werfen, die durch seine Straße zog. Zu seiner Freude stürzte in diesem Augenblick Davies der Lehrer wutentbrannt auf die Leute zu. »Wer ist dafür verantwortlich? Kann mir das mal einer 267
sagen?« forderte er sie herrisch auf. Niemand machte sich die Mühe zu antworten, und der arme Mann sauste im Eiltempo an den Leuten vorbei zur Spitze des Zuges. Johnny schloß sich der Prozession an. Er wollte es keinesfalls versäumen, wenn sich Davies wieder einmal zum Narren machte. Die Twps hatten ein Rasenstück ausgesucht, das ihnen am geeignetsten erschien, und waren auf den Gipfel von Ffynnon Garw zurückgekehrt. Sergeant Thomas hatte die Leitung auf dem Rugbyfeld übernommen und die Arbeiter in zwei Gruppen eingeteilt: Die eine sollte vorsichtig die Grasnarbe lösen und aufrollen, während die andere die Erde darunter aushob. Als Davies der Lehrer endlich eintraf, hatten sie bereits ein beträchtliches Gebiet bearbeitet – nicht genug, um den Hügel abzudecken, doch ausreichend, um das nächste Rugbyspiel äußerst schwierig zu gestalten. Davies traute seinen Augen nicht. Dieses Spielfeld wurde zwar hauptsächlich von der Erwachsenenmannschaft des Dorfes genutzt, aber auch die Schulkinder fanden sich hier regelmäßig zum Rugby ein. Er brüllte quer über das Feld und ruderte dabei wild mit den Armen. »Ist die Verwaltung informiert worden? Hat jemand eine schriftliche Erlaubnis?« Viele Leute ließen die Arbeit ruhen, weil sie auf einmal an der Legalität ihres Unternehmens zweifelten. Ihre Augen wandten sich dem Polizeisergeanten zu. Thomas hüstelte. »Und?« beharrte Davies. »Reden Sie schon, Mann! Dies scheint mir ein klassischer Fall von Vandalismus und Mißachtung öffentlichen Eigentums zu sein.« Er warf einen höhnischen Blick auf die Schulterklappen des Polizisten. »Sie sind der Arm des Gesetzes und verstoßen 268
zugleich gegen jeden einzelnen Artikel, auf den Sie vereidigt worden sind.« Dem Sergeanten fehlten die Worte. Insgeheim fürchtete er, Davies habe vielleicht recht: Sie hatten tatsächlich niemanden um Erlaubnis gefragt, hatten nicht einmal darüber abgestimmt. Die Twps waren auf die Idee gekommen, und alle fanden den Vorschlag gut. Ob er sich nun selbst verhaften sollte? Vor seinem inneren Auge tauchte die schreckliche Vision auf, wie er Jones dem Urteil in Handschellen vorgeführt wurde. »Und wessen Idee war das?« würde dieser fragen. Wieviel Gelächter gäbe es wohl, wenn er wahrheitsgemäß antwortete: »Es war die Idee der Twps.« Johnny hatte sich nach seiner Ankunft in Davies’ Kielwasser unter die Menge gemischt, um zuzuhören. Nun konnte er den Unsinn nicht länger ertragen und sagte: »Hören Sie doch auf, sich so englisch zu benehmen.« Der Sergeant brach in herzhaftes Gelächter aus, und alle stimmten ein. Kurz zuvor hatte Davies ihnen noch tiefen Respekt eingeflößt, jetzt stand er da wie ein aufgeblasener Esel. »Gut gemacht, Johnny!« sagte Sergeant Thomas. »An die Arbeit, Freunde!« Johnny blieb dabei und war glücklich, unten im Tal mithelfen zu können, doch auf den Gipfel von Ffynnon Garw traute er sich nicht, solange auch nur eine Wolke am Himmel hing. *** Die Einwohner von Ffynnon Garw werden wohl bis in alle Ewigkeit darüber diskutieren, welcher der beiden Schöpfungstage des Hügels heroischer war. 269
Die Argumente der beiden Parteien lauten wie folgt: Am ersten Tag gab es weniger Helfer, hauptsächlich Frauen, Kinder und Rentner. Obwohl sie nur eine Höhe von vierzehn Fuß erreichten, konnte man die ungeheure Leistung dieses Tages kaum bestreiten. Die Vertreter dieser These behaupten, der zweite Tag sei leichter gewesen, weil so viele Dorfbewohner einschließlich ihrer Verwandten und zusätzlich noch die Bergarbeiter mithalfen. Die Befürworter des zweiten Tages weisen daraufhin, daß weitaus mehr Erde bewegt wurde. Die Bergarbeiter halfen zwar dabei, doch bestand ihre Aufgabe hauptsächlich darin, die Erde bis zum Limonadenstand zu transportieren. Zum Gipfel mußte trotzdem alles per Hand getragen werden. Außerdem werden sie betonen, daß der erste Tag sehr lang war, da jeder bei Morgengrauen die Arbeit aufgenommen hatte, während sie am Sonntag erst nach der Messe begannen. Die Debatte ist ziemlich lächerlich, besonders für einen Außenstehenden, und sie wird hauptsächlich deshalb am Leben erhalten, damit die Leute einen Grund haben, über diese ereignisreiche Zeit zu sprechen. Trotzdem enthalten alle Argumente ein Körnchen Wahrheit – die beiden Tage waren wirklich ganz und gar verschieden. Das Anheuern der Bergarbeiter war Morgans Meisterleistung, denn sie standen nur am Sonntag zur Verfügung. Auch zahlreiche Freunde und Verwandte kamen nur, weil es ihr freier Tag war. Die Bergarbeiter brachten ihre Erfahrung ein. Es scheint zwar nicht besonders schwierig, Eimerladungen Erde auf einen Haufen zu schütten, doch sobald der Hügel die Größe eines Mannes überschreitet, ganz zu schweigen von zwei Männern, wird es problematisch. Die Bergarbeiter besaßen großes Geschick bei der Konstruktion von Rampen und 270
Flaschenzügen. Bald nach ihrer Ankunft wirkte der Berg wie eine professionelle Baustelle. Sie konnten auch die Wege, die sich wie ein Netz über die Hänge des Berges zogen, neu befestigen, was ebenso praktisch wie notwendig war. Am ersten Tag hatten die Wege durch die schweren Pferdewagen und die zahllosen Füße großen Schaden erlitten. Die feste Oberfläche war aufgewühlt, so daß der lockere Boden dem Regen ausgesetzt gewesen und teilweise weggeschwemmt worden war. Jetzt bewegten sich noch weitaus größere Kolonnen die Hänge hinauf und hinunter und verwandelten die ehemaligen Wege in schlammige Trampelpfade. Die Bergarbeiter schützten den aufgeweichten Boden mit Brettern und legten neue Wege an. Nicht nur die Höhe von Ffynnon Garw, das gesamte äußere Erscheinungsbild des Berges veränderte sich. Seltsamerweise nahm mit der Zahl der Menschen auch die Müdigkeit zu. Reverend Jones bemerkte als erster die längeren Ruhepausen. Es waren so viele Helfer gekommen, daß sich der Glaube verfestigt hatte, der Berg müsse einfach fertig werden. Der Erfolg schien ihnen greifbar nah. Als er zum zweiten Mal den Gipfel bestieg, mußte der Reverend allerdings feststellen, daß Johnny und die Twps recht behalten hatten: Jetzt, wo der Hügel immer höher und die Basis immer breiter wurde, benötigten sie ungeheuer viel Erde. Inzwischen konnten zwanzig oder dreißig Eimerladungen einfach an den Seiten hinunterrutschen, ohne daß der Hügel an Höhe gewann. Die anderen Dorfbewohner hingegen sahen sich im Geiste schon am Ziel. Der Reverend konnte ihnen schlecht Befehle erteilen oder sie ausschelten. Also mußte er ihnen mit gutem Beispiel vorangehen. Er setzte sich zu einer Gruppe, die eine Pause eingelegt hatte, und erhob sich kurz darauf 271
wieder. »Weiter geht’s!« sagte er, und alle fühlten sich gezwungen, ebenfalls aufzustehen. Wenn ein älterer Mann bereit war für den nächsten Aufstieg, konnten die jüngeren wohl kaum zusehen und Däumchen drehen. *** Soweit ich weiß, existieren insgesamt drei Photographien von dem Bergbau, die alle von einem jungen Apotheker aus dem Nachbardorf Tongwynlais gemacht wurden. Er hatte kurz zuvor eine Kamera gekauft, und diese Photographien gehören zu seinen ersten Experimenten mit dem neuen Apparat. Eine von ihnen habe ich oft gesehen, da eine Kopie im Arbeitszimmer meines Großvaters hing. Allem Anschein nach war es eine schlichte Landschaftsaufnahme von Ffynnon Garw. Der Abzug war verblichen. Erst bei genauem Hinsehen und nachdem mein Opa mich daraufhingewiesen hatte, erkannte ich die verschwommenen Silhouetten auf dem Gipfel des Berges. Sie bewegten sich damals zu schnell für diese einfache Kamera und wirkten beinahe wie Gespenster. Auf dem Dachboden eines Cousins fand sich irgendwann ein zweites Bild, auf dem ein wunderbares Zwischenspiel eingefangen ist. Unter dem Foto steht: »Spätes Mittagessen auf Ffynnon Garw«. Das ganze Dorf lümmelt sich im Gras um Morgans Stand herum und erfreut sich an ungeheuren Broten und Steingutflaschen mit Sarsaparille- und Zitronenlimonade. Ganz rechts im Bild kann man deutlich Morgan den Ziegenbock, Williams die Zapfsäule und Ivor den Krämer erkennen, die sich etwas abseits halten und den Eindruck erwecken, als schmiedeten sie bereits andere, nicht völlig koschere 272
Pläne. Auf der linken Seite steht Reverend Jones mit einer Glocke in der Hand, um die Leute wieder ans Werk zu rufen. Das Mittagessen fand sehr spät statt, denn erst gegen fünf Uhr hörten die letzten auf zu arbeiten. Diejenigen, die auf dem Gipfel beschäftigt waren, stiegen hinunter zum Limonadenstand, die vom Rugbyfeld kamen von unten hoch – alle trafen sich auf halbem Weg bei Morgan und seinen Erfrischungen. Nur Johnny ging nach Hause zu Blod. Allen wurde auf den ersten Blick klar, daß die am Limonadenstand aufgehäufte Erde völlig ausreichen würde, um den bereits auf siebzehn Fuß angewachsenen Hügel zu vollenden. Man beschloß, daß die Rugbygruppe nach dem Essen nur noch die Grasstreifen holen sollte. Damit würde die Arbeit im Tal beendet sein. Alle hatten das Ziel schon deutlich vor Augen. Während des Essens trieb Huw Hughes einen blühenden Handel mit der angeblichen Inschrift von Llywelyn dem Letzten. Er führte die Leute zu dem Baum und ließ sie schwören, daß sie niemandem etwas davon verraten würden. Obgleich sie wußten, daß Llywelyn niemals so weit in den Süden des Landes gekommen war, gefiel ihnen die Vorstellung, er hätte es doch bis in ihre Gegend geschafft. Ja, es war ein denkwürdiger Tag. Reverend Jones hatte ihn historisch genannt, einen Tag, von dem noch viele Generationen sprechen würden, womit er recht behalten sollte. Außerdem erhielt ein Mann an diesem Tag einen neuen Namen. Thomas Twp und Thomas Twp Zwo zahlten Huw Hughes beide einen Farthing, um die Stelle zu sehen, in die Llywelyn der Letzte seinen Namen geschnitzt hatte. 273
Huw führte sie in das Wäldchen und zeigte ihnen den bemoosten Baumstamm. Thomas Twp Zwo wurde auf einmal sehr still, dann gingen die Brüder schweigend zur Menge zurück. Thomas Twp unterhielt sich mit Bekannten, doch sein Bruder dachte lange und angestrengt nach, räusperte sich und verkündete schließlich: »Ich halte die Schnitzerei für eine Fälschung.« Niemand achtete weiter auf ihn, schließlich war er Thomas Twp Zwo. Doch dieser hatte einen Geistesblitz: »Ich meine, woher wußte Llywelyn der Letzte, daß er Llywelyn der Letzte war? Er konnte doch nicht wissen, daß nach ihm keiner mehr kommen würde, oder?« Ein kurzes Schweigen folgte, als sich die Leute dieses Argument durch den Kopf gehen ließen. Dann packte Hughes die Briefmarke seinen Sohn am Schlafittchen und schleppte ihn zu dem Baum. Mit seinem Taschenmesser entfernte er das Moos, und alle konnten sehen, daß die Schnitte frisch waren. »Und?« fragte Hughes die Briefmarke seinen Sohn. Ohne die Antwort abzuwarten, versetzte er Huw eine Ohrfeige und befahl ihm, den auf unlautere Weise angehäuften Gewinn seinen rechtmäßigen Besitzern zurückzuerstatten. Von diesem Tag an nannte man die Twp Zwillinge Thomas Twp und Thomas Nicht So Twp. *** Als der Reverend mit seiner Glocke das Ende der Pause ankündigte, hatten alle das Gefühl, die wirkliche Arbeit sei nun getan. Nur noch das I-Tüpfelchen, und sie wären fertig. Irrtum! Es war beinahe halb sieben, als sich die 274
letzten mit steifen Gliedern aufrappelten und wieder auf ihre Posten gingen. Nach dem späten Mittagessen fühlten sie sich schläfrig. Die Ruhepause war anscheinend ein Fehler gewesen, nun spürten sie auf einmal die verkrampften Muskeln und die schmerzenden Gelenke. Außerdem wurde es allmählich dunkel. Anson und Betty standen inmitten einer Gruppe in der Nähe des Hügels. Noch immer ragten zweieinhalb Fuß vom Fahnenmast hartnäckig in den Himmel. Selbst zwanzig Eimer Erde änderten nicht mehr viel an der Höhe des Hügels, so ungeheure Ausmaße hatte er angenommen. Die Hälfte jeder Ladung rutschte wieder hinunter, und die Basis wurde immer größer. Durch die zahllosen Fußtritte der Träger wurde die Erde festgestampft, und der Hügel wollte anscheinend nicht mehr wachsen. Anson nahm die Gipfel von Newport Beacon und Whitchurch Hill, seine Orientierungspunkte für die Messung, ins Visier des Teleskops und verzog das Gesicht. »Für eine Messung haben wir bald nicht mehr genügend Licht …« »Hören Sie doch auf, da durchzuschauen. Helfen Sie lieber mit!« forderte ihn Betty auf und drückte ihm einen Eimer in die Hand. Unten auf dem Rugbyfeld waren soeben die letzten Schubkarren mit Rasenstücken gefüllt worden, und die Prozession zum Gipfel setzte sich wieder in Bewegung. Johnny stand mitten auf dem malträtierten Spielfeld, während die Männer und Frauen an ihm vorüberzogen. »Vielen Dank, Johnny«, sagte einer von ihnen. »Bis bald, Junge«, meinte ein anderer. Sergeant Thomas blieb stehen und klopfte ihm auf die Schulter. »Ohne dich hätten wir es nicht geschafft, Johnny.« Sie alle wußten, was in der Gewitternacht geschehen war 275
und hatten seine Hilfe dankbar angenommen. Niemand würde versuchen, ihn zu einem weiteren Aufstieg zu überreden, solange er es nicht selber wollte. Johnny sah ihnen nach. Langsam verklangen die Geräusche der quietschenden Schubkarren. Er wandte den Blick zum Gipfel, wo sich die menschlichen Silhouetten und die Umrisse des Erdhügels abzeichneten. Der Himmel über Ffynnon Garw war klar und wolkenlos. Johnny drehte sich um und prüfte nacheinander alle Himmelsrichtungen – keine einzige Wolke. Er holte tief Luft, schluckte und rief dem Sergeanten hinterher: »Diesen Schubkarren nehme ich!« Während noch immer Leute damit beschäftigt waren, den Hügel aufzuschütten, mühten sich andere an seinem Fuß damit, die zertrampelten Stellen mit Gras zu bedecken. Williams die Zapfsäule nahm ein Stück Grasnarbe und trug es zu einer Gruppe, die am östlichen Hang des Hügels arbeitete. »Hier ist noch etwas für euch«, sagte er und trat entsetzt einen Schritt zurück, als er sich Reginald Anson gegenübersah. »Mr. Anson!« stieß er zutiefst überrascht hervor. Anson grinste und konnte sich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren. Ihm war Garrads Wagen vollkommen egal, doch Williams schien das nicht zu begreifen. »Guten Tag, Mr. Williams«, sagte er munter. »Wissen Sie«, versuchte Williams auf die Schnelle eine Entschuldigung zu fabrizieren, »das mit dem Auto tut mir furchtbar leid. Ich wollte es vor dem Regen schützen, mit einer Plane, aber irgendwie muß sich der Wind darin verfangen haben und …« Anson grinste noch breiter als zuvor und deutete auf die Stelle, auf der er kniete. »Meinen Sie zufällig diese 276
Plane?« fragte er belustigt. Williams hätte sich am liebsten einen Eimer über den Kopf gestülpt und ihn nie wieder heruntergenommen. »Ja«, stammelte er, »leider ja …« Er wartete auf die befürchtete Explosion, auf eine schreckliche, typisch englische Reaktion, doch Anson lachte nur. »Keine Sorge, Mr. Williams. Dieses Schauspiel hier hätte ich um nichts in der Welt versäumen mögen.« In diesem Moment trug der Wind eine Welle von Applaus zu ihnen herüber. Anson und Williams schauten sich um. Alle hielten in der Arbeit inne, legten nacheinander ihre Geräte hin und klatschten Beifall. Zunächst wußten Anson und Williams nicht, worum es ging, doch dann erspähte Williams die einsame Gestalt, die mit gesenktem Kopf den letzten Schubkarren Erde brachte. »Es ist Johnny!« schrie er. »Bei Gott, es ist Johnny!« Alle feierten die Rückkehr von Johnny mit der Bombenneurose, klopften ihm auf die Schulter, umarmten ihn, ließen ihn hochleben und applaudierten – und einige schämten sich auch ihrer Tränen nicht, als sie seine schmächtige Gestalt auf dem Gipfel von Ffynnon Garw sahen. Nun gab es genug Erde am Limonadenstand und mehr als genug Rasen auf dem Gipfel. Das Ende war greifbar nah, als die untergehende Sonne den Himmel färbte. Beinahe hätten es die Dorfbewohner geschafft, doch das ungnädige Schicksal hatte noch ein letztes As im Ärmel. *** An der Frage, wie oft genau Reverend Jones an diesem 277
Sonntag Ffynnon Garw bestieg, scheiden sich die Geister. Sicher, er legte oft ein Pauschen ein, und man ging davon aus, daß er sich unten ausruhte, wenn er gerade keinen Eimer über die Steilhänge am Berg schleppte. Allerdings erlagen die Leute, die weiter unten am Limonadenstand arbeiteten, derselben Täuschung und dachten, er ruhe sich weiter oben aus, wenn er nicht in Sichtweite war. Niemand wird jemals die ganze Wahrheit erfahren, doch später stellte sich heraus, daß der Reverend den ganzen Tag über hart gearbeitet und kaum eine nennenswerte Pause eingelegt hatte. Seine Leistungen beim Klettern und Schleppen hätten ausgereicht, um einen weitaus jüngeren und kräftigeren Mann außer Gefecht zu setzen. Tatsächlich brauchten die Dorfbewohner mehrere Tage, um sich von den Strapazen dieses Sonntags zu erholen. Für einen Zweiundachtzigjährigen jedoch war das einfach zuviel: ja, alle hatten Reverend Jones auf Mitte sechzig geschätzt, in Wirklichkeit aber war er stramme zweiundachtzig Jahre alt. Thomas Nicht So Twp bemerkte als erster, daß etwas nicht stimmte. Er schaute vom Gipfel des Erdhügels hinunter und sah, daß Reverend Jones plötzlich stehengeblieben war und ins Leere starrte. Zuerst glaubte er, der Reverend mache eine Pause, doch seine Haltung wirkte irgendwie eigenartig. Das beunruhigte Thomas. Reverend Jones wußte auf einmal nicht mehr, wo er sich befand. Den ganzen Tag war er ein und denselben Berg hinauf- und hinuntergestiegen … Was sollte nur der Eimer in seiner Hand? In den letzten Wochen hatte er sich häufig dabei ertappt, daß er in die Küche oder ins Arbeitszimmer ging und dann merkte, daß ihm völlig entfallen war, was er dort 278
eigentlich wollte. Er lachte über sich selbst, über die ersten Anzeichen von Altersschwäche, doch heute war dieses Empfinden viel stärker. Er konnte sich überhaupt nicht mehr orientieren und hatte sogar vergessen, wer er war. Ihm war schlecht. Er versuchte, sich zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht. Erinnerungen, Tatsachen, selbst die trivialsten Kleinigkeiten hatten sich in kleine Papierfetzen verwandelt, die sich einfach nicht festhalten ließen und durcheinanderstoben. Sobald er sich bemühte, die Teile aufzuheben, seine Gedanken zu sammeln, entglitten sie ihm, wirbelten davon und fielen irgendwo ungeordnet zu Boden. Wieder griff er nach ihnen, wieder flatterten sie im Wind. Je mehr er sich bemühte nachzudenken, desto verwirrter wurde der Reverend. Im Geiste jagte er seinen Gedanken hinterher, doch sie verschwanden, sobald er die Hand nach ihnen ausstreckte. Und dann stand er wieder auf dem Gipfel von Ffynnon Garw und wußte nicht, wie er eigentlich dorthin gekommen war. Ihm war zwar wieder eingefallen, wie er hieß und wo er sich befand, doch er litt unter einer lähmenden Müdigkeit. Mühsam versuchte er zu gehen, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, und er schwankte wie ein Betrunkener. Ich trage noch diesen letzten Eimer auf den Hügel, dachte er bei sich, doch seine Beine schienen das Gehen verlernt zu haben. Sie machten nur ungelenke Tanzschritte – vor, zurück, zur Seite, wieder vor … Langsam sorgte sich Thomas Nicht So Twp richtig um den alten Mann und rief: »Reverend Jones, ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Der Reverend gab keine Antwort, sondern hob nur die Hand zum Mund, als müsse er sich übergeben. Dann sank er in die Knie und verschüttete den gesamten Inhalt seines 279
Eimers. Alle versammelten sich um die Gestalt am Boden. Die Twps, Ivor und Williams hoben den Reverend auf, um ihn ins Dorf zu tragen, doch er schüttelte heftig den Kopf und flüsterte: »Halt! Halt, legt mich wieder hin … ich sterbe.« Anson und Betty zogen sich aus der Menge zurück und blieben abseits stehen. Als Außenseiter wollten sie sich nicht aufdrängen. Die Twps und Williams legten den Reverend sanft auf die Erde. »Ich sterbe«, wiederholte er. »Sagen Sie doch so etwas nicht«, ermahnte ihn Ivor. Der alte Mann ergriff Ivors Arm und lächelte: »Es ist aber die Wahrheit. Sie brauchen sich nicht zu verstellen. Holt jetzt Morgan«, flüsterte er. »Schnell, ich muß mit Morgan sprechen, bevor ich gehe.« Sein Wunsch verbreitete sich über den Berg wie ein Lauffeuer. »Morgan! Holt Morgan! Morgan den Ziegenbock!« Morgan hatte an der Hinterseite des Hügels gestanden und auf seine unnachahmliche Art Anweisungen gegeben, statt selbst Hand anzulegen. Jetzt drängte er sich durch die Menge nach vorn. »Er hat nach mir gefragt?« erkundigte er sich vorsichtig und ein wenig ungläubig. Ivor nickte. »Ja, komm schnell!« Morgan kniete neben dem Reverend nieder. »Komm näher«, sagte Reverend Jones. »Nimm meine Hand und hör zu, denn dies ist mein letzter Wunsch.« Auch wenn sie Zeit ihres Lebens Feinde gewesen waren, wußte der Reverend, daß nur ein Mann seinen letzten 280
Willen erfüllen konnte, ein Mann mit der gleichen Leidenschaft, dem gleichen Feuer, der gleichen Autorität: ein Mann wie Morgan der Ziegenbock. Die Menge drängte sich um die beiden, doch niemand verstand die Worte. Morgan schloß dem Reverend sanft die Augen und holte tief Luft. Zu seiner Überraschung standen ihm die Tränen in den Augen. Morgan erhob sich. »Holt Jones das Urteil!« donnerte er. Zwei kleine Jungen wurden ins Tal geschickt, um Jones das Urteil zu suchen und herzubringen. »Wo ist der Engländer?« wollte Morgan wissen und ließ den Blick über die Menge schweifen. Anson war überrascht, daß er nach ihm fragte. »Mr. Morgan?« Die Menge machte Platz und schob ihn zu Morgan. Er schaute sich nach Betty um und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß sie ihm auf dem Fuß folgte. Morgan legte Anson die Hand auf die Schulter, nicht sanft, sondern sehr fest, als wolle er Anson unter seine Fittiche nehmen. »Wir werden ihn hier begraben, in diesem Hügel, auf dem Gipfel eines Berges, eines richtigen Berges, des ersten Berges in Wales!« Ansons Blick glitt den Hügel hinauf und hinunter. Sein Gesicht wurde lang und länger, denn der Hügel war noch nicht fertig, und die Dunkelheit brach herein. Jones das Urteil verbrachte gerade einen ebenso unterhaltsamen wie feucht-fröhlichen Nachmittag auf der Hochzeit der Tochter eines befreundeten Ehepaares. Die Zeremonie hatte er zwar nicht selbst vollzogen, doch mit seiner Anwesenheit der ganzen Sache einen offiziellen, feierlichen Anstrich verliehen. Mit Jones dem Urteil als 281
Gast war die Welt in Ordnung, dachte die Mittelklasse. Nun saß er im Garten, schaukelte sanft in einem neumodischen Gestell mit Stoffbezug und überlegte kurz, wo seine Frau wohl abgeblieben war, als zwei kleine, verdreckte Jungen von einem zottigen Pony sprangen und über die Wiese liefen. Verdammte Zigeuner, dachte er und ärgerte sich, daß es ihm noch immer nicht gelungen war, sie aus dem Bezirk zu vertreiben. Zu seinem Entsetzen mußte er jedoch feststellen, daß ein Diener die beiden Strolche genau in seine Richtung führte. Drei Monate für jeden, dachte er gerade und wollte sein Urteil verkünden, als der Diener ihn ansprach. »Diese Burschen haben eine Nachricht für Sie, Sir.« »Für mich?« Die Jungen sprachen im Wechsel: »Reverend Jones stirbt …« »Sie müssen kommen …« »Morgan hat gesagt …« »Alle sind da …« »Der Sergeant auch …« »Er stirbt wirklich …« »Der Reverend? Stirbt?« fragte Jones das Urteil. Er war schockiert. Solche Menschen starben doch nicht, die waren aus ganz besonderem Holz geschnitzt. Der Friedensrichter hatte erwartet, sein Namensvetter würde es noch ein halbes Jahrhundert machen. »Stirbt? Wo?« »Oben auf Ffynnon Garw«, antworteten die Jungen im Chor. »Da kann ich keinesfalls hinaufkommen zu dieser Tageszeit!« In meinem Zustand wäre der Wahrheit 282
nähergekommen. Doch die Jungen blieben hartnäckig. Man hatte ihnen einen Auftrag erteilt, und den würden sie ausführen, koste es, was es wolle. Sie packten den Richter am Arm und zogen ihn vom Stuhl hoch. »Sie müssen mitkommen!« beharrten sie. Die beiden ritten vor ihm her und gaben ihrem Pony die Peitsche. Der Kutscher von Jones dem Urteil hatte auf der Hochzeitsfeier mit einem Dienstmädchen ebenfalls einen gehoben und folgte ihnen blind. In atemberaubendem Tempo klapperten sie über die schmalen Landstraßen. Wäre Jones das Urteil nicht so betrunken gewesen, hätte er seinen Diener schon längst zur Räson gebracht. Doch in seinem alkoholvernebelten Zustand saß er einfach im Wagen und hielt Maulaffen feil. Am Limonadenstand wurde der Bann gebrochen. Eine Gruppe kräftiger Bergleute erwartete ihn bereits und schubste den Friedensrichter bergauf zum Gipfel. Der stöhnte die ganze Zeit laut vor sich hin. Gerade noch hatte er glücklich im Garten gesessen und den friedlichen Abend genossen, nun befand er sich auf dem Gipfel von Ffynnon Garw inmitten einer Meute verdreckter Dorfbewohner. Schließlich stand er Morgan gegenüber wie ein mittelalterlicher Vasall, der vor seinen König befohlen worden ist. »Was soll der ganze Unsinn?« fragte er keuchend. »Sie können Erde weihen, oder nicht?« fragte Morgan in befehlsgewohntem Ton. Jones das Urteil dachte kurz nach. Erde weihen? »Ja, natürlich«, sagte er zornig, »aber …« 283
»Kein Aber«, schnitt Morgan ihm das Wort ab. »Sie werden diesen Hügel weihen, damit er die sterblichen Überreste von Reverend Jones aufnehmen kann.« »Der Reverend ist tot?« Morgan deutete auf den Leichnam, den man in ein sauberes Tuch gewickelt hatte. Unten im Dorf war der Leichenbestatter gerade dabei, einen Sarg abzustauben. »Wir brauchen aber eine Bestätigung des Todes«, sagte Jones das Urteil. »Ein Mensch kann nicht einfach begraben werden.« »Der Sergeant hat den Tod festgestellt, nicht wahr?« Thomas nickte. »Ich habe noch keinen Totenschein ausgestellt, aber das kann ich später nachholen«, fugte er amtlich hinzu. »Natürlich kannst du das. Los jetzt! Wir haben es eilig! Weihen Sie gefälligst den Hügel, Mann!« Jones das Urteil grub die Fersen in den Boden. »Morgan, das ist doch absurd …« Angesichts Morgans Blick blieben ihm die Worte im Hals stecken. Der Wirt kam näher und sah Jones tief und drohend in die Augen. »Wenn Sie den Wunsch des Reverends nicht erfüllen, wird er Sie heimsuchen.« Jones das Urteil erschauerte. Er konnte sich gut vorstellen, wie ihn der Geist von Reverend Jones für den Rest seines Lebens heimsuchte. Ein äußerst unerfreulicher Gedanke. Die letzten Sonnenstrahlen trafen den Gipfel, als Jones das Urteil mit einer improvisierten Formel die Erde weihte, während der Sarg im Eilmarsch aus dem Dorf geholt wurde. Als der Sarg des Reverends schließlich in dem Hügel auf 284
dem Berg, den er so liebte, versenkt wurde, den Hügel, der im Grunde seine Idee gewesen war, war die Sonne untergegangen. Ivor und der Sergeant schauten zu Anson hinüber, der mit seinem Teleskop den Horizont betrachtete. Er sah sie an und schüttelte den Kopf. Zu spät für eine Messung. Im Dämmerlicht kletterte Morgan auf den Gipfel des Hügels. »Ich kann eigentlich nicht für den Reverend sprechen, und ich wäre sicher der letzte, den er sich als Grabredner gewünscht hätte. Doch diese außergewöhnlichen Umstände, die wir irgendwann mit einer anständigen Messe …« Seine Stimme versagte, er suchte nach den richtigen Worten. »Trotz der Tatsache, daß ich mich nicht so gut mit dem Reverend verstanden habe und Reverend Jones mit mir nicht recht glücklich war, habe ich ihn durchaus geschätzt. Und ich werde ihn vermissen …« Er riß sich zusammen. »Ich denke, wir sollten alle die Hüte abnehmen«, er sah sich um, es war bereits geschehen, »und für diesen Mann beten, der sein Leben – und seinen Körper – für diesen Berg gegeben hat.« Das Wort »Berg« war ausdrücklich an Anson gerichtet. »Der Sergeant sollte eine Hymne anstimmen.« Die Dunkelheit brach so schnell herein, daß Billy der Bergmann rasch Fackeln aus den Holzsparren fertigte, mit denen sie vorher den Hügel festgeklopft hatten. Und im Schein der Fackeln sang der Sergeant gemeinsam mit dem ganzen Dorf eine Begräbnishymne. Die Szene erinnerte an ein Ritual aus dem alten Britannien, aus der Zeit ihrer druidischen Vorväter: Ein Stamm versammelt sich um einen Grabhügel, stimmt ein Dankeslied an und erweist einem gefallenen Anführer so 285
die letzte Ehre. Als die Zeremonie beendet war, machten sich die Menschen schweigend an den Abstieg. Nur Morgan, die Twps, Ivor und der Polizist blieben zurück, um mit Anson zu sprechen. »Sie nehmen also den ersten Zug morgen früh?« fragte Morgan. Anson nickte und konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Ja, leider.« Unbehagliches Schweigen. Der Wind Heß das Licht ihrer Fackeln tanzen. »Naja, wir haben uns wirklich bemüht«, sagte Sergeant Thomas. Alle nickten zustimmend. Der Sergeant fuhr fort: »Und ohne den Reverend …« Morgan unterbrach ihn. »Ohne den Reverend hätten wir den Hügel überhaupt nicht gebaut.« »Da hast du recht«, gab der Sergeant zu. Die Dorfleute zerstreuten sich und ließen Anson allein zurück. Betty stand irgendwo hinter ihm. Er fühlte sich schrecklich. Allen hatte das Gefühl des Versagens im Gesicht gestanden. Die hängenden Schultern sagten mehr als tausend Worte. »Man wird ihn noch einmal vermessen«, rief er ihnen nach. »Vielleicht kommen wir auf dem Rückweg wieder vorbei.« Die Männer nickten, doch sie gingen weiter mit dem Wissen, daß Anson nur höflich sein wollte. Schließlich brach Betty ihr Schweigen und sagte zornig: »Sie werden nicht wiederkommen. An solche Orte kommen Leute wie Sie niemals zurück.« 286
»Ich werde es versuchen, ganz bestimmt«, entgegnete Anson. Bettys Stimme wurde lauter. »Es versuchen? Ist das alles, was Sie tun können?« Morgan blieb stehen, er kannte diesen Tonfall aus eigener Erfahrung. Die anderen blieben ebenfalls stehen, um zu hören, was Betty zu sagen hatte. Sie war nicht mehr zu bremsen und schrie Anson beinahe an. »Nach allem, was sie getan haben? Nach all der Arbeit? Wie würde es Ihnen gefallen, wenn die Leute sagen, es sei nur an Ihnen gescheitert?« Oh Betty, dachte Morgan, du magst mich zwar nicht mehr lieben, aber du hast zumindest etwas von mir gelernt. Anson geriet ins Stottern. Er hatte keine Lösung, er wußte nicht, was er tun sollte, außerdem war Nacht. »Was soll ich denn machen?« fragte er erstaunt über ihren Zorn. »Hier oben auf das erste Tageslicht warten, messen, ins Dorf zurückrennen, packen und …« Thomas Twp unterbrach ihn. »Im Sommer geht die Sonne schon um fünf auf«, erklärte er. Anson schaute zu den Dorfbewohnern und wieder zurück zu Betty. Sie lächelte ein wenig und sagte sanft: »Es sind nur ein paar Stunden. Ich leiste Ihnen Gesellschaft.« Sie hatte zwar leise gesprochen, ihre Worte waren aber trotzdem nicht zu überhören. Kein Mann auf dem Gipfel hätte dieses Angebot abgelehnt. Anson schwankte, faßte dann aber einen raschen Entschluß. »Wenn es nur ein paar Stunden sind und wir es schon so weit geschafft haben und sie sich so bemüht 287
haben, wäre es eine Schande. Ich sollte wirklich bleiben.« Die Dorfbewohner wünschten ihnen wie aus einem Mund eine gute Nacht und machten sich rasch aus dem Staub, um die beiden sich selbst zu überlassen. Als Morgan ins Dorf kam, bemerkte er Blod, die auf der anderen Seite des Platzes stand und in die Luft schaute. Sein Blick auf den Berg wurde durch das Pub versperrt, und so konnte er nicht sehen, was Blod sah: Die Gestalten von Anson und Betty näherten sich einander im Mondlicht. Also ein Problem weniger … Blod lächelte. Nun würde Morgan wieder ihr gehören. Morgan dachte, Blod hätte vielleicht auf ihn gewartet. »Einen Drink?« bot er ihr an, obwohl es schon zwei Uhr morgens war. Sie strahlte ihn an, und er hörte im Geiste schon ihr Ja, doch diesmal lag er falsch. »Ich hoffe für dich, es wird ein Berg, Morgan«, sagte sie nachdrücklich und marschierte davon. Der alte Schuft kann ruhig noch eine Nacht auf mich warten, dachte sie bei sich. Bedrückt ging Morgan ins Pub und fand zu seinem Entsetzen George Garrad hinter der Theke vor, der sich gerade einen Drink einschüttete. Der alte Trottel trug noch immer seinen Pyjama. Im Mundwinkel hing eine Zigarette, unrasiert war er auch. Vor ihm standen einige schmutzige Gläser und eine leere Ginflasche. Inzwischen hatte sich Garrad auch am Portwein vergriffen. Er hickste und warf Morgan einen Blick aus blutunterlaufenen Augen zu. »Glaube, es ist Sonntag«, japste er, »sind wohl alle in der Kirche.« Er wies auf die Auswahl an Spirituosen hinter sich. »Was darf ich Ihnen anbieten?«
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*** Was geschieht wohl, wenn eine schöne, feurige junge Waliserin und ein ruhiger, guterzogener Engländer eine gemeinsame Nacht auf dem Gipfel von Ffynnon Garw verbringen? Das werden wir nie erfahren, doch die Waliser haben – wie bereits berichtet – gewisse Vorstellungen von den Nächten, die man auf heiligen Bergen verbringt. War Ffynnon Garw bisher noch kein heiliger Berg gewesen, dann war er es jetzt. Die Waliser sagen, jeder, der eine Nacht auf dem Cader Idris verbringt, kehrt als Weiser, Verrückter oder Dichter zurück. Und was ist mit denen, die eine Nacht auf Ffynnon Garw zubringen? Obwohl das ganze Dorf völlig erschöpft war, ging fast niemand zu Bett. Die Menschen fielen in ihren Kleidern auf Sessel und Sofas. Manche schliefen gut, andere quälten sich mit der Frage, was Ansons Messung wohl ergeben würde. Um halb sechs am Morgen versammelten sich die ersten Leute auf dem Dorfplatz. Waren Anson und Betty schon zurück? Gab es ein Ergebnis? Um sechs stand beinahe das ganze Dorf auf dem Platz. An diesem Morgen fuhr kein Bergarbeiter in die Grube ein. Kein Brief und keine Flasche Milch wurde zugestellt. Der Ofen des Bäckers blieb kalt und jeder Stall im Dorf verschlossen. Eine Gruppe von Kindern wurde zu den unteren Hängen geschickt, um nach Anson und Betty Ausschau zu halten. Sie kamen aufgeregt kichernd zurück. Ja, die beiden waren auf dem Heimweg. »Und?« fragten die Eltern. Erneutes Kichern. Anson und Betty gingen Hand in Hand … Als Anson und Betty an diesem Morgen zurückkehrten, 289
verkündeten sie, Ffynnon Garw sei ein Berg von tausendundzwei Fuß Höhe – und sie hätten sich verlobt. Die Blaskapelle spielte den ganzen Tag auf dem Dorfplatz. Ältere Männer tanzten mit jungen Mädchen, ältere Frauen flirteten mit Jünglingen, und alle tanzten mit Anson und Betty. Morgan verteilte Bier durchs Fenster seines Pubs. Die Leute feierten bis zum Umfallen. Wäre an diesem Abend ein Pferdewagen über den Dorfplatz gefahren, hätte er die halbe Bevölkerung getötet, die schlafend auf der Straße lag. George Garrad nahm nicht den Acht-Uhr-Zug an diesem Morgen, aber er erreichte den Nachmittagszug. Und er fuhr nicht nach Norden, sondern in östlicher Richtung – wie Thomas der Zug es vorausgesehen hatte – zurück nach London, auf der Suche nach einem neuen Partner. Er kehrte nie wieder nach Wales zurück. Seine ehrgeizigen Pläne von einer definitiven Wales-Karte blieben graue Theorie. Sein einziger Beitrag zur Geschichte der britischen Kartographie war die Aufnahme von Ffynnon Garw in alle Landkarten Seiner Majestät – als Berg. Er war sich dessen nicht einmal bewußt, da Anson es in seinen Bericht eingeschmuggelt hatte. Es hat viele Gerüchte über Garrad gegeben, doch keines konnte bestätigt werden. Er sei wieder nach Afrika gegangen, nach Indien oder in den Sudan. Wahrscheinlich hat er England jedoch nie wieder verlassen. Ich habe mir immer vorgestellt, daß er in jene Gegend zurückgekehrt ist, die er so sehr liebte: In die überaus flache Ebene von East Anglia. Anson und Betty heirateten einen Monat später. Anson übernahm die Stelle von Davies dem Lehrer, der das Dorf verließ, weil der Bergbau – verzeihen Sie das Wortspiel – für ihn der Gipfel gewesen war. 290
Ich muß mich jetzt wohl etwas bremsen, denn als mir mein Großvater die Geschichte damals erzählte, habe ich gewisse Zusammenhänge nicht sofort begriffen. Beispielsweise ging mir am nächsten Tag in der Schule auf, daß Mrs. Anson – die grauhaarige Dame mittleren Alters, die mich in Erdkunde unterrichtete – Betty aus Cardiff war. Ich konnte sie nie wieder ansehen, ohne rot zu werden.
*** Ich habe drei Photographien vom Bergbau erwähnt, aber nur zwei von ihnen beschrieben. Das dritte Bild wurde eigentlich erst Jahre später aufgenommen. Es wird erzählt, daß sich Tommy der Zweitakter fünf Jahre später als stolzer Besitzer eines Motorrads mit Beiwagen wieder einmal hoffnungslos verfuhr und unterwegs eine brandneue Landkarte kaufen mußte. Im Gegensatz zu seinem ältesten Sohn bemerkte er es zunächst nicht: Auf der neuen Karte stand dick und fett Ffynnon Garw -Berg- 1.002 Fuß. Kurz darauf hatte jeder im Dorf eine gerahmte Kopie davon im Haus hängen. An einem heißen Sommertag stieg das ganze Dorf in Sonntagskleidern auf den Berg und posierte um den Hügel herum für ein Foto. Ich liebe dieses Bild, weil einige meiner Verwandten darauf zu sehen sind und weil es diese wunderbare Naivität ausdrückt, die ihnen zu eigen ist. Sie alle verdecken nämlich jenen Hügel, der Ffynnon Garw zum Berg werden ließ und dessen Entstehung sie feiern.
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*** Und wer nun glaubt, dies wäre nur eine lange und verwickelte Geschichte, die ein seniler Greis seinem allzu leichtgläubigen Enkel erzählt hat, der soll bitte nach Südwales kommen, in das Dorf, in dem ich geboren wurde. Seit meiner Kindheit hat sich die Gegend dramatisch verändert: Die Eisenbahnlinie wurde von einer verkehrsreichen Straße verdrängt, eine Autobahn durchschneidet das Tal an einem Ende. Das Feld, auf dem damals die Hunderennen stattfanden, ist mit Wohnhäusern zugebaut worden. Eine andere Siedlung entstand über dem kleinen See, der einst den Kanal speiste. Das alte Rugbyfeld wurde beim Bau einer neuen Schule zubetoniert, worüber sich Davies zweifellos gefreut hätte. Am Flußufer liegt jetzt ein Parkplatz. In meiner Kindheit gab es noch eine Kohlengrube im Dorf, ebenso in allen anderen Dörfern zwischen Ffynnon Garw und Merthyr, aber die Bergwerke sind inzwischen verschwunden. Durch den sogenannten Fortschritt, der sich überall hineinfrißt, ist die Landschaft kaum noch wiederzuerkennen. Doch eines ist unverdorben und unverändert geblieben: Die Berge haben sie nicht zugebaut. Als Besucher kommen Sie also nach Cardiff, fahren in nördlicher Richtung, nehmen die Straße, die sich durch Llandaff schlängelt und halten Ausschau nach dem ersten großen Hügel, nein, einem Berg! Schon aus fünf Meilen Entfernung kann man ihn erkennen – nein, nicht den Berg, den können Sie schon viel früher sehen. An einem klaren Tag erkennt man selbst von Cardiff aus eine kleine Erhebung, die von weitem 292
aussieht wie eine Brustwarze. Beim Näherkommen werden Sie jedoch feststellen, daß es sich um das kleine, von Menschenhand errichtete Hügelchen handelt, das diesen Hügel einstmals zu einem Berg machte. Ich kannte das Hügelchen schon, bevor ich die Geschichte erfuhr. Für uns war es ein Teil des Berges. Jedes Jahr zu Ostern marschierte das Dorf am Karfreitag hinauf, um dort warme Brötchen in Kreuzform zu essen. Ich kannte den »Limonadenstand«, bevor ich wußte, woher die Stelle ihren Namen hatte. Gehen Sie auf den Berg und stellen Sie sich vor, Sie schleppten einen schweren Eimer. Wenn Sie den Hügel erreichen, erscheint vor Ihrem inneren Auge eine Kette von Menschen, die sich von hier bis ins Tal erstreckt – und jeder von ihnen trägt ebenfalls einen Eimer. Sie können mir glauben, daß die Höhe des Hügels und die Entfernungen Sie überraschen werden. Alles ist viel größer, als es aussieht. Gehen Sie hinauf auf den Hügel selbst und spüren Sie die Tonnen von Arbeit unter Ihren Füßen. Aber bewegen Sie sich mit Ehrfurcht, denn es ist geheiligter Boden, ein Gebet, verewigt in Erde. Nicht nur ein Hügelchen, sondern ein Denkmal. Nicht nur ein Hügel, sondern ein Berg.
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