Der Dämonen‐Henker
Version: v1.0
Chrysa war eine weiße Hexe und zu Oggral, dem Dä‐ mon, unterwegs...
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Der Dämonen‐Henker
Version: v1.0
Chrysa war eine weiße Hexe und zu Oggral, dem Dä‐ mon, unterwegs. Sie war seine Gefangene, und er hatte sie unzählige Male mißbraucht, um über ihren Geist und ihren Körper zu triumphieren, sie zu erniedrigen und zu demütigen. Sie sollte erfahren, wie dumm es war, dem Bösen abzuschwören und sich dem Guten zuzuwenden. Zerbrechen sollte sie an dem Entschluß, an dem sie auch jetzt noch verbissen festhielt. Wieder hatte er nach ihr geschickt, um sein widerwärtiges Spiel mit ihr zu treiben, aber diesmal würde er nicht bekommen, was er wollte. Chrysa trug einen magischen Dolch in ihrem Gewand, den sie gegen Oggral einsetzen wollte. Sie war fest entschlossen, dem Dämon die Kehle durchzuschneiden.
Oggral war einer von vielen Dämonen, und er lebte auf einer Welt von vielen, in einer Dimension, die dem Dunstkreis der Hölle ange‐ hörte. In jungen Jahren hatte er die Reiche des Schreckens durch‐ wandert, doch bald war er des ruhelosen Umherziehens müde ge‐ worden und hatte sich einen festen Wohnsitz geschaffen. So mancher Gast, den er seitdem in seinem Haus aufgenommen hatte, überlebte das nicht. Oggral war falsch wie eine Schlange, er sprach doppelzüngig und wußte jedermann schlau zu täuschen. Auch Chrysa war auf ihn hereingefallen. Sie war vor Mago, dem Jäger der abtrünnigen Hexen, geflohen und glaubte, bei Oggral Schutz gefunden zu haben, denn der Dämon erklärte, er stünde zwar nicht auf ihrer Seite, aber er wäre ein erbitterter Feind von Mago, und deshalb könne sie mit seiner Hilfe rechnen. Es war eine Lüge. Chrysa war vom Regen in die Traufe gekommen. Mit Oggral hatte sie es sogar noch schlimmer getroffen, denn Mago hätte sie rasch getötet, während es Oggral gefiel, sie langsam zu Tode zu quälen. Der Mann, der sie zu Oggral brachte, war ein willenloses Werk‐ zeug des Dämons. Ihn zu bitten, ihr zur Flucht zu verhelfen, hatte keinen Sinn. Er tat nur, was Oggral genehm war. Es war kein Geheimnis, daß die Köpfe derer, die Oggrals Willen zuwiderhandelten, sehr locker saßen. Dennoch hatte er Männer im Gefolge, die nicht hundertprozentig hinter ihm standen, die nicht mit allem einverstanden waren, was er anordnete, aber es waren wenige, und es wurden immer weniger, dafür sorgte Oggral. Einer dieser Männer hieß Niaroc. Von ihm hatte Chrysa den ma‐ gischen Dolch bekommen, mit dem sie sich von der Tyrannei des Dämons befreien wollte. Aufgeregt verbarg sie ihn in ihrem weiten, blutroten Gewand, das sie immer tragen mußte, wenn Oggral nach ihr verlangte. Sie war sich darüber im klaren, was für sie auf dem Spiel stand, doch sie hatte sich entschlossen, das große Risiko einzugehen, alles auf eine Karte zu setzen.
Alles oder nichts! Freiheit oder Tod – es sollte eine Entscheidung fallen, denn diese quälenden Demütigungen wollte Chrysa nicht länger ertragen. Der Dämon sollte sterben. Heute nacht! Mit nackten Füßen ging Chrysa neben dem schweigenden Mann, der grimmig vor sich hin starrte und sie keines Blickes würdigte. Er sah wölfisch aus, hatte ein graues Gesicht mit hohen Wangen‐ knochen. Der Steinboden war kalt, und die Mauern waren mit nahezu schwarzer Düsternis bedeckt. Nur ab und zu blakte eine Fackel, die in einem Eisenring steckte. Der Weg zu Oggral war immer trostlos und deprimierend. Chry‐ sa hoffte mit jeder Faser ihres Herzens, daß sie ihn heute zum letz‐ tenmal gehen mußte. Vor einem großen, silberbeschlagenen Tor blieb sie stehen. Die zarte blonde Hexe griff rasch unter den blutroten Stoff, als befürch‐ te sie, den magischen Dolch verloren zu haben, aber er war noch da, und das beruhigte sie wenigstens für den Augenblick. Der Mann neben Chrysa schlug mit der Faust gegen das Tor und öffnete es. Weit schwangen die breiten Flügel auf, und helles Licht von Kerzen, Fackeln und Feuerstellen flutete aus dem großen Saal, in dem Oggral die weiße Hexe erwartete. Der Mann, der sie geholt hatte, trat nicht ein. Er wußte, daß Og‐ gral mit Chrysa allein sein wollte. Seine große, harte Hand legte sich auf ihren schmalen Rücken, sie bekam von ihm einen Stoß, der sie vorwärts taumeln ließ, und dann schlossen sich die schweren Torflügel hinter ihr mit einem dumpfen Knall, der Chrysas Herz erbeben ließ, weil so viel Endgültiges darin lag. Oggral stand zwischen zwei flachen Feuerbecken. Er war von großer, kräftiger Gestalt, und an Stelle von Haaren bedeckte seinen Kopf das schwarz glänzende Fell eines Panthers. Er besaß auch Reißzähne wie ein Raubtier, die ihn trotz ihrer furchteinflößenden Größe beim Sprechen nicht störten. Er konnte sich deutlich artikulieren, und seine Stimme war so kräftig und laut, daß sie den Saal bis in den letzten Winkel ausfüllte.
Ein rotes Adernnetz bedeckte seine Augen. Bei flüchtigem Hinse‐ hen hätte man meinen können, sie würden glühen. Sein Oberkörper war nackt, schwarzer geraffter Stoff bedeckte seine Hüften, und Stiefel aus braunem Leder ragten mit ihrem Schaft bis weit über sei‐ ne Knie. Gebannt stand Chrysa da. Mit einemmal glaubte sie sich zuviel zuzumuten. Zweifel wuchsen in ihr. Konnte sie diesem kraft‐ strotzenden Dämon etwas anhaben? Grundsätzlich war jeder Dämon zu vernichten, aber man brauchte die richtige Waffe dazu. Besitze ich die? fragte sich Chrysa bange, doch sie wollte auf je‐ den Fall an ihrem Entschluß festhalten. »Komm hierher!« befahl der Dämon mit seiner kräftigen Stimme, die stets ein wenig nach dem aggressiven Knurren eines Panthers klang. Zaghaft setzte sich Chrysa in Bewegung. Jeder Schritt, der sie dem Dämon näher brachte, steigerte ihre Angst. Er hatte Krallen an den Fingern, spitz und scharf, die er einziehen konnte. Damit hatte er Chrysa schon so manche schmerzhafte Verletzung zugefügt. Aber den körperlichen Schmerz konnte sie ertragen. Es war der seelische, den sie nicht mehr verkraftete. Sie erreichte ihn, und er musterte sie wie etwas, das ihm gehörte und an dem er großen Gefallen fand. Sein breites Grinsen widerte sie an. Er streckte unvermutet die Hand aus, und seine Krallen zuckten hervor. Die weiße Hexe schrak zusammen. »Leg dein Gewand ab!« verlangte Oggral. Der Feuerschein rötete Chrysas Gesicht und ließ Lichtreflexe in ihren braunen Augen tanzen. Der Pegel ihrer Nervosität schlug jetzt ganz hoch aus, denn wenn sie gehorchte, würde Oggral den Dolch sehen. Trotz der Wärme, die ihr aus den Feuerschalen entgegenschlug, fröstelte sie. Der Dämon begab sich zu einem breiten Lager und ließ sich dar‐
auf nieder. Chrysa versuchte ihr Glück; sie folgte ihm, ohne sich zu entkleiden. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als sie das Lager erreichte. Heimlich aktivierte sie ihre Hexenkräfte, die den Dolch zur tödlichen Waffe machen sollten. Oggral beachtete sie im Moment nicht. Er drehte sich zur Seite und griff nach einer Karaffe, in der sich ein Gebräu befand, das eine stark erotisierende Wirkung hatte. Damit wollte er einen großen Kelch füllen. Das ist die Chance! schoß es Chrysa durch den Kopf. Oggral rechnete mit keinem Angriff. Er war so leichtsinnig, ihr den Rücken zuzukehren. Wenn sie jetzt nicht handelte, war die bes‐ te Gelegenheit vertan, und es war fraglich, ob sich noch eine ergeben würde. Blitzschnell riß sie den magischen Dolch aus dem Gewand, ihre Hexenkräfte schossen hinein, und sie stürzte sich voller Haß und Mordwillen auf den starken Dämon.
* Ich goß mir einen Pernod ein und setzte mich. Ein Blick auf das Schachbrett genügte, um zu erkennen, daß mein Freund, der Ex‐Dä‐ mon Mr. Silver, wieder einmal gemogelt hatte. Er konnte es einfach nicht lassen. Das Schummeln war für ihn bei jedem Spiel das Salz in der Suppe. »Was soll das?« sagte ich verdrossen. Der Hüne mit den Silberhaaren hob die Hände und schaute mich mit seinen perlmuttfarbenen Augen treuherzig an. »Ich schwöre dir, ich habe die Figuren nicht angerührt.« »Das glaube ich dir sogar. Du wußtest dir anders einen Vorteil zu verschaffen.« Er legte die Hände auf seine Brust. »Aber Tony …« »Tu nicht so scheinheilig. Wir wissen, daß ein ehrliches Spiel für dich die reinste Folter ist. Dein Problem ist, daß du nicht verlieren
kannst. Du machst es rückgängig, oder wir beenden die Partie, und ich habe gewonnen.« »Das ist noch nicht entschieden«, sagte der Ex‐Dämon, und plötz‐ lich waren einige Schachfiguren von einem silbrigen Flirren und Flimmern eingehüllt. Aus Mr. Silvers Turm wurde ein Pferd, aus meinem Turm ein Läufer, einer der Bauern wurde zur Dame. »Du solltest mit deinen Kräften haushalten und sie für wichtigere Dinge zurückhalten«, riet ich dem Ex‐Dämon und machte den nächsten Zug. Der Hüne grinste. »Ach, weißt du, das tut meiner Kraft keinen Abbruch. So etwas mache ich mit links.« »Ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn du es sein ließest«, gab ich zurück, und nach sieben Minuten hatte ich meinen Freund so in die Enge getrieben, daß er sich geschlagen geben mußte, was ihm na‐ türlich gehörig gegen den Strich ging. Wir waren allein zu Hause – abgesehen von Boram, dem Nessel‐ Vampir, der sich so ruhig verhielt, als wäre er nicht anwesend. In die neue Umgebung hatten wir uns sehr rasch eingewöhnt. Das Haus am Trevor Place war größer, schöner und befand sich in einer attraktiveren Wohngegend, in der Nähe von Harrod’s, dem größten Kaufhaus der Welt, das auch die Mitglieder des Königshauses zu seinen Kunden zählte. Das Haus, in dem wir früher gewohnt hatten, gab es nicht mehr. Morron Kull, der ehrgeizige Dämon, hatte es von Satans Spreng‐ meister Toorsom in die Luft jagen lassen, und zwar so gründlich, daß nichts davon übrigblieb, nicht einmal Schutt.* Durch dieses Attentat hatten wir einen wichtigen, starken Ver‐ bündeten, einen kampfstarken Partner verloren – eine lebende Waffe: Shavenaar, das Höllenschwert. Ein schwerer Verlust. Wir sprachen zwar selten darüber, aber wir vermißten das Schwert, in dem ein Herz schlug, sehr. Mr. Silver, der sich jederzeit in meine Gedanken einschalten *siehe Tony Ballard 170: Der Herr des Feuers
konnte (ich hatte ihn schon oft gebeten, es nicht zu tun), wußte, woran ich in diesem Augenblick dachte. Er nickte mit gerunzelter Stirn. »Shavenaar war uns eine große Hilfe. So manchen Kampf hätten wir ohne das Höllenschwert verlo‐ ren.« Ich hatte es aufgegeben, meinem Freund klarzumachen, daß es sich nicht gehörte, in den Gedanken anderer herumzuschnüffeln. Er war ein Dämon, fand nichts dabei. »Damit hat es sich erledigt, nach Reypees Grab zu suchen«, sagte Mr. Silver. Reypee, der Gottähnliche, hatte eines Tages keine Freude mehr am Leben gehabt und sich entschlossen zu sterben. Große weißma‐ gische Kräfte hatten ihm zur Verfügung gestanden, Kräfte, die sich nach seinem Tod in dem Tuch befanden, das seinen Leichnam um‐ hüllte. Angeblich wußte niemand, wo sich das Grab befand. Wir hatten vorgehabt, es zu suchen, weil es immer wieder vorkam, daß Vertre‐ ter der schwarzen Macht das Höllenschwert an sich bringen woll‐ ten. Wir hatten uns lange den Kopf darüber zerbrochen, wie sich das Höllenschwert »weißwaschen« ließ, so daß es für unsere Feinde wertlos wurde. Reypees Leichentuch wäre die Lösung gewesen. Wenn es uns ge‐ lungen wäre, Shavenaar darin einzuwickeln, hätte die ungeheure weiße Kraft dafür gesorgt, daß kein Schwarzblütler das Schwert je‐ mals wieder anfassen konnte. Vorbei. Es war nicht mehr wichtig, Reypees Grab zu finden. Es gab kein Höllenschwert mehr.
* Es kommt öfter vor, daß zwei junge Männer in dasselbe Mädchen verliebt sind. Schön für das Mädchen, schlecht für die Jungs. Mel
Bellamy und George Hackman steckten in dieser Misere. Sie hatten bisher gegeneinander eigentlich nichts gehabt, doch nun mußte endlich Klarheit geschaffen werden, denn so ging es nicht weiter. Da keiner freiwillig zurückzutreten bereit war, wollten sie die Sa‐ che ohne Lindsays Wissen (sie war der Zankapfel) austragen – abends, in einer Scheune im Londoner Vorort Bexley. Lindsay hätte keine Freude daran gehabt, und Mel und George waren übereingekommen, ihr nie davon zu erzählen. Derjenige, der den bevorstehenden Kampf verlor, würde sich von Lindsay Smith zurückziehen, würde nicht mehr um sie werben, sondern dem Sieger das Feld überlassen. Mel und George würden sich an diese Vereinbarung halten. Sie waren zwar erst 17, aber doch schon Gentlemen. In der Scheune sagte George Hackman: »Ich tu’s nicht gern, das kannst du mir glauben, denn im Grunde habe ich nichts gegen dich, und außerdem verabscheue ich Gewalt.« »Mir geht es ebenso«, sagte Mel Bellamy. »Aber wie es aussieht, kommen wir nicht darum herum.« Mel nickte und hob die Fäuste. Der Kampf begann, und er dauerte sehr lange, denn was George an Kraft in die Waagschale warf, wog Mel mit seiner Schnelligkeit auf. Die tätliche Auseinandersetzung schien unentschieden auszuge‐ hen. Georges Kräfte ließen nach, aber auch Mels Schnelligkeit. Immer noch schlugen sie aufeinander ein, aber immer häufiger suchten sie Zuflucht im Klammern, um zu verschnaufen. Reines Glück entschied den Kampf schließlich zugunsten von Ge‐ orge Hackman: Mel Bellamy stolperte und mußte die schlaffe De‐ ckung aufmachen. Er ruderte mit den Armen und bot George Ge‐ legenheit zu einem Treffer, der ihn ausknockte. Wie vom Blitz gestreift fiel er um und blieb liegen. Als er zu sich kam, befand sich George noch bei ihm und schaute ihn besorgt an. »Alles in Ordnung, Mel?« »Ja«, stöhnte dieser.
»Ich wollte nicht so hart zuschlagen, ehrlich.« »Schon gut«, erwiderte Mel. »Kannst du aufstehen? Komm, ich helfe dir.« »Laß mich«, verlangte Mel. »Geh. Ich möchte allein sein.« »Es war ein fairer Kampf, nicht wahr? Das gibst du doch zu. Du hast verloren und kommst mir bei Lindsay nicht mehr in die Quere. So hatten wir es abgemacht.« »Ich werde mich daran halten«, knirschte Mel Bellamy und leckte sich vorsichtig die geschwollenen Lippen. »Du wirst mir in Zukunft hoffentlich nicht aus dem Weg gehen. Ich möchte, daß zwischen uns alles so bleibt wie bisher.« Mel nickte stumm. George streckte ihm die Hand entgegen. »Gibst du mir die Hand darauf?« Mel schlug ein. »Du hättest nicht gewonnen, wenn ich nicht gestolpert wäre«, schmälerte er Georges Sieg. »Wahrscheinlich nicht«, gab dieser zu. »Der Kampf hätte mit einem Unentschieden geendet. Möchtest du nicht doch mitkom‐ men? Was willst du noch hier?« »Ordnung schaffen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es im Augenblick in mir aussieht.« »Doch, das kann ich. Sehr gut sogar«, widersprach George. »Tut mir leid, Mel.« Bellamy winkte ab. »Verschwinde endlich.« George Hackman verließ die Scheune mit zahlreichen Schrammen und Schwellungen im Gesicht. Mel hatte ihm sogar ein blaues Auge geschlagen. Als Verlierer sah Mel genaugenommen besser aus. Lindsay würde morgen fragen, wieso George so schrecklich aus‐ sah. Er würde sich eine glaubhafte Antwort überlegen müssen. Langsam entfernte sich George Hackman von der Scheune. Etwasnahm seine Nähe wahr, doch er merkte es nicht, war zu tief in Gedanken versunken. Mel Bellamy sammelte sich allmählich. Er ließ sich damit Zeit, überlegte hin und her, was für Vorteile es ihm brachte, wenn er sich
nicht mehr um Lindsay bemühte. Er versuchte sich einzureden, daß es mit ihnen auf die Dauer ohnedies nicht gutgegangen wäre, und da war auch noch Margot Glenn, ein nettes, bescheidenes Mädchen, bei dem er Chancen hatte. Vielleicht sollte er in diese Richtung mehr Energie in‐ vestieren. Margot war das ohne Zweifel wert. Er erhob sich und beschloß, Margot gleich morgen zu fragen, ob sie mit ihm ins Kino ging. Sie würde bestimmt nicht nein sagen. Von diesem Moment an ging es Mel schon wieder viel besser. Er trat aus der Scheune in den kalten Novemberabend. Das Wetter spielte wieder einmal verrückt. Es war viel zu kalt für die Jahres‐ zeit, und gestern hatte es sogar kurz geschneit. Sechs Wochen vor Weihnachten! Das war zu früh. Langsam trottete Mel davon. Und wieder reagierte etwas auf die Nähe eines Menschen! Im Unterschied zu George Hackman nahm Mel Bellamy es wahr. Er wußte nicht, welche Signale er auffing, spürte aber sehr deutlich, daß da irgend etwas Mysteriöses war. In einem blattlosen Gebüsch. Oder dahinter. Der junge Mann ging zaghaft darauf zu.
* Irgend etwas warnte Oggral. Instinktiv schnellte er herum und schüttete der weißen Hexe den Inhalt des Kelchs ins Gesicht. Das Zeug brannte wie Säure in ihren Augen und machte sie vorüberge‐ hend blind. Sie schrie auf und versuchte, Oggrals Kehle zu treffen, ohne zu sehen, doch der Dämon wich aus und schlug mit vorgestreckten Krallen nach ihr. Wieder schrie Chrysa, als sich die spitzen Krallen schmerzhaft in ihr Fleisch bohrten, und ein zweiter Schlag warf sie neben dem Dä‐ mon aufs Lager. Beinahe hätte sie die Besinnung verloren. Oggral fluchte und ließ die weiße Hexe seine Wut spüren. Es fiel
ihm nicht schwer, ihr den magischen Dolch zu entwinden, und er hätte sie damit augenblicklich töten können, doch er tat es nicht. Grimmig stand er auf. Die Lust, sich mit ihr zu vergnügen, war ihm vergangen. »Du hast die Hand gegen mich erhoben. Ich bot dir Schutz vor Mago, du warst mein Gast!« »Gast?« schluchzte Chrysa, deren Augenlicht langsam zurück‐ kehrte. Sie konnte den verhaßten Dämon schon wieder vage er‐ kennen. »Deine Gefangene bin ich!« »War es nicht besser, als Gefangene zu leben, als als verhinderte Mörderin zu sterben?« Chrysa hob trotzig den Kopf. »Wenn ich nicht frei sein kann, wähle ich den Tod!« »Einen schrecklichen Tod!« kündigte der Dämon an. Chrysa sah wieder klar, und ihr fiel auf, wie das Rot aus Oggrals Augen intensiver wurde. Er attackierte sie mit einer grausamen Kraft, zeigte, wie stark er war. Die weiße Hexe fing an zu zittern. Sie versuchte die feindliche Kraft abzublocken, doch das gelang ihr nicht. Ihr Abwehrzauber war zu schwach, Oggral überwand ihn spielend und griff ihr Ge‐ dankenzentrum an. Chrysa hatte unendliche Mühe zu verhindern, daß sie wahnsinnig wurde. Ein namenloser Schmerz füllte ihren Kopf aus und reichte bis in die Haarspitzen. Sie hatte den Eindruck, ihr Kopf würde größer, aufgeblasen von Oggrals mörderischer Magie. Der grausame Dämon schien ihren Kopf zerspringen lassen zu wollen. Es war schrecklich. Je mehr sie sich wehrte, desto gnadenloser wurde der Schmerz. Jetzt! Jetzt zerplatzt mein Kopf! dachte Chrysa. Der Schrei, den sie laut und schrill ausstieß, mußte ihr Todes‐ schrei sein, danach konnte nichts mehr kommen. Ihr wurde schwarz vor den Augen, und Schwärze stürzte sich in ihr Gedächtnis. Das mußte das Ende sein.
*
Mel Bellamy blieb stehen und kratzte sich am Hinterkopf. Irgend etwas verbarg sich hier. Etwas, worauf sein sechster Sinn reagierte. Nun fragte er sich mit Recht, ob ihm Gefahr drohte, wenn er weiter‐ ging. Hatte ihn sein Instinkt gewarnt? Besser, du kehrst um, raunte ihm eine innere Stimme zu. Geh nach Hause, bring dich in Sicherheit, solange du es noch kannst. Er wollte gehorchen, fühlte sich aber auf eine unerklärbare Art festgehalten. Er wurde von etwas angezogen, das er nicht sah. Trotz der niedrigen Temperaturen legte sich ein dünner Schweißfilm auf seine Stirn. Er hätte doch lieber gleich mit George Hackman nach Hause ge‐ hen sollen, dann wäre ihm das erspart geblieben. Was eigentlich? Er würde es nie erfahren, wenn er nicht weiterging. Es nützte ohnedies nichts, sich zu sträuben. Er mußte sich dem Unbekannten weiter nähern. Es hatte ihn in seinen Bann geschlagen, hatte ihn fest im Griff. Deutlich spürte Mel Bellamy, daß die ausgesandte Kraft, die ihn traf, immer intensiver wurde. Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Augen, und als er den nächsten Schritt machte, entfuhr sei‐ ner engen Kehle ein überraschter Laut. Grenzenlose Verblüffung breitete sich über sein Gesicht. Ging die geheimnisvolle Kraft davon aus?
* Oggral ließ von der weißen Hexe ab, zog die Kraft, die ihren Kopf hätte zerstören können, zurück, und sie kam ächzend zu sich. Verwundert stellte sie fest, daß sie noch lebte. In Oggrals blutigen Augen war sie so gut wie tot. Was er ihr jetzt noch bescheren wollte, waren Angst und Grauen bis zu ihrem tat‐ sächlichen Ende.
Mit haßerfülltem Blick musterte er sie. »Du hättest wissen müssen, daß du mir nichts anhaben kannst. Ich bin zu stark und zu wachsam. Mich kann man nicht überrumpeln. Damit hast du dein Leben verwirkt.« »Warum hast du mich nicht getötet?« fragte Chrysa unglücklich. »Worauf wartest du noch?« »Du wirst sterben, wenn ich es für richtig halte.« Die weiße Hexe wußte, daß es nun keine Chance mehr für sie gab, ihre Freiheit jemals wiederzuerlangen. Oggral würde sie in Ketten legen lassen, damit sie nicht fliehen konnte, und dann würde sie, gepeinigt von einer unbarmherzigen Angst, auf ihren Tod warten müssen. Oggral betrachtete den kunstvoll verzierten magischen Dolch, dessen Schneide außergewöhnlich scharf war. »Die Kehle wolltest du mir durchschneiden. Von wem hast du diesen Dolch?« wollte Oggral wissen. Chrysa preßte die Lippen fest zusammen. Der Name durfte nicht über ihre Lippen kommen. Sie wollte Niaroc nicht auch ins Unglück stürzen. Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als seinen Namen preiszugeben. Oggral grinste. »Er gehört Niaroc, ich weiß es.« Die weiße Hexe erschrak. »Er hat ihn mir nicht gegeben. Ich habe ihn heimlich entwendet. Bestimmt vermißt er ihn seit Tagen.« »Nun, dann soll er ihn wiederbekommen«, sagte Oggral kalt lä‐ chelnd. »Schließlich habe ich keine Verwendung dafür.« Er rief nach einem seiner Diener und trug diesem auf, Niaroc un‐ verzüglich zu ihm zu bringen. »Du darfst Niaroc nicht bestrafen!« rief Chrysa. »Er ist unschul‐ dig.« »Er hat auf seinen Dolch nicht gut genug achtgegeben, das kann ich ihm nicht durchgehen lassen«, erwiderte Oggral eisig. Kurz darauf erschien der Diener mit Niaroc, einem kleinen, schmalen Mann mit hervorquellenden Augen und Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Im Wasser war er schnell wie ein Hecht. Niaroc hatte einen Sohn namens Kolumban, der zur Zeit
anderswo weilte und frühestens in zwei Tagen zurückerwartet wurde. Kolumbans Einstellung gegenüber Oggral war ähnlich wie die seines Vaters, nur wußte er sie besser zu verbergen. Mit einem Blick erfaßte Niaroc die Situation: Chrysa hatte es nicht geschafft! Ihr Blick gab ihm zu verstehen, daß sie ihn nicht verraten hatte. Er trat vor Oggral hin – unerschrocken, bereit, zu sterben. Er würde nicht um sein Leben betteln. »Du hast nach mir geschickt«, sagte er finster. »Ja. Ich wollte dich fragen, ob du nichts vermißt, Niaroc«, er‐ widerte Oggral, während er den magischen Dolch hinter seinem Rücken verbarg. »Nein«, antwortete Niaroc geradeheraus. »Und was ist damit?« fragte Oggral scharf und wies den Dolch vor. »Den habe ich ihr gegeben«, gestand Niaroc offen. »Das ist nicht wahr!« rief Chrysa dazwischen. »Ich habe ihm den Dolch gestohlen!« Sie wollte Niarocs Kopf retten, aber das war nicht mehr möglich. »Sie will dein erbärmliches Leben retten!« höhnte Oggral. »Du weißt, daß sie das nicht kann. Dein Kopf sitzt bereits sehr locker auf den Schultern. Du hast dich zu ihrem Komplizen gemacht, wolltest meinen Tod ebenso wie sie, hattest nur nicht den Mut, mich selbst anzugreifen.« Der Dämon drehte den Dolch um und hielt ihn ihm mit dem Griff hin. »Willst du es jetzt versuchen, oder bist du immer noch zu feige dazu?« Niaroc blickte auf das Heft des Dolchs. Schnell zupacken und zu‐ stoßen. Bestimmt rechnete der Dämon nicht damit, daß er sich dazu aufraffen würde. Oggral glaubte wahrscheinlich, die lähmende Angst würde ihn handlungsunfähig machen. Nun, der überhebliche Dämon sollte erfahren, daß er sich in ihm getäuscht hatte. Blitzschnell schnappte Niarocs Schwimmflossenhand nach dem dargebotenen Dolch. Mit ganzer Kraft wollte er dem Dämon die
magische Waffe zwischen die Rippen stoßen, doch Oggral war vor‐ sichtiger, als Niaroc dachte. Er hatte einen unsichtbaren Schutzschild geschaffen, gegen den die Dolchspitze klirrte. Weiße Blitze knisterten um den Dolch, der dem Angreifer brutal aus der Hand gerissen wurde. Ein Schlag von ungeheurer Kraft traf Niaroc und streckte ihn nie‐ der. Oggral zeigte auf ihn und sagte zu Chrysa: »Er wird dir vor‐ ausgehen – und du wirst ihm folgen, sehr bald schon!«
* Mel Bellamy machte große Augen. Vor ihm lag ein herrliches Schwert auf dem Boden. Die Klinge war leicht gebogen und wurde zur Spitze hin etwas breiter, ehe sie sich rasch verjüngte, und auf dem Klingenrücken befand sich eine dreizackige Krone. Ein königliches Schwert? Mel Bellamy war fasziniert. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ihn diese prächtige Waffe angelockt hatte. Angst hatte er jedenfalls keine, dafür aber den unbändigen Wunsch, dieses Königsschwert zu berühren, an sich zu nehmen. Daß dies mit einer Gefahr verbunden sein könnte, hielt er für ausgeschlossen. Er konnte nicht wissen, daß er Shavenaar, das Höllenschwert, vor sich hatte. Man durfte diese Waffe nur berühren, wenn man entwe‐ der über einen so starken Willen verfügte, daß man sich die lebende Waffe Untertan machen konnte, oder den Namen des Schwerts kannte. Beide Kriterien erfüllte Mel Bellamy nicht, deshalb war es für ihn lebensgefährlich, wenn er die Waffe berührte, die auf dem Amboß des Grauens für Loxagon, den Teufelssohn, geschmiedet worden war. Toorsom, der Sprengmeister des Satans, hatte Tony Ballards Haus paralysiert, und die Höllenkräfte, die bei der Explosion frei‐ wurden, lösten alles auf.
Auch den Safe, in dem sich Shavenaar befunden hatte. Nur am Höllenschwert selbst scheiterten die unbegreiflichen Kräfte. Sha‐ venaar trotzte ihrer zerstörerischen Gewalt, die es hochschleuderte, hinein in den Morgenhimmel. Wirbelnd hatte die lebende Waffe den Flug fortgesetzt und sich des vernichtenden, alles auflösenden Einflusses entzogen. Sha‐ venaars Flugbahn glich einer weiten Parabel und endete hier in Bexley, wo es nun Mel Bellamy entdeckt hatte. Ahnungslos bückte sich der Junge, und im nächsten Moment um‐ schlossen seine Finger den großen Griff, der zwei Händen Platz bot. Bisher hatte Shavenaar jeden getötet, der die Bedingungen nicht erfüllte.
* Man hatte sie in Ketten gelegt und in einen engen, nassen, kalten Kerker geworfen. Sie trug ein hellblaues Büßerkleid, und wenn sie durch das vergitterte Fenster sah, hatte sie den Knochenturm vor sich – und den blutgetränkten Richtblock, auf den sie bald ihren Kopf legen mußte. Zuvor aber sollte Niaroc dort sterben. Sein Leichnam würde nicht fortgeschafft werden. Er würde dort liegen bleiben, und nachts würden die Ghouls kommen und sein Fleisch fressen. So wurde es immer gehandhabt. Berge von abgenagten bleichen Knochen zeugten davon. Eine geheimnisvolle Kraft bewegte die Skelette auf den Knochen‐ turm zu, der die Form eines Teufelsschädels hatte und aus brü‐ chigem, graugrünem Stein bestand. Spitz waren die Ohren, dunkel, nachtschwarz die Augen; das Maul wies lange Steinzähne auf, war offen und stets bereit, die Knochen aufzunehmen. Ein dämonisches Feuer loderte darin und fraß die Skelette restlos auf. Diesen Weg werden auch meine Gebeine bald antreten, dachte Chrysa unglücklich.
Mehr als einmal hatte sie sich schon die Frage gestellt, ob es falsch gewesen war, dem Bösen abzuschwören und sich dem Guten zuzuwenden, doch selbst jetzt, in dieser ausweglosen Situation, vermochte sie darauf immer noch mit einem klaren Nein zu ant‐ worten, ohne zu zögern. Chrysa blickte sich in der kleinen Zelle um, die sie sich mit allem erdenklichen Ungeziefer teilen mußte. Sie hatte Niaroc nicht mehr zu Gesicht bekommen, wußte aber, daß er noch am Leben war. Sie sehnte Kolumban herbei, der seinen Vater vielleicht noch hätte retten und mit ihm fliehen können, aber Kolumban war weit, sie wußte nicht einmal, wo. Es erfüllte sie mit Trauer und tiefem Bedauern, daß Niaroc durch ihre Schuld sein Leben verlieren würde. Wenn ich Kolumban doch nur eine Nachricht zukommen lassen könnte, dachte Chrysa verzweifelt, doch die Männer, die sie be‐ wachten, sprachen nicht einmal mit ihr. Hilfe durfte sie von denen nicht erwarten, dazu waren sie viel zu treue Diener ihres Herrn. Wenn sie sich bewegte, klirrten die schweren, dickgliedrigen Ketten, und die massiven Schellen drohten ihre Handgelenke wundzuscheuern, aber was machte das noch aus? Sie würde bald ihren Kopf verlieren – und alles würde ein Ende haben. Die Angst, die Schmach, die Schmerzen. Draußen tat sich etwas. Chrysa begab sich zum Fenster und umklammerte mit den Händen die dicken eisernen Gitterstäbe. In ihrem Inneren krampfte sich alles zusammen. Es war soweit. Sie brachten Niaroc zum Richtblock, wo der Henker bereits auf ihn wartete.
* Nichts geschah! Das hatte es noch nie gegeben!
Shavenaar machte zum erstenmal eine Ausnahme. Das Höllen‐ schwert unternahm nichts gegen Mel Bellamy. Er hatte es nicht nur berührt, sondern sogar aufgehoben. Es war schwer, lag aber doch ungemein gut in der Hand. Mel schwenkte die lebende Waffe hin und her. Er fühlte sich großartig mit diesem prächtigen Schwert in der Hand. »Wow!« stieß er begeistert hervor, und er versetzte sich geistig in die Zeit des Königs Artus, und in seinen Augen wurde das Höllenschwert zu »Excalibur«. Ihm lachte das Herz im Leibe. Er fragte nicht, wie das Schwert hierherkam und wem es gehörte. Er wußte nur, daß er es behalten wollte. Es kam ihm sehr alt vor. Antik nannte man das in diesem Falle wohl. Und antik war vermutlich gleichzusetzen mit wertvoll. Und das wiederum bedeutete, daß er es nicht behalten durfte, wenn er ein »ehrlicher Finder« war. Nun, im Prinzip war er nicht unehrlich, aber in diesem speziellen Fall würde er eine Ausnahme machen. Jemand, der ein so wunderbares Schwert verlor, der war es eigentlich nicht wert, es zu besitzen, fand Mel. Er stach mit der Schwertspitze in den Boden und stützte sich auf den Faustschutz, und Gedanken an die Ritter der Tafelrunde geisterten durch seinen Kopf. Versonnen trat er den Heimweg an, und er sagte sich, daß er das Schwert an seinen Eltern vorbeischmuggeln mußte. Sein Vater war ein strenger, gerechter Mann, der niemals geduldet hätte, daß sein Sohn etwas besaß, das ihm nicht gehörte. Es hätte nichts genützt, zu sagen: »Ich habe das Schwert ge‐ funden. Vielleicht hat es sein bisheriger Besitzer weggeworfen.« Mel wußte, was sein Vater erwidert hätte. »Du bringst es gleich morgen früh zur Polizei. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kom‐ me, möchte ich, daß es nicht mehr da ist. Haben wir uns verstanden, Sohn?« Er konnte in diesen Dingen sehr hart und un‐ erbittlich sein. Unrecht Gut gedeiht nicht! Das hatte er seinem Sohn schon oft gesagt, denn Mels Vater war bestrebt, einen anständigen Menschen aus ihm zu machen.
Mel betrat das elterliche Haus durch die Hintertür. Im Wohnzimmer lief der Fernsehapparat – ein Kulturfilm mit prächtigen Aufnahmen aus der Kalahari‐Wüste. Brillante Bilder. Mel erhaschte einige davon, da die Tür offen war. Es war nicht einfach, sich und das Schwert daran vorbeizuschmuggeln, denn sei‐ ne Eltern saßen so, daß sie ihn unter Umständen aus den Augen‐ winkeln bemerken konnten. Und er mußte auf noch etwas achten: Die vierte Stufe von unten ächzte. Wenn Mel seinen Fuß darauf setzte, hätten sich Mutter und Vater gleichzeitig umgedreht. Er machte einen großen Schritt und ließ die vierte Stufe aus; das Königsschwert, wie er es nannte, drückte er dabei fest an seinen Kör‐ per, ohne zu wissen, daß das bisher undenkbar gewesen war. Shavenaar schien sich verändert, schien seine kompromißlose Aggression verloren zu haben. So sah es aus. Aber so war es nicht. Shavenaar beherrschte sich aus einem ganz bestimmten Grund. Das Höllenschwert hatte mit dem Jungen etwas vor, ohne daß er es ahnte. Shavenaar benützte Mel Bellamy. Seit er es entdeckt hatte, be‐ einflußte es ihn. Er nahm es nicht nach Hause, weil er es wollte, son‐ dern weil es Shavenaar von ihm verlangte, und zwar auf einer Ebene, von der Mel nicht einmal im entferntesten wußte, daß es sie gab. Er fühlte sich nach wie vor frei in seinen Entscheidungen. Aber man konnte behaupten, daß er von Shavenaar in einer recht geheimnisvollen Weise besessen war. Der Geist des Höllenschwerts befand sich in ihm und lenkte ihn. Genaugenommen hatte sich Shavenaar Arme und Beine zugelegt, derer es sich nach Belieben bediente. Mel erreichte das Obergeschoß. Aufgeregt betrat er sein Zimmer. An der Decke, über seinem Bett, klebte ein Poster seiner derzei‐ tigen Lieblings‐Popgruppe: U2. Auf den Regalen standen viele Bü‐ cher. Mel konnte sich rühmen, sie alle gelesen zu haben. Er drehte sich in der Mitte des gemütlich eingerichteten Raumes
um die eigene Achse und fragte sich: Wohin mit dem Königs‐ schwert? Er konnte es nicht offen irgendwo hinstellen oder ‐legen. Auch an die Wand hängen konnte er das kostbare Stück nicht, denn dann hätte es Mutter schon morgen entdeckt und gefragt, woher es kam. Also wohin mit dem Königsschwert? Es blieb eigentlich nur der Schrank, in dem er es verstecken konnte. Nur nachts, wenn alle schliefen, würde er es hervorholen und sich damit beschäftigen können, aber das war besser, als sich davon trennen zu müssen. Mel hörte die vierte Stufe ächzen. Jetzt mußte er schnell sein! Er eilte zum Schrank, riß die Tür auf, schob die Kleidung hastig beiseite und stellte das Schwert hinein. Rasch schob er die Kleider wieder zurück, als würde er einen Vorhang schließen, und im nächsten Augenblick klopfte es an der Tür. »Ja«, antwortete er nervös. Während sich die Tür öffnete, schloß er den Schrank und schob die Hände in die Hosentaschen. Burt Bellamy, Mels Vater, trat ein. Ein kluger Mann, dem man nur sehr schwer ein X für ein U vorma‐ chen konnte. »Hi, Dad«, sagte Mel, seine Erregung mühsam unterdrückend. »Na, mein Junge.« Burt Bellamys Blick richtete sich auf den Schrank. Mel stockte der Atem. Hatte Dad ihn bereits durchschaut? Er entfernte sich zwei Schritte vom Schrank, damit sein Vater nicht auf die Idee kam hineinzusehen. »Du warst lange weg«, sagte Burt Bellamy mit leisem Vorwurf. »Mutter fing schon an, sich Sorgen zu machen.« »Dad, ich bin 17.« Burt Bellamy hob die Schultern. »Du kennst deine Mutter. Sie wird sich noch um dich sorgen, wenn du doppelt so alt bist. So sind Mütter nun einmal. Damit müssen wir Männer leben.« Ihm blieb Mels Nervosität nicht verborgen, und seine Augen
wurden schmal. Er wollte wissen, ob alles in Ordnung wäre. »Ja«, antwortete Mel mit belegter Stimme. »Natürlich.« »Du weißt, daß du mit mir über alles reden kannst.« Mel nickte. »Bist du sicher, daß es nichts gibt, was du mir erzählen möchtest?« bohrte Burt Bellamy. »Absolut, Dad. Es ist alles bestens, wirklich.« »Deine Hose ist schmutzig. Und du hast geschwollene Lippen. Hast du dich etwa geprügelt?« Es war besser, darüber zu reden als über das Königsschwert, deshalb gab Mel die Schlägerei unumwunden zu. Selbstverständ‐ lich verriet er den Grund nicht, sondern sagte: »Eine kleine Mei‐ nungsverschiedenheit unter Freunden. Hat nichts zu bedeuten, Dad.« »Mit George Hackman?« fragte Burt Bellamy. Mel nickte. Sein Vater schüttelte den Kopf. »In deinem Alter rauft man doch nicht mehr. Wenn Mutter davon erfährt, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen und kann die ganze Nacht nicht schlafen.« »Dann ist es wohl besser, wenn du ihr nichts davon erzählst«, meinte Mel. »Ja«, sagte Burt Bellamy, »das glaube ich auch. Kommst du noch zum Fernsehen hinunter?« Mel schüttelte den Kopf. »Ich bin müde. Ich gehe gleich zu Bett.« Burt Bellamy lächelte. »Der Kampf hat dich ziemlich geschlaucht, was? Hast du wenigstens gewonnen?« »Verloren.« »Mach dir nichts draus, man kann nicht immer siegen. Ißt du nichts mehr?« »Ich habe keinen Hunger«, antwortete Mel. »Ich sage Ma, daß sie nicht nach dir zu sehen braucht«, meinte Burt Bellamy und verließ das Zimmer. Bevor er die Tür schloß, sag‐ te er noch: »Gute Nacht, mein Junge.« »Gute Nacht, Dad«, gab Mel zurück, dann war er wieder allein und atmete erleichtert auf, aber er machte sich nichts vor. Es würde
sehr schwierig sein, das Königsschwert über einen längeren Zeit‐ raum hinweg verborgen zu halten, denn Mutter hatte überall im Haus Zugang. Er konnte schlecht sagen, sie dürfe seinen Schrank nicht mehr öffnen. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen, überlegte Mel und holte mit vor Begeisterung glänzenden Augen das Schwert noch einmal hervor. Mit einer gewissen Ehrfurcht berührte er die breite Klinge, und er versuchte sich vorzustellen, in wie vielen Kriegen diese alte Waffe dabeigewesen war. Er konnte von Glück sagen, daß ihn das Höllenschwert nicht se‐ hen ließ, in wessen Händen es sich schon befunden und was für grauenerregende Kreaturen es vernichtet hatte. Schlimme Alpträu‐ me hätte das zur Folge gehabt. Später, als er im Bett lag, befand sich Shavenaar wieder in der Tiefe des Schranks und störte Mel Bellamys Nachtruhe nicht. Der Junge hörte seine Eltern heraufkommen. Sie sprachen leise vor seiner Tür und begaben sich in ihr Zimmer. Alsbald kehrte Stille ein. Die gewohnte, vertraute Ruhe breitete sich im Haus aus, nahm davon wie jede Nacht Besitz und würde sich erst bei Tagesanbruch wieder zurückziehen. Obwohl der Schwertfund den Jungen sehr beschäftigte, fiel er schließlich doch in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem er im Morgengrauen erwachte. Nein, erwachen war nicht das richtige Wort. Er schreckte hoch! Shavenaar hatte ihn geweckt!
* Der Henker erwartete Niaroc mit einem langstieligen, blutigen Beil. Der lange Stiel ermöglichte eine größere Wucht. Noch nie hatte der Henker zweimal zuschlagen müssen. Zitternd klammerte sich Chrysa an die kalten Gitterstäbe und hatte entsetzliches Mitleid mit dem Delinquenten. Der Henker war schwarz gekleidet und trug einen langen Um‐
hang, der wallend über seine nackten Schultern nach hinten fiel und ihn bei der Ausübung seines blutigen Handwerks nicht stören würde. Er trug einen Flügelhelm, der zugleich eine Maske war und sein Gesicht hinter stumpfer Schwärze verbarg. Chrysa wußte nicht, warum er sich maskierte, wo doch jedem be‐ kannt war, daß Oggral der Henker war. Ja, der Dämon war Richter und Henker in einer Person! Er sprach nicht nur das Todesurteil aus, er vollstreckte es auch selbst. Niemand anderem hätte er dieses Geschäft, das ihn befrie‐ digte, überlassen. Sie stießen Niaroc vor dem Richtblock auf die Knie und zwangen ihn, den Kopf darauf zu legen, dann traten sie zurück, und der Henker nahm Maß. Chrysa erkannte, daß Oggral seine roten Augen auf sie richtete, und ihr Blut gerann in den Adern. Hier siehst du, was dich erwartet! schien sie der grausame Dä‐ mon wissen zu lassen. Schaudernd und verzweifelt wandte sie sich ab, aber ihre Ohren konnte sie nicht verschließen. Sie hörte das hackende Geräusch und wußte, daß es für Niaroc vorbei war. Für Niaroc! Jedoch nicht für sie. Sie hatte dieses grauenvolle Ende noch vor sich. Unglücklich sank sie zu Boden, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte. Warum hatte es nicht geklappt? Wieso war es ihr nicht gelungen, Oggral zu töten? Morgen würden von Niaroc nur noch die Knochen dort draußen liegen. Wieder einmal würden die Ghouls ganze Arbeit geleistet haben. Eine widerliche Brut waren sie, diese Leichenfresser, die von allen verachtet wurden. Aber zu Oggral paßten sie. Nun mußte Chrysa warten. Warten, bis es dem Dämon gefiel, auch sie zu enthaupten.
*
Mel Bellamy rieb sich schlaftrunken die Augen. War das möglich, was er sah, oder träumte er? Brannte im Schrank ein Licht? Oder … war darin ein Feuer ausgebrochen? Mel sprang aus dem Bett und eilte zum Schrank. Er riß die Tür aufgeregt auf und stellte fest, daß die Klinge des Königsschwerts leuchtete, als befände sich Neongas in ihr. Fassungslos starrte Mel auf die rätselhafte Waffe. Das Licht war seltsam bleich und auf eine undefinierbare Weise lebendig. Mel fühlte sich unwiderstehlich davon angezogen, vielleicht so‐ gar in Trance versetzt. Shavenaar gab ihm einen stummen Befehl, und ihm fiel nicht auf, daß er sogleich daranging, ihn auszuführen. Er schlüpfte aus seinem Schlafanzug, zog sich an und holte das Schwert aus dem Schrank. Allmählich wurde das Leuchten schwä‐ cher und verflüchtigte sich schließlich ganz, aber der intensive Kon‐ takt zu Mel Bellamy blieb bestehen. Der Junge verließ auf Zehenspitzen sein Zimmer. Kein Geräusch durfte die Eltern wecken. Mel schlich die Treppe hinunter. Stufe Nummer vier ließ er wieder aus. Er nahm sich Zeit. Wichtig war in erster Linie, unbemerkt fortzu‐ kommen. In den Morgenstunden schläft man nicht mehr so tief, da können einen schon die kleinsten Geräusche wecken. Im Erdgeschoß lehnte Mel das Schwert kurz an die Wand und zog leichte, bequeme Sportschuhe an. Dann holte er Vaters Wagen‐ schlüssel und begab sich mit dem Höllenschwert in die Garage, in der ein betagter Ford Escort stand. Obwohl beide Elternteile arbeiteten – Mutter als Kranken‐ schwester, Vater als Leiter eines Supermarkts –, leisteten sie sich kein neues Auto, weil das in Dads Augen Verschwendung gewesen wäre. Solange es der Escort noch einigermaßen tat, stand ein neuer Wagen nicht zur Diskussion. Kleine Macken (wie zum Beispiel spo‐ radisch auftretende Startschwierigkeiten) nahm Burt Bellamy dabei
großzügig in Kauf. Mel öffnete nervös die ächzende Tür auf der Beifahrerseite und legte das Schwert auf die Sitzbank im Fond. Das Garagentor hatte er noch nie langsamer und vorsichtiger auf‐ gemacht. Als es endlich offen war, kehrte er zum Wagen zurück und stieg ein. Er schob den Schlüssel ins Zündschloß und wollte den Motor anlassen. Hoffentlich gibt es damit diesmal keine Probleme, dachte er, bebend vor Aufregung. Leise würde der Startvorgang nicht sein, aber wenn der Motor sofort ansprang, würde Mel fort sein, bis sein Vater in der Garage erschien. Bevor er den Schlüssel jedoch drehen konnte, wurde die Tür auf‐ gerissen, und Mels Vater knurrte ziemlich böse: »Würdest du mir bitte erklären, was das soll, Junge!«
* Am nächsten Tag waren von Niaroc nur noch die Knochen übrig. Chrysa hätte nicht zum Fenster hinauszuschauen brauchen, um das zu erfahren. Sie hatte in der Nacht die Ghouls gehört. Langsam schoben sich die Gebeine, die den Boden bedeckten, auf den Knochenturm zu. Sie schienen auf einem Förderband zu liegen, das sich fast unmerklich bewegte, aber doch niemals stillstand, und der grausame Oggral sorgte ständig für Knochennachschub. Bei kleinsten Vergehen drohte einem schon die Todesstrafe. Man ließ Chrysa darben, gab ihr weder zu essen noch zu trinken. Wozu sollte man noch Nahrung an sie verwenden, wo sie doch bald ihren Kopf verlieren würde. Als sie am Nachmittag Schritte hörte, krampfte sich ihr Herz zu‐ sammen. Sie kommen, dich zu holen! dachte sie und hob unglücklich den Blick. Die Tür wurde geöffnet, und zwei kräftige Männer traten ein. In
ihren Augen war Chrysa eine Verrückte. Wie anders war es zu er‐ klären, daß sie es gewagt hatte, Oggral in mörderischer Absicht anzugreifen? »Aufstehen!« befahl einer der beiden Männer. Kälte und Feuchtigkeit hatten ihre Gelenke steif gemacht, deshalb konnte sie nicht so schnell aufstehen, wie es erwünscht war. Außerdem hatte sie keine Veranlassung, sich rasch zu erheben, schließlich erwartete sie nicht die Freiheit, sondern der Tod. Die Männer packten ungeduldig zu und zerrten sie brutal hoch. Dabei zerrissen sie ihr Büßerkleid, aber was machte das schon? Die Männer griffen sich die Ketten und führten Chrysa hinaus. Mehrmals stolperte die weiße Hexe, denn die Männer gingen zu schnell. Zweimal wäre sie beinahe gestürzt, doch darum küm‐ merten sich die Schergen nicht. Sie verließen den Kerkertrakt durch ein massives Gittertor und führten Chrysa zum Richtblock. Oggral erwartete sie noch nicht, aber er würde bald erscheinen, darauf konnte sie sich verlassen. »Auf die Knie!« wurde ihr befohlen, und ein kräftiger Stoß half nach. Glühende Schmerzen durchzuckten ihre Knie, und sie schluchzte auf, doch die Schergen hatten kein Mitleid. Neben ihr lagen die bleichen Skelette, vor ihr befand sich das blutgetränkte Holz des Richtblocks. Sie hatte ihre schreckliche Zu‐ kunft ganz nah vor sich, und sie wünschte sich in diesem Augen‐ blick der totalen Verzweiflung, Oggral möge mit seinem Henkers‐ beil erscheinen und dieser seelischen Folter ein gnädiges Ende be‐ reiten. Doch so sah Oggrals Strafe nicht aus. Deshalb ließ er sich auch noch nicht blicken. Noch lange nicht! Man kettete Chrysa zwischen Skeletten und Richtblock an. Sie sollte tausendmal bereuen, was sie getan hatte. Die Schergen ließen sie allein, und sie war sicher, daß Oggral sie heimlich beobachtete. Er wollte sie innerlich zerbrechen sehen, be‐ vor er sie erlöste. Es zog sich lange hin bis zum Abend, und die Dämmerung, so
kam es Chrysa vor, dauerte länger als sonst. Schließlich wurde es dunkel. Eine schwarze, schattenlose Nacht breitete sich über die grausige Richtstätte, die Chrysa, da sie angekettet war, nicht verlassen konnte. Sie sank in sich zusammen, war unendlich traurig, aber Reue empfand sie nicht, würde sie niemals empfinden, selbst wenn sie hier noch Wochen auf den Tod warten mußte. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Außer einem: Daß ihr Vorhaben mißglückte. Bewegung in der Nähe. Chrysa wußte, was das bedeutete: Die Ghouls kamen!
* Mel Bellamy starrte seinen Vater entgeistert an. »Dad, ich …« Er brach ab, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. »Ich … Es tut mir leid, aber …« Es war ein hilfloses Gestammel, aus dem Burt Bella‐ my nicht schlau wurde. »Aussteigen!« befahl er energisch. »Los! Raus aus dem Wagen!« Als der Junge nicht sofort gehorchte, packte ihn sein Vater am Kragen und zerrte ihn heraus. »Bist du komplett übergeschnappt?« fragte Burt Bellamy streng. »Ich warte immer noch auf eine Erklärung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine sein wird, die mich zufriedenstellt. Schleichst im Morgengrauen aus deinem Zimmer und stiehlst wie ein übler Verbrecher meinen Wagen.« »Ich wollte den Wagen nicht stehlen, Dad.« »Ich habe dir nicht erlaubt, ihn zu benützen, oder sollte ich mich irren?« »Nein, Dad, ich …« »Wohin wolltest du?« fragte Burt Bellamy unerbittlich. »Ich … weiß es nicht.« Burt Bellamy sah seinen Sohn wütend an. »Was denn, du willst mir einreden, du wüßtest nicht, wohin du so früh am Morgen fah‐
ren wolltest?« »Ich weiß es wirklich nicht, Dad«, erwiderte Mel verzweifelt. »Schlafwandlerei kommt ja wohl nicht in Frage«, sagte Burt Bella‐ my laut. »Du hast dir noch nie im Schlaf die Wagenschlüssel geholt. Das hast du mit voller Absicht getan. Also heraus mit der Sprache! Was wäre das Ziel dieser frühen Spritztour gewesen?« Mel konnte es ihm nicht sagen. Burt Bellamy hielt es für Verstocktheit, und das machte ihn noch wütender. »Melvyn …« – wenn er Melvyn sagte, wurde es immer kritisch, deshalb zog der Junge den Kopf ein, als würde er ein Unwetter mit Blitz und Hagel erwarten – »Melvyn, du sagst mir jetzt auf der Stelle …« Er unterbrach sich, starrte an Mel vorbei in den Wagen und fragte zornig: »Was ist denn das?« Mel brauchte sich nicht umzudrehen; er wußte, was sein Vater entdeckt hatte. »Woher hast du dieses Schwert?« wollte Burt Bellamy wissen. »Gestohlen?« »Gefunden«, antwortete Mel wahrheitsgetreu. »Noch eine Lüge!« polterte Burt Bellamy. »Nur weiter so. Laß die Maske fallen, zeig mir dein wahres Gesicht! Mein Sohn ist ein Lügner und ein Dieb!« »Das bin ich nicht!« verteidigte sich Mel, nun ebenfalls zornig. Er konnte es nicht vertragen, wenn jemand an seiner Wahrheitsliebe zweifelte. »Wenn ich sage, daß ich dieses Schwert gefunden habe, dann stimmt das. Ich habe dich noch nie belogen. Wenn ich be‐ haupte, daß ich nicht weiß, wohin ich fahren wollte, entspricht das ebenfalls der Wahrheit. Würdest du das bitte zur Kenntnis nehmen, Dad!« Burt Bellamy stemmte die Fäuste in die Seiten. »Sag mal, wie re‐ dest du denn mit deinem Vater?« »Entschuldige, Dad, aber du mußt mir glauben, was ich sage.« »So. Muß ich das. Und wieso? Solche Waffen liegen nicht in je‐ dem Hinterhof und jedem Park oder auf der Straße, das wirst du doch wohl zugeben.«
Mel entschloß sich, seinem Vater die ganze Geschichte zu erzäh‐ len. Als er da anlangte, wo ihn das Königsschwert geweckt hatte, leg‐ te sich zuerst Ungläubigkeit und dann Unwillen auf Burt Bellamys Züge. »Als nächstes wirst du mir weiszumachen versuchen, daß es sich um ein Zauberschwert handelt, das dir befahl, es fortzubringen«, sagte Burt Bellamy verdrossen. Mels Augen weiteten sich. »Darauf bin ich noch nicht gekommen. Es wäre möglich, Dad.« Burt Bellamy schüttelte ernst den Kopf. »Junge, was ist bloß los mit dir?« »Nichts, Dad, ich bin okay.« »Das bezweifle ich.« Burt Bellamy drängte seinen Sohn zur Seite und beugte sich in das Auto. »Nicht anfassen, Dad!« rief Mel erschrocken. Mit einemmal glaubte er zu wissen, daß das für seinen Vater gefährlich sein würde. »Es will nicht, daß du es berührst!« »Blödsinn. Ein Schwert kann nichts wollen!« gab Burt Bellamy ärgerlich zurück und setzte sich über die gutgemeinte Warnung sei‐ nes Sohnes hinweg. Und Shavenaar reagierte auf die unerwünschte Berührung!
* Noch sah sie die Leichenfresser nicht, aber sie hörte und roch sie. In ihrer ursprünglichen Gestalt waren sie Wesen mit einer schleimig‐ glänzenden Haut, tiefliegenden bernsteinfarbenen Augen und dreieckigen Zähnen. Aber sie konnten ihr Aussehen ändern, und dann verströmten sie auch nicht ganz so stark diesen bestialischen Gestank nach Verwesung, der ihnen jetzt anhaftete, der sie einhüllte wie ein Mantel. Ihre Hände glichen den großen Schaufeln von Maulwürfen, und viele von ihnen lebten unter der Erde, vor allem unter Friedhöfen,
in die sie weitverzweigte Ganglabyrinthe gruben und sich über je‐ den neu begrabenen Toten hermachten. Diese hier hatten eine bequemere Möglichkeit entdeckt, an Nah‐ rung zu kommen. Allnächtlich suchten sie den Richtplatz auf, um nachzusehen, ob es hier wieder einen Toten für sie gab. Heute wurden sie enttäuscht, Chrysa lebte noch. Aber wenn sie morgen wiederkamen … Man hörte ab und zu von Gaddol, dem Oberghoul, dessen Auf‐ gabe es sein sollte, das schlechte Image der Leichenfresser zu heben, denn Ghouls waren die rangniedrigsten Dämonen, alle schauten auf sie hinab und verachteten sie. Gaddol plante, die Sippen zu vereinen, denn Einigkeit macht stark. Unter seiner Führung sollten die Leichenfresser an Ansehen gewinnen, doch kaum einer glaubte, daß ihm das gelingen würde. Niemand rechnete damit, daß aus den Ghouls eines Tages ein ge‐ achteter Dämonenstand werden würde. Nur Gaddol glaubte daran; das mußte er, sonst wäre sein Vorhaben von vornherein zum Schei‐ tern verurteilt gewesen. Chrysa lauschte gespannt in die Dunkelheit. Es war nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß ihr die Ghouls et‐ was antaten. Nicht alle Leichenfresser warteten, bis ihr Opfer tot war. Es gab einige Ungeduldige unter ihnen, die auch schon mal nachhalfen. Die weiße Hexe beobachtete das bernsteinfarbene Leuchten in der Dunkelheit. Die Ghouls schlichen durch die Nacht und suchten nach Nahrung. Chrysa nahm plötzlich einen so intensiven Verwesungsgestank wahr, daß das nur einen Schluß zuließ: Einer der Leichenfresser mußte sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinden. Erschrocken drehte sie sich um – und hatte die schleimige Fratze des Dämons direkt vor sich.
*
Shavenaar hätte Burt Bellamy töten können, aber es begnügte sich damit, ihm einen starken, schmerzhaften magischen Schlag zu versetzen, der ihn zurückstieß und zu Boden warf, wo er verdattert liegenblieb. »Dad!« schrie Mel entsetzt. Im selben Moment erschien Eve Bellamy, Mels Mutter, in der Ga‐ rage. Als sie ihren Mann neben dem Escort auf dem Boden liegen sah, war sie einem Nervenzusammenbruch nahe. »Burt!« krächzte sie. »Um Himmels willen, was ist mit dir?« Burt Bellamy konnte nicht antworten, er stand unter Schock. »Mel, was ist mit deinem Vater?« wollte Eve Bellamy wissen. »Er hat das Schwert angefaßt.« »Welches Schwert?« fragte Eve Bellamy verwirrt. Der Junge zeigte auf die Waffe im Auto. »Wem gehört das?« fragte Eve Bellamy. »Mir. Ich habe es gefunden. Ich habe Dad gewarnt, aber er hörte nicht auf mich. Das Schwert läßt sich nur von mir berühren.« »Hör mal, was redest du denn da für einen Unsinn?« sagte Eve Bellamy ärgerlich. »Was machst du überhaupt um diese Zeit in der Garage? Was hat das alles zu bedeuten, Mel?« Obwohl Mel damit rechnete, daß ihm seine Mutter nicht glauben würde, versuchte er es doch mit der Wahrheit, während sie sich um ihren Mann kümmerte. Es hatte den Anschein, als würde sie ihrem Sohn nicht zuhören, aber diesen Eindruck hatte er oft, und hinterher stellte sich stets heraus, daß seine Mutter jedes Wort wußte, das er gesprochen hatte. Burt Bellamy betrachtete verstört seine Hand. Endlich fand er sei‐ ne Stimme wieder. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Was hast du uns da ins Haus gebracht, Mel? Es muß weg, muß schnellstens weg. Bring es dorthin zurück, wo du es gefunden hast.« »Damit es jemand anderem gefährlich wird?« sagte Eve Bellamy und half ihrem Mann aufzustehen. »Es darf nicht hierbleiben!« sagte Burt Bellamy heiser. Er hatte zum erstenmal im Leben Todesangst.
»Es will auch weg«, sagte Mel. Er wunderte sich, daß er das auf einmal wußte. »Du hättest mich nicht daran hindern sollen, es fortzubringen, Dad. Es hätte mich wahrscheinlich gelenkt, so daß ich es dorthin gebracht hätte, wohin es möchte.« »Du fährst auf gar keinen Fall allein!« sagte Eve Bellamy. Sie hatte sich von ihrem großen Schrecken glücklicherweise schnell erholt. »Dad kann mich nicht begleiten«, sagte Mel. »Ich komme mit dir«, entschied Eve Bellamy spontan. Burt Bellamy protestierte zwar, aber viel zu schwach, und so setz‐ te Mrs. Bellamy diesmal, was nur ganz selten vorkam, ihren Willen durch. »Wir bringen das Schwert fort und kommen umgehend nach Hause«, versprach Eve Bellamy. Sie versuchte nicht zu begreifen, wieso es möglich war, daß dieses mysteriöse Schwert einen eigenen Willen hatte, sondern wollte es nur so rasch wie möglich los‐ werden. Was auch immer mit dieser Waffe los sein mochte, Eve Bellamy hatte das Gefühl, daß sie kein Glück brachte. Sie begaben sich ins Haus, und Burt Bellamy setzte sich kraftlos. »In dieser Waffe steckt der Teufel«, sagte er gepreßt. »Seht euch vor. Ich wollte, ich könnte mitkommen. Euch mit diesem Satans‐ schwert allein zu wissen macht mir angst.« »Es wird uns nichts passieren, Dad«, sagte Mel. »Mir erlaubt das Schwert, es zu berühren.« »Ich begreife nicht, wieso.« Eve Bellamy war nach oben ge‐ gangen, um sich hastig anzuziehen. Zehn Minuten später betrat sie das Wohnzimmer. »Komm, Mel.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Wir bleiben nicht lange fort, Burt.« »Du weißt nicht, wohin das Schwert will.« »Sollte es länger dauern, rufe ich an«, versprach die Frau und verabschiedete sich von ihrem Mann mit einem Kuß. Er gab ihnen den Rat mit auf den Weg, vorsichtig zu sein. Eve Bellamy begab sich mit ihrem Sohn in die Garage und setzte sich an das Steuer des Escort. Mel nahm neben ihr Platz, und seine
Mutter startete den Motor. Eve schaute ihren Sohn fragend an. »Wohin soll ich fahren?« Mel schloß die Augen und konzentrierte sich auf das Höllen‐ schwert. Shavenaar frischte die bestehende geistige Verbindung auf und machte den Jungen zu seinem Sprachrohr. »Wir fahren nach Paddington«, sagte Mel Bellamy, ohne die Augen zu öffnen.
* Chrysa starrte dem Ghoul aus nächster Nähe in die Augen. Er stank so bestialisch, daß es ihr den Atem verschlug. Er verzog seine schleimige Fratze zu einem widerlichen Grinsen und entblößte gelbe, dreieckige Zähne, wie sie auch Haie besaßen. Seine schaufelartige Klaue näherte sich dem schönen Gesicht der weißen Hexe. »Wenn ich wollte, könnte ich dich befreien«, sagte er mit einer unangenehm kratzigen Stimme. »Das wagst du nicht«, erwiderte Chrysa bebend. »Dazu hast du zu viel Angst vor Oggrals Zorn.« »Er würde nicht wissen, daß ich es war.« »Warum solltest du mir helfen? Ein Ghoul tut nichts ohne Gegen‐ leistung, und ich kann mich für deine Hilfe nicht erkenntlich zeigen, denn ich besitze nichts außer meinem Leben, und das wird mir Oggral bald nehmen.« »Du besitzt dennoch etwas, das sehr kostbar ist: Schönheit«, sagte der Leichenfresser. »Du bist ein begehrenswertes Weib. Wenn du dich entschließen würdest …« »Sprich nicht weiter, ich weiß, was du mir vorschlagen willst.« »Wie lautet deine Antwort?« erkundigte sich der Ghoul. »Lieber sterbe ich, als einem Ghoul zu gehören!« sagte Chrysa angewidert. Der Leichenfresser knurrte wütend, und Chrysa zuckte so heftig zusammen, daß ihre Ketten laut klirrten. Sie befürchtete, daß der
Ghoul in seinem Zorn über sie herfallen und sie töten würde, aber hätte er Oggral damit nicht um ein großes Vergnügen betrogen? Das durfte er sich eigentlich nicht erlauben. »Du bist eine verdammte Närrin«, raunte er, und dann entfernte er sich mit seinen widerlichen Kumpanen. Niemals hätte er Chrysa zur Flucht verholfen. Er hätte nur ge‐ nommen, jedoch nichts gegeben. Sie hatte richtig gehandelt und durfte obendrein die Achtung vor sich selbst behalten. Sich an einen Leichenfresser wegzuwerfen war schlimmer als der Tod. In dieser Nacht kamen die Ghouls nicht wieder. Am nächsten Morgen erfuhr Chrysa, daß der Tag ihrer Hinrich‐ tung gekommen war. Ein Scherge teilte es ihr in Oggrals Auftrag mit, damit die Todesangst sie schon am Morgen fast erstickte. Hunger und Durst waren eine zusätzliche Pein, die sie ertragen mußte. Mit einem beinahe flehenden Blick schaute sie auf das Tor, durch das Oggral irgendwann treten würde, und sie hatte den Wunsch, es möge gleich sein. Als sich das Tor tatsächlich öffnete, überlief es die weiße Hexe eiskalt, und ihr Körper versteifte sich, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nun hieß es endgültig Abschied nehmen vom jungen Leben. Ihr Herz schmerzte wie eine klaffende Wunde, während sie dem Mann, der sich ihr mit festem Schritt näherte, entgegenblickte. Stirb stolz! sagte sie sich trotzig. Mach ihm nicht die Freude, jammernd zu bereuen und zitternd um dein Leben zu winseln, das er dir doch niemals lassen würde. Der Mann kam näher, und Chrysa erkannte, daß es nicht der Dä‐ mon, sondern ein Scherge war, der ihr die letzte Mahlzeit brachte. Zuerst wollte sie ablehnen, aber dann aß sie doch vom dem kargen Mahl. »Wann ist es soweit?« fragte Chrysa, als sie satt war. »Oggral legt bereits die Henkerskleidung an«, antwortete der Scherge. Chrysa wunderte sich darüber, daß sie lächeln konnte, wo der Tod doch nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. Sie emp‐
fand eine gewisse Erleichterung, seit sie wußte, daß das quälende Warten so gut wie vorbei war. Der Scherge betrachtete sie mit begehrlichem Blick. »Oggral hätte uns zuerst noch erlauben sollen, mit dir zu spielen«, sagte er grinsend. »Verschwinde!« befahl ihm Chrysa furchtlos. Was konnte ihr der Mann jetzt noch anhaben? »Geh mir aus den Augen, du hündisch unterwürfiger Bastard. Wie ist es, wenn man ein Leben lang ohne Rückgrat auskommen, wenn man Tag für Tag Oggrals Stiefel lecken muß? Bleibt da nicht die Selbstachtung mit der Zeit auf der Strecke? Oder hast du so etwas noch nie besessen?« Zorn funkelte in den Augen des Mannes, und für einen Moment sah es so aus, als wollte er seinen Dolch aus dem Gürtel reißen und sie töten. »Na los!« provozierte ihn Chrysa weiter. »Stoß zu! Nimm mir das Leben! Dann schlägt Oggral dir den Kopf ab!« »Verfluchtes Miststück«, spie der Scherge wütend aus. »Du hast mehr Glück, als du verdienst. Wenn du nicht Oggrals Opfer wärst, würdest du erfahren, was mit denen geschieht, die es wagen, mich zu beleidigen.« Chrysa lachte höhnisch. »Ja, ich darf mir alles erlauben, weil ich unter Oggrals persönlichem Schutz stehe. Bin ich nicht zu beneiden?« Der Scherge entfernte sich. Chrysa rief ihm noch einige Verwün‐ schungen nach, dann war sie wieder allein auf dem makabren Richtplatz – und der Knochenturm holte sich unaufhörlich, was da‐ vor aufgehäuft war. Gebein um Gebein wurde ein Raub der ver‐ nichtenden Flammen. Mit düsterer Miene dachte Chrysa an Kolumban, der noch nicht einmal wußte, daß sein Vater nicht mehr lebte. Man würde es ihm berichten, wenn er zurückkam, und Chrysa hoffte, daß er in seinem Schmerz nicht die Beherrschung verlor und Oggral angriff, denn darauf wartete dieser bestimmt. »Sei vernünftig, Kolumban«, flüsterte sie. »Überstürze nichts. Aber vernichte Oggral – für deinen Vater und mich. Räche uns, Ko‐
lumban!« Wieder öffnete sich das Tor, und diesmal erschien der Dämon in Henkerskleidung. Er ging langsam, fast bedächtig. Seine Augen glühten förmlich hinter der schwarzen Flügelhelmmaske, und Windstöße blähten immer wieder seinen langen schwarzen Umhang. Das scharfe, blinkende Beil trug er mit beiden Händen, jeder sei‐ ner Schritte hallte der weißen Hexe entgegen. Es hörte sich an wie das Ticken ihrer ablaufenden Lebensuhr. Vor dem Richtblock blieb Oggral stehen. Chrysa lag auf den Kni‐ en. »Bist du bereit?« fragte der Henker mitleidlos. Chrysas Schönheit kümmerte ihn nicht mehr. Die weiße Hexe war für ihn nur noch Leben, das er zerstören wollte. Chrysa hob die Hände, die Ketten klirrten. »Ich habe dich erwartet«, erwiderte sie, als hätte sie jederzeit auch fortgehen können. »Hast du mir noch etwas zu sagen?« wollte Oggral wissen. »Nur, daß ich dich zutiefst verachte.« »Du bereust also nicht, was du getan hast.« »Überhaupt nicht. Niemals. Mir tut nur leid, daß es mir nicht ge‐ lungen ist, dir die Kehle durchzuschneiden.« »Dann ist es Zeit für dich, zu sterben, Hexe!« knurrte der Henker. »Die Ghouls werden dein Fleisch und der Turm deine Knochen fressen. Du willst es nicht anders.« »Tu nicht so, als hättest du die Absicht gehabt, mich zu begna‐ digen. Ich weiß, daß du noch nie ein Todesurteil aufgehoben hast. Du hast sie alle vollstreckt.« Oggral lachte grausam. »Du kennst mich sehr gut.« Er löste die rechte Hand kurz vom langen Stiel des Beils und machte eine rasche Bewegung, mit der er Magie aussandte, die je‐ doch nicht Chrysa treffen sollte. Klirrend sprangen die Metallschellen auf, und die Ketten fielen auf den Boden.
»Rück näher heran!« befahl Oggral. »Und dann auf den Richt‐ block mit deinem trotzigen Kopf!« Chrysa hätte vielleicht einen Fluchtversuch unternehmen können, aber sie wäre bestimmt nicht weit gekommen. Nein, es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Je schneller sie gehorchte, desto eher war es vorbei. Sie atmete tief ein und wurde ganz ruhig. Entschlossen beugte sie sich über den Richtblock, überwand den Abscheu, den sie beim Anblick des Blutes empfand, und legte den Kopf auf das Holz, das viele tiefe Kerben hatte. Oggral wählte den richtigen Abstand, senkte das Beil, bis es sich zwei Fingerbreit über Chrysas Nacken befand, und nahm gewissen‐ haft Maß. Es erstaunte sie, daß ihr Herz in diesen letzten Augenblicken ih‐ res jungen Lebens völlig gelassen schlug, als wüßte es, daß ihr nichts geschehen würde. Und Oggral hob langsam das schwere Beil zum tödlichen Schlag.
* Der Schmerz wollte Kolumban die Brust zerreißen, als er vom Tod seines Vaters erfuhr. Er hatte große Ähnlichkeit mit Niaroc. Auch seine Augen quollen hervor, und zwischen seinen Fingern befanden sich Schwimmhäute – aber er war nicht so klein und schmal wie sein Vater, sondern groß und kräftig. In seiner übermächtigen Wut hatte nur ein Gedanke Platz: der Gedanke an blutige Rache! Oggral sollte sterben, jetzt, sofort, durch das Schwert, das in seinem Gürtel steckte. Aber dann hörte er, was man ihm weiter erzählte. Niaroc hatte der weißen Hexe Chrysa seinen magischen Dolch überlassen, damit sie den Dämon töten konnte. Die Attacke auf Oggrals Leben war schiefgegangen, und der Dä‐ mon hatte Niaroc enthauptet. Und heute, um diese Stunde, vielleicht sogar in diesem Augen‐
blick, sollte Chrysa ihren Kopf verlieren. »Nicht auch noch sie!« schrie Kolumban zornig, und er stürzte davon, um auf sein Pferd zu springen. Es war nicht weit bis zum Richtplatz. Kolumban hoffte, daß er nicht zu spät kommen würde. Mit lauten Rufen und Schlägen trieb er das Tier wild an. Er sah schon den Knochenturm, mußte nur noch daran vorbei, dann befand er sich schon auf dem Richtplatz. Die Hufe seines schnellen Pferdes hämmerten über den ge‐ pflasterten Platz. Kolumban sah den Henker und sein Opfer. »Neiiin!« brüllte er, so laut er konnte. Oggral hatte das Beil schon gehoben, brauchte nur noch zuzu‐ schlagen, und Chrysa war nicht mehr zu retten, aber Kolumbans Schrei irritierte ihn. Ärgerlich wandte er sich dem heransprengenden Reiter zu und stieß ein böses Lachen aus, als er Kolumban erkannte, der mit drohend erhobenem Schwert auf ihn zukam. Noch einer, der auf dem Richtblock sein Leben aushauchen würde! Oggral hatte nicht vor, Kolumban sofort zu töten. Er wollte sich damit begnügen, den Angriff abzuwehren und den wilden Rä‐ cher kampfunfähig zu machen. Kolumban schlug mit dem Schwert auf Oggral ein. Er beugte sich vor und legte seine ganze Kraft in den Schlag, aber er traf Oggral nicht so, wie er es wollte, denn der Dämon lenkte den Hieb mit sei‐ nem Beil ab. Kolumbans Waffe klirrte gegen den Flügelhelm des Henkers. Er riß sein Pferd herum und versuchte den Dämon niederzureiten, doch Oggral erkannte die Absicht und wich blitzschnell aus. Wie von Sinnen schlug Kolumban auf den Dämon ein. Oggral geriet jedoch in keiner Phase des Kampfes in Bedrängnis. Jeden Schwertstreich parierte er mit unglaublichem Geschick. Er war re‐ aktionsschnell und kampfstark; nicht die geringste Unsicherheit kam auf. Und er beschränkte sich nicht darauf, sich zu verteidigen, son‐ dern griff Kolumban immer vehementer an. Noch konnte Kolum‐
ban einer Verletzung entgehen, die den Ausgang des Kampfes zu Oggrals Gunsten entschieden hätte, doch er merkte, daß ihm der Dämon überlegen war. Er kam Oggral nicht bei. Aber da war noch etwas Schlimmeres: Männer, die dem Dämon treu ergeben waren, kamen, um ihrem Herrn beizustehen. Sie würden ihn vom Pferd zerren und festhalten! »Lauf, Chrysa!« schrie Kolumban. »Flieh! Bring dich in Si‐ cherheit!« Benommen stand Chrysa auf. Sie konnte es noch nicht fassen, daß sie immer noch lebte, wo Og‐ gral doch bereits mit dem Beil Maß genommen und zum tödlichen Schlag ausgeholt hatte. Wieder brüllte Kolumban, sie solle fortlaufen. Seine Stimme stieß sie förmlich zurück. Sie wankte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sollte sie sich wirklich in Sicherheit bringen und Kolumban seinem Schicksal überlassen? War es nicht ihre Pflicht, ihm beizu‐ stehen? »So flieh doch endlich!« brüllte Kolumban aus vollen Lungen, und sie begann taumelnd zu laufen. Das Henkersbeil schnitt waagerecht durch die Luft, und Kolum‐ ban war nicht schnell genug, um den Schlag abzuwehren. Die scharfe Schneide traf ihn, und der Schmerz riß ihm einen jaulenden Schrei von den Lippen. Als Chrysa ihn hörte, blieb sie stehen und drehte sich bleich um. Kolumban konnte sich nur noch mit Mühe auf dem Pferd halten, und viele Hände streckten sich ihm entgegen, wollten ihn packen und von dem schnaubenden und stampfenden Tier herunterreißen. Da verzichtete er darauf, Oggral zu töten, trieb das Pferd an und jagte es – aus einer tiefen Wunde blutend – an Oggral vorbei. Er kam auf Chrysa zu, beugte sich zu ihr hinunter und riß sie hoch, ob‐ wohl das mit entsetzlichen Schmerzen für ihn verbunden sein muß‐ te. Sie klammerte sich an ihn, und der Schwung des vorwärts stür‐ menden Tiers erleichterte es ihr, hinter Kolumban zu gelangen.
Beide Arme schlang sie um ihn, damit er sie nicht verlor, und sie jagten davon – in Chrysas zweites Leben hinein. Ihr war, als wäre sie noch einmal geboren worden. Und Kolumban hatte ihr zu diesem neuen Leben verholfen. Da‐ für würde sie ihm ewig dankbar sein. Oggral schickte nach Pferden und nahm unverzüglich die Verfol‐ gung der beiden auf. Die Chancen standen gut, sie bald einzuholen. Erstens war Kolumban erheblich verletzt, und zweitens saßen sie auf einem Pferd. Es mußte die doppelte Last tragen und würde deshalb früher ermüden. »Wir hetzen sie, bis sie nicht mehr weiter können!« schrie Oggral und schlug derb auf die Kruppe seines Pferdes, das erschrocken wieherte und davonsauste wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil. Kolumbans Pferd war schnell und ausdauernd, dennoch schrumpfte der Vorsprung der Fliehenden zusehends. Wenn Chry‐ sa zurückschaute, sah sie schon die Verfolger, und sie kamen immer näher. Sollte die Flucht nicht mehr als ein kurzes Aufflackern von Hoff‐ nung gewesen sein? Sie brachten eine steinige Steppe hinter sich, ihr Pferd schwitzte, und weißer Schaum tropfte aus seinem Maul. Jetzt hatten sie einen Hügel vor sich, und Chrysa konnte sich nicht vorstellen, daß das brave Tier den noch schaffen würde. Mit letzter Kraft brachte das Pferd sie auf den Hügel, oben brach es zusammen. Chrysa drehte sich um. Oggral und seine Männer hatten den Hügel schon fast erreicht. »Weiter!« ächzte Kolumban. Er preßte die Hand auf die stark blutende Wunde, sein Gesicht war schmerzverzerrt, und große Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Weiter, Chrysa!« Die weiße Hexe schüttelte den Kopf. »Es hat doch keinen Zweck mehr, Kolumban. Geben wir auf.« »Niemals!« »Du bist schwer verwundet. Was glaubst du, wie weit du noch kommst?«
»Auf jeden Fall noch bis zu diesem See dort«, stöhnte Kolumban. »Und was dann?« »Frag nicht soviel! Stütz mich! Wir können es schaffen! Glaub mir, wir sind noch nicht verloren. Wir haben noch eine Chance. Der See ist unsere Rettung.« Das dunkle, glatte Wasser ruhte still in einer Steinpfanne. Chrysa sah keinen Sinn darin, sich bis dorthin weiterzuquälen, aber sie tat es Kolumban zu Gefallen. Sie legte sich Kolumbans Arm um die Schultern. Dadurch streck‐ te sich sein Körper, und das übertrug sich auf die tiefe Wunde, die ihm Oggral geschlagen hatte. Er schrie auf, und Chrysa wollte ihn sofort wieder loslassen. »Es tut mir leid«, sagte sie, aber er hielt sich an ihr fest. »Zum See! Zum See!« gurgelte er und ging los, als wollte er die weiße Hexe mitschleppen. Die Pferdehufe hämmerten, immer lauter werdend, auf die Hügelflanke. Chrysa sah zurück und erkannte bestürzt, daß die Reiter schon bedrohlich nahe waren. Wie sollte sie es mit ihrer schweren, lahmen Last noch bis zum See schaffen? »Der See ist unsere Rettung«, ächzte Kolumban wieder. Chrysa wußte nicht, warum er das sagte, aber dann fielen ihr sei‐ ne Schwimmhäute ein. Kolumban war auch ein Wasserwesen. Sie hatte Niaroc einmal schwimmen sehen. Pfeilschnell war er ge‐ wesen, wie ein hungriger Raubfisch. Kolumban baute wahrscheinlich auf diese Schnelligkeit, aber er schien nicht in Betracht zu ziehen, daß er schwer verwundet war. »Zum See! Schnell, Chrysa, schnell!« keuchte er. Sie lief fast mit ihm, ohne noch an eine Rettung glauben zu können. Sie hörte schon das aggressive Surren des Henkerbeils, das der Dämon über seinem Kopf drehte. »Sie dürfen den See nicht erreichen!« brüllte Oggral. Er versprach demjenigen eine hohe Belohnung, dem es gelang, Chrysa und Ko‐ lumban daran zu hindern, sich ins Wasser zu stürzen. Warum wollte der Dämon das um jeden Preis verhindern? Weil
Kolumban ein Schwimmhäutiger war? Der See war nicht groß. Früher oder später konnten Oggral und seine Männer sie herausfischen. Sie brauchten den kleinen See nur zu umstellen. Wir können nicht ewig drinnen bleiben, dachte Chrysa auf‐ gewühlt. Die Verfolger trieben ihre Tiere mit lauten Rufen und klat‐ schenden Schlägen an. Chrysa schätzte, daß sie sehr viel Glück brauchen würden, um ins Wasser zu kommen, ehe die Reiter sie eingeholt hatten. »Wir schaffen es!« krächzte Kolumban. »Nur noch ein paar Schritte, dann sind wir gerettet.« Der Schmerz mußte seinen Verstand getrübt haben, eine andere Erklärung hatte Chrysa nicht für seine Euphorie. Der See konnte nicht die Rettung sein. Er war nichts weiter als Wasser in einem großen Steinbecken. Sie konnten tauchen, im Kreis schwimmen … was noch? »Der See ist ein Dimensionstor!« ließ Kolumban die weiße Hexe wissen. Jetzt begriff Chrysa, warum Oggral soviel daran lag, daß sie das Wasser nicht erreichten, denn durch den See konnten sie diese Welt verlassen, und im Wasser war Kolumban sehr schnell, vielleicht auch noch jetzt. Mit einemmal wollte auch sie unbedingt den unscheinbaren See erreichen, und es gelang ihnen tatsächlich, sich ins Wasser zu stürzen, ehe der erste Reiter heran war. Tief tauchten sie kopfüber ein in das kalte Naß, das auf Kolum‐ ban eine verblüffende Wirkung hatte. Er spürte keinen Schmerz mehr. Solange sich Kolumban im Wasser befand, behinderte ihn die Verletzung nicht. Als Wasserwesen war er stark und schnell. Er stellte eine telepathische Verbindung zu Chrysa her und befahl ihr, sich ganz fest an ihn zu klammern. Sie gehorchte und fragte sich bange, wie lange sie wohl leben konnte, ohne zu atmen.
Sie war schließlich kein Wasserwesen. Aber sobald sie sich an Ko‐ lumban gepreßt hatte, vollzog sich etwas Merkwürdiges: Eine mys‐ teriöse Umwandlung ging mit ihr vor. Kolumban paßte auch sie an das nasse Element an. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben, zu ertrinken. Chrysa bekam von Kolumban alles, was sie zum Überleben brauchte, und er schoß mit ihr hinab in die schwarze Tiefe. Wenn man es nicht wußte, wäre man nie auf die Idee gekommen, in dem unscheinbaren See ein Dimensionstor zu sehen. Und niemand hätte ihn wohl für so tief gehalten. Pechschwarze Nacht empfing sie gemeinsam mit einem mörde‐ rischen Druck, gegen den Chrysa mit ihren Hexenkräften ankämpf‐ te. Sie wurde ganz fest an Kolumban gepreßt, der sich aber trotz‐ dem kraftvoll und geschmeidig bewegte. Sie schwammen in die unauslotbare Tiefe hinab. Irgendwann würden sie die Grenze erreichen, und wenn sie diese hinter sich ließen, würden sie auf einer anderen Welt sein. Aber auf welcher? Und was erwartete sie dort? Neue Gefahren? Vielleicht noch größere? Chrysa fragte Kolumban, und er antwortete, es gebe Abzwei‐ gungen. Nicht eine Welt, sondern mehrere konnten auf diesem Weg erreicht werden. Er zählte ihre Namen auf und sagte, Chrysa solle eine davon wählen. Sie entschied sich spontan – und im nächsten Moment spürte sie, daß sie die Grenze überschritten hatten. Kolumban bestätigte es ihr. Sie befanden sich auf einer anderen Welt. Ob ihnen Oggral folgen würde? Wenn ja, würde er die richtige Abzweigung finden und somit auf die richtige Welt gelangen? Immer noch befanden sie sich im Wasser, aber es war nicht mehr rein und klar wie das des Sees, sondern trübe und schmutzig. Es war das Wasser der Themse, in dem sie schwammen.
*
Kolumban strebte der Oberfläche entgegen. Immer noch hielt sich Chrysa an ihm fest. Als sie auftauchten, empfing sie das triste Grau eines erwachenden Tages. Chrysa hatte sich aus einem bestimmten Grund für diese Welt und für diese Stadt entschieden. Gleich nach dem Auftauchen machte sich Kolumbans Verletzung wieder bemerkbar. Noch war es nicht so schlimm, weil er sich im Wasser befand, aber als sie den Fluß verließen, setzten Schmerzen und Kraftlosigkeit wieder voll ein. Chrysa schleppte Kolumban ein Stück in den Battersea Park hin‐ ein und ließ ihn zwischen dichten Büschen behutsam zu Boden sin‐ ken. Er legte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken und stöhnte leise. »Du brauchst Hilfe«, stieß Chrysa aufgeregt hervor. »Hier kann mir niemand helfen«, gurgelte Kolumban. Chrysa fiel auf, daß er völlig trocken war. Dieser Zauber gehörte anscheinend zu den Wasserwesen, und da sie so eng an ihm ge‐ hangen hatte, war auch sie trocken geblieben. »Ich weiß, wo ich Hilfe bekomme«, sagte Chrysa und strich Ko‐ lumban sanft das Haar aus der Stirn. »Warst du schon einmal hier?« Die weiße Hexe schüttelte den Kopf. »Dann kannst du in dieser Stadt niemanden kennen.« »Ich weiß von zwei weißen Hexen, die sich hier niedergelassen haben: Roxane und Oda. Ich kenne sie von früher. Roxane pendelt ab und zu zwischen den Dimensionen hin und her, wenn sie In‐ formationen braucht. Bei einer solchen Gelegenheit habe ich sie ge‐ troffen. Ich weiß, wo sie wohnt, und Oda lebt in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.« Kolumban kräuselte die Stirn. »Ich schaffe keine zehn Schritte mehr, Chrysa. Im Wasser war ich … jemand anderer …« »Kann ich dich für eine Weile allein lassen?« fragte die weiße He‐ xe.
»Ich laufe bestimmt nicht weg«, stöhnte Kolumban. »Versuche, dich ruhig zu verhalten«, riet ihm Chrysa. »Es wäre dumm, wenn man dich finden und in ein Krankenhaus bringen würde – die Schwimmhäute zwischen deinen Fingern würden die Ärzte völlig aus dem Konzept bringen.« »Ich werde still sein«, versprach Kolumban. »Auch wenn es mir schwerfällt. Aber du mußt dich beeilen. Laß mich nicht zu lange allein, Chrysa. Ich weiß nicht, woher meine Unsicherheit kommt. Ir‐ gendwie ist mir diese Welt nicht geheuer.« »Glaube mir, es gibt schlimmere«, erwiderte Chrysa und richtete sich auf. Es war kalt, und die weiße Hexe fühlte sich fast nackt in ihrem zerfetzten Kleid. Morgennebel krochen über das kurze Gras, das allmählich zur Winterfarbe überging. Der Park war menschenleer und still. Chrysa hoffte, daß das noch lange so bleiben würde. »Also … dann gehe ich jetzt«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen, Kolumban. Ich komme wieder, so rasch ich kann. Meine Freundinnen und ich werden einen Trank brauen, der dir neue Kräfte verleiht und den Heilungsprozeß beschleunigt. Hab Vertrauen. Drei weiße Hexen können sehr viel für dich tun.« »Das wird auch nötig sein«, ächzte Kolumban. »Beeile dich.« Chrysa nickte, wandte sich um und entfernte sich mit raschen Schritten.
* Der Parapsychologe Lance Selby schreckte hoch. Was war das ge‐ wesen? Hatte jemand an der Tür geläutet? Er warf einen Blick auf die Uhr. Doch um diese Zeit, das war zu barbarisch. Er mußte das Läuten geträumt haben. Aufstehen und nachsehen kam für ihn nicht in Frage, nicht zu dieser frühen Stunde. Noch dazu, wo er bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Dreieinhalb Stunden Schlaf waren ihm
zuwenig, deshalb drehte er sich brummend auf die Seite, um noch mindestens zwei Stunden anzuhängen. Aber das war ihm nicht gegönnt. Wieder läutete es, und diesmal war es ganz offensichtlich kein Traum. »Wer immer dort unten sein mag, er wird einen triftigen Grund vorbringen müssen, sonst drehe ich ihm die Kragenweite auf null!« knurrte Lance Selby und rollte sich ächzend aus dem Bett. Schlaftrunken suchte er mit tappenden Füßen die Pantoffeln, dann zog er seinen olivfarbenen Kaschmirschlafrock an, gähnte herzhaft und strich sich über das dunkelbraune Haar, das an den Schläfen leicht grau zu werden begann. Ein Blick in den Spiegel ließ ihn nicht gerade vor Begeisterung applaudieren. Die Tränensäcke waren an diesem Morgen besonders groß. »Du siehst aus wie eine alte, zerknitterte Aktentasche«, sagte er verdrossen zu seinem Spiegelbild und verließ das Schlafzimmer. Es läutete schon wieder. »Ja, ja«, maulte der Parapsychologe. »Ich komm’ ja schon. Soll ich etwa fliegen?« Er stieg die Stufen steif hinunter. Bis vor kurzem war er nicht nur Tony Ballards Freund, sondern auch dessen Nachbar gewesen, doch das hatte sich inzwischen ge‐ ändert. Tony wohnte nicht mehr in Paddington, sondern war nach Knightsbridge übersiedelt. Toorsom hatte das Nachbarhaus in aller Heimlichkeit in die Luft gesprengt. Höllenkräfte hatten das Gebäude zerrissen und aufge‐ löst. Niemand hatte etwas gehört oder gespürt, denn es war eine stumme Explosion, die von Satans Sprengmeister vorbereitet worden war. Kein Knall, keine Druckwelle – nichts. Und doch war das Haus von einem Moment zum andern nicht mehr dagewesen. Ganz hatte sich Lance Selby noch nicht daran gewöhnt, daß er Tony und die anderen Freunde nicht mehr in unmittelbarer Nach‐ barschaft hatte, aber Knightsbridge lag ja nicht auf dem Mond. Lan‐ ce konnte die Freunde besuchen, wann immer er Lust dazu hatte, war in dem Haus am Trevor Place stets gern gesehen.
Allmählich kamen seine Lebensgeister in Schwung, und die Müdigkeit ließ mit ihren zähen Fingern von ihm ab. Er öffnete die Tür, und im selben Moment war ihm, als würde etwas in ihm um‐ geschaltet. Er hatte ein schönes Mädchen in einem zerfetzten Kleid vor sich – halbnackt, um diese Jahreszeit! Er wußte sofort, daß sie von weither kam, und kannte sogar ihren Namen. »Chrysa!« rief er überrascht aus. Mehr überrascht war aber noch Chrysa, die sich einem fremden Mann gegenübersah und sich nicht erklären konnte, woher er auf Anhieb wußte, wie sie hieß. Sie war ihm mit Sicherheit noch nie be‐ gegnet. »Komm herein, es ist kalt!« sagte Lance Selby und gab die Tür rasch frei. Chrysa zögerte. »Na komm schon«, drängte Lance. Durfte sie dem fremden Mann trauen? Vorsichtig kam sie seiner Aufforderung nach, und sie hielt ihren Abwehrzauber bereit, um sich nötigenfalls verteidigen zu können. Verwirrend fand sie, daß dieser Mann sich ehrlich zu freuen schi‐ en, sie zu sehen. Sie wiederzusehen! Wo hatte sie ihn schon einmal getroffen? War es möglich, daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte? Ausgeschlossen. Sie war nicht vergeßlich. Alles, was sie er‐ fuhr und erlebte, behielt sie. Der Parapsychologe musterte sie von Kopf bis Fuß. »Du mußtest fliehen, nicht wahr?« Chrysa nickte, immer noch verwirrt. »Vor wem?« wollte Lance Selby wissen. »Vor Oggral«, antwortete die weiße Hexe. »Eigentlich floh ich zu‐ erst vor Mago und geriet dabei in Oggrals Hände. Er ist noch schlimmer als Mago.« Der Parapsychologe nickte finster. »Ich weiß.« Er forderte Chrysa auf, ihm in den Living‐room zu folgen. Dort mußte sie sich setzen, er bestand darauf. »Es war richtig, daß du zu mir kamst«, sagte er. Er sah, wie durcheinander sie war, und lächelte verständnisvoll.
»Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast, sitzt einem Mann gegenüber, der dir völlig fremd ist …« »Ich wollte zuerst zu Roxane, aber das Haus …« »Ist nicht mehr da. Hast du schon von Morron Kull gehört?« Chrysa schüttelte den Kopf. »Nein.« »Aber der Name Toorsom ist dir bekannt.« »Ja.« Lance Selby nickte. »Mit Toorsoms Hilfe hat Morron Kull das Haus gesprengt, total vernichtet, ausgelöscht.« Chrysa sah ihn entsetzt an. »Befand sich Roxane zum Zeitpunkt der Explosion darin?« »Zum Glück nicht«, antwortete der Parapsychologe. »Da es das Haus nicht mehr gibt, wollte ich zu …« »Oda«, fiel ihr Lance Selby ins Wort. »Ja«, gab die weiße Hexe zu. Lance Selby breitete die Arme aus. »Ich bin Oda«, behauptete er, doch Chrysa glaubte ihm nicht. Aber er vermochte sie zu über‐ zeugen, indem er über Dinge sprach, die nur Oda wissen konnte, und zu guter Letzt erzählte er Chrysa seine Geschichte, die mit der von Oda sehr eng verknüpft war. So erfuhr Chrysa, daß Odas Körper von Mago zerstört worden war und sich ihr Geist seither in ihm befand. »Ich bin Lance Selby und Oda«, sagte der Parapsychologe lä‐ chelnd. Jetzt glaubte sie ihm, und sie sprach offen über ihre qualvolle Zeit bei Oggral, die darin gipfelte, daß sie ihren Kopf hätte verlieren sollen. Sie berichtete von ihrer unerwarteten Rettung und der atembe‐ raubenden Flucht, die danach folgte. »Und nun sind wir hier, Ko‐ lumban und ich, und mein Lebensretter braucht dringend Hilfe«, schloß sie ihre Erzählung. »Wir holen ihn hierher«, entschied Lance Selby sofort. »Aber so kannst du nicht herumlaufen. Du würdest dir den Tod holen.« Da er nur Männerkleidung im Haus hatte, gab er dem Mädchen helle Jeans, einen dicken Rollkragenpulli und eine Lederjacke mit Lamm‐
fellfutter. Als Chrysa fertig war, trug auch Lance Selby Straßenkleidung. Sie verließen sein Haus, er holte den Wagen aus der Garage, und sie fuhren von Paddington nach Chelsea, überquerten auf der Albert Bridge die Themse und erreichten anschließend den Battersea Park. Bange Minuten vergingen für Chrysa. Würde Kolumban noch dort sein, wo sie ihn zurückgelassen hatte? Wie würde er sich fühlen? Er hatte sehr viel Blut verloren. Ein Jogger kam ihnen entgegen. Vor dem Mann lief ein kleiner Hund, dem es sichtlich Spaß machte, sein Herrchen auf seiner morgendlichen Runde zu begleiten. Der Mann schnaufte, dampfte und schwitzte. »Warum läuft er?« wollte Chrysa wissen. »Er betreibt Sport, um sich fit zu halten«, antwortete Lance Selby. »Machst du das auch?« erkundigte sich die weiße Hexe. Lance schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich bin zu faul dazu, aber Tony Ballard, mein Freund, der nimmt es damit sehr genau. Da kann es stürmen oder schneien – der dreht im Hyde Park uner‐ müdlich seine Runden. Du wirst ihn kennenlernen. Nun zeig mir, wo du Kolumban versteckt hast.« Chrysa führte den Parapsychologen zu den Büschen, und Kolum‐ ban richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht rasch auf, als er er‐ kannte, daß Chrysa mit einem Mann erschien. »Er ist ein Freund, ganz ruhig«, beschwichtigte ihn die weiße He‐ xe. »Er ist Oda – und Lance Selby.« Sie erklärte Kolumban, wie es sich damit verhielt. Lance sah sich kurz die Wunde an und wiegte dann besorgt den Kopf. »Besser, wir tragen ihn«, sagte er. Sie schafften Kolumban zum Wagen, wobei der Parapsychologe die Hauptlast trug. Vorsichtig verfrachteten sie den Verwundeten in das Fahrzeug und kehrten umgehend nach Paddington zurück. Als erste Hilfsmaßnahme kochten die beiden Hexen einen Tee mit Kräutern, denen große Heilkraft nachgesagt wurde. Mit ver‐ einten Hexenkräften ließen sie den Trank noch zusätzlich kurz auf‐ wallen, ehe sie ihn durch ein Haarsieb gossen und Kolumban
brachten. Er lag im Gästezimmer. »Der Tee wird dich müde machen«, erklärte Lance Selby, »und schläfrig. Wehre dich nicht gegen den Schlaf. Er wird dir guttun.« Gehorsam und voller Vertrauen trank Kolumban den Tee, und sie blieben so lange bei ihm, bis ihm die Augen zufielen. Während dieser Zeit besprachen sie die Wunde mit alten Zauberformeln, die die Blutung stillten und den Schmerz linderten. Lance bedeutete Chrysa, lautlos aus dem Zimmer zu gehen, und folgte ihr. »Und dann holen wir Roxane her«, sagte der Parapsychologe, während sie die Stufen hinunterstiegen.
* Eve Bellamy und ihr Sohn langten in Paddington an. »Und wie soll ich weiterfahren?« wollte Mels Mutter wissen. Der Junge konzentrierte sich auf das Höllenschwert. »An der Paddington Station vorbei, den Kanal entlang, aber nicht hinüber«, sagte er. Sie erreichten Little Venice, und Mel sagte, nun müsse seine Mut‐ ter links fahren. »Gleich sind wir da«, ließ er sie wissen. Eve Bellamy las ein Straßenschild. »Chichester Road. Ist das un‐ ser Ziel?« »Ja, Mom«, antwortete Mel. Die Frau wischte sich nervös über das Gesicht. Ihre Züge waren angespannt. Dieses Erlebnis mußte sie für sich behalten, das durfte sie niemandem erzählen, sonst hätte man sie glatt für verrückt ge‐ halten. »Stop!« sagte Mel unvermittelt. »Wir sind da.« Blitzschnell bremste Eve Bellamy und stellte den Motor ab. Sie befanden sich in der Chichester Road, da, wo bis vor kurzem das Haus Nummer 22 gestanden hatte. Die Frau stieg nicht sofort aus. Etwas ratlos blickte sie sich um.
»Bist du sicher, daß wir hier richtig sind, Mel?« »Absolut, Mom.« »Aber hier ist nichts. Ich meine, da mag einmal ein Haus gestanden haben, aber nun ist es weg. Es gibt nur noch den Keller.« Mel öffnete die Tür. »Was hast du vor?« fragte seine Mutter sofort nervös. »Ich weiß es nicht. Ich steige erst einmal aus.« »Nicht allein!« sagte Eve Bellamy und öffnete ebenfalls den Wagenschlag. »Daß du mir nie wieder irgend etwas nach Hause bringst, hörst du? Nie wieder. Diese Aufregungen machen mich ganz krank. Du möchtest doch nicht schuld daran sein, daß deine Mutter Gallensteine bekommt.« Mel beugte sich in den Escort und holte das Königsschwert aus dem Fond. Eigentlich hatte er es behalten wollen, doch nun sah er ein, daß es besser war, sich davon zu trennen. Er spürte, daß ihm diese Waffe nie gehört hätte. Er glaubte zu wissen, daß das Schwert überhaupt niemand ganz besitzen konnte. Immer würde es sich in erster Linie das Recht vorbehalten, sich selbst zu gehören. Ließ ihm all dies das Schwert zukommen? Er glaubte es, und es machte ihn zufrieden, dieser einmaligen Waffe geholfen zu haben. Beinahe ehrfürchtig berührte er das Höllenschwert und hob es aus dem Wagen. Er begab sich mit der Waffe auf das Grundstück. Augenblicke später standen sie auf dem Keller, und Mel wartete gespannt dar‐ auf, daß nun irgend etwas geschehen würde.
* Lance Selby ging zum Telefon, aber er nahm den Hörer nicht ab, weil drüben, dort, wo Tony Ballards Haus gestanden hatte, eine Frau und ein Junge erschienen, die sich merkwürdig benahmen. Sie schienen auf irgend etwas zu warten. Auf die Landung eines Ufos vielleicht?
Was für ein Morgen! dachte der Parapsychologe kopfschüttelnd. Er wandte sich an Chrysa. »Ich bin gleich wieder zurück, möchte nur mal fragen, was diese Leute so früh am Morgen dort drüben wollen. Da scheint irgend etwas nicht zu stimmen.« Tony Ballard wohnte zwar nicht mehr nebenan, aber Lance Selby fühlte sich für Ereignisse dieser Art immer noch zuständig. Er ver‐ ließ sein Haus und rief zu Eve und Mel Bellamy hinüber: »Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Die Frau und ihr Sohn drehten sich um. Dem Parapsychologen fiel auf, daß der Junge etwas vor ihm verbarg. »Hier stand bis vor kurzem ein Haus, nicht wahr?« sagte Eve Bel‐ lamy. Lance Selby ging auf sie zu. »Ganz recht, Lady. Es wurde … ent‐ fernt. Ich bin der Nachbar, Lance Selby mein Name.« »Darf ich fragen, wem das Haus gehörte? Wer hat hier gewohnt?« wollte die Frau wissen. »Tony Ballard, ein Freund von mir.« »Würden Sie uns verraten, wo Mr. Ballard jetzt wohnt?« »Wollen Sie zu ihm?« »Ja«, antwortete Eve Bellamy verlegen. »Möchten Sie seine Hilfe in Anspruch nehmen?« fragte der Para‐ psychologe. »Seine Hilfe?« »Er ist Privatdetektiv«, erklärte Lance. »Nein, ich … äh … Ich bin Mrs. Eve Bellamy, und das ist mein Sohn Mel. Wir … Also wir haben etwas, das möglicherweise Ihrem Freund gehört.« »Ist es das, was Ihr Sohn schon die ganze Zeit vor mir versteckt?« fragte Lance Selby. Eve stieß den Jungen mit dem Ellenbogen an. »Zeig es Mr. Selby. Na los, Mel, nun mach schon!« »Ich weiß nicht, ob wir diesem Mann trauen können, Mom.« »Wieso denn nicht? Er hat doch gesagt, daß er Mr. Ballards Freund ist.« »Sagen kann man vieles, Mom.«
»Also nun komm, sei nicht albern, Mel. Ich bin sicher, daß dieser Mann in Ordnung ist. Ich halte ihn für aufrichtig.« Sie hatten so leise gesprochen, daß Lance es nicht hören konnte. Nun sagte Eve Bellamy laut: »Es handelt sich um ein antikes Schwert, Mr. Selby.« Der Parapsychologe riß die Augen auf und traute seinen Ohren nicht. Alle hatten geglaubt, die Explosion hätte Shavenaar zerstört, und nun stellte sich heraus, daß das unverwüstliche Höllenschwert den Anschlag überlebt hatte und heimgekehrt war. Lance Selby lachte das Herz im Leibe. Es war tatsächlich Shavenaar! Was für ein Tag! jubelte der Parapsychologe. Ein Tag voller Über‐ raschungen!
* Die Bellamys mußten unbedingt mit in sein Haus kommen, wo er sie mit Chrysa bekannt machte, ohne ihnen allerdings zu verraten, daß es sich um eine weiße Hexe handelte. Er wollte sie nicht über‐ fordern. Mel mußte ihm haarklein erzählen, wann und wo er das Schwert gefunden hatte. Danach hatte Eve Bellamy natürlich einige Fragen, die das Höl‐ lenschwert betrafen. Der Parapsychologe zog sich mit Halbwahr‐ heiten geschickt aus der Affäre. Die ganze Wahrheit konnte er den Bellamys nicht zumuten. Anschließend rief Lance Selby bei Tony Ballard an. Boram melde‐ te sich und sagte, daß noch niemand auf wäre. »Hör zu«, sagte der Parapsychologe, von den Bellamys abge‐ wandt »Hol erst mal alle aus den Federn. Alle bis auf Vicky, die darf weiterschlafen. Sag ihnen, es gibt sensationelle Neuigkeiten. So viel für den Augenblick. Ich melde mich in wenigen Minuten wieder.« Lance konnte im Moment nicht offen reden. Was er zu sagen hatte, war für die Ohren der Bellamys nicht geeignet.
»Sie haben eine Waffe von unschätzbarem Wert zurückgebracht«, sagte der Parapsychologe. Anfangs hatte es ihn erstaunt, daß der Junge das Höllenschwert gefahrlos berühren durfte. Inzwischen be‐ griff er, daß es ihm Shavenaar befohlen hatte. Das lebende Schwert wollte von Mel Bellamy nach Hause gebracht werden. Daß Tony Ballard jetzt in Knightsbridge wohnte, konnte Shavenaar nicht wissen. »Das Schwert ist sehr alt, nicht wahr?« sagte Mel. Lance nickte. »Sein Alter liegt jenseits jeglicher irdischer Zeitrech‐ nung. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Wie jedem ehrlichen Finder steht auch Ihnen ein angemessener Finderlohn zu. Wenn Sie mir Ihre Anschrift nennen, sorge ich dafür, daß man Ihnen einen Betrag überweist, der Sie mit Sicherheit zufriedenstellen wird.« Freudestrahlend schrieb Mel Bellamy seine Adresse auf. Plötzlich geisterte ein langgezogener Stöhnlaut durch das Haus, etwas fiel polternd um, Glas klirrte. Kolumban mußte das Bett verlassen haben. Chrysa sprang sofort auf. »Kolumban!« stieß sie aufgeregt hervor. »Er darf doch nicht aufstehen!« »Ist jemand krank?« fragte Eve Bellamy. »Ich bin Kranken‐ schwester. Vielleicht kann ich helfen.« Chrysa eilte nach oben. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Lance und folgte der weißen He‐ xe. Die hilfsbereite Krankenschwester begab sich gleichfalls ins Obergeschoß, ohne darum gebeten worden zu sein. Sie sah, wie Chrysa und Lance Selby den Verwundeten ins Bett hoben. Er mußte im Schlaf aufgestanden sein. Unschwer erkannte Eve Bellamy, daß der Mann erheblich verletzt war, doch man hatte die Wunde nicht einmal notdürftig versorgt. »Man muß den Mann verbinden«, sagte die Frau, »und dann soll‐ ten Sie dafür sorgen, daß er schnellstens in ein Krankenhaus kommt.« »Kein Arzt kann ihm helfen«, behauptete Lance Selby.
»Reden Sie keinen Unsinn, nur ein Arzt kann ihn retten. Wer hat ihm diese schlimme Verletzung zugefügt?« »Sie werden es nicht glauben, wenn ich es Ihnen sage«, antworte‐ te der Parapsychologe. »Sie etwa?« fragte Eve Bellamy. »Nein, ich war es nicht.« »Wer dann?« bohrte die Krankenschwester. »Ein Dämon namens Oggral, und es geschah nicht auf dieser Welt. Sehen Sie, ich wußte, daß Sie mir das nicht abkaufen würden, aber es ist die Wahrheit, und ich könnte noch ein paar haarsträu‐ bende Dinge hinzufügen. Bevor Sie anfangen, sich über mich zu ärgern oder zu wundern – oder beides –, lassen Sie mich Ihnen noch verraten, daß ich Parapsychologe bin und in Bereiche vorge‐ drungen bin, die Sie sich noch nicht einmal vorstellen können. Der Mann, den Sie hier sehen, ist kein Mensch, so unglaublich das auch klingen mag, oder haben Sie schon einmal einen Menschen gese‐ hen, zwischen dessen Fingern sich Schwimmhäute befinden? Ich weiß, daß das alles ziemlich starker Tobak für Sie ist, Mrs. Bellamy, aber es ist alles wahr, das schwöre ich bei meinem Augenlicht. Es stimmt, daß diesem Mann kein Arzt helfen kann, aber wir – Chrysa, ich und noch ein paar andere – werden ihn retten. Sie bitte ich le‐ diglich, all das zu vergessen, in Ihr normales Leben zurückzukeh‐ ren und nicht mehr an diese Unglaublichkeiten zu denken.« Eve Bellamy konnte kaum verdauen, was sie in diesen wenigen Augenblicken alles gehört hatte, und sie glaubte zu erkennen, daß das nur die Spitze des Eisbergs war. O Himmel! Verwirrt verließ sie das Gästezimmer, stieg benommen die Stufen hinunter. Lance folgte ihr. Chrysa blieb bei Kolumban. »Was ist los, Mom? Was hast du?« fragte Mel nervös, als er den verstörten, hilflosen Blick seiner Mutter sah. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Lance Selby den Jungen. »Ihre Mutter wird Ihnen später alles erklären. Haben Sie Dank für Ihre selbstlosen Bemühungen.« »Bist du wirklich okay, Mom?« fragte Mel zweifelnd. Eve Bellamy streifte den Parapsychologen mit einem unsicheren
Blick und antwortete: »Ja, Mel, es geht mir gut. Mir tut nur der Mann dort oben sehr leid. Es geht ihm nicht gut.« »Besteht die Gefahr, daß er stirbt? Warum bringt man ihn dann nicht ins Krankenhaus?« »Wir können sicher sein, daß für ihn hier getan wird, was nötig ist. Mehr kann man auch im Krankenhaus nicht für ihn tun«, ant‐ wortete die Frau. »Komm, wir gehen.«
* Ich wartete nicht, bis Lance Selby noch einmal anrief, sondern riß die Initiative an mich. Die Geheimniskrämerei unseres Freundes ge‐ fiel mir nicht, sie machte mich nervös. Boram hatte mich geweckt, ohne daß es Vicky merkte. Er hatte mich nicht berührt, weil ich in diesem Fall mit einem Schrei halb Knightsbridge aus dem Schlaf gerissen hätte. Seine Berührungen waren ziemlich schmerzhaft, schließlich bestand er aus dampfendem Nesselgift, stattdessen hatte er mir die Decke wegge‐ zogen. Ich stahl mich mit ihm aus dem Raum, Vicky schlief friedlich wei‐ ter. Sobald ich angezogen war, begab ich mich in den Salon, wo Rox‐ ane und Mr. Silver warteten. »So seltsam hat sich Lance noch nie benommen«, stellte der Ex‐ Dämon fest. »Was mag er so früh am Morgen von uns wollen?« fragte Roxane. »Das werden wir gleich wissen«, brummte ich, sorgte dafür, daß Roxane und Mr. Silver das Gespräch mithören konnten, und tippte Lances Nummer. Der Parapsychologe meldete sich nach dem dritten Läuten. »Okay, Lance«, sagte ich. »Wir stehen alle ›Gewehr bei Fuß‹. Was hast – du uns zu sagen? Es handelt sich hoffentlich um keinen verfrühten Aprilscherz.« »Ich konnte vorhin nicht reden. Es war jemand bei mir …«
»Du hattest Besuch? War sie hübsch?« Ich wußte, daß Oda keine andere Frau in seiner Nähe geduldet hätte. Er gehörte immer noch ihr, obwohl sie ihn mit keinem Körper mehr beglücken konnte. Ihr Geist liebte ihn noch so wie früher, daran würde sich auch in Zu‐ kunft nichts ändern. Meine Frage war deshalb nicht ernst zu nehmen. »Eine Frau war mit ihrem Sohn bei mir«, erzählte Lance, »um et‐ was abzuliefern, das der Junge gestern abend in Bexley hinter einem Gebüsch gefunden hat.« »Den Nasenring eines versklavten Dämons?« »Einen Freund, der nach Hause wollte«, antwortete Lance. »Du sprichst in Rätseln«, sagte ich. »Shavenaar!« ließ Lance Selby die Katze aus dem Sack. Das war eine Überraschung, die nicht nur mich, sondern auch Roxane und Mr. Silver zu einem begeisterten Aufschrei verleitete. »Das Höllenschwert lebt?« fragte ich lachend. Lance erzählte, wie Mel Bellamy die Waffe gefunden hatte und was danach alles geschehen war. »Es ist dir verziehen, daß du uns so früh aus den Federn geholt hast«, sagte ich jovial. »Das ist leider noch nicht alles«, fuhr der Parapsychologe fort. Seine Stimme hatte auf einmal einen Klang, der mir nicht gefiel. Ich sah einen dicken Wermutstropfen auf mich zukommen. Lance sprach von einer weißen Hexe namens Chrysa, die bei ihm, beziehungsweise bei Oda (was auf dasselbe herauskam), Zuflucht gesucht hatte. Wir erfuhren von Chrysas Leidensweg und ihrer kräfterau‐ benden Flucht, die sie nach London geführt hatte, und Lance erwähnte den Namen des Mannes, der Chrysa buchstäblich im allerletzten Augenblick das Leben gerettet hatte. Und nun ging es Kolumban sehr schlecht, weil ihn Oggral, der grausame Dämon, schwer verletzt hatte. Kolumban brauchte Hilfe. Das ging an die Adresse von Roxane und Mr. Silver. Beide verfüg‐ ten über ein Wissen, das über die menschliche Medizin weit hinaus‐ ging, und Mr. Silver vermochte noch dazu heilmagische Kräfte
einzusetzen. »Wir werden alles versuchen, um ihn zu retten«, sagte Mr. Silver spontan. »Wir fahren sofort los«, versprach ich unserem Freund und legte auf. Durch meinen Kopf geisterte eine unangenehme Befürchtung: daß es Chrysa und Kolumban nicht ganz geschafft hatten, ihre Ver‐ folger abzuhängen. Wenn Oggral ihre Spur nicht verloren hatte, würden wir schon bald mit ihm zusammenkrachen, daß die Funken sprühten.
* Oggral hatte die Spur tatsächlich nicht verloren. Er befand sich ebenfalls in London, und zwei Männer waren bei ihm, Ghouls in ih‐ rer Tarngestalt. Oggral wußte, wo sich Chrysa und Kolumban befanden, und er war entschlossen, sie sich wiederzuholen. Da er erst herausfinden mußte, mit welchem Widerstand zu rechnen war, beschloß er, sich zunächst in der Nähe einzuquartieren. Daß das Haus, für das er sich entschied, nicht leerstand, störte ihn nicht. Er würde davon einfach Besitz ergreifen. Noch nie hatte er sich um Besitzverhältnisse gekümmert. Was immer er haben wollte, hatte er sich einfach genommen. Er gab seinen Begleitern den Befehl, die Verandatür des Hauses aufzubrechen. Sie schlugen das Glas ein, scherten sich keinen Deut darum, daß der Lärm den Besitzer des Hauses wecken konnte. Sein Leben hing ohnedies bereits an einem sehr dünnen Faden. Nur eine überstürzte Flucht hätte ihn noch gerettet, doch woher hätte er das wissen sollen? Als das Glas klirrte, schreckte George Hackman hoch und sprang sofort aus dem Bett. Einbrecher! war sein erster Gedanke, und dar‐ auf hatte er nur eine Antwort. Er riß die Nachttischlade auf und griff sich den Revolver, der dar‐
in lag. Hackman war Verkaufsrepräsentant einer der größten Öl‐ firmen in England. Er hatte sich im Laufe von 30 Jahren einen großen, kaufstarken Kundenstock aufgebaut, der ihm ein beachtli‐ ches Einkommen sicherte. Als Junggeselle konnte er sich bei diesen Einkünften so manchen Luxus leisten. Mit Vorliebe trug er aus allen Ecken Englands antike Gegen‐ stände zusammen, die einen ansehnlichen Wert repräsentierten. Sollte sich jemand daran vergreifen wollen, würde er rotsehen. Mit schußbereiter Waffe verließ er sein Schlafzimmer. Er hatte keine Angst. Erstens, weil er bewaffnet war, und zweitens, weil er Einbrecher allesamt für feige Kreaturen hielt, denen das Herz in die Hose rutschte, wenn man ihnen nur forsch genug gegenübertrat. Er schlich den Flur entlang und erreichte die Treppe. Es war trügerisch still im Haus. Hackman mißtraute dem morgendlichen Frieden. Das Klirren, das ihn so unsanft geweckt hatte, hatte er sich garantiert nicht eingebildet. Er stieg die Stufen langsam hinunter, blieb immer wieder stehen, um zu lauschen. Nichts. Aber Hackman war dennoch davon überzeugt, daß sich jemand in seinem Haus befand. Er erreichte die Halle und rief sich das Geräusch in Erinnerung. Allem Anschein nach war es aus dem Wohnzimmer gekommen. Die Verandatür war eine Schwachstelle des Hauses, das wußte Hackman. Er näherte sich der offenstehenden Tür und trat mit vorgestreck‐ ter Revolverhand ein. Mit der Linken tastete er nach dem Licht‐ schalter. Die Wohnzimmerlampe flammte auf – und Hackman erblickte einen Mann, der in der Nähe der Verandatür stand. Der Kerl trug einen Trenchcoat. Hackmans Trenchcoat! George Hackman erkannte seinen Mantel sofort. Das war die Höhe! Schneidend befahl Hackman dem Unbekannten, die Hände zu heben. Der Ghoul tat ihm den Gefallen. Gelassen schaute er Hack‐ man an. Seine arrogante Miene reizte den Eigentümer des Hauses.
»Keine Bewegung!« sagte George Hackman heiser. »Sonst pumpe ich dich mit Blei voll, Freundchen!« Der Ghoul stand reglos da und wartete. Hackman näherte sich ihm gespannt. »Keine Tricks, hörst du?« Es war kein Trick, als der Ghoul daranging, sein Aussehen zu verändern. Er besaß zwei Gestalten. Die eine hatte Hackman gese‐ hen, und nun ging er daran, sich ihm in der anderen zu präsentieren. Kaum merklich setzte die Metamorphose ein. Hackman bekam es nicht sofort mit, ihm fiel lediglich auf, daß mit dem Fremden irgend etwas ganz Merkwürdiges passierte. Die Lippen des Ghouls bekamen eine andere Form, und seine Fingernägel fingen an zu wachsen, während das Haar mehr und mehr von seinem Kopf verschwand. Der Schädel wurde runder, die Augen sanken in tiefe Höhlen zu‐ rück, und die Haut nahm einen schleimigen Glanz an. Irgendwann erstarrte George Hackman und konnte nicht be‐ greifen, was sich vor seinen Augen abspielte. Der Mann, der immer häßlicher, immer grauenerregender aus‐ sah, verströmte mit einemmal einen widerlichen Geruch. Mein Gott, durchzuckte es George Hackman, was ist da in mein Haus gekommen? Schlagartig meldete sich nun doch die Angst. Mit eiskalten Klau‐ en griff sie nach seinem Herzen, als wollte sie es zerquetschen. Nach wie vor konnte er nicht glauben, was er sah, aber damit brachte er dieses scheußliche Wesen nicht zum Verschwinden. Es nützte nichts, die schreckliche Tatsache zu ignorieren. Sie blieb – hartnäckig und quälend. Ein klarer, vernünftiger Gedanke war in diesem von Furcht und Entsetzen durchpulsten Moment nicht möglich. George Hackman wußte nicht, was für ihn das Beste war. Ein letzter Funke von Verstand sagte ihm, daß es Zeit war, zu schießen, und sein Geist gab den Befehl sofort an den Zeigefinger weiter, der sich gehorsam krümmte.
Der Schuß peitschte, und der Ghoul »schluckte« die Kugel voll. Seine Gestalt war etwas zusammengesunken, war mehr in die Breite gegangen. George Hackman hätte gar nicht vorbeischießen können. Um so mehr erschütterte es Hackman, daß dieses schleimige Wesen mit den gelben, dreieckigen Zähnen nicht die geringste Wirkung zeigte. Obwohl ihm hätte klar sein müssen, daß auch ein zweiter und ein dritter Schuß kein anderes Ergebnis bringen würde, ballerte er wei‐ ter drauflos. Er konnte nicht anders, gehorchte einem inneren Zwang. Die ganze Trommel schoß er leer, alle sechs Kugeln trafen ihr Ziel. Hackman sah die Einschüsse in seinem Mantel, doch das Monster stand nach wie vor sicher auf seinen stämmigen Beinen. In seiner Ratlosigkeit schleuderte Hackman dem Ghoul die leergeschossene Waffe in die Fratze. Es klatschte, als der Revolver den Ghoul traf. Hackman warf sich herum und wollte Fersengeld geben, aber da sprang ihn das nackte Entsetzen ein zweitesmal an. Er sah einen weiteren Ghoul! Wie viele haben mein Haus gestürmt? schoß es durch Hackmans Kopf. Er rannte auf den zweiten Ghoul zu. Das Monster breitete die Arme aus, um ihn nicht vorbeizulassen. Hackman schlug einen Ha‐ ken und duckte sich. Er hatte die Absicht, unter dem Arm des schleimigen Scheusals durchzutauchen, aber das ließ der Leichen‐ fresser nicht zu. Der Ghoul schnappte sich den Mann mit seiner harten Schaufel‐ hand und riß ihn zurück. George Hackman schrie entsetzt auf. Er war zum Spielball der Ghouls geworden, wurde zu dem Leichen‐ fresser zurückgeschleudert, auf den er geschossen hatte. Und der empfing ihn verdammt unsanft. Wieder schrie Hackman, und als ihn die Ghouls packten und auf den Wohnzimmertisch warfen, flehte der Mann um sein Leben. Die Leichenfresser fletschten die spitzen Zähne und knirschten
markerschütternd damit. Hackman versuchte sich freizukämpfen, doch die Ghoulpranken hielten ihn schmerzhaft fest. Daß das erst der Auftakt des Grauens war, konnte sich George Hackman nicht vorstellen, aber so war es, denn jetzt erst erschien Oggral im Living‐room, der Dämon in Henkerskleidung. In seiner ganzen bösen Pracht trat Oggral auf, und ihm war die Angst des Mannes sehr willkommen. Er stieß ein rauhes Lachen hinter der schwarzen Maske aus und betrachtete den Unglückli‐ chen mit seinen blutroten Augen. »Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?« schrie Hackman. »Woher kommt ihr? Wieso ausgerechnet zu mir?« »Wir brauchen dein Haus«, antwortete Oggral kalt. »Ihr könnt es haben, ihr könnt alles haben!« stieß Hackman heiser hervor. »Auch dein Leben?« fragte Oggral und lachte hämisch. »Bitte, nehmt euch alles, was mir gehört, nur … laßt mir mein Leben. Ich flehe euch an …« Es nützte nichts. Oggral hatte anders entschieden. Und sein Henkersbeil bekam wieder Arbeit … Und alles geschah, während sich Eve Bellamy mit ihrem Sohn in Lance Selbys Haus befand.
* Mel Bellamy beobachtete seine Mutter, die so blaß war, daß er sich um sie sorgte. »Kannst du nach Hause fahren, Mom?« fragte er vor‐ sichtig. Sie wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen und seufzte. »Doch, ja. Ich wüßte nicht, was ich lieber täte. Aber diesen Tag werde ich nie vergessen.« Mel senkte den Blick und ließ die Schultern hängen. »Tut mir ehrlich leid, daß ich dir das eingebrockt habe, Mom.« Sie strich ihm mit einem verzeihenden Lächeln über das Haar.
»Schon gut. Du konntest nicht wissen, was daraus werden würde, als du dieses … Schwert in unser Haus brachtest. Ich denke, wir sollten alle froh sein, daß die Sache für uns so gut ausging. Sie hätte auch anders enden können, das fühle ich. So, und nun sollten wir kein weiteres Wort mehr darüber verlieren. Steig in den Wagen, Daddy wartet auf uns. Ich denke, wir sollten uns heute alle drei krank melden und versuchen, Abstand zu gewinnen.« Der Junge nickte. Meistens kam er sich schon sehr erwachsen vor, aber heute drückte ihn sein schlechtes Gewissen weit zurück und tief hinunter. Es würde eine Weile dauern, bis er wieder obenauf schwamm. Sie stiegen in den Escort, und plötzlich stand ein unbekannter Mann neben Eve Bellamy. »M‐o‐o‐o‐m!« schrie Mel, als er sah, was passierte. Der Mann verhinderte, daß Eve Bellamy die Wagentür schloß. Er trug einen eigenartigen Handschuh, der seine Hand wie eine riesige Maulwurfschaufel aussehen ließ, und er setzte Mels Mutter die scharfen Krallen brutal an die Kehle. Eve Bellamy versteifte sich. Sie preßte den Hinterkopf gegen die Nackenstütze und wagte nicht, sich zu bewegen. Mel Bellamy wollte aus dem Escort springen und seiner Mutter zu Hilfe eilen. Raus kam er noch aus dem Wagen, aber dann traf ihn ein harter Schlag, der ihm die Besinnung raubte. Der zweite Ghoul stieß den bewußtlosen Jungen in den Fond des Wagens und setzte sich neben ihn. Mel rutschte in den Fußraum. Den Leichenfresser störte das nicht. Der Mann, der Eve Bellamy mit seinen Klauen in Schach hielt, riet ihr, sich zu keiner Unbesonnenheit hinreißen zu lassen. »Das würde zuerst der Junge büßen und anschließend du!« knurrte er. »Ich … ich werde nichts tun, was das Leben meines Sohnes ge‐ fährdet«, versprach die Frau mit zitternder Stimme. Der Leichenfresser warf einen Blick auf Lance Selbys Haus. Nie‐ mand stand an den Fenstern. Keiner sah, was hier draußen vorging. Langsam ließ der Ghoul die Frau los, bereit, sofort zuzupacken, diesmal tödlich.
Aber Eve Bellamy behielt die Nerven. Sie wußte selbst nicht, wie sie das schaffte. Sie wollte leben – nicht einmal so sehr für sich als für ihre Familie. Vor allem Mel durfte sie jetzt nicht durch einen Fehler im Stich lassen. Wenn Mel zu sich kam, mußte sie noch für ihn da sein. Der Ghoul lief um den Escort vorne herum und stieg auf der Bei‐ fahrerseite ein. Er befahl der total verängstigten Frau loszufahren. Eve Bellamy begriff nicht, wieso ihr und ihrer Familie an einem einzigen Tag so viel Entsetzliches zustoßen konnte. Hatte sich das Unglück der ganzen Welt gegen die Bellamys verschworen? Als der Escort einen wilden Bocksprung machte, glaubte der Ghoul, die Frau hätte das absichtlich getan, und sofort saß seine Klaue wieder an ihrem Hals. »Wenn du das noch einmal machst, töte ich dich!« fauchte der Leichenfresser wütend. Eve Bellamy nahm sich zusammen, so gut es möglich war. Die Nervenbelastung war ungeheuer. Hinzu kam der bohrende Zweifel, daß sie durchzuhalten imstande war. Ein lächerlich kleiner Fehler konnte zu einer Katastrophe unge‐ ahnten Ausmaßes eskalieren. Davor hatte Eve Bellamy panische Angst – daß ihr Sohn durch ihre Schuld sein Leben verlieren würde. Dieser nervliche Streß machte sie halb wahnsinnig. Die Fahrt dauerte zum Glück nicht lange. Eve Bellamy mußte den Escort vor einem Haus anhalten, an dessen Postkasten der Name George Hackman stand. »Aussteigen!« befahl der Leichenfresser, der neben der Frau saß. »Geh ins Haus!« »Laßt mich bitte bei Mel«, flehte die Frau. »Der braucht dich im Moment nicht«, erwiderte der Ghoul eisig. »Gehorche!« »Was habt ihr mit meinem Jungen vor?« »Nichts – vorläufig. Auch er muß in das Haus. Wir werden ihn tragen.« Eve Bellamys Augen schwammen in Tränen.
»Ihr … ihr werdet uns … umbringen, nicht wahr?« krächzte die Frau. »Ihr seid unsere Geiseln«, antwortete der Ghoul. »Wozu braucht ihr uns? Wen wollt ihr unter Druck setzen?« »Aussteigen!« knurrte der Leichenfresser. »Ich sage es nicht noch einmal!« Eve Bellamy beeilte sich, aus dem Wagen zu kommen. Ihr zitterten die Knie, sie glaubte, jeden Augenblick zusammenzu‐ klappen. Es ist zuviel für mich! stöhnte sie im Geiste. Mein Gott, wie soll ich das nur aushalten? Mit hölzernen Bewegungen entfernte sie sich vom Escort, und sie fragte sich mit wild pochendem Herzen, was sie in George Hack‐ mans Haus erwartete. Die Nachbarhäuser waren noch erfüllt von Stille. Niemand hatte die Geiselnahme mitbekommen. Die Hoffnung, daß irgend jemand die Polizei verständigen würde, konnte Eve Bellamy begraben. Anfangs hatte die Frau geglaubt, diese Männer, die leicht nach Verwesung rochen, trügen eigenartige Handschuhe, die sie gleich als Waffen verwenden konnten, doch nun war sie sicher, daß es sich um echte, seltsam verkrüppelte Hände handelte, um harte Schaufeln mit rasiermesserscharfen Krallen. Damit konnten diese brutalen Kerle töten! Die Ghouls packten Mel Bellamy und hievten ihn aus dem Escort. Sie traten die Tür zu und folgten der Frau mit ihrer schlaff hin und her baumelnden Last. Eve Bellamy krampfte es das Herz zusammen, wenn sie ihren Sohn anschaute. Wie tot hing er zwischen den Männern. Sie öffnete die Haustür und trat ein. Stille empfing sie. Es schien niemand dazusein. Mel regte sich. Die Ghouls blieben stehen und stellten ihn auf die Beine. Zwei Schläge ins Gesicht, und er war wieder voll da. Eve Bel‐ lamy wollte zu ihm eilen und ihn in die Arme schließen, doch die Leichenfresser stießen sie brutal zurück. »Laßt meine Mutter in Ruhe, ihr verfluchten Bastarde!« schrie Mel zornig.
Eve Bellamy hatte Angst um ihn, deshalb hob sie beschwörend die Hände und bat ihn, still zu sein. Einer der beiden Ghouls grinste breit. »Hör auf deine Mutter! Halt’s Maul!« »Warum sind wir hier? Wem gehört dieses Haus?« wollte Mel wissen. »Hackman erwartet euch im Living‐room«, bekam er zur Ant‐ wort. Eve Bellamy ging weiter. Als sie das Wohnzimmer betrat, stieg ihr der süßliche Geruch von Blut in die Nase, und im nächsten Moment machte sie eine grausige Entdeckung: Auf dem großen Tisch lag eine kopflose Leiche. Das war zuviel für die Frau. Schreiend wandte sie sich um, krümmte sich und brach zu‐ sammen.
* Ich stoppte meinen schwarzen Rover vor Lance Selbys Haus und stieg aus. Merkwürdig. Obwohl ich jahrelang in dieser Straße ge‐ wohnt hatte und mir alles noch bestens vertraut war, hatte ich nicht das sentimentale Gefühl heimzukommen. Vielleicht lag das daran, daß es mein Haus nicht mehr gab. Selbstverständlich würde ich immer wieder mal hierherkommen, schließlich blieb unser guter Freund Lance hier wohnen. Der Para‐ psychologe ließ uns ein, und Mr. Silver verlangte sofort Shavenaar zu sehen. Augenblicke später hielt der Ex‐Dämon sein Höllen‐ schwert wieder in der kräftigen Faust. Er strahlte wie ein Weih‐ nachtsbaum … »Endlich habe ich dich wieder«, sprach er zu der lebenden Waffe. »Ich hatte schon geglaubt, dich verloren zu haben. Um so mehr freut es mich nun, dich wieder in der Hand zu halten.« Ein Name, den wir erst kürzlich abgehakt hatten, rückte plötzlich wieder in unser Blickfeld: Reypee. Auf einmal war es wieder inter‐
essant und wichtig, das Grab des Gottähnlichen zu finden, um Sha‐ venaar zu einer total weißen Waffe zu machen. Meine Güte, ist das ein Hin und Her, dachte ich, aber ich freute mich wie Mr. Silver darüber, daß Shavenaar wieder bei uns war. Auch ich hatte nicht damit gerechnet, das Höllenschwert noch mal wiederzusehen. Doch die Wiedersehensfreude mußte sich in Grenzen halten. Besonders Roxane und Mr. Silver durften nicht vergessen, weshalb sie vor allem hierhergekommen waren: um Kolumban zu helfen. Lance Selby führte uns zu dem Mann mit den Schwimmhäuten. Bei der Gelegenheit lernten wir Chrysa kennen, ein Mädchen mit Anmut und Liebreiz. Sie war mir auf Anhieb sympathisch, und ich sagte freundlich lächelnd zu ihr: »Ein Glück, daß du Oggral ent‐ kommen bist. Es wäre ein Verbrechen gewesen, so viel Schönheit brutal zu zerstören.« Mr. Silver sah sich die tiefe Wunde an und unterzog Kolumban einer raschen Sofortbehandlung. Behutsam strich er mit silbernen Händen mehrmals über die häßliche Verletzung. Ein silbernes Flirren lagerte sich dick auf der Haut ab und si‐ ckerte nach und nach in den Körper. Die Wundränder verfärbten sich, wurden heller. Mr. Silver bemerkte zufrieden, daß Kolumban hervorragend auf seine Heilmagie ansprach. Bald würde die Wunde nicht mehr so tief und breit sein, und sie würde aufhören zu schmerzen. Kolum‐ ban befand sich nach diesem ersten Kontakt mit Mr. Silvers Heilma‐ gie schon merklich auf dem Wege der Besserung. Roxane erwähnte das Rezept eines starken, unterstützenden Zau‐ bertranks. Hierzu brachten Oda und Chrysa einige Verbesserungs‐ vorschläge ein, die geeignet waren, die Wirkung zu erhöhen, ohne Kolumban zu schaden. »Ich habe sämtliche Ingredienzien im Haus«, erklärte Lance Selby und bat die beiden weißen Hexen, mit ihm die Küche aufzusuchen. Chrysa und Roxane verließen mit ihm das Gästezimmer, Mr. Sil‐ ver und ich blieben bei Kolumban. »Er hat sehr viel für Chrysa getan«, meinte der Ex‐Dämon.
»Deshalb verdient er es, daß wir ihm mit vereinten Kräften helfen. Er wird bald wieder auf den Beinen sein. Nicht jeder spricht auf meine Heilmagie so gut an.« »Hoffentlich hat er nicht die Absicht, in seine Welt zurückzukeh‐ ren – und Chrysa womöglich mitzunehmen«, sagte ich, »denn dann würde die Jagd von vorn beginnen.« »Wir werden ihm empfehlen zu bleiben.« »Wenn er vernünftig ist, wird er das tun«, sagte ich. Der Ex‐Dämon hob die Schultern. »Die Entscheidung liegt allerdings bei ihm.« Unten läutete das Telefon. Da Lance Selby in der Küche zu tun hatte, beschloß ich, den Butler zu spielen und den Anruf ent‐ gegenzunehmen. Ich verließ das Gästezimmer und lief die Treppe hinunter. Augenblicke später grub ich den Hörer aus der Gabel und melde‐ te mich mit einem unverfänglichen »Hallo!«. Ich war wie vom Donner gerührt, als ich erfuhr, wer sich am anderen Ende der Leitung befand: Oggral! Er brüllte seinen Namen so laut, daß ich den Hörer von meinem Ohr reißen mußte. Er klang so nahe, als würde er sich im Nebenzimmer befinden. Ein kalter Schauer überlief meine Wirbelsäule. Meine Befürch‐ tung hatte sich erfüllt: Oggral hatte die Spur der weißen Hexe und ihres Freundes nicht verloren. Er wußte, wo sich die beiden befanden. Und er war ganz in der Nähe!
* »Du gewährst einem Mädchen und einem Mann Unterschlupf«, sagte der Dämon grimmig. »Sie haben dir bestimmt von mir er‐ zählt. Du bist dir doch bewußt, daß dich das um Kopf und Kragen bringen kann, Selby. Ich verlange, daß du mir Chrysa und Kolum‐ ban übergibst!« Ich ließ ihn in dem Glauben, mit Lance zu sprechen. »Das werde
ich nicht tun!« gab ich energisch zurück. »Du würdest gut daran tun, umzukehren.« »Ich verlasse diese Welt erst, wenn ich mit Chrysa und Kolumban abgerechnet habe. Du solltest dich nicht in meine Angelegenheiten mischen, sonst mußt du das Schicksal der beiden teilen.« »Noch hast du sie nicht, und du wirst sie auch nicht kriegen«, sagte ich frostig. »Solltest du versuchen, sie dir zu holen, wirst du das nicht überleben.« Das war nicht übertrieben. Mein Blick ruhte auf Shavenaar, das auf dem Tisch lag. Mit dieser Waffe konnten wir Oggral entweder dorthin zurückjagen, woher er gekommen war, oder töten. Oggral hielt mich für größenwahnsinnig. Sein Wutausbruch war so laut, daß ich selbst dann noch jedes Wort verstand, als sich der Hörer einen halben Meter von meinem Ohr entfernt befand. Der Dämon brüllte, ich wüßte wohl nicht, wer er sei, sonst würde ich nicht so mit ihm zu reden wagen, doch damit konnte er mich nicht einschüchtern. Ich merkte, daß ihn meine Gleichgültigkeit enorm reizte, und das erfüllte mich mit Freude. Dann schaltete er unvermittelt auf normale Lautstärke um, und ich konnte es riskieren, den Hörer wieder näher ans Ohr zu bringen. »Eine Frau und ihr Sohn waren in deinem Haus, Selby!« sagte Oggral rauh. Mir schnürte es unwillkürlich die Kehle zu, weil ich mir denken konnte, was gleich kommen würde. »Eve und Mel Bellamy«, nannte der Dämon die Namen. Ich reagierte darauf mit merklicher Unruhe, wickelte den Draht des Telefons um meinen Finger. »Deiner Aufmerksamkeit ist es entgangen, daß meine beiden Ghouls sie sich geholt haben, Selby!« rief der Dämon tri‐ umphierend. »Ja, sie befinden sich in meiner Gewalt.« Ich hatte befürchtet, daß er das sagen würde. »Du kannst entscheiden, ob sie am Leben bleiben dürfen oder sterben müssen, Selby!« sagte Oggral gefühllos. »Wir werden tauschen: Ich kriege von dir Chrysa und Kolumban, und du bekom‐
mst von mir Eve und Mel Bellamy. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich dir dieses Angebot mache. Ich könnte mit meinen beiden Ghouls ebensogut dein Haus stürmen, dich töten und mir holen, was ich will.« »Du weißt, daß du einen solchen Angriff nicht überleben würdest«, entgegnete ich mit fester Stimme. Oggral hielt mich entweder für einen rettungslosen Phantasten oder für einen Wahnsinnigen. Er lachte und nannte mich einen Narren. Dann wurde er schlagartig ernst. »Du hast eine halbe Stunde Zeit, dich zu entscheiden, Selby. Wir befinden uns in George Hack‐ mans Haus. Du weißt, wo das ist. Hackman ist übrigens tot, nur da‐ mit du erkennst, wie ernst ich zu nehmen bin. In einer halben Stunde sind entweder Chrysa und Kolumban bei mir, oder Eve Bel‐ lamy und ihr Sohn verlieren den Kopf.« Auch ich kannte Hackman. Wir hatten selten miteinander gespro‐ chen, aber er war mir bekannt, und ich wußte, wo sein Haus war, in das sich Oggral mit zwei Ghouls eingenistet hatte. »Eine halbe Stunde, Selby!« erinnerte mich der Dämon. »Diese Frist wird keinesfalls verlängert. Du solltest dir deine Entscheidung reiflich überlegen!« Es klickte in der Leitung. Oggral hatte aufgelegt.
* Eve Bellamy war wieder bei Bewußtsein. Mel saß neben ihr auf einem kleinen Sofa im Living‐room. Sie waren allein – allein mit dem Toten, zu dem sie nicht hinschauten. Mels Arme umschlossen seine Mutter. Er versuchte ihr Hoffnung zu geben und Mut zu ma‐ chen. »Sie werden uns nichts tun, Mom, ganz bestimmt nicht. Oggral hat mit Mr. Selby telefoniert. Er ist nicht an uns interessiert, son‐ dern an Chrysa und Kolumban. Sobald er die beiden hat, dürfen wir gehen.«
»Ja«, entgegnete Eve Bellamy tonlos, »dann sind wir vielleicht frei – und Chrysa und Kolumban müssen sterben. Darauf kann ich mich nicht freuen; das ist teuflisch, Mel. Wenn ich Mr. Selby wäre, würde ich mit dem Tausch nicht einverstanden sein. Er gewinnt da‐ mit doch nichts.« »Er rettet unser Leben.« »Und opfert das von Chrysa und Kolumban«, machte die Frau ih‐ rem Sohn verständlich. »Auf jeden Fall weiß Mr. Selby nun, wo wir uns befinden«, sagte der Junge, der ohne Hoffnung nicht leben konnte. Doch seine Mutter sah es nüchterner. »Was nützt uns das?« »Er kann die Polizei einschalten.« »Damit würde er nur alles für uns schlimmer machen«, be‐ hauptete Eve Bellamy. »Oggral ist unbeherrscht und jähzornig. Wenn dort draußen Polizei auffährt, dreht er durch, und wir hätten es als erste zu büßen.« Mel dachte an seinen Vater, der zu Hause auf sie wartete. Bald würde er nervös werden, weil sie nicht heimkamen. Der Junge zwang sich dazu, in George Hackmans Richtung zu sehen. Ver‐ bissen schaute er darüber hinweg. Der Vorhang bewegte sich sanft hin und her, Glasscherben lagen auf dem Boden. Sie hatten die Scheibe der Verandatür einge‐ schlagen, um ins Haus zu kommen. Auf diesem Weg ließ sich das Haus auch verlassen! »Mom«, sagte der Junge gepreßt. Er drückte sie innig an sich. »Wie stark bist du, Mom? Stark genug, um zu fliehen? Wir könnten durch die Verandatür abhauen. Allerdings müßten wir … an diesem Tisch vorbei. Glaubst du, daß du das schaffst?« Eve Bellamy preßte die Lippen fest zusammen und sah ihren Sohn verzweifelt an. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Das würde über meine Kräfte gehen, Mel.« »Kannst du dich nicht zusammennehmen?« fragte Mel flehend und eindringlich. »Denk an mich, an Dad, der zu Hause auf uns wartet. Du mußt dich überwinden. Es ist ja nur für wenige Augen‐ blicke. Sobald wir draußen sind, wirst du dich besser fühlen, ganz
bestimmt.« Er ließ sie los. Ein zitternder Seufzer entrang sich ihrer Kehle, und als sie endlich nickte, fiel Mel ein Stein vom Herzen, denn ohne sie hätte er Hackmans Haus niemals verlassen. »Okay«, flüsterte die Frau. »Versuchen wir es.« Der Junge wischte sich mit dem Ärmel nervös über die Stirn. »Gib mir deine Hand, Mom.« Ihre Hand glitt in seine. Er drückte fest zu, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Ich zähle bis drei, dann springen wir auf und rennen los, und wir bleiben nicht mehr stehen, ja?« Die Frau nickte und schluckte trocken. Vielleicht würde es schief‐ gehen, aber Mel hatte recht. Sie mußten es wenigstens versuchen. Mel begann zu zählen: »Eins … zwei …« Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er sah erschrocken, wütend und enttäuscht aus. Eve Bellamy konnte es verstehen, denn sie fühlte ähnlich. Eben erst hatte ihre kleine Hoffnung angefangen zu leben, und nun zerplatzte sie wie eine dünnhäutige Seifenblase, denn einer der beiden Ghouls betrat den Living‐room. Die Frau hatte Angst um ihren Sohn, in dessen bleichem Gesicht es heftig zuckte. Sie befürchtete, daß er trotzdem die Flucht wagen würde, und beschwor ihn mit einem bettelnden Blick, es nicht zu tun. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich zu beherrschen. Freiheit und Rettung waren zum Greifen nahe gewesen, und nun diese schreck‐ liche Enttäuschung; das war nicht leicht zu verkraften. »Vielleicht geht er gleich wieder hinaus«, raunte Mel seiner Mut‐ ter zu. Der Leichenfresser hatte im Moment völlig normale Hände. Nur seine unangenehme Ausdünstung verriet, daß er ein Ghoul war. Jene, die unerkannt unter Menschen leben wollten, verwendeten häufig starke Duftwässer, die ihren Geruch überdeckten. Der Ghoul kam auf Mutter und Sohn zu. Er bleckte normale Zäh‐ ne, die weiß und regelmäßig waren. Sein Gesicht hatte markante Züge, das Haar war dicht.
Je näher er kam, desto schneller schlug Mels Herz. Der Ghoul be‐ achtete ihn nicht, seine Augen waren auf Eve Bellamy gerichtet. Als er die Hand ausstreckte, versteifte sich die Frau. Seine Finger berührten ihr Haar, und Mel schaffte es nicht, sich länger zu beherrschen. »Faß meine Mutter nicht an, du Bastard!« schrie er, sprang auf und warf sich dem Leichenfresser mit vorgestreckten Fäusten ent‐ gegen. Kraftvoll stieß er den Ghoul zurück, ohne zu bedenken, daß er damit sein Leben aufs Spiel setzte. Er konnte nicht anders, mußte seine Mutter verteidigen. Es war ein Reflex, über den er keine Kon‐ trolle hatte. »Mel!« schrie Eve Bellamy entsetzt und sprang gleichfalls auf. Die Farbe der Augen des Leichenfressers veränderte sich, und seine Zähne wurden gelb und spitz. Auch er hatte die Beherr‐ schung verloren, und er hätte Mel augenblicklich getötet, wenn Og‐ gral ihn nicht mit donnernder Stimme zurückbefohlen hätte. Knurrend ließ der Ghoul von dem Jungen ab und wich zurück. Mel stand zitternd vor Wut und Haß da und begriff, daß ihm Og‐ gral soeben das Leben gerettet hatte. Der Dämon befahl Eve Bella‐ my und ihrem Sohn, sich wieder zu setzen. Den Ghoul schickte er hinaus, doch er folgte ihm nicht, und das bedeutete für Mel und sei‐ ne Mutter, daß die Fluchtchance vertan war.
* Jene, die es in erster Linie anging, nämlich Chrysa und Kolumban, wußten Bescheid. Ich hatte gleich nach Oggrals Anruf mit Lance gesprochen, zunächst unter vier Augen, weil ich nicht wußte, was er für richtig hielt. Er sagte dann, daß er das Chrysa nicht vorent‐ halten dürfe, und informierte sie. Oda, Roxane und Chrysa hatten Kolumban sodann ihren Trank eingeflößt, von dem ich den Eindruck hatte, daß er sogar Tote auf‐ geweckt hätte. So massiv war wohl noch keiner Verwundung zuleibe gerückt
worden: Magische Ingredienzien, zu einem Trank von unerhörter Wirkung verkocht, angereichert mit dreifacher Hexenkraft – und dazu noch Mr. Silvers Heilmagie … Das mußte Kolumban einfach auf Vordermann bringen. Man konnte direkt zusehen, wie er sich erholte und wie die Wunde immer kleiner wurde. Chrysa sprach mit ihm über Oggrals Ultimatum und sagte, sie wolle nicht, daß jemand anderer für sie starb. »Das möchte ich auch nicht«, sagte Kolumban. »Oggral will uns haben, er soll uns bekommen«, sagte Chrysa düster. »Das ist nicht dein Ernst!« sagte Lance Selby leidenschaftlich. »Ich lasse nicht zu, daß ihr zu ihm geht.« »Er wird Eve Bellamy und ihren Sohn eiskalt töten«, sagte Chry‐ sa. »Oggral blufft nicht, der führt aus, was er sagt.« »Denkst du, er läßt die Frau und ihren Sohn laufen, wenn ihr euch ihm ausliefert? Ich glaube, nicht.« »Wir müssen es versuchen, das ist unsere Pflicht«, sagte Chrysa. »Wir sind es den Bellamys schuldig, denn durch uns sind sie in diese schreckliche Lage geraten.« »Wir wissen, wo sich Oggral befindet und wie viele Gegner es sind. Wenn wir sie alle zusammen angreifen …« »Würden zuallererst die Bellamys sterben«, fiel Chrysa dem Pa‐ rapsychologen ins Wort. »Das dürfen wir nicht tun, Lance.« Die Zeit schritt rasch fort, und die Diskussion wurde immer heißer und mit größeren Emotionen geführt. Chrysa und Kolumban waren bereit, zu Oggral zu gehen, Lance Selby war dagegen. Nach 25 Minuten sagte ich: »Was haltet ihr von einem Spiel mit gezinkten Karten?« »Wie soll das ablaufen?« wollte Lance Selby wissen. »Ich bringe Chrysa und Kolumban zu Oggral …« »Wo ist die gezinkte Karte?« fragte Lance wenig begeistert. »Die bin zum ersten ich – und dann habe ich noch einen Trumpf im Ärmel beziehungsweise im Kofferraum meines Wagens: Mr. Sil‐ ver mit dem Höllenschwert. Kolumban ist zwar nicht mehr so schwach, daß ihn jemand stützen muß, aber das weiß Oggral nicht.
Ich werde Kolumban ins Haus bringen, und wenn ich erst mal drinnen bin, kriegen mich keine zehn Pferde wieder raus. Erst wenn Oggral und seine Ghouls erledigt sind, ziehe ich ab.« Mr. Silver nahm den Faden auf. »Sobald ihr im Haus seid, steige ich aus dem Kofferraum, um euch zu folgen. Ich werde mit meinem unverhofften Erscheinen für sehr viel Unruhe sorgen.« Der Hüne knallte mir seine Pranke auf die Schulter. »So machen wir es, Tony. Auf diese Weise schaffen wir den Hundesohn und sei‐ ne Leichenfresser. Damit schlagen wir drei Fliegen mit einer Klappe! Wir vernichten die Schwarzblütler, retten die Bellamys und bewahren Chrysa und Kolumban vor dem Tod. Das sind Aussich‐ ten, die mir gefallen.« »Vorausgesetzt, Oggral durchschaut euer falsches Spiel nicht«, warf Lance ein. Mr. Silver warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Tu mir einen Gefallen und halt für fünf Minuten die Luft an, okay?«
* Theoretisch konnte es hinhauen, ob es auch in der Praxis klappen würde, mußte sich erst zeigen. Der Zwei‐Meter‐Hüne stieg in den Kofferraum des Rover und faltete sich zusammen. Ich legte das Höllenschwert neben ihn und senkte den Deckel, ohne ihn ins Schloß zu drücken. Während der kurzen Fahrt würde der Ex‐Dä‐ mon den Deckel festhalten. Chrysa und Kolumban stiegen ein, und ich setzte mich hinter das Steuer. Gleich darauf rollte der schwarze Rover George Hackmans Haus entgegen. Keine Sekunde zweifelte ich an Oggrals Worten. Ich glaubte ihm, daß er Hackman getötet hatte, und ich brannte darauf, es ihm heimzuzahlen – ihm und seinen verdammten Leichen‐ fressern, dieser widerlichsten aller Dämonengattungen. Eine Minute vor Ablauf der Frist stieg ich aus dem Rover und holte Kolumban heraus. Er spielte den schwer Angeschlagenen
überzeugend. So, wie er an mir hing, so dreckig konnte es ihm wirklich gehen, nachdem ihn Oggrals Henkersbeil so schwer getrof‐ fen hatte. Ich schleppte ihn zur Haustür. Um Chrysa brauchte ich mich nicht zu kümmern, sie schritt mit stolz erhobenem Kopf und trot‐ ziger Miene neben mir. Wie von Geisterhand bewegt öffnete sich die Tür, hinter der ein Ghoul stand. Wir betraten das Haus, und der Leichenfresser bedeu‐ tete uns mit einer herrischen Kopfbewegung weiterzugehen. Er stieß die Tür zu und folgte uns. Obwohl ich mit einem schlimmen Schock rechnete, als wir den Living‐room betraten, ging mir das, was ich gleich darauf sah, ge‐ hörig an die Nieren. Vor allem die Sinnlosigkeit dieses Sterbens regte mich maßlos auf. Nur weil Oggral für kurze Zeit einen Unterschlupf gebraucht hatte, hatte George Hackman sein Leben verloren. Ich sah den zweiten Ghoul; er stand hinter einem Sofa, auf dem die Bellamys saßen. Mitten im Raum stand Oggral, der Henker – groß, kräftig, bedrohlich, den langen Stiel seines Henkersbeils in den Händen. Vom schwarzen Helm standen die gezackten Flügel einer Fledermaus seitlich ab. Seine Haltung drückte triumphierende Zufriedenheit aus. Er hatte seinen Willen durchgesetzt. Chrysa und Kolumban befanden sich wieder in seiner Gewalt. Er nickte und befahl mir, zu gehen; meine Aufgabe war erfüllt, ich hatte ihm das Mädchen und den Mann gebracht. Er sah es be‐ stimmt als unwahrscheinliche Gnade an, mir freien Abzug zu ge‐ währen, doch ich nahm sein Angebot nicht an. Das irritierte und ärgerte ihn. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du einen Tausch vorge‐ schlagen«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen. »Chrysa und Kolumban für die Bellamys. Wenn ich also gehen soll, mußt du mir erlauben, die Frau und den Jungen mitzunehmen.« »Du spielst mit deinem Leben, weißt du das?« knurrte Oggral. »Ich habe meinen Teil der Vereinbarung erfüllt, nun bist du
dran«, erwiderte ich starrsinnig. »Ich denke nicht daran, irgend etwas zu erfüllen!« herrschte mich der Dämon an. »Die Bellamys bleiben hier! Meine Ghouls werden sie fressen!« Ich hatte es gewußt, deshalb war ich auch nicht enttäuscht, als mir Oggral diese Antwort gab. Für die Bellamys jedoch stürzte eine Welt ein. Sie hielten sich an‐ einander fest, und die Frau weinte leise und verzweifelt.
* Jemand, mit dessen Erscheinen niemand rechnete, traf hinter Hack‐ mans Haus ein und bereitete sich auf den Kampf auf Leben und Tod vor. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt und fieberte der Ausein‐ andersetzung entgegen. Zum Schluß durfte es nur einen Über‐ lebenden geben, und das wollte er sein. Keine Chance wollte er Oggral lassen. Mit ganzer Kraft wollte er den Dämon bekämpfen und bezwingen. Und er würde sich nicht mit einer Kapitulation zufriedengeben. Nein, es würde ihm nicht reichen, wenn Oggral die Waffe streckte. Nur dessen Tod würde ihn befriedigen …
* Mr. Silver wartete nicht lange. Vorsichtig drückte er den Deckel hoch und entstieg dem Kofferraum, ohne daß ihn jemand bemerkte. Er nahm Shavenaar an sich und sagte zu dem lebenden Schwert: »Endlich wieder vereint. Wir werden Oggral eine grimmige Lehre erteilen, aus der er allerdings keinen Nutzen wird ziehen können, weil er danach nämlich tot sein wird.« Shavenaar tat seine Erregung mit einem leichten Fluoreszieren kund.
Der Kampf war Shavenaars Leben. Die Pausen dazwischen liebte das Höllenschwert nicht. Und vor allem deshalb hatte es vor seinem Verschwinden nach mehr Unabhängigkeit gestrebt. Dieser Wille schien sich, wenigstens für den Augenblick, gelegt zu haben. Shavenaar war bereit für den Kampf, konnte ihn kaum noch erwarten. Leicht geduckt näherte sich der Dämon dem Haus. Er lief nicht, ging aber zügig, erreichte die Tür und lauschte, ehe er sie behutsam öffnete. In der Halle befand sich niemand, alle hielten sich im Living‐ room auf. Mr. Silver schloß die Tür lautlos und schlich weiter. Og‐ gral eröffnete soeben Tony Ballard, daß er nicht daran denke, die Bellamys freizugeben, wie er es versprochen hatte. Auch den Ex‐Dämon überraschte diese Entscheidung nicht. So waren nahezu alle Schwarzblütler. Versprechen, die sie gaben, vergaßen sie im selben Moment, weil sie ohnedies nicht die Absicht hatten, sich daran zu halten. Nur wenn es ihrem eigenen Vorteil nützte, machten sie eine Ausnahme. Mr. Silver blieb neben einer holzgeschnitzten russischen Ikone stehen, die nahe der Living‐room‐Tür an der Wand hing. Er legte nun auch die zweite Hand um Shavenaars Griff und hob die lebende Waffe langsam. Gleichzeitig spannte er seine Muskeln an.
* Ich versuchte mir auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis Mr. Silver erschien. Ich bereitete mich seelisch auf den Kampf vor, machte mich mit den Gegebenheiten vertraut, denn es würde alles verdammt schnell gehen müssen. Chrysa war mir nicht im Weg, und es war mit Kolumban ver‐ einbart, daß er sich fallen ließ, sobald ich ihn nicht mehr festhielt. Dann mußte ich den Colt Diamondback aus der Schulterhalfter
reißen und zuerst den Kerl erledigen, der hinter den Bellamys stand, damit er ihnen nichts anhaben konnte. Erst danach würde ich mich dem zweiten Ghoul zuwenden, wäh‐ rend für Mr. Silver Oggral blieb. Mein Freund tauchte in der Tür auf, und es ging los. Oggral stieß einen Wutschrei aus, als er den Ex‐Dämon mit dem Höllenschwert erblickte. Er schwang sogleich sein Henkersbeil hoch. Ich nahm meine Hände von Kolumban, der sogleich zu Boden ging. Meine Rechte zuckte zur Waffe, und ich sah, wie der Ghoul hinter den Bellamys sich verwandelte. Ich hoffte, daß weder Eve noch Mel Bellamy erschrocken auf‐ sprangen, denn dann hätte meine geweihte Silberkugel einen von ihnen erwischt. Glücklicherweise waren sie zu geschockt, um irgend etwas zu tun. Ich jagte die Silberkugel durch den Lauf, und das schleimglän‐ zende Ungeheuer brach gurgelnd zusammen und löste sich auf. Heulend griff mich der zweite Ghoul, ebenfalls bereits verwandelt, an, und jetzt schnellten die Bellamys gleichzeitig hoch, aber das störte mich nicht mehr. Ich wandte mich von ihnen ab und dem anderen Leichenfresser zu. Oggral schlug auf Mr. Silver ein, ohne zu wissen, daß er es mit zwei Gegnern zu tun hatte. Und Shavenaars Vernichtungswille war noch ausgeprägter als der des Ex‐Dämons. Gemeinsam wehrten sie Schlag um Schlag ab und drängten Og‐ gral zurück. Sie waren stetig auf dem Vormarsch, und schon nach den ersten Fehlschlägen erkannte Oggral, daß Mr. Silver mit dem Höllenschwert zu stark für ihn war. Er versuchte das Blatt mit tückischer Magie zu wenden, doch der Ex‐Dämon wußte ihr richtig zu begegnen. Mal lenkte er sie zur Sei‐ te, mal blockte er sie ab, mal kehrte er sie blitzschnell um und schickte sie zurück. Von den eigenen unsichtbaren Schlägen getroffen, schrie Oggral immer wieder auf. Mr. Silver schlug ihm den Flügelhelm vom Schädel. Das Pantherfell, das seinen Kopf bedeckte, kam zum Vor‐ schein.
Eve und Mel Bellamy bemühten sich, unversehrt den Living‐ room zu verlassen. Ich streckte den zweiten Ghoul nieder und löschte mit nur einer geweihten Silberkugel sein schwarzes Leben aus. Leichenfresser sind nicht besonders widerstandsfähig; dennoch darf man sie nie‐ mals unterschätzen, denn Überheblichkeit geht in neunzig von hundert Fällen ins Auge. Chrysa eilte zu Kolumban, als der Ghoul zusammensackte. Sie half ihrem Freund auf die Beine, und dann nahmen sie sich gemein‐ sam der Bellamys an, die jetzt einen Beistand dringend nötig hatten. Der zweite Leichenfresser zerfloß vor mir förmlich, wurde zu einer breiten, gallertartigen Masse, die stinkend verdampfte. Mr. Silver beförderte Oggral mit einem Fußtritt zurück und schwang das Höllenschwert mit beiden Händen von unten nach oben. Vielleicht war es auch Shavenaar selbst, das diese Bewegung durchführte. Es kam immer wieder vor, daß man das lebende Schwert kaum zu führen, sondern nur festzuhalten brauchte, und die Waffe kämpfte ganz allein mit zügelloser Wildheit. Oggral reagierte zu langsam. Das kostete ihn den linken Arm. Kaum hatte er ihn verloren, brach er den Kampf ab und ergriff die Flucht. Ich wollte schießen, aber Mr. Silver kam mir in die Que‐ re. Gemeinsam hetzten wir zur Verandatür. Draußen schrie Oggral, und dann vernahmen wir neuerlichen Kampflärm: Keuchen, Stampfen, Waffenklirren … Wir sahen uns verdutzt an. Wer war dem Dämon entgegengetre‐ ten? Wir wußten es wenige Minuten später, als wir auf die Veranda traten. Wieder mußte Oggral kämpfen, und diesmal war es ein Ballard, der ihn gestellt hatte: Anthony Ballard, der Hexenhenker!
*
Shavenaar wollte sich einmischen, doch Mr. Silver hielt das Höllen‐ schwert zurück. Auch ich wußte, daß mein Vorfahre keine Hilfe brauchte. Anthony Ballard würde den Dämon vernichten, darauf konnten wir uns verlassen. Der Hexenhenker gehörte dem »Weißen Kreis« an, mit dessen Mitgliedern wir befreundet waren. Sie bildeten ein Bollwerk gegen das Böse und bekämpften es – allein oder alle zusammen –, wo immer es auftauchte. Im Keller ihres Hauses befand sich Yuums Auge, das ihnen schwarze Aktivitäten aufzeigte, und dieser wertvollen Einrichtung war es zu verdanken, daß Anthony Ballard hier erschienen war, um den letzten Akt zu bestreiten. Lange Zeit war mein vierschrötiger Vorfahre in Henkerskleidung aufgetreten, doch nach und nach hatte er sich unserer Zeit ange‐ paßt. Er besaß die antiquierte Kleidung zwar immer noch, aber er zog sie nur noch selten an, weil sie zu auffällig war. Als Waffe benutzte der Hexenhenker aber nach wie vor das Beil, dessen Schneide magisch geschärft war, und damit drosch er nun mit ungebrochener Kraft auf den schwerverletzten Feind ein. Ich schob den Colt Diamondback ins Leder und hatte nichts mehr zu tun. Mein Vorfahre nahm mir die Arbeit ab. Oggral konnte nicht mehr angreifen; er hatte sogar schon Mühe, sich wirksam genug zu verteidigen. Der Verlust des linken Arms machte ihm schwer zu schaffen, und die Magie, die er dem Hexenhenker entgegenschleuderte, um sich etwas Luft zu verschaffen, zerhackte dieser mit dem skalpellschar‐ fen Beil. Ein letztes Mal versuchte Oggral aus der Defensive herauszu‐ kommen. Es gelang ihm tatsächlich, Anthony Ballard drei Schritte zurückzutreiben, aber für eine anschließende Flucht reichte die Zeit nicht. Ein präziser Treffer brachte den Dämon zu Fall. Er verlor seine Waffe, und für Mr. Silver und mich stand fest, daß der Kampf der Henker damit entschieden war. Oggral lag vor Anthony Ballard auf den Knien. Schwer keuchend
ließ er den Arm sinken und ergab sich seinem Feind, der mit ihm auf die gleiche Weise verfuhr, wie er es getan hätte. Der Dämon bat nicht um Gnade. Er hatte diesen Kampf und somit auch sein Recht zu leben verlo‐ ren. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, das einzige, das Oggral respektierte. Als Anthony Ballard zum tödlichen Schlag ausholte, drehte ich mich um. Ich wollte dabei nicht zusehen. Es genügte, wenn ich es hörte – zuerst das Surren, als der magisch geschärfte Stahl die Luft durchschnitt, und dann … Ich ließ eine halbe Minute verstreichen, dann warf ich einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, daß Oggral verschwunden war. Der Hexenhenker kam zu uns. Er war nicht einmal mehr außer Atem. Er bedankte sich dafür, daß wir ihm den Dämonenhenker überlassen hatten, und wir begaben uns gemeinsam in Hackmans Haus. Jemand mußte sich um den Leichnam kümmern, deshalb rief ich Tucker Peckinpah an. Er bekam von mir einen genauen Kurzbericht und versprach, alles Weitere zu erledigen. Die Ghouls und Oggrals Arm hatten sich aufgelöst. Der Fall Hackman würde als ungelöst ins Archiv wandern, denn einen Dä‐ mon als Täter konnte man niemandem zumuten. Chrysa und Kolumban – nun endlich in Sicherheit – umarmten sich glücklich und äußerten den Wunsch, zu Lance Selby zurückzu‐ kehren. Sie wollten ihn bitten, bei ihm wohnen zu dürfen, bis sie sich darüber klar waren, wie ihr Leben weitergehen sollte. Ich war sicher, daß Lance sie gern in sein Haus aufnahm. Verständlicherweise hatten die Bellamys keinen größeren Wunsch, als nach all den nervenzerfetzenden Aufregungen so rasch wie möglich nach Hause zu kommen. Es erschien mir zu riskant, sie in ihrem Zustand allein fahren zu lassen, deshalb erklärte ich ihnen kurzerhand, sie in ihrem Escort nach Hause zu fahren. Zu Mr. Silver gewandt sagte ich: »Ich bin in 45 Minuten bei euch. Stellt inzwischen den Sekt kalt.«
»In 45 Minuten wird nichts mehr übrig sein«, behauptete der Ex‐ Dämon grinsend. »Vielleicht gelingt es dir ausnahmsweise mal, deine Gier unter Kontrolle zu halten.« Ich lief zum Escort und stieg ein. Mutter und Sohn saßen im Fond, ich kam mir vor wie ihr Chauffeur. Sie hatten es sich verdient, auszuruhen. Im Spiegel sah ich immer wieder, wie Eve Bellamy ihren Sohn streichelte. Sie war sichtlich glücklich, daß er ihr erhalten geblieben war. In ihrem Haus in Bexley lernte ich dann Mr. Burt Bellamy kennen. Nachdem er gehört hatte, was seine Frau und sein Sohn erlebt, wovor wir sie gerettet hatten, drückte er mir ergriffen die Hand. »Ich frage lieber nicht, wie all das möglich sein konnte, Mr. Ball‐ ard«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich würde es ja doch nicht ver‐ stehen.« Ich nickte zustimmend. »Nur wenn man mit diesen Dingen so oft konfrontiert wird wie ich, hört man mit der Zeit auf, sich zu wundern. Eine Bitte noch: Bewahren Sie Stillschweigen über das, was Sie erlebt haben.« Burt Bellamy lächelte. »Das müssen wir, weil uns ohnedies kein Mensch glauben würde.« Ich ließ ihnen eine von meinen Karten da für den Fall, daß sie das Grauen nicht vergessen konnten. Dann ließ ich ein Taxi kommen und fuhr zu Lance Selbys Haus zurück. Mr. Silver hatte meinen Ro‐ ver davor geparkt, und er war es auch, der mich einließ. Wie begaben uns in den Living‐room, wo Lance Selby tatsächlich einen Sektkorken knallen ließ. »Das mit dem Sekt war doch bloß Spaß«, sagte ich grinsend. »Man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, gab der Parapsycho‐ loge zurück und reichte mir ein volles Glas. »Ich dachte, das heißt: Man muß die Gäste feuern, wenn sie lallen«, warf Mr. Silver ein. »Auch das hat seine Richtigkeit«, sagte ich mit erhobenem Zeige‐ finger, »deshalb rate ich dir, auf deine Zunge zu achten.«
Wir waren guter Dinge, fröhlich und ausgelassen, hatten allen Grund dazu. Chrysa und Kolumban hatten noch nie Sekt getrunken, deshalb war es amüsant, ihnen dabei zuzusehen. Kolumban stellte über‐ rascht fest, daß das Getränk stark in der Nase kitzelte, und Chrysa mußte nach dem ersten Schluck mindestens zehnmal niesen. An‐ thony Ballard befand sich nicht mehr in unserer Mitte. Er hielt nichts von Siegesfeiern, und angeblich gab es noch eine zweite Sa‐ che, um die er sich kümmern mußte. Wir fragten Chrysa und Kolumban nach ihren Plänen. »Erst einmal bleiben wir bei Oda und Lance«, antwortete Chrysa. »Wenn ihr euch entschließen würdet, zu bleiben, könntet ihr euch dem ›Weißen Kreis‹ anschließen«, sagte Roxane. »Wir möchten nach Möglichkeit nicht mehr kämpfen«, sagte Chrysa. »Sobald Kolumban wieder völlig hergestellt ist, werden wir uns einen Ort suchen, wo wir miteinander in Frieden leben können.« »In Frieden leben.« Ich seufzte. »Das hört sich großartig an, aber ich fürchte, einen solchen Ort gibt es noch nicht. Irgendwann wird das Böse ihn entdecken und seine Krallen danach ausstrecken. Aber ich möchte euch die Illusion nicht rauben. Vielleicht gibt es tat‐ sächlich einen solchen Ort, und ich kenne ihn nur nicht. Ich wün‐ sche euch, daß ihr ihn findet und glücklich werdet.« Ich lachte. »Vielleicht kommen wir euch eines Tages besuchen. Was meinst du dazu, Silver?« »Klar«, grölte der Ex‐Dämon, »und wir bringen alle Freunde mit, dann ist es vorbei mit Frieden und Ruhe.« Zwei Stunden ging es hoch her in Lance Selbys Haus. So viel Lebenslust und gute Laune waren hier schon lange nicht mehr zu Gast gewesen. Ich sah Lance an, daß ihm das guttat. Er war richtig aufgeblüht. Nach diesen zwei Stunden meinte ich, es wäre Zeit, nach Hause zu fahren. »Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören«, pflichtete Mr. Sil‐ ver mir bei.
»Wir müssen uns bald wieder sehen«, sagte Roxane zu Chrysa. »Komm, wann immer du Zeit und Lust hast«, bot ihr Lance Selby an. Chrysa, Kolumban und Lance begleiteten uns zum Wagen. Es war kaum zu fassen, daß sich Kolumban schon wieder so gut fühlte – nach der schlimmen Verletzung, die ihm Oggral zugefügt hatte. Wer weiß, dachte ich, als ich ihm zum Abschied die Hand reich‐ te, vielleicht steht er schon bald einmal in einem harten Kampf gegen die schwarze Macht an meiner Seite. Wir setzten uns in den Rover, und ich fuhr los. Kurz darauf kamen wir an George Hackmans Haus vorbei. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus, als ich den Kastenwagen sah, der davor stand. Sie holten Hackmans Leiche ab. Ich preßte grimmig die Kiefer zusammen. Was für ein Sinn steck‐ te hinter George Hackmans Tod? Ich wußte, daß ich darauf nie eine Antwort bekommen würde – wie auf so viele Fragen, die sich mir in solchen und ähnlichen Situationen aufdrängten. Als wir zu Hause ankamen, erzählte ich Vicky Bonney die ganze Geschichte. Was Vicky von Chrysa und Kolumban hörte, gefiel ihr. »Du wirst sie demnächst kennenlernen«, versprach ich. »Und du wirst sie auf Anhieb mögen.« Das Telefon läutete, und da ich mich unmittelbar daneben befand, nahm ich den Anruf entgegen. »Ballard«, meldete ich mich. Stille am anderen Ende, aber die Leitung war nicht tot. »Hallo!« rief ich drängend. »Wer ist da?« Vicky, Roxane, Mr. Silver und auch Boram schauten mich ge‐ spannt an. »Ich bin es, Tony«, sagte eine Stimme wie von einem alten Mann – schwach und brüchig klang sie. Ich wußte nicht, wem sie gehörte. Sie hatte eine vage Ähnlichkeit mit … »Lance!« rief ich in die Sprechrillen. »Lance bist du das?« Eis‐ wasser rann mit einemmal über meinen Rücken.
»Ja«, antwortete Lance Selby. Es mußte eine entsetzliche Katastrophe gegeben haben, sonst wäre unser Freund nicht so am Boden zerstört gewesen. Lance war im allgemeinen hart im Nehmen, ein zäher Bursche, den so schnell nichts umwarf, seit sich Odas Geist in ihm befand. »Lance!« rief ich aufgewühlt. »Lance, was ist passiert?«
Da traf derselbe gewaltige Hammerschlag auch mich.
»Kolumban ist tot!« sagte Lance.
ENDE des ersten Teils
Jennifers Verwandlung
von A. F. Morland Es war ein schrecklicher Unfall. Der PKW raste mit voller Wucht in den Lastwagen hinein. Die Beifahrerin – nicht angeschnallt – durch‐ brach die Windschutzscheibe und flog auf die Fahrbahn. Sie starb nur wenige Minuten später. Das geschah direkt vor Lance Selbys Haus. Das Haus, in dem der abtrünnige Dämon Kolumban um sein Leben kämpfte. Seine Seele war von schwarzem Gift verseucht, konnte sich nicht länger im Körper halten. Und sie war böse ge‐ worden, abgrundtief böse. Kolumban starb. Und draußen, auf dem Asphalt, schlug Jennifer Bloom die Augen wieder auf! Sie lebte! Und ein teuflisches Lächeln lag auf ihren Lippen …