Mac Kinsey � Band 10 �
Jake Ross �
Der Brunnen des � Schreckens �
Wer in den Bann seines Geisterwaldes geriet, wer ...
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Mac Kinsey � Band 10 �
Jake Ross �
Der Brunnen des � Schreckens �
Wer in den Bann seines Geisterwaldes geriet, wer Hand an die Bäume darin legte, war ihm verfallen. Mit Haut und Knochen. Seit unendlicher Zeit hauste er in seinem Reich. Gesehen hatte ihn niemand, der es überlebte. Dennoch gaben ihm die Menschen einen Namen – der Schwarze. In einem alten Brunnen hatte er einen bösen Dämon gebannt. Sobald dem Geisterwald Gefahr drohte, schickte er diesen Dämon zum Töten aus. Die Köpfe der Eindringlinge steckte er auf Pfähle. Eines Tages geriet ich in den Geisterwald – aber ich war nicht so ahnungslos wie die ungezählten Opfer davor. Ein Gefühl der Angst stieg in Tom Raw auf, als er den eigenartigen Wald vor der Windschutzscheibe sah. Eben war da noch ein verhältnismäßig gepflegter mittelenglischer Mischwald gewesen. Und jetzt das! Ein wüster düsterer Urwald lag vor ihm, wie er noch keinen gesehen hatte. Gewaltige Baumriesen ragten zum Himmel auf und hielten das Tageslicht ab. Mächtige gefallene Stämme vermoderten am Boden. Graue Moosbärte hingen von schenkelstarken Ästen herab. Eine unheimliche fremde Welt war das. Tom Raw stieg voll auf die Bremse. Der vierradgetriebene Rover rutschte noch ein Stück, bevor er quer zur Fahrtrichtung zum Stehen kam. Durch das abrupte Bremsen purzelten die Meßlatten und rotweißen Markierungspfähle durcheinander und sausten Tom ins Kreuz. Er kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. Ich hätte gestern abend nicht soviel saufen sollen, dachte er. Das kommt nun davon! Ich sehe etwas, das es gar nicht gibt! Was heißt sehen? Ich bilde mir den Urwald doch bloß ein! Er riß die Augen auf. Unverändert bot sich ihm der dunkle wilde Wald dar. 3
In den paar Sekunden schien er sogar noch dichter geworden zu sein. Ungläubig starrte Tom Raw auf diese unglaubliche Urwelt. Voraus stahl sich noch ein einzelner schräger Lichtstrahl durch eine Lücke im Laubdach. Doch ganz plötzlich verschwand der Lichtbalken, und dort, wo er die Baumkronen durchdrungen hatte, breitete ein neuer Urweltbaum seine gewaltigen Äste aus. Auf geisterhafte Weise erschienen weitere Bäume. Es geschah beklemmend lautlos. Verstört schaute Tom nach rechts und links. Der unheimliche Wald war überall. Er umgab ihn von allen Seiten. * Und, weiß der Teufel, die uralten Bäume schienen näher zu rücken und die Äste wie Arme nach dem Rover auszustrecken! Tom riß den Kopf noch weiter herum. Da mußte doch der Weg sein, den er entlanggefahren war. Ein ganz solider Forstwirtschaftsweg. Nicht eine Spur davon war da. Nicht einmal eine Schneise. Geschweige denn Furchen, wo die blockierten Räder des Rover den Waldboden umgeackert hatten. Die Geisterbäume standen womöglich noch dichter als rechts und links und voraus. Da war kein Durchkommen. Nicht für ein Auto. Ich spinne, dachte Tom Raw. Ich bin scheint's in einen Geisterwald geraten! Und einen Geisterwald gibt es nicht, das weiß doch jedes Kind! Er fingerte nach der Zigarettenpackung in der Brusttasche seines Hemdes. Seine Hand zitterte, als er das Feuerzeug anknipste. Besorgt schielte er auf den Glutkegel der Zigarette nieder. Sogar die Zigarette zitterte. 4
Nicht wirklich, das wußte er. Es kam von seinen Lippen. Er kniff das rechte Auge zu, als ihm der Rauch beißend hineinstieg. Hastig sog er an der Zigarette und wollte nicht wahrhaben, daß Panik in ihm aufstieg. Rings um ihn draußen geschah etwas, das er nicht mit dem Verstand fassen konnte. Ein Gaukelspiel vielleicht! Ein Phänomen. Eine Luftspiegelung. Solche Luftspiegelungen gab es, das wußte er definitiv. In heißen Regionen. Vornehmlich in Wüstengegenden. Holeman, der in seinem Vermessungstrupp arbeitete, hatte kürzlich davon erzählt. Holeman war weit in der Welt herumgekommen. Allein vier Jahre hatte er am Südrand der Sahara, in der Sahel-Zone, Vermessungsarbeiten durchgeführt. Tom Raw machte einen hastigen Zug. In der Sahara und drum herum waren Luftspiegelungen sicher nichts Außergewöhnliches. Sie waren eine Folge von unterschiedlich heißen übereinandergelagerten Luftschichten. Aber hier war es weder heiß, noch gab es Wüste oder etwas, das auch nur halbwegs einer Wüste ähnlich sah. Tom Raw zuckte zusammen, als ein Ast heftig gegen den Rover schlug. Seine Augen weiteten sich. Zwei bemooste Äste spannten sich ohne erkennbares Zutun. So stark, daß er erwartete, sie abbrechen zu sehen. Statt dessen schnellten sie zurück und peitschten gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibe hielt nicht stand. Sie platzte. Ein hagelfeiner Splitterregen prasselte ins Wageninnere und überschüttete Tom Raw, sein Vermessungsgerät und die Sitze mit Glas. Von der Seite hieben andere Äste auf den Wagen ein. Dicht neben Raws Kopf zerknallte die Scheibe auf der rechten Seite. Der Vermessungsingenieur duckte sich instinktiv. 5
Noch im Hinabtauchen hörte er, daß auch die große Heckscheibe zum Teufel ging. Alles war voller Glaskörner. Raw blieb unten, bis das Prasseln verklungen war. Die Bäume waren ja wahnsinnig geworden! Er hatte nie gehört, daß sich Bäume selbsttätig bewegen konnten. Aber die draußen schafften das mühelos, Die griffen sogar seinen Rover an und demolierten ihn. Raw fingerte nach der Zigarette, die ihm aus dem Mund gefallen war. Sie lag auf der Gummimatte vor dem Fahrersitz und schmorte ein Loch hinein. Es stank verbrannt und brenzlig. Eine rauhe Berührung ließ ihn hochfahren. Die Augen traten ihm aus dem Kopf. Ein Ast ragte in den Wagen und griff nach ihm! Ein anderer drängte gegen das Lenkrad, spannte sich wie ein Bogen und dann drückte er scheinbar mühelos den oberen Teil des Lenkrades ab. Raw schlug gegen den Ast, der nach ihm fingerte und ihn offensichtlich im Fahrersitz festpressen wollte. Der Ast schlug peitschend zurück! Raw brüllte auf vor Schmerz und Entsetzen. Raus, hämmerte es in seinem Schädel, nichts wie raus! Die Dinger zerdrücken dich hier drin wie das Lenkrad! Ich versteh’s nicht. Das ist Spuk! Draußen tanzten und zuckten Äste, als würden sie nur auf ihre Chance warten. Sie peitschten auch gegen die Karosserie. Selbst das Dach war Ziel der Angriffe. Nur die linke Wagenseite schien noch frei zu sein. Raw hatte vor vielen Jahren mal einen Roman von einem gewissen John Wyndham gelesen. Darin war es um Pflanzen gegangen, die mit einem Giftstachel auf Menschen einschlugen. Triffids hatten die Dinger geheißen. Sogar herumgewandert waren jene Pflanzen. 6
Immer auf der Suche und der Jagd nach Menschen. Die Story hatte er zwar spannend gefunden, doch gleichzeitig hatte sie ihn auch amüsiert. Und was eine denkbare Realität betraf, war sie ihm ganz und gar blödsinnig erschienen. Er war viel zu sehr Techniker und demzufolge ein nüchtern denkender Mensch. Für ihn zählte, was meßbar war. Darum war sein Entsetzen abgrundtief, daß ihm so etwas zustieß und daß er keine Erklärung dafür fand. Er kassierte einen weiteren schmerzhaften Schlag und kroch auf den Beifahrersitz. Mit der Schulter stieß er gegen die gebündelten Markierungspfähle, die bei seinem harten Bremsmanöver nach vorne gerutscht waren. Er klinkte die Tür auf und sprang hinaus. Sofort peitschten zwei Äste auf ihn ein. Gerade, als wollten sie ihn in den Rover zurücktreiben. Raw duckte sich, griff in den Wagen und zerrte einen Markierungsstab aus dem Bündel. Die Stäbe waren stabil und besaßen eine eiserne Spitze. Ein Ast versetzte dem Ingenieur einen heftigen Schlag über den Rücken. Raw schnellte herum. Ein vernichtender Zorn drängte seine Furcht und den Schmerz zurück. Er sah rot. Mit beiden Händen führte er den Stab und drosch auf den nächsten Ast ein. Dieser Ast war oberarmstark, und doch zuckte er zurück, als sei er biegsamer als ein schlanker Weidenzweig. Raws zweiter sausender Hieb ging fehl. Dafür schnellte ein viel weiter entfernter, aber gespannter Ast heran und knallte ihm ins Gesicht. Raw fand sich auf dem Hintern sitzend wieder. Das Gesicht brannte wie tausend Höllenfeuer. Seine Nase schien zertrümmert zu sein. Und die Zähne schmerzten, als seien sie alle7
samt locker. Die Äste bogen sich drohend nieder, als wollten sie Maß nehmen. Raw rutschte aus ihrer Reichweite. Irgendwo verqualmte seine Zigarette. Er ließ den Markierungsstab fallen und befühlte sein Gesicht. Die Nase war noch dran, aber es rann rot aus ihr hervor. Und die Oberlippe war' gespalten. Er machte seiner Furcht mit einem lästerlichen Fluch Luft. Sofort trommelten die Äste auf den Rover ein. Es sah aus, als wollten sie den Wagen kurz und klein schlagen. Die letzten Scheiben gingen zu Bruch. Glaskörner spritzten aus den Fensterlöchern und überschütteten Raw. Mit einem Schrei sprang er auf. Nur weg, fort von diesem grauenhaften Ort! Aber wohin? Der Weg war verschwunden, als hätte es nie einen gegeben. Die Bäume standen mittlerweile so dicht, daß ein Durchkommen ausgeschlossen schien. Aus den Tiefen dieses verdammten Geisterwaldes rückten offensichtlich immer weitere urzeitliche Bäume heran. Sie haben mich eingekesselt, total umzingelt, ging es Raw durch den Schädel. Die wollen mich nicht mehr fort lassen! Gehetzt blickte er sich um. Viel sehen konnte er nicht mehr. Die Düsternis breitete sich aus. Als sei es bereits die Zeit des Sonnenuntergangs. Dabei wußte Raw genau, daß er pünktlich um acht Uhr früh das Baulager in Bardon Mill verlassen hatte und nicht länger als eine Stunde gefahren war. Verstört schaute er auf seine Uhr. Sie besaß Leuchtanzeige. Natürlich, es war wenige Minuten nach neun Uhr. Raw warf sich herum, wollte lossprinten. Die Position des Rovers gab ihm an, wo vorn und hinten war. Hinter dem Heck lag irgendwo Bardon Mill. Eine Fahrstunde ent8
fernt. Unter hinter diesem schauderhaften Geisterwald. Sofort prasselten sausende Asthiebe auf Raw nieder und peitschten ihn zu Boden. Benommen lag er minutenlang am Boden. Hier ging es nicht geheuer zu, das war ihm längst klar. Der Geisterwald mit den fürchterlichen Ästen war kein Spuk, keine Einbildung. Seine blutende Nase und die gespaltene Oberlippe waren schließlich auch brutale Wirklichkeit. Keuchend kroch er am Boden dahin, bis er den Markierungsstab packen konnte. Er zog ihn zu sich heran. Wie eine heiße, vernichtende Flamme schlug wieder die Wut in ihm hoch. Als ein Ast sich tastend zu ihm niederbog, schnellte er mit einem wilden Schrei hoch wie von einer Feder getrieben und prügelte auf den Ast los. Drei, vier mörderische Hiebe brachte er an. Frische Rindenstücke, Zweige und Laub regneten herab. Ein unheimlicher Laut drang durch die Düsternis. Wie ein zorniges Stöhnen. Tom Raw fürchtete, daß jetzt womöglich auch noch ein gräßliches Untier auftauchte und sich auf ihn stürzte. Doch kein Lebewesen ließ sich blicken. Ein grauenhafter Verdacht kam ihm. Hieß das, einer der Bäume hatte den unheimlichen Laut hervorgebracht? Er prügelte verbissen auf den Ast los, den er schon ziemlich zugerichtet hatte. Sofort ließ sich wieder das schaurige Stöhnen hören. Jetzt aber klang es schon viel drohender und gefährlicher. Als Raw erneut auf den Ast losprügelte, brach der Markierungsstab in der Mitte durch. Ein schauriges Hohngelächter hallte sofort durch den Geisterwald. Raw schleuderte den halbierten Stab in blinder Wut gegen den nächsten Baum. 9
Mit einem häßlichen Geräusch fuhr die Eisenspitze in den Stamm. Ein grausiger Schrei begleitete den Treffer. Raw sprang mit einem nächtigen Satz zum demolierten Rover und riß einen neuen Markierungsstab aus dem Bündel. Vorschnellende Äste peitschten nach ihm und trommelten auf das verbeulte Fahrzeug ein. Der Ingenieur wehrte sich. Er kämpfte wie ein Fechter und teilte sausende Hiebe aus. Diese Bäume lebten, das war ihm nun klar. Sie konnten sogar brüllen, wenn er sie richtig traf. Grinsten ihn nicht boshafte Borkengesichter an? Das Blut erstarrte ihm fast, als er plötzlich in der Düsternis eine schwarze Gestalt stehen sah. Reglos verharrte sie zwischen den Bäumen. Ein Mensch! Aber Raw konnte nicht sagen, woher er gekommen war. Überhaupt sah er noch unheimlicher aus als all diese grauenhaften Bäume ringsum. Von seinem Gesicht war überhaupt nichts zu erkennen. Ein Kranz weißer oder grauer Haare umgab seinen Kopf. Ein schwarzer Umhang hüllte ihn ein. Dampf quoll aus dem Boden und zog um die Füße der Gestalt. Unter dem Umhang bewegten sich Arme. Der Mensch breitete sie gebieterisch aus. Sofort erstarrten die Bewegungen der Äste. Raw zwinkerte ungläubig. Es sah ganz so aus, als könnte der Schwarze den Bäumen befehlen. Das Grauen griff mit kalter Hand nach dem Ingenieur. Krampfhaft hielt Raw den Markierungsstab. Irrsinn, sagte er sich, es ist alles gar nicht wahr! Meine Nerven spielen mir einen Streich! Die unheimliche Gestalt des Schwarzen schwebte näher. Der Dampf aus dem Boden zog mit. 10
Raw packte den Markierungsstab wie einen Speer und hob ihn wurfbereit. Wenn der Schwarze noch einen Schritt näherschwebte, konnte er was erleben! Augenblicklich verharrte die unheimliche Gestalt. Sie streckte die Arme gegen Raw aus. »Du bist in mein Reich eingedrungen«, dröhnte eine schaurige Stimme. »Du bist der Vorbote der Menschen, die Hand an meinen Wald legen. Ich werde sie alle töten. Dich auch. Wer in mein Reich gelangt, ist mir verfallen.« Die Stimme kam eindeutig von der schwarzen Gestalt her. Raw glaubte nicht länger an eine Sinnestäuschung. Diese losprügelnden Bäume waren ja auch echt. Und der Rover war hin, unwiderruflich. »Dieser Wald ist dein Reich?« Raw wollte seine Stimme spöttisch klingen lassen, es gelang ihm nur nicht. Irgendwie hatte er die dumpfe Ahnung, daß er die Drohung des unheimlichen Kerls ernst nehmen mußte. »Wer bist du überhaupt?« Ringsum knackte und knisterte es. Die Bäume bewegten sich, als sei ein heftiger Windstoß zwischen sie gefahren. »Ich bin der Herr des Waldes.« Der unheimliche Schwarze barg die Arme unter dem Umhang. In einer selbstbewußten, fast herausfordernden Pose stand er da. »Das kann jeder sagen«, erwiderte Raw. »Und dein Reich – was ist das schon? Ein paar seltsame alte Bäume, mehr nicht. Überhaupt gehört der Wald ganz anderen Leuten als dir.« Die Gestalt nickte sogar zustimmend. »Sie haben ihn mir gestohlen. Jetzt wollen sie ihn auch noch vernichten. Sie zerstören alles. Ich muß ihnen wieder Einhalt gebieten. Sie haben die Strafe verdient.« Raw vermutete, daß der Kerl nicht richtig im Kopf war. Daß er einen Geist oder etwas Ähnliches vor sich hatte, war ihm schon klar. Aber der Geist hatte einen sehenswerten Dachschaden. Beanspruchte einfach einen Wald! Und drohte auch noch unver11
schämt! Nannte sich der Herr des Waldes? Warum nicht gleich Kaiser von China? Die Gestalt schwebte wieder näher. Der Dampf quoll stärker und schuf seltsame Gebilde. Gestalten, Fratzen, winkende Arme. Und die uralten bemoosten Bäume peitschten mit den Ästen und schüttelten die Kronen. Ein unheimliches Rauschen und Knarren, Wispern und Stöhnen umgab Raw. Und da drehte er durch. Mit einem mächtigen Armzug schleuderte er den Markierungsstab gegen den unheimlichen Schwarzen. Wie ein Speer zischte der Stab ab. Er kam auch ins Ziel. Er traf den Schwarzen in die Brust. Aber mühelos durchdrangen eiserne Spitze und Holz die Gestalt, und ein paar Schritte weiter bohrte sich der Speer in den Boden. Ein grimmiges Lachen schüttelte die Gestalt des Schwarzen. »Du einfältiger Tropf!« rief er mit Donnerstimme. »Glaubst du, mich mit Menschenwerk aufhalten zu können? Sieh her, wie es allen ergeht, die die Hand gegen mich oder meinen Wald erheben!« Sein rechter Arm zuckte unter dem Umhang hervor. Raw blieb fast der Verstand stehen. Nicht nur, daß der Markierungsstab mitten durch den Unheimlichen hindurchgefahren war und ihn nicht einmal angekratzt hatte, jetzt wichen auch auf geisterhafte Weise die schrecklichen Bäume zurück. Ein freier Platz entstand. Dort wurde ein Brunnen sichtbar. Einer von der ganz alten Sorte. Mit einer runden Einfassung aus bröckeligen Feldsteinen. Raw stieß einen markerschütternden Schrei aus. Vor dem Brunnen konnte er blanke Totenschädel erkennen. Rings um den Brunnen tauchten Pfähle auf, von denen bleiche ausgeblutete Köpfe herabgrinsten. 12
Manche hatten noch einen Helm auf. Zwei trugen einwandfrei einen Römerhelm. Der Wind spielte mit den Federbüschen. Aus dem Brunnen drangen widerliche Geräusche. Im nächsten Moment schoß eine Dunstwolke heraus. Aus der Wolke schälte sich eine grauenhafte Erscheinung. Sie war ebenfalls in einen Umhang gehüllt wie der unheimliche Schwarze. Im Gegensatz zu dem hatte sie aber ein Gesicht. Eine übergroße schreckliche Nase beherrschte es. Die Augen blickten finster, böse und grausam. Schulterlange weiße Haare rahmten den hohen Kopf ein. Unter dem Umhang schossen Arme hervor. Raw sah nur noch Krallenhände mit langen Nägeln und ein riesengroßes Messer, das die Erscheinung in der rechten Hand hielt. Der dunkle Umhang blähte sich mächtig, als die geisterhafte Gestalt lautlos auf Raw zuschwebte. Der Schwarze lachte gehässig dazu. Wie von allen Höllenteufeln gejagt warf sich Raw herum. Das Echo seiner Schreie hallte schaurig aus dem Geisterwald zurück. Er prallte gegen den Rover und stürzte auf Knie und Hände. Im nächsten Augenblick spürte er schon eine harte Berührung. In Panik warf er den Kopf herum. Die Erscheinung aus dem Brunnen schwebte über ihm. Das letzte, was Raw sah, war das niedersausende Messer. Und das letzte, was er spürte, war ein irrsinniger Schmerz an seinem Hals. * Immer öfter trat Holeman vor die Baubaracke, in der die Planungsabteilung untergebracht war. Ärgerlich blickte er nach Norden, wo die Behelfsstraße den Hadrianswall durchbrach und auf den Wark Forest zulief. 13
Raw hatte zwei Tagesetappen vermessen und ausstecken wollen. Das war normalerweise ein Job, der einen Mann nicht länger als fünf Stunden aufhielt. Aber jetzt war Raw schon seit dem frühen Nachmittag überfällig. Und noch immer kündigte keine Staubwolke im Norden oder ein Blitzen der Windschutzscheibe seine Rückkehr an. Die Green-Peace-Leute, die sich im Baulager eingenistet hatten, die Idealisten von der Robin-Wood-Bewegung, die ein scharfes Auge darauf hatten, daß nicht ein Baum zuviel gefällt wurde für die Durchgangsstraße nach Norden, und das Archäologen-Team waren allesamt im Baucamp. Holeman sah die Leute vor der Bretterhütte stehen, in der sie ihr Hauptquartier eingerichtet hatten. In den letzten Tagen hatte es wiederholt Ärger mit denen gegeben. Etliche waren auf Bäume geklettert, um das Fällen zu verhindern. Andere hatten sich vor die schweren Räumbagger gesetzt und die Arbeit dieser Maschinen verhindert. Und die Archäologen waren mit Meßband und Pinsel und Schippchen herumgesaust und hatten jede Schaufel Erde, die bewegt wurde, gewissenhaft untersucht. Sie waren noch am ehesten berechtigt, sich in den Straßenbau einzumischen. Holeman sprach ihnen das nicht ab. Denn hier hatte sich einst die Nordgrenze des römischen Imperiums auf der britannischen Insel befunden. Der Kaiser Hadrian hatte zum Schutz der römischen Kolonie einen mächtigen Steinwall quer durch das Land bauen oder zumindest vollenden lassen. Eine ungeheuere Leistung angesichts der damaligen technischen Möglichkeiten. Die Mauer hatte sich schließlich von Meer zu Meer erstreckt und hatte die räuberischen Pikten und Scoten davon abgehalten, laufend in die britannische Kolonie der Römer einzubrechen und die Siedlungen zu überfallen. Damit der Wall auch richtig geschützt war, hatten die Römer Soldaten angesiedelt. 14
Eine Menge Niederlassungen waren auf diese Weise entstanden. Drüben bei Chesterholm, nur ein paar Meilen vom Baulager entfernt, hatten die Altertumsforscher die römische Siedlung Vindolanda entdeckt und notdürftig ausgegraben. Bei Housesteads nördlich vom Baucamp waren sie auf die Reste des Römerkastells Borcevicium gestoßen. Hier fand man auf Schritt und Tritt Spuren der Geschichte. Die Archäologen waren deshalb so hektisch, weil sie im Bereich der neu zu bauenden Straße ein römisches Gräberfeld vermuteten. Funde, die diese Annahme erhärteten, hatte es noch nicht gegeben. Aber die Wissenschaftler hofften und saßen den Maschinenführern praktisch auf den Baggerschaufeln, damit ihnen wirklich nichts entging, das auch nur Ähnlichkeit mit einem römischen oder gar noch älteren Fund hatte. Diese stetigen Behinderungen hatten natürlich böses Blut unter den Bauarbeitern erzeugt. Respektlose Bemerkungen über die Archäologen kursierten. ›Eierköpfe‹ und ›Scherbenprofessoren‹ waren noch die harmlosesten. Der Zwist mit den Green-Peace- und Robin-Wood-Leuten saß gar noch tiefer. Anfangs war es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Raw und Paisly, der Bauleiter, der die letzte Verantwortung trug, hatte schließlich die Umwelt- und Baumschützer zu einem Gespräch eingeladen. Anhand der Pläne, Unterlagen und Genehmigungen der Umweltbehörde war es ihnen gelungen, die Leute davon zu überzeugen, daß nicht ein Baum zuviel gefällt wurde, daß wirklich nur eine Schneise durch den Wark Forest geholzt wurde, die der künftigen Breite der Straße entsprach, und daß weder Rastplätze noch Tankstellen oder ähnliches vorgesehen waren. Das hatte einige Mißverständnisse ausgeräumt. Die Stimmung gegen die Umweltschützer und Baumfreunde war allerdings nicht wesentlich besser geworden. Wohl darum nicht, weil sie jeden Holzfällertrupp begleiteten und genau Buch über die Anzahl der umgelegten Bäume führten, weil sie sich eigene Karten und Pläne beschafft hatten und jeden Erdaus15
hub mit allergrößtem Mißtrauen verfolgten. Den Archäologen warfen sie sogar vor, sie hätten nur ihre Funde und Entdeckungen im Auge und würden der Zerstörung der Natur Vorschub leisten. »Die sind sich nicht mal untereinander einig«, sagte Holeman. Er kniff wieder die Augen gegen die tiefstehende Sonne zusammen und spähte über den alten römischen Grenzwall hinweg zum Wald. Von Raw und dem Rover noch immer keine Spur! Er hielt es nun nicht mehr für ausgeschlossen, daß Raw unterwegs Schwierigkeiten bekommen hatte. Vielleicht war er mit Umweltschützern zusammengeraten, die ihre Gesinnungsfreunde im Camp unterstützen wollten. Oder mit dem Rover war etwas passiert. Er hörte aufgebrachte Stimmen und wandte den Kopf. Paisly kam aus der Bauleitungsbaracke und wurde sofort umringt. Die Umwelt- und Baumschützer wollten ihn in eine Diskussion ziehen. Paisly wehrte ungehalten ab und entdeckte Holeman. Mit weiten Schritten kam er herüber. Auf den ersten Blick sah er, daß der Rover noch nicht unter dem Wetterdach neben der Baracke der Vermessungsleute stand. »Er läßt sich verdammt viel Zeit!« knurrte er. »Ich habe hier schon genug Schwierigkeiten. Hat er gesagt, daß er noch was vorhat?« »Nichts dergleichen«, antwortete Holeman. »Vielleicht hat er den Wagen in ein Sumpfloch gesetzt.« Paisly schaute ergrimmt. »Im Wark Forest gibt es nicht ein Sumpfloch, und wenn er auf dem Weg geblieben ist, kann er nicht mal in den Graben gesaust sein.« »Vielleicht streikt der Motor.« Paisly stieß die Nase in die Luft. »Oder Raw ist gleich hinten durch die Felder gefahren und zischt sich jetzt in Bardon Mill einen hinein. Das scheint neuerdings sein bevorzugter Aufenthaltsort zu sein.« Holemann blickte unfroh. »Mit der Trinkerei bin ich ja auch nicht 16
einverstanden. Aber was kann man in dieser öden Gegend schon anderes unternehmen? Und Raw macht sonst seine Sache ausgezeichnet und hat die Vermessung im Griff.« »Sie müssen es ja wissen!« »Genau. Ich kenne eine Menge Baustellen auf der Welt, einen besseren Boss als Raw hatte ich nie. Aber etliche Chefs, die wesentlich mehr gesoffen haben als er.« Paisly machte eine Kopfbewegung in Richtung der Umweltschützer, die sich den Hals mit grünen Tüchern oder grünen Schals garniert hatten. »Ob die ihm einen Streich gespielt haben? Zucker im Tank oder so?« »Dann würden sie kaum noch da sein. Abgesehen davon traue ich denen das auch nicht zu.« »Dann scheinen Sie der einzige Mensch zu sein, der von denen eine hohe Meinung hat. Dauernd muß ich mir das Gemeckere anhören.« »Sie müssen aber zugeben, daß sie ihre Argumente couragiert vorbringen.« »Mit wem halten Sie es?« fauchte Paisly. »Wir sind hier, um die Straße zu bauen.« »Und die Leute schauen uns auf die Finger. Das ist ihr gutes Recht. In der Vergangenheit ist zu oft und zu viel gesündigt worden. Die Bäche wurden begradigt, die Flüsse eingedeicht, und wo ein schmaler Weg durch einen Wald gebaut wurde, hat man Holz eingeschlagen, als gälte es, die Landepiste von einem Flugplatz hinzubauen. Die Leute da drüben sind unser schlechtes Gewissen, Paisly.« »Sie und ich werden fürs Arbeiten bezahlt und nicht dafür, daß wir ein Gewissen haben. Raw werde ich was husten! Morgen wollen wir die neue Tagesstrecke in Angriff nehmen, seine Aufgabe ist es, sie auszustecken. Er soll sich sofort bei mir melden!« »Regen Sie sich nicht auf, er wird schon kommen.« Holeman rammte die Hände in die Hosentaschen und spähte wieder zum Wark Forest hinüber. 17
Er konnte sich nicht helfen, er hatte ein ungutes Gefühl. Und darauf war meist Verlaß. Im vorigen Jahr hatte er noch in Afrika gearbeitet. Da hatten ihn eines Tages Ahnungen überkommen, daß bald ein Sandsturm losblasen würde und auch sonst einiges geschehen sollte. Die Kollegen hatten ihn ausgelacht, als er von seinen Befürchtungen sprach. Am anderen Morgen begann der Sandsturm. Der schlimmste, der seit Menschengedenken diese Gegend heimsuchte. Zwei Tage und zwei Nächte hielt er mit unverminderter Heftigkeit an. Danach erst ließ sich das ganze Ausmaß der Katastrophe überblicken. Die Mehrzahl der Unterkünfte war verschüttet unter meterhohem Sand. Die Motoren der Fahrzeuge hatten Sand gefressen und waren beim Teufel. Der einzige Hubschrauber war beim Anflug aufs Lager abgestürzt und ausgebrannt, ohne daß es jemand aufgefallen war. Der Sturm und der Sand hatten zu laut georgelt und gezwitschert, geraspelt und gejammert. Die einheimischen Helfer waren davongelaufen. Mehr als die Hälfte hatte das heimatliche Dorf nicht erreicht und galt als verschollen. Ebenso eine Karawane, die Treibstoff und Trinkwasser heranschaffte. Sie kam nie an. Der Sandsturm hatte sie erbarmungslos verschlungen. Genau so ein Gefühl nahenden Unheils empfand Holeman wieder. Einen Sandsturm gab es hier in England mit Sicherheit nicht. Also mußte es etwas anderes sein. Aber genau so schrecklich wie ein Sandsturm. Wenn nicht noch schlimmer. 18
* � Am Abend zogen die Bauarbeiter nach Bardon Mill hinüber. Die, Umweltschützer bildeten einen eigenen Club und folgten nach einer halben Stunde. Sogar fünf Archäologen machten sich auf den kurzen Weg. Seit hier das Baulager eingerichtet war, machten die Gasthäuser in Bardon Mill gute Umsätze. Nicht nur die Wirte betrachteten das Geld, das in die Kassen rollte, als warmen Regen. Es blieb auch ein Teil in den anderen Geschäften hängen. Jedenfalls ging es den Einheimischen noch nie so gut. Darum blickten sie auch mit Wohlwollen auf die Bauarbeiter und mit Skepsis auf die Umweltschützer. Die gaben wenig aus. Aber immerhin hatten auch sie Bedürfnisse. Lebensmittel brauchte jeder, ob er für oder gegen den Straßenbau war. Und Durst hatten sie alle. Von den wenigen Touristen, die im Jahr nach Bardon Mill kamen, konnte niemand leben. Es gab berühmtere Orte am Hadrianswall. Plätze, die verkehrsgünstiger lagen und schon immer als Sehenswürdigkeiten galten. Allgemein breitete sich die Hoffnung aus, daß auch Bardon Mill bald dazu zählte. Holeman wartete, bis die Sonne hinter dem fernen Wald versunken war. Raw kam nicht. Auf dem dunklen Weg zeigten sich nicht einmal die Scheinwerfer des Rover. »Weiß der Himmel, wo er gelandet ist!« sagte eine knurrige Stimme hinter Holeman. Er wirbelte herum. Paisly stand da, die Lederweste über dem Arm. Er war fertig für Bardon Mill und die Gasthäuser dort. »Ich habe ein verdammt ungutes Gefühl!« bekannte Holeman. »Da ist was passiert.« 19
»Noch nicht«, sagte Paisly und schob das kantige Kinn vor, das etwas von seiner Energie und seinem Jähzorn ahnen ließ. »Aber es wird etwas passieren, wenn ich ihn in die Finger kriege! Wetten, daß er in einem Wirtshaus hockt und abgefüllt ist bis zum Eichstrich?« Holeman wollte nicht dagegenwetten. »Suchen wir ihn halt«, schlug er vor. Sie wanderten ein Stück am römischen Grenzwall entlang. Die Archäologen hatten hier Pflöcke in den Grund getrieben und eine Grube ausgehoben. Wie sie sagten, waren sie auf eine Pforte gestoßen, die sehr viel später mit Feldsteinen geschlossen worden war. Etliche dieser Steine hatten sie herausgenommen und numeriert. Sie sollten nach Abschluß der Arbeiten wieder eingesetzt werden. Sie schienen aber nicht nur auf Felssteine gestoßen zu sein. Holeman hatte etwas von behauenen Steinen aufgeschnappt, die man entdeckt hatte. Jedenfalls hatte es am Vormittag deswegen einige Aufregung in der Baracke der Altertumsforscher gegeben. Die Steine, die für soviel Wirbel sorgten, mußten von einem großen Haus stammen. Und von einem bedeutenden. Denn an den Steinen wollte man auch Verzierungen entdeckt haben. Steine mit Ornamenten konnten sich aber nur Herrscher leisten: Und die ließen sich auch große Häuser bauen. Herrensitze und so. Von einem Schloß in dieser Gegend wußte jedoch niemand etwas. Jedenfalls hatten die Archäologen ihre kleine Sensation und vor allem ihr Geheimnis, dem sie sich hingebungsvoll widmeten. Vielleicht folgten sie fortan den Baggern nicht mehr Schritt um Schritt und stoppten gleich die Arbeiten, wenn sie eine Topfscherbe im Erdreich sichteten. Der Weg schwang mit einem scharfen Knick vom Hadrianswall weg und führte zwischen Feldern zum Dorf. Holeman warf noch einmal einen langen Blick zurück. Er wünschte, daß er dort drüben im Wald oder auf dem Weg die Lichter des Rovers entdeckte. 20
Das Land und der Wald blieben dunkel. Da kam kein Fahrzeug. Paisly war auf zweihundert, als sie im Dorf anlangten. Zuerst schaute er die Straße entlang. Da stand aber nirgends der Rover. Das ließ ihn wüst fluchen. Dann stürmte er ins erste Gasthaus. Dort hockten die Umweltschützer. Sein Blutdruck nahm rapide ab. Die hatten ihm gerade noch gefehlt! Wie üblich debattierten sie endlos. Holeman warf nur einen Blick hinein und trabte mit Paisly zum nächsten Wirtshaus. Von Raw keine Spur. »Genau so habe ich mir das gedacht!« tobte der Bauführer. In weniger als einer halben Stunde hatten sie die Gasthäuser durch und von Raw nicht mal die Nasenspitze gesehen. Im ›Einhorn‹ gab es Paisly schließlich auf. Das war die letzte Schenke. Und die älteste, wie das Schild draußen verhießt. In einer Ecke des holzgetäfelten Gastraumes saßen die Archäologen bei einem soliden dunklen Bier und kritzelten auf Papier herum. Holeman vermutete, daß es um die geheimnisvolle Pforte im Hadrianswall ging. Paisly wetterte noch eine Weile gegen Raw, ohne sich von Holeman beschwichtigen zu lassen. Der Wirt spannte mächtig die Ohren auf. Der Bauführer war ein guter Gast, ein noch mächtigerer Trinker aber war dieser Raw, über den es herging. Deshalb fragte er, als er ein Bitter und ein Stout an den Tisch brachte: »Ist etwas mit Mister Raw?« »Haben Sie ihn gesehen?« fragte Paisly sofort. »Seit gestern abend nicht mehr. Ist er denn nicht im Baulager?« »Er ist heute früh in den Wark Forest gefahren. Steckt da die neue Straße aus. Bis jetzt ist er nicht zurück.« Holeman machte eine Handbewegung. »Wir dachten, er hätte vielleicht einen anderen Weg genommen und sei hier.« 21
»Das wäre mir aufgefallen«, sagte der Wirt und schaute ganz eigenartig. »Ist er allein in den Wald gefahren?« »Ja. Warum fragen Sie?« Holeman beugte sich vor. Sogar Paisly zeigte Interesse. »Hoffentlich ist er nicht dem Schwarzen begegnet«, meinte der Wirt düster und schaute sich ängstlich um, als hätte er schon zuviel gesagt. »Der Schwarze?« knurrte Paisly los. »Was soll der Quatsch? Wer ist das?« »Ein unheimlicher Kerl. Ein Unholt. Vielleicht ein Geist«, sagte der Wirt leise. »Niemand hat ihn je gesehen, aber er soll in den Wäldern drüben leben.« »Schauermärchen! Hören Sie bloß nicht hin, Holeman!« schimpfte Paisly. »In jedem Dorf bekommen Sie derartige Gruselgeschichten aufgetischt. Mal ist es 'ne Hexe, mal ein Ungeheuer in einem See oder eine weiße Frau. Jetzt noch ein Schwarzer. Wissen Sie, was diese Ammenmärchen gemeinsam haben? Noch nie hat jemand die Geister und Gespenster und Ungeheuer gesehen.« Holeman nickte. Das war ihm nicht neu. Bloß der Wirt blieb stur bei dem, was er gesagt hatte. »Das von dem Schwarzen ist kein Märchen, das können Sie mir glauben. Dort draußen im Wald sind schon eine Menge Leute verschwunden. Sie gingen rein, und nie wieder hat man von ihnen etwas gehört oder gesehen.« »Kennen Sie jemand?« fragte Paisly spöttisch. Er wußte, wie man diesem hirnlosen Geschwätz am besten den Boden entzog. Sobald man nämlich nachbohrte, gestanden die Leute, daß sie eigentlich niemand kannten, der spurlos verschwunden war. Sie hatten nur davon gehört. »Kenne ich«, sagte der Wirt. »Jeder hier im Dorf hat ihn gekannt. Das war der Vater vom Schulmeister in Haydon Bridge, der alte Furber. Die Furbers stammen nämlich von hier, müssen Sie wissen. Der hat sich auch viel mit den alten Sachen beschäftigt, die von den Römern übriggeblieben sind.« 22
»Das bietet sich an, wenn man eine gewaltige Steinmauer vor der Haustür stehen hat«, knurrte Paisly. »Wann soll denn das passiert sein?« Der Wirt dachte kurz nach. »Zwanzig Jahre ist das gut her. Fragen Sie die Furbers, die wissen es genau. Das Dorf hat damals drei Tage lang nach dem Mann gesucht. Ich denke, der Schwarze hat ihn geholt. Und das denken auch die Leute.« »So ein ausgemachter Blödsinn!« regte sich Paisly auf. »Vielleicht hat der Mann einen Schlag gekriegt und ist unter einem Baum gestorben. Das kommt vor.« Der Wirt war nicht von seiner Version abzubringen. »Weiß ich, voriges Jahr hat ein Gast vor meiner Tür einen Schlag gekriegt und ist auf der Straße gestorben. Aber auch vor Furber sind Menschen verschwunden. Spurlos. Es heißt, das sei immer so gewesen, sogar schon, als die Römer noch hier waren. Deshalb hätten sie die Dörfer am Wall auch wieder aufgegeben. Die Gegend war ihnen nicht geheuer.« Holeman hörte aufmerksam zu. Paisly tunkte die Nase in den Bierschaum und spülte seinen Ärger hinunter. »Wenn nie jemand den Schwarzen gesehen hat«, sagte Holeman listig, »woher weiß man dann, daß er ein Schwarzer ist?« »Das erzählt man sich so. Ganz früher soll es mal einen Ritter gegeben haben, der in den Wäldern lebte. Hat bei König Artus in Diensten gestanden. Dann hat er sich was zuschulden kommen lassen und wurde vom Hof verbannt. Da ist er in die hiesige Gegend gekommen und hat sich in den Wäldern eine Burg gebaut. Was Genaues weiß man ja nicht. Andere sagen, ein keltischer Fürst hätte aus Furcht vor Blutrache hier seine Zuflucht gesucht, aber der Fluch der Sippe, die ihm ans Leder wollte, hätte ihn doch noch erreicht.« Der Wirt wischte symbolisch mit einem Lappen auf dem Tisch herum. »Eine Burg?« fragte Holeman sofort elektrisiert. Er dachte an die geheimnisvollen behauenen Steine aus dem aufgefüllten Stück Wall. Sein Kopf ging herum, er schaute zu den Archäologen in der 23
Ecke. Der Wirt sah es. »Die Wissenschaftler haben auch schon nach einer Burg oder einem Schloß gefragt.« Er hob die Achseln. »Niemand kennt den Ort, wo die Burg gestanden hat. Oder was es immer war. Tatsache aber ist, daß es im Wald von Wark eine Stelle gibt, an der keine Vögel leben und wo sich kein Wild aufhält. Tiere spüren manchmal etwas, von dem wir keine Ahnung haben. Als die Fuhrleute noch mit den Pferden fuhren, sind denen regelmäßig die Rösser an der Stelle durchgegangen.« »Dann führt der Weg dran vorbei?« fragte Holeman. »Bald auch Ihre Straße«, bestätigte der Wirt. »Und daß niemand den Schwarzen gesehen hat, liegt bloß daran, daß die Leute, die ihn vielleicht doch gesehen haben, nicht davon berichten konnten, weil sie bis auf den heutigen Tag verschwunden sind.« »Das leuchtet ja ein«, stimmte Holeman zu. »Jemand, der nicht wiederkehrt, kann auch nicht gut erzählen. Wissen Sie mehr von dieser geheimnisvollen Burg?« »Was jeder hier weiß. Vielleicht hat es sie gegeben, vielleicht nicht. Man müßte sie finden.« »Ist doch ganz einfach!« höhnte Paisly. »Man geht in den Wald und findet eine verdammte alte Burg. Und wenn nicht, hat man eben Pech gehabt oder an der falschen Stelle gesucht. Mensch, Holeman, wann begreifen Sie endlich, daß das nur finsterer Aberglaube ist? Es gibt so wenig einen Schwarzen wie eine Burg. Und das mit den Vögeln und dem Wild glaube ich nicht. – Noch ein Bitter!« Er leerte das Glas. Der Wirt schaute fast mitleidig auf den Bauleiter. Dann nahm er das Glas und trottete hinter die Theke. Holeman starrte vor sich hin. Was der Wirt gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Zugegeben, es war alles nicht sehr handfest. Was den Aberglauben und den Schwarzen betraf. Auch die Römer waren mit Sicherheit aus anderen Gründen abgezogen – weil das römische Imperium von innen heraus zusammengebrochen war und seine Kolonien 24
nicht halten konnte. An der Geschichte mit dem Verschwundenen alten Furber schien indes etwas dran zu sein. Eine Nachprüfung lohnte sich bestimmt. Und auch das Gerede über eine alte Burg, die noch niemand gesehen hatte, mußte einen wahren Kern haben. Vielleicht stammte von ihr ein Teil des Füllmaterials für die Pforte im Wall. Sicher gab es die Burg nicht mehr. Sonst wäre sie ja bekannt gewesen. So undurchdringlich, düster, finster und verrufen wie im Mittelalter waren die Wälder heutzutage ja nicht mehr. Holeman nahm sich vor, den Archäologen einen Wink zu geben. Schon möglich, daß sie damit etwas anfangen konnten. Die Frage, wo Raw steckte, war aber nicht beantwortet. Wenigstens hat sich Paisly abgeregt, dachte Holeman. Das ist auch schon etwas wert! Er trank sein Stout und noch ein paar Gläser hinterher. Als er mit Paisly aufbrach, war es nach Mitternacht. Im Lager fehlte noch immer der Rover. Holeman schüttelte sich heimlich. Raw war doch wohl nicht dem unheimlichen Schwarzen begegnet, über den der Wirt sich nicht näher ausgelassen hatte? Gut, vielleicht hatte Paisly recht und es war nur Aberglaube, was die Leute sich erzählten. Was aber, wenn es den Schwarzen wirklich gab und wenn Raw die Liste derer verlängerte, die nicht aus dem Wald von Wark wiederkehrten? * Der Morgen begann mit einer gewaltigen Aufregung. Raw und der Rover waren immer noch nicht da. Paisly nannte den Cheflandmesser einen pflichtvergessenen Idioten und einen erbärmlichen Säufer. Den Umweltschützern drohte er, sie aus dem Lager zu jagen. Ei25
genhändig und mit einem soliden Knüppel. Die Archäologen konnten ihn gerade noch von seinem Vorhaben abhalten. Paisly suchte einen anderen Blitzableiter für seinen Zorn. Holeman kam ihm gerade recht. »Wenn Ihnen die afrikanische Sonne nicht das Gehirn ausgedörrt hat, dann sagen Sie mir gefälligst, was wir tun sollen?« brüllte er den Vermessungsingenieur an. »Meine Baggerführer wollen losrollen, die Holzfäller stehen bereit. Alles wartet. Wer kommt nicht? Ihr famoser Raw! Der Teufel soll ihn holen!« »Suchen wir ihn!« »Großartige Idee. Der Wald ist ja nicht viel größer als ein Hausgarten!« höhnte Paisly. »Da ist es ein Kinderspiel, einen Mann zu finden.« »Er hat den Rover dabei, und der ist größer«, erwiderte Holeman. Er spähte zum Wagenpark der Bauleitung. »Mit einem Ihrer Fahrzeuge kämen wir schneller voran.« Paisly dachte nicht lange nach. »Aber ich fahre!« bestimmte er. Holeman holte sich Lagepläne und Pausen der Straßenführung durch den Wald. Wo der Weg im Norden den Wark Forest verließ, dehnte sich das Tal des Tyne. Irgendwo zwischen dem Hadrianswall und dem Tyne mußte Raw stecken. Paisly wählte einen Jeep aus, ein robustes Vehikel ohne Verdeck. Seine Wut ließ er an dem Jeep aus. Entsprechend geriet seine Fahrweise, so das Holeman bei jeder Bodenwelle fürchtete, in hohem Bogen hinausgeschleudert zu werden. »Jede Stunde Nichtstun kostet glatte tausend Pfund!« brüllte Paisly mit einer Geste auf die schweren Räumgeräte und Erdbewegungsmaschinen, die entlang des ersten fertiggestellten Teilstücks der neuen Straße in Einsatzposition gerollt waren. Das heißt, fertig war die Straße noch nicht. Der Unterbau war es. Die Fahrbahndecke fehlte. Die kam erst drauf, wenn die gesamte Straße in voller Länge hergerichtet war. 26
Voraussichtlich wurde es darüber Winter. Oder noch später. Paisly würde jede Schuld für eine Verspätung von sich weisen und auf die Vermessungsleute schieben. Holeman sah dem mit Gleichmut entgegen. Er hatte die Staubstürme in Patagonien im südlichsten Zipfel Südamerikas und die gnadenlose afrikanische Sonne überstanden, er würde auch den Aufruhr einiger Bürokratenseelen überleben. Voraus trottete ein Trupp der Robin-Wood-Leute. Sie hatten den Namen des legendären Robin Hood geringfügig für ihre Zwecke abgewandelt. Wie Robin Hood einst im Wald von Sherwood bei Nottingham die Schwachen und Armen gegen die Reichen und Mächtigen beschützte, so beschirmten seine modernen Jünger die von der Vernichtung bedrohten Wälder. Ihrer Bewegung hatten sie den Namen Robin Wood gegeben. Etliche dieser Robin Woods waren schon bei der Arbeit. Die Vorausabteilung behängte rechts und links vom alten Forstweg die Bäume mit grünen Spruchbändern. Viel nützen würde es den Bäumen nicht. Bis zu einer Tiefe von fünf Yards rechts und links vom Wegrand mußten sie weichen. So war es geplant und auch abgesprochen. Aber die Robin-Wood-Leute zeigten mit ihrer Aktion, daß sie da waren und daß mit ihnen zu rechnen war. Paisly fuhr ungebremst vom fertigen Unterbau der Straße auf den Forstweg. Der Jeep knarrte in allen Schweißnähten. Holeman sah sich schon an einem Baum kleben. Aber Paisly fing das schlingernde Fahrzeug ab und brauste den Weg entlang. Je länger die Fahrt dauerte, desto lauter knurrte der Bauleiter gegen den Fahrtwind. Von einem Rover oder von Raw war keine Spur zu entdecken. »Vielleicht hat den Kerl der Hafer gestochen und er ist bis zum Tyne durchgefahren und fängt Lachse!« schrie Paisly. »Dann drehe 27
ich ihm das Genick um, mein Wort darauf!« Holeman äußerte sich lieber nicht. Die Stimmung war gar nicht gut. Nach ziemlich genau einer Stunde trat Paisly auf die Bremse, daß es Holeman aus dem Sitz hob. Bisher hatten beschriftete Holzpflöcke die sausende Fahrt begleitet. Die abgefahrene Strecke war ausgesteckt, aber noch nicht exakt vermessen. Hier in der Gegend hatte Raw beginnen und die Vermessung rückwärts in Richtung Bardon Mill vornehmen wollen. Halb im Graben und halb auf dem Weg stand der Rover. Deshalb hatte Paisly voll gebremst. »Immerhin!« knurrte der Bauleiter. Er äugte mißtrauisch in die Gegend und dann hinüber zum Rover. Daß der Wagen total demoliert war, konnte bestenfalls ein Blinder übersehen. »Sieht ganz so aus, als sei der gestern überhaupt nicht nüchtern gewesen und besoffen losgefahren«, knurrte Paisly weiter. »Pflanzt die Karre doch glattweg an einen Baum! Das sieht dem Kerl ähnlich!« »An welchen Baum?« Holeman guckte sich fast die Augen aus. So, wie der Rover zugerichtet war, hatte Raw mindestens einen achtbaren Baum umgeholzt. In der Runde war aber nicht einer beschädigt. »Gibt ja genug davon«, gab Paisly unlogisch zurück. »Einen wird er ja getroffen haben!« Er schwang die Beine hinaus. Holeman folgte ihm auf der anderen Seite. Er schleppte die Planrollen mit. Und er entdeckte einen abgebrochenen Markierungsstab in einem Baum steckend. Paisly folgte seinem Blick. Seine Stirn verfinsterte sich sofort. »Hat der Kerl Speerwurf für die Olympischen Spiele geübt, oder was?« Verkniffen und besorgt schaute Holeman auf dem Weg umher und ins Gebüsch. 28
Die Scheiben waren aus dem Rover herausgeplatzt, das Fahrzeug sah überhaupt aus, als hätte es ein paar Überschlage gemacht. Alles war verbeult und eingedrückt. Aber ein wichtiges Indiz fehlte – Erde und Gras! Das eine oder andere hätte irgendwo am Wagen kleben müssen, wenn der Rover einen Purzelbaum fabriziert hätte. Passende Spuren ließen sich nirgends finden. Raws mysteriöser Unfall mußte sich indes an dieser Stelle ereignet haben, denn pfundweise lagen die Glaskörner herum. Paisly bückte sich und hob einen halben Markierungsstab auf. Er war abgebrochen und schien zu jenem Stück zu gehören, das im Baum steckte. Unentschlossen wog der Bauleiter den Fund in der Hand. Seine Augen verengten sich. Ein ganzes Stück weiter steckte ein ganzer Margierungsstab schräg im Waldweg. Raw schien mit den Dingern wirklich großzügig um sich geworfen zu haben. »Raw, zum Henker, wo stecken Sie?« brüllte Paisly in jäh ausbrechender Wut los. »Melden Sie sich gefälligst, halten Sie uns nicht zum Narren!« Aus dem Wald rollte nur das schwache Echo seiner Stimme heraus. Kein Vogel flatterte aufgeschreckt davon, kein Wild machte sich raschelnd davon. Holeman zog es die Haut zwischen den Schulterblättern zusammen. Er dachte an die Worte des Wirtes vom ›Einhorn‹ in Bardon Mill. Ein Platz, an dem keine Vögel leben und wo sich kein Wild aufhält! »Vielleicht hat es ihn rausgeschleudert, und er ist auf die Birne geknallt«, mutmaßte Paisly. »Suchen Sie auf dieser Seite, ich nehme die andere.« Er stapfte los und stocherte mit dem halben Markierungsstab unter Büsche und im Gras, das den Straßengraben verbarg. Aber nicht mal ein verschreckter Frosch hüpfte davon. Dabei 29
stand genügend Wasser in dem Abzugsgraben. Holeman war auch nicht viel erfolgreicher. Er hatte aber nicht nur den Graben auf seiner Seite im Auge, sondern auch den Wald dahinter. Das war guter Mischwald, der Bestand mochte sechzig Jahre alt sein. Plötzlich überlief es ihn kalt. Wo er eben noch eine Buche gesehen zu haben glaubte, erhob sich jetzt ein uralter Baum. Holeman wollte alle Eide schwören, daß er eben noch nicht dagewesen war. Den hätte er doch nie übersehen! Er wandte sich nach Paisly um. Der hatte den unbeschädigten Markierungsstab aus dem Waldweg gezogen und stapfte zurück zu dem Baum, in dem der halbe Stab mit seiner Eisenspitze steckte. Holeman zögerte. Paisly würde ihn für schwachsinnig erklären, wenn er dem mit dem Baum kam, der gerade noch nicht vorhanden gewesen war. Der Bauleiter riß den halben Stab mit einem wilden Ruck aus dem Holz. Im selben Augenblick prallte er zurück und fluchte unterdrückt. Der Baum verwandelte sich jäh. Er wurde riesengroß, uralt und hatte lange Moosbärte von seinen Ästen hängen. Diese Äste bogen sich nieder, spannten sich und peitschten auf Paisly ein. Bevor Holeman es richtig begriff, verwandelte sich auf geisterhafte Weise der gesamte Wald. Jetzt standen nur noch uralte mächtige Bäume in der Runde. Der Weg war verschwunden. »Holeman, was ist das?« brüllte der Bauleiter und hob schützend die Arme über den Kopf. Der Vermessungsingenieur riß sich aus seiner Erstarrung. Er sprintete zurück zum Jeep. Unterwegs trafen ihn schmerzhafte Schläge. Die Äste prügelten auch auf ihn ein. »Weg hier!« brüllte er. »Kommen Sie, Paisly, um Gottes willen, 30
schnell! Das ist der verhexte Platz, von dem der Wirt gesprochen hat!« Die Bäume in der Runde schienen dichter zusammenzurücken. Der Rückweg nach Bardon Mill war schon verschwunden. Auch dort tauchten Bäume auf. Düsternis breitete sich aus. Paisly warf sich herum. Mit mächtigen Sätzen jagte er heran. Die Äste trommelten bereits auf den Jeep ein. Die Scheibe zerplatzte. Dem Bauleiter stand das Grauen im Gesicht. Ein dicker Ast schnellte auf seinen Kopf nieder und ließ ihn taumeln. Gerade noch konnte er sich am Jeep festhalten. Aber schon zielte ein Schlag auf seine Hand. Aufbrüllend riß Paisly die Hand zurück. Die Haut war geplatzt. »Spuk! Teufelswerk!« schrie Holeman außer sich. »Fahren Sie doch los, um alles in der Welt!« »Wie denn?« schrie Paisly los. Äste bogen sich nieder und keilten den Jeep fest. Mit einem mörderischen Rumpeln schoben sie sogar den demolierten Rover auf die Seite, bis er umkippte und so liegenblieb. »Lassen Sie mich mal!« Holeman warf die Planrollen in den Jeep. Er hatte sie die ganze Zeit festgehalten. Er war noch nicht hinter dem Lenkrad, als ihn ein wütender Asthieb an der rechten Schulter traf und durch den Jeep aus der Beifahrertür schleuderte. »Was ich gesagt habe!« rief Paisly. Holeman hatte das blanke Wasser in den Augen, so sehr schmerzte ihn die Schulter. Er raffte sich fluchend auf. Mit dem Jeep kamen sie nicht weg. Aber zu Fuß ging es vielleicht noch. So dicht standen die unheimlichen Bäume noch nicht. Er wollte Paisly zurufen, daß sie besser aus diesem Geisterwald flohen, solange sie noch konnten, als er den Bauleiter wie erstarrt stehen sah. Er warf den Kopf herum. Das Blut erstarrte ihm fast. 31
Zugleich hörte er Paisly schreien. Oder war er es selber? Jedenfalls war es ein grauenhafter Schrei, der Todesangst ausdrückte. Nur zwanzig Schritte entfernt stand eine dunkle Gestalt, eingehüllt in einen Umhang. Der Schwarze! Es war kein Hirngespinst, was der Wirt erzählt hatte. Kein dummer Aberglaube der ungebildeten Leute vom Dorf. Den Schwarzen gab es wirklich! Aber nicht die unheimliche Gestalt jagte Paisly und Holeman Eisschauer durch den Körper, sondern der furchtbare Anblick auf Pfähle gespießter ausgebluteter Köpfe. Ganz vorne, das war der Kopf von Raw! Aus glanzlosen Augen starrte er die Männer an. Die Pfähle mit der schauderhaften Last umstanden einen Brunnen. Aus dem stiegen fremde, beängstigende Laute. Im nächsten Augenblick schoß eine schreckliche Gestalt daraus hervor. Ein Wesen, wie es Holeman und Paisly in den wüstesten Träumen nicht gesehen hatten. Es schwang ein Messer, das fast die Ausmaße eines Henkersschwertes besaß. Holeman reagierte instinktiv. Seine Erfahrung aus den Tropen, wo hochgiftige Schlangen plötzlich angriffen, kam ihm zustatten. Er warf sich herum, sprang am Jeep vorbei und hetzte los. Nur fort erst mal! Paisly spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Und noch etwas spürte er – die Markierungsstäbe in seinen Händen. Den Schwarzen gab es tatsächlich. Dazu einen schauderhaften Unhold, der den Leuten die Köpfe abhackte und auf Pfähle spießte. Raw war ihm auch zum Opfer gefallen. Deshalb hatten sie ihn nicht gefunden. Vielleicht hatte Raw sogar gekämpft. Mit den Markierungsstäben. Aber nicht richtig. Paislys Gedanken gingen schneller als ein Blitz im Kreis. 32
Der grauenhafte Unhold hatte es auf ihn abgesehen. Er schwebte wie eine riesige Fledermaus heran. Sein langes Haar wehte, sein Umhang blähte sich, eine mächtige Nase stach weit aus dem bösen Gesicht heraus. Der Bauleiter riß den rechten Arm hoch und schleuderte mit aller Kraft die zwei Stäbe der entsetzlichen Gestalt entgegen. Sie fuhren durch die Erscheinung hindurch wie durch Dampf. Paisly sah sie hinten weiterfliegen und gegen die Einfassung des Brunnens prallen. Im nächsten Augenblick war die schwebende Gestalt über ihm, warf ihn zu Boden und schlug mit dem schartigen Messer zu. Ein grausiger Schrei zitterte durch den Geisterwald und riß jäh ab. Holeman schaute über die Achsel. Ein Stöhnen kam aus seinem Mund. Die Erscheinung aus dem Brunnen richtete sich gerade neben Paisly auf, der vor dem Jeep gestürzt war. Sie riß einen blutenden Kopf in die Höhe und hielt ihn triumphierend. Paislys Kopf! Von der Seite erscholl grausiges Gelächter. Es kam von dem Schwarzen! Holeman schnellte vorwärts. Für Paisly kam jede Hilfe zu spät. Für Raw ebenso. Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Nur sterben konnte er – wenn ihn die Erscheinung zu fassen kriegte. Er warf sich zwischen die Geisterbäume, fand einen Durchschlupf, spürte trommelnde Schläge, die seinen Körper peinigten, und rannte hakenschlagend wie ein Hase durch den unheimlichen Wald. Drei-, viermal stürzte er. Ebenso oft raffte er sich wieder auf und hastete taumelnd weiter. Die Lungen brannten wie Feuer, in der Seite stach es wie mit einem glühenden Messer. Erst als er voraus helles Tageslicht sah, wurde er langsamer. Irgendwann verließen ihn die Kräfte. Er stürzte nieder. 33
* � Jedesmal, wenn das Telefon läutete, fuhr ich zusammen. Ich erwartete den entscheidenden Anruf. Daß man nämlich meinen Erzfeind Dracula und seinen getreuen Helfer Woods gesichtet hatte. Oder daß man entdeckt hatte, wo die zwei dämonischen Erzhalunken den Rest ihrer grausigen Zombie-Saat unter die Toten gebracht hatten. Um diese nämlich zu Untoten zu machen und zu dämonischem Leben zu erwecken. Ich hatte die Stadtpolizei von London eingespannt und sogar Leute von Scotland Yard – dank meiner guten Beziehungen dorthin. Auch das Personal der Londoner Friedhöfe war instruiert. Ich hatte ein lückenloses Netz ausgelegt, wie ich hoffte, und ich erwartete, daß sich Dracula oder Woods in den Maschen fingen. Aber wie es aussah, husteten die zwei mir was. Sie traten nicht in Erscheinung. Irgendwo lauerten sie in der Versenkung auf den richtigen Augenblick. Ich vermutete, sie spekulierten darauf, daß unsere Wachsamkeit nachließ. Die Rechnung konnte aufgehen. Vorletzte Nacht hatte ich wieder einen Streifzug über drei Londoner Friedhöfe gemacht. Und was hatte ich angetroffen? Einen Bobby, der gemütlich an einen Baum gelehnt neben der Leichenhalle döste! Einen Beamten vom Yard, der zwar in der Leichenhalle saß, aber sein Radiogerät mitgebracht hatte und es herzhaft laut spielen ließ. Weiß der Himmel, was er sich dabei gedacht hatte? Vielleicht, daß die Toten Musik gern hatten! Auf dem dritten Friedhof war die Wache auf Posten gewesen. Allerdings hatte der Wärter, der hier für mich die Augen aufsperrte, eine derart hochprozentige Fahne von sich geblasen, daß ich mich 34
hütete, in seiner Nähe eine Zigarette anzuzünden. Ich wollte gerne noch ein paar Jährchen leben und nicht als Opfer einer mysteriösen Explosion in die Kriminalgeschichte eingehen. Wenn mir Sir Horatio, mein Chef, nach dem Fortgang meines Fischzuges nach Dracula und Woods fragte, flunkerte ich ihm Optimismus vor und hatte dabei Bauchschmerzen, so schlecht war mein Gewissen. Deshalb überlegte ich auch schon, ob der Sitz des Gewissens nicht eventuell der Bauch war. Ich mußte darüber unbedingt mal mit einem Fachmann reden. Vielleicht hatte ich die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht! Dieses Gespräch war nicht brandeilig. Im Moment hatte ich Sorgen wegen Dracula und Woods. Große Sorgen. Zeitweilig war mir danach, mir einen kräftigen einzuschütten, damit ich nicht immer an die zwei Bösewichte denken mußte. Aber das ging auch nicht. Suff und Dämonenjagd – das vertrug sich so wenig, als wenn ich mit einer Sandale am einen und einem Reitstiefel am anderen Fuß bei Maggie Thatcher in der Downing Street aufgekreuzt wäre. Wobei mir, was das betrifft, ein Besuch, bei Maggie schon entschieden lieber war als ein Rendezvous mit Dracula. Bei unserer Premierministerin kriegt man wenigstens einen wundervollen Tee und ein paar harte Biskuits – damit nicht so viel von dem Zeug gegessen wird, – von Dracula hatte ich nur einen Biß in den Hals zu erwarten. Und daß er mir, statt Tee zu servieren, das Blut abzapfte. Deshalb rührte ich keine Flasche an. Bleib trocken, Mac, sagte ich mir, sei standhaft, der Erfolg und die Heilsarmee werden es dir lohnen! Vom Erfolg sah ich bisher verteufelt wenig. Von der Heilsarmee hörte ich wenigstens das Gitarrengeklimper von Whitehall herauf und markige Gesänge, damit den hartherzigen Passanten die Brieftasche aufging. Als das Telefon anschlug, bekam ich feuchte Hände. 35
Ich schloß das Fenster und sperrte die Heilsgesänge aus. Dann hob ich ab, gespannt, aus welchem Stadtteil der Alarm einging. In Gedanken war ich schon unterwegs. Essig war's mit dem Alarm, auch wenn die Stimme von Barbara Hicks klang wie eine Sirene beim ersten Probelauf nach dem Winter. Barbara ist die Sekretärin vom Chef – die dienstälteste Sekretärin und eine schier uneinnehmbare Festung in seinem Vorzimmer. Die zweite Sekretärin ist Sheila, unser schwarzhaariger langbeiniger Superbomber. Nicht ganz so uneinnehmbar, aber dafür auch eine Augenweide, alles, was recht ist. Bei ihr kommt man auf Gedanken, über die man besser nicht spricht. Bei Barbara stellt sich dieses Problem gar nicht erst. Und mich hatte Barbara sowieso aus ihrem Herzen ausgeschlossen. Ich sei der letzte Nagel zu ihrem Sarg, hatte sie mir erst kürzlich an den Kopf geworfen. Ich hielt's ja für mächtig übertrieben. Wer mich kennt, weiß, daß ich überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Nagel habe. Seither frage ich mich, in welchen Kreisen Barbara nach Dienstschluß verkehrt, daß sie solche haarsträubenden Vergleiche heranzieht. Jedenfalls drang ihre Stimme ziemlich unangenehm aus dem Hörer. Zum Chef sollte ich kommen. Sofort. Barbara sagte immer sofort. Selbst dann, wenn ich schon vor zwei Stunden bei Sir Horatio hätte antanzen sollen. Und natürlich sagte sie auch nicht Chef, sondern Sir Horatio. Vor dem hatte sie Respekt. Vor mir nicht. Ich konnte mir eigentlich keinen Grund denken, warum der Chef mich sehen wollte. Über den Stand der Dinge in Sachen Dracula hatte ich ihn informiert – auf den Friedhöfen nichts Neues. Oder hatte er die Glaserrechnung für die Fenster bekommen, die ich durch einen kühnen Wurf mit dem Krif, dem Drei-Klingen-Beil, kürzlich in Scherben verwandelt hatte? 36
Von solchen Zauberstückchen halte ich nichts, hatte Sir Horatio gewettert, seine Scheiben könnte er auch alleine zerschmettern. Kleinlich war er eigentlich nie. Nur sparsam. Deshalb suchte ich ihn auch arglos direkt nach Barbaras Anruf auf. Dazu mußte ich aber durch das Vorzimmer. Barbara betrachtete mich, als sei ich der Kerl, der nachts im Buckingham-Palast auf der Bettkante der Queen gesessen hatte. Ich warf ihr eine Kußhand zu. Sie erschauerte bis in die Zehen. Vor Schreck. Ich spürte ihre Gedankenströme. Ich hatte sie wieder mal irritiert, und sie traute mir alles Schlechte zu. Sheila Green zwinkerte. Sie traute mir andere Dinge zu. Ich zwinkerte vorsichtshalber nicht zurück, denn meine Freundin Kathleen hält erstens nichts von Vielweiberei und kann zweitens ziemlich ungemütlich werden, wenn sie meint, etwas im Busch krachen zu hören. »Wie ist der Chef denn heute gewickelt?« fragte ich Sheila vertrauensvoll. »Leutselig«, meinte sie. »Eigentlich wie immer.« Ein schlechtes Zeichen war das nicht. Ich trat beim Chef ein. Er musterte mich argwöhnisch. »Morgen, Mac! Ihr Kriegsbeil haben Sie hoffentlich daheim gelassen? Einen zweiten Angriff übersteht mein Büro nicht.« Ich wurde etwas verlegen. Es war nicht gerade nett, daß er mir meine mißlungene Demonstration der magischen Waffe dauernd unter die Nase rieb. »Sir, der Krif ist kein Kriegsbeil!« erwiderte ich ziemlich kühl. »Er hat sich aber so aufgeführt«, bullerte Sir Horatio. »Nehmen Sie Platz und hören Sie mir zu, ich hätte da etwas für Sie.« »Ein Auftrag?« Das war mir gar nicht recht. Jeder Auftrag, der mich band, verschaffte Dracula Vorteile. Wie ich den Fürsten aller Blutsauger kannte, nützte er sie rücksichtslos. 37
»Ein Einsatz, Mac. Kennen Sie Bardon Mill?« »Wenn Sie Einsatz sagen, dann werde ich Bardon Mill auch wirklich kennenlernen, Sir«, versetzte ich. »Klingt ziemlich unbedeutend.« Einsatz war bei uns ein gewichtiges Wort. Wenn Sir Horatio es gebrauchte, war mit ihm nicht zu reden und schon gar nicht zu handeln. »Es kommt nicht so sehr darauf an, wie bedeutend oder unbedeutend ein Ort ist, sondern was dort geschieht«, sagte der Chef. »Oscar Wilde«, sagte ich aufs Geratewohl. Irritiert betrachtete mich der Chef durch die Brille. »So? Ich wußte gar nicht, daß der solche Banalitäten zu Papier gebracht hat. – In Bardon Mill sind schlimme Dinge geschehen, die sich jederzeit wiederholen können. Die Polizei der Grafschaft hat sich an den Yard um Hilfe gewandt, und der Yard hat mich eingeschaltet. Sie sind der Spezialist für übersinnliche Geschehnisse, Sie merken, Ihr Ruf setzt sich durch.« »Zuviel der Ehre«, sagte ich säuerlich. »Was regt denn die Grafschaftspolizei nun so auf, daß sie Scotland Yard anspitzt?« »Da oben wird eine Straße durch den Wald von Wark gebaut. Bardon Mill liegt am Hadrianswall. Es hat Ärger mit Umweltschützern gegeben. Zerstörung der Natur, Abholzen von Bäumen – Sie verstehen.« »Noch nicht, Sir. Der Bau einer Straße ist kein übersinnliches Ereignis, jedenfalls habe ich das bisher fest geglaubt.« »Reizen Sie mich nicht, Mac, seien Sie nett zu meinen Magengeschwüren! Also, in diesem Wald treibt ein Bursche sein Unwesen, den die Einheimischen als den Schwarzen bezeichnen.« »Huh!« machte ich. »Knister, knaster, knuster, im Wald von Wark ist's duster.« »Ist das auch von Oscar Wilde?« fragte der Chef böse. »Von mir«, gestand ich. »Ist aber auch nicht schlecht.« Danach hielt ich es für angezeigt, den Schnabel zu halten. Sir Horatio bekam nämlich den starren Blick. 38
»Im Wald von Wark sollen schon immer Menschen verschwunden sein. Gut, das hört man aus vielen Teilen des Landes. Irgendeine Gruselecke hat jede Grafschaft. Aber jetzt sind da zwei Angehörige des Bautrupps verschwunden. Und einer liegt mit einem schweren Nervenschock im Hospital von Haydon Bridge und fiebert von dem Schwarzen, von einem Geist, der aus einem Brunnen stieg, und von Menschenköpfen, die auf Pfähle gespießt sind. Er nennt auch immer wieder einen Geisterwald, dessen Bäume auf ihn eingeprügelt hätten. Die Polizei hat die Gegend abgesucht. Sie hat nichts gefunden, was auch nur annähernd den Beschreibungen entsprochen hat. Sie hat andererseits die beiden Verschwundenen nicht beibringen können. Der Mann im Hospital soll mit großem Nachdruck davon reden, daß er den Kopf seines Chefs auf einem Pfahl stecken sah. Dieser Mann leitete den Vermessungstrupp und verschwand einen Tag zuvor. Zusammen mit dem Bauleiter des Projekts machte sich der Patient auf die Suche. Der Bauleiter soll nach seinen Worten ebenfalls dem Geist aus dem Brunnen zum Opfer gefallen sein. Nur er entkam mit knapper Not. Tatsache ist, daß ihn Bauarbeiter völlig erschöpft und übel zugerichtet am Waldrand aufgefunden haben. In höchst bedenklichem Zustand. Und der Mann scheint einiges gewöhnt zu sein. Er ist in der Welt herumgekommen. Südamerika, Afrika und so.« »Vielleicht ist ihm dort die Sonne nicht bekommen, oder er hat eine seltene Tropenkrankheit importiert, Sir.« Ich war skeptisch und machte kein Hehl aus meiner Einstellung. Zu meiner Überraschung blieb der Chef sanftmütig. Das warnte mich. »Ja, das wäre schon ins Auge zu fassen – wenn der Mann nicht auch von dem Rover seines Vermessungschefs und dem Jeep, mit dem er und der Bauleiter anderntags hingefahren sind, recht plastisch gesprochen hätte. Die Bäume haben demnach beide Fahrzeuge angegriffen und demoliert. Mit den Ästen. Die Polizei hat beide Autos sichergestellt. Ihr Zustand entspricht haargenau der Beschreibung.« 39
Er blickte mich triumphierend an. Jetzt hatte er es mir aber gegeben. Zu Recht. Denn jetzt klang die Geschichte schon wesentlich glaubwürdiger. Einen Schwarzen, einen Brunnengeist und Köpfe auf Pfählen konnte man erfinden, demolierte Autos nicht. »Sind die Fahrzeuge nicht anderweitig zu Bruch gegangen?« fragte ich vorsorglich. »Was glauben Sie, was die Polizei zunächst angenommen hat? Sie konnte Rindenreste sichern. Selbst am Lenkrad des besagten Rover, das von Ästen zerbrochen worden sein muß. Aber nirgendwo fand sie Abschürfungen an Bäumen, die auf einen Anprall schließen lassen würden. Die Sache ist sehr mysteriös.« »In der Tat, Sir. Ich werde rauf fahren und mich umsehen, aber ungern. Hier in London hockt Dracula in seinem unbekannten Schlupfwinkel. Wehe der Stadt, wenn er hervorkommt!« »London hat dann immer noch Sie, Mac. Und Bardon Mill liegt nicht am Ende der Welt. Im Gegensatz zu diesem Dorf in Wales verfügt es über hinreichende Telefonanschlüsse. Ich weiß also, wie ich Sie erreichen kann. Sie umgekehrt auch.« Diese Retourkutsche steckte ich ein. Als ich in Twyn-Llanan in Wales der Hexe Miriam gegen den Schwarzweltboten Likkat beigestanden hatte, war Sir Horatio hinter seinem Schreibtisch fast verzweifelt, weil er ohne Nachricht von mir blieb. Ganz einfach deshalb, weil Twyn-Llanan nicht einen Telefonanschluß besaß. Abgesehen davon – was hätte ich ihm auch berichten können? Daß ich mich mit einem Schwarzweltler auf einer Wiese herumgeprügelt hatte? Im Fernsehen gab's gekonntere Schlägereien zu sehen. Vor allem siegte da der Held immer im rechten Augenblick. Bei mir war es nicht nach Drehbuch verlaufen. Ich hatte auch nicht gesiegt. Das hatte Miriam besorgt. Im Gegensatz zu einem Fernsehschinken war es aber in Wales wirklich ums Leben gegangen – um das von – Miriam und um meines. 40
Das sind die kleinen Unterschiede. Während ich meine Gedanken laufen ließ, packte Sir Horatio ein dünnes Schriftstück auf den Schreibtisch. »Das hat mir der Yard zugestellt, Mac. Machen Sie sich mit den Geschehnissen vertraut.« Ich gelobte es, klemmte mir die Gruselsammlung unter den Arm und stahl mich durchs Vorzimmer, um Barbara Hicks nicht wieder zu einer unfreundlichen Bemerkung gegen mich zu veranlassen. In meinem Büro führte ich mir Scotland Yards gesammelte Schauergeschichten zu Gemüte. Sir Horatio hatte mir nur das Konzentrat geliefert, sozusagen den Sirup. Die Zutaten waren im Bericht versteckt. Da war vor zwanzig Jahren auch ein Mann namens Furber auf Nimmerwiedersehen beim Pilzesammeln im Wald von Wark abhanden gekommen. Sein Sohn amtierte als Schulmeister in eben diesem Haydon Bridge, in dem der offensichtlich einzige Augenzeuge des Dramas im Hospital betreut wurde. Holeman hieß er. Ich machte mir wenige Notizen. Das meiste prägte ich mir ein. Das verhindert das Einrosten des Gedächtnisses. In dem Bericht kam häufiger ein Gasthauswirt namens Charles Paar vor, dem in Bardon Mill das ›Einhorn‹ gehörte. Von dem schienen überhaupt eine Menge Hinweise zu stammen. Auch der auf eine Burg, die noch nie ein Mensch gesehen hatte. Das war zwar unlogisch, aber das Wundern hatte ich mir längst abgewöhnt. Nach einer Stunde war ich durch und bildete mir ein Urteil. In Bardon Mill hatte das Böse zugeschlagen, ich war ganz sicher. Dunkle Mächte schienen dort überhaupt ihren Wohnsitz zu haben. Dem Kampf gegen sie hatte ich mich verschworen. Es war gar keine Frage, daß ich unverzüglich nach Norden fuhr. Ich nahm nur das mit, was ich halb im Scherz als meine magische Aussteuer bezeichne. Vor allem aber den Krif. 41
Bevor ich das Gebäude des Secret Service verließ, rief ich beim Yard an und knöpfte Inspektor Fisher das heilige Versprechen ab, die Fäden fest in der Hand zu halten, an denen ich Dracula und Woods zappeln sehen wollte. * Auf der Karte suchte ich mir die günstigste Strecke aus. Um nach Bardon Mill zu kommen, mußte ich durch Haydon Bridge. Das traf sich gut, da konnte ich auch gleich im Hospital vorbeischauen und diesen Holeman ausfragen. Bei den Furbers vorzusprechen war sicher auch nicht verkehrt. Ich zischte mit meinem Sportwägelchen los. Hinter London war es noch eng, der Vormittagsverkehr schien sich ausgerechnet auf meine Straße zu konzentrieren. Aber auf der Höhe von Hatfield House nahm das Gedränge ab, und ich drehte auf. Um die Mitte des Nachmittags lenkte ich den MG nach Haydon Bridge hinein. Ich fand, es war ein nettes Städtchen mit netten Leuten, denn ein Tankwart beschrieb mir freundlich und geduldig den Weg zum Hospital. Es gab nur das eine. Die Ärzte waren nicht ganz so freundlich. Einer drohte, mich eigenhändig vor die Tür zu werfen. Ich zeigte ihm meinen Ausweis. Der hielt ihn zwar von Tätlichkeiten ab, aber Holeman bekam ich nicht zu Gesicht. Schweres Nervenfieber, lautete die lakonische Auskunft. Weiß der Teufel, wenn es stimmte, was in dem Bericht stand, waren die Mediziner der Grafschaftspolizei gegenüber zuvorkommender gewesen. Vielleicht mochten sie keine aufdringlichen Besucher aus London wie mich. Ich probierte also mein Glück bei den Furbers. Da kam ich noch schlechter an. 42
Eine unansehnliche Frau öffnete mißtrauisch. Sie schielte erst auf meine Hände, ob ich nicht irgendwelche Waren mitschleppte, die ich ihr andrehen wollte. Nachdem ich weder zu singen begann noch eine Versicherung verkaufen wollte, fragte sie, was ich wollte. »Ich komme wegen Mister Furber her, Madam. Der damals im Wald von Wark verschollen ist.« Sie prallte zurück, als hätte ich ihr einen sehr unanständigen Witz erzählt. Dann wandte sie den Kopf. »Daniel«, rief sie, »schnell, komm her, da wird einer zudringlich!« Ich dachte, sie ruft ihren Hund. Ihr Mann kam aber. Wenn das Mr. Furber war, dann konnte sein Vater auch nicht viel anders ausgefallen sein. Und da war es denkbar, daß der Verschollene unter einem größeren Blatt damals verschwunden war, grob ausgedrückt. Denn was da als Ehemann vor mir stand, paßte ungefaltet in meine Hosentasche. Ich war mächtig verdutzt. »Sind Sie der Schulleiter der Stadt?« »Ach, den Furber meinen Sie?« pfiff mich das mickrige Männchen auf der Türschwelle ganz schön giftig an. »Da sind Sie hier falsch. Ich bin der Bäcker Furber.« »Dann nichts für ungut.« Ich verkniff mir die Warnung, er solle achtgeben, daß er sich nicht selber in ein Brötchen knetete. Auf der Straße hielt ich Ausschau nach dem Witzbold, der mich zum falschen Haus geschickt hatte. Vielleicht war das ein beliebter Sport, um den Bäcker Furber zu ärgern. Der falsche Wegweiser war natürlich nicht zu sehen. Ich holte mir in einem Laden Auskunft. Fünf Minuten später stand ich dem richtigen Mr. Furber gegenüber. Er war eine stattliche Erscheinung. Aber er schaute bedrückt. Daraus schloß ich, daß er wegen der unheimlichen Vorfälle schon befragt worden war. Er bejahte das auch, als ich ein wenig bohrte. 43
Er war in Bardon Mill geboren, er kannte die dunklen Geschichten über den Schwarzen im Wald von Wark und über die Burg, die noch niemand sah. Aber er war ein aufgeklärter Mann. »Das ist natürlich alles, Unsinn, Mister Kinsey«, sagte er. »Meinem Vater ist damals etwas zugestoßen. Er war gesundheitlich schon seit längerer Zeit nicht auf der Höhe, aber er bestand auf seinen Spaziergängen. Die frische Luft würde ihm guttun. Pilzesammeln war seine große Leidenschaft. Als er abends nicht heimkam, suchten wir ihn. Die Nachbarn und viele anderen Leute aus Bardon Mill haben uns tagelang geholfen. Sein Herz war schwach. Ich wünschte, wir hätten ihn gefunden, um ihm ein christliches Begräbnis zu geben.« Der Verlust ging ihm heute noch nahe, obgleich zwanzig Jahre verstrichen waren. »Kam es Ihnen nicht eigenartig vor, daß so viele Leute viele Tage vergeblich suchten?« Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Kennen Sie den Wald?« Den kannte ich nicht, und das gab ich zu. »Darum«, meinte er bedeutungsvoll. »Dort können zehn oder hundert Leute verschwinden. Wenn Sie Pech haben, finden Sie nicht einen Menschen. Es sei denn, der Zufall hilft Ihnen.« Auf den Wald war ich gespannt. Im Bericht hatte die Bezeichnung Geisterwald gestanden. Eine Aussage von Holeman, den zu besuchen man mir verwehrt hatte. »Sagen Sie, Mister Furber, Lehrer und Ärzte sind in ländlichen Gegenden quasi ein Auffangbecken für die vielfältigsten Informationen. Durch den Beruf kommen sie mit vielen und unterschiedlichen Menschen zusammen. Betreiben Sie Heimatforschung?« Er wußte genau, worauf ich abzielte. »Ich habe mich nur mit dem Hadrianswall befaßt und mit den römischen Siedlungen in unserem Gebiet, nie mit dem Wald.« »Und? Sind aus jener Zeit schriftliche Zeugnisse vorhanden?« Er schaute mich etwas mitleidig an. Ich merkte, daß er mich für 44
einen Kulturbanausen hielt. »Die Römer haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, von ein paar Weihesteinen bei einem mutmaßlichen Jupitertempel in Chesterholm abgesehen. Ein Centurion hat die Steine gestiftet, laut Inschrift als Dank für einen abgewiesenen Angriff eines scotischen Stammes. Sie wissen doch, wer die Scoten waren?« Ich hatte das Gefühl, er hielt mich obendrein für einen geistigen Neandertaler. Klar wußte ich, daß jene alten Scoten die Vorfahren der heutigen Schotten waren. Gerade so höflich, daß er es nicht als Beleidigung auffassen konnte, sagte ich: »Danke, ich habe eine Bildung genossen.« Er konnte mir offensichtlich nicht weiterhelfen. Ich verschwendete nur Zeit. Ich wandte mich zum Gehen. »Vielleicht schaue ich in diesen Tagen noch einmal vorbei. Guten Tag, Mister Furber.« Seinem Gesicht sah ich an, daß es ihm lieber war, wenn ich ihm nicht mehr unter die Augen kam. Auf der Straße blieb ich stehen und schaute zu den Fenstern hoch. Furber spähte mir nicht nach, hinter den Fenstern bemerkte ich keine Bewegung und keinen Schatten. Wie es aussah, war ich für ihn ohne Interesse. Daß ich nach zwanzig Jahren noch eine Spur seines Vaters fand, schien er mir erst recht nicht zuzutrauen. Den Ehrgeiz hatte ich auch nicht. In erster Linie wollte ich guten Willen zeigen. Dem Yard, denn bekanntlich wäscht eine Hand die andere. Und in zweiter Linie wollte ich den Schleier von den Machenschaften der Schattenwelt reißen. Hier in dieser Gegend ging etwas vor. Seit langer Zeit schon. Ich klemmte mich in meinen MG und fuhr die paar Meilen bis Bardon Mill. Der Ort gefiel mir. Er vermittelte nicht dieses düstere Bild wie das Dorf Twyn-Llanan in Wales. 45
Es gab Wirtshäuser und Geschäfte, und die Häuser waren hell und freundlich. Ein Wirtshausschild fiel mir sofort ins Auge. Es war ein richtiges Kunstwerk und zeigte ein Einhorn. Hier war eine der in dem Bericht genannten Quellen. Der Wirt hieß demnach Parr. Ich schätzte, daß ich mit ihm ein Gespräch führen mußte. Nicht sofort. Erst wollte ich mir einen Überblick verschaffen. Ich drehte eine Runde durch Bardon Mill und merkte mir die wichtigsten Örtlichkeiten. Es gab sogar ein Postamt. Ein paar Leute fielen mir auf, die sich nicht so ganz nahtlos in den dörflichen Charakter einfügten. Sie trugen Parkas oder Wollsachen, vor allem aber grüne Halstücher oder dicke grüne Schals. Und Buttons mit allen möglichen Aufschriften. Das waren ohne Frage die Umweltschützer, die den Straßenbauern peinlich genau auf die Finger guckten. Sie sahen allesamt solide aus und entsprachen gar nicht dem Bild, das Leute von ihnen entwarfen, die sie noch nie gesehen hatten. Und es waren nicht nur junge Leute dabei. Es berührte mich angenehm. Da engagierten sich Menschen, um zu verhindern, daß weiter in und an der Natur herumgemurkst wurde. Ein Straßendamm ohne Fahrbahndecke führte zu einem Baulager hinaus, das ich in der Ferne erkennen konnte. Genau dort zog sich in sanften Schwüngen von Ost nach West der Hadrianswall dahin, überkletterte grüne Hügel, durchquerte dunkle Mulden und verlor sich im Dunst der Ferne. Jenseits von Wall und Baulager erstreckte sich ein Wald bis zum nördlichen Horizont. Das war er! Ich spürte es in allen Knochen. Der Geisterwald, der gerade jetzt wieder zwei Menschen zum Schicksal geworden war. Besonders geisterhaft sah er aus der Distanz nicht gerade aus. Ich kannte schlimmere Wälder. 46
Aber ich ließ mich nicht täuschen. Die dunklen Mächte wissen sich raffiniert zu tarnen. Ich fuhr zurück und kehrte im ›Einhorn‹ ein Mittlerweile ging es stramm auf den Abend zu, und so waren schon Gäste da und bekämpften die innere Austrocknung. Mir fiel aber auf, daß sie abseits saßen und offensichtlich darauf bedacht waren, Distanz zu wahren. Der Wirt beguckte mich. Er hatte graue Augen und einen scharfen Blick wie ein Habicht. »Aha, von der Presse?« meinte er mit einem Hinweis auf meinen guten Anzug. »London?« »London schon, Presse nicht«, antwortete ich. »Sie sind Parr, richtig?« »Aber mit Katharina Parr weder verwandt noch verschwägert«, scherzte er. Kunststück, denn die Katharina Parr, die er meinte, war die sechste Ehefrau unseres königlichen Blaubartes, Heinrich VIII. gewesen, und die Sache lag schon über vierhundert Jahre zurück. Der Wirt gefiel mir. Der hatte das Herz offensichtlich auf dem rechten Fleck und ein schlagfertiges Mundwerk. »Ich bin wegen der Vorfälle hier«, sagte ich, »der Name ist Mac Kinsey.« »Etwa ein Ableger von dem Lustmolch, der den berühmten Kinsey-Report verbrochen hat?« Verdammt, was man in der Provinz nicht so alles erleben kann! Diese indiskrete Frage hatte mir noch niemand gestellt. Ausgerechnet hier, schon fast am Ende der Welt, mußte es passieren. Jener Kinsey war allerdings Amerikaner, ich besaß ein reines Gewissen. Der gute Mann hatte seinerzeit indiskrete Erhebungen über das Lustleben und Sexualverhalten seiner Mitmenschen angestellt und ein Buch daraus gemacht. Ich entsinne mich, daß hohe und höchste Stellen über das Werk 47
wetterten. Was nur bewies, daß sie es auch gelesen hatten. »Mit dem habe ich nichts zu tun«, gestand ich. »Ich würde mich mit Ihnen gerne über andere Dinge unterhalten. Über den Wald von Wark zum Beispiel.« Ein nachdenklicher Ausdruck erschien in seinem Gesicht. »Von der Presse sind Sie also nicht, zur Polizei gehören Sie nicht – warum stecken Sie die Nase in die böse Geschichte?« »Nehmen Sie mal an, ich gehöre doch zur Polizei.« »Dann hätten Sie eine Uniform.« »Das ist nicht Bedingung. Manche Leute kommen ein Leben lang ohne Uniform aus. Sie haben der Grafschaftspolizei gegenüber ausgesagt, der Bauleiter Paisly und der Vermessungsingenieur Holeman seien am Abend vor dem schrecklichen Ereignis in Ihrem Gasthof gewesen.« »Stimmt.« »Fiel Ihnen eine Besonderheit auf?« »Nur, daß Paisly sauer war wie ein Eimer Essig. Der arme Kerl! Tut mir wirklich leid. Er war jähzornig, aber er hatte was auf dem Kasten.« »Sie reden von ihm, als sei es amtlich festgestellt, daß er tot ist!« »Was Holeman in Bruchstücken geredet hat, als sie ihn gefunden haben, genügt. Mir jedenfalls. Die zwei sind dem Schwarzen begegnet, und Paisly hat's nicht überlebt. So wenig wie Raw, der Chef der Vermesser. Um den ging der Krach an dem Abend überhaupt.« Der Ablauf war mir aus der Akte geläufig. Erst war Raw spurlos verschwunden. Anderntags wollten Paisly und Holeman ihn suchen, und seitdem fehlte auch von Paisly jede Spur. Amtlich jedenfalls. Holemans Äußerungen, die er im Fieber getan hatte, stellten nicht die offizielle Meinung dar. »Sehen Sie, Parr, dieser Schwarze interessiert mich. Bringen Sie mir ein Stout.« Er zapfte mir ein Bier und kam wieder an den Tisch. »Die Frage, ob ich den Schwarzen schon mal gesehen habe, kön48
nen Sie sich schenken. Wer ihn sieht, überlebt das nicht. Die einzige Ausnahme scheint Holeman zu sein. Dem müssen alle Schutzengel beigestanden haben.« »Der Schwarze scheint schon seit langer Zeit im Wald dort zu hausen?« »Und ob!« Parr senkte die Stimme und schaute sich um, als fürchte er, der Schwarze könnte dort durch die Tür eintreten. »Es heißt sogar, die alten Römer seien seinetwegen abgehauen. Was Genaues weiß natürlich niemand.« »Und wer ist der Schwarze?« Parr hob die Achseln. »Ein Geist. Die einen sagen, da hätte es mal einen Keltenfürsten gegeben, der allerlei finsteren Zauber machte. Andere wollen wissen, ein Artus-Ritter sei in die Gegend gekommen, dem man einen Fluch angehängt hat. Wissen Sie, diese alten Geschichten sind wie ein Handschuh.« »Nämlich?« »Man kann ihn drehen und wenden, er sieht dann zwar anders aus, aber er bleibt ein Handschuh.« »Mit anderen Worten, gleichgültig, wer oder was der Schwarze ist, er ist eine Tatsache?« »Sie fassen die Sache richtig auf«, lobte Parr. Ich trank einen Schluck. »Und was ist mit der Burg, die noch nie jemand sah?« Parr machte eine knappe Kopfbewegung zur Ecke, wo die auf Distanz haltenden Gäste saßen. »Darüber machen sich die auch mächtig Gedanken. Das sind Wissenschaftler aus dem Lager. Archäologen. Die haben Steine gefunden.« Das interessierte mich sehr. Ich quetschte Parr aus und hörte von einer Pforte im Hadrianswall, die irgendwann mit Füllmaterial verschlossen worden war. Unter diesem Material waren ein paar behauene Steine mit Ornamenten entdeckt worden. Diese Beweise für die, Existenz einer Burg waren dünner wie eine Wassersuppe. 49
Mehr aus Höflichkeit hörte ich Paar mit einem Ohr zu. Ich merkte erst auf, als er von einem bestimmten Bezirk im Wald sprach, an dem man noch nie Vögel und Wild beobachtet hatte und wo früher die Fuhrleute immer Schwierigkeiten mit ihren Zugtieren hatten. »Können Sie mir diesen geheimnisvollen Platz näher beschreiben?« »Sie wollen doch nicht etwa hin?« fragte er besorgt. »Das könnte böse enden. Machen Sie Ihre Frau nicht vorsätzlich zur Witwe!« »Ich bin nicht verheiratet.« »Das Alter hätten Sie aber«, sagte Parr. Seltsam, diese Meinung hatte auch meine Freundin Kathleen. »Das ist dort, wo die demolierten Fahrzeuge gefunden wurden. Nehmen Sie besser ein paar von Ihren Kollegen mit. Und was zum Schießen. Für alle Fälle.« »Ich arbeite ganz gerne allein«, sagte ich beschwichtigend. Er machte sich echt Sorgen um mich. »Ich hätte besser den Mund gehalten«, schalt er mit sich selber. »Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, weil ich Paisly und Holeman vielleicht zuviel erzählt habe.« »Gehen die Arbeiten an der Straße eigentlich weiter?« »Bisher hat Raffles vor dem Wald arbeiten lassen. Raffles ist der neue Bauleiter. Morgen fangen sie im Wald an.« Da war ich zum richtigen Zeitpunkt gekommen. »Vermieten Sie Zimmer?« »Ungern. Sie haben etwas vor, und ich möchte Sie davon abhalten.« »Ehrlich sind Sie jedenfalls«, sagte ich. »Ich nehme ein Zimmer.« Ich trank mein Stout aus und holte mein geringes Gepäck herein. Parr gab mir ein Zimmer, das mir durch seine Einfachheit gefiel. Die Möblierung drückte die Geradlinigkeit des Wirtes aus. Es gab keinen Schnickschnack. Im nächsten Geschäft deckte ich mich mit Schlafzeug und etwas Wäsche und Rasierartikeln ein. Ich hatte mir in London nicht die Zeit genommen, erst zu meiner Wohnung zu fahren. 50
Ich war davon ausgegangen, das Treiben des Schwarzen im Handumdrehen unterbinden zu können. Weiß der Teufel, wie ich zu dieser Annahme kam. Der alte Spruch bewahrheitete sich einmal mehr, daß derjenige, der nicht nachdenken will, eben zahlen muß. Mich kostete meine Nachlässigkeit mehr als zwanzig Pfund. Draußen war es dunkel geworden. Ich stellte meinen MG auf den Hof, den Platz hatte mir Parr zugewiesen. Mit meinen Einkäufen ging ich aufs Zimmer, um mich etwas herzurichten. Als ich mehr zufällig aus dem Fenster schaute, sah ich dunkel und endlos den unheimlichen Wald im Norden liegen, der ein schreckliches Geheimnis barg. Mir lief es eiskalt über den Rücken. Im Wald von Wark brannte ein Licht! * Green-Peace-Leute und Robin-Wood-Anhänger hatten ein Aktionskomitee gebildet Dieses bestand aus drei Leuten – aus Mandy Reed, Ben Kinson und Russ Miller. Miller war Referendar in einer Anwaltskanzlei und schon deshalb der richtige Mann, weil gewiß mit einem juristischen Nachspiel der Aktion in Bardon Mill zu rechnen war. Ben Kinson hatte sich bei den Druckerstreiks hervorgetan und war dreimal von der Polizei festgenommen worden. Und Mandy Reed hatte sich bei den Protestaktionen beim Atomkraftwerk Windscale ausgezeichnet. Sie hatte den Skandal mit dem verseuchten Meertang erst publik gemacht und nachgewiesen, daß die Behörden schon jahrelang von der systematischen Verseuchung der Küstengewässer gewußt hatten. Sie nahm auch hier kein Blatt vor den Mund. Eben hatte sie erfahren, daß der neue Bauleiter Raffles morgen die Holzfäller losschicken würde, denen auf dem Fuße die Planierrau51
pen und Bagger folgen sollten. Sofort berief sie das Komitee ein. Die Zelte und Hütten hatten verlegt und auf freiem Feld hinter dem alten Römerwall wieder aufgeschlagen werden müssen. Raffles hatte die Umweltschützer nicht im Lager geduldet wie Paisly. Er hatte darauf bestanden, daß sie sofort auszogen. Allenfalls er die Polizei und seine Bauarbeiter bemühen werde. Die Umweltschützer hatten friedfertig das Feld geräumt und waren ein paar hundert Schritte weitergezogen. Das bedeutete den Verlust einiger Annehmlichkeiten. Im Gegensatz zum Lager gab es kein fließendes Wasser und keine anderen hygienischen Einrichtungen. Man war mal wieder gezwungen, sich auf urwüchsige Örtlichkeiten wie Büsche und Gräben zu beschränken. Einige Leute von der Basis fanden dieses Leben schon nicht mehr gar so lustig. Sie redeten von Abbruch der Aktion. Überhaupt hatten das Verschwinden von zwei Männern und die nachfolgenden Ermittlungen der Polizei für beträchtliche Verunsicherung gesorgt. Russ Miller als Fachmann für Rechtsfragen hatte im Namen aller entrüstet den Verdacht zurückgewiesen, die Umweltschützer könnten vielleicht die Fahrzeuge demoliert haben. Das Gemunkel vom Schwarzen und von einem schrecklichen Brunnen war natürlich auch den Aktionsteilnehmern zu Ohren gekommen. Gerade Mandy Reed, die durch Windscale einige trübe Erfahrungen im Umgang mit Behörden gemacht hatte; hatte von einem lausigen Trick der Bauleitung gesprochen. Im übrigen, hatte sie ängstliche Gemüter beruhigt, sei man aufgeklärt und wisse, daß es keine Geister und Gespenster und Dämonen, keinen Schwarzen und keinen Geisterwald gebe und auch keinen Brunnen, aus dem Erscheinungen schweben. Bestenfalls sei es finsterer Aberglaube primitiver Leute. Die Bauleitung habe sich hinterlistig diesen Aberglauben zunutze gemacht. 52
Deshalb führte Mandy jetzt auch das Wort. »Morgen fangen sie an«, sagte sie mit bedeutungsschwerer Stimme, etwa so, als sollte morgen der Mond niederstürzen oder etwas ähnlich Unglaubliches über die Bühne gehen. »Ich habe das eben im Baulager erfahren.« »Damit war zu rechnen«, sagte Miller abwartend. »Wir ziehen mit den Leuten raus und sehen ihnen auf die Finger.« »Draufklopfen müssen wir ihnen!« Kriegerisch reckte Mandy den Kopf, daß die kurzgeschnittene Frisur hüpfte. »Mister Raffles will sich nämlich nicht an die Vereinbarungen halten. Was Paisly mit uns ausgemacht hat, geht ihn einen Dreck an. Hat er gesagt. Er will ein größeres Areal abholzen lassen, wo die Baumaschinen abends abgestellt werden.« »Anzünden!« sagte Ben Kinson hitzig. »Wir verbrennen die Baumaschinen.« »Du bist wohl schwachsinnig?« Miller war entsetzt und ungehalten. »Keine Gewalt, das ist ausgemacht.« »Wenn Raffles sich an keine Abmachung hält, brauchen wir das auch nicht«, muckte Kinson auf. »Feuer ist kein Argument.« »Richtig.« Dieser Meinung war auch Mandy. »Aber unternehmen müssen wir was. Eine Aktion Baumhaus vielleicht. Die werden sich hüten, Bäume umzusägen, auf denen wir sitzen.« »Dann müssen wir ihnen aber zuvorkommen.« Miller dachte nach. »Wenn wir morgen früh rausgehen, riechen sie den Braten. Mit den Lastwagen sind Sie auch schneller«, sagte Mandy. »Bis wir hinkommen, haben sie die Bäume schon umgelegt. Sie haben Motorsägen. Wir müßten schon heute nacht raus.« Miller nickte zustimmend. Jetzt kamen aber ausgerechnet dem streikerprobten Ben Kinson Bedenken. »In den Wald? Also, ich weiß nicht, Mandy! Das ist eine Scheißidee.« »Hast du dich von dem Geschwätz anstecken lassen?« spottete 53
Mandy. Und Miller brummte etwas von ›geistiger Korrumpierung‹. Kinson wollte das nicht auf sich sitzen lassen. »Meinetwegen. Und wer geht?« »Doofe Frage. Wir natürlich. Wir drei geben ein Beispiel. »Mandy schaute sich selbstbewußt um. »Oder willst du lieber deinen bescheuerten bürgerlichen Regungen nachgeben?« Kinson guckte unfroh auf Mandy. »Ich möchte wissen, was zwei verschwundene Männer mit bürgerlichen Regungen zu schaffen haben. Wenn das ein Trick der Bauleitung ist, wie du sagst, warum hat dann die Polizei hier herumgeschnüffelt? Die Bullen kannst du für eine solche Schau doch nicht einspannen.« »Kommst du mit oder nicht?« Mandy liebte es kategorisch. Bei ihr gab's keine halben Sachen. »Ja, das möchte ich auch gern von dir hören.« Miller hob erwartungsvoll die Brauen und fummelte eine Pfeife aus der Tasche seiner Strickjacke. Kinson grinste säuerlich. »Aha, Mehrheitsbeschluß! Also gut, ich bin dabei.« Er ging hinaus, um seinen Schlafsack zu holen. Miller legte ein paar Kletterschlaufen zurecht. Wenn sie auf Bäume kletterten, verzichteten sie auf Steigeisen, weil die mit den scharfen Eisenzähnen die Bäume ja verletzt hätten. Schlaufen waren glatt, nicht so schwer und genau so wirkungsvoll. Mandy wickelte ihren Schlafsack zusammen, steckte etwas Verpflegung ein und half Miller, die Kletterschlaufen zu bündeln. Kurze Zeit später kam Kinson zurück. Er brachte nicht nur seine Schlafrolle mit, sondern auch ein grünes Spruchband und eine Taschenlampe. »Jetzt ist's günstig«, sagte er. »Die Leute gehen wieder rüber ins Dorf.« Draußen war es dunkel. Im eigenen Camp rauchten ein paar kleine Feuer zwischen Zelten 54
und schnell zusammengezimmerten Hütten, im Baulager jenseits des alten römischen Walls brannten die elektrischen Lichter. Mandy, Miller und Kinson verständigten ihre Basis. Die Gefolgsleute sollten vor Sonnenaufgang in den Wald nachfolgen, um den Holzfällertrupps nicht die Spur einer Chance zu lassen und vollendete Tatsachen zu schaffen. Einem abgesägten Baum nützte der schärfste Protest nichts mehr. Davon wuchs er nicht mehr an. Miller schritt kräftig aus. Kinson schaute mit gemischten Gefühlen dem näher rückenden Wald entgegen. Mandy reckte die Nase in die Luft und schnupperte. »Mußt du diesen Knaster rauchen?« fuhr sie Miller an. »Die Luft ist so klar, und du verstänkerst sie.« »Und du mußt mich nicht dauernd bevormunden«, gab Miller zurück. Daraufhin sagte Mandy etwas von Unterdrückung der Frau, was Miller veranlaßte, ein paar schöne Rauchwolken in den Himmel zu blasen. Darüber langten sie am Waldrand an. »Hier?« fragte Kinson. »Die Bäume werden von der Basis geschützt, unser Platz ist weiter drinnen«, bestimmte Mandy. Sie übernahm die Spitze. Die Planierraupen hatten den neuen Straßendamm bis zum Waldrand vorgeschoben. Aber hier führte der alte Waldweg weiter. Der Grund war weich, und es roch frisch nach Laub und Gras und Moder. Kinson war mehrmals drauf und dran, seine Schlafrolle von der Schulter zu werfen und sein Lager aufzuschlagen. Aber Mandy und Miller wollten unbedingt noch weiter. Da gab er nach. Klar blieben sie zusammen, das war Ehrensache. Plötzlich knackte es rechts vom Weg, als sei ein Ast zerbrochen. Sofort verharrten sie. Kinsons hastige Atemzüge klangen überlaut. 55
»Leuchte mal!« verlangte Mandy. »He, hast du Schiß?« »Quatsch! Irgendein Tier bestimmt.« Kinson leuchtete. Da war kein Tier. Nur ein dicker alter Baum, von dessen Ästen lange Moosbärte hingen. »Wußte gar nicht, daß hier so alte Bäume stehen«, meinte Miller. »Ist mir jedenfalls bisher nicht aufgefallen.« »Bis hierher sind wir gar nicht gekommen«, erwiderte Mandy und blickte dem Lichtstrahl nach, den Kinson herumwandern ließ. Es gab nicht nur diesen einen alten bemoosten Baum. Voraus standen viel mehr. Sogar dicht am Weg. »Da vorne richten wir uns ein«, bestimmte sie. »Auf die Bäume können wir besser rauf klettern als auf die jungen.« »Aber doch nicht jetzt?« fragte Miller. »Morgen früh, wenn wir die Holzfäller kommen hören.« Mandy warf den Kopf herum. Jetzt hatte es links im Wald geknackt, auf der anderen Seite vom Weg. Der Taschenlampenstrahl zuckte herum. Da war nichts zu sehen, keine huschende Bewegung, kein federnder Zweig, nur viele alte Bäume und dazwischen ein paar jüngere, deren Stämme glatt waren. »Unheimlich, nicht?« raunte Kinson. Eine Gänsehaut kroch ihm den Rücken rauf. »Ein sicheres Zeichen dafür, daß dieser Wald lebt wie jeder Wald. Und hier wollen diese Barbaren abholzen!« stieß Mandy hervor. »Unfaßbar!« Miller paffte ein paar Züge an der Pfeife. »Ganz geheuer ist mir das auch nicht, ehrlich, Mandy. Von so alten Bäumen weiß ich nichts. Im Gutachten der Forstbehörde steht, daß der Bestand an die achtzig Jahre alt ist. Achtzigjährige Bäume sehen anders aus. Die hier könnten ein paar hundert Jahre alt sein.« »Das beweist doch das abgekartete Spiel!« versetzte Mandy heftig. »Selbst die Forstbehörde mischt mit. Stuft einfach einen sagenhaft schönen und herrlichen Wald im Alter herunter. So werden wir belogen!« 56
»Sieht fast so aus!« pflichtete Miller bei. Kinson leuchtete voraus, sie setzten sich wieder in Bewegung. Hundert Schritte weiter gab Mandy das Kommando. »Hier erwarten wir sie, von hier kriegen sie uns nur mit Gewalt weg.« Kinson leuchtete die Bäume an. Hier gab es nur diese alten. Die Äste hingen weit herab, fast bis zum Boden. Darunter ließ sich gut ein Lager bauen. Während sie die Schlafsäcke ausrollten, knackte es wiederholt in der Umgebung. Jedesmal fuhren sie zusammen. Auch Mandy. Aber wenn Kinson hinleuchtete, war da nichts. Sie suchten schon zwei Bäume aus und spannten das Spruchband auf. Miller legte die Kletterschlaufen an den Stamm und hockte sich auf den Boden. Mandy und Kinson hantierten noch in der Nähe. Plötzlich spürte er eine Berührung an der Achsel. Blitzschnell griff er hin. Die Waldesstimmung war wirklich unheimlich, und obendrein fielen ihm die gruseligen Geschichten ein, die in den vergangenen zwei Tagen die Runde gemacht hatten. Ein Ast hatte ihn gestreift. Er war erleichtert, er hatte den eben wohl übersehen. Kurz darauf berührte ihn etwas am Bein. Seine zupackenden Hände bekamen wieder einen Ast zu fassen. Seltsam, dachte Miller, da war doch eben noch gar keiner gewesen! Ich hätte doch dauernd dranstoßen müssen! Mandy und Kinson waren immer noch nicht fertig. Er hörte ihr Stimmengemurmel und das dumpfe Trappeln ihrer Schritte. Und noch etwas hörte er. Es ließ ihn an Kichern denken. Es klang ziemlich boshaft. Er schauerte zusammen. So hatte er sich als Kind immer das Kichern einer bösen Hexe vorgestellt, bevor sie die Kinder aufzufressen begann. Mal schien es ganz aus der Nähe zu kommen, mal aus größerer Entfernung. Die Richtung konnte er allerdings nicht festlegen. 57
Er fischte Streichhölzer aus der Tasche und leuchtete. Dieses geisterhafte Kichern verstummte augenblicklich. Dafür machte er eine andere Entdeckung. Drei Äste hingen zu seinem ausgewählten Schlafplatz herab. Einer schien förmlich in den Schlafsack hineinzuragen. Als sei er hineingekrochen. Junge, paß auf, so fängt’s meist an, sagte er sich. Im Kopf gibt's einen Knacks, und dann springst du aus der Spur! Er packte den Ast und schob ihn in die Höhe, Dabei mußte er unerwarteten Widerstand überwinden. Das Ding stellte sich ungemein sperrig und widerborstig an. Einmal mißtrauisch geworden, riß er noch ein Streichholz an. Jetzt blieb der Ast oben. »Sachen gibt's, nicht zu glauben«, murmelte Miller und wandte seine Aufmerksamkeit Mandy und Kinson zu. Die kehrten zurück. Er genierte sich, über sein seltsames kurzes Erlebnis zu sprechen. Mandy hatte ein scharfes Mundwerk, sie würde ihn alles Mögliche nennen. Da hörte er viel lieber ihr zu, wie sie eine Strategie für den Morgen entwickelte. Sie war der Kopf, die Ideologin, sie besorgte das Denken. Später aßen sie von den mitgebrachten Vorräten und krochen dann in die Schlafsäcke. Ein unheimliches Weben und Raunen, ein Schleifen und Knacken war um sie. Mehrmals schoß Kinson hoch und leuchtete herum. »Mensch, das zieht einem ja die Haare vom Kopf!« beschwerte er sich. »Du bist verweichlicht«, hielt ihm Mandy vor. »So klingt eben die unverfälschte Stimme der Natur.« Dann trat Ruhe ein. Bis Mandy eine flüchtige Berührung am Schlafsack spürte. Gleich darauf streifte sie etwas an der Schulter. Sie wurde wütend auf Miller. Der lag auf dieser Seite. Kriegte der Anwandlungen und entwickelte Liebesbedürfnisse? 58
Sie zischte ärgerlich. Die Berührung wiederholte sich nicht. Kinson schien eingeschlafen zu sein, denn er schoß nicht wieder hoch und funzelte mit der Taschenlampe herum. Kurze Zeit später spürte Mandy wieder etwas. Sie lag ganz starr und hielt den Atem an. Etwas schob sich unter ihren Schlafsack! Zugleich hörte sie ein würgendes Keuchen und dann ein Strampeln, das ihr Angst macht. »Russ?« fragte sie halblaut. Keine Antwort. Sie zog den Reißverschluß auf und streckte den linken Arm aus. Sofort hörte dieses drängende Schieben unter ihrem Schlafsack auf. Ihre tastende Hand stieß nur auf Äste. Sie war ganz sicher, daß da vorhin keine Äste gewesen waren. Nicht auf dem Boden. »Russ?« rief sie. Sie spürte, wie sich ruckartig die unheimlichen Äste um ihre Hand klammerten und sie festpreßten. Mit einem Schreckensschrei fuhr sie hoch. Davon wurde Kinson munter. Er hatte sofort die Taschenlampe zur Hand und knipste sie an. »Hier, Ben, etwas hält mich fest!« rief Mandy keuchend. »Schnell doch!« Kinson schaltete etwas langsam, aber dann zitterte der Lichtstrahl Mandys Arm entlang. Starke Äste hatten sich über ihre Hand und den Unterarm gelegt und preßten sie fest an den Boden. Mandy bekam Angst. Das Gerede vom Geisterwald schien doch nicht nur dummes Geschwätz naiver Landbewohner zu sein. Sie befreite ihren Arm mit einem heftigen Ruck. Sofort schnellten zwei, drei Äste hinterher und wollten die entwischende Beute wieder einfangen. Mandy lernte das Grauen kennen. Sie rutschte samt Schlafsack von dem grausigen Platz weg, näher 59
an Kinson heran. Und der sagte krächzend: »Wo ist denn Russ?« Seine Stimme klang heiser, Furcht schwang darin mit. Der Lichtstrahl zitterte und griff in die Dunkelheit neben Mandy! Wo Russ Miller gelegen hatte, war nur das Gras zerdrückt. Er war nicht da und auch sein Schlafsack nicht. Aber eine Schleifspur führte nach rückwärts. Der Lichtstrahl folgte der Spur. Und dann schnürte das Entsetzen Mandy und Ben Kinson den Hals zu. Dicke bemooste Äste hielten Russ Miller umklammert. Er steckte noch im Schlafsack. Wie Taue hatten sich die schrecklichen Äste um ihn gewunden. Einer lag um seinen Hals und preßte ihm förmlich die Augen aus dem Kopf. Unsagbares Entsetzen stand in seinem angstverzerrten und blau angelaufenen Gesicht. Keine drei Schritte von dem hilflos gefangenen Russ entfernt stand eine dunkle gesichtslose Gestalt. Der Schwarze! Und im Hintergrund schimmerte in einem unwirklichen geisterhaften Licht ein Brunnenrand. Eine schwach leuchtende Erscheinung schwebte aus dem Brunnen empor. Mandy stieß einen gellenden Schrei aus, als sie sah, was den Brunnen umgab. Pfähle, auf denen ausgeblutete Köpfe steckten. Viele Pfähle, viele Köpfe. Zwei kannte sie. Das Haupt von Raw und von Mr. Paisly. Ihre Pfähle standen ganz vorne, und die Augen blickten leer und gebrochen genau zu ihr her. Jetzt schrie auch Ben Kinson, als würde er auf der Schwelle zur Ewigkeit stehen. Denn die grauenhafte Erscheinung aus dem Brunnen schwebte heran und schwang ein gewaltiges Messer. 60
* � Ich räumte meine Einkäufe in den Schrank und blickte noch einmal aus dem Fenster. Das ferne Licht im Wald zwinkerte immer noch. Zuerst dachte ich an ein Fahrzeug. Aber erstens hätte ich dann zwei Lichtpunkte sehen müssen, und überdies hätten sie sich bewegt. Mein Licht rückte nicht vom Fleck. Ich ging nachdenklich hinunter. Ich verspürte eine innere Unruhe, für die ich keine andere Erklärung fand als eben dieses Licht. Parr trat mir entgegen. Er hielt eine handgeschriebene Karte, seinen Speisezettel. Seine Küche schien bekannt und geschätzt zu sein, denn außer den Archäologen, die immer noch wie Geheimbündler in der Ecke tagten, waren jetzt auch andere Gäste zugegen. »Ich empfehle Ihnen meine Wildsuppe«, sagte er. »Und zuvor einen fein geräucherten Lachs. Aus dem Tyne.« »Hört sich verlockend an«, sagte ich. »Ich bin ein Freund guter Wildsuppen. In ganz London bekommen Sie keine anständige. Hm, wissen Sie zufällig, ob ein Bautrupp noch drüben im Wald unterwegs ist?« Parr schaute mich ganz eigenartig an. »Seit zwei Tagen ist da keiner reingegangen. Morgen geht es erst wieder los. Warum fragen – Sie?« »Weil im Wald ein Licht brennt, ziemlich tief drinnen.« Ich sah deutlich, wie die Speisekarte in seiner Hand zitterte. »Der Schwarze«, sagte er flach. »Seine Burg! Ich habe noch nie ein Licht dort gesehen, aber die alten Leute sagen, wenn jemand verschwindet, brennt ein Licht im Wald.« »Schnell, eine Taschenlampe!« stieß ich hervor. »Und lassen Sie mir von der Wildsuppe eine Portion übrig.« Ich warf mich herum und sauste aus dem Gastraum, daß der Staub hinter mir herwehte. Immer fünf Stufen nahm ich auf einmal. Mit einem Satz war ich in meinem Zimmer, griff im Finstern meine Tragetasche, die mein bescheidenes Werkzeug enthielt, und has61
tete wieder hinunter. Die Mehrzahl der Gäste guckte mißbilligend, als ich schon wieder wie eine Windsbraut in den Schankraum einbrach. »Wohl wahnsinnig geworden?« knurrte mich ein vierschrötiger Mann an. »Erraten, Sie kriegen den ersten Preis!« Ich schenkte ihm auch noch ein freundliches Lächeln, damit er sagen konnte, er hätte auch mal einen netten Irren getroffen. Parr hielt mir eine Taschenlampe entgegen, ein Ding, mit dem man glattweg einen Ochsen zu Boden schlagen konnte – wenn man ihn an der richtigen Stelle zwischen den Hörnern traf. Parr rief mir noch etwas nach, das sich auf die Batterien bezog. Ich war aber schon fast draußen. Ich dankte meinen guten Einfällen und mir, daß ich mir bereits bei meiner Ankunft einen Überblick der lokalen Verhältnisse verschafft hatte. Zu Fuß in den Wald zu rennen war ein Unding. Da kam ich abgeschlafft und knapp an Luft wie ein geplatzter Fahrradschlauch an. Außerdem dauerte es zu lange. Denn wenn es zutraf, was Parr gesagt hatte, dann war ein Mensch in höchster Gefahr. In der nämlich, ebenso spurlos zu verschwinden wie der alte Furber und jüngst Raw und Paisley. Und wenn das Licht wirklich in der Gruselburg des Schwarzen brannte, die noch nie jemand zu Gesicht gekriegt hatte, dann war Schnelligkeit ohnehin oberstes Gebot. Ich konnte nicht erwarten, daß der Schwarze die festliche Illumination die ganze Nacht brennen ließ. Ich war gerade in der rechten Stimmung, um ihm das Licht auszuknipsen. Mit fliegenden Händen stieß ich das Hofgatter auf, enterte meinen MG und brauste die Dorfstraße hinunter bis zur Abzweigung. Ich geriet auf den neuen Straßendamm, passierte das Baulager und den Durchbruch durch den Hadrianswall. Ein Stück weiter brannten kleine Feuer zwischen Zelten und Bretterhütten. Für den 62
romantischen Anblick hatte ich keine Verwendung. Die Räder malten durch Erdreich, Kies und Schotter. Mein Wagen begann zu schwimmen und flog um ein Haar vom Damm herunter. Langsamer, Junge! ermahnte ich mich. Sonst landest du bei den unfreundlichen Medizinmännern in Haydon Bridge, und wer weiß, was die dir alles abschnippeln, bevor sie dich mit Nadel und Faden zusammenflicken! Ich lüftete den Fuß auf dem Gaspedal an. Der MG verhielt sich sofort gesitteter. Ich kam an schweren Baumaschinen vorbei. Mein Streulicht huschte über sie hin, dann fielen sie in die Dunkelheit zurück und ließen mich an Monster aus der Urzeit denken. So mochten die auch in den mondlosen Nächten in ihrem Revier gekauert haben. Das rätselhafte Licht konnte ich jetzt nicht mehr sehen. Die Baumwipfel entzogen es der Beobachtung. Zu spät sah ich die Stelle, wo der erbaute Damm endete und in einen schmalen Weg überging. Mein Wägelchen vollführte einen flotten Sprung und setzte so hart auf, daß ich fürchtete, mit dem Hintern durchs Bodenblech zu brechen. Es ging gerade noch einmal gut. Aber sehr weit kam ich nicht. Plötzlich war der Weg zu Ende. Fort. Einfach weg. Wo er hätte entlangführen müssen, standen knorrige uralte Bäume mit langen Moosbärten und reckten mir die Äste entgegen. Verfahren, war mein erster Gedanke. Ich mußte eine Wegegabel verpaßt haben. Dann richteten sich mir die Haare senkrecht auf. Diese Äste nämlich begannen auf meinen schönen MG, der schon fast ein Oldtimer war, heftig loszuprügeln. Mir fiel alles ein, was im Bericht stand. Holeman hatte von Ästen gefiebert, die lospeitschten und auf alles Fremde eintrommelten. Harte Hiebe trafen das Klappverdeck. Ich kam mir wie in eine Trommel eingesperrt vor. Ein Ast fetzte mir den Außenspiegel weg. 63
Ich haute den Rückwärtsgang rein und brauste zurück bis zum neuen Straßendamm. Dort stieg ich aus und lauschte in den Geisterwald hinein, in dem es rumorte wie in einem dunklen Stall voll unbekannter Tiere. Seltsame Töne drangen an meine Ohren. Es hörte sich fast wie verhaltenes Brüllen an. Und irgendwie enttäuscht. Ich war sicher, dem Treiben der dunklen Mächte beizuwohnen. Sie hatten hier einen Stützpunkt, und der unheimliche Wald war ihnen Tarnung und Hilfe zugleich. Für mein Vorhaben sah es nicht gut aus. Wenn ich den Ursprung des seltsamen Lichtes entdecken wollte, mußte ich mich diesen Ästen aussetzen. Und die prügelten mir die Seele aus dem Leib, bevor ich ein Vaterunser zu Ende gebetet hatte. Mein Wagen hatte schon genug abgekriegt, den wollte ich nicht weiterer Zerstörung aussetzen. Der Krif! Er hatte sich gegen die dunklen Mächte schon bewährt, vielleicht half er mir, auch hier weiter Es kam auf einen Versuch an. Ich schaltete die Scheinwerfer aus, nahm den Krif aus der Tasche, knipste die Lampe an und eilte zurück, wo die knorrigen Geisterbäume den Weg blockierten. Ein wahnsinnig schnell näherkommendes Sausen warnte mich gerade noch. Ich ließ mich einfach zu Boden sacken. Haarscharf pfiff ein Ast über mich hinweg, daß ich dachte, mir würde es die Wasserwelle aus der Frisur ziehen. Ich leuchtete dem Ast hinterher. Der Angriff war tückisch von hinten geführt worden. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung. Ich richtete die Lampe hoch und hob den Krif. Ein oberarmdicker Ast peitschte von der Seite auf mich ein. Ich schmetterte ihm den Krif entgegen. Es krachte, als würde ein trockener Knochen brechen. Der gekappte Astteil fiel mir vor die Füße, der Aststumpf schnell64
te zurück, und ich schwöre es bei der goldenen Taschenuhr von Sir Horatio, daß der zugehörige Baum brüllte! Es hörte sich schaurig an. Ich verglich es mit einem Orgeln, das tief aus der Erde dringt. Der Erfolg machte mich zuversichtlich. Ich schüttelte den Krif unternehmungslustig und zerschlug wieder einen Ast, der auf mich lospeitschte. Sekunden später mußte ich einen geballten Angriff abwehren. Von allen Seiten prasselten die Schläge hageldicht nieder. Ich schirmte den Kopf mit dem Krif ab, den ich einfach schützend über mich hielt. Dabei machte ich eine angenehme Erfahrung. Ich brauchte gar nicht mit aller Kraft draufzudreschen, ich mußte nur das Drei-Klingen-Beil hinhalten, den Rest erledigten die Äste selber. Sie wurden durchtrennt, sobald sie die Schärfe einer Beilschneide berührten. Das war genau der Beweis, den ich für das Wirken und Treiben dunkler Mächte brauchte. Der ganze Wald war verhext. Ein unbekannter Zauber wirkte. Ich schätzte, daß der Schwarze unter diesen Umständen nicht weit sein konnte. Das Fell juckte mich ordentlich, ihn aufzustöbern und mit dem Krif bekannt zu machen. Mit Sicherheit war er wenig entzückt davon. Die verhexten Bäume lernten schnell. Sie gaben ihre Gewaltangriffe auf und versuchten mich zu überlisten. Wenn ich vor mir einen heranpeitschenden Ast kappte, knallte mir ein anderer ins Kreuz. Das klappte zweimal, und ich fühlte mich, als hätte ich auf einer Kirchweih Prügel bezogen. Aber ich lernte auch. Beim nächsten Angriff wirbelte ich herum, hatte richtig einen heranschnellenden Ast im Lichtkegel und trennte ihn mühelos durch. Der Erfolg gab mir Auftrieb. 65
Und ganz eigenartig, das unterschwellige Grauen, das ich zuerst empfunden hatte, wich einer sturen Kampfstimmung. Ich hackte mir einen Weg, der gesäumt war von abgeschlagenen Ästen dieser Geisterbäume. Einmal kam ich einem rissigen Stamm so nahe, daß ich die zwanghafte Vorstellung hatte, ein Gesicht zu erblicken – eine böse Fratze mit dunklen Löchern statt Augen. Ich schlug mit dem Krif hinein. Jetzt wurde mir aber doch anders. Wo ich den Mund der Fratze vermutete, klaffte wahrhaftig die Borke auf. Ein dunkles Loch gähnte mich an. Während ich zurückprallte, sprang mich ein grausiger Schrei an. Und von oben prügelten Äste wütend und schmerzhaft auf mich ein. Ich beendete den Spuk mit sausenden Hieben. Die Geisterbäume wurden danach noch vorsichtiger mit ihren Attacken. Sie schienen untereinander in geheimnisvoller Verbindung zu stehen. Als seien sie ein einziges Ganzes, ein unbegreiflicher Organismus. Es sprach sich herum, daß ich mich meiner Haut zu wehren wußte. Oder die dämonische Kraft, die die Bäume lenkte, sann auf eine wirkungsvollere Methode, mich in die Flucht zu schlagen oder ebenfalls verschwinden zu lassen. Die letzte Möglichkeit gefiel mir überhaupt nicht. Denn was Holeman im Nervenfieber ausgesagt hatte, fand ich in zwei wesentlichen Punkten bestätigt. Die verhexten Bäume hatten auch meinen MG angegriffen, was bewies, daß sie tatsächlich die zwei Fahrzeuge demoliert hatten. Und sie prügelten mit ihren Ästen unbarmherzig auf mich ein. Holemans Fieberphantasien waren bisher von der Wirklichkeit bestätigt worden. Der Mann hatte weder übertrieben, noch hatte er wirre Gedanken von sich gegeben. Er hatte nur die schreckliche Wahrheit berichtet, 66
und die nahm ihm kaum jemand ab. Seine Ärzte bestimmt nicht. Ich ja. Ich zweifelte auch nicht mehr daran, daß es den Schwarzen gab und diesen grauenhaften Brunnen mit den aufgespießten Köpfen. Meinen Kopf wollte ich jedenfalls nicht auf einen Pfahl gesteckt sehen. Deshalb war ich vorsichtig, als ich mich weiter vorpirschte. Die Bäume rückten näher zusammen. Mir kam es vor, als wollten sie mir den Zutritt zu einem bestimmten Teil dieses Geisterwaldes verwehren. Da hörte ich den Schrei. Nicht von einem Baum. So schrie ein Mensch in höchster Todesangst! * Ich hatte keine Orientierung, denn der Weg war auf ebenso geisterhafte Weise verschwunden, wie die Gruselbäume zum Leben erwacht waren. Außerdem hatte ich eine Schrecksekunde zu verkraften. Aber dann langte ich mit dem Krif hin. Und nicht zu knapp. Ich teilte sausende Hiebe aus, daß die Rindenfetzen wie Hobelspäne flogen. Ein Röhren und Knurren begleitete jeden Schlag. Zwischen den Bäumen erspähte ich einen Durchschlupf. Ich zwängte mich hindurch und kassierte einen Asthieb seitlich gegen den Kopf, daß ich fürchtete, mein Ohr sei abgerissen. Ein Griff überzeugte mich, daß es noch mir gehörte. Aber es blutete und schmerzte höllisch. »Hierher!« brüllte ich. »Hier ist eine Lücke. Kommen Sie hierher, wer immer Sie sind!« Ein Schrei im Duett antwortete mir. Einer aus unverkennbar weiblicher und einer aus männlicher Kehle. Mir gingen allerlei sonderbare Gedanken im Kopf herum. Wie kamen eine Frau und ein Mann in den Geisterwald? Das konnte auch eine üble Falle sein. 67
Aber das Risiko gehört schließlich zu meinem Leben, und ich hatte noch nie mit dem Daumen im Mund dabeigestanden, wenn jemand in höchster Not war. Ich hackte nach den Ästen, die mich am Weiterkommen hindern wollten. Der schwarze Holzstiel des Krif wurde glitschig, so sehr schwitzte ich. Nicht bloß von der körperlichen Anstrengung. »Wo sind Sie?« rief ich. Und damit die Frau und der Mann einen Anhaltspunkt hatten, hob ich die Taschenlampe und beschrieb Kreise über meinem Kopf, während ich neue Angriffe parieren mußte. Ein klägliches Licht blinzelte vor mir in der rabenschwarzen Nacht auf. Es schwankte hin und her, aber es kam nicht näher. »Um Gottes willen, helfen Sie uns, sie haben Russ gepackt!« gellte die Frauenstimme zu mir her. Ob das das Licht war, das mich in den Wald gelockt hatte? Blödsinn, sagte ich mir, es ist zu tief am Boden, du hast es vom Dorf aus gar nicht sehen können! Es ist ein anderes Licht! Ich stürzte los und kurvte um die Bäume herum wie ein Slalomläufer. Einige Bäume schienen mir regelrecht den Weg verstellen zu wollen. Für Sekunden verlor ich das dünne Licht aus den Augen. Dafür hörte ich ein gehässiges Lachen. Und dann wieder einen Schrei, der bewirkte, daß es meinen Magen zu einem Klumpen zusammenzog. »Ich komme!« rief ich keuchend. »Halten Sie aus!« Das Licht tauchte wieder in meinem Blickfeld auf, aber es schien weiter entfernt zu sein als zuvor. Es sah so aus, als würde es überhaupt rasend schnell davonschweben. Ich merkte zu spät, daß ich in eine magische Falle gerannt war. Selbst die Bäume rückten mit atemberaubender Geschwindigkeit von mir ab. Ich war isoliert. Ein grauenhafter Zauber hatte mich in seinen Bann gezogen. 68
Ich mochte rennen, so schnell ich wollte, ich holte das Licht und die Bäume nicht ein. Deshalb gab ich auf. Keuchend und mit hängenden Armen stand ich da und war am Ende meiner Weisheit. Ich kannte den fremden Zauber nicht, ich merkte nur, daß er wirkte. Böse Gedankenströme stürmten auf mich ein. Sie waren so fremd wie das Phänomen der sich ausbreitenden Leere um mich herum. Fremd und gewalttätig. Wie vom anderen Ende der Welt hörte ich wieder, einen Schrei, dünn und verzweifelt. Ich hätte heulen können vor ohnmächtiger Wut. Dann fiel mir der Hexenkreis ein. Ich hatte ihn einmal praktiziert, mit ganz annehmbarem Erfolg, ohne daß es eines Hinweises von Miriam bedurft hätte, der Hexe aus Soho, mit der ich befreundet bin. Ich bückte mich blitzschnell und zog mit dem Krif einen Kreis um mich. Eine der Beilklingen schnitt tief in den Boden. Ich ließ die Rillen übereinanderlaufen, damit der Kreis auch wirklich geschlossen war. Dann kauerte ich mich hin, legte Krif und Taschenlampe zwischen meine Füße, bildete mit Zeige- und Mittelfinger jeder Hand ein magisches Symbol, schloß die Augen und sprach einen schaurigen Dämonenzauber. Noch vor hundert Jahren wäre ich dafür mit dem Kirchenbann belegt worden, und zweihundert Jahre eher wäre ich auf den Scheiterhaufen gekommen und als Ketzer eingeäschert worden. Dabei stellt dieser Zauberspruch keineswegs eine Gotteslästerung dar. Er ruft nur die Urkräfte an und die Mächte der Natur mit all ihren Daseinsformen. Ein Ächzen und Krachen und Prasseln dröhnte in meine Ohren. Ein Ruck stieß mich fast vornüber. Ich riß die Augen auf. Die magische Falle war gesprengt, die gräßlichen Geisterbäume 69
waren wieder da und zielten mit ihren Ästen nach mir. Ich sah auch das zaghafte Licht voraus wieder. Mein Zauberspruch hatte die erwünschten Kräfte freigesetzt, sie waren mit dem dämonischen Bann kollidiert, nichts anderes. Die Kräfte hoben sich gegenseitig auf. Ich schnellte hoch, hieb mir Bahn und stürmte dem Licht zu. Je näher ich kam, desto intensiver wurde die mediale Gewalt, die mein Gehirn auffing. Ich fürchtete, der Schädel müßte mir platzen. Deshalb blockierte ich die Sinne, die meine ›Gabe‹ darstellen. Sofort wich der peinigende Druck aus meinem Kopf. Ich zählte die Sprünge nicht, vielleicht waren es hundert oder auch zweihundert. Irgendwo prasselte ein schwerer Körper durchs Unterholz, ganz in meiner Nähe. Mein Taschenlampenstrahl zuckte in die Richtung. Ein grauenvoll verzerrtes Gesicht würde aus der Dunkelheit gerissen. Das Gesicht eines jungen Mannes. Von einem Dämon hatte er nichts an sich, und unirdisch sah er auch nicht aus. »Hierher!« rief ich japsend. Er zögerte nicht, er stürmte heran. Seine Kleidung sah aus, als hätte er damit den Wald geputzt. Sie war schmutzig und zerrissen. »Er – er hat sie – alle beide!« keuchte er mir entgegen. »Wer ist beide? Wer sind Sie? Und wer ist er?« »Der Schwarze! O Gott, er hat Mandy! Und Russ wird von Ästen erdrosselt – Russ Miller!« Ich kannte niemand, der so hieß. Mandy war ein Frauenname. Also hatte Mandy vorhin so gellend geschrien. Und der Schwarze hatte sie! »Bleiben Sie dicht hinter mir!« forderte ich den jungen Mann auf und lief weiter. Er beherzigte meinen Ratschlag, ich hörte ihn hinter meinem Rücken keuchen. Zweimal stolperte er und fiel gegen mich. Seinen Namen wußte ich immer noch nicht. Darauf kam es jetzt 70
aber auch nicht an. Für gesellschaftliche Artigkeiten war wahrhaftig nicht die Zeit. Das dünne Licht rührte von einer Taschenlampe her, die auf dem Boden lag. In der Nähe gewahrte ich aber noch ein anderes Licht. Es war fahl und unwirklich. Mir stockte der Atem, als ich sah, wovon es ausging. Ein Brunnen! Ein abgrundtiefes Erschrecken fuhr mir in die Knochen. Ich kannte aus dem Bericht Holemans Angaben. Etwas zu lesen und es mit eigenen Augen zu sehen ist etwas anderes. Eine grauenhafte Dämonengestalt, die ebenfalls diffus leuchtete, schwebte bei dem Brunnen und spießte gerade einen Menschenkopf auf einen Pfahl. »Russ!« schrie hinter mir der junge Mann. »Es ist Russ – sein Kopf!« * Ich biß auf die Zähne, daß es knirschte. Ich war zu spät gekommen. Der grausige Dämon hatte wieder ein Opfer gefunden. Es war einer aus der Schattenwelt, ich spürte es. Er ließ sich gar nicht stören. Er schwebte wenigstens drei Schritte über dem Boden zwischen den Pfählen, von denen mich ausgeblutete Köpfe anstarrten. Manche waren mit dem Ausdruck unendlichen Grauens erstarrt, andere zeigten friedliche Züge, als sei der schreckliche Tod im Schlaf zu ihnen gekommen. Parrs seltsame Worte von den Römern fielen mir ein. Der Dämon schien wirklich seit unendlichen Zeiten schon hier den Menschen aufzulauern. Denn ich entdeckte Köpfe mit römischen Soldatenhelmen. Aber auch andere, bärtige, mit schulterlangem Haar. Vielleicht waren das Scotenkrieger gewesen, Kelten, Angeln, Sachsen. 71
Normannische Eisenhelme sah ich ebenso wie mittelalterliche Barette, höfische Federhüte aus der Tudor-Zeit und Zylinder aus der jüngsten Vergangenheit. Nicht nur Männer waren dem Dämon in die Finger gefallen. Ich sah auch Frauenköpfe, junge und alte. Mir wurde schlecht. »Da – sehen Sie doch!« schrie der junge Mann hinter mir gequält auf. Er packte meine linke Hand und bog sie, bis der Lichtstrahl einen dieser Geisterbäume erfaßte. Von Ästen umschlungen sah ich ein blaues Bündel am Stamm stehen. Es wurde regelrecht festgehalten. Das Bündel identifizierte ich als einen blauen Schlafsack. Er enthielt einen Körper. Aber nur den Rumpf. Der Kopf fehlte. Dieser steckte auf einem Pfahl. Russ Miller hatte ein schreckliches Ende gefunden. Eine Bewegung am Rande der Lichtbahn ließ mich noch einmal zusammenfahren. Ich richtete den Kegel weiter nach rechts. Erst begriff ich gar nicht, denn dort kämpften zwei Gestalten miteinander. Lautlos und gespenstisch. Kämpfen war wohl auch übertrieben. Denn eine Gestalt hielt eine andere gepackt und hinderte sie daran, wegzulaufen. Diese andere Gestalt wehrte sich verzweifelt. Ein Arm lag um ihren Hals und schnürte ihr die Luft ab. Jetzt entdeckte ich, daß es eine Frau war. Noch ziemlich jung. Ich kriegte fast noch einen Schock mit. Denn jetzt geriet für Sekunden die andere Gestalt voll ins Licht. Ich sah einen weiten schwarzen Umhang, lange weiße Haare – aber kein Gesicht. Zum Teufel, ich hatte es offensichtlich mit zwei Dämonen zu tun! Mein Blick zuckte zum Brunnen. Dann verstand ich. Das schwebende Wesen war die Erscheinung, die aus dem Brunnen gestiegen sein mußte, und der Gesichtslose war der Schwarze! Zwei Gegner. Damit hatte ich nicht gerechnet. 72
Mein Licht behagte dem Schwarzen offenbar nicht, er versuchte, die junge Frau tiefer zwischen die Geisterbäume zu zerren. Ich merkte, daß die Äste nicht auf ihn einprügelten. Im Gegenteil, sie bogen sich vor ihm und seiner menschlichen Beute zur Seite. »Loslassen!« schrie ich, schwang den Krif und stürzte auf ihn los. Ich hoffte, daß der junge Mann hinter mir halbwegs die Nerven behielt und bei mir blieb. Ich mußte der jungen Frau helfen, die befand sich in allergrößter Gefahr. Die verdammten Äste schützten den Schwarzen. Sie peitschten sofort auf mich ein. Ich erwischte einen Schlag vor die Stirn, daß ich ein kostenloses Feuerwerk genoß und ein ganzes Dudelsackorchester in meinem Kopf musizieren hörte. Der junge Mann kriegte auch einiges ab. Er schrie auf. Aber dicht hinter mir. Das war mir eine gewisse Beruhigung. Im Vorbeilaufen hieb ich den Krif in die Äste, die den kopflosen Körper und den Schlafsack in aufrechter Stellung hielten. Mit einem scheußlichen Krachen sprangen die Äste auseinander, das schaurige Bündel kippte zur Seite in die Dunkelheit. Mit Panthersätzen flog ich auf den gesichtslosen Schwarzen zu. »Dir werde ich helfen, du teuflische Mißgeburt!« schrie ich und holte aus. Ich hoffte, der Schwarze würde die Frau loslassen oder mir entgegenschleudern, um mich zu stoppen. Er dachte nicht daran. Ich hörte sein böses Kichern. Er wirbelte die Frau herum und hielt sie als Schutzschild zwischen sich und mich. Ich konnte meinen Hieb mit dem Krif gerade noch abbrechen. Die Augen der jungen Frau waren weit aufgerissen, das nackte Entsetzen leuchtete aus ihnen. Mein Lichtstrahl griff zum Kopf des Schwarzen. Ich hatte noch nie einen Gesichtslosen gesehen, nur von ihnen gehört. Es war wie ein Schlag in den Magen. Die weißen langen Haare schienen einfach in der Luft zu schwe73
ben. Sie markierten einen Schädel und seine Umrisse, aber den Kopf sah ich nicht. So wenig wie das, was vielleicht anstellte eines Gesichtes vorhanden war. Da klaffte einfach ein schwarzes Loch, durch das das Licht hindurchglitt. Ich zweifelte an meinem Verstand. Aber nicht lange. Aus dem schwarzen Loch drang ein Kichern und dann eine heisere wutgeladene Stimme: »Töte ihn, pflanze seinen Kopf auf einen Pfahl! Er hat die Hand gegen meinen Wald erhoben, er tötet meine Bäume. Bringe ihn um, er soll es büßen. Alle sollen büßen! Sie kommen nur, um mir den Wald zu stehlen! Bringe sie alle um, ihn und den anderen und die hier!« Der Schwarze hatte ja einen Vogel! Ich war nicht gekommen, um seinen oder überhaupt einen Wald zu stehlen. Gegen seine verdammten Geisterbäume hatte ich mich nur gewehrt. Aber er sah das anders. Und die jungen Leute waren bestimmt auch nicht als Forstschädlinge gekommen. Der Kerl betrachtete offensichtlich jeden, der seinen Fuß in den Wald setzte, als seinen Feind. Und dem hetzte er den Dämon aus dem schrecklichen Brunnen im wahrsten Sinne auf den Hals. In diesem Augenblick nämlich mir. Ich hatte dem Schwarzen eine Sekunde zu lang zugehört. Erst als er den Befehl zum Töten gab, begriff ich. Der verdammte Dämon sollte aber nicht nur mich umbringen, sondern auch den jungen Mann bei mir. Und die junge Frau, wenn ich den Schwarzen richtig verstanden hatte. Ich schnellte herum. Keinen Augenblick länger hätte ich zögern dürfen, denn die dämonische Erscheinung schwebte mächtig flott heran. Dieses Gleiten hatte etwas Majestätisches. Bloß war die Situation nicht danach, diese aeronautische Glanzleistung gebührend zu bewundern. Hier ging es um Köpfe, nicht um Ästhetik. 74
Der Schwarze war ein ausgekochter Lumpenhund, eine Bestie, deren Gesicht man einzusetzen vergessen hatte. Er hatte gemerkt, daß ich ein Werkzeug besaß, mit dem ich seinen Geisterbäumen ganz schön zuzusetzen verstand. Wahrscheinlich hatte er mich auch mit dem Krif herumholzen sehen. Oder er hatte es gespürt – weil er mit seinen verhexten Bäumen in Verbindung stand. Denn daß er sie steuerte, war mir klar. Ich war die größte Gefahr. Samt dem Krif. Deshalb hetzte er den Brunnendämon zuerst auf mich. Das war ein geschickter Schachzug. Denn solange mich der Dämon beschäftigte, konnte ich ihm selber nicht aufs Fell rücken, falls er überhaupt eines besaß. Und daß ich über seinen Zauber mehr, wußte und von seinem Hexengeschäft mehr verstand als vermutlich alle seine Opfer, hatte er daran gemerkt, daß ich seine magische Falle mit meinem magischen Kreis und einem Zauberspruch gesprengt hatte. Ich war ihm gefährlich, deshalb mußte ich zuerst dran glauben. Das war eine logische Schlußfolgerung, die auch für ihn Gültigkeit hatte. Ich vermutete stark, daß er sich mit der jungen Frau erst mal in den Schutz seiner Geisterbäume verdrücken wollte, bis ich ausgeschaltet war. Danach sollte sein Brunnendämon grausige Kopfernte halten. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als ich ihn schon den Rückzug antreten sah. Er schleppte die Frau mit sich und benützte sie immer noch als Schutzschild. Er traute mir nicht. Für die Frau konnte ich im Moment gar nichts tun. Ich mußte mich dem Dämon stellen. Denn wenn er mich erwischte, war sie unrettbar verloren. Und der junge Mann ebenso. Der stand da wie zur Salzsäule erstarrt und gab nur quiekende Töne von sich. Der Anblick der heranschwebenden Erscheinung lähmte ihn. Ich packte ihn und stieß ihn aus dem Weg. Wenn ich schon kämpfen mußte, dann wollte ich wenigstens das 75
Terrain selber bestimmen. Ich leuchtete den Boden ab. Der war überall gleich schlecht. Nämlich von langem Gras und Bruchholz bedeckt. Ich mußte höllisch aufpassen, daß ich mich da nicht mit den Füßen verhedderte. Mutig richtete ich den Taschenlampenstrahl auf das unbegreifliche Wesen aus dem Schattenreich. Es war gut, daß ich schon Bekanntschaft mit Dämonen gemacht hatte. Deshalb fiel ich nicht ohnmächtig aus den Schuhen. Der Dämon hatte ähnlich langes weißes Haar wie der Schwarze. Aber er hatte ein Gesicht. Und was für eines! Die Augen schienen Feuer zu sprühen, die Nase erinnerte mich fatal an den klobigen Zinken des Schwarzweltboten Likkat, die Krallenhände schien er sich bei einem Echsendämon ausgeborgt zu haben. Das erschütterte mich alles nicht sehr. Was mich bedenklich stimmte, war ein schartiges Messer von mörderischer Größe. Das Ding hatte die Abmessungen eines Schwertes. Und er hielt es wie ein Küchenmesser. Ich fürchtete, daß er über mörderische Kräfte verfügte. Ich sprang weit genug vom nächsten Baum weg, um nicht Gefahr zu laufen, von den Ästen behindert oder gar eingefangen zu werden. Der schwebende Brunnendämon vollführte die Bewegung mit. Er griff mich frontal an. Ich wollte den Krif nicht werfen, ich war mit der uralten Waffe immer noch nicht vertraut genug. Wenn das Drei-Klingen-Beil fehl ging, verschwand es irgendwo in diesem verteufelten Geisterwald und in der Dunkelheit, und da konnte ich lange suchen, bis ich es wiederfand. Vorausgesetzt, der Dämon ließ mir überhaupt Zeit zur Suche. Auf einen glücklichen Wurf wie im Haus des Lordrichters Copeland kürzlich verließ ich mich lieber nicht. Denn hier war ich gänzlich von einer feindlichen Umwelt umgeben. Oder militärisch ausgedrückt, ich war umzingelt. 76
Aber meist kommen einem in einer solch bedrohlichen Situation die besten Einfälle. Deshalb wartete ich nicht ab, bis der Brunnendämon mit seinem Schwertmesser nach meinem Hals stach. Ich ging meinerseits zum Angriff vor. Weil der Kerl so hoch in der Luft schwebte, schlug ich einfach dahin, wo ich seine Beine vermutete. Sein flatternder schwarzer Umhang war mindestens zehn Nummern zu groß ausgefallen und wallte noch weit über die Füße herab. Der Dämon parierte meinen Hieb blitzschnell mit dem Schwertmesser. Beide Waffen klirrten aufeinander. Ein greller Blitz zuckte auf. Ich kriegte was ab und war für einen Moment geblendet. Feindliche Kräfte waren gleich Energien aufeinandergetroffen, klar, daß es zu einer Entladung kam. Ich glaubte an den Krif und vor allem daran, daß er eine Wunderwaffe war und daß er das grausige Messer des Dämons glatt durchtrennt hatte. Der Zahn wurde mir schnell gezogen. Das Schwertmesser war eine gleichwertige Waffe. Nur mit dem Unterschied, daß sie das Böse verkörperte. Sie war nicht entzwei. Bevor ich richtig gucken konnte, führte der Dämon schon einen sausenden Hieb nach meinem Hals. Instinktiv riß ich den Krif hoch. Höchstens handbreit vor meinem Kinn krachten die Waffen zusammen. Das Klirren klang schaurig in meinen Ohren, der Blitz durchdrang noch meine Lider, die ich geistesgegenwärtig zukniff. Ich sprang zurück und holte zu einem wirbelnden Hieb aus. Ich zielte auf die Krallenhand. Wenn ich die dem Kerl abschlug, fiel das Schwertmesser zu Boden. Der Dämon senkte blitzschnell die Messerspitze. Ich traf nur die Waffe und spießte mir fast die Hand an ihr auf. Meine unerwartete Gegenwehr schien das Wesen aufs äußerste 77
zu reizen. Plötzlich stieß es ein gräßliches Gebrüll aus, stieg hoch in die Luft und ließ sich wie ein Kartoffelsack herabplumpsen. Ich wich zur Seite, und dabei blieb ich mit dem linken Fuß unter einem abgeschlagenen Ast stecken und stand wohl mit dem rechten Fuß auch noch drauf. Jedenfalls stürzte ich zu Boden. Geistesgegenwärtig rollte ich mich zweimal um meine Achse. Nur erst mal weg, schoß es mir durch den Kopf. Sonst hüpft der entsetzliche Kerl auf dich drauf und schneidet dir den Kopf ab! Mein Taschenlampenstrahl zitterte irgendwo in der Gegend herum, nur nicht da, wo ich ihn brauchte. Aber zum Glück hatte ich die Lampe nicht verloren. Ich hielt den Krif über mich, um den nächsten Angriff abzuwehren. Aus den Augenwinkeln sah ich den jungen Mann. Er war immer noch wie versteinert, er befand sich an dem Fleck, an den ich ihn hingeschubst hatte. Der Dämon griff ihn hoffentlich nicht an. Mit nackten Händen hatte er dem Wesen aus dem Schattenreich der Dämonen nichts entgegenzusetzen. Mein Lichtstrahl zuckte über ihn hin. Von dem Dämon hatte er vorerst wohl nichts zu befürchten, um so mehr von den Geisterbäumen und ihren verfluchten Ästen. Die griffen nämlich nach ihm. Er schien es überhaupt nicht zu bemerken. Er war fast schon eingeschlossen. »Passen Sie auf!« schrie ich. »Die Äste!« Ob er reagierte, konnte ich nicht verfolgen. Der Dämon hatte seinen Fehlsprung aus der Höhe korrigiert und machte sich über mich her. Ich lag immer noch am Boden. Das war wenigstens ein Lichtblick und rettete dem jungen Mann wahrscheinlich das Leben. Dafür bekam ich alle Hände voll zu tun. Zwei sausende Hiebe konnte ich abwehren. An das berstende Zusammenkrachen der Waffen hatte ich mich schon gewöhnt, an die Lichtblitze weniger. Der Dämon schwebte über mir, und ich mußte in Rückenlage kämpfen. 78
Einmal gelang es mir, aus der Verteidigung heraus den Krif an dem Schwertmesser vorbei in den Dämon zu schlagen. Allerdings spürte ich keinen Widerstand und wartete auch vergebens darauf, daß er sich jammernd zurückzog oder sonst etwas mit ihm passierte. Ich merkte auch gleich, warum. Ich hatte nur eine saubere Triangel in seinen schwarzen Umhang gerissen. Aber nun taktierte der Bursche vorsichtiger. Er merkte, daß er mich nicht einfach überrollen konnte. Vor allem aber, daß ich nicht vor Furcht bibbernd fast verging. Er schwebte zurück und versuchte, mich von der Seite zu packen. Ich schnellte hoch. Das harte Körpertraining, das zum Dienst beim Secret Service gehört, kam mir jetzt zustatten. Ich kam mit einer Beinwippe auf die Füße und durchbrach den Angriff des Dämons mit zwei scharf geschlagenen Hieben. . Er hatte wohl überhaupt nicht die Möglichkeit erwogen, in Bedrängnis zu geraten. Genau das trat aber ein. Ich nutzte augenblicklich meine Chance und ließ den Krif wirbeln. Hoch und tief kamen meine Hiebe. Dann zielte ich genau auf die Mitte seines Körpers. Mit außerordentlichem Geschick verhinderte er Treffer. Im letzten Augenblick brachte er immer seine Waffe zwischen den Körper und den Krif. Das Lärmen der zusammenkrachenden Waffen schwoll zu einem höllischen Konzert an. Die Entladungsblitze standen um den Körper des Burschen herum wie kleine Explosionen. Er brüllte wieder. Fast so schaurig wie Likkat. Man bekommt ein Ohr für die Geräusche der Wesen, die nicht von dieser Welt sind. Der Dämon war wütend. Das drückte sein Gebrüll aus. Mir tat schon der rechte Arm weh, aber ich biß die Zähne zusammen und wollte endlich einen meßbaren Erfolg verbuchen. Und was der Kerl konnte, schaffte ich auch. Ich stieß einen Schrei aus, der sich gewaschen hatte. Hätte ich ihn 79
in Whitehall losgelassen, hätte mir Sir Horatio die Freundschaft gekündigt, davon war ich überzeugt. Mit einem Ruck zog sich der Dämon ein paar Schritte zurück. Ich schöpfte schon Hoffnung, er schien beeindruckt. Das stellte sich rasch als Trugschluß heraus. Vielleicht ärgerte es ihn auch, daß ich genau so laut und gut brüllen konnte wie er. Er griff an. Und er schlug nicht zu, er stach auf mich los. Sein Arm wurde lang und länger. Es ging blitzschnell. Ich konnte gerade noch dem Messer eine andere Stoßrichtung geben. Die Klinge zischte haarscharf an der linken Seite meines Brustkorbs vorbei. Handbreit mehr nach innen, und sie hätte meine Herzspitze angebohrt. Das brachte mich in Rage. Ich bog den Oberkörper noch mehr zur Seite, verschaffte meinem rechten Arm Spielraum und haute mit dem Krif drein. Den Arm des Dämons traf ich nicht, der Schlag ging fehl. Blitzschnell riß die Erscheinung Arm und Messer zurück, aber ich war in Fahrt. Ohne Rücksicht auf Verluste griff ich an, immer wieder. Ich drängte den Dämon zurück. Er konnte sich nicht entfalten. Ein eigenartiger flötender Pfiff drang aus der Schwarze des Waldes. Genau zwischen zwei krachenden Schlägen. Ich hütete mich, den Kopf zu wenden oder meine wütende Attacke abzubrechen. Ich hatte nur den Verdacht, daß der Schwarze den Pfiff ausgestoßen hatte. Er war also noch in der Nähe. Mit der jungen Frau. Denn die sollte ja auch noch ein Opfer des Dämons und seines schrecklichen Messers werden. Der Pfiff war ein Signal. Bevor ich das mitkriegte, schwebte der Dämon zu dem schrecklichsten Ort dieses Geisterwaldes zurück – zu dem Brunnen. Er gab auf! Ich rannte keuchend hinterher und merkte jetzt, wie gewaltig mich der Kampf geschlaucht hatte. Ich war kurzatmig wie Robert 80
Stephensons erste Dampflokomotive. Aber aufgeben kam für mich nicht in Frage. Ich zwängte mich zwischen den grausigen Pfählen hindurch. Ich mußte verhindern, daß die Erscheinung sich in den Brunnen verflüchtigte. Von dort konnte sie jederzeit wieder hervorbrechen. Und neue Schreckenstaten für den Schwarzen vollbringen. Ich kam um ein Augenzwinkern zu spät. Der Krif säbelte zwar noch nach dem Dämon, aber der Kerl fiel wie ein Stein in die Tiefe. So sah es jedenfalls aus. Sofort beugte ich mich über den bröckeligen Steinrand und leuchtete. Ganz unten reflektierte dunkle Brühe das Taschenlampenlicht. Von einem Dämon keine Spur. Er hatte sich aufgelöst. Aber ich schätzte, daß er in diesem uralten Brunnen wohnte. Es gab keine Steigeisen, nur ein paar Löcher in den roh zurechtgehauenen Steinen. Vielleicht hatten darin mal Hölzer gesteckt. Früher war Eisen eine unschätzbare Kostbarkeit gewesen und viel zu schade, um in einen Brunnen eingebaut zu werden. Ungefähr mannshoch über der Wasseroberfläche entdeckte ich eine große gähnende Öffnung. Sie kam mir wie die Einmündung eines Ganges vor. Oder es handelte sich um die sogenannte Brunnenkammer. Vielleicht steckte der Dämon darin. Ich sah und hörte allerdings nichts von ihm. Ich hätte schon ein Seil haben müssen, um da runterzuklettern. Solange aber der Schwarze irgendwo im Geisterwald unterwegs war, grenzte das an vorsätzlichen Selbstmord. Der Bursche brauchte nur den Strick durchzusäbeln, und ich plumpste in den Brunnen. Was mir dort alles blühte, wollte ich mir lieber gar nicht erst ausrechnen. Ich spürte ein Ziehen und Zerren an den Beinen, daß ich entsetzt einen Sprung rückwärts machte. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich sah, womit mich der Dämon fast noch überlistet hätte. 81
Der Brunnen löste sich nämlich auf. Er verschwand. Um ein Haar hätte es mich mitgezogen. Die Steinumfassung wurde plötzlich durchsichtig, die Umrisse begannen unscharf zu werden. Dasselbe geschah mit den Pfählen, die so grausige Last trugen. Vorsichtshalber zog ich mich ganz aus dem Areal zurück und beobachtete nur, während ich allmählich wieder zu Puste kam. Auch die Häupter und Pfähle wurden transparent. Nach ein paar Sekunden waren sie ebenso verschwunden wie der Brunnen. Wenn man einen solchen Vorgang zum ersten Male erlebt, denkt man, den Verstand zu verlieren. Mir war es jedenfalls so ergangen. Aber im Laufe der Zeit hatte ich Erfahrung gewonnen. Mich grauste es nur noch etwas. Ein dumpfer Fall ließ mich herumfahren. Ich ließ den Lichtstrahl herumwandern. An dem Platz, an dem ich mit dem Dämon gekämpft hatte, lag eine menschliche Gestalt. Die Äste der Geisterbäume hieben erbarmungslos auf sie ein. Der junge Mann war der Umklammerung durch die Äste zwar entgangen, aber sie hatten ihn offensichtlich am Kopf getroffen. Vielleicht hatte er fliehen wollen. Ich zögerte. Dieser Schreckensbrunnen, der nicht mehr vorhanden war, stellte eine ständige Gefahr dar, denn jederzeit konnte er sich wieder auf tun und den Dämon entlassen. Ich sauste gebückt um den Platz herum und zog mit dem Krif eine tiefe Rinne in den Boden. Diese Markierung konnte auch der Schwärze nicht so schnell entfernen. Mir half sie, den Ort wiederzufinden. Sobald ich mir ein starkes Tau beschafft hatte. Dann mußte ich nur noch darauf lauern, bis der schreckliche Brunnen wieder erschien. Einen Bann zu sprechen hatte ich nicht die Zeit. Die verdammten Äste waren drauf und dran, den jungen Mann zu erschlagen. 82
Ich sprintete hinüber und fuhr wie ein Racheengel in das Gewirr der trommelnden peitschenden Äste. Mit sausenden Hieben kappte ich sie. Dann drehte ich den jungen Mann herum und setzte ihn mit einem harten Griff aufrecht. Er war im Gesicht gezeichnet. Blutige Risse zogen sich über Kinn und Wangenknochen. An seiner Stirn entwickelte sich eine respektable Beule. Er schaute mich an, als sei ich der Teufel selber. »Nun kriegen Sie sich wieder ein«, stieß ich derb hervor. Dabei tippte ich auf seine Beule. »Die können Sie für Geld herumzeigen, Unser Kopf ist noch drauf, das ist schließlich die Hauptsache« Seine Hand fuhr zum Hals, als wollte er sich lieber selber davon überzeugen. »Stehen Sie auf!« verlangte ich. »Geht es? Der Schwarze hat die Frau! Wir müssen versuchen, sie ihm abzujagen.« Es dauerte mir zu lange. Ich packte ihn am Kragen und stellte ihn auf die Füße. Für zarte Rücksichtnahme auf seine Gefühle war keine Zeit. Ich leuchtete zwischen die Geisterbäume. Von dem Schwarzen war nichts mehr zu sehen. Er war verschwunden. Mit ihm die junge Frau. Vielleicht drohte ihr ein noch schrecklicheres Schicksal als unter dem Schwertmesser des Brunnendämons. * Ich gab dennoch nicht auf. Als sich Sir Horatio mal mächtig über mich geärgert hatte, sagte er, ich sei der sturste Bock vom ganzen Service. So etwas verpflichtet schließlich. Ich wollte mir das nicht umsonst nachgesagt haben lassen. Deshalb faßte ich den jungen Mann am Arm und zerrte ihn mit mir. 83
Er schnappte nach Atem. »Sie leben«, redete ich ihm gut zu. »Das ist mehr, als vor ein paar Minuten noch zu erwarten war. Zum Henker, schwingen Sie die Beine! Überhaupt eine Schnapsidee, nachts in diesen verhexten Wald zu pilgern! Was Besseres ist Ihnen nicht eingefallen?« »Mann, wir wollten doch die Bäume schützen!« brach es aus ihm heraus. »Wir dachten doch, das Gerede von einem Geisterwald sei alles nur Bluff.« »Da sehen Sie, was beim Denken alles herauskommt. Umweltschützer, was?« knurrte ich. »Ich gehöre der Robin-Wood-Bewegung an«, sagte er. »Von einem Geisterwald steht nichts in Ihren Satzungen, wetten? Bleiben Sie jetzt mal stehen!« Wir waren ungefähr zwanzig Schritte weit gelaufen. Ich knipste die Taschenlampe aus. Angespannt lauschte ich und spähte in die Schwärze. Hören konnte ich nichts. Aber mir war, als würde in einiger Entfernung ein Licht schimmern. Das mußte das geheimnisvolle Licht sein, das mich überhaupt aus dem Dorf herübergelockt hatte. Ich zerrte den jungen Mann wieder neben mir her. Damit wir nicht unversehens was an die Birne kriegten, hielt ich den Krif mit ausgestrecktem Arm vor mich. Die Äste schienen mittlerweile zu wissen, was ihnen blühte, wenn sie mit einer Beilklinge in Berührung kamen. Sie ließen uns in Frieden. Oder der Schwarze war in Sicherheit und brauchte von ihnen nicht mehr geschützt zu werden. Ich sackte mit einem Bein in ein Loch und flog jämmerlich auf den Bauch. Der junge Mann packte es besser. Er schien Augen wie eine Katze zu haben, denn er sprang über die Vertiefung. Mit einem Fluch rappelte ich mich hoch und hastete weiter. Wir kamen dem Licht näher. Unvermittelt standen wir auf einer Art Lichtung. Ich hielt den 84
Atem an. Auf einem sanften Hügel erhob sich uraltes Gemäuer. Eine Burg war es nicht, aber irgendwie eine befestigte Anlage. An mehreren Stellen war eine Umfassungsmauer niedergebrochen. Die Lücken hatte man mit Flechtwerk geschlossen. Falls je einmal Dächer vorhanden gewesen waren, waren sie längst zusammengebrochen. Ein Tor bot Zugang zu dieser Anlage, die ich eher für einen befestigten Hof aus uralter Zeit hielt. Es gab keine Zinnen auf der Mauer. Aber einen Holzturm. Und von dort zwinkerte das Licht dur.ch ein Loch. Vielleicht war es eine Ausgucköffnung oder eine Fensterhöhle. Das Licht alarmierte mich nicht so sehr wie das Kratzen und Schleifen von Schritten irgendwo hinter der geflickten Mauer. Der Schwarze! Er schleppte die junge Frau immer noch mit sich, und er schien einige Mühe mit ihr zu haben. Ich zischte los, als hätte mich der Teufel in den Hintern gebissen. Noch stand diese Geisterburg, noch war sie sichtbar. Egal, was auch passierte, ich mußte drinnen sein, bevor sie verschwand. Dem Schwarzen wollte ich die Frau nicht überlassen. Und ich schätzte, daß ich mit dem Krif gegen den Schwarzen besser aussah als gegen den Brunnendämon. Vor meiner Waffe hatte er Angst oder wenigstens Respekt gehabt, Er hatte ja die Frau als Schutzschild benützt, damit ich ihm ja nicht zu nahe kam. Einen Weg oder so gab es nicht. Das Tor war einfach da zur gefälligen Benutzung. An dieser Anlage war einiges seltsam. Ich rannte den Erdhügel hinauf und sauste durch die Toröffnung. Weit hinter mir hörte ich einen verwehten Ruf. Den jungen Mann hatte ich in diesem Moment total vergessen. Mir ging es um die Frau, die war in allergrößter Gefahr. Er hatte sie hinter sich. Ein wenig für sich selber sorgen mußte er schon. Ich leuchtete in einen Hof, den ein paar ruinenartige Gebäude 85
umgrenzten. Groß waren sie nicht, was meine Vermutung bestätigte, daß die Anlage aus einer Zeit stammte, in der man noch keine steinernen Burgen kannte. Außerdem machte ich Flechtwerk aus, das man mit Lehm beiderseits beworfen hatte. Das waren die Mauern. Verdammt, wohin war der Schwarze verschwunden? Ich sah nichts von ihm und der Frau und ich hörte auch nichts. So leise es ging, überquerte ich den Innenhof und leuchtete in die Türlöcher der Ruinen oder einfach durch eine geborstene Wand. Nirgendwo entdeckte ich die Gesuchten. Ich erspähte aber auch keine Gerätschaften oder Werkzeuge. Wieder rief draußen am Rand der Lichtung der junge Mann. An seiner Stelle wäre ich mir auch einsam vorgekommen. Vor allem nach all dem Erlebten. Ich wandte mich von den Gebäuderesten ab. Es blieb eigentlich nur der Holzturm übrig. Der Innenhof wurde enger. Ich spitzte die Ohren und alle Sinne. Solche dunklen Winkel waren wie geschaffen für einen blitzschnellen Überfall. Und ich wußte nicht, welche höllischen Überraschungen der Schwarze noch bereit hatte. Ich stieß auf eine halbe Einfassung ähnlich dem Brunnenrand drüben im Geisterwald. Uralte Holzplanken lagen darauf. Und Erdreich. Es war von einer Anschüttung herabgerollt, die die andere Hälfte der Einfassung verbarg. Der kleine Erdhügel stieg weiter an. Und darauf war der Holzturm gegründet. Vier mächtige Stämme waren in den Boden gegraben. Die stellten das Gerüst dar. Ich sah eindeutige Spuren dafür, daß einmal Feuer an die Stämme gelegt worden war. Aber sie hatten standgehalten. Meine Beobachtungen ergaben jetzt zusammen ein besseres Bild. Um diesen befestigten Hof war einmal gekämpft worden. Bestimmt nicht im Geisterreich, in das das Gut mittlerweile entrückt war. Anhaltspunkte dafür, wer einst hier gelebt hatte und wer die Angreifer waren, fand ich so wenig wie eine Spur von dem Schwarzen 86
und der Frau. Ich kletterte auch noch die Anschüttung hinauf zwischen die Stämme und leuchtete in den Turm hoch. Er mochte so eine Art Ausguck darstellen. Oder die. letzte Zuflucht, in die sich die Bewohner beim Angriff gerettet hatten. In dreifacher Mannshöhe befand sich ein Boden mit einem Loch. Von da ab war der Turm außen mit Flechtwerk und rohen Balken verkleidet. Er war viereckig. Das ganze Bauwerk machte einen primitiven, wenn auch sehr zweckmäßigen Eindruck. Ich versuchte durch das Loch zu spähen. Eine Gänsehaut kroch mir den Rücken herauf. Im Turm brannte immer noch das Licht! Der Eindruck des Zwinkerns entstand durch eine offene Flamme. Das wollte ich nun doch genau ergründen. Ich hängte den Krif in den Hosengürtel und nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne. Dann kletterte ich an einem angekohlten Stamm hinauf. An das Loch kam ich nicht heran. Oder ich hätte unter dem Bretterboden herwandern müssen wie eine Fliege an der Stubendecke. Das konnte ich wirklich nicht. Eine Leiter, die den Aufstieg viel einfacher gemacht hätte, war nicht da. Also arbeitete ich mich hoch, bis ich in das Flechtwerk packen konnte. Mit einem mächtigen Armzug hievte ich meinen Körper nach, verschaffte meinen Füßen einen halbwegs sicheren Stand und hackte mit dem Krif ein Loch in die Turmwand. Bevor ich hineinkroch, leuchtete ich erst mal. Es hielt sich niemand in dem Turmraum auf. Aber es gab noch eine Etage darüber. Dort flackerte das Licht. Eine Fackel brannte. Die zuckende Flamme schuf ein groteskes Spiel von Licht und Schatten, daß ich fast geneigt war, tanzende Gestalten zu sehen. Vorsichtig kroch ich hinein. Drinnen stabilisierte Balkenwerk den Turm. Weil keine Leiter höher hinaufführte, schwang ich mich an 87
diesem Balkenwerk hinauf. Es lag so gut wie kein Staub auf dem Holz. Das veranlaßte mich zu der philosophischen Frage, ob es im Geisterreich nicht staubte. Ich balancierte auf einem Balken und griff gerade nach einem anderen, um mir etwas mehr Halt zu verschaffen, als ich die Gestalt sah! * Unzweifelhaft eine menschliche Gestalt. Aber völlig heruntergekommen, mit Lumpen bekleidet und langen strähnigen Haaren am Kopf. Sie kehrte mir den Rücken zu und rührte sich nicht. Dabei war ich beim Heraufklettern wirklich nicht leise zu Werke gegangen. Ich machte einen großen Schritt auf den nächsten Balken hinüber. Wie alle war er nur grob bearbeitet und in keinem Fall mit einer Säge. Vorsichtshalber zog ich den Krif aus dem Hosengürtel. Die Fackel brannte in einem eisernen Halter, der an einer Kette herabhing. Sie qualmte ganz prächtig. Der Rauch roch nicht nach Pech, sondern eindeutig nach Baumharz. Etwas an der Fackel störte mich. Ich betrachtete sie argwöhnisch. Und dann wußte ich es. Ich hatte ihr zwinkerndes Licht doch schon von meinem Zimmer im ›Einhorn‹ aus gesehen. Inzwischen war eine hübsche Zeitspanne vergangen. Sie brannte jedoch immer noch an der Spitze, als sei sie eben erst angezündet worden! Das ging so wenig mit rechten Dingen zu wie das geisterhafte Auftauchen dieses alten befestigten Gutes mit dem Holzturm. Der reglosen Gestalt dort unter einem länglichen Schlitz in der geflochtenen Turmverkleidung mißtraute ich auch. »He, wer sind Sie?« fragte ich. Es war möglich, daß meine Stimme 88
nicht besonders fest klang. Kunststück, wo ich mich doch auf geisterhaftem Gelände befand! Ich erhielt keine Antwort. Deshalb leuchtete ich. Die Taschenlampe hatte ich aus dem Mund genommen. Die Gestalt kauerte auf einem Balken. Und sie war angekettet. An den Beinen, an den Armen, und eine Kette lief zum Kopf hoch und verschwand unter dem langen strähnigen Haar. Mir wurde es anders. Die Gestalt trug selbst noch um den Hals eine Eisenfessel! Solche Ketten hatte ich noch nie gesehen. Sie waren derb und einfach gemacht, aber dick und haltbar. Die Gestalt bewegte sich noch immer nicht. Deshalb tastete ich mich Schritt für Schritt auf einem schmalen Balken hinüber. Wenn ich das Gleichgewicht verlor, haute es mich ungespitzt hinunter. Dem rohen Bretterboden ein Stockwerk tiefer traute ich nicht viel zu. Wahrscheinlich krachte ich durch und fand mich mit verbogenen Knochen unten auf dem angeschütteten Erdhügel wieder. Ein sehr trostreicher Ausblick war das nicht. Aufatmend erreichte ich die Turmwand und erhaschte einen Blick aus dem Schlitz. Jenseits des Geisterwaldes blinkten in der Ferne die Lichter von Bardon Mill. Die Lichtung rings um das Gehöft sah ich nur andeutungsweise. Und von dem jungen Mann überhaupt nichts. Ich vermutete allerdings, daß das Tor auf der anderen Seite lag. Ein schauerliches Ächzen ließ mich derart zusammenfahren, daß ich fast noch den Halt verlor und abwärts sauste. Ich preßte den Rücken gegen das Flechtwerk der Turmwand, daß es bedenklich darin knackte und knisterte. Das Zeug war morsch wie ein alter Sargdeckel oder sonstwas. Im ersten Schrecken dachte ich natürlich, daß sich der Schwarze an mich herangepirscht hatte. 89
Aber von dem war nichts zu sehen. Ich war mit der angeketteten Gestalt allein. Vorsichtig schob ich mich an der Turmwand weiter, bis ich den stummen Turmbewohner halbwegs von vorne sah. Ein Toter! Das dachte ich jedenfalls zuerst. Sein Gesicht war geschrumpft und ausgetrocknet und spannte sich wie Pergament über die Knochen. Ein zotteliger Bart hing von Kinn und Wangen. Eine grauenvolle Narbe zog sich vom linken Haaransatz über das Schrumpfgesicht zum rechten Kinnwinkel. Die halbe Nase war weg. Mir sah das nach einem Beilhieb oder einem Schwertstreich aus. Nichts rührte sich an der Gestalt – bis auf die Augen. Die lebten. Denn sie schauten mich an. Mein Blick glitt blitzschnell über die Gestalt. Ich hatte einen Mann vor mir, das war klar. Seine Hände waren genau so vertrocknet wie das Gesicht. Die Füße steckten in grob zusammengenähten Rohlederfetzen, an denen noch Fellreste hafteten. Das Beinkleid war aus rohem Wolltuch gemacht. Ohne daß es mir jemand sagte, wußte ich mit einem Schlag, daß ich einen Bewohner dieses Landes vor mir hatte aus der Zeit, bevor noch die Römer aus Britannien eine Kolonie gemacht hatten. Der Mann war ein Pikte oder ein Scote. Davon ließ ich mich nicht abbringen. Außerdem wunderte ich mich über gar nichts mehr, was ich im Zusammenhang mit dem Geisterwald und dem Schwarzen erlebte. Unverwandt starrten mich die Augen des vertrockneten Mannes an. Sie waren uralt. Älter als die Augen von Miriam. Mühsam bewegte er den Kopf und dann die Lippen. Der mächtige Bart zuckte, das Pergamentgesicht verzog sich, daß ich fast meinte, das Knistern der Haut zu hören. Ein Röcheln kam über die Lippen. Dann folgten Worte, die ich nicht verstand. Sie klangen aber verdächtig nach dem Kymrischen, 90
wie es in Wales gesprochen wird und wo es seit wenigen Jahren auch wieder Amts- und Rechtssprache ist. Ein hoffnungsvoller Ausdruck trat in die Augen. Ich lächelte hilflos und hob die Achseln. »Tut mir leid, ich kann Sie nicht verstehen. Wer sind Sie?« Seine Lider sanken nieder, als müßte er nachdenken. Das fleischlose Gesicht war nicht imstande, einen Ausdruck zu zeigen. Wieder zitterte der Bart, der trockene Mund klaffte auf. Ich setzte meine ›Gabe‹ ein, aber ich spürte keine Gedankenströme. Nach einer ganzen Weile sagte der Mann in einem leidlich guten Englisch; »Ich bin Dwynn von Monnyngfyar.« Es war gut, daß ich mit dem Rücken einen Halt hatte. Sonst wäre ich doch noch vom Balken gepurzelt. »Ich bin Mac aus London.« Ich machte eine ausholende Handbewegung. »Ist das Monnyngfyar?« »Monnyngfyar ist weit«, sagte er rasselnd. »Wo die Sonne untergeht. Hier ist mein Hof. Ich habe ihn mit meinen Händen erbaut.« Das glaubte ich ihm sogar. »Du sprichst meine Sprache. Woher?« »Manchmal flüchten Menschen hierher. Mit den meisten konnte ich sprechen. Daher. Aber er hat sie gefunden. Er findet alle.« Er erschauerte. »Wer?« Mir zog es die Haut zwischen den Schulterblättern zusammen. »Trekyr. Meine Knechte fanden ihn in den Wäldern bei Wölfen. Die hatten ihn aufgezogen. Ich nahm ihn auf den Hof, ich liebte ihn wie einen Sohn. Aber er wurde kein guter Knecht und kein guter Krieger. Er war schlecht, sein Herz war falsch. Immer öfter ging er in die Wälder und sprach mit den bösen Geistern und Dämonen. Die guten verfluchte er. Eines Tages brachte er einen Dämon vom Fluß mit.« Erschöpft hielt er inne, und ich merkte mir jedes seiner Worte. Ein tiefes Rasseln kam aus seiner Brust. Dann sprach er wieder: »Er baute ihm einen Brunnen, draußen in den Wäldern. Der Dä91
mon brauchte Wasser. Ich jagte Trekyr mit dem Schwert davon. Heimlich kehrte er zurück. Er ließ den Dämon ein. Alle meine Leute hat er umgebracht. Mich hat er hier angekettet. Bis ans Ende der Zeit, hat er gesagt.« Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. »Ich will sterben, lange schon, doch er läßt mich nicht sterben. Du hast ein starkes Kriegsbeil. Willst du mich nicht erlösen?« Er sprach aus tiefster Qual. Ich vermutete, daß er seit zwei Jahrtausenden angekettet war. Nach den Köpfen, die ich am Brunnen des Schreckens gesehen hatte. Die unterschiedlichen Haartrachten und Kopfbedeckungen waren gewichtige Indizien. Ihn erlösen, wenn ich konnte, wollte ich. Aber nicht so, wie er das wünschte. Ich konnte ihn doch nicht töten! Sein Blick wurde verlangend. »Ich kann nicht«, sagte ich heiser. »Aber ich sehe einen anderen Weg. Ist Trekyr der Schwarze ohne Gesicht?« »Die guten Geister haben ihn bestraft, weil er den Dämon vom Fluß geholt hat. Sie haben ihm das Gesicht genommen. Er kann es nie mehr erlangen.« Er seufzte. »Es ist ein gutes Beil, und du bist stark.« »Nein, nicht so. Ich habe gegen Trekyrs Geisterwald gekämpft, er hat die Bäume draußen verhext. Ich habe auch mit dem Dämon gefochten. Und ich lebe. Sag mir, wo ich Trekyr finde, und…« Ich wollte ihm sagen, daß ich mir etwas davon versprach, wenn ich den Schwarzen aufspürte und vielleicht vernichtete. Dann bezwang ich wahrscheinlich auch den Brunnendämon, und dann war es ein für allemal vorbei mit dem Geisterwald. Dann verschwanden keine Menschen mehr, deren Köpfe auf Pfählen am Brunnen im Wald wieder auftauchten. Und dann war wohl auch Dwynn von seiner Jahrtausende währenden Qual erlöst. Dann ging er friedvoll ein in das Reich seiner Götter und Geister. Aber mir blieb der Rest im Halse stecken. Ein grauenhaftes Gebrüll ließ den Turm erzittern. Es kam aus der Tiefe, und ich kannte es. 92
Der Dämon vom Brunnen des Schreckens hatte so gebrüllt! Lieber Himmel, wie war der Kerl denn hierher gekommen? Der Schwarze mußte ganz in der Nähe sein. Mit der Frau. Mir traten die Augen aus dem Kopf, als ich die ersten Balken flimmernd vergehen sah. Der Turm, dieses alte Hofgut, Dwynn, der vertrocknete Uralte – das waren nur Erscheinungen, sichtbar geworden durch einen Fluch. Durch eben diesen Fluch kehrten sie in die Unsichtbarkeit zurück. Und ich steckte mitten drin. Junge, verlier nicht die Nerven, sagte ich mir, du änderst doch nichts mehr! Bleib senkrecht, dann fällst du mit unverschämt viel Glück auch so hinunter und landest nicht auf der Birne! Ein zartes Flimmern hüllte den Uralten bereits ein. Ohne lange zu überlegen holte ich mit dem Krif aus und schmetterte das Beil auf die Ketten. Die groben Eisenglieder zersprangen wie sprödes Glas. Wenigstens das konnte ich für den armen gequälten Mann tun. Sein Blick voll unendlicher Dankbarkeit traf mich. Dann verging er. Leider auch der Turm, wie ich befürchtete. Alles löste sich um mich herum auf. Die seltsame, nie verbrennende Fackel tauchte ins Nichts zurück. Ich stürzte. In meinem Rücken, unter meinen Schuhen, nirgends war noch ein Halt. Was ich noch spürte, war ein mörderisch harter Aufprall. Und mein letzter Gedanke war, daß mein Kopf in den Bauch hinabfuhr. * Mandy Reed war nicht mehr weit davon entfernt, den Verstand zu verlieren. Dieses gräßliche Wesen, das kein Gesicht hatte, dafür aber Bären93
kräfte, schleppte sie mit sich fort. Nicht einmal ließ der würgende Armgriff um ihren Hals nach. Die Sinne schwanden ihr. Als sie zu sich kam, wußte sie nicht, wie lange sie ohnmächtig gewesen war. Der Arm des Schwarzen würgte sie immer noch. Aber wenigstens umgab sie nicht mehr der grauenvolle Geisterwald. In der Düsternis der Nacht glaubte sie einen Bauernhof zu sehen. Der Schwarze schleppte sie durch ein Tor und an verkommenen kleinen Gebäuden vorbei. Das Anwesen schien menschenleer zu sein. Sie wollte dennoch um Hilfe rufen. Sofort verstärkte der Schwarze den Druck um ihren Hals. Verzweifelt strampelte sie. Ihre Schuhe schleiften über den Boden. Plötzlich blieb der Schwarze mit ihr stehen. Bretter klapperten. Sie fühlte sich brutal hochgehoben. Kühle, modrige Luft wehte sie an. Der Schwarze kletterte mit ihr irgendwo hinab. Erst dachte sie, in eine Höhle. Bis sie einen fast kreisrunden Ausschnitt des Nachthimmels über sich sah. Ein Brunnen. Im ersten Entsetzen dachte sie, daß es jener schreckliche Brunnen mit den aufgespießten Menschenköpfen war. Aber dort hatte doch kein Bauernhof gestanden! Sie begriff, daß der Schwarze sie zu einem anderen Brunnen verschleppt hatte. Der Unheimliche schien sich mit den Füßen gegen die Brunnenwände zu stemmen, denn er hielt sie immer noch mit einem Arm, mit dem anderen zerrte er Bretter oder Balken über die Brunnenöffnung. Dabei kicherte er, daß es schaurig aus der Tiefe zurückhallte. Er stieg mit ihr hinab. Wie tief, sie wußte es nicht. Sie merkte nur, daß der würgende Griff etwas nachließ und daß die Luft noch modriger roch und noch stickiger wurde. 94
Er hatte sie nicht sofort umgebracht, deshalb schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht sperrte er sie irgendwo ein. Dann mußte sie versuchen, zu fliehen. Der Schwarze hangelte sich in einen Gang, wie es ihr schien. Er riß sie brutal mit sich. Irgendwo tropfte es, und sie bekam sogar einen Wasserspritzer ins Gesicht. Mandy gab jeden Widerstand auf. Allmählich lockerte der Schwarze den Würgegriff. Sie hütete sich, ihn zu reizen. Sie atmete erst einmal tief. Aber ruhiger wurde sie nicht. Ihre Nerven zeigten jetzt Wirkung. Mit Russ Miller war etwas Grauenhaftes geschehen. Ob wenigstens Ben davongekommen war, wußte sie nicht. Sie hoffte es inbrünstig. Da war noch jemand gewesen. Sie hatte einen Mann rufen hören. Die Stimme war ihr nicht bekannt. Und dann hatte der Wald widergehallt von Gebrüll und Lärm und krachenden Schlägen. Sie schreckte zusammen, als der Schwarze stehenblieb. Er stieß sie in die Dunkelheit. Wenig später glomm ein Licht auf, dessen Quelle sie nicht sah. Es schien aus den Wänden, aus der Decke und aus dem Boden zugleich zu dringen. Es war bleich und geisterhaft. Aber hell genug, um ihr zu zeigen, daß sie sich in einem unterirdischen Gelaß befand. Ein Kerker! Grobe feuchte Steinwände umgaben sie. Es gab kein Fenster, kein Loch, nur eine Türöffnung, durch die der Schwarze sie gestoßen hatte. Er stand draußen, etwas gebückt, als würde er lauschen. Dann lachte er und machte eine beschwörende Handbewegung. Aus dem Nichts entstand ein derbes Holzgitter aus schlanken Stämmen und versperrte den Ausgang aus dem Kerker. Von der Angst gepeitscht taumelte Mandy zurück, bis die feuchte Steinwand sie aufhielt. 95
»Noch nicht, meine Schöne, noch ist es nicht Zeit für dich«, sagte der gesichtslose Schwarze. »Er hat eine mächtige Waffe, er hat meinen Wald geschändet, und er hat meinen Freund und mächtigen Dämon fast besiegt. Ich muß seine Waffe in die Hand bekommen. Er hat feindliche Zeichen im Wald hinterlassen, er wird wiederkommen. Ich weiß auch schon, wie ich ihn überliste.« Ein schauriges Kichern folgte den Worten. Mandy sah durch seinen Kopf hindurch die gegenüberliegende Wand draußen. »Bitte – bitte, lassen Sie mich gehen«, flehte sie mit bebenden Lippen. »Ich werde auch kein Wort sagen, ich werde nie mehr Ihren Wald betreten, ich verspreche es!« »Du wirst den Wald noch einmal betreten, ich werde dich selber hinbringen«, erwiderte der Schwarze. Die Stimme kam aus dem Loch heraus, wo er kein Gesicht und keinen Kopf hatte. Und als Mandy zu hoffen begann, sagte er mit widerwärtiger Bosheit: »Du wirst den Mann dahin locken, wo ich ihn haben will. Nur deshalb kommst du noch einmal hinauf. Es gefällt dir nicht? Mir schon. Sobald ich seine gewaltige Waffe besitze, bekommst du einen schönen Platz auf einem Pfahl. Genau neben dem Mann. Bin ich nicht großzügig?« Er lachte, daß es schaurig durch den Kerker schallte. Mandy sank langsam an der Wand herab. Die Sinne drohten ihr erneut zu schwingen. Der Schwarze trat dicht an das Holzgitter und schaute herein. »Mein mächtiger Freund wird dich bewachen. Das wird ihn besonders gierig machen. Sonst hat er seine Opfer immer gleich bekommen, bei dir muß er warten. Sieh, da kommt er!« Der Schwarze machte eine Handbewegung. Mandy sah nicht, wohin sie zielte. Der Raum draußen schien sehr groß zu sein. Sicher gab es verschiedene Türöffnungen. Neben dem Schwarzen erschien eine schwebende Erscheinung. Der Anblick war so grauenhaft, daß Mandy die Augen schloß. Groß anzustrengen brauchte sie sich allerdings nicht mehr. Sie war 96
schon fast ins Dämmerreich der Sinne hinübergeglitten. Gerade noch, daß sie sich entsann, dieses grauenhafte schwebende Wesen droben im Wald bei dem schrecklichen Brunnen schon gesehen zu haben. Der Schwarze trat plötzlich vom Holzgitter zurück. Sein Körper krümmte sich, seine Haltung drückte lauernde Erwartung aus. »Er ist ein Narr, aber er hat Mut«, zischte er. »Er hat Dwynn gefunden! Wir müssen ihn aufhalten! In seiner Waffe hausen die Kräfte des verdammten Guten! Schnell, komm mit!« Er hastete davon. Die dämonische Erscheinung schwebte hinter ihm drein. Das geisterhafte Licht aus den Wänden, dem Boden und der Decke erlosch. Mandy merkte nichts davon. Nur einmal schreckte sie zusammen, als ein schauriges Gebrüll den Kerker erzittern ließ. Danach sank sie noch tiefer in die Ohnmacht. Sie spürte und hörte nicht mehr, wie der Boden dröhnte, wie die feuchten Felsen knackten und wie sich alles ringsum schüttelte. * Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich blinzelte vorsichtig. Zugleich spürte ich überall Schmerzen. Dann merkte ich, daß mit der Sonne etwas nicht stimmte. Sie schwankte herum wie eine Laterne an einem Kuhschwanz. Ich versuchte mich aufzurichten. Die Erinnerung setzte ein. Da war der Turm gewesen. Und Dwynn der Uralte. Ich hatte seine Ketten zerschlagen, bevor sich alles auflöste. Der Krif! Lieber Himmel, wo war die Waffe? »Mann, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!« sagte eine Stimme hinter der schwankenden Sonne. Die Stimme kannte ich. Sie bibberte noch genau so wie im Geisterwald. Was ich für die Sonne hielt, war eine Taschenlampe. 97
»Reden Sie lieber von meinem Schrecken!« keuchte ich. »Haben Sie mein Beil gesehen?« »Es liegt neben Ihnen!« Die Antwort gefiel mir. Der junge Mann leuchtete. Ich packte erst einmal den Krif und schaute mich dann erst um. Von dem uralten Gutshof keine Spur! So wenig wie vom Turm. Wald umgab mich. Und es war nicht einmal der verdammte Geisterwald. Die ganze Gegend hatte sich zurückverwandelt. Ich stemmte mich auf die Füße. »Geht es?« fragte der junge Mann. Ich kam mir vor wie der Glöckner von Notre Dame, so klein und häßlich und zusammengestaucht. Aber gebrochen war nichts. »Leidlich«, gab ich zur Antwort. »Wie haben Sie mich gefunden?« »Ihre Taschenlampe! Plötzlich verschwand dieser seltsame Hof. Er war einfach weg. Aus der Höhe fiel ein Licht. Ich dachte mir fast, daß Sie es sind. Ich habe Sie nämlich an diesem Turm herumklettern sehen. Die Lichtung stand plötzlich voller Bäume. Der Wald war wieder da. Und alles andere war fort wie ein Spuk. Erst habe ich gewartet, ob Sie kommen, aber dann bin ich in die Richtung gegangen, in der der Turm zu sehen gewesen war. Die Taschenlampe hat gebrannt und in den Wald geleuchtet. So habe ich Sie gefunden.« »Das war nett von Ihnen. Geben Sie mir die Lampe!« Er reichte sie her, und ich leuchtete herum. Ich stand auf einer bewaldeten Kuppe. Ringsum erstreckte sich der Wald von Wark. Diese Kuppe war der einzige Beweis dafür, daß ich nicht völlig gesponnen hatte Der Turm hatte darauf gestanden. Jetzt erinnerte nichts mehr an den Geisterhof des uralten Dwynn. »Was ist das für ein Beil?« fragte der junge Mann. »So eins habe ich noch nie gesehen.« »Na, dann genießen Sie den Anblick noch mal, denn gleich ist's mit der Herrlichkeit vorbei«, erwiderte ich und steckte den Krif in 98
den Hosengürtel. »Sind Sie – sind Sie ein Geisterbeschwörer oder so was?« fragte der junge Mann zaghaft. »Sowas«, gab ich zurück«. Sollte er sich das Passende aussuchen. Ich probierte ein paar Schritte. Mein Knöchel schmerzte wieder, den ich mir vor einiger Zeit in einer Spukmühle verstauchte, als ich Zwiesprache mit einem Poltergeist gesucht hatte. Aber dick war er noch nicht. Das konnte später kommen. »Jetzt müssen wir nur noch den Heimweg finden«, sagte der junge Mann. »Haben Sie eine Ahnung, wo wir sind?« »Wohl nie Pfadfinder gewesen?« fragte ich. »Wir richten uns nach den Sternen. Dann gehen wir nach Süden. Und zwar sofort.« Jetzt, da der Wald wieder sein ursprüngliches Aussehen hatte, mußte auch der Weg wieder vorhanden sein, der zur Straße ausgebaut werden sollte. Den mußten wir nur finden. Ich übernahm die Führung. Nach dreißig oder vierzig Schritten ging es noch einmal hangabwärts. Das war der Erdhügel, auf dem der Geisterhof gestanden hatte. Nach halbstündigem Herumirren stießen wir auf den Weg. Ich hatte vom Kampflatz bei dem schrecklichen Brunnen nicht die Schritte bis zum Geisterhof gezählt. Wir waren dem Licht gefolgt, und in erster Linie hatte ich dem Schwarzen die junge Frau abjagen wollen. Aber ich hoffe auf etwas Glück. Wir schritten in düsterer Stimmung auf dem Weg dahin, bis ich im Lampenlicht abgehackte Äste ausmachte und böse zugerichtete Bäume. Jetzt sahen sie normal aus. Aber sie trugen deutliche Spuren. Ich hatte schlimm gehaust. Hier war der Kampfplatz. 99
Sorgfältig leuchtete ich den Ort ab. Ich sah niedergetretenes Gras, zerstampfte kleine Büsche und Fußspuren. Die stammten von mir. Das ließ mich hoffen. Ich peilte die Richtung an, in der ich den grausigen Brunnen markiert hatte. Nach einigem Suchen stieß ich auf die tiefe Schnittrille, die ich mit dem Krif in den Boden gezogen hatte. Der Platz sah jetzt unverfänglich aus. Er befand sich weniger als zwanzig Schritte neben dem Weg. Seltsamerweise wuchsen aber keine Bäume darauf. Der junge Mann kam heran. Er hatte Angst, und ich konnte ihm das nicht verdenken. Es war schon eine bewundernswerte Leistung, daß er das Grauen niedergekämpft und mich nach meinem Sturz aus dem Geisterturm im Wald gesucht hatte. Er entdeckte die Rillen. »Der – der Brunnen, nicht wahr?« fragte er. Ich hörte ihn schlucken. »Ein unheimlicher Ort. Kommen Sie, wir haben noch eine traurige Aufgabe zu erfüllen.« Neben dem Kampfplatz hatte ich das Bündel gesehen, den Schlafsack mit dem kopflosen Leichnam von Russ Miller. * Ich trug den Toten. Zwar hatte ich mich erboten, meinen MG zu holen, aber der junge Mann hatte um keinen Preis allein bei der Leiche ausharren wollen. Er hatte nur ein Spruchband der Robin-Wood-Bewegung von zwei Bäumen losgeknotet und zusammengerollt. Sein Tun hatte etwas Endgültiges. Ich schätzte, daß er und seine Freunde ihre Aktionen hier abbrachen. Während ich unter der grausigen Last des kopflosen Toten keuchte, nannte er seinen Namen. Ben Kinson. 100
Die Situation war so grotesk wie das entsetzliche Erlebnis, das hinter uns lag. Da machten wir fast artig Konversation und pflegten höflich Gesellschaftsregeln, als seien wir in Ascot beim Rennen und nicht in einem Wald, der ein grauenvolles Geheimnis barg, und auf der Schulter trug ich einen toten Mann. Diese Unmöglichkeit ging schließlich auch Kinson auf. Er hielt den Mund. Ich war ihm dankbar dafür. Wir erreichten endlich den Waldrand. Mein MG stand auf dem neuen Straßendamm. Ich lud den Toten hinten auf und band ihn fest. In den engen kleinen Wagen bekam ich ihn nicht, ich versuchte es erst gar nicht. »Sie werden hier aufgeben?« fragte ich, als ich gewendet hatte. Er nickte nur. Die Armaturenbeleuchtung strahlte schwaches grünes Licht über sein Gesicht. »Die anderen mit Sicherheit«, korrigierte er sich dann. »Damit hat doch niemand rechnen können. Ich bleibe, ich will wissen, was aus Mandy geworden ist!« »Sie lieben das Mädchen?« Er zögerte. »Nein, aber ich kann doch nicht einfach abhauen, verstehen Sie?« Falls er nicht wußte, daß er in die junge Frau verschossen war – ich wußte es. In diesem Augenblick. Aber es war so eine dieser schmerzlichen, weil unerfüllten Liebschaften. Ich hatte Mandy dem Schwarzen nicht abjagen können. Ich fürchtete, daß er sie bereits seinem Brunnendämon vorgeworfen hatte. Daß sie tot war! Ich kannte sie nicht. Dennoch tat sie mir leid. Wie jeder Mensch, der den dunklen Mächten und ihren Listen und Tücken und Fallen zum Opfer fällt. Auf der kurzen Fahrt schwor ich mir, nicht eher diese Gegend zu verlassen, als bis ich Trekyr, den gesichtslosen Schwarzen, zur Strecke gebracht hatte. Und wenn ich ihn in tausend handliche Stücke hacken mußte. 101
* � Beim Camp der Umweltschützer hielt ich gar nicht erst an. Kinson wollte es zwar, aber ich konnte jetzt keine allgemeine Panik gebrauchen. Ich zischte auch am Baulager vorbei. Ich hielt erst im Hof vom ›Einhorn‹ an. Es war noch nicht einmal Mitternacht, und im Haus brannte Licht. »Sie gehen jetzt mit mir in die Gaststube, aber Sie werden den Mund halten, ist das klar, Kinson?« In meiner Stimme mußte etwas mitschwingen, das ihn gehorsam nicken ließ. Parr schaute uns entgegen, als kämen wir auf direktem Weg aus der Hölle. »Hatten Sie einen Unfall?« fragte er und ließ die Blicke an mir hinauf und hinab wandern. Dann wurde er blaß wie sein Spültuch. »Das Licht, nicht wahr?« Der Archäologengeheimbund tagte auch noch in der Ecke. Die Köpfe ruckten hoch. Mißbilligende Blicke trafen mich. Ich schaute an mir hinab. Wie ein feiner Gentleman aus der Stadt sah ich wahrhaftig nicht mehr aus. Eher wie einer, der ein wenig unter die Räuber gefallen ist. »Kleider machen keine Leute«, knurrte ich. »Kann ich Ihr Telefon benutzen?« »Sicher, sicher«, versicherte Paar. »Im Büro. Ich zeige es Ihnen.« Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und wies mit dem Kinn auf Ben Kinson, der in Richtung Tür schielte. »Er darf nicht raus, binden Sie ihn notfalls an einem Stuhl fest! Und verhindern Sie, daß er mit irgend jemand redet! Geben Sie ihm ein Bitter oder ein Stout auf meine Rechnung.« »Wollen Sie nicht noch erst essen? Die Wildsuppe! Und der 102
Lachs!« Er verstummte erschrocken. Ich blickte ihn wahrscheinlich bitterböse an. Über die Wildsuppe ließ sich ja reden, aber der Appetit auf Lachs war mir vergangen, und zwar gründlich. Aus dem Fluß war auch der verdammte Dämon gekommen. Ich wünschte, er wäre so tot und geräuchert wie Parrs Lachse. Das Telefon stand auf der Fensterbank eines Raumes, den Parr als Büro benutzte. »Es werden teure Gespräche«, sagte ich. Er lächelte säuerlich. »Stellen Sie sich vor, ich habe das Gefühl, ich komme doch auf meine Kosten.« Ich zog mir einen Stuhl heran. »Wenn Sie wieder vorbeikommen, bringen Sie mir bitte einen feuchten kalten Lappen.« Jetzt guckte er nicht mehr säuerlich, sondern verwirrt. »Ich weiß ja nicht, wie man es in London hält, aber bei uns würde man in einem solchen Fall duschen.« »Mann, ich will mich nicht abstauben! Mein Knöchel brummt, er braucht einen Umschlag.« »Ach so!« Parr war merklich erleichtert. Weiß der Teufel, welche Vorstellungen er von London und seinen Bewohnern hatte. Ich wählte das Amt. Hier oben gab's noch nicht die segensreiche Einrichtung der Selbstwahl. Man mußte sich noch stöpseln lassen. Nach einiger Zeit meldete sich eine ruppige Frauenstimme aus dem Knotenamt in Newcastle upon Tyne. Ich verlangte eine Verbindung zu Scotland Yard. Die Dame traute ihren Ohren nicht und wollte von mir wissen, ob ich vergessen hätte, auf die Uhr zu sehen. »Mitnichten, werte Dame, und jetzt legen Sie mal los, bevor ich es tue!« Sie schnappte ganz schön ein und wollte erst mal Parrs Nummer haben; Die stand auf dem Apparat, ich konnte der Dame behilflich sein. Dann wollte sie erfahren, wen ich dort sprechen wollte. 103
»Hören Sie zu, was Sie ohnehin tun, wie ich Sie einschätze!« empfahl ich ihr grob. Natürlich würde sie gleich ein Ohr in die Leitung hängen. Aber Newcastle war weit, und bis sich die Sache herumsprach, hoffte ich, genügend Unterstützung in Bardon Mill zu haben. Während ich ungeduldig wartete, hörte ich Parr ziemlich heftig mit Kinson umgehen. Der junge Mann hatte sich offensichtlich verkrümeln wollen. Der Yard meldete sich. Ich ließ mir die Nachtbereitschaft geben und wünschte dann, daß der Superintendent aus dem Bett geklingelt wurde. »Der ist auf dem Empfang anläßlich der Amtseinführung der Bürgermeisterin. Das kann noch lange dauern, Kinsey.« Richtig, wir hatten seit kurzem eine Oberbürgermeisterin in der City. Daß der Superintendent an ihrer Festtafel schlemmte, war ausgesprochenes Pech für mich. Ich hoffte, er verdarb sich den Magen. »Geben Sie mir einen Inspektor, der mit den Vermißtenfällen Raw und Paisly in Bardon Mill befaßt ist«, verlangte ich. Der Beamte wurde bockig. »Das Vermißtendezernat arbeitet in der Nacht nicht.« »Mir egal. Klingeln Sie einen an!« »Den Teufel werde ich tun, Kinsey. Das habe ich einmal gemacht, und der Mann war nicht daheim, sondern bei seiner heimlichen Puppe. Aber daheim hat er erzählt, er hätte Nachtdienst. Ein Scheidungsprozeß ist dabei herausgekommen. Ich mußte aussagen. Das war vielleicht peinlich.« »Ich drehe Ihnen den Hals um, wenn ich Sie kriege, und es wird mir nicht peinlich sein!« tobte ich. »Ich brauche fünfzig Polizisten hier in Bardon Mill, und zwar spätestens in vier Stunden! Denken Sie, Sie können mich zum Affen machen? Ich spiele für Ihren lahmen Laden den Straßenfeger und muß mir Ihren Schwachsinn anhören! Wenn um vier Uhr früh nicht die Polizisten hier sind oder wenn nur einer fehlt, erschlage ich Sie feierlich mittags um zwölf 104
auf dem Trafalgar Square, das schwöre ich Ihnen!« »Mann, Kinsey, nun werden Sie nicht gleich ungemütlich. Ich werde zusehen, was ich für Sie tun kann!« »Ich helfe dem Yard aus der Klemme, nicht mir selber!« schimpfte ich und legte auf. Das ruppige Frauenzimmer in Newcastle hatte natürlich mitgehört. Jetzt war es die personifizierte Freundlichkeit. Außerdem platzte es fast vor Neugierde. Ich verlangte Sir Horatio und nannte die Nummer. Der Chef war nicht daheim. Ich argwöhnte schon, er würde ebenfalls bei der Bürgermeisterin schmausen und seine Magengeschwüre füttern, aber das Hausmädchen der Merrimans meinte dann, ich sollte es in seinem Club versuchen. Das Schätzchen wußte sogar die Nummer. Newcastle war wieder in der Leitung. »Na, die Nummer haben Sie ja gehört«, spottete ich. »Also drehen Sie mal die Scheibe, gute Frau.« Zwei Minuten später hatte ich den Chef am Apparat. »Hallo, Mac! Es verstößt zwar gegen die Regeln des Clubs…« »Sir, hier verstoßen eine Menge Dinge gegen noch ganz andere Sachen!« Meiner Stimme merkte er an, daß ich unter Dampf stand. »Gut, Mac, ich höre! Schießen Sie los!« »Nicht jetzt. Die Verbindung ist wie eine alte Wasserleitung, Sir! Unterwegs läuft alles raus. Die Situation hier steht schlimmer als ich anfangs befürchtete. Es hat eben noch einen Toten gegeben, ich konnte es nicht verhindern. Aber wenigstens ist er nicht gänzlich verschwunden.« »Was heißt das, Mac?« »Nur sein Kopf ist weg, Sir, das Gespräch wird zu lang. Ich habe mein Hauptquartier in einem Gasthof namens ›Einhorn‹ aufgeschlagen, der Wirt heißt Parr. Wenden Sie sich an ihn, falls Sie etwas zu übermitteln haben. In ein paar Stunden weiß er ohnehin, was gespielt wird. Ich habe Polizei über den Yard angefordert. 105
Fünfzig Mann. Die brauche ich. Haken Sie bitte nach. Ich habe das böse Gefühl, die nehmen das nicht ernst.« »Fünfzig Mann? Wie sollen die so schnell nach Bardon Mill gebracht werden?« »Ich will keine aus London. Das wäre gar nicht zu schaffen. Es soll alles an Uniformen zusammengetrommelt werden, was in dieser Gegend zu haben ist!« »Ich werde mich darum kümmern, Mac!« versprach er. Eine spitze Bemerkung konnte er nicht unterlassen. »Ihre Botschaften um Mitternacht sind immer wieder eine wahre Wonne!« »Ich weiß, Sir!« versetzte ich nicht weniger spitz. »Darum rufe ich Sie auch so gerne an. Ich legte auf. Parr brachte den feuchten Lappen für meinen Knöchel. Ich legte das Tuch an und schaute zur Tür. »Was macht er?« »Besäuft sich. Gleich kriegt er das heulende Elend, ich kenne das.« »Wäre das Beste. Schütten Sie ihm was ein, das ihn umhaut. Und dann lassen Sie ihn im Haus schlafen. Er darf nicht zu seinen Freunden und nicht ins Dorf. Ich hoffe, daß in ein paar Stunden die Polizei da ist. Kommen Sie mit!« »Wohin?« »Werden Sie sehen!« Ich ging voran in den Hof. Parr drehte es fast den Magen um, als er sah, was der Schlafsack auf meinem MG enthielt. Nach einer Weile fragte er würgend: »Sie haben die Mordkommission angerufen, nicht wahr?« »Dafür braucht es keine Mordkommission. Der Schwarze steckt dahinter. Allen Verschwundenen hat er den Kopf abschlagen lassen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagte ich mit klirrender Stimme. »Niemand darf den Toten sehen, bis die Polizei da ist. Ich habe Unterstützung angefordert. Es darf niemand in den Wald.« »Wenn Raffles das hört, frißt er Sie auf! Er ist der neue Bauleiter. 106
Heute wollen sie die Trasse in den Wald vortreiben.« »Deswegen kommt die Polizei. Wo kann ich den Toten hintun? Er hieß Miller. Russ Miller,« Parr schluckte. Dann ging er voran. Er wies mir einen Raum zu, in dem Werkzeuge aufbewahrt wurden. Ich schloß die Tür ab und gab Parr den Schlüssel. »Führen Sie die Polizei hierher. Kinson wird etwas auszusagen haben.« Ich steckte mir zur Nervenberuhigung eine Zigarette an. »Warum erledigen Sie das nicht selber?« fragte er. »Mir könnte etwas zustoßen. Wenigstens einer muß doch Bescheid wissen.« * Ich aß lustlos die aufgewärmte Wildsuppe. Sicher war sie vorzüglich, aber ich konnte sie nicht würdigen. Zu viel ging mir im Kopf herum. Kinson wurde von Parr abgefüllt, damit er nicht geschwätzig wurde. Als ich den Teller leer hatte, glitt der junge Mann vom Stuhl. Die Archäologen suchten entrüstet das Weite. Parr schaffte Kinson hinaus. »Der ist versorgt«, sagte er beim Hereinkommen. »Wenn er wach wird, glaubt er, er kriegt seinen Kopf durch keine Tür.« Ich stand auf. »Lassen Sie mich drei Stunden schlafen und werfen Sie mich dann heraus. Und bleiben Sie auf. Hier ist mein Hauptquartier. Gegen Morgen trifft jede Menge Polizei ein.« Er verstand mich richtig. Er begann, Teetassen herauszuräumen. Ich stieg zu meinem Zimmer hinauf. Eine Weile stand ich am Fenster und schaute auf den Wald von Wark. Kein Licht brannte. Ich dachte an Mandy. Und an all die anderen, die dem Schwarzen und seinem Brunnendämon zum Opfer gefallen waren. 107
Das grausige Treiben mußte aufhören. Für Wesen wie Trekyr war kein Platz. Ich wandte mich vom Fenster ab, säuberte meinen Anzug, legte von der gekauften Wäsche etwas zurecht und stellte mich unter die Dusche. Sie gab nur eiskaltes Wasser her. Ich fror, daß ich mit den Zähnen gar nicht so schnell klappern konnte. Aber der kalte Schwall brachte meinen Kreislauf in Schwung. Eine angenehme Müdigkeit stellte sich wenig später ein. Das ist so ein Trick von mir, wenn ich schlafen muß, um bei Kräften zu bleiben. und genau weiß, daß ich nicht schlafen kann, weil die Gedanken gehen wie ein Mühlrad. Ich sank in einen ganz leidlichen Schlaf. Als mich Parr weckte, zeigte meine Uhr halb vier Uhr früh an. Ich kleidete mich in Rekordzeit an, pumpte mich mit Tee voll und fuhr zum Baulager hinüber. Dort war es schon hell hinter diversen Fenstern der Bauhütten und Baracken. Auch jenseits des Hadrianwalles tat sich etwas. Die Umweltschützer rumorten. Von ihren Feuerstellen stieg Rauch auf. Eine streitbare Stimmung lag in der Luft. Es roch nach Verdruß und mächtig viel Ärger. Ich klopfte gegen ein Fenster. Einen herausschauenden Mann fragte ich, wo ich Raffles fand. Er guckte mich wild an. »Ich habe Sie gestern hier gesehen, auch wenn's schon dunkel war. Wollen Sie uns auch Schwierigkeiten machen?« »Das genaue Gegenteil. Also, wo finde ich Mister Raffles?« »Gar nicht. Der ist nämlich nach Newcastle gefahren. Diese Umweltschützer brüten was aus, das haben wir spitzgekriegt. Wir haben auch unsere Informanten, nicht bloß die!« »Wann ist er zurück?« »Spätestens um fünf, hat er gesagt. Ob mit oder ohne einstweilige 108
richterliche Verfügung.« »Was?« »Wegen der Umweltschützer. Die haben doch was vor, sagte ich doch gerade. Deswegen hat Raffles was gegen sie erwirkt. Wir müssen mit der verdammten Straße vorankommen. Entweder passiert was, und die Polizei legt tagelang die Arbeit lahm, ohne daß sie was herausfindet, oder diese Kerle und die Weiber klettern auf Bäume und binden sich fest. Wie soll man da eine Straße bauen und einen Termin einhalten können?« Aus seiner Sicht hatte er natürlich nicht ganz unrecht. Ich bezweifelte, ob Raffles in Newcastle in der Nacht einen Richter aufgetan hatte, der ihm die einstweilige Verfügung auch gab. Unsere Richter wollen nämlich gerne immer beide Seiten hören. Selbst wenn einer noch so geölt daherredet, wägen sie sorgfältig ab. »Dann verständigen Sie den Vertreter von Raffles«, sagte ich. »Mit dem Bau kann heute nämlich nicht begonnen werden. Gleich trifft Polizei ein. Sie wird jeden am Betreten des Waldes hindern.« »Geht das schon wieder los? Haben Sie die Suppe angerührt?« Er sprang mir fast ins Gesicht. Ich ließ mich auf nichts ein. »Die Holzfäller nicht, die Planierraupenfahrer nicht, niemand.« »Aber die da drüben, die dürfen, wie?« Sein Daumen fuhr in die Richtung, immer das Camp der Umweltschützer lag. »Die auch nicht.« Ich wollte mich abwenden, als der Mann etwas sagte, das mich verharren ließ. »Seltsam! Er scheint schon zurück zu sein.« »Wer?« »Raffles. Das kann er doch fast nicht geschafft haben. Höchstens, wenn er geflogen ist.« Ich wandte mich um. Ich sah zwei Dinge gleichzeitig. Eine Lichterkette, die sich rasch von Osten Bardon Mill näherte. Und einen vierschrötigen Mann, der aus einer hellerleuchteten Baracke getreten war und zu uns herüberblickte. 109
Das traf sich gut. Egal, was er in Newcastle ausgerichtet hatte. Ich nahm es auf meine Kappe, eine eventuelle richterliche Anordnung außer Kraft zu setzen und Raffles und allen seinen Arbeitern das Betreten des Waldes von Wark zu untersagen. Mein Chef würde wahrscheinlich wieder höchst entzückt sein, wenn er das in London ausbügeln mußte. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich war hergeschickt worden, um die düsteren Vorgänge aufzuhellen. Hinterher fragte niemand mehr, wie ich es geschafft hatte, sondern ob. »Mister Raffles?« rief ich darum. »Auf ein Wort!« Ich hastete zu ihm hinüber. Von der Straße aus Haydon Bridge war jetzt auch das Brummen vieler Fahrzeuge zu hören. Raffles schaute irritiert hinüber und dann auf mich. »Das ist Polizei«, klärte ich ihn auf. »Sie wird Ihr Baulager und das Camp der Umweltschützer bewachen und jeden Mann und jede Frau festnehmen, die sich dem Wald drüben nähern.« Ich hörte seine Zähne mahlen. »Wer sind Sie?« fragte er. Etwas schwer, als hätte er Schwierigkeiten mit den Zähnen oder was er sonst an Künstlichkeiten im Mund verbarg. »Mac Kinsey ist der Name. Ich habe alle Vollmachten, falls es Sie interessiert.« Er guckte wieder zur Straße hinüber. Und ich Esel fiel auf ihn herein. Sein Schlag kam verdeckt und ansatzlos und aus einer leichten Körperdrehung heraus. Er erwischte mich voll am Kinn. Ich kam erst wieder hoch, als ich einen Motor röhren hörte. Ein Jeep raste heran. »Ich habe auch eine Vollmacht!« brüllte mir Raffles zu. »Sogar von einem Richter. Ich werde Ihnen zeigen, was ich mache! Ich werde im Wald meine Leute erwarten.« Er saß hinter dem Lenkrad des Jeep. 110
»Halt! Warten Sie doch, Mann!« brüllte ich aus Leibeskräften. Aber Raffles stopfte sich die Ohren zu. Symbolisch natürlich. Das Röhren des Jeep-Motors übertönte meine Worte. Raffles wollte auch gar nicht hören. Er war finster entschlossen, den Straßenbau durchzusetzen. Egal, wie hoch sich die Schwierigkeiten auftürmten. »Sie – Sie Idiot!« brüllte ich hinter ihm her. »Sie wissen ja nicht, auf was Sie sich einlassen! Kehren Sie um, Mann! Sofort! Sie sind in höchster Gefahr!« Er hinterließ mir eine Staubwolke. O Mann, hatte der Kerl eine Faust! Ich betastete mein Kinn. Es war heiß und schmerzte. Das gab einen lieblichen Bluterguß, alles, was recht war! Ich warf mich herum und rannte zum Dorf hinüber. Ich hoffte nur, daß sich Raffles abkühlte und zurückkam. Oder daß ihm eine Begegnung mit dem Schwarzen und dem Dämon aus dem entsetzlichen Brunnen erspart blieb. Keuchend und mit Grimm im Bauch langte ich in Bardon Mill an. Parr hatte richtig geschaltet und die einrollende Fahrzeugkolonne erst mal gestoppt. Und die Polizisten hatte er zum Teil in sein Gasthaus eingewiesen. Es roch stark nach Tee. Die Polizisten hatten ziemlich genaue Instruktionen mitgebracht. Ich setzte den Offizieren auseinander, worum es ungefähr ging. Von dem Schwarzen sagte ich allerdings kein Wort, nur, daß es einen Toten im Wald gegeben hatte. Und daß sie Ben Kinson ausquetschen sollten, sobald er wach und soweit hergestellt war, daß er die Dinge auseinanderhalten konnte, Parr zeigte den Schlüssel. »Ihre Aufgabe, Gentlemen, ist es, jedermann am Betreten des Waldes zu hindern«, sagte ich. »Mich ausgenommen.« Meinen Namen wußten sie auch. »Und warum das Ganze, Mister Kinsey? Es war verdammt schwierig, in der kurzen Zeit fünfzig Leute zu bekommen. Wir haben es geschafft und sind pünktlich hier, da wird man aber doch fragen dürfen, wofür das alles.« 111
Wenn er's sagte, daß sie fünfzig Polizisten waren, stimmte es wohl. Das Nachzählen sparte ich mir. Und der Beamte vom Yard hatte Glück. Seine öffentliche Hinrichtung auf dem Trafalgar Square ließ ich ausfallen. »Sie werden es nicht glauben«, sagte ich. »Kennen Sie die Aussagen eines gewissen Holeman, Vermessungsfachmann am Straßenbau hier und derzeit Insasse des Hospitals in Haydon Bridge?« »Ungefähr. Das ist doch der Mann, der da oben nicht ganz dicht ist!« Der Offizier gestattete sich ein wissendes Grinsen. Ich wurde vorsichtig. »Und wenn ich Ihnen sage, daß Holeman nicht mit einem Wort übertrieben hat, was dann?« »Dann?« machte er, und jetzt kehrte Ratlosigkeit in sein Gesicht ein. »Dann würde ich sagen, Sie sind nicht Kinsey. Am Telefon haben sie nämlich gesagt, der sei der härteste Knochen von London und der Spezialist für solche Sachen überhaupt.« »Damit Sie sich einen Rückruf schenken können«, sagte ich und zeigte ihm meinen Ausweis. »Solche Sachen – das trifft es genau. Die Verschwundenen sind einem Dämon zum Opfer gefallen. Und dahinter steckt ein Wesen, das die Leute in der Gegend hier als den Schwarzen bezeichnen. Ihre Leute brauchen das nicht unbedingt zu wissen, aber halten Sie die Männer in jedem Falle aus dem Wald heraus.« »Dämon?« Der Offizier klappte den Mund auf. Und nach einer Weile zu. Dann kniff er sich in den Arm. »Ich muß wohl noch im Bett liegen und schlecht träumen, oder was?« »Entscheiden Sie sich, aber schnell!« fauchte ich ergrimmt. »Bringen Sie Ihre Leute in die Fahrzeuge. Drüben ist ein Camp von Umweltschützern. Die haben für heute eine Aktion geplant. Wollen auf Bäume klettern. Sie sind mir dafür verantwortlich, daß daraus nichts wird.« »Hoffentlich wissen Sie auch, was Sie tun, Kinsey.« »Ich kann Sie beruhigen, mein Gedächtnis wird als ausgezeichnet gerühmt!« Ich ließ ihn stehen und fischte mir Parr aus dem Trubel heraus. 112
»So einen Wirbel hatten wir noch nie hier«, meinte er sachkundig und lobend. »Jaja, kann schon sein! Parr, ich brauche ein Tau. Ein Seil, so lang, wie Sie's auftreiben können!« »Haben wir sofort!« Er eilte hinaus. Wenig später kehrte er mit einem soliden Seil zurück. Es war säuberlich aufgerollt, und es sah noch ziemlich neu aus. Ich zwängte mich zwischen den Polizisten hindurch, die zu den Fahrzeugen strömten. Meinen Krif hatte ich bei mir, Parrs Taschenlampe lag noch im MG. Ich war komplett. Meine anderen Hilfsmittel waren gegen den Schwarzen und seinen Dämon mit Sicherheit unwirksam. Ich trieb den Wagen die Straße hinunter. Als ich auf dem neuen Damm durch den Hadrianswall brauste, sah ich im Rückspiegel die ersten Fahrzeuge, der Kolonne einbiegen. In ein paar Minuten waren das Baulager und das Umweltschützer-Camp versorgt. Wenigstens darum brauchte ich mir keine Sorgen mehr zu machen. Nur noch um Raffles, diesen Dickschädel. Über den hinterlistigen Schlag mußte ich mich noch gründlich mit ihm unterhalten. Noch einmal erwischte er mich nicht unvorbereitet. * Der Wald lag harmlos im spärlichen Frühlicht. Ich ließ mich nicht verlocken, ich stellte den MG vor dem Waldrand ab, hängte mir das Seil um, steckte den Krif fest in den Hosengürtel und langte die Taschenlampe unter dem Sitz hervor. Dann trabte ich los. Ich rechnete mit jeder Sekunde, daß sich plötzlich wieder der Geisterwald um mich erstreckte und bemooste Äste auf mich eintrommelten. 113
Deshalb behielt ich die Bäume scharf im Auge. Wie es aussah, hatten die Bäume heute nichts mit mir im Sinn. Aus der Entfernung sah ich schon den Jeep auf dem Waldweg stehen. Ich atmete erleichtert auf. Raffles war gottlob zur Vernunft gekommen. Und er schien etwas entdeckt zu haben, denn er kam aus dem Unterholz, stutzte, als er mich als einsamen Wanderer erspäht, und blieb neben dem Jeep stehen. So gut war das Licht des neuen Tages nun auch wieder nicht, daß ich jetzt schon sah, was ihn fasziniert hatte. Deshalb schritt ich schneller aus. Er hatte die Stelle gefunden, wo ich in der Nacht zu holzen begonnen hatte! An dieser Stelle hatten mir die Geisterbäume den Weg verstellt, ich hatte mir meinen Weg freihacken müssen. Jetzt reckten unverdächtige Bäume ihre Aststummel empor. Was ich gekappt hatte, lag am Boden. Dieses Bild hatte ich um Mitternacht herum schon im Taschenlampenlicht gesehen. Es war nicht besonders aufregend. Auf den ersten Blick. Aber ich wußte, welches Geheimnis dahintersteckte. Ich überlegte, ob ich Raffles gleich eine knallen sollte oder erst später. Sein heimtückischer Schlag war nicht vergessen. Er blickte mich düster an. Dann zeigte er wortlos mit dem Daumen über die Achsel. Klar, er meinte die jammervoll aussehenden Bäume. »Das war ich«, sagte ich. »Und Sie schwingen sich in Ihre Knochenschleuder und kurven gefälligst zurück! Was hier zu tun ist, besorge ich, verstanden?« Er schaute nicht gerade freundlich. Er dachte nach. Dann wies er stumm auf den Beifahrersitz. »Muß Ihnen was zeigen!« knurrte er. Ich fürchtete, daß er etwas entdeckt hatte, das über seine Hutschnur ging. 114
Seine Hand wies immer noch auf den Nebensitz. Schaden konnte es ja nicht, wenn ich mir seine Entdeckung beguckte. Also schwang ich mich hinein. Kaum saß ich, sauste der Jeep los. In einem Tempo, daß mir das Feuer fast zu den Augen herausfuhr. Ich war so verblüfft, daß ich erst wie erstarrt saß. Zum Teufel, Raffles war doch gar nicht eingestiegen! Er hatte sich nicht hinter das Lenkrad geklemmt! Der Sitz war leer. Ich warf den Kopf herum. Der Kerl stand am Wegrand und grinste höhnisch. Mir fuhr der Schrecken in alle Knochen. Das war nicht Raffles. Nicht der Mann, der mir im Baulager die Faust ans Kinn gepflanzt hatte! Ich war geleimt worden. Und zwar von dem Schwarzen! Weiß der Teufel, wie er es fertiggebracht hatte, jedenfalls sah er genau wie Raffles aus und besaß auch dessen Gesicht. Sogar dessen Gestalt. Den Jeep hatte er so verhext wie in der Nacht und immer wieder davor die Bäume. Raus! war mein nächster Gedanke. Nur erst mal raus! Schätze, der Kerl will mich dem Dämon aus dem Schreckensbrunnen geradewegs ins Messer sausen lassen! Das Tempo war schon respektabel. Wenn ich ungünstig aufkam, ging mehr kaputt als etwas Haut. Ich zwängte mich auf den Fahrersitz, packte das Lenkrad und trat aufs Bremspedal. Nichts. Das Ding saß fest wie angeschmiedet. Ich wollte herunterschalten und die Motorbremse wirksam werden lassen. Aber nicht mal der Ganghebel war zu betätigen. Der steckte unverrückbar fest. 115
An dem Geisterjeep funktionierten nur die Räder und der Motor. Wie geschmiert liefen sie nämlich. Voraus sah ich, wie sich einer der Bäume verwandelte. Eben stand da noch eine Schwarzeiche, jetzt wuchtete ein Geisterbaum in den Morgenhimmel. Seine Äste wedelten schon unternehmungslustig und reckten sich dem Jeep entgegen. Ich merkte, daß das Fahrzeug die bisherige Richtung verließ und haargenau auf den Stamm zusteuerte. Bei dem Tempo brach ich mir das Genick. Und den Rest besorgte der Dämon, das war mir klar. Die Äste würden mich festhalten bis er zur Stelle war. Wahrscheinlich lauerte er schon in der Nähe. Ich überlegte gar nicht weiter, ich ließ mich aus dem Jeep fallen und überkugelte mich unzählige Male am Boden. Irgendwann blieb ich liegen. Mir hatte es die Luft aus den Lungen gedrückt. Ich japste wie ein Fisch kurz vor der Bratpfanne. Dann entsann ich mich, daß ich einen mächtigen Knall gehört hatte. Ächzend setzte ich mich auf. Der Jeep klebte am Stamm des Geisterbaumes. Er war hin, unwiderruflich. Aber ich lebte. Ich zählte nach, ob an mir noch alles dran war. Der Knöchel hatte noch was abgekriegt. Mein Anzug war endgültig beim Teufel. Den konnte nicht mal mehr ein geschickter Flickschneider zusammenlöten. Sonst aber war ich in leidlicher Verfassung. Ich stand auf und humpelte dahin zurück. wo mich der falsche Raffles in den Jeep gelockt hatte. Natürlich war der Kerl nicht mehr da. Er war verduftet. Ich schaute mich im Unterholz um, wo ich ihn hatte herauskommen sehen. Lange brauchte ich nicht zu suchen. 116
Zwei nackte Füße ragten unter einem Busch hervor. Ich bog die Zweige zur Seite. Ein nackter Leichnam lag vor mir. Er hatte die Haare von Raffles. Aber kein Gesicht. * Ich hatte so etwas befürchtet, und doch war mir, als würde ein eiskalter Stahl von unten nach oben durch meinen Körper fahren. Sich etwas ausmalen und etwas wirklich sehen ist ein Unterschied. Ich ließ die Zweige los und kehrte auf den Weg zurück. Für mich gab es nichts mehr zu überlegen. Ich mußte den Schwarzen mit dem gestohlenen Gesicht von Raffles stellen. Ich mußte ihm den besten Kampf meines Lebens liefern. Oder ich ging unter. Aber dann hielt den Kerl niemand mehr auf. Ich trottete den Waldweg entlang. Eine stattliche Streitmacht stellte ich nicht dar. Ich war verbeult wie eine alte Blechdose, hatte überall Schmerzen und hinkte wie der Teufel in seinen besten Jahren. Warum hatte der Schwarze mich an dem Baum zerschellen lassen wollen? Ich schielte zu den Trümmern des Jeeps hinüber. Der Schreck fuhr mir noch einmal ins Gemüt. So leise kam mir der Verdacht, daß vielleicht Likkat aus der Schwarzwelt hinter all den schrecklichen Dingen steckte. Der Schwarzwelt war ich ja versprochen. Ich schüttelte den Kopf. Das ging nicht zusammen. Es waren ja immer wieder Menschen hier spurlos verschwunden. Unendlich lange vor meiner Zeit schon. Und der Uralte hatte ja gesagt, daß der Schwarze Trekyr war. Ein anderer Name für den Kerl war nicht gefallen. Nein, ich war jetzt sicher, daß die Schwarzwelt nicht ihre grausigen Hände im Spiel hatte. 117
Warum dann hatte der Schwarze diese hinterlistige Falle aufgebaut? Hatte er Angst, ich könnte seinem grauenvollen Brunnendämon wieder zusetzen? In diesem Punkt hatte er recht. Ich war zu allem entschlossen. Ich rechnete mir sogar bescheidene Chancen aus. Denn der Krif hatte in der Nacht die Probe bestanden. Ich war nicht sang- und klanglos untergegangen und auf einem Pfahl am Brunnen gelandet. Oder hatte der Schuft es auf den Krif abgesehen? Erst war's nur eine Überlegung. Aber je länger ich nachdachte, desto bestechender wurde die Vermutung. Der Schwarze war von dämonischer Natur, und er mußte gespürt haben, daß der Krif mehr war als nur ein absonderlich aussehendes Beil. Vielleicht waren ihm die magischen Kräfte des Guten bewußt geworden, die dem Krif innewohnten. Ich spürte sie nicht, aber ich glaubte fest daran, daß sie den Krif auf eine nicht erklärbare Art beseelten. Unter diesem Gesichtspunkt setzte er freilich alle schmutzigen Tricks ein, um mir die Waffe abzujagen. Sie behagte ihm nicht, sie war eine Gefahr für ihn und seinen Dämon. Wenn es ihm gelang, sie mir wegzunehmen, war ich hilflos Und erledigt. Und er hatte Ruhe vor mir. Oder er kannte die Krifs sogar. Ich konnte mir vorstellen, daß sie zu seiner Zeit noch in Gebrauch waren. Ich nahm das Drei-Klingen-Beil in die Hand. Noch einmal überraschen ließ ich mich nicht. Ein bedenkliches Knistern und Knacken begleitete mich rechts und links. Ich schaute kurz hin. Der Geisterwald entstand wieder. Der Forst von Wark veränderte sich auf schreckliche Weise. Der Weg verschwand, Geisterbäume versperrten mir den Weg, 118
Äste hieben auf mich ein. Ich schwang den Krif und schlug mir Bahn. Das Schauspiel brachte mich nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Ich hatte es in der Nacht im Lampenlicht gesehen, und da war es entschieden unheimlicher gewesen. Während ich mit den vorschnellenden Ästen kämpfte, überlegte ich mir einen Zauberspruch, mit dem ich vielleicht den markierten Brunnen öffnen konnte. Ich hätte wer weiß was drum gegeben, wenn jetzt Miriam bei mir gewesen wäre. Die Hexe aus Soho kannte mit Sicherheit einen hilfreichen Zauber. So sehr ich auch grübelte, ich fand keinen passenden Spruch. Da nützte wohl alles nichts, ich mußte, mich eben auf die Lauer legen und warten, bis der Brunnen samt Dämon und den grausigen Pfählen erschien. Oder der Schwarze schickte mir seinen dämonischen Helfer und Henker. Daß ich im Geisterwald war, wußte er. Er hatte mich nicht stoppen können. Außerdem konnte er hören, wo ich mich gerade befand. Die Äste krachten schauderhaft, wenn ich sie mit dem Krif traf. Ich zwängte mich durch eine Baumlücke und schlug die Waffe in einen Baum, dessen Äste mich wie Polypenarme einfangen wollten. Der Baum brüllte grauenhaft auf. Ich hastete weiter. Kurze Zeit später sah ich den Kampfplatz vor mir. Der Boden war übersät mit abgeschlagenen Ästen. Sie wuchsen den Bäumen nicht nach – weder in ihrem verhexten Zustand noch in der Wirklichkeit. Vom Brunnen sah ich nichts. Ich spähte hinüber, wo ich die Markierung in den Boden geschnitten hatte. Täuschte ich mich, oder begann es dort wahrhaftig zu flimmern? Gerade, als sei die Luft heiß geworden. 119
Ich hielt den Atem an. Tatsächlich, der Brunnen wurde sichtbar. Er erschien aus dem Nichts. Ich war mißtrauisch und spannte alle Muskeln. Das kam mir alles zu plötzlich. Wie bestellt. Ich vermißte jedoch die Pfähle mit den ausgebluteten grauenvollen Köpfen. Jetzt bewegte sich etwas am Brunnen. Ich packte den Krif fester und hinkte stur los. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen, als sei ich gegen eine gläserne Mauer geprallt. Nicht der Dämon schwebte aus dem Brunnenschacht, da schwebte überhaupt nichts, sondern ein grauenvoll verzerrtes, von Angst und Entsetzen gezeichnetes Gesicht tauchte aus dem düsteren Loch auf. Das Gesicht einer Frau! Einer jungen Frau. Meine Schrecksekunde war kürzer als ein Augen zucken. »Mandy Reed?« brüllte ich. »Sind Sie Mandy?« »Hilfe!« rief sie mit einer Stimme, die noch mehr als ihr Gesicht etwas über ihren bedenklichen Zustand verriet. Sie war kurz vor einem geistigen Kurzschluß, freundlich ausgedrückt. »Um alles in der Welt, helfen Sie mir! Ich – Hilfe! Hilfe!« Sie tauchte hinab. Nicht freiwillig, wie ich annahm. Ich konnte mir den verteufelten Dämon oder den Schwarzen vorstellen, wie er sie in den Brunnenschacht hinabzog. Daß die Frau noch lebte, war für mich ein angenehmer Schock. Und dann verstand ich, warum der Dämon sie nicht enthauptet hatte. Sie war der Köder für mich! Genau wie Miriam drüben in Wales vor einiger Zeit. Besonders einfallsreich waren die Burschen aus den Schattenreichen und anderen düsteren Welten nicht gerade. In diesem Falle zog die Masche bei mir sogar. Ich sollte in den Brunnen gelockt werden. 120
Na, das konnten den Dämon und der Schwarze haben! Da wollte ich ohnehin rein. Deshalb schleppte ich ja Parrs Seil mit. Ich sprintete los; so gut es mit meinem Hinkebein ging. Als ich den schrecklichen Brunnen erreichte, hörte ich nur noch ein schwaches Geräusch aus der Tiefe. Wie ein Schlurfen. Ich rollte das Seil aus. Aber woran sollte ich es befestigen? Steighölzer waren immer noch nicht in den Löchern angebracht. Wozu auch? Der Dämon konnte hervorragend schweben, das hatte ich zu spüren bekommen. An einem Geisterbaum band ich das Seil lieber nicht fest. Deshalb legte ich eine große Schlinge um die Einfassung, schlug einen Knoten ins Seil, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und schwang mich über den Brunnenrand. Ich hielt den Krif in der rechten Hand und konnte daher nicht besonders gut bremsen. Ich verbrannte mir jämmerlich die Handflächen durch die Reibungshitze am Seil. Bevor ich in die dunkle Brühe am Grunde des Schachtes tauchte, pendelte ich gegen die Brunnenkammer und schaffte es, die Füße auf festen Grund zu setzen. Sekundenlang balancierte ich auf der Kante, dann schaffte ich es, den Schwerpunkt vor mich zu bringen. Ich torkelte in die vermeintliche Brunnenkammer und zog das Seilende herein. Den Rückweg wollte ich mir offenhalten. Ich bin von Natur aus Optimist. Eine Spalte zwischen rohen Steinen bot sich an. Ich klemmte das Seil darin fest, damit ich es nicht aus der Schachtmitte heranangeln mußte und dabei doch noch ins Wasser plumpste. Denn dann war's aus und vorbei mit mir. Vielleicht konnte ich ein paar Stunden herumschwimmen, bis ich so ausgekühlt war, daß ich erstarrte. Meine Rufe würde niemand hören. Ich hatte den Polizisten strikte Anweisung gegeben. Jede Rettungsmöglichkeit hatte ich mir selber verbaut. 121
In der aussichtslosen Lage befand ich mich gottlob nicht. Ich knipste die Taschenlampe an, begutachtete die Blasen und rohen Stellen auf meinen Handflächen und fluchte unterdrückt. Dann besah ich mir die Umgebung. Die Brunnenkammer entpuppte sich wirklich als Mündung eines dunklen Ganges, aus dem mir das schwere Tropfen von Wasser entgegenklang. Aus der Ferne glaubte ich einen leisen verzerrten Schrei zu hören. Ich hinkte los und war auf jede Hinterlist gefaßt. Daß zunächst überhaupt nichts passierte, schärfte meine Wachsamkeit nur. Ich rechnete mit einem blitzschnellen Angriff aus einem düsteren Winkel heraus, den ich vielleicht übersah. Oder sie nahmen mich in die Zange. Darum lauschte ich immer häufiger hinter mich und leuchtete auch in den Gang zurück. Da war nichts und niemand. Nur tropfendes Wasser. Der Gang war durch natürlichen Fels gebrochen. Wenn er zu Dwynns Zeiten entstanden war, stellte das eine unvorstellbare Leistung dar. Wohin er führte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hoffte nur, zu Mandy Reed. Wie lange ich unterwegs war, wußte ich nicht zu sagen. Plötzlich klangen meine Schritte anders, der Nachhall wurde voller und tiefer. Verdutzt leuchtete ich in einen großen ausgehauenen Raum. Er mußte ganz schön tief unter der Erde liegen, denn Wasser rann an mehreren Stellen von der Felsendecke. Die gefiel mir überhaupt nicht. Sie war zerbröckelt und wirkte morsch, daß ich fürchtete, ein ordentlicher Nieser würde sie einstürzen lassen. Von dem Raum gingen mehrere Türlöcher nach den Seiten ab. Bei ihrem Anblick hatte ich kein gutes Gefühl. Ich spürte die Gefahr, bevor ich sie sah. Ein seltsames Schlurfen und Schleifen erklang. Anders als das aus 122
dem Gang, als ich in den Brunnen gestarrt hatte. Ich leuchtete herum. Eine Bewegung in einem der dunklen Türlöcher ließ mich zusammenfahren. Dann sah ich auch etwas aus dem nächsten Loch kommen. Mir gefror fast das Blut. Aus den Öffnungen wankten grauenerregende mumifizierte Gestalten. Und andere, die noch relativ frisch aussahen. Nur hatten sie keinen Kopf mehr! * Mein Magen ging rauf und runter. Ich hatte schon viel Grauenvolles gesehen, aber so etwas noch nicht. Die Gestalten gaben mir kein großes Rätsel auf. Der Schwarze hatte die Körper der unglücklichen Opfer nicht seinem Dämon zum Fraß gegeben oder sie verschwinden lassen. Er hatte sie aufbewahrt. Vielleicht, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen. Jetzt hatte er sie belebt und auf mich gehetzt. Denn ihre Absicht war unmißverständlich. Sie schwankten auf mich zu wie an einem Faden gezogen. Der Anblick der blutigen oder vertrockneten Halsstümpfe zerrte an meinen Nerven. Ich schluckte mehrmals, atmete langsam und veränderte meinen Standort so leise, wie es mein verstauchter Knöchel erlaubte. Ich konnte die Schreckensgestalten nicht täuschen. Sie schwenkten sofort ein. Der Schwarze lenkte sie. Das war mir klar. Wo war der Kerl? Warum zeigte er sich nicht oder ließ den Dämon los? Die erweckten kopflosen Toten drohten mich einzukreisen. Ich zog mich an eine Wand des Raumes zurück, um den Rücken 123
frei zu haben. Es widerstrebte mir, gegen die schwankenden Körper vorzugehen. Mit dem Krif konnte ich sie sicher in die Flucht schlagen. Darauf hoffte ich. Als ich die Waffe den Gestalten entgegenreckte, geschah überhaupt nichts. Jedenfalls nicht das, was ich wünschte. Sie kamen näher. So unabänderlich wie das Schicksal. Der Krif hielt sie nicht auf. Ein Arm schnellte vor, eine derbe Hand krallte sich mit unvorstellbarer Kraft in meine rechte Achsel. Ich brüllte auf vor Schmerz. Die Gestalt schien aus grauer Vorzeit zu stammen. Jedenfalls war die Kleidung so ähnlich beschaffen wie die des Uralten. Eine zweite Hand zielte nach mir. Sie gehörte einem Körper, dessen Beine in Gummistiefeln steckten. Der grausige Halsstumpf war frisch und blutig. Raw oder Paisly, zuckte es mir durch den Kopf. Als mich die dritte Hand packte, geriet ich in Panik. Ich versuchte, Gefühle auszuschalten und nur die Logik walten zu lassen. Diese Körper waren tot. Der Schwarze hatte sie beseelt beziehungsweise mit dämonischem Leben erfüllt. Es konnte kein Frevel sein, daß ich Totes dahin zurückschickte, woher es gekommen war. Deshalb holte ich aus und schmetterte den Krif in den nächsten Körper. Etwas ging vor, geheimnisvolle Kräfte entfalteten sich. Der Körper wurde zurückgeschleudert und blieb auf dem Boden liegen. Ich war derart verdutzt, daß ich eine zustoßende Hand zu spät bemerkte. Sie lehnte sich wie ein würgender Ring um meinen Hals. Und dann waren andere Hände da, ein Dutzend bestimmt, die im Begriff waren, mich bei lebendigem Leib in Stück zu reißen. Ich kämpfte um mein Leben. Ich ließ den Krif wirbeln und zuckte jedesmal zusammen, wenn der Krif in einen Körper schlug. 124
In Schweiß gebadet, mit zerfetztem Jackett und zerrissenem Hemd verkaufte ich meine Haut zum Höchstpreis. Der war zu hoch. Denn die wenigen nicht gefällten Körper rotteten sich plötzlich zusammen und schwankten in einer grauenhaften Prozession zu den dunklen Türlöchern zurück. Mit kaltem Grausen blickte ich über die kopflosen Körper hin, die der Krif gefällt hatte. Dreißig waren es bestimmt, eher noch mehr. Ich lehnte erschöpft an der rauhen Felswand und rang nach Atem. Und ganz zaghaft stellte sich so etwas wie Zuversicht ein. Ich war dem Schwarzen und seinen Ränken gewachsen! Das gab mir Auftrieb. Ich hoffte wieder für Mandy Reed! Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich hob den Kopf. Sie waren da – beide. Mit ihrem Opfer. Der Schwarze besaß noch immer das Gesicht, das er Raffles gestohlen hatte. Er grinste auf teuflische Weise. Der Dämon schwebte schräg hinter ihm, hatte einen Arm um die junge Frau geschlungen und das entsetzliche Schwertmesser an ihren Hals gesetzt! * Soweit ich erkennen konnte, hatte Mandy Reed die Augen geschlossen. Ich wünschte, daß eine wohltuende Ohnmacht sie umfangen hielt. Damit sie all die kopflosen Körper nicht zu sehen brauchte. Der Schwarze und der Dämon waren aus einem dunklen Loch in der Wand mir gegenüber gekommen. Ich vermutete, daß der Gang dort seine Fortsetzung nahm. »Du bist ein beachtlicher Gegner«, sagte der Schwarze mit der Stimme von Raffles. Sogar die hatte er ihm gestohlen. Aber dann 125
kicherte er, und das war sein eigenes schwachsinniges Gelächter. Ich kannte es aus der vergangenen Nacht. »Man tut, was man kann!« knurrte ich und hob den Krif. Für einen Wurf schätzte ich meine Chancen gar nicht schlecht ein, Der Raum war hoch genug und bot Platz. »Das ist eine mächtige Waffe!« Er zeigte auf das Drei-KlingenBeil. »Sie widersteht allem Zauber.« »Das will ich hoffen!« stieß ich hervor. Er kannte den Krif demnach nicht. Aber er wußte, was ich damit anrichten konnte. »Ich will sie besitzen!« Der Schwarze streckte die Hand fordernd aus. »Wenn du sie nicht hergibst, schneidet er ihr den Kopf ab.« Er machte eine knappe Bewegung mit der anderen Hand in Richtung des Dämons. Wenn ich mich auf den Handel einließ, war ich der größte Idiot, der jemals auf Britanniens Boden gewachsen ist. Gab ich den Krif aus der Hand, war ich wehrlos. Dann hatte ich keine Chance, für Mandy Reed noch irgend etwas zu tun. Noch lebte sie. Das war mehr, als nach all den Umständen zu erwarten war. Und ich lebte auch noch. In so einer Situation klammert man sich an einen Strohhalm. Der Krif war mehr als das. Mit ihm konnte ich mit viel Glück das Blatt zu unseren Gunsten wenden. Dazu mußte ich den Krif aber gegen den Dämon schleudern. So fix, daß ich ihn erwischte, bevor er das Schwertmesser in Mandys Hals drückte. Mit dem Schwarzen müßte ich auf andere Weise fertig werden. Doch darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken. Denn wer den zweiten Schritt tut, bevor er den ersten macht, kommt leicht ins Stolpern und fällt auf die Nase. Ich winkelte den rechten Arm an. Meine Blasen brannten wie Höllenfeuer. »Ich glaube nicht, daß du viel Freude an dieser Waffe hast!« sagte 126
ich betont langsam, um beide in Sicherheit zu wiegen. Der Dämon mißtraute mir. Seine Augen begannen zu funkeln und zu glühen. Das lag nicht allein am Licht meiner Taschenlampe. Er schwebte ein Stück vor und zog die junge Frau mühelos mit. Jetzt –! Ich wollte gerade die Waffe mit mächtigem Schwung auf den wirbelnden Flug schicken, als ich in der dunklen Öffnung hinter ihm eine undeutliche Bewegung sah. Ich stutzte und zögerte. Eine Gestalt glitt lautlos aus dem Gang. Mir sackte das Herz noch tiefer. Jetzt hatte ich es auch noch mit einem dritten dämonischen Gegner zu tun! Im nächsten Augenblick erkannte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Nie war mir ein Irrtum willkommener. Die lautlos hereingleitende Gestalt war – der Uralte! Die Ketten, die ich im letzten Moment hatte durchtrennen können, hielt er mit seinen welken vertrockneten Händen gepackt. Damit sie nicht klirrten, nahm ich an. Aber er hatte etwas anders mit ihnen vor. Er beachtete mich gar nicht. Er starrte nur auf den Dämon. Er pirschte sich hinter den. Und dann schnellte der Uralte hoch, als sei er ein junger Krieger voller Saft und Kraft. Blitzschnell schlang er eine Kette um den Hals des Dämons. Mit einem gewaltigen Ruck riß er die gräßliche Erscheinung nach hinten und hinab auf den Boden. Mandy Reed wurde mitgerissen. Aber das schreckliche Messer war von ihrem Hals fort. Der Uralte stieß Schreie aus, die seinen aufgestauten Haß ausdrückten. Er zog mit unglaublichen Kräften die Kette enger um den Hals des Dämons. Und dieser brüllte, daß sich aus der Decke des Raumes Steine lösten. Die Wände schienen sogar zu beben. 127
Der Schwarze war herumgewirbelt. Das gestohlene Gesicht verzerrte sich in unvorstellbarer Grausamkeit. Dann sprang er mit Riesensätzen los, um einem Dämon gegen den Uralten beizustehen. Ich staunte nur noch, woher Dwynn die Kräfte nahm. Aus seinem vertrockneten Körper gewiß nicht. Der Dämon kreischte in den höchsten Tönen. Er schien begriffen zu haben, daß der Uralte ihm den Garaus machen wollte. Mit dem Schwertmesser stach er wie wahnsinnig um sich. In den Wirbel von Armen und Beinen prallte der Schwarze. Sein Haß auf Dwynn mußte grenzenlos sein. Ich sah, daß er gegen den Waffenarm seines Dämons stürzte. Der Arm flog in eine andere Richtung. Das Messer fuhr tief in die Brust des Uralten. Der Schwarze schrie auf wie von Sinnen. Er sah sich um seine grausame Rache betrogen, Dwynn bis ans Ende der Zeit leben und leiden zu lassen. Ein verklärter Ausdruck erschien auf dem Pergamentgesicht des Uralten. Das bildete ich mir jedenfalls ein. Die Augen glänzten in Erwartung einer langersehnten Freude. Mit einem zufriedenen Seufzer sank der Uralte nieder und zog im letzten Aufflackern des endlich versiegenden Lebens die Kette um den Hals des Dämons noch einmal zusammen. Die Ketten klirrten wie berstendes Glas. Mir zitterten alle Knochen. Dieser Kampf hatte etwas Gigantisches. Dwynn hatte endlich seine Erlösung gefunden. Im Hinübergleiten ins Reich des Todes hatte er noch den Dämon besiegt, der einst seine ganze Sippe ausgelöscht hatte. Der Dämon rührte sich nämlich nicht mehr. Schlaff und häßlich und grauenvoll lag er dort. Der Schwarze stieß ein klagendes Geheul aus, das plötzlich in ein unbändiges Wutgebrüll überging. 128
Die Trauer um seinen Dämon hielt nicht lange vor, wahrlich. Er schien erst jetzt begriffen zu haben, daß er selber Dwynn, den Uralten, ins Land des Friedens geschickt hatte. Und im nächsten Moment wirbelte er herum. Ich erschauerte. Er war wieder der Gesichtslose. Vielleicht hatte das Verschwinden des gestohlenen Gesichtes mit dem Tod des Dämons zu tun. Es war eine Vermutung von mir. Aber in solchen Augenblicken kommt man auf die absurdesten Gedanken. Ich wollte den Krif schleudern, als ich sah, daß er sich nach der Frau bückte. Schneller, als das Beil sein konnte, riß er sie hoch und deckte sich damit. Ich behielt den Krif in der Hand und sprang ohne Rücksicht auf meine Schmerzen im Knöchel los. Ich stolperte über ein Bein, fing mich und hastete weiter. Der Schwarze versuchte, mit der Frau den Gang zu gewinnen. Gottlob stolperte er auch. Er hatte eine Kette übersehen, die der Uralte nicht hatte abstreifen können. Zwar riß er Mandy Reed wieder als Schutzschild über sich. Aber er deckte seinen Körper. Und auf den hatte ich es nicht abgesehen. Ich zielte auf seinen kurzen Hals. Dorthin, wo er unter dem schwarzen Loch des verlorenen Gesichts endete. Ich hatte das Gefühl, in einen Baumstamm zu schlagen. Der Krif ruckte in meiner Hand wie ein Lebewesen. Ein gräßlicher Schrei prallte mir entgegen. Dann spritzte schwarzes Blut. Trekyr wand sich zuckend am Boden. Ich entriß ihm Mandy und humpelte ein paar Schritte zurück, bereit, noch einmal mit dem Drei-Klingen-Beil zuzuschlagen. Der Schwarze war also doch ein Schwarzblüter gewesen! Mir richtete es erst jetzt die Haare auf. Nach wenigen Augenblicken lag er still. 129
Ich hoffte, daß vielleicht sein wahres Gesicht jetzt zum Vorschein kam. Aber das Loch blieb. Da zeigte sich nichts. Dafür hörte ich etwas. Im Gestein begann es zu knirschen und zu knacken, daß mir ganz anders wurde. Ich packte Mandy und schleppte sie mit mir, so gut es eben ging. Sehr zart konnte ich nicht mit ihr umspringen. Ich schaffte es irgendwie, die Brunnenkammer zu erreichen. Ich knotete das Seil so kurz, daß ich Mandy daran festbinden und sie dicht über dem Wasser schweben lassen konnte. Sie war noch immer ohnmächtig, in diesem Zustand konnte ich nicht mit ihr hochklettern. Ich packte das Seil und hievte mich Hand über Hand hoch. Der Brunnen bestand noch. Sonst hätte es finster für uns beide ausgesehen. Aber aus der Tiefe drang ein beängstigendes Rumpeln und Dröhnen, und es kam rasch näher. Ich pumpte mir die Lungen mit Luft voll, stemmte mich gegen den Brunnenrand und holte das Seil mit Mandy hoch. Als ich sie neben mir liegen hatte, klappte ich zusammen. Ich war ausgepumpt und fertig. Ein mörderischer Krach trieb mich aber bald wieder hoch. Ich zerrte Mandy von dem Brunnen des Schreckens weg. Im nächsten Augenblick krachte dort alles zusammen. Und dann war die Einfassung verschwunden, der Boden war glatt wie eh und jeh, wenn nicht gerade der Dämon auftauchte und wieder ein Opfer holte. * Ich gab Mandy Zeit, sich zu erholen. Sie war mit den Nerven fertig, darum gab ich keine langen Erklärungen. Sie gehörte in die Hände von guten Ärzten. Vielleicht kam sie eines Tages über die ausgestandenen Schrecken hinweg. Ich wünschte es ihr. 130
Auf dem Rückweg schaute ich unter dem Busch nach. Raffles Leiche lag noch immer dort. Ohne Gesicht. Ich kam nicht hinter das Geheimnis. Und ich wollte es auch gar nicht wissen, wie der Schwarze es geschafft hatte, dem Mann das Gesicht zu nehmen. Nach einer Weile drehte ich mich um. Ich vermißte etwas. Richtig, die Geisterbäume. Aber die waren verschwunden. Der Hexenbann des Schwarzen war gebrochen. Für alle Zeit. Denn seitdem hat man im Wald von Wark nie wieder Geisterbäume gesehen. Nie wieder hat ein einsames Licht tief im Wald gebrannt. Nie wieder sind dort Menschen spurlos verschwunden. Ich hoffe, daß Dwynn, der Uralte, gut an seinem Ziel angekommen ist. Im Land des Todes und des Friedens, wohin er sich seit Urzeiten gewünscht hatte. ENDE
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In vierzehn Tagen erscheint der packende Mac Kinsey-Gruselthriller Nr. 11. Norman Thackery hat ihn geschrieben. Er heißt:
Der Engel des Grauens � Lesen Sie hier den gruseligen Beginn: Gespenstisch bleich war Rebecca Gallingers Gesicht, als sie durch das Fenster hinausblickte. Die Dämmerung senkte sich aufs Land, die Nacht kam und mit ihr kehrte die Angst ein. Ob heute wieder der Totenvogel mit langsamen Schwingenschlägen über den alten Friedhof hinstrich? Jetzt war seine Zeit. Um diese Stunde tauchte er auf. Seit drei Abenden. Sie legte die Stirn gegen die Scheibe. Die Türme der Abtei von Waltham versanken im Grau der Dämmerung. Die Schatten der Nacht krochen zwischen die schiefen Leichensteine und breiteten sich aus, bis sie wie ein Totentuch alles dort draußen zudeckten. Rebecca fürchtete sich vor diesem Friedhof gleich hinter dem Garten. Er erinnerte sie zu sehr an die Vergänglichkeit alles Lebendigen und vor allem daran, daß sie selber nur noch ein Gastspiel auf Erden gab, das jederzeit durch eine höhere Macht beendet. werden konnte. Mit jedem vergehenden Tag kam sie dem Ende ihres Pfades einen Schritt näher. Unabänderlich, unwiderruflich. Dem Doktor, der jeden zweiten Tag vorbeikam und krampfhaft bemüht war, Zuversicht zu verbreiten, glaubte sie schon lange nicht mehr. Er war ein barmherziger Lügner, mehr nicht. Sie sah ja selber, was mit ihr los war. Sie wußte es seit jenem Tag vor drei Jahren, als sie in einem Weißen Bett erwacht war, umgeben von Ärzten und Schwestern, die alle den lüstern-wissenschaftlichen Blick hatten. 132
Rebeccas Finger krallten sich in die Decke über den Knien. Basil umgab sie mit rührender Fürsorge, schleppte Bücher, Magazine und Zeitschriften heran, um ihr Ablenkung zu verschaffen. Es war ein kümmerlicher Ersatz für das Leben, das an ihr vorbeiging. Die Bücher und Zeitschriften vertrieben nicht die Einsamkeit und nicht die Angst, Basil könnte eines Tages nicht mehr nach Hause kommen. Er hatte ein Mädchen für den Haushalt und zur Pflege eingestellt. Eine überragende Pflegerin war Dolly Bacon nicht, mehr ein schwatzhaftes Ding, das den ganzen Tratsch von London zu kennen schien. Aber Dolly brachte Leben ins Haus, darum ertrug Rebecca das Geplapper, das von früh bis spät durch die Räume tönte. Selbst jetzt noch, obgleich sich Dolly für den Heimweg rüstete. Sie wohnte in einem anderen Viertel und blieb nie länger als bis acht Uhr. Ihre leichten Schritte klapperten die Treppe herab. In der Diele verstummten sie. »Huh!« machte Dolly. »Sitzen Sie wieder am Fenster? Sie sollten Licht machen. Es ist nicht gut, in der Dunkelheit zu grübeln.« Soweit eine Kostprobe aus dem nächsten Mac Kinsey-Gruselthriller. In vierzehn Tagen erhalten Sie ihn. Dann ist wieder Kinsey-Time! Gruseln Sie sich schön!
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