K U R T
EG G E R S
Der Berg der Rebellen
34. — 48. Tausend
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
S C H W A R Z H Ä U...
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K U R T
EG G E R S
Der Berg der Rebellen
34. — 48. Tausend
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
S C H W A R Z H Ä U P T E R - VERLAG
LEIPZIG
Meiner Kamaradin Traute
Alle Rechte vorbehalten 1942
durch Schwarzhäupter-Verlag Jüstel & Göttel, Leipzig
Printed in Germany
Druck: NS-Druck Wartheland, Posen
Die Fieberkurve
9. November 1918: Deutschlands Ehre stirbt. 18. November 1918: Polnische Abteilungen be setzen ohne Kriegserklärung Grenzortschaften der Provinz Posen. 15. Dezember 1918: Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Anfang 1919:
Die schwachen deutschen Grenztruppen müssen vor den Polen zurückweichen.
6. Februar 1919:
Vorläufiger Waffenstillstand zwischen Deutschland und Polen.
7. Mai 1919:
Versailler Diktat.
28. Juni 1919:
Lumpen deutscher Staats angehörigkeit setzen ihren Namen unter das Versailler Diktat.
17./24. August 1919: Erster Polenaufstand in Ober schlesien.
19./25. August 1920: Zweiter Polenaufstand in Oberschlesien. 20. März 1921:
Abstimmung in Oberschlesien: 707000 Stimmen für Deutsch land, 479000 Stimmen für Polen.
3. Mai 1921
Beginn des dritten Polen aufstandes in Oberschlesien.
21. Mai 1921:
Erstürmung des Annaberges durch deutsche Freikorps. Tag der Auferstehung deut scher Ehre.
Vorspruch Geschichte ist Tat! Tat aber wird geboren aus Ideen und Sehn süchten, aus Erkenntnissen und Forderungen. Nicht immer treibt das Wissen den Willen, sehr häufig ist es die Not, die den Mann zum Krieger reifen läßt. Dort aber, wo der Krieger sich erhebt, weichen die Schatten der Not und der Schande vor dem sieghaften Leuchten der Bereitschaft. Letzter und befreiender Trost ist das blanke Schwert, und wohl dem Manne, der es in Zeiten großer Wandlungen zu führen weiß: er empfängt inmitten der Stürze und Untergänge, der Zweifel und Ängste die gewisse Botschaft, daß dem Starken durch die Tat das Tor zur Freiheit und Herrschaft geöffnet ist. Wohl dem Manne, dessen Herz fest wird: er ge winnt im Wagnis des Sprunges aus dem Taumel das rettende Land. Von dem Sprung aus dem Taumel will ich be richten, von dem Sprung, den deutsche Männer wagten, als noch Nacht lag über Deutschland. Von ihrer Seele will ich schreiben, die tastend sich erhob aus der Erstarrung des Schreckens, und die
frei wurde zum Höhenfluge, als die Herzen der Einsamen sich anschickten zum Opfergang. Das Kampfziel der Freikorps, die um den heiligen Berg der Deutschen, den Annaberg, stritten, war, ge messen an den Blutopfern der Schlachten des Großen Krieges, gering. Groß aber und verehrungs würdig erscheint dieses Ziel, wenn es gemessen wird an der Freiwilligkeit, ein fast hoffnungsloses Schicksal auf sich zu nehmen, und den Befehl des Blutes auszuführen, der da fordert, die Gesetze der Ehre und der Pflicht zu erfüllen. Die heimliche Nation hat jene Männer zu Helden gekrönt, die heimatlos wurden und Feinde des Staates hießen. Mit ihren Kämpfen und Leiden wuschen sie die Blutschuld des Verrates ab, der die Fahne des Volkes besudelt hatte. Ehre ihrer Tat, die Geschichte ist! Ehre ihrer Sehnsucht, die in müden und nichts würdigen Zeiten das verlorene Schwert des Krie gers fand.
Solange ein Volk Noch Krieger gebiert, Ist es gerecht!
Das Jahr 1921
„Das war nicht der Glaube, der Berge versetzt-, das war der Glaube, der Berge stürmt."
W
achtmeister Riehl, Sie gehen mit drei Mann in die Herderstraße. Sie wissen Bescheid, die kleine Bäckerei. Und vorsichtig sein!" Der Wacht meister erhebt sich von seinem Schemel und nimmt Haltung an: „Jawohl, Herr Leutnant!" Während sich die vier Schutzpolizisten langsam fertigmachen, umständlich die Pistolen nachsehen und den Tschako zurechtrücken, ist ein junger, hagerer Wachtmeister aufgestanden und zur Tür gegangen. „Wohin, Lemke?" „Nur einen Brief in den Kasten werfen, Herr Leutnant." Mißtrauisch schaut der Leutnant dem Davon eilenden nach. Ein undurchsichtiger Bursche, der Lemke! Denkt zuviel, liest Bücher, geht in Versammlungen! Hat Freunde unter früheren Baltikumern! Der Leutnant ist ärgerlich. Lemke soll ihm ge fälligst keine Unannehmlichkeiten bereiten. Es gibt genug Ärger in dieser verrückten Zeit. Ein brüche, Streiks, Revolten, das reicht für den Dienst. Damit aber auch genug! Nur nicht die Nase in diese verfluchte Politik stecken. Stinkt zu sehr und ist ein Geschäft für Selbstmörder. Ideale! Schön und gut für Konfirmanden und Kriegs 15
freiwillige, aber einem, der einmal freiwillig in den Krieg gegangen ist und einen November 1918 mit machen mußte, dem soll man nicht mit Idealen kommen! Der Leutnant stutzt. Lemke wollte doch zum Briefkasten gehen? Warum geht er denn zur Telefonzelle? — Wachtmeister Lemke hat die Münze in den Spalt geworfen und Steinplatz 4518 verlangt. Herrgott noch mal, dauert das lange, bis sich einer meldet. Endlich! „Steinplatz 4518." „Bäckerei Heenemann?" „Jawohl." „Rufen Sie bitte Herrn Maßmann." Lemke wird ungeduldig. Jede Minute Wartens fällt auf, denn der Briefkasten ist nur wenige Meter von der Polizeiwache Zoologischer Garten entfernt. „Karl?" „Ja?" „Ihr bekommt Besuch. Vier Mann. In ungefähr fünfzehn Minuten." „Danke, verstanden." „Schluß!" „Schluß!" Lemke hängt befriedigt an. — In der Polizeiweiche stößt er auf das Kommando Riehl. „Viel Erfolg, Riehl." Riehl, ein überzeugter Sozialdemokrat, lächelt gutmütig. „Einmal werden wir die Hunde schon 16
packen, Lemke, dann ist der Spuk dieser ewigen Abenteurer für längere Zeit beendet." Lemkes Züge sind hart geworden, als er den vieren nachsieht, die in der Richtung Hardenberg straße verschwunden sind. Weiß der Teufel, schön ist dieses Versteck spielen vor den Kameraden nicht, aber schließlich stehen die Männer in der Herderstraße, die jetzt gewarnt sind, einem Soldatenherzen näher. Eine Hand legt sich schwer auf Lemkes Schulter. Der Leutnant! „Seit wann steckt man Briefe in die Telefon zelle, Lemke?" „Kleine Notlüge, Herr Leutnant, ich habe mein Mädchen angerufen!" Der Leutnant mustert den Wachtmeister mit zusammengekniffenen Augen. „Sie sind nicht sonderlich vorsichtig." Lemke gibt sich einen Ruck und sieht seinen Vorgesetzten mit klaren Augen an. „Vielleicht gibt es in der Welt eine höhere Treue, die sogar große Unvorsichtigkeiten ent schuldigt." Dem Leutnant ist nicht sonderlich behaglich, er wollte keineswegs politische Gespräche begin nen. Es ging ihm vielmehr darum, dem Wacht meister einen kameradschaftlichen Rat zu geben. Denn immerhin war Lemke einmal ein tapferer Unteroffizier vor dem Feind gewesen, hatte das silberne Verwundetenabzeichen und das E.K.I. „Nehmen Sie Vernunft an, Lemke, der Krieg ist aus. Sie haben Ihren Kopf genug hingehalten. 17
Und schließlich sind Sie auf die Republik ver eidigt." Lemkes Mundwinkel verziehen sich spöttisch. „Der zu große Umsatz an Eiden hat leider eine Entwertung zur Folge gehabt." Des Leutnants Stimme wird leiser. „Das will ich nicht gehört haben. Es würde für ein Hochverratsverfahren ausreichen." Lemke schweigt, aber der spöttische Zug um seinen Mund ist stehengeblieben. Der Leutnant ist nervös geworden. Er ärgert sich, eingestehen zu müssen, daß ihn die seelische Überlegenheit des Untergebenen kränkt. „Ich werde auf Sie achtgeben, verlassen Sie sich darauf und richten Sie sich dementsprechend ein." „Zu Befehl, Herr Leutnant!" Lemke sieht auf die Uhr. In fünf Minuten muß er seinen Straßendienst antreten.
K
alt ist dieser Winter. Seit Menschengedenken hat es keinen so harten Frost und solchen schneidenden Nordost gegeben. Wachtmeister Riehl flucht in sich hinein. Berlin ist ein verdammt heißes Pflaster. Hier scheint es nur Verbrecher oder Revolutionäre von rechts und links zu geben. Warum mußte ihn auch der Teufel reiten, sich ausgerechnet von Oppeln nach Berlin versetzen zu lassen? Er ist immer ein guter Sozialdemokrat gewesen, gewiß, und hat zehn Jahre schon, anfangs heim
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lich und später öffentlich prahlend, seine Partei beiträge gezahlt. Das bedeutet immerhin einen Anspruch auf eine gehobene Stellung! Aber Berlin hat ihn enttäuscht. Wo ist das viel gerühmte heitere Leben dieser Stadt? Ausgehungerte Leute, ohne Lebenslust, ohne Gemütlichkeit. Und Mädchen gibt es schließlich auch in Oppeln. Wachtmeister Riehl beginnt ein Gespräch. Über die Völkischen. Wer sie wohl bezahlt? Und ob sie schon den nächsten Krieg vorbereiten? Die anderen drei sind wortkarg. Was gehen sie die Völkischen an! Sie tun ihren Dienst, und damit basta! — Nur wenige Menschen sind auf der Straße. Ein Wursthändler preist seine Ware an. Wachtmeister Riehl schüttelt sich, wenn er an den Inhalt dieser verdächtig riechenden Würste denkt. Vor kurzem erst wurde ein Frauenmörder verhaftet, der seine Opfer zu solchen Würstchen verarbeitete, wie sie zu mitternächtlicher Stunde in den Straßen Ber lins verkauft werden. Grauenvolle Stadt! Das wäre in Oppeln niemals möglich gewesen. Ein paar Huren lärmen, um die Aufmerksam keit der auszubeutenden Männer auf sich zu ziehen. Aber heute denkt auch ein Angetrunkener nicht daran, sich der blaugefrorenen, armseligen Ge schöpfe zu bedienen. Selbst die Uniform ist nicht sicher vor den werbenden Belästigungen dieser aufreizend kurz gekleideten Frauenspersonen. 19
Wachtmeister Riehl wirft dem jüngsten seiner Kameraden, der mit einer dieser Geschminkten ein paar derbe Scherzworte wechselt, einen ver weisenden Blick zu. — Da sind schon die ersten Häuser der Herder straße. Alles ist in friedliches Dunkel gehüllt. Wer sollte auch um diese Zeit noch Licht bren nen? Der Bürger ist so verängstigt, daß er um zehn Uhr abends ins Bett kriecht und seinen lieben Gott bittet, ihn am nächsten Morgen möglichst unausgeplündert erwachen zu lassen. Und die Menschen, die um diese Zeit noch in Berlin Licht zu brennen pflegen, haben allen Grund, ihre Fenster peinlich abzudichten. Auch die Bäckerei Heenemann liegt harmlos und verschlafen da. Die vier Polizisten bleiben einen Augenblick stehen. In dem der Bäckerei gegenüberliegenden Hause flammt für eine Sekunde eine Lampe auf. Wachtmeister Riehl lacht geringschätzig. Er weiß, daß in dem sofort wieder dunkel ge wordenen Zimmer Louise Ostade wohnt, die kleine Flämin, die Braut des Leutnants Maßmann, die ihrem Liebsten aus Belgien gefolgt ist. Wachtmeister Riehl kennt die Verhältnisse dieser Abenteurer ganz genau, dieser unbelehr baren Putscher und Landsknechte, die sich die Bäckerei Heenemann als Giftküche für ihre toll kühnen Ideen und Taten erkoren haben! Aber heute soll die Warnung des Mädels zu spät kom men! Mit drei, vier weiten Sprüngen steht er am Tor, aus dem Louise soeben herausschlüpfen will. 20
„Halt! Ruhig bleiben, Fräulein!" Louise schreit schrill auf. Riehl wird grob. „Maul halten, dumme Göre!" Louise lächelt in sich hinein. Karl ist gewarnt. Fast ist sie etwas enttäuscht, als wenige Minu ten später Riehl wutschnaubend zugeben muß, daß in der Bäckerei Heenemann nichts Verdächtiges zu finden sei. Da sitzen sie nun harmlos um den Tisch in Heenemanns guter Stube: der Leutnant Karl Maß mann, heute Zeitungswerber für den Berliner Lokal-Anzeiger, der Unteroffizier Paul König, ge nannt Napoleon, ein Beiname, der ihm auf Grund seiner ständigen strategischen Einwände während der Baltikumkämpfe zugefallen war, der Vize wachtmeister Felix Teuscher, der gemeinsam mit König Fallschirme verkauft und Versicherungen vertritt, der Gefreite Xaverl Fuchsberger, der eingentlich nur nach Berlin gekommen war, um seinen Leutnant Maßmann zu besuchen und bei dieser Gelegenheit hängengeblieben ist, jetzt aus hilfsweise das Acht-Uhr-Abendblatt verkauft, an geblich um Menschen kennen zu lernen. Dann ist da noch der Kriegsfreiwillige von 1917 und heutige Student der Philosophie Martin Harke, der Lustigste und Frechste von allen, allerdings steht ihm Bäcker Heenemann in ungebundener Lebenshaltung und Saftigkeit der Redewendungen nur wenig nach. Frau Heenemann, ein nettes, jun ges, unbekümmertes Ding aus Ostpreußen, von 21
Harke Marjellchen genannt, ist anscheinend gut aufgelegt. „Wollen Sie nicht wenigstens Platz nehmen, Herr Wachtmeister? Wir waren gerade so nett im Spiel. Mensch, ärgere dich nicht!" Riehl trommelt nervös mit seinen dicken Fin gern auf den Tisch, daß die Steine des geist tötenden Spieles tanzen. Die Polizisten grinsen verlegen. Eine erfolglose Razzia hat immer etwas Beschämendes. Noch nicht einmal eine kleine Pistole im Taschenformat ist gefunden worden. Harke steht frech pfeifend auf und stakt mit seinen langen Beinen auf das alte Klavier los. Zwinkernd lacht er Riehl zu, dann haut er in die bräunlich schimmernden Tasten. „Ein Mädchen wollte früh aufstehn, dreiviertel Stund vor Tag . . . " Das Brommelbeerenlied! König beginnt den Text zu grölen. Seine Stim me ist heulend und heiser. Teuscher und Fuchs berger fallen ein, Heenemann und Marjellchen folgen. Louise summt die Melodie; sie hat sie oft genug gehört, nur der Sinn der Worte ist ihr noch immer rätselhaft. Riehl weiß sich nicht mehr zu helfen, er lächelt gezwungen und winkt ab. „Heute hat's noch nicht geklappt. Auf Wieder sehen!" Maßmann ist aufgestanden. „Sie müssen nicht jedem glauben, der uns ver pfeift." 22
Die vier Polizisten räumen hastig die Bäckerei. Martin Harke ist klug genug, noch drei, vier rauhe Soldatenlieder zu spielen, und seine Ka meraden singen so laut, daß sie durch die nacht stille Herderstraße zu hören sind, fast bis zum Steinplatz. Als Harke endlich die Hände sinken läßt, hat Marjellchen Tränen in den Augen. „Wenn doch nur endlich diese Aufregungen ein Ende hätten!" Dabei sieht sie auf ihren Leib, der ein Kind birgt. Louise hat sich auf Maßmanns Schoß gesetzt und ihren Kopf an des Liebsten Brust geborgen. Heenemann lacht unbekümmert. „Wenn wir Lemke nicht hätten." Maßmann drückt Louise einen Kuß auf die Stirn und steht auf. „Es wird Zeit, daß wir die Waffen in irgendeinen Keller bringen, hier werden sie eines Tages doch gefunden." König stützt den Kopf in die Hände. „Wer mag nur dieses Schwein gewesen sein." Fuchsberger lacht. „Zerbrich dir nicht den Kopf, Napoleon, es gibt viele Schweine in Deutsch land. Vor allem, wenn Prämien auf Schweinereien ausgesetzt sind." Heenemann deutet mit dem Daumen an die Decke. „Ich glaube, so sehr brauchen wir nicht zu suchen. Der Lewinski über uns möchte uns gern aus dem Hause haben." 23
Damit geht er hinaus in seine Backstube. Mar jellchen schreit auf, sie weiß, daß ihr Mann jetzt seinen „Abendsegen" mit der Parabellum durch die Decke in Lewinskis Wohnung schießen wird.
V
ier Nächte darauf wird Karl Maßmann in der Bäckerei Herderstraße verhaftet und auf den „Alex", das Polizeipräsidium, geschafft. Der Kommissar ist übertrieben liebenswürdig und zuvorkommend. „Zigarette, Herr Leutnant?" Maßmann dankt. „Zum Zigarettenrauchen werden Sie mich ja nicht geholt haben." „Wir können uns doch in aller Ruhe und Freund schaft aussprechen, Herr Leutnant." Maßmann lächelt geringschätzig. Diesen Ton bei Vernehmungen kennt er zur Genüge. „Geben Sie sich keine Mühe!" Der Kommissar zerdrückt seine Zigarette, erhebt sich und geht nervös im Zimmer umher. Dann bleibt er vor Maßmann, der sich achselzuckend erhoben hat, stehen und mustert ihn mit lauern dem Blick. „Wenn Sie zu keiner Aussage zu bewegen sind, werden wir andere Leute vernehmen. Leute, die nachgiebiger sind, wenn sie etwas unter Druck genommen werden. Beispielsweise das Fräulein Ostade. Ich glaube, die Dame weiß so mancherlei." Maßmann lacht dem Kommissar hell ins Ge sicht. Er kennt seine Louise und kann sich auf sie 24
verlassen. Eher beißt sie sich die Zunge ab, als daß sie auch nur ein Gewehr verrät. „Das dürfte kein besonderes Zeichen von Stärke des Staates sein, den sie vertreten." So kommt der Kommissar nicht weiter. Seine Stimme wird sachlich und unverbindlich. „Sie wissen, daß sämtliche völkischen Kampf verbände aufgelöst sind!" Maßmann bejaht liebenswürdig. „Und was treiben Sie in der Herderstraße?" „Ihre Polizisten haben sich zur Genüge davon überzeugen können. Warum fragen Sie mich?" Der Kommissar beginnt bereits nervös auf den Schreibtisch zu trommeln. Maßmann weidet sich an der Hilflosigkeit des Mannes, der die Macht eines Staates verkörpern soll. Eines Staates, dem alle Voraussetzungen zur Macht fehlen. „Warum gleich so mißmutig? Können wir unsere Unterhaltung nicht auf ein etwas freundlicheres Thema lenken?" Das ist dem Kommissar nun doch zuviel. „Sie haben Rede und Antwort zu stehen. Weiter nichts!" „Bitte!" Maßmann schlägt ein Bein über das andere. Die Mundwinkel sind wieder spöttisch her untergezogen. „Fragen Sie weiter!" Langsam beginnt der Kommissar Fallstricke zu legen. ,,Sie waren Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes?" 25
Maßmann nickt. „Was bezweckten Sie mit Ihrer Mitgliedschaft? Verstehen Sie wohl, mich interessiert es keines wegs, was in den Satzungen dieses Bundes steht. Ich möchte wissen, was Sie persönlich für Vor stellungen haben, Herr Leutnant!" Der lächelt fast ungezogen geringschätzig. „Zuviel Ehre für mich, Herr Kommissar." Dann steht er auf, tritt an den Schreibtisch, legt seine Hände fest auf die eingelassene Glasplatte und sieht mit zusammengekniffenen Augen dem Kommissar ins Gesicht. „Meine Vorstellungswelt ist mit wenigen Wor ten umschrieben. Deutschland ist krank und muß gesund werden. Das ist alles!" Der Kommissar nickt. „Darüber herrscht nirgends Zweifel, Herr Leut nant. Es fragt sich nur, welche Methode anzuwen den ist." Maßmanns Stimme bekommt einen Kommando ton, der nicht recht in diesen Raum paßt. „In Zeiten der Not steht die Tat über langer Überlegung. Es soll schon vorgekommen sein, daß Ärzte am Lager eines Kranken solange über die Methode stritten, bis inzwischen das arme Opfer sanft im Herrn verschied." „Und Ihre Methode ist der Putsch, Herr Leut nant?" Maßmann sieht sich vor. Der lauernde Blick des Kommissars sagt genug. „Kein Mensch denkt an einenPutsch. Ich glaube, diese Zeit ist vorbei, dafür haben Kapp und Lütt 26
witz gesorgt. Aber denken Sie daran, Herr Kom missar, daß wir in einem demokratischen Staate leben, und in dem hat jedermann das Recht, seines politischen Glaubens zu leben, selbst eines uner wünschten!" „Sicher, sicher", bestätigt der andere, „nur ver bieten es die Gesetze selbst eines bewundernswert langmütigen demokratischen Staates, mit Waffen diesem politischen Glaubensleben Wirklichkeits rechte zu verschaffen." „Von Waffen ist bisher keine Rede gewesen, Herr Kommissar!" „So? Dann will ich das Versäumte jetzt nach holen, Herr Leutnant. Uns ist aufgefallen, daß in letzter Zeit von Ihnen und Ihren Kameraden eine sehr rege Tätigkeit entfaltet worden ist. Und diese Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf die Herder straße, sondern auch auf die Umgebung von Ber lin. Bis Frankfurt hinüber haben Sie Ihre Fahrten ausgedehnt!" Maßmann sieht gleichmütig aus dem Fenster auf den widerlich grauen Hof des Präsidiums. „Wenn Sie schon so genaue Kenntnisse über mein und meiner Kameraden Leben haben, werden Sie auch wissen, daß wir nichts weiter machen, als was jeder beliebige bürgerliche Verein ma chen darf — nämlich Ausflüge." Der Kommissar schlägt dem Leutnant lachend auf die Schulter. „Richtig, mein Lieber, richtig! Ich vergaß bei nahe, daß Sie ja einen Verein gegründet haben ,Deutschvölkische Wanderer'! Schöner Name das. 27
Und einen wirklich feinen Orden haben Sie sich ausgedacht." Damit zieht er eine Anstecknadel aus der Ta sche, dreht sie zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtet sie eingehend. „Wie der ,Pour le mérite' sieht das Ding aus. — Was sind denn das für merkwürdige Zeichen darin?" „Germanische Runen, wenn Sie das interessieren sollte." „Das Ganze nennt sich Femekreuz", lächelt der Kommissar, „Sie müssen zugeben, daß das ein nicht ganz gewöhnliches Vereinsabzeichen ist." „Über Dinge des Geschmacks soll man eben nicht streiten, Herr Kommissar. Meine Kameraden und ich finden das Abzeichen schön, nichts weiter." „Die Männer, die dieses Femekreuz tragen, sind — ganz zufällig natürlich, Herr Leutnant — ausnahmslos Revolutionäre, Baltikumer, Studen ten aus dem ,Hochschulring Deutscher Art', Unzu friedene, Abenteurer..." Maßmann nickt dem Kommissar freundlich zu: „Ihre Informationen sind wirklich ausgezeichnet. Aber wollen Sie damit sagen, daß die von Ihnen so trefflich aufgezählten Gruppen von deutschen Männern keinen Wanderverein aufmachen dürfen, ohne sofort in den Verdacht zu kommen, sie be absichtigen, diesen herrlichen Staat zu stürzen? Wollen Sie uns verbieten, in die Wälder zu ziehen, Zelte aufzuschlagen, unsere alten Lieder zu singen 28
und frische Luft zu atmen? Vielleicht stinkt es uns in Berlin zu sehr!" „Nicht übel, Herr Leutnant! Ich bin erstaunt, wie schnell sich alte Soldaten in naturschwär mende Bürger verwandeln können. Dann ist es sicher auch weiter nichts als ein Zurückfallen in alte barbarische Gewohnheiten, wenn plötzlich am romantischen Lagerfeuer — so zwischen eini gen Flüchen auf den Reichspräsidenten Ebert, den Abgeordneten Erzberger, den Prälaten Kaas — Scheibenschießen mit Pistolen eingelegt wird. Auch Handgranaten sollen hin und wieder ge worfen worden sein. Herzlichen Glückwunsch zu diesem trauten Verein, Herr Leutnant!" Maßmann zuckt bedauernd die Schultern. „Sollten solche Entgleisungen vorgekommen sein, werde ich natürlich für Abhilfe sorgen. Ich persönlich kann nichts Furchtbares oder gar Staatsgefährliches dabei finden, wenn ein alter Soldat einmal mit der alten Pistole schießen sollte, die er lange Kriegsjahre hindurch bei sich trug." „Nun müßten Sie mir eigentlich noch erzählen, daß Sie eine neue religiöse Sekte gegründet haben, Herr Leutnant. Denn Ihr harmloser Verein treibt auch rege Mission, wie mir berichtet wurde. So werden neugeworbene Jünger in die Mysterien Ihres Kultus eingeführt. Das heißt in meiner rea listischen Sprache soviel, daß Ihre Deutsch völkischen Wanderer in ziemlich ungenierter Weise Schießübungen abhalten und junge, un gediente Leute im Kriegshandwerk ausbilden." 29
Maßmann weiß, daß er sich zusammenreißen muß. Es geht um die Freiheit seiner Männer, und mit der Freiheit geht es um die Möglichkeit des Freiheitskampfes. Er nickt unbefangen. „Nennen Sie es ruhig Religion, was wir treiben, Herr Kommissar. Unser Glauben kreist nun ein mal um dieses unglückliche Volk. Und sollte wirk lich einer meiner Kameraden einen Freund für un seren Verein werben, so kann und will ich nichts dagegen machen. Weisen Sie mir einen Umsturz plan nach, wenn Sie können!" Der Kommissar beherrscht sich mühsam. Seine Lippen beben vor Wut. „Verharmlosen Sie Ihr Treiben doch nicht, Herr Leutnant. Fühlen Sie nicht das Minderwertige Ihres Theaters?" „Theater? Vielleicht ist alles Theater, was der Staat, was Sie, was ich, was alle Menschen für ihre Berechtigung tun, wenn der Auswirkung dieser Berechtigung Hindernisse entgegengestellt werden." Der Kommissar winkt ab. „Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen in grund sätzliche Auseinandersetzungen einzulassen. Sie sind überführt, eine staatsfeindliche Organisation, ,Die Deutschvölkischen Wanderer', aufgezogen zu haben." Maßmann bäumt sich auf. „Ich bitte um den Beweis der Staatsfeindlich keit. Sie nehmen zur Voraussetzung Ihres Ein schreitens, was Sie sich aus allen möglichen Ver 30
dachtsmomenten zu einem ,Beweis' zusammen konstruiert haben." ,,Verlangen Sie noch Einzelheiten? Bitte! Ich kann mit beliebig vielen aufwarten." Der Kommissar entnimmt seiner Brieftasche einen unscheinbaren Block und blättert in ihm. „Die Satzungen Ihres Vereins sind uns natür lich bekannt. Harmlos, wie alle solche Satzungen. Daß in den Kampfliedern Ihrer angeblich so natur begeisterten Wanderbrüder Todesdrohungen gegen deutsche Staatsmänner und Politiker enthalten sind, daß beispielsweise Walther Rathenau als ,Weiser von Zion' gilt, daß man Erzberger als ,römischen Totengräber' bezeichnet und den Reichspräsiden ten Ebert mit nicht wiederzugebenden Schimpf wörtern belegt, werden Sie sicher als entschuld bare Entgleisungen temperamentvoller, politisch noch etwas unbeholfener Landsknechte hinstellen." „Aber was für einen Grund haben Sie für Ihre Besuche bei der Reichswehr?" lauert der Kommis sar. „Was wollen Sie in Küstrin und Frankfurt, in Potsdam und Rathenow? Warum unterhalten Sie Beziehungen zu gewissen Stellen der Polizei?" Maßmann wiegt bedächtig den Kopf. „Wenn man viele Jahre Soldat gewesen ist, hat man Kamera den gefunden, die einen in schweren Stunden ans Herz gewachsen sind. Und wenn solche Kameraden später bei der Reichswehr oder der Polizei ein Unterkommen gefunden haben, dürfte es nicht so abwegig sein, sie gelegentlich dort zu besuchen, um mit ihnen Erinnerungen und Gedanken auszu tauschen. Oder wittern Sie in jeder Kameradschaft 31
schon Umsturzgefahren? Dann möchte ich Ihnen den guten Rat geben, sämtliche Soldaten Deutsch lands, die alten und die neuen, hinter Schloß und Riegel zu setzen." Der Kommissar überhört den Hohn. „Warum haben Sie und ihre Mitverschworenen niemals den Versuch gemacht, selber in die Reichs wehr einzutreten? Sie hätten dort alles gefunden, was Sie brauchen. Waffen, Kameraden, Kriegsspiel, bewaffnete Ausflüge in die Umgebung. Statt dessen hungern Sie sich in völlig unsoldatischen Berufen durch, sind unzufrieden, bilden Keimzellen der Zer setzung. Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Leutnant." „Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Wie sollten Sie mich oder den jüngsten meiner Kameraden verstehen können. Sie leben eben in einer anderen Welt." „Drücken Sie sich etwas deutlicher aus." Maßmann atmet tief. „Jawohl, Sie leben in einer anderen Welt. Denn wenn meine Welt Ihnen nicht fremd und feindlich wäre, hätten Sie mich sonst hierhergeschleppt? Brauchten Sie mich sonst zu verhören? Sie versuchen, mich staatsfeindlicher Umtriebe zu überführen. Das befiehlt Ihnen Ihre Welt, die die meine vernichten will. Vielleicht auch vernichten muß, will sie nicht selber ver nichtet werden. Bislang habe ich nichts Handgreif liches getan, Ihre Welt einzureißen. Darum aber haben Sie auch kein Rechtsmittel gegen mich. Es sei denn Gewalt. Wir sprachen vorhin vom Glauben an dieses Volk, vom Glauben, Herr Kommissar, der meine Welt ist. Der Staat, in dessen Auftrag Sie 32
vor mir stehen, ist nicht aus diesem Glauben er wachsen. Er entstand nicht aus dem völkischen Gesetz, sondern aus Willkür und Schwäche. Darum ist er in sich und an sich verlogen. Darum versucht er, den mangelnden Glauben durch eine törichte Gewalt zu ersetzen." Der Kommissar will dem Leutnant ins Wort fal len, doch der sieht ihn mit kalten Augen durch dringend an, daß er schweigen muß. „Es ist nicht der Wunsch, Soldat spielen zu wol len, der uns ewige Landsknechte zusammentreibt. Wäre es so, dann hätten Sie recht, dann würden wir bei irgendeiner Reichswehrkompanie wohl aufgehoben sein. Ihr Staat haßt die Waffe, er ist kriegerfeindlich. Wohl bedient er sich gut bezahl ter Soldaten. Dazu zwingt ihn sein Bedürfnis nach Sicherheit. Aber so schwächlich, so erbärmlich ängstlich ist Ihr Staat, daß er selbst seinen be zahlten Soldaten nicht traut. Voller Bangen sieht er, wie selbst in der kleinen und letztlich un gefährlichen Reichswehr das Gesetz des deutschen Kriegertums durchbricht, wie soldatische Zucht sich die unumstößlichen Formen des Führertums schafft. Was ist aus Ihrer Republikanischen Sol datenwehr geworden? Dieses lächerliche Zwitter gebilde ist auseinandergefallen, als das kleinbür gerliche Chaos von 1918 beendet war. Ihr Staat braucht Krieger. Allerdings nicht zuviel, sonst würde er von innen her überwältigt. Und auch nicht zuwenig, sonst würde jede Laus im Osten frech, und damit wäre Ihrer Regierung, die die so sattsam bekannte bürgerliche Ruhe braucht, eben 33
falls nicht gedient. Das ist das Denken jener Welt, die sich Ihren Staat gebar. Darum ist er so eifer süchtig darauf bedacht, möglichst wenig bewußte und darum wissende Soldatenführer, dafür aber um so mehr Kommandostelleninhaber ins Heer zu nehmen. Er will es ungefährlich, nach innen und nach außen ungefährlich haben." Die Erregung hat Maßmann Schweißtropfen auf die Stirn getrieben. Umständlich wischt er sie mit dem Handrücken fort. ,,Das Denken Ihres Staates habe ich sehr bald erkennen gelernt, Herr Kommissar. Verstehen Sie, was es heißt, die Tragödie im Baltikum mitgemacht zu haben? Wenn Sie das verständen, wüßten Sie auch, das Mannestränen Samen des Hasses gegen alles Halbe, alles Verlogene, alles Kleinbürger liche in der Politik sind. Dann wüßten Sie auch, daß ich Ihren Staat nicht bejahen kann. Vielleicht haben Sie und Ihre Auftraggeber sich einmal Ge danken gemacht, warum kein wirklicher Krieger sich zu dieser Zeit bekennen kann? Ich will es Ihnen sagen!" Maßmanns Stimme schwillt an, daß der Kom missar unwillkürlich in die Nähe des Alarmknopfes tritt. „Ihr Staat ist demütig wie ein verzückter Christ, der die Rute preist, die ihn züchtigt. Männer aber können sich nur zu einem Staat bekennen, der das Schwert führt, der stolz ist, der sich nichts vergibt. Für einen demütigen Staat stirbt keiner, und vor allem für Geld nicht. Ein stolzer Staat aber braucht keine Männer zu werben, die drängen sich frei 34
willig unter seine Fahne. Und die Ehre eines stolzen Staates ist größerer Lohn als höchster Sold. — Sie sehen mich verwundert an, Herr Kommissar. Ich weiß, ich kann Sie nicht überzeugen. Und wenn ich Sie überzeugte, würden Sie morgen nicht mehr auf Ihrem Posten sein. Vielleicht aber würden Sie gleich mir und meinen Kameraden als einsamer Wanderer durch Deutschland gehen und Männer suchen. Nicht mit der Laterne eines komischen Diogenes oder mit dem Fischernetz irgendeines Religionsstifters, sondern mit dem Instinkt des Starken. Mit dem Instinkt, dem unfehlbaren Kom paß der Seele." Eine Zeitlang ist Stille zwischen den Männern. Maßmann sieht zu Boden, als schämte er sich, das Rufen seines Herzens ausgesprochen und damit entweiht zu haben. Der Kommissar trommelt mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Er fühlt, daß ihm der Leut nant überlegen ist. Turmhoch sogar. Und irgend wie fühlt er sich von ihm gemaßregelt, gedemütigt. Es ist eine verfluchte Sache, jemanden verhören zu müssen, von dem man eigentlich lernen möchte. Das gleichmäßige Ticken der Schreibtischuhr be ruhigt den Ausbruch dieser Gedanken. Allmählich erstirbt der freundliche Schimmer in den Augen des Kommissars. „Sie haben ein Bekenntnis abgelegt, das Sie durchaus ehrt, Herr Leutnant. Leider sind wir aber keinen Schritt vorwärts gekommen." Maßmann errötet und ärgert sich darüber. Er möchte sich am liebsten ohrfeigen über die Un 35
keuschheit seiner Rede. Wie kam das nur, daß er solche Worte und Bilder gebrauchte, wie er sie nie im Kreise seiner Kameraden anwenden würde. Kam es daher, daß er unter Gleichgesinnten davon gar nicht zu sprechen braucht, weil sie doch alle im selben Glauben leben? Jetzt muß der da denken, geht es ihm durch den Sinn, ich sei so eine Art völkischer Pfaffe. Der Kommissar wartet noch eine Weile. ,,Sie geben zu, einen Kreis von Männern für eine bestimmte Aufgabe gesammelt zu haben. Was bezwecken Sie nun zunächst mit Ihrer Organisa tion? Haben Sie vorerst innerpolitische Absichten oder hegen Sie insonderheit außenpolitische Pläne? Baltikum, Rußland, Polen, Frankreich?" Maßmann muß laut lachen. „Sie geben mir wirklich zuviel Bedeutung. Glau ben Sie, wir hätten in dieser verrückten Zeit die nötige Muße, Pläne zu machen? Ja, wenn wir in Australien lebten! Sie können sich darauf ver lassen, ich würde einen Handstreich unternehmen, alle Macht an mich reißen, Männer, wirkliche Männer, Persönlichkeiten, in alle Ämter setzen und dann dreißig Jahre stur und rücksichtslos an den Aufbau eines wahren und totalen völkischen Staates gehen. Aber Deutschland hat nun einmal nicht den Vorzug, ein abgeschlossener Erdteil zu sein. Im Gegenteil, Deutschland ist nur ein kleiner und sehr armer Ausschnitt eines übervölkerten, rassisch durchmischten, in sich zerfallenden und völlig verwirrten Erdteils — Europas nämlich, Herr Kommissar. Und dieses Europa ist alt geworden, 36
so alt, daß es beginnt, die Jugend, das Starke, zu hassen. Deutschland ist im Kriege jung geworden, Kräfte wurden lebendig und Werte, die als längst Überlagert und verschüttet galten. Das Vorkriegs deutschland wurde beneidet, das Kriegsdeutsch land gefürchtet, und das Nachkriegsdeutschland wird trotz seiner Ohnmacht, seines innervölkischen Verrates beargwöhnt. Darum hat das alte Europa seine Kanonen auf Deutschland gerichtet, darum hält es die Hand am Abzug, um loszuschießen, so bald sich Deutschland regt. Und da trauen Sie mir und meinen Freunden außenpolitische Pläne zu? So, als ob wir nur noch überlegten, wen von unsern zahlreichen Feinden wir uns zuerst vorknöpfen sollten? Vielleicht erst mal die Engländer auf ihrer freundlichen Insel vernichten, dann nach Paris marschieren, anschließend ein Bündnis mit Peter Wrangel, dem weißen Zaren, um Rußland zu be freien und bündnisfähig zu machen? Und wenn wir schon mal im Osten sind, könnten wir uns gleich bei den Polen für ihre beiden Aufstände in Ober schlesien und sonstige Liebenswürdigkeiten be danken, vielleicht auch Prag einen Besuch ab statten?" Allmählich ist Maßmann wieder ernst geworden. „Nein, Herr Kommissar, außenpolitische Pläne haben wir wirklich zur Zeit nicht. Außenpolitik kann sich überhaupt nur eine Macht leisten, die ein sehr zuverlässiges Schwert hat. Dieser Staat zum Beispiel wird niemals eine planmäßige Außen politik verfolgen. Er wird sich vielmehr immer nach den Stimmungen der einzelnen Nachbar 37
Staaten richten. Also bestenfalls winselnde Hab michliebpolitik oder Frühstücksdiplomatie, mehr kommt dabei nicht heraus. Ich bin nicht größen wahnsinnig genug, zu meinen, ich könnte mit einer Handvoll von allerdings fanatisch treuen und tap feren Männern außenpolitischen Plänen nachgehen. Ich kann nur eins tun in dieser Zeit, und das aller dings werde ich auch in Zukunft nicht lassen: wach sam sein, aufpassen, daß kein Feind die Ohnmacht Deutschlands ausnützt, um uns zu überfallen, unser Land zu berauben, unsere Bergwerke zu stehlen. Es ist nötig, daß sich Männer finden, die unbe stechlich gegenüber allen Versuchungen der Ge borgenheit sind, die mit brennenden Augen auf die blutenden Grenzen starren und wenigstens da für sorgen, daß der Heilungsvorgang nicht gestört wird. Verstehen Sie das, Herr Kommissar? Ist eigentlich sehr dumm und unüberlegt, nicht wahr, so gar nicht an das eigene liebe Ich und seine Be haglichkeit zu denken? — Was denkt sich denn eigentlich Ihr Staat dabei, wenn er die wenigen Männer, die zur Verteidigung der letzten Werte, die uns noch geblieben sind, verfolgt, sie einsperrt, sie zu zerbrechen versucht? Was meinen Sie, Herr Kommissar, wieviel Männer wird es in Deutsch land geben, wenn heute zum Sterben aufgerufen wird? Wenn ein aussichtsloses Unternehmen, das nur der Ehre der Nation dient, bevorstünde? Ein paar Tausend. Mehr nicht. Und diese stolzen Männer würden in dem Bewußtsein sterben, nichts weiter erreicht zu haben, als die Erkenntnis der Feinde, daß Deutschland noch nicht gestorben ist. 38
Sie lächeln, Herr Kommissar? Ich weiß, ich falle schon wieder in einen Predigerton. Vielleicht muß auch Deutschland erst gepredigt werden, bis es von neuem geheiligt wird. Ihr Staat kann nicht predigen! Ich sagte Ihnen schon, daß ihm der Glaube fehlt. Er ruft ja auch nicht die Wenigen auf. Er wendet sich an die Vielen, an die Vielzu vielen. An die Masse nämlich. An die, die etwas erben wollen in Deutschland. Die etwas werden wollen. An die Opportunisten, an die versorgungs berechtigten Konjunkturhengste.'' Maßmanns Stimme klingt wie das Brüllen eines Stieres. „Wenn Ihr Staat ruft, Herr Kommissar, tritt kein einziger Mann vor die Front. Aber Millionen von Arschlöchern . . . " Jetzt schlägt der Kommissar auf den Tisch. „Zum Donnerwetter, nun bin ich's satt. Sind Sie hier als Ankläger? Was nehmen Sie sich heraus?" Wieder tritt Schweigen zwischen die Männer. Maßmann starrt aus dem Fenster. Seine Gedan ken scheinen weit fort zu sein. Irgendwo in der Welt. In seiner Welt, in der Männer seines Blutes, seines Geistes walten. Der Kommissar blättert nervös in seinem Büch lein. Die Hände zittern ihm. „Ich ermahne Sie eindringlich, Herr Leutnant, nur streng sachliche Angaben zu machen. Sie er schweren Ihr Lage unnötig." Maßmann dreht sich voll um. In seinen Augen liegt noch das Leuchten seiner Welt, die nicht die Welt der Halben und Ängstlichen ist. 39
„Bitte!" „Außenpolitische Ziele zu haben, bestreiten Sie. Demnach verfolgen Sie innerpolitische Pläne." Maßmanns Stimme schnarrt militärisch. „Ich kenne, merken Sie auf, Herr Kommissar, nur ein Ziel und eine Parole: Ehre und Bereitschaft! Alles andere hängt bis auf weiteres von der jewei ligen Situation ab. Für mich und meine Kameraden ist die Haltung des Freischärlers gegeben!" „Werden Sie deutlicher!" „Ich kenne keine Verpflichtung, die mich an einen Staat bindet, der nicht aus der Ehre stammt. Eine Auflehnung gegen den Staat aber halte ich solange für verfrüht, solange die außenpoliti schen Verhältnisse jeden Tag die schwersten Ver wicklungen bringen können. Darum, ich sagte es schon, liegt meine Blickrichtung auf den Grenzen, vornehmlich auf den östlichen. Den Verdacht des Landesverrates verweise ich als bewußte Verken nung der tatsächlichen Gegebenheit zurück." „Damit sagen Sie doch nichts anderes, als daß Sie bereit sind, zwar heute die Waffen gegen irgendwelche äußeren Feinde zu führen, morgen aber werden dieselben Waffen gegen die Republik gerichtet sein!" Maßmann schweigt. Ein eigentümliches Lächeln steht um seinen Mund. Der Kommissar drängt. „Sie haben genug gesagt, Herr Leutnant. Mir ist es völlig klargeworden, warum Sie außenpolitische Vorträge halten. Warum Sie Freikorpsgruppen selbst in politisch uninteressierten Kriegerkame 40
radschaften bilden. Warum Sie in der völkischen Studentenschaft Keimzellen aufbauen. Sie suchen, offenbar mit Erfolg, Rebellen!" Maßmann nickt. „Rebellen! Schön, wenn Sie dieses Wort schätzen, will ich es nicht zurückweisen. Aber denken Sie daran, daß die Schwarze Schar Schills ebenfalls aus Rebellen bestand. Und daß die Tat Yorks eine Rebellion war. Es geht ja nicht um die Bezeich nung, sondern letztlich um die Auswirkung der Tat." „Ihre ,Deutschvölkischen Wanderer' führen eine Fahne." Ein kurzes Lachen klingt auf. „Ja. Die grüne Fahne der Propheten wird sie genannt. Goldenes Hakenkreuz auf grünseidenem Grund, das ist unsere Fahne." „Das Hakenkreuz gilt allgemein als staatsfeind liches Symbol." „Vor allem die Juden in Ihrem Staat werden es beanstanden", höhnt Maßmann. „Aber beruhigen Sie sich, das Hakenkreuz ist für uns mehr als ein judenfeindliches Zeichen. Es ist Ausdruck eines Geschlossenen, eines Ganzen. Und wer sich unter unser Hakenkreuz stellt, verpflichtet sich zur Ganzheit, zur Persönlichkeit. Auch die Sonne, deren Symbol das Hakenkreuz ist, ist unteilbar, wie das Leben, wie der Grundsatz allen Lebens überhaupt unteilbar ist. Ihrem Staat mag das feind lich und gefährlich sein." Maßmann bricht mit einer wegwerfenden Hand bewegung ab. 41
„Woher fließen Ihnen Gelder zu?" „Gelder?" „Nun ja, wer bezahlt Ihr Unternehmen?" „Wir verfügen über keine nutzbringenden Ver bindungen. Unsere Fahrten bezahlen wir selber. Dafür sind wir in bürgerliche Berufe gegangen." „Eine etwas neuartige Begründung für die Pflicht, arbeiten zu müssen", lächelt der Kommissar iro nisch. „Die deutsche Situation ist ebenfalls etwas neu artig." „Wo befinden sich die Mitgliederlisten Ihrer Vereinigung?" „Wir haben bisher keine Zeit, einen umfang reichen Verwaltungsapparat aufzubauen. Außer dem glaube ich, Herr Kommissar, sind Sie persön lich ganz gut unterrichtet." „Sie sollen Waffenvorräte, vor allem Handgra naten und Maschinengewehre gesammelt haben." Maßmann lächelt so verbindlich, wie er nur vermag. „Die Republik hat, soviel mir bekannt ist, die schweren Waffen abgeliefert und den Rest zerstört. Sogar die Stahlhelme sind eingeschlagen worden. Woher sollen da noch Waffen kommen?" Der Kommissar beißt sich ärgerlich auf die Lip pen. Es hat keinen Zweck, noch weiter zu fragen. Vielleicht werden die Kameraden Maßmanns besser aussagen, vielleicht wird sich auch Louise Ostade verplappern! „Der Haftbefehl gegen Sie bleibt bestehen. Stren gen Sie Ihr Gedächtnis noch etwas an, Herr Leut 42
nant. Davon hängt es ab, wann Sie wieder frei kommen." Mit einer höflichen Verbeugung drückt der Kom missar auf die Klingel. Zwei Polizeibeamte führen Maßmann in die Zelle zurück. — Ärgerlich geht der Leutnant in der engen Zelle auf und ab, stößt mit dem Fuß gegen die Pritsche und den übelriechenden Kübel. Zum Kotzen! Hof fentlich hat er nicht zuviel gesagt. Wie ein altes Weib hat er gequatscht! Oder wie ein Pfaffe. Rich tig, ja! Gepredigt hat er ja, regelrecht gepredigt von einem Glauben. Er, der Leutnant Maßmann, Prediger! Was wird sich nur der Kommissar gedacht haben? Zwei Stunden geht Maßmann in der Zelle hin und her und versucht, jedes Wort des Verhörs ins Gedächtnis zurückzurufen. Nur nichts vergessen! In zwei, drei Stunden wird das Verhör von neuem beginnen. Der Kommissar ist klug und gewiegt, der wird versuchen, ihn auf den Leim zu locken, ihn weich zu bekommen durch den Nachweis von Widersprüchen. Der hat seine Erfahrungen darin. Wenn nur die Kameraden nicht unvorsichtig sind. Vor allem Harke und Napoleon, die sind mit dem Maul vornweg, und ehe die sich recht ver sehen, sind sie festgelegt. Louise? Maßmann schnippt mit den Fingern. Seine Louise! Aus der wird man nichts herauslocken. Ob sie jetzt wohl schläft? Oder ob sie drüben sitzt bei Heenemanns? Sicher wird sie bei Heene manns sitzen und mit den Kameraden Verhör üben. 43
Unwillkürlich muß er lächeln. Gut, daß er in den letzten Tagen vor der Verhaftung über etwaige Aussagen gesprochen hat. Louise wird schon tun, was nötig ist. Seine Louise! Er greift in das kleine Regal über der Pritsche. Zwei Schriften stehen dort. Die eine die Gefängnis ordnung. Verhaltungsvorschriften für Verbrecher. Verboten i s t . . . ! Singen und Lärmen? Er beginnt zu pfeiffen. Ein Landsknechtslied aus dem Baltikum. Ob das schon jemals in dieser Zelle gepfiffen worden ist? Wohl kaum! Hier haben bisher kleine Diebe, Land streicher, Dirnen, Homosexuelle gesessen. Und die werden die Hosen voll gehabt haben. Und heute ist er wie jene ein Ausgestoßener! Mit Unterschieden natürlich. Durch weltenweite Klüfte getrennt. Nur dieser Staat trennt nicht. Er verkleinert die Tat, so daß kaum Unterschiede mehr zu spüren sind. Maßmann spuckt aus. Pfui Teufel, Männer in einen Stall für Schweine zu sperren! Er wühlt in den Taschen, bis er einen Bleistift findet. Dann kritzelt er seinen Namen auf die Ge fängnisordnung. Seinen vollen Namen und den Titel: Karl Maßmann, Leutnant. Dick unterstrichen. Und nun das Datum. Berlin, den — ja, den wie vielten? Er zählt nach und lacht auf. Tatsächlich, den 27. Januar 1921! Der 27. Januar! Früher feierte man da Kaisers Geburtstag! Heil Dir im Siegerkranz . . . ! Sekt gläser, Treuegelöbnis, Hurra! Kaisers Geburtstag! 44
Sind es wirklich erst drei Jahre her seit der letzten Feier? Ist es nicht doch ein Märchen „Es war ein mal vor dreitausend Jahren ..."? Maßmann hat einen bitteren Geschmack im Munde. Der Kaiser! Die Krone! Das Reich! Als es zum erstenmal zum Sterben ernst wurde, zerran das alles wie ein Spuk. Zum Sterben gehört eben Stolz. Und Würde! Und zum Herrschen muß man genügend Wirklichkeitssinn haben, da darf man nicht eitel sein, ebensowenig aber weich. Und treu muß man sein. Sich selber und den wenigen Män nern, die Treue verdienen. Da darf man keinen Ludendorff fallen lassen, nur weil es ein paar er bärmliche Wichte so wollen. „Fühl in des Thrones Glanz Die hohe Wonne ganz . . . ! " Blödsinniger Text. Verlogen! Maßmann spuckt noch einmal aus. So mußte es kommen. Darum ist er Rebell ge worden, um treu zu bleiben, wo Monarchen un treu werden! Vielleicht feierten gerade in dieser Stunde irgend wo in Deutschland patriotische Spießbürger! Hurra, hurra, hurra! Wir wollen unsern Kaiser wieder haben! Wie ein Kind, das nach seiner verlorenen Puppe schreit. Nach der Puppe, die es in einer Laune wegwarf. Trauriger Kaiser, denkt Maßmann, als die Feinde deine Auslieferung verlangten, stellten wir uns noch einmal vor dich. Ich selber reiste im Lande umher und warb für den „Bund zum persönlichen Schutze der Freiheit und des Lebens Wilhelms II.". 45
Und du saßest jenseits des sich fast ausblutenden, taumelnden Deutschland und nahmst die Treue anderer als selbstverständlich hin. Ärgerlich wirft er die Gefängnisordnung zu Boden. Die zweite Schrift ist die Bibel. Merkwürdige Zusammenstellung: Bibel und Ge fängnisordnung! In welchem Zusammenhang stehen die beiden? „Wollen doch mal sehen, was der liebe Gott zu sagen hat", lacht Maßmann leise und schlägt will kürlich das Buch der Bücher auf. „Denen, die von euch übrigbleiben, will ich ein feiges Herz m a c h e n . . . " Bei Moses steht der Satz, den sein Blick getrof fen hat. Der jüdische Gott hat gut gearbeitet! Maßmann denkt an die vielen Predigten, die er als Soldat hat anhören müssen. Wie es gerade in den Kram paßte, wurde eine Bibelstelle verkündet und ausgelegt. Das jüdische Buch sollte Antwort geben auf ernste Fragen deut scher Männer? Erbärmlicher Aberglaube, geboren aus jämmerlicher Furcht vor dem Kampf mit dem Schicksal! Mit einem Ruck klappt er das schwarze Buch zu und wirft es in das Regal zurück. Sicher wird, wenn er die Zelle verlassen hat, irgendein Ver brecher daraus Orakel stellen. Mit wenigen Griffen hakt er die Pritsche von der Wand. Einschlafen kann er nicht. 46
I
n Schramms Festsälen in Wilmersdorf ist Hoch betrieb. Eine frühere Militärkapelle spielt die neuesten Tanzschlager. Zwar nicht so modern wie die Negerkapellen, die jetzt überall in Berlin auftauchen, dafür aber schön laut und abgehackt, daß auch der steifste Tänzer schnell den Rhythmus begreift. Die Stimmung bei Schramm ist gut. Wenigstens hat Lemke viel zu schaffen, die angeforderten Biere und Selterwasser herbeizuschleppen. Vor einigen Tagen hat er die Kellnerstelle erhalten. Es war nicht einfach; einen fristlos herausgesetzten Polizei wachtmeister nimmt man eben nicht gern, denn mit der Polizei will es kein Wirt verderben. Für Lemke war es nicht ganz unerwartet gekommen, als sein Vorgesetzter ihm in knappen Worten den Entlassungsbefehl mitteilte. Schließlich muß jeder, der sich den nicht ganz un gefährlichen Luxus einer eigenen Meinung leistet, damit rechnen, seine Leidenschaft, andere Wege gehen zu wollen, mit dem Verlust persönlicher Vorteile und äußerer Lebensannehmlichkeiten zahlen zu müssen. Lemke ist Kerl genug, vom Schicksal, von der Vorsehung, vom lieben Gott oder irgendeiner Behörde des Himmels oder der Erde keine Sonderbehandlung zu erbetteln oder zu verlangen. Nach seiner Auffassung ist es vielmehr eine geradezu selbstverständliche Forderung an die Haltung eines Mannes, dem Unvorhergesehenen in jedem Fall mit Fassung gegenüberzutreten und damit dem Schicksal gewissermaßen leutselig auf die Schulter zu schlagen. 47
Nur daß Riehl ein paar gehässige Worte mur melte, hatte ihn geärgert. „Hier, mein Fräulein", damit stellt er einem der allzu vielen Mädchen, die Sonntags die Tanzböden bevölkern, eine Flasche Selterwasser vor die Nase. „Bezahlen Sie gleich, dann vergessen Sie es später nicht!" Irgendeinen Satz hat Lemke für jeden Gast, den er bedient. Die Mädchen, diese nicht gerade beneidenswerten Geschöpfe, die tagaus, tagein hinter dem Ladentisch stehen, am Telefon hängen, hinter der Schreibmaschine sitzen, haben das gern und werfen ihm feurige Blicke zu. Lemke lächelt mitleidig. Er hat für diese Art Mädchen, die ihre innere Leere durch dürftigen Flitter zu verhängen suchen, nichts übrig. Ja, wenn er nur wollte, an jedem Finger hätte er ein Dutzend williger Mädels haben können. Aber seitdem ihm der Vater seiner Braut den Stuhl vor die Tür gesetzt hat, steht die Liebe bei ihm nicht hoch im Kurs. Weiß der Teufel, denkt Lemke, wie doch alles, selbst die Liebe, irgendwie mit der Politik zu sammenhängt. Ein Polizeiwachtmeister ist einem zukünftigen Schwiegervater recht, aber ein Mann mit politischen Ideen, die keineswegs eine lebens längliche Rente verbürgen, wird hinausgeworfen. Mitsamt seiner Liebe. Aus einer Ecke tönt die krakeelende Stimme Napoleons. Was der wohl wieder haben mag? Die Mädchen sehen schon teils ängstlich, teils neugierig dorthin. Lemke bringt Bier. „Zum Wohlsein, meine Herren!" 48
Napoleons Kopf ist dunkelrot. „Nimm man gleich den Bürger auf dem Tablett mit und laß ihn aus spülen! Seine Seele ist stinkend dreckig!" Und damit schlägt er auch schon auf einen unter setzten Kerl ein, der sich wütend zur Wehr setzt. „Dir Hund will ich zeigen, was es heißt, Solda ten zu beschimpfen!" schreit Napoleon. Klatsch, klatsch! hageln die Hiebe. Der Tisch fällt um, Mädchen kreischen, Bier fließt über den Boden. Um die beiden Kampfhähne bilden sich Gruppen von Männern, die durch Zurufe den Kampfeifer der beiden anstacheln. Napoleon hat seinen Gegner am Hals gepackt. „Henkersknechte, hast du gesagt? Mordbrenner sollen wir sein? Kapitalistensöldner?" Dabei läuft ihm das Blut über die Stirn. An scheinend rührt die Wunde von einem Schlag mit dem Bierglas her. Mit einem Ruck reißt Lemke die beiden Streiter auseinander. Den Gegner Napoleons packt er mit dem sooft geübten Polizeigriff, trägt ihn mit er staunlicher Schnelligkeit bis zur Tür. Ein Stoß noch, und der verblüffte Feind Napoleons im be sonderen und des Soldatentums im allgemeinen befindet sich außerhalb des Tanzsaales unter einer der schattigen Linden. Im Saal ist sofort Ruhe eingetreten. Dafür hat der lange Martin Harke gesorgt. Harke hat bei Schramm die lohnende Neben beschäftigung eines Tanzmeisters gefunden. Und das müssen selbst die verwöhntesten Tanzkava liere zugeben, er versteht sein Geschäft. Walzer, 49
Foxtrott, mal mit roter, mal mit grüner, mal mit blauer Beleuchtung; das wirkt aufs Gemüt, zumal wenn ein paar frech-fröhliche Worte den jeweili gen Beleuchtungswechsel ankündigen. Manchmal wird es sogar ganz dunkel, für einen Augenblick natürlich nur, aber das reicht für ein frohes Ge kicher und ein paar herzhafte Aufschreie. Für die älteren Paare wird hin und wieder eine Polonäse oder ein Rheinländer eingelegt. Das hebt die Stimmung. Bisher ist kein Spürhund der deutschen Republik darauf gekommen, daß sich ausgerechnet in Schramms Festsälen revolutionäre Soldaten ein Stelldichein geben. Aber Erfahrung macht ge witzigt! Nach der Verhaftung Maßmanns hatte Louise Ostade darauf bestanden, daß die Abende bei Heenemanns ausfallen. Die Polizei ist darauf hineingefallen. Mit Befrie digung stellte sie fest, daß die Landknechtsbande offensichtlich in alle Winde zerstoben sei. Die Verhöre, denen sich Louise, Napoleon, Fuchsber ger, Lemke, Harke und Heenemann unterziehen mußten, verliefen darum kurz und verhältnismäßig harmlos. Nur Heenemann wurde dabehalten, da für hatte Lewinski gesorgt. Gegen Mitternacht sitzen um den großen runden Stammtisch in der Ecke, dicht unter der Musik bühne, die Männer. Anfangs hat Napoleon das große Wort geführt. Er hat wieder einmal viel zu erzählen gehabt, lustige Anekdoten vom Verhör, Streiche aus den 50
letzten Tagen, verwegene Pläne zur Befreiung des Leutnants, allerlei Phantastereien von Freikorps krieg, Sabotageakten, Beseitigung von Landes verrätern auf Ministersesseln. Allmählich sind die Gespräche ernster gewor den. Marjellchen Heenemann muß geholfen werden. Harke hat einige ordentliche Leute gefunden, ausgerechnet Korpsstudenten, die unentgeltlich Brötchen austragen und Bestellungen erledigen. Louise steht hinter dem Ladentisch und hilft beim Verkauf. Ein Bäckergeselle ist auch schon auf getrieben, ein Freund Fuchsbergers. Auf die Feinbäckerei versteht er sich zwar nicht sonder lich, aber Kommißbrot kann er ausgezeichnet backen. Auf Anregung Felix Teuschers ist dieser Tage das „DVVH." erstanden — das Deutschvölkische Vertriebshaus. „DVVH." — steht einzig da!" prahlt Napoleon. Alles erbietet sich DVVH. zu besorgen. Nicht nur Fallschirme, sondern auch eichene Spazier stöcke, unauffällige Totschlägerchen im Taschen format, Hemden, Mützen, Hakenkreuzbroschen, Totenkopfringe, die besonders begehrten Artillerie fahrerpeitschen, und was das Herz sonst noch be gehrt. Nur zuverlässige Männer werden beliefert. Zuweilen auch, gegen besonderen Ausweis natür lich, mit etwas verdächtigen Kisten nicht ganz ungefährlichen Inhalts. Die Einnahmen des DVVH. fließen der „Kleider kasse" zu. Und diese Kasse wiederum soll für un 51
vorhergesehene Fälle bereitstehen. Ein paar Hunderter sind schon da. „Für die totale deutsche Mobilmachung", grinst Napoleon. „Wir werden Marjellchen ein zinsloses Dar lehen geben", bestimmt Teutscher. „Wenn Heene mann aus dem Bunker zurückkommt, soll er seinen Laden nicht wiedererkennen. Wir machen ihm ein erstrangiges Café auf." „Café Bombe", frozzelt Napoleon. Lemke teilt voller Stolz mit, daß der Küchenchef bereit sei, von morgen an den gesamten Bedarf an Brot und Brötchen von Marjellchen zu be ziehen. Teuscher wartet mit einem neuen Plan auf. „Wir sind jetzt ungefähr dreißig Mann. Wenn sich jeder verpflichtet, einen Nachmittag in der Woche Gelegenheitsarbeiten zugunsten unserer Kleiderkasse auszuführen, werden wir bald ein wohlhabender Verein." Napoleon stellt zu seiner eignen Überraschung fest, daß er diesmal neidlos voll begeistert ist. „Du wirst in unserem späteren Soldatenreich Wirtschaftsminister, Teuscher." Dann haut er auf den Tisch, daß die Gläser tanzen. „Kinder, gibt das ein Geld! Koffertragen, Tep pichklopfen, Würstchenverkaufen, Altpapier sammeln!" „Einkauf von Lumpen — Knochen, Papier — Alteisen — Bier- und Weinflaschen!" ahmt Fuchs berger lachend die Berliner Lumpenhändler nach. 52
Napoleon kann sich noch immer nicht fassen. ,,Donnerwetter, ist das eine Idee! Wir werden uns alles kaufen können, vielleicht sogar einen Tank. Ich weiß einen, der steht in einem Schuppen bei Strausberg. Für dreitausend Mark werden wir ihn bekommen können. Haubitzen gibt es schon von tausend Mark aufwärts, sie sind billiger als Maschinengewehre.'' Harke nickt nachdenklich. „Wir werden uns endlich auch falsche Pässe kaufen können." „Dafür hätte unser lieber Kommissar ganz be sonderes Interesse!" Die Männer fahren herum. „Der Leutnant!" Ja, wirklich, der Leutnant ist da! Etwas bleich und müde sieht Maßmann aus, aber seine Augen brennen in lebendigem Feuer. „Es war nicht ganz einfach, euch zu finden." Napoleon fährt sich nachdrücklich mit dem Handrücken über die Augen. „Verflucht nochmal, uns so zu erschrecken! Konntest du nicht wenigstens eine Postkarte schreiben?" „Weiß Fräulein Louise...?" fragt nach einer Weile Lemke in die laute Freude. Maßmann schüttelt den Kopf. Und während der Leutnant schon wieder unter Fragen und Antworten, Plänen und Ideen unter getaucht ist, geht Lemke zum Telefon, um ein kurzes, vorsichtiges Gespräch mit der Bäckerei Heenemann zu führen. 53
Der Teufel auch! Maßmann möchte acht Ohren haben, um all die Berichte, die wichtigen und die harmlosen, die sachlichen und die fröhlich übertriebenen, auf nehmen zu können. Stolz ist er auf seine Männer! Keiner hat ver sagt. Und fast scheint es so, als lösten gerade un vorgesehene Zwischenfälle, wie Verhaftungen, Entlassungen, Schikanen, ganz besondere Wider stände aus. Bei wirklichen Männern natürlich nur. Um Heenemann tut es ihm leid. Für den Unfug, durch die Decke nach den ängstlich umher stolpernden Schritten Lewinskis zu schießen, wird er längere Zeit brummen müssen. Ein Jahr viel leicht sogar. „Wir werden von morgen an in erhöhter Bereit schaft sein", sagt Maßmann. Napoleon drängt über den Tisch. „Liegt was in der Luft?" Harke schlägt ihm gutmütig auf die Schulter. „Ein Komet, mein Lieber. Und außerdem soll es in Altötting Blut geregnet haben. Das bedeutet. Schicksalsschläge, wie Maul- und Klauenseuche, Krieg, Blattern und Wanzen." Fuchsberger tut unter dem Lachen der Kamera den beleidigt. „Ich bin Katholik, darum verbitte ich mir jede Pflaumerei über Aberglauben." Napoleon klatsch in die Hände. „Brovo, Fuchsberger. Laß ja nichts auf deinen Aberglauben kommen. Worüber sollte man sonst auch lachen in dieser merkwürdigen Zeit?" 54
Maßmann winkt ab. Er ist nicht sonderlich zu Albereien aufgelegt, und er weiß, daß Fuchsberger nur darauf wartet, mit rollenden Augen und fuch telnden Händen in öligem Ton eine Predigt zum besten geben zu können. „Wir haben bisher noch viel zu sehr auf den Zufall gewartet, von nun an werden wir planvoller arbeiten. Wir müssen hinausgehen in die Ver sammlungen. Dazwischenhauen, wenn es nicht anders geht. Hauptsache ist, daß sich hin und wieder ein Mann zu uns findet. Versteht ihr — Männer, die denken, müssen wir um uns sammeln. Die Aufrührer, nicht die Gehorsamen. Die Unwilli gen, nicht die Willigen." Teuscher hat die Ellbogen auf den Tisch ge stützt und starrt unverwandt auf die Lippen seines Leutnants. „Feldgraue Röcke sieht man selbst bei den Kom munisten, von den Sozialdemokraten ganz zu schweigen. Wenn es so etwas geben könnte wie eine Soldatenpartei, wir hätten alle anständigen Männer Deutschlands bei uns." Napoleon krümmt langsam den rechten Zeige finger. „Vorher müßten allerdings die Führer der an dern von ihrem sündigen Leibe erlöst werden. Wie Karl Liebknecht." Maßmann nickt sehr ernst. „Wer die minderwertigen Instinkte eines Volkes weckt, soll getötet werden. Besser, es stirbt ein Verführer als hundert Verführte." Langsam erhebt sich Teuscher. 55
„Du brauchst nur zu befehlen, Karl. Vor welchen Auftrag du uns auch stellst, wir werden nicht mit der Wimper zucken." Auch Napoleon erhebt sich langsam. Fast feier lich und sehr verlegen. „Du weißt ja, wie wir es meinen. Solange du uns führst, ist uns nicht bange um das Ziel." Einer nach dem andern erhebt sich, und jeder gibt ein Wort, einen Satz, einen Spruch in den Bund. Die letzten Gäste beginnen bereits aufmerksam und etwas unruhig auf den Tisch der Männer zu blicken. Harke bemerkt es. „Schnell ein Lied. Und stehenbleiben beim Singen." Da klingt es auch schon auf. Ein Lied, das sie so oft gesungen haben, in Flandern, vor Verdun, im Baltikum, immer dann, wenn die Luft besonders dick und stickig war. „Von den Bergen rauscht ein Wasser, Das ist lauter kühler Wein . . . " Die Gäste sind sehr schnell beruhigt. Sicher ein paar Kriegskameraden, die nicht an ders können, als um Mitternacht Soldatenlieder grölen! Na, und wennschon, sie werden diese ekelhaften Erinnerungen eines Tages überwunden haben! Lemke tippt Maßmann auf den Arm. „Sieh mal zur Tür!" 56
Donnerwetter ja!
„Louise!"
Maßmann springt auf und hält einen Augenblick
später das schluchzende Mädel im Arm. Bei den Kameraden gibt es ein fröhliches Hallo. Die Louise Ostade ist da! Lemke lächelt vor sich hin. Aufs Telefonieren versteht er sich! Louises Augen glänzen überglücklich. Sie merkt nicht, daß ihr eine vorwitzige Träne über die Wange gelaufen ist. „Daß ich dich wiederhabe, Karl!" Dann nestelt sie mit zitternden Fingern ihre Handtasche auf und legt einen Packen Papiere auf den Tisch. „Lies bitte!" Maßmann blättert. „Das ist ja großartig, Louise! Geburtsschein, Ausweis vom Konsulat, sogar ein polizeiliches Führungszeugnis. Da fehlt nichts mehr." Er ist plötzlich ernst geworden und streichelt Louise andächtig über den Scheitel. „Da fehlt gar nichts mehr. Das heißt, wir kön nen jetzt heiraten!" Napoleon ist der erste, der sich zu fassen weiß. „Sekt! DVVH. erlaubt sich, das junge Paar und seine Freunde zu einem kleinen Umtrunk ein zuladen." Bis in den frühen Morgen klingen die Gläser. Längst sind die letzten Gäste gegangen. Louise hat Karl einen Vorschlag mitgebracht. 57
„Der Konsul läßt dir sagen, er würde dich in einer Bank unterbringen, wenn du Neigung dazu hättest." Maßmann schüttelt hastig den Kopf. „Ich habe noch keine Zeit für ein Amt. Es gibt wichtigere Dinge in Deutschland." Louise nickt ergeben. Was Karl tut, muß schon recht sein. Sie vertraut ihm. Und in vierzehn Tagen ist Hochzeit! Keinen Tag wird länger gewartet. „Wehe euch, wenn ihr einen andern Pastor nehmt als mich!" droht Fuchsberger lachend. Napoleon knufft ihn derb in die Rippen. „Meinst du, die knien in irgendeiner Kirche?"
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er Kommissar hat viel Ärger in diesen Wochen. Überall tauchen die Deutschvölkischen Wan derer auf. Aber immer scheinbar ganz zufällig. Einmal in Adlershof, einmal in Köpenick. Meist geht es stürmisch zu, oft gibt es Schlägereien. Aber die Kerle sind nicht recht zu fassen. Und ein planmäßiges Handeln ist ihnen schon gar nicht nachzuweisen. Immer wieder gibt der Polizeipräsident Akten vermerke herüber. Alle Polizeireviere haben Geheimbefehle er halten, auf die Völkischen ein besonders wach sames Auge zu werfen und gegebenenfalls rück sichtslos einzuschreiten. 58
Die sozialdemokratischen Versammlungsleiter sind machtlos, wenn ihre Kundgebungen gestört werden. Und selbst die Kommunisten wissen nicht recht, wie sie sich gegen die Hakenkreuzler wehren sollen. Und das Schlimmste ist, daß diese ver wegenen Burschen Worte finden, die gerade in Arbeiterherzen ein unerwünschtes, ja peinliches Echo finden. Die Klagen der jüdischen Kultgemeinden häufen sich. Überall in Groß-Berlin kleben Zettel juden feindlichen Inhalts. Jede Gegenpropaganda ist machtlos. Jetzt werden schon die Synagogentüren mit Hakenkreuzen beschmiert. Und die Farbe läßt sich nicht abwaschen. Anscheinend ist hier mit Druckerschwärze gearbeitet worden. In der Weinmeisterstraße ist es zu pogromar tigen Zwischenfällen gekommen. Jüdischen Händ lern wurden die Buden umgeworfen. Allein im Krankenhaus Friedrichshain liegen an die zehn Ostjuden. Jeden Sonntag werden auf dem Kurfürstendamm Juden verprügelt. Selbst in den Kaffees kommt es zu Tumulten. Der Kommissar ist gereizt. Er sieht sich schon strafversetzt. Sollen all die Zwischenfälle auf das Konto der Deutschvölkischen Wanderer kommen? Dann müßte dieser Bund ja lawinenartig gewachsen sein!
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n einer Vierzimmerwohnung in der Marburger Straße hat sich das DVVH. eingerichtet. Der Absatz ist größer, als selbst der nicht gerade zum Pessimismus neigende Napoleon geglaubt hat. Allein rund fünfzehntausend Hakenkreuze wurden in vier Wochen verkauft. Frau Louise Maßmann hat alle Hände voll zu tun, Buch zu führen, das Telefon zu bedienen, Pakete zu verschicken. Wenn das so weitergeht, muß zu Beginn des nächsten Monats eine Hilfskraft eingestellt werden. Abends kommt Bäcker Heenemann. Aber seine Hilfe ist nicht sonderlich groß. Der erzählt meist nur Schnacke aus dem Gefängnis. Louise muß fast jeden Morgen noch darüber lachen. Dieser Landsknecht, der Heenemann! Hat wieder mal Glück gehabt und ist mit fünf Wochen Ge fängnis davongekommen. Nur, weil Lewinski vor den drohenden Blicken der Männer Angst bekam und vor Gericht umfiel. Und wie hat sich der Heenemann gefreut, als er im Triumph in sein neues Café gebracht wurde. Weiß der Henker, er wäre aus Freude noch ein mal fünf Wochen in den Kahn gegangen! Aber es ist gut, daß er da ist, denn Marjellchen wartet jeden Tag auf ihre schwere Stunde. Teuscher klappt befriedigt das Hauptbuch zu. „Die Kisten nach München müssen spätestens morgen mittag verladen werden. Zur Sicherheit diesmal vom Bahnhof Friedrichsfelde. Frau Maß mann, Sie stellen die Frachtbriefe auf die Deck 60
adresse Huber aus. Absender Meyer, Bayrischer platz. Sie wissen Bescheid. Und dann die War nungszettel: Vorsicht! Nicht stürzen! Glas!" Louise nickt und schreibt schnell einige Notizen auf ihren Schreibblock. ,,Wer bekommt die Rechnung?" „Wird nicht ausgestellt. In der nächsten Woche kommt ein Kurier aus Süddeutschland." Napoleon steckt den Kopf zur Tür herein. „Du, Teuscher, aus Essen kommt die Nachricht, ein Panzerzug sei zu verkaufen. Ganz große Sache. Ist überhaupt nicht mehr an der Front gewesen. Für fünfunddreißigtausend Mark ist er zu haben." Teuscher schüttelt belustigt den Kopf. „Nee, mein Lieber. Den Panzerzug wollen wir lieber dort unten lassen. Da wird er sicher auch eines Tages wieder gebraucht werden. Und außer dem würde er beim Transport in unsere Gegend bestimmt geschnappt werden." Napoleon schmollt. „Die besten Sachen läßt du dir entgehen. Und wenn es erst einmal soweit ist, tut es dir leid. Ich werde dich daran erinnern." Louise winkt ihm zu. „Ärgern Sie sich nur nicht gleich. Ihren Tank haben Sie bekommen und die beiden Haubitzen, die Flammenwerfer und die zwölf schweren Maschinengewehre. Sie großer Junge!" „Na ja!" Napoleon ist besänftigt. „Ich werde eben lieber kleinere Sachen aufstöbern." Das Telefon schrillt. „Hier DVVH.", meldet Louise. 61
Dann lächelt sie. „Guten Abend, Karl." „In einer halben Stunde bin ich bei euch. Heene mann und Harke bringe ich mit. Die andern Ka meraden des engeren Kreises bestelle bitte sofort in die Marburger Straße." „Bis auf Fuchsberger und Lemke sind sie bereits hier." „Um so besser." Eine dreiviertel Stunde später gibt Maßmann Anweisungen. „Ihr enthaltet euch jeglicher Zwi schenrufe. Wir müssen den Fuchs erst aus dem Bau locken. Da nur völkische Kreise eingeladen sind, wird es zu handgreiflichen Auseinander setzungen nicht kommen." Napoleon verzieht spöttisch die Unterlippe und entledigt sich mit Nachdruck der Artilleriefahrer peitsche, die er sorgsam unter Weste und Stiefel hose verstaut hat. „Von solchen vornehmen Zusammenkünften halte ich nicht viel. Es kommt doch nichts dabei heraus." Maßmann nickt ihm gleichmütig zu. „Wer weiß. Der Herr, der heute abend zu uns sprechen will, tut besonders wichtig." Fuchsberger ist argwöhnisch. „Ein Oberst aus Bayern? Ich habe dort ganz eigentümlich schräge Vögel kennengelernt." Maßmann sieht auf die Uhr. „Es ist Zeit. Und zum letztenmal: es handelt sich um einen geschlossenen, sozusagen vornehmen Kreis, danach habt ihr euch zu richten!" 62
Die beiden Taxen halten vor dem Hotel Fürsten hof am Potsdamer Platz. In einem der vornehm ausgestatteten Säle warten bereits annähernd achtzig Herren. Die meisten von ihnen sind un verkennbar frühere Offiziere. Louise ist die einzige Frau. Sie fühlt die erstaunten Blicke der Männer und schmiegt sich unwillkürlich an Maßmann. Fuchsberger weist unauffällig in eine Ecke. „Sieh mal dort hinüber. Vier katholische Pfarrer. Ich wittere Morgenluft!" Maßmann legt den Finger an den Mund. Eine Glocke wird geschwungen. „Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, meine Herren!" Ein kleiner, etwas aufgeregter Herr im dunklen Anzug hat sich erhoben. „Wir haben, soweit uns die Anschriften erreich bar waren, führende Herren der völkischen Be wegung hiehergebeten, um in einem zu bildenden Arbeitskreis die geistigen Grundlagen und die Ziele unseres Kampfes herauszuschälen." „Schon faul", knurrt Napoleon, „mit solchen Geistern könnten wir in unsern Kreisen keinen Hund anlocken." Ein unauffälliger, gutgemeinter Tritt Martin Harkes läßt Napoleon verstummen. Der Herr im dunklen Anzung hat inzwischen den bayrischen Oberst begrüßt und ihm das Wort erteilt. Was der Oberst da anfangs sagt, interessiert keinen der völkischen Wanderer. 63
Lächerlich, als ob sie das nicht schon längst wüßten, daß das arme deutsche Vaterland aus tausend Wunden blute und daß es gerettet werden müsse! Wozu sind sie denn überhaupt zusammen gekommen? Fuchsberger hat sich, wie zum Protest, das Femekreuz angesteckt. Harke, Napoleon und Teuscher folgen dem Bei spiel. Blöder Hund da vorn! Maßmann hat scharf beobachtet. Der Oberst gefällt ihm nicht. Die ganze Art des Mannes ist unangenehm, verdächtig. Er wittert Unaufrichtigkeit. Irgend etwas ver birgt der dort. Was aber nur? Aalglatt ist die Rede. Voller selbstverständlicher Begriffe und Gemeinplätze. Aber darum braucht man doch keinen Arbeits kreis aufzuziehen und ernsthafte Männer von wichtigeren Aufgaben fernzuhalten? Auffällig nur, daß die Pfaffen bei jeder sich bietenden Gelegenheit klatschen und „Bravo!", „Hört, hört!" und ähnliche Zustimmungsbeweise dazwischenwerfen. Endlich wird der Oberst deutlicher. Maßmann atmet erleichtert auf und wirft den Kameraden ermunternde Blicke zu. „Glauben Sie mir aufs Wort, meine Herren", hören sie den Oberst sagen, „wenn wir nicht für ein klares innerpolitisches Ziel kämpfen, wird unser ganzes Bemühen zerflattern. In München 64
haben wir die Räterepublik gestürzt. Doch was geschah danach? Nichts! In Berlin wurden die Spartakisten niedergeschlagen, Liebknecht er schossen. Doch was folgte? Wiederum nichts! Wir müssen eine Gelegenheit benutzen, um mit einem großen Gegenschlag, der uns ein für allemal die Herrschaft bringt, zu antworten!" „Die göttliche Ordnung muß wiederhergestellt werden!" ertönt ein Zwischenruf aus der Ecke, in der die katholischen Geistlichen sitzen. Der Oberst verneigt sich dankend in die Rich tung, aus der der Zwischenruf kam. „Sehr wohl, die göttliche Ordnung muß wieder hergestellt werden. Was aber ist göttliche Ord nung in Deutschland anderes als die letztgültige Form der Monarchie?" Lauter Beifall tobt durch den so vornehmen Saal. Mit schmalen Augen lauert Maßmann nach vorn. „Das sollte diese Tränentüte mal in Köpenick verkünden", meint Harke sachlich. Napoleon ist unglücklich. „Meine schöne Fahrerpeitsche. Ich habe so ein Gefühl..." Der Oberst glänzt vor Zufriedenheit. „Das Hohenzollernhaus ist erledigt. Leider — kann man sagen. Aber die Unvorsichtigkeit des letzten Herrschers ist im Volk nicht wieder gut zumachen. Da die Monarchie um des Prinzipes willen aber erkämpft werden muß, weil wir" — hierbei verbeugt er sich wiederum in die Ecke der Geistlichen — „den göttlichen Befehl zu erfüllen 65
haben, müssen wir uns nach einem anderen Re genten umsehen." Seine Stimme schwillt zur Verkündigung an. „Wer aber ist würdiger als Prinz aus edelstem deutschem Geblüt, wer ist wertvoller als Mensch und edler als Persönlichkeit, kurz, wer ist anders von der Vorsehung bestimmt zum Kaiser der Deut schen als Luitpold von Bayern?" Wieder wird Beifall laut, allerdings nicht ganz so stürmisch wie zuvor. Nur die Geistlichen klat schen daß ihnen die Hände blutrot werden. Maßmanns Gesicht ist steinern geworden. Nur aus seinen Augen bricht ein gefährliches Feuer. Seine Kameraden drängen sich dicht an ihn. „Ein Wort", keucht Martin Harke, „ein Wort von dir, und wir zerfetzen diesen ganzen Sau stall!" Maßmann schüttelt den Kopf. Der Oberst hat sich sichtlich erschöpft auf einen Stuhl fallen lassen. Mit einem seidenen Tuch wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn. Der aufgeregte Herr im dunklen Anzug dankt mit hastigen, sich fast überstürzenden Worten dem Redner für die wundervollen, von hohem vaterländischem Geist getragenen Ausführungen und eröffnet die Ausprache. Viel Neues oder gar Wesentliches kommt da bei nicht heraus. Dieser und jener der Herren macht wohl einen schüchternen Versuch, das Hohenzollernhaus zu verteidigen, aber schließlich ist man sich doch einig, daß eine Wittelsbacher Monarchie immerhin besser sei als gar keine. 66
Vor allem müsse man mit allen Mitteln den monarchistischen Gedanken propagieren. Hier erhebt sich der eine der katholischen Geist lichen. Ein dicker Herr mit weit über den Kragen hängenden Backen. Seine Stimme ist bis zum Flüstern leise. Man müsse unauffällig zu Werke gehen, dem Volk nach dem Munde reden. Es sei ja so leicht, Kritik zu üben. Wer in der Opposition stände, habe es nun einmal Gott sei Dank leichter als der in der Position Befindliche. Nur immer das rechte Wort zur rechten Zeit, das sei gewissermaßen das Geschäftsgeheimnis. „Schlecht geht es Euch, Ihr seid unzufrieden? Nun ja, leider! Es sind traurige Zeiten über unser geliebtes Volk und Vaterland gekommen. Da war es früher doch anders. Früher, ja früher! Da hatten wir auch einen Kaiser, der für alles sorgte." So ungefähr müsse man anfangen. Und dann ruhig auf Kaiser Wilhelm schimpfen lassen. Der sei ja doch unrettbar verloren. „Habt Ihr aber schon einmal etwas von Luitpold gehört? Ein wunderbarer, von Gott sichtlich ge segneter Mensch, der geborene Kaiser." Das müsse man immer wieder geschickt hinzu fügen. Das sei auf die Dauer das wirksamste Mit tel, Luitpold populär zu machen. Und wenn dann mit Gottes Hilfe der große Tag käme, könne viel Blut erspart werden. Verbindlich lächelnd und zufrieden die Hände reibend hat sich der Geistliche gesetzt. 67
Der Oberst und der aufgeregte Herr schütteln ihm dankbar die Hand. Ob noch jemand das Wort zu erhalten wünsche? Keiner scheint rechte Lust zu haben. Denn schließlich ist alles schon gesagt worden. Maßmann sieht sich noch einmal im Saale um und hebt den Arm. „Ich bitte ums Wort." Alle Köpfe fahren herum. Der aufgeregte Herr beeilt sich. „Wer sind Sie und wen vertreten Sie?" Maßmanns Stimme ist klar und ruhig. „Ich bin Leutnant Maßmann und spreche Namen eines soldatischen Verbandes." Freudiges Erstaunen geht durch die Reihen. Der bayrische Oberst nickt hoheitsvoll herüber und sogar der dicke Geistliche erhebt sich zur Hälfte, um einen freundlichen Gruß zu spenden. Soldaten hat eben jeder gern, der Ideen vertritt, die noch keinen rechten Machtboden unter den Füßen haben. Napoleon tritt aufgeregt von einem Fuß auf den andern. „Gib es ihnen!" Maßmann verbeugt sich militärisch. „Ihre Ausführungen waren ebenso interessant, Herr Oberst, wie die kurzen Erläuterungen des Herrn Pfarrers bezeichnend waren." Geschmeichelt lächeln die scheinbar Belobten. Hier läßt Maßmann geschickt eine Pause ein treten. 68
,,Sie warten auf Ihren großen Tag, auf den Tag, der sowohl der bayrischen Königspartei als auch der römischen Kirche günstig ist. Es hat sich nun erwiesen, daß sowohl in der jüngsten als auch in der älteren Geschichte der deutschen Nation solche Tage keineswegs Glückstage waren. Viel mehr waren es regelmäßig Stunden tiefster Er niedrigung und völkischer Ohnmacht." Die Gesichter der Zuhörer werden fassungslos. Wohin dieser Leutnant wohl steuert? Der aufgeregte Herr tuschelt mit dem Obersten und den Vertretern der Geistlichkeit. Ganz sachlich spricht Maßmann, so, als halte er einen geschichtlichen Vortrag über ein Thema längst vergangener Zeiten. „Sie hoffen nichts anderes, als gelegentlich innerdeutscher Unruhen und Aufstände oder eines gewaltsamen außenpolitischen Ereignisses die Monarchie auszurufen und die sich dagegen wehrende Arbeiterschaft mit den von der Kirche gesegneten Waffen politisch instinktloser Soldaten zusammenzuschießen. Der feigen Bürger und der denkfaulen sogenannten Patrioten sind Sie sicher." „Das wagen Sie einem Oberst ins Gesicht zu werfen, Herr Leutnant?" kreischt der Redner des Abends. Der aufgeregte Herr hüpft in komisch anmutenden Sprüngen umher und versucht, die immer heftiger werdende allgemeine Aufregung zu besänftigen. Der dicke Geistliche droht mit der Faust und schleudert Worte gegen Maßmann, die in dem Lärm ungehört untergehen. 69
Napoleon hat fast glücklich lächelnd einen klei nen Totschläger aus der Tasche gezogen und schickt sich gerade an, den Herren auf der vor deren Reihe auf seine Art sein Mißfallen zu be kunden. Harke reißt ihn zurück. „So nicht, Mensch. Merkst du denn nicht, daß der Leutnant viel wirksamere Waffen hat?" Traurig bleibt Napoleon stehen. Die kleine Waffe baumelt unschuldig und harmlos aussehend von seiner rechten Hand. Allmählich wird es ruhiger, so daß Maßmann fortfahren kann. „Ein Chaos ist schnell heraufgeführt, meine Her ren. Aber das Kreuz, das die Kirche auf den Trüm mern zu errichten hofft, ist das Zeichen des Todes. Ich weiß, Sie scheuen keinen neuen Dreißigjährigen Krieg, um Ihre Ziele zu erreichen. Nur haben Ihre Ziele nichts, aber auch nicht das Geringste mit dem Leben der Nation zu tun." Der dicke Geistliche brüllt vor Wut: „Da kann man sehen, was politische Gedanken in Hirnen von Soldaten für Unheil anzurichten vermögen." Maßmann tut den Zwischenruf mit einer ver ächtlichen Handbewegung ab. „Bisher war Politik das Vorrecht Roms, ich weiß es. Darum hat die Kirche auch alles getan, politi sches Denken außerhalb ihrer Reihen zu unter drücken. Meinen Sie, wir wüßten nicht, warum an allen Grenzen Deutschlands ausgerechnet Priester Separation betreiben? Wir wüßten nicht, warum von allen Kanzeln Haß gegen den Bruder verkün 70
det wird? Deutschland soll zwiespältig bleiben, und Bruderkampf schließt nun einmal wirklichen poli tischen Machtkampf aus. Bändigen Sie Ihre Wut, meine Herren, auch wir, wir Soldaten lernten, Ge schichte zu erkennen. Sie, Herr Oberst, gehören, wie ich zu Ihrer Ehre annehmen will, zu jener Gruppe von Militärs, die nie lernen werden, ge schichtlich zu handeln. Sicher glauben Sie selber daran, für Thron und Altar zu kämpfen, hieße für Deutschland kämpfen. Sie merken vielleicht nicht, daß Sie für ein Trugbild kämpfen, hinter dem sich nicht Gott, sondern der Teufel verbirgt." Kreideweiß ist der Oberst geworden. Schaum steht vor seinem Mund. „Sie wagen es, meinen Glauben zu besudeln?" „Was Sie Glauben nennen, Herr Oberst, ist das Traumbild, das Ihnen die Beauftragten der Welt macht Kirche, die Ihnen nun einmal heilig ist, vor die Seele gaukeln. Den Traum nehmen Sie für Wahrheit und ahnen nicht, daß Sie die Wahrheit durch den dicken Schleier nicht zu schauen ver mögen. Ihr Glaube wurde von Ihrer Religion ge fressen, und dabei starb auch Ihr Instinkt." „Das verstehe ich nicht, das ist mir zu ver worren", jammert der Oberst hilflos. Der aufgeregte Herr streckt beide Arme gegen Maßmann aus. „Was wollen Sie dem Volke denn für eine Obrigkeit bescheren?" „Ich kann Ihnen nicht mit Namen dienen, ich weiß nur eins, daß sich aus der Seele der Nation ein Mann erheben wird, wenn seine Stunde an 71
gebrochen ist. Die Stunde aber zu bestimmen, ist nicht Sache irgendwelcher Spekulanten. Das Ziel ist Deutschland. Sie aber verfolgen kein Ziel, um dessentwillen Sie von sich selber erst erlöst wer den müßten. Nein, einem Ziele dienen Sie nicht, meine Herren. Sie unterwerfen die Ideen einem Zweck, und dieser Zweck ist Ihre Macht. Darum treiben Sie Schindluder. Sie dulden das Haken kreuz, weil Sie Ihr Machtkreuz mit ihm tarnen wollen. Sie dulden das Wort völkisch und bedie nen sich seiner, weil Sie die Machtidee Kirche verschleiern wollen. Von Vaterland predigen Sie, weil Sie die Instinkte des Volkes ködern wollen. Ich danke Ihnen für diesen Abend, meine Herren. Er war mir wertvoller, als es Ihnen lieb sein kann." Langsam geht Maßmann mit Louise und den Ka meraden auf die Tür zu. Die Wut und die Enttäuschung der Versamm lung brandet hinter ihnen her. „Rebellen ohne Glauben", geifert der Oberst, „entwurzelte Existenzen ohne Tradition!" „Verdammte Ketzer, gottlose Heiden und Haken kreuzler", knirscht der dicke Geistliche. Napoleon macht von der Tür aus einen Satz in den Raum zurück. Drohend schwenkt er den Tot schläger. Einen Augenblick tritt ängstlich-erwartungs volle Stille ein. Diesen Augenblick benutzt Na poleon, um seiner bedrückenden Verachtung in einem lauten „Ihr Scheißkerle!" Luft zu machen.
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raußen fällt in dicken Flocken der Märzschnee. Louise fährt in einer Autodroschke voraus in die Marburger Straße, um einen herzhaften Glühwein zu bereiten. Die Männer wollen noch ein Stück Weges lau fen, um der Erregung Herr zu werden. Napoleon ist glücklich wie ein Kind, dem noch zu guter Letzt ein bereits abgeschlagener Wunsch erfüllt wurde. Keiner der Kameraden nimmt ihm die Entgleisung in den in jene Versammlung nicht gut hineinpassenden Landsknechtston übel. Durch den Tiergarten stapfen sie bis zum Gro ßen Stern. „Ich hoffe, euch ist klargeworden, wie groß, aber auch wie schön der Kampf für die Freiheit ist", sagt Maßmann, bevor sie einsteigen. „Ja", nickt Harke nachdenklich, „es erstehen immer neue Gewalten, die sich zwischen uns und das deutsche Ziel stellen." Maßmann schüttelt den Kopf. „Nein! Es sind die alten Gewalten. Sie kommen nur in immer neuen Wandlungen und greifen an das Herz der Nation. Seit Karl von Franken, unter dem die deutsche Seele heimatlos wurde." Teuscher stutzt, dann atmet er tief auf. „Die Zeit, die uns noch bleibt, werden wir ge brauchen, um Geschichte zu lernen." Napoleon pfeift vor sich hin. „Aber auch um Geschichte zu machen! Und wenn der königlich bayrische Thron und der christkatholische Altar dabei ins Wackeln kom men." 73
„Bravo", sagt Lemke und drückt ihm die Hand. Die Männer stehen auf der vorderen Plattform der Straßenbahn. Ein Gespräch kommt nicht mehr auf. Nur Heenemann kratzt sich etwas verlegen hin ter dem Ohr. „Da merkt man erst, wie dumm man noch ist!" „Das ist noch heilbar, solange du nicht böswillig bist", tröstet Fuchsberger.
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er Glühwein ist längst fertig, als die Kame raden zur Marburger Straße kommen. Mit feierlichem Gesicht schenkt Louise die Gläser voll. Dann steht sie auf. „Heenemann muß erst zu Hause anrufen." Mit einem Satz ist der am Telefon. Hochrot wird sein Kopf. „Ist es wirklich wahr?" Dann wirft er den Hörer hin und vollführt unter Gebrüll und Jauchzen einen Indianertanz, daß die Kameraden ernstlich an seinem Verstande zwei feln. Louise hebt das Glas. „Heenemann ist vor zwei Stunden Vater eines gesunden Sohnes geworden!" Endlich kommt Heenemann zu sich. „Ich! Einen Sohn! Einen Soldatenjungen!" Angestrengt überlegt er. „Das war gerade in der Zeit, als du mit den Brü dern dort abrechnet hast!" 74
Maßmann bejaht.
„Dann ist mein Sohn also — wie soll ich sagen
- unter einem Freiheitsstern geboren!" — Wie ner denkt Heenemann angestrengt nach. Dann sieht er fragend seinen Leutnant an. — ,,Kannst du mir den Namen eines großen Deutschen sagen, der gegen die Welt der andern gekämpft hat? Gegen die Redensart von Thron und Altar? Der Schliche und Netze der andern erkannt hat? Und der den Mut gehabt hat, in das Wespennest zu stechen und Feuer hineinzuwerfen?" Maßmann steht auf, und mit ihm die Kameraden. „Vor vierhundert Jahren lebte einer der größten Deutschen: Ulrich von Hutten! Ein Kämpfer für die Freiheit, ein unversöhnlicher Hasser aller Dunkelmänner und Aasjäger im deutschen Land, der gekrönten und geweihten. Er blieb gläubig, obwohl er elend starb. Er kämpfte als Rebell und siegte nach seinem Tode durch den Geist der Na tion, der ihn zu ewigem Leben in dieser Welt erweckte. Wir trinken auf Ulrich Hutten, den Re bellen, und auf den jungen Ulrich Heenemann, der Geist von seinem Geiste werden soll!"
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n den ersten beiden Wochen des März liegt Deutschland wie in Fieberschauern. Der Blick des Volkes richtet sich nach Südosten, nach Ober schlesien. Am 20. März soll die Bevölkerung dieses so heiß umstrittenen Landes in einer Abstimmung sich entscheiden, ob sie in der Schicksalsgemein schaft der deutschen Nation zu verbleiben gedenkt, oder ob sie den verlockenden polnischen Einflü sterungen Gehör schenken will. Die Welt lauscht gespannt nach Deutschland hinüber: wie viele Belastungsproben wird dieses unheimliche, anscheinend gegen den Tod gefeite Volk noch aushalten? Tag und Nacht arbeiten die Rotationsmaschinen. Eine selten günstige Zeit für politische Winkel advokaten und seelische Brunnenvergifter ist her beigekommen. Milliarden Geld verschiedenster Währungen rollt. Von Mark und Zloty ganz zu schweigen, französischer und Schweizer Franken, Dollar, Pfund, Rubel und Kronen tauchen auf, schlagen Breschen, kaufen Gewissen, töten Herzen. Die Weltgeschichte wird zur Hure, käuflich für jeden Verräter, der seiner Lumperei das ver deckende und verschönende Gewand höherer po litischer Einsicht anziehen will. Weit ragt der Schatten des Kreuzes über Ober schlesien. Und unter dem Schatten des Kreuzes 76
wühlen die pestschleppenden Ratten: Wer ist gut römisch? Der muß hinüber zum katholischen Polen! Der muß fort von dem Gifthauch des ewig ketze rischen Preußen. Bei der Schwarzen Madonna, be sinne dich, du Christenheit! Hat nicht der Klerus schon gegen Bismarck gekämpft für die Erhaltung des slawischen Volkstums? Da eilen sie durchs Land, Prälaten und Pfaffen, und geifern und predigen den Abfall von der deut schen Mutter. Da segnen sie den weißen polni schen Adler und verfluchen die Symbole des deut schen Volkes. Transparente werben hüben und drüben für die Abstimmung. Polnisch und deutsch sind die Auf schriften, deutsch und polnisch ertönen Verheis sungen und Drohungen. Zu Milliarden werden Flugblätter verteilt. Der Taumel greift über die politischen Speku lanten. Wetten werden abgeschlossen, Wertpapiere und Aktien steigen auf schwindelnde Höhe, um im nächsten Augenblick in bodenlose Tiefe abzu stürzen. In Paris und London, in Neuyork und Rotterdam werden Wechsler und Händler stein reich oder bettelarm. Derweilen geht die Bevölkerung Oberschlesiens ruhig hinter dem Pflug und in der Werkstatt, über Tag und tief unter der kostbaren Erde ihrem Tage werk nach. Sie kümmert sich nicht sonderlich um die nervöse Propaganda. Bauern und Kumpels kennen ihren Weg. Sie brauchen nicht zu fragen. Sie wissen, daß er nur deutsch sein kann. 77
Hin und wieder lachen sie herzhaft, wenn die Propaganda zu dick aufgetragen wird. Als ob sie nicht wüßten, daß Deutschland kein Schlaraffen land ist. Aber lieber in Deutschland arm sein als drüben ein vollgefressener Schlaraffe. Frechheit, sie für so dumm zu halten, auf den Leim zu gehen, daß die da drüben aus lauter Liebe zum armen, unterdrückten deutschen Arbeiter und Bauern dieses Land zu Polen erlösen wollten. Wer's glaubt, wird selig! Wenn nur die verflucht vielen Spitzel und Pro vokateure nicht wären! Die machen einem ehr lichen, harmlosen Deutschen das Leben zur Hölle. Schlägt man einem in die Fresse, dann wird ein Überfall auf polnische Staatsbürger daraus. Wehrt man sich nicht, dann heißt es gleich, die Deut schen empfangen die Fremden begeistert mit offe nen Armen! Die Wachen der Interalliierten Kommission wer den verstärkt. Stacheldraht und Maschinen gewehre, Stahlhelme und Bajonette erscheinen immer häufiger in der Öffentlichkeit. Die Deut schen nehmen das kaltblütig hin, die andern füh len sich sicherer unter dieser bewaffneten Demon stration und richten ihr Benehmen danach. In Deutschland beginnt man zu merken, daß um einen großen Einsatz gewürfelt wird. Eine Versammlungswelle geht durch das Reich. Und die Regierung drückt diesmal doch beide Augen zu, wenn es dabei an vielen Orten auffällig national zugeht. Sie verzichtet auf die Forderung, daß die Farben der Republik gezeigt werden. 78
Die nationale Stimmung ist offenbar bei größeren außenpolitischen Ereignissen nicht zu vermeiden! Darum mag es hingehen, daß überall Militär kapellen Märsche und Soldatenlieder spielen. Das wird sich bald wieder geben! — denkt die Re gierung. Auf den Berliner Fernbahnhöfen ist bis in die Nacht hinein ein ungewöhnlicher Hochbetrieb. Transparente fordern zum Einsatz auf. Fliegende Beratungsstellen nehmen sich der Abstimmungs berechtigten an. An kleinen Warenständen werden Liebesgaben verteilt: Kaffee, Schokolade, Kakao, belegte Bröt chen, warme Würstchen. Schwarzweißrote Fähnchen gibt es, und gelb weiße. Schwarzrotgoldene sind scheinbar schon am ersten Tage vergriffen gewesen, denn man sieht keine mehr. Das Rote Kreuz hat alle Hände voll zu tun, die Mütter und Kinder zu betreuen. Durch den Lärm und den Trubel klingt immer wieder das stolze Lied: O Deutschland hoch in Ehren .. . Vielen Reisenden stehen die Tränen in den Augen. Und das war im Jahre 1921? Auf dem Charlottenburger Fernbahnhof hat das DVVH. seinen Stand aufgeschlagen. Die Kleiderkasse der Deutschvölkischen Wan derer hat ihren Inhalt diesmal ausschließlich all gemein-wohltätigen Zwecken zur Verfügung ge stellt. 79
Louise weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Hier fragt einer nach Zigaretten, dort will jemand unbedingt lauwarme Milch haben. Und zu allem Überfluß will ein junger Bursche an seine Braut eine Postkarte ausgerechnet mit einem Bild von der Siegessäule schreiben. Maßmann geht mit Harke den Bahnsteig auf und ab. Er sorgt dafür, daß die Abstimmungsberechtig ten aus den Reihen der Wanderer möglichst über den ganzen Zug verteilt werden. Die Fahrt ist lang, da werden gern Gespräche geführt. Und Maßmann glaubt, daß kleine politische Be lehrungen ganz gut am Platze seien. Auf eigene Kosten hat er eine Broschüre drucken lassen: Geschichte der polnischen Aufstände in Oberschlesien während der Jahre 1919 und 1920. Es ist nicht gerade nötig, daß der Polizei diese Broschüre in die Hände fällt, denn auf der letzten Seite stehen — alphabetisch geordnet — die Namen der Männer und Gruppen verzeichnet, die ideel und materiell an den Aufständen interes siert waren. Maßmann lächelt befriedigt. Seine Männer wer den die Broschüre hinter Frankfurt verteilen. Zwi schen Frankfurt und Breslau gibt es keine polizei liche Zugüberwachung. Harke stutzt plötzlich. „Das war doch eben unser Pfiff?" Da tont auch schon zum zweiten Male das Signal „Argonnerwald ...". 80
Unauffällig gehen die beiden zum Stations gebäude, in dessen Nähe Teuscher und Lemke auf Beobachtungsposten stehen. Der sonst so ruhige Lemke ist ganz aus dem Häuschen. „Wißt ihr, wer eben eingestiegen ist? Unser alter Freund, Wachtmeister Riehl!" „Den sollten wir glatt aus dem Zug holen", meint Napoleon, der gerade Handlangerdienste für Louise verrichtete. Maßmann winkt Lemke zu. „Wir wollen ihm guten Tag sagen." Riehl ist überrascht und verlegen. „Merkwürdiges Zusammentreffen. Was haben Sie auf dem Bahnhof zu suchen, Sie sind doch gar kein Schlesier?" „Wir sind bloß hier, um die republikanische Volksseele zu belauschen", antwortet Lemke trocken und wirft einen lustigen Blick auf das schwarzweißrote Fähnchen, das Riehl in seiner Hand hält. Der ist sichtlich peinlich berührt, wagt aber doch nicht, die unschuldige Fahne wegzuwerfen. „Sie sehen heute so soldatisch aus", zwinkert Maßmann und weist auf Riehls Knopfloch, das mit dem Band des Eisernen Kreuzes geschmückt ist. „Lassen Sie das bitte meine Sorge sein", knurrt Riehl, „und wenn Sie es wissen wollen, ich fahre nach Oppeln zur Abstimmung, also als Privat mann." Lemke ist mit einem Satz zu Louise gesprungen und kommt mit einem Fähnchen zurück, einem 81
kleinen grünen Papierfähnchen, aus dessen Mitte ein goldgelbes Hakenkreuz leuchtet. ,,Dann nehmen Sie das auch noch mit. Wir geben es sonst nur ganz besonders lieben Freunden." Riehl grinst gutmütig. „Das Fähnchen kann ja nichts dafür." Als der Zug ausfährt, winkt Riehl noch lange aus dem Fenster... mit beiden Fähnchen.
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ie Abstimmung in Oberschlesien hat einen un erwarteten Erfolg gebracht: 707000 Stimmen sind für die arme, ausgeblutete deutsche Heimat abgegeben worden. Das so mächtig aufstrebende Polen hat nur 479000 Stimmen einfangen können. Siedeheiß ist die Erregung in der Welt geworden. Wie wird das Ergebnis aufgenommen werden? Wird es endgültig sein? Die Wachen der Interalliierten Kommission wer den erneut verstärkt. Ihre Gewehre sind Tag und Nacht schußbereit. Und der Stacheldraht ist elektrisch geladen. Fast von jedem Berliner Fernbahnhof gehen jetzt täglich Kisten nach Oberschlesien. Das DVVH. hat schier übermenschliche Arbeit zu leisten.
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ie kleine Stadt Friedrichshagen bei Berlin hat einen großen Tag. Der bekannte völkische Redner von Graefe will im Festsaal der Brauerei 82
eine Massenkundgebung gegen das Judentum durchführen. Nächte vorher schon wurden im Berliner Osten Tausende von Werbeplakaten geklebt. An vielen Stellen ist es zu schweren Schlägereien zwischen den Klebekolonnen und spartakistischen Gegnern gekommen. „Der Osten bleibt rot!" Auch in der Stadtverordnetenversammlung gibt es heftige Zusammenstöße. Sozialdemokraten und Demokraten fordern im Hinblick auf das schon geflossene Blut Rede verbot. Der Antrag geht nicht durch. In Karlshorst und Köpenick verteilen die Roten Handzettel, auf denen sie zur Störung der Kund gebung auffordern. „Der Osten bleibt rot!" Die Einlaßkarten sind längst vergriffen. Hunderte müssen vor dem Saal umkehren, der wegen Über füllung polizeilich geschlossen ist. Maßmann hat fünfzig Mann zum Schutze der Kundgebung befohlen. In kleinen Trupps fahren sie bis zur Haltestelle Hirschgarten der Berliner Vorortbahn. Treffpunkt ist ein Gehölz zwischen Hirschgarten und Friedrichshagen. Zehn Minuten sind es von dort zum Friedrichshagener Realgymnasium, das als Sammelpunkt bei unvorhergesehenen Zwi schenfällen bestimmt ist. In dreizehn Minuten ist die Brauerei erreichbar. 83
Als der Trupp im Vorgarten des Saales auf marschiert, hat der Koslecksche Bläserchor gerade sein Musikprogramm beendet. Graefe beginnt zu sprechen. Kleine Störungsversuche werden von den Zu hörern selbst unterdrückt. Maßmann weiß, daß die Roten von außen an greifen werden. Friedrichshagen ist ein gefährliches Pflaster. Hier hat es schon während des Kapputsches Tote gegeben. Knapp eine halbe Stunde ist vergangen, als Na poleon und Harke im Dauerlauf vom Marktplatz her durch die Friedrichstraße geeilt kommen. „Ungefähr zweihundert Rote kommen vom Bahnhof anmarschiert." Maßmann gibt einige Befehle. Die Männer umkrampfen ihre Eichenstöcke und Fahrerpeitschen. Nichtsahnend nähert sich die rote Kolonne. Sie singt die „Internationale". Maßmanns Gesicht ist hart geworden. Auf dreißig Schritt läßt er die Roten heran kommen. Dann ruft er sein „Halt!" Die Kolonne bleibt wie angewurzelt stehen. Ihr Anführer geht einige Schritte vorwärts. „Was ist denn hier los?" Maßmann springt vor. „Sie sehen, daß der Eingang besetzt ist. Seien Sie vernünftig, gehen Sie nach Hause." Ein Wutgeheul quillt aus der Rotte. 84
„Bluthunde!... Arbeitermörder!" Maßmann mustert den Anführer der Roten. „Sie waren doch Soldat?" Der zuckt geringschätzig die Schultern. „Der Traum ist aus. Und was schert Sie das über haupt!" Die Rotte gerät in Bewegung und drängt nach vorn. „Das sind ja nur ein paar!" „Schlagt sie doch zusammen!" Maßmann beherrscht sich. „Wir schützen die Kundgebung da drinnen. Ihr seid hierhergekommen, sie zu sprengen. Wenn etwas geschieht, tragt ihr die Schuld." Hohn schlägt ihm entgegen. „Ihr kommt ja nur, um die Arbeiterschaft zu pro vozieren, ihr Hakenkreuzschweine." Der Anführer hat etwas wie Mitleid in der Stimme. „Macht daß ihr fortkommt, wir werden euch nichts tun. Bloß den Laden da wollen wir ausein anderhauen." Dann wendet er sich persönlich an Maßmann. „Warum müßt ihr euch ausgerechnet vor die Ausbeuter stellen? Ihr seid hoffnungslose Roman tiker." Ein Mann aus der Rotte springt neben den An führer und packt ihn am Arm. „Was verhandelst du überhaupt mit dem Bur schoas, Genosse? Eine solche Gelegenheit bietet sich so leicht nicht wieder. Los, Genossen, macht sie fertig!" 85
In Sekunden ist der Anführer von seinen Ge nossen beiseitegedrängt, und wie ein Rudel Wölfe fallen die Roten über die Männer her. Maßmann schlägt sich mit drei, vier Kerlen her um. Blut fließt ihm über die Wange und sammelt sich warm und süßlich in seinem Mund. Verzweifelt wehren sich die Männer. Die Stöcke sind zerschlagen. Wie gut sich doch die Fahrer peitschen bewähren! Maßmann benutzt einen freien Augenblick, um die Lage zu überblicken. Es steht schlecht. Das Häufchen seiner Männer steht dicht geballt an der Mauer. Nur gut, daß der Rücken gedeckt ist. Unwillkürlich muß er lächeln. Napoleon! Der rudert gewaltig mit seinem Totschläger um her und räumt auf, was sich ihm in den Weg stellt, Tapferer Kerl, diese Berliner Großschnauze! Die Fahrerpeitsche hat er längst fortgeworfen, weil sie ihm nicht wirksam genug erschien. Da, ein Aufschrei! Lemke ist von dem Anführer gepackt und zu Boden geworfen worden. Mit einem Ruck schüttelt Maßmann die beiden Kerle ab, die sich an ihn gehängt haben. „Haut Lemke heraus!" Lemke versucht, sich dem würgenden Griff seines Gegners zu entziehen. Vergeblich. Die Adern drohen ihm zu platzen. 86
Lemke vermeint, seine Augen müßten in der nächsten Sekunde aus den Höhlen fallen. Aus der Tasche des Anführers ist ein dolch artiges Messer gefallen. Lemke hat es gesehen, mit den überwachen Sinnen eines vom Tode Bedrohten wahrgenommen. Mit letzter Kraft tastet er mit der Linken danach. Er hält das Messer. Ein Stich! Hoch spritzt das Blut aus der Schlagader auf. Lemke fühlt, wie der Griff des Gegners sich lockert. Der Druck der Adern läßt nach. Die Augen kehren in ihre Höhlen zurück. Durch einen dicken blutigen Schleier sieht Lemke, daß der Gegner ihn mit vor Staunen ge weiteten Augen anstarrt. Taumelnd erhebt er sich. Es schüttelt ihn. Er muß speien. Mit den Händen fährt er über den Mund. Blut! Blut, wohin er sieht, wohin er fühlt. Vor ihm liegt in einer roten Pfütze der Anführer. Unaufhaltsam quillt in fast armdickem Strom das Blut. Eine furchtbare Stille lagert sich für Augenblicke über die Kämpfenden und lähmt im Entsetzen ihre Herzen und Hände. Dann fliehen in wirrem Aufschrei die Roten. Lassen ihren verblutenden Anführer zurück. 87
Im Saal hat niemand der Zuhörer etwas von diesem Kampf gehört. Nur ein Polizist, der mit seinem Rücken gegen den Eingang lehnt, hebt den Kopf und lauscht. Dann geht er in den Vorgarten. Maßmann kommt ihm entgegen. „Wir wurden überfallen. Sorgen Sie für einen Krankenwagen. Draußen liegt ein Schwerver lezter." Noch ehe der Polizist eine Frage stellen oder gar mit Erhebungen beginnen kann, ist Maßmann in der Dunkelheit verschwunden.
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m Realgymnasium warten die Männer. Schweigend. Sie stehen noch unter dem Eindruck des Ge schehens. Lemke faßt immer wieder zum Halse. Zuweilen spuckt er aus. Blut! Seine Jacke hat er über den Zaun des Friedhofes gegenüber geworfen. Als Maßmann kommt, ruft Napoleon: „Achtung! Der Leutnant!" Jedem einzelnen drückt Maßmann die Hand, jedem sieht er fest in die Augen. „Heute ging es hart auf hart. Ich danke euch, keiner ist feige gewesen." „Lemke!" Lemke tritt vor die Front. Aufrecht steht er da, mit angewinkelten Armen, wie auf dem Kasernen hof.
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Maßmann ergreift seine blutige, klebrige Hand. „Du hast das Schwerste auf dich genommen. Trage es würdig! Es ist leichter, im Kriege einen Feind zu erschlagen, als im sogenannten Frieden einen Gegner zu töten." Ein Zucken geht durch Lemkes Körper. Dann strafft er sich wieder. „Im Kampf Mann gegen Mann hast du in der Notwehr getötet. Du hast nicht mehr und nicht weniger getan, als morgen vielleicht ich oder jeder andre von uns tun muß." Feierlich legt Maßmann seine Hand auf Lemkes blutüberkrustete Schulter. Dann überreicht er ihm einen gelben Brief umschlag. „Du wirst heute nacht noch bis Erkner marschie ren. Dort weckst du unsern Verbindungsmann und übergibst ihm den Paß, der in diesem Umschlag ist. Unser Verbindungsmann wird den Paß auf dich zurechtmachen. Von Erkner fährst du im Auto bis Frankfurt Dort bekommst du eine Fahrkarte bis Beuthen. Alles andere erfährst du bei unserm Verbindungsmann in Beuthen." Noch einmal drückt er ihm die Hand. „Ich glaube, wir werden uns bald wiedersehen, Lemke. In Oberschlesien!" Langsam nimmt er die Rechte zum Gruß an die alte Feldmütze. „Stillgestanden! Augen rechts!" Lemke ist nach wenigen Schritten vom Dunkel der Nacht aufgenommen.
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uf vielen Häusern, an unzähligen Fenstern werden Fahnen halbmast gesetzt. Die Zeitungen berichten unter dem 11. April den Tod der Kaiserin Auguste Viktoria. Die Trauer gilt nicht allein dem Schicksal der schwergeprüften Frau, sie ist mehr noch Ausdruck der Unzufriedenheit mit der schwächlichen Regie rung in Deutschland. Die Leitartikel der bürgerlichen Zeitungen be nutzen die Gelegenheit, Vergleiche zwischen Einst und Jetzt zu ziehen. Die offiziellen Stellen sind schwer im Druck: eine Überführung der Leiche nach Deutschland wird eine in diesem Augenblick besonders un erwünschte Steigerung des nationalen Einflusses geben. Wird die Genehmigung zur Überführung nicht erteilt, ist erst recht die Hölle los. D a n n haben es die Nationalen leicht, an das Volksempfinden zu appellieren und dem ohnehin nicht großen An sehen der Republik einen neuen empfindlichen Schlag zu versetzen. Guter Rat ist sehr teuer geworden. Schließlich einigt man sich, die Überführung zwar zu genehmigen, auf jeden Fall a b e r dem früheren Kaiser ein Betreten deutschen Bodens zu verweigern. Wie ein Lauffeuer geht es durchs Reich, daß an läßlich der Beisetzung der Kaiserin in Potsdam ein Treffen der völkischen und nationalen Bewe gung stattfinden würde. Maßmann weilt in Ratibor, als ihn d i e Kunde erreicht. 90
Er sitzt mit einigen italienischen Offizieren im Café und spricht ganz harmlos mit ihnen über Politik und Wirtschaft und über das sich drohend zusammenballende Unwetter jenseits der Grenze. Fast stündlich kommen jetzt irgendwo in Ober schlesien Übergriffe der Polen vor. Mitglieder des polnischen Aufständischenverbandes scheinen es darauf abzusehen, einen neuenKrieg zu entfesseln. Deutsche Familien werden bis aufs Blut gequält, Kinder sinnlos verprügelt; selbst wehrlose Greise bleiben nicht verschont. Ein Stöhnen geht durch das getretene Land. Nur in den seltensten Fällen kommt es zu einer plan mäßigen deutschen Selbsthilfe. Die polnischen Spitzel sind scharf auf der Hut und zeigen jeden, dem man irgendwie Selbsthilfe zutrauen könnte, der französischen Besatzungs behörde an. Die sorgt dann schon nachdrücklich für die Sicherheit des Verdächtigen. Und wo ein Verdacht für einen Haftbefehl nicht ausreicht, greift ein Rollkommando des Aufständischenver bandes ein. Ein paar Wochen Krankenhaus und ebenso viele Monate Arbeitsunfähigkeit kommen sicher dabei heraus. Die italienischen Offiziere schütteln den Kopf. „Wir können nicht helfen", sagt der eine, ein Hauptmann, „für den Schutz der Zivilbevölkerung ist in erster Linie die Apo da." Maßmann weiß, daß die Italiener gern helfen würden, daß ihnen aber durch die Franzosen die Hände völlig gebunden sind. Und die Apo, die Abstimmungspolizei, besteht zur Hälfte aus Polen! 91
Schade, daß die Italiener hier in Oberschlesien so wenig Truppen haben! Es würde sonst besser aussehen, denn sie sind offensichtlich auf der Seite des Rechtes, das heißt auf der Seite der gefolterten deutschen Bevöl kerung. Auch die Engländer zeigen sich plötzlich auf fällig deutschfreundlich. Der italienische Hauptmann lacht darüber. „England will Deutschland nämlich nur schwä chen. Wissen Sie warum? Wenn Deutschland stark ist, ist England gefährdet. So glaubt es wenigstens. Würde Deutschland aber sterben, wäre Frank reich das stärkste Land auf dem Kontinent. Dann aber wäre England wiederum gefährdet. Darum verhindert England beides: Gesundwerden und Sterben Deutschlands." Maßmann nickt. Der Italiener hat völlig recht! Dann zuckt ihm ein Gedanke durch den Kopf: damals in Berlin, im Hotel Fürstenhof! Hatte er da nicht von der Schwächungspolitik der römi schen Kirche gesprochen? Weiß Gott, England war ein gelehriger Schüler Roms. Das protestan tische England! Aber mußte nicht jede Weltpolitik letztlich in einer Schwächungspolitik der andern enden? Vielleicht ruht hier zutiefst der Unterschied zwischen Weltpolitik und völkischer Politik be gründet: völkische Politik will nicht auf Kosten anderer Völker leben, sondern begnügt sich da mit, die Kräfte der Seele eigenen Volkstums zu heben und nutzbar zu machen. Jede imperialisti 92
sche Weltmacht aber muß im Verlauf ihrer Politik vergewaltigen, überfallen, schänden . . . Der italienische Hauptmann tippt ihm auf den Arm. „Machen Sie sich nur keine schweren Ge danken. Das ist nun einmal englische Politik. Man sollte von ihr lernen." Maßmann schüttelt energisch den Kopf. „Nein. Es wäre besser, jedes Volk erkennte sich selbst und würde völkisch. Dann hörte das Un recht auf in der Welt." Der Hauptmann lächelt. Dieser Deutsche! Er hält Maßmann für einen Getreidereisenden aus Breslau, für den er sich ausgegeben hat. Und von einem Getreidereisenden soll man schließlich keine politischen Einsichten ver langen. Vor dem Café ertönt der "bekannte Pfiff „Ar gonnerwald Maßmann verabschiedet sich von den eleganten Italienern. Draußen stößt er auf Lemke, der in seiner neuen Apouniform einen geradezu gepflegten Eindruck macht. „Übermorgen wird die Kaiserin beigesetzt. An schließend soll ein Vorbeimarsch der getarnt be stehenden völkischen Kampfverbände folgen." Maßmann denkt einen Augenblick nach. „Ich fahre noch heute abend. Es wird gut sein, die Kameraden noch einmal zu sprechen." Über Lemkes Gesicht geht ein Leuchten. 93
„Grüße sie alle von mir, Martin Harke, Heene mann, Teuscher und vor allem Napoleon. Sie sollen bald nachkommen!" Maßmann nickt. „Wie weit bist du in der Apo?" „Ich habe ungefähr dreißig Mann gefunden. Fanatische Deutsche." „Glaubst du, in vierzehn Tagen die doppelte An zahl gewonnen zu haben?" fragt Maßmann. Lemke schüttelt den Kopf. „Ich glaube nicht daran. Die meisten Apoleute sind entweder politisch gleichgültig oder ängstlich. Von den Polen erst gar nicht zu reden." Seine Stimme wird leiser. „Ich habe das Gefühl, man ist hinter mir her. Irgendwer muß meinen Papieren mißtrauen. Ich war noch nicht drei Tage bei der Apo, als die Scherereien begannen." Maßmann nagt nachdenklich an der Oberlippe. „Du mußt fort von hier, heute noch. Und zwar fährst du in der Kleidung eines Landarbeiters bis Neiße. Vier bis fünf deiner Männer kannst du unauffällig gleich im Zuge unterbringen. Die übri gen läßt du innerhalb von zwei Tagen nach kommen." Lemke atmet erleichtert auf. Dann muß er lachen. „Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich eines Tages lernen würde, mit ruhigem Gewissen zu desertieren." „Die Hauptsache ist nur, man desertiert nicht vor sich selber", meint Maßmann, „das Rebellen tum ist nun einmal in den Augen der Spießer etwas 94
Treuloses, etwas Meineidiges, etwas, das jeden Verbrechens fähig ist. Wir werden uns daran ge wöhnen müssen, so eingeschätzt zu werden, wie es diese Leute aus ihrer Perspektive sehen. Was wissen die auch schon von der höheren Treue!" „Für solche Leute hat Harke einen passenden Begriff", sagt Lemke, „er behauptet, sie könnten infolge ihrer Kleinheit alles nur von unten sehen, gewissermaßen aus der Lokusperspektive. Wo wir Krieg sehen, sehen die nur Wunden, wo wir von Freiheitskampf sprechen, zetern die von verbreche rischem Abenteuer. In deren Augen bin auch ich nichts als ein Mörder." Maßmann drückt ihm die Hand. „Mit unseren Taten werden wir einsam. Aber auch groß, Lemke. Und nun auf Wiedersehen. Die nächsten Kisten gehen nach Brieg."
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n Potsdam ist ein Wald von Fahnenmasten auf
gewachsen.
Aus ganz Deutschland sind die Abordnungen der
patriotischen Bürgervereine, der nationalen Par
teien und Verbände, der völkischen Organisationen
eingetroffen.
In sämtlichen Blumengeschäften Potsdams und Berlins, in fast allen größeren Blumenhandlungen des Reiches sind gewaltige Kränze mit den Farben des Kaiserreiches oder des bestellenden Verbandes ausgestellt. Die Beerdigung der Kaiserin wächst sich zu einer politischen Demonstration ersten Ranges aus. 95
In der Nacht vom 18. zum 19. April herrscht auf den Zufahrtsstraßen nach Potsdam ein reger Ver kehr. Generale, Stabsoffiziere, Prinzen, Parlamen tarier kommen gefahren. In alten Lastautos, in Fuhrwerken nähern sich Arbeiter und Bauern. Mädchenbünde und Frauenvereine, studentische Verbindungen, Männerbünde weltanschaulicher, wirtschaftlicher und religiöser Prägung haben Ab ordnungen auf den Weg geschickt. Auf der Straße Berlin—Potsdam marschieren die Deutschvölkischen Wanderer. In einer Stärke von zweihundertfünfzig Mann sind sie angetreten. Ein etwas merkwürdiges Bild bieten sie heute, denn Leutnant Maßmann hat erlaubt, daß die Tra ditionsuniformen getragen werden dürfen. So sieht man Artilleristen, Dragoner, Ulanen, Matrosen, Infanteristen, Kürassiere in einem bunten Durch einander marschieren. An der Spitze des Zuges marschiert, die entrollte grünseidene Fahne über der Schulter, Napoleon. Anfangs hat er geknurrt und über die krieger vereinsmäßige Maskerade geschimpft, aber der Leutnant hat ihm mit wenigen Worten klargemacht, daß nichts ohne Grund geschehe. Napoleon sinnt nach. Ob der Leutnant die Spitzel der Regierung täuschen will? Sicher doch, denn den hohen und höchsten Herren zu Gefallen tut der bestimmt nichts. Der Nachtmarsch hat etwas Feierliches an sich. Die scherenschnittartigen Umrisse der Kiefern heben sich mit ihrem tiefen Schwarz drohend vom 96
grauen Himmel ab. Der Wind weht dumpf über die Kronen der wiegenden Bäume. Das Singen will nicht recht klappen. Merkwürdig! Sonst sind Soldaten nicht so leicht verlegen um Lieder. Aber diesmal kommen Landknechtslieder nicht auf, und patriotische Gesänge mag niemand an stimmen. Das mögen gefälligst die andern tun. Die Männer tasten nach einem Lied, immer wieder geben sie es auf, schon nach Schluß des ersten Verses. Verdammt! Wenn doch die wehmütige Stim mung verfliegen würde. Fuchsberger versucht, ein Echo aus dem Walde zu locken. Es klingt dumm und albern, da unterläßt er weitere Versuche. Martin Harke stimmt ein Lied an. Endlich! Das Lied, das er sooft in den Unterständen vor Ypern gesungen hat. „Kein schönrer Tod ist in der Welt, Als wer vom Feind erschlagen ... Den ersten Vers singt er allein. Der Nachtwind breitet das Lied über die Truppe aus. Klar und hart klingen die Töne. Man könnte meinen, sie ständen über den Männern und ver wehten nicht. Den zweiten Vers spricht er vor. Langsam und ohne jede Scheu. Zehn, zwanzig, dann fünfzig Männer singen mit. 97
Und den dritten Vers singen sie alle. Trotzig, wie wenn sie ausgezogen wären, dem Tod in den Knochenarm zu fallen. „Mit Trommelklang und Pfeifengetön Manch frommer Held ward begraben, Auf grüner Heid gefallen schön, Unsterblichen Ruhm tut er haben. Kein schönrer Tod ist in der Welt, Als wer vom Feind erschlagen Auf grüner Heid, im freien Feld, Darf nicht hörn groß Wehklagen." Eine Eule streicht mit breiten Flügelschlägen über die Männer hin. Heenemann schaudert zusammen. Ihm ist unheimlich zumute. Zwei Stunden später sind die Männer bereits in die Quartiere gerückt. Die Kaserne der früheren Gardedukorps hat sie aufgenommen. Die Stroh säcke sind nicht aufgeschüttelt, und das Stroh ist alt und faulig. Teuscher stellt das mit abfälligen Worten fest. Die Kaserne macht überhaupt einen verwahr losten Eindruck. Soviel Schmutz ist selbst in der größten Notzeit des Krieges nicht zu finden ge wesen. Um fünf Uhr ist die Ruhezeit vorbei. Dann gibt es Kaffeebrühe und zwei trockene Semmeln. Napoleon ist in seinem Element. Wozu die schwarze Brühe nicht gut ist! Stiefel kann man damit säubern, Uniformen auf dunklen Glanz bringen, das Koppelzeug polieren! 98
Um sechs Uhr früh stehen die Männer ausge richtet vor dem Neuen Palais. Hier wird der Trauerzug vorüberziehen. Die Sonne meint es gut am Vormittag des 19. April. Nur der Staub ist gar zu lästig. Er legt sich auf Fahne und Helm, aber auch auf Zungen und Augen. Endlich, endlich kommt der Trauerzug. Maßmann gibt das Kommando. Die Köpfe fliegen herum. Feierlich senkt sich die Fahne. Bis sie vor über sind, die schwarz vermummten Pferde, der Wagen, der Sarg, der Kronprinz, die Prinzen und Fürsten, die Geistlichkeit, die Generalität, die Offiziere. Einmal nur strafft sich Maßmann besonders. Ludendorffs aufrechte Gestalt wird sichtbar. Neben ihm schreitet der Generalfeldmarschall. Am Nachmittag findet ein Vorbeimarsch vor Ludendorff statt. Maßmann richtet es so ein, daß seine Männer mitten unter den Kriegervereinen und unpoliti schen Verbänden marschieren. Ganz unauffällig. Nur die grüne Fahne flattert, und das goldene Hakenkreuz leuchtet. Die Führer der Einheiten werden von Luden dorff mit Handschlag begrüßt. Es sind zu viele, als daß sie der Feldherr in längere Gespräche ziehen könnte. Ein älterer Major drückt Maßmann leutselig die Hand. „Die Kerle mit der putzigen Fahne sind gut marschiert. Scheint ein Traditionsverein zu sein?" 99
Maßmann verneigt sich verbindlich lächelnd und schweigt. Der Major hat auch keine Antwort erwartet. Er hat ähnliche Fragen heute schon zur Genüge ge stellt und ist ganz zufrieden, sein Gedächtnis nicht mit einem hundertsten Namen belasten zu müssen. „Sicher werden Sie mit Ihren Leuten morgen zum festlichen Trauergottesdienst in die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin kommen? Sie haben sich heute ein Anrecht auf die Auszeichnung erworben. Ich leite den Absperrdienst. Melden Sie sich bei mir!" Maßmann nimmt die Hand an die Mütze, grüßt und geht zu seinen Männern zurück. Nach einem Kirchgang hat er kein Verlangen.
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n der Krumme Straße in Charlottenburg, un mittelbar an der Stadtbahn, lieg eine kleine Gastwirtschaft. Kutscherkneipen nennen die Ber liner Bürger Lokale dieser Art. Die Gastwirtschaft gehört einem ehemaligen Baltikumer, der im Auf und Ab der Nachkriegszeit bei der USPD., der Unabhängigen Sozialdemokra tischen Partei Deutschlands, gelandet ist. Der Gastwirt ist auf Grund seiner Parteizugehö rigkeit knallrot und betont seine Gesinnung durch das Tragen einer roten Papiernelke im Knopfloch. Fast jeden Abend tönen eindeutige Lieder der politischen Linken über die schmale Straße. „Dem Karle Liebknecht haben wir's geschwo ren . . . " 100
Der Polizei ist dieses Lokal unverdächtig. Die kindlichen Wutausbrüche der Unabhängigen nimmt sie nicht tragisch. Weil sich höchstens einmal ein durstiger Polizist in ausgesprochen friedlicher Absicht hierher ver irrt, erfreut sich das Lokal in steigendem Maße des Besuches aller jener Kreise, die der Polizei aus irgendwelchen Gründen peinlich aus dem Wege zu gehen pflegten. Auch Teuscher hat eines Tages erfahren, daß man hier ganz ungestört einen Schoppen trinken kann. Zudem ist der Gastwirt in seiner Freikorps abteilung im Baltikum gewesen, und das verbindet mehr als Parteipolitik trennen kann. Der Gastwirt denkt sich, Bier ist Bier und Geld ist Geld, und hat schließlich nichts dagegen, daß Teu scher hin und wieder einige Kameraden mitbringt. Heute abend hat Maßmann die Kameraden seines engsten Kreises hierher gebeten. Eine aufgeregte Freude hat die Verschworenen gepackt. „Ist es wahr, daß es losgeht?" „Endlich, endlich eine Entladung. Die Gewitter stimmung des letzten Jahres war nicht mehr zu ertragen." „Sie mögen nur kommen, an uns sollen sie sich die Zähne ausbeißen." So schwirrt es durch den niedrigen Raum. Maßmann ist ernster als sonst. Seine Hände spielen unruhig am Glas. „Wir haben zuverlässige Nachrichten, daß der polnische Aufständischen-Verband in den ersten 101
Tagen im Mai losschlagen wird. Es wird einen sehr harten Kampf geben." Napoleon ist obenauf. „Ihr sollt mal sehen, wie wir dann den Stein ins Rollen bringen werden. Wenn der erste Schuß ge fallen ist, werden wir die Regierung zur Tat zwin gen. Paßt nur auf, dann beginnt der große Frei heitskampf!" „Du Optimist", wehrt Maßmann ab, „ich sage dir heute schon, daß wir ganz allein sein werden," „Aber die Kommission", begehrt Napoleon auf. „Die wird sich gegen uns erklären, da Frank reich den Ton bestimmt." Napoleons Laune ist durch nichts zu verderben. „Dann nehmen wir es eben mit allen auf." Maßmann muß lachen. „Nur gut, daß wir dich haben, mein Lieber. Wenn wir nicht weiterkönnen, werden wir dich zu Ver handlungen ausschicken." Heenemann legt übermütig seine unförmige Pistole auf den Tisch. „Solange noch eine Kugel im Lauf steckt, ist keine Schlacht verloren. Und solange ich nicht tot bin, kann mich die ganze Welt am Arsche lecken." „Ich kann mir das nach deinem Tode noch reiz voller vorstellen", muß Napoleon draufgeben. Maßmann schlägt auf den Tisch. „Ihr bekommt es noch fertig, im Massengrab Streit anzufangen." Dann entfaltet er einige Generalstabskarten und unterrichtet seine Getreuen über die Lage. 102
Der Gastwirt wundert sich, daß es heute im Billardzimmer so ruhig hergeht. Aber schließlich, was kümmert's ihn! Maßmann weist über die Karte Deutschlands. „Einen wirklichen Krieg wird dieser Staat auch in der furchtbarsten Not nicht auf sich nehmen. Er zieht die gewisse Knechtschaft der ungewissen Freiheitstat vor. Beweise seiner niedrigen Gesin nung hat er zur Genüge gegeben. Gegen die pol nisch-französische Militärkonvention hat er sich ebenso wenig gewehrt, wie gegen die Londoner Konferenz, die Deutschland die Besetzung von Düsseldorf, Ruhrort und Duisburg brachte. Das In dustriegebiet im Westen ist in Feindeshand. Wo mit soll Deutschland seinen Freiheitskampf führen? Die Londoner Konferenz sorgt dafür, daß die letzten Waffen zerstört werden; und die vollkom mene deutsche Wehrlosigkeit soll benutzt werden, das Industriegebiet im Osten zu entdeutschen. Versteht ihr, was das heißt? Verewigung der deut schen Ohnmacht!" Harke spuckt auf den Boden. „Vorgestern wurden in Oberschlesien Massen verhaftungen durchgeführt. Fast alle deutschen Führer sind festgenommen. Das Deutschtum ist unter Aufsicht der Interalliierten Kommission wehrlos gemacht. Ich wette, daß die deutsche Re gierung nicht ganz ahnungslos gewesen ist." „Seit einem Jahr gibt es einen Völkerbund", höhnt Fuchsberger. „Deutschland sollte auch eintreten, dann könnte es wenigstens unter vier Augen mal 'du-du!' 103
machen. Das wäre schon ein gewisser Fort schritt." Gegen Mitternacht haben sich die Männer die Köpfe heiß geredet. Endlich erhebt sich Maßmann. „Sofort nach Oberschlesien zu fahren, würde die Gefahr sofortiger Verhaftung herbeiführen. Die Häscher der Regierung haben ihre Netze zu dicht ausgestellt. Wir müssen warten, bis der Einfall kommt. Nur der dann ausbrechende Tumult bietet uns einige Sicherheit, unaufgehalten in das vor aussichtliche Kampfgebiet zu gelangen." Napoleon läßt den Kopf hängen. „Ich fürchte, wir laufen Gefahr, zu spät zu kommen. Bis wir dann in Oberschlesien eintreffen, haben andre schon alles getan." Maßmann sieht ihn lächelnd an. „Die Sorge ist bestimmt unnötig. Außerdem be fehle ich zur Sicherheit ab ersten Mai erhöhte Alarmbereitschaft." „Kann ich wenigstens meinen Tank voraus schicken?" bettelt Napoleon. Maßmann wird ärgerlich. „Daß ihn die Regierung schnappt? Mit Tanks und ähnlichen Mitteln werden wir dieses Mal noch nicht aufwarten können. Außerdem macht der eine den Kohl auch nicht fett." Napoleon versteht die Welt nicht mehr. Er kann auch nicht wissen, daß die Kontrolle während der letzten Wochen verschärft worden ist und daß bereits eine große Reihe der Kisten des DVVH. in die Hand der Schergen der Regierung fiel. 104
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er erste Mai beginnt in Berlin mit einem Auf marsch der roten Fahnen aller Schattierungen. Lastautos fahren durch die Stadt, johlende Män ner und kreischende Weiber winken oder drohen zu den Häusern hinauf. Im Osten und Norden kommt es zu Zusammen stößen mit der Polizei. In der Beußelstraße gibt es einen Toten. „Arbeiter aller Länder vereinigt euch!" Die Transparente des Klassenkampfes hängen quer über schmutzigen Straßen und verwandeln das einstmals heilige Frühlingsfest in einen Taumel des Bruderhasses. Aus Freude wird Lärm, aus Be geisterung blinde Wut. Schalmeienkapellen ziehen durch die Straßen. Ihre Musik ist aufreizend, for dernd. Sie kennen anscheinend nur eine Melodie, die Internationale. Die Massen, die hinter ihnen hertrotten, singen sie gedankenlos ein um das andre Mal. Wie eine abgespielte Gramophonplatte wirkt die ständige Wiederholung. Quälend und unbarmherzig. Nur selten unterbricht ein Hoch oder Nieder. An Straßenecken und Plätzen stehen Redner und speien Haß in die Menge, die dankbar die billigen Phrasen der meist jüdischen Gestalten aufnimmt. Die Hoffnung auf einen blutigen Aufstand scheint vielen das Leben erträglicher zu machen. Das dunkle Rot des eigenen Blutes dünkt immer noch freudiger zu sein als das Grau des täglichen Elends. Dort, wo ein Jude es versteht, grauenvolle Bil der einer rächenden Verwüstung mit schwülstigen 105
Worten zu malen, stauen sich die Massen, um durch wütenden Beifall ihr Einverständnis zu be kunden. Kaum einem fällt es auf, daß die Schilderungen der jüdischen Redner eine oft wörtliche Ähnlich keit mit den Prophezeiungen und Offenbarungen der Bibel haben. Die Arbeitermassen kennen die Bibel nicht mehr, nachdem sie die Priester erkannten. Der Alkoholverbrauch steigt um ein Vielfaches dessen, was üblicherweise an Feiertagen ver trunken wird. Machtgefühl, Rausch, Wonne gibt der Alkohol, bis der kurze Taumel dem Ekel weicht. Doch wenn erst der Ekel das Herz umschnürt, wird der Haß noch zwingender. Darum fordern die Anführer der Massen geradezu, daß getrunken werden soll. Gemeine Weiber stacheln durch ihr Gekreisch, durch ihr unflätiges Gekicher die Triebe der Män ner an. Der Ekel soll einmünden in eine einzige Zer störung. Und die Zerstörung wäre nicht restlos, wenn nicht auch die Seelen und Herzen zertreten würden! Die Kneipe in der Krumme Straße ist bis zum Bersten angefüllt. Männer mit stieren Augen, die Haare wirr im Gesicht, die roten Schlipse weit über die Jacke heraushängend, stürzen zwischen Verwünschungen und Zoten ihren wasserfarbenen Schnaps herunter. Koks nennen sie ihn. Er ist billig und wirkt. 106
Hier und dort sitzt wohl einer über den alkohol durchfeuchteten Holztisch gebeugt, den Kopf in die breiten ausgearbeiteten Hände vergraben, und sinnt über den unerforschlichen Aberwitz seines verfehlten Lebens nach. Der Gastwirt kennt solche Genossen und ist ängstlich darauf bedacht, daß niemand sie hänselt oder ihnen auch nur derb kameradschaftlich auf den Rücken schlägt. Er kennt sie und weiß, daß sie dann aufbrüllen können wie die Tiere, um sich im nächsten Augenblick wahllos auf den nächsten besten zu stürzen, ihn zu schlagen, zu kratzen, sich in ihn zu verbeißen. Das Gramophon quarrt blechern. Ein Männerchor, von Schalmeien untermalt. „Wir wolln Max Hölz' Genossen sein . . . " In der stark verräucherten Ecke am Schanktisch sitzen Napoleon und Heenemann. Teilnahmslos betrachten sie den Trubel. Das Bier vor ihnen ist längst schal geworden. Heute ist der erste Tag der Alarmbereitschaft, da verzichten sie auf Bier und Schnaps. Außerdem ärgert sie das unsoldatische Bild in dieser Kneipe. Genossen, Genossen! Heenemann brummt vor sich hin. „Warum die wohl immer Genossen zueinander sagen?" „Weil sie alle genießen wollen", stellt Napoleon pfiffig fest, „verstehst du? Bei uns heißt das Kame raden. Zum Genießen kommen wir ja auch gar nicht." 107
Heenemann nickt. Er ist mit dieser Auskunft durchaus zufrieden. Ein grell bemaltes Frauenzimmer hat sich vor ihnen aufgestellt und mustert sie mit herausfor dernden Blicken. Der Rock geht der Hure noch nicht einmal bis zum Knie und läßt mehr von ihren keineswegs schönen Beinen sichtbar werden als erträglich ist. „Na, ihr beiden Hübschen? Euch macht das hier wohl keinen Spaß?" Die beiden Kameraden blicken sie abweisend an. „Na, habt euch man nicht so keusch, Mutter sieht's ja nicht", damit macht sie Anstalten, sich an den Tisch zu setzen. Vom Schanktisch tönen freche Worte der Feiernden herüber. Man ist auf das Weib aufmerksam geworden, und ihre Annährungsversuche an die beiden wer den mit eindeutigen Redewendungen begleitet. Ein Betrunkener torkelt herzu, reißt seine rote Nelke vom Knopfloch und gibt sie der Hure. „Schenk sie den Freiern." „Da, Bubi", sagt sie zu Heenemann, läßt sich mit einer plötzlichen Wendung auf seinen Schoß fallen und versucht, ihm die Nelke anzustecken. Das reicht für Heenemanns nicht überlange Geduld. „Hau ab, sage ich dir!" Und schon fliegt die Nelke im hohen Bogen über den Schanktisch. Die Hure bekommt einen Knuff, daß sie vor Schmerz aufschreit. In der 108
nächsten Sekunde fühlt Heenemann heiße Kratz wunden im Gesicht. „Du Strolch, du Luder! Heenemann schüttelt die Dirne ab, daß sie an den Nachbartisch taumelt. Der Betrunkene stürzt sich auf ihn. „Meine Nelke, du Aas." Napoleon hat geistesgegenwärtig einen Fuß vorgestreckt. Im Bogen schlägt der Betrunkene gegen die Wand. In knapp fünf Minuten ist die Kneipe ein ein ziger Trümmerhaufen. Heenemann und Napoleon können von Glück sagen, daß die Betrunkenheit der anderen so groß war, daß sie Freund und Feind nicht mehr ausein anderzuhalten vermochten. So sind sie mit geringfügigen Verletzungen da vongekommen. Der Messerstich, den Napoleon in den Arm be kommen hat, wird mit wenigen Nadeln in der Rettungswache im Bahnhof Charlottenburg vernäht. Und die zerschrammte Nase Heenemanns braucht sogar nur einen Leukoplastverband. Napoleon ist verzweifelt. „Wenn jetzt der Leutnant eine Meldung in die Kneipe schickt?" Heenemann hat den rettenden Gedanken. „Wir stellen uns unauffällig so auf, daß wir die Kneipe im Auge haben." Stundenlang stehen die beiden unter dem Stadt bahnbogen auf der Wilmersdorfer Straße. In dieser Nacht kommt kein Befehl. 109
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inige hundert Kilometer nach Osten hin gehen entscheidende Dinge vor. In der Nacht vom ersten zum zweiten Mai ruft der Alarm die polnischen Freischärler an die Grenze. Umjubelt von ihren Landsleuten, gefeiert von den Mädchen stecken sie den weißen Adler an die Mütze. Blumen leuchten aus den Gewehrmündungen, auf denen der Mond sich spiegelt. Hart klingen die Lieder der Soldaten der Haller armee, die in ihren bräunlichen Uniformen einen schneidigen Eindruck machen. An der Grenze ballen sich die Kolonnen. Noch ist der Befehl zum Einmarsch nicht ge geben. Aber schon ist die Fackel in das Pulverfaß ge flogen. Tollkühne polnische Abteilungen sind in Tätig keit getreten. Sabotageakte haben die bürger liche Bevölkerung in Deutsch-Oberschlesien mo ralisch erschüttert. Die Führer des Deutschtums sitzen schon längst in den Kerkern der franzö sischen Kommission. Mit fieberheißen Augen warten die polnischen Freiwilligen auf den Wink Korfantys.
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ie Deutschvölkischen Wanderer haben auf offener Postkarte eine Einladung zur Teil nahme am Frühlingsfest im Seeschloß Pichelsberg erhalten. 110
,,Es wird darauf hingewiesen, daß die Veranstal tung gegebenenfalls länger als gewöhnlich dauern kann, darum wird empfohlen, für alle Fälle Vor sorge zu treffen!" Es fällt nicht auf, daß unter den festlich Geklei deten eine Anzahl verwegen uniformierter Männer erschienen ist. Da sind welche in alten Feld uniformen gekommen, in Wickelgamaschen, die von Flanderns Lehm gebleicht sind. Ausgetretene Kom mißstiefel, Knobelbecher genannt, sind zu Ehren gekommen. Auch moderne, großkarierte Reithosen kann man sehen, neue Jagdstiefel, verschlissene Litewken. Der Festtrubel übertönt mit Tanz und flotten Maäschen die Gespräche einzelner. Eine fröhliche Bewegung liegt über allem. Im Garten sind Schießbuden aufgestellt. Heenemann und Napoleon sind mit Feuereifer dabei, alle Figuren umzulegen. Mehr als ein Schuß darf auf kein Ziel verwendet werden. Zustimmende Rufe der Kameraden begleiten jeden Knall, der mit dem Fall der meist lächerlichen Figuren ver bunden ist. Zwei Ziele erfreuen sich besonderer Beliebtheit, das eine stellt einen dicken Schlachtermeister dar, der mit erhobenem Beil auf einen Ochsenkopf ein schlagen will. Heenemann legt die Luftbüchse an. „Das gilt Korfanty!" Knallend fällt das Beil. 111
Napoleon zielt auf einen farbenprächtigen Sol daten, der halb verborgen in einem Schilderhaus steht. „General le Rond!" Der Knall dröhnt auf, mit einem Ruck steht der Soldat vor seinem Schilderhaus und legt einen Wirbel auf die blecherne Trommel. Der Schießstand ist dicht belagert. Von Hand zu Hand wandern die Gewehre, und der Schießbudenbesitzer freut sich, heute kein werbendes Wort an die Müßigen verschwenden zu brauchen. Martin Harke hat ein frisches blondes Mädel kennengelernt. Die Kleine ziert sich nicht, als der junge Kerl sie zu einer Fahrt in der Luftschaukel auffordert. Übermütig lachend folgt sie ihm sogar in die halbdunkle Schreckenskammer. Nur als er sie küssen will, wehrt sie sich. „Das hat Zeit bis zum nächstenmal." „Bis zum nächstenmal?" Harke rümpft spöttisch die Nase. „Ich glaube, die Zeit würde dir verflucht lang werden, mein Kind." Dann reißt er die überraschte an sich. Im Saal tanzt Maßmann mit Louise. Irgendeinen der neuen Tänze. Louises Stimme zittert. „Du mußt mich mitnehmen, Karl. Du darfst mich nicht allein zurücklassen. Was soll ich hier in Deutschland anfangen ohne dich?" Maßmann späht vorsichtig nach rechts und links. 112
„Nimm Vernunft an, Louise, ich kann dich doch nicht ins Freikorps einreihen. Die Zeiten sind nicht mehr so romantisch, daß wir eine neue Jungfrau von Orleans vertragen könnten." Louise schmiegt sich an ihn. „Ich habe alle Not mit dir geteilt und bin immer um dich gewesen. Auch als du im Gefängnis saßest. Da wußte ich, wo du warst, da konnte ich mich um dich sorgen und warten. Aber wenn du ins Freikorps gehst, fällt die Tür zur Wirklichkeit zu. Meine Sorge kann dir nicht in das verhangene Land folgen. Verstehst du mich nicht, Karl? Mir bleibt nur die Furcht, die untätige Angst um dich." Maßmann versucht zu lachen. Doch es klingt unecht. „Wie dir geht es vielen Frauen." In Louises Augen treten Tränen. „Du bist meine Heimat, Karl. Und ich habe ein Recht, in deiner Welt zu bleiben." Ihre Worte werden hastiger. „Ich kann verbinden. Wer wird sich sonst viel um die Verwundeten kümmern können? Du bist verantwortlich für das Leben deiner Kameraden." Maßmann bricht den Tanz ab und führt Louise durch die Paare an einen kleinen Tisch. „Ich werde versuchen, dich in einem Kranken haus in der Nähe des Einfallgebietes unterzu bringen." Louise nickt ihm dankbar zu und drückt seine Hand. Gegen zehn Uhr brechen die ersten Gruppen der Männer auf. Lachend nehmen sie Abschied von 113
Bekannten und ahnungslosen Freunden. ,,Wir wollen noch einen kleinen Spaziergang durch den Grunewald machen." An der Würfelbude steht Heenemann. Marjell chen trägt den kleinen, müden Ulrich auf dem Arm. Fassungslos schluchzt sie, und die Tränen fallen in dicken Perlen auf den dünnen Blondschopf des Kindes. Napoleon hat eine Flasche Korn gewonnen. Un schlüssig sieht er auf Heenemann. „Wir müssen gehen." Heenemann gibt sich einen Ruck. Vorsichtig fährt er über den Kopf seines Jungen und küßt Marjellchen auf die Stirn. „Ich komme ja bald wieder zu euch zurück." Um elf Uhr dreißig fährt vom Bahnhof Zoo der D-Zug nach Breslau. Die Bahnhofshalle ist wie immer überfüllt, denn der Nachtzug nach dem Osten ist begehrt. Die zahlreichen jüdischen Reisenden sind er schrocken und empört über die rücksichtslose Art, mit der eine Anzahl sehniger Männer sich in dem soeben einfahrenden Zug Platz zu schaffen weiß. Der Zug ist ohnehin schon auf dem Charlotten burger Bahnhof stark in Anspruch genommen worden, so daß nicht wenige Reisende sich auf den Gängen einzurichten beginnen. Heute scheint die Kriminalpolizei besonders neu gierig zu sein. Eingehend mustern die Kommissare und Assistenten die Fahrgäste. Hin und wieder fragen sie einen der Männer aus. Regelmäßig aber 114
erhalten sie die Antwort, es ginge nach Breslau, um Landarbeit anzunehmen. Nur ein junger Offizier wird aus dem Abteil heraus verhaftet. Er trägt volle Uniform. Eine Frau schreit auf. Ob das ein Verbrecher sei? Vielleicht einer, der einen Mord auf dem Ge wissen habe? Der Verhaftete wird bleich vor Zorn. Wortlos läßt er sich abführen. Napoleon wirft einen vielsagenden Blick auf Maßmann, der mit Louise die Fensterplätze ein genommen hat. „Auch wieder solch ein Bursche, der noch nicht genug vom Krieg hat." Maßmann nickt: „Ja, so etwas gibt es noch." Die Frau schüttelt ungläubig den Kopf. „Krieg? Wir leben doch mitten im Frieden. Ich will nach Ratibor zu meiner Schwester." Ein Jude mischt sich in das Gespräch. „Jeden Tag werden jetzt Soldaten aus dem Zug geholt. In Oberschlesien sollen wegen ein paar lumpiger Grenzbezirke neue Unruhen ausgebrochen sein." Er seufzt auf. „Anstatt abzuwarten und die Regie rung verhandeln zu lassen, fangen jetzt die Haken kreuzler an, auf eigene Faust Krieg zu führen. Es soll schon Tote und Verwundete gegeben haben." „Schrecklich", bedauert Napoleon, und die Frau schlägt vor Staunen die Hände zusammen. Der Jude freut sich offensichtlich, Nachrichten unterderhand verbreiten zu können. „Die Insurgenten sind schließlich auch im Recht, wenn sie die Westgrenze Polens erweitern 115
wollen. Deutschland hat so viel Kohlengruben, daß es gut und gern auf ein paar verzichten kann. Immer noch besser, als einen neuen Krieg an zufangen, der nur neue Schikanen von der Entente einbringt. Dabei geht die Wirtschaft zu grunde. Weiter kommt er nicht, weil sich in diesem Augenblick ein Koffer im Gepäcknetz über ihm in Bewegung setzt und herabstürzt. Befriedigt hängt Napoleon den eichenen Spazier stock, mit dem er unbemerkt den Koffer angestoßen hat, an den Haken. Der Jude brüllt vor Schmerz und preßt die Hand an die Stirn, auf der sich eine faustgroße Beule bildet. „Es gibt manchmal unvorhergesehene Zwischen fälle", stellt Napoleon sachlich fest. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße steigen wieder verdächtig soldatische Männer zu. Der Jude wird ängstlich. „Die Polizei paßt nicht genügend auf. Denen dort sieht man doch auf den ersten Blick an, zu welchem Zweck sie in den Osten reisen." „Das sieht man manchen Leuten an", bemerkt Maßmann gleichgültig. Die Frau ist ängstlich geworden. Immer wieder versichert sie, um sich selbst zu beruhigen, daß die Zeit der Kriege ein für allemal vorbei sei. Auf dem Schlesischen Bahnhof hat der Zug längeren Aufenthalt. Maßmann belegt die Plätze und begibt sich mit Louise und Napoleon auf den Bahnsteig. 116
Aus den Abteilen wird ihm unauffällig zuge winkt. Es ist alles in Ordnung, die Männer sind untergebracht! Erleichtert atmet er auf. Plötzlich steht Heenemann vor ihm. An der Hand einen langaufgeschossenen jungen Burschen. „Das ist mein Neffe, der ist mir von Pichelsberg an einfach nachgelaufen." Maßmann mustert den Jungen belustigt. „So, und was sagt Mutter?" Dem jungen Menschen schießt das Blut in die Wangen. Puterrot und verlegen steht er da. „Es ist die letzte Gelegenheit, Soldat werden zu können." „Wie alt bist du denn überhaupt?" Heenemann stampft ärgerlich mit dem Fuß auf. „Das ist ja gerade der Blödsinn. Der Bengel ist noch keine sechzehn Jahre." Maßmann sieht Louise in die Augen. Die nickt ihm fröhlich bejahend zu. „Beruf?" „Ostern nach Obersekunda gekommen." „Wir können doch keine Rekruten brauchen." Der Junge schlägt die Hacken zusammen. „Schießen kann ich. Ich habe ein Militärgewehr zu Hause. Und Handgranatenwerfen werde ich noch rechtzeitig lernen." Maßmann lacht hell auf. ,,Wie heißt du denn?" „Konrad, Herr Leutnant. Konrad Ertel." 117
,,Na, wenn du meinst, dein Seelenheil hinge davon ab, dann steige nur ein, Konrad." Maßmann zieht eine Fahrkarte aus der Tasche und gibt sie dem Jungen. „Auf Wiedersehen in Breslau." Glückselig, mit leuchtenden Augen steigt Kon rad Ertel in den Zug. Kopfschüttelnd und vor sich hin fluchend klettert sein Onkel Heenemann hinter drein. „Die Fahrkarten sind alle verteilt?" fragt Maß mann zu Napoleon hinüber. „Schon in Pichelsberg ausgegeben." Als Maßmann sich in den Zug zurückbegeben will, legt sich eine Hand auf seine Schulter. „Einen Augenblick, Herr Leutnant." Maßmann schrickt zusammen und dreht sich langsam um, während Napoleon einen Schritt zurückweicht. „Sie, Herr Kommissar?" Der nickt. „Ich wundere mich nicht, Sie hier zu finden." Louise drängt sich vor. „Wir sind auf unserer Hochzeitsreise, Herr Kommissar." „Meinen herzlichsten Glückwunsch", lächelt der Kommissar verbindlich, „nur scheint mir Schlesien in diesem Augenblick kein günstiger Fleck für eine idyllische Hochzeitsreise zu sein." Maßmann zuckt die Achseln. „Ein lang gehegter Wunsch von uns!" In diesem Augenblick ertönt das Abfahrtszeichen des Zuges. 118
Maßmann bietet Louise den Arm und hilft ihr in den Zug. Mit einem Satz schwingt er sich hinter drein. Der Kommissar springt an den Zug, überlegt einen Augenblick und winkt dann mit der Hand ab. „Sie sind unbelehrbar." Langsam fährt der Zug aus der Halle. Maßmann wischt sich umständlich den Schweiß von der Stirn. „Das ist noch einmal gut gegangen", grinst Napoleon und sichert seinen Revolver, „hätte er dich verhaften wollen, würde ich ihn über den Haufen geschossen haben." Es dauert nicht lange, bis die ersten Soldaten lieder aus dem Zuge in die Nacht hinaus klingen. In den Gängen und Abteilen sinken sich Männer in die Arme. In Frankfurt verläßt die Mehrzahl der jüdischen Reisenden fluchtartig den Zug. Hier wird merkwürdigerweise keine Kontrolle vorgenommen. Maßmann sieht mit leuchtenden Augen in die Nacht. Am Horizont leuchten Blitze auf. Über Berlin steht ein Gewitter. Heenemann sitzt auf dem Platz, den bisher der Jude innehatte. Und auf dem Platz der Frau, die nach Ratibor fahren wollte, hat sich sein Neffe, der Obersekundaner Konrad Ertel, niedergelassen. Louise ist aufgestanden und hat den Arm um den Nacken ihres Mannes gelegt. „Ich wünsche dir alles Gute für das, was vor uns liegt, Karl." 119
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urz vor Breslau entsteht im vorletzten Wagen ein gewaltiger Aufruhr. Martin Harke hat in dem verdunkelten Frauenabteil einen Mann ent deckt, der ihm offensichtlich wenig vertrauens würdig erscheint. Mit einem wütenden Schrei reißt er die Schiebe tür auf, packt den sich verzweifelt Wehrenden am Hals, ringt mit ihm, bis er den überraschten mit sicherem Griff in den „Schwitzkasten" genommen hat und schleppt ihn auf den Gang. Aus allen Abteilen lugen Köpfe hervor. Nur die Privatreisenden hüllen sich ängstlich in ihre Mäntel und wollen auf jeden Fall vermeiden, später etwa als Zeugen eines aufregenden Pro zesses vor Gericht zu erscheinen. Einige Männer finden sich schnell bei Martin Harke ein und helfen, den Mann aus dem Frauen abteil zu fesseln. Wenige Minuten später tritt Maßmann in das Frauenabteil, das in ein Aushilfsgefängnis ver wandelt ist. „Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, sich in unseren Zug zu schleichen, Wachtmeister Riehl?" Riehl erhebt sich taumelnd von der Bank und versucht, Haltung zu nehmen. „Mich hat keiner hierhergeschickt, Herr Leut nant!" „Dir schlage ich die Zähne ein, wenn du lügst, du Hund!" droht Napoleon empört und fuchtelt ihm mit der Faust vor der Nase umher. 120
„Laß das", winkt Maßmann ihm ab und sieht Riehl durchdringend an. „Machen Sie uns nichts vor, Mann, sagen Sie die Wahrheit!" Riehl ist kleinlaut. „Es klingt merkwürdig, wenn ich Ihnen sage, was mit mir los ist, und sicherlich werden Sie mir auch nicht glauben wollen." Maßmann nickt ihm begütigend zu. Riehl holt tief Luft. „Ich habe einen Schwager in Oppeln, der bei der Apo war. Vor einiger Zeit ist er mit Lemke zusammengekommen und hat sich ihm ange schlossen. Jetzt hat er mir geschrieben, es ginge los, und wenn ich ein anständiger Oberschlesier wäre, würde ich kommen." Hilflos sieht er Maßmann an. „Da konnte ich nicht zu Hause bleiben, Herr Leutnant!" „Und warum verkriechen Sie sich im Frauen abteil, wenn Sie ein gutes Gewissen haben?" Riehl schlägt die Augen nieder und wippt ver legen mit dem Fuß. „Ich wollte Ihnen nicht begegnen, weil ich fürchtete, Sie würden mich für einen Spitzel halten." „Und wir sollen Ihnen das alles glauben, was Sie uns da erzählen?" „Den Brief meines Schwagers habe ich bei mir", sagt Riehl und hebt seine gebundenen Hände in Gesichtshöhe, „in der Westentasche steckt er." Auf einen Wink Maßmanns löst Harke die Fesseln. Riehl kramt in seiner Westentasche und holt den Brief hervor. 121
Maßmann sieht auf den ersten Blick, daß der Mann nicht gelogen hat. „Wie stellen Sie sich denn nun den Kampf vor? Unwillkürlich hat Riehl seine breiten, kurzen Finger gefaltet. Seine Stimme bekommt ein zittern des Flehen. „Lassen Sie mich bei Ihnen bleiben, Herr Leut nant. Ich werde Ihnen keine Schande machen." „Das hätte noch gefehlt", knurrt Napoleon un willig, „erst Jagd auf uns machen, und wenn wir endlich eingesetzt werden, einfach mitgehen!" Harke lacht zu Maßmann hinüber. „Merkwürdig, wenn geschossen wird, kann man sogar unerwartete Bundesgenossen bekommen." Maßmann geht nachdenklich auf den Gang und sieht aus dem Fenster in die vorbeifliegende Land schaft in der Dämmerung. Die Geschichte des Wachtmeisters Riehl geht ihm nahe. Da wird ein Mann, der im Grunde seines Her zens ein anständiger Kerl und guter Soldat ist, unter dem Einfluß seiner proletarischen Umgebung Sozialdemokrat, schreibt seinen Namen unter das Programm eines Juden Marx, das er gar nicht richtig kennt. Hält dem Juden, zu dem er nicht die geringsten innerlichen Beziehungen hat, jahraus, jahrein die Treue, opfert einer Internationale, deren Auswirkung er nicht übersehen kann, die kargen Groschen und wartet fast abergläubisch darauf, daß die Welt sich nun in ein Paradies ver wandle. Bis dann eines Tages die kriegerische Wirklichkeit dieser Welt sich vor ihm auftut und 122
seinen wahren Instinkt weckt. Im Handumdrehen ist der marxistische Spuk verflogen...! Als Maßmann in das Abteil zurücktritt, sieht er noch, wie Napoleon Riehl derb auf die Schulter schlägt und seine Hand drückt. „Wir wollen es mit Ihnen versuchen, Riehl." Der ergreift Maßmanns Hand und will sie nicht mehr loslassen. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das danken soll." Maßmann verläßt das Abteil und wendet sich in der Tür noch einmal um. „Sie werden noch Gelegenheit bekommen, zu beweisen, daß Sie ein deutscher Soldat sind, Riehl!"
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ie Schweidnitzer Straße in Breslau ist voll gestopft mit Menschen. Es fällt auf, daß so viele junge Kerle umherschlendern, die vor den Auslagen der Geschäfte hin und wieder stehen bleiben. Die Inhaber von Zigarrenläden, von Ko lonialwarengeschäften, von Wäschehandlungen haben einen guten Tag. Aber auch die Buch händler können nicht klagen. Die sogenannten Generalstabskarten von Oberschlesien sind längst vergriffen, so müssen die Autokarten, ja selbst die Wegweiser für Radfahrer heran, um die Nach frage zu befriedigen. Selbst der Bedarf an Büchern scheint heute ungewöhnlich groß zu sein. Aller dings werden vorwiegend Einzelbände der Werke Nietzsches verlangt, auch Löns' „Werwolf" gehört zu den begehrten Büchern. Die studentischen Verbindungen bieten einen eigentümlichen Anblick. Wo gestern noch betonte Eleganz vorherrschte, sieht man heute Aktive und Inaktive in Breeches und Wickelgamaschen. Auf den Gesichtern der jungen Leute liegt ein feier liches Leuchten, und das alte studentische Kampf lied „Burschen heraus . . . " erklingt immer wieder. Vor den Zeitungsständen drängen sich die Massen in dichten Gruppen. Jede Nachricht aus dem Überfallenen Land in Oberschlesien wird laut 124
verlesen, damit auch die im Hintergründe Stehen den Wort für Wort die Schwere dieser Stunde be greifen können. Bei den Schilderungen der Verwüstungen, bei den Berichten vom verzweifelten Sterben der wehrlosen Bevölkerung steigen Aufschreie und Verwünschungen aus den Massen. Ein junger Mann ist auf einen Zeitungskiosk geklettert. Mit vor Zorn gerötetem Gesicht, die Haare wirr in der Stirn, steht er da. „In Oberschlesien sterben in dieser Sekunde unsere Brüder. Und wir stehen hier, tatenlos, und dürfen nicht zu ihnen. Seit voriger Nacht ist die Sperrzone hinter Neiße geschlossen. Jeder Zug wird untersucht. Hunderte von Freiwilligen sind in die Gefängnisse geworfen worden. Die Regie rung ist so schwach, daß sie sogar den Wider stand gegen Gewalttat verbieten läßt. Die Reichs wehr darf nicht eingesetzt werden . . . " Eine Gruppe von Polizisten bricht sich Bahn und ist bereits vor dem Kiosk angelangt. Im letz ten Augenblick springt der junge Mann zur Erde und zieht sich hinter den sich willig öffnenden Wall der aufgeregten Zuhörer zurück.
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icht minder aufgeregt geht es in der Claßen straße zu. Hier hat sich eine „Beratungszen trale" eingerichtet. Das einzige aber, worüber man sich in dieser Zentrale klar ist, ist die Tatsache, daß bereits wesentliche Gebiete Oberschlesiens in der Hand der Insurgenten sind. Außerdem hat 125
man Pläne gefunden, aus denen klar hervorgeht, daß der Aufstand bis Breslau vorgetragen werden soll. Völlig auseinander gehen jedoch die An sichten über die zu ergreifenden Maßnahmen. Maßmann, der in Begleitung Louises geraden Weges vom Hauptbahnhof zur Claßenstraße ge gangen ist, stellt mit einem Gefühl des Ekels fest, daß hier eine allgemeine Scheu vor der Verant wortung herrscht. Mit einem nicht alltäglichen Aufgebot von Überzeugungskraft versucht ein älterer Major ihm klarzumachen, daß das einzig Wahre in diesem Augenblick Abwarten sei. „Ohne das Wohlwollen der Regierung sind alle Maßnahmen umsonst." „Ich bin nicht hierhergekommen", meint Maß mann trocken, „um mir das Wohlwollen der Regie rung zu erobern, sondern um mit meinen Männern dem feindlichen Vorstoß zu begegnen." Dem Major sind militärische Ausdrücke an scheinend nicht recht. „Soweit sind wir noch nicht, Herr Leutnant", dabei kann er es nicht unterlassen, das Wort Leut nant stark zu unterstreichen, „unsere Einwohner wehren müssen, so gut sie können, Widerstand leisten. Das ist ihr gutes Recht und letzten Endes Privatsache. Alle militärischen Maßnahmen sind Angelegenheit der Reichswehr und damit der Re gierung." „Und wozu sitzen Sie eigentlich hier?" lauert Maßmann. „Wir helfen dem Selbstschutz mit Rat und Tat." 126
„Dann helfen Sie uns, bitte. Aber nicht mit Redensarten, sondern mit der Tat", begehrt Maß mann auf und deutet mit dem Finger auf die zahl reichen Plakate, die mit bunten Bildern und Auf rufen von den Wänden leuchten und den männ lichen Einsatz zum Schutz der Heimat fordern. „Mit Papier ist noch nie ein Feind überzeugt worden." Der Major wölbt die Brust, daß die Ordens schnalle aufspringt. „Wir sind für den Selbstschutz da, Herr Leut nant. Gliedern Sie sich den Ortswehren der noch unbesetzten Landesteile an. Gewehr bei Fuß. Und warten Sie unsere Weisungen ab. Freikorps abenteuer werden wir auf keinen Fall zulassen. Unsere Zentrale hat sich verpflichtet, unter keinen Umständen den reinen Defensivcharakter aufzu geben." Maßmanns Augen sind wieder schmal gewor den. Langsam streicht er mit der Rechten über Louises Arm und erhebt sich. „Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Herr Major. Ich glaube, ich werde mit meinen Männern irgendwo da vorn be nötigt. Wo deutsche Häuser brennen, Herr Major, wo deutsche Männer sterben und wo deutsche Frauen vergewaltigt werden, Herr Major. Wo Deutschland krepiert unter dem, was Sie und Ihre Freunde Defensivcharakter nennen." Der Major begehrt auf. „Ihr Ton ist unangebracht und ungerecht. Wir tun unsere Pflicht, die Sie nicht übersehen können. Sie kommen aus Berlin, aus dem Reich. Hinter 127
Ihnen stehen ein paar hundert Männer, die sich auf den Einsatz freuen. Sie haben es leicht! Viel leichter als wir, die wir das Wohl von Hundert tausenden bedenken müssen." „Ich bedenke die Ehre einer ganzen Nation" preßt Maßmann durch die Zähne, „aber darüber will ich mich mit Ihnen nicht unterhalten." Auf der Treppe tritt ein Hauptmann an Maß mann heran, wirft einen prüfenden Blick auf Louise und räuspert sich umständlich. Maßmann lächelt. „In Gegenwart meiner Frau können Sie unbe sorgt reden. Sie fährt mit mir an die Front." Der Hauptmann verneigt sich tief vor Louise. „Verzeihen Sie, meine Tapfere." Dann drückt er Maßmann die Hand. „Ich habe Ihr Gespräch gehört." Maßmann wendet sich gequält ab. „Es war be zeichnend für diese Zeit, die eine Zeit der Größe werden könnte, aber eine Zeit der Schande bleiben will." „Ich habe die Mittelverwaltung", wirft der Hauptmann hin, „sicher kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein." Maßmann überlegt. „Kann ich Freiwillige durch Sie bekommen?" Der andere schüttelt den Kopf. „Die wissen alle schon, wohin sie gehen. Meist haben sie schlesische Führer, und die Studenten abteilungen haben sich schon vor längerer Zeit mit dem Gedanken eines feindlichen Einfalls ver traut gemacht," 128
„Und wie steht es mit den Angehörigen der Wehrverbände?" „Offiziell ist nichts zu machen. Die Krieger vereine gehen jeder Entscheidung aus dem Wege, weil sie grundsätzlich unpolitisch sein wollen, und der ,Stahlhelm' hat vor jedem unüberlegten und aussichtslosen Unternehmen gewarnt." Maßmann hat einen bitteren Geschmack im Mund. „Was hat das, was augenblicklich an der Grenze vorgeht, mit landläufiger Politik zu tun? Und gibt es überhaupt noch die Möglichkeit eines Zauderns, wenn Deutschland angegriffen wird?" Der andere lächelt vielsagend. „Sie sehen es, Herr Kamerad. Und wer nichts wagt, verliert auch nichts! Außerdem gibt es Gruppen, die gern Gewehr bei Fuß stehen, weil besonders in Stunden der Entscheidung Reserven sehr begehrt sind." „Da pflegt man nun militärische Tradition", grollt Maßmann, „wenn aber die soldatische Tat ver langt wird, stellt es sich heraus, daß über lauter Tradition das lebendige Organ gestorben ist." „Ich könnte Ihnen einige Geldmittel zur Ver fügung stellen", lenkt der Hauptmann ab. Maßmann nimmt dankend an. „Ich muß noch Verbandmaterial und Medika mente einkaufen." „Das kann ich Ihnen aus alten Heeresbeständen billig abgeben." „Endlich eine fühlende Brust", lächelt Maßmann freudig, „können Sie mir vielleicht auch noch 129
Munition für unser Geschütz geben? Feldkanone 16. Ich denke vor allem an Schrapnells und Kar tätschen." „Sie rechnen mit Nahkampf?" „Der Freikorpskampf wird kaum andere Mög lichkeiten zulassen."
E
ine Stunde später verläßt Maßmann, Louise am Arm, vergnügt das unfreundliche Haus in der Claßenstraße. Schließlich hat er ja auch nach dem ersten niederschmetternden Empfang durch den Major allen Grund, mit der hilfsbereiten Zuvorkommen heit des Hauptmanns zufrieden zu sein. Vor allem beruhigt ihn die Gewißheit, für vier Wochen Geld für Sold und Verpflegung der Män ner zu haben. Und der Lastzug, der Munition und Ausrüstungsgegenstände nach Neiße schaffen soll, ist auch nicht zu verachten. Louise ist müde und läßt sich gern in das Hotel bringen, das Maßmann für einige dringende Be sprechungen ausersehen hat. Am Nachmittag befiehlt er Teuscher, Harke und Riehl zu sich. „Ich habe einen besonderen Auftrag für euch." Die Männer nehmen Haltung an, besonders Riehl gibt sich Mühe, wie er sie seit seiner Rekru tenzeit nicht mehr angewendet hat. „Wir fahren heute abend mit dem Personenzug nach Neiße. Ihr drei werdet von einem Hauptmann, der um zehn Uhr dreißig hier vor dem Hotel auf 130
euch wartet, Munition und Ausrüstungsgegen stände in Empfang nehmen. Er wird euch in eine Kaserne führen, dort beladet ihr einen Lastzug und fahrt heute nacht um elf Uhr los. Harke führt das Kommando, Teuscher lenkt den Lastzug, Riehl be dient die Bremsen des Anhängers." Knallend schlagen die Männer die Hacken zu sammen. Maßmann sieht jedem in die Augen. „Für uns hängt sehr viel davon ab, daß der Transport durchkommt. Seht euch vor, daß ihr in keine Falle geht." Dann gibt er Riehl die Hand. „Ich habe Sie absichtlich mit dem ersten Kom mando betraut!"
A
ls der Zug in Neiße einläuft, gibt Lemke vor seinen fünfundfünfzig Männern das Kommando zum Präsentieren. Ausgerichtet stehen sie da, ein heitlich und sauber sind die Uniformen, fest sitzen die Stahlhelme. Man sieht auf den ersten Blick, daß Lemke Soldaten zu führen weiß. Maßmann springt als erster auf den Bahnsteig und dankt Lemke mit leuchtenden Augen für die Meldung. Dann läßt er die Männer wegtreten. „Alles vorbereitet, Lemke?" Der legt die Hand an die Mütze. „Waffen und Uniformen liegen in einer Feld scheune an der Neißebrücke, Munition in einem Getreidespeicher. Alles in leidlichem Zustand." 131
„Und der Geist deiner Männer? Der Eindruck ist ausgezeichnet." Lemke nickt zufrieden. „Wir haben exerziert wie einst im Mai, und die Leute waren bei der Sache, daß es eine Freude war." Maßmann ruft Konrad Ertel zu sich. „Ich übergebe dich der besonderen Obhut des Wachtmeisters Lemke, er wird dafür sorgen, daß deine militärischen Kenntnisse für die große Reife prüfung im Feuer ausreichend sind." Konrad Ertel strahlt. „Die Prüfung werde ich schon bestehen, Herr Leutnant. Nur schade, daß meine Lehrer nicht dabei sind." „Wo ist der Schwager von Wachtmeister Riehl?" ruft Maßmann in die Gruppe der Fünfundfünfzig hinüber, die gerade von den Berliner Freiwilligen umringt ist und mit allen möglichen und unmög lichen Fragen bestürmt wird. Ein untersetzter Mann tritt hervor. Derselbe gut mütige Typ wie Riehl. „Mein Schwager ist gar kein so schlechter Mensch, wenn er auch Sozialdemokrat gewesen ist, Herr Leutnant." „Die Parteipolitik liegt hinter ihm, erinnern Sie ihn möglichst nicht daran. Jetzt gehört er zu uns, ich habe ihn in unser Korps aufgenommen." Der Mann sperrt vor Staunen den Mund auf. „Vielen Dank, Herr Leutnant", stammelt er end lich, „ich halte meinen Kopf für meinen Schwager hin." 132
Zehn Minuten später läßt Maßmann vor dem Bahnhof antreten. Neben den Fünfundfünfzig stehen jetzt die Berliner. Maßmanns Augen leuchten stolz. Donnerwetter ja, ein anständiges Korps. Fast dreihundert Mann. Und zwar Freiwillige! Lemke tritt zu ihm. „Spätestens heute nachmittag müssen wir Neiße verlassen. Weder eure Ankunft noch unsere Pa radeaufstellung sind den Spitzeln entgangen." Maßmann spuckt in den Staub. „Ich hoffe nur, daß wir einmal einen von den Spitzeln in die Hände bekommen." Dann gibt er den Befehl zum Abmarsch. Die Fünfundfünfzig haben ein neues Lied mit gebracht. Ein Lied, das die Berliner mit Begeiste rung aufnehmen. „Ihr Sturmsoldaten jung und alt, Nehmt die Waffen in die Hand. Der Insurgent haust fürchterlich Im Oberschlesienland . . . " Louise sieht hinter den Männern her. Die Worte dieses einfältigen Liedes, das dieser Tage irgend wo auf freiem Feld vor dem Feind entstanden ist, greifen eigentümlich an ihr Herz. „War einst ein junger Sturmsoldat,
Und der war dazu bestimmt,
Daß er sein Weib, sein Kind verlassen muß,
Verlassen muß geschwind . . . "
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In der Nähe des Bahnhofs wird ein Café sein, denkt sie, dort wird mich Karl abholen. Lemke führt die Männer auf einigen Umwegen zur Neißebrücke. Sauber geschichtet liegen die Uniformen in Sta peln, und die Gewehre lagern sorgsam gefettet und mit Mündungsschonern versehen in der Feld scheune. Das Lob des Leutnants tut Lemke wohl, er hat in den letzten Wochen weiß Gott Arbeit genug gehabt, die Bestände hierher zu verlegen und alles gebrauchsfertig zu machen. Napoleon hat das Amt des Kammerunteroffiziers übernommen. Mit kundigem Blick verteilt er die Litewken, die Feldmützen, Halsbinden und Stahl helme. Zu seinem Leidwesen gibt es keine Seiten gewehre. Die Dolche des DVVH. kann man nun einmal auch bei bestem Willen nicht auf die Ge wehre pflanzen. Fuchsberger tröstet ihn mit dem Hinweis, daß man den Feind wahrscheinlich doch nie vor das Bajonett bekommen würde. Aber Napoleon will sich nicht trösten lassen. „Ohne Seitengewehr macht auch der schönste Sturmangriff keine rechte Freude." Die Einkleidung ist in zwei guten Stunden be endet. Nach einer weiteren Stunde ist bereits Munition im Getreidespeicher verteilt. Jeder Mann hat drei Patronengurte und vier Handgranaten bekommen. Der Rest wird in ein uraltes Personenauto, das Lemke von einem Schlachtermeister gestiftet be 134
kommen hat, geladen. Vier schwere Maschinen gewehre und ein Geschütz werden aus einer Gärtnerei abgeholt. Lemke ist unglücklich, daß es ihm nicht gelang, mehr schwere Waffen nach Neiße zu schaffen. Den Häschern der Regierung ist das meiste in den letzten Tagen beim Umtransport in die Hände ge fallen. Die Güterwagen kamen aufgebrochen und der Waffen beraubt in Neiße an. Maßmann beschwichtigt ihn. „Wir werden schon Ersatz bekommen. Außer dem muß der Transport aus Breslau bald hier sein. Sicher werden uns die drei allerlei Überraschun gen mitbringen." Napoleon lacht auf und zeigt auf Konrad Ertel, der stolz in einer fast neuen Uniform einhergeht und sich eine Gasmaske umgehängt hat. „Mensch, Konrad, was willst du denn mit dem Rüssel?" Ertel setzt eine gekränkte Miene auf. „Der ist gegen Gasangriffe, du Schlaukopf." Napoleon will sich ausschütten vor Lachen. „Ich höre immer Gasangriff. Wie stellst du dir denn eigentlich solch einen Freikorpskrieg vor, du Säugling?" Konrad Ertel wirft beleidigt die Gasmaske im hohen Bogen fort. „Ich dachte, man könnte hier etwas erleben, und jetzt soll mir noch nicht einmal ein lumpiger Gas angriff geboten werden?" Napoleon muß sich vor Lachen den Bauch halten. 135
„Warte man nur den ersten feindlichen Angriff ab, mein Junge, vielleicht brauchst du dann die Gasmaske." Puterrot vor Zorn taucht Konrad unter einer Gruppe von Kameraden unter. Ärgerlich beißt er sich auf die Lippen und nimmt sich vor, jede Gelegenheit zu vermeiden, sich lächerlich zu machen. Wenn es doch erst soweit wäre, denkt er, wenn wir doch erst im Feuer lägen, sie würden schon nicht mehr über mich lachen! Zur Mittagszeit hat Lemke eine Überraschung vorbereitet: eine blitzsaubere Feldküche wird vor einem Trecker vor die Feldscheune gefahren, und unter dem Jubel der Männer verteilt Heenemann doppelte Portionen Erbsen und Speck. Maßmann schlägt seinem Wachtmeister auf die Schulter. „Und wo hast du den Trecker her?" „Dort drüben liegt eine Domäne. Der Pächter hat ihn mir für die Dauer des Kampfes geliehen — Der Optimist!" setzt er hinzu. Nach dem Essen kann Maßmann die erste Löh nung ausgeben: acht Mark für den Mann. Konrad dreht die acht Markscheine zwischen den Fingern. Es ist das erste Geld, das er verdient und er ist stolz darauf, daß es der Sold des Sol daten ist. Um ein Uhr läßt Maßmann Louise holen. Sie ist inzwischen nicht müßig gewesen und hat in der Apotheke am Markt Jod, Jodoform, Ver bandswatte und Mullbinden gekauft. 136
Um ein Uhr dreißig marschieren die Männer ab. Der Lastzug hätte schon längst da sein müssen. Maßmann hat bereits mehrere Male ungeduldig auf die Uhr gesehen. Zwei Kilometer über Neiße, an der Grottkauer Chausse, läßt er halten und wegtreten.
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usgerichtet stehen die Gewehrpyramiden an der Straße. Heenemann und sein Neffe Kon rad Ertel halten Wache, das geladene Gewehr unter dem Arm. Die Männer haben die Uniform abgeworfen und nehmen in der Neiße ein erfrischendes Bad. Der Mai hat eine ungewohnte Hitze mitgebracht. Im Chausseegraben sitzt Fuchsberger und spielt auf einer Ziehharmonika, die Lemke herbeigezau bert hat, sehnsüchtige Lider vom Soldaten abschied, vom Liebesleid und vom Sterben vor dem Feinde. Maßmann hat sich auf einem Hügel unter einer schattigen Kastanie gelagert. Atembeschwerend süß ist der Duft der Blüten kerzen. Neben ihm sitzt Louise, große Blütenzweige im Schoß. Maßmann nimmt das eigenartige Bild in seinem Herzen auf: da sitzt eine stolze, mutige junge Frau unter Kriegern und Gewehren und trägt mit den duftschweren Blütenzweigen unbewußt einen Gruß aus jener Welt der Kraft, in der in längst verklungenen Tagen große, heidnische Männer 137
und Frauen beheimatet waren, in diese Welt der Schwäche, in der die Wenigen, die Mutigen, die letzten Krieger keine Heimstatt haben. Louise schaut mit großen Augen in die blühende, der Frucht entgegenreifende Weite. Um ihre vollen, ein wenig geöffneten Lippen steht ein glück liches Lächeln. „Ich danke dir, daß ich bei dir bleiben durfte, Karl." Der neigt sich über ihre schmale, feingliedrige Hand und küßt sie innig. Die Sonne glänzt über den nackten Körpern der Soldaten, und das fröhliche Rufen geht weit über den Fluß hinaus in den Wind, der die Stimmen der Badenden nach Osten trägt. Von Bösdorf her dröhnt Motorenrattern. Maßmann springt auf und nimmt den Feldstecher vor die Augen. Eine dicke Staubwolke wird sichtbar. „Das kann unser Lastzug sein!" ruft Heenemann herauf. Nach einer Weile läßt Maßmann das Glas sinken. „Ich sehe keinen Anhänger. Aufgeregt eilt er zur Chaussee. Langsam folgt Louise, vorsichtig hält sie die Blüten an die Brust gedrückt. Die badenden Männer sind aufmerksam ge worden, schon eilen die ersten ans Ufer und kleiden sich an. Heenemann entsichert das Gewehr. Konrad ne stelt aufgeregt am Schloß. 138
Als das Lastauto sich auf dreißig Meter genähert hat, erkennt Maßmann Felix Teuscher. Mit großen Sätzen springt er vor. Knirschend bremst das Auto. Langsam klettert Harke heraus, auf dem Fuße folgt ihm Teuscher. Feierlich legen die beiden die Hand an den Mützenschirm. Maßmann begreift, daß etwas geschehen sein muß. Der Blick der beiden ist starr, ihre Uniformen weisen Spuren eines Kampfes auf. Und da sieht er auch die Einschläge von Ge schossen im Auto. In wenigen Augenblicken ist das Auto von den herzueilenden Männern umringt. Mit leiser, ein wenig bebender Stimme macht Harke die Meldung. „Auftragsgemäß warteten wir auf den Haupt mann. Mit dem Lastzug fuhren wir unter Führung des Hauptmanns, der uns pünktlich abholte, vor eine Kaserne und verstauten im Auto einen leich ten Minenwerfer mit Munition, Handgranaten, Patronen, Benzin und Benzol, Schanzgerät und Lebensmittel. Im Anhänger brachten wir Artillerie munition, Leuchtpatronen, Decken und Zeltbahnen unter. Um Mitternacht fuhren wir los. Riehl saß befehlsgemäß im Anhänger. Kurz vor Märzdorf fielen plötzlich Schüsse. Ein Scheinwerfer blen dete uns an. Als wir bremsten, sprangen ungefähr zwanzig Uniformierte mit weißen Binden um den 139
Arm auf uns zu, legten die Gewehre auf uns an, und ihr Führer forderte uns auf, mit erhobenen Händen aus dem Wagen zu kommen. Ich rief ihm zu, das müsse ein Irrtum sein, wir seien deutsche Soldaten auf dem Wege zur Front. Der andre rief zurück, es sei Befehl der Regierung, keinen Sol daten und keinen Transport durchzulassen. Damit sprang er auf das Trittbrett und hielt mir die Pistole an die Stirn. Ich stieß, ihn zurück und im selben Augenblick schossen die Leute auf uns. Zum Glück konnte Riehl eine Handgranate werfen, und einen Augenblick später lagen sie alle platt auf der Erde. Die Gelegenheit benutzte Teuscher, um mit Vollgas loszufahren. Wir wurden, nachdem die Handgranate explodierte, heftig beschossen und von einem Auto verfolgt. Riehl kletterte auf das Dach des Anhängers und hielt die Verfolger in Schach. Auf dem Markplatz von Ohlau wurde Riehl verwundet. Kopfschuß. Ich zog ihn zu uns herüber und mußte den Anhänger loskoppeln, weil er uns zu sehr behinderte. Hinter Rosenhain gelang es uns, uns in einem etwas abgelegenen Bauernhaus zu verstecken und den Verfolgern zu entgehen. Der Bauer fühlte deutsch und war uns behilflich. Als wir Riehl aus dem Auto heben woll ten, war er bereits tot. Wir haben dann viele Stunden gebraucht, um den Wagen wieder fahr fertig zu machen. Der Kühler war mehrmals durch schossen, ebenso der Ölbehälter." Harke läßt die Hand sinken. Die Meldung ist beendet. Schweigend und ergriffen stehen die Männer. 140
Mit langsamen Schritten geht Maßmann an die Rückseite des Autos und nestelt die Plane auf. Da liegt, sorgsam auf die Handgranatenkisten gebettet, der tote Riehl. Sein Gesicht ist unbewegt und gleichmäßig, als ob er schliefe. Nur an der linken Schläfenseite klafft ein talergroßes, blut verkrustetes Loch. Auf einen Wink nähern sich Heenemann und Konrad. Maßmann faßt selber zu. Vorsichtig und liebevoll legen sie den Toten auf die Gewehre. Dann tragen sie ihn gemessenen Schrittes zum Kastanienhügel. Harke und Fuchsberger, Heenemann und Kon rad halten die Gewehre, auf denen der Gefallene wie auf einer Bahre ruht. Maßmann und Louise folgen, und Maßmann trägt Gewehr und Stahlhelm des Toten. Dann schließen sich, zu vieren gereiht, die Männer an. Schweigend graben vier Soldaten in die Erde. Einer von ihnen ist der Schwager Riehls. In dicken Tropfen fallen ihm die Tränen aus den Augen. Er wehrt ihnen nicht. Fast feierlich glättet er mit dem Spaten die Ränder der Grube. Dann stellt er sich fragend vor Maßmann auf. ,,Soll ich einen Geistlichen holen? Wir sind katholisch hierzulande." Der Leutnant schüttelt den Kopf. ,,Er hat sich wissend aus seiner Welt gelöst und ist in unsere hineingewachsen. So fiel er auch in unserer Welt, in der nur unser Gesetz waltet." 141
Maßmann hebt das Haupt zu den Wolken und spricht das Gedicht, das er so oft, an Massen gräbern und Einzelgräbern, im Angesicht gefal lener Krieger gesprochen hat. „Wenn einer von uns zugrunde geht,
Zerschossen, zerfetzt vom Eisen,
Dann rauscht es im Wind,
Der zum Himmel weht,
Von unserm Singen und Preisen.
Zunächst mit betenden Schritten leis,
Umtreten wir stumm seine Gruft.
Dann klingt hell sein Lied
— Kein Kyrieleis —
Das hängt wie ein Schwert in der Luft.
Wir Viel Und Daß Und
werfen auf seinen toten Leib
Blumen und Tannengezweig,
beten danach,
er um uns bleib
uns den Weg der Ehre zeig.
Dann schießen wir die drei Salven ab,
Dorthin, wo wir Feinde wissen.
Drei Salven zum Feind
Als Gruß aus dem Grab.
Drei Feinde sollen es büßen.
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Wir klagen drum nicht, wenn einer fällt. Ein jeder wird einmal fallen. Die Trommel gerührt! Und schön ist die Welt! Auch ich werde einmal fallen." Behutsam betten sie den Toten ins Grab. Maßmann hat ihm den Stahlhelm auf das zer schossene Haupt gedrückt. Louise tritt an die Grube, in die hell das Sonnenlicht fließt, und wirft Blütenzweige auf den Toten, bis der Körper wie mit hellem Seidentuch bedeckt ist. Dann tritt einer nach dem andern vor und jeder wirft einen Zweig, ein paar Blätter, eine Blume hinunter. Riehls Schwager hat von einem nahen Kornfeld in aller Eile einen Strauß gepflückt, wahllos hat er grüne Roggenhalme und Blumen zusammengerafft. Den Strauß läßt er dem Gefallenen auf die Brust sinken. Maßmann spricht nur wenige Worte. Er weiß, daß die Männer alle fühlen, daß der Tod Riehls ein großes Gleichnis ist. Warum soll er da noch Unnötiges sprechen. Klar fällt sein Kom mando und hart peitschen die Salven in den Osten. Schweigend schaufeln die Männer das Grab zu. Und als ein großer Feldstein darüber gewälzt ist, spielt Teuscher gläubig und innig das Lied vom guten Kameraden. Die schlichten Töne der Zieh harmonika dünken die Männer erhebender und gewaltiger als die von Künstlerhand gemeisterten Orgelhymnen aller Kirchen und Dome der Welt. 143
In den losen Sand ritzt der Schwager in großen Buchstaben. RIEHL. Morgen wird der Sand verweht sein, und über morgen ist der geringe Hügel verschwunden. Was liegt schon an den Leibern der Toten, wenn ihr Geist den Herzen der Kameraden neue Zeh rung gibt? So ist denn der Schwager der erste, der Riehl das Abschiedslied singt. „War einst ein junger Sturmsoldat..."
ls die Kolonne sich in Marsch setzt, sind aller Augen klar und viele Grüße werden zum Hügel und zur blühenden Kastanie gewinkt. Die frische Farbe ist längst wieder in Konrads Wangen zurückgekehrt. Riehl war der erste Tote, den er in seinem jungen Leben gesehen hat. Auf der Chausse nähert sich mit großer Ge schwindigkeit ein Auto. Maßmann erkennt durch das Glas, daß Ange hörige der Interalliierten Kommission im Wagen sitzen. Sicher sind sie durch die Salven angelockt worden. Von Harke läßt er sich eine Handgranate geben. Dann winkt er den Männern zu, zurück zubleiben.
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Er weiß, daß ein gut gezielter Wurf einen Welt krieg entfesseln kann. Darum will er ganz allein die Verantwortung tragen. Langsam dreht er den Verschluß des Stieles auf. Vorschriftsmäßig fällt ihm der weiße Ball ent gegen. Mit sicheren Fingern fühlt er die Schnur.
Keinen Blick läßt er von dem Auto.
Doch das bremst plötzlich ab, stoppt, kehrt in
ungefähr zweihundert Meter Entfernung um und rast zurück. Ein erleichtertes Aufatmen weitet Maßmanns Brust. Als er sich umdreht, sieht er, daß alle seine Männer das Gewehr im Anschlag halten. Selbst Louise hält eine Browningpistole in der Hand.
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m 15. Mai liegen die Männer in einem Sam mellager zwischen Schwesterwitz und Twar dawa. Oberglogau ist nicht weit entfernt. Von Osten her dröhnt Tag und Nacht der Lärm klei nerer Gefechte. Aus den Deutschvölkischen Wanderern und den Männern, die sich zu ihnen schlugen, ist vor einigen Tagen endgültig das Freikorps „Schwarze Garde" entstanden. Fast Wand an Wand mit ihnen wird das Frei korps „Schwarze Schar" aufgestellt, das der un erschrockene, draufgängerische Oberleutnant 145
Bergerhoff führt, ein untersetzter, dunkelhaariger Mann mit flammendem Blick. Maßmann bespricht alle wichtigen dienstlichen Fragen, aber auch mancherlei Weltanschauliches mit ihm, wenn sie gemeinsam zur Beratung nach Oberglogau fahren. In Oberglogau sieht es nicht gut aus. Die Stim mung ist gereizt und nervös, und die Meinungen sind denkbar geteilt. Die Nerven des alten, einarmigen Generals sind zum Zerreißen gespannt. Er flucht auf die Tücke dieser Welt mit einer Ausdauer, wie er es kaum im großen Krieg getan hat. Verdammt! Das war doch eine andere Zeit da mals. Da wurde zwar mit Zahlen gerechnet, daß es einem zuweilen schwarz vor den Augen werden konnte, aber schließlich wußte man doch, woran man war und an wen man sich notfalls wenden konnte. Aber in dieser verteufelten Gegend kannte sich keiner aus, da brach der Boden gewisser maßen stündlich von neuem vor einem auf, Ab gründe klafften plötzlich, Fallgruben drohten. Jeder hastige Schritt konnte den Untergang brin gen. Und wer würde denn schließlich vor der Weltgeschichte als der Verantwortliche dastehen? Etwa Herr Ebert, der hilflose Reichspräsident, von dem Eingeweihte schon sagten, daß er seines Amtes mehr als müde sei? Ach du lieber Gott, in zehn Jahren würde kein Kind mehr seinen Namen kennen! Der General greift umständlich nach dem Ta schentuch und tupft über die hohe, von Falten 146
durchzogene Stirn bis zu den borstenartig nach oben stehenden weißen Haaren. Geschichte durch Taten schreiben ist eine un dankbare und aufreibende Angelegenheit! Ihn würde man als den Verantwortlichen loben oder in Grund und Boden verdammen, ihn ganz allein, den General! Vor den Fenstern des Schlosses breiten blühende Bäume die weiten Äste aus. Der General ist ein großer Freund von Bäumen und Tieren. Die aus den Fugen geratene Welt könnte so schön sein, wenn nur die Menschen nicht so mordsmäßig dämlich wären! Der Stabschef tritt ein. Sein Gesicht ist abgespannt und ohne jede Freude. Das Einglas hat er zwischen den dritten und vierten Knopf des Waffenrockes gesteckt. In die ser fatalen Stimmung mag er es nicht tragen. Der General betrachtet ihn gutmütig. „Na, mein Lieber? Schon wieder Ärger gehabt?" Der Stabschef macht eine wegwerfende Hand bewegung. „Worüber braucht man sich hierzulande nicht zu ärgern?" Dann wird er dienstlich, faltet seine Mappe aus einander und nimmt Haltung an. „Die Nachrichten von der Front werden von Tag zu Tag ungünstiger. Der Mangel an Munition wirkt sich mit der Zeit demoralisierend aus. Wenn nicht noch zu guter Letzt ein Wunder geschieht, 147
ist zu befürchten, daß die Insurgenten, die fast stündlich ausgezeichneten Nachschub bekommen und an Schlagkraft und Härte gewinnen, Sieger bleiben." „So schnell schießen die Preußen nun doch nicht!" Der Stabschef tritt an die Karte und fährt mit hastigen Bewegungen über die Fläche. ,,In den Städten des Industriegebietes stoßen die Insurgenten nach wie vor auf erbitterten Wider stand. Das liegt natürlich zum Teil darin begrün det, daß die Insurgenten es nicht wagen, an gesichts der interalliierten Besatzungstruppen Straßenkämpfe größeren Ausmaßes durchzuführen. In Ratibor haben die Italiener an die zwanzig Tote dafür gelassen, daß das Unrecht an Deutsch land nicht gar zu sehr gen Himmel stinkt. Dazu kommt, daß die Arbeiterschaft fanatisch deutsch ist und eine auffällige Begabung für die Durch führung von Sabotageakten besitzt. Aber in der Ecke zwischen Groß-Strehlitz und Slawentzitz sieht es sehr bedenklich aus . . . " Mit einem Hieb auf den Tisch unterstreicht er den Satz. Der General sieht seinen Stabschef unbewegt an. „Ich betrachte die Situation nicht so hoffnungs los. Immerhin müssen Sie bedenken, daß gerade in dieser Ecke der Vormarsch der Insurgenten seit dem 6. Mai zum Stocken, wenn auch nicht ganz zum Stehen gekommen ist." Wieder haut der andere auf den Tisch. 148
„Die einzelnen deutschen Dörfer sind zu kleinen Festungen geworden, um die ein erbitterter Stel lungskrieg geführt wird. Aber auch der tapferste Verteidiger wird müde, wenn er nicht die Gewiß heit auf Entsatz und Verstärkung bekommt. Das ist nun einmal der Nachteil jedes Verteidigungs kampfes. In diesem Falle sind die Verhältnisse noch niederschmetternder, weil aus der Ungewiß heit des Entsatzes allmählich eine bedrückende Aussichtslosigkeit geworden ist." Der General zuckt zusammen. „Wollen Sie damit sagen, daß Sie mit einer bal digen Katastrophe rechnen?" „Die Insurgenten kämpfen um so mutiger und rücksichtsloser", jedes Wort betont der Stabschef, „weil hinter ihnen eine begeisterte Nation steht, die nicht nur über jedes eroberte Dorf jubelt, son dern täglich neue Freiwillige, Sammlungen von Material und Geld nachschickt. Unter Führung ehemals deutscher Offiziere und Unteroffiziere haben sich zum Teil ganz ausgezeichnete Sturm abteilungen gebildet." Es klopft an die Tür. Eine Ordonnanz tritt ein und meldet die An kunft einiger Freikorpsführer. Der General runzelt die Stirn. „Schon wieder die Plagegeister." Dann winkt er. „Sollen 'reinkommen!" Und zu seinem Stabschef gewendet: „Mit Tem perament mag man wohl Sturmangriffe gewin nen, politische Schlachten aber schlägt man mit 149
kalter Beherrschtheit und mathematischer Über legung." Zwei Minuten später sind die Freikorpsführer eingetreten. Maßmann, Bergerhoff, der draufgän gerische junge Kompanieführer von Eicken, dann der Führer der Sturmabteilung Heinz und der Ver teidiger des jetzt so wichtigen Städtchens Gogolin, das jenseits der Oder den wütenden Angriffen der Insurgenten trotzt. Außerdem ist noch ein jün gerer, hochaufgeschossener Offizier gekommen, den die andern kaum zu kennen scheinen. Der General ist korrekt und liebenswürdig wie immer, wenn er sich auf den Austrag von Mei nungsverschiedenheiten vorbereitet. Er ist kein Freund von Zusammenstößen und zieht einen diplomatischen Ausgleich nach Mög lichkeit vor. Auf einen Wink reicht der Stabschef Zigarren und Zigaretten. „Nun, meine Herren?" Maßmann macht sich an der Karte zu schaffen und weist auf die Fähnchen, die den augenblick lichen Stand der Front anzeigen. „Wenn die Insurgenten jetzt über Leschnitz— Krappitz vorstießen, würden sie das ganze Indu striegebiet abriegeln und in aller Seelenruhe auf rollen können." Der General winkt ihm lächelnd zu. „Wenn, ja, wenn! Sie sind beispielsweise auch noch da, meine Herren!" Maßmann verneigt sich. „Nach meinen Infor mationen sollen die Insurgenten aber in spätestens 150
vierzehn Tagen soviel Verstärkung bekommen, daß sie das ganze Land einfach überfluten können." „Diese Informationen habe ich auch, aber ich glaube nicht recht daran", sagt der General mit betonter Gleichgültigkeit. Eicken ist gereizt. „Sie glaubten auch nicht, daß die Insurgenten ernsthafte soldatische Fähigkeiten entwickeln würden. Sehen Sie sich bitte unsere Verlustlisten an, die wirken überzeugender als alle theoretischen Erwägungen." „Schon gut, Herr von Eicken", man könnte meinen, ein Vater beschwichtige seinen zu unge stümen Sohn, „ich weiß, daß gerade Ihre Männer Unerhörtes leisten. Es ist selbstverständlich, daß die Verluste dann auch dementsprechend sind." „Das wäre alles noch zu ertragen", poltert der Verteidiger Gogolins los, „wenn wir auch nur eine Handvoll Reserven hätten, die wenigstens mora lisch von Bedeutung wäre. Aber so bluten wir uns in dem täglichen Kleinkrieg aus. Viele Männer haben wochenlang so gut wie keinen Schlaf ge habt. Die Insurgenten haben es tausendmal leich ter, sie sind die Angreifer und können nach Be lieben Ruhetage einlegen. Wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein." Der General verdreht die Augen. Es könnte so aussehen, als ob er sich über die jungen Brause köpfe ein wenig lustig mache. „Ich sage Ihnen, das wird aufhören, meine Herren. Sie müssen nur die Disziplin aufbringen, warten zu können. Ich verstehe, daß Sie für diese nun einmal notwendige Ruhe noch kein Organ 151
haben. Aber glauben Sie mir, die Verhandlungen, die ich zur Zeit mit der Interalliierten Kommission pflege, haben sich so weit günstig entwickelt, daß bestenfalls sogar ein Einschreiten gegen die Insur genten erfolgen kann." Maßmann lacht herausfordernd laut. ,,Alle Achtung, Herr General! Wenn es gelänge, beispielsweise den General le Rond als Freikorps führer auf unserer Seite einzubauen, würde ich freiwillig auf mein Kommando verzichten." Das Gesicht des Generals ist unbewegt „Ganz so lächerlich sind meine Absichten nicht. Ich beabsichtige nur, unserem gequälten Vaterland neue Wunden zu ersparen. Wenn die Interalliierte Kommission, vielleicht sogar widerwillig, fest stellen muß, daß wir tatsächlich mit zusammen gebissenen Zähnen Disziplin gehalten haben und trotz aller nur erdenklichen Provokationen und Schikanen mit Gewehr bei Fuß stehengeblieben sind, wird sie uns doch eines Tages die Erlaubnis zum Gegenangriff geben müssen." „Glauben Sie, daß man uns die Erlaubnis geben wird, im offenen Kampf zu siegen?" fragt der Go goliner gedehnt. Der Führer der Sturmabteilung Heinz nickt bei fällig. „Ein deutscher Sieg würde Deutschlands Ehre wiedererstehen lassen, Herr General, damit würde 1918 vor aller Welt, moralisch-seelisch ge sehen, gesühnt sein. Glauben Sie wirklich, daß das im Sinne der Entente, die uns nach Versailles ge schickt hat, liegen würde? Mit der Ehre eines Vol kes wächst sein Ansehen, und mit der Würde die 152
Macht. Die verantwortlichen Männer der Entente wären von ihrer Lage aus gesehen Trottel, würden sie nicht alles daransetzen, uns zwar lebendig, aber ohnmächtig am Boden zu halten." Der General nestelte an seinem Kragen. „Ich bin weder ein Phantast noch ein weltfremder Stubenstratege. Das können Sie mir glauben, meine Herren. Ich möchte wohl behaupten, daß ich in diesem Kreise der größte Realpolitiker bin." Maßmann räuspert sich. „Unter Realpolitik ver stehen wir allerdings nicht nur die Würdigung der gegebenen Verhältnisse, sondern den Einsatz der uns zur Verfügung stehenden Machtmittel, die Verhältnisse unter das Gesetz unseres Willens zu zwingen." Für eine Sekunde steht eine Zornfalte auf der Stirn des Generals. Doch sofort hat er sich wieder in der Gewalt. „Ich danke Ihnen für die liebenswürdige Be lehrung. Vielleicht sind Sie aber auch so gut, wirk lich ausführbare Vorschläge zu machen. Bisher be stand Ihre Aufgabe mir gegenüber ausschließlich in sicher gutgemeinten Vorwürfen." Maßmann wirft einen Blick zu seinen Kame raden. „Wenn wir die Insurgenten, sagen wir ein mal, über die Linie Slawentzitz—Tost—Sacharso witz zurückwerfen, können wir das gesamte Indu striegebiet aufrollen und säubern. Das geht aber nur mit blitzschnellem Einsatz aller Truppen." „So", sagt der General hastig, „das hört sich wunderbar an. Tatsächlich spielen sie aber mit der Gefahr, ins Pulverfaß zu schießen. Stellen Sie 153
sich bitte einmal vor, was es bedeutet, wenn Ihr Angriff abgeschlagen wird, wenn Ihre Truppen vernichtet werden." Maßmann wiegt den Kopf. „Das ist natürlich möglich. Aber gleichgültig, wie auch ein mehr als waghalsiges, meinetwegen sogar aussichtsloses Unternehmen ausgeht, so er reichen wir doch, daß die Insurgenten vorsichtiger werden und die Mächte der Entente auf unbe rechenbare Ausbrüche Deutschlands Rücksicht nehmen müssen." ,,Die beginnende Verachtung, die man uns ent gegenbringt", wirft der Gogoliner ein, ,,ist uner träglich. Ich habe polnische Zeitungen gelesen, die bereits anfangen, sich über die deutsche Taten losigkeit lustig zu machen. Man behauptet zum Beispiel drüben, der deutsche Soldat sei feige und nur durch größten Druck bei der Fahne zu halten." „Sehr richtig", nicktEicken, ,,das schwarze Auto des Grafen Oppersdorf fährt völlig unbekümmert fast vor der Nase unserer Soldaten umher und bringt Flugblätter gegen uns bis tief ins Hinter land. Darüber müssen die andern ja höhnen." Der Stabschef pfeift zwischen den Zähnen. „Im merhin haben wir wenigstens den jungen Grafen." „Wenn schon", knurrt der Gogoliner, „der junge Graf bekennt sich nur zu seinem Vater, den wir nicht bekommen können, weil wir keine Bewe gungsfreiheit haben." Der General schüttelt bedauernd den Kopf. „Wenn man bedenkt, daß der junge Graf preußi scher Gardeoffizier war . . . " 154
„Dann kann man ermessen, welche Gegner gegen uns stehen", führt Maßmann den Satz fort, „die früheren Deutschen sind unsere gefährlichsten Feinde." Der unbekannte Offizier ist aufgestanden und zur Karte getreten. „Ich meine, der größte Schlag gegen die Insurgenten wäre, wenn wir ihnen den Annaberg entrissen." Der General hat vor Staunen den Mund geöff net. „Annaberg? Ich glaube, Sie sind mehr als naiv." Auch in den Gesichtern der Freikorpsführer ist Überraschung zu sehen. Eicken lacht leise vor sich hin. „Was meinen Sie wohl, wie oft ich zum Anna berg hinübersehe und mir wünsche, unsere Fahne auf den Turm der Kirche zu pflanzen." Der General hat sich gefaßt. „Was denken Sie sich eigentlich? Wissen Sie nicht, daß der Annaberg zur Schlüsselstellung aus gebaut ist, daß jede Höhe um ihn zum Fort wurde? Wollen Sie Ihrem und Ihrer Männer Leben schon jetzt ein sicheres Ende bereiten? Einen solchen Berg stürmen zu können, setzt tagelange Beschie ßung voraus, und außerdam mehrere Sturmwellen, die mit allem neuzeitlichen Nahkampfgerät, vom Minenwerfer bis zum Flammenwerfer, ausgerüstet sind." Maßmann sieht dem hellblauen Rauch seiner Zigarre nach. „Annaberg! Wenn man den den Insurgenten ent risse, würde man ihnen den Glauben an ihre Sache 155
nehmen. Der Annaberg ist für die katholischen Insurgenten das, was den gläubigen Franzosen Lourdes ist . . . " Er schnippt mit den Fingern. „Schöner Traum! Meine Artilleriemunition liegt bei Ohlau." Bergerhoff geht aufgeregt im Zimmer auf und ab. „Verflucht schöner Gedanke, Annaberg! Ein paar Kompanien mehr, und wir würden in einem ver wegenen Sturmlauf die Brüder überrennen und den erstaunten Mönchen und Pfaffen, die heute schon für den lieben Gott jenseits der Grenze singen und beten, eine frohe Botschaft vom Deut schen Reich bringen!" Der Gogoliner ist begeistert. „Die ganze obere Oder wäre in unserer Hand!" Der Unbekannte weidet sich eine Zeitlang an der Verwirrung und Überraschung, die sein schein bar sinnloser Vorschlag angerichtet hat. Dann verneigt er sich kurz. „Ich bin nicht als Märchentante hierhergekom men, meine Herren. Die ersten Abteilungen trafen vor einigen Tagen ein, morgen wird das Gros des Freikorps ,Oberland' ausgeladen! Wir gedenken nicht, unsere Männer erst lange an das hiesige Klima zu gewöhnen." Die Freikorpsführer fahren herum. Oberland? Das gibt dem Kampf ein neues Gesicht! Der General ist offensichtlich etwas ungläubig. „Was ist denn das für ein Wunderkorps?" Der junge Oberländer lacht. 156
„Es ist nicht uninteressant, daß die Gegner der völkischen Freiheit uns bestimmt besser kennen als die sogenannten ,nationalen' Kreise Deutsch lands. Fragen Sie die roten Gruppen, die vor zwei Jahren in München die Räterepublik ausrufen durften, nach dem Hauptmann Österreicher, und Sie werden Wutausbrüche erleben. Österreicher ist einer der wichtigsten Namen unseres Freikorps. Fragen Sie nach Kolm und Diebitsch, ihre Namen ste hen auf dem Ruhmesblatt der Befreier Münchens. Fragen Sie nach dem Mann, der in den Kapptagen die Regierung des roten Hoffmann zum Teufel jagte, Sie werden erfahren, daß es der junge Leutnant Österreicher war, der zu uns gehört. Fragen Sie die Ultramontanen, die heute in München geistern, fragen Sie Herrn Kahr und alle Partikularisten nach dem Freikorps Oberland, und Sie werden hören, daß man ihm von Herzen gern den Heldentod gönnt." „Spät kommt ihr ...", murmelt der Stabschef. „Unsere Männer kommen zum Teil aus Tirol, das ist, laut Landkarte, im Süden gelegen und einige Kilometer entfernt", stellt der Oberländer lakonisch fest. Maßmann reicht ihm die Hand. „Noch ein paar solcher Wunder, und ich ver pflichte mich feierlichst für uns alle, die deutsche Grenze notfalls am Kaukasus zu errichten." Das ist dem General zuviel. „Ich ersuche Sie dringend, meine Herren, auch im Scherz nicht mit solchen hirnverbrannten Ideen zu jonglieren." 157
„Nein, nein", beruhigt Eicken gemütlich, „vor erst geht es einmal auf den Annaberg, dann nach Berlin, und dann kommen erst die benachbarten Erdteile dran!" Der General trommelt gereizt auf den Tisch. „Auch vom Annaberg möchte ich nichts hören, meine Herren." Die Freikorpsführer sehen einander vielsagend in die Augen. Maßmann hat um seinen Mund einen fast schel mischen Zug. „Wir werden Ihr Gewissen nach Möglichkeit nur wenig belasten, Herr General." Als die Führer bereits in der Tür stehen, winkt ihnen der General noch einmal zu. „Denken Sie daran, daß jede Undiszipliniertheit die Gefahren des Rebellentums in sich birgt!"
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m Sammellager herrscht ein lustiges Durchein ander. Heenemann schwört zwar Stein und Bein, der Rehbock sei in selbstmörderischer Absicht in die Schußlinie seines Gewehrs gelaufen, kann sich aber doch einen kräftigen Anpfiff durch den Leut nant nicht vom Halse schwindeln. Der Schaden ist aber halb so schlimm, weil einmal ohnehin in vierzehn Tagen die Schonzeit für Böcke vorüber ist, und zum andern die Lagerkost keineswegs dazu verlockt, jede Abwechslung in der Speise karte zu verabscheuen. Heenemann versteht es ganz ausgezeichnet, seine nicht ganz seltenen Jagdvergehen mit dem 158
Hinweis auf den sicher in Kürze bevorstehenden Heldentod zu verharmlosen. Und eine kleine, ein fache Henkersmahlzeit sei doch schließlich durch aus nichts Verwerfliches! Nur einmal ist Leutnant Maßmann fuchsteufels wild geworden, als an einem Freitagmorgen Heene mann mit einem großen Korb voll Hechten, Karp fen und Barschen zurückkehrt und in dem an schließenden Verhör kleinlaut zugeben muß, die so schmackhaften Fische vermittels Handgranaten erworben zu haben. Auch der schüchterne Hin weis, in katholischen Gegenden, und Oberschle sien mache darin keine Ausnahme, sei es Sitte, am Freitag Fisch zu essen, stieß bei seinem Leut nant auf kein Verständnis. Heute ist die Freude über Heenemanns Jagd beute um so größer und lauter, als der Leutnant, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, eine große Tonne Bier gestiftet hat. Der Grund zu dieser Spende ist zwar nicht be kannt, doch wird gemunkelt, es stünden große und erfreuliche Ereignisse bevor. Felix Teuscher hat seine Ziehharmonika hervor geholt und spielt unermüdlich. Und die Soldaten werden nicht müde, alle Lieder zu singen, vom ersten bis zum letzten Vers. In den Liedern aber sind mehr Grüße und liebe Gedanken zur Heimat enthalten, als in den zahl losen Postkarten und Briefen, die sie in der letzten Woche verschickten. Maßmann sitz mitten unter seinen Männern. 159
Auch heute muß er unter mindestens hundert Karten und Briefe seinen Namen schreiben, mög lichst noch mit einigen persönlichen Zeilen. Der Leutnant kennt jetzt die Freuden und Sorgen, die Sehnsüchte und Kümmernisse seiner Soldaten. Mit jedem hat er über Heimat und Frau, über Kind und Freund gesprochen und versteht es, mit ein paar Worten einen persönlichen Zuspruch zu schreiben. Die Männer sind stolz darauf, daß ihr Führer ihre persönliche Welt für nicht zu gering erachtet, als daß er Einblick nehme. Und Maßmann denkt zuweilen daran, daß es schade sei, die Briefe der Männer nicht zu sammeln und zu veröffentlichen. Da schreiben willige und billige Tintenkulis, die noch nie einem von Staat und Heimat verlassenen Freikorpsmann ins Herz gesehen haben, davon, daß die verrohten Landsknechte eine Gefahr für Gesittung und Recht seien! Wenn sie diese Briefe nur lesen könnten, denkt Maßmann, vielleicht würden sich diese käuflichen Kreaturen von Schreiberlingen doch noch schämen beim Anblick der seelischen Keuschheit, die unter scheinbar gleichgültigen Worten und Fragen aus den Briefen leuchtet. Wieviel Größe des Herzens und der Empfindung liegt nicht allein in dem Satz, den der Schwager des gefallenen Riehl nach Hause schrieb: „Ich denke viel an Euch und daran, ob die Kinder wohl gute deutsche Menschen werden, wenn ich hier fallen sollte . . . " 160
Der Herz wird Maßmann zuweilen beengt durch das Glücksgefühl, Männer führen zu können, die in der Schwere ihres Schicksals, als Verfemte und Vereinsamte die Kraft gewannen, an der Schwelle des gefährlichsten Lebens ja sagen zu können selbst zu dem scheinbar Unsinnigsten des Ver hängnisses, und mit lachenden Augen dem Tode Brüderschaft anzubieten. Aus der Tasche zieht er einen Zeitungsausschnitt, den ihm Martin Harke zugesteckt hat. Eine bekannte Berliner Zeitung bringt im Sperr druck die Meldung, daß, entgegen anderslautenden Gerüchten, keine Freikorps in Oberschlesien be ständen und daß auch die Bildung solcher wahn witzigen Organisationen niemals zustande kom men würde, weil auf Grund des Londoner Ultima tums die Regierung jeden Versuch und jede Be teiligung mit drei Monaten Gefängnis und bis zu hunderttausend Mark Geldstrafe zu ahnden drohte. Maßmann spuckt aus. Mit Geldstrafe wird belegt, wer seine Nation liebt! Mit Gefängnis wird bestraft, wer sich schützend vor das Herz seines Volkes stellt! Erbärmliche Zeit! Lieben denn die Männer, die dort singend ihre Gewehre reinigen, nicht diese Welt? Lieben Sie nicht ihre Frauen und ihre un mündigen Kinder? Sein Blick gleitet zu Louise hinüber, die auch heute wieder von einem ganzen Schwarm hilfe suchender Soldaten umgeben ist. Der eine hat sich beim Gewehrreinigen den Finger geklemmt, der 161
andere braucht dringend ein paar Knöpfe, der hier bittet um eine Unterschrift an die Braut, und dieser möchte zu gern ein Buch geliehen haben. Louise versteht es, mit den Soldaten auszukom men. Mit ihrer linden Hand gelingt es ihr ebenso gut, kleine Wunden zu verbinden, die durch vom langen Lagern unzuverlässig gewordene Patronen und Handgranaten verursacht wurden, wie mit einem begütigenden Wort Mißstimmungen und Reibereien aus der Welt zu schaffen. Dafür fällt auch in ihrer Gegenwart kein rauher Fluch und kein gemeines Wort. Wer eine Braut hat, achtet sie in Louise, wer an seine Mutter denkt, bringt Louise Verehrung entgegen. Jetzt liest sie gerade einen Brief von Konrad Ertels Mutter. Konrad gab ihn ihr. Halblaut liest sie ihn, so, daß Konrad es noch gerade hören kann und sich nicht allzusehr zu schämen braucht, daß vielleicht ein Unberufener zuhören und spotten könnte. „Mein geliebter Junge! Wenn ich Deine Schulfreunde auf der Straße sehe, schneidet es mir ins Herz, daß Du mitten aus Deiner Lernzeit davongegangen bist und Soldat wurdest. Du weißt, wie sehr ich damals litt, als Vater im Felde stand, und jeder Brief mir eine Schreckensbotschaft bringen konnte. Um Dich bange ich noch mehr, denn Du bist ja noch ein halbes Kind, und von dem Krieg, den Ihr dort in Schlesien führt, liest man in den Zeitungen nichts. Um so mehr hört man aber 162
munkeln, daß es bereits zu blutigen Gefechten gekommen sei. Vater wird sehr ernst, wenn wir abends von Dir sprechen. Ich merke ihm an, daß er seine Sorgen um Dich vor mir zu verbergen sucht. Vor einigen Tagen wurde er zum Direktor Deines Gymnasiums gebeten. Der Direktor teilte ihm mit, daß von der Konferenz Deine Entlassung verfügt worden sei, weil Du Dich an einer vom Staate verbotenen Unternehmung beteiligt hast. Wie ich vermute, ist es daraufhin zwischen Vater und Deinem früheren Direktor zu einer erregten Auseinandersetzung gekommen. Dir werden wohl die Ohren geklungen haben! Ich will Vater das Herz nicht schwerer machen und weine nachts manche Träne in mich hin ein. Bleibe nur gesund, mein Junge, und sei nicht zu waghalsig. Wenn Du erst wieder zu Hause bist, sollst Du eine Woche lang Deine Lieblingsspeisen bekommen. Und bei Vater will ich schon durchsetzen, daß Du das Leichtmotor rad bekommst, das Du Dir schon so lange ge wünscht hast. Übrigens waren gestern Deine gesamten Klas senkameraden bei mir. Sie wollten einen Pro testbesuch wegen Deiner Entlassung machen. Sie beneiden Dich natürlich alle und wollten haargenau Deine Taten berichtet haben. Leider konnte ich ihnen so gut wie gar nichts erzählen. Deine Lotte aus der Tanzstunde kam auch und ließ sich ein Bild schenken. Hast Du ihr noch nicht geschrieben? 163
Ich würde Dir zu gern ein Paket schicken, aber die Post weigert sich, eine Paketsendung an die Adresse Deines Freikorps anzunehmen. Hast Du nette Kameraden gefunden? Bisher kamen nur drei Postkarten an, auf denen Du außer Deiner Anschrift nur mitteiltest, daß es Dir gut ginge. Komm bald wieder, ich denke Tag und Nacht an Dich, mein Junge. Deine Mutter." Louise faltet den Brief sorgsam zusammen. Sie sieht, daß an mehreren Stellen die Tinte aus einandergelaufen ist und weiß, daß Konrads Mut ter diesen Brief unter Tränen geschrieben hat. „Ich werde heute abend deiner Mutter ausführ lich berichten, was du im Freikorps schon alles gelernt hast, und daß deine Kameraden dich gern haben und dich für voll ansehen. Sicher schreibt auch der Leutnant noch dazu, daß du ein ganzer Mann geworden bist, Konrad." Der nickt glücklich. „Da wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich kann im Brief nicht so gut ausdrücken, was ich sagen möchte, und dann fürchte ich mich auch etwas, vielleicht zu zärtlich zu schreiben. Ich bin ja schließlich kein Kind mehr." Am liebsten würde Louise den großen Jungen jetzt auf die Stirn küssen.
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uf sieben Uhr abends hat Maßmann Appell an gesetzt. Heute soll dem Freikorps feierlich die Sturm fahne übergeben werden. Viele Stunden hat Louise über dem schwarzen Tuch gesessen, um mit Silber fäden den Totenkopf zu sticken. Der glänzt nun von der einen Seite der Fahne, und in geringem Abstand von ihm steht im Halb kreis: O. S. 1921. Auf der anderen Seite leuchten die Worte: DIE S C H W A R Z E GARDE, und darunter, wie ein Befehl: FREIHEIT. Den Schaft hat der Schwesterwitzer Schreiner aus Eichenholz herstellen müssen. Maßmann hat Freude an der Fahne. Fünf Minuten vor sieben Uhr steht das Freikorps im offenen Viereck angetreten. Wachtmeister Lemke meldet. Der Leutnant mustert sein Korps und kann fest stellen, daß die soldatische Haltung in den letzten Tagen eine merkliche Vervollkommnung erfahren hat. Wie Bäume stehen die Männer unter dem Stahlhelm. Weiß der Himmel, es muß ein gewaltiges Ge fühl sein, solche Soldaten in die Entscheidungs schlacht zu führen! 165
Hell und hart klingen die Worte Maßmanns, als er von den schwarzen Korps des Herzogs Öls, Schills und Lützows spricht. „Wir werden uns dieser Tradition würdig er weisen. Und sei der Lohn unseres Zuges kein an derer, als ihn Schill in Stralsund gefunden hat. Denkt daran, meine Kameraden, daß von der Fahne, die von heute an unserem Kampf voranflattern wird, der Totenkopf leuchtet. Für uns sei er Mah nung, wissend das letzte Opfer auf uns zu nehmen und in der Nachbarschaft des Grauens nicht zu wanken. Für unsere Feinde bedeute er die Drohung, daß wir allem den Tod zu geben gedenken, was sich unserem Wege zur Freiheit entgegenstellt." Feierlich schwenkt Fuchsberger die Fahne, als Maßmann die Hand zur Mütze hebt und auf das ewige Leben der deutschen Nation ein Heil aus bringt. Zum erstenmal nimmt der Leutnant den ge schlossenen Vorbeimarsch seines Korps ab. Lemke führt die erste Kompanie, Teuscher die zweite, Napoleon die dritte. Kein klingendes Spiel gibt dem Vorbeimarsch den lebendigen Rhythmus, doch die schwere Wucht, mit der die Männer den Parademarsch durch führen, scheint Maßmann ohne das musikalische Beiwerk noch erhebender zu sein. Er denkt an jenen Tag in Potsdam, da seine Deutschvölkischen Wanderer die grüne Fahne des Propheten vorwärts trugen.
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B
is in die tiefe Nacht hinein darf das Korps heute feiern. Napoleon und Martin Harke sind unermüdlich dabei, immer neue Späße zu erfinden, immer gewagtere Schwänke aus dem Stehgreif aufzu führen. Die Männer wollen sich schier ausschütten vor Lachen, als zum Schluß sich Napoleon mit Hilfe eines auf landesübliche Art grellbunt bestickten Kopftuchs, eines hellroten Flanellunterrocks und einer weißen Bluse in eine dralle Bauernmagd ver wandelt und den langen Harke mit einem tiefen Knicks zum Krakowiak auffordert. Fuchsberger strapaziert dabei seine Ziehharmo nika, daß man meinen könnte, er wolle sie auf jeden Fall in Stücke reißen. Heenemann hat sich mit einem vom Küster in Twardawa heimlich entlehnten Gehrock in einen Parlamentsbürger verkleidet und hält eine lär mende, mit Reichstagsphrasen auf das lieblichste verzierte, flammende Kapuzinerpredigt gegen die Soldaten im allgemeinen und gegen die Freiwil ligen der Schwarzen Garde im besonderen. Daß inmitten seiner Rede ihm der Stuhl unter den Füßen wegbricht, erhöht nur den Reiz dieses Spaßes.
D
er Dienst beginnt am andern Morgen wie ge wöhnlich um sechs Uhr. Maßmann legt be sonderen Wert darauf, daß seine Männer sich im Handgranaten-Zielwerfen üben. 167
Konrad Ertel ist mit Feuereifer bei der Sache und erweist sich beim Zielwerfen auch mit scharfen Handgranaten als besonders geschickt, so daß Maßmann ihn in den ausgesuchten Stoßtrupp ein reiht, dessen Führung er Harke anvertraut hat. Voller Stolz malt Konrad mit weißer Ölfarbe das kleine Fragezeichen, das der Stoßtrupp sich als besonderes Merkmal erwählt hat, unter den großen Totenkopf, den das Freikorps am Stahl helm trägt. Er ist seinem Onkel Heenemann von Herzen dankbar, daß es ihm durch seine Fürsprache ge lungen ist, in die Schwarze Garde eingereiht zu werden, und er freut sich, daß gerade sein Freikorps gute Uniformen bekommen konnte, wodurch es schon äußerlich einen geschlosseneren Eindruck macht als die meisten anderen Formationen, die aus Mangel an geeigneten Ausrüstungsgegen ständen zum Teil in einem wahren Räuberzivil auftreten müssen. Auch Heenemann sieht mit Genugtuung, daß sein Neffe sich zu einem guten Soldaten ent wickelt, nur vermeidet er es geflissentlich, sich seine Zufriedenheit anmerken zu lassen. Für ihn kommt es darauf an, wie sich Konrad im ersten Gefecht benehmen wird. Darum spart er mit den nach seiner Meinung unangebrachten und für den Charakter gefährlichen Vorschuß lorbeeren. Im Freikorps nennt man den Jungen wegen seiner Beweglichkeit und seines Eifers den Jagd hund. 168
Jeden Morgen grüßt Konrad sehnsüchtig die Sonne und hofft, daß sie an diesem Tag nicht untergehen wird, ohne daß er die Feuertaufe er hält. Zuweilen steigt eine herzbeklemmende Furcht in ihm auf, das Freikorps würde zu lange im Lager gehalten und eines Tages wäre es zu spät, dann würde vielleicht ein Waffenstillstand geschlossen und das Korps aufgelöst, ohne daß die Fahne eine Schlacht gesehen hätte. Maßmann hat sich eines Tages den Jaghund vor genommen und ihn gefragt, warum er zuweilen so verstört sei. Stockend hat er dem Leutnant seine Befürch tungen mitgeteilt. Maßmann hat ihm lachend auf die Schulter ge klopft. „Glaube mir, Junge, ein wirklicher Krieger kommt nie zu spät. Und der Krieg, in den Deutsch land 1914 getrieben wurde, hört in Wahrheit erst dann auf, wenn Gerechtigkeit auf dieser Welt herrscht. Das kann aber noch fünfzig vielleicht sogar noch hundert Jahre dauern, und wenn noch so viele Friedensdiktate dazwischenliegen. Denn die Welt will nicht gerecht werden, weil ihre Mächte meinen, die Willkür sei für ihre Erhaltung geeigneter." Seitdem ist Konrad ruhiger geworden und ver traut darauf, daß sein Leuntnant ihn nicht nach Hause schicken wird, ohne daß ihm Gelegenheit gegeben wurde, eine Tat zu vollbringen. 169
Aber wenn von Osten das Knattern der Ma schinengewehre und die Detonation der Minen und Granaten herüberdringt, klammert er das Ge wehr fester in seiner Hand und wünscht dort zu sein. Die Bevölkerung ist freundlich und unterstützt die Soldaten mit allem, was der geringe Überfluß abzugeben gestattet. Nur ganz wenige sind da, die einen unversöhn lichen Haß auf die Deutschen haben, und dieser Haß ist ihnen eingeimpft worden von fanatischen katholischen Geistlichen oder von den Sendboten Korfantys, die ihnen den Himmel auf Erden ver sprochen haben, wenn sie erst einmal vom Deut schen Reich gelöst sind. Unter diesen wenigen ist ein junger Lehrer aus der Nachbarschaft, der sein auf deutschen Bil dungsstätten mühsam erworbenes Wissen dazu be nutzt, Eltern und Kinder der deutschen Heimat zu entfremden. Die Soldaten haben den Lehrer schon längst in Verdacht, daß er Spionage treibt. Argwöhnisch haben sie ihn mehr als einmal beobachtet, wie er sich in der Nähe des Lagers umhertrieb, wie er Bauern nach diesem und jenem, was mit den Frei korps zusammenhängt, ausfragte. Bisher war ihm eine vollzogene Spionage nur nicht nachzuweisen. Und wenn einer der Soldaten auf den Lehrer zu eilte, so konnte er mit Gewißheit erwarten, daß der an einem der vielen an Kreuzwegen und in Feldern errichteten Kruzifixe niederknien und sich in schier endlose Gebete vertiefen würde. 170
Maßmann hat Befehl gegeben, daß ihm der Fuchs gesattelt wird, den er vor Tagen aus den Stallungen des Grafen Oppersdorf zugeteilt er halten hat. Bergerhoff rief an, Maßmann solle im Verlaufe des Vormittags zu einer Besprechung hinüber kommen. In der Nähe von Twardawa wird der Fuchs un ruhig, Maßmann tätschelt ihn und beugt sich dabei über den Hals des Pferdes. In diesem Augenblick kracht aus nächster Nähe ein Schuß. Der Fuchs steigt, wiehert klagend und überschlägt sich. Mit Mühe verhindert es Maßmann, daß er unter das stürzende Tier kommt. Er sieht gerade noch, wie der Lehrer hinter einem Kruzifix aufspringt und feldein davonläuft. Die Pistolenkugel ist dem Fuchs in den Hals ge drungen und hat die Schlagader zerrissen. Armdick quillt das Blut in heftigen Stößen hervor. Maßmann erlöst das Pferd durch einen Schuß und eilt in das Lager zurück. In wenigen Minuten hat er am Telefon Berger hoff unterrichtet. „Der Kerl muß sich noch in der Nähe Ihres Lagers umhertreiben." „Ich werde mir alle Mühe geben, ihn aufzu spüren", versichert Bergerhoff. Drei Stunden später ruft er an. „Wir haben ihn in der Nähe von Trawnig ein gefangen. Ich lasse ihn zu Ihnen hinüberschaffen!" 171
Jetzt steht der Lehrer vor Maßmann. Die Frechheit, mit der er sonst deutschen Sol daten gegenüberzutreten gewohnt war, hat ihn ganz verlassen. Vielleicht verlief auch seine Gefangennahme nicht sonderlich behutsam. Blaß und schlotternd blickt er den Mann an, den er vor wenigen Stunden aus einem Versteck heraus, das Maßmann nie beargwöhnt hätte, hat umbringen wollen. Ein letzter Rest von Mannestum hindert ihn wenigstens daran, um Gnade zu winseln, so daß Maßmann der Ekel erspart bleibt. Das Protokoll ist kurz. Mit zitternden Fingern, denen der Federhalter zweimal entfällt, unterschreibt der Lehrer. „Wie konnten Sie, wenn Sie ein so guter Katho lik sind, ausgerechnet ein Kruzifix zum Versteck für Ihren Anschlag wählen?" Der andere schweigt und sieht finster zu Boden. Maßmann winkt Napoleon zu. „Du wirst den Mann nach Oberglogau transpor tieren, laß dir eine Empfangsbestätigung aus stellen!" Napoleon schlägt die Hacken zusammen und legt die Hand an die Mütze. Eine halbe Stunde später rattert das Auto mit dem Gefangenen davon. Maßmann ist erstaunt, als Napoleon in unver hältnismäßig kurzer Zeit sich zurückmeldet. „Was ist denn los?" Napoleon sieht ihn mit klaren Augen an. 172
„Ich melde gehorsamst, daß ich den Gefangenen in einem Wäldchen kurz vor Oberglogau mit eigener Hand erschossen und begraben habe." Maßmann ist aufgesprungen und schreit ihn an. „Bist du denn wahnsinnig geworden, Mann?" Unverändert ist die Haltung Napoleons. Seine Stimme bekommt einen fast gläsernen Klang. „Was hätten die in Oberglogau mit dem Kerl anfangen sollen? Bestenfalls einige Wochen Ge fängnis. Und dann wäre er wieder frei umher gelaufen und die Märtyrerkrone hätte ihm gut zu Gesicht gestanden." „Woher willst du denn das wissen? Hätten die in Oberglogau nicht ebensogut ein Standgericht bilden und den Gefangenen rechtmäßig zum Tode verurteilen können?" Napoleon schüttelt bestimmt den Kopf. „Das hätten sie nicht getan. Denn wer nicht einmal den Mut zur Verantwortung hat, den An griffsbefehl zu unterschreiben, der scheut sich erst recht davor, ein Todesurteil zu fällen. Warum sollte ich die Herren in Oberglogau erst in Ge wissenskonflikte bringen? So habe ich die Ver antwortung auf mich genommen. Der Lehrer wurde auch nicht im offnen Kampf gefangen. In meinen Augen und sicher in den Augen aller anständigen Soldaten hat er nicht wie ein Krieger ge handelt, sondern wie ein Schwein, und Schwei ne . . . " Er zuckt die Achseln und bricht ab. Maßmann legt ihm die Hand schwer auf die Schulter. 173
„Ich verstehe dich. Nun tut es mir leid, daß ich das Urteil nicht selbst vollstreckt habe. Die Verantwortung aber trage allein ich, merke dir das." Schweigend zünden sich die Männer eine Zi garette an und sehen dem Rauch nach. Napoleons Hände zittern etwas, so daß die Asche von der Zigarette fällt. Mit beinahe neugieriger Scheu betrachtet er zu weilen den Zeigefinger seiner rechten Hand, den Finger, der den Abzug durchdrückte! Maßmann erkennt den Kampf, der das Herz des Führers seiner dritten Kompanie bewegt. Er weiß, daß der andere jetzt sprechen muß, um den würgenden Druck loszuwerden. „Starb er schwer?" Napoleon geht mit großen Schritten im Zimmer umher und bleibt dann mit einem Ruck hastig atmend vor Maßmann stehen. „Er hat wohl schon geahnt, daß es mit ihm zum Tode geht, denn er sah mich mit Augen an, wie vielleicht ein Todeskandidat auf der vorletzten Leitersprosse zum Galgen seinen Henker anstarrt. Das Weiße seiner Augen leuchtete förmlich in der Dämmerung." Napoleon schlägt plötzlich die Hände vor das Gesicht. Ein krampfartiges Zucken läuft durch seinen Körper. Maßmann wartet, bis die Erregung verebbt ist. Langsam läßt Napoleon die Hände sinken. Sein Gesicht ist grau geworden. 174
„Er bat mich, ihn nicht zu quälen und dafür zu sorgen, daß er nicht unbegraben liegenbliebe. Das habe ich ihm versprochen. Als wir ausstiegen, habe ich ihm fünf Minuten Zeit gegeben, sich zu sam meln und über Leben und Tod nachzudenken. Die fünf Minuten waren noch nicht um, als er mich anstieß und sagte, er sei bereit; er wolle als Mann sterben und nichts bereuen, die Welt sei doch für ihn verloren, wenn Deutschland siege. Damit lehnte er seinen Kopf an die Mündung meiner Pistole. Ich habe ruhig durchgezogen. Er hat sich nur noch einmal aufgebäumt und war nach wenigen Sekun den tot. Sein Grab ist unter einer Birke, man kann es jederzeit finden, weil die Birke weit aus dem Walde leuchtet." Schwer läßt er sich auf einen Stuhl sinken und legt den Kopf seitwärts auf den Tisch. Maßmann löscht das Licht und verläßt leise das Zimmer.
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n der Frühe fährt Maßmann mit Louise nach Krappitz zum Krankenhaus. Der Chefarzt ist liebenswürdig und zuvor kommend. „Selbstverständlich kann Ihre Gattin bei uns eingestellt werden. Wir haben Mangel an aus gebildeten Kräften. Täglich werden Verwundete eingeliefert, und auf einen Kriegsfall waren wir wirklich nicht vorbereitet." Louise ist blaß und unruhig. Ihre Augen suchen den Blick Karls zu fangen. 175
„Geben Sie mir möglichst viel Arbeit, Herr Doktor!" Maßmann streichelt ihre zitternde Hand. „Wir wollen nicht hoffen, daß zuviel Arbeit kommt." Dann verneigt er sich zum Chefarzt. „Ich weiß meine Frau gut aufgehoben bei Ihnen und hoffe, daß sie sich besonders in den nächsten Tagen nützlich zu machen weiß." Der Arzt horcht auf. „Planen Sie ein besonderes Unternehmen?" Maßmann tritt aus Fenster und sieht dorthin, wo der Annaberg liegt. „Die nächsten Tage werden Kämpfe und Blut sehen." Seine Stimme ist leise geworden. „Ich fürchte..." Mit einer Handbewegung bricht er ab. Der Arzt bemerkt, daß Louise einen Halt sucht. Unauffällig schiebt er ihr einen Stuhl hin. Louise preßt die Zähne in die Lippen und schließt die Augen. Daß er nur nichts merkt! — zwingt sie sich immer wieder zu denken. Daß er nur nichts merkt! Der Arzt ist zu Maßmann ans Fenster getreten. Er weiß, daß ein derbes Wort jetzt wertvoller ist als ein Dutzend liebenswürdiger Redensarten. „Lassen Sie sich aber nicht einfallen, etwa als Patient hierherzukommen. Privatschwestern gibt es nicht." Maßmann wirft ihm einen dankbaren Blick.zu. 176
Behutsam legt er die Hand auf den Scheitel der Frau. „Ich komme sehr bald wieder, Louise. Sei tapfer und denke daran, daß eine Soldatenfrau die stolzeste aller Frauen sein darf, dafür aber muß sie auch das größte Leid tragen." Louise nickt. Immer wieder nickt sie, und erst, als die Tür sich schließt und Karls Schritte verhallen, schluchzt sie auf. Dann eilt sie zum Fenster, um Karl noch einmal zu sehen.
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n Oberglogau laufen die Ordonnanzen umher. Unaufhörlich surren die Fernsprecher. Das Fieber der Erwartung hat die Männer gepackt und läßt selbst den General hin und wieder lospoltern. Die Freikorpsoffiziere beginnen einen Ton an zuschlagen, der sich in nichts mehr von offener Meuterei unterscheidet. Bergerhoff brüllt, daß die Ader auf der Stirn dick hervorquillt. „Zum Donnerwetter, wozu sind wir denn eigent lich hier? Sollen wir vielleicht eine weiße Fahne hissen und überlaufen? Bleiben wir im Lager, dann sind wir in spätestens drei Tagen überrannt." „Jawohl", pflichtet Eicken bei, „Bergerhoff hat völlig recht. Die Insurgenten haben jeden Tag neue Verstärkungen erhalten. Heute kommen schon fünfzehn Feinde auf jeden unserer Soldaten, in ein paar Tagen werden es zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig sein. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß zwischen dem 23. und 25. Mai die neue Offensive beginnen wird. Wir müssen schon aus Selbsterhaltungstrieb den Angriff unternehmen." Der General fährt auf. „Das ist ja alles heller Wahnsinn, meine Herren. Gestern habe ich gerade bei der Regierung die Erlaubnis erreicht, daß wir unsere Verteidigung 178
beweglicher gestalten dürfen. Ich komme in Teu fels Küche, wenn Sie rücksichtslos Ihre eigenen Absichten verfolgen." Der Stabschef versucht, auszugleichen. „Wenn Sie, meine Herren, einige Vorstöße durchführen, können Sie den Gegner beunruhigen und an seine Stellungen fesseln. Das genügt mei nes Erachtens völlig." Maßmann schüttelt den Kopf. „Halbheiten sind nicht nur dumm, sondern er fahrungsgemäß vor allem gefährlich. Um einen aussichtsreichen Verteidigungskampf führen zu können und besonders, wenn wir vielleicht noch mit einem Stellungskrieg rechnen wollten, müßten wir ein Vielfaches von unserer heutigen Stärke und Bewaffnung haben. Stellen Sie sich nur ein mal vor, wir würden nach einem kleineren Vor stoß in die Ausgangsstellung zurückgehen und der Gegner stieße nach! Wissen Sie, was das zu bedeuten hätte?" Der Stabschef wiegt bedächtig den Kopf. Es fällt ihm offensichtlich schwer, gegen seine Überzeugung zu sprechen. „Taktik ist nun einmal die Kunst, mit den vor handenen Mitteln unter Vermeidung tunlichst jeden Risikos sichere Erfolge zu erzielen. Nach diesem Grundsatz sind Sie schlechte Taktiker, meine Herren, denn Sie erstreben mit unzuläng lichen Mitteln nach einem mehr als unsicheren Erfolg." „Wir pfeifen auf die Taktik", meint der Ober länder trocken, „offenbar sind Ihnen die Gesetze 179
höherer Strategie fremd, sonst würden Sie unse rem Vorhaben nicht ganz so fassungslos gegen überstehen." Er verneigt sich ironisch lächelnd zu dem fas sungslosen General. „Vielleicht haben junge Menschen etwas, was auch dem besten und besonders erprobten strate gischen System überlegen ist. Ich meine den Glau ben, Herr General. Zwar nicht den, der Berge versetzt, sondern den, der sie stürmt." „Glauben, Glauben", ringt es in dem General, „was bedeutet dieses Wort schon in einer Zeit, die, wie kaum eine andere zuvor, bewiesen hat, daß letztlich nur sehr reale Kräfte eine Gegen wart gestalten." Sachlich wendet er sich an den Oberländer. „In diesem Augenblick über Strategie und Taktik zu streiten, erscheint mir mehr als überflüssig. Vom Glauben ganz zu schweigen." Langsam er hebt er sich und stützt seine Hand schwer auf den Tisch. „Ich bedauere es außerordentlich, Ihre sehr weit hergeholten Einwände nicht mehr mit anhören zu können, meine Herren. Hiermit unter sage ich Ihnen dienstlich jede selbständige Hand lung vor dem Feind und werde notfalls dafür zu sorgen wissen, daß meinen Anordnungen Gehorsam entgegengebracht wird." Maßmann beobachtet die Freikorpsführer und sieht, daß auf allen Gesichtern Zorn und Ent täuschung stehen. Es scheint ihm nicht ratsam zu sein, einen völ ligen Bruch mit dem General herbeizuführen. 180
Darum gibt er dem Oberländer, der einen wüten den Protest vorbringen will, ein Zeichen. „Wir verstehen sehr wohl, Herr General, daß Sie besorgt sind, die Ereignisse könnten sich über stürzen und damit die Zügel Ihnen aus den Hän den gleiten. Ebenso bin ich gewiß, daß Sie unsere Sorge verstehen, wir könnten durch Tatenlosig keit zum Spielball der Launen des Gegners wer den. Es liegt nun einmal in der inneren Gesetz mäßigkeit der Freikorps begründet, durch beson dere Beweglichkeit nicht nur die Mängel der Aus rüstung auszugleichen, sondern vor allem jedes planmäßige Handeln des Gegners zu durchkreuzen." ,,Zu Partisanenkämpfen haben wir immer noch Zeit, wenn wir vernichtend geschlagen worden sind. Das soll aber erst einmal einer tun", knurrt Bergerhoff zum General hinüber. Der Stabschef lächelt vermittelnd. „Das ist der letzte Ausweg, an den wir heute noch nicht denken dürfen." „Man soll uns doch endlich beweisen lassen, was wir wert sind. Ich schwöre Ihnen, daß ich und meine Leute beim ersten grundsätzlichen Ver sagen der Freikorpsidee uns willig Ihrer Taktik unterwerfen werden. Bis dahin aber bin und bleibe ich unbelehrbar." Eicken schmunzelt und reibt sich die Hände. Der Gogoliner zerdrückt seinen Zigarren stummel und zwinkert den Freikorpsführern zu. „Ich kann das peinliche Gefühl nicht ganz los werden, als drehten wir uns seit Tagen ständig im Kreise." 181
„Sehr wohl", sagt der General, ,,Sie scheinen sich noch immer nicht völlig klar darüber zu sein, ob Sie gehorchen oder meutern sollen." „Meutern ist wohl zuviel gesagt", wirft Eicken dazwischen, „immerhin haben wir uns nicht unter den General gestellt." „Aber, meine Herren...", will der Stabschef vermitteln, doch Maßmann läßt ihn nicht ausreden. „Wir haben keineswegs die Absicht, die ohne hin sehr spärliche Front zu zerreißen, im Gegen teil, wir möchten unter allen Umständen eine möglichst geschlossene Front errichten. Daß die Ansichten über die durchzuführenden Maßnahmen auseinandergehen, ist bedauerlich, nur ist es uns als dem lebendigsten Kern des gesamten deut schen Widerstandes schließlich nicht gut zuzumu ten, daß wir auf unser Lebensrecht — das ist die völlige Bewegungsfreiheit, Herr General — ver zichten. Ich meine, es wäre das beste, wir mach ten uns gegenseitig keine Schwierigkeiten." Der General schüttelt mißbilligend den Kopf. „Die Schwierigkeiten liegen restlos bei Ihnen, meine Herren." Der Gogoliner springt auf. „Nehmen Sie es mir übel oder nicht, ich habe die Nase gründlich voll. Draußen sterben unsere Männer, und wir können uns nicht darüber einig werden, ob wir hinhalten oder zuschlagen sollen. Ich gehe jetzt los, um zuzuschlagen. Leben Sie wohl, Herr General." Die Freikorpsführer rufen ihm beifällige Worte zu. 182
„Wir treffen uns heute abend in Twardawa", wendet sich Maßmann an seine Kameraden und sieht dem General in die Augen. „Ich nehme zu meinen Männern nicht das Gefühl mit, daß Sie unser Feind sind, Herr General, ich werde mir sogar erlauben, ihnen Ihre herzlichsten Grüße aus zurichten." „Ich bitte darum", nickt der General, „glauben Sie mir, daß ich Ihr und Ihrer Soldaten bester Freund bin. Ich bin doch kein Pazifist oder Sozial demokrat, aber immerhin besitze ich das Ver trauen der Regierung, das ich keineswegs zu miß brauchen trachte." „Sie werden sich unserer nicht zu schämen brauchen", fährt Maßmann fort, nachdem er die Worte des Generals mit einer verbindlichen Ver beugung entgegengenommen hat, „wir haben zur Kenntnis genommen, daß Sie unsere Absicht, den Gegner überraschend anzugreifen, als nicht durch führbar und unsinnig ansehen, und stellen uns in allem, was wir in Zukunft unternehmen werden, außerhalb Ihrer Verantwortung. Sie trifft in kei nem Fall die Schuld an den kommenden Ereignissen, das stelle ich hiermit fest, und ich bitte, diese Fest stellung auch schriftlich niederlegen zu lassen." Die Hand des Generals zittert. Er sieht, daß die Männer sich seinem Einfluß verschließen und daß er von der Gestaltung des Schicksals vor dem Annaberg ausgeschlossen ist. Seine Stimme wird farblos und brüchig. „Ich könnte Ihnen, auch wenn Sie sich berech tigt fühlen, das abzulehnen, den Vorwurf der Meu 183
terei machen. Ich könnte den Versuch machen, Sie ehrenwörtlich an meinen Befehl zu binden, Mir liegt das Wohl des Vaterlandes ebenso am Herzen wie Ihnen, meine Herren, und ich glaube nicht, daß Sie mir die Ehrlichkeit meiner Über zeugung und damit meine persönliche Ehre ab sprechen wollen. Es wird mir als altem Soldaten schwer, zu sehen, daß Schranken des Nicht verstehens zwischen uns stehen, und daß Sie mir insgeheim Unentschlossenheit, vielleicht sogar Feigheit verwerfen. Ich bin Jahrzehnte älter als die meisten von Ihnen. Das mag ein Nachteil sein. Allerdings habe ich in den vielen Jahren meines Soldatenlebens gelernt, daß das einzig Bindende und Verpflichtende das Manneswort ist. Und sehen Sie, ich habe der Regierung mein Wort gegeben und bin ihr Treuhänder. Ich müßte zur Pistole greifen, unterstützte ich Ihr Vorhaben." Nach den Worten des Generals herrscht Schwei gen im Raum. Die jungen Offiziere ahnen den Kampf in der Seele des alten Mannes und haben Achtung vor dem Schicksal eines untadeligen Ritters einer dahingegangenen Zeit, einer Zeit, in der nur Ehrenmänner ein Ehrenwort entgegennehmen durften. Soll ich dem alten Mann sagen, daß er sein Ehrenwort an Schurken verschwendet hat?, geht es Maßmann durch den Kopf. Doch es scheint ihm besser zu sein, nicht davon zu sprechen. Die Offiziere drängen zum Aufbruch. Maßmann drückt dem General die Hand. 184
„Wir haben erkannt, daß das Gültige auf dieser Welt allein der Instinkt ist. Er läßt uns vorsichtig sein gegenüber allen Schlingen und Fallen, die von Schwächlingen gestellt werden. U m s o härter aber läßt er uns alles Starke bejahen." Eine Ordonnanz tritt ein und macht dem General Meldung. Der General zuckt zusammen. „Der Berliner Kommissar ist persönlich ge kommen? Ich lasse bitten." Die Offiziere horchen auf und treten zum Ge neral. Der nickt ernst. „Bleiben Sie bitte noch einen Augenblick, meine Herren, Sie können sich dann persönlich davon überzeugen, welche Liebe man in Berlin zu Ihnen und Ihren Ideen hat." Wenige Augenblicke später steht der Kom missar im Zimmer und begrüßt mit liebenswürdiger Lässigkeit den General. Maßmann kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Weiß Gott, es ist derselbe Kommissar, der ihm schon in Berlin das Leben sauer gemacht hat. Der General weist auf die Offiziere. „Ich habe mit den Herren soeben eine Aus sprache gehabt, Herr Kommissar. Da scheinbar Mißverständnisse über die Einstellung der Regie rung bestehen, wäre es durchaus angebracht, wenn Sie einige Erklärungen abgeben könnten." „Gern", beeilt sich der Kommissar, „ich begrüße diese Gelegenheit sogar." Die Offiziere beginnen zu murren. 185
Bergerhoff kann sich nicht enthalten, ein Wort zu murmeln, das wie „krummer Hund" klingt. Einen Seitenblick des Kommissars beantwortet er mit fröhlichem Grinsen. Einen nach dem andern der Freikorpsführer mustert der Kommissar. Als er Maßmann entdeckt, verneigt er sich kurz. „Ich wußte, daß ich Sie hier finden würde, Herr Leutnant." „Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Herr Kom missar! Wo sollte ich auch anders sein als hier an der Front." Der Kommissar läßt sich den Ärger, den er über diese Abweisung empfindet, nicht anmerken. „Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen mit teilen zu können, daß die Verhandlungen, die die Regierung seit Wochen mit dem größten Nach druck führt, jetzt endlich den gewünschten Erfolg gezeitigt haben. Die Interalliierte Kommission ist bereit, einen Waffenstillstand zwischen den kämpfenden Parteien herbeizuführen." „Ach nee", entfährt es Bergerhoff, „und die In surgenten werden dann sicher so freundlich sein, ihre Waffen unter den Arm zu nehmen und nach Hause zu gehen." „Ich bitte, mich nicht durch derart höhnische Redensarten zu unterbrechen", verwahrt sich der Kommissar und wendet sich an den General. „Die Freikorpsführer scheinen hier ein ziemlich unbe kümmertes Leben zu führen." Der General lächelt bärbeißig. 186
Der aalglatte Kommissar aus Berlin ist ihm im Grunde seines Soldatenherzens ehrlich verhaßt. „Sie wissen, daß ich die absolute Befehlsgewalt nur über den Selbstschutz habe, Herr Kommissar. Freikorps sind eben Freikorps, die parieren nun mal nicht aufs Wort." Der Kommissar schluckt auch diese Pille. „Der geplante Waffenstillstand kann natürlich nur auf der bisher erreichten und damit gegebenen Basis stattfinden, das heißt, daß beide Parteien ihre Stellungen behalten und zwischen ihnen eine neutrale Zone geschaffen wird." „Das heißt, daß wir den Einbruch und die bis herigen Erfolge der Insurgenten letzten Endes für Recht erklären müssen", stellt Maßmann sachlich fest. „Mit Einbrechern verhandelt man nicht, die schießt man nieder, wenn man nicht selber über den Haufen geschossen werden will", donnert Eicken los. „Glauben Sie, wir sind als Konkursverwalter hierhergekommen?" höhnt der Oberländer. Der Gogoliner macht eine verächtliche Hand bewegung. „In Berlin scheinen sie ja in einen geradezu goldigen Optimismus verfallen zu sein." Der Kommissar räuspert sich ärgerlich. „Ich mute Ihnen nicht zu, die gesamtpolitische Lage beurteilen zu können, meine Herren, sie ist zu kompliziert." „Was Sie nicht sagen", lächelt der Oberländer, „für uns hier unten ist die Lage sonnenklar." 187
Der Kommissar hebt die Stimme. ,,Ich lehne eine Diskussion über Dinge und Vorgänge, deren Ausmaße Sie einfach nicht über sehen können, ab. In drei Tagen werden die Eng länder ihre Truppen zwischen die bisherigen Stellungen schieben, und dann werden Sie weitere Weisungen aus Berlin abzuwarten haben." Bergerhoff tritt auf den Kommissar zu und packt ihn am Knopf seines Cutaways. „Bestellen Sie Ihrer hochgeschätzen Regierung in Berlin, sie könne u n s . . . . Wir würden uns er lauben, ihr in absehbarer Zeit unsere Weisungen zukommen zu lassen!" Der Kommissar reißt sich mit einem Ruck los. „Herr General, ich bitte um Ihren Schutz." Der General wirft seinem Stabschef einen Blick zu. „Sie werden mich entschuldigen müssen, Herr Kommissar, dringende dienstliche Geschäfte . . . ." Damit geht er, begleitet vom Stabschef, zur Tür. Der Kommissar ist fassungslos. „Sie wollen mich doch nicht diesen Freikorps führern ausliefern, Herr General?" Der wendet sich noch einmal um. „Was Sie den Herren zu sagen haben, geht mich nichts an, Herr Kommissar. In einer guten Stunde bin ich zurück und stehe dann zu Ihrer Verfügung." Kaum ist die Tür hinter den beiden Männern zugeschlagen, stößt Bergerhoff den Gogoliner an. „Sehr anständig von dem Alten!" Der Kommissar geht, verfolgt von den Blicken der Freikorpsführer, aufgeregt im Zimmer hin und her. 188
„Sie müssen meine Lage verstehen. Glauben Sie mir, daß es mir nicht leicht fällt, als Gegner vor Ihnen zu stehen." „Dazu zwingt Sie kein Mensch", meint Eicken. Die Stimme des Kommissars bekommt fast etwas Flehendes. „Nehmen Sie doch Vernuft an, meine Herren! Es ist besser, Deutschland verliert für eine ge wisse Zeit ein paar Quadratkilometer, als daß kriegerische Verwickelungen noch viel größere Schädigungen herbeiführen. Die Regierung hat die größte Achtung vor Ihrem Mut und Ihrer Be reitschaft, ersucht Sie jedoch, ihrem größeren po litischen Weitblick zu vertrauen." „Gerade das wollen wir peinlichst vermeiden", unterbricht der Oberländer. Der Kommissar gibt sich einen Ruck. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich die Vollmachten habe, mit Ihnen, meine Herren, güt lich zu verhandeln. Sollten Sie grundsätzliche Schwierigkeiten machen, so habe ich für diesen Fall den Befehl für die Auflösung Ihrer Freikorps mitgebracht." Der Oberländer schlägt sich lachend aufs Knie. „Großartig haben Sie das gesagt, Herr Kom missar, ganz großartig." „Sie scheinen zu vergessen, daß ich das Recht habe, mit allen Mitteln gegen Sie vorzugehen." „Daß Sie das Recht dazu haben, wird Ihnen nie mand von uns bestreiten", stellt Maßmann lächelnd fest, „eine andere Frage ist nur, woher Sie die Macht für Ihr Recht hernehmen wollen." 189
„Sie wollen es wagen, gegen einen Befehl der Regierung zu meutern?" fragt der Kommissar scharf. „Wissen Sie, daß Sie alle hier damit zu Hochverrätern werden?" „Über diesen Begriff kann man streiten", sagt seelenruhig der Oberländer, „aber immerhin ist es besser, ein Hochverräter zu scheinen, als ein Landesverräter zu sein. Und Landesverräter sind für uns alle, die in Stunden der Gefahr verhandeln, anstatt zu handeln." Die Freikorpsführer geben durch Zurufe zu er kennen, daß sie völlig dieser Meinung sind und keine Lust verspüren, weiter zu diskutieren. Der Kommissar sieht ein, daß es zwecklos ist, sich den Angriffen dieser Männer auszusetzen. „Ich habe mich davon überzeugt, daß Sie unbe lehrbar sind und befehle hiermit im Namen der Regierung die sofortige Auflösung Ihrer Korps. Ich beauftrage Sie, die umgehende Zurückführung Ihrer Soldaten in die Heimat vorzunehmen. Für den Fall, daß Sie der Regierung durch pünktliche Ausführung der Befehle Ihren guten Willen zeigen, kann ich Ihnen, allerdings noch unver bindlich, eine Amnestie in Aussicht stellen." Bergerhoff macht Miene, sich auf den Kom missar zu stürzen und ihm die Faust zwischen die Augen zu pflanzen. Maßmann hält ihn zurück. „Ich glaube nicht, Herr Kommissar, daß Sie selber davon überzeugt sind, der Befehl Ihrer Regierung mache irgendwelchen Eindruck auf uns. Darum wird es Sie auch wenig erschüttern, 190
wenn wir Ihnen jetzt mitteilen, daß wir in diesen Tagen zu stürmen gedenken. Die Verhältnisse an der Front, über die ich mich Ihnen gegenüber nicht auszulassen gedenke, zwingen uns dazu." Der Kommissar schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Das ist zuviel! Noch heute werde ich die Eng länder bitten, ihre Soldaten marschieren zu lassen." „Das werden Sie nicht können!" Der Kommissar stutzt. „Wie meinen Sie das?" Maßmanns Stimme ist so ruhig, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Weil Sie mein Gefangener sind, Herr Kommissar!" Der taumelt zurück. „Dazu haben Sie kein Recht!" „Aber die Macht!" Auf einen Wink Maßmanns verlassen die Frei korpsführer den Raum. Der Kommissar steht am Fenster. Er ist wachs gelb im Gesicht. „Das wird Sie ins Zuchthaus bringen!" Maßmann lacht geringschätzig. „Die Schildbürger hängen keinen, sie hätten ihn denn!" Die Beherrschung des Kommissars ist dahin. Seine Stimme überschlägt sich. „Rennt in euer Verderben, ihr Idioten. Wir haben schon dafür gesorgt, daß ihr keinen Schuß Munition bekommt. Vom Erdboden werdet ihr verschwinden! Was nicht von den Kugeln der Insurgenten getroffen wird, das werden wir an 191
der Absperrungsgrenze in Empfang nehmen, ver laßt euch darauf! Dann endlich wird Ruhe sein! Dann endlich wird die arme, unglückliche Bevöl kerung aufatmen können!" Maßmann spuckt vor ihm aus.
„Schwein!"
Dann stößt er ihn vom Fenster zurück.
Unten stehen Napoleon und Fuchsberger am
Auto. Napoleon hält eine entsicherte Handgranate in der Faust. „Soll ich 'raufkommen?" Maßmann winkt ab. Dann legt er dem Kommissar die Hand auf die Schulter. „Folgen Sie mir!" Als das Auto davonfährt, steht der General mit seinem Stabschef auf einem Balkon des Schlosses. „Hoffentlich bringen sie den Kerl dort nicht um." Der Stabschef wiegt gleichmütig den Kopf. „Verdient hätte er es ebenso wie die, die ihn geschickt haben!"
I
m Lager gibt es fast einen Aufstand, als das
Auto mit dem Gefangenen eintrifft. Besonders Heenemann zeigt eine nicht unge fährliche Lust, dem Kommissar den Kolben über den Schädel zu schlagen. „Mit dem Bürschchen habe ich eine alte Rech nung zu begleichen!" 192
Maßmann wirft ihm einen Blick zu, daß Heene mann den Kolben sinken läßt und beschämt zur Seite tritt. Napoleon hält sich vor Lachen die Seiten. Weiß Gott, der Kommissar bietet nicht gerade einen heldenhaften Anblick. Im Berlin konnte er so durchdringend blicken, hier kommen seine Augen nicht vom Boden los! In Berlin kannte seine Stimme alle Register, hier ist sie tonlos geworden! Konrad läßt sich von seinem Onkel Heenemann erklären, was es mit diesem Gefangenen auf sich hat, und will es kaum fassen, daß ein Deutscher kämpfenden Deutschen in den Rücken fallen will. Heenemann weist mit dem Daumen über seinen Rücken, dorthin, wo, noch immer von einer großen Gruppe umringt, der Kommissar steht. „Du kennst die Welt noch nicht, mein Junge. Obwohl viel Mannsvolk auf dieser Erde umher läuft, gibt es doch nur verflucht wenig Männer. Das Mannsvolk wirft sich jedem an den Hals, der gerade Möglichkeiten des sogenannten Vorwärts kommens bietet. Eine eigene Meinung hat das Mannsvolk nicht, es glaubt immer genau das, was der Brotgeber, der Vorgesetzte glaubt. Und wird der mal durch einen andern abgelöst, so glaubt das Mannsvolk sofort das, was der Nachfolger glaubt. Das nennt man dann schlicht „Rücksicht nahme auf die Existenz". Sieh dir mal den Kom missar an! Der Bursche ist vielleicht früher mal ein ganz leidlicher Kerl gewesen, da hat er dem Kaiser Wilhelm einen Eid geschworen und ihn 193
sicher treu und brav gehalten, bis Fritz Ebert kam. Und nun ist er ebenso treu und brav dem Fritz Ebert verschworen und tut ohne Rücksicht auf das, was vielleicht seine innere Stimme ihm noch zuruft, seine sogenannte Pflicht, die ihn heute hierhergeschickt hat, um uns aufzulösen. Wenn wir morgen am Ruder sein sollten, würde er treu und brav auf uns schwören und unsere Feinde bekämpfen und sich dabei bestimmt ganz pfiffig anstellen." Konrad schüttelt ungläubig den Kopf. „Was hat denn nur ein solcher Mensch davon, daß er so charakterlos sein kann?" „Ach", meint Heenemann abwägend, ,,es gibt nun einmal Leute, die die bequeme Neigung haben, immer hundertprozentig sicher gehen zu wollen und alle sich irgendwie unbequem auswirkenden sogenannten Fehler zu vermeiden. Dabei finden sie immer ihr Brot und zum Schluß sogar eine anständige Pension, wenn nicht noch vor Tores schluß irgendein fauler Staat, den sie durch ihr Kriechertum mitverschuldethaben, bankrott macht. Dann sind sie natürlich die Dummen. Vielleicht werden sie dann eines Tages sogar revolutionär und schreien nach einem neuen Staat, der ihnen ihr liebgewordenes pensionsberechtigtes Dasein ge währleistet. Sie sind nun einmal die treuen Stützen jedes Staates, der gut bei Kasse ist." Konrad schüttelt sich vor Ekel. „Lieber möchte ich wie ein Hund krepieren, als von einem Staat, den ich verabscheue, auch nur einen Pfennig annehmen." 194
Heenemann fährt ihm väterlich über die Haare. „Das versteht sich, Konrad. Dafür habe ich dich auch hierher mitgenommen, wo du Männer ge funden hast. Männer verkaufen sich nicht. Aber wenn es darauf ankommt, dann verschenken sie scheinbar sogar für völlig Gleichgültiges das ganze schöne Leben."
I
n Maßmanns Zimmer wird der Kommissar bei nahe zutraulich, als er merkt, daß ihm nichts Böses droht. Maßmann hat ihm einen kurzen Vortrag darüber gehalten, wie nach seiner und seiner Kameraden Ansicht die Lage in Oberschlesien ist und welche Maßnahmen getroffen werden müssen. „Ich sehe ein, daß Ihre Auffassung durchaus be rechtigt ist, Herr Leutnant. In Berlin macht man sich keine richtigen Vorstellungen über den Ernst des Augenblicks." Maßmann nickt. „Ich habe Sie nur deswegen festgehalten, damit Sie später in Berlin Gelegenheit haben, in diesem Sinne aufklärend zu wirken." Die Augen des Kommissars leuchten erwartungs voll. „Darf ich Ihre Worte so auffassen, daß ich nun mehr nach Berlin zurückkehren kann?" „Ich möchte Ihnen vorher noch Gelegenheit geben, sich an Ort und Stelle von dem Gesicht des bisherigen Kampfes zu überzeugen." Der Kommissar windet sich. 195
„Sie werden mich doch nicht ernsthaft nach vorn verschleppen wollen?" Maßmann ruft eine Ordonnanz. „Fuchsberger, Heenemann und Teuscher sollen mit dem Auto vorfahren!"
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ie Fahrt geht über Körnitz nach Krappitz und Gogolin. Die Straßen werden von Selbstschutzangehöri gen, die äußerst mangelhaft bewaffnet sind, be wacht. Nur jeder dritte, vierte Mann hat ein Ge wehr. Maschinengewehre gibt es nicht. Kein ein ziger trägt eine Uniform. Der Kommissar ist sichtlich verlegen. Maßmann macht ihn auf jedes kleine Hindernis aufmerksam, das deutsche Arbeiter und Bauern aus Wagen und Steinen, Brettern und Erdwällen an den Wegen errichtet haben. „Hier können Sie sehen, daß sich die deutsche Bevölkerung mit allen Mitteln zur Wehr setzt. Daß diese Mittel unzureichend sind, ist Schuld Ihrer Regierung, Herr Kommissar. Oder glauben Sie ernsthaft, daß diese gutgemeinten, aber harmlosen Vorkehrungen einem zielstrebigen Angriff der In surgenten Widerstand zu leisten vermögen?" Der Kommissar schüttelt schweigend den Kopf. „Dann werden Sie auch endlich verstehen war um die Freikorps in Oberschlesien nicht aufgelöst werden dürfen. Wer die Freikorps entwaffnet, bricht dem deutschen Widerstand das Rück grat." 196
„Ich will alles versuchen, sogar einige Waffen transporte freizubekommen, Herr Leutnant!" Maßmann sieht ihn vielsagend an. „Ihren guten Willen vorausgesetzt, jetzt können Sie die Schuld Ihrer Regierung nicht mehr gut machen." Der Gogoliner begrüßt das Auto mit freudigem Gebrüll. Den Kommissar allerdings würdigt er keines Blickes. „Ich möchte dem Herrn aus Berlin die Verstüm melten zeigen, die Sie am Bahnhof gefunden haben", sagt Maßmann und schüttelt dem Gogo liner herzhaft die Hand. „Gern! Die Engländer haben gestern eine Kom mission hierhergeschickt, die alles aufgenommen und für wahr befunden hat. Was die Engländer sagen, klingt den Herren in Berlin ja nun einmal wahrscheinlicher, als was wir Deutschen melden!" In einem Schuppen liegen elf deutsche Soldaten aufgebahrt. Selbst Maßmann erträgt den Anblick nicht, so grausig sehen die Verstümmelten aus. Dem einen fehlen die Augen, dem andern ist die Schädeldecke eingeschlagen, dem dritten ist der Leib von Bajonettstichen buchstäblich durchsiebt. Keiner ist darunter, von dem man sagen könnte, er habe seinen Tod durch eine ehrliche Kugel ge funden. „Gräßlich, gräßlich", stammelt der Kommissar. Der Gogoliner greift in seine Brieftasche und entnimmt ihr einige Bilder. 197
„Diese Aufnahmen haben die Engländer gemacht. Vielleicht interessiert sich Berlin dafür." „Danke", flüstert der Kommissar, „ich werde sie höheren Ortes vorlegen." Die Männer begeben sich dann zu den Stellungen, die offensichtlich in großer Eile an den Berghängen angelegt worden sind. Der Kommissar kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Hier gibt es ja Schützengräben, ganz wie im Krieg." Der Gogoliner lacht nur grimmig. Im nächsten Augenblick wirft sich der Kom missar zu Boden, weil eine Granate heulend ihren Weg zieht. „Stehen Sie ruhig auf", lacht Fuchsberger, „Ihnen tun die Insurgenten bestimmt nichts, die werden sich doch nicht an ihrem besten Freund vergreifen." Der Gogoliner hat ein Scherenfernrohr aufge stellt, durch das der Kommissar die Front der In surgenten beobachten darf. „Was sehen Sie im Vordergrund?" „Mehrere Schützengräben und Maschinenge wehrnester übereinander." „Die werden unsere Männer ohne einen Schuß Artillerievorbereitung übermorgen stürmen müs sen. Vielleicht klingen Ihnen dann die Ohren, Herr Kommissar! Was sehen Sie dort rechts?" Angestrengt sucht der Kommissar. „Es können feindliche Geschütze sein." 198
„Richtig! Vier Batterien sind dort aufgestellt, die werden die dünnen Sturmlinien unserer Männer zusammenschießen. Wenn Sie doch auch die Flüche der Sterbenden mit nach Berlin nehmen könnten, Herr Kommissar!" So geht es über eine halbe Stunde. Der Kommissar vermeint, noch nie eine solche seelische Folter erlebt zu haben. „Kann ich nicht irgend etwas für Sie tun?" „Wenn Sie nur die Wahrheit über das, was Sie hier gesehen haben, in Berlin berichten, so haben Sie genug für uns getan", sagt Maßmann hart. Die Rückfahrt führt über die Freikorpslager. Mit großem Eifer üben die Männer. Maßmann begnügt sich, wortlos den Kommissar auf die soldatischen Bilder der kleinen Trupps hin zuweisen. Die Schamröte ist dem unglückseligen Menschen ins Gesicht gestiegen.
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ie Besprechung der Freikorpsführer in Twar dawa dauert keine volle Stunde. Freikorps Oberland beansprucht die Ehre, in den frühen Nachmittagstunden des 20. Mai einen Erkundungsvorstoß in das Gelände um den Anna berg zu unternehmen, um damit die Grundlagen für den Angriff zu schaffen. Jeder der Männer ist sich über die Gefahr des Unternehmens klar. Es darf nicht mißlingen, denn sonst erleidet der deutsche Widerstandswillen eine für lange Zeit nicht wieder gutzumachende Schlappe. Eine Niederlage muß man schließlich auf sich nehmen, das wissen die Freikorpsführer. Niemals aber wird ein schon in der Grundlage mißlungenes Unternehmen verziehen! Darum ist es von unübersehbarer Bedeutung, daß der Erkundungsvorstoß der Oberländer ge lingt, damit die Ausgangsstellungen der Freikorps bestimmt werden können. Die Offiziere Oberlands haben leuchtende Augen bekommen. Sie werden die ersten am Feind sein! Die Vorbesprechungen der letzten beiden Tage haben den Angriffsplan im großen und ganzen festgelegt. Er wird noch einmal verlesen. 200
„Die Schwarze Garde greift gemeinsam mit den zur Angriffskolonne Chappuis vereinigten Bataillonen Bergerhoff, Lensch und Winkler den Feind südwestlich der Bahnlinie Gogolin— Kandrzin an. Das Bataillon Watzdorf bleibt in Reserve. Die Angriffskolonne Horadam mit dem Frei korps Oberland und dem Bataillon Heinz stößt nördlich und nordöstlich vor. Das Detachement Graf Strachwitz sichert die linke Flanke gegen den Groß-Steiner Forst und erweitert den Angriff auf Groß-Stein." Der Beginn des Sturmes ist auf den 21. Mai frühmorgens zwei Uhr und dreißig Minuten an gesetzt. Die Sturmkompanie von Eicken schließt sich dem Unternehmen an, obwohl gerade Eickens Männer vom ersten Tage des Insurgenteneinfalls an un unterbrochen in den Gräben liegen und bereits erheblich zusammengeschossen sind! Stolz nennen sie sich Bataillone, die sieben schwachen Abteilungen, die gegen den in allem so vielfach überlegenen Feind anrennen wollen. Sturmbataillone ohne die Waffen, über die im regulären Krieg schon eine Kompanie verfügt! Bergerhoff wendet sich an Maßmann. „Was wird nur Ihr famoser Kommissar in Berlin erzählen?" „Als ich ihn gestern abend entließ, überschlug er sich fast vor lauter gutem Willen. In der Bahn wird er sich allmählich wieder zum getreuen 201
Diener seines ungetreuen Staates zurückentwickelt haben." Der Gogoliner mischt sich grollend in das Ge spräch. ,„Ich hätte ihm wenigstens noch tüchtig die Jacke vollhauen lassen." ,,Jetzt haben wir andern Leuten die Jacke voll zuhauen", ruft der Oberländer herüber, „über lassen wir doch die moralischen Leichname ihrer charakterlichen Verwesung!" ,,Ganz meine Meinung", nickt Maßmann, „vor uns liegt der Annaberg, und alles, was hinter uns liegt, mag im Nebel versinken." Bergerhoff drückt ihm die Hand. „Auf Wiedersehen, Kameraden!" Zu jedem geht Maßmann, jedem sieht er in die Augen, jedem preßt er die Rechte. „Es lebe die Freiheit und unser Rebellentum!"
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er Marschbefehl löst im Lager hellen Jubel aus. Konrad hat Tränen in den Augen. „Gott sei Dank, daß wir nicht zu spät kommen!" Heenemann schlägt ihm wohlwollend auf die Schulter. „Na, mein Junge, wenn erst die Kugeln pfeifen, wirst du nicht mehr jubeln. Soldat wirst du erst, wenn du die Angst überwunden hast." Konrad wendet sich beleidigt ab. „Hältst du mich für einen Feigling?" „Kücken", sagt Heenemann nur. 202
Lemke, Teuscher und Napoleon melden ihre Kompanien. Die Tage des altpreußischen Drills haben Wunder gewirkt. Die Griffe klappen wie auf dem Kasernenhof eines Garderegiments. Schnurgerade liegen die Gewehre auf den Schultern. Keine Muskel regt sich im Gesicht der Männer. Nur die schwarze Totenkopffahne flattert schwer fällig in dem geringen Wind. Eisern umklammern die Fäuste Fuchsbergers den schweren Eichenschaft. Maßmann grüßt kurz, dankt für die Meldung und gibt nach einem stolzen Blick auf seine Sol daten das Kommando zum Abmarsch. Im wuchtigen Takt schlagen die Nagelstiefel auf das holprige Pflaster. Maßmann marschiert an der Spitze seines Frei korps. Ihm folgt in drei Meter Abstand Fuchsberger mit der Fahne. Nach weiteren fünf Metern mar schiert Lemke, der Führer der ersten Kompanie. Die Sonne brennt unbarmherzig heiß vom Him mel, und in dichten, undurchdringlichen Wolken steigt der weiße, beißende Staub von der Straße auf und legt sich wie ein Schleier auf Helme, Ge wehre und Uniformen. Martin Harke beginnt zu singen. Seine helle Stimme flattert über das Korps und zwingt die Männer, mit einzustimmen. Sie singen das Lied, das sie aus dem Baltikum mitgebracht haben, das Lied, das einer feigen Um 203
welt den stolzen Trotz des Soldatentums ins Ge sicht schleudert. Ein Freikorps zog ins Baltikum,
Achthundert deutsche Soldaten.
So mancher wurde bleich und stumm,
Die Heimat hat ihn verraten.
In Riga floß viel deutsches Blut,
Die Düna färbte sich tiefrot.
Der alte deutsche Kämpfermut
Brach über Nacht des Landes Not.
Die Fahne flattert hoch im Wind,
Zerschossen im Baltenlande.
Und alle, die gefallen sind,
Die fühlen nicht mehr die Schande.
Die Als Hat Als
Heimat hat sich von uns gewandt,
wir die Wunden ertrugen,
unsres Kampfes Sinn verkannt,
wir unsre Schlachten schlugen.
Wir zogen in den Kampf hinaus
Und wollten einst Könige sein.
Als Bettler kehren wir nach Haus.
Doch unsre Fahne, die blieb rein.
Die Mädchen in den Dörfern laufen an die Straße und winken den sonnengebräunten straffen Män nern zu, die unbekümmert singend in die Gefahr marschieren. 204
Der einen und der anderen kommen Tränen in die Augen. Sie denken wohl an den Liebsten, der seit Wochen bei Gogolin oder Krappitz im Feuer liegt. Hier und dort wird ein Fenster wütend zuge schlagen, wenn die Soldaten kommen. Sicher wohnt in diesen Häusern ein Spitzel, ein fanatischer Katho lik, der im Schutze seines priesterlichen Gewandes deutschfeindliche Propaganda treibt. Maßmann läßt das Freikorps am Nachmittag oberhalb von Körnitz ruhen. Die Männer sind ausgelassen, wie Schulbuben am ersten Ferientag. Das Wasser der Hotzenplotz ist dunkelgrün und durchsichtig bis zum Grunde. Und immer tiefer wird der kleine Fluß, bis er in die Oder mündet. Im Bogen werden die staubigen Uniformen ab geworfen, und schon tummeln sich die ersten in den Fluten. Wohlig dehnt und reckt sich Konrad in dem tiefen Gras der Wiese, die der Bauer wohl aus Furcht vor den Kugeln, die sich zuweilen hierher verirren, nicht gemäht hat. Libellen und Schmetterlinge schwirren umher, und die Sonne zaubert unter den sich im Winde wiegenden Grashalmen zitternde Schattenspiele. Die bläulichen Wolken wandern in eine un bekannte Ferne, und unter ihnen bleibt Heimat und Feindesland. Konrad denkt an seine Jungenträume, die er — wie lange ist es eigentlich her? — in die wan dernden Wolken geschickt hat. 205
Weltumsegler hat er werden wollen, Entdecker unbekannter Zonen, Abenteuer in allen Erd teilen. Die Jungenträume sind verflogen, denkt er, und diese Wirklichkeit, Soldat zu sein, ist schöner, als ein Traum nur sein kann. Versonnen kaut er die Feuchtigkeit aus einem langen Grashalm. Wie es wohl sein mag, wenn die Granaten auf schlagen? Und ob es wohl sehr schmerzt, wenn eine Kugel trifft? Die Kameraden, die im Krieg waren, sagen, es sei gar nicht so schlimm, nur brennen solle es. Er schreckt hoch. Ein nasser Erdklumpen ist ihm auf die Brust gefallen. Heenemann lacht. „Angsthase!" Ärgerlich steht Konrad auf. Er verspürt Hunger. Mit langen Schritten stakt er über die Wiese auf ein Bauernhaus zu. Der Hof ist wie ausgestorben. Sicher ist der Bauer auf dem Feld. Merkwürdig, daß keine Hühner auf dem Hof sind. Ob der Bauer sie wohl eingesperrt hat? Vielleicht befürchtet er, sie könnten die Soldaten begehrlich machen. Ein alter Kettenhund blinzelt träge aus seiner Hütte. Konrad ruft. Endlich steckt ein junges Mädchen den Kopf aus der Stalltür. Ein hübsches Mädel, denkt Konrad und ruft ihr einen Gruß hinüber. 206
Das Mädchen lächelt und kommt näher. Was er wolle? Die Kleine mag siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein. Das bunte Kopftuch hebt ihr frisches Ge sicht noch mehr hervor. Der kurze Rock läßt zierliche Waden frei. Wirklich, ein hübsches Mädel, geht es Konrad wieder durch den Sinn. „He, du! Woran denkst du denn?" Konrad fällt es auf, daß die Sprache des Mäd chens hart ist. „Kann ich etwas zu essen bekommen?" Das Mädchen denkt nach und nickt. „Ein Stück Brot und eine Tasse Milch kann ich dir geben. Mehr nicht. Meine Eltern sind heute morgen nach Oberglogau gefahren, und ich weiß nicht, ob es ihnen recht ist, wenn ich dir mehr gebe." Konrad folgt dem Mädchen in die Küche. Wie anheimelnd reinlich ist es hier. Weiß Gott, er ist schon lange in keiner Küche gewesen! Umständlich nimmt er den Stahlhelm ab und legt ihn auf den Tisch. Eine dicke Scheibe schneidet das Mädchen von dem schwarzen Bauernbrot und legt ein Stück Speck darauf. „Laß es dir gut schmecken!" Kühl und erfrischend ist die Milch. Zwei große Tassen trinkt Konrad. Das Mädchen hat sich neben ihn auf die Bank gesetzt und freut sich, wie gut es dem jungen Sol daten schmeckt. 207
,,Werdet ihr angreifen?"
Konrad nickt stolz.
„Und hast du keine Angst?"
Konrad schüttelt geringschätzig den Kopf.
„Vor den Insurgenten? Nein!"
Das Mädchen seufzt leise.
„Die sind grausam. Meine beiden Brüder sind
in Gogolin. Vor vierzehn Tagen haben sie einen Bauernsohn aus der Nachbarschaft zur Beerdigung nach Hause gebracht." „Wir werden die Insurgenten über die Grenze werfen", sagt Konrad mit Nachdruck. Das Mädchen mustert ihn eindringlich. „Du bist ja noch so jung, und deine Hände sind noch ganz glatt. Du hast wohl noch nie ge arbeitet?" Zögernd und etwas unwillig läßt sich Konrad ausfragen und berichtet von dem, was noch vor kurzem der Inhalt seines Lebens war. Von den Eltern, von der Schule, von den Freunden. „Hast du schon eine Braut?"
Konrad lacht. „Das hat noch Zeit!"
Dann steht er auf. „Was kostet die Milch und
das Brot?" Das Mädchen tut beleidigt. Konrad streckt ihr die Hand hin. „Vielen Dank! Und auf Wiedersehen!" Da schlingt das Mädchen plötzlich die Arme um seinen Hals und küßt den Jungen auf den Mund. „Komm wieder!" Konrad ist betroffen. Schweigend nimmt er seinen Stahlhelm und geht. 208
Das Mädchen folgt ihm und bricht von einem Fliederbaum an der Hauswand einen knospenden Zweig. „Ja, komm wieder!" Den Zweig steckt er hastig hinter sein Koppel und geht, ohne sich noch einmal umzusehen, zu den Kameraden.
G
egen Abend marschiert das Freikorps in Pietna ein. Das ganze Dorf ist versammelt und begrüßt die Soldaten, die in der Nähe einer alten Scheune die Gewehre zusammensetzen. Burschen und Mädchen schleppen Erfrischungen herbei, Bier und Milch, Brot und Wurst. Maßmann hat Befehl gegeben, daß die Gewehre nicht verlassen werden dürfen. Von der Front ist unaufhörlich Maschinen gewehrfeuer zu hören. Zwischendurch tönt der dumpfe Knall der einschlagenden Granaten und Minen. Der Erkundungsvorstoß der Oberländer sei voll gelungen, wird durchgegeben. Auf zwei Gewehrpyramiden hat Fuchsberger die entrollte schwarze Fahne gelegt, so daß das Tuch eben die Erde berührt. Keinen Schritt weicht er, keinen Blick läßt er von seiner Fahne. Lemke hat noch einmal Post verteilen lassen. Viel ist nicht durchgekommen. 209
Darum ist Heenemann besonders glücklich, daß ein Brief von Marjellchen dabei ist. Ein ganz neues Bild von Ulrich ist darin. Wie groß der Junge doch schon geworden ist! Heenemann kann sich nicht satt sehen. Was der Junge für große Augen hat! Und auf der Rückseite steht ein Wort, das Marjell chen mit verstellter Kinderhandschrift geschrie ben hat: „Meinem lieben Vati!" Wer gerade in der Nähe ist, muß das Bild an sehen und begutachten, Martin Harke, Teuscher, Lemke, Napoleon. Alle sind des Lobes voll. Zum Schluß ist das Bild von den derben Kriegerhänden ganz verschmiert. Andächtig reibt es Heenemann mit seinem Taschentuch ab und steckt es vor sichtig in seine Brusttasche. Gerade über dem Herzen. Maßmann geht durch die Reihen der Männer. „Schreibt vor dem Gefecht noch einmal nach Hause. Und für alle Fälle steckt euch einen Zettel in die Tasche, auf dem eure Heimatadresse steht!" Napoleon läßt von der Dorf jugend einen großen Holzstoß zusammentragen und entzündet ihn. Schweigend schreiben die Männer der Schwarzen Garde ihre Abschiedsgrüße in die Heimat. Nachdenklich füllen sie den Zettel für die Tasche aus. Konrad hat sich von einem Jungen eine Post karte holen lassen. Die übliche Ansicht ist darauf. Über der Kirche steht in Braundruck: „Gruß aus Pietna (Oberschlesien)." Konrad weiß nicht recht, was er schreiben soll. Endlich nimmt er den Bleistift. 210
„Liebe Mutter! In einigen Stunden beginnt der Sturm auf den Annaberg. Ich bin glücklich, dabei sein zu dürfen. Auf Wiedersehen! Dein Konrad!" Als er die Marke aufklebt, betrachtet er ein gehend die Aufschrift: Haute Silésie. Richtig! Oberschlesien ist ja gewissermaßen Ausland! Sicher wird diese Briefmarke einmal den Wert bekommen, den heute schon die Kriegs marken haben; die aus Ober-Ost zum Beispiel. Ein Mädchen wirft die Karte auf seine Bitte in den Briefkasten. Wenn ich erst wieder zu Hause bin, denkt Kon rad, werde ich mir von Mutter alle Briefmarken aus Oberschlesien wiedergeben lassen. Napoleon sorgt dafür, daß das Feuer immer wieder neue Nahrung erhält. Fast haushoch schlägt jetzt die Flamme. Die ersten Sterne leuchten vom Himmel. Noch immer halten die Pietnaer bei den Sol daten aus. Teuscher hat seine Ziehharmonika hervorgeholt und spielt alle Lieder von Scheiden und Sehnsucht, die er nur kennt. Und jeder, der sich aufs Musi zieren versteht, holt sein Instrument aus der Tasche, ob es nun eine Okarina, eine Mundhar monika oder auch nur ein Taschenkamm ist. „Köln am Rhein, du schönes Städtchen" singen sie, und „Wer das Scheiden hat erfunden", und wie diese einfachen Lieder, die solange gesungen 211
werden, solange überhaupt Männer in die Schlacht ziehen werden, alle heißen mögen. Konrad hat die Augen geschlossen, um die Schönheit dieser Stimmung ganz in sich aufnehmen zu können. Sein Herz wird weit: das also ist der Abend vor der Schlacht! Singend denken die Soldaten an die Schwere der Entscheidung, und wo sie mit keinem Wort von ihrer Bereitschaft sprechen, da kleiden sie ihre Sehnsüchte zur Tat in ein unscheinbares Lied! Felix Teuscher beginnt ein neues Lied. Zuerst spielt er leise, feierliche Akkorde. Dann wird die Melodie vernehmbar. Ohne Zuruf sind die Soldaten aufgestanden, und die Männer und Burschen des Dorfes ziehen die Mützen. Dann klingt es in die tiefe Dämmerung: „Morgenrot, Morgenrot, Leuchtest mir zum frühen Tod. Bald wird die Trompete blasen, Dann muß ich mein Leben lassen, Ich und mancher Kamerad!" Keiner wundert sich darüber, daß die Frauen und Mädchen die Schürzen vor das Gesicht ge schlagen haben. Nach dem Lied stocken die Gespräche. Die Ge danken der Männer kreisen über Fernem, Unge wissem. Napoleon starrt in das kleiner werdende Feuer und hindert es nicht am Ausbrennen. 212
In das Schweigen hinein tönt plötzlich das Kom mando Lemkes. Die Soldaten greifen zu den Waffen, und in wenigen Minuten steht das Freikorps marsch bereit. In aller Eile haben die Frauen aus dem Dorf Zweige und Blumen gebracht. Mit gezogenen Mützen stehen die Männer und Burschen, bis die Kolonnen von der Dunkelheit aufgenommen sind. Maßmann hat Befehl gegeben, daß jedes un nötige Geräusch vermieden wird, darum marschie ren die Männer schweigend. Ungefähr einen Kilometer hinter Pietna warten unzählige Wagen, die im letzten Augenblick un auffällig requiriert worden sind. Den Fuhrleuten ist erklärt worden, daß sie beim ersten Versuch, durch Schreien die Aufmerksamkeit des Feindes zu erregen, erschossen würden. Sie sind aber fast alle im Herzen gute Deutsche und denken an keinen Verrat. Die Hufeisen der Pferde mußten abgerissen werden. Längst sind auch die Zigaretten gelöscht. So fahren die Kolonnen wie ein Spuk durch die Nacht. Lautlos und unheimlich. Kaum, daß ein Gewehrlauf am Stahlhelm scheppert. Selten, daß ein Pferd strauchelt oder wiehert. Kein Schuß fällt von Feindesseite. Unbehelligt wird das Freikorps vor den Toren von Krappitz ausgeladen. Die Uhr schlägt Mitter nacht, als die Kolonnen im offenen Viereck auf dem Marktplatz der Stadt angetreten sind. 213
Jetzt tritt auch der volle Mond aus der Ver borgenheit seiner Wolkenhülle und wirft sein mattgelbes Licht über den Stahl der Helme und Gewehre. Auf einem erhöhten Platz steht Maßmann. Neben ihm rauscht im Nachtwind das Tuch der Fahne. In schweigender Erwartung stehen die Männer, die Gewehre fest an den Leib gepreßt. Maßmann hebt das Haupt. Klar und hart ist seine Stimme. Keines seiner Worte geht verloren. „Kameraden! Wir stehen vor dem Sturm. In zwei Stunden werden wir den Beweis dafür anzu treten haben, daß der Lebenswillen der deutschen Nation stärker ist als die Wut der bis heute trium phierenden Feinde. In zwei Stunden werden wir das Schicksal herausfordern und es fragen, ob Deutschlands Ehre auferstehen oder in ewige Nacht versinken soll. Wir sind die ersten unseres Volkes, die zu sich selbst zurückgefunden haben. Denkt daran, wenn wir die Siegeszeichen auf den Annaberg pflanzen. Denkt daran, wenn uns das feindliche Eisen zerreißen sollte. So, wie wir un sere kühne Tat mit dem Sieg zu krönen gedenken, so wollen wir notfalls auch bereit sein, für die Idee unseres Freiheitskampfes unser Leben zu lassen und Beispiel für die zu sein, die nach uns für die Freiheit kämpfen werden. Ich brauche nicht an euren Mut zu appellieren. Ihr kamt freiwillig zu den Waffen, damit habt ihr euren Mut bereits be wiesen. Ich appelliere aber jetzt an eure Tollkühn 214
heit, an eure Rebellengesinnung, daß ihr auch da noch eure Leben für einen Sieg einsetzt, wo beson nene Klügler und wissende Rechner ihr kaltes ,Unmöglich!' sagen. Wachst über die Norm der Tapferen hinaus in die einmalige Höhe der großen Einsamen der deutschen Nation! Das ist kein Be fehl mehr! Das ist die Botschaft einer neuen Welt, die mit eurem Sieg beginnt oder die mit unser aller Untergang als Sehnsuchtstraum der Kom menden zu den Sternen steigt! — Das Freikorps rückt in die Ausgangsstellung!"
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chweigend marschieren die Männer in die Stel lung und nehmen Munition in Empfang. Auf zwei Mann wird ein Verbandpäckchen ver teilt. Konrad bekommt, wie alle Männer seines Stoß trupps, vier scharfe Handgranaten, die er — je zwei — rechts und links ans Koppel hängt. Der volle Patronengurt zieht den Nacken nieder, so daß Konrad sich immer wieder einen Ruck geben muß. Die Handgranaten ziehen das Koppel herunter und schlagen gegen die Knie. Er weiß kaum, wie lange er so marschieren mußte. Er weiß nur, daß er sehr müde ist und daß der Nebel seine Uniform durchfeuchtet und sich lähmend auf die Gelenke legt. Ein paar Mal strauchelt er und wird von den Kameraden im letzten Augenblick ge stützt. Die Ausgangsstellung des Stoßtrupps ist ein tiefer Chausseegraben am Rande eines kleinen 215
Dorfes. Man kann kaum zwanzig, dreißig Meter durch den Morgennebel sehen. Die Sterne sind im Verbleichen, und der Himmel hat eine kalte, dunkelgraue Färbung angenommen. Konrad liegt im Graben und späht in den Nebel. Dort drüben also, jenseits des spärlichen Rog genfeldes, dessen Halme noch nicht dreißig Zenti meter hoch sind, lauert der Tod? Noch immer rührt sich der Feind nicht. Das Schweigen lastet schwer auf den fiebernden Nerven der Männer. Wenn doch nur bald der erste Schuß fiele! Die Stille ist unheimlich. Selbst die Hunde in den Nachbardörfern schweigen in dieser Nacht.
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egen zwei Uhr fünfzehn Minuten am Morgen des einundzwanzigsten Mai haben die letzten Sturmtruppen, unbemerkt vom Feinde, ihre Stel lungen bezogen. Planvoll und reibungslos ist das vor sich gegangen. Auf die Linie Krempa—Jeschona ist der rechte Flügel der Angriffskolonnen angesetzt. Die Kolonne Chappuis mit ihren Freikorps ist bereit! Befehlsgemäß liegt das Bataillon von Watz dorf bei Ottrmuth in Reserve. Die Angriffskolonne Horadam hat wesentliche technische Schwierigkeiten beim Marsch in die Ausgangsstellungen zu überwinden. Mit einer verbissenen Wut haben die Ober länder sich den schwierigsten Teil der Aufgabe gesichert. Horadam ist sich völlig klar darüber, daß seine Kolonne gleichsam in einen gewaltigen Hohlweg hineinstoßen muß, dessen Hänge links und rechts mit allen schweren und leichteren Vernichtungs waffen gespickt sind. Er weiß, daß jede längere Stockung in dem geplanten Sturmlauf zur völligen Aufreibung der Korps führen muß. Darum ist er hoch erfreut, daß die tapferen Eicken-Leute aus 217
dem Bataillon Gogolin ihre Verteidigungsstellung verlassen und schlechtweg nach vorn desertieren. Im Osten Gogolins liegt, das Gewehr in der Hand, das erste Bataillon Oberland unter Lulu Östereicher, der sich vor Ungeduld kaum halten kann. Ihm ist die Aufgabe zuteil geworden, gegen die Linie Strebinow—Groß-Strehlitz anzustürmen. Er weiß, daß gerade diese Aufgabe unerhört groß und schwierig ist. Um so glücklicher ist er, daß man sie gerade ihm, dem Draufgänger, anvertraut hat. Wenn nur seine Leute etwas besser bewaffnet wären, denkt er, einzelne Kompanien sehen aus wie Naturschwärmervereine. An Stelle von Ge wehren sieht man hier und dort eichene Wander stöcke. Ein besonders stämmiger Tiroler schwingt eine Keule von einem Umfang, dessen sich ein Herakles nicht zu schämen gebraucht hätte. Das zweite Bataillon Oberland liegt unter Füh rung des Hauptmanns Ritter von Finsterlin hinter dem ersten Bataillon. Es hat Befehl erhalten, nach dem Vorstoß Östereichers die zweite Angriffswelle vorzutragen. An der Nordseite Gogolins in Richtung auf die Kalkberge liegt das dritte Bataillon Oberland unter Major Siebringhaus. Hier wartet auch die Sturm abteilung auf den Angriffsbefehl. Den rechten Anschluß nach Süden hat das Frei korps Schwarze Schar, dem sich die Schwarze Garde anschließt.
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m zwei Uhr neunundzwanzig Minuten steht Maßmann mit der Leuchtuhr in der Hand im Graben beim Stoßtrupp. Konrad spürt, wie sein Herz in großen Sprüngen schlägt. Seine Augen hängen am Munde des Leutnants. Noch fünf Sekunden! Dann kommt das erlösende Kommando. „Sprung auf, marsch, marsch!" Aus fünfzig Kehlen tönt ein fast krähendes Hurra, das in der nächsten Sekunde von dem über höhten Maschinengewehrfeuer der ersten großen Angriffswelle übertönt wird. Einen Augenblick scheint der Feind vor Über raschung sprachlos zu sein, dann aber fegen die Garben seiner schweren Maschinengewehre über das flache Feld. Martin Harke hat seinen Stoßtrupp gut in der Hand. Wie die Schlangen winden sich die Männer durch das Feld bis zur nächsten Bodenwelle. Endlich verteilt sich der Nebel etwas, so daß man wenigstens das Mündungsfeuer der feind lichen Maschinengewehre sehen kann. Harke stellt fest, daß der Feind seine Maschinen gewehrnester sehr geschickt in den kleinen Hügeln über dem Feld eingebaut hat. Mit dem Glas sucht er die Hügel ab. Fünfzehn Nester zählt er. Jetzt kann er auch die Gräben entdecken, die sich ungefähr fünfzig Meter unter halb der Nester entlangziehen. Verflucht! denkt er, nur ein Geschütz jetzt! 219
Lemke hat inzwischen seine erste Kompanie an den Graben geführt und läßt sie ausschwärmen. Fuchsberger schwingt die Fahne. Aufrecht läuft er über das Feld und brüllt sein wütendes Hurra. Maßmann eilt zur zweiten Kompanie, um Teuscher die Hügelkette umgehen zu lassen. Von Gogolin tönt ein rasendes Geknatter her über. Die Oberländer scheinen ebenfalls auf er heblichen Widerstand zu stoßen. Jetzt erwachen auch die feindlichen Batterien. Zehn Meter vor der Bodenwelle schlägt die erste Lage ein. Konrad muß spucken. Er hat den Mund voller Sand. Ein Granatsplitter surrt messerscharf an seinem Stahlhelm vorbei. Un willkürlich duckt er seinen Kopf tief in die Halme hinein. Harke hat ihn beobachtet und lacht. „Laß man, Konrad, wenn es pfeift und surrt, ist es schon vorbei. Gefährlich sind nur die Dinger, die man nicht hört." Konrad schämt sich und gesteht sich, daß er eine namenlose Angst hat. Wie war es noch gestern abend am Lagerfeuer? Da schien es noch so leicht und selbstverständlich zu sein, ins Feuer zu gehen. Und wo waren nun die schönen Vorsätze? Was war denn nun noch übrig vom Heldentum? Er schlägt die Zähne in die Lippen, daß es warm über das Kinn rinnt. Es soll wenigstens keiner merken, daß ich so erbärm lich feige geworden bin, denkt er. Dann sieht er, wie Harke ein leichtes Maschinen gewehr vorsichtig und kaltblütig in Stellung bringt. 220
Jetzt liegt das MG. richtig, und schon bellt es los. Konrad sieht, wie der Feuerstrahl aus dem Lauf schießt und wie die Garbe drüben in ein Nest fegt. Im Rücken hört er die Stimme Lemkes. Die erste Kompanie ist also schon nahe. Die Maschinengewehre des Feindes schießen nicht mehr so hoch wie anfangs. Sie haben jetzt ihr Ziel gefaßt. Immer häufiger klatschen jetzt die Kugeln dicht vor Konrad in den Sand. Er kneift die Augen zu. Wenn es nun trifft? Ob es wirklich nur brennt? Da, endlich — Harke trillert auf der Pfeife. Das erlöst! Es geht weiter vor. Keinen Schuß hat der Stoßtrupp bisher ab gegeben. Harke will, daß erst im letzten Augen blick geschossen wird. So schnell es geht, kriechen die Männer vor wärts. Konrad spürt kaum, daß Disteln sein Gesicht zerkratzen. Er empfindet nur, daß beim Vorgehen die Angst verschwindet. Die ersten Schreie Verwundeter treffen sein Ohr. Nun finden die feindlichen Kugeln ihr Ziel. Er sieht, wie rechts und links neben ihm Kame raden sich plötzlich am Boden wälzen. Harke hat verboten, daß Zeit aufs Verbinden verschwendet wird. Das mögen die zum Sanitätsdienst Kommandier ten tun, die hinter der ersten Sturmwelle gehen. Der Stoßtrupp muß seine ganze Kraft auf das Ziel ausrichten. 221
Konrad zittert plötzlich. Sein Nebenmann hat einen Schuß ins Kinn bekommen. Fürchterlich ver unstaltet sieht der Kopf aus. Und nun dreht sich der Mann auch noch zu ihm um und lallt irgend etwas, was er nicht versteht. Wieder kommt eine Bodenwelle. Einen Augen blick Atempause. Jetzt sind sie ungefähr noch hundert Meter vor den feindlichen Gräben. Zum Glück liegt das Gewehrfeuer meist zu hoch. Arme erste und zweite Sturmwelle, die das Feuer auffangen müssen. Ein Kamerad schreit auf und zeigt seine Hand. Die Handfläche ist völlig zerrissen. Harke wird blaß vor Wut. „Die Burschen drüben schießen mit Explosivgeschossen." Dann nimmt er das leichte Maschinengewehr und läßt die Garben auf den Feind prasseln, bis der Lauf glühend wird. Der Befehl zum Schießen kommt. Kaum hat Konrad den ersten Schuß abgegeben, da ist er auch schon ruhig geworden. Wie beim Scharfschießen im Lager. Langsam durchziehen! Feinkorn nehmen! Vorsichtig den Rahmen mit den Patronen einführen! Zwanzig Schuß verschießt er. Die hellen Uni formen drüben heben sich gut vom Erdboden ab. Man kann sogar die Gesichter erkennen. Am besten, man schießt ihnen drei Finger breit unter den Stahlhelm! Die ersten Feinde lösen sich vom Graben und wollen zurück. Deutlich hört Konrad das Fluchen 222
und Kommandieren ihrer Offiziere. Eine Fahne wird sichtbar, weit leuchtet der weiße Adler. Harke reißt sein MG. herum und fährt in die Gruppe hinein. Sie sinkt in Sekundenschnelle zu sammen. Unter einem Haufen Gefallener ver schwindet der weiße Adler. Dreißig, vierzig Mann klettern jetzt aus dem Graben und wollen sich den Stürmenden ent gegenwerfen. Harke hebt die Hand. Handgranaten fertig machen! Konrad dreht die Kapsel vom Stiel. Der weiße Ball fällt heraus und hängt zwei Zentimeter unter dem Stiel. Harke trillert. Mit einem Satz schnellen die Männer hoch und stürzen weiter vor. Konrad wundert sich, daß nun nicht mehr fünfzig aufspringen, daß es weniger geworden sind. Aber er hat keine Zeit, Gedanken nachzugehen. Dort, in einer kleinen Senkung, sitzen fünf Insur genten und geben Schnellfeuer. Blitzschnell wirft er sich zu Boden und kriecht näher. Vorsichtig hält er die Handgranate, damit der kleine, weiße Ball nicht irgendwo einhakt. Jetzt mag die Ent fernung nur noch achtzehn bis zwanzig Meter be tragen. Wie ein Tiger kauert sich Konrad zu sammen. Hart wie Eisen sind seine angespannten Muskeln. Nur ein Gedanke beherrscht ihn, nur ein Instinkt zwingt ihn: die Handgranate zwischen die Feinde zu werfen. Mit einem kräftigen Ruck reißt er den Ball. Er hört das Zischen. Jetzt ruhig zählen. 223
Halblaut spricht er es vor sich hin, wie er ge lernt hat. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwan zig!" Bei dreiundzwanzig schnellt er halbhoch, wirft die Handgranate im Bogen auf das Ziel und preßt sich an den Boden. Scharf dröhnt die Detonation zu ihm herüber. Er hört Aufschreie. Und wie er den Kopf hebt, sieht er, daß drei Insurgenten sich schreiend wälzen, einer läuft so schnell er kann den Hügel hinan, der fünfte schleppt sich mühsam hinterher. Als er die zweite Handgranate fertig macht, hört er die Aufschläge der Granaten nicht mehr. So sehr hat ihn der Kampfrausch gepackt. Wie im Fieber rennt er auf den ersten Graben zu. Wirft, preßt sich zu Boden, wirft wieder. Schon ist er über die Gräben hinweg, da sieht er die ersten Kameraden an den MG.-Nestern. Eins nach dem andern wird durch Handgranaten erledigt. Wen das Eisen verschont, trifft der Kolben. Als die letzte Handgranate geworfen ist, reißt er das Gewehr vom Rücken. Auf zehn, auf acht, auf fünf Meter schießt er. Gelbe Uniformen bedecken die Erde. Fürchterliche Schreie zerreißen die Luft und übertönen das Krachen der Granaten und das Knallen der Schüsse. Dann tritt plötzlich Ruhe ein. Eine Ruhe, die seltsam schmerzt. Die ersten Strahlen der Sonne tasten über das Feld. In dichten Scharen flieht der Feind. 224
Harke hat eins der eroberten schweren Maschi nengewehre in Stellung gebracht und mäht mit verbissenem Gesicht. Erschöpft und schwer atmend stehen die Männer des Stoßtrupps und wischen den Schweiß vom Gesicht. Konrad sieht zurück. Da kommen die Männer der ersten Kompanie. Mehrere Meter voraus der Leutnant und Lemke. Hinter ihnen Fuchsberger mit der Fahne. In wenigen Minuten sind sie heran. Maßmann strahlt. „Das habt ihr fein gemacht, Jungens!" Harke stoppt das Feuer, steht auf und geht schwerfällig auf Maßmann zu. Er ist verlegen, als der ihm bewegt beide Hände drückt. Fuchsberger zählt die Einschüsse. Sieben Kugeln haben das Tuch durchbohrt, eine achte Kugel hat den Schaft angesplittert. Weit hinten sind die Sanitäter an der Arbeit. Sie wissen kaum, wo sie zuerst anfangen sollen. Maßmann dreht sich zu Lemke um. „Es ist fast ein Wunder, daß mehr helle Uni formen auf dem Felde liegen als graue." Harke winkt. Er hat eine angebrochene Kiste mit Patronen gefunden. Voller Empörung zeigt er auf den grünen Ring, den die Hülsen tragen. „Hier haben wir den Beweis, daß die da Explosiv geschosse benutzt haben." Maßmann bekommt einen harten Zug um den Mund. „Gleiches mit Gleichem!" 225
Jeder Mann des Stoßtrupps nimmt sich zehn Rahmen der grün gezeichneten Patronen. In raschen Schlägen sausen Granaten nieder. Der Feind hat erkannt, daß die Hügelkette ver loren ist und schießt, was die Rohre halten. Harke trillert. „Stoßtrupp marsch!" Die Waffen, die im Verlauf der Schlacht erobert werden, sind fast ausnahmslos deutscher Herkunft. Es fällt auf, daß am Annaberg in großer Zahl Hallersoldaten, also reguläres Militär, eingesetzt sind. Und wenn die feindliche Artillerie besonders wirksam schießt, dann weiß auch der letzte Frei willige in den deutschen Freikorps, daß die Richt schützen drüben Angehörige der französischen Nation sind!
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uf der ganzen Linie brechen die Deutschen siegreich vor. Überall ist nach der ersten Überraschung der feindliche Widerstand stark und tapfer. Man erkennt an dem gut sitzenden Sperrfeuer, daß der Feind reichlich Gelegenheit gefunden hat, das Gelände kennenzulernen. Noch sind die ersten drei Stunden der Schlacht nicht vergangen, als die Freikorpsführer mit Be ruhigung feststellen können, daß ihre Männer sich die fehlenden Waffen beim Feinde geholt haben. In wütendem Sturmlauf werfen die Oberländer des dritten Bataillons Schulter an Schulter mit den Freiwilligen der Sturmabteilung Heinz die Insur genten aus den infolge ihrer beherrschenden Lage 226
und mehr als ausreichenden Bewaffnung für sicher gehaltenen Kalkbergen hinaus. Die anfangs schweren Verluste steigern die Wut zur Raserei. Zum Schluß wird kaum noch geschossen. Kolben und Messer verrichten kurze, aber gründliche Arbeit. Auch dort, wo das erste Bataillon Oberland kämpft, wird der feindliche Widerstand überrannt. Fluchtartig überlassen die Insurgenten das stra tegisch günstig gelegene Vorwerk Strebinow den Bayern. Verbissen klammert sich der Feind an die Wygodahöhe, vor der die Truppen Bergerhoffs zusammengeschossen werden. Von hier setzt ein gefährliches Flankenfeuer auf die Angreifer ein. Die Straße nach Groß-Strehlitz liegt unter schwerstem Sperrfeuer. Unaufhörlich gehen die Transporte deutscher Verwundeter nach Krappitz. Aus dem Groß-Steiner Forst kann der Feind noch nicht vertrieben werden, weil nicht genügend Soldaten zur Hand sind, die die Säuberung der schier endlosen Wälder übernehmen könnten. So läßt man den Forst kurzerhand liegen und und stürmt den Feind weiter im geraden Lauf an! Die Sturmabteilung Heinz schlägt sich durch das aus dem Walde ungestört prasselnde Vernich tungsfeuer durch und entreißt dem Feind den be herrschenden Sprentschützer Berg. Gemeinsam mit dem dritten Bataillon Oberland kann die Sturmabteilung einen Augenblick Atem schöpfen. Die Erbitterung wächst von Stunde zu Stunde auf beiden Seiten. An jedem Maschinengewehr 227
nest, an jedem Bauernhaus kommt es zu Nah kämpfen, bis der letzte Mann erledigt ist. Das erste Bataillon Oberland hat sich in Strebi now nicht lange aufgehalten. In rasendem Flanken feuer von der Wygodahöhe erstürmt es das Vor werk des Gutes Neuhof, das Gut Sakrau und die Roten Berge. Inzwischen ist es Vormittag geworden, und die Sonne brennt unbarmherzig heiß vom Himmel. Das Blut der Verwundeten trocknet im Augen blick zur dicken Kruste, und der Durst macht fast mehr zu schaffen als das feindliche Eisen. Die Män ner wagen das Leben, um einen Trunk aus einem im offenen Feuer liegenden Brunnen zu schöpfen. Die verängstigten Bauern und Landarbeiter kauern, soweit sie nicht längst geflohen sind, in den Kellern ihrer Häuser und Hütten und flehen ihre Heiligen um Errettung aus Todesgefahr an. Wenn eine Granate in die Dächer schlägt, steigt eine riesige Fackel zum Himmel auf. Lieber lassen sich die Bewohner unter den rauchenden Trüm mern begraben, als daß sie sich ins Freie retten, wo sie fürchten, sichere Opfer der Kugeln und Splitter zu werden. Hoch zu Roß preschen Meldereiter durch das Gelände. Motorradfahrer können nur selten ein gesetztwerden, weil die Landstraßen infolge des an haltenden Sperrfeuers unbefahrbar geworden sind. Horadam flucht und hat alle Mühe, die Nerven zu behalten, weil das erste Bataillon Lulu Österei chers allmählich durch das wirkungsvolle feind liche Feuer von der Wygodahöhe vom geraden 228
Sturmlauf abgezwungen wird und eine Schwen kung von Osten nach Süden unternehmen muß. Immer wieder hebt Östereicher die Faust drohend zur Wygodahöhe. Ihm paßt es nicht, daß er im Feuer liegenbleiben soll. Gerade seine Männer ha ben es verdient, daß sie den Lorbeer des Sieges an ihre Fahnen heften. Horadam entschließt sich, das zweite Bataillon Oberland, das noch immer an der Straße von Gogolin in Bereitschaft steht, in die Schlacht zu werfen. In einem tollkühnen Ritt durch einen irrsinnigen Geschoßhagel überbringt ein Meldereiter dem Hauptmann von Finsterlin den Befehl. Seine Män- ner sind kaum noch zu halten. Sie wollen ins Ge fecht und schimpfen, daß man sie anscheinend in diesem wenig anheimelnden Kaff vergessen habe. Das zweite Bataillon besteht zum größten Teil aus dickschädligen Westfalen und wortkargen Norddeutschen, die es für eine Schande erachten, hinter den angriffswütigen Süddeutschen zurück stehen zu sollen. Ein Freudengebrüll erhebt sich, als Finsterlin das Marschkommando gibt. In Kürze stürmen die Kompanien unaufhaltsam die Todesstraße nach Groß-Strehlitz entlang. Die feindlichen Kugeln schlagen verheerend ein. In verbissenem Trotz setzt das zweite Bataillon immer wieder zum Frontalangriff an. Mit blutigen Opfern wird der erste Sieg erkauft. Dombrowka ist genommen! Die Westfalen sind beruhigt: die Taten der Norddeutschen können sich jetzt neben denen der Süddeutschen getrost sehen lassen! 229
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or der Wygodahöhe sieht es beängstigend aus. Bergerhoffs Schwarze Schar ist nahe daran, aufgerieben zu werden. Immer wieder stürmen die tapferen Truppen über das schonungslos offene Gelände, immer wieder werden die Sturmwellen zusammengeschossen. Die Männer haben Tränen des Zornes in den Augen. Sie wissen, daß von der Eroberung dieses in eine Festung verwandelten Berges der Sieg ab hängt, daß ohne die Wygodahöhe der Annaberg niemals gestürmt werden kann. Sie fühlen, daß die Gedanken aller Freikorps führer bei ihnen sind, daß die Kameraden von Sakrau und Dombrowka, von Neuhof und Strebi now sehnsüchtig herüberblicken und darauf harren, daß die deutschen Fahnen von diesem Berge wehen. Der Fahnenträger der Schwarzen Schar fällt, von fünf Kugeln durchbohrt. Ein junger Frei williger reißt das heilige Zeichen an sich und trägt es vorwärts. Auch er stirbt nach kaum hundert Metern den Soldatentod. Bergerhoff sieht sich hilfesuchend um. Kein Gott kann ihm Kanonen oder Männer herzaubern. Die Bayern haben zwar zwei Geschütze erobert, die brauchen sie aber selber dringend für ihre Sturmbatterie Lembert. Und Ersatz? Jedes Frei korps würde ihn brauchen können. Die einzigen, die noch keine nennenswerten Verluste haben, sind die Strachwitzer. Aber die liegen in ihrer Stellung am Groß-Steiner Forst und können scheinbar nicht loskommen. 230
Die Freikorps Lensch und Winkler bluten sich vor Oberwitz aus. Besonders die Radfahrkompanie Winkler hat schwerste Verluste. Die schneidigen Burschen fahren auf ihren Rädern fast bis in die feindlichen Maschinengewehrnester hinein und lassen sich von ihren Sätteln mähen. Der ganze rechte Angriffsabschnitt ist gefähr det, und Horadam durchlebt nervenzerreißende Stunden, in denen er, über die Karte gebeugt, dem Untergang der Kolonne Chappuis entgegensieht. Die Meldereiter, die er hinüberjagt, bringen immer trostlosere Kunde, wenn sie überhaupt zu rückkommen.
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aßmann liegt mit seiner Schwarzen Garde in einem fast kilometerlangen Chausseegraben, der eine Kirschenallee säumt. Ununterbrochen schlägt der Hagel des feind lichen Punktfeuers in die Bäume, die schon längst ihre Blütenzweige hergegeben haben. Die deut schen Maschinengewehre hämmern noch stoß weise. Das Schützenfeuer ist eingestellt worden, weil die Munition auszugehen droht und alle Pa tronen bis auf einen Rahmen an die Maschinen gewehre abgegeben werden müssen. Konrad sitzt neben Heenemann und steckt Pa tronen in die Gurte der Maschinengewehre. Sie müssen sich beeilen, da ihnen die gefüllten Gurte förmlich unter den Händen weggerissen werden. Maßmann lehnt an einem Baum und späht un ablässig durch das Glas. Die Zigarette in seinem 231
Mundwinkel ist erloschen. Sein Gesicht ist sorgen voll und müde. Meldegänger sendet er nicht mehr aus, weil ihm das sinnlos erscheint. In Abständen von ein und zwei Minuten schlagen die Granaten der feindlichen Batterien auf die Chaussee. Die Männer drücken sich platt gegen die Grabenwand und sind froh, wenn sie nicht von den Steinsplittern getroffen werden. Das Eisen fürchten sie nicht, wei die Granatsplitter über sie hinwegsurren. Und Volltreffer gehen erfahrungsgemäß selten in einen schmalen Graben. Fuchsbergers Fahne ist von Kugeln durchsiebt und versengt. Jetzt liegt sie säuberlich zusammen gerollt auf dem Grunde des Grabens, und Fuchs berger wartet mit heißem Herzen auf den Augen blick, da er sie zu neuem Sturm entfalten kann. Ein schweres Maschinengewehr ist durch Voll treffer erledigt worden. Fünf Tote liegen, als ob sie friedlich schliefen, um die zerstörte Waffe. Ein alter Kirschbaum, von einem zentimeterlangen Granatsplitter umgesägt, hat sich über sie gesenkt und deckt das Blut mit seinen Blüten zu. Napoleon hat einen Steckschuß in den linken Oberarm erhalten. Er weigert sich, seine dritte Kompanie zu verlassen, bis Maßmann ernstlich wütend wird und ihm den Befehl gibt, sich in Krappitz verbinden zu lassen. „Meiner Frau kannst du herzliche Grüße bestellen. Erzähle aber um's Himmels willen nicht, wie jämmerlich es hier aus sieht!" Brummend trollt sich Napoleon von dannen. In einer Mischung von Ärger und Leichtsinn geht er 232
aufrecht auf der Chaussee entlang. Konrad wagt nicht, ihm nachzuschauen, weil er fürchtet, seinen Tod mit ansehen zu müssen. „Unkraut vergeht nicht", brüllt Napoleon noch zurück, bevor er den Blicken der Kameraden ent schwindet. Die Männer finden allmählich ihren Humor wie der. Besonders Heenemann hält es für seine Pflicht, den jüngeren Kameraden mit dem Beispiel überlegenen Mutes voranzugehen. Mit frechen und übermütigen Reden schwingt er einen soeben gefüllten Maschinengewehrgurt und steigt über den Grabenrand, um dem fünf Meter voraus im freien Feld eingebauten Gewehr die Munition zu bringen. Noch einmal winkt er den Kameraden zu. Dann greift er plötzlich zum Herzen, dreht sich zweimal im Kreise und sinkt lautlos um. Konrad schreit auf, stürzt zu Heenemann und schleppt ihn in den Graben zurück. Unaufhaltsam rinnen ihm die Tränen über die Wangen. Dann kauert er sich neben den Gefallenen und merkt nicht, daß er ihn auf die zusammengerollte Fahne gebettet hat, und daß das hellrote Blut langsam auf das Tuch sickert. Mit einem Sprung ist Maßmann bei Heenemann. Er öffnet den Waffenrock und hält erschüttert inne, als ihm das durchschossene und blutgetränkte Bild des kleinen Ulrich entgegenfällt. Konrad hat sich abgewendet und schluchzt fassungslos. Und viele Männer, die Heenemann liebgewonnen hatten, schämen sich nicht, daß ihre Augen feucht werden. 233
Harke übernimmt die Führung der dritten Kom panie. Der Stoßtrupp wird zur Auffüllung auf die drei Kompanien verteilt.
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n Oberglogau ist der Teufel los. Unaufhörlich schnarren die Telefone. Alle Welt will plötzlich den General sprechen. Der Stabs chef ringt die Hände und beginnt allmählich am Verstand des Alten zu zweifeln. Der ist liebens würdig wie kaum zuvor. Ob die Staatssekretäre anrufen, ob die Herren Minister persönlich, und ob es gar das Büro des Reichspräsidenten ist: mit demselben Lächeln gibt er stets dieselbe kurze Antwort. Ja, es stimme, daß die Freikorps angegriffen hätten. Die Schlacht sei im Gange und der Aus gang noch nicht abzusehen. — Nein, zurückrufen könne er die Korps nicht, sie unterstünden ihm nicht, und er müsse es auch ablehnen, gerade in diesem Augenblick Verwirrung in die Front zu bringen! Die für die Außenpolitik der Republik verant wortlichen Stellen sind hysterisch geworden. Das bedeute doch den Krieg! Schluß machen sofort! Der General lächelt nur. Er bedaure unendlich, aber, wie gesagt...! Nur als die Verbindungsstelle der Reichswehr anruft, wird er ernst. Es stünde sehr bedenklich, die Verluste überträfen auch die schlimmsten 234
Vorraussagen. Der Wahnsinn der Grenzsperre wirke sich eben entsprechend aus! In Breslau und Frankfurt werden die Kasernen tore geschlossen. Die Soldaten liegen in Bereit schaft. Die Offiziere wissen nicht, was die nächste Stunde bringen kann. Der General übergibt dem Stabschef die Wei sung, in seinem Namen die Telefonanrufe aus Berlin zu beantworten. Es dauert keine halbe Stunde, und schon bedient sich der Stabschef derselben unverbindlichen und liebenswürdigen Redensarten. In Gedanken bittet er den Alten um Entschuldigung. Der General steht über die Karte gebeugt. Seine Hand zittert, wenn er die Fähnchen steckt.
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m Hauptquartier der Insurgenten ist die Stim mung auf dem Nullpunkt angelangt. In polnischer, französicher und deutscher Sprache wird geflucht, kommandiert, geflüstert und ge brüllt. Reserven werden auf Lastautos herbeigeholt und in die Schlacht geworfen, um zu retten, was noch zu retten ist. Die Wygodahöhe ist die einzige und größte Hoffnung. Darum alle Reserven zur Wygodahöhe! Sie soll zu einem Verdun werden! Ausbluten sollen sich die Deutschen! Die Telefonleitungen nach Warschau sind keine Sekunde frei. 235
Es darf nicht sein, daß der deutsche Vorstoß gelingt! Gar nicht daran zu denken, daß die Deutschen vielleicht den Annaberg nehmen könnten! Am Bahnhof Leschnitz steht der Panzerzug „Korfanty" unter Dampf und wartet auf den Fahrt befehl, um seine verderbenbringenden Geschoß garben in die Reihen der Deutschen zu schleudern. Am Fuße des Annabergs treten die Bataillone der Insurgenten zum Gegenstoß an. Der Segen der katholischen Priester ist ihren Fahnen gegeben worden. Bisher waren die Jung frau und alle Heiligen mit ihr bei den Fahnen des Aufstandes! Darum vorwärts gegen die verfluchten Deutschen! Neue Bataillone kommen im Eilmarsch aus dem Wyssokaer Wald, um den deutschen Korps den Fangstoß zu geben. Geschütze und Minenwerfer, schwere Maschinengewehre und Granatwerfer werden herbeigeschafft. Der Gegenstoß muß tödlich sein! Mit wehenden Fahnen greifen die Sturm truppen der Insurgenten an. Vor ihnen her geht die Mordwand der Granaten und Schrapnelle. Zi schend und fauchend setzt sich der Panzerzug „Korfanty" in Bewegung und malmt den Schienen strang entlang. Gebete steigen empor: Gerechter Gott, gib im Namen Christi und der allerheiligsten Himmelsjungfrau dem weißen Adler den Sieg! Wie die Sintflut gießt sich der Strom der Insur genten über die Ellguther Steinberge bis hin nach Oberwitz gegen die zusammengeschossene Front der Deutschen. 236
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ie Männer Eickens, die Oberländer des ersten und zweiten Bataillons, die Sturmsoldaten Bergerhoffs und die Männer der Schwarzen Garde trauen ihren Augen kaum, als sie die dicht ge ballten feindlichen Bataillone heranquellen sehen. Ein erlösender Aufschrei geht durch die Sturm kolonnen. Endlich kommt der Feind vor die Mün dung! Bis auf hundert, bis auf fünfzig Meter darf er sich nähern, dann prasseln blitzartig Tod und Ver derben in seine Reihen. In dichten Reihen, so, wie sie gestürmt sind, liegen eine Minute später die Feinde in ihrem Blut. Wieder erheben sich die Adlerfahnen, und wieder sinken sie unter Toten zur blutüberschwemmten Erde. Kein Feind vermag auch nur mit einem Schritt die deutsche Front zu durchbrechen. Da ergreift das Entsetzen die Insurgenten. Und als auch noch einige Lagen der eigenen Artillerie in ihre Reihen schlagen, wird aus dem Entsetzen eine Panik. Die überlebenden werfen die Waffen fort und laufen um ihr Leben zurück. Erst an der Bahnlinie kommen sie zum Stehen und gehen zur Verteidi gung über.
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ls ein Mann durch Verwundung ausfiel, ist Kon rad an das Maschinengewehr gesprungen. Durch seine Hände läuft jetzt der Gurt. Garbe auf Garbe fegt in die Reihen der Feinde. Heenemann ist hundertfältig gerächt. 237
Drüben stürmen schon die Truppen Bergerhoffs. Maßmann hebt den Arm. Seine drei Kompanien lösen sich vom Graben und gehen mit Hurra zum Gegenangriff über. Konrad läuft mit entsichertem Gewehr. Wo ein Feind vor ihm hochspringt und flüchten will, bleibt er stehen und zielt ruhig und gewissenhaft wie nach der Scheibe. Bei jedem Schuß denkt er an Heenemann, und in seine Augen ist ein harter Glanz gekommen. Da liegt fünf Meter vor ihm ein Feind. Konrad nimmt an, es sei ein Verwundeter und will an ihm vorüberlaufen. Da sieht er, wie der Insurgent langsam sein Gewehr erhebt. Konrad schaut in das kleine, unheimlich schwarze Loch des Laufes. Dann springt er mit einem gewaltigen Satz vor und schlägt mit dem Kolben zu. Ein dumpfes Knacken, ein viehischer Aufschrei dringen mit zwingender Deutlichkeit in sein Bewußtsein. Er schmeckt Blut und irgendeine unbekannte Masse, die ihm die Augen verklebt. Mit dem Handrücken wischt er sich langsam über das Gesicht. Da liegt der Mann vor ihm. Schrecklich entstellt. Er hat ihm den Schädel eingeschlagen. Konrad starrt an sich herunter. Seine Uniform ist bedeckt mit Blutspritzern und Schädelsplittern. Der Kolben seines Gewehres ist abgebrochen. Wieder schmeckt er die widerlich süßliche Masse in seinem Mund und muß sich erbrechen.
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ensch und Winkler stürmen Oberwitz. Bergerhoff erobert, unterstützt von Maßmann, die Wygodahöhe. Unzählige Waffen fallen in die Hände der Frei korps. Das Schlachtfeld ist übersät mit Toten und Ver wundeten. Bei Sakrau stehen noch einige feindliche Sturm bataillone. Sie wissen, daß sie durch Zurückgehen den Annaberg gefährden und gehen daran, sich einzugraben. Die tapferen Männer Eickens dringen fast bis in ihren Rücken vor und setzen sich im Vorwerk Dallnie fest, um sie von hier aus zusammenzu schießen. Unterdes arbeitet sich das zweite Bataillon Oberland über die Höhen gegen Jeschona und Oleschka vor. Verbissen keuchen die Norddeut schen vor und sehen, daß die Bayern des ersten Bataillons vor ihnen Jeschona erreichen. Die Sorge Horadams ist noch längst nicht ver flogen. Die Ballungen der feindlichen Formationen am Fuße des Annabergs geben ihm zu denken. Es ist einfach unmöglich, durch diese vielfach ge staffelte Front durchzustoßen. Zudem sind die Ba taillone durch die Entwicklung des Sturmes zu weit auseinandergezogen und haben dadurch an Stoßkraft verloren. Den größten Geländegewinn hat bisher die Sturmabteilung Heinz gehabt, die Schulter an Schulter mit dem dritten Bataillon Oberland Nieder-Ellguth überrannte und sich nun in Niewke 239
eingenistet hat. Unbekümmert stoßen schon die ersten Patrouillen gegen Kalinowitz vor. Horadam knirscht mit den Zähnen. Auf der Karte sieht das alles bildschön aus. Der Anna berg ist scheinbar in der Zange. Es fehlt aber an Männern und Material, um die Zange schließen zu können! Wenn die Insurgenten sich jetzt von Sakrau lösten und ihre Sturmtruppen keilförmig auf Go golin zutrieben, wäre mit einem Schlage die schöne Zange zersprengt. Dann gute Nacht, Annaberg! Horadam neigt nicht gerade zur Nervosität, aber seine Nerven sind zum Zerreißen angespannt. Eile tut not! Jede halbe Stunde kann jetzt die Erkenntnis der Insurgenten und den endgültigen Untergang des Sturmes bringen! Dann aber auch gute Nacht Frei korpsgeist, dann bekommen die klugen Taktiker und kühlen Strategen endgültig Recht mit ihrem „Unmöglich". Horadam hat sich entschlossen, den offiziellen Stäben grundsätzlich falsche Meldungen über die Lage zu geben. Würden die da hinten ahnen, wie es tatsächlich hier vorn aussieht, so würden sie schon halbmast geflaggt haben. Mögen sie sich selbst ein Bild machen! Sollte er jetzt etwa die Schlacht abbrechen und sich mit dem Erreichten begnügen? Geländegewinn ist bisher genügend zu verzeichnen. Aber wer soll die plötzlich zu gewaltigen Ausmaßen ange wachsene Front halten? Wer soll die Stellungen zu wirksamer Verteidigung ausbauen? 240
Nein, nur ein totaler Sieg kann wirkliche Ret tung bringen. Jeder Teilsieg kann morgen die völlige Niederlage zur Folge haben. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Verfluchte Lage! Freikorpskampf ist nun einmal Vabanquespiel. Es hilft nichts, die Karten müssen von neuem ge mischt werden! Oleschka droht, ein zweites Wy goda zu werden. Nur nicht zum zweitenmal sich vor einen Ort binden lassen. Das halten weder die Truppen aus, noch kann der Angriffsplan eine Stockung vertragen. Eile!! Eile!! Eile!!! Horadam läßt seinen Bleistift über den Melde block rasen. Reiter sprengen nach allen Richtungen davon. Radfahrer keuchen, die gekrümmten Hälse über den Lenkstangen. Das erste Bataillon Oberland wird kurzerhand aus dem Todestrichter von Oleschka genommen. Lulu Östereicher kann seinen Männern eine kurze Atempause geben. Teile des zweiten Batail lons bleiben vor Oleschka zurück und binden nun ihrerseits den Feind an diesen gefährlichen Ort. Auch Eicken kann seine Kompanie von Oleschka zurücknehmen. Eine Zentnerlast fällt Horadam vom Herzen, als er die Meldung empfängt, daß befehlsgemäß die Lösung vom Feind durchgeführt sei. Er kann sich darauf verlassen, daß die Norddeutschen des zweiten Bataillons unter Finsterlin den Feind nicht freigeben werden. Wie gut, daß die Westfalen 241
solche Dickschädel sind! Sie werden schwerste Arbeit haben! Wenn nur die ständigen Rückfragen aus den Kommandostäben nicht so störten. Horadam lügt das Blaue vom Himmel herunter, um Zeit für die Durchführung seiner Pläne zu haben. Einmal sagt er, es stünde schlecht, das andre Mal behauptet er das Gegenteil. „Meine Männer stürmen eben! Damit basta!" „Die Front ist völlig unübersichtlich geworden, weil die Freikorps allesamt auf eigene Faust ope rieren!" Zu allem Unglück bekommt Horadam jetzt die Meldung, daß die Sturmabteilung Heinz und das dritte Bataillon Oberland, die so schneidig bis Niewke gestürmt sind, die Ellguther Steinberge unbeachtet liegengelassen haben. Hier hat sich in zwischen der Feind eingenistet und beunruhigt von seiner überlegenen und sicheren Stellung aus die Deutschen. Da ein Stoßtrupp „zur Zeit nicht frei" ist und Reserven für gelegentlichen Einsatz den Freikorps nicht zur Verfügung stehen, beschließt Horadams Stab einen Husarenstreich. Die Offiziere pirschen sich geräuschlos wie die Katzen an den Feind, stürzen sich auf ein Zeichen mit gewaltigem Geschrei auf ihn, schießen, würgern stechen hauen und — sind Sieger! Die über rumpelung gelingt so vollkommen, daß kein In surgent am Leben bleibt. Auf den ersten Blick erkennen die Offiziere die überaus günstige Lage, die ihnen die Einnahme 242
der Steinberge gebracht hat. Obwohl der Feind von den benachbarten Höhen des Wyssokaer Waldes sogleich ein rasendes Maschinengewehr feuer eröffnet, schleppen sie unter Aufbietung aller Kräfte zwei bei Sakrau eroberte Geschütze deutscher Herkunft in Stellung. Die Schutzschilde der Geschütze sind völlig verbeult, und das MG. Feuer hört sich an, als ob Erbsen über einen Kasten geschüttet werden. Dennoch wird keiner der drauf gängerischen Offiziere ernsthaft verwundet. Die Streifschüsse zählen allerdings nicht, sonst hätte fast jeder sich verwundet abmelden können! Ein blutjunger Leutnant wirft den Lafetten schwanz eines Geschützes herum. „Dort drüben richtet sich eine feindliche Batterie gegen uns ein!" Mit drei, vier Griffen ist der Zünder der Granate eingestellt. Rums! Fährt die erste Granate hinüber. Rums! Die zweite. Rums! Die dritte. Jetzt ist auch das zweite Geschütz soweit. Rums! Rums! Die feindliche Batterie gibt es auf, sich mit der deutschen auf ein Duell einzulassen. Schneller als sie gekommen ist, verschwindet sie unter Zurück lassung von Toten und Verwundeten. Weil er gerade beim Schießen ist, nimmt sich der junge Leutnant noch andere Ziele vor das Glas. Mit einigen Granaten werden zunächst die beson ders unangenehmen Maschinengewehrnester zum Schweigen gebracht, dann kommen die feindlichen 243
Kolonnen an die Reihe, die noch immer dicht ge staffelt Oleschka verteidigen. Dem zweiten Batail lon Oberland wird dadurch Luft geschafft. Finsterlin vermeint anfangs zu träumen, als die ersten Granaten in die Reihen der Feinde schlagen. Dann nimmt er an, es handele sich um einen Irr tum der Insurgentenbatterien, die ihre eigenen Kameraden unter Feuer nähmen. Allmählich wird ihm klar, daß dort deutsche Geschütze reiche Ernte halten. Die offensichtliche Verwirrung und das heillose Durcheinander, das er während der Be schießung auf Feindesseite beobachtet, lassen in ihm einen schnellen Plan reifen. Acht der verwegensten Männer greift er sich, baumlange, blonde Jungen aus Westfalen, die not falls mit dem Teufel angebändelt hätten, dazu alle erreichbaren Meldegänger und die zur Verfügung stehenden Radfahrer, die keine Zeit mehr haben, sich ein Gewehr zu suchen. Mit diesem willkür lich zusammengewürfelten Stoßtrupp umgeht er Oleschka und kommt ungesehen in die Flanke und den Rücken des Feindes. Eine kleine gelbe Fahne, die Finsterlin schwenkt, gibt den in fieberhafter Spannung wartenden Kompanien des Bataillons das Zeichen, daß der Überraschungsangriff be ginnen kann. Kaum erheben sich die deutschen Stürmer und werden von den feindlichen Garben erfaßt, als der Stoßtrupp Finsterlin mit ohrenbetäubendem Ge brüll in die Stellungen bricht. Der Feind ist der artig verblüfft, daß er glaubt, eine überlegene Ab teilung vor sich zu haben. Hals über Kopf stürzt 244
er davon und überläßt sogar das soeben fertig gekochte Mittagessen den Deutschen. Oleschka ist genommen! In wenigen Minuten sind auch die Kompanien da. Die Freude ist unbeschreiblich. Nur sechs Tote hat der Sturm, der eben noch völlig aussichtslos zu sein schien, das Bataillon gekostet. Jubelnd schwenken die Norddeutschen die Fahnen Oberlands zu den Steinbergen hinüber. Der Dank für die mutige Tat, die weitere Taten gebiert! In einer halben Stunde ist die neue Gruppierung beendet. Der Feind ist auf der ganzen Linie vertrieben. Geschlossen steht die neue Angriffsfront von Horadam.
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as Lazarett in Krappitz ist längst überfüllt. Die Leichtverwundeten liegen unter blühen den Sträuchern und Bäumen im Garten und lau schen auf den Donner der Schlacht. Die Meldungen, die spärlich hierherkommen, widersprechen sich. Meist lauten sie nicht sonderlich günstig. Die Verwundeten, die ihr Gewehr mitgebracht haben, weigern sich, es abzugeben. Sie wollen auf keinen Fall in Gefangenschaft geraten. Das Stöhnen der Schwerverwundeten und Ster benden erfüllt die Säle und Gänge des Hauses und dringt auch zu den Verwundeten im Garten. 245
Louise eilt jede freie Minute vom Operations tisch fort zu den Angehörigen der Schwarzen Garde und läßt sich ausführlich jede Phase der Schlacht und jedes Wort, jeden Befehl ihres Mannes schildern. Der Stolz, den sie über das über schwengliche Lob Karls empfindet, ist jetzt fast größer als die Angst um sein Leben. Als Napoleon eintrifft, wie immer mit lustigen und frechen Redensarten im Munde, erschrickt sie zwar, freut sich aber doch sogleich, einen der Ver trauten ihres Mannes sprechen zu können. Napo leon kann sich nicht genug tun, unter gewaltigem Wortaufwand seine und des Korps Heldentaten zu berichten. Er hätte zwar—Louise muß lächeln—mancher lei anders gemacht, aber, immerhin, die Leistun gen seien bisher ganz beachtlich. Er vergißt auch nicht, den Gruß auszurichten. Er hätte stundenlang erzählen können, wenn nicht der Arzt gekommen wäre und ihn kurzerhand unterbrochen hätte. „Zeigen Sie mal ihren Arm her!" Napoleon schlägt den Waffenrock, den er sich lose über die Schulter gehängt hat, zurück. Der Arzt macht ein bedenkliches Gesicht. „Hoffentlich ist der Knochen nicht verletzt. Der Blutverlust ist recht erheblich." Als Napoleon auf dem Operationstisch liegt, weigert er sich plötzlich, sich chloroformieren zu lassen. „Geben Sie mir lieber einen Schnaps!" 246
Der Arzt lacht und läßt Louise eine Flasche Schwarzwälder Himbeergeist aus seinem Zimmer holen. Napoleon nimmt einen herzhaften Schluck und beißt dann die Zähne zusammen. Es schmerzt sehr, als der Arzt die Kugel herausholt. „Sie haben Glück gehabt. Zwei Millimeter weiter, und der Knochen wäre zerschmettert!" Napoleon lächelt mühsam. Liebevoll legt Louise den äußeren Verband. Als der nächste Verwundete auf dem Opera tionstisch liegt, ist Napoleon verschwunden. Kopf schüttelnd stellt der Arzt fest, daß nur der zer schossene Waffenrock zurückgeblieben ist. Die Kugel allerdings hat Napoleon mitgenommen. Und die Flasche mit dem Schwarzwälder Himbeergeist!
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lle Brücken und Straßenüberführungen sprengt der Feind bei seinem Rückzug in die Luft. Mit Dynamit spart er keineswegs. Über einen Kilo meter weit fliegen die schweren Pflastersteine zu weilen. Horadam lächelt zufrieden. Ein gutes Zeichen für den Fortgang der Schlacht! Sein Zeigefinger fährt über die Karte. Hier oben bei den Ellguther Steinbergen steht jetzt das erste Bataillon Ober land. Östereicher freut sich wie ein ausgelassener Junge. Seine Männer haben inzwischen aus reichend zu essen bekommen, sogar Bier ist auf getrieben worden. Die letzten Meldezettel ent halten schon Hänseleien, wann es endlich weiter 247
ginge, seine Bayern würden sonst allein nach vorn davonlaufen! Das zweite Bataillon Oberland steht bereits über Oleschka hinaus in neuer Ausgangsstellung. Finsterlin wird allmählich ungeduldig, er fürch tet, daß der Feind sich wieder festsetzt, wenn der Angriff nicht sofort weitergetragen wird. Zwischen Ober-Ellguth und Niewke steht Sieb ringhaus mit seinem dritten Bataillon und wartet auf den Sturmbefehl. Die Sturmabteilung Heinz und die Kompanie von Eicken stehen bis in den Wyssokaer Wald hinein und warten auf den Augenblick, in dem sie das Rennen auf den Annaberg beginnen können. Die Kolonne Chappuis erobert Schritt für Schritt das Gelände der jetzt immer langsamer zurück weichenden Feinde. Die Verbindung zwischen den einzelnen Frei korps reißt ständig ab, weil jede Abteilung in Sonderaufgaben, die sich aus dem Kampf um be sonders geschickt angelegte Verteidigungsnester ergeben, verstrickt wird. Die Reste der Radfahrkompanie des Freikorps Winkler geraten in eine Falle und werden fast vollständig aufgerieben. Auch das Freikorps Lensch hat Mühe, den An schluß zu halten, da es ständig unter schwerem Abwehrfeuer des Feindes liegt. Bergerhoff hat seine schwer zusammengeschos sene Schwarze Schar im Angesicht des Feindes und mitten im Schnellfeuer neu gruppiert und führt sie mit unvermindertem Schwung in den 248
Kampf. Schulter an Schulter mit den Männern der Schwarzen Schar schlagen sich die Freiwilligen der Schwarzen Garde. Hunger und Müdigkeit sind längst verflogen, seitdem es wieder weitergeht.
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ei Borek hat es Martin Harke erwischt. Mit einem leichten Maschinengewehr hat er den Dorfrand abkämmen wollen. Er hat auch noch richtig sein Gewehr in Stellung bringen können. Dreißig Schuß hat er abgegeben, dann stockte das Gewehr. Maßmann hat ihn untersucht: fünf Schüsse durch die Brust. Der feindliche Maschinen gewehrschütze hat gut gezielt! Fuchsberger hat eine unbändige Wut im Leibe. Seinen Freund Harke muß er rächen. Maßmann gibt die Erlaubnis, daß Konrad die Fahne tragen darf. Der umklammert den Schaft mit beiden Fäusten. Die Schläfen hämmern vor Anstrengung. Die Fahne ist schwer! Schritt setzt er vor Schritt, das Pfeifen und Surren der Kugeln hört er nicht mehr. Nur geradeaus sieht er noch, dorthin, wohin er die Fahne tragen muß. In jedes Haus von Borek, aus dem geschossen wurde, wirft Fuchsberger seine Handgranaten. Mit französischen Eierhandgranaten, die in Wy goda erbeutet wurden, tötet er die Bedienungs mannschaften zweier schwerer Maschinengewehre. Der Schütze, der Martin Harke getroffen hat, liegt gewiß unter den Toten! 249
Maßmanns Herz ist schwer. Heenemann tot, Harke tot, Napoleon verwundet! Das waren die liebsten unter den Kameraden! Der Tod hat reichlich gemäht unter den Männern der Schwarzen Garde. Die Fahne ist kaum noch wiederzuerkennen. Große Stücke sind jetzt aus dem Tuch geschossen. Konrad fühlt jeden Schuß, der sie trifft.
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m Krempaer Wald kommt es noch einmal zu heftigen Nahkämpfen. Der Feind hat sich hinter Bäumen und Hecken verschanzt und eröffnet aus nächster Nähe sein Vernichtungsfeuer. Fuchsberger bekommt jetzt reichlich Gelegen heit, seine Eierhandgranaten anzubringen. Er ent wickelt ein großes Geschick im Anschleichen und wirft keine Granate vergebens. Von der Bahnlinie ertönt plötzlich ein Fauchen und Zischen. Der Panzerzug „Korfanty" ist endlich vom Bahnhof Leschnitz abgefahren und kommt über Roswadze, um noch rechtzeitig seine ver derbenbringende Fracht abzuladen. Unter seinem Schutz rücken im Laufschritt Stoßtrupps vor. Eine Kompanie Bergershoffs, die dem Ungetüm mit blanker Waffe zu Leibe gehen will, muß daran glauben. Der Panzerzug bleibt stehen und schleudert aus allen Rohren und Läufen den Tod gegen die Deut schen. 250
Das Feuer der Maschinengewehre, der Infan teriegewehre und erst recht der Pistolen prallt an seinen Panzern ab. Die Männer müssen sich darauf beschränken, durch Schnellfeuer die feindlichen Stoßtrupps zu hindern, hinter dem Panzerzug vor zubrechen. Sie denken nicht mehr an Deckung, einer nach dem andern steht auf und schießt auf jeden Kopf, der sich hinter dem Zuge vorzu strecken wagt. Bergerhoff tobt vor Wut. Der Panzerzug hält den Sturm bereits gefährlich lange auf und verhindert, daß die Zange am Annaberg zukneifen kann. Da springt Fuchsberger vor. Eine geballte La dung schwingt er in der Rechten. Mit riesigen Sätzen läuft er auf das Ungetüm zu und schleudert ihm die Last zwischen die Schienen. Ein furchtbares Krachen erfolgt. Splitter schwir ren durch die Luft. Und die Aufschreie beweisen, daß auch die feindlichen Stoßtrupps nicht ver schont geblieben sind. Den Augenblick der Ver wirrung benutzen die Männer, um auf die Bahn strecke zu springen und den Feind aus nächster Nähe unter Feuer zu nehmen. Der Panzerzug pfeift dreimal schrill und dampft so schnell er kann in Richtung Roswadze davon. Die Stoßtrupps läßt er feige im Stich Sie werden bis auf den letzten Mann niedergemacht. Fuchsberger ist zu Boden gesunken. Ein Quer schläger hat ihm den linken Oberschenkel bis zum Knochen aufgerissen. Die Verwundung ist jedoch nicht lebensgefährlich, nachdem das Bein, so gut es ging, abgebunden ist. 251
Maßmann streichelt ihm die Hände. „Ich danke dir, Fuchsberger!" Der droht noch mit der Faust dem Zug nach. „Das ist für Martin Harke!"
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achdem der Panzerzug „Korfanty" vertrieben worden ist, setzen die Reste der Kolonne Chappuis den Angriff fort. Die Gruppe Horadam geht mit wehenden Fahnen vor und drückt den Feind von Dorf zu Dorf zurück. Unheimlich droht der Wyssokaer Wald mit seinen Hohlwegen, fallenartigen Schluchten und seinem undurchdringlichen Unterholz. Es hat keinen Zweck, Granaten in den Wald zu schießen. Es bleibt nichts weiter übrig, als den Forst selber, und sei es mit großen Opfern, durchzukämmen. Die Insurgenten sind unsicher geworden, nach dem der weiße Adler von Kilometer zu Kilometer zurückgesteckt werden mußte. Darum nutzen sie auch die Vorteile des Waldes nicht so aus, wie die Oberländer es befürchten. Abergläubisch meinen sie, der Himmel werde es verhüten, daß die ketzerischen Deutschen den heiligen Berg in die Hand bekommen, sie vergessen dabei, ihr Vernichtungsfeuer fortzusetzen oder wenigstens Teile der deutschen Korps in den Hinterhalten des Waldes niederzumetzeln. Horadam findet sich in dem Forst nicht zurecht. Die wenigen Wege sind völlig unübersichtlich und verschlungen. Der Instinkt ist noch der beste Weg weiser, und so hat das erste Bataillon, das den Be 252
fehl bekam, den Wald zu durchqueren, vor allem das Bestreben, sich keinesfalls von der Kamm höhe herunterdrücken zu lassen. Neben Lulu Östereicher marschiert jetzt, die entsicherte Pistole in der Faust, Horadam. Hinter ihnen werden die beiden Geschütze geschleppt, die von den Steinbergen an das Bataillon nicht mehr verlassen haben. Östereicher hat nichts dagegen, daß seine Männer häufiger schießen, als unbedingt notwendig ist. Die Insurgenten sollen ruhig annehmen, ganze Regimenter rückten heran und nicht nur vier schwache und sehr abgekämpfte Kompanien. Die Männer machen sich einen Spaß daraus, geballte Ladungen Handgranaten in die Schluchten zu schleudern. Der Lärm ist unglaublich. Der Feind kann glauben, hier würde mit großkalibrigen Mörsern geschossen. Die Maschinengewehrnester, die den Bayern in die Hände fallen, sind längst verlassen. Die Waffen wurden leider vorher unbrauchbar ge macht. Nur die Munition ist noch zu verwenden. Immer näher kommt der Kampflärm von Wys soka. Das dritte Bataillon kämpft sich vor und denkt gar nicht daran, den requirierten Bauern wagen, auf dem sich vor allem die schweren Ma schinengewehre und die eroberte Munition be finden, aus der Feuerzone zu nehmen. Zum Glück sind die beiden Pferde nicht empfindlich. Sie ziehen in ruhigem Schritt ihren Wagen, der sonst wohl mit Getreide oder Kartoffeln beladen ist. 253
Die Kompanie von Eicken unterstützt das dritte Bataillon. In großen Sprüngen geht es jetzt vorwärts. Der Widerstand, der eben noch vor Niederhof sehr beträchtlich war, wird im Nahkampf ge brochen. Der Schloßhof von Wyssoka wird mit Hand granaten ausgeräuchert. Die Eickenleute stürmen auch den Windmühlen berg zwischen Wyssoka und Waldhof. Vor dem Wald treffen sich die Stürmer zusam men und begrüßen sich mit fröhlichen Rufen. Da stehen sie nun in der Senke, die Männer Ober lands, Eickens und der Sturmabteilung Heinz, und schauen empor. Zu ihren Häupten erhebt sich, gewaltig und drohend, die hochragende Mauer des Klosters auf dem Annaberg. Der Turm der Klosterkirche trotzt wie eine aus gereckte Faust. Und schon prasseln wieder die Garben der feindlichen Maschinengewehre. Horadams Kommandostimme übertönt den Lärm. Die beiden Geschütze werden abgeprotzt und richten ihre Rohre auf das Kloster. Fast aus dem Rücken, von Waldhof her, ver stärkt sich plötzlich das feindliche Feuer. Versprengte Abteilungen der Insurgenten kom men zur Besinnung und wehren sich verzweifelt. Noch einmal müssen die Stürmer in Stellung gehen. Von Leschnitz her erfolgt unter Aufbietung der letzten Kräfte ein wütender Vorstoß des Feindes. 254
Der Kampflärm schwillt wieder an. Auch der Panzerzug „Korfanty" hat wieder Mut gefaßt und bestreicht von seiner Bahnlinie her das Gelände zwischen Zyrowa und Roswadze. Vor der Zuckerfabrik Roswadze liegen die er schöpften Sturmkompanien Bergerhoffs und Maß manns. Der Feind hat sich in den breit gebauten Fabrik räumen eingenistet und kämmt mit seinen Maschi nengewehren das Feld ab, an dessen Ende die Stürmer liegen und vergeblich versuchen, das gutsitzende Insurgentenfeuer niederzukämpfen. Maßmann muß feststellen, daß zwei seiner Maschinengewehre unbrauchbar geworden sind. Die übrigen Gewehre schießen unregelmäßig, weil die Läufe zu heiß sind. Ständig treten Lade hemmungen ein. Mit Schützenfeuer ist wenig aus zurichten. Der Feind schießt jetzt mit Schrapnells und weiß es einzurichten, daß seine Lagen gerade über den Köpfen der Schützen stehen. Es ist nicht ratsam, den Stahlhelm über den Rand des niedrigen Gra bens zu heben. Einmal muß Maßmann hell auflachen. Ein Blind gänger wühlt sich wenige Meter vor der Stellung in den Sand. Und schon ist Konrad, der Jagdhund, aufgesprungen, um das Ding zu holen. „Zum Donnerwetter, Konrad, bist du wahn sinnig geworden?" „Ich wollte den Blindgänger zur Erinnerung mit nach Hause nehmen!" Maßmann schüttelt belustigt den Kopf. 255
„Und wenn das Biest nun explodiert, wenn du es hochnimmst?" Beschämt springt Konrad zurück. Daran hat er nicht gedacht. Auf der Landstraße von Krempa her nähert sich eine Staubwolke. Maßmann hebt das Glas vor die Augen. Noch kann er nichts erkennen. Es scheint ein Fuhrwerk zu sein. Jetzt werden auch die Männer der Schwarzen Garde aufmerksam. „Ich sehe einen Gaul!" „Jawohl! Man kann deutlich das Klappern von Hufeisen hören!" Maßmann läßt vor Staunen das Glas sinken. „Der Kerl ist wohl nicht in Ordnung!" Richtig, jetzt kommt, unbekümmert um die Ku geln und Granaten über die ungedeckte Land straße kutschierend, ein Fuhrwerk heran. Der Gaul scheint uralt zu sein, denn die Gangart, in der er sich bewegt, ist ein müder Schuckeltrab. Auf einmal springt Maßmann mit einem Ruck hoch und rennt auf das Fuhrwerk los. „Napoleon!" Ja, Napoleon ist es. Mit nacktem Oberkörper hockt er auf einem Karren, den einen Arm in einer Schnur, die er über dem Nacken zusammengebunden hat. Und der Karren ist ein leichter Minenwerfer! „Napoleon!" Der hat ein listiges Leuchten in den Augen und sieht nicht rechts noch links. Und tut so, als ob er 256
weder Maßmann kenne noch irgendeinen der Ka meraden der Schwarzen Garde. Mit einem Ruck fährt er durch den schmalen Graben und hält zwanzig Meter davor auf freiem Feld. In wenigen Sekunden bricht der Gaul zusammen, durchsiebt von unzähligen Geschossen. Napoleon schlägt die Stränge durch und richtet den Werfer. Huuuuuh! Der Schornstein der Fabrik, hinter dem ein schweres feindliches Maschinengewehr feuert, bricht zusammen. Menschenleiber wirbeln durch die Luft. Jetzt ist Maßmann bei ihm. Die beiden Männer tauschen einen tiefen Blick und gehen gemeinsam mit größter Geschwindig keit ans Werk. Fünfzehn der gefährlichen Koffer werfen sie zum Feind, bis seine Maschinen gewehre schweigen. Dann macht Napoleon Meldung. „Mit leichtem Minenwerfer zur Stelle, in Krap pitz besorgt. Der Gattin geht es ausgezeichnet. Mir auch!" Maßmann schluckt ein paarmal. Dann stellt sich Napoleon breitbeinig vor seine Kameraden und schwenkt eine Flasche. „DVVH. — steht allein da!" Der Schwarzwälder Himbeergeist des Krappitzer Arztes wurde brüderlich geteilt.
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oswadze wird genommen. Die Männer füllen sich in der Fabrik die Taschen mit Zucker und kauen ihn noch, als sie vor Deschowitz und Solownia schon wieder in schwerstem Feuer liegen. Bergerhoff führt die Reste seiner Schwarzen Schar mit todesmutiger Zielstrebigkeit in stunden langem Kampf noch über den Bahnhof Leschnitz hinaus bis hinter das Städtchen und sichert dort die wichtige Straße, die von Slawentzitz über Sa lesche und Lichinia zum Annaberg führt. Der Feind kann diesen Weg nicht mehr auf seiner Flucht benutzen und büßt unzählige Soldaten ein, die vom Annaberg zurückfluten und nun geradenwegs in das Feuer der Maschinengewehre Bergerhoffs hineinlaufen. Horadams Geschütze wirken Wunder. Nach den ersten gut sitzenden Granaten wird es ruhig auf dem Annaberg. Die am Hange ein gebauten Posten verlassen ihre Nester und ziehen sich, ohne weitere Schüsse abzugeben, zurück. Nur von Poremba her schwillt der Widerstand an, aber Horadam wartet nicht erst ab, bis die feindlichen Stoßtrupps angekommen sind. Seine Männer erheben sich nach kurzer Atempause und gehen mit Hurra zur Lösung der letzten Aufgabe vor. In wilden Sätzen stürmt das dritte Bataillon Oberland die Wyssokaer Straße empor. Die Eicken-Leute und die Männer der Sturm abteilung Heinz machen aus dem Sturm einen Wettlauf um den Siegeslorbeer. 258
Der Maschinengewehrtrupp der ersten Kom panie des dritten Bataillons Oberland stößt als erster über den Marktplatz von Annaberg hinaus. Die Klosterbrüder wollen es nicht glauben, daß der weiße Adler seine Fänge eingezogen hat. Und ihr Verstand beginnt zu zweifeln an der Gerech tigkeit ihres Gottes, der den „Ketzern" den Sieg lassen muß. In weiten Wellen stürmen jetzt die Bayern des ersten Bataillons Oberland heran. Zehn Meter vor aus Lulu Östereicher, der ganz und gar nicht damit einverstanden ist, daß Siebringhaus mit seinem dritten Bataillon schon am Ziele ist. Empört droht er mit der Faust. Neben dem dritten Bataillon stürmt mit keu chenden Lungen das zweite, das gerade bei Zyrowa die letzten Widerstandsnester zerschlagen hat. Zwölfmal schlagen die Glockenuhren des Klo sters. Die ersten deutschen Freikorpssoldaten bauen ihre Maschinengewehre ein, um den feindlichen Gegenstoß abzufangen. Schwerfällig rumpeln die Geschütze über den Markt, um Poremba und Leschnitz in Schach zu halten.
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aßmann liegt mit seiner Schwarzen Garde am Vorwerk Karlshof. Vom Bahnhof Leschnitz tönt das Krepieren der Handgranaten herüber. Bergerhoff ist also schon im Nahkampf. 259
Napoleon muß mit den Minen sparsam sein. Vom Kuhtal herüber kommt schweres Feuer, das nicht niedergekämpft werden kann, weil der Feind in besonders guter Deckung liegt. Langsam, in kleinen Sturmwellen arbeiten sich die Männer vor. Die Felder bieten kaum einen Schutz gegen den Geschoßhagel. Der Ausfall an Toten und Verwundeten wird wieder stärker. Da endlich schafft der letzte Sturmlauf des zweiten Bataillons der Oberländer Luft. Das Feuer des Feindes wird unsicher und stockend. Maßmann winkt seinen Männern zu. Hoch schwenkt Konrad die zerschossene Fahne, und in breiter Linie geht die Schwarze Garde vor. Jetzt gilt es, den Feind nicht mehr zum Sammeln kommen zu lassen und ihn von der Straße Kuhtal — Stockau fort ins freie Gelände zu drängen. An der Dreibrüderkapelle kläfft plötzlich ein feindliches Maschinengewehr. Bevor Napoleon seinen Minenwerfer herumreißen kann, um das Nest zum Schweigen zu bringen, schlagen die Garben in die Reihen. Maßmann wischt sich über die Wange. Ein Streifschuß hat sein rechtes Ohr aufgerissen. Da schreit plötzlich Konrad auf und wälzt sich stöhnend am Boden. Seine Hände halten den Leib gepreßt, und durch die Finger sickert unaufhörlich helles Blut. Napoleon wirft die erste Mine und zerfetzt mit einem Volltreffer das Nest. Von Feindesseite fällt kein Schuß mehr. 260
Maßmann hat sich über Konrad gebeugt und ihm sanft die Hände fortgezogen. Ein Querschläger hat dem Jungen den Leib aufgerissen. Mit geschlos senen Augen liegt er da. Alles Blut ist aus seinen Wangen gewichen, und die bleichen Lippen zucken schmerzverzerrt. Behutsam legen ihn die Kameraden auf eine Tragbahre, die sie aus Ge wehren bilden. Langsam tragen sie ihn den Annaberg hinauf. Schaum ist ihm vor den Mund getreten, und seine Augen glänzen matt. Maßmann hält seine Hand und versucht vergeblich, ein Wort zu sagen. Vorsichtig setzen die Träger Schritt vor Schritt. Nacheinander drängen sich die Kameraden vor bei und wollen den Jungen noch einmal sehen. Maßmann gibt ein Zeichen stehenzubleiben. Zart richtet er den Kopf Konrads auf und weist zum Annaberg. Da geht an dem Turm der Kloster kirche, weit leuchtend und flatternd, die deutsche Fahne hoch. Und deutlich klingt von drüben das Deutschlandlied. Die Männer der Schwarzen Garde nehmen den Stahlhelm ab und singen das Lied zu Ende. Und bevor sie noch die Sturmriemen wieder unter das Kinn schieben, hat Konrad sein junges Leben ver röchelt. Maßmann nimmt die zerfetzte Fahne und hält sie über den toten Konrad Ertel. „Ich h a b e L a n g e m a r c k u n d V e r d u n erlebt. Das w a r e n die H ö h e p u n k t e des großen Krieges. A n n a b e r g aber wird das Symbol e i n e r d e u t s c h e n J u g e n d sein, die 261
in eine n e u e Welt zieht, um die F r e i h e i t zu f i n d e n ! "
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ls die Schwarze Garde die Landstraße nach Leschnitz besetzt, trifft sie auf das erste Ba taillon Oberland, das die letzten Hänge von ver sprengten Feinden säubert. Östereicher tritt zu Maßmann und legt die Hand an den Helm. „Den Annaberg haben wir. Aber noch ist Deutschland nicht frei. Der Kampf geht weiter!" Horadam gibt die erste wahrheitsgetreue Mel dung nach Oberglogau. „Deutsche Freikorps erstürmten nach blutigen und verlustreichen Kämpfen am 21. Mai den Annaberg. Die Front des Feindes wurde in einer Tiefe von fünfzehn Kilometer und einer Breite von fünfundzwanzig Kilometer überrannt. Sechs Geschütze, ungezählte Maschinen gewehre und anderes Kriegsmaterial wurden erobert. Die deutschen Freikorps befinden sich in weiterem siegreichem Vordringen." Der General in Oberglogau steckt die Fähnchen weiter. Sein Gesicht trägt ein glückliches Lächeln, und der Stabschef bekommt viele tiefgründige Worte über den Glauben der Jugend Deutschlands zu hören. Die Telefongespräche aus Berlin sind seltener geworden. Man hat sich dort scheinbar mit den Verhältnissen abgefunden und hofft vielleicht 262
auch, daß nicht viele der Rebellen jemals die Hei mat wiedersehen werden. Weit jenseits aber von der Furcht der Feigen und vom Haß der Bösen marschieren die deut schen Freikorps in den Osten. Ihre Fahnen tragen das Wort Freiheit, und ihre Herzen schlagen im Rhythmus der Pflicht. Über fünfhundert Gefallene liegen an den We gen und Dörfern, an den Bergen und Tälern, die sie stürmten. Und das Blut der Fünfhundert for dert so stürmisch und zwingt so unwiderstehlich, daß alle die, die einmal aufgebrochen sind, keine Ruhe finden, bis die Fahnen vom Berge der Frei heit wehen und den ersten Tag der neuen Welt verkünden. Bis zu diesem Tage sind sie Rebellen. Dann aber werden sie die ersten Bürger eines gewaltigen Reiches sein. Ende.
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Das Wollen und die Taten deutscher Männer, wie dieses Buch sie beschreibt, beruhen auf ge schichtlicher Wahrheit. Lediglich das Freikorps „Schwarze Garde", die Gestalten des Leutnants Maßmann und seiner Freunde sind dichterische Erfindung.
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Der Ausklang Ein militärpolitischer Anhang
Am 22. Mai: Die deutschen Freikorps bleiben fast durchweg in ihren am vorigen Tag eroberten Stellungen. Die Freikorps Lensch und Winkler geben aus taktischen Gründen die von ihnen eingenommene Linie zwi schen Wielmirzowitz und Kowalliks ruh auf und ziehen ihre Truppen näher an Leschnitz heran. Das Detachement Graf Strachwitz fällt für weitere Kampfhandlungen aus. Bergerhoff treibt mit seiner Schwar zen Schar von Lichinia vorgehende feindliche Stoßtrupps zurück und geht über Lichinia bis Salesche vor. Nachts muß er allerdings seine Sol daten wieder bis Leschnitz zurück nehmen. Der erwartete große feindliche Ge genangriff erfolgt nicht. Dagegen be 265
ginnt ein mörderischer Kleinkrieg, weil die deutschen Korps zu schwach sind, eine geschlossene Front zu bilden. Die Meldungen, die über die feind lichen Gegenbewegungen eintreten, sind so schwerwiegend, daß wesent liche Umgruppierungen vorgenom men werden müssen. Das gesamte erste Bataillon Oberland wird unter Lulu Östereicher auf dem Annaberg in Reserve gestellt. Am 22. Mai: Freikorps Winkler wird durch das Bataillon von Watzdorf abgelöst und geht in Roswadze in Reservestellung. Die deutschen Freikorps erfahren, daß der Feind starken Nachschub be kommen hat. In Olschowa sollen zwei Bataillone mit fast zwanzig Maschinengewehren bereitstehen, ebenso viele Bataillone mit zahlreichem Kriegsmaterial zwi schen Klutschau und Poppitz. Um Salesche soll sich ein Regiment aufgestellt haben, und auch Lichinia soll von einem Bataillon besetzt wor den sein. 266
Am 23. Mai: Der feindliche Gegenstoß wird mit außerordentlicher Wucht vorge tragen. Starkes Artilleriefeuer auf den deut schen Frontabschnitten fügt den Frei korps wiederum schwere Verluste bei. Den Hauptstoß hat Bergerhoff mit seiner Schwarzen Schar auszuhalten. Der Feind rennt auf der Linie Lenkau—Lichinia—Scharnosin gegen die dünne deutsche Linie an. Gleichzeitig wirft er sehr gut bewaffnete Sturm bataillone gegen Groß-Stein vor. Der feindliche Gegenangriff ist an fangs erfolgreich. Besonders die Schwarze Schar ist in Gefahr, völlig aufgerieben zu werden. Im letzten Augenblick stürmt Lulu Östereicher mit dem ersten Bataillon Oberland vom Annaberg herunter und wirft sich dem Feind in Rücken und Flanke. Der Feind muß mit großen Verlusten zurückweichen. Am 23. Mai: Um Leschnitz werden Kämpfe geführt.
erbitterte
Der Oberländer Leutnant Diebitsch stellt, obwohl er zwei Tage zuvor einen leichteren Bauchschuß erhalten 267
und sich gewaltsam aus dem Lazarett befreit hat, die Verbindung zwischen Bergerhoff und Freikorps Oberland her. Durch Oberlands Vorgehen wird der Untergang der Schwarzen Schar ver hindert. Alle verfügbaren Korps setzen zum Gegenstoß an. Der Feind wird über Leschnitz zurückgeschlagen und muß den Deutschen Lichinia, Salesche, Vorwerk Oberhof und Klutschau lassen. Lulu Östereicher hat mit seinen Män nern den Löwenanteil des Sieges. Finsterlin geht mit seinen Norddeut schen ebenso stürmisch vor. Sein zweites Bataillon überrumpelt den Feind in Scharnosin, wirft ihn aus dem Scharnosiner Wald hinaus, treibt ihn über das Vorwerk Johannis hof auf Olschowa zu. Vor Olschowa bleibt der deutsche Vorstoß im feindlichen Vernichtungs feuer stecken. Die dritte Kompanie wird völlig auf gerieben. Finsterlin greift persönlich ein und bricht mit einem zusammengerafften 268
Behelfstrupp Rücken.
dem
Feind
in
den
Am 23. Mai: Olschowa wird endlich genommen. Die Freikorps halten die neue Linie von Dollna über Olschowa bis Sa lesche. Am 24. Mai: In der Nacht werden plötzlich zur größten Bestürzung der Freikorps und ihrer Führer von Oberglogau Befehle ausgegeben, die das sofortige Räumen des Geländes bis Leschnitz verlangen. Angeblich sei die Interalliierte Kom mission bereit, einen Plan für die Ge samtsäuberung des Kampfgebietes zu genehmigen. Da die Freikorpsführer keine Gele genheit zu einer Besprechung finden, folgen einige den Befehlen. Die übri gen Führer müssen sich wutschnau bend anschließen. So wird die Räumung tatsächlich durchgeführt! Die Freikorps bleiben Gewehr bei Fuß stehen und fordern die Weiterführung des Kampfes bis zur Vernichtung des Feindes. Am 29. Mai: Oberglogau erläßt einen Befehl, dem zufolge jeder Angriff der Freikorps zu unterbleiben hat! 269
Am 31. Mai: Dem Befehl schickt Oberglogau einen Aufruf an die Truppen nach. Der Aufruf enthält eine Warnung, sich in kriegerische Abenteuer einzulassen! Die deutschen Freikorps meutern nach vorn! Am 31. Mai: Unter Anführung und auf Betreiben Oberlands wird der Feind, der eben falls gerade Miene zum Angriff macht, überraschend angerannt. Die Verluste sind wiederum erheb lich. Dieses Mal ist der Ausfall an Offizieren unerhört. So verliert eine Kompanie des dritten Bataillons Oberland sämtliche Offiziere. Die Sturmabteilung Heinz meistert besonders schwierige Aufgaben. Rosniontau wird erobert. Nach hartem Kampf fällt Kalinow. Die Bahnstrecke wird beim Bahnhof Schimischow gesprengt und damit dem Feind der Einsatz von Panzer zügen unmöglich gemacht. Unter den gefallenen Feinden be findet sich eine Anzahl französischer Soldaten. 270
Aus strategischen Gründen muß ein Teil des eroberten Geländes wieder freigegeben werden. Die Front ist jetzt bei Dollna fest und gut gesichert. Fünfzehn Maschinengewehre erobert worden.
sind
Vor allem aber ist es das nicht zu unterschätzende Verdienst der Ober länder, die feindlichen Reserven völ lig durcheinandergebracht und emp findlich geschädigt zu haben. Lulu Östereicher stößt gemeinsam mit Diebitsch vor und entreißt dem Feind das von einem ganzen Regiment ver teidigte Lichinia. Auf deutscher Seite fechten kaum zweihundert Mann. Am 31. Mai: Die Freikorpsführer beschließen, unter Anspannung aller Kräfte den Feind in einem dritten Generalangriff zu überrennen und befreiend in das Industriegebiet einzudringen. Der General in Oberglogau ist ein entschiedener Gegner dieses Planes. Am 3. Juni: Der Feind geht erneut zum General angriff vor, wird aber auf der ganzen Linie zurückgetrieben. 271
Die deutschen Freikorps drängen zur Tat und kommen mit Oberglogau in ernsthafte Schwierigkeiten. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß ein Einfall in das Industriegebiet auf der Linie Kosel—Gleiwitz—Hinden burg nicht nur von militärischem Wert sein wird, sondern daß darüber hinaus von der deutschen Bevölke rung ein allgemeiner Befreiungs kampf unter Führung der deutschen Freikorps begonnen werden kann. Oberland verschafft sich die nötigen Lastkraftwagen, um die Freiwilligen von der Front zu lösen und im Hand streich in das Industriegebiet zu werfen. Oberglogau läßt die Lastkraftwagen beschlagnahmen! Am 4. Juni: Die deutschen Freikorps greifen die Schlüsselstellung zum Industriegebiet an und gehen auf die Linie Slawentzitz —Kuschnitzka—Klodnitz vor. Verlustreiche Kämpfe entwickeln sich zunächst bei Poppitz und Sa lesche. Eine Stockung des Angriffs vor Mal chow benutzt der Feind, um die Brücken über die Klodnitz in und um 272
Slawentzitz in die Luft zu sprengen. Nach der Eroberung von Slawentzitz müssen die deutschen Freikorps fest stellen, daß in Ujest ein französisches Bataillon bereitliegt, um den in ge waltiger Übermacht heranrückenden Feind zu unterstützen. Der Handstreich auf das Industrie gebiet muß zurückgestellt werden, da ohne Lastkraftwagen ein über dreißig Kilometer tiefer Einbruch in die feindliche Front nicht durchführ bar ist! Die Freikorps müssen ihren Angriffs plan umordnen; Wut im Herzen ge gen Oberglogau und die von dort beeinflußten, den Freikorps mißtrau enden Kommandeure stürmen sie ge gen die breite feindliche Front. Der Durchbruch erfolgt die Klodnitz ent lang über Kandrzin (Heydebreck) bis Kosel—Oderhafen. Der Feind versucht mit viertausend Mann, unterstützt von Artillerie und einem Panzerzug, im Gegenstoß die überaus wichtigen Brücken wieder zugewinnen. Am 4. Juni: Unter schwersten Verlusten werden seine zahlreichen Angriffe abge schlagen. 273
Am 5. Juni: Die deutschen Freikorps verteidigen die eroberten Stellungen und kön nen sie, verbissenen feindlichen An griffen zum Trotz, noch ausbauen. Trotz der blutigen Nahkämpfe sind über sechshundert Gefangene ge macht worden. Am 10. Juni: Der feindliche Kommandostab muß zugeben, daß insgesamt achttausend Mann die Waffen gestreckt haben!
Die deutsche Regierung trachtet da nach, wie sie sich der „Freikorps gefahr" entledigen kann! Mitte Juni: Die deutsche Regierung schnürt die Freikorps völlig ab und überläßt sie ihrem Schicksal.
Französische Truppen werden vor die zertrümmerte feindliche Front ge worfen. Die deutschen Freikorps sind end gültig verraten! Am 20. Oktober: Nach unwürdigen Zwischenspielen entscheidet der Völkerbund über den Kopf der jämmerlichen Regierung 274
Deutschlands zugunsten des von den Freikorps geschlagenen Feindes. Der Opfertat der deutschen Rebellen bleibt der praktische Erfolg versagt. Um so größer aber ist der Erfolg auf seelischem Gebiet.
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