Atlan - König von Atlantis Nr. 457 Dorkh
Der Arkonide und der Wasserrichter von H. G. Francis
Atlans kosmisc...
8 downloads
456 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan - König von Atlantis Nr. 457 Dorkh
Der Arkonide und der Wasserrichter von H. G. Francis
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, des Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Vorläufig können sie jedenfalls nicht mehr tun als versuchen, jeder tödlichen Konfrontation auszuweichen und am Leben zu bleiben. Gegenwärtig ist Atlan von seinen Gefährten getrennt. Auf dem Titanenpfad wird er als Gefangener in Richtung SCHLOSS gebracht. Der, der den Arkoniden in Fesseln mit sich führt, sieht seinen Gefangenen als kostbare Beute an. Doch die Beute wird ihm bald abgejagt – und es kommt zu der Begegnung: DER ARKONIDE UND DER WASSERRICHTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide in Gefangenschaft. Kroppan ‐ Ein Turganer. Tzufadas ‐ Ein Valaser. Heerun ‐ Wasserrichter von Nophinen. Cheffryn ‐ Heeruns Tochter.
1. Atlan horchte. Aus der Ferne hallte Hufgetrappel zu ihm herüber, und Kroppan lenkte die Chreeans plötzlich in eine andere Richtung. Er wich von der Karawanenstraße ab. Die Schritte der Chreeans schienen unsicher zu werden. Bisher hatte Kroppan, dessen Gefangener er war, die Tiere durch steiniges Gelände geführt, in dem es nur selten weichen, sandigen Boden gab. Jetzt klangen die Schritte der Reitechsen dumpf. Obwohl der Kopf des Arkoniden mit einem Tuch verhüllt war, so daß er nichts sehen konnte, wußte er, daß sie sich nördlich des Titanenpfads befanden und sich in östlicher Richtung bewegten. Atlans Versuche, mit Kroppan zu reden, waren gescheitert. Der Turganer schwieg beharrlich. Für den Arkoniden war klar, daß Kroppan ihn nicht nur für einen wertvollen, sondern auch für einen gefährlichen Gefangenen hielt, bei dem er ständig damit rechnen mußte, daß er sich zu befreien suchte. Nicht zu unrecht. Atlan war entschlossen, jede sich ihm bietende Chance zu nutzen. Bis jetzt war es ihm jedoch lediglich gelungen, seine Armfesseln ein wenig zu lockern. Davon hatte Kroppan noch nichts bemerkt, da die Arme unter einem Umhang verborgen waren. Die Chreeans wurden unruhig. Sie verfielen in einen langsamen,
zögernden Trott. Atlan hörte die Schreie Kroppans, mit denen er die Tiere antrieb. Doch der Widerstand der Reitechsen wurde immer größer. Nur widerwillig bewegten sie sich voran. Sie fühlten sich abseits der Karawanenstraße nicht wohl. Es war, als ob sie eine Gefahr witterten. Kroppan fluchte. Klatschend schlugen seine Hände gegen den Hals seines Chreeans, doch er schien damit nur wenig zu erreichen. Plötzlich wurde es still. Dann hörte Atlan ein eigenartiges Sirren. Er beugte sich nach vorn, um besser hören zu können. Kroppan ächzte, als ob er sich gegen jemanden zu Wehr setzte. Dann vernahm der Arkonide ein leises Schleifen. Die Lastchreeans flüchteten in panischer Angst. »Kroppan?« fragte der Arkonide. Narr, antwortete der Logiksektor. Er ist nicht mehr da. Jemand hat mit ihm gekämpft und gewonnen. Mit aller Kraft zerrte der Unsterbliche an seinen Fesseln. Irgendeine Gefahr lauerte auf ihn. Kroppan war ihr bereits zum Opfer gefallen. Das nächste Opfer würde er sein. Er spürte, daß das Chreean unter ihm zitterte. Das Tier versuchte, umzukehren, konnte sich jedoch nicht umdrehen, weil der Pfad zu schmal war. Der Arkonide fühlte, daß es auf jede Sekunde ankam. Das bedrohliche Sirren war verstummt, doch das Chreean unter ihm wurde immer unruhiger. Als Atlan eine Hand befreit hatte, vernahm er das Sirren abermals. Es kam langsam näher. Die Reitechse, auf der er saß, bäumte sich auf und warf sich gleichzeitig herum. Der Arkonide fiel aus dem Sattel. Er landete im weichen Sand, und er hörte, daß sein Reittier in panischer Angst davonstürmte. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Hastig versuchte er, das Tuch herabzureißen, das seinen Kopf verhüllte. Es gelang ihm erst, als das unheimliche Sirren verklungen war. Atlan befand sich in einem Hohlweg, der auf beiden Seiten von steil aufsteigenden Felsen begrenzt wurde. In dem tiefen Sand, den
der Wind in den Hohlweg getrieben hatte, zeichneten sich zahlreiche Spuren ab. Der Arkonide sah, daß Kroppan seinen Lähmstrahler verloren hatte. Offenbar war er von dem Angreifer überrascht worden, so daß er die Waffe nicht mehr hatte einsetzen können. Atlan nahm sie auf und wiegte sie nachdenklich in der Hand, während er die Spuren betrachtete. Viel ließ sich aus ihnen nicht ableiten. Sie bewiesen, daß ein Kampf stattgefunden hatte, und daß die Opfer vom Sieger in einen Felsspalt geschleift worden waren. Sie sagten jedoch nichts über die Art des Angreifers aus. Im Sand befanden sich nur lange Streifen und Bögen, wie sie von keinem Atlan bekannten Fuß hinterlassen wurden. Kroppan und sein Chreean wurden gefangen, stellte der Logiksektor fest. Sie sind in der Höhle, und du bist auch gleich dort, wenn du weiterhin träumst. Atlan wich vorsichtig zurück. Dabei geriet sein Fuß in den weichen Sand und sackte ein. Der Arkonide warf sich zur Seite. Vorsichtig zog er den Fuß aus dem Treibsand, der so fein war, daß er kaum Widerstand bot. Du befindest dich auf einem schmalen Pfad. Links und rechts ist Treibsand. Eine ideale Falle. Atlan orientierte sich nun an den Spuren der Chreeans. Die Echsen hatten instinktiv den richtigen Weg gefunden. Er war kaum drei Meter weit gegangen, als er wiederum ein scharfes Sirren vernahm und vor ihm plötzlich ein Schatten auftauchte. Er hob den Lähmstrahler und löste ihn sofort aus. Dann erst sah er, was ihn angriff. Es war eine riesige Spinne. Das Tier war etwa einen Meter hoch und hatte acht Beine, die annähernd vier Meter lang waren. Darauf bewegte es sich mit unglaublicher Geschwindigkeit voran. Jetzt aber verharrte es laut sirrend auf der Stelle. Es war kaum zwei Schritte von dem Arkoniden entfernt. Dieser schoß erneut, und jetzt brach die Spinne betäubt zusammen.
Stöhnend wischte Atlan sich den Schweiß von der Stirn. Kein Wunder, daß Kroppan überrascht wurde. Das Biest war zu schnell für ihn. Nur der Tatsache, daß er den Strahler schußbereit in der Hand gehalten hatte, war zu verdanken, daß er noch lebte. Kroppan hatte nicht so schnell reagieren können, und auch sein Chreean hatte offenbar erst begriffen, als schon alles vorbei gewesen war. Vorsichtshalber verabreichte Atlan der Spinne noch eine weitere Dosis, um die Lähmung zu vertiefen. Dann wollte er sich umdrehen und den geflüchteten Reitechsen folgen. Irrtum, signalisierte der Extrasinn. Du gehst davon aus, daß Kroppan tot ist. Das ist falsch. Der Arkonide stutzte. Er blickte zur Felsspalte hinüber, aus der die Spinne gekommen war. Er verspürte wenig Lust, in die Höhle einzudringen und Kroppan herauszuholen, zumal keineswegs feststand, daß er noch zu retten war. Art der Spinnen war es, die Opfer mit einem Biß zu paralysieren und damit jeglichen Widerstand zu brechen. Das verabreichte Gift konnte aber auch tödlich wirken. Erschauernd blickte der Unsterbliche die Spinne an. Er schätzte, daß der Leib, der aus zwei Ovalkörpern bestand, etwa anderthalb Meter lang war. Bei dieser Größe mußte er davon ausgehen, daß auch die ausgeteilte Giftmenge erheblich war. War sie aber wirklich zu groß für Kroppan? Widerwillig ging er zum Felsspalt hinüber. Er hielt den Lähmstrahler, der einer Waggu ähnlich war, schußbereit, da er nicht wissen konnte, ob die Spinne allein in dem Spalt hauste, oder ob noch mehr Raubtiere dieser Art auf ihn lauerten. Vor der Höhle lagen einige vertrocknete Äste. Er nahm den größten von ihnen auf und entzündete ihn, um ein wenig Licht zu haben. Dann drang er in den Spalt ein, aus dem ihm ein stechender Geruch entgegenschlug. Der Spalt war etwa zwei Meter tief und verengte sich zu einem Tunnel, der gerade so groß war, daß die Spinne hindurchkriechen
konnte. Das glattpolierte Gestein verriet, daß sie es häufig getan hatte. »Kroppan?« rief der Arkonide. In der Höhle war es still. Nicht das geringste Geräusch verriet, ob sich jemand darin aufhielt. Vorsichtig kroch Atlan weiter. Er hielt die Waffe in der rechten, die Fackel in der linken Hand. So glaubte er, auf jeden Angriff vorbereitet zu sein. Der Tunnel war etwa zehn Meter lang. Dann weitete sich eine Höhle vor dem Arkoniden. Dieser sah Kroppan, der wenige Schritte von ihm entfernt auf dem Boden lag. Neben ihm kauerte seine Reitechse. Sie hielt den Kopf hoch, hatte die Augen aber so verdreht, daß Atlan das Weiße ihrer Augäpfel sah. Sie war vor Angst in einen tranceähnlichen Zustand verfallen. Atlan hob den Arm mit der Fackel. Die Höhle war so groß, daß er sie nicht überblicken konnte. Einige Meter von ihm entfernt hingen große Kokons von der Decke herab. Einige von ihnen waren aufgebrochen. Der Staub, der sich an ihnen abgesetzt hatte, ließ erkennen, daß sie schon sehr alt waren. In anderen aber befanden sich die Opfer der Spinne. Von den Kokons ging der stechende Geruch aus. Atlan kniete neben Kroppan nieder und versuchte, ihn aufzuwecken. Es gelang ihm nicht. Da vernahm er ein leises Stöhnen. Überrascht blickte er auf. Da er nicht erkannte, woher das Geräusch gekommen war, stand er auf und ging einige Schritte weiter in die Höhle. Ein großer Kokon geriet in das Lichtfeld der Fackel. Der obere Teil des Kokons war fast durchsichtig. Durch das seidige Gespinst schimmerte ein weißes, menschliches Gesicht mit schmalen, schwarzen Augen. Unwillkürlich hielt der Arkonide den Atem an. Er war sich dessen sicher, daß sich die Augen bewegt hatten. Langsam näherte er sich dem Kokon, während er sich immer wieder sagte, daß er sich geirrt
haben mußte. Warum? fragte der Extrasinn. Spinnen bewahren häufig ihre noch lebende Beute auf. In allen Kokons können demnach lebende Wesen sein. Das war nicht von der Hand zu weisen. Als Atlan unmittelbar vor dem Kokon stand, wurde das feine Gespinst noch durchsichtiger. Deutlich sah er zwei weit geöffnete Augen. Sie blickten ihn an, und die Lider bewegten sich. Das Opfer ist bei vollem Bewußtsein! Atlan griff nach dem Kokon, der an zahllosen, hauchdünnen Fäden von der Decke herabhing. Das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Das Wesen, das in dem Kokon steckte, lebte und war bei Bewußtsein. Es hatte die Nähe der Spinne gespürt. Gesehen hatte es in der Dunkelheit kaum etwas, dennoch hatte es vermutlich verfolgen können, wie das Tier ihre Opfer verzehrte, und es hatte darauf gewartet, selbst auch umgebracht zu werden. Das Seidengespinst zerriß unter den Händen des Arkoniden, und wenig später kippte ihm ein Mädchen entgegen. Es war so geschwächt, daß es sich nicht auf den Beinen halten konnte. Es versuchte, etwas zu sagen, aber die Stimme versagte. Atlan nahm es behutsam auf die Arme und trug es hinaus. Als sie ins Freie kamen, preßte das Mädchen stöhnend die klauenartigen Hände auf die Augen. Atlan legte seinen Umhang ab und verhüllte damit den Kopf des Mädchens, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Er überzeugte sich davon, daß die Spinne noch immer kampfunfähig war. Dann kehrte er in die Höhle zurück und holte nacheinander Kroppan und die Reitechse heraus. Er führte sie aus dem Hohlweg in die offene Wüste. Dann kehrte er in die Höhle zurück und untersuchte die anderen Kokons. Er stellte fest, daß das Mädchen die einzige lebende Beute gewesen war. Vorsichtshalber verabreichte er der Spinne eine weitere Strahlendosis. Er hätte das Tier gern getötet, hatte jedoch keine geeignete Waffe dafür zur Verfügung. Als er sicher sein konnte, daß
es so schnell nicht aufwachen würde, folgte er den Spuren der Chreeans. Er fing die Packtiere wieder ein, und es gelang ihm, sie an der betäubten Spinne vorbei zu Kroppan und dem Mädchen zu führen. Der Turganer war noch immer ohne Bewußtsein. »Endlich kommst du zurück«, sagte das Mädchen mit schwankender Stimme. »Ich hätte es nicht länger allein ausgehalten.« »Du kannst ja schon wieder reden«, entgegnete er freundlich. »Das ging schneller, als ich gedacht habe. Wie lange warst du denn in dieser scheußlichen Höhle?« »Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Es müssen über zweihundert Jahre gewesen sein.« Der Arkonide lächelte mitfühlend. Er konnte sich denken, daß ihr die Zeit endlos vorgekommen war. »Ich bin froh, daß ich dich noch rechtzeitig herausholen konnte«, sagte er. »Rechtzeitig?« Sie beugte sich nach vorn und schob das Tuch etwas höher, um wenigstens einen Teil ihres Gesichts zu entblößen. »Was meinst du mit rechtzeitig?« »Bevor die Spinne dich töten konnte.« Er sah, daß ihr Mund lächelte. »Das hat sie zweihundert Jahre lang nicht getan. Ich weiß auch nicht, warum. Ständig habe ich gefürchtet, daß sie es tun würde. Am meisten Angst habe ich gehabt, wenn sie mich massiert hat, um den Kreislauf anzuregen. Aber sie hat immer andere Opfer gewählt. Tausende sind unmittelbar neben mir aufgefressen worden. Nicht nur von der Spinne, die heute lebt. Sie leben nicht besonders lange – vielleicht drei oder vier Jahre. Ich kann das schlecht abschätzen, weil ich die Tage nicht zählen konnte, aber mehr als vier Jahre hat wohl keine gelebt. Da ich fünfunddreißig Spinnen gezählt habe, die nacheinander in der Höhle gehaust haben, müssen etwas mehr als zweihundert Jahre verstrichen sein.«
Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Atlan sah, daß Tränen über ihre Wangen liefen. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das heißt.« Er brachte kein Wort über die Lippen. Er erkannte, daß sie nicht phantasierte. Sie war tatsächlich sehr lange in der Höhle gewesen, vielleicht sogar wirklich zweihundert Jahre, und sie hatte unbeschreibliche Qualen ausgestanden. »Manchmal habe ich gewünscht, daß es endlich vorbei sei«, fuhr sie flüsternd fort, »aber die Spinnen haben mich nicht erlöst. Ich bin verflucht.« Atlan bemerkte nicht, daß Kroppan die Augen öffnete. Allzu sehr war er mit dem Mädchen beschäftigt. »Wer bist du?« fragte er. »Mein Name ist Cheffryn«, antwortete sie. »Man hat mich vor die Höhle gelegt. Man hat mich der Spinne zum Fraß vorgeworfen. Mein eigener Vater war dabei. Er hat das Urteil gesprochen.« Sie konnte nicht weiterreden. Die Gefühle überwältigten sie. Sie senkte den Kopf und weinte. Atlan sah, daß ihre Schultern zuckten. »Es ist vorbei«, sagte er tröstend. »Die Spinne wird dir niemals wieder etwas tun.« Er hörte ein Geräusch hinter sich und wollte sich umdrehen. In diesem Moment warf sich Kroppan auf ihn und schlug ihm die Fäuste in den Nacken. Der Hieb war so kräftig, daß Atlan kampfunfähig in den Sand stürzte. Bevor er sich wieder aufraffen konnte, hatte Kroppan ihn gefesselt. Cheffryn schrie empört. Sie wich vor dem Turganer zurück. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, erklärte er mit kehliger Stimme. »Dies ist mein Gefangener. Ich habe vor, ihn auch als Gefangenen abzuliefern.« »Er hat dir das Leben gerettet.« Der Turganer lachte abfällig. »Du weißt nicht, was das bedeutet«, sagte sie beschwörend. »Er hat viel mehr für dich getan, als dir nur das Leben zu retten.«
»Halt den Mund«, entgegnete er grob, »sonst schicke ich dich in die Höhle zu der Spinne zurück.« Sie war so entsetzt, daß sie aufsprang und weglief. Er stürmte hinter ihr her und hielt sie fest. Er zog ihr das Tuch vom Kopf. Geblendet legte sie die Hände vor die Augen, so daß sie hilflos war. »Ich tuʹs ja nicht«, sagte er besänftigend. »Keine Angst. Ich nehme dich mit. Und wenn wir aus dieser Wüste heraus sind, steht dir das Leben offen. Du kannst zu den Valasern zurückkehren. Alles wird gut werden.« Sie schüttelte den Kopf und bedeckte ihre Augen wieder mit dem Tuch. Widerstrebend folgte sie Kroppan zu einem Chreean. Sie ließ sich auf den Rücken der Reitechse heben und klammerte sich an den Sattel. Sie war so geschwächt, daß Atlan glaubte, sie werde herabfallen. Er konnte ihr jedoch nicht helfen. »Ich habe Durst«, sagte sie leise. »Schrecklichen Durst. Gib mir was zu trinken.« »Wir haben nichts mehr«, erwiderte Kroppan. »Wir sind zwei Tage lang durch die Wüste geritten. Aber bald kommen wir zu einer Siedlung, wo wir bestimmt Wasser bekommen. Solange mußt du durchhalten.« Sie nickte und schwieg. Dieses Mal verzichtete Kroppan darauf, seinem Gefangenen den Kopf zu verhüllen. Er ritt jedoch neben ihm, und er drohte ihm an, daß er ihm sofort wieder ein Tuch über den Kopf werfen werde, wenn sich ihnen irgend jemand näherte. Atlan verzichtete auf eine Antwort. Der Arkonide hatte vom Neffen Duuhl Larx den Auftrag erhalten, Dorkh zu erobern, was nicht anderes bedeuten konnte, als hier im Sinne des Neffen für Ordnung zu sorgen. Razamon und Lebo Axton sollten ihm dabei helfen. Dieser Befehl mußte jedoch auch im Interesse der SCHLOSSHERREN sein. Atlan hielt es für möglich, daß man ihn im SCHLOSS mit offenen Armen empfing. Wenn es so war, dann würde Kroppan sein blaues
Wunder erleben. Als sie etwa eine Stunde lang durch die Wüste gezogen waren und sich dem Titanenpfad näherten, tauchten die Häuser einer kleinen, ärmlichen Siedlung vor ihnen auf. Atlan hatte einige Male versucht, mit Cheffryn zu sprechen, doch Kroppan hatte es jedesmal verhindert. Er wollte, daß das valasaische Mädchen sich von dem Schock erholte, den sie erlitten hatte. Schließlich gab der Arkonide auf, obwohl er ganz anderer Ansicht als Kroppan war. Er war davon überzeugt, daß sie Cheffryn am meisten dadurch helfen konnten, daß sie mit ihr sprachen. Das Schicksal des Mädchens beschäftigte ihn. Sie hatte unvorstellbar Grauenhaftes erlebt. Und wenn man ihren Worten glauben wollte, so hatte man sie absichtlich der Spinne zum Fraß vorgeworfen. Bei jenen, die sie zu einem so grausamen Schicksal verurteilt hatten, war gar ihr eigener Vater gewesen. Der Unsterbliche konnte sich kein Vergehen vorstellen, das eine solche Strafe rechtfertigte. In seinem langen Leben war er noch nie einem Volk begegnet, das solche Strafen verhängte. Du irrst dich, wandte der Extrasinn ein. Niemand konnte wissen, daß sie in einem Seidenkokon überleben würde. Auch ihr Vater hat damit gerechnet, daß die Spinne sie sofort umbringen würde. Alle anderen in dem Spinnennest sind getötet worden. Das war richtig. Doch damit war alles nur noch geheimnisvoller geworden. Wie ließ sich erklären, daß ausgerechnet das Mädchen von der Spinne und ihren mehr als dreißig Nachfahren verschont geblieben war? Die Spinnen hatten Cheffryn sogar massiert, um ihren Kreislauf zu beleben, und auf irgendeine Weise mußten sie sie ernährt haben. Der Seidenkokon kann auch so etwas wie ein Lebenserhaltungssystem gewesen sein. Atlan hoffte, daß sich eine Gelegenheit für ihn ergeben würde, mit dem Mädchen zu sprechen, sobald sie in der Siedlung waren. Sie kamen an ärmlichen Feldern vorbei, auf denen kaum etwas
wuchs. Der Boden war sandig und versteppt. Die Bauern dieser Gegend nahmen offensichtlich unendliche Mühen auf sich, um sich hier halten zu können. Als die beiden Männer und das Mädchen die Häuser der Siedlung erreichten, sah Atlan Wesen, die wie terranische Känguruhs mit menschlichen Gesichtern aussahen. Sie hatten ein kurzes, sandfarbenes Fell, kräftige Sprungbeine, kurze Ärmchen mit kleinen, zierlichen Händen, melancholische, braune Augen und abstehende Affenohren. Bekleidet waren sie nicht. Atlan bemerkte, daß sich auf der anderen Seite der Siedlung zwei Täler anschlossen, in denen kohlartige Pflanzen angebaut wurden. Hier waren die Anbaubedingungen offenbar besser. Kroppan führte die kleine Karawane bis zu einem Brunnen, der zwischen den Häusern lag. »Dies ist Jitterzog«, sagte er. »Die Jiriffen wohnen hier.« Schüchtern und zaghaft kamen die känguruhartigen Wesen aus den Häusern hervor. Kroppan warf Atlan ein Tuch über den Kopf, um sein Gesicht vor den neugierigen Blicken der Jiriffen zu verbergen. Dann bat er sie höflich um etwas Wasser aus dem Brunnen. Er wies auf das Mädchen und sagte: »Sie ist krank und total erschöpft. Eine Ruhepause würde ihr guttun.« »Ihr dürft so lange bleiben, wie ihr wollt«, antwortete einer der Jiriffen. »Ihr seid uns willkommen«, erklärte ein anderer. Kroppan bedankte sich und stieg ab. Er befahl Atlan und dem Mädchen, ebenfalls abzusteigen. Einige Jiriffen eilten davon. Sie kehrten wenig später mit einfachen Speisen zurück. Währenddessen hatten sich Kroppan, sein Gefangener und Cheffryn mit Wasser versorgt. Das Mädchen suchte die Nähe des Arkoniden. »Sobald ich kann, werde ich dich befreien«, flüsterte sie ihm zu. »Du kannst dich auf mich verlassen.« »Danke«, entgegnete der Arkonide ebenso leise.
»Warum hält er dich gefangen?« fragte sie. »Er glaubt, ein Geschäft mit mir machen zu können«, erwiderte er, »aber er täuscht sich.« 2. Atlan schreckte auf, als ein Schrei ertönte. Er saß neben Cheffryn im Schatten einer Hütte. Er konnte nichts sehen, da Kroppan ihm ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. Er vernahm das Trappeln von vielen Hufen und die klagenden Rufe der Jiriffen. Die Tore an der Siedlungsmauer krachten. Das Geräusch eiliger Schritte verriet ihm, daß die känguruhartigen Wesen flüchteten. »Was ist los?« fragte er. Cheffryn zog ihm das Tuch so weit hoch, daß er etwas sehen konnte. »Valaser«, antwortete sie mit gepreßter Stimme. Er blickte flüchtig zu ihr hin. Ihre Augen hatten sich noch immer nicht an das grelle Licht gewöhnt. Sie hatte ihren Kopf mit Tüchern verhüllt und spähte durch einen winzigen Spalt hindurch. Eine Bande von Wüstenreitern fiel brüllend über Jitterzog her. Mühelos hatten sie das Siedlungstor aufgebrochen. Einige von ihnen setzten über die Schutzmauer hinweg, die das Dorf umgab. Sie hielten Lanzen in den Händen, mit denen sie auf die Jiriffen einschlugen. Sie waren unverkennbar mit den Zukahartos verwandt, wirkten aber wesentlich schlanker und wendiger. Sie ritten auf hochgebauten Reittieren, die größer und stärker waren als alle Chreeans, die Atlan bisher gesehen hatte. Er beobachtete, daß sie zwei Jiriffen überrannten, als diese sich ihnen in den Weg stellten. Der Arkonide sprang auf. Schützend stellte er sich vor Cheffryn, die am ganzen Leib zitterte.
»Keine Sorge«, sagte er. »Ich passe auf dich auf.« »Die Fesseln müssen weg«, entgegnete sie, und er spürte, wie ihre klauenartigen Hände die Bänder aufknüpften, mit denen seine Arme auf den Rücken gefesselt waren. Atlan warf seinen Kopf so lange hin und her, bis das Tuch die Augen vollends freigab. Er sah die Valaser durch die Siedlung reiten und mit ihren Chreeans in die Häuser eindringen. Er hörte sie lachen und brüllen, und er beobachtete, wie sie die kärglichen Vorräte der Jiriffen an sich brachten. Immer wieder warfen sich ihnen einige Dorfbewohner entgegen, ohne jedoch das geringste auszurichten. Sie schnellten sich hoch und setzten ihre kräftigen Sprungbeine gegen die Angreifer ein. Da diese jedoch auf besonders hochgebauten Chreeans ritten, hatten sie einen Vorteil, den die Jiriffen nicht ausgleichen konnten. Die Fesseln fielen. Atlan ließ sich auf den Boden sinken. Er schob Cheffryn bis an die Wand der Hütte zurück, vor der sie saßen, und knüpfte hastig die Fesseln an den Fußgelenken auf. Kroppan, der vorübergehend aus ihrer Nähe verschwunden war, tauchte plötzlich neben ihnen auf. Er hielt ein Messer in den Händen. Als er sah, daß Atlan keine Fesseln mehr trug, schrie er wütend auf. Er duckte sich und streckte dem Arkoniden das Messer entgegen. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er sich auf den Arkoniden stürzen, doch dann überlegte er es sich anders. Er sah, daß Atlan lächelte, und er wurde unsicher. Zögernd wich er einige Schritte zurück, dann fuhr er herum, rannte zu einem seiner Chreeans, schwang sich hinauf und flüchtete in Richtung Süden. Dabei drohte er dem Arkoniden noch einmal mit dem Messer. Atlan glaubte bereits, daß ihm die Flucht gelingen würde. Da erschienen zwei Valaser zwischen den Hütten. Sie jagten hinter dem Turganer her. Einer von ihnen schleuderte einen Speer auf Kroppan. Cheffryn wandte sich stöhnend ab, als sie beobachtete, wie der Speer Kroppan in den Rücken fuhr und ihn von seiner Reitechse
warf. »Es hat sich nichts geändert«, bemerkte sie verbittert. »Sie lassen die Jiriffen arbeiten, und wenn sie Hunger verspüren, fallen sie über sie her und nehmen ihnen alles weg.« »Ruhig bleiben«, sagte der Arkonide mahnend. »Wir tun gar nichts. Das ist das Beste.« Er bedauerte, daß er den Jiriffen nicht helfen konnte. Die Bauern waren den Angriffen der Valaser nahezu wehrlos ausgesetzt und hätten Hilfe gut gebrauchen können. Atlan hätte sich in den Kampf geworfen, wenn Cheffryn nicht gewesen wäre und er die Spur einer Chance gesehen hätte. Zunächst hatte er geglaubt, daß es den Männern auf den auffallend großen Chreeans um eine Eroberung des Dorfes ging, doch bald erkannte er, daß die Valaser nur Wasser und Proviant haben wollten. Und daß es ihnen ums Vergnügen ging. Sie waren ausgelassen wie die Kinder und ließen die Jiriffen spüren, wie überlegen sie sich ihnen fühlten. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde lang auf ihren Reittieren im Dorf herumgerast waren und alles an sich gebracht hatten, was ihnen eßbar erschien, beruhigten die Valaser sich. Sie sprangen von ihren Chreeans und scharten sich um den Brunnen. Lachend und grölend tranken sie und machten sich über die Jiriffen lustig, die verschüchtert neben ihren Hütten standen oder an der Mauer Schutz gesucht hatten, die das Dorf umgab. Eine Hütte brannte, und keiner der Dorfbewohner wagte es, das Feuer zu löschen. Zwei Jiriffen zogen den heftig blutenden Kroppan in eine Hütte, um seine Wunde zu versorgen. Der gefährlichste Teil des Überfalls schien vorbei zu sein, und jetzt erst entdeckten die Valaser die beiden Gestalten im Schatten der Hütte. Atlan saß neben Cheffryn auf dem Boden. Er hatte sich den Kopf wieder so weit verhüllt, daß nur ein schmaler Spalt für die Augen freiblieb. »Sie kommen«, sagte er leise zu dem Mädchen an seiner Seite.
»Keine Angst. Sie werden uns nichts tun.« Zwei Valaser näherten sich ihnen und blieben vor ihnen stehen. Der eine beugte sich über Atlan und riß ihm das Tuch vom Kopf. »Wen haben wir denn da?« rief er. »Einen Fremden. Jemanden, der hier nichts zu suchen hat. Was tun wir mit ihm?« »Wir nehmen ihn mit«, erwiderte der andere, der sich über Cheffryn beugte und überraschend vorsichtig das Tuch anhob, das ihren Kopf verhüllte. Er ließ es sogleich wieder sinken. »Eine Valasaia. Was machst du hier?« »Sie war lange krank«, erklärte Atlan. »Laß sie in Ruhe. Ihre Augen vertragen das Licht noch nicht wieder.« »Sie war lange krank«, rief einer der beiden Valaser und lachte laut auf. »Das kann stimmen. Sie stinkt noch jetzt erbärmlich.« »Ich will wissen, woher sie kommt«, sagte der andere. »Sie hat in einer Höhle gelebt. Nicht weit von hier«, antwortete der Arkonide. »Ich habe sie da herausgeholt.« Der Valaser gab dem anderen ein Zeichen und entfernte sich mit ihm. Die beiden Männer schienen Atlan und Cheffryn vergessen zu haben. Doch einige Minuten später kehrten sie mit zwei Chreeans zurück. Sie befahlen Atlan und dem Mädchen aufzusteigen, und dann brachen plötzlich alle Valaser auf. Laut schreiend trieben sie ihre Tiere zu scharfem Galopp an. Als Atlan an der letzten Hütte vor dem Siedlungstor vorbeiritt, sah er einen Valaser, der sich hinter einigen Felsbrocken versteckte. * Tzufadas war entschlossen, das Geheimnis des Fremden herauszufinden. Einen Mann wie ihn hatte er noch nie gesehen. Er wußte, daß es sinnlos gewesen wäre, die Wahrheit mit den Methoden der Folter aus dem Weißhaarigen herauszuholen. Der Valaser Tzufadas war immer ein Mann der eleganteren Wege
gewesen, und das wollte er auch bleiben. Deshalb blieb er in Jitterzog. Er fürchtete sich nicht vor den Jiriffen, obwohl diese nun weit in der Überzahl waren und ihn leicht hätten erledigen können. Am Dorfrand hinter dem Felsen wartete er ab. Als seine Stammesgenossen am Horizont verschwunden waren, erhob er sich aus dem Sand, reckte sich und zog den Umhang, der außen ockerfarben und innen rostbraun gefärbt war, enger um die Schultern. Er ging ins Dorf. Kaum tauchte er zwischen den Hütten auf, als einige Jiriffen erschreckt aufschrien. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, obwohl er sah, daß zwei von ihnen Messer hatten. Doch niemand versuchte, sich an ihm für den Überfall zu rächen. Im Eingang der Hütte, in der der Turganer lag, blieb er stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Innern der Hütte gewöhnt hatte. Er sah fünf Jiriffen, die auf dem Boden kauerten und den schwerverletzten Kroppan versorgten. Der Turganer hatte eine klaffende Wunde im Rücken. Die Jiriffen desinfizierten sie mit einer Flüssigkeit, die sie aus Blüten zusammengebraut hatten. Tzufadas wußte, daß sie viel von der Behandlung von Wunden verstanden. »Macht weiter«, sagte er. »Laßt euch nicht stören.« Er betrat die Hütte und ließ sich neben dem Kopf des Verletzten auf den Boden sinken. Kroppan erwachte aus seiner Bewußtlosigkeit. Er begann zu reden. Tzufadas sah seine Hoffnungen bestätigt. Er beugte sich nach vorn und ermunterte den Verletzten, lauter zu sprechen. Er merkte nicht, daß Kroppan aufgrund der Verletzung unter einem Schock stand und fieberte. Er war überzeugt davon, daß er alles als bare Münze nehmen konnte, was Kroppan sagte. Die Jiriffen schwiegen. Sie wußten, was man von den Fieberphantasien eines Kranken zu halten hatte. »Lauter«, sagte Tzufadas. »Ich verstehe nicht. Was redest du da?«
»Unermeßlicher Wert«, murmelte Kroppan. »Was ist von unermeßlichem Wert?« fragte der Valaser. »SCHLOSS«, antwortete Kroppan. »SCHLOSSHERREN.« »Ganz ruhig«, mahnte Tzufadas. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Alles ist gut. Bald hast du es überstanden. Dann reden wir über die unermeßlichen Werte.« Die Jiriffen warfen sich verstohlene Blicke zu. Sie wunderten sich darüber, daß der Valaser das Gerede des Verwundeten so wichtig nahm. »Unermeßlicher Wert«, wiederholte Kroppan. »Der Weißhaarige. Wertvoll.« Seine Stimme versiegte. Tzufadas rieb ihm mit einem feuchten Lappen den Nacken ab. Kroppan lag auf dem Bauch, da der Speer ihn am Rücken getroffen hatte. Den Kopf hatte er zur Seite gedreht. Er hielt die Augen geschlossen. »Weiter, weiter«, sagte Tzufadas drängend. »Ich verstehe nichts. Was ist mit dem Weißhaarigen?« Kroppan fuhr wenig später in seinen Fieberphantasien fort. Wieder redete er davon, daß Atlan von unermeßlichem Wert sei. Er behauptete, daß die SCHLOSSHERREN jeden reich belohnen würden, der ihnen Atlan bringe. Und er sah sich bereits als Günstling der SCHLOSSHERREN im SCHLOSS leben. »Was ist mit dem Weißhaarigen?« fragte Tzufadas erneut. »Ich habe dich nicht verstanden.« Kroppan murmelte nur etwas von einem Fremden, der von Geheimnissen umgeben war, und dessen Wert von den SCHLOSSHERRN höher als alles andere auf Dorkh eingestuft wurde. Danach versank er in tiefer Bewußtlosigkeit, aus der ihn Tzufadas nicht mehr wecken konnte. »Ihr haltet den Mund«, herrschte Tzufadas die Jiriffen an. »Wenn ihr etwas von dem verratet, was er gesagt hat, werdet ihr es büßen. Bis jetzt waren wir noch gnädig zu euch. Es hat keine Toten gegeben, aber das wird sich ändern, wenn ihr nicht schweigen
könnt. Unsere Rache würde blutig sein.« »Wir werden schweigen«, versprachen die Jiriffen. »Das will ich euch auch geraten haben. Der Mann wird bei euch bleiben, bis ich euch erlaube ihn laufenzulassen. Es hätte wohl wenig Sinn, von euch zu verlangen, daß er stirbt – oder?« »Das hätte überhaupt keinen Sinn«, antwortete der Älteste der Känguruhwesen. »Irgendwo ist eine Grenze. Jedenfalls für uns.« Tzufadas verließ die Hütte, eilte zu seinem Chreean und ritt in die Wüste. Die Jiriffen blickten ihm mit ausdruckslosen Gesichtern nach. Als er am Horizont verschwunden war, machten sie sich daran, die bei dem Überfall entstandenen Schäden zu beseitigen. »Wir hätten ihn umbringen sollen«, sagte einer von ihnen. Er hatte Kroppan versorgt und galt als besonders fähiger Medizinmann. »Du weißt, wie sinnlos das gewesen wäre«, entgegnete der Dorfälteste. »Die anderen wären einige Tage später gekommen und hätten uns zur Strafe alle getötet.« »Dann hätten sie hier nichts mehr stehlen können.« »Das stört sie nicht. Jedenfalls nicht in diesem Zustand.« »Ich möchte wissen, wer der Weißhaarige war«, sagte der Medizinmann. »Es war etwas Besonderes an ihm.« * Atlan war froh, daß er nun kein Tuch mehr über dem Kopf hatte. Die Valaser hatten keine Bedenken, ihn ohne Kopfbedeckung zu lassen. Als der Tag sich seinem Ende zuneigte, erreichten die Valaser eine winzige Oase, die aus einem offenen Brunnen und drei Bäumen bestand. Immerhin gab es hier reichlich Wasser für die Tiere und die Reiter. Der Arkonide setzte sich neben Cheffryn in den Sand. Auch ihr
hatten die Valaser vorsichtshalber die Hände gefesselt. »Warum behandeln sie dich so?« fragte Atlan, als die Horde an einem kleinen Feuer zusammensaß, das mit Chreean‐Mist gespeist wurde. »Du gehörst doch zu ihrem Volk – oder etwa nicht?« Sie richtete sich stolz auf und schob das Tuch zur Seite. Mittlerweile war es so dunkel, daß sie nicht mehr geblendet wurde. »Ich gehöre nicht zu ihnen«, widersprach sie. »Aber du siehst aus wie sie.« »Das spielt keine Rolle.« »Cheffryn«, sagte er sanft. »Es ist zweihundert Jahre oder noch länger her, daß sie dich ausgestoßen haben. Meinst du nicht, daß sie das längst vergessen haben?« »Sie vielleicht, ich aber nicht.« »Das kann ich verstehen. Dennoch mußt du versuchen, das Leid zu vergessen, das dir widerfahren ist. Du mußt leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde erst leben, wenn ich mich gerächt habe.« »Die Valaser von heute haben nichts mehr mit den Ereignissen von damals zu tun«, erklärte der Arkonide. »Sie wissen vermutlich gar nichts mehr davon.« »Aber der Mann lebt vielleicht noch«, erwiderte sie. Atlan wußte, daß sie ihren Vater meinte. »Er war Wasserrichter in Gojarah. Er hat das Urteil gesprochen.« »Wie sollte er noch leben, wenn die anderen tot sind?« »Bei den Valasern gibt jeder aus dem Volk dem Wasserrichter ein Stück seines Lebens«, erläuterte Cheffryn. »Man will, daß der Wasserrichter lange lebt, denn je älter er ist, desto weiser kann er entscheiden. Als der Mann verurteilte, war er noch jung. Seine Entscheidung war schlecht und böse. Ich hasse ihn dafür. Ich habe ihn zweihundert Jahre lang gehaßt, und ich hasse ihn heute mehr als an jedem einzelnen Tag in dieser Zeit.« »Haß macht blind«, sagt er mahnend. »Mich nicht.«
»Ich hoffe für dich, daß dein Vater nicht mehr lebt«, entgegnete der Arkonide. Er war davon überzeugt, daß ihr Vater schon lange nicht mehr Wasserrichter war. In seinem Leben war er noch nie einem Volk begegnet, in dem alle gemeinsam ein Stück ihres Lebens opferten, um eine staatliche Autorität möglichst lange am Leben zu erhalten. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wie so etwas durchgeführt werden sollte. »Willst du mir nicht sagen, was damals geschehen ist?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Das geht niemanden etwas an.« »Vielleicht doch, Cheffryn. Du hast gelitten. Dein Volk hat dir unendlichen Schmerz zugefügt. Es ist ein Wunder, daß du das überlebt hast. Jetzt mußt du dir deinen ganzen Schmerz von der Seele reden, sonst wirst du mit deinem neuen Leben nicht fertig.« Sie schüttelte den Kopf. Atlan sah, daß Tränen über ihr noch so jung aussehendes Gesicht rannen. »Ich kann nicht«, erwiderte sie mit erstickter Stimme. »Bitte, quäle mich nicht.« Atlan nickte ihr freundlich zu und strich ihr besänftigend über den Arm. »Versuche, ein wenig zu schlafen«, sagte er. »Ich habe Angst davor«, antwortete sie stammelnd. »Ich weiß, daß ich von der Spinne träumen werde. Ich sehe sie schon jetzt immer wieder vor mir. Sie ist da draußen in der Wüste und will mich holen. Sie lebt, und sie läßt sich ihre Beute nicht nehmen.« Sie kroch näher an Atlan heran und klammerte sich an ihn. »Siehst du sie?« fragte sie wispernd. »Dort bei den Dünen ist sie.« »Du irrst dich«, sagte Atlan mitleidig. »Dort ist nichts. Deine Angst und deine Phantasie gaukeln dir falsche Bilder vor.« »Hättest du sie doch getötet«, flüsterte sie. »Warum hast du sie nicht getötet? Dann wäre jetzt alles in Ordnung, und ich bräuchte keine Angst zu haben.« »Dir wird nichts geschehen«, sagte er. »Ich werde Wache halten.
Sobald sich irgendwo etwas zeigt, werde ich die Männer alarmieren, und sie werden die Spinne töten.« »Ja, halte Wache«, bat sie leise. »Ich will versuchen zu schlafen.« Sie war so müde, daß sie noch während dieser Worte einschlief. Ihr Kopf sank schwer gegen seine Schulter. Atlan blickte in die Nacht hinaus. Er fragte sich, welcher Vater so grausam sein konnte, sein Kind zu einem derartigen Tod zu verurteilen, wie es der Wasserrichter von Gojarah getan hatte. Er konnte Cheffryn verstehen, daß sie noch nicht verzeihen konnte. Sie brauchte Ruhe. Jemand mußte sich um sie kümmern und behutsam versuchen, sie aus ihrer seelischen Verkrampfung zu befreien. Niemand wird dir glauben, daß Cheffryn so lange in der Höhle der Spinne überlebt hat, stellte der Logiksektor nüchtern fest. Und Cheffryn wird ebenfalls keiner glauben. Sie wird Schwierigkeiten bekommen, wenn sie die Wahrheit sagt. Und wer sollte ihr helfen können, ohne gesehen zu haben, was sie erduldet hat? Cheffryn schlief unruhig und nervös. Immer wieder schreckte sie auf, schrie und begann danach, um sich zu schlagen. Atlan wäre auch dann nicht zum Schlafen gekommen, wenn er gewollt hätte. Er wachte über das Mädchen und beruhigte sie immer wieder, wenn ihr Traumbilder einen Angriff der Riesenspinne vorgaukelten. Er spähte in die Nacht hinaus. Hin und wieder glaubte er, eine Bewegung in der Wüste zu sehen, aber immer wieder stellte sich heraus, daß er sich geirrt hatte. Cheffryns Furcht ist nicht aus der Luft gegriffen, stellte der Logiksektor mit unbestechlicher Nüchternheit fest. Ihr haftet noch immer ein starker Geruch an. Er könnte die Spinne anlocken. Die Spinne lebt, und es könnte sein, daß sie tatsächlich nicht gewillt ist, sich die Beute nehmen zu lassen. Sieh dich um. Sie könnte ihr gefolgt sein. Atlan machte sich Vorwürfe, daß er die Spinne nicht getötet hatte, nur weil er keine ideale Waffe gehabt hatte. Jetzt sagte er sich, daß er sie in den Treibsand hätte stoßen können, wo sie versunken und
erstickt wäre, bevor sie die Lähmung überwunden hatte. Er hätte einen großen Stein nehmen und sie damit zerschmettern können. An diese Möglichkeiten hatte er in dem Hohlweg auch gedacht, aber es war ihm wichtiger gewesen, Cheffryn und die Chreeans in Sicherheit zu bringen. Konnte überhaupt ein Mensch solche Leiden ohne Dauerschäden überstehen? Würde Cheffryn die quälenden Traumbilder jemals loswerden und unbeschwert leben, so wie andere auch? Atlan konnte es sich nicht vorstellen. Zweihundert Jahre waren eine allzu lange Zeit. Er blickte zu den Valasern hinüber. Die meisten von ihnen schliefen. Nur noch zwei Krieger saßen am fast erloschenen Feuer und plauderten miteinander. Hin und wieder hallte ihr Gelächter zu ihm herüber. Ein Wächter umkreiste langsam die Oase. Er war schwer auszumachen. Die Valaser trugen Lendenschurze und ärmellose Hemden aus dünnem Chreean‐Leder, dazu weite Umhänge, die außen ockerfarben und innen rostbraun gefärbt waren. Diese Umhänge eigneten sich hervorragend dazu, sich in der Wüste unsichtbar zu machen. Atlan bemühte sich immer wieder, den Wächter auf seinem Weg um die Oase zu verfolgen. Es gelang ihm nur selten. Der Valaser verschmolz völlig mit den Farben seiner Umgebung, wenn er sich in den Wüstensand setzte, um sich auszuruhen. Er machte keinen besonders aufmerksamen Eindruck auf den Arkoniden. Er schien nicht damit zu rechnen, daß irgend jemand sie angriff. Er weiß nichts von der Spinne. Atlan überlegte, ob er den Valasern sagen sollte, was vorgefallen war, und daß sie vielleicht von einer Riesenspinne bedroht wurden. Sie würden dir nicht glauben, stellte der Logiksektor fest. Und wenn sie dir glauben, reiten sie zum Hohlweg zurück und schicken dich unbewaffnet hinein, um zu prüfen, was dran ist an deinem Bericht.
Der Unsterbliche erschauerte bei dem Gedanken, der Spinne noch einmal und völlig unbewaffnet zu begegnen. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Auf einen solch aussichtslosen Kampf verzichtete er lieber. »Sie ist da, nicht wahr?« flüsterte Cheffryn plötzlich. »Wer?« fragte er überrascht. Er hatte geglaubt, daß sie schlief. »Die Spinne. Ich höre ihr Sirren.« Er horchte. Es war still. Nur das Heulen einiger Wüstenwölfe war zu hören. »Du irrst dich, Cheffryn«, erwiderte er. »Sie ist nicht da. Und ich höre nichts. Das Laub raschelt. Das ist alles.« »Ich habe Angst«, gestand sie. »Das verstehe ich. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Sie ist nicht hier.« »Ich will versuchen, an etwas anderes zu denken. Besorgst du mir bald andere Kleider, damit ich nicht mehr so rieche?« »Bestimmt.« Sie seufzte und schlief wieder ein. Dieses Mal war sie ruhiger als zuvor. Atlan fragte sich, was ihr Vater gefühlt haben mochte, nachdem er sie dem Rieseninsekt zum Fraß vorgeworfen hatte. Er zweifelte nicht daran, daß er zugesehen hatte, wie die Spinne Cheffryn in die Höhle gezerrt hatte. Plötzlich vernahm er das Trappeln von den Hufen eines Chreeans. Es näherte sich ihnen. Unwillkürlich richtete er sich auf und spähte in die Wüste hinaus. Er sah, daß der Wächter aufgestanden war und ebenfalls horchte. Ein Reiter tauchte aus dem Dunkel auf. Er schrie dem Wächter etwas zu, was Atlan nicht verstand, ritt in vollem Galopp an ihm vorbei bis zum Brunnen und weckte die Valaser mit seinen Rufen auf. Er sprang ab, und sofort drängten sich die anderen Männer um ihn. »Ich möchte wissen, was sie zu besprechen haben«, sagte
Cheffryn. »Das werden wir bald erfahren.« Atlan behielt recht. Gleich darauf teilte sich die Gruppe der Valaser, und eine einzelne Gestalt kam auf den Arkoniden und das Mädchen zu. »Ich habe einiges über dich erfahren«, erklärte der Valaser mit kehliger Stimme. Atlan glaubte, jenen Mann zu kennen, der schon in Jitterzog mit ihm gesprochen hatte. »Ich weiß jetzt, wer du bist, und was du hier suchst. Ich weiß alles über dich, und ich werde dich deinem Wert entsprechend verwenden. Komm nicht auf den Gedanken, wegzulaufen. Das würde dir nicht bekommen.« Der Arkonide war sich sicher, daß der Valaser nichts von ihm wußte, und daß er lediglich bluffte. »Ich habe nicht vor, wegzulaufen«, entgegnete er ruhig. »Aber ich habe eine Bitte.« »Schon erfüllt.« »Das Mädchen braucht dringend neue Kleider«, erklärte er. »Was ich ihr gegeben habe, paßt ihr nicht, und das andere ist so mürbe, daß es sich auflöst. Außerdem riecht es ziemlich stark.« Der Valaser lachte dröhnend. »Es stinkt wie die Pest«, sagte er. »Das kann man wohl sagen. Nun gut. Ich werde ihr neue Sachen bringen.« »Danke«, entgegnete Cheffryn leise. Der Valaser hielt Wort. Er kam schon kurz darauf erneut zu Atlan und dem Mädchen. Er reichte Cheffryn ein Bündel verschiedener Sachen und bat sie, sich das auszusuchen, was sie tragen wollte. »Ich möchte mich waschen, bevor wir aufbrechen«, sagte sie mit stockender Stimme. Es fiel ihr offensichtlich schwer, diese Bitte auszusprechen. »Werdet ihr mir eine Gelegenheit dazu geben?« »Warum nicht?« »Ihr werdet sie für eine kurze Zeit allein lassen müssen«, erläuterte Atlan, der erfaßte, daß Cheffryn sich nicht unter den Augen der rauhen Männer waschen wollte.
Der Valaser lachte erneut. »Die Kleine ist genierlich, wie? Nun gut, wir werden ihr eine Sichtblende aus Tüchern bauen, damit sie sich ungestört waschen kann. Nötig hat sieʹs wirklich.« »Danke«, murmelte Cheffryn. Sie kroch einige Schritte weiter in den Schatten eines Baumes, streifte hier ihre Kleider ab und legte die neuen an. Dann kehrte sie zu Atlan zurück. »Ich fühle mich so wohl in den sauberen Sachen«, sagte sie. »Ich bringe die alten Sachen weg«, erklärte er und ging zu den Valasern, um sie zu verständigen, damit sie nicht glaubten, daß er fliehen wollte. Dann nahm er die Kleidungsstücke, die intensiv nach den Ausscheidungen der Spinne rochen, und trug sie etwa hundert Meter weit in die Wüste hinaus. Er warf sie in den Sand und kehrte zu Cheffryn zurück. 3. Am nächsten Morgen errichteten die Valaser einige Zeltbahnen um den Brunnen, so daß Cheffryn sich in ihrem Schutz entkleiden und waschen konnte. Sie selbst zogen sich mit Atlan etwa zweihundert Meter weit in die Wüste zurück. »Wie lange wird sie benötigen, bis sie den Gestank und den Dreck los ist?« fragte ein Valaser den Arkoniden. Dieser erkannte ihn an der kehligen Stimme wieder. Es war der gleiche, der in der Nacht mit ihm gesprochen hatte. Im hellen Tageslicht bemerkte Atlan auch das scharf gekrümmte Messer in seinem Gürtel. So ein Messer hatte jener Valaser getragen, der in Jitterzog geblieben war. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Wer bist du?« »Tzufadas«, antwortete der Valaser. »Ich bin es, der deinen Wert entdeckt hat.« Atlan blickte zur Oase hinüber. Er konnte nur die Bäume und die
Zeltbahnen sehen. Sie ist allein und ungeschützt, stellte der Extrasinn fest. Der Arkonide horchte in sich hinein. Diese Bemerkung war nicht gerade aufregend. Selbstverständlich war sie allein. Das war ja ihr Wunsch gewesen. Sie könnte recht haben, daß die Spinne ihr gefolgt ist! Atlan überlief es kalt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Unwillkürlich stellte er sich das Schreckensbild vor, das sich bieten würde, wenn das insektoide Raubtier durch die Zeltbahnen brach und über das schutzlose Mädchen herfiel. »Mir ist etwas eingefallen«, sagte er. »Ich habe gestern die Sachen des Mädchens in die Wüste getragen. Dabei habe ich vergessen, etwas herauszunehmen, was ihr sehr wichtig ist. Erlaubst du mir, es zu holen? Da ich zu Fuß gehe, brauchst du nicht zu fürchten, daß ich fliehen werde.« »Ja, geh«, erwiderte Tzufadas. Atlan lief los. Er rannte durch den Sand, der immer wieder unter seinen Füßen wegrutschte, so daß er nur langsam vorankam. Richtig, meldete der Logiksektor lobend. Die Kleider Cheffryns riechen stärker als sie. Wenn die Spinne irgendwo aufgetaucht ist, dann zuerst bei den Sachen. Die Angst trieb Atlan voran. Er hörte das Gelächter der Valaser, die sich über ihn lustig machten, aber das störte ihn nicht. Immer wieder blickte er zu den Zeltbahnen hinüber, hinter denen Cheffryn sich wusch. Das Mädchen war ahnungslos. Sollte er sie verständigen? Er entschied sich dafür, es nicht zu tun. Er wußte ja gar nicht, ob die Spinne wirklich da war. Vielleicht hatte er sich geirrt. Dann wäre es unverantwortlich gewesen, Cheffryn zu ängstigen. Sie stand noch immer unter dem Schock des Erlittenen. Wenn er sie jetzt vor einer nicht existenten Gefahr warnte, konnte sie sich vielleicht nie aus diesem Schock befreien. Endlich sah der Arkonide das Kleiderbündel im Sand liegen. Er
lief etwas langsamer. Ihm schien, als ob das Bündel kleiner geworden sei. Als er noch etwa fünf Meter von den Sachen Cheffryns entfernt war, erkannte er, daß es nicht alle waren. Etwa die Hälfte fehlte. Ihm stockte der Atem. Er blieb stehen und sah sich um. Von der Spinne war nirgendwo etwas zu sehen. Langsam näherte er sich dem Kleiderbündel. Und dann entdeckte er Schleifspuren und bogenförmige Abdrücke im Sand, wie er sie auch im Hohlweg vorgefunden hatte. Die Spuren der Spinne. Eine weiße, stark riechende Masse lag neben den Kleidern im Sand. Atlan fuhr herum. Er blickte zur Oase hinüber. Die Spur führte einige Meter weit in ihre Richtung. Dann aber war sie vom Wind verweht worden, so daß nicht mehr zu erkennen war, wohin das Raubtier gelaufen war. Der Arkonide begann zu rennen. »Cheffryn«, schrie er. »Schnell. Wir müssen weg. Cheffryn!« Quälend langsam kam er voran. Der Sand war weich und tief, so daß seine Füße oft wegrutschten. Die Strecke bis zu den Zeltbahnen schien sich unendlich weit auszudehnen. Immer wieder rief der Arkonide den Namen des Mädchens. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er sie allein gelassen hatte. Als er noch etwa zehn Meter von den Zeltbahnen entfernt war, teilten sich diese, und Cheffryn trat angekleidet und gewaschen hinter der Sichtblende hervor. Sie hatte ihren Kopf verhüllt, um sich vor dem Licht zu schützen. »Was ist denn, Atlan?« fragte sie erstaunt. »Warum rufst du mich?« Er nahm ihre Hand und zerrte das Mädchen mit sich. »Weg hier«, sagte er. »Lauf so schnell du kannst.« Jetzt begriff sie. Atlan fühlte, wie sich ihre Hand um die seine krallte. »Schneller«, sagte er.
Sie rannten durch den Sand auf die Valaser zu. Diese waren aufmerksam geworden. Einige von ihnen kamen ihnen entgegen. Atlan blickte sich immer wieder um. Er fürchtete, daß die Spinne plötzlich neben oder hinter ihnen aus dem Sand auftauchen und über sie herfallen würde. Sie war in der Nähe der Oase gewesen, angelockt von dem Geruch ihrer eigenen Ausscheidungen. Sollte sie sich zurückgezogen haben, obwohl sie Gelegenheit hatte, reiche Beute zu machen? Atlan und das Mädchen erreichten die ersten Valaser. »Schnell«, sagte der Arkonide. »Wir müssen weg. Hier treibt sich eine gefährliche Bestie herum. Ich habe sie gesehen.« Die Valaser blickten sich an, und einer von ihnen tippte sich gegen die Stirn. Die anderen lachten. Tzufadas kam heran. »Steigt auf«, befahl er unwillig. »Und hört auf mit diesem Unsinn.« Er schickte zwei Männer zur Oase. Sie ritten gelassen hinüber und bargen die Zeltbahnen. Atlan beobachtete sie und ihre Umgebung. Zugleich behielt er den Sand in seiner Nähe im Auge. Hin und wieder meinte er, eine verräterische Bewegung darin erkennen zu können. Seine Phantasie gaukelte ihm vor, daß die Spinne sich unter dem Sand auf sie zu bewegte. Die beiden Valaser kehrten mit den Zeltbahnen zurück, ohne angegriffen worden zu sein. »Weiter«, befahl Tzufadas. »Nach Nophinen.« Atlan bemerkte, daß Cheffryn zusammenzuckte. Es schien, als wollte sie etwas sagen. Sie richtete sich ein wenig im Sattel auf, ließ sich dann jedoch wieder sinken. »Was ist los?« fragte er. »Ist dir etwas eingefallen?« »Es ist nichts«, antwortete sie. Tzufadas hat den Ort Nophinen genannt. Auf diesen Namen hat sie reagiert, machte sich der Extrasinn bemerkbar. Cheffryn atmete hörbar auf, als sich die Horde in Bewegung setzte
und in schnellem Tempo nach Osten ritt. Der Arkonide blickte einige Male zurück, bis die Oase seinen Blicken entschwand. Er konnte sich nicht erklären, was vorgefallen war, und er wußte nicht, was er Cheffryn sagen sollte. Er hatte sie beruhigen wollen und ihr ausgeredet, daß die Spinne ihnen folgte. Doch das Raubtier war auf ihrer Spur geblieben. Und jetzt? Hatten sie es wirklich abgeschüttelt? Gegen Mittag erreichten die Valaser eine weitere Oase. Sie lag inmitten eines felsigen Karstgebietes, und es erschien wie ein Wunder, daß sich zwischen den Steinen die Wurzeln einiger Bäume halten konnten. Brütende Hitze lastete über dem Land, so daß Atlan und Cheffryn über die Pause froh waren. Sie erhielten ein wenig Brot von den Valasern und setzten sich in den Schatten eines steil aufragenden Felsens, während die Plünderer sich am Wasserloch niederließen, wo es angenehm kühl war. Sie entzündeten ein Feuer und garten ein Stück Wild darüber, das sie auf dem Weg hierher erlegt hatten. »Ob die Spinne uns auch hierher folgt?« fragte Cheffryn. »Ich weiß es nicht«, antwortete der Arkonide, »aber ich glaube es nicht.« Er blickte das Mädchen an, das die Augen noch immer verhüllte, weil sie das helle Licht nicht ertrug. »Willst du mir nicht sagen, warum du damals verurteilt worden bist?« fragte er. »Nein.« »Es würde dir helfen. Ich weiß, daß dich noch heute quält, was damals vorgefallen ist. Rede darüber. Das macht dich frei.« Cheffryn schwieg lange. Dann richtete sie sich seufzend auf und sagte: »Ich weiß nicht, was inzwischen geschehen ist, aber ich habe gehört, daß Tzufadas zu der Stadt Nophinen reiten will. Das läßt mich etwas vermuten.« Atlan entgegnete nichts. Er wollte sie nicht unterbrechen, um ihr nicht den Mut zu nehmen weiterzureden.
»Die Valaser lebten in der Stadt Gojarah. Es war eine schöne Stadt.
Ich bin in ihr aufgewachsen. Die Valaser standen in den Diensten der SCHLOSSHERREN. Das tun sie heute vielleicht auch noch. Ich weiß es nicht, aber ich halte es für unwahrscheinlich.« Wieder machte das Mädchen eine lange Pause, in der es über das nachdachte, was vor etwa zweihundert Jahren geschehen war. »Nachdem die Händlerstadt Shurhan in Ungnade gefallen war, ließen die HERREN eine neue Händlerstadt im Osten gründen. Die Stadt Varlan. Die Valaser waren dieser Stadt tributpflichtig. Der Mann, der Wasserrichter und oberster Befehlshaber der Valaser, war damit nicht einverstanden, beugte sich dem Tribut jedoch, der stets in Form von Kriegsdiensten abgeleistet werden mußte. Ich erinnere mich noch, daß er sagte, durch diese Tributpflicht lebten die Valaser ständig am Abgrund. Ein kleiner Fehler schon könne sie ins Verderben stürzen, und ich fürchte, ich habe so einen Fehler begangen.« Sie schob das Kopftuch ein wenig zur Seite und blickte Atlan durch einen Spalt hindurch forschend an. Sie sah, daß er ihr aufmerksam zuhörte, und nickte ihm dankbar zu. Offenbar erkannte sie, daß es sie tatsächlich von Spannungen befreite, wenn sie über ihr Schicksal sprach. »Die Mädchen und Frauen der Valaser waren von je her die Kuriere zwischen uns und der Stadt Varlan, sowie zwischen uns und den HERREN. Die Händler der Stadt Varlan schrieben die Befehle für die Valaser auf, und wir überbrachten sie, denn wir Frauen waren fast täglich in der Händlerstadt, um Einkäufe zu tätigen oder unsere Waren zu verkaufen«, fuhr Cheffryn fort. »Auch ich habe Befehle überbracht, aber ich war anders als die anderen Mädchen und Frauen. Ich hatte den Ehrgeiz, lesen und schreiben zu lernen, obwohl sonst keine Valasaia diese Kunst beherrscht. Ich ließ mich von einem Händler in Varlan unterrichten, ohne daß der Wasserrichter etwas davon erfuhr.« Abermals machte sie eine Pause. Atlan hatte den Eindruck, als habe sie Mühe, die Dinge in den richtigen Zusammenhang zu
bringen und nichts zu vergessen. »Eines Tages wurde ich zu dem Händler Klaechar gerufen. Er war einer der wichtigsten Männer von Varlan. Und er wußte, daß ich schreiben konnte. Er machte sich über mich lustig und ärgerte mich. Schließlich sagte er, wenn ich wirklich schreiben könne, dann sollte ich es ihm doch beweisen, und er diktierte mir den Befehl, die unberührbare Stadt Turgan zu überfallen.« Cheffryn schob das Kopftuch vollends zur Seite und setzte ihr Gesicht dem Licht aus, wobei sie die Augen allerdings schloß. Tränen rannen ihr über die Wangen. Als sie sich dessen bewußt wurde, verhüllte sie ihr Gesicht wieder mit dem Tuch. »Ich hielt diesen Befehl für einen Scherz. Klaechar aber erklärte mir, daß er ernst gemeint sei. Ich weigerte mich, dem Wasserrichter den Befehl zu überbringen, weil ich nicht glauben wollte, daß wir die Unberührbare tatsächlich überfallen sollten. Da nahm der Händler mir das Schreiben weg und warf mich aus seinem Haus. Noch am gleichen Tag gab er einem anderen Mädchen das Schriftstück. Auf diese Weise kam es zum Wasserrichter. Was dann geschah, weiß ich nicht genau. Ich glaube, der Wasserrichter hat bei den Händlern nachgefragt, ob der Überfall wirklich ausgeführt werden sollte. Ich vermute, daß der Überfall stattfand. Er muß die HERREN maßlos erzürnt haben. Sie ließen uns aus der Stadt Gojarah vertreiben. Ich erinnere, daß es hieß, daß wir uns im Tal von Nophinen ansiedeln sollten, aber ich habe das Tal nie gesehen. Irgend jemand sagte dem Wasserrichter, daß ich schreiben könne. Ich wurde verhaftet, und der Wasserrichter beschuldigte mich, den Angriffsbefehl auf die Stadt Turgan gefälscht zu haben. Der Händler Klaechar erschien bei der Verhandlung und leugnete, mir den Befehl diktiert zu haben. Ich wurde beschuldigt, das Volk der Valaser ins Unglück gestürzt zu haben und verantwortlich dafür zu sein, daß die HERREN die Valaser mit einem Fluch belegten. Der Wasserrichter verurteilte mich zum Tod, und dann brachten sie mich zur Spinne.«
Cheffryn ließ den Kopf sinken und schwieg. Atlan blickte sie erschüttert an. Sie war zum Tode verurteilt worden, weil sie einer Intrige zum Opfer gefallen war. Sie war unschuldig gewesen. Irgend jemand hatte falsches Spiel getrieben, um die Valaser zu vernichten, und er hatte sich den Ehrgeiz Cheffryns zunutze gemacht. Sie hatte lesen und schreiben gelernt, und das war ihr Verderben gewesen. Dafür hatte sie annähernd zweihundert Jahre lang unsägliche Qualen erlitten. »Ich hasse ihn«, sagte sie. »Und ich werde ihn töten, wenn er noch lebt. Nur das soll der Sinn meines Lebens sein. Der Wasserrichter muß sterben.« Laß sie in Ruhe. Sie muß zu sich selbst finden. Der Wasserrichter lebt nicht mehr. Sie wird keine Gelegenheit haben, sich an ihm zu rächen. Diese Überlegung war vom nüchternen Verstand diktiert und mochte logisch sein, entsprach jedoch nicht ganz seiner Überzeugung. Atlan hielt es für möglich, daß der Wasserrichter noch lebte, wenngleich er sich nur schwer vorstellen konnte, daß die Valaser eine Möglichkeit gefunden hatten, einen Teil ihres Lebens auf die wichtigste Persönlichkeit ihres Volkes zu übertragen und auf diese Weise sein Leben zu verlängern. * Am Abend dieses Tages näherte sich die Horde mit den beiden Gefangenen der Stadt Nophinen. Atlan fand mit Hilfe Cheffryns heraus, daß die Stadt ungefähr in der Mitte des Dreiecks lag, das von den beiden alten Karawanenstraßen und dem Titanenpfad gebildet wurde. Die Stadt lag in einem Talkessel, der von schwarzen Felsen umgeben war. Das Land in der Umgebung der Siedlung war dürr und ausgebrannt. Nur im nördlichen Teil des Tales, wo sich einige
rostrote Felsnadeln erhoben, war etwas Grün. Es zeigte an, daß dort eine Quelle war. Atlan schätzte, daß etwa sechshundert Einwohner in der Stadt lebten. »Es ist also wahr«, sagte Cheffryn. »Die Valaser sind aus Gojarah vertrieben worden. Hier haben sie sich neu angesiedelt. Das Tal sieht ärmlich aus. Es ist nicht mit Gojarah zu vergleichen. Gojarah war reich und schön.« Die Valaser pfiffen schrill, als sie sich der Steinmauer näherten, die die Stadt umgab. Zahlreiche Männer und Frauen kamen aus den Häusern und eilten zum Stadttor, um die Plünderer zu empfangen. Diese trieben ihre Reitechsen zu schnellerer Gangart an. Das Stadttor öffnete sich, und pfeifend und brüllend zogen die Reiter ein. Gleich hinter dem Stadttor sprangen sie aus den Sätteln und legten ihre Beute in den Sand. Die Bewohner von Nophinen trampelten begeistert auf den Boden und spendeten ihnen auf diese Weise Beifall. Atlan blieb im Sattel sitzen, weil er die Szene von ihm aus besser überblicken konnte. Auch Cheffryn stieg nicht ab. Obwohl es bereits dämmerte, verhüllte sie ihr Gesicht. Atlan glaubte zu wissen, warum sie es tat. Plötzlich wurde es still. Ein Valaser, der einen rubinroten Umhang trug, näherte sich ihnen. Er kam vom Stadtzentrum, wo das größte Haus von Nophinen stand. Er war größer als die anderen Valaser. Sein kahler Schädel war tiefbraun. Scharfe Falten zogen sich von seiner Nase zu den Mundwinkeln herunter. Die Augen waren so schmal, daß der Arkonide nur zwei scharfe Schlitze sah. Der Mann in dem rubinroten Umhang ging aufrecht und elastisch wie ein junger Mann. Dennoch zweifelte Atlan nicht daran, daß er sehr alt war, und er war sich dessen sicher, daß dies der Wasserrichter war. Die Bewohner von Nophinen machten ihm respektvoll Platz. Entweder haben sie die Kinder eingesperrt, oder es gibt kaum welche.
Der Arkonide sah sich um. Tatsächlich befand sich unter den Erwachsenen nur ein einziges Kind. Das war ungewöhnlich. Atlan hatte schon häufiger Szenen wie diese erlebt, und meistens hatten sich gerade die Kinder um die Beute gedrängt. »Siehst du den Wasserrichter?« fragte er leise. »Ist es dein Vater?« »Nein«, antwortete Cheffryn hastig. »Es ist nicht der Mann. Diesen Wasserrichter kenne ich nicht. Ich habe ihn nicht gesehen.« Atlan hätte viel darum gegeben, wenn er ihr Gesicht hätte sehen können. Er war sich ziemlich sicher, daß sie log. Er glaubte, daß sie ihren Vater wiedererkannt hatte. Er lebte wider Erwarten noch. Also mußte richtig sein, was Cheffryn gesagt hatte. Die Valaser besaßen die Fähigkeit, einen Teil ihrer Lebenskraft auf die höchste Autorität ihres Volkes zu übertragen und dieser so ein längeres Leben zu ermöglichen. Unwillkürlich fragte er sich, ob der Wasserrichter diese Fähigkeit auch besaß, und wie sie sich bei ihm äußerte. Hatte er – vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen – eine parapsychische Verbindung zu seiner Tochter gehabt, während diese in der Höhle der Spinne gefangen war? Hatte er ihr unwissentlich einen Teil der gewonnenen Lebenskraft übermittelt und auf diese Weise erreicht, daß sie überlebte? Cheffryn stieg ab. Sie blieb neben ihrem Chreean stehen, so daß der Wasserrichter sie nicht sehen konnte. Atlan bemerkte, daß sich ihre Hände immer wieder öffneten und schlossen. Er konnte sich vorstellen, wie es in ihr aussah. Sie empfand nur noch Haß für ihren Vater. Er war so intensiv, daß sie sich sogar weigerte, ihn Vater zu nennen und nur von dem Mann sprach, wenn sie ihn erwähnte. Sie wollte Rache für das, was er ihr angetan hatte. Du wirst verhindern müssen, daß sie ihn umbringt, bemerkte der Extrasinn. Sie ist mit dir gekommen. Die Valaser ordnen sie dir zu. Wenn sie den Wasserrichter tötet, mußt du es ausbaden. Der Wasserrichter hob die Arme und begrüßte die Plünderer mit lobenden Worten. Er ließ sich von Tzufadas berichten, wie der Überfall verlaufen war.
Atlan stieg nun ebenfalls ab. Er stellte sich neben Cheffryn, um sie davon abzuhalten, über ihren Vater herzufallen. »Sie schämen sich nicht«, sagte sie leise. »Das stolze Volk der Valaser, das ich geliebt habe, ist zu Plünderern geworden. Und der Mann preist die Schandtat auch noch, als sei sie bewundernswert. Ich hasse ihn, Atlan, und ich werde ihn töten. Das schwöre ich. Verflucht soll er sein. Sieh doch selbst, was er aus unserem Volk gemacht hat.« »Sei still, Cheffryn«, antwortete er ebenfalls flüsternd, ohne auf die Information einzugehen, die sie ihm gegeben hatte. »Sie brauchen es nicht zu hören.« Der Wasserrichter verteilte die Nahrungsmittel an die Valaser. Der Anteil für jede Familie war kümmerlich, so daß Atlan meinte, der Überfall habe sich nicht gelohnt. Doch die Bewohner von Nophinen waren offenbar damit zufrieden. Sie jubelten den Männern um Tzufadas zu. Der Arkonide erwartete, daß man ihn zum Wasserrichter bringen würde. Doch er irrte sich. Zwei Valaser kamen zu ihm und Cheffryn und führten sie ins Zentrum der Stadt. Hier trennten sie ihn von dem Mädchen und sperrten ihn in einen Schuppen, nachdem sie ihm Fesseln angelegt hatten. »Was geschieht mit Cheffryn?« fragte er. »Sie ist eine von euch.« »Das wird sich zeigen«, antwortete einer der Valaser, ein großer und grobschlächtiger Mann. Er stieß den Arkoniden in den Schuppen und verriegelte die Tür hinter ihm. 4. Am nächsten Morgen öffnete sich die Tür, und der Wasserrichter trat ein. Zwei Männer begleiteten ihn. Sie führten Atlan vor die Tür und banden ihn mit einer Hand an einen Eisenring an der Außenwand.
»Was soll das?« fragte der Arkonide unwillig. »Ich habe nicht vor, wegzulaufen.« »Das wird sich zeigen«, entgegnete der Wasserrichter und schickte seine beiden Begleiter weg. Aus der Nähe sah er älter aus als aus größerer Distanz. Zahllose Falten durchzogen sein Gesicht wie ein dichtes Netz. »Ich bin Heerun«, sagte der Herrscher von Nophinen. »Ich übe das Amt des Wasserrichters aus. Alle Macht liegt in meinen Händen. Meinem Befehl beugen sich alle Valaser. Das erkläre ich dir nicht, um dir Furcht einzujagen, sondern um dir klarzumachen, daß du auf Mätzchen verzichten solltest. Je schneller wir uns einigen, desto besser für dich.« Atlan zeigte auf seinen an den Ring gefesselten Arm. »Das ist nicht gerade die beste Ausgangsposition für eine Verhandlung«, erwiderte er. Heerun lächelte. »Das können wir schnell ändern. Das hängt ausschließlich von dir ab.« »Was soll ich tun?« »Wie stehst du zu den SCHLOSSHERREN?« »Eine schwierige Frage.« »Findest du?« Die beiden Männer blickten sich an. Keiner von ihnen wußte, was der andere dachte. Die Valaser leben in Armut, stellte der Logiksektor fest. Sie stehen in den Diensten der SCHLOSSHERREN, aber es geht ihnen schlecht. Sie sind nicht zufrieden mit dem, was für sie abfällt. Sie wollen mehr, und du sollst ihnen dazu verhelfen. Das war eine nüchterne Analyse der Situation. Sie veranlaßte Atlan, offener zu sein. »Was hat Tzufadas dir berichtet?« fragte er. »Alles, was er über dich weiß.« »Wenn es so ist, brauche ich nichts mehr zu sagen. Dann ist alles
klar.« Heerun räusperte sich unwillig. Er entfernte sich einige Schritte von dem Arkoniden. Sie waren allein vor dem Schuppen. Und auch in der Stadt der Valaser schien sonst niemand mehr zu sein. Nophinen sah wie ausgestorben aus. Der Wasserrichter verschränkte die Arme hinter dem Rücken und kehrte zu Atlan zurück. »Tzufadas hat gesagt, daß du von großem Wert für die SCHLOSSHERREN bist. Ist das richtig?« »Könnte sein.« Heerun krauste die Stirn. Ärgerlich blickte er Atlan an. »Könntest du nicht klarer antworten, so daß ich weiß, woran ich bin?« Atlan entschloß sich zu einem Schritt nach vorn. »Die SCHLOSSHERREN wären sicherlich recht zufrieden, wenn sie mich hätten«, erklärte er. Der Wasserrichter hörte das Richtige für sich heraus. Er nickte. »Das wollte ich hören.« Er knüpfte die Fessel auf und befreite den Arkoniden. »Komm mit mir in mein Haus. Ich möchte in Ruhe mit dir reden.« Er wandte sich ab und ging vor Atlan her, ohne sich umzusehen. Er schien ganz sicher zu sein, daß sein Gefangener nicht zu fliehen versuchte. Der Arkonide folgte ihm zu seinem Haus, das in der Mitte von Nophinen lag. Ihm fiel auf, daß zwischen den Häusern nichts wuchs. Noch nicht einmal anspruchslose Wüstenpflanzen hielten sich in dem sandigen Boden. Bei jedem Schritt wirbelte Staub unter den Füßen der beiden Männer auf. Atlan fragte sich, wo die Reitechsen weideten. Er hatte auf dem Weg nach Nophinen nirgendwo bewachsene Flächen gesehen, die groß genug waren, die Tiere zu ernähren. Das Haus des Wasserrichters enthielt nur wenige Möbel. Diese waren aus Holz und teilweise kunstvoll gefertigt. Sie standen auf dem blanken Holzboden. Vom Haus eines Herrschers hatte Atlan
mehr erwartet, nicht aber eine so ärmliche Einrichtung. Sie unterstrich, daß das Leben in Nophinen hart und schwer war. Zwei junge Frauen servierten einen Pflanzenbrei und einen grünen, unangenehm riechenden Tee. Atlan aß und trank nur wenig. Er wußte, daß er einige Zeit brauchen würde, sich an diese Speise und dieses Getränk zu gewöhnen. Heerun schickte die beiden Frauen hinaus und wandte sich dem Arkoniden zu. »Du willst also etwas gegen die SCHLOSSHERREN unternehmen«, sagte er, als habe Atlan sich bereits eindeutig festgelegt. »Ich möchte wissen, ob du dir überhaupt eine Chance dafür ausrechnest. Wie stellst du dir den Kampf gegen die HERREN vor?« Atlan wußte nicht, ob er dem Wasserrichter trauen durfte. Daher reagierte er zurückhaltend. »Eine Chance gibt es immer«, erwiderte er vorsichtig. »Wer etwas unternimmt, hat auch Aussichten auf Gewinn.« »Nicht schlecht«, sagte der Valaser, und abermals glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Ich glaube, wir werden zueinander finden. Du kannst dich frei in Nophinen bewegen, wenn du mir versprichst, daß du nicht fliehen wirst.« »Ich werde solange in Nophinen bleiben, bis wir uns einig geworden sind. Sollte sich allerdings abzeichnen, daß es keine Einigung für uns gibt, werde ich fliehen.« »Das ist eine ehrliche Antwort. Sie gefällt mir. Meine Leute werden dir das Haus zeigen, in dem du wohnen wirst. Es stehen mehrere Häuser leer, da wir einige Probleme haben. Ich werde dafür sorgen, daß du etwas zu essen erhältst. Auch Wasser wird man dir geben. Eine kleine Ration. Du mußt mit ihr auskommen. Wasser ist knapp in Nophinen. Wasser ist wertvoller als Gold. Wir haben strenge Gesetze. Jeder Wassertropfen wird genutzt. Jeder weiß, wieviel vom Wasser abhängt, und doch gibt es hin und wieder Verstöße gegen die Wasserordnung. Sie werden mit schweren
Strafen geahndet. Davon würde ich als Wasserrichter auch dich nicht ausnehmen, wenn du ein Wasserverbrechen begehst. Du sollst wissen, daß die Höchststrafe die Todesstrafe ist.« »Wie soll ich die Gesetze beachten, wenn ich sie nicht kenne?« »Du mußt nur mit deiner Ration auskommen und auf jeden anderen Wassertropfen verzichten, dann kann nichts passieren.« »In der Wüste gibt es eine Quelle. Warum holt ihr nicht von dort Wasser?« »Das tun wir. Jeden Tag, an dem die Quelle Wasser gibt, sind Karawanen von uns dorthin unterwegs. Sie holen soviel Wasser, wie die Chreeans tragen können. Leider gibt die Quelle nicht oft genug Wasser. Meistens ist das Wasserloch trocken. Wäre das nicht der Fall, hätten wir die HERREN längst gebeten, eine Wasserleitung von dort hierher bauen zu dürfen.« Atlan dachte an das, was Cheffryn ihm erzählt hatte. Die Valaser waren für den Überfall auf die unberührbare Stadt Turgan bestraft worden. Zu dieser Strafe gehörte offenbar, daß sie mit wenig Wasser auskommen mußten. Wenn sie die HERREN um die Genehmigung bitten mußten, eine Wasserleitung zu bauen, dann konnte das nur bedeuten, daß sie eine Ablehnung befürchteten. »Hat man je versucht, Brunnen zu bohren?« fragte er. »Natürlich«, antwortete der Wasserrichter. »Doch die HERREN bestimmen darüber, wieviel Wasser wir bekommen, nicht eine Bohrung und nicht unser Fleiß.« Damit bestätigte er den Verdacht Atlans, daß er die HERREN lieber heute als morgen verschwinden sehen würde. Seine Äußerungen ließen darüber hinaus erkennen, daß er durchaus dazu bereit war, etwas dazu beizutragen, daß sie verschwanden. »Geh jetzt«, sagte der Wasserrichter. Er klatschte in die Hände, um einen der Bediensteten zu rufen. »Eine Frage noch.« »Bitte.« »Du nennst dich Wasserrichter, weil das Wasser hier in Nophinen
so knapp ist, und weil es deine Aufgabe ist, Wasservergehen zu ahnden?« Heerun blickte ihn überrascht an. »Warum fragst du?« »Nur so.« Atlan hob die Schultern, um anzuzeigen, daß ihm die Antwort im Grunde genommen egal war. »Ich habe noch nie von einem Wasserrichter gehört.« Heerun nickte. Diese Erklärung genügte ihm offenbar. »Es ist ein seltsames Zusammentreffen«, erklärte er. »Früher haben wir Valaser in einer anderen Stadt gelebt. Vielleicht erzähle ich dir noch einmal, welches Schicksal unser Volk erlitten hat. In dieser anderen Stadt gab es reichlich Wasser. Es schoß als Springbrunnen senkrecht aus der Erde. Neben ihm hielten die Richter seit jeher ihre Verhandlungen ab. Das gab ihnen den Namen Wasserrichter. Als wir nach Nophinen kamen, behielten wir diesen Namen bei, und jetzt ist er zutreffender als früher. War es Zufall, daß es so gekommen ist? Oder war uns unser Schicksal schon von Anfang an bestimmt? Ich weiß es nicht. Dein Name könnte so etwas wie ein Zeichen dafür sein, daß es so ist.« Ein Bediensteter trat ein. Heerun gab ihm die Anweisung, Atlan ein Haus in der Nähe der Stadtmauer zu überlassen und ihn mit einigen notwendigen Dingen auszurüsten. »Wo ist Cheffryn?« fragte Atlan, als er sich von dem Wasserrichter verabschiedete. »Cheffryn? Wer ist das?« »Das Mädchen, mit dem ich gekommen bin.« »Das weiß ich nicht. Tzufadas kann es dir sicherlich sagen. Aber sieh dich vor. Er ist anders als ich. Er denkt anders. Ihm ist nicht zu trauen. Er will ein Geschäft mit dir machen.« Heerun senkte den Kopf. »Cheffryn. Seltsam. Der Name ist nicht sehr häufig bei uns. Wo hast du das Mädchen kennengelernt?« »In der Wüste«, antwortete der Arkonide ausweichend. Er war versucht, dem Wasserrichter zu sagen, wie er Cheffryn wirklich
gefunden hatte, nahm dann jedoch Abstand davon. Er wollte zuvor mit dem Mädchen reden. Er hoffte, daß er sie zur Vernunft bringen konnte. Heerun machte einen umgänglichen, fast freundlichen Eindruck auf ihn. Er schien ein aufrechter und ehrlicher Mann zu sein, dem nur das Wohl seines Volkes am Herzen lag. Atlan konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Mann seine eigene Tochter zu einem grausigen Tod verurteilt hatte. »Ich hatte mal eine Tochter, die diesen Namen trug. Sie wurde … Naja – ist ja auch egal«, sagte Heerun. Er seufzte, als wolle er einen quälenden Gedanken beiseite schieben. »Ruhe dich aus. Gute Nacht.« Atlan verließ das Haus des Wasserrichters. Das Gebäude, das Heerun für ihn ausgesucht hatte, stand unmittelbar an der Stadtmauer, die aus großen Felsbrocken zusammengesetzt war und zumindest auf der Innenseite leicht bestiegen werden konnte. Der Arkonide hätte mühelos fliehen können. Er bezweifelte jedoch, daß er zu Fuß weit gekommen wäre. Eine Flucht kam vorläufig auch deshalb nicht in Frage, weil Atlan sich Sorgen um Cheffryn machte. Er wollte sie nicht allein lassen, denn er fürchtete, daß eine Katastrophe unausweichlich war, wenn er nicht versuchte, das Mädchen von ihren Rachegedanken abzubringen. Das Haus war klein. Es hatte drei Kammern, die bescheiden eingerichtet waren. An einer Feuerstelle konnte er sich Speisen zubereiten, wenn er wollte. Die Fenster bestanden aus fingerdickem, nicht besonders reinen Glas. Die hölzerne Haustür konnte von innen verschlossen werden. Der Bedienstete des Wasserrichters brachte Atlan Decken, Kissen, ein Brot, eine Flasche Wasser und einige nützliche Kleinigkeiten für die Hauswirtschaft. Als der Arkonide sie entgegennahm, sah er Tzufadas, der sich dem Haus näherte. Er wußte, daß dieser Valaser ihm Schwierigkeiten machen würde. Er ging ihm ein paar Schritte entgegen.
»Wo ist das Mädchen?« fragte er, bevor Tzufadas etwas sagen konnte. »Sie hat noch keine Unterkunft«, antwortete er. »Sie wird zu dir kommen.« Damit war der Arkonide nicht einverstanden, doch Tzufadas hatte sich entschieden, und er ließ sich nicht mehr umstimmen. Kurz darauf führte ein anderer Valaser Cheffryn zum Haus. »Ich kann nicht allein sein«, sagte sie. »Ich habe Angst. Du weißt, was ich sehe, wenn ich allein bin. Das ertrage ich nicht.« Sie blickte flüchtig zu Tzufadas hinüber, der in der Nähe der Tür stand und sie beobachtete. Atlan zog sie ins Haus und schloß die Tür hinter ihr. Sie ging zum Tisch, auf dem eine Kerze brannte, und setzte sich. Das Licht war zu grell für sie, so daß sie ihren Kopf wieder mit Tüchern verhüllte. »Wir können das Licht auch löschen«, sagte er, doch sie schüttelte den Kopf. »Nur nicht im Dunkeln sitzen«, entgegnete sie. »Ich fürchte mich so. Ich wollte nicht, daß du etwas damit zu tun hast, aber ich kann nicht allein sein – und mit einem von ihnen will ich nicht zusammen sein.« »Ich passe auf dich auf«, versprach er. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, was an der Oase passiert ist. War die Spinne dort, so daß wir flüchten mußten?« Er erzählte ihr, wie er nach ihren abgelegten Kleidern gesucht und dabei die Spuren der Spinne entdeckt hatte. »Sie hätte dich überfallen können«, schloß er seinen Bericht. »Sie hat es nicht getan. Ich glaube, daß sie die Witterung und damit die Spur verloren hat. Sie weiß nicht, wo du bist. Mittlerweile ist sie längst wieder in ihrer Höhle.« Sie seufzte. »Wenn ich nur wüßte, daß es wirklich so ist.« Sie wird erst Ruhe finden, wenn die Spinne tot ist, konstatierte der Logiksektor.
Er führte sie in eine fensterlose Nebenkammer. Hier stand eine einfache Liege. Er richtete sie für das Mädchen zum Schlafen her und ließ Cheffryn allein. Die Valasaia zog sich in die Kammer zurück und war bald eingeschlafen. Sie fühlte sich in seiner Nähe sicher. Hin und wieder sprach sie im Traum. Atlan schlief nur wenig in dieser Nacht. Bei dem geringsten Geräusch schreckte er hoch, und einmal stand er sogar auf, um zu überprüfen, ob er die Tür verriegelt hatte. Am nächsten Morgen war Cheffryn ruhig und ausgeglichen. »Geh nur hinaus und sieh dich um, wenn du willst«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich am Tage keine Angst zu haben brauche, und du kannst dich darauf verlassen, daß ich nichts gegen den Mann unternehme. Dazu ist es zu früh. Ich werde ihn nicht einfach töten. Das wäre zu leicht für ihn. Ich habe lange gelitten, und er soll auch leiden.« Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht. »Meine Hände riechen noch immer«, sagte sie voller Abscheu. »Es ist wie ein Pesthauch. Ich werde ihn nicht los, diesen Gestank.« »Er wird in ein paar Tagen von selbst verschwinden«, erwiderte er tröstend, nickte ihr zu und verließ das Haus. Er war neugierig. Er wollte wissen, wie die Valaser lebten, und wie sie ihre Felder bestellten. Die Siedlung wirkte auch an diesem Tag wie ausgestorben. Der Wüstenwind drückte trockene, heiße Luft zwischen die Häuser. Er wirbelte Staub auf, so daß Atlan sich ein Tuch über Mund und Nase legte, um sich davor zu schützen. Er ging zum Stadttor, ohne jemandem zu begegnen. Am Tor aber stand ein mit einer Art Waggu bewaffneter Mann und hielt Wache. »Wohin willst du?« fragte er, als Atlan ihn erreichte. »Ich möchte mir ansehen, wie ihr lebt«, erwiderte der Unsterbliche, »aber Nophinen scheint heute ohne Einwohner zu sein.«
»Alle sind auf den Feldern oder bei den Chreeans«, erwiderte der Valaser. »Wenn du zu ihnen willst, mußt du außen an der Stadtmauer entlanggehen. Du wirst sie schon sehen.« Er öffnete ihm das Stadttor. Vor der Mauer war die Luft überraschenderweise angenehmer. Atlan sah, daß die Männer, Frauen und Kinder von Nophinen Windschutzmatten vor der Mauer errichtet hatten, um die kärglichen Pflanzen, die hier wuchsen, vor dem Austrocknen zu schützen. Erstaunt bemerkte er, daß sich ein Netz von Wasserleitungen über das Land zog. Die Leitungen waren mit einfachen, aber wirksamen Ventilen versehen, von denen zahlreiche Abzweigungen zu den verschiedenen Feldern gingen. Die Felder wiederum waren nicht nur mit Matten geschützt, sondern auch mit steinernen Einfassungen versehen, die ebenfalls einem Feuchtigkeitsverlust vorbeugten und dafür sorgten, daß keine Tiere in die Felder einbrachen und die Ernte gefährdeten. Atlan beobachtete, wie der Wasserrichter darüber wachte, daß niemand zuviel Wasser entnahm. Der Arkonide verspürte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er wollte sich von ihm auch nichts zeigen lassen, sondern wollte alles selbst entdecken. Deshalb ging er nicht zu ihm, sondern blieb in der Nähe der Mauer und schlenderte zu den Felsnadeln hinüber, die sich im Norden des Tales erhoben. Zwischen den fremdartig geformten Bäumen verbarg sich ein Tor. Es wurde von einem Jungen bewacht, der daneben auf einer Mauer saß. »Was willst du hier, Fremder?« fragte er angriffslustig und griff nach einer Kriegslanze, die neben ihm an der Wand lehnte. »Ich will mich ein wenig umsehen«, antwortete der Arkonide gelassen. »Finde ich die Chreeans hinter der Mauer?« »Allerdings«, erwiderte der Junge. »Und du solltest dir genau überlegen, ob du wirklich dorthin willst.« Da Heerun ihm nicht verboten hatte, die Gatter der Chreeans zu
besichtigen, befahl er dem Jungen, das Tor zu öffnen. Der Valaser gehorchte. Unter den Bäumen war es angenehm kühl. Atlan ging bis in die Nähe eines Bachs, der nur wenig Wasser führte. Hier stieß er auf einen weiteren Wächter. »Komm dem Wasser nicht zu nahe«, sagte der Valaser drohend. »Das könnte gefährlich für dich werden.« »Ich habe nicht die Absicht, Wasser zu stehlen«, erwiderte der Arkonide kühl. Er ging am Bach entlang bis zu einem Zaun, der aus einer Art Weidengeflecht errichtet war. Durch einige kopfgroße Lücken sah Atlan mehrere Chreeans. Die Tiere weideten in einer Senke, in der blaues Gras wuchs. Sie hatten sich wie Chamäleons ihrer Umgebung angepaßt. Mehrere Valaser wachten in ihrer Nähe. Einer von ihnen bemerkte Atlan. Er kam zu ihm an den Zaun. Es war Tzufadas. »Komm herein, wenn dich die Tiere interessieren«, sagte der Valaser. »Da hinten ist das Tor.« Er führte Atlan am Zaun entlang zu dem bezeichneten Tor. Dabei kamen sie an einem Felsloch vorbei, das einen Durchmesser von etwa fünf Metern hatte. Mehrere Männer und Frauen waren dabei, organische Abfälle aus der Stadt in das Loch zu werfen und ältere Ablagerungen darin umzuschichten. Tzufadas kam dem Arkoniden durch das Weidentor entgegen. »Wir verschenken nichts«, erklärte er, als er die erstaunte Miene des Arkoniden sah. »Wir sind darauf angewiesen, Kompost zu gewinnen. Wir haben mehrere solcher Felslöcher. Alles, was abfällt, wandert hinein – ob es tote Männer, Frauen oder Kinder, verendete Tiere, der Mist der Chreeans, Pflanzenabfälle oder andere organische Substanzen sind. Wir sammeln alles in diesen Kompostlöchern.« Er zeigte auf einen großen, trichterförmigen Deckel, der neben dem Loch lag. »Das Loch wird mit diesem Deckel verschlossen. Nach
Sonnenuntergang schlägt sich der Tau darauf nieder, rinnt zur Mitte und sickert in das Loch, in dem sich allmählich Humus bildet. Dieser wandert dann zur Düngung auf die Felder. Leider dauert es ziemlich lange, bis sich verwendungsfähiger Humus gebildet hat. Wir haben zu wenig Wasser. Mit mehr Wasser ginge alles besser.« Sie traten durch das Tor. Tzufadas schloß es hinter ihnen. Die Chreeans wurden unruhig. Atlan achtete jedoch nicht darauf. Er war in den letzten Tagen häufig mit Chreeans zusammen gewesen. Er war auf ihnen geritten, und er hatte nachts neben ihnen geschlafen. Die Chreeans der Valaser waren zwar wilder als andere, denen er begegnet war, er hatte sich durch sie jedoch niemals bedroht gefühlt. »Heerun ist sehr zufrieden mit dir«, sagte Tzufadas, während sie am Zaun entlang gingen. »Er hofft, daß das Ergebnis so ist, wie es für uns am besten ist.« Atlan lächelte verstohlen. Tzufadas wußte nichts. Er versuchte zu bluffen und ihn aus der Reserve zu locken. Er war ein Gegner des Wasserrichters. Ihm kam es nur darauf an, den Gefangenen zum SCHLOSS zu bringen und ihn dort mit hohem Gewinn an die HERREN weiterzureichen. Ahnte er, daß Heerun andere Absichten verfolgte? »Das freut mich«, entgegnete der Arkonide. Tzufadas blieb stehen. Er preßte die Lippen zusammen, als er merkte, daß Atlan ihm nicht auf den Leim ging. Er wartete einige Sekunden ab, dann fragte er: »Willst du mir nichts sagen?« »So ist es.« »Nimm dich in acht«, sagte der Valaser drohend. »Mich führst du nicht an der Nase herum.« »Mag sein.« Tzufadas steckte zwei Finger in den Mund und pfiff schrill. Die Chreeans warfen die Köpfe hoch und stürmten auf ihn und den Arkoniden zu. Die Tiere, die eben noch friedlich geweidet hatten, waren plötzlich wild und aggressiv. Atlan wich bis an den
Weidenzaun zurück. Tzufadas schnellte sich in die Höhe und kletterte über den Zaun. Als Atlan ihm zu folgen versuchte, traf ihn der Kopf eines Chreeans und schleuderte ihn zu Boden. Die Reitechsen drängten sich um ihn und versuchten, ihn zu zertrampeln. Der Arkonide reagierte instinktiv. Er kroch durch die Beine eines Chreeans, schwang sich auf den Rücken eines Tieres und sprang von hier aus an den Zaun. Sofort versuchte die Echse, ihn mit den Zähnen zu packen. Er war schneller. Er trat mit dem Fuß nach ihr und warf sich dann über den Zaun. Aus einer Höhe von fast drei Metern stürzte er zu Boden. Tzufadas versuchte, ihn auf sein angewinkeltes Knie fallen zu lassen, doch der kampfgeschulte Arkonide erkannte die Gefahr. Er ließ sich zur Seite kippen. Unmittelbar neben dem Valaser kam er auf. Bevor er sich jedoch aufrichten konnte, hieb ihm Tzufadas die klauenartigen Hände in den Rücken. Atlan brach zusammen. Benommen wälzte er sich zur Seite. Tzufadas wollte sich auf ihn werfen, doch jetzt gelang es dem Arkoniden, ihn mit den Füßen abzufangen und ihn zur Seite zu stoßen. Tzufadas fiel nicht, hatte jedoch Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Dadurch verlor er Zeit. Atlan nutzte sie für sich. Er erholte sich schnell wieder von dem Niederschlag. »Nun?« fragte er. »Worauf wartest du?« Tzufadas zog das Messer. »Narr«, sagte Atlan. »Wenn du mich umbringst, machst du dir die HERREN zu Feinden. Das dürfte mehr sein, als du dir leisten kannst.« Der Valaser erbleichte. Er schob das Messer in die Scheide zurück. »Du hast recht«, entgegnete er mühsam beherrscht. »Warum sollte ich so dumm sein, dich umzubringen, wenn die HERREN so großen Wert darauf legen, dich lebendig in die Hände zu bekommen?« »Siehst du, jetzt wirst du vernünftig«, sagte Atlan spöttelnd.
»Fühle dich nur nicht zu sicher«, erwiderte Tzufadas. »Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Und versuche ja nicht, allein zu den Chreeans zu gehen. Sie würden dich umbringen.« 5. Cheffryn schreckte auf, als sie ein feines Sirren hörte. Sie befand sich allein im Haus. Sie sprang auf und eilte zur Tür. Hier war das Sirren deutlicher zu hören, doch es kam nicht von der Spinne, sondern von einem kleinen Vogel, der auf einem Pfahl in der Nähe des Hauses saß. Erleichtert lehnte sie sich gegen die Tür. Sie hatte Angst, und sie spürte, daß sie diese Angst nicht mehr lange ertragen würde. Sie hob die Hände vor das Gesicht und roch daran. Der Geruch der Spinne haftete unverkennbar an ihnen. Sie haßte diesen Geruch, und sie wußte, daß sie die Angst nicht abschütteln konnte, solange dieser Geruch sie immer wieder an die Qualen erinnerte, die sie erlitten hatte. Sie kniete neben der Tür nieder, grub die Hände in den Sand und wusch sie minutenlang mit dem Sand. Dann roch sie erneut daran. Der Geruch war weniger geworden, war aber noch nicht ganz verschwunden. Sie rieb die Hände erneut mit Sand ab, aber ganz konnte sie den Geruch nicht vertreiben. Ich brauche Wasser, dachte sie. Wenn ich den Sand mit Wasser vermische, schaffe ich es vielleicht. Sie kehrte ins Haus zurück und nahm die Wasserflasche, die Atlan erhalten hatte. Sie trank ein wenig Wasser und vermischte den Rest draußen vor dem Haus mit Sand. Dann rieb sie sich erneut die Hände ab, bis das Wasser verbraucht war. Der Erfolg war beachtlich. Der Geruch war fast vollständig verschwunden.
Cheffryn sagte sich, daß nun nur noch wenig fehlte, sich endgültig von dem Geruch zu befreien. Im Haus war jedoch kein Wasser mehr. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, durchsuchte sie das benachbarte Haus nach Wasser. Sie fand jedoch keines. Deshalb ging sie in die nächsten Häuser und suchte dort weiter. Beim vierten hatte sie Glück. Sie entdeckte einen Krug, der bis an den Rand gefüllt war. Sie nahm ihn, kniete vor dem Haus nieder, vermischte etwas Sand mit Wasser und setzte ihre Reinigungsbemühungen fort, bis der Krug kein Wasser mehr enthielt. Glücklich stellte sie danach fest, daß es ihr endlich gelungen war, sich von dem Geruch der Spinne zu befreien. Sie erhob sich und wollte den Krug ins Haus zurückbringen. Da eilte eine Frau auf sie zu. Aufgeregt schreiend riß sie ihr den Krug aus der Hand. Sie beschimpfte sie als Diebin und Verschwenderin und stieß sie schließlich wütend zu Boden. »Ich hole dir neues Wasser«, sagte Cheffryn bestürzt. Sie streckte die Hände aus. »Gib mir den Krug.« Doch die Frau antwortete nicht. Sie eilte zeternd davon. Cheffryn blickte ihr kopfschüttelnd nach. Sie verstand nicht, weshalb die Frau sich so aufregte. Sie hatte nicht das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben, zumal sie der Frau angeboten hatte, neues Wasser zu holen. Sie legte sich das verrutschte Tuch wieder um den Kopf und ging zu dem Haus zurück, das sie gemeinsam mit Atlan bewohnte. Sie hatte es gerade erreicht, als sie die Rufe einiger Männer hörte. Erstaunt drehte sie sich um. Fünf Männer eilten auf sie zu. »Verfluchte Wasserdiebin«, schrie einer von ihnen. »Hätten wir dich nie in die Stadt gelassen.« Verständnislos schüttelte das Mädchen den Kopf. »Was regt ihr euch so auf?« fragte sie. »Ich mußte mich waschen.« Sie streckte den Männern die Hände entgegen. »Endlich bin ich den Geruch los.«
Die Männer überhörten, was sie sagte. Wütend packten sie das Mädchen und schleppten es zum Stadttor. Vergeblich beteuerte Cheffryn, daß sie freiwillig mitgehen werde. Sie verlor das Tuch, mit dem sie die Augen verdeckt hatte. Geblendet kniff sie die Augen zu. Sie hörte die Stimmen einer Menschenmenge, die sich am Stadttor versammelt hatte, sie sah jedoch nichts. Die Männer warfen sie auf den Boden. Cheffryn legte die Hände vor die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen. Für die Menge aber sah es aus, als wolle sie ihr Gesicht schamvoll vor ihnen verbergen. Der Wasserrichter trat auf sie zu. »Steh auf«, befahl er. »Ich habe mit dir zu reden.« Sie gehorchte. Allmählich ging ihr auf, daß ihr Vergehen von weit größerer Bedeutung war, als sie angenommen hatte. * Atlan blickte zu den Chreeans hinüber, die nun durch den Zaun von ihm getrennt waren. Er erkannte, daß die Warnung von Tzufadas berechtigt war. Die Chreeans waren wild und unberechenbar. Sie waren ganz anders, als er sie bisher erlebt hatte. »Ich habe nicht die Absicht, aus Nophinen zu fliehen«, erwiderte er. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Er ging an Tzufadas vorbei in Richtung Süden. Er wollte zurück in die Stadt. Vorläufig hatte er genug gesehen. Er wollte mit Heerun sprechen, da er wenig Lust verspürte, länger als unbedingt notwendig in Nophinen zu bleiben. Er glaubte, dem Wasserrichter vertrauen zu können. Das Leben der Valaser war schwer, und Heerun hatte offensichtlich den Wunsch, sein Volk nach Gojarah zurückzuführen, weil es dort bessere Lebensbedingungen vorfinden würde. Dazu benötigte er seine Hilfe. Atlan war entschlossen, sie ihm zu geben und mit ihm die Macht der HERREN zu brechen.
Als er sich dem Stadttor näherte, sah er, daß sich dort die Männer, Frauen und Kinder von Nophinen versammelt hatten. Er vernahm die zornigen Rufe der Menge, und sein erster Gedanke galt Cheffryn. Er fürchtete, daß sie den Wasserrichter angegriffen und getötet hatte. Er begann zu laufen. »Was ist los?« fragte er, als er das Stadttor erreichte. »Sie hat Wasser gestohlen«, antwortete eine Frau. »Sie hat einen Krug Wasser gestohlen, nur um ihre Hände zu waschen. Sie hat eine ganze Tagesration vernichtet.« Atlan drängte sich durch die Menge, bis er Cheffryn und den Wasserrichter sehen konnte. Das Mädchen stand vor Heerun und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Valaser deuten ihre Haltung falsch, stellte der Extrasinn fest. Sie glauben, daß sie sich schämt, weil sie sich dessen bewußt ist, was sie getan hat. Der Arkonide schob sich weiter nach vorn. »Halt, Heerun«, sagte er. »Nicht weiter. Warte mit deinem Urteil.« Der Wasserrichter drehte sich zornig um. »Misch dich nicht ein«, befahl er. »Das geht dich nichts an. Das Mädchen hat einen Krug Wasser verschwendet. Dafür gibt es nur eine Strafe.« »Sie weiß überhaupt nicht, was sie getan hat«, widersprach Atlan. »Das spielt keine Rolle. Und das ist auch nicht deine Sache. Ich rate dir, sei still, wenn dir dein Leben lieb ist.« »Ich möchte dich nur vor einem schweren Fehler bewahren, Wasserrichter.« »Ich weiß, was ich tue«, fuhr Heerun den Arkoniden an. »In dieser Stadt gibt es nur ein Gesetz. Das Wassergesetz. Es ist von der Not geprägt, und jeder hier in der Stadt weiß, welche Bedeutung es hat.« »Cheffryn weiß es nicht.« »Dann hätte sie Augen und Ohren aufmachen müssen. Wer nicht gerade blind ist, kann sehen, daß dieses Land unter Wassermangel leidet. Jeder Tropfen Wasser ist wichtig. Nichts darf verschwendet
werden, und ein schlimmeres Vergehen, als sich die Hände mit Wasser zu waschen, obwohl es viele andere Möglichkeiten gibt, ist wohl kaum möglich. Das Mädchen wird für diesen Frevel büßen. Sie wird fünf Jahre im Steinbruch arbeiten. Das Urteil ist gefällt. Es ist gültig. Einspruch ist nicht möglich. Bringt sie weg.« Cheffryn sank auf die Knie. Sie schüttelte den Kopf. Sie verstand nicht, was geschehen war. Atlan stellte sich vor sie. Zornig blickte er den Wasserrichter an. »Ich werde dir sagen, wer dieses Mädchen ist«, erklärte er. »Und du wirst dein Urteil revidieren.« »Bringt sie weg«, befahl der Wasserrichter. »Ich will nichts mehr hören.« Die Menge trampelte begeistert Beifall. Mehrere Männer packten Cheffryn und schleiften sie fort. Vergeblich versuchte der Arkonide, sie aufzuhalten. Als er ihnen Cheffryn aus den Armen reißen wollte, schlug ein anderer ihn von hinten nieder. Atlan stürzte in den Sand und blieb benommen liegen. Die Menge verstreute sich, und wenig später war der Arkonide allein. * Cheffryn wußte nicht, wie ihr geschah. Die Ereignisse gingen an ihr vorbei, ohne ihr Bewußtsein zu erreichen. Sie erlebte alles nur wie in Trance. Sie war sich keiner Schuld bewußt, da ihr niemand gesagt hatte, daß es verboten war, sich die Hände mit Wasser zu waschen. Da sie davon überzeugt war, daß sie von der Spinne verfolgt wurde, solange ihr noch der Geruch der Ausscheidungen anhaftete, hatte sie es als dringende Notwendigkeit angesehen, diesen Geruch zu beseitigen. Daß der Wasserrichter sie nicht gefragt hatte, warum sie das Wasser genommen hatte, überraschte sie nicht. Von Heerun hatte sie
nichts anderes erwartet. Sie wehrte sich nicht, als die Männer sie durch das Tal führten. Widerstandslos ließ sie sich in einen Einschnitt in den schwarzen Felsen schieben. »Geh weiter«, sagte einer der Männer, die sie hierhergebracht hatten. »Da hinten ist jemand, der dich empfängt.« Cheffryn ging weiter. Sie fühlte sich schwach und elend. Es schmerzte sie nicht, daß sie im Steinbruch arbeiten mußte. Auch erschien ihr die Zeitspanne von fünf Jahren denkbar gering im Vergleich zu den zweihundert Jahren, die sie in der Höhle der Spinnen verbracht hatte. Es schmerzte sie jedoch, daß sie nun vorerst keine Gelegenheit haben würde, sich an dem Wasserrichter zu rächen. Zugleich dachte sie dankbar daran, daß Atlan versucht hatte, ihr zu helfen. Sie war davon überzeugt, daß er es auch weiterhin tun würde. In dem Felsspalt war es dunkel. Der Boden war glatt, so daß sie nicht zu klettern brauchte. Sie fürchtete sich davor, ins Ungewisse zu gehen. Immer wieder dachte sie daran, daß die Spinne in einem ähnlichen Spalt lebte, und sie hatte Angst, daß die Valaser sie in eine tödliche Falle geschickt hatten. Warum waren die Männer nicht bei ihr geblieben? Als Cheffryn etwa hundert Meter weit gegangen war, wurde es heller. Sie sah das Ende der Felsspalte. Ein riesiger Valaser stand dort und wartete auf sie. Er machte einen gewalttätigen Eindruck auf sie. In seinen Händen lag eine Lederpeitsche. »Komm her«, rief er. »Es wird höchste Zeit, daß wir Hilfe bekommen. Die Arbeiten bleiben liegen, weil die Schwächlinge hier zusammengebrochen sind.« Er lachte dröhnend. »Es scheint weder kräftige Männer noch Weiber mehr zu geben. Ein paar Tage ohne Brot und Wasser genügen, und alles, was bleibt, ist nur noch für die Kompostgruben zu verwenden.« Cheffryn blieb wie erstarrt stehen.
Mit einem derartigen Empfang hatte sie nicht gerechnet. Er erschien ihr widersinnig. Welchen Vorteil sollte der Wasserrichter davon haben, wenn er sie zum Tode verurteilte? War nicht ihre Arbeitsleistung wichtiger als seine Rache für den Verlust von ein paar Tropfen Wasser? »Nun komm schon«, rief der Steinbruchwärter. »Oder soll ich dir Beine machen?« Er schwang die Peitsche über dem Kopf und ließ sie laut knallen. Cheffryn preßte die Lippen zusammen und ging weiter. Sie sagte sich, daß sie nur auf eine Art überleben konnte. Sie mußte sich den Gegebenheiten stellen und arbeiten. Nur dann hatte sie die Chance, die Strafe zu überstehen. Nur dann hatte sie die Möglichkeit, sich anschließend an dem Wasserrichter zu rächen. Der Wärter trat zur Seite. Cheffryn ging an ihm vorbei ins grelle Licht. Sie preßte die Hände vor die Augen. »Nimm die Hände herunter«, befahl der Steinbruchwärter. »Ich kann nichts sehen«, entgegnete Cheffryn. Die Peitsche zuckte auf sie herab. Das Mädchen schrie auf. Sie lief stolpernd in den Steinbruch. Sie ließ die Hände sinken, schloß die Augen jedoch, weil sie das grelle Licht nicht ertrug. Eine Frau in ihrer Nähe lachte schrill. Es war das Lachen einer Wahnsinnigen. * Atlan klopfte sich den Staub aus den Kleidern. Du hast dich überschätzt, stellte der Extrasinn fest. Du hast geglaubt, daß Heerun tun wird, was du verlangst. Aber das trifft nicht zu. Heerun ist im Netz der Bestimmungen und Gesetze gefangen. Er ist nicht frei. Obwohl er zweihundert Jahre oder noch mehr Zeit hatte, seine Macht aufzubauen, fühlt er sich nicht unangreifbar. Er hat Angst, Fehler zu
begehen. Er will nicht zwischen die Stühle geraten. Auf der einen Seite stehen die HERREN, die er bekämpfen möchte, auf der anderen Seite Tzufadas mit seinen Freunden, die starke Gegenkräfte bilden. Atlan ging zu einigen Männern, die mit Messern und Dornen ein Holzstück bearbeiteten, um daraus einen Pflug zu machen. Er tat, als habe er für nichts anderes Interesse als für ihre Arbeit. Er wechselte einige Worte mit ihnen und gab ihnen Ratschläge, die sie dankbar annahmen, nachdem sie erkannt hatten, daß er viel von ihrer Arbeit verstand. Nach etwa einer halben Stunde ging er weiter zu einer anderen Gruppe, die eine Wasserpumpe reparierte, und auch ihr gab er einige nützliche Tips. Sie eröffneten ihm, daß Heerun eine große Zisterne bauen wollte, und daß dazu besonders viel Material aus dem Steinbruch benötigt wurde. Alle paar Monate regnete es, und sie wollten das Wasser auffangen, um es in der Zisterne aufzubewahren. Als Atlan danach weiterging, sah er einen alten Mann, der auf einem Stein saß. Neben ihm kauerten zwei Jungen im Sand. Sie hörten ihm aufmerksam zu. Als der Alte Atlan bemerkte, blickte er ihn lächelnd an. »Nun, Fremder?« fragte er. »Kommst du zu mir, um dir auch eine Geschichte erzählen zu lassen?« »Bist du der Märchenerzähler, der Valaser?« »Nicht der Märchenerzähler. Ich bewahre das Geschehen in mir. Ich berichte über die Geschichte unseres Volkes, über die Heldentaten unserer Männer und über die ruhmreichen Entscheidungen der Wasserrichter. Hast du Fragen an mich?« Der Alte schien versessen darauf zu sein, ihm etwas zu erzählen. Atlan setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken an eine Hütte. »Warum nicht? Ich würde gern wissen, warum die Valaser Gojarah verlassen haben.« »Das ist kein Geheimnis«, erklärte der Erzähler. »Früher lebten die Valaser in der Tat in Gojarah, einer reichen Stadt im Nordosten. Sie hatten alles, was sie zum Leben benötigten, und noch einiges
darüber hinaus.« Er schilderte das Leben in Gojarah in glühenden Farben. Atlan hörte geduldig zu. »Einigen Männern aber war nicht genug, was sie hatten. Sie waren unersättlich und wollten immer mehr. Obwohl sie wußten, daß die HERREN im SCHLOSS die Güter verteilen, und daß von ihnen alles abhängt, wollten sie auf eigene Faust mehr für sich und ihre Familien erringen. Deshalb richteten sich ihre Gedanken auf die unberührbare Stadt Turgan, in der es unermeßliche Schätze gab. Jeder wußte, daß es streng verboten war, diese Stadt zu betreten, ja, die HERREN hatten zu verstehen gegeben, daß es schon ihren Unwillen erregte, wenn jemand es wagte, die Stadt aus der Ferne zu beobachten. Dennoch brachen diese Unersättlichen eines Abends auf. Sie ritten nach Südosten und überfielen die Unberührbare. Sie machten reiche Beute, doch die Freveltat blieb den HERREN nicht verborgen, und die Strafe folgte auf dem Fuß. Die Valaser wurden aus Gojarah vertrieben. Das Tal von Nophinen wurde ihnen als neuer Lebensraum zugewiesen. Das war vor etwa zweihundert Jahren.« Der Erzähler unterbrach seinen Bericht. Sinnend blickte er in die Ferne. »Unter den Frevlern war der Wasserrichter von Gojarah. Die HERREN töteten ihn in der Nacht nach dem Überfall und ernannten seinen Nachfolger. Du kennst ihn. Es ist Heerun. Er ist seitdem unser Wasserrichter, und unter seiner weisen Herrschaft hat das Volk der Valaser überlebt. Er weiß, daß das geringste Vergehen der Valaser dazu führt, daß die HERREN uns endgültig vernichten. Deshalb steht er treu zu den HERREN und verlangt von jedem von uns ebenfalls absolute Treue. Es ist verboten, die HERREN zu kritisieren oder irgend etwas Schlechtes über sie zu sagen. Denke daran, Fremder. Ein einziges Wort schon kann den Untergang für unser Volk bedeuten.« Atlan erhob sich.
»Ich danke dir«, sagte er. »Selten habe ich einen so interessanten Bericht gehört.« Der Alte verneigte sich geschmeichelt. Atlan war der Ansicht, daß er Zeit genug hatte verstreichen lassen, und daß er nun mit dem Wasserrichter über Cheffryn sprechen konnte. Er hoffte, daß die Erregung Heeruns so weit abgeklungen war, daß ein vernünftiges Gespräch zustande kam. Er bezweifelte, daß der Erzähler die Wahrheit gesagt hatte. Heerun kam ein wenig zu gut dabei weg. Er vermutete vielmehr, daß der Wasserrichter im Verlauf der letzten beiden hundert Jahre dafür gesorgt hatte, daß die tatsächlichen Ereignisse in Vergessenheit gerieten. Er hielt es für wahrscheinlich, daß Heerun bald nach der vermeintlichen Hinrichtung seiner Tochter herausgefunden hatte, wer der wirklich Schuldige an dem Überfall von Turgan war. Danach hatte er sich bemüht, die Wahrheit zu vertuschen, weil er selbst keine allzu rühmliche Rolle bei den Ereignissen gespielt hatte. Das war nicht sonderlich schwer gewesen, da es nur darauf angekommen war, den Erzähler zu beeinflussen und mit falschen Informationen zu versorgen. Heerun ließ Atlan spüren, daß er wenig Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten. Der Arkonide tat jedoch, als bemerke er es nicht. Er setzte sich zu dem Wasserrichter in den Wohnraum. »Ich habe mich ein wenig umgesehen«, sagte der Unsterbliche. »Dein Volk leistet gute Arbeit. Es ist erstaunlich, wieviel es aus dem kargen Boden herausholt.« »Dennoch reicht es nicht«, erwiderte Heerun, der nun etwas zugänglicher wurde. »Mit dem wenigen, was wir ernten, können wir nicht alle ernähren. Der Boden ist ausgelaugt. Bald wird er gar nichts mehr hergeben.« »Und deshalb ziehen Männer aus, um zu plündern.« »Es geht nicht anders. Sie tun es nicht aus Abenteuerlust oder Bosheit, sondern weil wir sonst verhungern würden. Wir haben
nichts, womit wir handeln können. Zudem haben uns die HERREN den Handel verboten.« »Nicht aber das Plündern?« »Nein – das nicht.« »Dein Volk macht einen friedfertigen Eindruck auf mich, sieht man einmal davon ab, wie es sich im Zusammenhang mit Wasser verhält.« »Niemand von uns wäre zum Plündern fähig, wenn wir nicht das bittere Wasser trinken würden. Es macht unsere Männer wild und unberechenbar. Hin und wieder reiten einige von uns zum Bitteren Fluß und holen das Wasser von dort. Sie füllen es in kleine Flaschen um, die jeder Mann bei sich führt. Wenn die Männer kämpfen müssen, trinken sie etwas davon. Es verändert sie vollkommen. Und nicht nur sie. Wir geben dieses Wasser auch den Chreeans. Das macht sie wild und aggressiv, aber dadurch werden sie auch bessere Reittiere, und sie werden größer.« »Hast du auch von dem bitteren Wasser getrunken, als du vor etwa zweihundert Jahren ein junges Mädchen zum Tod verurteilt hast, weil du glaubtest, daß sie das Volk der Valaser verraten hat?« Heerun zuckte zusammen. Er wurde blaß. »Wovon sprichst du?« fragte er mit gepreßter Stimme. »Du erinnerst dich nicht mehr?« »Ich erinnere mich an alles, was in den letzten zweihundert Jahren geschehen ist. Ja, du hast recht. Ich bin älter als zweihundert Jahre. Das genaue Alter kenne ich selbst nicht. Niemand sonst ist so alt.« Er wollte Atlan ablenken, doch das gelang ihm nicht. »Vor ungefähr zweihundert Jahren ist ein Mädchen zum Tode verurteilt worden, weil es Opfer einer Intrige geworden ist. Du hast dieses Mädchen zum Tode verurteilt«, sagte der Arkonide. »Erinnerst du dich nicht? Das Mädchen war deine eigene Tochter Cheffryn.« Heerun sprang auf. Er ging zu einem der Fenster und blickte hinaus. »Woher weißt du das?« fragte er.
»Cheffryn hat es mir erzählt.« Er fuhr herum. »Du lügst. Du bist keine zweihundert Jahre alt. Sie kann es dir nicht gesagt haben.« »Nicht damals, Heerun, erst vor ein paar Tagen.« Der Wasserrichter blickte ihn fassungslos an. »Vor ein paar Tagen? Das ist unmöglich. Cheffryn ist tot. Sie ist vor zweihundert Jahren gestorben. Ich weiß es genau. Ich war dabei, als sie starb.« »Das stimmt nicht. Du hast nur gesehen, wie die Spinne sie gepackt und in die Höhle geschleppt hat. Was danach geschah, weißt du jedoch nicht.« Der Wasserrichter war so überrascht, daß es ihm die Stimme verschlug. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Atlan wußte, was sich damals zugetragen hatte. Er fühlte eine derartige Schwäche in den Beinen, daß er sich setzen mußte. Sein Gesicht schien zu verfallen. Tiefe Runen bildeten sich in seinen Wangen. »Die Spinne schleppte Cheffryn in die Höhle und spann sie in einen Kokon ein, so wie sie es stets mit einer Beute machte, die sie nicht gleich verzehren wollte. Sie hat sie später jedoch nicht getötet, sondern sie hat sie am Leben erhalten. Und die Spinnen, die nach ihr kamen, haben es auch getan. Zweihundert Jahre lang hat Cheffryn in der Höhle gelebt. Jetzt ist sie zurückgekommen. Du hast ihr gegenübergestanden, aber du hast sie nicht erkannt, weil sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hatte. Sie mußte ihre Augen vor dem Licht schützen, weil sie zweihundert Jahre lang in einer dunklen Höhle gelebt hatte. Und du hast sie abermals verurteilt. Du hast sie in den Steinbruch geschickt, weil sie sich den ihr anhaftenden Spinnengeruch abwaschen wollte. Sie ertrug diesen Gestank nicht mehr. Sie mußte sich davon befreien. Deshalb hat sie das Wasser genommen. Nicht sie gehört in den Steinbruch, sondern du, denn du bist schuld daran, daß alles so gekommen ist.« Heerun sprang auf. Er atmete laut und keuchend. Er krümmte sich
zusammen, preßte die Arme vor den Leib und lief aus dem Haus. Atlan folgte ihm, kam jedoch nicht weit. An der Haustür trat ihm ein Wächter entgegen und versperrte ihm den Weg. »Laß den Wasserrichter allein«, befahl er. »Er will es so.« »Ich werde ihn nicht stören«, entgegnete Atlan. »Wenn er zurückkommt, sage ihm, daß ich in meinem Haus bin.« 6. Als Heerun etwa eine Stunde später wieder in sein Haus kam, hatte er sich von dem erlittenen Schock noch nicht erholt. Er war noch immer völlig verwirrt, und es war ihm nicht möglich, einen klaren, von Emotionen freien Gedanken zu fassen. Er hatte sich tief in Schuldgefühle verstrickt. Daher reagierte er ablehnend, als er Tzufadas in seinem Haus vorfand. »Was willst du?« fragte er unwillig. »Ich habe keine Zeit für dich.« »Du wirst dir die Zeit nehmen müssen, Wasserrichter.« Heerun setzte sich. Ein Krug Wasser stand auf dem Tisch. Er hatte Durst und war versucht, ihn in einem Zug zu leeren. Er wußte, daß er es getan hätte, wenn er allein gewesen wäre. So aber mußte er sich beherrschen. Er tauchte eine flache Bürste in das Wasser und benetzte sich die Lippen und die Zunge. »Was willst du?« fragte er. »Ich bin in großer Sorge, Wasserrichter. Wir sind in Gefahr.« »In Gefahr? Ich wüßte nicht, warum.« »Doch, das weißt du sehr genau. Muß ich daran erinnern, daß wir Valaser vor etwa zweihundert Jahren das Recht verloren haben, in Gojarah zu leben, weil ein anderer Wasserrichter nicht mehr mit dem zufrieden war, was wir hatten? Hat nicht seine Unvernunft unser Volk um alles gebracht, was es hatte, und uns alle in tiefe Armut gestürzt?« »Ja – das ist richtig. Aber was hat das mit uns heute zu tun?«
Tzufadas verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Er blickte den Wasserrichter durchdringend an. »Wir haben einen Fremden bei uns«, erklärte er. »Ich spreche von Atlan. Wir wissen, daß die HERREN im SCHLOSS großen Wert darauf legen, diesen Mann in ihre Hände zu bekommen. Warum liefern wir ihn nicht aus? Warum zögern wir? Wollen wir den Unwillen der HERREN abermals erregen? Wollen wir das wenige, was wir noch haben, auch noch aufs Spiel setzen?« »Es geht um mehr, als du dir vorstellen kannst«, antwortete der Wasserrichter ausweichend. »Wenn alles so einfach wäre, wie du es siehst, wäre längst alles vorbei. Aber es gibt da einige Komplikationen, die mir Kopfzerbrechen bereiten.« »Ich sehe keine. Ich sehe nur eins. Als unser Volk die Stadt Gojarah verließ, um hier in der Wüste zu leben und für sein Verbrechen zu sühnen, haben wir geschworen, daß wir uns niemals wieder gegen die HERREN stellen werden. Das Versprechen absoluter Treue gehört zu unserer Verfassung. Und wir wissen auch, warum das so ist. Wir leben auf einem schmalen Grat. Neben uns ist der Abgrund. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie schwer das Leben für uns geworden ist. Wenn die HERREN uns nur ein bißchen von dem nehmen, was wir noch haben, verhungern wir. Schon jetzt wird unser Volk immer kleiner. Kinder werden kaum noch geboren.« »Ich weiß das. Ich habe lange genug darüber nachgedacht.« »Dann entscheide dich endlich. Liefere Atlan an die SCHLOSSHERREN aus und beweise ihnen damit, daß du eindeutig zu ihnen stehst.« Heerun schüttelte den Kopf. Es gelang ihm, seine Gedanken zu ordnen. »Das ist nicht so einfach, Tzufadas. Wir wissen nicht, wer Atlan ist, und ob wir ihm vertrauen können. Es wäre sträflich leichtsinnig, ja, unverantwortlich, wenn wir ihn zum SCHLOSS bringen würden, bevor wir mehr über ihn wissen.«
»Warum?« Heerun lächelte überlegen. »Weil er ein gefährlicher Kämpfer sein könnte, der die HERREN vernichtet, sobald er im SCHLOSS ist.« »Die HERREN vernichten? Unmöglich.« »Wahrscheinlich ist es unmöglich. Aber es würde schon genügen, wenn er es nur versucht. Wenn er ihnen Schwierigkeiten macht, werden sie auf uns zeigen und sagen: Seht euch die Valaser an. Sie sind noch nicht gestraft genug. Sie haben uns jemand geschickt, um sich für die gerechte Strafe zu rächen, die wir ihnen erteilt haben. Sie sind unbelehrbar. Also werden wir sie ausmerzen, damit alle Schwierigkeiten mit ihnen für alle Zeiten beseitigt sind.« Tzufadas blickte den Richter bestürzt an. Mit einer solchen Antwort hatte er nicht gerechnet. »Du hast recht«, antwortete er, nachdem er eine geraume Weile nachgedacht hatte. »Wir müssen vorsichtig sein. Die Lage ist wirklich nicht so einfach, wie ich behauptet habe. Jetzt weiß ich, warum der Wasserrichter, unser Herr, älter und weiser sein muß als wir anderen. Er muß ein ruhiger und besonnener Mann sein, denn niemand trägt soviel Verantwortung wie er.« Tzufadas erhob sich und verneigte sich ehrfuchtsvoll vor Heerun. Dann verließ er das Haus. Der Wasserrichter blickte ihm nachdenklich nach. Er wußte, daß Tzufadas bald wieder zu grübeln beginnen würde. Seine Ergebenheit würde nicht ewig dauern. * »Ich muß nach draußen«, sagte Atlan zu dem Valaser, der am Stadttor Wache hielt. »Ich bin bald zurück.« Der Wächter zögerte. Er wußte nicht, ob er den Gefangenen nach Einbruch der Dunkelheit noch hinauslassen durfte.
Der Arkonide lächelte.
»Keine Angst. Ich laufe nicht weg. Wenn ich das vorgehabt hätte, wäre ich einfach über die Mauer geklettert. Du weißt, wie leicht es ist, sie von der Innenseite her zu übersteigen. In einer Stunde bin ich zurück.« Diese Worte überzeugten den Wächter. Er öffnete das Tor und ließ Atlan hinaus. »Halte dich an die Wege«, rief er ihm zu. »Wenn du die Anpflanzungen zerstörst, mußt du dafür bezahlen.« Der Arkonide antwortete nicht. Er lief ein Stück an der Mauer entlang und wandte sich dann nach Westen. Bald darauf stand er vor dem Felsspalt, der zum Steinbruch führte. Er horchte in die Dunkelheit. Deutlich hörte er das Schnauben eines Chreeans. Seine Vermutung hatte ihn nicht getäuscht. Die Valaser hatten eine Reitechse am Zugang zum Steinbruch angebunden und als Wache aufgestellt. Der unruhige Atem des Tieres verriet ihm, daß sie ihm bitteres Wasser gegeben hatten, um es wild und aggressiv zu machen. Atlan war darauf vorbereitet. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte er mehrere Häuser in Nophinen betreten und aus den abgelegten Kleidern der Valaser die kleinen Flaschen mit dem bitteren Wasser entfernt. Er hatte ihren Inhalt durch gewöhnliches Wasser ersetzt. Er wußte, daß er sich damit eines schweren Vergehens gegen die Gesetze von Nophinen schuldig gemacht hatte, aber das interessierte ihn nicht. Er stellte eine kleine Tonschale am Eingang des Spaltes auf und füllte sie mit bitterem Wasser bis an den Rand. Dann zog er sich hinter einige Felsen zurück. Keine zehn Sekunden verstrichen, bis eine Reitechse aus dem Felsspalt kam. Sie hatte sich losgerissen und wurde vom Geruch des Wassers angelockt. Jetzt machte sie sich schnaubend über die Schale her. Die Wirkung zeigte sich schon wenige Minuten später. Die Echse raste etwa hundert Meter weit ins Tal hinein, dann verlangsamte sie ihren Lauf und begann zu taumeln. Das konnte Atlan trotz der
Dunkelheit gut erkennen. Er sah auch, daß das Tier unter der Wirkung der Überdosis zusammenbrach wie ein Betrunkener, der allzu tief ins Glas geschaut hatte. Er lief zum Eingang des Spaltes zurück und horchte erneut. Jetzt war alles still. Vorsichtig tastete er sich voran, gefaßt darauf, unversehens auf eine weitere Wache zu stoßen. Doch der Spalt war ungesichert. Die Steinbruchwächter verließen sich darauf, daß die Reitechse an ihrem Platz blieb. Die zur Fronarbeit verurteilten Männer und Frauen lagen dicht neben dem Ende des Spaltes auf dem nackten Boden. Die Aufseher befanden sich in einer Hütte. Licht fiel durch ein Fenster nach draußen auf die schlafenden Gefangenen. Atlan konnte nicht erkennen, wo Cheffryn war. Er ahmte das Sirren der Riesenspinne nach. Eine der dunklen Gestalten richtete sich ruckartig auf. »Cheffryn«, flüsterte er und winkte ihr zu. Er trat aus dem Schatten der Felsen, so daß sie ihn besser sehen konnte. Sie erkannte ihn. Eilig stand sie auf und eilte zu ihm. »Atlan«, sagte sie erleichtert. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.« Er zog sie an sich. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Entschuldige, daß ich das Sirren der Spinne nachgemacht habe«, flüsterte er. »Ich wußte nicht, wie ich dich sonst hätte finden sollen.« »Es ist nicht so schlimm«, erwiderte sie. »Ich habe gleich gemerkt, daß es nicht die Spinne war. Kommst du, um mich herauszuholen?« »Noch nicht«, sagte er. »Wir hätten keine Chance, wenn wir jetzt weglaufen. Man würde uns verfolgen und bald wieder einfangen. Danach wäre dann alles nur noch um so schlimmer. Aber du wirst nicht lange hier bleiben. Ich habe mit deinem Vater gesprochen.« »Ich habe keinen Vater mehr.« Er ignorierte ihren Einwand. »Ich habe ihm gesagt, wer du bist.« Er fühlte, wie sich ihr Körper in seinen Armen versteifte.
»Das hättest du nicht tun dürfen. Niemals.« »Es mußte sein, Cheffryn. Heerun fühlt sich schuldig. Er hat die Geschichte deines Volkes verfälscht. Er läßt erzählen, daß ein anderer Wasserrichter die Entscheidung getroffen hat, die unberührbare Stadt Turgan anzugreifen, und daß er diesen Wasserrichter abgelöst hat, um das Volk der Valaser in die Wüste zu führen. Er weiß, daß du unschuldig und das Opfer einer Intrige geworden bist. Er weiß, daß die Lügen eines mißgünstigen Händlers die Valaser ins Unglück gestürzt haben und nicht der Brief, den du geschrieben hast.« »Das ist jetzt alles unwichtig.« »Das ist es nicht, Cheffryn. Heerun ist der mächtigste Mann in Nophinen. Weil er sich seiner Schuld bewußt ist, können wir ihn zwingen, das zu tun, was wir wollen.« »Und was ist das?« fragte sie. »Als erstes werden wir mit ihm zur Höhle der Spinne reiten und die Spinne töten. Danach werde ich dafür sorgen, daß er endlich etwas unternimmt, um die Lebensbedingungen der Valaser auf lange Sicht zu verbessern.« »Was könnte das sein?« »Die Macht der HERREN muß gebrochen werden. Ich werde das tun. Und er muß mir dabei helfen. Er muß dafür sorgen, daß ich ins SCHLOSS komme.« »Wie lange muß ich noch hier im Steinbruch bleiben?« »Einen Tag. Vielleicht zwei. Länger nicht. Hältst du das durch?« »Sie werden mich nicht zerbrechen«, antwortete sie stolz. »Wenn nur das Licht nicht so grell wäre. Die Augen tun mir weh.« »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Der Arkonide holte eine mit einfachen Mitteln gefertigte Sonnenbrille aus der Tasche. Er hatte sie selbst in mühsamer Kleinarbeit geschliffen und in Draht eingefaßt. Er gab sie ihr. »Das wird deine Augen schützen.« Sie wußte nichts mit der Brille anzufangen. Hilflos drehte sie sie in den Händen. Weil sie sich keine Blöße geben wollte, wagte sie nicht,
ihn zu fragen, was sie damit sollte. Er erklärte es ihr, sie setzte die Brille auf und umarmte ihn dankbar. Eine Tür klappte. »Die Aufseher«, flüsterte sie erschrocken. »Sie kommen heraus.« Sie verabschiedete sich hastig von dem Arkoniden und kehrte zu dem Platz zurück, an dem sie gelegen hatte, als er sie gesucht hatte. Einer der Aufseher kam mit einer Fackel aus der Hütte. Er ging zu den Gefangenen und zählte sie, um zu kontrollieren, ob noch alle da waren. Atlan lief durch den Spalt ins Tal zurück. Er sah, daß die Reitechse schon wieder auf den Beinen war. Torkelnd näherte sie sich ihm. Er schob sich lautlos an den Felsen entlang und versteckte sich hinter einem großen Stein. Er beobachtete, wie das Tier in den Felseinschnitt trottete. Zufrieden machte er sich auf den Weg zurück nach Nophinen. Als er zu seinem Haus kam, sah er Heerun, der auf ihn wartete. Der Valaser saß auf dem Boden und war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Er erhob sich, als sich Atlan ihm näherte. »Ich muß mit dir reden«, sagte er. Der Unsterbliche bat ihn, ins Haus zu kommen. Er verriegelte die Tür, als Heerun eingetreten war, so daß ihnen niemand folgen und sie belauschen konnte. »Hast du wirklich die Wahrheit gesagt?« fragte der Wasserrichter. »Ich meine, was meine Tochter anbetrifft, und daß sie noch lebt? Ich kann es nicht glauben.« »Es ist die Wahrheit.« Heerun ließ sich auf einen Hocker sinken. Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich habe immer an sie gedacht. Die ganze Zeit, und manchmal hatte ich das Gefühl, ihre Stimme zu hören«, sagte er leise. »Es war, als ob sie in meiner Nähe sei. Sie darf nicht länger leiden. Gleich bei Tagesanbruch hole ich Cheffryn heraus.« »Wie willst du das vertreten? Du hast sie zu fünf Jahren
Schwerstarbeit verurteilt.« »Ich habe noch einige Stunden Zeit. Mir wird schon noch etwas einfallen.« »Ich könnte dir einen Rat geben. Willst du ihn hören?« Heerun blickte ihn hoffnungsvoll an. »Du solltest mit Cheffryn und mir zu dem Hohlweg reiten, in dem die Riesenspinne lebt. Wir werden die Spinne töten und das Nest ausräuchern, so daß deine Tochter nie mehr Angst vor diesem Raubtier zu haben braucht. Danach wirst du deinen Leuten erklären, daß sie das Wasser nur genommen hat, um zu verhindern, daß die Spinne nach Nophinen gelockt wird. Sie hat alles nur getan, um dein Volk vor einem Angriff zu schützen. Die Männer und Frauen von Nophinen werden erkennen, daß sie zu Unrecht verurteilt worden ist, und sie werden damit einverstanden sein, daß du das Urteil aufhebst. Du weißt, daß es nur auf eine gute Rhetorik ankommt. Wenn deine Rede gut ist, werden dir deine Leute diese Wahrheit abnehmen, und sie werden Cheffryn zujubeln.« Der Wasserrichter dachte einige Minuten lang über diesen Vorschlag nach. Dann nickte er Atlan zu. »Ich bin einverstanden«, erwiderte er. »Wir sollten jedoch nicht allein reiten. Ich werde wenigstens hundert Männer mitnehmen. Die Spinne darf keine Chance haben.« Er erhob sich. »Komm«, sagte er entschlossen. »Wir gehen zum Steinbruch und holen meine Tochter. Sie soll nicht länger leiden.« »Es genügt, wenn du sie holen läßt«, widersprach der Arkonide. »Deine Aufgabe ist es, den Valasern die Zusammenhänge zu erklären.« »Gut. Wahrscheinlich hast du recht.« Er eilte aus dem Haus. Als er draußen war, pfiff er schrill auf den Fingern. Die Männer und Frauen der Stadt kamen aus ihren Häusern. Er befahl ihnen, zum Stadttor zu gehen und dort ein großes Feuer anzuzünden.
Heerun kletterte auf die Stadtmauer, streckte die Arme in die Höhe und wartete, bis die Menge ruhig wurde. »Ich muß euch ein Geständnis machen«, rief er. »Ihr kennt die Geschichte unseres Volkes, aber so, wie ihr sie kennt, stimmt sie nicht. Es ist richtig, daß wir in der Stadt Gojarah gelebt haben. Und wir waren den Händlern der Stadt Varlan tributpflichtig. Wir mußten diesen Tribut in Form von Kriegsdiensten ableisten. Auch das ist richtig. Schon damals war ich Wasserrichter und nicht ein anderer, wie ihr glaubt.« Ein Raunen ging durch die Menge. »Das Volk der Valaser war fleißig und tüchtig. Und es war erfolgreich. Schließlich war Gojarah reicher als die Stadt Varlan, der wir tributpflichtig waren. Warum, so fragte ich mich, sollten wir einem Volk Tribut leisten, das unter uns stand? Wir hatten es überholt, und eigentlich wäre es gerecht gewesen, wenn nun alles umgekehrt gewesen wäre.« Die Menge wurde unruhig. Viele Männer und Frauen begannen zu ahnen, daß sie umdenken mußten. Einige spendeten Heerun Beifall. »Deshalb wandte ich mich eines Tages an die SCHLOSSHERREN. Ich setzte ihnen auseinander, was wir empfanden, und sie gaben mir recht. Sie versprachen, das Volk der Valaser auf eine höhere Stufe zu stellen. Doch mein Vorstoß bei den HERREN blieb nicht unbemerkt. Die Händler von Varlan schäumten vor Wut, und sie benutzten meine Tochter, um mir den Angriffsbefehl auf die unberührbare Stadt Turgan zuzuspielen. Sie errichteten ein Netz von Lügen und Verleumdungen und verlangten Gehorsam. Da der Vertrag noch bestand, waren wir zum Tribut verpflichtet. Noch mußten wir Kriegsdienst leisten. Die Händler drohten, uns alle zu vernichten, wenn wir nicht gehorchten, und sie hatten die Möglichkeit, es zu tun. Mir blieb in dieser Situation keine andere Wahl, als meine Tochter Cheffryn zu opfern, so wie sie es forderten. Ich tat es. Ich verurteilte sie zum Tod. Eine Spinne sollte sie töten.
Das war der Befehl der Händler.« Seine Worte erregten die Menge so, daß er für einige Minuten nicht weitersprechen konnte. Erst allmählich wurde es wieder ruhig. Einige Männer forderten den Wasserrichter auf, in seiner Schilderung fortzufahren. »Meine Tochter wurde jedoch nicht getötet, sondern von der Spinne gefangengehalten. Sie hat überlebt. Sie hat zweihundert Jahre lang in der Höhle der Spinne gelebt und hatte tagtäglich den Tod vor Augen. Atlan hat sie gefunden und befreit. Er hat sie hierhergebracht. Aber sie hatte Angst. Die Spinne war ihr gefolgt, weil ihr ein intensiver Geruch anhaftete. Um diesen Geruch loszuwerden und eine fürchterliche Gefahr von uns allen abzuwenden, hat meine Tochter Wasser verschwendet. Wir haben sie mißverstanden und sie dafür bestraft. Aber sie verdient keine Strafe. Sie hat nur versucht, uns zu retten. Deshalb widerrufe ich mein Urteil. Cheffryn soll als freie Bürgerin unter uns leben. Vorher aber werden die Männer in die Wüste ziehen und die Spinne töten, damit sie nie wieder jemanden von uns bedrohen kann. Und sie werden ihr Nest ausräuchern, damit die Gefahr für alle Zeiten beseitigt wird. Ich weiß, daß ihr alle mir zustimmen werdet, daß wir tief in der Schuld Cheffryns stehen.« Die Valaser jubelten ihm zu. Nur eine kleine Gruppe von Männern um Tzufadas verhielt sich ruhig. Atlan sah ihnen an, daß die Schilderung der damaligen Vorgänge sie nachdenklich gestimmt hatte. Heerun befahl einigen Männern, sofort zum Steinbruch zu gehen und Cheffryn zu holen. * Der Wasserrichter und Atlan waren allein im Haus, als einige Männer Cheffryn brachten. Das Mädchen hielt sich auffallend
gerade. Sie trug die Sonnenbrille, die der Arkonide ihr angefertigt hatte. Stolz betrat sie das Haus ihres Vaters. Heerun ging ihr entgegen. Er hob die Arme, um das Mädchen an sich zu ziehen, doch Cheffryn wich voller Abscheu vor ihm zurück. »Was will dieser Mann von mir?« fragte sie Atlan. »Cheffryn«, rief Heerun betroffen. »Ich möchte wieder gutmachen, was ich dir angetan habe.« »Ich weiß nicht, wovon der Mann spricht«, entgegnete sie. Haßerfüllt blickte sie ihn an. Sie nahm die Sonnenbrille ab, und jetzt hatte der Wasserrichter keine Zweifel mehr, daß er seine Tochter vor sich hatte. »Es ist Cheffryn, meine Tochter«, sagte er zu dem Arkoniden. »Ich kann es kaum glauben, daß sie noch lebt.« Atlan ging zu dem Mädchen. »Ich habe dem Wasserrichter erzählt, wie ich dich gefunden habe«, erläuterte er. »Und ich habe ihm erklärt, weshalb du dir die Hände, waschen mußtest. Du wolltest verhindern, daß die Spinne nach Nophinen kommt und tötet. Und du konntest den Gestank an deinen Händen nicht mehr ertragen.« »Das stimmt«, erwiderte Cheffryn und setzte die Sonnenbrille wieder auf, weil selbst das schwache Kerzenlicht im Raum zu hell für ihre empfindlichen Augen war. »Der Wasserrichter will dir helfen. Wir werden jetzt gleich aufbrechen und in die Wüste reiten. Wir werden die Spinne töten.« Das Gesicht des Mädchens hellte sich ein wenig auf. Ihre Lippen entspannten sich zu einem zaghaften Lächeln. Heerun trat näher an sie heran. Sofort wich sie vor ihm zurück. »Der Mann soll mich nicht berühren«, sagte sie zu Atlan gewandt. Heerun blickte den Arkoniden hilfesuchend an. Dieser gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sie in Ruhe lassen sollte. »Komm, Cheffryn«, bat er. »Wir wollen die Bestie nicht warten lassen.«
7. Eine halbe Stunde später brachen der Wasserrichter, Atlan und Cheffryn mit mehr als hundert Männern auf schnellen Chreeans auf. Unter den Männern waren auch Tzufadas und seine Freunde. Sie wollten sich davon überzeugen, daß Heerun die Wahrheit gesagt hatte. Cheffryn wickelte sich ein Tuch um den Kopf, um ihr Gesicht vor dem Wasserrichter zu verbergen. Sie wollte nicht, daß er sah, was sie empfand. Atlan blieb in ihrer Nähe, und dicht bei ihm hielt sich wiederum Tzufadas auf, der zu befürchten schien, daß er die Gelegenheit für eine Flucht benutzen würde. Da die Männer die Reitechsen zu schneller Gangart antrieben, erreichten sie die Gegend, in der die Spinne ihre Höhle hatte, noch vor Einbruch der Dunkelheit. »Etwa eine Stunde haben wir noch Zeit, bis es dunkel wird«, sagte der Arkonide, als er die Felsen sah, aus denen er Cheffryn befreit hatte. »Wir sollten angreifen. Eine Übernachtung in dieser Gegend ist Cheffryn nicht zuzumuten.« »Einverstanden«, erwiderte Heerun. Er hatte vergeblich versucht, während der vergangenen Stunden mit seiner Tochter zu reden. Sie hatte entweder so getan, als habe sie ihn nicht gehört, oder sie hatte nichtssagend und ausweichend geantwortet. Atlan rief die Krieger der Valaser zusammen, um sie für den Kampf einzuteilen. »Ihr steigt auf die Felsen zu beiden Seiten des Hohlwegs«, befahl er ihnen. »Ihr nehmt die Fässer mit Öl mit. Entzündet die Fackeln, bevor ihr das Öl in den Hohlweg gießt, damit ihr es schnell genug entflammen könnt, wenn die Spinne angreift. Heerun und ich gehen in den Hohlweg.« »Nein«, widersprach Cheffryn. »Der Mann und ich gehen allein.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte der Wasserrichter. »Ich will nicht, daß sich Cheffryn einer Gefahr aussetzt.« »Das liegt nicht bei diesem Mann«, erklärte sie. »Ich gehe.« »Laß sie gehen«, bat der Arkonide. »Es ist ihr Kampf.« »Der Fremde hat recht«, bemerkte Tzufadas. »Das Mädchen soll mit in den Hohlweg gehen. Die Bestie kennt ihren Geruch. Dieser wird sie aus der Höhle locken, so daß wir sie angreifen können.« »Genügt es nicht, die Höhle auszuräuchern und sie in der Höhle zu töten?« fragte Heerun. »Nein«, widersprach Tzufadas. »Verstehst du denn nicht? Cheffryn will sehen, daß die Spinne stirbt.« Das waren die ersten Worte, die Tzufadas verlor, seit sie Nophinen verlassen hatten. Er schien die Situation besser beurteilen zu können als der Wasserrichter, der nicht zulassen wollte, daß Cheffryn gefährdet wurde. »Die Zeit wird knapp«, sagte Atlan. »Wenn es dunkel ist, ist es zu spät. Nur bei Licht können wir es wagen, das Tier anzugreifen. In der Dunkelheit haben wir keine Chance, weil es zu schnell ist. Heerun und Cheffryn sollen gehen. Ihnen wird nichts passieren, wenn wir entschlossen handeln.« Da es zu dämmern begann, hatte Cheffryn das Tuch abgenommen, mit dem sie ihr Gesicht verhüllt hatte. Atlan sah, wie die Augen des Mädchens aufblitzten. Er nahm sich vor, besonders auf Heerun zu achten. Er wollte nicht, daß Cheffryn die Gunst der Stunde für ihre Rache an dem Wasserrichter nutzte. Die Männer schleppten die Ölfässer auf die Felsen, nachdem dort einige Krieger Position bezogen hatten, um einem vorzeitigen Angriff der Spinne sofort mit ihren Lanzen begegnen zu können. Doch die Spinne ließ sich nicht sehen. Es war still im Hohlweg, und keine einzige Spur deutete darauf hin, daß das Raubtier noch hier lebte. »Seid vorsichtig«, warnte Atlan. »Bleibt auf dem schmalen
Felsstreifen. Der Sand daneben ist tückisch. Es ist Treibsand, in dem man versinkt wie im Moor.« Er kletterte auf einen Felsen, der direkt über dem Eingang der Höhle lag. Von hier aus konnte er die anderen Männer auf den Felsen und Heerun mit Cheffryn sehen, die vor dem Hohlweg auf ein Zeichen von ihm warteten. Tzufadas gab ihm wenig später mit einer Armbewegung zu verstehen, daß die Falle für die Spinne aufgebaut war. Der Arkonide schwenkte die Arme ebenfalls. Die Valaser, die auf diesen Befehl gewartet hatten, schütteten das Öl aus. Es floß über die Felsen in den Hohlweg, und es war auch in dieser Menge nahezu geruchsfrei. Atlan streckte den rechten Arm in die Höhe. Heerun antwortete ihm, indem er beide Arme hob. Dann nahm er ein Geflecht auf, das aus dünnen, elastischen Zweigen gefertigt war. Es sollte ihm und seiner Tochter als eine Art Schild dienen. Der Wasserrichter und das Mädchen gingen in den Hohlweg. Zunächst waren sie gleichauf, aber Cheffryn beschleunigte ihre Schritte. Heerun legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schüttelte sie ab, ließ ihn aber passieren, so daß er nun vor ihr war. Sie schien einzusehen, daß es so besser war, da er das Geflecht trug. Atlan fühlte, wie es ihn kalt überlief. Er dachte daran, daß der Wasserrichter vor zweihundert Jahren schon einmal hier gewesen war. Und auch damals war Cheffryn in den Hohlweg gegangen, doch sie hatte nicht gewußt, was darin auf sie wartete. Das war jetzt anders. Sie fürchtete sich vor dem Raubtier, das hier lebte, und sie wußte, daß es sie angreifen würde. Sie war der Köder, der die Bestie aus der Höhle locken sollte. Der Arkonide fragte sich, was Heerun empfinden mochte. Dachte der Wasserrichter daran, daß er vor zweihundert Jahren seine Tochter in der Hoffnung geopfert hatte, damit sein Volk zu retten? Oder ging Heerun nur mit, weil er sühnen wollte, und weil er den Tod suchte? Atlan war entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen, daß
Heerun und Cheffryn sich gegen die Spinne wehren mußten. Er wollte, daß der Kampf vorbei war, bevor das Rieseninsekt überhaupt in die Nähe der beiden kam. Heerun und seine Tochter waren noch etwa zwanzig Meter vom Eingang der Höhle entfernt. Die Valaser hielten ihre Fackeln hoch. Sie waren bereit, sie sofort in den Hohlweg zu werfen, wenn sich die Spinne zeigte. Fast alle waren mit Kriegslanzen bewaffnet. Plötzlich ertönte ein feines Sirren. Atlan hörte es sofort. Es kam aus dem Felsspalt, der den Zugang zur Höhle der Spinne bildete. Es war das erwartete Signal. Das Raubtier hatte die Witterung aufgenommen. Der Angriff stand bevor. Atlan sah, daß Cheffryn stehenblieb. Sie blickte zu ihm herauf. Er gab ihr durch ein Handzeichen zu verstehen, daß sie ruhig bleiben sollte und daß alles vorbereitet war. Der Wasserrichter stellte das Zweiggeflecht auf. Es bildete eine einfache Barriere quer über den Hohlweg. Damit konnte er die Spinne nur für Bruchteile von Sekunden aufhalten, doch das mußte genügen. Plötzlich schoß ein dunkler Schatten aus der Höhle. Atlan schrie gellend auf. Die Valaser sahen die Spinne, und das Entsetzen lähmte sie. Obwohl der Arkonide ihnen immer wieder beschrieben hatte, wie die Spinne aussah und wie groß sie war, wurden die meisten Männer von ihrem Anblick überrascht. »Werft die Fackeln«, rief der Arkonide. Das Raubtier sprang Heerun an. Der Wasserrichter stemmte ihm die geflochtene Matte entgegen. Der Aufprall der Spinne war jedoch so hart, daß Heerun mehrere Schritte weit zurückgetrieben wurde. Er stürzte in den Treibsand. Die Matte kippte um. Schutzlos stand Cheffryn dem Tier gegenüber. In diesem Moment entriß Atlan dem neben ihm stehenden Valaser die Lanze und schleuderte sie auf die Spinne. Der Speer beschrieb einen flachen Bogen und durchbohrte das Tier. Das war das Signal.
Dutzende von Fackeln flogen hinterher. Sie entzündeten das Öl, und plötzlich stand die Spinne in einem Flammenmeer. Sie reagierte so, wie Atlan gehofft hatte. Sie drehte sich um und versuchte, in die scheinbar sichere Höhle zu flüchten. Doch jetzt warfen die Valaser die Lanzen. Und die meisten trafen das Tier, als es noch mehrere Meter weit vom Höhleneingang entfernt war. Sie verletzten die Spinne so schwer, daß sie keine Überlebenschance mehr hatte. Dennoch verharrte sie nicht im Hohlweg und stellte sich dem Kampf, sondern rannte weiter. Sie flüchtete in den Felsspalt. Atlan hörte, wie mehrere Lanzen zersplitterten, die in ihrem Leib steckten, da sie den Durchgang nicht mit ihnen passieren konnte. Doch dann hörte er Tzufadas schreien. Er hatte nur die Spinne im Auge behalten und nicht auf Cheffryn und ihren Vater geachtet. Jetzt fiel ihm siedendheiß wieder ein, daß der Wasserrichter in den Treibsand gefallen war. Er fuhr herum. Der Wasserrichter war bis zu den Schultern im Treibsand versunken. Heerun hatte den Tod vor Augen. Schon verschwand sein rechter Arm im Sand. Unaufhaltsam zog es den Wasserrichter in die Tiefe. Cheffryn kniete kaum zwei Schritte von ihm entfernt auf dem Boden. Sie blickte ihm ins Gesicht. Heerun streckte ihr den linken Arm entgegen. »Cheffryn«, schrie er. Das Mädchen bewegte sich nicht. Atlan rannte über die Felsen. Er wollte dem Wasserrichter helfen. Doch da stellten sich ihm Tzufadas und dessen Freunde in den Weg. Sie hielten ihn auf. »Laß sie allein«, befahl Tzufadas. »Ihr dürft ihn nicht sterben lassen«, erwiderte der Arkonide. »Das ist allein ihre Sache«, stellte der Valaser fest. »Wenn sie ihn
rettet, werden wir ihn weiterhin als unseren Führer respektieren. Wenn sie ihn versinken läßt, werden wir einen neuen Wasserrichter wählen.« »Cheffryn«, rief der Arkonide. »Willst du nie wieder ruhig schlafen können?« Sie blickte zu ihm herauf, und ihre Augen weiteten sich. Sie begriff, was er meinte. Die Spinne war tot. Sie brauchte keine Angst mehr vor ihr zu haben, und wahrscheinlich würde sie auch nicht mehr von ihr träumen. Doch wenn sie jetzt zusah, wie ihr Vater starb, obwohl sie ihm helfen konnte, würde sein Bild sie bis in die Träume hinein verfolgen. Sie würde keine Ruhe mehr finden. Die Valaser, die zunächst versucht hatten, zu dem Mädchen und ihrem bedrohten Vater zu eilen, blieben stehen. Sie beobachteten Cheffryn. Diese blickte in die Runde. »Wie könnt ihr erwarten, daß ich vergesse, was geschehen ist?« fragte sie. »Du kannst es, wenn du nur willst«, rief Atlan ihr zu. Sie senkte den Kopf. Der Wasserrichter hatte nur noch Sekunden zu leben. Nur noch seine linke Hand und das Gesicht sahen aus dem Sand. Da streckte Cheffryn die Arme aus und krallte die Finger um die Hand ihres Vaters. »Sei ruhig«, flüsterte sie ihm zu. »Ich halte dich fest, bis die Männer da sind.« Mit aller Kraft hielt sie Heerun, so daß er nicht mehr tiefer sinken konnte. »Kommt doch«, forderte sie. »Helft mir.« Wie befreit rannten die Valaser auf sie zu. Sie halfen ihr, räumten den feinen Sand zur Seite und zogen den Wasserrichter aus der tödlichen Falle. Erschöpft sank Heerun auf die Knie. Er griff nach der Hand Cheffryns, und dieses Mal wich sie ihm nicht aus. Inzwischen hatte Atlan Tzufadas und einige andere Männer um
sich geschart. Das Öl war verbrannt. Nur an vereinzelten Stellen züngelten noch Flammen in die Höhe. Rauchschwaden füllten den Hohlweg wie blauer Nebel. »Wir schütten das restliche Öl in den Eingang der Höhle«, sagte der Arkonide. »Gießt alles hinein, was ihr noch habt.« Die Valaser zögerten keine Sekunde. Sie entleerten die restlichen Fässer, obwohl das Öl für sie von höchstem Wert war. Atlan wartete etwa fünf Minuten. Er wußte, daß der Gang zur Höhle hin abfiel, so daß das Öl in die Höhle laufen mußte. Als er glaubte, daß es weit genug eingedrungen war, nahm er eine Fackel und warf sie in den Spalt vor der Höhle. Das Öl entzündete sich, und das Feuer fraß sich in die Höhle hinein. Da das Öl im Felsen nicht versickern konnte, brannte es lange genug, so daß es alles Leben in der Höhle vernichtete. * Für die Rückkehr nach Nophinen ließ Heerun sich Zeit. Es schien, als wolle er den Männern eine Ruhepause gönnen, damit sie neue Kraft für ihre schwere Arbeit auf den Feldern schöpften. Der Wasserrichter nutzte die Zeit, sich mit seiner Tochter zu unterhalten und sich mit ihr zu versöhnen. Auf halbem Weg nach Nophinen ließ Heerun ein Lager aufschlagen. Er befahl Atlan zu sich. Tzufadas folgte dem Arkoniden, als dieser zum Wasserrichter ging. »Ich meine, wir sollten uns Gedanken darüber machen, was mit ihm geschehen soll«, sagte er, als sie den höchsten Würdenträger der Valaser erreichten, und deutete auf den Arkoniden. »Wir haben schon viel zu viel Zeit verstreichen lassen.« Er setzte sich unaufgefordert zu Heerun und Atlan. »Das ist meine Sache«, entgegnete der Wasserrichter, dem sichtlich nicht gefiel, daß Tzufadas sich einmischte. Ihm war nicht entgangen,
daß Tzufadas eine oppositionelle Haltung einnahm und sich als sein Gegenspieler immer mehr profilierte. »Und ich werde entscheiden, wenn es soweit ist.« »Warum sagt er nichts?« fragte Tzufadas und zeigte anklagend auf Atlan. »Er könnte es uns leichter machen, wenn er nicht so verstockt wäre. Überlaß ihn mir und meinen Freunden. Wir werden die Wahrheit schon aus ihm herausholen.« »Wir sind ihm verpflichtet«, erwiderte Heerun. »Er hat uns geholfen. Er hat Cheffryn gerettet. Darauf werden wir ihm nicht mit Prügeln antworten.« »Das Volk der Valaser ist verflucht«, sagte Tzufadas erregt. »Die HERREN haben es mit einem Fluch belegt. Deshalb geht es uns schlecht. Wenn wir jetzt den Fehler machen, den Weißhaarigen noch länger bei uns zu behalten, werden die HERREN noch einen Fluch oben draufgeben, und es ist ganz vorbei mit uns.« Atlan beugte sich lächelnd zu ihm hinüber. »Du hast recht«, bemerkte er. »So kann man dem Fluch begegnen. Vorausgesetzt, alles ist richtig, was du über mich weißt. Bist du aber wirklich sicher, daß du dich nicht geirrt hast? Wie lange soll der Fluch denn wirken? Bis in alle Ewigkeit? Oder nur so lange, wie die HERREN im SCHLOSS am Leben sind?« Tzufadas richtete sich ruckartig auf. In seinem Gesicht zuckte es. Die Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Ich habe mich wohl verhört«, sagte er erregt. »Niemand wird so verrückt sein, etwas gegen die SCHLOSSHERREN zu unternehmen. Wir sind abhängig von ihnen. Wenn sie auch die letzte Quelle noch zum versiegen bringen, sind wir verloren. Allmählich wird mir klar, welchen Wert du für die SCHLOSSHERREN hast. Es wird höchste Zeit, Heerun, daß wir ihn ausliefern.« Er erhob sich und ging davon, als könne er die Nähe Atlans nicht mehr ertragen. Heerun lächelte. »Ich würde dir gern helfen, Atlan«, sagte er, als Tzufadas sich weit
genug entfernt hatte, so daß er ihn nicht mehr hören konnte. »Ich würde dich sofort ins SCHLOSS bringen, damit du dort gegen die HERREN vorgehen kannst. Wenn du aber mit dem Kampf gegen sie beginnst, darf nicht einmal der Schatten eines Verdachts auf die Valaser fallen. Wir leben nun einmal mit einem tödlichen Risiko, und in dieser Hinsicht hat Tzu‐fadas recht. Ein Fehlr darf uns nicht unterlaufen.« Cheffryn brachte zwei Schalen mit einem erhitzten Brei. Die beiden Männer nahmen sie dankbar entgegen. »Lassen wir es für heute«, versetzte Heerun. »Ich weiß noch nicht, wie wir vorgehen müssen. Vielleicht fällt mir später etwas ein.« Schweigend aßen sie. Die Dunkelheit brach herein, und Heerun stellte Wachen auf. Atlan zog sich in eine Mulde zurück, um zu schlafen. Er war mit seiner Geduld am Ende. Es mußte endlich etwas geschehen. Er wollte nicht ewig bei den Valasern bleiben. Er wußte jedoch, daß es so gut wie unmöglich war, aus ihrer Gefangenschaft zu entkommen. Wenn er versuchte, hier in der Wüste mit einem Chreean zu fliehen, würden die Valaser ihn bald eingeholt haben. Sie konnten wesentlich besser mit den Reitechsen umgehen als er. Zu Fuß aber brauchte er eine Flucht gar nicht erst zu versuchen. Sie wäre von vornherein aussichtslos gewesen. Atlan sah nur eine Möglichkeit sich abzusetzen, und auch sie war mit erheblichen Risiken behaftet. Er mußte nachts aus Nophinen fliehen und die Reitechse, die den Steinbruch bewachte, erneut mit einer Überdosis des bitteren Wassers versehen. Danach konnte er versuchen, auf dem halbwegs betäubten Tier zu entkommen. Während er einschlief, durchdachte er diesen Plan immer wieder. Er sah sich bereits auf dem torkelnden und schwankenden Chreean durch die Wüste reiten, und er überlegte, wie das Tier reagieren würde, wenn es sich aus dem Rausch löste. Würde es dann so aggressiv wie die anderen Chreeans auf der Weide werden? Oder würde es fügsam bleiben?
Als Atlan am nächsten Tag mit den Valasern nach Nophinen zurückkehrte, hatte er diesen Plan bereits wieder verworfen, weil er mit allzu vielen Wagnissen verbunden war. Er war sich darüber klar geworden, daß er ohne die Hilfe des Wasserrichters nicht entkommen würde. Tzufadas wollte er sich nicht überlassen. Er zweifelte nicht daran, daß dieser ihn sofort zum SCHLOSS gebracht hätte. Doch fragte sich, in welchem Zustand er dann dorthin kommen würde. Außerdem verspürte der Ar‐konide nicht die geringste Lust, sich als Gefangener bei den HERREN abliefern zu lassen. Damit hätte er gleichzeitig seine Handlungsfreiheit aufgegeben. Als sich die Reiter Nophinen am nächsten Tag näherten, kam ihnen eine Gruppe von fünf Kindern entgegen. Heerun trieb sein Chreean zu schnellerem Tempo an, als er sie bemerkte. Atlan und Cheffryn blieben bei ihm. Atlan sah, daß die Kinder mit roten und weißen Bändern geschmückt waren. Sie trugen Blumen in den Händen. Der Wasserrichter ritt immer schneller. Sein Gesicht glühte vor Erregung. »Weißt du, was das zu bedeuten hat?« fragte Atlan das Mädchen. Cheffryn schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.« Tzufadas, der besser mit seinem Chreean umgehen konnte als Atlan und Cheffryn mit ihren Tieren, überholte sie. Er lachte. »Was ist los?« rief der Arkonide ihm zu. »Das Wasser fließt reichlicher«, antwortete er. »Die Kinder geben uns das Zeichen, daß die Quelle wieder mehr Wasser hergibt.« Die Valaser jubelten. Sie stürmten so wild auf die Kinder zu, daß Atlan bereits befürchtete, sie könnten ihre Chreeans nicht mehr stoppen. Doch kurz vor den Kindern rissen die Wüstenbewohner die Reitechsen zur Seite. Eine Staubwolke wirbelte auf. Die Valaser beugten sich zu den Kindern herab und hoben sie zu sich in die Sättel. Dann jagten sie weiter nach Nophinen.
Atlan sah sich um. Hinter ihm ritten nur noch vier Valaser. Die Gelegenheit für eine Flucht schien gekommen. »Bei euch ist jetzt alles besser geworden, Cheffryn«, sagte er. »Auch für dich beginnt eine bessere Zukunft. Ich habe keinen Grund, nun noch länger zu bleiben.« Ihre Augen weiteten sich hinter der Sonnenbrille. »Nein, Atlan, nicht fliehen«, rief sie ihm erregt zu. Doch es war schon zu spät. Der Arkonide zog sein Chreean herum und hieb ihm die Hacken in die Weichen. Das Tier machte einen Satz nach vorn und rannte ungestüm in die Wüste hinein. Der Arkonide beugte sich weit über ihren Hals. Er blickte über die Schulter zurück. Er war überzeugt davon, daß die Valaser ihn verfolgen würden. Zu seiner Verblüffung ritten sie jedoch ruhig weiter in Richtung Nophinen, von dem sie noch etwa zwei Kilometer entfernt waren, als sei nichts geschehen. Erleichtert atmete er auf, überzeugt davon, den Valasern entkommen zu sein. Narr! signalisierte sein Logiksektor. Sie lassen dich nicht frei. Die Echse wird dir gleich nicht mehr gehorchen. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als drüben bei den Valasern ein Pfiff ertönte. Im gleichen Moment ließ sich die Reitechse nach vorn fallen. Sie prallte mit ihrer muskulösen Brust in den Sand. Atlan flog in weitem Bogen über ihren Kopf hinweg. Er ließ sich über die Schulter abrollen und kam sogleich wieder auf die Beine. Die Echse stürzte sich auf ihn und stieß ihm den Kopf vor die Brust. Er konnte nicht mehr ausweichen. Abermals landete er im Sand. Jetzt setzte ihm das Tier einen der krallenbewehrten Füße auf die Brust. Atlan fühlte, wie sich die Spitzen der Krallen durch den Stoff seines Umhangs bohrten. Er versuchte, den Fuß zur Seite zu schieben, doch das gelang ihm nicht. Je mehr er sich gegen den Fuß stemmte, desto stärker drückte die Echse dagegen.
Lachend ritten die Valaser heran. Sie pfiffen erneut, als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatten, und die Echse gab Atlan frei. Langsam richtete sich der Arkonide auf. Die Valaser verhöhnten und verspotteten ihn, doch er tat ihnen nicht den Gefallen, wütend darauf zu reagieren. Er lachte laut mit. Sogleich wurden sie ernst. Verblüfft blickten sie ihn an. Atlan lachte weiter. »Ich fürchte, ich bin so dumm, daß ich niemals von euch in euren Stamm aufgenommen werde«, sagte er. »Erzählt bloß nicht allen in Nophinen, was ihr gesehen habt, sonst bin ich bis auf die Knochen blamiert.« Sie lachten, doch dieses Mal war es kein höhnisches Lachen. Es zeigte Atlan vielmehr, daß er die kritische Situation bereits überwunden hatte. Er ging zu seinem Chreean und stieg auf, und er war nicht überrascht, daß die Echse es ihm widerstandslos erlaubte. Die Valaser nahmen ihn in die Mitte und feuerten die Chreeans mit lauten Pfiffen an. In hohem Tempo ging es zurück bis nach Nophinen. Atlan befürchtete, daß es Schwierigkeiten mit dem Wasserrichter oder Tzufadas wegen seines Fluchtversuchs geben würde, doch niemand außer den fünf Valasern schien etwas bemerkt zu haben. Die Bevölkerung von Nophinen feierte ausgelassen auf den Straßen der Stadt. Viele Männer entlockten eigenartigen Instrumenten, die aus einem Holzrohr und einer getrockneten Blase der Chreeans bestand, langgezogene Töne. Diese versetzten die Menge in Ekstase. Die Männer, Frauen und Kinder von Nophinen tanzten, als seien sie alle berauscht. Cheffryn bemerkte den Arkoniden. Sie kam zu ihm. »Das war dumm von dir«, sagte sie betrübt. »Du hättest dir diese Blöße nicht geben sollen. Jetzt werden sie über dich lachen. Jeder weiß doch, wie die Chreeans dressiert sind.« »Laß sie lachen«, entgegnete der Arkonide gelassen.
8. Das Fest dauerte bis zum nächsten Morgen. Atlan beobachtete die Valaser, die ausgelassen durch die Stadt tobten. Immer wieder sah er Männer, die sich mit bitterem Wasser berauscht hatten und Streit vom Zaun brachen. Sie schlugen sich, und stets fanden sich zahlreiche Zuschauer, die sie bei ihrem Kampf anfeuerten. Die Streithähne kämpften wild und hemmungslos, aber keiner von ihnen benutzte eine andere Waffe als seine eigenen Fäuste. Lächelnd vernahm der Arkonide die Stimmen einiger aufgebrachter Männer, die sich darüber erregten, daß jemand das bittere Wasser aus ihren Flaschen gegen ganz gewöhnliches Wasser ausgetauscht hatte, so daß nun die berauschende Wirkung ausblieb. Er hütete sich, diesen Männern zu verraten, daß er derjenige gewesen war, der den Austausch vorgenommen hatte. Er unterhielt sich mehrere Male in dieser Nacht mit Heerun, ohne daß dieser ihm einen Vorwurf wegen des Fluchtversuchs machte. Der Wasserrichter erwähnte diesen Vorfall noch nicht einmal. Atlan aß und trank mit ihm. Er tanzte mit einigen Männern, nachdem er sich die Schritte hatte zeigen lassen, und er ließ sich schließlich gar dazu verführen, auf dem Tezzel, dem seltsamen Instrument der Valaser, zu spielen. Dieser Versuch gelang ihm allerdings nicht besonders gut. Dennoch erntete er für seine Bemühungen viel Beifall. Gegen Mitternacht zog er mit Heerun, Cheffryn und einigen anderen zur Quelle, um sie zu besichtigen. Sie sprudelte viel stärker als an den Tagen davor, so daß alle Felder reichlich mit Wasser versorgt werden konnten. Als sich der erste Silberstreif am Horizont zeigte, wollte Atlan schlafen. Er war müde. Er ging zu seinem Haus. Als er die Haustür öffnen wollte, stürzten sich drei dunkle
Gestalten auf ihn. Sie versuchten, ihn mit einem Knüppel niederzuschlagen. Der Arkonide erkannte den Angriff jedoch rechtzeitig. Er konnte dem gefährlichen Hieb ausweichen. Der Knüppel strich an seinem Kopf vorbei und prallte krachend gegen die Hauswand. Atlan fuhr herum. Er fing einen der drei Angreifer mit einer geschickten Körperwendung ab und ließ ihn über das ausgestreckte Bein fallen. Der Valaser stürzte. Er rutschte ein Stück über den Boden und schlug mit dem Schädel gegen die Stufen, die zur Haustür führten. Bewußtlos blieb er liegen. Atlan wich den beiden anderen Angreifern aus. Es gelang ihm, einen der beiden an der Hand zu packen, herumzureißen und mit einem Kniestoß umzuwerfen. Der andere durchbrach seine Deckung und hieb ihm die Faust mit voller Wucht in den Magen. Atlan flog bis zur Hauswand zurück. Er fiel mit dem Rücken dagegen und ließ sich rasch zur Seite fallen, als sein Gegner sich auf ihn werfen wollte. Bis jetzt hatte er noch nicht erkannt, wer die drei Valaser waren. Sie hatten ihre Köpfe mit Tüchern verhüllt, so daß nur schmale Augenschlitze frei blieben. Sie hatten alle drei dunkle, fast schwarze Augen, so wie die meisten Valaser. Jetzt versuchte Atlan, einem der Männer das Tuch herunterzureißen, doch das gelang ihm nicht. Zwei Gegner stürzten sich gleichzeitig auf ihn und stießen ihn auf den Boden zurück, als er sich gerade aufrichten wollte. Einer von ihnen legte ihm die Hände um den Hals und versuchte, ihn zu würgen. Der Arkonide befreite sich mit einem Dagor‐Griff. Damit überraschte er sie so, daß sie verblüfft im Sand liegenblieben. »Kommt nur her«, sagte der Arkonide. »Von mir aus kann es weitergehen.« Der Valaser, der bisher betäubt an der Treppe gelegen hatte, schnellte sich aus der Hocke heraus auf den Unsterblichen. Dieser trat rasch einen Schritt zur Seite, beugte sich über den Angreifer und
hieb ihm die Handkante in den Nacken. Atlan glaubte, daß der Kampf damit entschieden war. Doch er irrte sich. Plötzlich rannten fünf weitere Angreifer auf ihn zu. Er eilte zur Hauswand und stellte sich mit dem Rücken dagegen, um sich so besser behaupten zu können. Dennoch war er der Übermacht nicht gewachsen. Die Valaser warfen sich alle gleichzeitig auf ihn, umklammerten ihn und hängten sich an ihn, bis er zusammenbrach. Jetzt half ihm auch die USO‐Kampftechnik nichts mehr. Die Übermacht war zu groß. Ihm gelang es jedoch noch, einem der Männer das Tuch vom Gesicht zu reißen. Er blickte in die zornigen Augen von Tzufadas. »Das kostet dich den Hals, Fremder«, sagte der Valaser drohend. Er wandte sich an seine Freunde und befahl: »Schleppt ihn zur Stadtmauer, wie wir es verabredet haben. Aber seid leise.« Die Männer nahmen den Arkoniden und fesselten ihm die Füße. Dann hoben sie ihn auf und wollten ihn wegtragen. Doch sie kamen nicht dazu. Von allen Seiten näherten sich mit Lanzen und Messern bewaffnete Männer. Der Wasserrichter trat hinter Atlans Haus hervor und auf Tzufadas zu. »Gebt Atlan sofort frei«, rief er. Die Freunde von Tzufadas gehorchten erschrocken. Sie sahen sich einer Übermacht von weit mehr als hundert Männern gegenüber, die dem Wasserrichter ergeben waren. Unter diesen Umständen wurde jeder Widerstand sinnlos. Atlan ging zu dem Wasserrichter. »Danke«, sagte er schlicht. Heerun nickte ihm freundlich zu. Dann aber verhärtete sich sein Gesicht. »Zündet Feuer an«, befahl er. Kaum eine Minute später flammten mehrere Feuer zwischen den
Häusern auf. Sie bildeten einen weiten Kreis. Die Männer Heeruns trugen Tzufadas und seine Freunde, die mittlerweile gefesselt worden waren, in den Kreis und banden sie aneinander, so daß sie ebenfalls einen Ring bildeten. Der Wasserrichter trat auf sie zu. Er hob beide Arme. Augenblicklich wurde es still. Flüsternd eilten weitere Männer, Frauen und Kinder aus allen Richtungen herbei. Sie wollten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen. Atlan erkannte Cheffryn unter ihnen. Sie machte einen gelösten, fast fröhlichen Eindruck. »Tzufadas hat gegen die Grundgesetze unseres Volkes verstoßen«, rief der Wasserrichter. »Wir haben einen Mann unter uns, dem wir das Gastrecht eingeräumt haben. Dieser Mann hat mit uns gegessen, getrunken, gesungen und getanzt, als ob er einer von uns sei. Er hat damit die symbolischen Handlungen vollzogen, die ihn innerhalb der Stadtmauern zu einem Unangreifbaren machen. Jeder von euch kennt das Gesetz. Auch Tzufadas und seine Freunde kennen das Gesetz. Dennoch haben sie unseren Gast Atlan angegriffen. Sie haben ihn geschlagen und wollten ihn entführen.« Die Worte lösten erregte Diskussionen unter den Zuschauern aus. Die Männer beschimpften Tzufadas und seine Freunde. Tzufadas schien plötzlich keine Anhänger mehr zu haben. Geschickt eingefädelt, stellte der Extrasinn fest. Auf diese Art entledigt sich der Wasserrichter eines unbequemen Gegners. Atlan fragte sich allerdings, ob das Verhalten Heeruns auch in anderer Hinsicht richtig war. Er hatte ihn einen Gast genannt, obwohl er nach wie vor ein Gefangener war. Oder hatte er die Absicht, ihn als Freund zu verabschieden? Das wird er nicht tun. Tzufadas hat zuviel von deinem Wert gesprochen. Heerun kann dich nicht gehen lassen, ohne ein Geschäft dabei zu machen. »Für ein derartiges Verbrechen gibt es eine Reihe von Strafen«, rief Heerun, als es wieder ruhiger wurde. »Ich könnte Tzufadas und seine Freunde töten lassen, ich könnte sie ausstoßen, so daß sie für
den Rest ihres Lebens irgendwo allein in der Wüste leben müßten, aber solche Strafen wären sinnlos. Tzufadas und seine Freunde haben uns allen geschadet. Jetzt sollen sie uns allen Nutzen bringen. Deshalb verurteile ich sie zu vier Jahren Schwerstarbeit im Steinbruch. Wenn sie gute Arbeit leisten, sollen sie nach zwei Jahren die Möglichkeit haben, um Gnade zu bitten. Wir werden dann überlegen, ob wir ihre Strafe abändern und ihnen eine leichtere Arbeit zuweisen. Bringt sie weg. Das Urteil ist gültig. Widerspruch ist nicht möglich.« Die Menge bejubelte das Urteil, das ihr gerecht erschien. Heerun verabschiedete den Arkoniden. »Geh ruhig schlafen«, sagte er und lächelte verstohlen. »Ich habe ein kleines Problem gelöst, und du brauchst nicht zu befürchten, daß du noch einmal gestört wirst.« * Einige Stunden später erschien der Wasserrichter erneut bei dem Arkoniden. Er klopfte so lange an die Haustür, bis Atlan ihm öffnete und ihn hereinbat. »Was ist geschehen?« fragte der Unsterbliche. »Warum läßt du mich nicht schlafen?« »Weil ich eine Idee habe«, erwiderte der Wasserrichter. »Ich weiß jetzt, wie wir dein Problem lösen können, nachdem Tzufadas uns keine Schwierigkeiten mehr machen kann.« »Du willst damit sagen, du weißt, wie ich ins SCHLOSS komme, ohne daß die HERREN etwas von deiner Beteiligung merken?« »Genau das«, bestätigte Heerun. »Ich habe eine erfolgversprechende Idee. Hör zu. In Turgan finden regelmäßig Markttage statt, an denen auch Sklaven aus allen Teilen des Landes und – soweit verfügbar – den Außenwelten verkauft werden. Es ist allgemein bekannt, daß stets einige Agenten der SCHLOSSHERREN
an diesem Markt teilnehmen, alle außergewöhnlichen Sklaven kaufen und in das SCHLOSS bringen.« »Ich verstehe«, sagte der Arkonide. »Ich soll mich also von deinen Männern zum Markt bringen und zum Schein verkaufen lassen.« Heerun lachte, als er das Gesicht des Arkoniden sah. »Dir scheint dieser Plan nicht zu schmecken«, erwiderte er. »Du möchtest das SCHLOSS nicht als Sklave, sondern als freier Mann betreten.« »Das kann ich nicht leugnen.« »Es gibt keinen anderen Weg aus Nophinen heraus«, erklärte der Wasserrichter. »Ich kann dich nicht einfach so gehen lassen. Wenn du dann mit deinem Kampf im SCHLOSS beginnst und nicht erfolgreich bist, wird man deinen Weg zurückverfolgen, auf uns stoßen und zu Recht vermuten, daß hier zumindest die Pläne für den Kampf geschmiedet worden sind. Aus dem gleichen Grund kann ich dich nicht fliehen lassen. Jeder halbwegs kluge Mensch wird sofort fragen, wie jemand von uns flüchten kann, obwohl es für einen Fremden so gut wie unmöglich ist, mit unseren Chreeans auszukommen, wenn wir ihm nicht dabei helfen.« Atlan nickte. Er hatte bereits befürchtet, daß Heerun so etwas sagen würde. Und er konnte den Valaser verstehen. Er wollte kein Risiko eingehen. Die Quelle sprudelte stärker. Das war das erste positive Zeichen seit Jahren. Jetzt wollte er die neue Hoffnung, die das Tal von Nophinen erfüllte, nicht zerstören. Atlan willigte ein, da er insgeheim hoffte, daß sich auf dem Weg nach Turgan irgend etwas ereignete, was die Lage für ihn verbesserte. Vielleicht gelang ihm doch noch eine überzeugende Flucht, so daß er das SCHLOSS unter den Umständen betreten konnte, die ihm genehm waren. *
Kaum zwei Stunden darauf holte der Wasserrichter Atlan ab. Er brachte ihn zum Stadttor, wo sich etwa die Hälfte der Bevölkerung von Nophinen versammelt hatte. »Atlan wird uns verlassen«, rief er der Menge zu. »Wir sind ein armes Volk, vielleicht das ärmste von Dorkh. Deshalb müssen wir jede Gelegenheit, die sich uns bietet, ergreifen, etwas zu verdienen. Wir haben nichts zu verschenken.« Die Menge spendete ihm Beifall. »Atlan hat Verständnis für unsere Situation«, fuhr Heerun danach fort. »Deshalb habe ich mehrere Möglichkeiten mit ihm besprochen. Er will uns nicht unter Umständen verlassen, die uns zu einem Verzicht zwingen. Er hat sich dazu entschieden, als Sklave in Turgan verkauft zu werden. Den Gewinn aus dem Kauf erhalten wir, so daß wir einige Dinge, die wir dringend benötigen, einkaufen können.« Wieder applaudierten die Bewohner von Nophinen. Heerun legte dem Arkoniden eine Hand auf die Schulter und führte ihn durch das Stadttor hinaus zu einer Gruppe von zehn Männern, die ihn nach Turgan bringen sollten. »Müssen wir dich fesseln?« fragte der Wasserrichter. »Natürlich nicht«, erwiderte Atlan. Er reichte Heerun und seiner Tochter Cheffryn die Hand und verabschiedete sich. Dann schwang er sich auf eine Reitechse und galoppierte mit den zehn Valasern in die Wüste hinaus. Die Gruppe ritt in südwestlicher Richtung. Gegen Abend kreuzte sie die westliche Karawanenstraße. Tzendaz, der Anführer, ließ an einer kleinen Anhöhe halten. »Wir übernachten hier«, sagte er. Am Fuß der Anhöhe standen einige Bäume. Unter ihnen lag genügend trockenes Holz, so daß schnell ein Feuer entzündet war. Tzendaz reichte Atlan eine Wasserflasche. »Hoffentlich bringst du genügend ein«, sagte er. »Heerun hat mir eine lange Liste der Dinge mitgegeben, die wir kaufen sollen.«
»Es liegt in meinem Interesse, gut verkauft zu werden«, erklärte der Arkonide. »Glaubst du, ich habe Lust, für einen armen Händler schwere Lasten zu schleppen? Du wirst den Preis so hoch ansetzen, daß eigentlich nur die Agenten der SCHLOSSHERREN als Käufer in Frage kommen.« »Das ist genau das, was Heerun mir auch gesagt hat«, antwortete der Valaser. Er grinste. »Was aber wirst du tun, wenn ich dich als Sklave ins Bergwerk schicke?« »Dann ziehe ich dir bei der ersten, besten Gelegenheit das Fell über die Ohren. Und der Wasserrichter sorgt dafür, daß du die nächsten vier Jahre im Steinbruch verbringst.« Die Chreeans wurden unruhig. Die Valaser hatten ihre Beine gefesselt, so daß die Reitechsen nicht weglaufen, aber dennoch kleine Schritte machen konnten. Einige Chreeans waren durch Seile miteinander verbunden. Atlan beobachtete überrascht, daß eine der Echsen ein solches Seil durchbiß. Tzendaz sprang auf. »Was ist los?« fragte er. »Was haben die Tiere?« Die anderen Valaser waren nicht weniger ratlos als er. Furchtsam sahen sie sich um. »Vielleicht ist dieser Platz hier verflucht?« fragte einer von ihnen. »Laß uns von hier verschwinden«, forderte ein anderer. »Je schneller, desto besser.« Atlan spürte, daß der Boden zu beben begann. Bis jetzt hatte er neben dem Feuer gesessen. Nun aber stand er auf. Im nächsten Moment schien ein schwerer Schlag Dorkh zu treffen. Der Boden bebte so heftig, daß Atlan und die Valaser sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Die Chreeans schrien panikartig auf, rissen sich los und flüchteten, so schnell es ihnen mit den gefesselten Beinen möglich war. Ganz Dorkh schien sich plötzlich ruckartig zu bewegen. Atlan blieb im Gras liegen.
Ihm kam der nicht sehr erfreuliche Gedanke, daß es möglicherweise doch ein Fehler gewesen war, die Augenputzer vor dem Aussterben zu retten. Hatten Kuashmos Roboter vielleicht schneller gearbeitet, als er es erwartet hatte? Vielleicht war Dorkh tatsächlich nur deshalb zum Stillstand verurteilt gewesen, weil das Augenfeld nicht funktioniert hatte. Der Arkonide glaubte zu fühlen, wie eine gigantische Kraft an dem Dimensionsfahrstuhl zog, doch Dorkh schien sich gegen diese Kraft zu wehren. Es schien, als bewege sich der Dimensionsfahrstuhl trotz der an ihm zerrenden Kräfte nicht von der Stelle. Blitze zuckten vom Himmel. Sie tauchten das Land in taghelles Licht. Doch das typische, ferne Rauschen, auf das Atlan wartete, blieb aus, und noch immer war die tiefstehende Sonne schwach zu erkennen. Eine der Reitechsen trabte kaum zehn Meter von Atlan entfernt vorbei. Das Tier warf unruhig den Kopf hin und her. Der Arkonide erhob sich, weil das Beben nachließ. Er fürchtete nicht mehr, von einem plötzlichen Beschleunigungseffekt umgeworfen zu werden. Tzendaz zog die falschen Schlüsse aus seinem Verhalten. Er glaubte, der Arkonide wolle die Situation nutzen und fliehen. Er sprang auf und stürzte sich von hinten auf ihn. Der Aufprall kam so überraschend, daß Atlan zu Boden fiel. Tzendaz zog sein Messer aus dem Gürtel und setzte es dem Arkoniden an den Hals. »Komm nur nicht auf falsche Gedanken«, sagte er erregt. »Bevor ich dich entkommen lasse, bringe ich dich um. Wenn ich schon mit leeren Händen nach Nophinen zurückkehren soll, dann bestimmt nicht, weil du uns ausgerissen bist.« »Rede keinen Unsinn«, erwiderte Atlan. »Ich hatte nie die Absicht, wegzulaufen. Ihr könnt die Chreeans jederzeit zurückbefehlen. Ich hatte also gar keine Chance.« Ein seltsames Pfeifen ertönte. Es kam aus der Luft hoch über
ihnen. Tzendaz ließ den Arkoniden los. Er steckte das Messer wieder in den Gürtel. Die anderen Valaser pfiffen die Chreeans zurück. Aber nicht alle gehorchten ihren Befehlen. Daher schwangen sich zwei Männer auf den Rücken zurückgekehrter Tiere und jagten den anderen hinterher, um sie wieder einzufangen. Atlan blickte zum Wölbmantel von Dorkh hinauf. Er sah eine Flugschale, die fast aufs Haar wie ein Zugor aussah. Die Maschine war etwa vier Kilometer von ihnen entfernt und flog in einer Höhe von fast zweihundert Metern. Tzendaz wurde aufmerksam. Und dann entdeckte er die Flugschale ebenfalls. Ächzend sank er auf die Knie. »Abgesandte der SCHLOSSHERREN«, sagte er. Gehetzt blickte er sich um. Die beiden Valaser, die in die Ebene hinausgeritten waren, um die Chreeans wieder einzufangen, kehrten zurück. Der eine näherte sich von Westen. Er hatte zwei Reitechsen bei sich. Der andere kam aus nördlicher Richtung. Er hatte nur ein Tier eingefangen. Für die Abgesandten der SCHLOSSHERREN war klar ersichtlich, an welchem Punkt sie zusammentreffen würden – unter den Bäumen bei Atlan, Tzendaz und den anderen Valasern. »Sie kommen hierher«, brüllte Tzendaz entsetzt, als die Flugschale ihren Kurs änderte. Wieder griff er zum Messer. Er blickte Atlan an. Er weiß, daß er ohne Gewinn nach Nophinen zurückkehren wird, stellte der Logiksektor fest. Er wird seine Drohung wahrmachen. »Das wäre der Fehler deines Lebens«, sagte der Arkonide, als Tzendaz das Messer aus dem Gürtel zog. »Ich weiß nicht, ob die Abgesandten der SCHLOSSHERREN hier sind, um mich zu holen. Wenn sie es aber sind, dann lebst du keine zwei Minuten mehr.« »Weg hier«, brüllte einer der anderen Valaser mit angstverzerrtem Gesicht. »Tzendaz – komm!«
Der Anführer der Valaser blickte zur Flugschale hoch. Diese war nur noch etwa fünfhundert Meter von ihnen entfernt. Pfeifend raste sie heran. Drei humanoide Gestalten saßen in der Schale. Panik überwältigte Tzendaz und die anderen Valaser. Sie ließen den Arkoniden stehen und rannten zu ihren Chreeans. Sie schwangen sich in die Sättel, nachdem sie die Fesseln durchgeschnitten hatten, und trieben die Tiere an. Keiner der Wüstenbewohner blickte noch zu dem Arkoniden zurück. Atlan blieb gelassen stehen, wo er war. Ihm war durchaus recht, daß es zu dieser Begegnung mit den Abgesandten der SCHLOSSHERREN kam. Er stellte es sich als nicht besonders angenehm vor, als Sklave verkauft zu werden, zumal er vorher nicht wissen konnte, wohin er verkauft werden würde. Ging die Rechnung nicht auf, landete er nicht im SCHLOSS, sondern tatsächlich irgendwo in einem Bergwerk und mußte schwerste Arbeit leisten. Die Flugschale umkreiste ihn in weitem Bogen, flog dann auf ihn zu und landete neben ihm. Verblüfft sah der Arkonide, daß drei Technos in der Maschine saßen. Sie sahen denen von Pthor so ähnlich, daß man sie ohne weiteres gegen die von Pthor hätte austauschen können. Er hob die Arme, um den Technos anzuzeigen, daß er sich friedlich verhalten würde und auf jeden Widerstand verzichtete. Dennoch hob einer der Technos eine Waffe, die einer Waggu ähnlich war, und richtete sie auf ihn. »Das ist nicht notwendig«, sagte der Arkonide. »Ich werde nicht weglaufen.« Der Techno schoß auf ihn. Gelähmt sank der Arkonide zu Boden. »Los, in den Zugor mit ihm«, sagte der Techno, der an den Steuerelementen der Maschine saß. »Und dann fliegen wir nach Turgan zum Sklavenmarkt. Los doch, Siebzaht. Wozu Zeit verlieren?«
Atlan wurde sich dessen bewußt, daß sich seine Aussichten schlagartig verschlechtert hatten. Die Sinne schwanden ihm, und er merkte nicht mehr, wie die Technos ihn in die Flugschale schleppten und danach starteten. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 458 von König von Atlantis mit: Die beiden Götter von Hans Kneifel