Laurence Cossé
Der 31. Tag
des Monats August
Roman
Aus dem Französischen von Michael Kleeberg
Frankfurter Verlagsa...
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Laurence Cossé
Der 31. Tag
des Monats August
Roman
Aus dem Französischen von Michael Kleeberg
Frankfurter Verlagsanstalt
Titel der Originalausgabe LE 31 DU MOIS D’AOÛT (c)
Éditions Gallimard, 2003
1. Auflage 2005
Deutsche Erstausgabe
© der deutschen Ausgabe
Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,
Frankfurt am Main 2005
Alle Rechte vorbehalten
Ouvrage publié avec le soutien
du Centre national du livre –
Ministère français chargé de la culture
Die Übersetzung wurde vom
französischen Kulturministerium,
Centre national du livre, teilgefördert
Herstellung: Thomas Pradel, Frankfurt am Main
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-627-00127-3
Niemand hat jemals erfahren, was aus dem kleinen weißen Fiat Uno geworden ist, der am 31. August des Jahres 1997 vom Mercedes der Prinzessin Diana wie ein Wirbelwind überholt und gestreift wurde, bevor er im Pariser Almatunnel gegen einen Pfeiler prallte. Man hat niemals erfahren, wer am Steuer des anderen Wagens saß, und warum er nicht angehalten hat. An der Stelle aber, wo die Polizeiermittlungen im Sand verlaufen, übernimmt eine Schriftstellerin die Arbeit: Laurence Cossé hat diese Person ausfindig gemacht und erzählt in ihrem Roman die aufregende Geschichte einer Frau, die das Abenteuer ihres Lebens erlebt.
Den 31. Tag des Monats August
sahen wir unter dem Wind
eine Fregatte aus England auf uns zuhalten,
die das Meer und die Fluten zerschnitt…
Altes Seemannslied
I
Das Schlimmste, sagte sich Lou, ist, dass ich genauso gut hätte anhalten können. Sie hatte den Motor ausgeschaltet. Sie ließ ihren Kopf gegen die Nackenstütze sinken und konnte endlich die Augen schließen. Hinter ihr schloss sich das Garagentor mit leisem mechanischem Schnurren. Dann herrschte Stille. Lou spürte ihr Herz heftig pochen, ihr Herz und ihre Arterien, ihr ganzer Oberkörper, ihr Hals, ihr Kopf hallten von diesen schrecklichen Schlägen wider, die immer heftiger zu werden schienen. Ob mein Herz etwa schon die ganze Zeit so schlägt, seit ich aus dem Tunnel draußen bin? Bin ich in diesem Zustand etwa die ganze Strecke von Paris gefahren? Und das bei dem Tempo, das ich draufhatte? Sie öffnete wieder die Augen. Die Scheinwerfer waren noch angeschaltet. Sie blickte nach rechts, nach links, horchte auf ein Geräusch. Aber die Stille war vollkommen, das Tor eindeutig geschlossen. Sie war alleine. Niemand war ihr gefolgt. Womöglich hatte noch nicht einmal jemand ihr Nummernschild erkannt. Das Motorrad stand auf seinem angestammten Platz, rechts neben dem Auto, gegen die aus Hohlblocksteinen gemauerte Garagenwand gelehnt. Yvon schlief wahrscheinlich schon. Lou sah zitternd auf ihre Uhr. Es war zehn vor eins. Vielleicht hatte Yvon sich auch entschlossen, auf sie zu warten, und vergrub sich gerade in eine dieser Segelzeitschriften, in denen er wieder und immer wieder technische Details studierte.
Ich hab keine Lust heute Abend, ich hab keine Lust, dass Yvon da ist. Ich will nicht mit ihm reden. Ob er schon schläft oder nicht, mir wär’s lieber, er wäre weg. Es war nicht das erste Mal, dass Lou sich gewünscht hätte, niemanden bei sich anzutreffen, wenn sie nach Hause kam, so wie früher. Aber heute Abend MUSSTE sie ganz einfach ins Bett, ohne irgend jemanden zu sehen oder etwas zu sagen. Sie würde einen Augenblick hier warten, bis ihr Herzschlag sich beruhigte und Yvon bestimmt eingeschlafen wäre. Der linke Ellbogen tat ihr weh, wie sie plötzlich bemerkte. Vielleicht habe ich ja auch was abbekommen. Der Zusammenstoß selbst ist nicht so schlimm gewesen, aber was will das schließlich heißen, schlimm? Wie die beiden Autos aneinander geschrappt sind, das hat mir Todesangst gemacht, ich bin in meinem Sitz hochgefahren. Ich muss nach rechts ausgewichen sein. Eigentlich müsste mir der rechte Ellbogen weh tun. War das genau in diesem Moment gewesen, nein, zweifellos ganz kurz vorher, ja, es musste ganz kurz vor dem Aufprall gewesen sein, dass Lou das Steuer herumgerissen hatte, aber sie wusste nicht mehr, in welche Richtung. In die falsche, nach links? Und deswegen das Schrappen? Sie hatte gedacht: Das ist das Ende – diese brutale schwarze Masse, die so plötzlich an ihr klebte, über die ganze Länge hin, und sich dann nach Sekundenbruchteilen wieder löste, als Lou glaubte, nun wäre alles zu Ende. Glaubte… Habe ich mir tatsächlich gedacht: Das ist das Ende? In genau diesem Moment? Oder hinterher? Seit einer halben Stunde durchlebte sie diese Szene immer wieder. Alles war so schnell gegangen, dieses Auto fuhr mit Höchstgeschwindigkeit auf sie auf, am Eingang zum Tunnel, prallte dann seitlich auf sie drauf, ein Geschrappe von Blech auf Blech, um sich sofort wieder zu lösen, rasend schnell, eine Zickzacklinie zu fahren, links anzustoßen, dann rechts, um
schließlich mit einem Höllenlärm gegen einen der Pfeiler auf dem Mittelstreifen zu prallen. Und ich habe das Gaspedal durchgetreten. Ob sich da nun in diesem Augenblick noch andere Autos im Tunnel befunden hatten, hätte Lou nicht zu sagen vermocht. Es mussten welche da gewesen sein, schließlich war es gerade erst kurz nach Mitternacht, und bevor sie in das Loch eintauchte, hatte Lou, die langsam fuhr, eine Menge Autos gesehen. Aber im Tunnel sah sie nichts anderes als das Monster, das plötzlich hinter ihr auftauchte und sie vor Schreck zusammenzucken ließ, das ihr die Karosserie aufriss, dann seitwärts erst nach links, dann nach rechts schleuderte, um vor ihren Augen zu zerbersten, in einem fürchterlichen Lärm aus Bremsenquietschen, Blech, dem Gestank von Verbranntem, sie sah noch, wie der Pfeiler sich in die Motorhaube bohrte bis zur Windschutzscheibe. Lou hätte nicht sagen können, wie viel Leute in dem zerborstenen Auto gewesen waren, sie hatte nur das Gaspedal durchgedrückt und war abgehauen. Jetzt war sie es gewesen, die raste, sie kam mit Höchstgeschwindigkeit aus dem Tunnel heraus, mit einem einzigen Gedanken im Kopf: Weg hier. In ihrem Kopf, oder besser gesagt, in den angespannten Muskeln ihrer rechten Wade, in ihrem durchgedrückten Fuß, eine bestimmte Idee, eine einzige: Weg hier. Sie sah das Licht in der Garage immer heller werden, dann seine übliche Stärke wieder finden. Sie war dabei durchzudrehen, sie musste es schaffen, sich bis zu ihrem Bett zu schleppen, und zwar schnell. Sie atmete tief ein und öffnete die Tür. Sie fragte sich, ob ihre Beine sie wohl tragen würden, aber dann stand sie ohne Schwierigkeiten auf. Sie trat einen Schritt von ihrem Fiat weg und blieb stehen. Der Kratzer ging über die ganze Länge der Karosserie – ein glänzender und fast schnurgerader Streifen von einem guten Zoll Breite. Lou
streckte die Hand aus, wagte aber nicht, den Kratzer zu berühren, und folgte der Linie von der Fahrertür bis zum hinteren linken Kotflügel. Von der roten Rückleuchte war nichts übrig, weder die Abdeckung noch die Birne, nur ein paar Plexiglassplitter, die noch an dem metallenen Rahmen feststeckten. Der Blinker hatte gehalten. Die Stoßstange war intakt. Wie, aber wie habe ich bloß glauben können, den Kopf aus der Schlinge zu haben? Wenn meine Rückleuchte kaputt ist, dann von dem Aufprall, und die Stücke liegen immer noch dort, wo es passiert ist, im Tunnel. Und die Schramme auf meiner Karosserie hat ihre Entsprechung auf der rechten Flanke des zusammengedrückten Autos, das sich da fünfzig Meter vor mir in seinen Pfeiler gebohrt hat. Lou blieb einen Moment stehen, zur Salzsäule erstarrt. Sie zwang sich zu einer Bewegung, drehte die Augen weg. Ich werde es schaffen. Gleich morgen früh werde ich das alles reparieren lassen. Eine Rückleuchte auswechseln und eine neue Lackschicht, das ist schließlich keine Staatsaffäre. Gar nichts ist das. Sie stieg langsam die drei Stockwerke hinauf. Alles, bloß nicht den Aufzug holen und das ganze Haus aufwecken. Sie schloss die Wohnungstür auf, machte sie wieder zu und blieb da stehen, ohne sich zu rühren, in der Dunkelheit, eine ganze Minute lang. Yvon hätte nach ihr gerufen, wenn er aufgewacht wäre. Lou konnte nichts hören. Sie schaltete das Licht an. Immer noch nichts. Auf dem Fußboden lag auf einem Haufen Yvons Gepäck für den morgigen Ausflug nach Les Mureaux, eine Sporttasche, das Focksegel, das er seit zwei Tagen gewissenhaft ausbesserte, eine Zange, ein Päckchen bretonische Butterkekse. Renan wollte um acht Uhr mit dem Auto vorbeikommen und seinen Bruder abholen, und im Prinzip auch Lou. Lou schüttelte den Kopf. Ich hab’s mir
überlegt, Jungs, nein, ich werd nicht mit euch kommen. Ich hab was anderes zu tun morgen. Sie stellte ihre Tasche auf dem Boden ab, genau wie er, und ging direkt ins Badezimmer. Ihr Gesicht im Spiegel wirkte seltsam normal. Ein seltsamer Gesichtsausdruck, aber das Gesicht selbst normal. Hier kam ihr das Licht auch intensiver vor als sonst. Sie hatte keine Verletzung, auch keinen blauen Fleck. Auf dem Ellbogen, der ihr weh tat, war nichts zu sehen. Sie fing an, sich zu waschen. Es musste Verletzte gegeben haben bei dem Unfall. Tote. Der schwarze Wagen war 150 gefahren, mindestens. Man durfte sich nichts vormachen, irgendwer musste Lous Fiat gesehen haben. Vielleicht hatte ein Radar sie fotografiert. Man würde Nachforschungen anstellen. Dann waren da noch die Splitter von dem Rücklicht auf der Fahrbahn. Ruhe jetzt. Beruhig dich. Morgen ist alles repariert. Eine Rückleuchte auswechseln und ein paar Lackretuschen, das wird nicht den ganzen Tag dauern. Morgen Abend wird es keine Spuren mehr geben. Dieser Fiat wird wie neu aussehen. Lou schaltete das Radio ein, Musik, schaltete wieder aus. Sie fuhr so gemütlich durch Paris, die Nacht war warm, sie hatte einen ganzen langen Tag zum Ausspannen vor sich, einen Sommersonntag – den letzten Sonntag im August. Sie fuhr in den Tunnel, wie schnell wohl? Mit fünfzig? Sie fuhr ungern schnell, und dann plötzlich war es, als wäre sie in einen Horrorfilm gekippt, das rasende Auto plötzlich hinter ihr, der Aufprall, das Schrappen, das Aufheulen der Bremsen, das Krachen, alles so schnell, und sie dann, bloß weg, alles so schnell. Zum Glück würde Yvon morgen nicht sein Motorrad nehmen. Es gab keinen Grund, warum er in die Garage hinunter sollte, bevor er ging, und den Schaden entdecken.
Und eine Stunde dann, nachdem er weg wäre… Lou hockte sich auf den Rand der Badewanne. Ihr Herz hatte wieder angefangen wie wild zu hämmern. Eine Stunde, nachdem Yvon weg wäre, morgen, wäre es Sonntagmorgen – es ist JETZT schon Sonntagmorgen. Ich werde vor Montag keine offene Werkstatt finden. Wenn ich’s recht bedenke, komme ich morgen doch mit nach Les Mureaux, Jungs. Je weniger ich zu Hause rumsitze, desto besser. Sie glitt in ihr Bett. IHR GEMEINSAMES Bett, das brachte sie nicht über die Lippen. Es war ihr nicht möglich, sie konnte weder IHR GEMEINSAMES noch UNSER denken. Yvon sagte: DAS Bett. Sie bewegte sich so wenig wie möglich, aber er drehte sich um und knurrte. Sie hielt still. Sie hätte ihn gerne in Luft aufgelöst. Hau ab, Yvon, verschwinde. Wir sehn uns morgen. Verpiss dich, Yvon, mein Schatz. Wenigstens heute Nacht. In der Dunkelheit konnte Lou die Augen des Jungen nicht erkennen, kaum dass sie die Umrisse seines Gesichts sah. Aber seine Atmung hatte wieder einen regelmäßigen Rhythmus angenommen. Er schlief. Sie streckte sich vorsichtig auf dem Rücken aus, Zentimeter für Zentimeter. Du musst schlafen, dachte sie. Nachgedacht wird am Tag. Sinnlos, ihr Hirn lief auf vollen Touren, ihr rechtes Bein drückte aufs Gaspedal, sie hielt mit beiden Händen das Lenkrad umkrampft, die Schultern, der Rücken, selbst ihre Bauchmuskeln waren angespannt auf ihrer Flucht. Warum, warum bloß bin ich abgehauen? Ich hätte doch genauso gut anhalten können. Normalerweise hätte ich angehalten. Ich bin der Typ von Mädchen, der bei so was anhält, der Typ von Mädchen, der Zeit für so was hat, der den andern schon von Berufs wegen ein offenes Ohr leiht. Und stattdessen hab ich Gas gegeben. Eines ist mal sicher, ich hab auch nicht eine Sekunde lang daran gedacht, anzuhalten. Ich
bin einfach abgehauen. Mein Fuß hat das für mich entschieden, oder die Angst, jedenfalls irgendwas, das nicht typisch ist für mich. Und jetzt war es zu spät. Vor ihren Augen war ein Auto verunglückt und anstatt anzuhalten hatte Lou die Flucht ergriffen. Sie könnte lang und breit erklären: Das bin nicht ich gewesen, der da geflohen ist, ich wollte das nicht, ich hab nichts gemacht, verstehen Sie? Das ist ganz ohne mein Zutun geschehen, die Antwort würde immer lauten: Fahrerflucht. Unterlassene Hilfeleistung. Andere Leute mussten angehalten haben. Sie war Augenzeuge, der wichtigste, aber gewiss nicht der einzige. Schließlich gibt es ja Autos, die um Mitternacht im Sommer durch den Alma-Tunnel fahren. Die anderen mussten angehalten haben, klar, man hält an, wenn man Zeuge eines schweren Unfalls wird. Und alle hatten sie den kleinen Fiat gesehen, der das Weite suchte, als Einziger. Das Schlimmste ist, dass sie ebenso gut hätte anhalten können. Je länger sie darüber nachdachte, desto häufiger sah sie, wie sie angehalten hatte, als Allererste, um Hilfe gerufen hatte, den Verkehr gestoppt, alles das getan, was getan werden musste. Es musste mindestens zwei Uhr morgens sein. Lou hatte Wadenkrämpfe. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Sie hätte alles darum gegeben, allein zu sein, heute Nacht. Seit drei Monaten hatte sich Yvon jetzt bei ihr eingenistet, und noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt. Nicht dass sie bedauert hätte, ihm die Schlüssel gegeben zu haben. Sie bedauerte, dass es jetzt entschieden war. Sie trauerte den Monaten davor nach, als es eben noch nicht entschieden war. Ich hab ihn gerne angerufen, isst du heute Abend mit mir? Oder dass er anruft: Essen wir heute Abend zusammen? Auch wenn sie das in der letzten Zeit jeden Abend gemacht hatten.
Aber jetzt war es gar keine Frage mehr, es musste nicht mehr entschieden werden, es war von vornherein klar: jeden Abend zusammen essen, zusammen schlafen, jeden Morgen zusammen frühstücken. Wo ich doch so gerne alleine bin, wenn ich aufstehe. Ist es möglich, dass ein kleiner Schlenker mit dem Lenkrad ein Auto von der Fahrbahn schleudert? Ein Aufprall, ein winziger Aufprall, und der Wagen verliert jede Kontrolle, bricht links aus, dann rechts, und der Fahrer kann nichts mehr dagegen tun? Ein Aufprall, der eigentlich gar keiner war, ein Rücklicht, eine Schramme… Im Übrigen war sich Lou gar nicht einmal sicher, das Lenkrad tatsächlich nach links bewegt zu haben. Vielleicht war es auch andersherum, vielleicht hatte sie es nach rechts gerissen, um den rasenden Boliden vorbeizulassen. Und damit ihr Rücklicht diesem Boliden in den Weg gestellt. Und war sie eigentlich überhaupt sicher, irgendeine Lenkradbewegung gemacht zu haben? Sie war hochgeschreckt, sie erinnerte sich an irgendeine Bewegung ihrer Hände am Lenkrad. Aber es war eine brüske Bewegung gewesen, ein Aufschrecken, nicht die Bewegung, mit der man ein Lenkrad dreht. Sie hatte Lust, laut herauszuschreien: Ich hab nichts getan! Ich bin doch nur nach Hause gefahren, mit fünfzig pro Stunde, und wohin ist es jetzt mit mir gekommen, keine zwei Stunden später, ich kann nicht schlafen, mein ganzer Kopf voll entsetzlicher Bilder und Krämpfe am ganzen Leib. Ich hab doch nichts Böses getan, sich erschrecken, das ist doch kein Verbrechen. Auf mich ist man schließlich aufgefahren, und um ein Haar hätte es mich erwischt. Wenn hier einer das Recht hat, sich zu beschweren, dann doch wohl ich. Um drei Uhr stand sie auf und nahm eine Mogadon. Sie hatte nicht vor, die ganze Nacht darauf zu warten, dass die
Gendarmen an der Tür klingelten. Wenn man sie finden würde, dann würde man sie eben finden. Was sie jetzt wollte, das war SCHLAFEN. Sie schaltete die Deckenlampe in der Küche an. Sie hatte jetzt keine Angst mehr, Yvon aufzuwecken, nicht um diese Uhrzeit. Wenn er sie fragen würde, was los wäre, würde sie ihm die Wahrheit sagen, dass sie nicht schlafen konnte und dass sie es sich für morgen anders überlegt hätte. Auf einen Zettel, den sie aus dem Einkaufsheftchen riss, schrieb sie: »Drei Uhr. Kriege kein Auge zu. Magendrücken oder etwas in der Art. Werde versuchen, mich morgen auszuruhen. Verzeih, dass ich dich und Les Mureaux im Stich lasse.« Und sie klebte den Zettel mit einem Stück Tesa auf den Spiegel über dem Waschbecken. Zum Glück handelte es sich um ernsthaftes Training jetzt am Sonntag, fast so etwas wie eine Regatta mit anderen Segelverrückten. Yvon hatte Lou nicht gebeten, sich um die Fock zu kümmern, sie sollte ihn nur einfach als Zuschauerin begleiten. Er riss sie, als er aufstand, aus tiefem Schlaf. Sie tat so, als wäre sie nicht wach. Er stand gerne alleine auf, er auch, dann trank er einen Kaffee, rasierte sich, danach kam er sie wecken. Diesmal kam er nicht, er schloss lediglich behutsam die Schlafzimmertür. Kurz darauf hörte sie ihn gehen. Er holte den Aufzug. Ein Auto sprang an, unten vor dem Haus, wahrscheinlich das von Renan. Lou gelang es nicht, wieder einzuschlafen. Wie mochten die Chancen stehen, dass man sie nicht fand? Sie war nicht mehr starr vor Angst wie in der Nacht, vor ein paar Stunden. Natürlich, mit Hilfe der Rücklicht-Splitter war es möglich, ihr Auto zu identifizieren. Obwohl. War das so sicher? Sehen Rücklichter nicht alle so ziemlich gleich aus? Jedenfalls ist es eine Sache, den Autotyp zu identifizieren, aber eine ganz andere, das fragliche Auto selbst zu finden. Nein, die
Schlüsselfrage lag ganz woanders, nämlich darin zu wissen, ob jemand das Nummernschild des Fiats aufgeschrieben hatte oder nicht. Wenn ja, gab Lou sich keinen Tag mehr, bevor sie die Vorladung hätte. Von wegen einen Tag, keine zwei Stunden. Das Problem verschob sich. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kennzeichen notiert worden war? Um Mitternacht, in einem Tunnel. Fußgänger, die den Unfall gesehen und auf den Gedanken hätten kommen können, das Nummernschild des Fluchtwagens aufzuschreiben, gab es keine. Ein Radar, das war das Einzige, was blieb. Wenn dort ein Radar aufgebaut war, das die Autos fotografierte, dann war Lou geliefert. Sie hatte keine Angst mehr, wie nachts, als sie nach Hause gekommen war. Würde man sie finden, würde sie alles erzählen können, dass sie in Panik verfallen und blindlings abgehauen war, aber dass sie sich nichts vorzuwerfen hätte, bis eben darauf, und dass sie im Übrigen eben gerade das nächstgelegene Polizeirevier aufsuchen wollte, um mitzuteilen, was sie über den Unfall wusste. Sie stand auf, mit dumpfem Kopf, und stieß einen Fensterladen auf. Das Wetter war schön. Ein Sonntag im August. Der 31. Tag des Monats August. Auf dem Nachttisch von Yvon lag eine Ausgabe von Segelschiffe, die auf der Seite »Die Handhabung des Spinnaker-Baums« aufgeschlagen war. Vor der Schlafzimmertür lag ein Zettel auf dem Boden. »Schlaf schön, meine Lou, und erhol dich. Ich werde am frühen Nachmittag zurück sein.« Lou drückte den Zettel gegen ihre Wange. Trotzdem war sie froh, dass sie in aller Ruhe wieder zu sich kommen konnte.
Zum ersten Mal dachte sie, dass es im Grunde das Einfachste wäre, zur Polizei zu gehen und alles zu erzählen. Ich werd ihnen eine kleine Notlüge erzählen, irgendwas in der Art von: Ich hab einen Schock bekommen, als ich zu Hause ankam, war ich völlig verstört, das kommt vor, solche bizarren Reaktionen, ich bin auf meinem Bett zusammengebrochen, jetzt tauche ich gerade wieder so langsam auf. Sie ließ das Waschbecken im Badezimmer mit kaltem Wasser voll laufen, schaltete das kleine Transistorradio ein, das sie Tag und Nacht auf der Ablage stehen ließ, und wusch sich mit den Händen die Augen aus. Das Zerwürfnis mit Prinz Charles war im Jahr 1992 öffentlich bekannt geworden, sagte der Sprecher. Die Scheidung wurde im August 96 ausgesprochen. Jedermann hatte noch die letzten Fotos der Prinzessin im Kopf, aufgenommen auf der Yacht ihres Freundes, des Milliardärs Dodi Al-Fayed. Lou hatte sich aufgerichtet und trocknete sich das Gesicht ab. Diese traurige Geschichte hat heute Nacht ein tragisches Ende gefunden, sagte die Stimme aus dem Radio. Lou rührte sich nicht mehr. Es ist acht Uhr fünfundvierzig. Sondersendung. Prinzessin Diana ist heute Nacht bei einem Verkehrsunfall in Paris ums Leben gekommen. Es war kurz nach Mitternacht, als der Mercedes, in dem die Prinzessin und ihr Freund Dodi AlFayed saßen, im Tunnel der Alma-Brücke gegen einen Pfeiler fuhr. Jean-Yves Arbel bitte. Ganz genau, kurz nach Mitternacht, sagte Jean-Yves Arbel, um null Uhr zwanzig in etwa ist der Wagen der Prinzessin mit hohem Tempo und aus unbekannten Gründen in einen der Pfeiler in der Mitte des Tunnels gerast. An Bord des Fahrzeugs befanden sich außer dem französischen Chauffeur Henri Paul die Prinzessin von Wales, ihr Lebensgefährte, der ägyptische Milliardär Emad, genannt Dodi Al-Fayed, sowie ihr
Leibwächter Trevor Rees-Jones. Dodi Al-Fayed und Henri Paul waren sofort tot. Die Prinzessin ist vier Stunden später verstorben, nachdem alle Wiederbelebungsversuche sich als vergeblich erwiesen hatten. Der einzige Überlebende ist der Leibwächter, der sich in kritischem Zustand im Krankenhaus befindet. Aber gehen wir jetzt noch einmal alle Ereignisse der Reihe nach durch… Der Chauffeur und drei Insassen, wiederholte Lou für sich. Drei Tote, ein Schwerverletzter. Zwei auf der Stelle tot. Die Prinzessin vier Stunden später. Kaum dass sie die Tiefgarage des Hotels Ritz verlassen hatten, sagte das Radio, waren die Insassen des Autos erkannt worden, und fünf oder sechs Paparazzi auf Motorrädern hefteten sich ihnen an die Fersen. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Verfolgungsjagd. Auf der Place de la Concorde ist es den Fotografen gelungen, auf gleiche Höhe mit dem Mercedes zu kommen. Der Wagen hat daraufhin die Richtung des Seine-Quais am rechten Ufer eingeschlagen und beschleunigt. Laut ersten Zeugenaussagen fuhr er mit einem Tempo von einhundertvierzig Stundenkilometern. Nach einem Kilometer in dieser Geschwindigkeit hat der Mercedes den Tunnel der Alma-Brücke erreicht. Offenbar muss der Fahrer dann bei der Einfahrt in den Tunnel von einem anderen Auto überrascht worden sein, das mit niedriger Geschwindigkeit fuhr. Erinnern wir daran, dass die Geschwindigkeit an dieser Stelle der Unterführung auf fünfzig Stundenkilometer beschränkt ist. Womöglich hat der Chauffeur die Kontrolle über den Mercedes verloren, als er diesem fahrenden Hindernis ausweichen wollte. Laut mehreren Zeugenaussagen soll der Mercedes diesen Wagen sogar berührt haben und daraufhin ins Schleudern geraten sein, bevor er auf den Pfeiler prallte…
Fahrendes Hindernis. Es war das erste Mal, dass Lou diesen Ausdruck hörte. Aber sie sagen nicht, was für ein Auto. Weder die Farbe noch die Marke. … die Schamlosigkeit, mit der die Fotografen an der Unfallstelle ihre Bilder geschossen haben, hat die Zeugen schockiert. Zum Zeitpunkt des Unfalls befanden sich rund zehn Autofahrer im Tunnel, und laut ihren Aussagen… Zehn Zeugen, registrierte Lou dann. Zehn Autofahrer waren dort. Die Sanitäter haben zunächst den Körper der Prinzessin aus dem Wrack befreit. Herbeigerufene Ärzte diagnostizierten noch vor Ort ein Schädeltrauma, offene Wunden, Knochenbrüche, einen eingedrückten Brustkorb, der auch die Todesursache von Lady Di zu sein scheint. Dai, fiel es Lou auf, er sagte Dai-ana, Lady Dai. Bei Angela sagten sie Lady Die, Die-ana. … schwere innere Blutungen im Brustraum, tönte das Radio. Im Spiegel sah Lou ihre eigene Brust, unter dem T-Shirt, das sie zum Schlafen trug, ihre Brustspitzen zeichneten sich deutlich unter der weißen Baumwolle ab. Sie sah die breiten Schultern, die schönen und runden Brüste, schön aufrecht, diesen ganzen Brustkorb, der wirkte, als könnte ihm nichts etwas anhaben, und der doch nur ein Kartenhaus war. Ihr Blick erstarrte, wanderte nicht weiter hinauf, sie brachte es nicht über sich, das Gesicht anzusehen, oder die Augen. Das kleine eingedrückte Gesicht, die leeren Augen. Das Haar blutverklebt. … des Innenministers und des Polizeipräfekten, sagte das Radio. Sehr früh heute Morgen haben Präsident Chirac und seine Gattin ihr im Krankenhaus Pitié-Salpêtrière die letzte Ehre erwiesen, ebenso wie kurz darauf der Premierminister, Monsieur Jospin…
Lou griff sich das kleine Transistorradio und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Sie klappte den Fensterladen wieder zu und legte sich zurück ins Bett. Das Radio lief die ganze Zeit. … Alle Vorwürfe heute Morgen richten sich gegen die Paparazzi. Es muss als Tatsache gelten, dass genau diese unersättlichen Fotografen den Chauffeur dazu getrieben haben, mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren, um sie abzuschütteln, und dadurch die Sicherheit seiner Fahrgäste gefährdet zu haben – genau die Paparazzi, denen Lady Di jeden Tag zu entkommen suchte und von denen sie sagte, sie verleideten ihr das Leben. Es war das reinste Wespennest. Lou trat aus der Polizeiwache. Sie warteten schon, mindestens hundert, alle auf einem Haufen. Ihre Kameras waren riesenhaft, ein Blitzlichtgewitter prasselte auf sie ein. Lou versuchte, ihr Gesicht zu verdecken. … einmal, während die Prinzessin auf einer der Trainingsmaschinen saß, in dem Fitnessclub, in dem ein Raum für sie reserviert war, hatte der Fotograf sein Material versteckt an dem Gerät angebracht, mit Hilfe eines der… Lou legte die linke Hand auf ihr Gesicht. Ihr rechter Arm wurde von einem Polizisten hinter ihrem Rücken festgehalten. Aber ein Reporter schob ihre Hand weg, und die Blitzlichter explodierten alle auf einmal, sie schrie… …und jetzt die übrigen Nachrichten aus aller Welt. Algerien:… Lou drehte den Ton weg. Kein Gedanke mehr daran, dass sie zur Polizei gehen würde. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, was sie tun würde, aber eines war klar: Sie würde sich nicht selbst ans Messer liefern. Sie würde abhauen, das war sicher. Sie musste diesen Aasgeiern von Paparazzi entkommen, bevor man ihr auf die Spur kam.
Mit einem Ruck drehte sie sich um und vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Fliehen, alles schön und gut, aber wohin? Sie könnte zu ihrer Mutter fahren nach La Ciotat, aber diese Schnüfflerin würde wieder alles verstehen wollen, würde sie den ganzen Tag ausfragen: War er nicht gut zu dir, dieser Yvon? Ja sag doch?… Und deine Arbeit, was willst du denn jetzt für eine Arbeit finden?… Emilie wäre noch schlimmer: Mir kannst du doch die Wahrheit sagen. Mir vertraust du doch… Nein. Sie dürfte zu gar niemandem flüchten. Sobald man das fahrende Hindernis identifiziert hätte, kannte man auch seinen Eigentümer; ein Kinderspiel, Lou dann bei ihrer Mutter aufzutreiben oder bei ihrer einzigen Freundin. Wenn sie verschwinden wollte, dann spurlos, dann musste sie sich auflösen, ein neues Leben beginnen. Sonntag war es und Monatsletzter: Vermutlich war kein Geld mehr auf ihrem Bankkonto. Am Automaten würde sie nur ein paar Scheine bekommen. Auch egal, sie würde gehen und sich unterwegs Gedanken darüber machen, wohin. Sie würde gehen, das hieß mit anderen Worten, sie würde den Fiat nicht reparieren lassen. Und die Beweise würden intakt in der Garage bleiben. Fände man Lou nicht, fände man das Auto, und der Zusammenprall wäre bestätigt, und man würde wissen, wer da um null Uhr zwanzig im Tunnel war. Man, das hieß Yvon, der als Erster die Schäden an dem Fiat bemerken würde. Und zwar bereits heute, an diesem Sonntagabend, oder morgen früh am Montag. Lou wäre verschwunden, Yvon würde sich Sorgen machen. Er würde nach irgendeiner Spur suchen, in der Garage den Fiat finden, und da würde er eine Spur finden. Und dann würde er alles verstehen. Und dann würde es keine zwei Minuten dauern, bis er mit den besten Absichten von der Welt hinrennen und alles den entsprechenden Stellen erzählen würde.
Lou konnte das Auto doch nicht einfach irgendwo in der Pampa stehen lassen. Wieder drehte sie sich im Bett um. Schlug die Augen auf. Es war wesentlich weniger riskant, den Fiat reparieren zu lassen. Bevor sie die Flucht ergriff. Also noch mal von vorn: Wenn sie mein Nummernschild fotografiert haben, dann werde ich es heute noch erfahren. Eigentlich müsste sich dann schon jemand gemeldet haben. So ein Foto ist mir nichts, dir nichts entwickelt. Alle Aufnahmen von allen Radargeräten rund um die Alma-Brücke müssen mittlerweile entwickelt und mit der Lupe betrachtet worden sein. Was habe ich also gesagt? Ich warte bis morgen ab. Wenn ich bis morgen früh nicht ausfindig gemacht worden bin, heißt das, dass sie mein Kennzeichen nicht haben. Dass es weder Foto noch Augenzeugen gibt. Möglich, dass sie mich trotzdem ausfindig machen können, aber das wird Tage dauern. Ich habe also Zeit für die Reparatur. Mit einem Fiat, der aussieht wie neu, kann ich immer noch irgendeine Story erzählen: Ich war um Mitternacht zu Hause, und durch den Tunnel der Alma-Brücke bin ich sowieso nicht gekommen… Und wenn das Telefon klingelt? Lou lag schweißnass da, sie strampelte das Laken vom Bett runter. Wenn das Telefon klingelt, nehme ich nicht ab. Ich bin nicht da. Niemand ist zu Hause. Überhaupt nicht, ich muss genau das Gegenteil tun. Stellen wir uns doch mal vor, sie erreichen mich nicht übers Telefon. Dann werden sie mich hier holen kommen. Aufmachen! Polizei!… Und dann sitze ich in der Falle. Ich muss abnehmen. Dann weiß ich wenigstens, wer da anruft, ob es die Polizei ist und ob sie mich ausfindig gemacht haben. Dann hätte ich immer noch genug Zeit abzuhauen, sofort nach dem Anruf. Sie schaltete das Radio wieder ein. Henri Paul war nicht der ständige Chauffeur von Dodi, sondern ein Angestellter des
Ritz, und der Mercedes war ein Mietwagen; der ständige Chauffeur war als Erster losgefahren, am Steuer des Autos, das dem Paar gehörte, ein Versuch, die Journalisten in die Irre zu führen. Der Leibwächter war in kritischem Zustand ins Krankenhaus gebracht worden und war nicht in der Lage auszusagen. Die Abteilung Herz- und Gefäßchirurgie in der Pitié-Salpetrière war eine der besten Europas. Sieben AgenturFotografen waren am Unfallort festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht worden. Die englische Königsfamilie hatte diesen Sonntag auf ihrem Schloss Balmoral in Schottland verbracht. Die Königin war »erschüttert«. Man erwartete jeden Moment die Ankunft von Prinz Charles in Paris. Es war halb elf, Lou stand auf und trank eine halbe Tasse Milch. Sie hatte Hunger, und ihr war übel. Licht durchflutete die Wohnung. Sie ließ sich auf die Fliesen in der Küche sinken, zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen. Sie würde sich das nicht gefallen lassen. Ihr würde schon was einfallen. Nichts ist denen heilig, diesen Bilderdieben, die fotografieren dich in deinem Bett, in deiner Badewanne, in Unterwäsche in einer Umkleidekabine, sie bezahlen deine Arbeitskolleginnen, und die bestätigen ihnen, ja, in der Tat, du seist ein sehr merkwürdiges Mädchen. MarieNo vor allem packt noch einen drauf, sie hat es ja schon lange gespürt, dass du einen Hass auf schlanke blonde Mädchen hast, logisch, dunkel und rundlich wie du bist… Dann treiben sie deine Mutter auf, ist ja auch nicht gerade schwer, und was sagt sie, dieses Plappermaul? Bis du so zwölf, dreizehn Jahre alt warst, bist du ein kleiner Schatz gewesen, immer nett, gehorsam, offen, aber danach: das krasse Gegenteil, heimlichtuerisch, hinterhältig, überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen… Sie redet wie ein Buch, deine Mutter, endlich hört ihr mal jemand zu, aber das sollten Sie besser
nicht schreiben, ich sag Ihnen das nur, damit Sie verstehen, was ich meine, einmal ruft mich das Krankenhaus an, in Marseille, ich soll sie abholen kommen. Ich falle aus allen Wolken, ich laufe hin, ganz bleich war sie, konnte sich gar nicht auf den Beinen halten. Und, was glauben Sie, sie hat mir nie sagen wollen, was eigentlich passiert war – mir, ihrer eigenen Mutter! –, weswegen sie eigentlich in diesem Krankenhaus war. Die Hölle. Deine intimsten Geheimnisse alle auf offener Straße ausgewalzt. Und du selbst: vorgeführt, halbnackt, mit baumelnden Armen, aufgedunsen, bleich. Und dabei handelt es sich nicht etwa nur um etwas Unangenehmes, das vorübergeht, eine Geschichte, die drei, vier Monate lang anhält. Das schleppt man dann ein Leben lang mit sich rum. Da bricht alles in sich zusammen, und hinterher wird nichts mehr so sein wie zuvor. Ein Brandzeichen für den Rest deiner Tage. Die gesamte Lebenszeit, die einem noch bleibt, wird man das Mädchen sein, das den Tod von Lady Diana mitverschuldet hat. Mein Bäcker, mein Arzt, mein Macker, meine Kinder – die zum Zeitpunkt der Ereignisse noch nicht einmal geboren waren, aber denen man mit Genuss auseinandersetzen wird, was ihre Mutter für eine ist – für sie alle bin ich, werde ich nichts anderes mehr sein als das Mädchen, das den Unfall von Lady Di provoziert hat und danach abgehauen ist. Lou würde sich nicht in die Falle locken lassen von den öffentlichen Anklägern. Sie würde ihren Kopf nicht in die Schlinge legen. Sie musste lediglich vierundzwanzig Stunden überstehen, sie nahm zwei Tabletten Mogadon und legte sich wieder hin. In vierundzwanzig Stunden werden die Dinge bereits ganz anders aussehen. Mein Auto wird nicht mehr da unten stehen, in der Garage. Und ich werde auch nicht mehr im Haus sein. Was
sind schon vierundzwanzig Stunden? Vierundzwanzigmal eine Stunde…?
Yvons Stimme weckte sie auf. Schläfst du? Die gute Stimme Yvons mit dem Geruch nach Regatta, dem Geruch nach Binnensee und nassem Stoff. Mir ist übel, stöhnte Lou, ohne die Augen zu öffnen. Yvon ließ seine achtzig Kilo aufs Bett nieder. Meinst du, du hast eine Magen-Darm-Grippe? Mmmm, sagte Lou so schwach wie möglich. Yvon legte die Hand auf ihren Hals. Renan ist hier, sagte er. Ich hab ihm ein Cassoulet versprochen. Wir sind vierte geworden, wir haben einen Bärenhunger. Sag mal, hast du das mitbekommen, mit der Prinzessin? Welche Prinzessin?, fragte Lou. Na, welche schon?, meinte Yvon verblüfft, Diana. Er sagte »Die«, mit der französischen Aussprache. Die-ana. Lou tat es ihm gleich: Wieso, was ist mit Die-ana? Bist du denn nicht auf dem Laufenden?, rief der junge Mann. Das ist ja nicht zu glauben, du musst der letzte Mensch auf der Welt sein, der die Nachricht noch nicht gehört hat. Sie ist heute Nacht ums Leben gekommen, bei einem Autounfall. Auf der Mole ist von überhaupt nichts anderem geredet worden. Lou spürte, wie sich das Gewicht Yvons von der Matratze löste. Ich lass dich schlafen, meine Lou, fuhr er fort, ganz offenbar scheint dich das nicht zu interessieren. Und dann, in überraschtem Ton: Sag mal, was macht denn dein Radio hier? Lou kniff ein Auge auf. Was, wo? Hast du es denn nicht mit reingebracht? Wahrscheinlich hattest du es in der Hand, als du hier reingekommen bist? Das-Radio-das-unter-keinen Umständen-aus-dem-Badezimmer-raus-darf?, protestierte
Yvon. Hätte ich nie gemacht, ich kenne doch die Abmachungen. Und deshalb werde ich es jetzt auch sofort an seinen Platz zurückstellen. So, und du schlaf jetzt, Lou. Hoffentlich verschwindet er, dachte Lou, hoffentlich verschwinden sie beide. Wären sie doch nie gekommen, wäre es doch noch vorher, der 20. oder der 25… Der Geruch nach gebratenem Speck wehte bis zu ihr, und das Gelächter der Männer. Hört sich auch nicht gerade so an, als wären sie geschockt von diesem Unfall. Was sie wohl machen werden nach ihrem Mittagessen? Renan wird nach Hause zurückgehen zu Marie, und Yvon wird sich hier zu einem Mittagsschlaf hinlegen. Ich schlafe jedenfalls. Ich schlafe durch bis morgen. Aber jedes Mal, wenn es ihr gelang, ihren Gedankenfluss ein wenig zu beruhigen, unter die Baumwipfel zu lenken, zu jener Hochzeit im Juni, wo die Kinder Blumen gestreut hatten, jedes Mal wenn sie gerade dabei war einzunicken, tauchte das schwarze Auto wieder auf, wie ein Blitz, sie schreckte hoch, ihre Hände auf dem Lenkrad zucken, ihr Herz begann zu hämmern, und sie musste die Augen öffnen und sich immer wieder sagen, indem sie die Worte mit den Lippen formte: die Boote an der Wand, die Decke, das Zimmer, der blaue Fensterladen, der gestrichen werden muss, das Bett, mein Bett… Die Wohnungstür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Renan, sagte sich Lou und legte sich flach auf den Rücken, eine Position, in der sie mühelos verharren konnte, entschlossen, wie sie war, sich nicht zu bewegen, wenn Yvon sich neben ihr niederlassen würde. Sie hörte den Wagen Renans anspringen und in der stillen Straße davonfahren.
Aber dann hörte sie das Motorrad, Yvons Yamaha, aufbrüllen, vom Garagentor her, das Motorenbrüllen stärker werden und dann fast augenblicklich verschwinden. Ihr erster Gedanke war, zur Garage hinunterzugehen und nachzusehen… Sie zwang sich zur Vernunft: Was nachzusehen? Sie hatte sich auf die Bettkante gesetzt, zog den Kopf zwischen die Schultern. Yvon stellte sein Motorrad immer auf der rechten Garagenseite ab. Lou konnte sich nicht erinnern, dass er seine Maschine je auf die andere Seite gestellt hatte. Und er schob sein Motorrad rückwärts raus, drehte er sich dabei zu dem Fiat um? Er blickte doch wohl eher in die andere Richtung, auf seinen Ofen, oder gegen die Wand dahinter, an der er nicht zu dicht entlang durfte. Dann kam er nach draußen, wendete und stieg auf. Das Garagentor ging automatisch zu. Warum hätte er sich umdrehen sollen? Was passiert war, war ohnehin passiert. Wenn er das zersplitterte Bremslicht gesehen hatte, war es aus. Lou tigerte fünf Minuten lang in der Wohnung umher. Der Fernseher wirkte wie die geballte Bösartigkeit auf sie. Sie drehte ihm den Rücken zu. Würde er angehen, würde sie ihn anschalten, dann würde sie sich selbst auf dem Bildschirm sehen, wie sie aus dem Justizpalast trat, versuchte, das Gesicht mit dem Ellbogen zu verdecken, und wäre trotzdem problemlos wiederzuerkennen… Sie ließ sich ein Bad einlaufen. Das Radio ist etwas anderes. Es ist nicht feindselig. Das Radio zeigt einen nicht. Und es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als es zu hören, wenn ich nicht die Letzte sein will, die erfährt, welche Marke das fahrende Hindernis hat und welche Farbe und die Einzelheiten über die Spuren des Zusammenstoßes, die es möglich machen werden, es wiederzufinden.
Yvon kam zur Abendessenszeit zurück. Du bist auf?, sagte er. Gehts dir besser? Er hat nicht denselben Tonfall wie sonst, bemerkte Lou sofort. Sie saß in ihrem Nacht-T-Shirt auf dem Sofa und stand nicht auf. Ich kann mich nicht auf den Beinen halten, sagte sie. Wo bist du denn noch mal hingefahren? Zum Boot, sagte Yvon und ließ seine Öljacke, zwei Taschen und einen Werkzeugkasten vor sich auf den Boden fallen. Heute Morgen hat Renan bemerkt, dass das Schwert in seinem Kasten Spiel hatte, und das bin ich reparieren gegangen. Kein Mensch war auf dem Wasser, das kommt nicht oft vor an einem Sonntag. Ich hab das Gefühl, ganz Frankreich sitzt vor dem Fernseher. Der Unfall von heute Nacht?, fragte Lou, indem sie die Gleichgültige spielte, die nur so tat, als wäre sie interessiert. Meinst du denn, das zieht die Leute so in seinen Bann? Da bin ich aber ganz sicher, sagte Yvon. Er beobachtet mich zu viel, bemerkte Lou. Er ist komisch drauf. Ist irgendwas?, fragte Yvon. Du bist so komisch drauf. Mein Kopf dreht sich, stotterte Lou, ich werd mich wieder hinlegen. Yvon sah zu, wie sie sich wieder ins Bett legte. Er benimmt sich wie ein Arzt, dachte Lou. Was hast du denn bloß gegessen, dass es dir derart schlecht geht?, fragte Yvon. Weiß nicht, sagte Lou. Gestern Abend, als ich nach Hause gekommen bin, hatte ich Hunger und hab etwas von der Kaninchenpastete gegessen, vielleicht war es das. Yvon runzelte die Stirn. Die Pastete in dem Glas?, fragte er langsam. Aber die habe ich doch schon beim Abendessen leer gemacht. Ich war ganz allein, ich weiß es noch ganz genau, ich hab mir überlegt, ob ich das Glas aufheben soll. Ich hab mich noch gefragt, ob ich es nicht für irgendetwas benutzen könnte,
um Schäkel reinzutun oder Karabinerhaken. Aber dann habe ich es doch weggeworfen. Wahrscheinlich verwechsel ich was, sagte Lou und schloss die Augen. Diesmal war sie sich sicher, dass er irgendetwas bemerkt hatte. Er hat was gesehen, er will mich aus der Reserve locken. Yvon hatte den Fernseher angeschaltet, auf der anderen Seite der Wand. Lou drückte beide Kissen auf ihren Kopf. Es war jetzt zwanzig Stunden her, seit der Unfall geschehen war. Langsam konnte man guten Gewissens davon ausgehen, dass die Ermittler die Autonummer des Fiat nicht hatten. Ob sie überhaupt wussten, dass es sich um einen Fiat handelte? Das war nicht sicher. Und wenn: Selbst wenn alle Zeugen sagen würden: ein kleiner weißer Fiat, bliebe immer noch herauszufinden, welcher. Heute Nacht würden die Nachforschungen noch nicht bei Louise Origan angekommen sein. Ich muss lediglich eine einzige Sache schaffen, sagte Lou sich wieder und wieder: Durchhalten. Durchhalten bis morgen früh. Morgen werde ich dann sehen. Dann ist Yvon nicht mehr da. Dann werde ich was unternehmen, zur Bank gehen, nachsehen, wie viel mir bleibt. Eine Werkstatt auftreiben. Eine Stunde später, vielleicht auch zwei, kam Yvon ins Bett. Lou rührte sich nicht. Er legte sich mit sparsamen Gesten neben sie. Ganz offensichtlich bemühte er sich, sie nicht aufzuwecken. Lou wartete auf den Moment, in dem seine Atmung den typischen Rhythmus und das Geräusch des Schlafes annehmen würde. Nur schlief Yvon nicht ein. Er, der immer schlief wie ein gefällter Baum, diese Nacht schlief er nicht. Lou konnte an seiner Atmung hören, welche argwöhnischen Überlegungen sich unter seiner Stirn abspielten.
Er weiß Bescheid, dachte sie. Und er weiß, dass ich es weiß, dass er Bescheid weiß. Er weiß, dass ich nur so tue, als würde ich schlafen, und dass ich weiß, dass er nicht schläft. Er wartet darauf, dass ich etwas sage. Da konnte er lange warten, sie würde nichts sagen. Sie zwang sich zu völliger Bewegungslosigkeit, versuchte sich zu entspannen, als plötzlich ein Hungergefühl ihren Magen zusammenkrampfte. Es fiel ihr ein, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Das war ein Gedanke, den sie verjagen musste, andernfalls würde der Krampf zu einer Obsession werden und ihr Magen auch noch zu knurren anfangen. Und wie an einer Rückzugsfeder kehrten ihre Gedanken wieder zu jener zurück, von der sie sie seit Stunden fern zu halten versuchte, zu der großen Blondine, die sich nicht mehr rührte und um die sich in konzentrischen Kreisen die Angehörigen drängten, die Ärzte, die Würdenträger Frankreichs und Englands, die Journalisten aus aller Welt, die Radio- und Fernsehsender, die Neugierigen, die Gaffer und die ehrlich Betrübten – zu der toten Prinzessin, die heute Abend der Mittelpunkt der Welt war. Ein zerschmetterter Körper, den man in langer nächtlicher Arbeit wiederhergestellt hatte für seinen letzten öffentlichen Auftritt. Lou hatte mehr als genug gelesen über diese Techniken, sie konnte die kundigen Finger auf ihrem eigenen Körper spüren, wie sie Knochen und Knorpel wieder aufrichteten, das Fleisch wieder in Form brachten, die Pinzetten, mit denen die Hautfetzen wieder an Ort und Stelle gesetzt wurden, die feinen Nadeln, die stopften und nähten, das Wachs, das abdeckte und glättete und dem Gesicht einen zugleich friedvollen und ungeheuer unpersönlichen Ausdruck verlieh.
Endlich war Yvon eingeschlafen. Es war auch Zeit, Lou hatte derart Hunger, dass es ihr schon weh tat. Sie musste unbedingt etwas essen. Sie schlich auf Zehenspitzen in die Küche und schlang, im grünlichen Licht des offenen Kühlschranks stehend, einen Rest Reis und ein Stück Schweizer Käse herunter, beides schmeckte gleich schal. Als sie zurück ins Bett stieg und sich gerade ausstrecken wollte, nahm Yvon sie wortlos in die Arme. Sie brach in Tränen aus. Was hast du denn?, fragte er ganz leise. Lou schluchzte. Yvon nahm einen beruhigenden Ton an. Es geht dir wieder besser. Wenn man Hunger hat, dann ist man wieder gesund. Ja, sagte Lou, die ein großes Bedürfnis danach empfand, auf die Ohren und den Hals geküsst zu werden, ihn dann aber auf den Rücken drehte, um ihren Mund bequem auf den seinen pressen zu können. Du gehst heute aber reichlich früh aus dem Haus, bemerkte Yvon auf seinem Stuhl, beide Hände um seinen Kaffeepott geschlossen. Er war noch im Bademantel. Lou hatte sich in aller Eile angezogen, ein kleines schwarzes Top, rote BaumwollLeggins, sie schüttete ihren Kaffee runter, ohne sich hinzusetzen. Soll nicht zur Regel werden, sagte sie. Ich fang auch nicht früher an als sonst, es ist nur, dass ich mit Angela im Conforama am Pont Neuf verabredet bin, sobald der Laden aufmacht, wir wollen sechs Korbsessel für die Terrasse kaufen, und da sind zwei Autos nicht zu viel. Sie beugte sich von hinten über Yvons Schulter und gab ihm einen kleinen Kuss auf den Mundwinkel. Ich hab heut Abend nichts vor, sagte sie. Ich müsste gegen halb acht zurück sein. Yvon sah sie an. Du bist noch ein
bisschen blass um die Nase, sagte er. Bist du sicher, dass es dir gut geht? Geht schon, sagte Lou, ist ausgestanden. Sie schnappte ihre Tasche und machte mit der Hand eine Abschiedsgeste. Lächeln, befahl sie sich und gehorchte im selben Moment. Im Treppenhaus fühlte sie sich bereits etwas weniger beklommen. Sie hätte Yvons Fürsorglichkeit nicht noch sehr viel länger ertragen können. In der Garage schaute sie nach der zerkratzten Karosserie und den Resten des Bremslichts, angetrieben von einer unsinnigen Hoffnung, alles wieder in perfektem Zustand zu finden. Aber es war kein Wunder geschehen, der Alptraum war unbestreitbar Realität. Lou fuhr den Fiat im Rückwärtsgang hinaus, um dann genauso wie jeden Tag die Rue des Sables zu nehmen, die Rue des Marais in Richtung der Avenue du Général-Leclerc, über den Pont de Sèvres und nach Paris hinein. Aber sobald sie in der Rue des Marais war, wo sie von Yvon nicht mehr gesehen werden konnte, schlug sie die umgekehrte Richtung ein, die nach Versailles. Sie fuhr fünfzehn Kilometer weit, durchquerte Porchefontaine, Versailles, fuhr um das Schloss herum und nahm dann die Straße nach Saint-Cyr. Das Wetter war ausgesprochen schön. Lou dachte daran, dass das Wetter auch die wenigen Male sehr schön gewesen war, wenn sie zu einem Begräbnis gemusst hatte. Sie parkte den Wagen im Zentrum von Saint-Cyr auf einem Parkplatz gegenüber einem schönen alten Bauwerk – ein Kloster, sagte sie sich – und entfernte sich rasch zu Fuß. Sie empfand ein derartiges Gefühl von Freiheit, dass sie Lust darauf bekam, einfach loszurennen. Aber dies war nicht der Moment, um auffällig zu werden, sie zügelte ihre Schritte.
Zwanzig Meter weiter fand sie eine Filiale der BNP mit einem Geldautomaten, zog ihre Scheckkarte und versuchte ihr Glück. Tausend Francs wurden ihr verweigert. Sie versuchte es mit dreihundert. Stattgegeben. Nie recht verstanden, wie das funktioniert, in welchem Zeitraum man welche Summe abheben darf. Ich werds heute Nachmittag noch mal versuchen. Niemand schien ihr gefolgt zu sein. Woher denn auch, dachte sie. Wer sollte mir denn folgen? Aber sie wusste ganz genau, wer. Sie hatte Angst, inmitten der Passanten auf dieser Avenue Jean-Jaurès plötzlich Yvon zu entdecken. Übrigens sah sie die Passanten auf eine Art und Weise, wie sie sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Sie sah sich selbst von ihnen geschieden und ganz alleine auf ihrer Seite. Vielleicht so, wie man die anderen sieht, wenn man Krebs hat, und sie wissen nichts davon, dachte sie. Ein Duft nach warmem Brot machte sie schwach und zog sie in die Bäckerei gegenüber dem Kloster. Während sie die beiden Croissants bezahlte und sich zurückhalten musste, sie auf der Stelle in sich hineinzustopfen, fragte sie die Verkäuferin nach Reparaturwerkstätten in der Umgebung. Reparaturwerkstätten?, wiederholte das Mädchen mit einem beschränkten Gesichtsausdruck. Reparaturwerkstätten für Autos, sagte Lou, der diese Worte den Mund verbrannten. Madame Audouin, schrie das Mädchen in Richtung der offenen Tür in seinem Rücken. Da is jemand wegen Reparaturwerkstätten. Lou wollte schon davonlaufen, aber da stand bereits Madame Audouin und nahm die Dinge in die Hand. Sie suchen nach einer Werkstatt?, wiederholte sie. Um ein Auto reparieren zu lassen? Nicht um es reparieren zu lassen, sagte Lou, aber eine Werkstatt, ja. Welche Marke?, fragte die Frau sehr laut, und dann, ohne auf eine Antwort zu warten: Da haben Sie den
Renaulthändler in der Avenue de la Division-Leclerc, Citroen gleich da oben, Avenue Pierre-Curie, es hängt ja alles davon ab, welche Marke Ihr Auto hat… Renault ist perfekt, sagte Lou hastig, danke, vielen Dank. Vergessen Sie Ihre Croissants nicht, rief ihr die Verkäuferin nach. Danke, sagte Lou noch einmal. Sie legte fünfzig Meter im Dauerlauf zurück. Diese beiden Mannweiber haben so laut gebrüllt, dachte sie, dass man sie die ganze Straße entlang hören konnte. Sie war gerade noch einmal davongekommen. Um ein Haar hätte ich das Wort Fiat ausgesprochen, gesagt, dass ich einen Fiat repariert haben wollte. Ich frage besser gar nichts mehr. Jetzt muss ich ein Postamt finden und Telefonbücher. Die Post sei in der Rue Gambetta, in der Oberstadt von SaintCyr, sagte ihr eine sehr braun gebrannte Blondine, die auf eine Weise gekleidet war, die jedermann auffallen sollte. Nicht dazuzugehören und die anderen, die nichts davon wissen, das heißt doppelt einsam sein, erkannte Lou. So muss man sich fühlen, wenn man irgendwo ist, wo man nicht sein dürfte – wenn man ausgebrochen ist. Oder wenn man ein Leben hinter sich gelassen hat, das nicht mehr haltbar war, wenn man seine Identität aufgegeben hat. Genau so wird mein Leben aussehen, wenn ich mich auf- und davonmache, dachte Lou. Aus dem Branchenbuch notierte sie, während sie gierig ihre Croissants hinunterschlang, die Adressen von sechs Werkstätten. Auf dem Rückweg zu ihrem Auto kaufte sie im Zeitungsladen neben der Bäckerei Libération, den Figaro und einen Stadtplan von Saint-Cyr. Kaum saß sie, verriegelte sie die beiden Türen, musste dabei aber zugleich über sich selbst den Kopf schütteln: Was soll der Unfug denn, wovor soll dich das denn schützen? Sie fand nicht
den Mut, die Zeitungen aufzuschlagen, später, später, dachte sie, suchte und fand auf dem Stadtplan die sechs Werkstätten. Die einzige von ihnen, die nicht zugleich Vertragswerkstatt des einen oder anderen Herstellers war, die »Garage des Pavillons, Autoreparatur, alle Marken«, lag auch am weitesten vom Zentrum entfernt. Macht schon zwei Gründe, um es dort zu versuchen, dachte Lou. Es handelte sich, am westlichen Ortsausgang von Saint-Cyr, oberhalb der Eisenbahnstrecke, um eine altmodische Werkstatt in schmuddligen Farbtönen mit einem betonierten Vorplatz und undurchsichtigen Fenstern, hinter denen sich wie üblich ein von Papieren überquellendes Büro fand. Niemand war in dem Raum, aber ein robuster und schweigsamer Sechzigjähriger trat direkt hinter Lou ein. Worum geht’s?, fragte er mit einem starken russischen oder kroatischen Akzent. Ich hab zwei Kleinigkeiten an meinem Auto, die repariert werden müssten, erklärte Lou. Kann ich’s Ihnen mal zeigen? Sie führte ihn bis zu dem Fiat, starr vor Angst bei dem Gedanken, was sich in der kommenden Minute abspielen würde. Ist heute Nacht passiert. Ich hab bei mir in der Straße geparkt, ganz wie es sich gehört, und dann das. Natürlich keine Spur von einer Visitenkarte an der Scheibe, wie Sie sich denken können. Schon Schlimmeres gesehen, meinte der Mann, in dem Lou jetzt den Chef zu erkennen glaubte. Wahrscheinlich, stimmte sie sogleich zu. Schön, sagte der Russo-Kroate, tja, wir können Ihnen das bis Mittwoch machen. Lou hielt nicht mit ihrer Enttäuschung hinter dem Berg. Und heute im Laufe des Tages, geht das nicht? Unmöglich, sagte der Chef. Das Rücklicht, das ist gar nichts, ein Rücklicht für einen Fiat Uno kann ich Ihnen heute noch auf dem Schrottplatz von Magny auftreiben. Oder wollen Sie
unbedingt ein Neues? Nein, sagte Lou, je weniger es kostet, desto lieber ist es mir. Das Rücklicht könnte ich Ihnen also bis heut Abend ausgetauscht haben, fuhr der Chef fort. Die Retuschen am Lack dagegen, wenn Sie wollen, dass das anständig gemacht ist, da müssen Sie uns schon zwei Tage geben, damit wir zweimal drübergehen können, wie sich das gehört. Ich brauche mein Auto unbedingt, um zur Arbeit zu kommen, sagte Lou. Überhaupt kein Problem, sagte der Chef. Er könne Lou einen Ersatzwagen überlassen. Wird allerdings kein Mercedes sein, warnte er sie. Er deutete auf einen blaugrauen Renault 4, der noch ganz passabel aussah. Müssen Sie auch nicht allzu weit fahren zu Ihrer Arbeit?, fragte er. Nein, sagte Lou, die den Gedanken, jetzt gleich ein anderes Auto zu bekommen, wahnsinnig anziehend fand. Dann holen Sie Ihren Fiat eben morgen Abend wieder ab, sagte der Chef. Ich würde lieber Mittwoch kommen, möglichst früh am Morgen, sagte Lou, und dann in einem fürchterlich falsch klingenden Ton, obwohl sie sich den Satz hundertmal hergesagt hatte: Mist, ich frage mich plötzlich, ob ich nicht meinen Fahrzeugschein vergessen habe. Macht nichts, sagte der Chef. Aber apropos: Erinnern Sie mich dran, dass ich nachsehe, ob der von dem R4 auch im Handschuhfach steckt. Kommen Sie, dass ich Ihren Namen und Ihre Telefonnummer aufschreibe. Im Büro gab Lou die Telefonnummer von »Angela« an. Das ist ein Restaurant, sagte sie, da arbeite ich. Da bin ich leichter zu erreichen als zu Hause. Und Ihr Name?, fragte der Chef. Louise Leroy, sagte Lou, so wie sie es sich seit gestern Abend vorgenommen hatte. Leroy mit Ypsilon. Fragen Sie einfach nach Louise, wir sind nicht so viele.
Als sie sich am Steuer des R4 entfernte, konnte Lou, Mademoiselle Leroy in ihrem blauen R4, das Gefühl von Befreiung körperlich spüren. Ihre Brust weitete sich, wie sie das seit 24 Stunden nicht mehr getan hatte. Sie fuhr zehn Minuten lang, kam wieder nach Porchefontaine und blieb auf einem der Seitenwege der großen Avenue, die zum Schloss führte, stehen. Sie machte eine Bestandsaufnahme, genau neben den beiden Pavillons, die den Eingang von Versailles markierten. Letztendlich hätte sie jetzt arbeiten gehen können. Aber es war ihr lieber, sich an das zu halten, wozu sie sich in der Nacht entschlossen hatte, nämlich den Tag dazu zu nutzen, sich über den Unfall zu informieren, vor allem alles zu hören, was über das fahrende Hindernis gesagt würde, und sich bereit zu halten, im Notfall von der Bildfläche zu verschwinden. Sie stieg aus dem R4 aus, hielt nach einer Telefonzelle Ausschau, entdeckte eine am Straßenrand und wählte die Nummer des Restaurants. Angela, sagte sie mit ersterbender Stimme, Angela, ich bin krank. Ich weiß nicht, irgendwas, was ich gegessen habe… Nein, nichts, was von euch kommt. Zu Hause gestern Abend, wahrscheinlich weich gekochte Eier… Und jetzt die Zeitungen. Lou fühlte sich auf diesem Seitenweg so viel wohler als in ihrer kleinen Wohnung, dass sie beschloss, sie an Ort und Stelle zu lesen, in diesem allerliebsten alten R4, in dem niemand sie je finden würde. Libération widmete dem Unfall zehn Seiten, der Figaro vier. Lou nahm sich zunächst Libération vor. Sie las zuerst selektiv, hastig, im Versuch, alles zu entdecken, was das fahrende Hindernis betraf. »Lady Dies«, lautete der Aufmacher der Zeitung. Lou ging eine nach der anderen die zehn Seiten durch und entdeckte weder »fahrendes Hindernis« noch »ein Auto, das mit fünfzig fuhr«. Irgendwas mache ich falsch, dachte sie. Langsamer jetzt studierte sie die einzelnen Spalten
und fand immer noch nichts. Was Libération interessierte, waren die Darsteller des Dramas. Die Prinzessin, die Royals, die Paparazzi, die Ärzte. Viel mehr als die Zickzackfahrt des Mercedes. Nur auf Seite zwei wurde der Unfall selbst rekonstruiert. Lou las den Artikel langsam und von A bis Z. Unten auf der Seite war ein Stück Stadtplan mit der Alma-Kreuzung abgebildet, darauf in umgekehrte Richtungen zeigende Pfeile, in der Mitte ein schwarzes Kreuz und darunter folgende Bildunterschrift: »Der Mercedes kommt mit zu hohem Tempo angefahren. Die Straße fällt ab und beschreibt zunächst eine leichte Links –, danach eine Rechtskurve. Rund dreißig Betonpfeiler trennen die beiden Spuren einer Fahrtrichtung von den gegenüberliegenden. Der Mercedes rammt mit vollem Tempo den 13. Pfosten und kommt dann völlig zerstört in der Mitte des Tunnels zum Stehen.« Lou las noch einmal alles, was davor stand. Sie konnte ihren Augen nicht glauben, nirgendwo ein Auto erwähnt, das mit langsamer Geschwindigkeit in den Tunnel einfuhr und den Mercedes behindert hätte, auch kein Zusammenprall und keine Rücklicht-Splitter. »Mehr als zehn Augenzeugen haben den Unfall beobachtet«, stand da lediglich, »darunter die Insassen eines Wagens, der dem von Lady Di direkt vorausfuhr.« Auf der nächsten Seite war die Rede von den Paparazzi, der Prinzessin, dem Prinzen, den kleinen Prinzen, der Königin, man berichtete von der weltumspannenden Trauer, man sprach den Skandal der »Millionen-Dollar-Fotos des Dramas« an. Vom fahrenden Hindernis keine Spur. Lou wandte sich dem Figaro zu. Auf der letzten Seite der Zeitung wurde detailliert über die Unfallumstände berichtet. Zwei großformatige Fotos, von denen das eine das zusammengedrückte Wrack des Mercedes zeigte, das andere den Sarg der Prinzessin, der von zwei Reihen Republikaner
Garden getragen wurde. Die Beschreibung des Unfalls selbst war völlig aus der Luft gegriffen. »Auf halber Strecke des Tunnels verliert der Chauffeur die Kontrolle über den Wagen, der mit voller Kraft auf den dreizehnten der Trennpfeiler zwischen den Fahrbahnen aufprallt. Der Zusammenstoß ist von einer solchen Gewalt, dass der Mercedes sich überschlägt, gegen die rechte Tunnelmauer prallt und dann mitten auf der Straße zum Stehen kommt, mit klemmender Hupe und aufgeblasenen Airbags.« Auch hier war mit keinem einzigen Wort von einem langsamen Fahrzeug die Rede. Vielleicht, traute Lou sich auszumalen. Vielleicht, begann sie sich Hoffnung zu machen, würde das Fehlen von Beweisen und von Zeugenaussagen verhindern, dass man ein Fahrzeug, das im Schneckentempo in den Tunnel hineingefahren war, zu den möglichen Unfallursachen zählte. Warum aber hatten sie gleich am Morgen nach dem Unfall von einem fahrenden Hindernis gesprochen. Wenn schon keine Beweise, so musste es doch Zeugenaussagen geben. Der R4 besaß kein Autoradio. Lou entschied, die restlichen Morgenzeitungen zu kaufen und nach Hause zu fahren, um den neuesten Stand der Ermittlungen am Radio mitzuverfolgen. Sie fand einen Zeitungskiosk neben einem der Pavillons. Der Verkäufer sah sie mit schräg gelegtem Kopf an: Zeitungen? Von heute? Ich hab keine mehr, keine einzige. Wissen Sie, was Samstagabend in Paris passiert ist?… Bei der Alma-Brücke?… Lou wagte weder Nein noch Sicher zu antworten. Das ist der reine Wahnsinn, fuhr der Verkäufer fort. Angeblich wollen die Abendzeitungen ihre Auflage verdoppeln. Um wie viel Uhr kriegen Sie die denn, die Abendzeitungen?, fragte Lou. Der Verkäufer wollte nichts versprechen: Normalerweise kommt Le Monde so gegen drei
Uhr, aber womöglich verdoppeln sie auch die Seitenzahl, und dann kommt sie später… Es war kurz vor elf. Lou schlug die Richtung nach Viroflay ein. Sie würde die drei, vier Stunden, die sie von der Auslieferung von Le Monde trennten, zu Hause verbringen. Es wurde Zeit, dass sie wieder Radio hörte. Als sie vor ihrer Wohnungstür stand, bekam sie erneut weiche Knie. Sie wusste auch, weshalb. Sie hatte Angst, Yvon in der Wohnung anzutreffen, der dageblieben wäre, um sie bei ihren Lügen in flagranti zu ertappen. Sie drückte das Ohr gegen die Tür. Nichts war zu hören. Yvon war nicht der Typ, der wie eine Katze umherschlich, andererseits war er raffiniert, womöglich hatte er sich einfach in die Küche oder ins Schlafzimmer gesetzt und verbrachte die Wartezeit mit Lesen. Kaum dass wir am Pont Neuf die Sessel aufgeladen hatten, übte Lou, ist mir wieder übel geworden. Es war gerade halb zehn. Angela ist nett, sie hat mir gesagt: Fahr heim und leg dich ins Bett. Und als ich gerade die Kreuzung überquere, am Ende der Avenue de Versailles, bei der Porte de Saint-Cloud, weißt du, was mir da passiert ist? So ein Vollidiot ist mir reingefahren… Zum Glück gibt es gleich nebenan eine Werkstatt, der Chef hat mir einen Wagen geborgt… Aber die Wohnung war leer. Eine von einem Mann in Ordnung gebrachte Wohnung, in fünfzehn Sekunden, mit den Krümeln vom Frühstück auf dem Tisch, die Kaffeetassen im Ausguss und dem ungemachten Bett. Und wenn er auftaucht?, fragte sich Lou. Wenn die Tür plötzlich aufgeht, wenn er sagt: Was ist denn das für ein R4 da unten? Ruhig Blut, beschwichtigte sie sich, du weißt es doch: Ich war noch keine halbe Stunde mit Angela zusammen, da ist mir wieder übel geworden, Angela sagt zu mir: In diesem Zustand hättest du nie arbeiten gehen sollen, und dann als ich die Kreuzung überquere, direkt vor der Porte de Saint-Cloud,
dieser Vollidiot, und mein linker Kotflügel muss ausgetauscht werden… Sie ließ sich auf das Schaumstoffsofa fallen und bemerkte, dass sie Libération und den Figaro in der Hand hielt. Da sieht mans, man versucht, auf alles zu achten, und dabei vergisst man das fatale Detail, aus dem einem der Strick gedreht wird. Ach schau an, plötzlich interessierst du dich ja doch für diesen Unfall. Du, die doch sonst nie eine Zeitung liest… Sie seufzte. Sobald ich höre, wie sich Yvons Schlüssel im Schloss dreht, stopfe ich die Zeitungen unters Sofa, basta. Ich muss ein klein wenig Vertrauen in meine Improvisationsfähigkeiten haben, ich werde nicht alles vorausberechnen können. Der Fernseher stand ihr gegenüber, Lou fand ihn überdimensioniert in diesem kleinen Zimmer. Sie konnte ihn nicht anschalten. Wovor sie jetzt Angst hatte, das war die Sensationsmeldung, der Amateurfilm, der direkt in die Redaktion von TF1 gebracht worden war, und der total aufgeregte Sprecher: Schauen Sie genau hin, verlieren Sie diesen kleinen weißen Fiat nicht aus dem Blick, haben Sie’s gesehen? Er fährt einfach vorbei, er fährt einfach weiter. Sie haben ganz richtig gesehen: Der Unfall ereignet sich direkt vor seinen Augen, und nicht nur, dass er nicht abbremst, er beschleunigt sogar noch! Hör auf, hör auf. Man dreht keine Filme in der Nacht. Und auch nicht in einem Tunnel. Es braucht Licht, um einen Film zu belichten. Aber ist das tatsächlich so? Lou hatte keine Ahnung. Womöglich funktionieren die allermodernsten Kameras auch in schwärzester Nacht – diese kleinen japanischen Wunderdinger mit Infrarot oder Ultraviolett. Und außerdem braucht die Sensationsnachricht auch nicht unbedingt ein Film zu sein. Es kann auch die Aussage eines
Augenzeugen sein. Sie werden jetzt jemanden hören, der da war und der nach einigem Nachdenken zu dem Schluss gekommen ist, dass es seine Pflicht ist, was er gesehen hat, allen Fernsehzuschauern kundzutun. Lou sah ihn genau vor sich, diesen Augenzeugen. Enttäuscht von der Behandlung, die ihm die Polizei hatte zuteil werden lassen: Keine Publizität, keine Kohle… Ein kleiner Klugscheißer, der sich gesagt hatte, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, wenn er seine Geschichte zu Geld machen wollte, dass er es tun musste, bevor die Polizei sie bestätigte und publik machte. Passen Sie genau auf, es handelt sich hier um eine bislang noch völlig unveröffentlichte Aussage, die Monsieur Klugscheißer exklusiv bei TF1 machen wird… Lou schob die Zeitungen unters Sofa und holte sich ihr Radio aus dem Bad. Sie stellte die Lautstärke aufs Minimum, um auf der Stelle reagieren zu können, sobald das Geräusch eines im Schlüsselloch bewegten Schlüssels zu hören wäre, hielt sich den Apparat gegen das Ohr, ging zum Sofa zurück und legte sich darauf. Sie hörte fast eine Stunde lang France Info. Es gab keine neuen Informationen seit gestern. Der Unfall selbst wurde jetzt schnell abgehandelt, das war altbekannt. Der Korrespondent des Senders in London erhielt eine lange Sendezeit. Dianas Leiche war gestern überführt worden, Sonntagabend. Tausende von Engländern versammelten sich vor dem BuckinghamPalast und dem Kensington-Palast, mit Blumen und Kränzen. Charles war nach Balmoral zurückgekehrt. Dodi war noch an diesem Sonntagabend begraben worden, nach einer Zeremonie in der Hauptmoschee von London. Das große Thema an diesem Montag waren die Paparazzi. Die Sensationspresse hatte sich gegen sie verschworen. Dianas Bruder klagte sie ganz direkt an, seine Schwester umgebracht zu haben. Die
sieben Fotoreporter, die Sonntagnacht in Untersuchungshaft verbracht hatten, saßen jetzt am Montag noch immer dort. Lou schaltete das Radio aus. Die Augen fielen ihr von alleine zu, sie wollte nicht nur schlafen, sondern vor allem eine Weile nichts mehr hören von dieser Geschichte. Sie ging ins Schlafzimmer, stellte ihren Wecker auf viertel nach zwei und streckte sich angezogen auf dem ungemachten Bett aus. Als das Weckerklingeln sie aus dem Schlaf riss, hatte sie den Eindruck, sich gerade erst vor fünf Minuten hingelegt zu haben. Sie musste eingeschlafen sein, kaum dass sie lag. Le Monde, erinnerte sie sich, es war Zeit für Le Monde. Sie entschloss sich, die Zeitung anderswo zu kaufen, nicht in Viroflay. Sie fing an, die Nase voll zu haben von diesem Versteckspiel. Es ging einem an die Nerven, sich bei jeder Handbewegung zu fragen, ob sie einen verraten würde, und jede seiner Handlungen so zu betrachten, als wären alle Kameras bereits permanent auf einen gerichtet. Sie ging in die Garage hinunter, manövrierte den R4 hinaus und fuhr fünf Minuten lang bis nach Chaville. Sie hatte keinen Hunger, trotzdem parkte sie in der Rue Salengro, in der sie einen Zeitungsladen und zwei drei Lebensmittelgeschäfte gesehen hatte. Sie musste irgendwas in den Magen bekommen. Sie konnte es sich nicht leisten, am Abend für vier zu essen – schließlich hatte sie angeblich einen verdorbenen Magen, sie musste Acht geben, das nicht zu vergessen. Bei einem Feinkosthändler kaufte sie eine kleine Quiche Lorraine und einen Apfel. Da haben Sie schon mal eine Vorspeise und einen Nachtisch, bemerkte der Charcutier, als Hauptgericht habe ich heute Schweinshaxe mit Linsen. Ein Gedicht. Nein, unterbrach Lou ihn, danke schön, aber was ich hier habe, reicht mir. Wenn Sie etwas Leichteres haben wollen, insistierte der Charcutier, der saure Hering mit Kartoffeln ist auch sehr gut…
Lou kehrte zum Essen in den Wagen zurück. Im Innern hing ein Geruch nach altem, in der Sonne aufgeheiztem Auto, ein anderer als der Geruch der modernen Autos – weniger Plastik, mehr Gummi. Das musste an den Sitzen liegen, an der Sitzaufhängung aus Gummigeflecht. Die Quiche war brottrocken. Lou hatte schon heiterere Mahlzeiten erlebt, sie ließ den Apfel liegen und stieg wieder aus, um sich ihre Monde zu kaufen. Le Monde hatte mehr Zeit für seine Ermittlungen gehabt als die Morgenzeitungen, vielleicht würde mehr drinstehen. Während sie auf ihr Wechselgeld wartete, warf Lou einen Blick auf die Titelseite. »Tragischer Tod der Prinzessin von Wales. Die Umstände des Unglücks. Trauer in der ganzen Welt. Polemik über die Verantwortung der Fotografen.« Sie stand kurz vor dem Überdruss. Trotzdem zwang sie sich dazu, die sechs dem Unfall gewidmeten Seiten in ihrem R4 zu lesen. Die Artikel über »Die Märchenhochzeit«, »Die Enthüllungen, die den Buckingham-Palast erschütterten«, »Ein Zehnmillionen-Francs-Kuss« überflog sie nur kurz, um dann zur Seite zwei zurückzukehren, auf der die Unfallumstände in allen Details geschildert wurden. »Die Verfolgungsjagd… Kurz nach Mitternacht… Ein Ablenkungsmanöver… Aber die List hat nichts genutzt…« Sie hatte den Eindruck, einen Film wieder zu sehen, den sie bereits in- und auswendig kannte. Der Vendome-Platz, der Concorde-Platz, die Quais… Ab den Quais jedoch bremste sie ab und zwang sich dazu, alles Wort für Wort zu lesen. »Nachdem er etwa einen Kilometer lang mit Vollgas gefahren war, erreichte der Fahrer den Alma-Tunnel. Dort wurde sein Vorankommen von einem Fahrzeug behindert, das sich an die auf diesem Abschnitt der Georges-PompidouSchnellstraße herrschende Geschwindigkeitsbeschränkung (50 km/h) hielt. Beim Versuch, diesem Fahrzeug auszuweichen, hat der Chauffeur die Kontrolle über den Mercedes verloren.«
Lou sah einen Schweißtropfen mit einem leisen Pock auf die Zeitungsseite fallen. Da stand es schwarz auf weiß, mitten auf der Seite, ein langsames Fahrzeug hatte den Unfall verursacht. Sie las und las den Absatz wieder. Le Monde ließ keinen Zweifel: Das fahrende Hindernis hatte bei der ganzen Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt. Sie drückte ihren Kopf gegen die Rückenlehne und zwang sich dazu, tief ein- und auszuatmen. Noch war nicht alles verloren. Recht besehen sagte die Zeitung nichts anderes als bereits gestern Abend das Radio. »Ein Fahrzeug«, »ein Auto«, das blieb wirklich vage. Ein weiterer Tag ging vorüber, wäre bald vorüber, ein Tag, den der Fahrer gewonnen hätte. Wahrscheinlich nichts als ein Aufschub. Die Automarke mochte am kommenden Tag in den Zeitungen stehen oder schon heute Abend im Radio verkündet werden. Und dann… Lou dachte mit Schrecken an den Augenblick, den Mittwoch morgen, an dem sie ihr Auto abholen ginge und den Blick, mit dem der Chef der Werkstatt sie mustern würde: Da ist er, Ihr Fiat. Fast wieder in jungfräulichem Zustand. Meiner Meinung nach müssten Sie damit durchkommen. Ein Bulle, der es ein klein wenig eilig hat, wird überhaupt nichts bemerken. Es könnte auch anders kommen. Ach, der weiße Fiat. Wir holen ihn Ihnen. Und was dann kommen würde, wäre nicht der Fiat, sondern zwei Polizisten. Oder noch schlimmer: eine Horde Fotografen. Eine Weile lang rollte Lou ziellos durch Chaville. Als sie Bäume erblickte, einen Wald, den sie für den von Meudon hielt, stellte sie ihren Wagen am Waldrand ab und setzte sich eine halbe Stunde lang auf eine Bank. Sie fragte sich, ob sie nicht soeben ihren letzten Nachmittag in Freiheit verbrachte. Na, übertreibe nichts, den letzten anonymen. Ich übertreibe nicht: den letzten einer anonym lebenden Frau in Freiheit.
Es war schon nach fünf, als sie zu Hause ankam. Aus Gewohnheit und um ihre Hände zu beschäftigen, räumte sie die ganze Wohnung auf – weil Yvon ihr Angst machte und sie so das Gefühl hatte, jede Spur seiner Anwesenheit auszulöschen. Sie arbeitete schweigend und versuchte sich auf Dinge zu konzentrieren, die nichts mit dem Unfall zu tun hatten. Das gelang genau zehn Sekunden lang, dann waren ihre Gedanken wieder bei dem zusammengedrückten Blech, bei den verrenkten Körpern, bei den Fotografen, die hier eine Tür öffneten und da einen Ellenbogen beiseite schoben, um bequemer ihre Bilder schießen zu können. Während sie die Küche schrubbte, brach ihr Widerstand zusammen, und sie hörte zwanzig Minuten lang Radio. Zwei Kurznachrichten, nichts Neues. Doch, das Datum des Begräbnisses von Diana war bekannt gegeben worden. Die Trauerfeier würde am Samstag, dem sechsten, in der Westminster-Abtei stattfinden. Eine Million Leute wurde erwartet. Man verhandelte mit Fernsehsendern aus aller Welt über die Übertragungsrechte. Lou trocknete sich die Hände ab und sah dabei aus dem Fenster – sah, ohne zu sehen, die Verbindung zwischen Hirn und Auge war unterbrochen. Sie ging zu dem Wandschrank im Flur, holte ihre Reisetasche heraus und stopfte hinein, was man mitnimmt, wenn man mitten in der Nacht aufbricht. Nicht viel, ein T-Shirt, zwei Unterhosen, eine Jeans, eine Toilettentasche, einen Föhn. Sie schob einen Zweihundertfrancschein in die Toilettentasche und holte ihn dann wieder heraus. Natürlich würde sie ihre Handtasche mitnehmen, wenn sie fortging. Handtasche: Sie musste an die Königin von England denken, ihr kleines Damenhandtäschelchen, das ihr unter dem Ellbogen klebte. Lou hätte nicht gewusst, was sie mit so einem Ding anfangen sollte. Sie hatte eine Tasche, die sie auch benutzte und die sie immer über die Schulter hängte, sobald sie die Wohnung verließ.
Sie stellte die Reisetasche in den Wandschrank zurück, auf das Regal ganz hinten und versteckte sie sorgfältig hinter einem Schlafsack aus violettem Nylon und einer SegeltuchKühltasche, die La Redoute als Geschenk irgendeiner Sendung beigefügt hatte und die nie benutzt worden war.
Yvon kam wie üblich um halb acht nach Hause. Und natürlich: Was hat denn der R4 da unten zu suchen?, fragte er. Lou sagte mechanisch ihr Verslein auf, Übelkeit, kaum dort wieder umgedreht, dann die Porte de Saint Cloud, der Idiot, der kaputte Kotflügel… Hast du ein Unfallprotokoll aufgenommen?, fragte Yvon. Aber ja, sagte sie. Richtig? Du bist vielleicht witzig, natürlich. Willst du, dass ich es mir noch mal ansehe?, fragte er. So, dachte Lou. Jetzt ist der Moment gekommen, wo ich meine Fähigkeit zur Improvisation unter Beweis stellen muss. Ist schon weg, sagte sie. Weg?, wiederholte Yvon. Ich hab es weggeschickt, erklärte Lou. Als ich wieder hier war, hab ich es noch mal durchgelesen, in den Umschlag gesteckt und dann zum Briefkasten gebracht. Du bist extra deswegen noch mal raus?, fragte Yvon. Nein, sagte Lou. Ich hatte zwei Stunden geschlafen, ich hab mich besser gefühlt. Ich wollte eine Zeitung kaufen, ich musste den Nachmittag ja irgendwie rumbringen. Und da hab ich den Brief gleich mitgenommen. Und wie ist der Tag für dich gelaufen?
Diesen Abend war Lou es, als Yvon das Licht ausknipste, die die Initiative ergriff. Yvon war immer bereit. Sie verlor an Boden gegen ihn, sie war mit dem Kopf ganz woanders. Sie simulierte, obwohl sie das hasste.
Yvon schlief auf der Stelle ein, sie konnte keinen Schlaf finden. Sie versuchte sich einen Film nachzuerzählen. Den Englischen Patienten hatte sie gerne gesehen, sie vergegenwärtigte sich Juliette Binoche als unverzagte Krankenschwester in der Toskana. Aber es half alles nichts, sie sah den Tunnel, den wahnsinnigen Mercedes, der sich wild in den Pfeiler bohrte, sie sah sich selbst in der darauf folgenden halben Stunde wie sie durch die schlafende Banlieu gerast war und nur einen einzigen Gedanken im Kopf hatte: abzuhauen, nur ein einziges Ziel: sich so schnell wie möglich zu Hause zu verstecken. Und wie ein pochender Schmerz kehrte die Frage wieder, die Frage, auf die es keine Antwort gab: Warum habe ich mich aus dem Staub gemacht? Warum habe ich nicht angehalten? Was hat da plötzlich von mir Besitz ergriffen und mich in einen panisch flüchtenden Hasen verwandelt, dass ich weder auf den Gedanken gekommen bin zu helfen noch als Zeuge zu dienen, sondern nur an eines gedacht habe: Rette sich, wer kann? Rette sich, wer kann, wiederholte Lou, die sich darüber bewusst wurde, was der Satz auch meinte. Mich so schnell wie möglich aus dieser Situation zu retten und meine Haut zu retten. Und dann war es wie ein Blitz: Es war der Tod natürlich, vor dem sie geflüchtet war Samstagnacht, der Tod mit seinem grausigen Lärm, der Tod mit seiner scharfkantigen Eisenklinge, die zerschnitt, zerfetzte. Der Tod, der die weiße Haut aufriss, dass das Blut spritzte. Und jetzt war es der Tod, vor dem sie sich zu verbergen versuchte. Der Tod, der nach ihr suchte und sie Tag für Tag hetzen würde und mit dem sie eine infernalische Verfolgungsjagd angezettelt hatte. Als sie aufwachte, war ihr erster Gedanke: Nein, nicht das. Nicht dieser Unfall, nicht ich. Dann rief sie sich zur Ordnung:
Na komm, ich hab heute den R4, ich werde arbeiten gehen, was riskiere ich denn groß? Yvon tigerte durch die Wohnung, Lou konnte es am Geräusch des Radios erkennen, das mit ihm herumtigerte. Sie erkannte den Sender FIP, die Verkehrsmeldungen. Yvon musste zwar nicht einmal drei Kilometer fahren, um in sein Geschäft in Montrouge zu kommen, aber er liebte es, den Verkehr auszutricksen, den Staus auszuweichen, schnell zu fahren. Heute bist du es aber, der früh dran ist, sagte Lou zu ihm und rieb sich an ihm wie eine Katze. Yvon küsste sie aufs Haar. Früh dran? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich bin auf dem Sprung, ich bin ohnehin schon zu spät dran. Du hast heute Nacht gut und gerne deine zehn Stunden geschlafen, jetzt müsste es dir doch besser gehen, oder? Ja, sagte Lou. Gehst du wieder arbeiten?, fragte Yvon. Muss ja, sagte Lou, die Ferien sind vorbei, die Urlauber sind wieder zurück, Angela wird gar nicht alle Gäste reinlassen können. Yvon griff sich seinen Helm. Meinst du, der alte R4 wird bis Paris durchhalten?, sagte er. Ich hoffe doch, sagte Lou. Ich hab auch keine große Wahl. Ich baue sogar darauf, dass er mich heute Abend wieder hierher zurückbringt. Normale Fragen, dachte sie entschlossen, als die Tür wieder zu war. Zwanzig vor neun, ein Tag wie alle. Ein völlig normaler Dienstag. Nachrichten von immer noch brennender Aktualität, sagte das Radio. Die Neuigkeit des Tages war die Bestätigung, dass Henri Paul, der Chauffeur des Ritz, zur Zeit des Unfalls im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit gewesen war. Man wusste nicht genau, mit welchem Tempo er gefahren war – nach gewissen Angaben einhundertachtzig, nach anderen kaum hundertzehn –, aber die Analysen ließen keine Zweifel, der Alkoholspiegel in seinem Blut hatte bei 1,75 Promille gelegen.
Ein besoffener Chauffeur, übersetzte Lou sich das, der wie ein Wahnsinniger gefahren ist und dann eine Mauer gerammt hat. Und was ändert das für mich?, fragte sie sich auf der gesamten Strecke, die sie am Steuer des R4 von Viroflay bis zur Tiefgarage der Börse fuhr. Himmel grau und tiefhängend, aber die Luft immerhin warm. Was das ändert? Nun, dass 1,75 Promille Alkohol im Blut wohl ausreichen, um den Unfall zu erklären, oder nicht? Doch, sagte sich Lou. Da braucht es keinen zusätzlichen Verantwortlichen mehr. Welchen Schluss ziehen wir daraus? Wir bleiben bei unserer Linie. Nichts unternehmen. Vor allem sich nicht stellen. Einfach warten, bis das Unwetter vorübergezogen ist. Bei Angela roch es nach Provencekräutern und Speckwürfeln. Dienstagsmenü: Hase provenzalisch, erinnerte sich Lou. Hast du ein neues Auto?, rief Marie-No ihr vom anderen Ende des Saals zu, wo sie Gläser einräumte. Woher weißt du das denn jetzt?, fragte Lou so heiter wie möglich. Ich hab dich an der Ampel bei der Metro Quatre-Septembre gesehen, sagte Marie-No, du bist gerade losgefahren, ich hab dir zugewinkt, aber du warst offenbar in Gedanken versunken und hast mich nicht erkannt. Ja, sagte Lou, ich weiß auch nicht, was mein Fiat hat, heute Morgen ist er nicht angesprungen. Meine Schwägerin hat mir ihre alte Schrottlaube geliehen. Du hast eine Schwägerin?, fragte Marie-No verblüfft. Das Mädchen, das mit dem Bruder von dem Typen zusammenlebt, mit dem ich lebe, sagte Lou, als was würdest du die denn bezeichnen, hm? Angela kam aus der Küche, tiefernst wie die sechzigjährige Korsin, die sie war – und die sie vermutlich schon seit dreißig Jahren war. Hast du Schwierigkeiten mit deinem Auto gehabt? Nichts weiter, sagte Lou. Wahrscheinlich ist die Batterie leer,
Yvon wird sich heut Abend drum kümmern. Geht’s dir besser?, erkundigte Angela sich. Lou brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, dass eine Art Magen-Darm-Grippe sie gestern den ganzen Tag ans Bett gefesselt hatte. Geht schon, sagte sie. Sie hätte sich umbringen können, dass sie von Problemen an ihrem Auto gesprochen hatte. Fast brach sie darüber in Tränen aus, während sie aus einer Tüte Kastanienmehl viele Kugeln pulenta knetete. Ich wäre besser die ganzen zwei Tage, die die Reparatur dauert, zu Hause geblieben. Schließlich hätte ich ruhig zwei Tage krank sein können. Jetzt wissen sie alle, dass etwas mit meinem Fiat los ist. Das ist genau das, was ich hätte vermeiden müssen, dass sie »Tag nach dem Unfall« zusammenbringen mit »Lou hat nicht ihr übliches Auto«. Marie-No schniefte. Schon wieder die Zwiebeln?, fragte Angela. Seid nicht so gemein, sagte die Kleine. Zweimal bin ich heute Nacht aufgewacht und hab an sie denken müssen. Du wirst jetzt nicht wieder damit anfangen, knurrte Angela. Du hast an Diana denken müssen?, fragte Lou. Ja sicher an Diana, sagte Marie-No. Ich bin so was von traurig. Du denn nicht? Wie alle anderen, sagte Lou. Angela aber nicht, sagte MarieNo. Weißt du, was die von der Sache hält? Gestern hat sie den ganzen Tag nichts anderes gesagt als: Was für eine Schande. Ganz genau, sagte Angela. Wenn meine Tochter ihrem Mann davongelaufen wäre, die Kinder ins Internat gesteckt hätte und sich dann umgebracht, als sie gerade mit ihrem neuesten Gigolo aus dem Ritz kommt, würde ich im Boden versinken vor Scham. Je mehr ich darüber nachdenke, sagte Marie-No, desto märchenhafter finde ich das Ganze. Wenn man einen Film über eine Prinzessin von heute hätte machen wollen, dann hätte man doch gar kein schöneres Ende finden können. Was meinst du, Lou?
Nichts, sagte Lou. Jeder Satz bedeutete eine ungeheure Anstrengung für sie. Sie hatte das Gefühl, eine erbärmliche Schauspielerin zu sein, die man zwang, auf offener Theaterbühne zu improvisieren. Es war ihr nicht mehr möglich, sich einfach gehen zu lassen wie früher und die Dinge zu sagen, die ihr durch den Kopf gingen, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Sie musste jedes einzelne ihrer Worte abwägen, sie wusste, dass ihr Ton falsch klang, jeden Augenblick konnte sie ausgepfiffen werden, von der Bühne gejagt, sie spielte ein waghalsiges Spiel. Marie-No war es ganz gleich, was Lou sagte oder nicht sagte, sie war gar nicht mehr aufzuhalten. Meine Freundin Sandra, wisst ihr, die wo der Mann bei der Kripo arbeitet, die bekommt den gar nicht mehr zu Gesicht seit Sonntag, er kommt zu den unmöglichsten Zeiten nach Hause. Und dabei haben die Ermittlungen gerade erst angefangen. Sie haben fünfzig Jungs auf den Fall angesetzt, das hat es überhaupt noch nie gegeben. Aber sie wollen alles aufklären. Was gibt’s denn da noch aufzuklären?, fragte Lou. Eine ganze Menge, sagte Marie-No. Zuerst mal die Fotografen. Man weiß doch, dass sehr viel mehr da waren, als die sieben, die man an Ort und Stelle verhaftet hat. Verstehst du? Diejenigen, die abgehauen sind, könnten gut und gerne die sein, die an dem Unfall schuld waren. Und dann ist da auch noch das fahrende Hindernis… Das was?, fragte Lou, die ihre Stimme nicht unter Kontrolle zu halten vermochte. Das kann ja wohl nicht wahr sein!, sagte Marie-No. Weißt du etwa nichts davon? Das Auto am Tunneleingang… Ja und?, sagte Lou. Na, das soll den Unfall doch provoziert haben, platzte Marie-No heraus. Provoziert?, kam es wie ein Echo von Lou. Na um besser fotografieren zu können, erklärte Marie-No, verstehst du? Das war zweifellos ein Auto von der Presse mit einem Fotografen
drin. Mitarbeiter derselben Agentur, die alle zusammenarbeiten, an verschiedenen Orten zugleich. Sie rufen sich gegenseitig an, die haben doch alle Handys: Der Mercedes kommt gerade mit Vollgas den Quai Albert-Premier entlang, blockier ihn bei der Einfahrt zum Alma-Tunnel… Jetzt mal im Ernst, sagte Lou, hältst du so was für möglich? Ich wiederhole dir hier nur, was Sandra von ihrem Mann hat, sagte Marie-No. Die Gendarmerie wird alles in Bewegung setzen, um dieses Auto zu finden. Und was hat die Gendarmerie mit der Geschichte zu tun?, fragte Lou. Die haben dort eine Abteilung, die darauf spezialisiert ist, flüchtige Autos zu identifizieren, erklärte Marie-No bereitwillig. Du kannst dir doch denken, dass es nicht das erste Mal ist, dass so was vorkommt. Die sind ungeheuer fähig, und diesmal haben sie außerdem irgendwelche Indizien. Ach ja?, sagte Lou beiläufig. Laut Sandras Mann gibt es Spuren, sagte Marie-No. Was Genaueres weiß ich nicht, aber die Analysen haben schon begonnen, alles nur noch eine Frage der Zeit. Zwischen drei und vier, als der Ansturm zum Mittagessen vorüber war, ging Lou durch die extrem stattlichen und toten Straßen spazieren, wo ihre Kunden wieder in ihren Arbeitszellen Platz genommen haben mussten, Rue Taitbout, Laffite, La Victoire, alles Straßen, hinter deren großbürgerlichen Fassaden große Versicherungsgesellschaften ihren Sitz hatten, Bankgesellschaften oder auch anrüchigere Geschäfte: Makler, Reiseveranstalter, Übers-Ohr-Hauer. Sie hatte in einem Kiosk auf dem Boulevard Haussmann Le Monde und den Figaro gekauft und sie auf dem kleinen Mittelstreifen gegenüber, der offiziell Place Adrien-Oudin hieß, im Stehen durchgeblättert, ohne sich irgendwo festzulesen. Vermutlich weil sie nichts Neues berichteten, zumindest nichts zu dem Thema, das sie interessierte. Und auch weil Lou nur eine Sorge hatte an diesem Nachmittag, eine
Sorge, die langsam zur Besessenheit wurde. Es wurde ihr nämlich immer deutlicher, welche Unvorsichtigkeit sie gestern begangen hatte. Sie war so erleichtert gewesen, den Fiat diskret reparieren zu lassen und zugleich zwei Tage lang von ihm befreit zu sein, aber jetzt fragte sie sich, ob das nicht genau die Dummheit gewesen war, die sie ans Messer liefern würde. Sie saß in der Falle wie eine Ratte. Wenn ich den Fiat morgen abhole und dann wieder jeden Tag benutze, verhalte ich mich wie jemand, der mit dem Unfall nichts zu tun hat. Aber sobald die Marke des fahrenden Hindernisses bekannt ist, sobald in der Presse steht: weißer Fiat Uno, bin ich als Fahrerin und Besitzerin eines weißen Fiat Uno sichtbar. Ich könnte meinen Wagen auch in der Werkstatt lassen – ihn ganz einfach nicht mehr abholen. Aber da denunziere ich mich selbst. An dem Tag, an dem das fahrende Hindernis identifiziert ist, zählt der Chef der Werkstatt eins und eins zusammen, was den Fiat Uno betrifft, der bei ihm stehen gelassen wurde. Und die Polizei wird überhaupt keine Schwierigkeiten haben, mich zu finden. Im Grunde war es gar nicht so dumm, ihn reparieren zu lassen. Fangen wir noch mal von vorn an: Ich hole mein Auto ab und benutze es ganz normal: Heißt, ich kann jeden Tag angehalten werden. Also: Also muss ich diesen Fiat abholen und ihn dann nicht mehr benutzen. Ihn verkaufen und mir ein anderes Auto anschaffen. Na großartig. Was macht die Polizei denn eine Sekunde, nachdem sie das fahrende Hindernis identifiziert hat? Sie stellt ein Verzeichnis aller Fiat Unos auf, die seit dem 31. August zum Verkauf angeboten worden sind.
Nein, die einzige Lösung wäre, mein repariertes Auto abzuholen, wie jemand, der ganz einfach nichts mit dem Unfall zu tun hat, mir parallel dazu ein anderes Auto zu kaufen und meinen Fiat in die Seine zu kippen. Doch hatte Lou keinen Pfennig übrig, um sich ein zweites Auto zu kaufen. Sie überquerte die Rue de Provence diagonal, ohne sich umzusehen, und ein Taxifahrer, der sie nur knapp verfehlte, drehte sich nach ihr um: Dir gehts wohl nicht gut! Nein, es ging ihr nicht gut. Denn nicht nur hatte Lou kein Geld, sie wäre auch völlig unfähig gewesen, ein Auto in die Seine zu stürzen. Wie würde sich jemand verhalten, der sich tatsächlich an diesem Montag an der Porte de Saint-Cloud den Kotflügel hätte kaputtfahren lassen? Das war nun wirklich nicht schwierig zu beantworten, sagte Lou sich zum hundertsten Mal: Dieser Jemand würde sein repariertes Auto abholen und es genauso weiter benutzen wie vorher. Lou kam zu keiner Lösung. Trotzdem schien ihr dieser Ansatz der risikoloseste: Einfach so zu tun, als hätte sie mit dem Unfall nichts zu schaffen. Bevor sie zur Arbeit zurückging, blieb sie vor dem Geldautomaten der Hauptpost in der Rue Chauchat stehen. Sie musste jeden Tag soviel ziehen, wie der Apparat ihr überließ und davon so wenig wie möglich ausgeben. Möglicherweise würde sie gezwungen sein, zu verschwinden, ohne zuerst noch zu Hause vorbeizukönnen, also musste sie immer so viel Bargeld wie möglich bei sich tragen. Auf dem abendlichen Rückweg nach Viroflay wurde sie, als sie auf die Brücke nach Sèvres kam, von einem Stau aufgehalten. Genau dort, fast im Stehen, fast in einer Ruhepause, packte die Angst sie plötzlich wieder, wie eine tollwütige Katze, die einem auf die Schultern springt. Sie erinnerte sich an einen Satz in einer der Tageszeitungen, sie
wusste nicht mehr in welcher. Drei Zeilen über den Bodyguard, die sie überflogen hatte und die seither in ihrem Hinterkopf gebrütet haben mussten, von wo sie jetzt plötzlich flammend in ihr Bewusstsein traten. Trevor Rees-Jones gehe es sehr schlecht, hatte es dort geheißen, er leide an multiplen Frakturen, vor allem im Gesichtsbereich. Er sei unfähig zu sprechen, und die Ermittler müssten sich mehrere Tage gedulden, bevor sie ihn verhören könnten. Mehrere Tage, zählte Lou, und dann würde man ihn verhören. Dem Typen würde es besser gehen, und auch wenn er nicht würde reden können, so könnte er doch schreiben. Im Moment des Unfalls saß er auf dem Beifahrersitz des Mercedes, dem Todessitz, er, der einzige Überlebende. Der beste Platz, um das fahrende Hindernis am Tunneleingang gesehen und sein Kennzeichen bemerkt zu haben. Eine Zeitbombe, dachte Lou, während sie im Schritttempo über die Brücke rollte. Und wann würde sie explodieren? Wie viel Tage Wartezeit bis dahin? In der sie wie eine Wahnsinnige die Zeitungen würde durchblättern müssen?… Jetzt nicht weinen, sagte sich Lou. Hab das nicht verdient. Warum ich? Auch diese Nacht schlief sie wenig und schlecht. Und als sie am nächsten Morgen erwachte, sehr früh, war es, weil sie sich aus einem Alptraum befreien musste. Sie steckte in dem zusammengedrückten Mercedes, sie war auf den Boden gefallen, eingeklemmt, sie erstickte. Sie wollte rufen, hatte aber keine Stimme mehr. Sie wusste, dass sie sterben würde. Und dann sah sie, wie die Tür sich öffnete, wie die Fotografen mit vor Freude verzerrten Gesichtern auf sie stürzten, wie die Kameras sich auf sie richteten und wie das Blitzlichtgewitter auf sie niederging. Sie wollte sich das Gesicht mit einem Arm schützen, wie immer, aber ihre Arme gehorchten nicht mehr. Die Fotografen schossen
hingebungsvoll, noch nie hatten sie so gute Arbeitsbedingungen gehabt. Es herrschte noch Dunkelheit im Zimmer, Lou konnte nicht glauben, dass sie gesund und in Sicherheit war. Es gelang ihr nicht, wieder einzuschlafen, langsam sah sie den Tag heraufkriechen. Sie stand als Erste auf und steckte in der sie umgebenden Stille Brot in den Toaster. Sie vermochte nicht das Radio einzuschalten. Sie hätte es nicht ertragen, ein einziges weiteres Wort über diese Prinzessin, diesen Mercedes, diesen Unfall zu hören. Sie hoffte darauf, dass der gute Geruch, der anbrechende Tag, Yvons Auftauchen den Traum verscheuchen würden. Aber als sie dann wieder alleine war in der taghellen Wohnung, erschienen ihr von neuem die Raubvogelgesichter der Paparazzi und warfen auf alles ihren Schatten. Trotz allem musste sie die Nachrichten anhören, sie hatte keine Wahl. Bevor sie ihren Wagen aus der Werkstatt abholte, musste sie sich über die Fortschritte bei den Ermittlungen informieren. Stell dir nur vor, dass beispielsweise gerade heute Morgen die Marke des fahrenden Hindernisses bekannt gegeben wird – was mach ich dann? Wohin soll ich dann? Aber das Radio erwähnte nichts zu diesem Punkt. Diesen Mittwoch war der Hauptangeklagte des Radios die englische Königsfamilie – genauer gesagt die Königin selbst. Diese Royals schienen die einzigen Engländer zu sein, die unberührt waren von dem Drama. Sie hatten ihre schottische Sommerresidenz nicht verlassen. Sie hatten knappe Kondolenzen ausgesprochen und es dabei bewenden lassen. Lou schaltete das Radio ab. Auch heute Morgen wieder war sie noch nicht dran. Sie würde ihr Auto abholen. Auch wenn der Chef der Werkstatt die Nase rümpfen sollte bei ihrem Anblick, würde sie keine Schlüsse daraus ziehen. Sie würde
nicht ihren ganzen Tag damit verbringen, seine Grimasse zu interpretieren. Sie würde einen arbeitsamen und angenehmen Tag in der warmherzigen Atmosphäre des einzigen korsischen Restaurants von Paris verbringen, das von drei Frauen geführt wurde. Aber um die Wahrheit zu sagen, zeigte der Chef der Werkstatt nicht die geringste Reaktion, als sie sein Büro betrat. Er steckte in einem Telefongespräch, sofern man etwas ein Gespräch nennen will, bei dem sein Anteil in einsilbigen Knurrlauten bestand. Er schien Lou gar nicht zu sehen, brachte sein Gespräch in aller Ruhe zu Ende, legte auf. Guten Morgen, sagte Lou. ›Morgn‹ brachte der Russo-Kroate zustande und hielt dabei die Nase über den Zettel vor ihm, auf den er etwas kritzelte. Ich komme mein Auto abholen, fuhr Lou mühevoll fort. Der andere hob seine Augen zu ihr, und Lou konnte in seinem Blick nichts anderes lesen als den Lebensüberdruss eines Sechzigjährigen, der schon um neun Uhr morgens müde ist. Kommt gleich, sagte er. Dann hob er einen in Reichweite seiner rechten Hand angebrachten Hörer ab, der zu einer Gegensprechanlage gehören musste und brummte: Fahr mir den weißen Fiat Uno vor. Die Rechnung war fertig. Lou verstand, dass dies der Zettel war, auf dem der Chef eben geschrieben hatte. Sie sah, dass er sich darauf mit den beiden Informationen begnügt hatte, die sie ihm gegeben hatte, Name: Louise Leroy, Telefonnummer: die von Angela. Sie zahlte die achthundert Francs in bar. Es fiel keinerlei Bemerkung. Der Fiat rollte vor der Glastür vorbei. Da, sagte der Chef und deutete mit dem Kinn in Richtung des Autos, ohne den
Eindruck zu erwecken, dass er sich noch weiter bewegen wollte. Der Mechaniker, der den Wagen geholt hatte, stieg aus, wobei er geschmeidig einen langen, animalischen Körper zusammenfaltete. Lou starb fast vor Eile, hier wegzukommen, dennoch zwang sie sich dazu, in seiner Gegenwart die Reparaturen zu begutachten. Rücklicht, stotterte sie, die Lackierung. Gut. Der Mann sagte nichts. Sie warf einen Blick in seine Richtung und sah, dass er die Augen auf sie gerichtet hatte, zwei schmale Augen in einem indianisch aussehenden Gesicht. Na denn, danke schön, stammelte sie, während sie die Fahrertür öffnete. Wiedersehn, Monsieur. Wiedersehn Madame, sagte der Mechaniker in einem spöttischen Ton, der nicht zu der Höflichkeitsfloskel passte.
Zweimal an diesem Tag musste Lou Marie-No bremsen, die jede Stunde mit einer neuen Information kam, einmal über die klammheimliche Freude der Königin Elisabeth, dann über die Komposition des Cocktails, den Henri Paul am Samstag zwischen zehn Uhr und Mitternacht getrunken hatte. Whisky, Gin und Prozac, stell dir das mal vor! Hast du eigentlich immer noch nicht genug von dieser Geschichte, fuhr Lou sie irgendwann an. Die machen uns ja auch noch besoffen damit. Mir geht es wie Angela, ich kann nicht behaupten, dass mich das alles sonderlich interessiert. Nein, Marie-No war noch immer nicht saturiert. Sie hatte sich ihren Samstagvormittag freigehalten. Mochte die Erde unter ihren Füßen beben, sie würde sich im Fernsehen das Begräbnis von Lady Di ansehen. Ich werd vielleicht was wegheulen, sagte sie mit unverhohlener Vorfreude. Und du, was machst du Samstagvormittag?
Nicht die geringste Ahnung, sagte Lou, die ebenfalls erschüttert war, aber bei ihr war es der Gedanke, dass nicht mehr sie selbst darüber entschied, was sie wann machen würde. Wo würde sie wohl sein in drei Tagen? In einer Zelle? Im Ausland? Würden die Ermittlungen der Polizei zu einem Ergebnis geführt haben? Würde am Samstag die ganze Welt wissen, dass ein junges Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, Louise Origan, am Steuer des weißen Fiats gesessen hatte, der der Prinzessin von Wales den Tod gebracht hatte, und nicht erklären konnte, warum es die Flucht ergriffen hatte? Doch am Samstag, dem sechsten, verfolgte Lou um zehn Uhr morgens, ganz genau wie Marie-No, wie Millionen andere Leuten rund um den Erdball, die Übertragung des Begräbnisses der Prinzessin. Ein Mädchen, das nichts mit dem Unfall zu tun hätte, würde sich das auch ansehen, hatte sie sich gedacht, also sehe ich es mir an. Sie empfand ein Gefühl von Irrealität, das fast schon an Übelkeit grenzte. Es gelang ihr nicht, sich klarzumachen, dass die vergötterte Frau, deren Leiche im Schritttempo auf einer Laffette an Millionen von Engländern mit rot geweinten Augen vorbeirollte, vor genau acht Tagen in ihrem Mercedes und in vermutlich bester Laune um Haaresbreite an ihrem Fiat vorbeigerast war, dreißig Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, in dem noch immer, sobald sie an die Szene dachte, das entsetzliche Kratzgeräusch widerhallte, mit dem die beiden Karosserien einander berührt hatten. Der Bodyguard hatte weder gesprochen noch geschrieben. Im Speziallabor der Gendarmerie kamen die Analysen nicht voran. Es machte Lou wahnsinnig, darauf warten zu müssen, dass das Schwert, das an einem seidenen Faden über ihrem Kopf hing, endlich herunterfiel. Das ist doch kein Leben, was ich hier seit acht Tagen führe. Es sieht so aus, als würde ich
mich normal benehmen und arbeiten, dabei verstecke ich mich. Ich antworte, wenn man mich etwas fragt, ich scherze mit den Kunden, aber in Wirklichkeit sage ich gar nichts, lüge ich. Alles ist anders geworden. Ich habe Angst – so sehr, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann. Die Wohnungstür schlug zu. Von der Türschwelle des kleinen Wohnzimmers aus konnte Yvon Lou vor dem Fernseher sitzen sehen. Er blieb zehn Sekunden lang stehen und hörte der Schilderung der Trauerfeier zu. Er hatte die Arme voll Melonen, Fruchtsaftflaschen und einem dicken Brot. Er verschwand, um seine Einkäufe abzulegen, kam zurück und fragte Lou von hinten im Stehen: Kannst du mir mal sagen, warum du dir das anschaust? Lou drehte den Ton ab, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben, lehnte den Kopf zurück und tat so, als sei sie zornig. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich zum ersten Mal mit jemandem zusammenlebe, um dann einen Typen im Haus zu haben, der mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe, was gut für mich ist und was nicht, welche Fernsehsendung ich in meinem Alter ansehen darf und bei welcher ich meine Zeit verliere. Ich bin doch nicht mehr sechs Jahre alt. Jetzt werd doch nicht wütend, Louise, sagte Yvon. Und nenn mich nicht Louise, schrie Lou. Bevor ich dir begegnet bin, hatte ich schon fast geschafft zu vergessen, dass das eigentlich mein Vorname ist. Apropos, hast du gesehen, was wir für ein Wetter haben?, unterbrach Yvon sie in einem völlig veränderten Ton. Und es soll so schön bleiben. Ich hab diesen Sommer keinen Urlaub genommen… Ich erinner dich dran, dass ich meinen auf später verschoben habe, um dein Schicksal zu teilen, bemerkte Lou. Ich hab nicht vor, mich das Wochenende über hier zu verbarrikadieren, fuhr Yvon fort. Was hältst du von
einer kleinen Spritztour in die Normandie? Musst du heute Abend arbeiten? Lou war aufgestanden. Sie lehnte ihren Kopf an Yvons Schulter. Ganz genau das habe ich heute Morgen hören wollen. Dieses Begräbnis geht mir am Arsch vorbei, und ich habe bis Montag frei. Ich habe letzten Samstag gearbeitet, jetzt ist Marie-No dran. Wohin willst du mich entführen? Yvon zog einen winzigen Zeitungsausschnitt aus seiner Brieftasche. In Tréport stand ein Helium zum Verkauf. Der 505er war ein echtes Wunder, zeitlos, aber trotzdem: Der künstliche See von Les Mureaux oder der See von MoissonLabacour waren nicht dasselbe wie das Meer. Irgendwann einmal würde Yvon einen eigenen kleinen Segler haben, und er wollte sich gerne die Yachthäfen in der Nähe von Paris ansehen.
Das Motorradfahren tat Lou ausgesprochen gut. Es ist beruhigend, dachte Lou, die Wange gegen Yvons lederne Schulter gedrückt, schon komisch, eine derart gefährliche Maschine, die einen solchen Lärm macht. Und dennoch beruhigender, als still auf einem Sofa zu liegen. Die Nacht verbrachten sie in Veulettes, in einem alten kleinen Hotel am Strand. Ihr Zimmer ging aufs Meer hinaus, Lou öffnete das Fenster. Dann gingen sie in einem Bistro Muscheln essen. Als sie um Mitternacht zurück waren, schalteten sie nicht das Licht an. Man konnte auch so fast sehen, und die Tapete sah umso besser aus, je weniger Licht auf sie fiel. Genau so, sagte Lou ein wenig später, so sehe ich dich gern, in Momenten, die etwas Besonderes haben. Nicht Tag und Nacht in dem ganzen mühseligen Alltag. Du bist aber heute spießig, murmelte Yvon, der am Einschlafen war. Es war ein
Irrtum, unsere Entscheidung zusammenzuleben, bohrte Lou weiter. Da bin ich anderer Meinung, flüsterte Yvon mit letzter Anstrengung. Ganz… und gar… anderer… Meinung, sprach er noch weiter, immer langsamer, um dann im Schlaf zu versinken.
Sonntag war das Wetter wechselhaft. Der Himmel verhielt sich zögerlich, aber das Meer glitzerte und tanzte. Lou hatte Magenkrämpfe. Ich will nicht wieder zurück. Fortgehen, weit fortgehen, das war nicht nur der Weg, ihren Verfolgern zu entkommen, es war auch der alte Traum, eine andere zu werden, alles von vorn beginnen zu können. Ich will nicht nach Hause fahren, sagte sie an einer roten Ampel in Yvons Ohr, als sie gerade wieder auf dem Rückweg nach Paris waren. Und wo wolltest du hin?, fragte Yvon kalt, kannst du mir das sagen? Und was wolltest du machen? Während der gesamten Rückfahrt öffnete Lou nicht mehr den Mund. Als sie sich am Abend wieder in ihren eigenen vier Wänden fand, besoffen von all den Kilometern, die Augen so voller Staub, dass sie glaubte, sie werde sie nie wieder zubekommen, nahm sie ein Bad und wusch sich die Haare. Ihr Föhn war nicht mehr an seinem Platz, sie suchte ein par Sekunden danach, bevor sie sich erinnerte, dass sie ihn in die Reisetasche gesteckt hatte, die sie für ihre Flucht vorbereitet hatte. Es war, als wäre ein Schalter umgelegt, die Angst befiel sie von neuem, und mit ihr die Überzeugung, genau das getan zu haben, was sie nicht hätte tun dürfen und damit eine Spur von leuchtenden Kieselsteinen ausgelegt zu haben. Yvon hatte einen Maccaroniauflauf zubereitet. Wollen wir umziehen?, fragte Lou unvermittelt. Leute wie du sollten am Meer leben, Segelfanatiker wie du.
Was ist denn los mit dir?, fragte Yvon und streckte seinen linken Arm über den Tisch, um ihre Hand in die seine zu nehmen. Nichts, sagte Lou und zog ihre Hand zurück. Am Montag überwand sie sich nur mit größter Mühe, wieder nach Paris hineinzufahren. Es war schönes Wetter, sie hatte noch das mondfarbene Meer vor Augen. Wie gerne hätte sie angefangen, ein anderes Leben zu führen, wäre sie Austernzüchterin gewesen oder hätte sie in den Salzwiesen gearbeitet, sich nur noch per Fahrrad über Feldwege bewegt, über schmale Deiche. Ohne Bullen, ohne Radargeräte, ohne Paparazzis, ohne Zeitungen. Sie hatte sich entschlossen, die Nachrichten nur noch morgens und abends anzuhören und nur eine Zeitung pro Tag zu lesen. Sie musste endlich wieder zur Vernunft kommen. Sie war mittlerweile ziemlich sicher, dass man sie finden würde. Wenn es nur eine einprozentige Chance gab, dass sie durch die Maschen rutschte, dann konnte sie sich sagen, dass sie alles getan hatte, um diese Chance wahrzunehmen. Aber sie gab sich keinen Illusionen hin. Wie viel sie wusste oder nicht wusste, das würde auch nicht viel ändern, so wie die Dinge standen. Und, hast du das mitgekriegt?, fragte sie Marie-No, kaum dass sie sie bei Angela zu Gesicht bekam, dieses Wochenende war’s Mutter Teresa, die den Löffel abgegeben hat. Was für eine Woche! Marie-No zuckte die Achseln. Du bist doof, das ist doch nicht vergleichbar. Marie-No war traurig. Sie vermochte nicht mehr das kleinste Tränchen um ihre dahingeraffte Märchenprinzessin zu vergießen. Es war ihr klar, dass sie das alles in zwei Wochen vergessen hätte. Sie war traurig, wie man traurig sein kann, nachdem man einen wunderbaren Roman zu Ende gelesen hat. Es waren traumhafte Stunden, aber nun ist es auch wieder gut.
Zwar kann man sich das Buch noch einmal vornehmen, aber es wird nie wieder so sein wie beim ersten Mal. Lou machte sich Vorwürfe, sie aufgezogen zu haben. MarieNo war Gold wert als Informationsquelle, sie wusste noch vor der Presse Bescheid, eine sichere Quelle alles in allem. Es war idiotisch, diese Verbindung zu unterbrechen. Weißt du, sagte sie ihr, ich hab mir das Begräbnis angesehen, Samstag. Vielleicht mache ich ja den Eindruck, die ganze Geschichte nicht ernst zu nehmen, aber der Sarg und diese unglaubliche Menschenmenge, das hat mich doch irgendwie schwer beeindruckt. Marie-No brauchte nicht mehr zu hören. Im Laufe des Vormittags gab sie alles preis, was sie in den letzten zwei Tagen erfahren hatte. Drei Fotografen, die sich an der Unfallstelle befunden hatten, aber nicht überprüft worden waren, waren von alleine bei der Kriminalpolizei vorstellig geworden. Drei Neue. Da war noch einiges zu erwarten. Unterlassene Hilfeleistung wurde mit fünf Jahren Gefängnis bestraft, mehr als für fahrlässigen Totschlag. Für den Totschlag gab es drei Jahre. Normal, ist auch schlimmer. Fahrlässiger Totschlag ist fahrlässig, wie der Name schon sagt. Unterlassene Hilfeleistung dagegen ist Absicht, verstehst du? Das ist gewollt. Und das ist schändlich, findest du nicht? Doch, sagte Lou.
Im Laufe der Woche erzählte Marie-No Lou, dass die Polizei einen Film über den Unfall hätte, von einer Überwachungskamera am Eingang zum Alma-Tunnel, die durchgehend filmte. Lou hatte mit so etwas gerechnet. Dennoch war sie derart geschockt, dass sie unter dem Vorwand, ein Gast habe den
Speiseraum betreten, überstürzt die Küche verlassen musste, damit man nicht sah, was sie für ein Gesicht machte. Diese Information hatte Marie-No am Dienstag berichtet, aber am Mittwoch musste sie ganz kleinlaut gestehen, dass es doch keinen Film gab, und sie erklärte, warum. Es stimmte, dass an einer Stelle des Tunneleingangs eine Kamera angebracht war, stimmte auch, dass sie durchgehend filmte. Trotzdem war kein einziges Bild aufgenommen worden. Könnt ihr euch das vorstellen? Die Kamera nimmt alles auf, der Aufsichtsbeamte kann auch mitverfolgen, was passiert. Aber nichts davon bleibt, nichts wird aufgezeichnet, und wisst ihr auch, warum? Es gibt ein Gesetz, das genau das verbietet. Man darf das nicht! Heißt Gesetz über Information und persönliche Freiheit. Wenn nicht zufällig jemand im richtigen Moment auf den Überwachungsmonitor geschaut hat, dann sind alle Bilder verloren. Donnerstag war Marie-No wieder etwas besser drauf. Die Kamera, das war eines, aber schließlich gab es auch noch das Radar. Und was tut ein Radar: es fotografiert. Dafür ist es schließlich da, um die Autos zu fotografieren, die die Geschwindigkeitsbegrenzung übertreten. Und wir wissen ja, dass der Mercedes sie überschritten hat. All das, um zu sagen, dass im Fotolabor der Kripo seit acht Tagen rund um die Uhr gearbeitet werde. Warum seit acht Tagen? Das war die Frage, die Lou nicht zu stellen wagte. Warum redete die Presse nicht darüber? Wenn die Polizei im Besitz von Fotos war, warum hielt sie sie dann geheim? Freitag gab Marie-No die Antwort. Die Wahrheit war eine bittere Enttäuschung. Am Abend des 30. August war im AlmaTunnel kein Radar gewesen. Weder ein fest installiertes, noch ein aufstellbares, kein Radar. Also auch kein Foto. Könnt ihr euch das vorstellen? Die Polizei hat Fotos von tausend Autos,
die kreuz und quer durch Paris rasen, aber keines von Dianas Mercedes. Es gab auch einen Grund dafür. Am 30. war es noch August gewesen, und im August ist die Polizei unterbesetzt. Die Polizisten liegen am Strand wie andere Menschen auch. Dementsprechend gibt es weniger Radarkontrollen, also weniger Fotos. Wäre der Unfall zwei Tage später passiert, wäre alles anders gekommen, sagte Marie-No enttäuscht, aber voller Solidarität mit Sandra und Sandras Mann. Schließlich haben diese Leute auch ein Recht auf Urlaub. Die Polizisten, meine ich.
Heiß, kalt, die ganze Woche über veranstaltete Radio MarieNo ein Wechselbad der Gefühle. Zur Mittagspause, gegen drei Uhr, wenn das ganze Viertel satt war, schob Lou das Bedürfnis vor, sich die Beine vertreten zu müssen und die Sonne genießen zu wollen, das Wetter war von Montag bis Freitag sehr schön; dann ging sie eine Viertelstunde spazieren, jedes Mal in eine andere Richtung, kaufte sich eine Tageszeitung und setzte sich in irgendein Café, um sie durchzublättern. Montag kaufte sie Libération am Kiosk am Ende der Rue Tronchet und studierte sie in der Empire Bar, an der Ecke Rue des Mathurins. Libération widmete der fürstlichen Trauerfeier sechs Seiten plus Titelseite. Sechs ganze Seiten über »Das letzte Bad der Prinzessin des Volkes in der Menge« und eine Drittelseite für Mutter Teresa und die »Staatstrauer für die ›Heilige‹ von Kalkutta«. Lou überflog alles, sie wollte es hinter sich bringen. Trotzdem sah sie den kleinen Blumenstrauß des kleinen Harry, der auf dem Sarg seiner Mutter lag, eine Kugel aus kleinen weißen Rosen, und auf dem Papier die Aufschrift: Mummy. Und was kann ich dafür?,
sagte sie sich immer wieder. Hab ich irgendwas damit zu tun? Sie ließ die Zeitung im Café liegen. In der Nacht hatte sie einen Traum. Zwei Millionen Knaben folgten dem Sarg, alle ernst und blond. Es roch nach Rosen, nach Millionen von Rosen. Im Sarg drinnen weinte Lou sich die Augen aus. Es war ihnen allen egal, sie würden sie begraben, mochte sie auch noch so weinen, es war so entschieden. Sie erwachte in kalten Schweiß gebadet.
Dienstag kaufte sie den Figaro. Dienstag, den Neunten. An einem Kiosk in der Avenue de l’Opéra. Dann setzte sie sich gleich nebenan hin, in die Bar Les Pyramides. Auf der Titelseite der Zeitung sprang ihr ein eingerahmter Artikel ins Auge: »Lady Di: Die Geheimnisse der Ermittlung«. Auf Seite 30 stellte die Zeitung »Acht Fragen zum Drama im Alma-Tunnel«. Zwei dieser Fragen betrafen Lou. Die Kripo schloss aus (»schloss angeblich aus«), dass ein Auto den Mercedes gebremst haben könnte, und der Leibwächter, der »Hauptzeuge«, würde seine erste Version der Ereignisse schriftlich darlegen (»würde angeblich darlegen«). Lou las und las die Zeilen wieder. Ihr Herz schlug heftig, ihr Verstand sagte ihr, dass gar nichts klar sei, weder das, was sie beruhigen, noch das, was sie bedrohen konnte. »Die Kripo schließt angeblich die Präsenz eines weiteren Autos aus, das den Mercedes gebremst haben könne.« »Trevor Rees-Jones wird seine erste Version der Ereignisse angeblich schriftlich darlegen.« In der folgenden Nacht träumte Lou, dass sie auf eine große Leinwand geworfene Fotos betrachtete. Sie selbst ließ die Bilder aufscheinen, indem sie in der Dunkelheit an einem kleinen Projektor hantierte. Und auf allen Fotos war sie selbst am Steuer zu sehen, von vorne, im Profil, alle auf dieser vier
mal vier Meter großen Leinwand. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck von entschlossener Fluchtbereitschaft, zusammengepresste Lippen, harte Augen. Mittlerweile träumte sie jede Nacht. Wenn sie aufwachte, waren diese Träume ihre ersten Gedanken. Die Alpträume waren so präsent wie die Angst des gestrigen Tages, die beim Erwachen plötzlich wieder da war. Sie brauchte mehr als eine Stunde, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es sich nur um Träume handelte, manchmal sogar den ganzen Vormittag. Im Radio wurde nicht mehr über den Unfall gesprochen, sondern über die Häuser von Palästinensern, die von israelischen Panzern zerstört wurden, von Massakern in Algerien, vom Erziehungsminister, der dreist die Lehrerschaft kritisierte und damit einen wahren Skandal provozierte. Lou hörte nicht hin. Ihre Alpträume übertönten die Journalistenstimmen, ihre Obsessionen das Radiogeplauder. Am Mittwoch kaufte sie Le Monde an dem Kiosk, der an die Seite des Grand Rex geklebt war, auf dem Boulevard Poissonnière. Das Wetter war noch immer schön, sie setzte sich mit dem Rücken zum Boulevard auf die doppelte Bank vor dem Gymnase-Theater. Und plötzlich verdunkelte sich alles. Der Unfall bedeckte die Titelseite, es ging wieder los, der Aufmacher lautete: »Die Ermittlungen zum Tod von Diana Spencer«. Darunter ein langer Artikel: »Dreißig Beamte der Kriminalpolizei von Paris führen ihre Ermittlungen zum Unfallhergang weiter«. »Einhundert Zeugen sind bereits vernommen worden. Falsche Enthüllungen und brodelnde Gerüchteküche begleiten die polizeiliche Arbeit«. Und drinnen eine volle Seite: »Diana. Tatsachen und Gerüchte«. »Selten hat ein Vorfall, der eigentlich in die Rubrik Vermischtes gehört, eine derartige weltumspannende Aufmerksamkeit hervorgerufen«, begann der Artikel. »Selten
ist eine polizeiliche Untersuchung von einer derartigen Lawine falscher Enthüllungen und wahnwitziger Gerüchte begleitet worden.« »Fünfzig ermittelnde Beamte«, »die Kripo«, »Gleichheit vor dem Gesetz«… »Immer wieder derselbe blutige Film«, »überhöhte Geschwindigkeit«, »ein Chauffeur im Stadium fortgeschrittener Trunkenheit«, »ein extrem harter Aufprall«. Die immergleichen Bilder, die immergleichen erbärmlichen Nebenrollen. Und ganz unten am Ende der zweiten Spalte: »Seit den ersten Tagen der Ermittlung ziehen die Beamten auch die Hypothese eines langsam fahrenden Autos ins Kalkül, das absichtlich oder unabsichtlich den Mercedes gezwungen haben könnte, plötzlich seine Fahrtrichtung zu korrigieren, bestätigen sie aber nicht«. »Ziehen ins Kalkül«, »bestätigen aber nicht«, las Lou noch einmal und versuchte zu verstehen, was das hieß. Es hieß, dass sie glaubten, dass es ein im Schneckentempo fahrendes Auto gegeben hatte, aber dass sie das nicht beweisen konnten. Eine Hypothese, nicht bestätigt, sagte sich Lou. Das heißt, dass sie kein Foto haben, auch keine wirklich genaue Zeugenaussage und weder die Marke noch die Autonummer kennen. Sie las weiter. Einer der Fotografen hieß Rat. Romuald Rat. Der war es gewesen, der Dianas Arme auseinandergefaltet hatte, um ihr Gesicht ins Visier zu nehmen. Im folgenden Absatz bremste Lou ihre Lektüre. »Warten auf die Aussage des Leibwächters«. Trevor Rees-Jones hatte sich die Zunge abgebissen. »Er ist nicht in der Lage zu sprechen, obwohl er bei Bewusstsein ist. Angesichts des Schocks und des Gedächtnisverlustes ist es nicht sicher, dass er eine genaue Erinnerung an die dem Unfall vorausgehenden Minuten hat.« Lou bemerkte plötzlich wieder den Sonnenschein über der Stadt und die Hitze auf ihren Schultern. Sie spürte, wie eine Art Euphorie ihr die Brust weitete. Trevor hatte keine Zunge
mehr, und auch wenn er etwas aufschreiben würde, war es gut möglich, dass er unter retrograder Amnesie litt. Die Gegenwart eines fahrenden Hindernisses war nicht bewiesen. Und nirgendwo auf dieser Seite war von ihr, Lou, die Rede. Von ihr, der Fahrerflüchtigen. Fast fünfzehn Tage nach dem Unfall, war der Name weder zu lesen noch zu hören. Lou wagte ihn nicht einmal im Geiste auszusprechen. Wenn sie ihn nicht sagte, würde auch niemand ihn hören können, und niemand würde ihn jemals kennen, vielleicht. Den restlichen Nachmittag und den ganzen folgenden Tag über war sie hin- und hergerissen von der Ungewissheit. Sie konnte wieder normal atmen. Aber sie war noch nicht erlöst. Es war ein wenig so, als hätte man ihr den Sack weggerissen, den sie über dem Kopf trug und der ihr Gesicht bedeckte, ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund verstopfte, und sie könnte wieder Luft schöpfen, bemerkte aber zugleich, dass sie gefangen saß in einer winzigen Zelle ohne Licht. Sie war frei, aber nicht freier als eine Maus, die die Katze einen Augenblick loslässt, um sich an ihren Bewegungen zu weiden, die lächerliche und dumme Maus, die gar nicht weiß, wo die Katze ist, die nicht versteht, was vor sich geht, und die noch immer nichts gesehen und verstanden haben wird, wenn die Katze sie schließlich mit dem entscheidenden Hieb niederstrecken wird. Mehrmals fragte Lou sich, ob es nicht besser für sie gewesen wäre, demaskiert zu werden. Was ihr fehlte und was sie ein für alle Mal daran hinderte, Ruhe zu finden, war ein Urteil, klar und deutlich. Entweder: Sie sind schuldig, oder: Sie sind unschuldig. Aber sie war weder das eine noch das andere, sondern die große Unbekannte des Dramas, die noch immer gesucht wurde. Die Suchlichter drehten sich noch immer um das Wrack des Mercedes, sie drehten sich in konzentrischen Kreisen, die immer weiter wurden. Sie tasteten jeden
Zentimeter Schatten ab. Mochte Lou auch immer noch nicht entdeckt worden sein, so presste sie sich doch weiterhin gegen die Wand.
Am Freitag bestätigte der Figaro die Ungewissheit. Auch hier stand jetzt »Der stumme Zeuge« auf der Titelseite, der Mann mit der abgebissenen Zunge, der sich nur »durch Wimpernschläge« verständigte. Alle Ärzte waren sich einig, »dass eine Amnesie dieses wichtigsten Zeugen nicht auszuschließen« sei. Die Polizei erwartete keine großen Erkenntnisse aus seiner Aussage. »Selbst wenn er sich an irgendetwas erinnert, erklärte einer der Beamten, würde eine solche Aussage fragwürdig bleiben. Man wird sich nicht zu 100 Prozent darauf verlassen können«. Das Hundegebell entfernte sich in eine andere Richtung. Zum ersten Mal vermochte Lou an so etwas wie eine wirkliche Chance zu glauben, dass man sie womöglich nicht finden würde. Ihr ganzes restliches Leben lang würde sie bei jedem Türklingeln aufschrecken. Zum zweiten Mal spielte sie mit dem Gedanken, sich selbst anzuzeigen. Sie träumte, sie würde in langen elastischen Schritten rennen, wie in einer Zeitlupe im Film. Sie war groß und blond, sie trug flache Schuhe, sie lachte. Sie ließ die ganze Meute von Fotografen weit hinter sich zurück. Das Ganze spielte sich in einem Park ab, es herrschte wunderbares Wetter, sie überquerte rennend einen leuchtenden Rasen. Aber dann trat sie in ein Loch und schlug lang hin. Sie konnte nicht mehr aufstehen, sie blieb da liegen, flach auf der Erde. Sie war wieder braunhaarig geworden und rundlich, und jetzt waren die Paparazzi über ihr, brüllend vor Lachen, und schossen zu Dutzenden ihre Fotos, und sie vermochte weder
sich umzudrehen, noch sich zu bewegen oder sich das Gesicht zu schützen. Nie in ihrem Leben hatte sie so viel geträumt. Sie träumte, sie läge in einem Sarg, mit offenen Augen und gefalteten Händen. Sie hatte stundenlang geweint, sie hatte keine Tränen mehr und keine Kraft. Dann öffnete sich der Deckel, ein Blitzlichtgewitter, das sie blendete. Die Paparazzi hatten sie gefunden, und ein wildes Gesumm ertönte: »Verbrecherin, Verbrecherin«. Sie schrie, aber es kam kein einziger Ton aus ihr heraus. Sie lebte in Angst, die immer weiter anstieg, obwohl, und das verstand sie nicht, die Dinge sich doch zu arrangieren schienen. Vielleicht lag es daran, dass sie nicht mehr wusste, wovor sie eigentlich Angst hatte. Während der halben Stunde, die sie morgens und abends in ihrem kleinen weißen Auto saß, hatte sie Magenkrämpfe vor Angst. Yvon verhielt sich weiterhin so, als hätte er nichts erraten. Sie hätte es lieber gesehen, er würde reden. Aber er sagte nichts. Natürlich hatte es etwas Unnatürliches, dass er seit dem Tag nach dem Ereignis kein einziges Mal über diesen Unfall geredet hatte, von dem jedermann redete, auch nicht von dieser Prinzessin, schließlich mag jeder Mensch Prinzessinnen, und auch nicht von jenem Diana-Effekt, der alle Leute in Erstaunen versetzte. Was Lou so anziehend an ihm gefunden hatte, als sie ihn kennen lernte, das war, dass er so unkompliziert war. Bis dahin hatte sie überhaupt niemand Unkomplizierten kennen gelernt, jemand wirklich Unkomplizierten, der sagte, was er dachte, tat, was er sagte, und an das glaubte, was er tat. Aber seit zwei Wochen verstand sie, dass sie sich getäuscht hatte: Auch er war nicht unkompliziert. Vielmehr sogar sehr kompliziert. Sie verstand nämlich, dass er janusköpfig war.
Er hatte zwei Leidenschaften, Segeln und Motorradfahren. Das Boot für die Stille und den Wind, und das Motorrad für die Technik. Niemals hätte er auf dem Meer ein Motorboot bestiegen, genauso wenig wie er auf dem festen Land Fahrrad gefahren wäre. Und er hätte nicht verstanden, wenn jemand diese beiden Leidenschaften gegeneinander aufgerechnet hätte. Wo ist das Problem?, hätte er gefragt. Das Problem war, dass dieser Mann ein Festland- und ein Meeresgesicht hatte. Dieser nette, dieser extrovertierte Junge hatte nämlich auch etwas still Berechnendes. Lou konnte sich ihm nicht anvertrauen. Und sie ertrug es nicht länger, nicht zu wissen, wie viel er wusste. Sie glaubte, dass er Bescheid wusste. Sie verstand nicht, warum er dann nichts sagte. Sie konnte dieses Schweigen nicht mehr ertragen, das an ihrer Seite lebte, diese ständige gespannte Ruhe, diese entsetzliche Macht über sie. Sie hatte Angst vor ihm. Das Einzige, was sie von ihm wusste, war, dass er lieber so tat, als wisse er nichts. Bloß warum? Mit welcher Absicht? Um Lou zu schonen? Damit sie zusammenbrach und gestand? Um sie zu halten?… Um sich zu schützen? Sich zu desolidarisieren? Und ab und zu, in manchen Augenblicken, aber immer seltener, fragte sie sich, ob er im Grunde nicht vielleicht tatsächlich nichts ahnte. Diese Momente entfernten sie voneinander. Denn in ihnen begriff Lou, wie fremd sie einander waren. Sie war einer Sache entkommen, der sie eigentlich gar nicht hätte entkommen dürfen, und er wusste nichts davon. Wie sollte sie weiterhin das Leben von jemandem teilen, der ihre Geschichte nicht kannte, ihre einzige Geschichte? Und den sie ihrerseits nicht gut genug kannte, um ihm Vertrauen zu schenken?
Am Samstag, den 13. fuhr Yvon mit dem Motorrad nach La Rochelle. Es war die Woche des Hafenfestes, und Yvon verpasste kaum je eine Bootsausstellung. Lou wollte ihn nicht begleiten. Ich dachte, du wolltest außerhalb des Alltagstrotts mit mir zusammen sein?, sagte er. Dachte ich auch, antwortete sie. Sie hatte das Bedürfnis, alleine zu sein. Zwei Tage lang alleine, sie wusste nicht, warum. Vielleicht um Samstag gegen Mitternacht alleine zu sein – am Sonntag um null Uhr zwanzig, wollte sie sagen. Und wirklich stellte sie um Mitternacht am Samstag die Reisetasche in den Schrank zurück, die sie mittags auf den Esstisch gestellt und dann den ganzen Nachmittag nicht mehr angesehen hatte. Wegzugehen, das war eine der wenigen Sachen, die in ihrer Macht standen, aber zweifelsohne nicht die cleverste. Lou kam immer wieder auf diesen Punkt zurück: Weggehen hieß auf sich aufmerksam machen. So dass die, die nichts verstanden hatten, nun plötzlich alles verstehen würden. Es hieß, ein Geständnis abzulegen. Besser, sie hielt sich an ihre andere Alternative, die härter war und mehr Mut verlangte: nichts zu tun, nichts zu verändern; ganz genauso, wie ein Mädchen sich verhalten würde, das mit der ganzen verdammten Kiste nichts am Hut hätte. Am Sonntagabend, als Yvon zurück war, brachte Lou ihn dazu, ein wenig von seiner Spritztour zu erzählen. Sie hatte ein Risotto gemacht. Diese Bootsausstellungen sind immer nett, sagte Yvon. Ich hab ein paar Prototypen gesehen und Kumpels getroffen. Und dann plötzlich, wie etwas, an dem man schon lange rumkaut und das man sich nun entschlossen hat, heute unbedingt noch loszuwerden: Du hast dich verändert, Lou. Du hast dich ganz plötzlich verändert, und ich kann dir sogar
sagen, seit wann. Das ist an dem Tag des Unfalls von Lady Di passiert. Da hast du einen ganzen Sonntag lang im Bett gelegen, und danach bist du nicht mehr dieselbe gewesen. Lou stand auf, ging zu ihm, verstrubbelte ihm das Haar und sagte: Was erzählst du denn da? Und entschloss sich im selben Moment, sich von ihm zu trennen. Sie hatte Mühe, mit normaler Stimme zu sprechen, denn sie war sich zum ersten Mal sicher, dass sie ihn liebte.
Die halbe Nacht lang grübelte sie. Sie konnte ihn nicht vor die Tür setzen. Am besten wäre es, er würde von sich aus das Weite suchen. Aber er machte nicht den Eindruck, dergleichen vorzuhaben. Sie musste ihn dazu bringen, dass er von alleine ging. Sie kannte die Strategie dafür, einfach widerlich sein, bis er genug hatte. Aber ihr graute vor dieser Vorgehensweise, vor dem Prinzip und mehr noch vor der Durchführung, vor den nötigen Worten und Gesten. Heiß, kalt, heiß, kalt. Dann kalt, kalt, heiß, wieder kalt. In der dritten Septemberwoche schloss die Falle sich um Lou. Die erste Warnung fand sich am Montag im Figaro. Montag, der 15. Untersuchungsrichter und Polizisten machten sich bereit »in die dritte Ermittlungswoche einzusteigen«, sagte der Artikel. Die dritte Woche, durch die ich kriechen muss, dachte Lou. Trevor Rees-Jones ging es nicht gut, er konnte sich noch immer nicht verständigen. Bis es so weit war, sollte der Mercedes zum Sprechen gebracht werden. »Die Experten werden das Fahrzeug in den nächsten Tagen komplett auseinander nehmen. Momentan«, ließ die Zeitung verlauten, »ist auf der Karosserie lediglich eine verdächtige Spur festgestellt worden, ein Kratzer, über dessen Ursache noch Unklarheit besteht.« Doch stand die Expertise erst am Anfang. Man würde schon noch sehen, was dabei herauskam.
Dienstag konnte man noch nichts sehen. Auch am Mittwoch nur wenig. Trevor würde reden, das war für Freitag vorgesehen. Und dann am Donnerstag schnappte die Falle mit einem Knall zu. Der Figaro titelte zwar: »Der Tod von Lady Di: die undeutliche Spur des zweiten Autos«, aber zum ersten Mal war die Spur deutlich. »Noch immer überprüft die Polizei die Hypothese des ominösen fahrenden Hindernisses das die schnelle Fahrt des Mercedes verhängnisvoll gestört haben könnte«, stand da zu lesen. »Dem kriminologischen Institut der Gendarmerie ist es gelungen, die Herkunft des Splitters einer Rückleuchte zu klären, der im Alma-Tunnel gefunden wurde. Es handelt sich um das Bauteil eines Fiat Uno.« Fiat Uno. Der Name war gefallen. Es war viertel vor drei, als Lou diese Worte schwarz auf weiß da stehen sah. Auch an diesem Tag strahlender Sonnenschein. Sie kehrte um, um vom selben Kiosk, wo sie gerade den Figaro gekauft hatte, auch Le Monde zu holen. Le Monde war noch nicht eingetroffen. Stattdessen nahm sie die Libération vom Morgen. Und Libération bestätigte nicht nur die Nachricht des Figaro, sie detaillierte sie sogar. Die Zeitung widmete ihr eine gute halbe Seite. »Indiziensplitter vom Unfall im Alma-Tunnel«, lautete der Titel in großen Lettern. Und der Untertitel, kaum weniger mächtig: »Die Polizei sucht nach einem Fiat Uno, der von Lady Dis Mercedes gerammt worden sein könnte.« Lou hörte Yvons Stimme: Du hast dich ganz plötzlich verändert. Seit dem Tag des Unfalls von Diana. Marie-No: Ich hab dich in einem neuen Auto gesehen. Der Artikel war mehr als eindeutig: »Die Überprüfung der rund um das im Alma-Tunnel bei einem Unfall zerstörte Autowrack eingesammelten Teile beweist, dass die Splitter des roten Rücklichts nicht zu dem Mercedes von Dodi Al-Fayet
und Lady Diana gehören, sondern zu einem nicht identifizierten Fiat Uno. Die Experten des kriminologischen Instituts der nationalen Gendarmerie haben darüber hinaus einen Kratzer und Lackspuren auf dem vorderen rechten Kotflügel des Mercedes festgestellt. Die genaue Analyse dieser Indizien kann bis zu einem Monat in Anspruch nehmen.« Einen Monat halte ich nicht durch, dachte Lou. Kommt nicht in Frage, dass ich weiterhin mit dem Fiat Uno fahre. Und warum überhaupt ein Monat?, fragte sie sich. Was wollte das heißen? War das eine versteckte Warnung an den Fahrer des Fiat in der Art von: Sie haben einen Monat, um sich zu erkennen zu geben, danach werden wir Sie suchen? Ein Monat… Was gab es denn da noch zu analysieren? Sie wussten doch schon alles: dass das Rücklicht zu einem Fiat Uno gehörte, dass es Lackspuren auf dem rechten vorderen Kotflügel des zerkratzen Mercedes gab. Sollte sie ihnen denn noch eine Zeichnung anfertigen? »Alle Besitzer eines Fiat Uno, der irgendwann von einem Mercedes 500 angefahren wurde, sollten sich bei der Polizei melden«, schlug einer der Ermittler vor. Da kannst du lange warten, dachte Lou entschlossen. Sie war verwundert darüber, dass sie nicht zusammenbrach. Diesmal war das Gebell ganz nah, und trotzdem konnte sie halbwegs atmen. Vielleicht weil sie sich tage- und wochenlang innerlich auf diesen Augenblick eingestellt hatte. Und bestimmt auch, weil sie etwas zu tun hatte, sie hatte einen Aktionsplan, den sie genau durcharbeiten musste, und zwar schnell. Sie stand im Sonnenlicht, die gefalteten Zeitungen unterm Arm. Was sie zu tun hatte, war, den Fiat loszuwerden, sich von Yvon zu trennen und Viroflay zu verlassen. Das war alles zur gleichen Zeit machbar, wenn sie einfach abhaute. Und am
allereinfachsten ging das zunächst einmal, indem sie mit ihrem Fiat wegfuhr, um ihn nicht zurückzulassen. Sie spielte mit dem Gedanken, sofort zur Tat zu schreiten, ohne noch einmal ins Restaurant zurückzukehren, entschied aber dann, eher den Abend abzuwarten und im Strom der Pendler den Weg zurück nach Viroflay zu nehmen. Es war die Angst, die sie steuerte, die Angst eines diebischen Kindes, das sich vorstellt, alle Welt würde auf der Straße nur auf es starren. Sie wäre nicht fähig gewesen, ganz alleine eine leere Straße entlang zu fahren. Den Nachmittag über bei Angela sagte sie praktisch keinen Ton. Ihre Hände verrichteten ihre Hände-Arbeit, in diesem Falle das Bügeln von zwanzig Tischdecken, und danach eine Ofenladung von Maronen-Törtchen; währenddessen war ihr Geist mit der Flucht beschäftigt. Sollte sie noch an diesem Abend weggehen? Vielleicht besser nicht, dachte Lou. Denn Eile war nicht alles, es ging vor allem darum, diskret vorzugehen, Yvon wie Viroflay zu verlassen, ohne dass es ganz offenkundig nach einer Flucht aussah, und hinterher das Auto loszuwerden, ohne dass es Zeugen gab. Die Dinge richtig machen, ohne Hast. Sie gab sich vierundzwanzig Stunden. Wegzugehen, ohne genau diesen Eindruck zu erwecken, war nicht schwierig. Viel schwieriger dagegen – und das beschäftigte Lou den ganzen Nachmittag –, war es, ein Auto verschwinden zu lassen. He! rief Marie-No von der Türschwelle der Küche, hörst du mir eigentlich zu? Ich hab dich gefragt, ob du noch lange brauchst. Nein, nein, sagte Lou. Komme schon. Also. Den Fiat loswerden. Lou hatte das Gefühl, sich an dieser Frage schon seit drei Wochen die Zähne auszubeißen. Ihn verkaufen hieß, auf sich aufmerksam zu machen. Ihn verschenken ganz genauso, und vielleicht noch mehr. Damit
ins Ausland fahren? Das bedeutete, eine Kontrolle am Grenzübergang zu riskieren. Und dann: Was hieß schon ins Ausland? Wenn es irgendeinen Unfall gab, der auch außerhalb von Frankreich Wellen geschlagen hatte, dann der vom AlmaTunnel. Die ausländische Presse druckte noch das kleinste Indiz nach, das in Paris entdeckt worden war, und bereits jetzt mussten die Worte »Fiat Uno« jede ausländische Polizei mobilisiert haben. Schließlich funktionierte Interpol ja gut. Dann gab es noch die Möglichkeit, ihn nachts irgendwo in der Walachei abzustellen. Oder besser noch in einem Wald. Und nicht vergessen, die Nummernschilder abzuschrauben. Aber Lou erinnerte sich, dass die Nummer, die es ermöglicht, ein Auto zu identifizieren, in bestimmte Teile des Motors eingraviert ist, und sie wusste nicht mehr, in welche. Nein, die Krimis hatten schon Recht, die einfachste und wahrscheinlich auch einzige Lösung war, das Auto im Wasser zu versenken. Bis jetzt hatte sich Lou für unfähig gehalten, so etwas zu tun. Aber an diesem Nachmittag, mit dem Rücken zur Wand, war sie bereit, es zu versuchen. Ich komme schon, sagte sie noch einmal. In zwei Minuten. Sie würde es nachts probieren. Sie müsste Paris verlassen, die Seine entlang fahren, oder die Marne, und irgendein verborgenes Eckchen finden. Aber gab es das überhaupt noch in der Pariser Region, verborgene Eckchen? Und selbst wenn Lou eines fände, woher sollte sie dann wissen, wie tief der Fluss an dieser Stelle war? Das Risiko, den Fiat in einem Meter tiefem Wasser zu versenken, konnte sie nicht eingehen. Ich werde schon was finden, dachte sie. Ich finde immer was. Zunächst einmal fahre ich nach Viroflay zurück. Dann studiere ich die Straßenkarten. Es gibt ja auch Seen. Ach ja, der große See zum Beispiel, auf dem Yvon und sein Bruder 505 segeln wollen, Moisson-Labacour.
Sie klappte ihr Bügelbrett zusammen, stellte es in den Schrank zurück und ging in die Küche zu Angela und MarieNo, wo fünf Kilo Maronen sich dagegen wehrten, geschält zu werden, hartnäckige kleine Korsen, die sie waren. Man muss die braune Schale mit dem Messer entfernen und dann die feine dunkelbraune Haut, die jeden kleinsten Wulst dieser böswilligen Miniatur-Gehirne bedecken, vorsichtig vom Fruchtfleisch trennen. Mit einem Mal kam Lou die Erinnerung ans Kap Canaille wieder, in der Nähe von Cassis. Sie war da zwei-, dreimal hochgefahren, während der vier Jahre, die sie im Midi gelebt hatte mit ihrer Mutter. Angeblich war es das höchste Kap Frankreichs, eine vierhundert Meter hohe Klippe, hieß es, die direkt ins Meer abfiel. Eine extrem schöne Straße führte dort hinauf. Lou erinnerte sich, dass sie noch ein paar Dutzend Meter gegangen war, um das Meer zu entdecken, am Ende der Straße, und das Gejammer ihrer Mutter: Geh nicht weiter, das ist gefährlich! Und wirklich: Ein Schritt zu viel, und man fiel vierhundert Meter runter. Es war kaum möglich, auf das Meer hinabzublicken, ohne dass es einem schwindelig wurde, und auf die Brandung, von der kein Geräusch bis nach oben drang. Wie man erzählte, kannte die Marseiller Unterwelt den Ort wie ihre Westentasche, denn er war ideal, um ein kompromittierendes Auto ins Meer zu stürzen. Lou sah vor ihrem geistigen Auge die Örtlichkeiten wieder, die wirklich ideal waren: Eine nagelneue Straße, die bis zum Gipfel der Klippe führte. Ein flaches, grasbewachsenes Stück, auf dem ein Auto weiterrollen konnte, auch ganz alleine, wenn nötig. Dann die Klippe, das Meer. Unten kein Strand, und kein Gefälle, um den Sturz zu bremsen. Eine perfekte Vertikale. Woran denkst du, Lou?, fragte Angela. Und mit dem kleinen spitzen Messer, das sie in der rechten Hand hielt, schnitt Lou sich tief in die Oberseite ihres linken Zeigefingers.
Nachdem sie sie verbunden und gezwungen hatte, einen Schluck von ihrem entsetzlichen Feigenschnaps zu trinken, sie auf eine der Bänke des Speiseraums gelegt und mit einer Decke gewärmt hatte, legte Angela ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: Läuft nicht so rund, dieser Tage, hm? Nein, antwortete Lou, ohne die Augen zu öffnen. Machte sie dann auf und sagte: Ich brauche ein bisschen Ruhe. Angela, meinen Sie, ich könnte acht Tage Urlaub nehmen? Hab schon selbst dran gedacht, sagte Angela. Wann immer du willst. Ab heute Abend?, fragte Lou. Kein Problem, versicherte Angela ihr. Das Restaurant läuft wieder im Takt. Und Marie-No kommt jetzt auch zurecht. Also schlaf dich acht Tage lang aus.
Am Abend kam Yvon in sehr angeregter Stimmung nach Hause. Sein Chef hatte ihm eine Einladung für den Start der Whitbread überlassen, die am Sonntag in Southampton begann. Der was?, fragte Lou. Der Whitbread, der schönsten von allen Hochsee-Regatten, erklärte Yvon. Die er selbst gerne eines Tages mitgesegelt wäre, eine Weltumrundung mit Mannschaft ohne Zwischenstopp. Die Teilnehmer starteten in Southampton, dem Mekka des englischen Segelsports, einem wunderbaren Örtchen an der Südküste. Und die Einladung, die Gérard ihm geschenkt hatte, beinhaltete auch eine Fahrt auf dem Begleitboot, das den Seglern ein ganzes Stück weit hinaus folgen würde. Lou brachte es nicht übers Herz, einer solchen Freude die kalte Schulter zu zeigen. Sie verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. Das ist verlockend, sagte sie. Und wie kommt man nach Southampton? Per Motorrad, sagte Yvon und nahm sie
einen Augenblick lang in den Arm. Man überquert den Kanal im Hovercraft, das sind von Paris aus gerade drei oder vier Stunden. Ob ich eines Tages wieder aus einem Guss sein werde?, fragte sich Lou. Aus einem einzigen Stück, ohne diese Geheimschubladen und -fächer? Yvon hatte den Verband auf ihrer linken Hand nicht bemerkt. Sie sagte nichts von ihrer Woche Urlaub. In der Nacht beschloss sie, den Freitag damit zu verbringen, die Ufer der Seine zu erkunden, Richtung Westen, so weit wie nötig. Sie wachte auf, wiederholte sich ihren Plan, schlief wieder ein. Der eine Tag müsste genügen. Sie würde die Nacht abwarten, um ihren Fiat verschwinden zu lassen. Und falls ihr erster Plan sich als unrealisierbar herausstellte, falls sie keine Ecke finden würde, die vor allen Blicken geschützt und dennoch mit dem Auto zu erreichen wäre, dann würde sie keine zusätzliche Zeit mit weiterem Herumsuchen vertun, sondern es mit dem Kap Canaille versuchen. Sie würde noch am selben Tag über die Autoroute du Sud bis nach Cassis hinunterfahren. Samstag im Morgengrauen wäre sie am Ziel. Mit ein bisschen Glück könnte sie alles vor Sonnenaufgang erledigen. Sie sah sich bereits zu Fuß durch den Maquis hinabgehen, bis zu dem kleinen Bahnhof von Cassis. Sie würde den ersten Zug Richtung Osten nehmen. In Cannes oder Nizza würde sie Arbeit suchen. Das war eine Gegend voller Restaurants, und außerdem nahe an der italienischen Grenze.
II
Sie tat so, als würde sie noch schlafen, als Yvon aufstand. Er gab ihr im Gehen einen Kuss in den Nacken. Das Wetter wird gut, flüsterte er. Scheint die Sonne?, fragte Lou, das Gesicht im Kissen vergraben. Ich rede von Sonntag, sagte Yvon. Es soll etwas Wind geben über dem Kanal, wir werden unseren Spaß haben. Bis heut Abend. Lou hörte die Wohnungstür zuschlagen. Sie stand auf, zögerte, das Bett zu machen, machte es dann. Es war halb neun. Heute Abend käme sie nicht nach Viroflay zurück, ob sie nun die Lösung Seine gewählt haben würde, oder nicht. Sie holte die Reisetasche aus ihrem Versteck. Das Wetter war wie im Sommer. Sie war entschlossen, so schnell wie möglich zu machen und sich nicht mehr lange umzusehen. Was ist das schon groß: Sachen, Möbel – das hatte sie sich in der Nacht mehrmals gesagt und sagte es sich auch jetzt wieder. Sie schaltete das Radio nicht an. Es gab Wörter, die zu hören sie nicht hätte ertragen können, im Übrigen brauchte sie ihre ganze Konzentration. Andererseits wusste sie, dass sie auch die Stille nicht sehr lang würde ertragen können. Sie zog wieder die Sachen an, die sie gestern getragen hatte und die über eine Stuhllehne gelegt waren, eine hellbeige Hose, ein schwarzes, kurzärmliges Baumwollhemd. Während sie sich ankleidete, überlegte sie, ob es klug wäre, ihre Suche am Steuer ihres Fiat zu unternehmen. Jemand konnte sie beobachten, wie sie die Seine-Ufer in Augenschein nahm. Und selbst wenn das an diesem Tag nicht weiter verdächtig erschiene, so würden die Zeugen sich doch später,
wenn es eine Suchmeldung gäbe, daran erinnern können. Sag mal, war das nicht ein Fiat Uno, den wir da am Freitag gesehen haben und der den Treidelpfad entlang rollte? Mir wird schon was einfallen, dachte Lou. Es war ihr bereits eingefallen. Sie würde ihren Wagen den Tag über in Saint Germain-en-Laye stehen lassen oder in Poissy, in der Nähe des Bahnhofs. Die SNCF verlieh doch Fahrräder. Sie würde ihre Ortsbesichtigung per Fahrrad machen. Der tiefe Schnitt in ihrer Hand würde hinderlich sein, auch egal. Niemand würde sich Gedanken über eine junge Frau auf einem Fahrrad machen, die an einem schönen Septembertag die Seineufer entlang fuhr. Sie steckte die Michelin-Straßenkarte »Paris Umgebung« in die Tasche, prüfte nach, ob ihr Vorrat an Bargeld auch in der Umhängetasche war, und blieb dann stehen. Sie hatte sich vorgenommen, zum Abschied keinen Brief zu hinterlassen, aber jetzt im Hinausgehen, schien ihr auch das unvorsichtig. Yvon konnte glauben, es sei ihr irgendetwas passiert, und eine Suchmeldung rausgeben. Aber von denen schwirrten schon genug rum. Sie holte Notizblock und Kuli aus der Küche und setzte sich an den Esstisch. Ein paar Sekunden lang durchlief ein Beben ihren Kopf und Oberkörper. Das war jetzt nicht der Moment für Zärtlichkeiten. In einem Zug schrieb sie: Lauf mir nicht hinterher. Bitte, fügte sie noch hinzu. Dann erhob sie sich rasch, riss den Zettel heraus und legte ihn deutlich sichtbar neben den Block auf den Tisch. Dann nahm sie ihre beiden Taschen auf, zog den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche und öffnete die Wohnungstür. Louise Leroy?, sagte eine Männerstimme aus der Dunkelheit. Das Licht ging an, und Lou erkannte, vor ihr stehend, den Mechaniker mit dem scharf geschnittenen Gesicht aus der Werkstatt in Saint-Cyr.
Sie zog die Tür hinter sich zu. Was wollen Sie?, fragte sie mit falsch klingender Stimme. Was ich will?, sagte er. Erkennst du mich denn nicht wieder? Ich erkenne Sie sehr gut wieder, sagte sie und versuchte sich zu fassen. Warum duzen Sie mich? Achte nicht drauf, sagte er, ich duze jeden. Was ich will? Na komm schon… Fällt dir da nicht irgendwas ein? Absolut nicht, sagte sie. Lassen Sie mich vorbei, ich muss zur Arbeit. Der Mann blickte demonstrativ auf die Reisetasche in Lous Hand. Und das da, sagte er. Um dich zu verdünnisieren? Ich müsste auch auf der Arbeit sein. Gibt halt so Tage, wo man verhindert ist. Das kommt vor. Lou drehte sich halb um und klingelte an ihrer Tür. Ich rufe meinen Mann, drohte sie. Der andere grinste ironisch. Dein Mann ist nicht da, sagte er. Ich hab ihn um halb neun wegfahren sehen, wie üblich, auf seiner Yamaha. Außerdem ist er gar nicht dein Mann. Ich hab mich ein bisschen erkundigt. Ich kenne die Öffnungszeiten seines Geschäfts, neun Uhr – neunzehn Uhr, ich habs mir mal angesehen, »Boatique« in Montrouge. Aber gehen wir ruhig rein, gute Idee. Da können wir besser plaudern. Lou bekam Angst, jemand könnte ihnen zuhören und schloss die Tür auf. Ihre Hand zitterte. Der Mann folgte ihr, schloss die Tür hinter sich. Er roch nach Leder, Schweiß, Tabak. Lou stand ihm gegenüber, neben dem Tisch. Sie hätte schwören können, dass er ein Messer bei sich hatte. Keine Panik, sagte er zu ihr, ich will dir nichts tun. Nur dass ich eben weiß, wer am Steuer des fahrenden Hindernisses gesessen hat, das die gesamte Polizei sucht, in der Nacht vom 30. auf den 31. August bei der Einfahrt zum Alma-Tunnel. Wir sind vermutlich nicht allzu viele, die das wissen. Und das finde ich schade, denn es gibt einen Haufen Leute, die gerne Bescheid wüssten darüber.
Was hab ich damit zu tun?, sagte Lou. Lass mich zu Ende reden, sagte der Mann. Und fang nicht an rumzuflippen, ich verlang ja nicht von dir, dich bei der Polizei anzuzeigen, ich hab nichts am Hut mit den Bullen, ich auch nicht. Nein, das Einzige, was ich will, ist, dass du mit mir kommst, um alles einem Typen von Paris-Match zu erzählen, und zwar für eine Million Francs, die wir dann teilen werden, du und ich, bevor wir für immer auseinander gehn. Drei Viertel für mich, weil ich die Idee hatte, ein Viertel für dich, damit du irgendwo komfortabel ein neues Leben anfangen kannst. Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie da erzählen, sagte Lou rascher, als sie es hätte tun sollen. Ich habe mit diesem Unfall nichts zu tun. So verlieren wir nur Zeit, sagte der Mann langsam und gesetzt. Kannst du mir denn sagen, wo du dein linkes hinteres Rücklicht zerdeppert hast in der Nacht zum 31. August? Und deine Karosserie zerkratzt? Ich habe mein Auto am Montagmorgen in diesem Zustand gefunden, sagte Lou. Das hat irgendjemand in der Nacht so hinbekommen. Ich hatte es draußen stehen lassen. Aber natürlich, sagte er. Ein Auto, das du immer unten in der Garage abstellst… An dem Abend des Unfalls war ich zu Hause, sagte sie. Hier. Samstags arbeite ich nicht, da habe ich Ruhetag. Du arbeitest nicht, außer ausnahmsweise, verbesserte er sie. Bemüh dich nicht, ich bin auf dem Laufenden. Es stimmt nämlich nicht ganz genau, dass du samstags nicht arbeitest. Du arbeitest jeden zweiten Samstag, und nur vormittags, aber ausnahmsweise auch mal den ganzen Samstag, an den Tagen nämlich, wo Angela abends öffnet für irgendein Fest. Und zufälligerweise fand am Samstagabend, den 30. August, bei »Angela« eine Geburtstagsparty statt. Mit 3 5 Gästen.
Ich weiß nicht, wovon Sie reden, sagte Lou. Ich verstehe kein Wort. Sie sah, wie die Augen des Mannes in seinem Indianergesicht schmaler wurden. Wenn du die Sache so nimmst, sagte er, dann werden wir beide zu den Bullen gehen und aussagen, dass der Fiat Uno mit dem Kennzeichen 1904VK92 am Montagmorgen, dem ersten September, ein zersplittertes linkes Rücklicht und eine zerkratzte linke Flanke hatte. Das ist alles. Ich hab nicht vor, den ganzen Tag hier zu verbringen. Ach ja, ich werde auch noch aussagen, dass die Eigentümerin, Louise Origan, in der Werkstatt einen falschen Namen angegeben hat. Lou wusste nicht mehr, was sie antworten sollte. Sie sah den Zettel aus dem Notizblock, den sie für Yvon dagelassen hatte, mitten auf dem Tisch liegen und drehte ihn um. Du musst wissen, dass ich im Besitz eines Papieres bin, das Gold wert ist, fuhr der Indianer fort. Ein Papier, das Beweiskraft hat. Mein Chef hat einen Spiralblock, in den er jeden Tag alle Autos einträgt, an denen wir arbeiten, die Marke, die Autonummer, den Namen des Besitzers. Eine Seite pro Tag. Er klopfte mit der flachen Hand auf seinen braunen Lederblouson, auf Höhe des Herzens. Ich habe die Seite vom 1. September, mit allem drauf, was eine Menge Leute interessieren dürfte: Fiat Uno, Kennzeichen 1904VK2, repariert hinteres linkes Rücklicht, Lackretuschen linke Seite, Louise Leroy… Dann rede ich noch lieber mit den Bullen, sagte Lou. Na endlich, sagte der Indianer, hörst du auf, das Dummchen zu spielen. Und jetzt glaubst du, dass ich dich brav beim nächsten Polizeirevier abliefere? Du glaubst, dass du hier die Befehle gibst? Irrtum. Bei mir wirst du zwei, drei Tage gehorchen müssen, meine Große. Wir werden doch keine
Information verschenken, die eine derartige Summe einbringen kann. Ich will keine Journalisten sehen, sagte Lou, ich will nicht, dass man mich fotografiert. Weil du glaubst, wenn du zu den Bullen gehst, wärst du sicher vor den Journalisten?, sagte der Indianer. Da liegst du aber schief. Wenn du der Polizei deine Geschichte erzählst, werden sie dich nicht nur wegen Fahrerflucht und unterlassener Hilfeleistung verurteilen, und das allein wird schon auf ein paar Jährchen hinauslaufen, sondern es wird auch einen Riesenwirbel um deine Person geben. Das werden die Bullen sich doch nicht entgehen lassen! Die brauchen auch Geld, was glaubst du denn? Du wirst für den Rest deines Lebens die Presse auf dem Buckel haben. Stell dir das doch mal vor: Das Mädel, das den Tod von Lady Di verschuldet hat! Und es wird die gesamte Presse sein, die dich verfolgt, die Journalisten der ganzen Welt. Während du in meinem Plan der Star einer einzigen Reportage bist, und damit basta und Schluss. Wir organisieren das so, dass wir uns schnell verdünnisieren können, wenn wir unsere Geschichte ausgespuckt haben. Du baust dir irgendwo ein anderes Leben auf, husch, weg bist du, und keiner merkt was. Kann dir übrigens einen Tipp geben, um an einen brandneuen Pass zu kommen – bisschen kostspielig, aber sehr effizient, sehr schnell zu haben… Und, du sagst nichts? Ich muss nachdenken, sagte Lou. Sie setzte sich an den Tisch, lehnte sich im Stuhl zurück, ließ die Arme hängen. Sie fühlte sich am Boden zerstört, völlig leer im Kopf. Denk ruhig nach, sagte der Indianer. Mir kommt’s nicht auf fünf Minuten an. Er lehnte sich ans Fenster, hatte die Augen auf sie gerichtet.
Ihr Plan taugt nichts, sagte Lou, ohne ihn anzusehen. Ist Ihnen nicht klar, dass alle Leitungen von Paris-Match abgehört werden? Die Polizei wird den Journalisten beschatten, und dann werden wir alle beide eingebuchtet, ich für… und Sie für Kidnapping, Körperverletzung… Du hast es hier nicht mit einem Anfänger zu tun, sagte der Mann. Ich weiß ganz gut, welche Vorsichtsmaßnahmen man ergreifen muss. Aber du hast Recht, du wirst deine Sensationsmeldung bestimmt nicht am Telefon ausspucken. Wir werden uns verabreden, du, ich und der Journalist, und dann in einem ruhigen Eckchen ein bisschen zusammensitzen. Da erzählst du dann deine Geschichte. Deinen Namen musst du nicht angeben, du kannst ja Louise Leroy sagen, oder was immer du willst. Ich nehme an, der Typ wird mitschneiden und ein paar Fotos machen. Lou schüttelte den Kopf, den Blick immer noch geradeaus auf den Tisch gerichtet. Das reicht jetzt, sagte der Indianer und durchquerte das Zimmer. Genug nachgedacht, jetzt gehen wir. Wir hauen in deinem kleinen Fiat ab. Lou schien plötzlich wieder wach zu werden. In diesem Fiat können wir nicht fahren, sagte sie, den muss man so schnell wie möglich verschwinden lassen. Verschwinden, verschwinden, sagte der Indianer. Stimmt schon, ist nicht der Moment, sich da drin sehen zu lassen. Andererseits ist die Karre aber auch Gold wert, also werden wir sie nicht vollständig verschwinden lassen. Wir werden sie nur sehr gut verstecken, denn schließlich besteht ja die Möglichkeit, dass ich sie noch mal brauche, als Beweisstück. Stell dir vor, der Journalist ist misstrauisch und will Beweise sehen… Oder dir gelingt es, mir zu entwischen, schon schreib ich ein kleines Briefchen an die Bullen: Wollt ihr wissen, wo der Fiat steht? Nichts einfacher als das…
Lou reckte sich hoch und sah ihm in die Augen. Ich hab Ihnen einen anderen Vorschlag zu machen, sagte sie. Sie geben Ihren Plan auf und ich… ich gehöre Ihnen. Der Indianer lachte laut auf. Ist sie nicht süß! Er schüttelte den Kopf. Du bist im falschen Film, Püppchen. Ich will dir ja nicht den Kostverächter vorspielen, aber wenn du glaubst, du kriegst mich auf diese Weise rum, dann kennst du mich schlecht. So, und jetzt Beeilung. Ach ja, eine Sache noch, bevor wir ausfliegen. Der Zettel. Der Abschiedsbrief. Er hatte das Stück Papier umgedreht und las, was Lou ihm hatte verheimlichen wollen. Das ist ja perfekt, sagte er, und legte den Zettel wieder gut sichtbar auf den Tisch. Ich hatte vorgehabt, dich drei Zeilen an deinen Macker schreiben zu lassen, damit er sich nicht grundlos ängstigt, aber ich sehe, du hast die gleiche Idee gehabt. Ich selbst hätte dir nichts anderes diktiert. Ich hab vergessen zu unterschreiben, sagte Lou, zog den Zettel zu sich und schrieb Louise darunter. Sie hatte den Kuli noch nicht wieder hingelegt, da empfing sie einen Faustschlag gegen die Schulter, der sie fast vom Stuhl geworfen hätte. Du willst mich verarschen, sagte der Indianer mit plötzlich böser Stimme. Du trägst ein bisschen dicke auf. Jetzt machst du mir das Ganze noch mal und unterschreibst mit Lou, und nicht mit Louise. Ich hab dir doch gesagt, ich hab mich ein bisschen schlau gemacht. Er hatte sich das Papier geschnappt. So, sagte er, schnell jetzt. Ich finde langsam, dass wir hier Moos ansetzen. Sehn Sie denn nicht, dass ich zittere, sagte Lou. Wenn Sie wollen, dass es schnell geht, hören Sie auf, mir Angst zu machen. Na mach, sagte der Indianer in einem weniger brutalen Ton. Du schreibst dasselbe noch mal. Lou schrieb erneut die Worte, die hatten weh tun sollen, und die ihr nun weh taten. Der
Indianer verglich die beiden Zettel. Du hast deine Schrift nicht verändert, bemerkte er, gut so. Er verknüllte ihren Zettel und steckte ihn in seine Jeanstasche. Bleib sitzen, sagte er. Ich schau nach, was du in dein Bündel gesteckt hast, und dann hauen wir ab. Er öffnete die Reisetasche, die er auf den Tisch gestellt hatte, prüfte nach, was sich darin befand, holte den Kulturbeutel heraus und untersuchte seinen Inhalt. Wortlos fischte er eine kleine spitze Schere heraus, die er ebenfalls in seine Tasche steckte. Dann schloss er den Beutel, legte ihn an seinen Platz zurück, zog den Reißverschluss der Tasche zu. Gehn wir, sagte er. Lou stand auf. Sie trug immer noch ihre Umhängetasche über der Schulter, in den zehn Minuten, in denen sie zu verhandeln versucht hatte, hatte sie sie nicht abgelegt. Der Indianer nahm sie ihr ab, indem er nach dem Trageriemen schnappte. Diese Geste hatte Lou nicht erwartet, sie konnte so schnell nicht reagieren. Die nehm ich auch an mich, sagte der Indianer. Da müssen zwei, drei Sachen drin sein, die ich demnächst brauchen werde, der Autoschlüssel von deinem Fiat, der Garagenschlüssel, die Fernbedienung für das Hoftor… Da sind auch Sachen drin, die ich brauche, sagte Lou, vor allem, wenn ich ins Ausland soll: Mein Ausweis, mein Portemonnaie. Kümmern wir uns später drum, sagte der Mann. Er hielt Lou die offene Tasche hin. Jetzt suchst du mir erstmal die Schlüssel raus, die wir gleich brauchen, für die Garage und das Auto. Und auch die für die Wohnung. Lou tat, wie befohlen. Der Indianer hängte sich die Tasche über die Schulter und nahm die Reisetasche in die linke Hand. Vor der Tür hielt er inne. Du wirst jetzt sehr brav mit mir bis zu deiner Garage gehen, sagte er. Und falls wir jemandem begegnen: Keinen Ton. Versuch nur ein einziges Mal rumzukreischen. Wenn ich gezwungen bin abzuhauen, wenn
mich einer erwischt: Du weißt, was ich den Bullen sagen werde? Ich habe sie gerade aufgefordert, mit Ihnen zu sprechen. Sie hat nämlich etwas zu sagen, und ich habe hier ein Papier, das Sie auch interessieren dürfte. Er ließ Lou vor sich hergehen und hielt sie am Handgelenk fest, während er die Tür schloss. Im Fahrstuhl drückte er auf den Knopf »Kellergeschoss« als würde er hier schon lange wohnen. Lou bemühte sich, jede Geste von ihm zu beobachten. Sie durchquerten den düsteren Gang zu den Garagen. Der Indianer suchte nicht nach dem Lichtschalter, er schien sich genau auszukennen. In der Garage knipste er das Licht an, packte Lou am Ellbogen und führte sie bis hinter das Auto. Das wird dir vermutlich nicht besonders gefallen, sagte er, aber ich muss dich diskret unterbringen für die Reise. Er öffnete die Heckklappe. Lou wich zurück: Sie wollen mich doch wohl nicht da reinstecken! Nur ein paar Stunden, doch, sagte der Indianer. Seine Hand drückte Lous Ellbogen zusammen wie eine Zange. Ich seh nicht ein, warum, protestierte Lou. Lassen Sie mich auf die Rückbank. Wenn Sie wollen, dass ich mich verstecke, kann ich mich ja, was weiß ich, auf den Wagenboden legen… Du diskutierst zu viel, sagte der Indianer. Er hatte irgendeine Art Seil aus der Tasche gezogen, Lou konnte es nicht recht erkennen, es ging so schnell, er band ihr die Handgelenke zusammen. Sie wusste, er würde sie k.o. schlagen, wenn sie zu schreien anfing. Dann knebelte er sie mit einer Art Schal, den er zweimal um ihren Kopf wickelte und dann vorne verknotete. Er ging mit schnellen sicheren Gesten vor. Dann kippte er Lou umstandslos in den Kofferraum, zog an dem Stoff, um ihre Nasenlöcher freizulegen, und schlug die Klappe zu.
Lou brach in lautes Schluchzen aus. Ihre rechte Hüfte schmerzte, sie musste sich im Fallen an der Kofferraumkante gestoßen haben. Sie hörte, wie der Motor ansprang, spürte, wie das Auto losfuhr, hin und her manövrierte und dann Fahrt aufnahm. Lange weinte sie in der Dunkelheit. Die Tränen machten ihre Wangen nass. Sie hatte es so eben noch geschafft, an sich zu halten, als sie den Mechaniker auf ihrer Türschwelle entdeckt hatte, auch noch, als sie verstand, was er von ihr wollte, obwohl es genau das war, wovor sie seit drei Wochen verzweifelt davonlief. Aber herumgestoßen, zusammengeschnürt und wie ein Mehlsack in den Kofferraum gestoßen zu werden, hatte sie mit einem Mal zunichte gemacht. Sie erinnerte sich an eine sehr alte Erfahrung: Ein Mann und eine Frau haben ungefähr so lange das gleiche Gewicht, bis der Mann die Hand erhebt. Eine Erfahrung aus ihrer Kindheit, fast war es ihr gelungen, sie zu verdrängen. Sie bewegte ihren Kiefer, so weit sie eben konnte, eine ganze Weile, und es gelang ihr, den Knebel etwas zu lockern. Der Wagen fuhr jetzt in gleichmäßigem Tempo, er musste die Stadt verlassen haben und irgendwo über Land fahren. Langsam beruhigte Lou sich. Als sie in den Kofferraum geworfen wurde, war sie auf dem Rücken gelandet, die angezogenen Beine über sich und beide Knie aneinander. Dann war die Klappe zugefallen, es wurde dunkel, und sie fühlte sich wie in einer genau für ihre Größe gemachten Kiste. Dieser Kofferraum, der ihr bis dahin eher groß vorgekommen war, der Kofferraum ihres Autos: Sie passte gerade so eben hinein, der Länge, Breite und Höhe nach, immer vorausgesetzt allerdings, dass sie die Beine anzog. Wenn sie in dieser Position dalag, dann weil sie keine andere einnehmen konnte. Sie versuchte es, ohne Erfolg. Sie konnte sich nicht auf die Seite legen wie ein Fötus. Sie konnte
noch nicht einmal richtig ihre Wirbelsäule ausstrecken. Sie lag mit dem Rücken flach auf dem Kofferraumboden, aber der mangelnde Platz zwang sie dazu, mit abgeknicktem, ein wenig angehobenem Kopf dazuliegen. Sie sagte sich, dass sie noch Glück hatte, dass der Knebel vorne verknotet war, über dem Mund. Im Nacken verknotet wäre es noch unbequemer gewesen. Es sah wirklich so aus, als hätte der Indianer alles bedacht, alles durchgerechnet, einschließlich der Passgenauigkeit eines Körpers von einem Meter dreiundsiebzig und Sechsundsechzig Kilo für den Kofferraum eines Fiat Uno und der bequemsten Art, einen Knebel zu knoten… Es ist halb so schlimm, dachte Lou. Ich kann atmen, es geht mir nicht so schlecht. Der Lärm war weniger schlimm, als sie befürchtet hatte, er war nicht ohrenbetäubend. Die Enge des Kofferraums hatte den Vorteil, dass ihr Körper festen Halt hatte. In den Kurven glich sie einmal mit dem Kopf, dann mit den Füßen aus. Eigentlich geht es mir hier drin besser als in einem Mercedes, dachte sie. In einem riesigen Kofferraum würde ich von links nach rechts geworfen werden, ich würde überall anstoßen, nach kürzester Zeit würde man da drin wahnsinnig werden. Was ihr Angst machte, sollte sie stundenlang eingeschlossen bleiben, ohne ihre Position verändern zu können, das war, dass sie jeden Stoß mitbekam, ob groß oder klein. Ihr flach auf dem Blech liegender Rücken spürte jedes Schlagloch auf der Straße, jedes Steinchen, über das sie fuhren. Aber es geht schon, wiederholte sie sich. Es wird schon gehen. Es verging eine Zeit, die ihr endlos vorkam, aber von der sie nicht hätte sagen können, ob es zwei Stunden waren oder sechs. Sie erinnerte sich an Bruchstücke von Schilderungen über Leute, die eine Entführung überlebt oder lange in einer Schlucht gelegen hatten. Wenn man alleine in der Dunkelheit
ist, wenn man keine Möglichkeit hat, die Uhrzeit zu erfahren, muss man versuchen, einen Zeitbegriff zu behalten, die innere Uhr einzuschalten und sich bemühen, einzuschätzen, welche Tageszeit es ist, dann welche Woche, dann… Freitag, 19. September, begann Lou. Dieser Typ ist gegen fünf vor neun bei mir eingedrungen, weniger als eine halbe Stunde später sind wir los. Es muss jetzt also etwa Mittag sein. Freitag, 19. September, gegen 12 Uhr, plusminus. Sie erinnerte sich auch, dass man sich bei diesen Einschätzungen immer irrt. Überlebende Gefangene waren immer erstaunt, sie hatten sich fürchterlich getäuscht, in der einen oder anderen Richtung. Sie versuchte ebenfalls, sich räumlich zu orientieren, an den Geräuschen von draußen. Das war noch schwieriger, denn das Einzige, was sie hören konnte, waren die ganz nahen Geräusche, die der Räder auf dem Asphalt und des Splits, der gegen die Karosserie geschleudert wurde. Dazu hätte der Motor ausgeschaltet sein und der Wagen eine Weile ruhig irgendwo stehen müssen. Aber der Fahrer hielt nicht an. Lou konnte anhand der Geräusche nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie alleine auf einer einsamen Straße fuhren oder inmitten anderer Autos auf einer belebten. Die Knie taten ihr weh, weil sie die ganze Zeit die Beine anziehen musste, ebenso der Nacken und die Schultern. Alles nicht so schlimm, begann sie von neuem. Ich schwebe nicht in Lebensgefahr. Dieser Mann kann mich nicht verschwinden lassen, sonst würde er das Huhn umbringen, das goldene Eier legt. Er braucht mich, das darf ich nicht vergessen. Ich bin sein Blankoscheck. Aber was Lou auf sich zukommen sah, das war, sich einem Journalisten gegenüber zu finden, einem Gierhals, der sie zum Reden bringen würde, sie alles wiederholen lassen,
detaillieren, der sie fotografieren würde. Und das wollte sie nicht. Sie wollte nicht. Sie würde nicht reden. Genau das würde sie nämlich tun, sie würde sich zu dem Treffen mitschleppen lassen, und dann würde sie dem Journalisten sagen: Ich habe nichts zu erzählen, ich habe nichts gesehen, dieser Mann da erpresst mich, er will Geld, es ist ihm völlig egal, dass ich mit diesem Unfall nichts zu tun habe, er hat mich entführt, aber genauso gut hätte er jemand anderen entführen können… Was würde dann passieren? Vielleicht würde der Erpresser die Nerven verlieren, bösartig werden und sich an Lou und dem Journalisten rächen. Vielleicht würde er auch abhauen, nachdem sein Plan schief gegangen war. Aber das war wenig wahrscheinlich. Das Vieh hatte genau nachgedacht, und ganz offensichtlich war er kaltblütig. Er wäre garantiert fähig dazu, den Journalisten auf seine Seite zu ziehen, und dann stünde Lou zwei brutalen Kerlen gegenüber, statt einem. Sie spielt die Unschuld vom Lande, würde der Indianer sagen. Natürlich. Würden Sie genauso machen an ihrer Stelle. Sie hat seit drei Wochen nichts gesagt, sie will nichts sagen. Und warum? Was glauben Sie? Weil sie etwas zu sagen hätte, worauf sie nicht sehr stolz ist… Also, ich schlage Ihnen etwas vor: Prüfen wir die Fakten, das ist ganz einfach, dann sehen wir schon, wer die Wahrheit sagt. In diesem Moment wurde der Fiat langsamer. Zweiter Gang, erster – dann wurde der Motor abgeschaltet. Lou wurde am ganzen Körper von einem Angstanfall geschüttelt. Sie hörte, wie die Fahrertür aufging, wieder zuschlug, wie die Zentralverriegelung mit einem Klacken alle Türen schloss. Dann nichts mehr, kein Ton. Noch nie hatte sie solche Angst empfunden. Sie dachte: Das Auto in Flammen, sie dachte: das Knistern des Feuers, wenn alles hochgeht. Sie roch Benzingeruch.
Die Minuten vergingen, vielleicht waren es auch Stunden. Sie hatte aufgegeben, vielleicht auch das Bewusstsein verloren. Dann spürte sie etwas, das ihr klarmachte, dass sie wieder zu sich gekommen war, der Eindruck, dass da etwas um sie war. Sie brauchte lange, um sich klar darüber zu werden, worum es sich handelte: Es wehte Wind. Endlich hörte sie einen Automotor. Voller Erleichterung bemerkte sie, dass er sich näherte. Das Auto blieb ganz in der Nähe stehen, der Motor wurde abgeschaltet. Dann verging wieder ein langer Moment, schließlich schlug eine Tür, und die Heckklappe des Fiat öffnete sich weit. Lou hatte den Indianer erblickt und schloss wieder die Augen. So, sagte der Mann. Kurze Pause. Lou öffnete die Augen erneut. Sie sah Laub über sich, ein Laubdach in weiter Entfernung. Es roch nach Wald und Erde. Sie ließ ihre Knie zur Seite sinken. Der Indianer entfesselte ihre Hände und nahm ihr die Uhr ab, die er einsteckte. Dann knotete er den Knebel auf. Alles aussteigen, sagte er. Lou setzte sich hin, und der Schmerz an ihrer Hüfte meldete sich. Ihr Kopf drehte sich. Der Fiat war am Rand einer Lichtung geparkt, mitten im Wald. Daneben stand ein marineblauer Wagen. Die Sonne schien zwischen den Zweigen hindurch. Kein anderer Laut war zu hören als der Wind im Geäst und Vogelgezwitscher. Wo sind wir hier?, fragte sie. In Grönland, sagte der Indianer, erkennst du’s nicht wieder? Also, ich mache diese Pause hier für dich, damit du die Beine ein bisschen vertreten kannst. Beeil dich. Ich geb dir fünf Minuten, nicht mehr. Lou zwängte sich, so gut es ging, aus dem Kofferraum, setzte die Füße auf den Boden und fiel in sich zusammen. Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Das wird schon wieder, sagte der Indianer begütigend.
Sie streckte ein Bein aus, dann das andere. Alles reagierte normal. Muskelkater, sagte er. Sie haben das wohl auch schon mal mitgemacht?, sagte sie im Wiederaufstehen. Sie wollte nicht zu Füßen dieses Mannes liegen bleiben. Sie sind bestimmt auch schon mal in einen Kofferraum gesperrt worden! Nicht dein Bier, sagte der Indianer. Hast du Hunger, hast du Durst? Nein, sagte Lou. Ich kann nicht mehr, das ist alles. Ich würde dir trotzdem raten, ein bisschen rumzugehen, sagte er, denn wir haben noch ein Stück Weg vor uns. Du wirst noch ein paar Stunden lang eingeschlossen bleiben müssen. Lou hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie machte einige Kniebeugen, sich dabei mit den Händen an der Kofferraumkante festhaltend. Der Verband um ihren linken Zeigefinger war blutverschmiert. Dann ging sie langsam ein paar Schritte. Es braucht nicht viel, um jemand in einen Bettler zu verwandeln, dachte sie. Dann korrigierte sie sich: In einen Beinamputierten. Sie musste an die Filme denken, in denen Gefangene aus ihrem Loch springen wie die Schachtelteufel und ihre Wärter einen nach dem anderen mit zwei, drei wohlgezielten Schlägen umhauen. Der Indianer hatte sie die ganze Zeit im Blick. Er lehnte gegen den Fiat und rauchte. Dann blickte er auf die Uhr, drückte die Zigarette aus und klatschte in die Hände: Große Pause zu Ende, sagte er. Lou ging wortlos zu ihm zurück. Sie hatte nicht die Kraft, ihm in die Augen zu sehen. Nein, sagte er, als er sie auf den Fiat zugehen sah, Prinzessin steigt in eine neue Kutsche. Er öffnete den Kofferraum des marineblauen Autos. Du kommst besser weg dabei, sagte er. Ist ein Peugeot, da ist mehr Platz.
Der Kofferraum war sichtlich oft benutzt worden. Eine alte Plastikplane, Fetzen von Pappkarton und vergilbte Zeitungen lagen darin herum. Lou konnte sich nicht überwinden hineinzuklettern. Machst du das alleine, oder muss ich dir helfen?, fragte der Indianer drohend. Sie zog sich über die Kante. Gib deine Hände her, sagte er, und als er den Verband an ihrem Finger sah: Was hast du denn da gemacht? Interessiert Sie das wirklich?, fragte sie. Er fesselte ihr wieder die Hände und knebelte sie. Sie hatte Angst, er würde ihr die Heckklappe auf den Kopf schlagen, und duckte sich nach unten. Es roch nach Benzin und Dreck. Die erhobene Hand an der Tür sagte der Indianer noch: Ich muss eine Formalität erledigen, wird nicht lange dauern, und schlug dann die Klappe zu. Lou hörte, wie der Fiat gestartet wurde und sich entfernte. In diesem neuen Kofferraum konnte sie mit angezogenen Beinen daliegen. Das war alles, worauf es ihr momentan ankam. Schon wirkte der Geruch weniger störend. Sie rieb ihre Wange gegen das Plastik unter ihr, um zu versuchen, den Knebel ein wenig zu lockern. Sie sah im Geiste, wie ihr Fiat in Zeitlupe in grauem Wasser versank. Es war ihr egal. Sie dachte kurz an Yvon, aber das war wie die Erinnerung an ein früheres Leben vor langer Zeit. Yvon konnte nichts für sie tun. Sie war es, die sich davongemacht hatte. Eine sich öffnende Autotür ließ sie aufschrecken. Sie musste geschlafen haben. Der Peugeot startete und rumpelte eine Weile dahin, vermutlich über einen Waldweg. Dann nahm er regelmäßige Fahrt auf. Lou nahm wieder die Gewohnheit an, sich in den Kurven mit Kopf oder Beinen abzustützen. Es war unbequem in diesem Auto, sie rutschte hin und her. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie spät es wohl sein mochte. Dann kam ihr der Gedanke, dass in diesem Augenblick womöglich Dutzende von Leuten wie sie im Kofferraum
irgendwelcher Autos eingeschlossen waren. Entführte Leute, Leute, die sich versteckten. Man konnte sich regelrecht fragen, ob die Kofferräume nicht eben dafür erfunden worden waren. Tote, dachte sie. Sie spürte das Blut in ihrem linken Zeigefinger pochen, dort, wo der Schnitt war. Aber natürlich: Der Indianer konnte sie auch töten. Es läge sogar in seinem Interesse, sobald sein Plan ausgeführt war. Er brachte einen Zeugen um die Ecke, der gegen ihn arbeitete, und steckte das gesamte Geld ein. Ich werd mich an dem Journalisten festkrallen, dachte Lou kampfeslustig. Ich werd ihn um Hilfe bitten. Ich werde schreien. Sie gab sich keinen Illusionen hin, der Indianer würde auch eine solche Reaktion vorhergesehen haben. Er musste ihren gemeinsamen Rückzug in allen Details geplant haben, so wie alles andere. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie übergab sich – es war nichts, ein wenig bittere Magensäure, die sie wieder hinunterschlucken musste. Verzweiflung überrollte sie. Sie sah es vor sich, dass sie das letzte Opfer einer Kette von Grausamkeiten sein würde. Eine Grausamkeit nach der anderen, und jede von ihnen rief neue hervor. Charles war grausam zu Diana gewesen, indem er sie geheiratet hatte, um sie besser betrügen zu können. Die Kleine hatte ihm Gleiches mit Gleichem zurückgezahlt und ihn öffentlich bloßgestellt. Sie lernte schnell, es dauerte gar nicht lange, und sie hatte den Stier bei den Hörnern gepackt und gab den Takt vor. Sie schonte niemanden, weder ihren Gatten noch ihre Schwiegerfamilie. Und je länger es dauerte, desto öfter zeigte sie sich mit irgendwelchen drittklassigen Playboys: Als hätte sie es sich in den Kopf gesetzt, all diese grausamen, mit Windsor verbandelten Mistkerle ihre Regenschirme auffressen zu lassen.
In Paris jedoch war der kleine Grausamkeitslehrling berufsmäßig Grausamen in die Falle gegangen. Die Paparazzi ließen keine Gnade walten. Sie hatte nicht verhehlt, dass sie sie hasste. Auch Monsieur Paul ging nicht mit Samthandschuhen zu Werke, ein grausamer Verkehrsrowdy, der das Gaspedal seiner gnadenlosen Limousine durchdrückte und Lou nur durch Zufall nicht voll erwischt hatte… Und Lou selbst hatte Angst gehabt, grausame Angst davor, von der Presse und dem Fernsehen vorgeführt zu werden, diesen modernen Gladiatorenarenen für eine grausam gewordene Zuschauerwelt. Bis dann der Mechaniker anfing, den Erpresser zu spielen. Ich wär ja schön blöd, Puppe… Er wusste genau, dass er in der Redaktion der meistgelesenen Zeitschrift Frankreichs genügend Komplizen finden würde. Das sind die gnadenlos Grausamen von heute, dachte Lou. Und die Fahrerflucht, war das vielleicht nicht grausam? Die unterlassene Hilfeleistung? Wiederum hielt das Auto an, und nach langer Wartezeit öffnete sich der Kofferraum. Offenbar war der Indianer misstrauisch und wartete, bis er wirklich sicher war, dass niemand sich in der Nähe befand, bevor er Lou erlöste. Es war Nacht, aber Lou roch Bäume, wahrscheinlich wieder ein Wald irgendwo abseits von allem. Wir fahren zurück in die Stadt, sagte der Indianer. Ich hab die Leute von Paris-Match erreicht, dass die interessiert sind, ist noch das Wenigste, was man sagen kann. Ich hab morgen kurz vor Mittag eine Verabredung. Es wird schnell gehen, hatte ich dir ja gesagt. Lou hatte noch immer ihren Knebel über dem Mund, aber offenbar sprachen ihre Augen Bände. Ich bin ein guter Kerl, sagte der Indianer, ich werd dich die Nacht nicht im Kofferraum verbringen lassen. Allerdings musst du dafür
extrem fügsam sein… Ich biete dir ein Bett an für heute Nacht, vorausgesetzt, du parierst mir aufs Wort. Jetzt hör genau zu. Du wirst dich vorne neben mich setzen. Wir müssten in zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten da sein. Du steigst an meinem Arm aus dem Auto aus. Es ist spät, also werden wir nicht vielen Leuten begegnen auf der Straße, aber komm nicht auf den Gedanken, um Hilfe zu rufen. Du erinnerst dich an unseren Vertrag. Wenn das Ganze schlecht für mich ausgeht, weißt du, was ich den Bullen erzähle: Sie kommen gerade recht, wir haben von Ihnen geredet, ich habe alles getan, sie zu überzeugen, sich bei Ihnen zu melden… Kapiert? Er neigte sich zu Lou und löste den Knebel, ließ aber ihre Hände gefesselt. Sie versuchte alleine auszusteigen. Er packte sie an den Schultern und stellte sie auf die Füße, hielt sie dabei fest, damit sie nicht wieder einknickte und hinfiel. Wieder war sie von der Präzision jedes seiner Handgriffe beeindruckt. Er führte sie zur Beifahrertür des Peugeot und ließ sie einsteigen, schloss dann ihren Gurt über ihren gefesselten Händen, lief rasch um den Wagen herum und setzte sich hinters Lenkrad. Offenbar waren sie mitten in einem richtigen Wald, denn sie brauchten gute zehn Minuten, um wieder herauszukommen. Die Scheinwerfer leuchteten einen Feldweg aus. Der Indianer zögerte nicht, welche Richtung er einzuschlagen hatte. Dann kamen sie auf eine schmale Landstraße und fanden sich bald auf freiem Gelände. Dann erschienen die ersten Gebäude, immer mehr davon, in der Nacht, mit erleuchteten Fenstern. Es gab kaum Verkehr. Lou erkannte die Gegend nicht wieder. Sie hielt es für vernünftiger, keine Fragen zu stellen. Der Indianer warf ihr einen Blick zu. Es würde mir nicht gefallen, wenn du genau mitbekommst, wo ich dich hinfahre, sagte er. Also wirst du den Kopf gegen den Sitz lehnen und so tun, als würdest du schlafen. Los.
Lou legte ihren Kopf nach hinten und schloss die Augen. Zumindest in einer Hinsicht war sie mit diesem Verbrecher einig: Es lag in ihrem Interesse, sich ihm gegenüber gefügig zu zeigen. Ich sag dir dann, wenn du die Augen wieder aufmachen kannst, sagte der Mann. Rechne mal mit fünf Minuten. Und wirklich, kurz darauf spürte Lou, dass der Wagen anhielt und dann offenbar im Rückwärtsgang einparkte. › Dann wurde der Motor ausgeschaltet. Jetzt kannst du gucken, sagte der Indianer. Wir sind da. Sie parkten am unteren Ende einer ansteigenden schmalen Straße. Es kam Lou so vor, als hätte die Straßenbeleuchtung eine violette Tönung. Davon abgesehen waren es die üblichen Pariser Vororthäuser – ein Vorort, der ihr nichts sagte, eher älteren Datums und hässlich. Siehst du diese Tür da?, sagte der Indianer, ohne sich zu bewegen. Da gehen wir rein, Hausnummer neun. Ich werde jetzt deine Tür aufmachen, dir die Handfesseln abnehmen, und dann gehst du vor mir her. Du wirst wie ein großes Mädchen direkt auf die Tür zugehen und ins Haus treten, rechts ist der Türöffner. Keine Angst, ich bin direkt hinter dir. Ich werde das Licht anmachen und du steigst nach oben, immer noch vor mir her, bis ins sechste Stockwerk, ohne Lärm zu machen. Ist das klar? Ja, sagte Lou. Der Indianer schnappte die beiden Taschen auf der Rückbank, stieg aus, öffnete ihre Tür. Er löste den Ledergürtel, der ihre Handgelenke aneinander gefesselt hatte und sah zu, wie sie sich aus dem Wagen schälte. Wie vorgesehen ging Lou zur Nummer neun und stieß die Tür auf. Im Treppenhaus roch es nach Gemüsesuppe. Ganz oben sagte der Indianer leise: Geradeaus durch am Ende. Trotzdem hielt er Lou am Ellbogen fest, während er eine
grau gestrichene Tür aufschloss, ließ sie vor sich eintreten und schaltete das Licht an. Es roch hauptsächlich muffig. Dennoch wirkte das Zimmer bewohnt. Es war ein recht großer Raum, der Boden hatte die Farbe von Knochen, es gab drei Möbelstücke, ein Bett, einen Stuhl, einen Schrank, hier und da standen Kartons herum, ein roter und sehr schmutziger Rucksack, ein Nylonkoffer. Die Läden des einzigen Fensters waren geschlossen. Von Zeit zu Zeit bewohnt, verbesserte sich Lou. Scheißhaus ist dort, sagte der Indianer und deutete auf eine Tür am Ende des Zimmers. Schließt nicht, tut mir Leid. Lou konnte an dem helleren Abdruck auf dem Anstrich sehen, dass der Riegel drinnen vor kurzem abmontiert worden war. Sie hatte nicht gewusst, dass es ein solcher Genuss sein konnte, sich lange und entspannt zu erleichtern. Sie rieb sich die Augen, ließ die Gelenke aller zehn Finger knacken und drehte ihren Kopf hin und her. Bist du da drin eingeschlafen? fragte der Indianer, als sie wieder ins Zimmer trat. Er hatte seinen Blouson ausgezogen. Er trug ein sehr zerknittertes Chambray-Hemd über einer Jeans. Er war mager, hatte irgendetwas schlecht Ernährtes und etwas Unerbittliches an sich. Verlieren wir keine Zeit, sagte er, wir brauchen beide Ruhe, du wie ich. Du legst dich da schlafen. Er deutete aufs Bett. Lou streckte sich auf dem gestreiften Überzug aus, der die Matzratze bedeckte. Diesmal fesselte der Mann ihr die Fußgelenke mit dem selben Ledergürtel. Er roch intensiv, bemerkte Lou – ihre Mutter nannte das »nach Mann stinken«. Yvon roch nach Aftershave und Seife. Wir werden ein bisschen was essen, sagte der Indianer. Auf dem Boden stand ein kleiner Karton, er zog einige Packungen Kekse und zwei Flaschen Mineralwasser heraus. Dann ging er
zu Lou. Butterkekse, sagte er, echte, und stellte ihr zwei Packungen Kekse und eine Flasche Wasser hin. Lou fing an zu essen, die Augen gegen die Decke gerichtet. Sie hörte, wie auch der Mann abbiss und kaute. Butterkekse, das war auch so ungefähr das Einzige, was sie runterkriegen konnte, dachte sie. Das Wasser war lauwarm, wunderbar. Im Haus war kaum ein Laut zu hören. Von der Straße her ab und zu ein Auto. Der Indianer konnte offenbar ihre Gedanken lesen. Hier in dem Stockwerk ist niemand, sagte er, das wird dich vermutlich interessieren. Lou antwortete nicht. Sie aß, ohne sich zu hetzen, ihre erste Packung Kekse auf. Sie hob den Kopf und wischte die Krümel weg, die ihr auf die Brust und aufs Bett gefallen waren. Sie entdeckte, dass es möglich war, keinen anderen Ehrgeiz mehr zu kennen, als das Recht zu haben, seine Glieder auszustrecken und zu schlafen. Sie drehte den Kopf zur Seite. Der Indianer saß auf dem Stuhl und sah sie an. Brauchen Sie wirklich so dringend Geld?, fragte sie. Wenn du’s unbedingt wissen willst, sagte er, dann warte ich schon eine ganze Weile auf die Gelegenheit, ein anderes Leben anzufangen. Zufällig bist gerade du in die Werkstatt gekommen – es hätte auch der Kapitän eines Frachters sein können, der einen Matrosen sucht, oder… Sie wollen mir doch hier nicht erzählen, dass es nur die Gelegenheit war, die Diebe gemacht hat?, unterbrach Lou ihn. Hast du vielleicht noch nie Lust gehabt, alles hinzuschmeißen und wieder bei null anzufangen?, fragte der Indianer. Die Sache wird in die Hose gehen, sagte Lou. Wetten wir das Gegenteil?, antwortete der Mann. 250000 Francs für dich, dass es klappt. Bis jetzt läuft doch alles wie geschmiert. Ich muss zugeben, dass du klug genug gewesen bist, die Dinge nicht unnötig zu komplizieren.
Selbst wenn die Sache klappt, sagte Lou, werden Sie trotzdem nicht so einfach davonkommen. Man wird nach Ihnen suchen. Es wird Leute geben, die Ihr Verschwinden melden werden. Der Indianer zuckte die Achseln: Leute? Ich weiß nicht, wem es auffallen sollte, dass ich verschwunden bin. Na, doch wenigstens Ihrem Chef, sagte Lou, dem Inhaber der Werkstatt. Der Indianer stand auf. Mein Chef, wenn er mich nicht wiederkommen sieht, wird keine großen Überlegungen anstellen. Er wird sich sagen, dass ich schon irgendeinen guten Grund gehabt haben werde, mich zu verziehen, irgendeinen Grund, welcher, wird ihm ganz wurst sein, und er wird es nachvollziehen können. Er näherte sich dem Bett. Lou zog instinktiv ihren Oberkörper zurück. Der Mann stieß ein kurzes Lachen aus. Keine Panik, sagte er, ist nicht mein Stil, Mädels zu vergewaltigen, vor allem nicht, wenn sie festgebunden sind. Was mir an einem Mädchen gefällt, das ist, wenn sie von alleine kommt, wenn sie es ist, die die ersten Schritte macht. Ich mach jetzt das Licht aus. Kann man sich hier waschen?, fragte Lou. Ist nicht vorgesehen, sagte der Indianer. Da ist nur die Spüle… Auch egal, sagte Lou. Und schloss dann an: Mir wird kalt werden, ich hätte gerne irgendwas zum Zudecken. Der Mann öffnete den Schrank und zog eine braune Decke heraus, die er, ohne sie aufzufalten, über Lou legte. Lou setzte sich im Bett auf, streifte ihre Espadrilles ab und rollte sich in die Decke. Der Mann hatte das Licht ausgeschaltet. An den Geräuschen erkannte sie, dass er sich wieder auf den Stuhl setzte, drei Meter vom Bett entfernt. Sie würde Probleme haben einzuschlafen. Sie musste es schaffen, an irgendetwas anderes zu denken als an den Geruch des Bettes. Eine halbe Stunde in etwa verging, während der sie
anhand seiner Atmung und der Bewegungen, die sie hören konnte, verstand, dass auch der Indianer nicht schlief. Dann spürte sie eine Hand, die sie an der Schulter rüttelte. Sie befand sich am Grunde eines Brunnens aus Schlaf. Aufstehn, sagte der Indianer. Wir müssen hier vor Tagesanbruch raus, und vorher muss ich dich noch um einen kleinen Gefallen bitten. Eine Welle der Verzweiflung lief über Lou, als ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. All das ging über ihre Kräfte. Kann ich meine Toilettensachen haben?, fragte sie mühevoll. Der Indianer brachte ihr den Kulturbeutel und löste ihre Fußfesseln. Sie rieb sich auf dem Bett sitzend eine Weile die Knöchel. Das gelbe Licht war widerlich. Als sie in ihre Espadrilles schlüpfte, sah sie, dass unter einer Sohle ein Blatt an einem Stück Erde kleben geblieben war. Sie ging, die Reisetasche in der Hand, zur Spüle, putzte sich die Zähne und wusch sich die Augen mit kaltem Wasser aus. Es war ihr völlig egal, dabei beobachtet zu werden. Hast du Hunger?, fragte der Indianer hinter ihrem Rücken. Nein, sagte Lou. Sie trank am Wasserhahn, zog sich für zwei Minuten auf die Toilette zurück, kam wieder heraus und bürstete sich mit nach unten gesenktem Kopf die Locken aus, wie sie das seit ihrer Kindheit immer getan hatte. Sie hob den Kopf und legte mit kämmenden Fingern ihr Haar nach hinten. In ihrem Hemd und ihrer Baumwollhose war ihr kalt. Sie holte das einzige mitgenommene Kleidungsstück aus ihrer Tasche, das ein wenig warm hielt, einen kurzen khakifarbenen Blouson aus Nickistoff. Sind wir soweit?, fragte der Indianer. Ja, sagte Lou und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Gut, sagte er. Was ich von dir will, wird dich schon nicht umbringen. Ich bin am späten Vormittag mit einem Typen von Paris-Match verabredet. Ich will keinen Journalisten sehen, unterbrach sie
ihn. Fang nicht wieder an, knurrte er. Du wirst heute Morgen auch niemanden sehen. Ich treffe den Typen zunächst einmal alleine, um mit ihm über den Preis für die Sensationsgeschichte einig zu werden, über den Ort, an dem wir uns dann ein zweites Mal treffen werden, lauter solche Sachen. Und für diese erste Begegnung brauche ich einen kleinen Köder. Du musst mir eine Zusammenfassung all dessen aufnehmen, was du am 31. August im Alma-Tunnel gesehen hast. Nur ein paar Sätze, die dem Typen den Mund wässrig machen, damit er mehr wissen will. Nein, sagte Lou. Ich werde alles erzählen. Ich will keinen Journalisten sehen, aber ich kann alles erzählen, ich werde alles aufnehmen, was ich gesehen habe… Geh mir nicht auf die Nerven, unterbrach sie der Indianer. Gestern bist du kooperativ gewesen, mach lieber weiter so, sonst werde ich ärgerlich. Zunächst einmal will ich nicht die komplette Geschichte. Nur einen Appetithappen. Und außerdem reicht es jetzt, wir verlieren Zeit, ich hab dich nicht nach deiner Meinung gefragt. Er holte einen kleinen Kassettenrekorder aus dem Schrank, ein veraltetes Modell. Es fiel Lou auf, dass er beim Gehen kein Geräusch machte. Sie blickte auf seine Füße. Er trug Sportschuhe, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Dann kam er wieder zu ihr, den Rekorder in einer Hand. Setz dich da drauf, sagte er, auf den Stuhl deutend. Lou setzte sich und nahm den Rekorder auf den Schoß. Du drückst auf den roten Knopf und redest, ist ja wohl nicht zu schwierig, sagte der Indianer. Das ist mir peinlich, wenn Sie mich dabei ansehen, sagte Lou. Können Sie nicht woanders hingucken? Der Mann kicherte. Den Blick von dir lassen, bestimmt nicht. Aber du
kannst dich ja in eine Ecke setzen und auf die Wand starren, wenn du willst. So, schnell jetzt. Lou stand auf, den Rekorder in den Händen. Der Indianer griff den Stuhl an der Lehne und setzte ihn in einer Zimmerecke ab, auf die Wand gerichtet, neben dem Fenster, dessen Läden geschlossen waren. Wirst schon sehen, sagte er, das kommt von ganz alleine. Ich tu dir einen Gefallen, indem ich dich zwinge, dein Geheimnis auszuspucken, ich befreie dich davon. So eine dicke Sache kann man nicht für sich behalten. Wenn du mich nicht getroffen hättest, hättest du’s früher oder später jemand anderem erzählt. Und wenn du mir entkommen würdest, genauso. Eines Tages würdest du reden. Ein solches Geheimnis könntest du nicht in alle Ewigkeit für dich behalten. So, und jetzt los. Lou versuchte sich zu konzentrieren. Wird’s bald?, sagte der Mann hinter ihrem Rücken. Sie drückte auf den roten Knopf und gab sich einen Ruck. Mein Leben hat sich mit einem Schlag verändert. Das ist wahrscheinlich kaum zu glauben, und doch ist es genau so. Weil eines Abends ein Mercedes mit einem Besoffenen am Steuer auf mich drauf gefahren ist, um sich dann in alle Einzelteile zu zerlegen, habe ich alles verloren. Und dabei bin ich keine Frau, die im luftleeren Raum lebt, ich hatte eine Wohnung, einen Job, einen Typen. Jetzt habe ich gar nichts mehr. Ich hätte nie gedacht, dass das alles an einem so seidenen Faden hängen könnte, ich dachte eigentlich, ich wäre jemand, der eher einen halbwegs guten Start genommen hat im… So geht das aber überhaupt nicht, sagte der Indianer wütend. Er hatte nach dem Rekorder gegriffen und ihn angehalten. Wir werden hier nicht Stunden mit dem Zeug verbringen. Er spulte die Kassette zurück. Du fängst jetzt noch mal an. Und deine
Gefühle behältst du für dich, erzähle Fakten, nichts als Fakten. Ich war im Tunnel, am Steuer meines Fiat Uno, solche Sachen. Keine Details, das Entscheidende. Und mach besser keinen Mist. Diesmal muss die Sache stimmen. Lou legte den Rekorder wieder auf ihren Schoß und begann erneut. Ich war auf dem Nachhauseweg, am Steuer meines Fiat Uno, am Samstag, dem 30. August, oder besser gesagt am Sonntag, dem 31. Kurz nach Mitternacht. Ich bin in den AlmaTunnel eingefahren mit vielleicht 50 Stundenkilometern. Ich hatte kaum die Zeit, im Rückspiegel ein Auto auf mich zurasen zu sehen, da schabte seine Karosserie auch schon an meiner entlang, ich hatte eine wahnsinnige Angst, aber dann hat der Wagen sich wieder von meinem gelöst und ist in einen Pfeiler gerast. Am nächsten Tag habe ich erfahren, was es mit diesem Auto auf sich hatte und wer darin saß. Das ist o.k. so, sagte der Indianer und drückte auf die Stopptaste. Gehen wir. Er steckte die Kassette in seine Jeanstasche, griff sich Lous beide Taschen und warf noch einen Rundblick durch das Zimmer. Kann ich nicht hierbleiben?, fragte Lou. Hierbleiben?, wiederholte der Indianer. Was wollen Sie denn mit mir anstellen während Ihres Treffens?, fragte Lou. Und bis es soweit ist, was machen wir da? Sie hatten doch was von spätem Vormittag gesagt. Was ich machen werde, ist nicht dein Bier, sagte der Mann. Du legst dich wieder in deine Hundehütte und schläfst dich anständig aus, du Glückspilz. Lassen Sie mich hier, flehte Lou ihn an. Sie haben doch gesagt, dass hier in dem Stockwerk keiner ist, was glauben Sie denn, was ich tun würde? Und wenn Sie mich festbinden… Du hältst jetzt dein Maul und kommst mit mir, sagte der Indianer. Er wirkte sehr entnervt. Wir machen es genauso wie gestern Abend, nur andersherum. Du steigst auf den
Beifahrersitz, du machst die Augen zu, du hältst Ruhe. Ich will kein Wort mehr von dir hören. Gestern warst du perfekt, da hast du die Luft angehalten. Also halt die Luft an. Es war nächtlich dunkel und kalt in der Straße. Lou setzte sich vorne in den Peugeot. Der Indianer fesselte ihre Hände sehr eng. Ist nicht nötig, sie so einzuschnüren, sagte sie. Sie bekam einen Schlag auf das rechte Jochbein, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und tat so, als würde sie schlafen, ohne zu warten, dass er ihr den Befehl dazu gab. Der Indianer fuhr schnell, nervöser als am Vortag. Eine Weile lang schniefte Lou. Der Wagen bog andauernd ab, wurde langsam, stieß zurück und blieb schließlich stehen. Mach die Augen auf, sagte der Indianer, du wechselst jetzt den Platz. Und ich will kein Wort hören. Sie befanden sich auf einem Stück Brachland, vor einer Palisade. Es wurde Tag. Es ist Samstag, überlegte Lou. Samstag, der 20. Wochenendbeginn. Die Leute schlafen noch. Trotz des Knebels in ihrem Mund, trotz ihrer gefesselten Hände und dem Geruch, empfand sie im Kofferraum Erleichterung darüber, alleine zu sein. Ich werde hier mehrere Stunden verbringen müssen, am besten wäre es, ich könnte einschlafen. Sie suchte nach der am wenigsten unbequemen Lage, musste sich alle fünf Minuten wieder umlegen. Der Wagen fuhr lange, dann hielt er ein erstes Mal an. Lou hatte den Eindruck, Benzin zu riechen, und glaubte das Gebrumm, einer Benzinpumpe zu hören. Sie war sich nicht sicher, und es war ihr auch egal. Sie bemühte sich nicht mehr wie gestern darum, ein Bewusstsein von Ort und Zeit zu haben. Im Gegenteil, sie versuchte abzuschalten.
Der Peugeot rollte wieder an, fuhr – wie lange wohl?, blieb wiederum stehen. Lou spürte die Schlaglöcher, dachte: Feldweg. Sie täuschte sich nicht. Der Motor wurde abgestellt, und nach der üblichen Wartezeit öffnete sich der Kofferraum. Es roch nach Wald, Moos und Erde. Der Indianer befreite Lou, ohne ein Wort zu sprechen. Sie richtete sich mühsam auf. Diesmal waren sie vollständig unter Bäumen. Der Wagen hatte die Fahrspuren verlassen und sich einen Weg zwischen den Stämmen gesucht. Der Himmel war nicht zu sehen. Lou hatte den Eindruck, das Wetter sei grau geworden. Leise reden, sagte der Indianer mit gezügelter Stimme. Alles läuft jetzt so perfekt, dass es nicht der Moment ist, einen dummen Fehler zu machen. So, komm raus. Du musst in Form bleiben, dein großer Auftritt ist bald. Beweg dich ein bisschen. Lou stieg langsam aus dem Kofferraum, ging einen Meter und ließ sich flach zu Boden fallen, auf den Rücken. Das Erdreich war kühl. Man konnte alle Laute des Waldes hören, Vogelgezwitscher, Bewegungen und das Knacken im Unterholz, die ganze eigentümliche Geräuschwelt eines Gehölzes, ein dichtes Gewebe aus nicht identifizierbaren Lauten, das man Stille nennt. Totenstille, dachte Lou plötzlich schreckerfüllt, ohne zu verstehen, wie sie darauf gekommen war. Wenn sie aus der Geschichte davonkam, würde sie nie mehr den Fuß in einen Wald setzen. Sie sah den Indianer auf sich zukommen, sich über sie beugen. Er hockte sich vor sie und hielt ihr eine Wasserflasche hin. Lou setzte sich so auf, dass sie ihm halb den Rücken zudrehte und trank gierig. Der Mann reichte ihr einen Schokoladenriegel. Sie nahm ihn wortlos entgegen und begann ihn zu essen.
Ich hab den Typen von Paris-Match getroffen, sagte der Indianer. Sehr interessiert, sehr kooperativ. Nur, dass er noch etwas zu tun hat, er kann dich erst morgen sehen… Er will mich sehen?, unterbrach ihn Lou. Hat ihm die Kassette denn nicht genügt? Ist jetzt vielleicht gut?, knurrte der Indianer. Natürlich will er dich sehen. Er hat nur noch ein bisschen Zeit verlangt. Ich wollte das eigentlich alles bis heute Abend über die Bühne gebracht haben, aber es ist Samstag, das macht es etwas schwierig mit dem Geld. Ich habe auch meine Ansprüche, ich habe gebrauchte Banknoten verlangt, ohne durchlaufende Nummerierung. Der Typ hat mir gesagt, dass er das an einem Samstag nicht in zwei Stunden auftreiben kann. Wir haben uns darauf geeinigt, uns morgen früh um sechs zu treffen. Es ist alles geplant: Wir werden ihn mit dem Peugeot abholen, an einem Ort, den ich ausgesucht habe, und wo man leicht sehen kann, ob er alleine ist. Er wird mit uns ins Auto steigen, du packst deine Story aus, ich sehe zu, dass die Kasse stimmt. Er wird eine Digicam dabeihaben. Wenn alles klappt, wenn du nicht rumspinnst, wenn er brav da aussteigt, wo ich ihm sage, dass er aussteigen soll, dann kann er sicher sein, binnen vierundzwanzig Stunden eine Nachricht zu bekommen, die es ihm ermöglichen wird, deinen Fiat zu finden. Aber dann werden wir beide schon über alle Berge sein… Sie sind schon ein ganz schönes Schwein, sagte Lou. Wenn diese Leute meinen Fiat finden, werden sie keine Schwierigkeiten haben, anhand der Nummernschilder meinen Namen herauszubekommen. Sie haben mir gesagt, die würden meinen Namen nicht erfahren. Aber das Kennzeichen von meinem Fiat ist mein Name. Hier herrscht ja Vertrauen!, sagte der Indianer. Wenn die Leute von Match deine Karre bergen, werden sie entdecken, dass die Nummernschilder abgeschraubt sind, meine Kleine, und ein paar weitere nummerierte Teile ebenfalls. Das Zeug
werden sie nicht brauchen, um die Gendarmerie davon zu überzeugen, dass es sich da um den richtigen Fiat handelt. Und was die Nummernschilder betrifft, die sind irgendwo vergraben, und wo, das weiß nur ich. Und willst du auch wissen, warum? Für den Fall nämlich, wenn du schwach werden würdest, ich weiß ja nicht, aus Müdigkeit, und die Sache auffliegen ließest. In dem Falle würde ich, egal wo ich dann bin, nur ein Telegramm senden müssen: Grabt da und dort, ziemlich tief, und ihr findet zwei Nummernschilder von höchstem Interesse… In der Tat: Hier herrscht ja Vertrauen, sagte Lou. Sie schüttelte den Kopf, den Blick auf die weißlichen Wurzeln vor ihrer Nase gewandt. Es wird nicht funktionieren, sagte sie. Der Journalist wird die Polizei einschalten, wahrscheinlich hat er es sogar bereits gemacht. So dumm wird er nicht sein, sagte der Indianer. Er weiß, wenn ich den kleinsten Verdacht habe, wenn wir die geringste Unannehmlichkeit bekommen, du oder ich, nachdem wir ihn verlassen haben, dann kriegt er den Hinweis nicht, wo er den Fiat Uno finden kann. Seine Sensationsstory wird unverkäuflich sein ohne Beweise. Und dass er uns von den Bullen hochnehmen lässt, bevor er dir zugehört hat, denk doch mal nach, das wäre wirklich zu blöde von ihm. Ein Journalist und ein Polizist, das ist nicht das gleiche. Das macht nicht die gleiche Arbeit, und das hat nicht die gleichen Ziele. Der Typ kann doch gar kein Interesse daran haben, uns in den Knast zu bringen; dagegen kann er eine ganze Menge gewinnen, wenn er uns ziehen lässt. Dann bekommt er auch Ärger mit der Polizei, sagte Lou. Ein bisschen Ärger, verbesserte der Indianer. Du bist ja doch schließlich keine Kriminelle, er wird doch schließlich keinen Mörder gedeckt haben. Er wird ein bisschen Ärger haben und einen dicken Profit machen.
Lou legte den Kopf in die Arme, die auf den Knien ruhten. Sie hatte ihren Schokoladenriegel zu Boden fallen lassen. So, beweg dich mal ein bisschen, sagte der Indianer. Und versuch nicht, mich weich zu machen, ich kenne einen Haufen Leute, die sich glücklich schätzen würden, an deiner Stelle zu sein. Morgen bist du stinkreich und frei wie der Wind, was willst du denn noch? Steh auf, geh ein bisschen rum. Wir werden nicht den ganzen Nachmittag hier verbringen. Lou hob den Kopf. Was wollen wir denn tun bis morgen früh? Der Indianer hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Du wirst weiter Heia machen, und ich werde weiter fahren. Wohin, geht dich nichts an. Ich will nicht mehr in diesen Kofferraum zurück, sagte Lou, ich kann nicht mehr. Jedes Mal hab ich das Gefühl, ein Sargdeckel schließt sich über meinem Kopf. Der Indianer hob die Augen zum Himmel. Jemineh, was spinnst du dir da zusammen. Von wegen Sarg. Ich brauche dich schließlich, und zwar frisch und munter. Was sollte ich denn morgen früh ohne dich tun? Hä? So und jetzt beeil dich, lauf fünf Minuten lang rum, dann geht’s wieder los. Willst du einen Apfel? Lou nahm einen Apfel und aß ihn, ohne irgendetwas zu schmecken. Dann stand sie auf und ging langsam rund um das Auto, wobei sie sich mit der Hand an den Baumstämmen abstützte. Der Indianer stand da, rauchte, hatte den Blick auf sie gerichtet. Dann stieß er plötzlich einen Pfiff aus. Was ist los?, fragte Lou. Ist das nicht klar? Er deutete mit dem Kinn auf den Kofferraum. Husch, husch ins Körbchen! Arschloch!, konnte Lou sich nicht verbeißen zu entgegnen. Er lachte kurz auf. Doch nicht so ganz, sagte er. Aber er schien sich selbst nicht ganz sicher zu sein, er wirkte extrem angespannt.
Lou legte sich wieder in den Kofferraum. Als der Indianer sich ihr mit dem Knebel näherte, stieß sie seine Hände weg. Sie dachte nicht mehr nach, auf einen Schlag mehr oder weniger kam es ihr nicht mehr an. Der Indianer schlug mit der Faust gegen ihr Schlüsselbein, aber es war kein sehr harter Schlag, eher einer, der sagen sollte: Nun stell dich nicht so an. Und während er ihr die Hände fesselte, sagte er: Heute Abend machen wir für die Nacht Station. Dann essen wir an irgendeinem ruhigen Eckchen zu Abend. Der Peugeot rollte, hielt an. Wir bummeln, fiel Lou auf. Sie hielten mehrere Male, einmal länger. Offenbar hatte der Indianer vorne ein Nickerchen gehalten. Vielleicht auch spähte er etwas aus, überwachte ein Gebäude. Lou lehnte sich nicht mehr auf, dennoch erschien ihr jede weitere Stunde, die verging, schwerer zu ertragen. Es war gar nicht die Angst. Angst hatte sie keine mehr. Sie kämpfte nicht mehr, aber genauso wenig hatte sie aufgegeben. Tief innen, passiv, saß die Verweigerung. Ich will nicht, dass man mich fotografiert. Der Typ betreibt Wortklaubereien. Wenn er mich fotografieren lässt, liefert er mich aus. Auch wenn er meine Nummernschilder vergraben hat oder zulässt, dass ich einen falschen Namen nenne, er liefert mich aus. Er verurteilt mich. Es ist ja schließlich kein Zufall, dass man bei einem Prozess den Angeklagten nicht fotografieren darf. Fotografieren heißt verurteilen. Was wird aus einem, der in der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt wurde, tagelang? Was wird bei »Angela« aus mir, mit den Kunden, die hinter meinem Rücken tuscheln, wenn ich zwischen den Tischen durchgehe? Und den Nachbarn? Dem Briefträger? Dem Bäcker? Schau ich ihnen einfach ins Gesicht? Zieh ich eine dunkle Brille an? Lass ich mir eine Gesichtsoperation machen?…
Auch wenn ich wegziehe, das Problem zieht mit mir zusammen weg. Der ganze Planet wird mich schief angucken. Überall wird man mich wieder erkennen. Wie soll man leben, wenn man der bekannteste Fahrerflüchtige der Welt ist? Wie soll man das überleben? Wie lange hält man das durch? Ich werde mich nicht fotografieren lassen, wiederholte sich Lou. Natürlich auch nicht filmen – das ist dasselbe, schlimmer noch. Das würde sie dem Typen von Paris-Match sagen: Sie filmen mich nicht. Sie haben nicht das Recht dazu ohne mein Einverständnis, und ich verbiete es Ihnen. Ich werde Ihnen alles erzählen, Sie sind der erste Mensch, mit dem ich darüber rede, reicht Ihnen das denn nicht? Nein, würde der Typ sagen. Das war so abgesprochen, ich sollte filmen können. Kein Film, kein Geld. Der Indianer würde wahnsinnig wütend werden. Es würde Lou übel ergehen. Aber sie würde darauf bestehen, sie wollte nicht fotografiert werden, und Schluss. Das war der einzige Gedanke in ihrem Kopf, ihr ganzes Wesen war darauf zusammengeschrumpft in der Dunkelheit. Dann gab es wieder eine Pause, eine lange Pause. Und diesmal öffnete sich der Kofferraum. Wieder einer von diesen Scheißwäldern, dachte Lou, eine Sackgasse am Ende eines Wegs. Es wurde dämmrig. Es roch nach Laub und Feuchtigkeit. Der Indianer hatte kein Licht eingeschaltet oder es vielmehr zusammen mit dem Motor wieder abgeschaltet. Er löste Lous Fesseln und half ihr sich aufzusetzen. Er sah sie an, wie er sie noch nie angesehen hatte. Was ist los?, fragte er. Wie, was ist los?, fragte Lou, während sie aus dem Kofferraum kletterte. Hab ich ein Veilchen? Bin ich blass?… Sprich nicht so laut, sagte der Mann. Hast du Hunger? Keine Ahnung, sagte Lou. Ich weiß nicht mehr.
Sie setzte sich auf die Erde, gegen einen Baumstamm gelehnt. Der Indianer hielt ihr ein dreieckiges Sandwich hin, das in einer leichten Plastikschale steckte. Sie nahm es nicht. Sie begann zu reden, mit tonloser Stimme, in abgehackten Rhythmen. Was los ist, das hab ich schon gesagt, ich will nicht fotografiert werden. Das ist seit dem Unfall so, ich will nicht. Film oder Foto ganz gleich, die Antwort ist Nein. Sein Leben in der Zeitung ausgebreitet zu sehen, sein Foto an jedem Kiosk hängen zu sehen, überall Sachen zu lesen, die man nicht hat sagen wollen, das ist wie vergewaltigt zu werden. Der Indianer war neben ihr in die Hocke gegangen, sein Gesicht lag im Schatten. Trink erst mal was, sagte er und hielt ihr eine Flasche hin, die sie auch nicht nahm. Du, du bist kein Mädchen wie andere. Ich würde sogar sagen, du bist irgendwie nicht von heute. Jeder träumt davon, ins Fernsehen zu kommen und sein Bild in der Zeitung zu sehen. Es gibt welche, die dafür zahlen würden, und du… Lou unterbrach ihn. Für mich ist das wie Sterben. Aus sich selbst herausgerissen zu werden, seiner selbst entleert zu werden. Ich will nicht. Sei still, sagte der Indianer. Du steigerst dich da rein. Wir müssen noch vierundzwanzig Stunden ruhig bleiben, alle beide. Ruhig? Lou brach in ein schrilles Lachen aus, das in ein Schluchzen überging. Ruhig bleiben, wenn man entführt wird, bedroht, gefesselt, in einen Kofferraum gesperrt? Wenn man alles verloren hat und dann noch ins Ausland verschwinden muss? Sie hatte wieder ihre tonlose und abgehackte Stimme. Ich kann in diesem Kofferraum nicht bis morgen bleiben, ich will da nicht mehr rein, mein Rücken ist Matsch, ich werde wahnsinnig, irgendwann demnächst fange ich an zu kreischen, ohne mehr aufhören zu können, ich brauche ein Bad, ich muss
mir die Haare waschen, ich bin dreckig, todmüde, in dem Zustand kann ich keinen Journalisten treffen… Einverstanden, sagte der Indianer. Er hatte die Hand auf Lous Nacken gelegt und streichelte sie wie ein Pferd oder ein Kind. Lou drehte den Kopf beiseite, er nahm die Hand weg. Einverstanden, sagte er noch einmal. Ich werd dir ein Zimmer auftreiben. Du kriegst dein Bad und wirst dich ausschlafen. Er erhob sich. Allerdings wenn wir in die Zivilisation zurückkehren, wirst du dich am Riemen reißen müssen. Schaffst du’s, vernünftig zu bleiben? Und ohne ihre Antwort abzuwarten: Komm, steig vorne ein. Mittlerweile war es Nacht geworden. Als die Tür aufging, leuchtete sie ein dreieckiges Stück Wald aus. Das ist das letzte Mal, sagte der Indianer, als er ihr die Hände fesselte. Das vorletzte Mal, verbesserte er sich. Fügsam und obwohl er nichts gesagt hatte, lehnte Lou sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Eine Marionette, dachte sie. Eine Lumpenpuppe. Ein Wrack. Sie hatte offenbar gedöst – sie machte keine großen Unterschiede mehr zwischen dösen, gehorchen, im Dunkeln eingesperrt werden, die Augen zumachen müssen. Sie spürte plötzlich, dass das Auto stand und hob den Kopf. Der Indianer sah sie an, sie fragte sich, wie lange wohl schon. Sie standen in einer gebogenen und schwach erleuchteten Straße, Lou hätte nicht sagen können, ob in einem der Vororte oder der Außenbezirke von Paris. Oder am Rand einer anderen Stadt – aber irgendetwas sagte ihr, dass das nicht der Fall war, sie wusste nicht, warum, aber war trotzdem sicher, das Pariser Umland wiederzuerkennen. Zehn Meter vor dem Auto, auf der gegenüberliegenden Straßenseite in vertikaler Leuchtschrift ein Schild HOTEL. Ich steig aus und mach dir auf, sagte der Indianer.
Er nahm die Reisetaschen von der Rückbank, stieg auf seiner Seite aus, öffnete die Beifahrertür, nahm Lou die Fesseln ab, zog sie hoch. Er hielt sie am Ellenbogen bis zur Hoteltür. Für eine Nutte werden sie mich nicht halten, dachte Lou, während sie sich in einen roten Sessel aus Skai fallen ließ. Die Lobby war seit dreißig Jahren nicht mehr gestrichen worden. Niemand war an der Rezeption, kein Laut zu hören, nur das Gewisper eines Films im Fernsehen, offenbar ein amerikanischer, dem typischen Klang der Stimmen nach zu urteilen, billig synchronisierte Hollywood-Dialoge. Der Indianer drückte auf die Klingel. Eine Frau undefinierbaren Alters erschien schließlich, eine Filipina oder Indonesierin, die sich deutlich anmerken ließ, dass sie sich gestört fühlte. Ein Zimmer?, fragte sie mechanisch. Sie sprach durch die Nase. Ja, sagte der Indianer. Doppelzimmer, mit Bad. Ich zahle gleich. Er hatte eine Banknote aus der Tasche gezogen, oder zwei, Lou konnte es nicht recht sehen. Offenbar gab es kein Wechselgeld, oder er ließ es liegen. Das Zimmer im dritten Stock war asymmetrisch, hatte ein altmodisches Fenster, das sich hinter Nylonstores verbarg. Lou konnte ihre Augen nicht davon abwenden. Der Indianer offenbar auch nicht, denn kaum hatte er die Tür doppelt verriegelt und den Schlüssel in die Tasche gesteckt, öffnete er das Fenster weit, blickte hinaus und schloss es dann wieder. Danach ließ er Lous Reisetasche zu Boden fallen, behielt aber die kleine über der Schulter. Nicht gerade der Luxus, sagte er. Lou hatte sich in ihren Schuhen und ihrer Jacke aufs Bett geworfen, sie empfand ein solches Gefühl von Raum und Sauberkeit, dass es sehr wohl an Luxus grenzte, und umso mehr, als sie das sichere Gefühl hatte, dass sie nicht lange
etwas davon haben würde. Irgendetwas überlegen, damit ich heute Nacht nicht geknebelt werde, dachte sie, aber ihr fiel nichts ein. In einem Hotel kann er nicht das Risiko eingehen, dass ich irgendwann in der Nacht zu brüllen anfange. Der Indianer war ins Badezimmer gegangen. Er schaut nach, ob es da Ausgänge gibt, dachte Lou. In Pariser Badezimmern gibt es im Allgemeinen keine Fenster. Sie hörte ein Geräusch, wie metallisch, dann das Rauschen eines aufgedrehten Wasserhahns. Dein Bad läuft ein, sagte der Indianer, zurück ins Zimmer tretend. Du kannst jetzt rein. Nimm dir Zeit. Ich werds danach genauso machen und mich auch in die Wanne legen. Du musst schon entschuldigen, aber ich hab den Schlüssel, du wirst dich nicht einschließen können. Glauben Sie denn, sagte Lou, ich hatte vor, mir die Adern aufzuschneiden? Ich frage mich, womit ich das wohl machen sollte?… Das reicht, unterbrach der Indianer. Und lass die Tür offen, ich will hören, was du machst. Lou nahm ihre Reisetasche, betrat das Badezimmer, lehnte die Tür nur an und verspürte dennoch das Gefühl sofortiger Entspannung. Vielleicht war es der laute Wasserschwall, der den Eindruck erweckte, man sei allein. Nein, der Raum hatte kein Fenster. Er war gerade groß genug, um einer alten Badewanne, einem Waschbecken, einem kleinen Tisch, einem Stuhl und in einem Winkel hinter einem Plastikvorhang der Kloschüssel Platz zu bieten. Die Beleuchtung war mörderisch, schwach und grell zugleich. Lou fand keine Kraft, sich im Spiegel zu betrachten, der über dem Waschbecken hing. Aber das Wasser aus dem Hahn war heiß. Zusammengefaltet über dem Handtuchhalter ein Badetuch aus ungebleichter Baumwolle, daneben zwei kleinere Handtücher. Es gab sogar eine kleine Fußmatte, die Lou auf den Linoleumboden legte.
Sie zog ihre Windbluse aus, ihre Espadrilles und leerte ihre Tasche auf den Tisch. Sie würde ein sauberes T-Shirt anziehen, einen sauberen Schlüpfer, eine saubere Hose, weiter konnte sie nicht denken. Sie ließ ihre Kleider auf den Boden fallen, löste den fleckigen Verband von ihrem Finger, stieg ins Wasser und drehte dann den Hahn ab. Es war ihr gleich, ob der Indianer die Tür öffnete, aber es wäre ihr peinlich gewesen, dass er sie hätte in die Wanne steigen hören, deshalb hatte sie den Hahn erst zugedreht, nachdem sie sich hineingesetzt hatte und sich nicht mehr bewegte. Die Stille rief eine sofortige Reaktion hervor. Ist was?, fragte der Indianer aus dem Zimmer. Nein, sagte Lou. Sieh zu, dass du irgendwelche Geräusche von dir gibst, andernfalls müssen wir quatschen, und da bin ich nicht sehr gut drin, sagte der Indianer. Bin kein großer Redner. Lou musste sich beeilen. Sie tauchte unter, kümmerte sich nicht mehr um die Geräusche, die sie von sich gab, seifte sich von Kopf bis Fuß ein, bürstete ihre Nägel, alle Nägel, wusch die Haare. Dann zog sie den Stöpsel, und während das Wasser ablief, spülte sie sich mit dem Duschkopf ab. Sie stieg aus der Wanne, frottierte sich Körper und Haar, schlang das Badetuch unter den Achseln um sich, und dann traute sie sich auch, in den Spiegel zu blicken. Wirke noch nicht mal übernächtigt, entdeckte sie. Zwar war sie blass, hatte aber weder Ränder unter den Augen noch einen blauen Fleck auf der Wange, sie sah überhaupt nicht anders aus. Noch nicht einmal schmalere Wangen, dachte sie fast bedauernd, hatte sie ihr rundes Gesicht doch nie leiden können. Der Schnitt in ihrem Finger hatte sich noch nicht geschlossen. Die Badewanne entleerte sich mit einem Gurgeln des letzten Wassers. Lou wischte sie aus, stöpselte sie wieder zu und drehte den Hahn voll auf. Dann klaubte sie ihre
schmutzige Wäsche zusammen und stopfte sie zusammen mit den Toilettensachen in ihre Reisetasche, nahm die sauberen Kleidungsstücke, die sie herausgezogen hatte, über den Arm und trat, die Tasche vor sich hertragend ins Zimmer. Bitteschön, sagte sie. Das zweite Bad läuft ein. Der Indianer hatte sich seinerseits auf dem Bett ausgestreckt, die Füße in den graustichigen Turnschuhen übereinandergelegt und die Hände unter dem Nacken gekreuzt. Er stand auf. Danke, sagte er, aber du glaubst doch wohl trotzdem nicht, dass ich dich hier allein lassen werde. Du gehst mit mir da rein. Wenn ich dich alleine lasse, kommst du noch auf die Idee, um Hilfe zu schreien oder gegen die Tür zu trommeln. Während er redete, hatte er die Schuhe abgestreift, ohne nach unten zu sehen oder sich zu bücken. Hopp, sagte er, du gehst vor. Stört mich nicht, sagte Lou und legte ihre Sachen auf dem Bett ab, ich bin nicht prüde, muss mir eh die Haare föhnen. Sie holte den Föhn aus der Tasche und kehrte ins Badezimmer zurück. Der Indianer kam hinter ihr her, zog die Tür zu, drehte den Schlüssel herum, zog ihn ab und warf ihn in die Wanne. In wenigen Sekunden war er ausgezogen und lag in der Wanne. Lou sah ihn nicht an. Sie fand eine Steckdose neben dem Waschbecken und fing an, ihre Locken zu föhnen, so wie sie es immer tat, nämlich zuerst im Nacken und dann von unten nach oben, um ihrer Frisur etwas Volumen zu geben. Der Indianer drehte das Wasser ab. Von der Wanne aus sprach er Lou an: Weißt du, dass du ziemlich knackig gebaut bist? Er sagte das nicht in einem besonders freundlichen Ton, aber dafür laut, um das Gebrumm des Föhns zu übertönen. Bei einem Mädchen, fuhr er fort, weiß man erst wirklich, was an ihr dran ist, wenn man sie ganz nackt sieht. Vorher kann man nie sicher sein. Es gibt welche, die scheinen super auszusehen
und sind es dann gar nicht so sehr. Und umgekehrt genauso, da kann man schöne Überraschungen erleben. Lou trug noch immer das über der Brust verknotete Badetuch. Das heißt, so ganz sicher kannst du noch nicht sein, sagte sie, ebenfalls laut, den Blick auf ihr Haar im Spiegel gerichtet. Hast du gesehn?, sagte der Mann. Du hast mich geduzt. Wurde aber auch Zeit. Lou drehte den Kopf zu ihm um, sah ihn geradeheraus an und lächelte. Und dann warf sie ihren Föhn in die Wanne. Durch ihre Geste rutschte das Badetuch auf ihre Hüften, aber der Indianer hatte nichts mehr von dem Anblick. Sein ganzer Körper hatte sich hochgebogen, sich aus dem Wasser gehoben, bevor er zurück sackte und schlaff wurde und gleichzeitig eine Welle über den Rand der Wanne schwappte und auf den Boden klatschte. Sein Gesicht war unter Wasser bis zu den Augen, und Lou sah, dass sie offen standen. Einen Augenblick blieb sie regungslos. Der Föhn arbeitete nicht mehr. Der Mann bewegte sich nicht mehr. Schnell jetzt, dachte sie, machte sie. Den Daumen und Zeigefinger zu einer Zange geformt, zog sie den Stecker des Föhns aus der Wand und näherte sich der Wanne. Der Apparat lag auf dem Grund neben einem braunen Fuß. Lou zog ihn an der Schnur aus dem Wasser, ließ ihn eine Weile auslaufen, schlug ihn dann in eines der Handtücher und legte ihn auf den kleinen Tisch. Dann drehte sie den Wasserhahn der Wanne wieder auf. Das Wasser musste diese Augen bedecken. Sie starrte nur auf den Hahn. Sie wollte die Wanne so weit füllen, dass der gesamte Körper unter Wasser wäre. Schnell jetzt. Sie wischte den Boden mit der Badezimmermatte trocken, die sie dann mehrere Male im Waschbecken auswrang. Sie nahm das zweite Handtuch und rieb damit die Wasserhähne, den Wannenrand, die Steckdose
ab. Die Kleider des Mannes lagen auf einem Haufen auf dem Stuhl. Lou zog ihr Badetuch wieder unter die Achseln und wischte auch den Handtuchhalter und die Türklinke ab. Mit einem Schlag verlor sie ihre Selbstbeherrschung oder, was sie stattdessen hatte, ihre panische Ruhe: Das Badezimmer war abgeschlossen. Es kostete sie Überwindung, in die Wanne zu sehen. Der Schlüssel glänzte gut sichtbar unter den angezogenen Beinen des Mannes. Lou drehte den Wasserhahn zu, tauchte den Arm ins Wasser und ergriff den Schlüssel. Bis ans bittere Ende, dachte sie. Machte sie. Sie wischte nochmals den Wasserhahn der Badewanne ab, ebenso den Rand. Der Mann war völlig unter Wasser, einschließlich der Haare. Einige Strähnen trieben obenauf. Lou öffnete die Tür, wischte mit einem Zipfel des Badetuchs das hervorstehende Schlüsselende ab. Aber sie konnte nicht alles wegwischen, sie musste damit aufhören. Sie ergriff den Föhn, die Kleider auf dem Stuhl und prüfte nach, dass nichts, was ihr oder dem Indianer gehörte, im Badezimmer liegen geblieben war. Im Zimmer war es frisch. Schnell jetzt, dachte Lou. Sie legte alles, was sie in den Händen trug auf dem Bett ab, neben ihrer Reisetasche, zog ihre sauberen Kleider hervor und zog sich an. Das weitere Vorgehen schien ihr klar: Sie würde alles mitnehmen, was zusammen mit ihr und dem Typen in dieses Zimmer gekommen war, außer den Dingen, die ein Mensch mitgenommen hätte, der in einem Hotelzimmer Selbstmord begehen wollte. Seine Kleider, seine Schuhe, ein bisschen Geld, das ist alles, dachte sie. Sie hatte nie irgendwelches Gepäck bei dem Indianer gesehen. Seine Taschen mussten voll sein. Sie leerte sie alle, Kleidungsstück nach Kleidungsstück. Sie hatte sich dazu aufs Bett gesetzt, sie begann bei den
Außentaschen der Jacke. Das Leder war warm und weich, sie hatte das Gefühl, ein Tier zwischen den Fingern zu haben. Den Knebel und den Gürtel, mit dem er sie gefesselt hatte, stopfte sie, ohne einen Blick darauf zu werfen, in ihre Reisetasche. Ihre Uhr desgleichen. Auch das Schweizer Taschenmesser – das aber erst, nachdem sie es ein paar Sekunden in der Hand behalten hatte. Sie hatte mehrmals das Gefühl gehabt, der Indianer müsse ein Messer tragen, mehrmals auch, dass er vielleicht doch keines hätte, dass er gar keines brauchte. Aber wenn sie »Messer« dachte, hatte sie etwas anderes vor sich gesehen, etwas Größeres, Schärferes, was sich nicht zusammenklappen ließ. In der inneren Brusttasche steckte ein zusammengefalteter Zettel, den Lou auffaltete. Das Blatt aus dem Ringbuch der Werkstatt, sah sie in einem Schwall von Aufregung, faltete es dann rasch wieder zusammen und legte es zu den Dingen, die sie mitnehmen würde. Aus den fünf Jeanstaschen holte sie eine schwarze Uhr heraus, eine dicke Brieftasche, einen Autoschlüssel, sie nahm an von dem Peugeot, zwei weitere Schlüssel, den des Hotelzimmers mit seinem Anhänger und einen größeren, der vermutlich zu dem Zimmer im sechsten Stock passte, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte, ein flachgedrücktes Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug. Und ihre Nagelschere, die seit ihrer Entführung in Viroflay in der Tasche geblieben war. Aus der Brieftasche zog sie zwei Geldscheine und steckte sie in die rechte vordere Hosentasche, alle anderen Sachen warf sie in ihre Reisetasche. Sie musste noch überprüfen, ob an seinen Kleidern irgendwelche Erkennungsmerkmale waren, irgendein eingestickter Name oder eine Marke, die gestattet hätten, ihren Eigentümer zu identifizieren. Sie untersuchte die
Kleidungsstücke eins nach dem anderen mit angehaltenem Atem, na komm, auch das Hemd und die gestreifte Unterhose. Dann stand sie auf, atmete tief ein, ergriff ihre dicke Reisetasche und zog den Reißverschluss zu, bevor sie sie auf dem Boden abstellte. Fertig, jetzt gehe ich. Ihre Umhängetasche hing am Bettpfosten, sie legte sie über die Schulter. Ihr Herz schlug heftig, stärker als normal, aber langsam, als würde es die Sekunden schlagen. Sie ging ins Badezimmer zurück, um die Kleider des Indianers über den Stuhl zu legen und das Badetuch wieder aufzuhängen. Sie warf keinen Blick auf die Wanne. Zurück im Zimmer, ließ sie ihren Blick umherwandern. Sie erinnerte sich, was hier geschah. Dann fasste sie ihre Tasche am Griff und ging zur Zimmertür. Sie warf noch einen Blick zurück, dann drehte sie mit drei im Ärmel ihres T-Shirts steckenden Fingern den Schlüssel lautlos im Schloss herum. Sie schloss die Tür von außen, den Schlüssel ließ sie innen stecken. Der Korridor war beleuchtet. Das Hotel machte einen leeren Eindruck. Lou stieg langsam die Treppe hinunter, sah, dass niemand an der Rezeption saß, durchquerte die Lobby. Um die Tür zur Straße öffnen zu können, musste sie auf einen Knopf drücken, der einen schrecklichen Lärm machte. Dann war sie draußen, ging zwanzig Meter bis zur nächsten Straßenecke und begann zu rennen.
III
Nicht rennen!, sagte sie sich, ohne damit aufhören zu können. Am Ende der schmalen Straße traf sie auf eine etwas breitere, wo der Anblick mehrerer Passanten sie dazu brachte, in normales Tempo zurückzufallen. Es war warm. Es musste mindestens Mitternacht sein. Lou würde später auf die Uhr sehen, jetzt ging es darum, vorwärts zu kommen. Sie erreichte eine hell erleuchtete Avenue und ging geradeaus weiter, ohne die geringste Idee davon zu haben, wo sie sich befand, noch welche Richtung sie eingeschlagen hatte, und nach fünf oder sechs Minuten entdeckte sie, worauf sie gehofft hatte, seit sie das Hotel verlassen hatte: eine U-Bahn-Station. Sah, dass die Gitter nicht heruntergelassen waren und stieg hinunter. Sie stieg eine Treppe hinab, dann eine weitere, bog in einen Gang ein und traf auf die automatischen Türen. Ganz instinktiv tat sie, was sie immer tat: Sie machte die Umhängetasche auf, zog ihr Portemonnaie. Die Fahrkarten, die sie immer darin hatte, waren an ihrem Platz, sie nahm eine heraus und steckte sie in den Schlitz. Jemand neben ihr tat das Gleiche, Lou sah nicht hin, wer es war. Sie folgte dem Gang. Nach zehn Metern ging es auf den Bahnsteig hinunter. Die gewohnten blauweißen Schilder zeigten in zwei Spalten die Haltestellen in beide Richtungen an. Ohne sich Zeit zu nehmen, auch nur einen einzigen Namen zu lesen, entschloss Lou sich für die Seite, auf der die Liste länger war. Auf dem Bahnsteig befanden sich vielleicht fünfzehn, zwanzig Leute. Lou entdeckte den Namen der Haltestelle:
Aubervilliers-Pantin-Quatre Chemins. Und jetzt die Uhrzeit, dachte sie. Sie fand ihre Uhr am Boden der Tasche. Es war zwanzig nach elf. Die Metro fuhr ein, sie stieg hinein, ihre Uhr in der Hand. Es war ihr klar, was sie tun würde; sich verstecken, mehrere Nächte, mehrere Tage. Das Schild in der Mitte des Wagens, das die Strecke der U-Bahn-Linie darstellte, zeigte ihr, dass sie sich auf dem Weg nach Villejuif bzw. Ivry befand. Eine Linie mit Gabelung, die kannte sie. Es war ihr gleich, ob sie in Ivry oder in Villejuif landen würde. Sie würde so weit wie möglich weg von hier aussteigen, an der Endhaltestelle dieses Zugs. Zeit hatte sie. Nur eine einzige Sache zählte im Augenblick, und darüber zerbrach sie sich den Kopf. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie irgendein Indiz zurückgelassen haben konnte, irgendetwas, das sie verraten könnte. Die Umhängetasche gegen sich gedrückt, die Reisetasche auf den Knien, versuchte sie sich die halbe Stunde oder Stunde ins Gedächtnis zu rufen, die sie in dem Hotel verbracht hatte. Welches Hotel? Sie wusste es nicht einmal. In welcher Straße? Auch das nicht, und das erleichterte sie beinahe, als ob nicht zu wissen, wo der Alptraum geschehen war, sie selbst vom Ort des Geschehens gelöscht hätte – ich habe keine Ahnung, ich war da nie – und ihr helfen würde, alles aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Nein, das sagt mir überhaupt nichts. Wenn sie tatsächlich nichts zurückgelassen hatte, das sie verraten konnte, wenn es keinerlei Beweise gab, dann wurde es sehr unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas mit diesem Unbekannten zu tun haben konnte, der in der Badewanne ertrunken war, zweifelsohne jemand, der Selbstmord begangen hatte, genauso wenig wie mit der großen, in ihrem Mercedes zerquetschten Blondine – es war ganz unmöglich: sie, Louise Leroy, die kleine Louise, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne festen
Wohnsitz, sollte etwas mit derartigen Ereignissen zu tun gehabt haben? Ganz unmöglich. Die U-Bahn hielt. Lou hob den Blick und sah auf der Wand der Haltestelle das Schild Gare de l’Est-Verdun. Mit zwei Schritten war sie auf dem Bahnsteig. Aber natürlich: Ein Bahnhof. Sie würde wegfahren, sie würde den Zug nehmen. Und wenn jetzt kein Zug geht, verbringe ich eben die Nacht auf dem Bahnhof. Oder neben dem Bahnhof. Im Bahnhofshotel. Und nehme dann den ersten Zug, der morgen abgeht. Von den U-Bahn-Gleisen hinauf zum Bahnhof führten Rolltreppen und vollständig in Orange gehaltene Gänge. Die Wände waren von orangenen Porzellankacheln bedeckt, ein extrem greller Farbton, der Lou so unpassend vorkam, dass sie sich einen Augenblick lang fragte, ob sie nicht einen falschen Weg eingeschlagen hatte und in einem Einkaufszentrum oder einem Kino herauskäme. Nie zuvor hatte sie eine derartige Farbe in der U-Bahn gesehen. Dann kam sie an die frische Luft und erkannte den Eingang des Bahnhofs wieder. Sie betrat die Halle und ging instinktiv schneller. Um zu den Bahnsteigen zu kommen, musste sie hundert Meter in ungeschütztem Terrain bei voller Beleuchtung zurücklegen. Aber kein Pfiff ertönte, niemand stürzte sich auf Lou. Offensichtlich gab es unter den Leuten, die dort warteten und von denen niemand einen Koffer trug oder wirkte, als sei er in Eile, eine Menge, die wie sie zwischen zwei Zuständen hingen, nicht ganz hier, nicht ganz fort waren. Lou zitterte. Kalt, dachte sie. Hunger. Sie gelangte ans Ende der Halle und stand in dem riesigen Raum, der auf die Nacht hinausging und wo die Bahnsteige endeten. Offenbar beobachtete niemand sie. Sie suchte ihre Windjacke in der Tasche, panisch vor Angst mit einem Mal bei
dem Gedanken, sie nicht zu finden. Aber sie war da, zusammengeknüllt, ein wahrer Lumpen, der nach Benzin und Angst stank. Lou zog sie dankbar an, im Stehen, ihre beiden Taschen zwischen die Knöchel geklemmt. Dann ging sie zu der großen Anzeigetafel für Abfahrten. Es gab einen Zug Paris-Basel um 6 Uhr 40 am nächsten Morgen, einen Paris-Wien um 7 Uhr 49, einen Paris-Bonn um 6 Uhr 55 und nur einen einzigen Nachtzug, der bereits auf dem Bahnsteig wartete, einen Paris-Straßburg um 0 Uhr 21. Basel, Bonn oder Wien, diese Züge hätte Lou ohnehin nicht genommen. Ausland, Grenzübergang, Zoll, Passkontrolle, nein danke. Straßburg dagegen war machbar. Sie fragte sich mit einem Mal, ob das Geld, das sie die ganzen letzten Wochen ihres Lebens zuvor Tag für Tag in ihrem Portemonnaie verborgen hatte, wohl noch da war. Sie öffnete ihre Umhängetasche. Dreitausend und ein paar Zerquetschte, alles noch vorhanden. Der Typ war brutal gewesen, total spinnert, ein Desperado, aber kein Dieb. Der Zug Paris-Straßburg fuhr über Commercy, Toul, NancyStadt, Lunéville, Sarrebourg, Saverne und logischerweise Straßburg. Das stand auf der Anzeigetafel. Warum NancyStadt und nicht Toul-Stadt oder Straßburg-Stadt, darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Momentan hatte sie eine andere Frage im Kopf, sie wusste nämlich nicht, ob sie lieber in Nancy oder in Straßburg aussteigen sollte – instinktiv kam nur eine Großstadt in Frage, die anderen hatte sie sofort aussortiert. Das konnte sie noch im Zug entscheiden. Am einzigen noch offenen Schalter kaufte sie eine einfache Fahrt nach Straßburg, zweite Klasse, ja, nein, ein Sitzplatz. Lieber Nichtraucher. Und wenn sie noch ein Faltblatt mit den Uhrzeiten haben, danke.
Aus einem Automaten konnte sie noch eine Orangina und eine Tüte Madeleines ziehen. Garantiert, weil ich den Namen Commercy gelesen habe, dachte sie. Sonst kaufte sie nie Madeleines, uninteressantes Zeug, Madeleines. Dachte sie. Sie begann auch nicht, davon zu essen, sondern stopfte sie zusammen mit der Getränkedose in die Reisetasche. Es war drei Minuten vor Mitternacht. Blieben noch mehr als zwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges, Lou hatte also Zeit. Sie suchte mit ihrem Blick die Hinweis-Piktogramme ab, Metro, Bus, Taxi, Informationsschalter, Toiletten. Waren die Toiletten um Mitternacht noch offen? Wir schließen um ein Uhr, sagte die Toilettenfrau. Wie der ganze Bahnhof. Kostet zwei Francs. Um ein Uhr macht alles zu. Eine Blassblonde mit Bürstenschnitt, die regelmäßig mit Chlor abgeschrubbt wurde, ihrem Geruch und ihrem ganzen Aussehen nach zu urteilen. Der Typ grausame Krankenschwester, sie würde riechen, wenn jemand rauchte. Auch egal, dachte Lou. Was da in Rauch aufging, würde sie nicht riechen können. Sie schloss sich ein, klappte den Deckel runter und setzte sich darauf. Ganz unten in ihrer Tasche, da wo mittlerweile nur noch Durcheinander war, fand sie die Zigaretten und das Feuerzeug des Indianers. Sie zündete sich eine an, nahm einen tiefen Zug, und sofort wurde ihr speiübel. Komm schon, mahnte sie sich, du rauchst doch nicht seine Zigarette. Die hier hat er doch gar nicht angefasst, es ist eine Gitane wie irgendeine andere. Trotzdem vermochte sie keinen zweiten Zug zu nehmen. Sie legte die brennende Zigarette auf den Boden, zog den Zettel der Werkstatt aus der Tasche und hielt das Feuerzeug daran. Ein aus einem großen Spiralblock gerissenes Blatt. Karopapier. Sie hatte in ihrer Bewegung innegehalten. Erst
musste sie noch lesen, was da stand. Eine große, ungelenke Kugelschreiberschrift: Fiat Uno, Kennzeichen 1904VK92, Louise Leroy. Lackretusche links (Kratzer über zwei Meter). Hinteres linkes Rücklicht auswechseln. Lou stand auf, drehte sich um, klappte den Deckel hoch, zündete den Zettel an und ließ nur den letzten übrig gebliebenen Fetzen ins Wasser fallen, als der Brandrand schon ihre Finger erreichte. Dann zog sie ab, wartete, zog ein zweites Mal. Sie ging zum Ausgang, die brennende Gitane noch zwischen den Fingern, und wartete darauf, zur Ordnung gerufen zu werden. Aber die chlorierte Dame säuberte erbittert ein Waschbecken und hatte ihr den Rücken zugekehrt. Sie erwiderte Guten Abend auf ihr Guten Abend, das war alles. Lou ging zehn Meter und trat ihre Zigarette aus. Neu Hinzugekommene von anderer Art, Gepäck in den Armen und mit entschiedenem Schritt, bewegten sich alle auf den Zug Paris-Straßburg zu. Sie schloss sich an und stieg in einen Wagen zweiter Klasse, Nichtraucher, den einzigen dieser Art in einem Zug, der ansonsten ausschließlich aus Liegewagen bestand. Es war ein altes Modell mit Abteilen. Lou achtete darauf, sich in einem leeren Abteil niederzulassen, doch kaum saß sie, da gesellte sich ein weiterer Fahrgast zu ihr, ein Brauner, der ihr zunickte. Sehr braun. Sie hatte Lust, sich einen anderen Platz zu suchen, verbot es sich aber sofort. Sie hatte es jetzt eilig, dass der Zug losfuhr, und bereits Angst vor diesem Neuankömmling, fast wäre sie wieder ausgestiegen, aber wohin hätte sie dann gehen sollen? Sie hatte sich in eine Ecke gesetzt, auf der Fensterseite. Selbst wenn das Abteil leer ist, setzt man sich in die Ecke. Sie blickte aus dem Fenster auf den düsteren Bahnsteig in der schwarzen Nacht.
Natürlich würde es Fragen geben. Nach Nancy, entschied Lou. Meine Mutter. Meine Mutter wohnt in Nancy, ich fahre jeden Sonntag zu ihr. Aber jetzt gute Nacht, Monsieur, mir fallen die Augen zu. Danke schön, Ihnen ebenfalls. Aber der Mann sagte nichts. Er wirkte nicht so, als hätte er vor zu schlafen, er zog aus einer Art kleinen Aktentasche eine Zeitung hervor und faltete sie vor sich auf. Klassischer Trick, dachte Lou. Ein brauner spanischer Typ in einem Zug nach Straßburg, und er hat geglaubt, dass mir nichts auffällt. Der Zug setzte sich in Bewegung, Lou rückte ihre beiden Taschen an sich heran, wie eine Mutter ihre Babys für die Nacht auf ihren Schoß legen würde, lehnte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Aber wenn sie sich nicht bewegte, die Augen geschlossen hielt und so tat, als würde sie schlafen, würde sie schwerlich vier Stunden wach bleiben können. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn sie frieren würde. Sie erhob sich, zog ihre Jacke aus, legte sie in die Tasche und erstarrte wieder vor Schreck. Obenauf, zusammen mit den Madeleines, hatte sie die Brieftasche des Indianers gesehen. Wenn ihr Nachbar mit einem Mal sagen würde: Französischer Zoll, öffnen Sie bitte Ihr Gepäck, dann wäre sie dran. Wenn er deutscher oder belgischer Zoll sagen würde genauso. Sie stand mit allem auf, was sie auf harmlos wirkende Art greifen konnte, sagte mit einem angedeuteten Lächeln Entschuldigung und ging ans Ende des Korridors. Und wieder schloss sie sich ein. Verrückt, dachte sie, ein bisschen frei bewegen kann ein Illegaler sich nur auf dem Klo. Sie brauchte weniger als eine Minute dazu, den Inhalt der Brieftasche zu untersuchen. Banknoten, sehr viele Banknoten, Lou zählte sie erst gar nicht. Und das einzige Dokument war ein alter Führerschein auf den Namen Pierre-Marie Mercier, von dem Lou auf der Stelle überzeugt war, er müsse falsch
sein. Das Foto zeigte zwar den Indianer, war aber zu neu für einen so alten Führerschein, das Schwarz-Weiß viel zu deutlich akzentuiert. Und dann konnte der Indianer nie im Leben Pierre-Marie heißen. Geheißen haben. Und erst recht nicht Pierre-Marie Mercier. Lou zog das kleine Triptychon aus rosa Pappe aus seiner vergilbten Plastikhülle, beugte sich über das Klobecken und ließ es in kleinen Fetzchen hineinregnen. Als sie das Foto in vier Stücke zerriss, brach sie fast in Tränen aus. Zum Glück, dachte sie, sind die Zeiten vorbei, in denen der Abfluss direkt auf die Gleise ging. Selbst in einem alten Modell von Wagen wie diesem hier gibt es all das nicht mehr. Vorbei, dieser stechende Blick, verschwunden, diese Irokesenmaske. Weggespült. Sie inspizierte ihre Reisetasche, überprüfte alles, was sie von dem Indianer genommen hatte. Auch die Schlüssel konnten ein Indiz darstellen, die von dem Peugeot genauso wie die von der Bude. Die schwarze Uhr ebenfalls. Auch das Päckchen Gitanes und das Feuerzeug, das nur so wimmeln musste von Fingerabdrücken. Sie ging zwei Waggons weiter, bis zu einem Liegewagen. Auf halber Strecke des Korridors klappte sie ein Fenster auf und warf die Schlüssel hinaus in die Nacht. Das Belastendste. Niemand war zu sehen, offenbar schlief jedermann. Lou warf auch noch die Hülle des Führerscheins hinaus, die Uhr, die Zigaretten, das Feuerzeug. Sie war halb erfroren, sie hörte die Stimme des Spaniers mit der Zeitung, der plötzlich hinter ihr stand: Na, bisschen frische Luft schnappen? Genießen wir die Landschaft? Niemals kommt er zur Ruhe, dachte sie, immer muss er aufmerksam sein, der Illegale. Die ganze Zeit nachdenken muss er, um jede Bedrohung vorherzusehen und ihr ausweichen zu können. Tag und Nacht unter Strom. Todmüde.
Sie kehrte in ihr Abteil zurück, vermied dabei jeden Blickkontakt mit ihrem Nachbarn, der immer noch so tat, als lese er, und nahm wieder die Haltung einer schlafenden Mutter mit zwei Babys an. Ob sie wohl jemals mehr erfahren würde über – nein, Pierre-Marie konnte er nun wirklich nicht heißen. Yvon oder Renan hätten so heißen können, die hatten lauter Jean-Maries und Hervé-Maries in ihrer Familie, sogar einen Großvater Marie-Pierre und einen Onkel Marie-Armel. Ein Typ, der nichts zu verlieren gehabt hatte, das war alles, was Lou je über ihn erfahren würde. Und entschlossen, auch noch dieses Nichts zu verlieren. Ein Mann, der nicht mehr zurück konnte und der daraus seinen einzigen Stolz zog. Wie alt? Schwer zu sagen. Um die vierzig, mindestens, obwohl er jünger wirkte. Weil er so mager war wahrscheinlich, muskulös schon, aber nur Haut über den Muskeln. Bösartig? Eher kalt als bösartig. Eher verbittert. Lou spürte einen Lufthauch auf ihrem Handgelenk und öffnete die Augen. Der Spanier über ihr richtete sich auf. Ich wollte nur auf ihrer Uhr nachschauen, wie spät es ist, sagte er. Machen Sie sich keine Umstände, ich hab’s schon gesehen. Meine Uhr ist stehen geblieben, und ich muss in Nancy aussteigen. Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen. Na ja, es ist ja noch Zeit, wir haben halb vier und sind noch nicht an Toul vorbei. Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgeweckt habe. Er setzte sich wieder hin. Lou hatte drei Stunden am Stück geschlafen, ihre Reisetasche war von der Sitzbank gerutscht, und sie hatte nichts bemerkt. Von dem Halt in Commercy hatte sie nichts mitbekommen. Als der Zug in Toul anhielt, stand sie auf. Sie brachte es kaum über sich, dem Spanier im Vorbeigehen noch »weiterhin gute Reise« zu wünschen. Sie erwartete so etwas wie: Für sie ist die gute Reise aber hier zu Ende, Mademoiselle, stattdessen
antwortete der Mann: Vielen Dank, Sie haben Glück, dass Sie angekommen sind. Lou sah, dass außer ihr noch zwei weitere Reisende in Toul ausstiegen. Wie nannte man die Einwohner hier eigentlich, Touliens? Sie wusste, dass es viertel vor vier war, trotzdem hob sie in der Bahnhofshalle den Blick und sah auf die Uhr über den geschlossenen Schaltern, wo sie sehr deutlich ablesen konnte, dass das eine unmögliche Zeit war, um in einer unbekannten Stadt anzukommen und nicht weiter aufzufallen. Sie entdeckte eine Bank in einer Ecke. Doch dann gingen die Lichter aus, Schlüssel klingelten, offenbar schloss der Bahnhof. Sie ging in die Nacht hinaus. Sie würde versuchen, irgendwo ein Zimmer zu finden, sie hatte das Bedürfnis sich einzuschließen. Sie konnte in der Nähe des Parkplatzes, der da anstelle eines Bahnhofsplatzes lag, kein einziges Hotel entdecken. Sie ging ein paar Minuten lang auf gut Glück, kam an einem »Hotel de l’Europe« vorbei, das offenbar geschlossen war, und fragte sich schon, ob sie nicht gezwungen sein würde, bis zum Morgengrauen weiterzugehen, als sie auf ein einladend aussehendes Etablissement traf. »Zimmer frei Tag und Nacht« stand auf einer Pappe, die neben der Tür an einem Nagel hing. Als sie gerade den Finger auf die Klingel legen wollte, öffnete ein alter Mann in blaugrauem Anzug und graublauem Haar. Ich habe das Schild »Zimmer frei Tag und Nacht« gesehen, stotterte Lou. Ganz genau, sagte der alte Herr mit großer Freundlichkeit, obwohl »Tag und Nacht« vor allem zehn vor vier bedeutet. Sind Sie alleine? Ja, sagte Lou. Ich meinte, ob sie als Einzige aus dem Zug gestiegen sind?, verbesserte der Hotelier sich. Nein, sagte Lou. Dann werden wir also noch fünf Minuten offen lassen. Einzelzimmer mit fließend Warmwasser, wäre Ihnen das recht? Oder hätten Sie lieber eins mit Dusche? Oder Badezimmer? Nein, kein
Badezimmer, sagte Lou nervös. Warmwasser ist in Ordnung. Gibt es ein Radio? Alle unsere Zimmer haben Radio und Fernsehen, sagte der Mann, und streckte seine Hand nach Lous Reisetasche aus. Ich werde Sie begleiten. Nein, sagte Lou und wich zurück, Sie müssen nicht mit hinaufkommen, sehen Sie, ich habe nur das Gepäck hier. Der alte Mann reichte ihr den Schlüssel. Zimmer 21 im zweiten Stock, sagte er. Gute Nacht, Madame. Eine Weile lang suchte Lou in dem in den Nachttisch eingebauten Radio nach France-Info und fand den Sender zufällig gerade in dem Augenblick, als die Vier-UhrKurznachrichten zu Ende gingen. Es ist Sonntag, erinnerte sie sich. Sonntag oder nicht, egal, sie kannte schließlich ihr France-Info, nach Mitternacht kamen die Kurznachrichten alle halbe Stunde. Sie würde also bis halb fünf warten. Sie ging sich im Badezimmer die Zähne putzen, zählte im Geiste zurück bis sechs: Es war nicht einmal sechs Stunden her, dass sie ein Bad genommen hatte. Den Anblick des Emails und der Wasserhähne konnte sie kaum ertragen, sie kam schnell zu Ende und legte sich im TShirt ins Bett, bei brennendem Licht und mit dem Gedudel des Radios zwanzig Zentimeter von ihrem rechten Ohr entfernt. Sie erwachte kurz vor sieben, das Licht war immer noch an, im Radio, noch immer neben ihrem Ohr, plapperte es mittlerweile. Sie hörte eine halbe Stunde zu. Die Lage in Jerusalem war weiterhin sehr gespannt, seit der Aktion der jüdischen Siedler vom Freitag. Die israelische Regierung hatte noch keine Reaktion verlauten lassen. In Polen hatten Parlamentswahlen stattgefunden. Offenbar war es keiner der führenden Parteien gelungen, die absolute Mehrheit der Stimmen zu gewinnen. Auch in Serbien wurde gewählt, und zwar ein neuer Staatspräsident, der nicht mehr Slobodan Milosevic heißen würde, da dieser nicht zum dritten Mal
kandidieren konnte. Immer noch Serbien: Die Wähler waren außerdem aufgefordert, ihre Volksvertreter für das Parlament zu erneuern, und hier wurden der Partei Milosevics gute Chancen eingeräumt, als Sieger aus der Wahl hervorzugehen. Dieser Sonntag war der offizielle Tag des Nationalen Kulturerbes: Der Eintritt zu allen öffentlichen denkmalgeschützten Einrichtungen war kostenlos, sehr viele Denkmäler und Gebäude, die normalerweise für den Publikumsverkehr geschlossen waren, öffneten ihre Pforten. Jerusalem: noch immer explosive Situation, gespannte Stimmung in Ost-Jerusalem. Sonntagswahlen in Polen und Serbien… Nichts darüber. Kein Wort davon. Lou sah den Aufruhr in der gebogenen Straße vor sich, deren Namen sie nicht wusste, die Polizeiwagen, das Rein und Raus, die Anwohner, die sich fragten, was geschehen war, und sich neugierig zusammenzurotten begannen, der Polizist, der sie auseinander trieb: Nichts Besonderes passiert hier. Sonntag. Und sie hatte nichts anderes zu tun, als sich zu verstecken. Sie schaltete das Licht ab und drehte das Radio aus. Sie hatte nicht vor, wieder einzuschlafen, doch erwachte sie in einem Zimmer, in das zwischen den zugezogenen Vorhängen die Sonne hineinschien, und sah, dass es nach elf war. Ein Jungmädchenzimmer mit weißer Holztäfelung und blauer Tapete. Wo noch gleich? Ach ja, Toul. Lou aß im Bett ihre Madeleines mit dem Wappen von Commercy und trank ihre lauwarme Orangina. Dass sie alle Zeit der Welt hatte, war das Mindeste, was man sagen konnte. Sie hatte nichts zu tun – weniger noch, weniger als nichts: Es lag sogar in ihrem Interesse, sich nicht zu rühren, sich nicht zu zeigen und mit keiner Menschenseele zu sprechen.
Trotzdem konnte sie sich nicht gut den ganzen Tag lang hier einschließen. Das hätte auch wieder geheißen, auf sich aufmerksam zu machen. Alle Zeit der Welt, nichts zu tun, und dennoch, merkte Lou, eine gewisse Bandbreite an Möglichkeiten. Ein winziger Aktionsspielraum. Unmöglich, Ende September als Tourist herumzulaufen, unmöglich, in einem Bistro zu Mittag zu essen, sei es auch schnell und schlecht. Andererseits ebenso unmöglich, sich zu sehr zu isolieren, den Nachmittag auf dem Bahnhof zu verbringen zum Beispiel, oder dreimal hintereinander auf demselben Kinosessel denselben Film anzusehen. Eines war aber klar: Zunächst würde Lou das Hotel verlassen. Sie würde hier nicht zwei Nächte hintereinander verbringen. Was sie danach tun würde, was aus ihr werden sollte, wie man so schön sagt, das war eine von den Fragen, die zu stellen man nicht jeden Tag die Kraft hat, und jetzt gerade hatte sie sie überhaupt nicht. Es gab andere Fragen, weniger schwerwiegende, die dennoch zählten, zum Beispiel: Was habe ich eigentlich bei mir? Wie viel Geld besitze ich? Lou suchte ihre beiden Taschen zusammen und leerte, im Schneidersitz auf dem Boden hockend, ihr Portemonnaie und die Brieftasche jenes Mannes aus, von dem sie nichts wusste. Einmal dreitausend Francs und ein paar Zerquetschte, zum andern knapp zehntausend. Damit kam sie auf eine Summe in einer Höhe, die sie in bar kaum je bei sich getragen hatte. Sie zögerte, dann steckte sie das gesamte Geld in das Portemonnaie, das ihres gewesen war und im Grunde immer noch war. Die Brieftasche des Unbekannten würde sie wegwerfen, und zwar bald.
Dann begann sie, in ihren Taschen Inventur zu machen. Fing mit der großen an. Schmutzwäsche; die würde sie nie mehr tragen. Sie würde sich was Neues kaufen müssen. Dann ein Blick auf ihre Uhr: Morgen. Den Knebel, den sie Stunden über Stunden im Mund gehabt hatte, würde sie auch loswerden. Dann sah sie allerdings, als sie ihn ausfaltete, dass es nur ein großer, bedruckter Baumwollschal war, wie man sie im Monoprix findet, und ganz neu – das heißt vorher war er neu gewesen, Donnerstag. Nein, Freitag. Es war Freitag gewesen, als alles explodiert war. Die Entführung hatte nicht einmal zwei Tage gedauert. Ohne das Radio, die Öffnungszeiten der Geschäfte und all die zahlreichen Methoden der Neuzeit, die Uhrzeit anzuzeigen, hätte Lou sie auf zwei Wochen geschätzt. Was auch wegzuwerfen war: die Michelin-Karte »Pariser Vororte«, die mittlerweile keinen Nutzen mehr hatte. Der Gürtel, das Drecksding. Der Föhn, der tot war. Ich meine, defekt, verbesserte sich Lou. Bis jetzt war alles, was sie untersucht hatte, auf dem Stapel »Wegwerfen« gelandet. Ihren Kulturbeutel allerdings würde sie brauchen. Sie legte die Nagelschere wieder hinein, die niemals daraus hätte entfernt werden dürfen. Bei dem Taschenmesser zögerte sie, legte es dann neben den Beutel: Behalten. Das machte eine ziemlich winzige Habenseite, zumindest dem Volumen nach. Ein Kulturbeutel und ein Taschenmesser. Jetzt die Umhängetasche. Darin fand sie – und hatte dabei das Gefühl, die Grabbeigaben einer alten Gruft zu sortieren – allen möglichen Krempel aus ihrem früheren Leben, eine Sonnenbrille, ein Armband aus Rosshaar, eine halbleere Packung Papiertaschentücher, einen Eau-de-CologneZerstäuber. Auch die Schlüssel der Wohnung in Viroflay waren da, dagegen fehlte – mit einer brüsken Geste drehte Lou
die Tasche um und leerte sie auf dem Parkett aus: Dagegen fehlte ihre Ausweistasche. Ihre Ausweistasche war verschwunden, das hieß, sie hatte keinen Personalausweis mehr und keine Kreditkarte. Der Rest war ihr egal – ihr Wählerausweis, der Blutspenderpass mit ihrer Blutgruppe, die zwei, drei Treuekarten von der Reinigung, dem Schwimmbad, dem Plattenladen. – Das heißt, es war ihr nicht egal. Im Gegenteil. Denn auch diese zweitrangigen Papiere identifizierten sie genauso gut wie der Personalausweis und die Kreditkarte, die ihr zunächst als das einzig Wertvolle vorgekommen waren. Aber ob erstrangig oder zweitrangig, wo mochten diese Papiere jetzt sein? Lou ließ sich in ganzer Länge auf den Parkettboden zurücksinken. Entweder hatte sie eine der Taschen dieses Mannes übersehen, die Papiere waren dort geblieben, und mittlerweile suchte bereits alles, was bei der französischen Polizei Beine hatte, nach ihr. Genau das war der Fehler gewesen, das übersehene Indiz, die entscheidende Dummheit, von der sie sich schon, seit sie in Aubervilliers-Pantin die U-Bahn bestiegen hatte, gesagt hatte, dass man sie unweigerlich begeht. Oder aber der Typ, von dem sie nichts wusste, hatte diese Papiere beiseite gebracht, weil es ihm besser schien, sie in den riskanten Stunden vor, während und nach dem Treffen mit dem Reporter von Match nicht bei sich zu haben, und vorgehabt, sie Lou wiederzugeben, wenn sie auseinander gingen. Und auch da gab es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder hatte dieser Mann Lous Ausweistasche auf seiner Bude im sechsten Stock gelassen und vorgehabt, dort noch einmal vorbeizuschauen, bevor er sich aus dem Staub machte, und dann würde man die Papiere früher oder später finden und die Spur bis zu ihr weiterverfolgen. Oder die Ausweistasche war
versteckt, und zwar richtig versteckt, irgendwo im Wald vergraben zum Beispiel, und dann würde sie niemals mehr irgendwer finden können. Lou setzte sich auf, legte die Arme um ihre Knie. Alles in allem war es vielleicht sogar ganz gut, dass sie keinerlei Ausweis mit sich trug. Schließlich musste sie der Realität ins Gesicht blicken, und die hieß: Sie konnte in Zukunft nicht mehr Louise Origan sein, und auch nicht das Leben dieser Frau führen. Sie musste eine andere Identität finden und eine andere Existenz. Im Übrigen hatte sie bereits damit begonnen. Sie war sogar schon ziemlich weit gegangen in diesem neuen Leben. Ziemlich weit gegangen, auf einer Straße, von der sie nicht wusste, wohin sie führte, das war das Paradoxe daran. So, und jetzt gehe ich, dachte Lou. Wir werden ja sehen. Sie bezahlte ihr Zimmer in bar und versuchte dabei zu verbergen, wie voll ihr Portemonnaie war. Bei näherer Überlegung würde sie besser daran tun, die Brieftasche dieses Mannes zu behalten, von dem sie nicht einmal den Namen wusste. Auf diese Weise hätte sie zwei Geldbörsen, eine flache für die täglichen Ausgaben und eine dicke, die als Sparstrumpf dienen würde. Das macht drei, fasste sie zusammen, ich behalte drei Dinge, das Messer, die Brieftasche und meinen Kulturbeutel. Es herrschte schönes Wetter in Toul, es war mindestens 20 Grad warm, mit ein paar gutartigen Wolken. Lou begab sich in die Altstadt innerhalb der Stadtmauern und ging in den engen Straßen spazieren. Metz, Toul und Verdun, zählte sie im Geiste auf, ohne sich zu erinnern, welche Bedeutung die Namen hatten. Drei Schlachten vielleicht. Grundschulerinnerungen. Sie kam an einer schönen, sehr grauen Kirche vorbei. Rechts am Fuß der Treppe befand sich der Altkleidercontainer irgendeiner karitativen Organisation, in den man gebrauchte Wäsche werfen konnte. Nicht gerade ein dezenter Ort, dachte
Lou, aber das waren die Türme, vor denen man früher die ungewollten Babys abgelegt hatte, schließlich auch nicht gewesen. Ohne die Frage zu entscheiden, tat sie so, als wäre sie absichtlich mit einer Tasche voller Altkleider hierher gekommen und entledigte sich der Wäsche, die sie nicht mehr sehen wollte, also auch eines harmlos wirkenden bedruckten Baumwollschals. Einmal dabei ließ sie auch gleich noch die Michelin-Karte in einem Gully verschwinden, zwei Straßen weiter, und ohne dabei nach links oder rechts zu sehen. Toul war wirklich eine sehr kleine Stadt. Lou hatte den Eindruck, ein riesiges Spotlight halte sie in einem Lichtkreis gefangen, wie die halbnackten Mädchen in der Zirkusarena. Es würde schwierig sein, in einer Stadt dieser Größe Arbeit zu finden. Wenn sie hier Restaurants und Geschäfte eins nach dem anderen abklappern würde, wäre man schnell auf sie aufmerksam geworden – »genau, die Braunhaarige, die nicht so genau zu wissen scheint, wie sie eigentlich heißt…« Sie entschloss sich, Toul wieder zu verlassen. Die Frage war allerdings, in welche Richtung. Sie wusste nicht, ob sie weiter bis Nancy sollte oder wieder nach Paris zurück. Ihre Broschüre informierte sie darüber, dass es einen Zug Toul-Nancy um 15 Uhr 53 gab und einen Toul-Paris um 14 Uhr 57. Sie wählte Paris. So gewann sie eine Stunde. Auf was oder wen, das würde sie in den nächsten Tagen erfahren. Und dabei entdeckte sie ein weiteres Paradoxon im Leben der Illegalen: Man versteckt sich besser in bekannter Umgebung, da war sie sich sicher. Im Zug verdrückte sie vier Scheiben von einem unglaublich feinen und süßen englischen Kuchen, das einzig feste Nahrungsmittel, das es an der Bar gegeben hatte. Sie würde Mühe haben, jemals wieder einen Tisch zu decken zum Essen, falls sie überhaupt noch irgendwelche Essen machen würde.
Aß man im Gefängnis eigentlich an einem Tisch? Lou wusste wie jedermann, dass man ein Tablett in die Zelle geschoben bekommt, aber dann? Legt man es auf die Knie und setzt sich zum Essen auf die Bettkante? Oder gibt es in irgendeiner Ecke einen Tisch? Um 15 Uhr 12 hielt der Zug am Bahnhof von Commercy an. Kurz vor 16 Uhr nutzte Lou die Gelegenheit, dass niemand hinsah, aus, um diesen verdammten zusammengerollten Ledergürtel in dem kleinen Papierkorb unter dem Fenster neben ihrem Sitzplatz verschwinden zu lassen. Um 17 Uhr 59 war sie in Paris. Sechs Uhr abends, und es war so hell wie mittags. Lou fuhr noch im Bahnhofsgebäude zur U-Bahn hinunter. Es gab nicht hundert verschiedene Linien, die über die Gare de l’Est fuhren, sondern drei. Sie würde nicht wieder die Richtung nehmen, aus der sie gestern Abend hier fluchtartig ausgestiegen war, Ivry oder Villejuif, die gegabelte Linie. Dann hätte sie das Gefühl, wieder zwei Schritte zurück zu tun, in die falsche Zeitrichtung. Dergleichen zu können ist ja etwas, wovon man häufig träumt, aber jetzt nicht, um nichts in der Welt hätte Lou noch einmal den gestrigen Abend erleben wollen. Sie stieg in die Linie 4, Richtung Porte d’Orléans, ebenfalls eine Richtung, die entgegengesetzt von Aubervilliers-Pantin lag, und so weit wie möglich von dort entfernt. Sie stieg an der Endstation aus, es war ihr ganz recht, dass sie zugleich auch Paris hinter sich ließ. Es wurde dringlich, sich von dem verdammten Föhn zu befreien, der nicht nur extrem belastend für sie war, sondern auch immer wieder etwas Wasser verlor, so dass ab und zu feuchte Flecken auf der Reisetasche auftauchten und wieder verschwanden, die sie an die unheilvollen verräterischen Flecke in Märchen erinnerten. Lou wusste nicht recht, was sie anderes mit dem Apparat anstellen sollte, als ihn möglichst unauffällig in einen
städtischen Mülleimer zu stopfen. Und da war es ihr lieber, wenn es keiner war, der zum Pariser Stadtgebiet gehörte. Es war irrational, das war ihr klar. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie das Mordinstrument bereits identifiziert hatten, ebenso, dass man ausschließlich für die Gemeinde Paris abzüglich der Vororte eine Suchmeldung nach einem Föhn herausgegeben hatte, der einen Kurzschluss hatte. Im übrigen wusste Lou nicht einmal, wo der Kurzschluss passiert war, ob im Pariser Stadtgebiet oder außerhalb. Aber egal, wenn sie diesen Föhn schon in einen städtischen Abfalleimer werfen musste, war es ihr lieber, es geschah in einem Vorort. Irgendwie beruhigte sie das. Vielleicht weil Paris eine strikt abgezirkelte Fläche ist, wohingegen die Vororte sich bis zum Horizont erstrecken. Sie überquerte den in seiner Rinne verlaufenden Ringboulevard und betrat einen Ort, von dem sie nichts wusste, außer dass es sich trotz des Namens schon schwerlich um Orléans handeln konnte, und merkte dann plötzlich, das Ortsschild Montrouge passierend, dass sie direkt auf dem Weg zu »Boatique« war, dem Geschäft für Segelsportfanatiker, wo Yvon arbeitete. Sie machte einen Schwenk um 90 Grad, direkt nach Osten und ging den Ringboulevard auf der Außenseite entlang. Dabei folgte sie einer Rue Barbes, dann einer langen Avenue Vaillant-Couturier, die erst anstieg, dann wieder abfiel. Architektonisch gesehen stand die Ecke hier im Zeichen eines bereits von vornherein verlorenen Kampfes zwischen einem Ring kleiner, chaotisch zusammengewürfelter und gemütlicher Gemeinden und einer Megalopolis, die derart eng im Korsett ihrer Grenzen steckte, dass sie darüber hinausschwappte und die dahinter liegenden Gebiete überwucherte. Auf der Pariser Seite gab es nur strahlend neue Hotels und Firmensitze, deren Namen alle mit S begannen. Auf der Vorortseite organisierte
sich eine Widerstandsbewegung, die für die Ehre kämpfte. Einige kleine Wohnhäuser von der Jahrhundertwende hielten tapfer die auffälligen Farben ihrer Backsteine hoch, tiefrot, tiefgelb. Und alle dreißig Meter stellte ein Bistro aus Großvaters Zeiten mit gemessen an seiner bescheidenen Größe riesigen Lettern seinen Namen und seine kulinarische Richtung zur Schau: Le Rétro, Le Gascon. Lou begegnete nicht allzu vielen Leuten, einige weiße Kopftücher, einige schwarze Kopftücher, afrikanische Frauen, die eher Turban trugen und ihre Kinder dabeihatten. Beim Anblick der Straßenschilder, die immer mal wieder an einer Querstraße standen und unter dem Straßennamen jetzt auch die Zeile »Stadt Gentilly« trugen, bemerkte sie, dass sie aus einem Vorort in den nächsten gelangt war. In Gentilly ging es nur bergauf, bergab. Auf halber Höhe einer steil ansteigenden Avenue Jean-Jaurès entdeckte Lou einen giftgrünen Müllcontainer aus Plastik, auf dem stand »Verpackungen und kleinere Elektrogeräte«. Einladender ging es ja nun nicht. Sie entledigte sich beiläufig ihres Föhns, schließlich kann er mir ja auch einfach so heißgelaufen sein, und ich bin jemand, der für die Mülltrennung ist, woraufhin sie sich entschloss, die Nacht hier in diesem Gentilly zu verbringen, das offenbar gut ausgestattet war für ihre Zwecke. Dann aber sagte sie sich, dass diese Entscheidung doch sehr an die Gewohnheit von Brandstiftern erinnerte, möglichst nah an dem Ort zu bleiben, in den sie ihr brennendes Streichholz geworfen haben, um mitzubekommen, was passiert. Also ging sie weiter Richtung Osten, immer Osten, bis in den nächsten Ort, der nun zufällig, wie sie einem aus dem Boden wachsenden Ortsschild in einem Aluminiumrahmen entnahm, Le Kremlin-Bicêtre war. Es war halb acht, als sie dort eintraf. Das Tageslicht begann eine grünliche Farbe anzunehmen. Lou konnte sich nicht erinnern, diese Art Sonnenuntergang schon einmal gesehen zu
haben, ein grünliches Gold. Eine Weile lang irrte sie auf der Suche nach einem Ort, wo sie die Nacht verbringen konnte, umher, Square Jules-Guesde, Place du Combattant, Rue Danton. Schließlich betrat sie ein Café in der Straße des 14. Juli und fragte, ob es in Kremlin-Bicêtre denn überhaupt kein Hotel gebe. Ja, die liegen jetzt alle am Ringboulevard, antwortete der Patron, rund um die Porte d’Italie. Da haben Sie ein Ibis, ein Campanile… Hier im Kremlin selbst gibt es eigentlich nur noch das Hotel in der Rue Roger-Salengro, mischte sich der Kellner ein. Aber empfehlen kann man das nicht, ist schon hart an der Grenze. Zwei Minuten späten war Lou in der Rue Salengro. Das Hotel hart an der Grenze nannte sich Hotel du Centre. Welches Zentrum da gemeint sein sollte, war allerdings ein wenig die Frage. »Komfortzimmer« stand auf einem Schild neben der Glastür, ein Hinweis, der gerade recht kam, um dem Eindruck zu widersprechen, der sich bot, wenn man durch die Scheibe ins Innere des Hauses blickte. An der Rezeption, wenn man den Wandschrank mit Tresen denn Rezeption nennen wollte, hinter dem eine mandeläugige junge Frau bügelte und dabei fernsah, wurde Lou eine ganze Palette von Zimmern angeboten, und sie nahm ein Einzelzimmer mit fließend Wasser zu einhundertsechzig Francs, zuzüglich zwanzig Francs für den Fernseher. Komfortzimmer, leierte sie im Geiste zehnmal herunter, als sie dann in dem kleinen düsteren Raum saß. Ich lasse Ihnen gleich einen Fernseher hochbringen, hatte die junge Asiatin an der Rezeption gesagt. Gleich war ein dehnbarer Begriff, und Lou verbrachte zehn Minuten auf dem Bett und schwankte, ob sie nun verlangen sollte, dass man sich etwas beeile, oder ob sie lieber gar nichts sagen sollte, um zu vermeiden, dass sie mit
ihrem Heißhunger aufs Fernsehen, der schon an Entzug grenzte, auf sich aufmerksam machte. Schließlich war es dann doch erst drei Minuten nach acht, als sie auf den Einschalteknopf drückte, die Zwanzig-UhrNachrichten auf dem Zweiten Programm waren noch bei den großen Problemen mit Weltgeltung, in diesem Fall den Wahlen im Osten. Es sei noch zu früh, um ein genaues Ergebnis der Wahlen in Polen haben zu können, aber es sehe so aus, als wären die von Solidarnosc angeführten Katholiken in aussichtsreicher Position. In Serbien müsse man noch mehrere Tage auf die ersten Zahlen warten. Danach folgte eine Reportage über Massendemonstrationen in Venedig und Mailand, die mehr als eine Million Gegner der sezessionistischen Projekte der Lega Nord zusammengeführt hatten. Zum ersten Mal hörte Lou das Wort Padania. Noch nie hatte sie eine Nachrichtensendung mit derartiger Aufmerksamkeit verfolgt, von der ehemaligen Schokoladenfabrik Menier in Noisiel entging ihr nichts, das Kulturerbe bestand ja nicht nur aus Kathedralen und Schlössern. Die Sendung endete mit grandiosen Bildern vom Start der Whitbread-Regatta in Southampton. Es fiel Lou ein, dass sie in einem anderen Leben auch dort hätte sein müssen. Guten Abend, sagte der Sprecher mit der ganzen Selbstsicherheit eines Musterschülers, der die mündliche Prüfung bestanden hat. Von wegen guter Abend. Lou schaltete nicht aus, aber sie sah das weitere Programm nur noch mit einem Auge an und hörte nur mehr mit einem Ohr hin. Irgendwann einmal hatte sie gelesen oder gehört, dass eine sehr große Anzahl an Verbrechen den normalen Leuten völlig unbekannt bleiben. Die Presse berichtet nicht darüber, entweder weil die Polizei es nicht will und dafür sorgt, dass nichts bis zu ihr durchdringt, oder weil die Familie darum bittet und damit durchkommt.
Aber hier liegt es daran, dass die Geschichte zu frisch ist, dachte Lou, die seit einigen Wochen aufgehört hatte, an ihren guten Stern zu glauben. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Der Typ ist noch nicht einmal identifiziert, ein Unbekannter, den man in einem Hotelzimmer gefunden hat, das füllt doch keine fünf Sekunden in einer Nachrichtensendung, also werden sie warten, bis sie etwas mehr wissen, um darüber zu berichten. Sie würde sich die Spätnachrichten im Ersten ansehen, gegen Mitternacht. Bis dahin musste sie irgendein genießbares Programm finden und etwas zu beißen. Sie nahm ihre Reisetasche, öffnete sie, zögerte und steckte schließlich drei Viertel ihres Barvermögens zurück in die dicke Brieftasche, die sie zusammen mit dem Taschenmesser in ihrem Kulturbeutel versteckte. Dann schaltete sie den Fernseher aus und verließ, die Umhängetasche über der Schulter, das Zimmer. Es war Nacht geworden. Keine Frau mehr zu sehen auf der Straße. Lou wollte nicht zu sehr auffallen, also betrat sie den ersten Imbiss, an dem sie vorbeikam, eine in grelles Neonlicht getauchte kleine Dönerbude. Etwas zu spät entdeckte sie, dass sie der einzige weibliche Kunde hier war, und die gesamte Zeit über, die der Schnurrbärtige im weißen Hemd brauchte, von dem hochkant aufgehängt schmorenden Formfleisch, dessen tierischer Ursprung nicht recht zu identifizieren war, Lamellen abzuschneiden, beglückwünschte sie sich dazu, keine dralle Blondine zu sein. Die schwarzen Augen rund um sie herum morsten ihr allerdings trotzdem zu: Braun ist auch nicht falsch. Sie verließ den Laden, um ihren Döner draußen im Gehen zu essen. Sie traute sich nicht einmal, sich auf eine Bank zu setzen, und ging wieder in Richtung Hotel zurück. Sein Leben ändern, sein Leben ändern, dachte sie, dass es tatsächlich Leute gibt, die davon träumen.
Sie gab es auf, eine Zeitung zu finden, und wollte die junge Frau von der Rezeption, die im Übrigen auch gar nicht mehr da war, lieber nicht nach ihrer Fernsehzeitschrift fragen, stieg hoch in ihr Zimmer, trank etwas am Wasserhahn und begab sich auf ihren Posten auf dem Bett gegenüber dem Fernseher. Auf allen Kanälen herrschte gespannte Stimmung. Im Fünften jagte Nosferatu Isabelle Adjani, im Zweiten lamentierte eine gewisse Thérèse unaufhörlich darüber, was der Krieg sie alles gekostet hatte, im Dritten starb der Richter, im ersten hatte Terminator nur eine fixe Idee: alle umzubringen. Der nachfolgende Film hieß »Acht Millionen Möglichkeiten zu sterben«. Das waren ein paar zu viel, Lou flüchtete sich ins Sechste, wo eine junge Schweizerin als Gouvernante in eine reiche Familie nach Saigon kam. Regelmäßig zappte sie hinüber ins Erste und Zweite, um nachzusehen, ob die Spätnachrichten nicht schon begonnen hatten. Ab Mitternacht zwang sie sich, ohne weiteres Umschalten einigen der acht Millionen Möglichkeiten zu sterben zuzusehen. Sie musste bis viertel vor eins warten, bevor endlich das Nachtjournal auf TF1 begann. Es war zu spät am Abend, um die Lautstärke hochdrehen zu können, also setzte sie sich auf den einzigen Stuhl ganz dicht vor den Fernseher und nahm die Position eines Beichtvaters an, der zuhört. Sie wusste, wie sie darauf reagiert hätte, wenn sie vom rätselhaften Tod eines Unbekannten in einem Hotel gehört hätte. Irgendeine Abrechnung, hätte sie gedacht. Eine Geschichte unter Gaunern. Oder noch wahrscheinlicher, ein Selbstmord. Aber es kam nichts. Immer noch nicht. Schon klar, dass das nicht die Weltgeschichte verändert hat, dachte Lou beim Zubettgehen. Und wiederholte sich diese offenbare Tatsache
auf unterschiedliche Arten. Es gibt Wichtigeres in der Geschichte der Menschen, worum geht es da denn schon groß? Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Na komm, dachte sie, du hast ein Bett, ein echtes Bett, ein Bett ganz für dich allein, ein Zimmer für dich allein, mit einer Tür, die du abschließen kannst. Sie weinte lange, ohne sich dagegen zu wehren, sie hoffte, es würde sie beruhigen. Und tatsächlich beruhigte es sie. Sie wurde frühmorgens von den für Hotels mit »Komfortzimmern« typischen Geräuschen schlagender Türen und fließenden Wassers aufgeweckt. Sie hatte einiges vor für diesen Montag. Der Reihe nach: In einer Apotheke Sterilverband kaufen und jemanden einen Blick auf ihren Zeigefinger werfen lassen, sich von Kopf bis Fuß neu einkleiden, in einem anderen Vorort etwas auftreiben, wo sie die kommende Nacht verbringen konnte, ein, zwei Zeitungen lesen, einmal um sich darüber zu informieren, was es Neues gab, aber auch um die Kleinanzeigen zu studieren. Denn sie musste ja auch Arbeit finden. Zwar bestand noch kein Grund zur Panik, aber trotzdem hatte sie gerechnet. Mit einem Hotelzimmer zu zweihundert Francs die Nacht plus einem Minimalbetrag fürs Essen, kam ein Tag für sie auf mindestens zweihundertfünfzig Francs. Also vier Tage für tausend Francs, und für die zehntausend vierzig Tage. Dazu kam noch die Kleidung, irgendwelche unvorhergesehenen Ausgaben, die immer auftauchten – und die Miete!, dachte Lou plötzlich, während sie in ihre Espadrilles schlüpfte. Die Miete für die Wohnung in Viroflay, die muss ich Anfang Oktober zahlen, wenn ich nicht will, dass die Hausverwaltung den Eindruck bekommt, ich wäre verschwunden, hätte mich in Luft aufgelöst oder heimlich vom Acker gemacht, mit einem Wort, wenn ich nicht will, dass sie nach zwei erfolglosen Anrufen und einem Brief ohne Antwort
meinen Mietvertrag kündigen und meine Möbel und meinen persönlichen Kram aufs Trottoir stellen, was wiederum das ganze Viertel darauf aufmerksam machen würde, dass ich nicht mehr da bin, wo ich immer war. Viertausend Francs Miete, die ich in ein paar Tagen hinlegen muss: Lou hatte also keineswegs einen finanziellen Spielraum von einem Monat. Und schon ein Monat war nicht übermäßig viel Zeit, um Arbeit zu finden. Um acht Uhr waren die Apotheken zusammen mit den Bäckereien und den Cafés die einzig geöffneten Geschäfte. Erste Hilfe eben, dachte Lou. Sie zeigte einem ergrauten Apotheker ihren Finger, und natürlich war seine erste Frage: Wie haben Sie das denn gemacht?, während er ohne besondre Rücksichtnahme die Wunde desinfizierte. Mit einem Messer, sagte Lou. Ich habe Maronen geschält. Der Mann runzelte die Brauen. Maronen? Im September? Korsische Maronen, die sind frühreif, sagte Lou voller Dankbarkeit für die Realität und ihren unerschöpflichen Vorrat an Seltsamkeiten. Sie verließ den Laden mit einer Schachtel Einzelpflaster, einem Blick im Rücken, dessen misstrauisches Insistieren sie wie eine Flamme zwischen den Schulterblättern spürte, und der Adresse des nächstgelegenen Monoprix in Villejuif. Zum Kleider Kaufen war Lou immer lieber in Supermärkte gegangen als in kleine Boutiquen mit dem unvermeidlichen »Das steht Ihnen aber großartig« der einzigen Verkäuferin. Aber egal, ob großer oder kleiner Laden, sie hatte Zeit, denn diese Geschäfte, die nichts so Dringendes verkauften, öffneten alle nicht vor neun, halb zehn. Sie erstand Le Parisien im Kiosk der Rue du Général-Leclerc und setzte sich in den hinteren Saal des danebenliegenden Cafés, das den Namen desselben glorreichen Soldaten trug. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um die Zeitung zu öffnen. Es war ihr nämlich mit einem Mal klar geworden,
dass Verbrechen und Selbstmorde nicht die Spezialitäten der Fernsehnachrichten waren, entweder weil die Polizei aus Prinzip die Bilder einbehielt, oder weil die Presse irgendwie ausgehandelt hatte, dass diese Art von Nachrichten ihr Jagdrevier sei, mit dem Argument, die Sprache werde ihnen besser gerecht als Bilder. Mit einem Wort: Das hieß, dass alles Mögliche, worüber das erste oder zweite Programm nicht berichtet hatte, sehr wohl eine halbe Seite im Parisien füllen konnte. Lou hasste Zeitungen mittlerweile. Sie verdoppelte noch einmal ihre Dosis Mut und schlug direkt die Seite »Vermischtes« auf. Es war lang und breit die Rede vom Begräbnis Henri Pauls in Lorient, von der Veruntreuung Xavier Dugoins in der Essonne, von einem seit fast schon einem Jahr gelöschten Brand im Kanaltunnel. Nichts, was wirklich mit Paris zu tun hatte. Auf Seite vierzehn wies eine Spalte auf drei Morde und mehrere unnatürliche Todesfälle hin. Ein Englischlehrer von achtundzwanzig Jahren war in seiner Wohnung in Couleuvre (Allier) von mehreren Messerstichen getötet aufgefunden worden. Ein Mann und eine Frau waren auf ihrem Heimweg nach Mèze (Hérault) von einem oder mehreren Motorradfahrern ermordet worden. Es war dieser Tage offenbar nicht gut zu Hause zu sein oder nach Hause zu fahren, schlussfolgerte Lou instinktiv. Ein Bergsteiger war im Massiv des Ecrins fünfhundert Meter in die Tiere gestürzt. Ein offenbar geistig Verwirrter mit einer Schusswaffe verbarrikadierte sich seit Freitagmorgen bei sich zu Hause in Saint-Mandé. Freitagmorgen, dachte Lou. Genau der Moment, als ich aus meiner Wohnung hinaus – … Der Kellner ließ sie zusammenzucken. Er musste sie offenbar schon fünfzehn oder zwanzig Sekunden lang beobachtet haben, versunken wie sie war in diese blutigen Geschichten. Ich nehme einen Café Crème und ein Croissant, sagte sie und
fragte sich, ob sie wohl jemals wieder in der Lage sein würde, solch harmlose Worte auszusprechen, ohne dabei vor Angst zu sterben. Sie kehrte zu den Seiten »Vermischtes« zurück, studierte sie noch einmal, blätterte dann zum »Pariser Journal« und zu den Seiten »Stadtleben«. Aber sie konnte es drehen, wie sie wollte, im ganzen Parisien stand nichts über – nein, sagte sich Lou, ich werde nicht sagen: die Geschichte, die mich interessiert. Eher schon die Geschichte, die mir langsam egal ist. Die Geschichte, die sich ohnehin wie ein schlechter Film anhört, genau, die ich irgendwann einmal im Kino gesehen habe, vor langer, langer Zeit. Sie ging in Richtung Villejuif. Sie hatte Croissant und Kaffee in zwei Minuten heruntergewürgt und sich nicht einmal Zeit genommen, die Stellenangebote durchzusehen. Mittlerweile, dachte sie, spielt der Zufall eine enorme Rolle in meinem Leben. Nein, verbesserte sie sich, er nimmt nicht mehr und nicht weniger Platz in ihm ein als letztes Jahr. Das Einzige, was sich verändert hat, ist, dass er die entscheidende Rolle spielt. Dieser Mann, der im Général Leclerc als Kellner arbeitet, hat Samstagabends seine Gewohnheiten. Zum Beispiel. Zum Beispiel ist er mit Freunden in einer Diskothek im Marais verabredet. Am 31. August zur bewussten Zeit, schon klar, war auch er im Alma-Tunnel, doch fuhr er von Westen nach Osten. Er hat wie gebannt auf den Mercedes gestarrt, der in entgegengesetzter Richtung angerauscht kam und hat die Frau am Steuer des fahrenden Hindernisses im Profil gesehen. Er hat sie den Ermittlern beschrieben, jung, ja, braunhaarig oder dunkelblond, das heißt, wenn ich mich recht entsinne – und nach diesen wenigen Angaben wusste er nicht mehr, was er noch hinzufügen sollte. Und jetzt an diesem Montag erblickt er jenes Profil plötzlich wieder. Im Café, wo er an sechs von
sieben Tagen arbeitet, geht er auf eine Kundin zu, um ihre Bestellung aufzunehmen, sie ist in ihre Zeitung versunken, er wartet, dass sie hoch sieht, er sieht sie nur im Profil, und plötzlich fällt der Groschen, er erkennt sie wieder. Lou drehte sich um. Niemand in der lockeren Gruppe von Angestellten, die auf die U-Bahn zugingen, sah aus wie der Kellner. Niemand folgte ihr – scheinbar. Wie viel Zeit würde wohl vergehen, bis eine schwere Hand ihr auf die Schulter fiele: Mademoiselle Origan? Wie viel Zeit musste vergehen, Monate oder Jahre, bis sie eines Tages jene Szene nicht mehr andauernd vor Augen hätte? Der Monoprix in der Rue Jean-Jaurès – der Rue Jean-Jaurès von Villejuif – war noch geschlossen. Lou schaute auf der Tür die Öffnungszeiten nach. Viertel nach neun, sie würde noch eine halbe Stunde warten müssen. Dann sah sie die Anzeige »Monoprix stellt ein – Verkäuferinnen, Kassiererinnen, Bereichsverantwortliche. Bewerbung mit Lebenslauf an die Filialleitung«. Sie schlug ihren Parisien auf der Seite »Kleinanzeigen – Stellenangebote« auf. Es war genau das Gleiche: »Schicken Sie Ihre handschriftliche Bewerbung mit Lebenslauf und Foto an die Kanzlei Lesourd, Avenue de l’Opera…«; »Senden Sie Ihre Bewerbung an unsere Personalabteilung…«. Aber sicher doch. Name, Vorname, Anschrift. Anschrift. Wir melden uns bei Ihnen… Krankenversicherungsnummer, Berufserfahrungen, bisherige Arbeitgeber mit Adresse… Strafregister… Es gibt auch Schwarzarbeit, dachte Lou. Ein Haufen Leute arbeitet schwarz. Mit einem Mal stiegen all die kleinen Lädchen und ihre kleinen Überlebenstricks in ihrer Achtung. Am Ende des Vormittags hatte sie an rund zwanzig Türen geklopft. Ihre Garderobe war erneuert, ihre Situation, was eine Anstellung betraf, dagegen unverändert. Bei Loveligne in
Villejuif hatte sie einen anthrazitfarbenen Pullover mit rundem Halsausschnitt im Kaschmirlook gekauft, der aber zu hundert Prozent aus Synthetik war und zum ersten Mal die Frage gestellt: Sie suchen nicht zufällig eine Verkäuferin? Bei Coup de Folie antwortete man ihr: Wir nicht, aber die ganzen Kaufhäuser suchen welche. Warten Sie mal, ich glaube sogar der Monoprix in der Rue Jean-Jaurès… Bei »Jennifer«, wo sie eine eierschalenfarbene Jeans fand, die perfekt zu jeder Gelegenheit passte, so dass sie sie gleich anbehielt, und wo sie auch die Gelegenheit nutzte, in einer Umkleidekabine zu stehen, um ihren Pseudo-Kaschmirpullover anzuziehen, riet die Verkäuferin ihr, es besser gleich in Paris zu probieren: Da wird mehr Umsatz gemacht, und die Chefs sind weniger borniert. Sie dürfen mir glauben, wenn der Inhaber hier nicht zufällig mein Mann wäre, fügte sie hinzu, schloss den Satz aber nicht ab. Im Bazar der Avenue Maurice-Thorez in Ivry, einem echten tunesischen Bazar mit tunesischem Verkäufer, Plastikgeschirr made in Tunisia und am Zoll vorbei importierten, aber wenig imponierenden Kleidern aus Tunis, erklärte der Chef ihr, bei ihm werde nur innerhalb der Familie gearbeitet, und dass er zwei Töchter hätte, dazu noch ihre Mutter, seine Frau, und die Großmutter, die Mutter seiner Frau. Bei »Birgit«, zwei Schritte von der Mühle von Ivry, wo »alles raus musste«, wie es große, fluoreszierende gelbe Aufkleber erklärten, erzählte der ganz in schwarzes Leder gekleidete Mann, ohne dabei beim Falten von T-Shirts innezuhalten, dass er einmal eine Verkäuferin gehabt hätte, namens Birgit, genau, nach ihr hatte er seinen Laden benannt, diesem Mädchen hätte er alles gegeben, aber sie hatte es vorgezogen, aber gut, er wollte nicht sein ganzes Leben ausbreiten, aber seitdem kamen Verkäuferinnen nicht mehr in Frage für ihn, er verliebte sich zu schnell und zu heftig in sie,
und außerdem gingen die Geschäfte ohnehin nicht mehr gut, seit 93, ja, bis 93 noch, und da komme ich auf Birgit zurück, ich hätte sie geheiratet, wissen Sie, ich war bereit, sie zu heiraten, sie hat mir gar nicht die Zeit dazu gelassen. Lou kaufte einen Posten von vier Schlüpfern zu zehn Francs, hauptsächlich um die Gefahr des schnellen Verliebens im Keim zu ersticken. Am Nachmittag probierte sie es in einer anderen Richtung und bewarb sich in Restaurants, Cafés und Brasserien. Sie war in die von der Oberstadt Ivrys aus gut sichtbare Senke hinabgetaucht, die recht anziehend wirkte, mit dem blauen Dunst am Horizont und darüber dem Rauchpilz, der auf einen riesigen Schornstein gepflanzt war, hatte eine der Fahrbahnen der doppelten Nelson-Mandela-Brücke überquert, von der aus man den Zusammenfluss der Seine mit einem anderen ebenso breiten Fluss sehen konnte, den sie, ohne sich sicher zu sein, für die Marne hielt, und entdeckte nun Charenton. Sie hatte eine andere Welt betreten. Der Teil von Charenton, den sie durchquerte, war eine einzige Baustelle. Dutzende von Wohnblocks wurden hochgezogen, in gelblichen oder weißen oder rosa Steinen und mit Namen wie »Der Weiler von Soundso« oder »Die XY-Terrassen«. Schließlich fand Lou sich in einer Hauptgeschäftsstraße wieder, die schon lange fertig gebaut war, eine klassische Pariser Avenue, mit all den dazugehörigen Bars und Restaurants. Sie bot ihre Dienste im Beaujolais an, im Bambou Vert, im L’Alliance, im Paris. Lassen Sie uns Ihre Adresse da, schlug man ihr im Balto vor, und sie konnte sich nicht beherrschen und fragte zurück: Würden Sie das tun an meiner Stelle? Ein bisschen Hoffnung keimte nur im L’Orée du Bois auf, und auch das dauerte nur eine Minute. Das Restaurant war wesentlich schicker als die vorhergehenden, das Viertel auch, in dessen Hintergrund ein Park zu liegen schien, mit Bäumen
und Rasenflächen. Arbeit suchen Sie?, sagte ihr eine Dame unbestimmbaren Alters in einem rubinroten Kostüm. Das ist nicht unmöglich. Das ist nicht möglich, dachte Lou, dieser Blick, die zieht mich ja aus. Sie hatte nicht ganz Unrecht: Was die Kleidung betrifft, sagte die Dame, müssten Sie selbstverständlich etwas Adretteres tragen, Sie wissen schon, was ich meine, etwas Weiblicheres. Lou entschloss sich, es für diesen Montag genug sein zu lassen mit ihrer Arbeitssuche. Sie war nicht in Bedrängnis, jedenfalls nicht in finanzieller. Letzter Tag!, rief eine Art Clown, der auf einem Karussell stand. Letzter Tag des Sommers, profitieren Sie davon! Ein kleiner Rummelplatz neben der Kirche zog Auge und Ohr an. Lou kaufte sich eine Portion Fritten an einem Stand und trank zweihundert Meter weiter, so langsam sie konnte, ein Radler in der Tabak-Bar des Ecoles. Das Wetter war schön, nichts wäre natürlicher gewesen, als sich auf die Terrasse zu setzen. Aber in Lous Leben gab es keine natürliche Sekunde mehr, und so setzte sie sich in den hinteren Saal, abseits aller Blicke. Sie saß alleine dort. In meinem Leben bin ich noch nie so alleine gewesen, musste sie sich eingestehen und befahl sich sogleich: Hoch mit dir, bewegen, reagieren! Ein Stadtplan hing an der Wand, sie stand auf, um ihn aus der Nähe zu studieren, und sah, dass der Park mit den hohen Bäumen der Bois de Vincennes war. Sie war noch nie dort gewesen, aber aus dem, was sie von der Puffmutter in Rubinrot mitbekommen hatte, zog sie den Schluss, dass die Gegend nach Einbruch der Dunkelheit eine ziemlich hohe Polizeidichte aufweisen musste, und beschloss, sich zunächst einmal aus ihr zu entfernen und sie erst morgen weiter zu erkunden. Sie ging weiter, auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Die einzigen Hotels, die sie gesehen hatte, waren ein Ibis und ein Novotel, im neuen Teil von Charenton. Ein
billiges kleines Hotel?, antwortete ihr eine alte Frau, bei der sie sich erkundigte. Es gibt überhaupt nichts Billiges mehr in Charenton. Mittlerweile ist hier alles teuer, das macht die Nähe zum Bois. Lou fand schließlich die Art von Billighotel, die sie suchte, am Ende der Stadt, an einer Avenue du Maréchal-de-Lattre, die als Umgehungsstraße diente. Sie nahm das billigste Zimmer, und als sie entdeckte, dass man für diesen Preis kein Fenster bekam, ging sie sofort wieder hinaus, ohne auch nur ihr Gepäck abzulegen. Sechs Uhr abends, das war am letzten Sommertag ein wenig früh, um sich im Dunkeln vor den Fernseher zu hocken. Im Übrigen waren die Abendausgaben der Zeitungen schon lange an den Kiosken, sie hatte sich lange genug davor gedrückt, sie hatte die Pflicht, wenigstens eine zu lesen. Auf dem Weg zurück zur Seine und zum verbliebenen Rest des alten Charenton kam sie an einem Waschsalon vorüber, der weniger scheußlich aussah als üblich, und die Idee kam ihr, sich dort eine Weile hinzusetzen. Ich bin dabei, dieselben Angewohnheiten anzunehmen, um die Zeit totzuschlagen, wie die Immigranten, wurde ihr klar. Wo ich doch selbst erst ein halber Emigrant bin. Aber Immigranten und Emigranten, das kam alles aufs Gleiche raus, lediglich eine Frage des Standpunkts; die man Immigranten nennt, sehen sich selbst vermutlich auch eher als Emigranten. Als sie mit Le Monde in der Hand wieder zurückkam, verstand sie auch, was diesen Waschsalon so heimelig machte. Es war die Kundschaft, die im Augenblick ausschließlich aus schwarzen Frauen bestand, die alle wie Schwestern wirkten, schönen, groß gewachsenen Menschen, lachend und bunt gekleidet. Lou verbrachte vierzig Minuten dort, wesentlich mehr, als sie brauchte, um Le Monde durchzublättern – egal welche Zeitung
sie kaufte, las sie nur mehr rasch die Seite »Nachrichten« und suchte auf den Auslandsseiten, ob noch von Lady Di die Rede war –, aber haargenau so lange, wie der Schonwaschgang brauchte, Programm 3, den sie gewählt hatte. Sie hatte das Gefühl, geschützt zu sein in diesem Laden – wahrscheinlich die schwarzen Junonen und ihre gute Laune, vermutlich auch das Gebrumm der Maschinen. Während in der Trommel ihre Jeans und ihr T-Shirt rotierten, die nach dem Schleudergang nicht mehr dieselben Kleidungsstücke wären, die sie in jenem Hotel im Norden von Paris getragen hatte (Hotel im Norden, Hotel du Nord, Filmhotel, Phantasiehotel, schnurrte die Waschmaschine), stellte Lou fest, dass nichts mehr über die Prinzessin vom Alma-Tunnel in der Zeitung stand – das Rad drehte sich weiter –, und immer noch nichts über den Ertrunkenen von Aubervilliers oder über einen aus dem Wasser gefischten Fiat – es drehte sich mit der entsetzlichen Langsamkeit eines Uhrwerks. Am nächsten Tag herrschte Sommer. Ein strahlender Tag, der wie in einem herzlichen blauen Gelächter demonstrierte, was die Kalendereinteilung Mutwilliges und Konventionelles hatte. Als sie aus ihrem düsteren Hotel trat, träumte Lou einen Augenblick lang, sie hätte eine andere Hemisphäre betreten, und die schöne Jahreszeit stehe vor der Tür. Aber nur einen Augenblick, nicht länger: Sie verbot sich jede Herumspinnerei, sie hatte so schon genug Schwierigkeiten, ihr Leben wieder in Ordnung zu bekommen. Sie durchquerte den Bois de Vincennes auf einem breiten Sandweg, der den See umrundete. Es war komisch, das Gebrumm der Autos zu hören, ohne in dieser Umgebung romantischer Inseln mit Trauerweiden welche sehen zu können. Sie kam nass geschwitzt in Saint-Mandé an. Echt oder nicht, für Kaschmir war es noch zu früh. Lou erinnerte sich, dass der
Stoff ursprünglich aus dem Haar einer Ziege vom Himalaja stammte. Du weißt doch ganz genau, dass deiner nicht echt ist. Mag sein, heiß ist mir trotzdem, muss der Name sein. Haben nämlich eine Auswirkung, Namen. Man denkt Kaschmir, schon wird einem warm. Und passenderweise entdeckte sie in der Avenue du Général de-Gaulle auf einem Kleiderbügel vor dem Eingang einer kleinen Boutique eine Reihe von Sommerkleidern, deren einzige Gemeinsamkeit in dem Schild »Sonderangebot« bestand, das über ihnen hing. Lou hatte schon seit Jahren kein Kleid mehr getragen, aber hundert Francs für ein Jeanskleid waren wirklich nicht viel. Und gut gemacht ist es auch, dachte sie, als sie es in der Umkleidekabine anprobierte, ein Kleid in genau richtiger Länge, Längsnähte, kurzärmlig mit Stehkragen und durchgehender Knopfleiste wie eine Soutane, vorne und von oben bis unten. Wie steht es Ihnen?, fragte die Verkäuferin hinter dem Vorhang. Ganz gut, scheint mir, sagte Lou im Hinaustreten. Ganz gut!, rief die Dame, eine herausgeputzte Sechzigjährige, und faltete beim Anblick des Kleids die Hände. Sie wollen wohl sagen: Absolut perfekt! Der Ton klang ehrlich. Das ist ja verrückt, wie Sie das verändert, fuhr die ergriffene Frau fort. Schauen Sie hin, Sie sind nicht mehr derselbe Mensch. Lou schaute hin und sah eine hoch gewachsene junge Frau mit unsichtbaren Hüften und schmaler Taille, die sie noch nie gesehen hatte. Ein Satz ihrer Mutter kam ihr ins Gedächtnis, der immer betrübt geklungen hatte: Die Kleidung und die Frisur, das macht fünfzig Prozent des Aussehens aus, ich hoffe nur, dass du dich eines Tags daran erinnern wirst. Seit meiner Kommunion muss ich kein Kleid mehr getragen haben, dachte Lou, die der Schwung des Kleids im Gegentakt ihrer Schritte, die den Stoff immer wieder gegen ihre Waden
schlugen ließen, an lang verflossenes Kindheitsglück erinnerte. Sie betrat auf gut Glück einen Frisiersalon auf demselben Trottoir. Die Friseure waren alles Frauen, drei Blondinen in Kasackblusen und weißen Hosen, die sich vor den Spiegeln und hinter den Kundinnen mehr oder minder beschäftigt gaben, aber wer den Neuankömmling empfing, war ein Mann. Ein kleiner Mann in einem schwarzen, bedruckten, provenzalischen Hirtenhemd. Eine Dauerwelle?, fragte er, als er die wirren Locken erblickte. Im Gegenteil, sagte Lou. Ich habe Naturlocken, ich habe immer dieselbe Frisur, ich hab genug davon. Ich will etwas Blondes und Glattes. Die platinblondeste der drei Damen näherte sich, offensichtlich eine Expertin. Lou machte mit der linken Hand eine Geste über der Stirn, die an ein vom Wind heruntergeklapptes Visier denken ließ. Ich verstehe, sagte die Expertin, à la Lady Di. Nein, nein, sagte Lou hastig. Aber natürlich, beharrte die Dame. Was Sie mir da andeuten, ist der Lady-Di-Schnitt, den verlangt zur Zeit jeder, und Ihnen wird das sehr gut stehen. Kommen Sie zuerst zum Waschen, nein da lang. Allerdings werden wir Ihnen eher ein Aschblond machen, nicht so strohblond wie Lady Di. Blondieren muss man immer sukzessive, um seine Umgebung daran zu gewöhnen und sich selbst auch. Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich, um bis zu einem Marilyn-Monroe-Blond zu kommen, fügte sie hinzu, und es hörte sich an wie: Das will verdient sein. Fünfzig Prozent, aber allermindestens, dachte Lou in den folgenden Stunden jedesmal, wenn sie sich in einem Schaufenster spiegelte. Mit diesem Kopf und dazu noch dem Kleid sind es mindestens sechzig, fünfundsechzig Prozent, die ich mich verändert habe. Aber umso einsamer war sie nun auch, entwurzelt bis zur Verwirrung. Die nächste Etappe ist der Gedächtnisverlust, das
hatte sie schon im Gefühl, und der konnte sehr schnell kommen. Gedächtnisverlust oder Persönlichkeitsspaltung? Die eine vergisst, die vom Tage. Nach ein paar Wochen hat sie alles vergessen. Die andere erinnert sich. Die von der Nacht, die mit offenen Augen in der Dunkelheit liegt. Wir werden sehen, dachte Lou. Vielleicht könnten die beiden sich ja verstehen. In einem Kiosk in Vincennes kaufte sie den Figaro und Libération. In Serbien sah es so aus, als hätte Milosevics Partei die Parlamentswahlen gewonnen. Der Crédit Lyonnais kam wieder auf die Beine. Die rituellen Quälereien der Studienanfänger sollten nicht mehr geduldet werden. Ségolène Royal riss die Augen auf, die Ehemaligenverbindungen zuckten die Achseln. Über die Toten vom Alma-Tunnel und Aubervilliers kein Wort. Kein Wort mehr, noch immer kein Wort. Zum ersten Mal in ihrem Leben aß Lou ein schwedisches Sandwich, das aus einer Art bienenwabenförmigem Brot bestand. Wahrscheinlich war es ihre neue Haarfarbe, die ihr darauf Lust gemacht hatte, dachte sie. Sie ging im Sonnenschein durch Montreuil und suchte, jedesmal wenn sich die Gelegenheit bot, mit den Augen das blonde Mädchen in Blau, das so selbstsicher vorüberschritt. Zwei Tage später war sie in Bécon-les-Bruyères. Sie hatte zu Fuß halb Paris gegen den Uhrzeigersinn umrundet, hatte in Romainville, in Clichy übernachtet, war braun gebrannt, hatte gut zwei Kilo verloren, ein wenig innere Ruhe wiedergewonnen und Hunderte von Malen die Frage gestellt: Brauchen Sie zufällig eine Verkäuferin (eine Kassiererin, eine Kellnerin)? Das Wetter wurde von einem dauerhaften Hoch geprägt. Gebräunte Schultern zeigten sich wieder. Um die Wahrheit zu sagen, Lou hatte nicht den Mut gehabt, Pantin oder
Aubervilliers zu Fuß zu durchqueren. Auch die U-Bahn sagte ihr nicht zu, also hatte sie am Pré-Saint-Gervais den Ringbus genommen und war erst hinter der Ebene von Saint-Denis, in Saint-Ouen wieder ausgestiegen. Dort hatte sie ihre Fußwanderung und ihre Stellensuche von Tür zu Tür wieder aufgenommen, auch ihre zwischenzeitliche Lektüre ausgewählter Zeitungen. Und an diesem Donnerstag um halb zwölf setzte sie sich ratlos, wohin sie nun noch gehen konnte und was sie noch tun sollte, auf eine Bank im Park von Bécon und gab auf. Sie lehnte ihren Kopf zurück gegen die Bank. Es war warm in der Sonne. Sie schloss die Augen. Kinder und Vögel zwitscherten rund um sie herum. Es roch nach Kastanien, nach Hund, nach altem Sand. Ob Angela in Viroflay angerufen hatte, als ihr auffiel, dass Lou nicht mehr kam? Ob Yvon mit ihr geredet hatte? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich waren sie zu dem Schluss gekommen, nicht die Polizei zu alarmieren, die sich ohnehin nicht zerrissen hätte, wegen einer jungen Frau von fünfundzwanzig, die bei klarem Verstand war und gehen konnte, wohin sie wollte. Yvon hatte den Zettel auf dem Tisch gewiss nicht erwähnt, der nicht gerade ein Kompliment für ihn war. Aber aus diesem Zettel musste er logischerweise geschlossen haben, dass Lou nicht in Gefahr schwebte. Warten wir ab, hatten sie sich wahrscheinlich gesagt. Sie wird schon wiederkommen, würde Angela gesagt haben. Nicht so sicher, würde Yvon gedacht haben. Sie hatte doch irgendetwas verheimlicht. Sie wird Urlaub gebraucht haben, sie war so müde, würde Angela erklärt haben. Wenn sie sich getroffen hatten. Denn schließlich konnte Yvon auf Lous Verschwinden auch sauer reagiert haben, und wenn er in einer solchen Stimmung war, dann spielte er den Stolzen, den einsamen Wolf und redete mit gar niemandem, noch nicht einmal mit sich selbst.
Aua!, schrie Lou, von einem stechenden Schmerz am Schienbein aus ihren Überlegungen gerissen. Ein kleiner Junge auf einem Dreirad besah sich, ziemlich zufrieden wirkend, das Loch, das sein Schutzblech auf dem Bein der Dame aufgerissen hatte. Lou griff seinen Arm. Er biss ihr in die Hand. Eine schallende Ohrfeige auf den Nacken ließ ihn den Kopf einziehen. Ha, dieses Bürschchen, dieses Bürschchen!, donnerte eine riesige blasse Frau, deren Haar unter einem im Nacken verknoteten Kopftuch verborgen war. Schlagen Sie ihn nicht, sagte Lou. Ich werd mich beherrschen!, brüllte die Frau. Der Kerl hier ist ein wahrer Satansbraten! Zehn weitere Kinder waren herangekommen und sahen zu, wie das Blut an Lous Schienbein herunterlief. Los, nach Hause!, rief die dicke Dame. Sie fasste Lou unter der Achsel und half ihr aufzustehen. Kommen Sie mit rauf zu mir, damit ich Sie verarzten kann, befahl sie. Sie hätte keinen Widerspruch geduldet. Das traf sich gut, denn Lou war es leid, für sich selbst verantwortlich zu sein. Sollte man sie am Arm nehmen und ihr sagen: Hier lang, mehr wollte sie gar nicht. Der kleine Trupp betrat ein baufälliges Haus neben der Grünanlage. Sind das alles Ihre, die Kinder?, fragte Lou. Ein paar sind von mir, andere nicht, sagte die Dame. Der da ist meiner, das ist der Schlimmste von allen, präzisierte sie und stieß dabei dem Jungen mit dem Dreirad das Knie ins Kreuz, woraufhin der zurücktrat. Wie alt ist er denn?, fragte Lou, um Interesse zu signalisieren. Weiß nicht mehr, brummte die Matrone. Jedenfalls noch nicht so alt, um in die Schule zu gehen, soviel steht fest, andernfalls würde er mir hier nicht zwischen den Füßen rumlaufen, da können Sie sicher sein. Lou sah jetzt, dass alle Kinder noch sehr klein waren, zwei, drei Jahre alt vielleicht.
Als sie mit ihnen die Wohnung betrat, wurde sie von Babygeschrei überrascht. Zwei große Säuglinge plärrten und klammerten die Fäuste um die Gitterstäbe ihres Betts. Schnauze, sagte die dicke Frau herzlich. In fünf Minuten gibts für alle zu essen. Lou ging beinahe an die Decke, als sie ihr eine alkoholgetränkte Kompresse aufs Bein drückte. Tut gar nicht weh, beruhigte sie sie dabei. Lou wurde es schwindlig. Sie ließ sich auf den Linoleumboden fallen, schwarze Punkte vor Augen. Als sie die Augen wieder öffnete, standen die Kinder im Kreis um sie herum. Ich bring Ihnen einen Kaffee, rief es ohne die geringste Aufregung aus der Küche. So einen guten habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr getrunken, sagte Lou, auf dem Boden sitzend, die Hände um die Tasse geschlossen. Sie essen mit uns, sagte die gutherzige Frau. Kommen Sie mir helfen, dann geht’s schneller. Und wie war gleich Ihr Name? Patricia, sagte Lou. Und Ihrer? Aicha, sagte die Frau mit einer sehr anmutigen Bewegung des Kinns. Binnen zehn Minuten hatte sie einen großen Emailtopf mit Fritten gefüllt, ohne sich im Geringsten um die Gefahr zu scheren, in einer Dreizimmerwohnung, in der zehn oder fünfzehn Kleinkinder umherwuselten, etwas zu frittieren. Als die Irrwische sich alle im Kreis in diesem Allzweckzimmer auf den Boden gesetzt hatten, reichte sie jedem von ihnen einen Teller Pommes frites. Dasselbe für Lou, ebenfalls ohne Besteck. Und auch für die Babys, die in ihren Gitterbettchen überglücklich zu mampfen begannen. Lou war auch nicht anders als die Dreijährigen, sie aß Fritten lieber aus der Hand, und sie fing an sich wohl zu fühlen. Ganz schöne Arbeit, all diese Kinder, sagte sie, um irgendetwas zu sagen. Es gibt so Tage, da könnte ich Hackfleisch aus ihnen machen, gab Aicha zu. Die Welt ist schlecht organisiert,
probierte Lou, Sie haben zu viel Arbeit, und ich, ich suche verzweifelt nach einer. In weniger als einer Minute wurden sie sich handelseinig. Lou würde dreihundert Francs pro Tag erhalten. Sie würde um neun Uhr kommen, nachdem die Eltern ihre Kleinen abgegeben hatten, und um vier Uhr wieder gehen, bevor sie abgeholt wurden. Du verstehst, sagte Aicha, die Eltern gehen davon aus, dass sie ihre Kinder mir lassen. Lou verstand vor allem, dass es nicht in Frage kam, diesen Job bei irgendwem zu melden, dass Aicha ihr Name und ihr Lebenslauf völlig schnurzpiepe waren und dass die Arbeit auf der Stelle losging. Ab und zu, sagte Aicha, wirst du mal drei, vier Stunden mit ihnen allein sein, im Park oder im Haus. Einverstanden, sagte Lou. Da sind nur zwei Sachen, die mir wichtig sind: Ich möchte meine Bezahlung jeden Abend haben. Und wenn irgendjemand Fragen stellt, ein Nachbar oder wer weiß wer, dann bin ich eine Freundin, die hier zu Besuch ist. Aicha musste man die Dinge im Allgemeinen nicht lange erklären. Lou verbrachte den Nachmittag mit ihr. Es gab eine Stunde Ruhe. Aicha legte den Wohnraum mit Schaumstoffmatratzen aus und schloss die Läden. Bei ihr gab es keine Diskussionen um den Mittagsschlaf, denn sie selbst schlief auch eine Stunde, zur selben Zeit wie die Kinder. Lou fand sich auf einem großen Bett wieder, neben einer Frau, die lauter schnarchte als ein Seebär, in einem unglaublich zugestellten Zimmer, das intensiv nach Pfefferminz und Jasmin duftete. Sie schlief ein wie ein Baby.
Dreihundert Francs, das verstand sie in den folgenden Tagen, waren kein übertriebener Lohn dafür, sieben Stunden am Stück ein Dutzend Rangen zu überwachen, zu füttern, sauberzumachen und zu beschmusen. Sie wurden alle gut behandelt, mit Ausnahme von Aichas eigenen Kindern – vier oder fünf, das bekam Lou nie genau heraus –, die in regelmäßigen Abständen geohrfeigt wurden und das auch völlig normal zu finden schienen. Geohrfeigt und gleich darauf mit Küssen überhäuft, angeblafft und angebetet. Ich liebe Kinder, sagte Aicha. Sie bringen mich um, aber ich kann gar nicht genug von ihnen haben. Sie verhehlte nicht, dass sie während ihrer Mußestunden daran arbeitete, ihre Anzahl noch zu erhöhen. Lou hörte ihr belustigt zu. Aicha redete und redete, erzählte von sich und stellte niemals eine Frage. Die ganzen letzten Septembertage über herrschte wunderbares Wetter. Der größte Teil des Tages wurde draußen verbracht, im Staub vor dem Wohnhaus. Aicha war sich der Ungesetzmäßigkeit ihrer Arbeit voll bewusst, ebenso wie der Risiken, die sie barg. Ein Bußgeld, spuckte sie aus. Und das mir, die nie einen roten Heller in der Tasche hat! Im schlimmsten Fall eine behördliche Schließung ihres Horts. Wovor Aicha nicht die geringste Angst hatte. Würde mir sogar gut tun, dann könnte ich ein bisschen ausspannen. Ich würde zwei, drei Monate abwarten und dann den Laden wieder aufmachen. Manchmal träum ich sogar davon, sagte sie. Aber Träume gehen ohnehin nie in Erfüllung.
Lou wechselte Abend für Abend das Hotel. Sobald sie Aicha verließ, suchte sie ein Dach über dem Kopf. Sie schlief in Colombes, in Bois-Colombes, in La Garenne-Colombes, in
Asnières, in Clichy. Wenn sie ihre Tasche abgestellt hatte, gab sie von ihren dreihundert Francs Tageslohn, zehn oder zwölf für Zeitungen aus und dreißig, um irgendein Gericht in einer madagassischen oder pakistanischen Kneipe zu essen. Ihr Kapital griff sie nur an den Wochenenden an, die bei Aicha genauso wie anderswo Ruhetage waren. Im Übrigen hatte sie weniger und weniger Hunger. Ganz wie Aicha, die immer sagte: Ich halte das ganze Jahr über Ramadan, und sich damit begnügte, nur einmal pro Tag zu essen, am Abend. Sie nahm weiterhin ab, wollte auch gar nicht damit aufhören. Sie kaufte sich eine Hose in Größe 40 und kurz darauf eine weitere in 38. Ihr Blondschopf gefiel ihr gut. Endlich konnte sie sich im Spiegel wieder ertragen. Ein Satz ging ihr nicht aus dem Kopf, vor allem nachts. Sie wachte auf. Eine Männerstimme: Eine solche Geschichte kann man nicht für sich behalten, irgendwann spuckst du alles aus. Eines Tages wirst du reden. Werde ich nicht, dachte Lou beim Aufstehen. Nicht ich. Hab absolut kein Bedürfnis, mich bei irgendwem auszusprechen. Es geht mir nämlich ganz gut, ja es geht mir sogar immer besser. Am dreißigsten bezahlte sie ihre Oktobermiete. Sie zählte vor und zurück. Es konnte kein Zweifel bestehen, es war gerade einen Monat her, dass dieser Unfall geschehen war, der ein solches Echo hervorgerufen hatte – diese Prinzessin oder dieses Starlet. Lou hatte das Gefühl, seither sei ein ganzes Jahr für sie vergangen. Aber nein, es war nur gerade ein Monat gewesen. Sie ging aufs Postamt in Puteaux, mit ihrer dicken, immer noch halbvollen Männerbrieftasche, und füllte eine Überweisung für die Agentur aus, die ihr die Wohnung in Viroflay vermietete. Ihre ehemalige Wohnung. Nein, verbesserte sie sich, meine Wohnung. Ich bezahle die Miete, ich habe die Schlüssel. Ihre Wohnung, bis auf weiteres.
Es wurde Oktober. Immer noch herrschte Sommerwetter. Die Presse war im siebten Himmel: »Ein Sommer, der nicht zu Ende gehen will«. Eine Aufregung jagte die andere. Die algerische GIA bedrohte Frankreich mit terroristischen Anschlägen. Die Gewerkschaft CGT verweigerte kategorisch die 35-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich. Eine gigantische Unfallserie auf der Normandie-Autobahn hatte neun Tote und Sechsundsechzig Verletzte gefordert. Lou ging erneut zum Friseur. Das war nichts, was sie regelmäßig getan hatte, weder hatte sie sich um ihre Haare gekümmert, noch darum, jemanden zu finden, der sie in Form brachte. Aber sie war nicht in der Lage, einen neuen Föhn zu kaufen. Das hätte sie nicht über sich gebracht. So ein Ding noch einmal in der Hand halten. Oder es auch nur ansehen. Wenn sie an Angela dachte, hatte sie Gewissensbisse. Diese Frau, die so korrekt war. Und sie, die ohne ein erklärendes Wort verschwunden war. Sie dachte auch, wenn sie schon mit allem brach, dann vielleicht besser auf die sanfte Tour und wie es sich gehörte. Um nicht irgendwelchen Verdacht auf sich zu ziehen, wäre es das Beste, sie würde ihre Kündigung überbringen. Den ersten Samstag im Oktober betrat sie zum ersten Mal seit damals wieder Paris. Und zugleich nahm sie zum ersten Mal auch wieder die U-Bahn. Von Pont-de-Levallois bis QuatreSeptembre. An einem Samstagmorgen hoffte sie, Angela alleine anzutreffen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Lou!, rief Angela, als sie sie hereinkommen sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen, einen Stapel Teller in den Armen. Da bist du ja endlich wieder! Das freut mich aber. Lou versuchte sich zu entschuldigen. Angela war auf sie zugegangen und hatte sie in die Arme genommen. Sie wirkte sehr bewegt. Sag mal, du hast aber abgenommen, bemerkte sie
sofort. Was ist dir denn passiert? Unter uns gesagt, steht dir das sehr gut, du bist schön! Und auch noch braun gebrannt. Und blond. Lou hatte ihren Sermon vorbereitet. Schon mehrere Tage lang hatte sie darüber gebrütet. Haben Sie sich schon mal Hals über Kopf verliebt, Angela?, begann sie. Sie erzählte von einer Begegnung, die sie vollkommen wahnsinnig gemacht habe. Von einem Tag auf den anderen habe nichts anderes mehr gezählt. Sie habe nicht einmal mehr gewusst, wie sie in der Zeit lebe. Sie sei einfach davongelaufen mit diesem Traummann. Das Wetter war so traumhaft, sagte sie. Das Meer, das Hotel, die Tage und Nächte, die ineinander übergegangen sind. Ein richtiger Kinofilm, seufzte sie. Der auch nicht sehr viel länger gedauert habe als ein Film im Kino, sagte sie. Angela, ich will das nicht haarklein erzählen. Jedenfalls bin ich ganz schön tief gefallen. Sie sagte nur, dass der unwiderstehliche Mann verheiratet gewesen sei. Da hab ich den Zug genommen, und hier bin ich wieder. Angela legte ihr die Hand auf den Mund. Ich weiß, wie das ist, sagte sie. Du kannst immer noch darüber reden, wenn du willst. Aber äußerlich zumindest hat dir diese Geschichte gut getan. Du siehst aus wie ausgewechselt. Lou begann lautlos zu weinen. Na komm, sagte Angela. Hinterher wird einem klar, dass so eine Leidenschaft etwas Entsetzliches ist. Wenigstens ist man danach geimpft dagegen. Sag mal, hast du jetzt Zeit? Könntest du gleich wieder loslegen? Ich erwarte eine Gruppe von zwanzig Japanern zum Mittagessen. Binnen einer Viertelstunde hatte Lou die Gründe für Angelas Großmut verstanden. Denn auch Marie-No war fort. Nachdem sie alleine mit Angela zurückgeblieben und aufgefordert worden war, weniger zu schnattern, schneller zu machen und
sich ein wenig mehr ranzuhalten, hatte sie schließlich die Tür hinter sich zugeschlagen, nicht ohne zuvor noch auf der Schwelle eine wütende Litanei antikorsischer Klischees runter zu beten. Seit zehn Tagen musste Angela das Restaurant ganz alleine schmeißen. Sie hatte zweimal in Viroflay angerufen, ohne auf jemanden zu treffen, und daraus geschlossen, dass Lou mit Yvon irgendwo in die Sonne gefahren war. Gegen Ende des Nachmittags holte Lou ihre Sachen aus dem Hotel in Puteaux. Dann ging sie bei Aicha vorbei und warf ihr einen Zettel in den Briefkasten. »Sie sind ein guter Mensch, Sie werden keine Schwierigkeiten haben, jemand anderen zu finden, der Ihnen zur Hand geht.« Dann kehrte sie leichten Schrittes um und nahm sich ein Zimmer in Levallois-Perret. Langsam kam sie Paris näher. Am nächsten Tag kam ihr plötzlich die Frage in den Sinn, ob Aicha überhaupt lesen konnte. Arabisch, ja vielleicht, aber französisch garantiert nicht. Aber das war nicht schlimm, Lou hatte mit Patricia unterschrieben. Sollte Aicha den Brief von einem Lesekundigen unter ihren Freunden entziffern lassen, würde keiner von beiden groß etwas an ihm auszusetzen haben und nichts in ihm finden, was es erlaubt hätte, diese Patricia wiederzufinden. Lou hatte die Zehenspitzen wieder auf festen Grund gesetzt, bei Angela. Sie fuhr fort, jeden Abend die Hotels zu wechseln. Sie machte mit ihrer Umkreisung von Paris weiter, diesmal aber innerhalb der Stadtgrenzen. Sie schlief an der Porte du Point-du-Jour, in der Nachbarschaft der Porte de Versailles, gegenüber der Porte de Vanves. Sie hatte zwar wieder einen Brotjob, aber ihre Ersparnisse schmolzen zusammen. Sie würde es sich nicht mehr lange leisten können, eine Wohnung zu halten, die sie nicht bewohnte.
Eines Abends rief sie von einer Telefonzelle aus in Viroflay an. Sie hatte sich entschlossen, ihren Mietvertrag zu kündigen, aber auch in diesem Punkt wollte sie die Dinge korrekt erledigen und Yvon benachrichtigen. Niemand hob ab. Auch am nächsten Tag nicht, weder früh am Morgen noch spätabends. Am frühen Abend des folgenden Tags nahm Lou an der Gare Saint-Lazare den Vorortzug nach Viroflay. Es war sieben Uhr, das Wetter sah aus, als wolle es Herbst werden – es war der sechste Oktober –, sie hatte ein wenig das Gefühl, nach einer den ganzen Sommer über dauernden Flucht wieder nach Hause zu kommen. In dem kleinen Bahnhof von Viroflay kaufte sie das letzte aushängende Exemplar von Libération und steckte es in ihre Umhängetasche. Ihre Gedanken waren mit den verschiedenen Wendungen beschäftigt, die eine Begegnung mit Yvon nehmen konnte. Zwei, drei Szenarien waren möglich – sie probte die Dialoge, das heißt ihren Teil des Dialogs nach dem »Die Tür öffnet sich«. Irgendetwas hatte sich verändert in der Straße. Aber woher, dachte Lou. Du bist es, die die Hosen voll hat, da kann man nicht mehr klar sehen. Sie klingelte. Niemand öffnete. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und trat ein. Sie erkannte den Geruch nicht wieder und verstand sogleich auch, warum. Die Wohnung war zwar nicht in großer Unordnung, aber auch nicht in der üblichen Ordnung. Eine Reihe von Dingen fehlte – alles was Yvon mitgenommen hatte, sah Lou, seine Schiffslaterne, die an der Decke gehängt hatte, sein Modell der 12-Meter-JI, seine Kleider, sein Anorak, seine diversen Säcke, See-, Schlaf- und Rucksack. Das war Szenario Nummer vier, das sie zwar ins Auge gefasst, aber nicht weiter
ins Kalkül gezogen hatte, vielleicht weil es zu einem Stummfilm gehörte. Im Schlafzimmer, wo das Bett ungemacht war (aber nein, hätte Yvon gesagt, ich hab es doch gemacht), sah Lou auf dem Boden ein aufgeschlagenes Exemplar des »Segel-Magazin«, und darin den fett gedruckten Titel: »Brotbacken an Bord«. Sie musste hier schnell wieder raus. Sie schnappte sich die Segeltuch-Kühltasche, die nie benutzt worden war, aus dem Wandschrank und warf eine Reihe von Schlüpfern, einen Schlafanzug, zwei Pullover und eine handliche Haarbürste, die ihr gefehlt hatte, hinein. Grün vor Angst, dennoch mit sicheren Bewegungen, ging sie hinunter in die Garage. Das Motorrad war nicht mehr da. Auch nicht der… Natürlich nicht, aber das wusstest du schließlich, also übertreib jetzt nicht. Lou hatte die Garage nicht einmal betreten, nur die Tür geöffnet. Sie machte sie wieder zu. Sie holte die paar Broschüren und persönlich gehaltenen Werbebriefe, die darin waren, aus dem Briefkasten und kehrte, halb im Laufschritt, zum Bahnhof zurück. Alles in allem war sie vielleicht zehn Minuten in dem Haus gewesen. Im Zug zurück nach Paris erinnerte sie sich an die heutige Libération, die sie noch nicht einmal aufgeschlagen hatte. Sie hatte das Gefühl, mehrere Wochen nach hinten katapultiert zu werden. Eine ganze Seite der Zeitung trug den Titel: »Diana, Autopsie eines Unfalls«. Und der Untertitel lautete: »Handfeste Indizien unterstützen die Theorie eines Auffahrunfalls «. Lou las die sechs Spalten, so schnell sie konnte. Auf den ersten Blick stand nichts darin, was sie nicht bereits gelesen hätte. Sie fing noch einmal von vorn an. Der Eindruck bestätigte sich. Der Artikel sagte nichts anderes, als was nicht auch schon Mitte September in den Tageszeitungen gestanden hatte, es handelte sich um einen weißen Fiat Uno, dafür gab es
Beweise, in Bälde würde man den Aufprall rekonstruieren können. Das würde also niemals aufhören. Lou entschloss sich, ihren Mietvertrag gleich morgen früh zu kündigen und nur noch in ihre Wohnung zurückzukehren, um sie auszuräumen.
Sie rief die Agentur um neun Uhr an. Es nieselte zum ersten Mal seit Ewigkeiten, Regentropfen rannen die schmutzigen Scheiben der Telefonzelle herunter. Das brauche ich schriftlich, sagte das Mädchen von der Agentur. Im Prinzip haben Sie noch zwei Monate zu zahlen, das ist die Kündigungsfrist, die Sie hätten einhalten müssen. Zwei Monate Miete, warten Sie mal… ja, das entspricht der Kaution, die Sie bei Mietübernahme gezahlt haben. Die kriegen Sie natürlich zurück, falls wir rasch einen Nachmieter finden. Wann haben Sie vor, die Wohnung freizumachen? Wann?, fragte Lou. Wir haben Dienstag, den 7. Oktober, na ja wissen Sie, ich habe vor, dieses Wochenende umzuziehen. Sie können die Schlüssel also Sonntag haben, vielleicht sogar schon Samstagabend. Dann müssen Sie sie einfach in den Briefkasten der Agentur werfen, zusammen mit Ihrer neuen Adresse und Telefonnummer. Wir werden die Abnahme dann Montag oder Dienstag machen, dazu müssen Sie natürlich da sein. Versteht sich von selbst, sagte Lou und dachte dabei: Da kannst du lange warten, meine Große. Nach dem Mittagessen ging sie zum Bretonischen Umzugsunternehmen am unteren Ende der Rue du FaubourgPoissonnière. Auf das war sie wegen der relativen räumlichen Nähe zu Angela gekommen, bei der Oper gab es keinen Möbelspediteur, das war nun einmal so.
Diesen Samstag, kein Problem, sagten die Bretonen, das lasse sich machen, wenn es sich um einen kleinen Umzug handele. Und unter der Bedingung, dass er am Nachmittag stattfinde.
Am Mittwoch kaufte Lou das wöchentliche »Particulier à Particulier« und kreuzte zwei Anzeigen an, eine Einzimmerwohnung in der Rue Berzélius, in der Nähe der Porte de Clichy, und eine Zweizimmerwohnung, die allerdings kleiner war, in der Rue de la Lune, am Rande des Sentier. Am selben Abend schon hatte sie die dreiundzwanzig Quadratmeter in der Rue de la Lune besichtigt und unterschrieben. Der Eigentümer war ein Bekleidungsgroßhändler, der sein Geschäft direkt daneben hatte, in der Rue Beauregard. Er bat Lou, die Kaution so schnell wie möglich zu hinterlegen, woraufhin sie den Schlüssel bekommen würde. Bevor sie am nächsten Tag in seinen Laden ging, kaufte Lou ein Mobiltelefon. In Zukunft würde sie nur noch unter dieser Nummer, die irgendwo im Nirgendwo lag, erreichbar sein. Sie sagte Angela nicht, dass sie umzog, aber gab ihr die neue Telefonnummer. Du kannst mir dann ja mal sagen, ob diese kleinen Dinger wirklich praktisch sind, sagte Angela zu ihr. Momentan sehe ich nicht den geringsten Grund, mir auch eins zuzulegen. In der Mittagspause, am frühen Nachmittag, bestätigte Lou dem Bretonischen Umzugsunternehmen das Datum für ihren Umzug, Samstag, den elften, und nannte die Lieferadresse in der Rue de la Lune. Dann rief sie die Agentur in Viroflay an und bestätigte, dass sie die Wohnung bis zum Ende der Woche verlassen hätte. Für die Abnahme wurde ein Treffen am Montag um zehn vereinbart.
Einer der Gäste des Restaurants hatte den Figaro auf dem Tisch liegen lassen, den Angela gerade durchblätterte, als Lou wieder mit der Arbeit anfing. Das Foto war deutlich zu sehen, rechts im oberen Winkel der Seite, Lou erkannte den schräg geneigten Kopf auf der Stelle, den von unten herauf gerichteten Blick, die blonde Strähne und die dreifache Perlenkette. Ein bisschen später nützte sie einen Moment, in dem Angela mit lauten Schlägen Zwiebeln kleinhäckselte, um den Artikel rasch zu überfliegen. Ich gehe mal eben aus der Küche raus, Angela, mir tränen die Augen. »Diana, 112000 Fiat Unos gesucht«, lautete der Titel. Die Ermittler hatten damit begonnen, die Liste der hundertzwölftausend in der Ile-de-France gemeldeten Unos durchzuforsten. Sie würden mit den Eigentümern Kontakt aufnehmen, einem nach dem andern. Hundertzwölftausend, versuchte Lou sich zu beruhigen. Das werden sie nicht in zwei Tagen schaffen. Donnerstag, Freitag schlief sie noch im Hotel. In beiden Nächten hörte sie wieder den Satz, die vertraute Stimme: Du wirst reden, das geht gar nicht anders, du wirst ein solch drückendes Geheimnis nicht für dich behalten können. Das werden wir noch sehen, entgegnete Lou beim Aufwachen, beide Male. Sie hatte genug zu tun, sie dachte an andere Dinge. Am Freitag fragte Angela sie ganz unvermittelt: Bist du eigentlich sicher, dass du Lou bist? Du hast dich verändert… Sie starrte Lou an, die die Kartoffelschalen anstarrte, wie sie sich unter ihren Händen zu einem tanzenden Häuflein von Schleifen auftürmten. Lou hatte nicht reagiert, und diesmal hatte sie sich auch nicht geschnitten. An ihrer fehlenden Reaktion erkannte sie, dass sie die Angst in gewisser Hinsicht hinter sich gelassen hatte. Sie selbst war nur noch Angst, so
dass nichts anderes ihr mehr Angst machen konnte. Mittlerweile hätte sie sich verhaften lassen, ohne aufzuschrecken.
Am Samstag um fünfzehn Uhr sah sie die Bretonen vor ihrem Wohnhaus in Viroflay eintreffen. Haben Sie nichts vorbereitet?, fragte derjenige der beiden, der französisch sprach, als sie die Wohnung betreten hatten. Nichts in irgendwelche Kisten gestopft? Nein, sagte Lou, warum? Das machen die Leute normalerweise, erklärte der Möbelpacker. Er hieß Théophane, er kam von der Elfenbeinküste. Die hängen da sehr dran, sagte er respektvoll, was sie an Zerbrechlichem haben, oder auch ihre Papiere, die verstauen sie alle selbst vorher in Kartons, sauber zusammengefaltet und alles. Ich hab nichts Zerbrechliches, sagte Lou. Fangen wir an, meinte Théophane. Binnen drei Stunden steckte alles in einer unglaublichen Unordnung in Plastikkörben oder Kisten, Pfannen voller Socken und in Bettücher geschlagene Bücher. Es ist nichts weiter, es ist nichts weiter, wiederholte sich Lou, die die drei Stunden damit zubrachte, Mülltüten zu füllen und sie runterzubringen. Dann trug sie auch ihren Fernseher hinab und stellte ihn neben dem Müllcontainer des Hauses auf den Boden. Im Hausgang traf sie auf den Krankengymnasten vom Erdgeschoss, der sie beglückwünschte: Blendend in Form sehen Sie aus. Sie sind ja ganz hübsch was schlanker geworden! Waren Sie in Ferien? Um sechs Uhr war alles eingepackt. Wie abgesprochen lieferte Lou die Schlüssel ab und stieg mit Théophane und Kemal in den Laster. Die beiden Männer brauchten nicht
einmal eine Stunde, um in der Rue de la Lune mitten in dem großen Zimmer alles kreuz und quer zwischen die vier Möbelstücke zu stellen, denn ihre Kisten und Körbe nahmen sie wieder mit. Als sie fort waren, betrachtete Lou den Haufen, weinte eine Weile, vielleicht zwanzig Sekunden lang, und entschloss sich dann, ein letztes Mal im Hotel zu schlafen. Am Sonntag räumte sie von neun Uhr morgens bis elf Uhr abends ein. Sie fügte die Schuhe wieder zu Paaren zusammen, die Summe ging auf, fand sowohl die Kopfkissenbezüge als auch den Nescafé und verbrachte ihre erste Nacht in der Rue de la Lune. Die Stille verwirrte sie. Die Straße war ein kleiner Hafen der Ruhe zwischen den großen Boulevards und dem Sentier. Am Montag schloss Lou ihr Konto bei der BNP. Sie öffnete kein anderes bei einer anderen Bank. Sie würde versuchen, ohne Scheckheft und Kreditkarte zu leben. Am Abend ging sie um acht Uhr zu Bett und schlief zwölf Stunden durch. Es begann am Dienstag an ihr zu nagen. Sie widerstand den Mittwoch über, ebenso Donnerstag. Aber es war auch wirklich der Gipfel, gerade jetzt, wo sie dabei war, sich aus dem Sumpf zu ziehen, wo es für ihre Verfolger schwierig wurde, sie zu finden. Am Freitag gab sie auf. Die Stimme hatte Recht, man konnte ein solches Geheimnis nicht für sich behalten. Zwischen drei und vier ging Lou zum Kommissariat am Grand Palais. Sie hatte im Telefonbuch nachgesehen, es war das nächste zum Alma-Tunnel und außerdem das Hauptrevier des achten Bezirks. Es herrschte eine ruhige Atmosphäre, als sie eintrat. Ein dicker väterlicher Polizist nahm ihre Aussage auf. So, fragte er, was führt Sie denn her?
Lou erzählte alles. Dass sie in den Alma-Tunnel eingefahren war, den 31. August, kurz nach Mitternacht, am Steuer ihres weißen Fiat Uno. Ganz genau, das fahrende Hindernis. Das war sie gewesen. Es war dann alles sehr schnell gegangen, sie konnte auch nicht mehr dazu sagen, als was man in den Zeitungen gelesen hatte. Sie hatte die Panik bekommen und war abgehauen. Danach hatte das Kesseltreiben der Medien ihr Angst gemacht, jeden Tag etwas mehr. Jetzt ging es ihr besser, sie fand wieder zu ihrem normalen Verhalten zurück, sie konnte darüber reden, jetzt. Der Polizist hatte ihr zugehört, ohne irgendetwas zu notieren oder aufgeregt zu erscheinen. Haben Sie den Fahrzeugbrief hier?, fragte er. N-nein, sagte Lou. Einen Ausweis?, sagte er. Lou spürte, wie sie rot wurde. Nein, auch nicht, sagte sie. Ich muss Ihnen das erklären. Der Polizist legte den Kopf schief: Und wo ist er, Ihr Fiat? Wenn ich das wüsste, sagte Lou. Irgendwo am Grund eines Sees, nehme ich an. Weil nach dem Unfall ging für mich – Der Polizist schnitt ihr das Wort ab. Erinnern Sie sich an das Nummernschild? Lou hatte jegliche Gewissheit verloren. Nein, das ist saublöd, aber ich hab es nie auswendig gewusst, und jetzt ohne den Fahrzeugbrief… Natürlich, sagte der Polizist. Hören Sie, es war sehr vernünftig von Ihnen, vorbeizukommen. Sie werden sich jetzt besser fühlen. Reden, das tut immer gut. Haben Sie eine Arbeit? Ja, sagte Lou. Wollen Sie denn meinen Namen und meine Adresse nicht aufschreiben? Aber natürlich doch, sagte der Polizist. Louise Origan, begann Lou. Ich wohne in der Rue de la Lune. Klar, sagte der Mann. Meine Telefonnummer ist die 06 85 34 37 3 5, da gehe nur ich ran. Perfekt, sagte der Polizist. Er hatte nur die Telefonnummer notiert. So, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Nachmittag, sagte er und rückte seinen Stuhl nach hinten.
Natürlich werden wir uns bei Ihnen melden, wenn wir Ihre Informationen weiterverfolgen. Das sollte mich wundern, wenn Sie die nicht weiterverfolgen, bemerkte Lou. Bei der Polizei sollte man sich über gar nichts wundern, sagte der Polizist. Das Wichtigste ist, dass man Vertrauen hat. Lou stand auf. Er blieb sitzen. Lou entfernte sich und fragte sich dabei, was er wohl mit seinem »Perfekt« hatte ausdrücken wollen. Sie ging durch die Tür und hörte, wie er in Gelächter ausbrach. Aber sie verstand nicht mehr, was er sagte. Er redete sehr schnell und lachte viel dabei. Und vierundfünfzig!, sagte er. Das war die Vierundfünfzigste, und das nur hier bei uns. Gestern waren auch zwei da, das hört nicht auf. Irgendwie muss das ansteckend sein. Eins ist jedenfalls sicher, mit der hier werde ich den Kollegen von der Kripo nicht kommen. Hast du die gesehn? Völlig bekloppt… Sie hat sich haargenau den Diana-Look machen lassen, blonde Strähne, die Wasserleichenmiene, der Blick eines geprügelten Hundes. Angeblich sollen die Psychiatrien ja voll sein von diesen Mädels mit flachen Schuhen und Tolle über dem Auge, die alle behaupten, sie seien die Prinzessin von Wales… Lou glaubte, erlöst zu sein, und verbrachte die folgenden Tage endlich beruhigt, endlich in Frieden mit sich. Sie täuschte sich nicht. Zum ersten Mal konnte sie eine Pizza im Stehen essen, irgendwo auf dem Gehweg, ohne in jedem Moment eine bleierne Hand zu fürchten, die sich auf ihre Schulter legte. Sie kehrte zu dem Feinkostladen in der Rue d’Hauteville zurück, einmal, zweimal, zehnmal, ohne Angst, bemerkt zu werden. Sie gewöhnte sich an ihr neues Viertel, in dem eine eher maskuline Atmosphäre herrschte, obwohl es auf Damenmoden spezialisiert war, aber das nett war, richtig nett. Die Polizei rief nicht zurück.
Lou telefonierte mit ihrer Mutter. Ich hab endlich ein Mobiltelefon gekauft. Ich geb dir meine neue Nummer. Die alte kannst du ausstreichen, ich habe keinen Festnetzanschluss mehr, das ist sowieso zu nichts gut. Wie geht’s dir? Ist es schön im Midi?… Yvon, also bitte Mama, nein. Nein, das läuft nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich erzähl dir das ein andermal… Das ist deine Meinung. Hör auf. Hör auf. Stell mir keine Fragen, ich erzähl dir irgendwann einmal alles, versprochen. Gegen Ende Oktober kaufte Lou sich in den Galerie Lafayette einen Föhn. Regelmäßig zum Friseur zu gehen war doch im Grunde nicht ihre Art. Sie musste eben lernen, sich die Haare selbst zu glätten. Sie probierte es aus, kaum dass sie zu Hause war. Es ist verrückt, dachte sie, wie viel man über Sachen Bescheid weiß, die einem nichts nützen, und dieses Wissen behält man irgendwo im Gedächtnis, ohne sich daran zu erinnern, bis zu dem Tag, wo man es braucht, und dann ist es da, ohne dass man danach gesucht hätte. Sie hatte gelesen oder man hatte ihr erzählt, dass der Prozentsatz aufgeklärter Straftaten sehr niedrig liegt. Sie erinnerte sich an die Zahl: zwei von zehn. Acht Verbrechen von zehn bleiben ungelöst. Und selbst all die modernen Ermittlungsmethoden der heutigen Zeit haben daran kaum etwas geändert. Vielleicht war es Marie-No gewesen, die das alles erklärt hatte, bei ihrem Geplapper zwischen Herd und Gastraum. Am Ort eines Verbrechens findet man immer massenweise Wimpern, Haare oder Hautpartikel, bei denen die moderne Wissenschaft genau herausfinden kann, zu wem sie gehören: zu zwei Leuten nämlich, dem Opfer und dem Mörder, dessen genetischen Fingerabdruck man auf diese Weise bekommt. Es handelt sich um eine Frau, eine junge Frau, wir haben ihre DNA. Und dann? Dann passiert gar nichts mehr, wenigstens bis zum heutigen Tag nicht. Solange man keine komplette
genetische Datenbank aller Leute angelegt hat, die im Land wohnen oder sich zumindest in ihm aufhalten, hat die junge Frau, vorausgesetzt, sie konnte entkommen, ohne gesehen zu werden, vorausgesetzt, sie ist bis dahin nie in die Karteien der Polizei geraten, große, viel größere Chancen, niemals gefunden zu werden, als ihr Risiko ist, doch irgendwann geschnappt zu werden. Anfang November war die dicke schwarze Brieftasche leer, Lou warf sie weg. Zum Teufel damit. Sie hatte sie ohnehin nie gemocht. Das Taschenmesser warf sie ebenfalls fort. Sie wusste nicht, warum, irgendwie hingen die beiden Objekte miteinander zusammen. Sie kaufte keinen neuen Fernseher. Sie entdeckte, dass man sehr gut ohne Scheckheft, Kreditkarte, Personalausweis leben kann. Sie hörte nur noch Musik im Radio. Wenn ihr eine Zeitung in die Hände geriet, sei es, dass jemand eine bei Angela hatte liegen lassen oder dass sie eine im Bus vergessene öffnete, warf sie einen Blick auf die Überschriften. Auf diese Weise las sie einmal davon, dass die Ermittler der Kripo sich beschwerten. Man hatte von ihnen verlangt, dass sie für den Fall Diana mehr Leute abzogen, als das jemals für irgendeinen anderen Fall in ihrem Bereich geschehen war. Mit der Konsequenz, dass andere und ungleich kriminellere Fälle nicht so verfolgt wurden, wie es sich gehört hätte, und zwar Verbrechen und schlimmste Straftaten.
Am elften November wachte Lou spät auf. Draußen herrschte echtes Herbstwetter, Schauer und Wind schlugen gegen die Fenster. Sie entschloss sich, in der Passage Brady ihren Vorrat an indischen Gewürzen aufzufüllen.
Sie überquerte gerade den Boulevard Saint-Denis, als sie es rufen hörte: Lou! Sie hatte die Stimme wieder erkannt und machte den Motorradfahrer in seinem gelben Schutzanzug sofort aus, der jetzt sein Visier anhob. Sie überlegte einen Moment lang, ob sie davonlaufen sollte, konnte sich nicht dazu entschließen. Yvon hielt neben ihr an, auf dem Trottoir. Du hast dich vielleicht verändert!, sagte er, ohne abzusteigen. Warst du krank? Ich hab dich kaum wieder erkannt. Das kommt vor, sagte Lou. Ich hab auch solche Tage zurzeit, an denen ich nichts wieder erkenne. Ist ziemlich seltsam. Yvon schien nicht böse auf sie zu sein. Ich nehme an, ich schulde dir eine Entschuldigung, sagte Lou. Wollen wir nicht was trinken?, fragte Yvon. Du hast doch ein bisschen Zeit? Lou verzog das Gesicht: Lieber nicht. Ich bin ein bisschen in Eile. Und heute Abend?, fragte der junge Mann. Ich möchte lieber nicht, sagte Lou. Yvon wechselte den Tonfall. Arbeitest du immer noch bei Angela? Nein, sagte Lou, ich hab mich verändert. Ich… Was?, unterbrach Yvon sie, du hast dir auch eine neue Arbeit gesucht, na, du hast ja offenbar dein ganzes Leben geändert! Nicht absichtlich, sagte Lou langsam, das ist von ganz alleine gekommen, ein Schritt nach dem andern. Aber ziemlich schnell, bemerkte Yvon. Findest du?, fragte Lou. Yvon runzelte die Stirn. Weißt du, sagte er, dass ich letztens an dich gedacht habe, als ich die Zeitungen las. Hast du das gesehen, bei diesem Diana-Unfall, das ominöse fahrende Hindernis, das den Mercedes aus der Spur gebracht hat, das war ein weißer Fiat Uno. Ganz genau wie deiner. Sie wollen alle Besitzer von Fiat Unos befragen. Hast du den Titel von Libération gesehen letzte Woche? »Wanted Fiat Uno«? Du kriegst also irgendwann Besuch von den Polypen, wenn du ihn nicht schon hattest.
Besuch nicht, sagte Lou. Sie haben mich vor ein paar Tagen auf der Straße angehalten. Ich saß am Steuer, Avenue des Ternes, sie haben mich rechts ranfahren lassen. Waren glaube ich Gendarmen. Sie haben sich das Auto genau angesehen, von draußen, von drinnen, gute fünf Minuten lang. Dann haben sie mich einen Fragebogen ausfüllen lassen, von wem ich das Auto gekauft habe, was ich zum Zeitpunkt des Unfalls gemacht habe. Und dann haben sie mich wieder fahren lassen. Ich finde das ja alles ganz in Ordnung. Aber ich glaube nicht, dass es viel bringt. Hast du gesehen, wie viele Unos es in Frankreich gibt? Mehr als zehntausend… Du liegst daneben, korrigierte Yvon sie, es sind mehr als hunderttausend, allein im Pariser Raum. Die werden noch lange suchen müssen.