V L A D I M I R S O R O K I N DER TAG DES OPRITSCHNIKS ROMAN Aus dem Russischen von Andreas Tretner
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V L A D I M I R S O R O K I N DER TAG DES OPRITSCHNIKS ROMAN Aus dem Russischen von Andreas Tretner
KIEPENHEUER
&
WITSCH
1. Auflage 2008 Titel der Originalausgabe: Den' opritschnika © 2006 by Vladimir Sorokin All rights reserved Aus dem Russischen von Andreas Tretner © 2008 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Der Übersetzung des Gedichts auf S. 160 liegt eine Majakowski-Nachdichtung von Hugo Huppert zugrunde. Umschlaggestaltung: Rudi Linn, Köln Umschlagmotiv: © Rudi Linn, Köln Autorenfoto: © gezett.de Gesetzt aus der Stempel Garamond und der Neuen Helvetica Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-462-03923-8
Maljuta Skuratow gewidmet
IMMER DERSELBE TRAUM: Ich gehe über ein Feld, so endlos groß, wie es sie nur in Russland gibt, sehe weiter vorn ein weißes Pferd, gehe darauf zu und ahne schon, dass es ein besonderes ist, ein Traum von einem Pferd, rassig, schnellfüßig, ein Zauberpferd; ich gehe schneller und kann es doch nicht einholen, lege noch einen Schritt zu, fange an zu rufen, zu schreien, denn auf einmal weiß ich, dieses Pferd ist mein Leben, mein Schicksal, mein Wohl und Wehe, ich brauche es wie die Luft zum Atmen - und ich renne, renne, renne hinter ihm her, während das Pferd ganz gemütlich wegläuft, ohne auf mich oder sonst wen achtzugeben, sich entfernt auf Nimmerwiedersehen, unwiderruflich, da läuft es und läuft und läuft...
Mein Faustkeil weckt mich: Erst ein Peitschenhieb, dann ein Schrei. Noch ein Hieb. Ein Stöhnen. Nach dem dritten Hieb ein Röcheln. Den Klingelton hat Pojarok in der Geheimen Kanzlei mitgeschnitten, als sie einen Wojewoden aus Fernost folterten. Musik, die einen Toten aufweckt. »Komjaga«, schnaufe ich, den kalten Faustkeil ans schlafwarme Ohr gelegt. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch. Korostylew am Apparat«, ertönt die Stimme des alten Sekretärs der Auswärtigen Kanzlei, und im nächsten Moment schwebt neben dem Gerät auch sein besorgtes Schnurrbartgesicht in der Luft. »Was willst du?« 7
»Ich darf Euch daran erinnern, dass heute Abend der Antrittsbesuch des albanischen Gesandten ansteht. Eine Zwölferkorona ist aufzubieten.« »Weiß ich doch«, brumme ich missmutig, obwohl es mir, ehrlich gesagt, entfallen war. »Dann entschuldigt die Störung. Ich tat meine Pflicht.« Ich lege den Faustkeil zurück auf den Nachttisch. Wie kommt ein Sekretär von der Auswärtigen dazu, mich zur Korona zu vergattern? Ach so, ja... Die Auswärtige richtet neuerdings das Handwaschungsritual aus. Das hatte ich ganz vergessen ... Mit noch geschlossenen Augen schwenke ich die Beine vom Bett, bewege den Schädel: Der brummt gewaltig vom gestrigen Abend. Ich taste nach dem Glöckchen und schüttele es. Höre, wie Fedka nebenan von der Pritsche hüpft, hin und her läuft, mit dem Geschirr klappert. Sitze da mit hängendem Kopf, der aufzuwachen sich noch weigert. Es ging wieder heiß her gestern. Und das, obwohl ich mir geschworen hatte, nurmehr mit den eigenen Leuten zu saufen und zu koksen, neunundneunzig bußfertige Verbeugungen habe ich in der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale vollzogen deswegen und zum Heiligen Bonifazius gebetet. Einen Dreck hat's geholfen! Aber was soll man machen. Dem Staatsrat Kyrill Iwanowitsch kann ich den Wunsch nicht abschlagen. Er ist schlau. Für weise Ratschläge immer gut. Was ich, im Unterschied zu Pojarok und Siwolai, an Menschen zu schätzen weiß - wenn sie Grütze im Kopf haben. Den allweisen Reden Kyrill Iwanowitschs könnte ich ewig lauschen. Aber ohne Koks macht der nun mal den Mund nicht auf ... Fedka betritt den Raum. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch.« Ich schlage die Augen auf. 8
Vor mir steht Fedka mit dem Tablett. Zerknautscht, blöd dreinschauend - sein Morgengesicht. Auf dem Tablett die traditionelle Labung nach durchzechter Nacht: ein Becher heller Kwass, ein Gläschen Wodka und ein halber Becher Sauerkrautbrühe. Den leere ich als Erstes. Es kneift in der Nase und zieht die Kaumuskeln zusammen. Ich atme geräuschvoll aus und kippe den Wodka hinunter. Mir kommen die Tränen, Fedkas Visage verschwimmt. Nun fällt mir das meiste wieder ein: Wer ich bin, wo ich bin und wozu das. Ich warte noch einen Moment, ehe ich vorsichtig durchatme. Mit einem Schluck Kwass nachspüle. Ein Moment verstreicht, der Moment des Großen Innehaltens. Dann rülpse ich laut, aus tiefstem Inneren. Wische mir die Tränen aus den Augen. Und weiß auch den Rest. Fedka stellt das Tablett ab und kniet vor mir nieder, hält mir den angewinkelten Arm hin. Ich stütze mich auf, stemme mich hoch. Morgens riecht Fedka übler als abends. Das ist die Wahrheit seines Leibes, ihr entkommt man nicht. Da helfen auch keine Hiebe. Ich recke und strecke mich unter Ächzen, trete vor die Ikonenwand, entzünde das Lämpchen, knie nieder. Ich spreche das Morgengebet, verbeuge mich ein ums andere Mal. Fedka steht hinter mir, bekreuzigt sich gähnend. Als ich mit Beten fertig bin, erhebe ich mich, Fedka hilft mir. Ich gehe ins Badezimmer. Wasche das Gesicht mit dem bereitstehenden Brunnenwasser, auf dem Eisbröckchen schwimmen. Schaue in den Spiegel. Das Gesicht leicht aufgedunsen, die Nasenflügel blau geädert, das Haar zerrauft. Erstes Grau an den Schläfen. Ein bisschen früh für mein Alter. Aber das kommt von der Arbeit, so ist sie nun mal. Der Staatsdienst ist kein Honiglecken ... 9
Ich verrichte meine Notdurft und steige anschließend in den Jacuzzi, schalte das Programm ein und lege den Kopf auf die Nackenstütze, die warm und bequem ist. Mein Blick geht zu dem Gemälde an der Decke: Jungfrauen beim Kirschenpflücken im Garten. Das beruhigt. Ich betrachte die Mädchenfüße, die Körbe mit den reifen Kirschen. Die Wanne läuft voll, das Wasser braust und sprudelt mir um den Leib. Der Wodka von innen und die Luftblasen von außen wecken meine Lebensgeister. Nach einer Viertelstunde hört das Sprudeln auf. Ich bleibe noch einen Moment liegen, dann drücke ich den Knopf. Fedka erscheint mit einem Laken und dem Morgenmantel. Er hilft mir aus der Wanne, wickelt das Laken um mich, hängt mir den Mantel über. Ich gehe ins Esszimmer. Dort ist Tanjuschka schon dabei, das Frühstück aufzutragen. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich eine Verlautbarungsblase. »Nachrichten!«, sage ich vernehmlich. Die Blase flammt auf, die blau-weiß-rote Fahne unseres Vaterlandes mit dem goldenen doppelköpfigen Adler erscheint in ganzer Breite, es ertönen die Glocken vom Großen Iwan. Ich schlürfe Tee mit Himbeeren und erfahre, was es Neues gibt: Am Nordkaukasusabschnitt der Südmauer sind neuerlich Kanzleibeamte und Landverweser des Diebstahls überführt worden, die Rohrleitung Fernost bleibt abgeschottet, bis die Japaner uns mit einem Bittgesuch zu Kreuze kriechen, die Chinesen bauen ihre Siedlungen in Krasnojarsk und Nowosibirsk aus, der Gerichtsprozess gegen die Geldschneider aus dem Uralischen Schatzhof dauert an, die Tataren errichten zum Jubiläum des Gossudaren einen raffinierten Palast, die Schlauberger aus der Akademie für Heilkunde kommen mit den Arbeiten am 10
Alterungsgen gut voran, die berühmten Muromer Fiedler geben zwei Kremlkonzerte, Graf Trifon Bagrationowitsch Golyzin hat sein junges Weib erschlagen, für Januar sind auf dem Heumarkt im Hl. Petrograd keine öffentlichen Auspeitschungen vorgesehen, der Rubel ist gegenüber dem Yang wieder um eine halbe Kopeke gestiegen. Tanjuschka trägt Quarkkeulchen, gedämpfte Rüben in Honig und Kissel auf. Im Gegensatz zu Fedka ist Tanjuschka eine Wohltat für Aug und Nase. Ihre Röcke knistern angenehm. Der kräftige Tee und der Moosbeerenkissel treiben mir den nötigen Schweiß aus den Poren und bringen mich endgültig wieder auf die Beine. Tanjuschka reicht mir ein Handtuch, das sie eigenhändig bestickt hat. Ich reibe mein Gesicht ab, stehe vom Tisch auf, bekreuzige mich, danke dem Herrgott für das Mahl. Zeit, an die Arbeit zu gehen. Der Bartscherer Samson - ein Zugezogener - wartet schon in der Ankleidestube. Ich begebe mich dorthin. Der kleine, stämmige, wortkarge Mann platziert mich ehrerbietig vor dem Spiegel, massiert mir das Gesicht, reibt den Nacken mit Lavendelöl ein. Seine Hände sind mir, wie die aller aus seiner Zunft, unangenehm. Wobei ich grundsätzlich anderer Meinung bin als der Zyniker Mandelstam, wenn er sagt: »Macht ist so widerlich wie Hände von Barbieren.« Nein, Macht hat ihren Reiz, sie ist so verführerisch wie der Schoß einer jungfräulich zarten Goldstickerin. Anders die Hände eines Barbiers ... Nicht zu ändern, Weibern ist es untersagt, uns zu rasieren. Samson sprüht mir aus einem orangefarbenen Fläschchen mit der Aufschrift Dschingis Khan Schaum auf die Wangen, den er mit übertriebener Sorgfalt verschmiert, um nicht den schmalen, schö11
nen Kinnbart zu besudeln, greift nach der Klinge, zieht sie schwungvoll ein paarmal am Riemen ab, nimmt, sich auf die Unterlippe beißend, Maß und fängt an, das Weiß in geraden, gleichmäßigen Zügen wieder aus dem Gesicht zu schaben. Ich betrachte mich. Meine Wangen sind nicht mehr die allerfrischesten. In den letzten zwei Jahren habe ich ein halbes Pud abgenommen. Die Schatten unter den Augen sind zur Regel geworden. Wir alle leiden an chronischem Schlafmangel. Die letzte Nacht war keine Ausnahme. Samson legt das Rasiermesser zur Seite und greift zum elektrischen Apparat. Damit stutzt er geschickt das beilförmige Ende meines Bartes. »Guten Morgen, Komjaga!«, zwinkere ich mir selbst zu. Die unangenehmen Hände legen ein heißes, minzegetränktes Tuch auf mein Gesicht. Sorgsam fährt Samson damit über die Haut, reibt, bis mir die Röte in die Wangen schießt, dreht das Haarbüschel auf meinem rasierten Schädel ein, sprüht Lack und anschließend reichlich Goldpuder darüber, zuletzt kommt der schwere goldene Ring mit dem Glöckchen ohne Klöppel ins rechte Ohr. An diesem Ring erkennt man uns. Kein Gemeiner, ob Landvogt, Staatsbeamter, Strelitze, Duma-Bojare, Provinzadliger oder sonst ein Gesindel, würde es wagen, sich ein solches Glöckchen anzuhängen - nicht einmal zum Weihnachtsmaskenfest. Samson besprüht meinen Schädel mit Wildapfelessenz, verbeugt sich wortlos und geht hinaus - der Barbier hat seine Schuldigkeit getan. Sogleich erscheint Fedka, das Gesicht immer noch in Falten, aber wenigstens schon im frischen Hemd, mit geputzten Zähnen und gewaschenen Händen. Bereit, die Prozedur des Ankleidens an mir vorzunehmen. Ich lege die flache Hand an 12
das Schloss des Kleiderschranks. Das Schloss summt, ein rotes Lämpchen blinkt, die eichene Tür fährt zur Seite. Meine achtzehn Gewänder kommen zum Vorschein. Allmorgendlich ein erhebender Anblick. Heute ist ein normaler Werktag. Also Arbeitskleidung. »Für alle Tage«, sage ich zu Fedka. Er nimmt die passende Kluft aus dem Schrank und beginnt mich anzukleiden: zuerst das weiße, mit Kreuzstich verzierte Unterzeug, dann die rote, nach Russenart seitlich zu knöpfende Stehkragenbluse, die Jacke aus gold- und silberdurchwirktem Brokat mit Marderbesatz, dazu Pumphosen aus Samt und die saffianledernen roten Stiefel, mit Kupfer beschlagen. Über die Brokatjacke zieht mir Fedka zu guter Letzt den wattierten Kaftan aus grobem schwarzem Tuch, dessen Schöße weit hinunterreichen. Nach einem Blick in den Spiegel schließe ich den Schrank. Beim Betreten des Vorzimmers schaue ich auf die Uhr: 8:03. Die Zeit drängt. Im Vorzimmer warten die, die mir das Geleit geben wollen: meine alte Amme mit der Ikone des Heiligen Georg, des Wundertäters, Fedka mit Gürtel und Mütze. Letztere, aus schwarzem Samt mit Zobelbesatz, beeile ich mich aufzusetzen, lasse mir den breiten Ledergürtel umlegen. An ihm hängt ein Dolch in kupferner Scheide, rechts davon der Rebroff im hölzernen Halfter. Währenddessen schlägt die Amme das Kreuz über mir. »Andrjuschenka! Die Heilige Gottesmutter, der Heilige Nikola und alle Starzen von Optina mögen dir beistehen!«, ruft sie. Dabei wackelt ihr spitzes Kinn, die tränenden wasserblauen Augen schauen ergriffen. Ich bekreuzige mich und küsse die Ikone des Heiligen Georg. Die Amme schiebt mir das Gebet Wer unter dem 13
Schirm des Höchsten sitzet in die Tasche, das Nonnen des Neujungfrauenklosters in Gold auf eine schwarze Schleife gestickt haben. Ohne dieses Gebet fahre ich niemals zum Einsatz. »... und gewähre den Sieg über die Feinde«, brummelt Fedka und schlägt sein Kreuz. Aus der Tür zur guten Stube lugt Anastassija: rotweißer Sarafan, smaragdfarbene Augen, das blonde Haar über der rechten Schulter. Am tiefen Rot ihrer Wangen kann ich sehen, wie erregt sie ist. Die Augen niedergeschlagen, hat sie sich flink verbeugt, wobei die hohe Brust ins Schaukeln gekommen ist. Nun verschwindet sie wieder hinter dem schweren Eichenrahmen. Diese mädchenhafte Verbeugung erzeugt bei mir im Herzen sogleich eine hitzige Aufwallung. Erst vorgestern in der Dunkelheit des Dampfbades hat sie ihren Schoß für mich geöffnet, ward lebendig unter dem Liebesgeflüster an ihrem Ohr, schmiegte sich an mich in all ihrer jungfräulichen Glut, wisperte so voller Inbrunst, dass das Blut in den Adern kochte ... Doch die Arbeit geht vor. Und Arbeit gibt es heute wahrlich nicht zu knapp. Der albanische Gesandte hat mir gerade noch gefehlt. Ich trete hinaus in die Diele. Dort steht das ganze übrige Gesinde versammelt: Stallburschen, Hundeknecht, Koch und Beiköchin, Hausmeister, Wächter und Beschließerin. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch!«, rufen sie und verbeugen sich tief. Ich nicke ihnen im Vorbeigehen zu. Die Dielenbretter knarren. Die geschmiedete Tür wird mir aufgetan, ich trete hinaus auf den Hof. Der Tag verspricht sonnig zu werden, dazu eine knackige Kälte. Über Nacht hat es ein bisschen geschneit: Tannenbäume, Zaun und Wachturm sind wie gepudert. 14
Schnee ist immer gut! Er verhüllt die Scham der Erde. Und die Seele läutert sich. Gegen die Sonne anblinzelnd, lasse ich den Blick über den Hof schweifen: Speicher, Scheune, Schweinestall, Reitstall - alles gediegen und in Schuss. Der struppige Rüde zerrt an der Kette, die Windhunde im Zwinger hinter dem Haus winseln, im Stall kräht der Hahn. Der Hof ist sauber gefegt, Schneehaufen, akkurat wie Osterbrote. Am Tor steht mein Merin - rot wie mein Hemd, schnittig und blank. Die gläserne Kanzel blitzt in der Sonne. Daneben wartet Timocha, der Pferdeknecht, mit dem Hundekopf in der Hand. »Bitte um Euer Einverständnis, Andrej Danilowitsch«, sagt er mit einer Verbeugung. Dabei zeigt er mir den Kopf für den heutigen Tag vor: einen zottigen Wolfshund mit verdrehten Augen, Zunge bereift, kräftige gelbe Zähne. Kommt damit auf mich zu. »Ist gut. Mach schon!«, sage ich. Geschickt befestigt Timocha den Kopf am Stoßfänger meines Merins. An den Kofferraum kommt der Besen. Ich lege die Hand an das Türschloss, die gläserne Kanzel fährt nach oben. Ich nehme im schwarzen Leder des Liegesessels Platz. Gurte mich an. Starte den Motor. Die hölzernen Torflügel gehen vor mir auf. Ich fahre vom Hof, fege die schmale, schnurgerade Straße entlang, verschneiter alter Fichtenwald zu beiden Seiten. Solch eine Pracht! Ein guter Ort. Ich sehe mein Anwesen im Rückspiegel kleiner werden. Ein anständiges Haus, eines mit Seele. Ganze sieben Monate wohne ich hier, und mir kommt es so vor, als wäre ich hier geboren und aufgewachsen. Früher hat dieses Gut dem Kumpanen eines Geldschneiders aus dem Schatzhof mit Namen Stepan Ignatjewitsch Gorochow gehört. Als der während der Großen 15
Säuberungen in seiner Kanzlei in Ungnade fiel und nackent gemacht wurde, haben wir ihn uns vorgeknöpft. In dem heißen Sommer damals sind im Schatzhof viele Köpfe gerollt. Bobrow mit fünfen seiner Spießgesellen ist in einem eisernen Käfig durch Moskau gekarrt, dann ausgepeitscht und auf der Schädelstätte enthauptet worden. Das halbe Personal wurde der Stadt verwiesen und hinter den Ural verbracht. Es gab viel zu tun ... Dem Gorochow haben wir damals, wie es sich ziemte, zuerst die Visage in den Mist gedrückt, dann das Maul mit Banknoten ausgestopft und zugenäht, eine Kerze in den Arsch gesteckt; schließlich wurde er am Gutstor aufgeknüpft. An der Familie durften wir uns nicht vergreifen. Aber das Gut bekam ich überschrieben. Unser Gossudar ist gerecht. Und das ist gut so.
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KURVE NACH RECHTS.
Auffahrt auf den Rubljowy Trakt. Eine gute Straße, zehnspurig, zwei Ebenen. Ich wechsle auf die Spur ganz links, die rote. Sie ist uns vorbehalten. D e m Staat. Solange ich am Leben und in Staatsangelegenheiten unterwegs sein werde, ist es meine. Die anderen Autos, sowie sie den roten Merin eines Opritschniks sehen und den Hundekopf daran, machen Platz. Wie ein Pfeil schwirre ich durch die gute Landluft, gebe Gas. Ein Verkehrsposten grüßt ehrerbietig. »Radio Russ!«, kommandiere ich laut. Sogleich erfüllt eine sanfte Mädchenstimme das Innere meines Wagens. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch. Was möchtet Ihr hören?« Die Nachrichten kenne ich schon alle. Ein gutes Lied wäre das Richtige gegen den Kater. »Singt mir eins. Das von der Steppe und dem Adler.« »Kommt sofort.« Zügig setzen die Gusli ein, Schellen rasseln im Takt, ein silberhelles Glöckchen klingt, und das Lied hebt an: O du wilde Steppe mein, Freies weites Land, Fluren ohne Zaun und Rain, Endlos aufgespannt. Ist das nicht der stolze Aar, Der dort droben schwebt? Ist das nicht der Donkosak, Der die Peitsche hebt? 17
Der Rotbanner-Kremlchor singt. Ein kraftvoller, guter Gesang. So schmetternd, dass einem die Tränen kommen. Mein Merin fegt in Richtung Hauptstadt. Dörfer, Landgüter fliegen vorbei. Sonnenlicht gleißt auf den verschneiten Fichten. Die Seele wird entgiftet, rappelt sich, lechzt nach neuen Höhenflügen ... Adler, flieg nur nicht zu tief, Dass dich fängt ein Schuss! Gib, Kosak, dem Pferd die Sporen Nicht zu nah am Fluss! Gern wäre ich mit diesem Lied bis ganz nach Moskau hineingerollt, doch ein Anruf kommt dazwischen. Posocha ist dran. Seine geschniegelte Fresse erscheint im schillernden Rahmen. »Hol dich der ...«, brummle ich in meinen Bart und stelle das Lied ab. »Komjaga!« »Was gibt's?« »Schuld und Sühne!« »Was ist denn?« »Der Einsatz beim Edelmann war ein Schuss in den Ofen.« »Wieso?« »Wir haben die ganze Nacht versucht, ihm was unterzuschieben, er hat nicht angebissen.« »Seid ihr verrückt? Und wieso gibst du Schwachkopf nicht Bescheid?« »Wir haben bis zuletzt gehofft, dass es klappt, aber er ist einwandfrei abgeschirmt. Drei Schutzzonen.« »Weiß der Alte davon?« »Nö ... Sag du's ihm, Komjaga, ich hab Schiss. Er ist noch wegen der Kleingewerbetreibenden sauer auf 18
mich, da hab ich kalte Füße. Mach du es, dann verbeißt er sich nicht schon wieder in mich.« Ich rufe den Alten an. Sein breites, rotbärtiges Gesicht erscheint rechts vom Lenkrad. »Sei gegrüßt, Ältester.« »Komjaga! Grüß dich. Bist du bereit?« »Immer bereit, Ältester. Wenn's nach mir ginge ... Aber unser Trupp hat sich dämlich angestellt. Sie kriegen es nicht gebacken, eine Handhabe anzuzetteln bei dem Blaublütigen.« »Nicht mehr nötig«, sagt der Alte und gähnt. Sein kräftiges, tadelloses Gebiss ist zu sehen. »Den können wir ohne Vorwand abräumen. Der ist jetzt nackent. Aber der Familie wird kein Haar gekrümmt, hörst du?« »Aha. Alles klar«, sage ich und nicke, schalte den Alten ab und Posocha wieder zu. »Hast du's vernommen?« »Hab ich«, sagt er mit erleichtertem Grinsen. »Gott sei's gedankt!« »Bedank dich beim Alten, nicht beim lieben Gott.« »Schuld und Sühne!« »Und sieh zu, dass du pünktlich bist, Rumtreiber!« »Bin schon vor Ort.« Ich wechsele auf den Himmelfahrtstrakt, die H l . Hier steht der Wald noch höher als bei uns. Hundert] ährige Fichten, die haben viel mit angesehen. Die könnten was erzählen: von den Roten Wirren und den Weißen Wirren und den Grauen Wirren. Von Russlands Wiedergeburt. Dem Großen Wandel. Unsereins zerfällt zu Staub, entschwebt ins Jenseits, während die stolzen Fichten weiter dastehen werden und schaukeln mit ihren majestätischen Zweigen ... Aber sieh einer an, wie das Blatt sich gewendet hat bei dieser Persönlichkeit! Nun braucht es schon nicht 19
mal mehr eine Handhabe. Erst vorige Woche hat es mit Prosorowski das gleiche Ende genommen, jetzt mit dem da ... Unser Gossudar hat sich kräftig verbissen in die feinen Leute. Und das ist gut so. Wenn der Kopf einmal ab ist, braucht man um die Mütze nicht weinen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Und wer ausgeholt hat - der muss zuschlagen! Vor mir sehe ich noch zweie von uns mit ihren roten Merins. Ich hole auf und bremse ab. Wir fahren in Kolonne. Biegen einer nach dem anderen ab. Nun dauert es nicht mehr lange, bis wir auf das Tor eines Anwesens stoßen. Hier wohnt Iwan Iwanowitsch Kunizyn, der besagte. Acht unserer Fahrzeuge stehen schon davor. Posocha ist da, Chrul, Siwolai, Pogoda, Ochlop, Sjabel, Nagul und Kreplo. Durchweg die alte Garde. Nicht zufällig wird der Alte sie zu diesem Einsatz kommandiert haben. Und recht getan! Kunizyn ist eine harte Nuss. Die zu knacken, braucht es Routine. Ich stelle den Wagen ab, steige aus, öffne den Kofferraum und hole meinen Holzprügel hervor. Dann gehe ich zu meinen Leuten. Sie stehen da und warten auf einen Befehl. Der Alte ist nicht da, also hört alles auf mein Kommando. Kurze, sachliche Begrüßung. Ich nehme den Zaun in Augenschein. Eine Kette Strelitzen aus der Geheimen Kanzlei hat sich zu unserer Unterstützung aufgebaut, zieht sich rings um das Anwesen durch den Wald. Auf Befehl des Gossudaren ist es schon seit der Nacht umstellt. Auf dass kein listig Mäuslein entkomme und kein bissig Mücklein. Doch das Tor der Persönlichkeit hat es in sich. Pojarok schellt an der Pforte und ruft ein ums andere Mal: »Iwan Iwanowitsch, macht auf! Lasst uns im Guten ein!« 20
»Ohne Regierungsabgeordnete kommt ihr Schlagetots mir nicht auf den Hof!«, schallt es aus der Sprechanlage. »So wird es nur noch ärger, Iwan Iwanowitsch!« »Ärger kann's für mich nimmer werden, Halunke!« Wo er recht hat, hat er recht. Ärgeres geschähe nur in der Geheimen Kanzlei, und die bleibt Iwan Iwanowitsch erspart. Die Sache ist in unsere Hände gelegt. Meine Leute sind auf dem Sprung. Es ist Zeit. Ich trete vor das Tor. Die Opritschniki stehen still. Ich schlage mit dem Knüppel ein erstes Mal dagegen. »Wehe diesem Haus!« Dasselbe noch einmal. »Wehe diesem Haus!« Und ein dritter Schlag. »Wehe diesem Haus!« Nun kommt Bewegung in die Männer. »Schuld und Sühne! Dran und drauf!« »Dran und drauf! Dreck am Stecken!« »Sack und Asche! Dran und drauf! Hopp-hopp!« Ich klopfe Pojarok auf die Schulter: »Walte deines Amtes!« Siwolai und er machen sich am Tor zu schaffen, bringen eine Sprengladung an. Alle treten zurück, halten sich die Ohren zu. Ein Knall, und vom großen eichenen Tor kommen die Trümmer geflogen. Prügel voran, springen wir durch die Bresche. Dahinter erwartet uns die Wache des Hausherrn mit ihren Knüppeln. Feuerwaffen anzuwenden verbietet sich von selbst, die Strelitzen ringsum mit ihren Kaltfeuerkanonen hätten im Nu alles niedergemäht. Und ein Gesetz der Duma sieht vor, dass, wer von den Untergebenen sich mit einem Stock in der Hand dem Zugriff zu erwehren weiß, der Gnade des Gossudaren teilhaftig wird. 21
Wir dringen vor. Das Anwesen ist solide, mit einem geräumigen Hof. Platz zum Ausholen! Die Wachen und das Gesinde harren unser, mit Knüppeln bewaffnet, auf einen Haufen gedrängt. Sie haben drei Kettenhunde dabei, die auf uns losgehen wollen. Sich mit so einer Meute anzulegen, ist ein hartes Brot. Da braucht es ein planvolles Herangehen. Das Staatsamt im gewitzten Handstreich ausüben. Ich hebe den Arm. »Alle mal herhören! Euer Herr hat sowieso ausgespielt!« »Wissen wir!«, brüllt die Wache. »Euch werden wir trotzdem die Krallen zeigen!« »Moment! Lasst uns zwei Stellvertreter wählen! Obsiegt euer Mann, so könnt ihr ungeschoren abziehen mit all eurer Habe. Unterliegt er, so fällt alles an uns.« Die Wache überlegt. »Schlagt ein, solange wir es uns nicht anders überlegen!«, rät Siwolai ihnen zu. »Wenn erst Verstärkung eingetroffen ist, putzen wir euch weg, so oder so! Gegen die Opritschnina ist kein Kraut gewachsen!« Die anderen beratschlagen. »Na schön!«, heißt es dann. »Womit wird gekämpft?« »Mit Fäusten!«, antworte ich. Ein Duellant tritt aus der Meute hervor: so ein Hüne von Stallknecht mit Kürbisgesicht. Wirft den Schafspelz ab, zieht Handschuhe über, wischt sich den Rotz von der Nase. Für diesen Fall sind wir gewappnet: Pogoda wirft Siwolai seinen schwarzen Kaftan in die Arme, zieht sich die Marderfellmütze vom Kopf, legt die Brokatjacke ab, lässt die strammen, rotseiden umspannten Muskeln spielen und zwinkert mir zu, während er nach vorne tritt. Gegen Pogoda ist im Faustkampf selbst der wackere Maslo ein junger Spund. Pogoda ist nicht 22
groß, aber breit in den Schultern, von kernigem Knochenbau, wendig und flink. Einen Treffer in seine glatte Visage zu landen, ist schwer. Von ihm eine gelangt zu kriegen - mittenrein ins Weiche -, umso leichter. Mutwillig, die Augen spöttisch zusammengekniffen, schaut Pogoda seinem Widersacher entgegen, schwenkt die seidenglänzende Taille. »Na, was ist, Plumpsack! Bist du bereit für eine Tracht Prügel?« »Freu dich nicht zu früh, Opritschnik!« Die beiden Kämpfer umkreisen sich, schätzen einander ab. Ihre Kleidung, ihr Stand könnten unterschiedlicher nicht sein, sie dienen sehr verschiedenen Herren - und sind doch aus demselben russischen Holz geschnitzt. Zupackende Naturen, wie Russen nun einmal sind. Wir stellen uns im Kreis um die beiden auf, Seite an Seite mit den Bediensteten. Beim Faustkampf ist das normal. Da sind sich alle gleich, ob Bauer oder Adelsmann, Scherge oder Beamter. Die Faust hat das Sagen. Pogoda lacht, zwinkert dem Stallknecht zu, lässt seine strammen Muskeln spielen. Und der Kerl kann nicht länger an sich halten, kommt gesprungen, schwingt die bleischwere Faust. Pogoda duckt sich und setzt dem Stallknecht im selben Moment kurz und trocken eine in die Herzgrube. Der japst, hält aber stand. Pogoda tänzelt schon wieder um ihn herum, wiegt die Schultern wie eine züchtige Jungfer, zwinkert, zeigt seine rosa Zunge. Der Stallknecht mag solche Tänze nicht, er grunzt und holt wieder aus. Doch Pogoda kommt ihm zuvor: eine links ans Jochbein, eine rechts in die Rippen - zack! zack! -, dass es knackt. Der bleiernen Faust ist er dabei erneut ausgewichen. Der Stallknecht brüllt auf wie ein Bär, schwingt die Tatzen, von denen die 23
Handschuhe heruntersegeln. Es hilft ihm alles nichts: Er fängt schon wieder eine in den Magen, eine gegen den Rotzkolben: krach! Davon gerät der Bursche ins Straucheln, ein besoffener Tanzbär. Jetzt hat er beide Hände verschränkt, schwingt sie brüllend durch die frostklare Luft wie eine Axt - alles umsonst: Ploppplopp-plopp! prasseln Pogodas Fäuste auf ihn ein. Die Stallknechtvisage suppt schon, ein Auge ist blau, aus der Nase trieft es rot. Blutstropfen fliegen umher, funkelnd in der Wintersonne wie Rubine landen sie im zertrampelten Schnee. In der Meute verdüstern sich die Mienen. Meine Männer zwinkern einander zu. Der Stallknecht schwankt, schnieft durch die zerschlagene Nase, spuckt Zahnkrümel. Noch ein Hieb und noch einer. Der Bursche weicht zurück, fuchtelt wie ein Honigbär vor den aufgescheuchten Bienen. Und Pogoda lässt nicht locker: Noch eine! Und noch eine! Hart und zielsicher landen die Schläge des Opritschniks. Meine Männer stoßen Pfiffe aus, frohlocken. Ein letzter, verheerender Schlag, und der Stallknecht fällt um. Pogoda stellt ihm den schicken Stiefel auf die Brust, zieht das Messer aus der Scheide und fährt dem Liegenden damit schwungvoll einmal quer übers Gesicht - ritsch! So muss es sein. Als Lehre. Anders darf man mit ihnen jetzt nicht umspringen. Mit Blut geht alles wie geschmiert. Der Kampfgeist der Meute ist erloschen. Der Plumpsack hält sich die zersäbelte Visage, zwischen den Fingern spritzt das Blut hervor. Pogoda packt das Messer weg, rotzt auf den Besiegten. »Puh! Der blutet ja! Schöne Schweinerei!«, sagt er und zwinkert den Umstehenden zu. Der Spruch ist bekannt. Es ist unserer. Hat sich so eingebürgert. 24
Höchste Zeit, einen Punkt zu machen. Den Knüppel erhoben, rufe ich: »Auf die Knie, ihr Trampel!« In solchen Augenblicken sieht man, woran man ist. Oh, der Russe ist einfach unverwechselbar! Die Gesichter der verdutzten Meute! Einfache russische Gesichter. Ich liebe ihren Anblick in Momenten wie diesem, in der Stunde der Wahrheit. Sie sind ein Spiegel. Darin wir uns spiegeln. Wir und die liebe Sonne. Gottlob ist dieser Spiegel noch nicht stumpf geworden, nicht blind von der Zeit. Die Meute sinkt auf die Knie. Wir atmen auf. Im nächsten Moment ruft der Alte an. Er hat von seinem Moskauer Haus aus zugesehen. »Gut gemacht!« »Wir dienen dem russischen Vaterland, Ältester! Was wird aus dem Haus?« »Auf Abriss.« Auf Abriss? Das ist neu ... Bisher wurde ein kaltgestelltes Anwesen noch jedes Mal verschont und den eignen Leuten zugeführt. Das Gesinde wechselte zum neuen Herrn über. So war es auch bei mir. Wir blicken uns an. Der Alte lächelt und zeigt seine weißen Zähne. »Was zögert ihr noch? Das ist ein Befehl: dem Erdboden gleichmachen.« »Wird erledigt, Ältester!« Aha. Dem Erdboden gleich. Bedeutet: den roten Hahn aufs Dach. Das hat es lange nicht gegeben. Aber Befehl ist Befehl. Da wird nicht diskutiert. Ich kommandiere das Gesinde: »Jeder kann einen Sack voll Plunder mitnehmen! Ihr habt zwei Minuten Zeit!« Sie haben schnell begriffen, dass das Haus verloren ist. Sich am Riemen gerissen. Sind losgerannt, jeder in sein Kämmerchen, um das Nötigste zu greifen oder 25
auch nur das Erstbeste. Währenddessen behalten meine Leute das Haus im Blick. Gitter vor den Fenstern, eisenbeschlagene Türen, rote Backsteinwände. Alles sehr solide. Gutes, glattes Mauerwerk. Die Vorhänge vor die Fenster gezogen - bis auf einen Spalt, durch den flinke Augen spähen. Dort drinnen hinter den Gittern herrscht häusliche Geborgenheit. Das heißt, sie hat die längste Zeit geherrscht, hält nun den Atem an, zuckt in Todesangst ... Oh, wie wonniglich, in diese Geborgenheit hineinzustoßen, herauszukratzen von da das zuckende Etwas! Das Gesinde hat seinen Kram zusammengesucht, jeder einen Sack. Jetzt kommen sie geschlichen, demütig wie ein Häuflein Wanderprediger. Wir lassen sie zum Tor. Dort, an der Bresche, stehen die Strelitzen mit ihren Strahlenschusswaffen auf Wacht. Das Gesinde verlässt das Anwesen, schaut sich immer wieder um. Schaut nur, ihr Tölpel, uns soll es recht sein. Denn jetzt schlägt unsere Stunde. Wir umstellen das Haus, klopfen mit den Knüppeln an die Fenstergitter und gegen die Mauern: »Dran und drauf!« »Dran und drauf!« »Dran und drauf!« Sodann umschreiten wir es dreimal in Richtung des Sonnenlaufs: »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« Pojarok pappt seinen Sprengsatz an die schmiedeeiserne Tür. Wir treten zurück, legen die Handschuhe vor die Ohren. Die Ladung detoniert - und die Tür ist nicht mehr da. Allerdings ist dahinter noch eine, aus Holz. Siwolai holt den Schneidbrenner hervor. Die sir26
rende blaue Flamme, nicht dicker als eine Stricknadel, frisst sich wütend voran, und binnen kürzester Zeit kippt polternd ein Streifen aus dem Türblatt. Wir treten ein. Ganz ruhig. Zu viel Eile ist jetzt nicht mehr angebracht. Drinnen ist es still und friedlich. Ein schönes Haus hat dieser Edelmann, sehr behaglich. Das Gesellschaftszimmer ist ganz auf chinesische Art eingerichtet: Liegen, Teppiche, flache kleine Tische, mannshohe Vasen, Rollbilder, Drachen auf Seide und aus grünem Jadestein. Auch die Verlautbarungsblasen sind aus China: geschweifte Formen, in Ebenholz gefasst. Fernöstliche Düfte hängen in der Luft. Das ist die heutige Mode, was soll man machen. Über die breite, mit einem chinesischen Läufer ausgelegte Treppe steigen wir hinauf in den ersten Stock. Hier sind die Gerüche vertrauter: Es riecht nach Lampenöl, Hartholz, alten Büchern und Baldrian. Gediegene Wohnräume, die Wände aus Bohlen gefügt und sorgfältig kalfatert. Zierhandtücher, Ikonenschreine, Truhen und Kommoden, Samoware, gekachelte Öfen. Wir verteilen uns auf die Zimmer, durchsuchen sie. Keiner da. Ist die Laus etwa entwischt? Wir laufen umher, fahren mit den Knüppeln unter die Betten, durchstöbern die Wäsche, zertümmern die Kleiderschränke. Der Hausherr ist nirgends zu finden. »Er wird doch nicht durch den Schornstein entfleucht sein?«, brummt Posocha. »Vielleicht, dass das Haus einen Geheimgang hat«, meint Kreplo, während er mit seinem Knüppel in einer Kommode herumstochert. »Das Gelände ist von Strelitzen umstellt, wo soll er da hin?«, entgegne ich. Wir steigen hinauf ins Dachgeschoss. Es hat einen Wintergarten, einen Steingarten, eine Rieselwand, Er27
tüchtigungsgeräte, eine Sternwarte. Die haben sie jetzt alle ... Was ich überhaupt nicht verstehen kann. Astronomie hin, Astrologie her, das sind großartige Wissenschaften, aber was braucht es dazu ein Fernrohr? Damit lässt sich doch nichts orakeln! Die Nachfrage nach Fernrohren in der Hauptstadt ist einfach sagenhaft, es will einem nicht in den Kopf. Selbst der Alte hat sich so ein Ding auf sein Grundstück gestellt. Allerdings hat er nie Zeit durchzugucken. Posocha scheint meine Gedanken zu lesen. »Diese Bonzen und Geldschneider glotzen sich dumm und dämlich an ihren Sternen. Was sie dort nur zu finden glauben? Den Tod?« »Vielleicht den lieben Gott?«, witzelt Chrul und klopft dreimal mit dem Knüppel an den Stamm einer Palme. »Lästere nicht!«, weist die Stimme vom Alten ihn augenblicklich zurecht. »Entschuldige, Ältester«, sagt Chrul und schlägt hastig ein Kreuz. »Mich hat der Teufel geritten.« »Und wozu sucht ihr Toffel auf die altmodische Tour?«, hat der Alte noch etwas zu maulen. »Schaltet gefälligst den Spürhund ein!« Wir folgen der Anweisung. Surrend pegelt das Gerät sich ein und zeigt in Richtung Erdgeschoss. Wir gehen wieder nach unten. Die Suchmaschine führt uns zu den zwei chinesischen Vasen. Es sind hohe, bauchige Bodenvasen, sie überragen mich. Wir wechseln Blicke, zwinkern uns zu. Ich deute mit dem Kopf auf Chrul und Siwolai. Sie holen aus und lassen ihre Knüppel gegen die Vasen knallen. Das dünne Porzellan zerspringt wie die Schale von einem großen Drachenei. Und aus den Eiern schlüpfen - wie Castor und Pollux - die Kinder des Edelmanns! Purzeln über den Teppich und brül28
len los. Drei, vier ... sechs Bälger. Alle weißblond, eins kleiner als das andere. »Na, sieh einer an«, kichert der unsichtbare Alte. »Was der Gauner sich hat einfallen lassen!« »Scheint vor Angst übergeschnappt zu sein!«, meint Siwolai mit einem scheelen Blick auf die Kinder. Kein guter Blick ist das. Aber wir rühren die Kinder nicht an. Hätte der Befehl gelautet: Gewürm zertreten, dann ja. Aber so ... Unnötiges Blutvergießen ist nicht unsere Art. Die Männer fangen die quietschenden Kleinen wie Rebhühner ein, tragen sie unter die Arme geklemmt davon. Draußen ist schon Dorfvogt Awerjan Trofimytsch, das Hinkebein, mit seinem gelben Autobus vorgefahren. Der bringt die Kleinen in seinem Waisenhaus unter, wo er sie nicht verderben lässt, auf dass sie heranwachsen zu ehrbaren Bürgern unseres großmächtigen Vaterlandes. Auf Kindergebrüll beißen hochwohlgeborene Gattinnen an wie auf einen Köder: Auch Kunizyns Gemahlin hat es nicht ausgehalten und losgezetert in ihrem Unterschlupf. Ein Weiberherz ist nun mal kein Stein. Wir gehen dem Schrei nach - er kam aus der Küche. Wir lassen uns Zeit. Treten ein, schauen uns um. Eine schöne Küche hat dieser Iwan Iwanowitsch. Geräumig, eingerichtet mit allen Schikanen: Es gibt mehrere Anrichten, Herde, Regale aus Glas und aus Stahl für das Geschirr und die Gewürze, es gibt ausgetüftelte Röhren mit heißen und mit kalten Strahlen und anderem fremdländischem Heiteck-Heckmeck, verschlungene Absaugrohre, durchsichtige Kühlschränke, sogar mit Beleuchtung, Messer für jeden erdenklichen Zweck - und in aller Mitten einen großen, guten, weiß getünchten russischen Ofen. Daran hat Iwan Iwanowitsch recht getan. 29
Was wäre eine Tafel rechtgläubiger Menschen ohne eine Krautsuppe, ohne einen Grützbrei aus dem russischen Ofen? Lässt sich in einem Grill aus Übersee etwa eine genauso leckere Pirogge backen wie in unserer guten alten Ofenröhre? Milch dämpfen? Und was ist mit dem lieben Brot? Das russische Brot gehört in einem russischen Ofen gebacken - davon ist noch der ärmste Schlucker überzeugt. Das Ofenloch ist mit einer kupfernen Klappe verschlossen. Pojarok klopft mit dem Fingerknöchel dagegen: »Der graue Wolf ist da und hat euch Kuchen mitgebracht! Poch-poch-poch, wer steckt in dem Ofenloch?« Hinter der Klappe heult ein Weib und flucht ein Mann. Iwan Iwanowitsch grollt seiner Gemahlin, dass sie vorhin losgeschrien und sich verraten hat. Aber so ist das eben! Die Weiber sind am Herzen empfindlich, dafür lieben wir sie ja. Pojarok entfernt die Klappe. Meine Leute greifen nach Ofengabel und Feuerhaken, zerren damit den Adelsmann und seine Gemahlin ans Licht. Die zween, rußbeschmiert, sträuben sich. Dem Manne werden sogleich die Hände gefesselt und das Maul gestopft. Er wird bei den Armen gepackt, und ab mit ihm auf den Hof. Die Frau ... Die Frau soll uns zum Spaß gereichen. Das ziemt sich so. Die Männer binden sie auf die Anrichte, wo sonst das Fleisch aufgeschnitten wird. Ein hübsches Weib hat dieser Iwan Iwanowitsch: gut gebaut, mit einem Honigkuchengesicht, drall am Arsch und an den Titten, von hitzigem Blut ... Aber zuerst den Edelmann. Wir traben alle miteinander hinaus auf den Hof. Dort stehen schon Sjabel und Kreplo mit den Besen, 30
Nagul mit dem eingeseiften Strick und warten. An den Füßen wird der hohe Herr seinen letzten Weg von der Haustür zum Tor geschleift. Sjabel und Kreplo mit den Besen fegen hinter ihm die Schleifspur aus, denn ein Hochverräter darf keine Spuren hinterlassen. Nagul ist schon auf das Tor geklettert, bringt flugs das Seil an, Russlands Feinde aufzuknüpfen ist für ihn ein gewohntes Geschäft. Wir stellen uns unter dem Torbalken auf, heben den Edelmann auf unsere Arme. »Schuld und Sühne!« Einen Augenblick später baumelt Iwan Iwanowitsch in der Schlinge, zuckt, röchelt, schnauft, furzt seinen letzten Furz. Wir nehmen die Mützen ab und bekreuzigen uns. Setzen die Mützen wieder auf. Warten, bis der hohe Herr den Geist aufgegeben hat. Zu einem Drittel ist unser Werk getan. Als Nächstes die Frau. Wir kehren zurück ins Haus. »Lasst sie am Leben!«, mahnt uns, wie üblich, die Stimme des Alten. »Aber ja doch, Ältester!« £5 zu tun erquickt und befeuert uns. Daraus schöpfen wir Saft und Kraft, die Feinde des Russländischen Staates zu bezwingen. Gründlichkeit ist mithin geboten. Dem Ranghöchsten steht es zu, als Erster beizugehen und zu kommen. Wie es aussieht, bin ich das. Die frischgebackene Witwe windet sich und strampelt auf ihrem Tisch, schreit und stöhnt. Ich reiße ihr die Klamotten vom Leib: erst das Kleid, dann das vertrackt gefaltete Spitzenunterkleid. Pojarok und Siwolai knicken ihre weißen, glatten, wohlgepflegten Beine zur Seite, halten sie in der Schwebe. Für die Beine der Weiber hab ich was übrig, die Schenkelchen im Besonderen - und erst die Zehen! Die hier hat blasse kühle Schenkel, aber 31
Zehen, die zart und wohlgeformt sind, mit geputzten, rosa lackierten Nägeln. Ohnmächtig zucken die Beine unter den kräftigen Händen der Opritschniki, und die Zehlein, die kleinen, beben ganz sachte vor Angst und Anspannung, sträuben sich. Pojarok und Siwolai wissen um meine Schwäche: Schon schwebt die zarte Weibersohle nah vor meinem Mund, ich nehme die bebenden Zehlein zwischen die Lippen, während ich meinen nackten Schwan in ihren Schoß versenke. Welche Wonne! Wie ein quicklebendiges Ferkelchen, so zuckt und greint die Witwe am glühenden Spieß. Ich verbeiße mich in ihre Sohle. Sie kreischt auf, schlägt um sich auf ihrem Tisch. Während ich den Vogel zwitschern lasse, gründlich und unbeirrt. »Dran und drauf! Dran und drauf!«, brummen die Opritschniki, halb abgewandt. Es zu tun ist wichtig. Es zu tun ist richtig. Es zu tun ist gut. Ohne das wäre so ein Zugriff nun eine halbe Sache ... Wie ein Ross ohne Reiter ... ohne Zügel ... ein Rösslein, das der Hafer sticht ... mein weißes Ross, mein schönes ... kluges ... Zauberross, mein ... Feuerross, mein ... zügelloses Zuckerross mit Zeckenstich ... mit Zuckerzecken-... Zuckerzecken-... Zuckerzecken-... Zuckerzangenzeckenzacken-zackzack-zazazacke-aaaaaa-a-a-a-hhch! Es ist ein gutes Gefühl, deinen Samen im Schoß von deines Feindes Weib zu hinterlassen. Des Feindes deines Vaterlands. Besser noch, als ihm den Kopf abzusäbeln. Die zarten Witwenzehen kommen mir aus dem Mund gerutscht. 32
Bunte Regenbogen schillern vor meinen Augen. Ich mache Platz für Posocha. Sein Gemächt mit der aufgenähten Flussperle ähnelt dem Streitkolben des Recken Ilja Muromez. Pu-uh ... Gut geheizt haben sie bei Iwan Iwanowitsch. Ich trete vor die Tür des Hauses, setze mich auf die Bank. Die Kinder sind schon weggeschafft. Von dem verprügelten und zerschlitzten Stallburschen sind nur ein paar Blutspritzer im Schnee geblieben. Die Strelitzen drängen sich neugierig um das Tor mit dem Gehenkten. Ich hole eine Packung Rodina hervor und rauche. Zwar stehe ich mit diesem vermaledeiten Laster auf Kriegsfuß, rauche höchstens noch sieben Zigaretten am Tag, aber es ganz sein zu lassen schaffe ich nicht. Ich wollte es mir von Vater Paissi wegbeten lassen, er hieß mich einen Bußkanon aufsagen - geholfen hat es nichts ... Ein eisiger Windhauch trägt den Rauch davon. Immer noch strahlt die Sonne, gleißt mit dem Schnee um die Wette. Ich mag den Winter. Der Frost reinigt den Kopf, lässt das Blut pulsieren. Zur Winterszeit kommt man in Russland mit Staatsangelegenheiten schneller zu Potte. Posocha tritt aus der Haustür: der Mund mit den wulstigen Lippen offenstehend, beinahe sabbernd, die Augen verhangen; der Mann hat Mühe, sein überreiztes puterrotes Gemächt in den Hosenstall zurückzustopfen. Steht da, Beine breit, und betut sich. Dabei rutscht ihm ein Buch unter der Jacke hervor. Ich greife danach, schlage es auf: Heimliche Märchen. Ich lese den Anfang: Es begab sich zu der Zeit, als es im Heiligen Russland noch keine Messer gab und die Männer das Fleisch mit ihren Schwänzen in Stücke hieben ... 33
Die Schwarte ist vollkommen zerlesen und so schmierig, dass man das Fett von den Seiten tropfen zu sehen meint. »Was liest du Schweinigel denn da?«, frage ich und klatsche ihm das Buch gegen die Stirn. »Wenn der Alte das sieht, bist du am längsten Opritschnik gewesen!« »Sieh's mir nach, Komjaga, der Teufel hat mich geritten«, brummt Posocha gleichmütig. »Du wandelst auf des Messers Schneide, Dummkopf, weißt du das? Das ist staatsfeindlicher Unflat. Solcher Bücher wegen hat die Kanzlei für Wort und Schrift ihre Säuberung abgekriegt. Hast du es etwa von da mitgehen lassen?« »Zu der Zeit bin ich noch gar nicht Opritschnik gewesen. Ich hab's im Haus von dem Wojewoden neulich stibitzt. Der Satan hat mir einen Rippenstoß gegeben.« »Bedenke, wir sind eine Schutzstaffel. Wir haben kühl im Kopf und rein im Herzen zu sein.« »Schon klar.« Posocha hebt die Mütze an und kratzt sich gelangweilt sein dunkles Haar. »Unser Gossudar duldet keine unzüchtigen Wörter.« »Weiß ich doch.« »Wenn du es weißt, warum verbrennst du die Schwarte dann nicht?« »Ich tu's, Komjaga, bei Gott, ich tu's, ich schwör's dir.« Er schlägt flüchtig ein Kreuz und steckt das Buch ein. Nagul und Ochlop kommen heraus. Bevor die Tür sich hinter ihnen schließt, höre ich die Witwe des Edelmanns drinnen stöhnen. »Ein hübsches Aas!«, spricht Ochlop, spuckt aus und schiebt sich die Pelzmütze in den Nacken. »Sie werden sie hoffentlich nicht totbürsten?«, frage ich und drücke die Zigarette an der Bank aus. 34
»Tun sie nicht, ist doch verboten!«, grinst der breitgesichtige Nagul und schnauzt in ein von liebevoller Hand umhäkeltes weißes Taschentuch. Bald darauf erscheint Sjabel. Wie immer nach solchem Kreisverkehr ist er aufgekratzt und gesprächig. Sjabel hat Hochschulbildung, genau wie ich. »Russlands Feinde kleinzukriegen macht richtig Spaß!«, brummt er, eine Packung filterlose Rodina hervorziehend. »Wie schon Dschingis Khan gesagt hat: Es gibt kein größeres Vergnügen auf Erden, als Feinde in den Staub zu zwingen, ihre Güter zu verwüsten, ihre Pferde zu reiten und ihre Frauen zu lieben. Ein weiser Mann!« Die Finger von Nagul, Ochlop und Sjabel fahren in die Zigarettenpackung. Ich hole mein edles Feuerzeug mit kalter Flamme hervor und gebe ihnen Feuer. »Alle springt ihr auf dieses Teufelskraut an. Wisst ihr nicht, dass der ewige Fluch der sieben heiligen Steine auf dem Tabak lastet?« »Klar wissen wir das, Komjaga«, lacht Nagul und reckt sich. »Ihr schmeichelt dem Satan, Männer. Der Teufel hat die Menschen das Tabakrauchen gelehrt, damit sie ihn beweihräuchern. Jede Zigarette ist Honig um den Bart des Geschwänzten!« »Mir hat ein abgefallener Priester gesagt: Wer Tabak raucht, ist behaucht vom göttlichen Geist«, widerspricht Ochlop. »Und bei uns im Kosakenregiment gab's einen Oberleutnant, der meinte immer: Geräuchertes Fleisch hält länger!«, seufzt Posocha und nimmt sich auch eine Zigarette. »Was seid ihr für elende Hornochsen! Unser Gossudar raucht nicht. Der Alte hat es sich abgewöhnt. Für 35
uns ziemte es sich erst recht, die Reinheit unserer Lungen und unserer Lippen hochzuhalten.« Schweigend rauchen sie und hören zu. Die Tür springt auf, heraus kommen die übrigen Männer mit der Frau im Schlepp. Sie haben sie, nackt und ohnmächtig, in ein Schaffell gewickelt. Ein Weib zu verschleißen ist für unsereins immer noch ein besonderer Auftrag. »Lebt sie noch?« »Daran ist selten wer gestorben!«, grinst Pogoda. »Ist doch nicht die Folterbank!« Ich nehme ihre schlaffe Hand. Der Puls ist noch da. »Gut. Werft sie ihrer Sippe vor die Tür.« »Wie üblich.« Sie wird davongetragen. Höchste Zeit, der Sache hier ein Ende zu machen. Die Opritschniki werfen lüsterne Blicke auf das Haus: Es ist reich, voll mit feinen Dingen. Aber nein, wenn ein Anwesen laut Verfügung unseres Gossudaren auf Abriss steht, darf nichts herausgetragen werden. Das ist Gesetz. Alles Hab und Gut geht an den roten Hahn des Gossudaren. Ich gebe Sjabel ein Zeichen, er ist bei uns der Feuerwerker. »Verrichte dein Werk!« Er zieht seinen Rebroff aus dem Holster, steckt einen flaschenförmigen Stutzen an den Lauf. Wir gehen auf Abstand zum Haus. Sjabel zielt auf ein Fenster und schießt. Die Scheibe klirrt. Wir treten noch weiter zurück. Stellen uns im Halbkreis auf, ziehen die Dolche blank, heben und senken sie in Richtung des feindlichen Gemäuers. »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« »Wehe diesem Haus!« 36
Dann die Explosion. Aus den Fenstern stößt ein dicker Feuerschwall. Fetzen fliegen, Fensterrahmen und Gitter fallen in den Schnee. Das Anwesen hat Feuer gefangen. Der rote Hahn unseres Gossudaren ist eingekehrt. »Gut gemacht!« Das Gesicht des Alten schwebt im schillernden Rahmen vor uns in der scharfen Luft. »Schickt die Strelitzen nach Hause und kommt in die Kirche zum Dankgebet!« Ende gut, alles gut. Nach getaner Arbeit ist gut Beten. Wir gehen durch das Tor, machen einen Bogen um den Gehenkten. Draußen haben die Strelitzen zu tun, das Zeitungsvolk in Schach zu halten. Sie stehen da mit ihren Apparaten, wollen unbedingt den Brand ablichten. Das ist seit neuestem erlaubt. Mit der Nachrichtenkanzlei haben wir nach den denkwürdigen Novemberereignissen Abmachungen getroffen. Ich winke dem Kosakenhauptmann. Die Apparate richten sich auf den Brand, auf den Gehenkten. In jedem Haus, über jede Verlautbarungsblase werden die Rechtgläubigen sich von der Stärke unseres Gossudaren und seines Staates ein Bild machen können. Und verstehen, was das heißt: Schuld und Sühne! Getreu den Worten unseres Gossudaren, des großen Gebieters: »Recht und Ordnung! Darauf hat unser Heiliges Russland gebaut, als es aus der Grauen Asche erstand, und es wird immer darauf gründen.« Was die Wahrheit ist und nichts als die Heilige Wahrheit!
37
IN
DER
MARIA-HIMMELFAHRTS-KATHEDRALE
ist es
dunkel, warm und feierlich wie immer. Kerzen brennen, die goldenen Ikonenbeschläge glänzen, der Leuchter in der Hand des schmalschultrigen Popen Vater Juvenalius blakt, es tönt sein dünnes Stimmchen, der Bass des schwarzbärtigen dicken Diakons im Kliros hält dagegen. Wir stehen in gedrängten Reihen - die ganze Moskauer Opritschnina. Auch der Alte ist da und Jerocha, seine rechte Hand, sowie Mossol, die linke. Dazu die komplette alte Garde, zu der ich gehöre. Und der große Rumpf. Und die jungen Spunde. Nur der Gossudar fehlt. Montags gibt er uns eigentlich meistens die Ehre, verrichtet mit uns gemeinsam das Gebet. Doch heute ist unsere Sonne nicht da. Staatsangelegenheiten werden unseren Gossudaren in Atem halten. Falls er nicht gerade in seiner Hauskirche, der Mariä-Gewandniederlegung, für das Heilige Russland betet. Des Gossudaren Wille ist triftig und unergründlich. Und das ist gut so. Heute ist ein normaler Montag. Der Gottesdienst darum ein ganz gewöhnlicher. Epiphanias liegt hinter uns, da wir mit dem Schlitten über die Moskwa fuhren, das mitgeführte Kreuz in den Jordan, sprich: das Eisloch unter der silbernen, mit Fichtenwedeln umrankten Laube senkten, Babys getauft wurden, wir selber auch ein paarmal im eisigen Wasser untertauchten, Kanonen abfeuerten, das Haupt beugten vor dem Gossudaren und der Gossudarin, und hernach ward getafelt im Facettenpalast, mit der Kremlsuite und dem Engsten Kreis. Jetzt kommen bis zum Fest der Darstellung des 38
Herrn keine Feiertage mehr. Ein Werktag am anderen. Es gibt viel zu tun. »Gott stehe auf, dass seine Feinde zerstreut werden«, liest Vater Juvenalius. Wir schlagen das Kreuz und verneigen uns. Ich bete zu meiner Lieblingsikone: Spas Jaroje Oko, dem Erlöser mit dem Grimmigen Auge. Mein Blick hält dem Seinen, dem unverwandten, nicht stand. Furchtgebietend ist unser Erlöser, unerbittlich sein Gericht. Aus der rüden Strenge seiner Augen gewinne ich Kraft für den Kampf, befestige meine Gesinnung, erziehe meinen Charakter. Schüre den Hass auf die Feinde. Schärfe meinen Verstand. Auf dass die Widersacher des Herrn und unseres Gossudaren zerstreut werden. »Und gewähre uns den Sieg über die Feinde ...« Feinde gibt es sonder Zahl, das ist wohl wahr. Kaum dass Russland aus der Grauen Asche erstanden und zu sich gekommen war, kaum dass vor sechzehn Jahren Nikolai Platonowitsch, unseres Gossudaren lieber Vater, den ersten Stein zum Fundament der Westmauer gelegt und wir begonnen hatten, uns das äußere Fremde vom Halse zu halten und den inneren Schweinehund schon kamen die Feinde aus allen Ritzen gekrochen als ein giftiges, tausendfüßiges Geschmeiß. Fürwahr: Eine große Idee gebiert einen gewaltigen Widerstand. Feinde, äußere wie innere, hatte unser Staat zu allen Zeiten, doch nie zuvor hat sich der Kampf mit ihnen so zugespitzt wie in der Periode der Auferstehung des Heiligen Russland. Nicht wenige Köpfe sind in diesen sechzehn Jahren auf der Schädelstätte beim Kreml gerollt, nicht wenige Züge voll mit Staatsfeinden und ihrer Sippschaft hinter den Ural gedampft, nicht wenig rote Hähne haben auf den Dächern ach so hoher Her39
ren im Abendlicht gekräht, nicht wenige Wojewoden auf der Streckbank in der Geheimen Kanzlei gefurzt, nicht wenige anonyme Briefe sind im Postkasten der Abteilung Schuld und Sühne auf der Lubjanka gelandet, nicht wenigen Geldschneidern ward das Maul mit ihren schändlich gehorteten Scheinen gestopft, nicht wenige Sekretäre hat man gar heiß gebadet, nicht wenige fremdländische Gesandte mit den drei gelben Merins, den »Schandwagen«, aus der Stadt hinausbefördert, nicht wenige Zeitungsschreiber mit Entenfedern im Arsch vom Fernsehturm Ostankino gestürzt, nicht wenige aufwieglerische Federfuchser in der Moskwa ertränkt, nicht wenige Bojarenwitwen nackt und ohnmächtig im räudigen Schafspelz ihren Erzeugern vor die Tür geworfen ... Und jedes Mal, wenn ich mit einer Kerze in der Hand in dieser Kathedrale stehe, befällt mich derselbe heimliche, aberwitzige Gedanke: Was, wenn es uns nicht gäbe? Käme unser Herr und Gebieter denn auch so zurecht? Allein mit den Strelitzen, der Geheimen Kanzlei und dem Kremlwachregiment? Und während der Chor singt, gebe ich mir selbst leise flüsternd die Antwort: Nein!
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EIN ALLTÄGLICHES MITTAGESSEN im Weißen Palais. Wir sitzen an langen Tischen. Blankes Eichenholz. Die Diener tragen auf: Kwass von Zwieback, dicke Kohlsuppe, Roggenbrot, gesottenes Rind mit Lauch, Grützbrei. Beim Essen wird leise gesprochen, wir reden über das, was ansteht. Dabei kommen unsere tonlosen Glöckchen ins Schaukeln. Jeder Flügel der Opritschnina hat so sein Programm: Jemand hat in der Geheimen Kanzlei zu tun, der andere in der Gelehrtenkanzlei, noch wer in der Auswärtigen oder der Handelskanzlei. Bei mir liegt heute dreierlei an. Als Erstes muss ich mir die Gaukler und Faxenmacher vorknöpfen, ihre neue Nummer zum Festkonzert abnehmen. Als Zweites einen Stern auslöschen. Als Drittes in besonderer Angelegenheit die Wahrsagerin Praskowja zu Tobol aufsuchen. Ich sitze auf meinem angestammten Platz, dem vierten rechts vom Alten. Ein Ehrenplatz. Nur Schelet, Samosja und Jerocha sitzen noch näher zu ihm. Unser Ältester ist ein stattlicher, kräftiger Mann mit jugendlichen Gesichtszügen, obgleich vollständig ergrautem Haar. Es ist eine Freude, ihm beim Essen zuzusehen: wie ruhig er tafelt, wie gründlich. Der Alte ist unser Fundament, die Pfahlwurzel, auf ihm ruht die ganze Opritschnina. Ihm als Erstem hat der Gossudar die Sache seinerzeit anvertraut. Auf ihn konnte das Staatsoberhaupt sich in schweren, für Russland schicksalhaften Zeiten stützen. Das erste Glied in der eisernen Kette der Opritschnina war er. Bei ihm hakten die an41
deren Glieder sich ein, wurden zusammengeschmiedet, verschmolzen zum Großen Ring, bewehrt mit spitzen, nach außen gerichteten Dornen. Mit diesem Ring gelang es dem Gossudaren, das siechende, faulende, bröckelnde Land wieder an sich zu ziehen, den wunden, Blut und Wasser schwitzenden Bären. Und der Bär gesundete an Fleisch und Knochen, die Wunden verheilten, er setzte Fett an, die Krallen wuchsen. Weil wir ihn zur Ader gelassen, ihm das kranke, vom Feinde vergiftete Blut entzogen haben. Nun brüllt er wieder, der russische Bär, sodass die ganze Welt ihn hören kann. Nicht bloß in China und Europa, auch in Übersee lässt sein Gebrüll aufhorchen. Ich sehe den Faustkeil des Alten rot blinken. Bei Tisch wird nicht ferngesprochen. Alle Faustkeile sind ausgeschaltet. Das rote Lämpchen heißt: Der Gossudar hat ein Anliegen. Unser Alter hebt seinen dukatengoldenen Keil ans Ohr, er klirrt gegen das Glöckchen. »Zu Diensten, mein Gossudar.« Alles am Tisch verstummt sogleich. Nur der Alte spricht. »Jawohl, mein Gossudar. Verstanden ... Wir sind schon unterwegs, mein Gossudar.« Der Alte steht auf, ein schneller Blick geht über uns hinweg. »Wogul, Komjaga, Tjaglo, mitkommen.« Ah ja. Der Stimme des Alten höre ich an, das etwas passiert sein muss. Wir stehen auf, bekreuzigen uns und verlassen den Saal. Daran, wen der Alte ausgesucht hat, lässt sich erkennen, dass eine Gedankenarbeit bevorsteht. Alle vier haben wir Hochschulbildung. Wogul hat im Heiligen Petrograd Kämmerei studiert, Tjaglo in Nishni Nowgorod Bücherherstellung betrieben, und ich bin von Stufe drei der historischen Abteilung 42
der Moskauer Staatlichen Universität Michajlo Lomonossow zur Opritschnina gegangen. Aber was heißt gegangen! Zur Opritschnina geht man nicht. Die sucht man sich nicht aus. Sie ist es, die dich aussucht. Oder noch genauer - wie der Alte zu sagen pflegt, wenn er ein bisschen gesüffelt und geschnüffelt hat: »Zur Opritschnina wird man getragen wie von einer Welle.« Und wie das geht! Die Welle trägt dich, dass dir der Kopf davon schwirr wird, das Blut in den Adern wallt, rote Blitze vor den Augen zucken. Doch genauso schnell kann diese Welle dich auch wieder hinaustragen. Das geht ganz flott, und es ist unwiderruflich. Und ärger als der Tod. Aus der Opritschnina herauszufallen ist, als verlöre man beide Beine. Und wird den Rest seines Lebens nicht mehr gehen, sondern kriechen müssen ... Wir treten ins Freie. Vom Weißen Palais bis zum Roten Domizil des Gossudaren ist es ein Katzensprung. Doch der Alte biegt ab zu den Merins. Die Unterredung wird also nicht im Kreml sein. Wir steigen jeder in seinen Wagen. Der vom Alten ist ein Prachtstück: breit und flach, großäugig, dreifingerdicke Scheiben. Eine gute Arbeit der chinesischen Meister, ein Tezuode - so heißt bei ihnen, was wir Spezialanfertigung nennen. An der Stoßstange hängt der Kopf eines Schäferhundes, am Kofferraum der stählerne Besen. Der Alte lenkt den Wagen in Richtung Erlösertor. Wir fädeln uns hinter ihm ein. Fahren durch die Absperrung der Strelitzen zum Tor hinaus auf den Schönen Platz. Heute ist Markttag, die Stände nehmen fast den ganzen Platz in Beschlag. Die Marktschreier schreien, der Sbitenschenk pfeift, die Kaiaschbäcker brummen im Bass, die Chinesen gellen im hohen Singsang. Es herrscht frostiges Sonnenwetter, über Nacht hat es frisch geschneit. Frohsinn herrscht hier, wo unser Land seinen Mittelpunkt 43
hat, Beschwingtheit. Als Junge habe ich den Platz noch ganz anders gekannt, nämlich als den Roten: hart und streng, furchteinflößend, mit einem granitenen Klotz in der Mitten, worin die Leiche dessen lag, der einst die Roten Wirren angezettelt. An seiner Seite klebte ein Friedhof, da lagen die Spießgesellen begraben. Ein finsterer Anblick. Der liebe Vater unseres Gossudaren hat den Granitklotz wegräumen und die Leiche des schieläugigen Unruhestifters in der Erde verscharren lassen, auch der Friedhof kam weg. Anschließend befahl er, die Kremlmauern weiß zu tünchen. Und nun erst konnte der Mittelpunkt unseres Landes werden, was sein Name vorgibt, denn das alte russische Wort »krasny« bedeutete nicht »rot«, sondern »schön«. Und das ist gut so. Wir halten auf das Hotel Moskwa zu, fahren die Mochowaja entlang, am Nationalnaja vorbei, dem Bolschoi- und dem Maly-Theater, dem Metropolija, bis wir auf der Lubjanskaja Ploschtschad herauskommen. Dachte ich es mir doch, dass die Unterredung in der Geheimen Kanzlei stattfinden wird! Im Kreis fahren wir auf die andere Seite des Platzes, um das Maljuta-Skuratow-Denkmal herum. Da steht er, unser Ahnherr in Bronze, schneebepudert, klein und gebeugt, stämmig, mit langen Armen und diesem starren, durchdringenden Blick unter buschigen Brauen hervor ... Aus der Tiefe der Jahrhunderte blickt er zu uns nach Moskau herein, und sein staatsmännisches Auge zuckt nicht, da es herabschaut auf uns, die Erben des Gewaltigen Werks, das er und seine Opritschnina einst in Angriff nahmen ... Maljuta schaut und schweigt. Wir fahren an das linke Tor heran, der Alte hupt. Das Tor wird geöffnet, wir rollen in den Innenhof, stellen die Autos ab. Betreten die Geheime Kanzlei. 44
Jedes Mal, wenn ich unter ihre Gewölbe trete, den grauen Marmor mit den strengen Fackeln und Kreuzen, setzt mein Herz für einen Moment aus und klopft hernach anders. Besonders. Es ist der Herzschlag der Geheimen Sache. Die den Staat im Innersten zusammenhält. Ein wackerer Kosakenhauptmann in fescher himmelblauer Uniform empfängt uns, erweist die Ehrenbezeigung. Geleitet uns zu den Fahrstühlen, hinauf in die oberste Etage und bis zum Kabinett des Vorstehers der Geheimen Kanzlei, Fürst Terenti Bogdanowitsch Buturlin, ein enger Freund unseres Gossudaren. Wir treten ein: voran der Alte, wir hinterher. Buturlin begrüßt uns. Der Alte wechselt mit ihm einen Händedruck, wir machen eine tiefe Verbeugung. Buturlins Gesicht ist ernst. Er lädt den Alten ein, Platz zu nehmen, setzt sich ihm gegenüber. Wir nehmen hinter dem Alten Aufstellung. Das Gesicht des Vorstehers der Geheimen Kanzlei kann einen das Fürchten lehren. Terenti Bogdanowitsch mag keine Scherze. Er hält sich mit Vorliebe an sein schwieriges, verantwortungsvolles Werk: Verschwörungen aufdecken, Spione und Verräter aufgreifen, staatsfeindliche Umtriebe im Keim ersticken. Jetzt sitzt er schweigend da, den Blick auf uns gerichtet, lässt eine Bußkette aus Elfenbein durch die Finger gleiten. Dann spricht er, zwei Worte nur: »Ein Spottgedicht.« Der Alte sagt noch nichts, wartet ab. Auch wir stehen still und atmen nicht. Buturlin blickt uns forschend an, dann fügt er hinzu: »Auf die Familie des Gossudaren.« Der Alte fängt an, in seinem Ledersessel herumzurutschen, furcht die Stirn, knackt mit den kräftigen Fingern. Wir stehen hinter ihm wie vom Donner ge45
rührt. Buturlin gibt ein Kommando, worauf sich die Vorhänge vor die Fenster ziehen, es wird schummrig im Raum. N o c h ein Kommando erteilt der Vorsteher der Geheimen Kanzlei, und im Halbdunkel erscheinen schwebend die aus dem Russischen N e t z gezogenen Worte, glühen, schillern in der Dunkelheit: Ein wohlmeinender Anonymus DER WERWOLF IM FEUER Feuerwehr, Pfaffen, Geheimpolizisten Suchen verzweifelt nach Einem Vermissten, Suchen - per Funk, Steckbrief, Spürhund, was weiß ich Einen Herrn Grafen So um die dreißig, Mittelgroß, dunkelblond, Stolz und verschlossen. Nachtblauer Smoking Sitzt wie angegossen. Schwerer Brillantring Aus Gold, linke Hand, Ringkopf in Igelform. Sonst nichts bekannt. Stolz und verschlossen? Sind Grafen in Massen. Auch soll ein Smoking Nach Möglichkeit passen. Und was den Ring betrifft: Geld, drin zu schwimmen, 46
Ist eines Grafen Ureigne Bestimmung! Wer also ist's, Dass die Leute so hecheln? Was hat er ausgeheckt? Welches Verbrechen? Wen sucht ganz Moskau Mit Macht zu ergreifen? Hört, was die Spatzen Vom Dache so pfeifen! Fuhr einst fürbass Ein Graf Koks im Rolls-Royse, Hockt' wie ein Uhu im Edlen Gehäuse, Äugend und blinzelnd, Mit finstren Allüren, Schmallippig pfeifend Den Ritt der Walküren. Aber! Ein Feuer! Und auf dem Balkon Steht die Marquise VonY.! Unten vorm Haus Steh'n die Leute und gaffen Schadenfroh: »Recht geschieht's Denen, die raffen! Denen, die an sich zieh'n, Was letzten Endes UNS gehört! Diebesgut! Ätsch! Da verbrennt es!«
Der Graf aber handelt, Ohne zu säumen, Entsteigt dem Rolls-Royce Und den düsteren Träumen. Bietet dem Pöbel, Dem garst'gen, die Stirn, Klimmt übers Fallrohr, Zu retten die Dirn. Dritter Stock. Vierter Stock! Ohne zu zagen! Endlich der fünfte, wo Flammen schon schlagen. Bälde schon greifen sie Ohne Pardon Nach der Marquise auf dem Schönen Balkon! Gott! Dieser Anblick Ist großes Theater: Um die Marquise, nackt und fahl, Wabern Schwaden Bläulichen Rauchs, und Dazwischen die Lohe Wirft einen Schein auf Die Büste, die hohe ... Sehet den Grafen! Nicht faul unterdessen, Hat er zu springen Die Kühnheit besessen. Ist, Kopf voran, In ein Fenster geschnellt. Krrrach! 48
Regnet's Glas auf die Glotzende Welt. Da kracht's schon wieder! Bricht eine Tür! Der Graf bahnt den Weg sich Mit sichrem Gespür. Smoking zerrissen, Feuerschein rot, Publikum wispert: »So ein Idiot!« Dann ist der Retter am Ziel. Strafft das Rückgrat, Zieht die Marquise sanft An sein Chemisett. Wohl einer Dame, die Dermaßen Glück hat! Qualmwolken ballen sich. Es brennt das Parkett. Doch was ist das? Finger Bohr'n sich in Brüste? Froschlippen saugen Am milchweißen Bauch? ... Könnt' einer glauben, Der's besser nicht wüsste, Ein riesiger Phallus Zerteilte den Rauch! Wer unten stand, sah's mit Entgeistertem Blick: Der Graf hat die Dame Von hinten ge nommen.
Brust gegen Brüstung, Gestöhn und Gerammel, Bis Graf und Marquise gingen auf In den Flammen! ... Nun mischt in den Rauch sich Ein Brausen und Stäuben: Feuerwehr'n nah'n, bimmeln Ohrenbetäubend, Wachtmeister pfeifen, Die Gaffer, sie weichen. Schutzhelme blitzen sich Leuchtmorsezeichen. Schon schwärmen aus sie Wie kupferne Drohnen, Drehfeuerleitern Gleiten nach oben, Tollkühn, trotz Teflon mit Todesverachtung, Steigen die Männer In Feuers Umnachtung. Und: Wasser marsch! Auf Verderb und Gedeih! ... Spät kommt zum Hauptmann Der alte Lakai, Hängt ihm am Rocksaum Grad wie eine Klette: »Helft meiner Herrin! Oh! Ihr müsst sie retten!« »Herrin? Wieso? In dem Feuer war niemand!«, 50
Spricht barsch der Hauptmann Und nestelt am Riemen. »Wir haben die Brandstätte Streng inspiziert. Ihre Marquise wurde Nicht extrahiert!« Tränen vergießt der Lakai, rauft den Bart sich, Alles glotzt stumm auf Den schwarzen Balkon. Da jault ein Motor hoch Auf hundertachtzig! Mit jault ein Hund, stirbt Auf grauem Beton ... Jedermann zuckt, Starrt entgeistert ins Dunkel, Doch der Rolls-Royce, Er entkommt unerkannt. Löst sich in Luft auf ... Nur kurz so ein Funkeln: Igelig blitzt da Brillant an Brillant! Feuerwehr, Pfaffen, Geheimpolizisten Suchen verzweifelt nach Einem Vermissten, Suchen - per Funk, Steckbrief, Spürhund, was weiß ich Einen Herrn Grafen: So um die dreißig ...
Sie, meine werten Herren, die Sie unter Malachitsäulen sitzen, haben diesen Werwolf nicht zufällig gesehen? Die letzte Zeile erlischt. Das staatsfeindliche Poem löst sich in dunkle Luft auf. Die Vorhänge gehen hoch, Buturlin sitzt da und schweigt, die braunen Augen auf unseren Ältesten gerichtet. Der schaut sich nach uns um. Auf wen dieses Spottgedicht abzielt, ist sonnenklar. Ein Blick genügt, und wir sind uns einig. Der düstere Graf mit dem Brillantigel am Ring ist niemand anderes als Graf Andrej Wladimiro witsch Urussow, der Schwiegersohn unseres Gossudaren: Professor für Prozessrecht, Ordentliches Mitglied der Russländischen Akademie der Wissenschaften, Ehrenvorsitzender der Gelehrtenkanzlei, Vorsitzender des Russländischen Pferdebundes, Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Luftschifffahrt, Vorsitzender der Gesellschaft für den russischen Faustkampf, Busenfreund des Vorsitzenden der Kämmerei Ost, Besitzer des Südhafens, der Märkte Ismajlowski Rynok und Donskoi Rynok, der Baugenossenschaft »Moskauer Unternehmer«, der Moskauer Ziegelei, Mitinhaber der Westlichen Eisenbahnen. Und auch die Anspielung auf den Malachitsaal ist unzweideutig: Es handelt sich um einen neuen Saal, der, direkt unter dem Kremlkonzertsaal befindlich, als Erfrischungsraum für den Engsten Kreis und seine Vertrauten eingebaut wurde. Neu und deswegen neumodisch. Der Einbau des Malachitsaales hat zu einer Menge staatsfeindlicher Fragen angestiftet. O ja, es hat Gegner gegeben ... »Seid ihr Opritschniki nun im Bilde?«, fragt Buturlin. »Wir sind es«, antwortet der Alte. 52
»Fragt sich nur noch, wer der Verfasser ist.« »Die Laus entkommt uns nicht, keine Bange«, sagt der Alte und nickt. Dann fragt er, nachdenklich sein Kinnbärtchen zupfend: »Weiß der Gossudar davon?« »Aber ja!«, ertönt die majestätische Stimme, und wir ergehen uns in einer tiefen Verbeugung, bei der die rechte Hand das Parkett berührt. Inmitten des Kabinetts ist das Antlitz des Gossudaren erstanden. Aus dem Augenwinkel gewahre ich den goldschimmernden Rahmen rings um das geliebte schmale Gesicht mit dem brünetten Kinnbart und dem feinen Schnurrbart. Wir richten uns wieder auf. Der Gossudar mustert uns mit dem ausdrucksvollen, aufmerksamen, offenherzigen, eindringlichen Blick seiner graublauen Augen. Ein einmaliger Blick. Unverwechselbar. Ein Blick, für den ich, ohne zu zögern, mein Leben hingäbe. »Er hat es gelesen«, versetzt der Gossudar. »Pfiffig geschrieben, das Ding.« »Mein Gossudar, wir werden den Spottvogel finden, das versichere ich Euch«, verkündet Buturlin. »Daran zweifle ich nicht. Aber um ehrlich zu sein, Terenti Bogdanowitsch, nicht das ist es, was mich sorgt.« »Was ist es, mein Gossudar?« »Mich sorgt, mein Lieber, ob es nicht sein könnte, dass das, was in dem Poem steht, die Wahrheit ist.« »Was genau, mein Gossudar?« »Das Ganze.« Buturlin denkt nach. »Mein Gossudar, da bin ich im Moment überfragt. Erlaubt Ihr, zuvor einen Blick in die Annalen der Feuerwehrbehörde zu werfen?« »Dazu braucht es keine Annalen, Fürst!«, erwidert der Gossudar, seine klaren Augen durchschauen Butur53
lin ganz und gar. »Hinreichend wären die Aussagen dessen, der bei dem Vorfall zugegen war.« »Wen meint Ihr, mein Gossudar?« »Den Helden des Poems.« Buturlin stutzt, wechselt mit dem Alten einen Blick. Dessen breite Kiefer mahlen. »Mein Gossudar, Eure Familienangehörigen zu verhören sind wir nicht berechtigt«, gibt der Alte zu bedenken. »Ich will gar nicht, dass ihr irgendwen verhört. Ich will bloß wissen, ob das alles stimmt, was da geschrieben steht!« Wieder herrscht Schweigen im Kabinett. Nur das lichte Bild des Gossudaren flimmert in allen Regenbogenfarben. »Was ist, hat's euch die Sprache verschlagen?«, fragt der Gossudar lächelnd. »Muss ich erst wieder nachhelfen?« »Was wären wir ohne Euch, mein Gossudar!«, bestätigt der gewiefte Buturlin, den Kahlkopf neigend. »Na gut, wenn ihr meint«, seufzt der Gossudar. Holt tief Luft und ruft: »Andrej!« An die fünfzehn Sekunden vergehen, bis rechts neben dem Antlitz des Gossudaren ein kleines Bild im blauvioletten Rahmen erscheint: Graf Urussow. Sein übernächtigtes, schicksalsergebenes Gesicht lässt erkennen, dass er sich das Poem bereits angetan hat - zu wiederholten Malen. »Seid gegrüßt, Vater«, spricht der Graf und neigt den Kopf: dicker Schädel auf kurzem Hals, große Ohren, flache Stirn, grobe Gesichtszüge; das braune Haar ist am Scheitel schon licht. »Grüß dich, Schwiegersohn«, spricht der Gossudar, und seine graublauen Augen blicken ungerührt. »Hast 54
du gelesen, was da einer über dich zusammengereimt hat?« »Hab ich, Vater.« »Und? Verdammt gut geschrieben das Ganze, nicht wahr? Dabei jammern meine Schriftgelehrten immer, es gäbe bei uns keine guten Dichter!« Graf Urussow schweigt, beißt sich auf die schmalen Lippen. Sein Mund hat tatsächlich die Überbreite eines Froschmauls. »Nun sag doch mal, Andrej: Ist das alles wahr?« Den Blick gesenkt, schweigt der Graf, seufzt und schnieft, dann haucht er vorsichtig: »Es ist wahr, mein Gossudar.« Das bringt nun auch den Gossudaren ins Grübeln. Er grübelt mit gefurchter Stirn. Wir stehen und warten. »Soll das heißen, du stehst wahrhaftig drauf, bei Feuer zu pimpern?« »Jawohl, mein Gossudar«, sagt der Graf und nickt mit seinem schweren Kopf. »Na, sieh einer an ... Gerüchte darüber sind mir schon früher zu Ohren gekommen, aber ich habe es nicht glauben wollen. Ich dachte, es wären Verleumdungen deiner Neider. So einer also bist du ...« »Mein Gossudar, ich kann Euch alles erklären ...« »Wann hat das bei dir angefangen?« »Mein Gossudar, ich schwöre Euch bei allen Heiligen, beim Grabe meiner Mutter schwöre ich ...« »Untersteh dich zu schwören!«, sagt da der Gossudar - und zwar so, dass uns allen die Haare zu Berge stehen. Es ist kein Brüllen und kein Zähneknirschen, aber es wirkt wie glühende Zangen. Der Zorn des Gossudaren kann furchtbar sein. Und noch furchtbarer ist, dass unser Gebieter niemals die Stimme hebt. 55
Graf Urussow ist kein Hasenfuß, er ist Staatsmann, Hansdampf in allen Gassen, ein Millionär, wie er im Buche steht, und leidenschaftlicher Jäger, der aus Prinzip nur mit Hirschfänger auf Bärenjagd geht ... aber vor dieser Stimme erbleicht auch er wie ein Gymnasiast der Unterstufe vor dem Schuldirektor. »Erzähl mir lieber, wann du dich solchem Laster zum ersten Mal hingabst.« Der Graf leckt sich die trockenen Froschlippen. »Mein Gossudar, das hat ... ganz zufällig angefangen ... wie aus einem Zwang heraus. Obwohl ich, natürlich, selbst schuld bin ... ich ganz allein, das gebe ich zu ... Es ist eine Sünde, ich bitte um Vergebung ...« »Erzähl der Reihe nach.« »Gut. Ich erzähle alles. Ich werde nichts verheimlichen. Mit siebzehn war das ... Ich lief die Ordynka lang und sah auf einmal, da brennt ein Haus, und in dem Haus hab ich eine Frau schreien gehört. Die Feuerwehr war noch nicht da, Leute haben mir zu einem Fenster raufgeholfen, und ich bin da rein, um ihr zu helfen. Und wie sie sich mir so an die Brust warf ... Ich weiß nicht, mein Gossudar, was da mit mir passiert ist ... wie eine Art Umnachtung ... dabei war die Frau wahrlich keine Schönheit, im vorgerücktem Alter ... jedenfalls habe ich ... jedenfalls ...« »Ja?« »Ich hab sie jedenfalls dort vergewaltigt, mein Gossudar. Man hat uns im allerletzten Moment noch aus dem Feuer rausgezerrt. Ja, und nach diesem Vorfall war ich wie umgewandelt - ich konnte einfach an nichts anderes mehr denken. Vier Wochen später bin ich im Heiligen Petrograd, gehe über den Litejny ... und was sehe ich: Da brennt es schon wieder, im zweiten Stock. Meine Füße haben mich von ganz alleine die Treppe 56
raufgetragen, ich hab die Tür aufgebrochen - keine Ahnung, woher ich plötzlich die Kraft dazu hatte. Drinnen war eine Mutter mit Kind, das hielt sie gegen die Brust gepresst und stand brüllend am Fenster. Ich hab sie von hinten ... Beim nächsten Mal, noch ein halbes Jahr später, brannte in Samara der Schatzhof, da waren wir, mein seliger Vater und ich, zur Messe hingefahren, und deswegen ...« »Das genügt. Wo hat es beim letzten Mal gebrannt?« »Bei der Fürstin Bobrinskaja.« »Wie kommt dieser Reimeschmied dazu, eine russische Fürstin als Marquise zu titulieren?« »Keine Ahnung, mein Gossudar. Vielleicht hat er etwas gegen Russland.« »Verstehe. Und jetzt sag ehrlich: Hast du den Brand selbst gelegt?« Der Graf erstarrt wie von einer Schlange gebissen. Schlägt die Luchsaugen zu Boden. Schweigt. »Ich frage dich, ob du dieses Haus angesteckt hast?« Der Graf tut einen tiefen Seufzer. »Euch zu belügen, fiele mir schwer, mein Gossudar. Ich tat es.« Ein Weilchen schweigt der Gossudar. Dann spricht er: »Über dein Laster mag ich nicht richten - jeder von uns hat vor Gott Rechenschaft abzulegen. Aber die Brandstiftung verzeihe ich dir nicht. Verpiss dich!« Urussows Antlitz erlischt. Wir fünf sind wieder mit dem Gossudaren allein. Seine Stirn ist umwölkt. »Puh«, seufzt der Gossudar. »Und so einem Schwein habe ich meine Tochter anvertraut.« Wir sagen nichts. »Passen Sie auf, Fürst«, fährt der Gossudar fort, »das ist eine innerfamiliäre Angelegenheit. Darum kümmere ich mich selbst.« 57
»Ganz wie Ihr meint, Gossudar. Was machen wir mit dem Pasquillanten?« »Verfahrt mit ihm nach Recht und Gesetz. Obwohl ... Vielleicht doch lieber nicht. Das könnte eine ungute Neugier anstacheln. Sagt ihm einfach, er soll so etwas fürderhin nicht mehr schreiben.« »Zu Befehl, mein Gossudar.« »Ich danke für eure Bereitschaft.« »Wir dienen dem Vaterland!«, intonieren wir mit einer Verbeugung. Das Bild des Gossudaren verschwindet. Wir schauen uns erleichtert an. Buturlin läuft im Kabinett auf und ab. »Was für ein Drecksack, dieser Urussow«, stößt er kopfschüttelnd hervor. »Sich so eine Blöße zu geben!« »Bloß gut, dass nicht wir die Suppe auslöffeln müssen«, bemerkt der Alte, sich den Bart streichend. »Trotzdem wüsste man gern, wer der Verfasser ist.« »Das haben wir gleich«, sagt Buturlin, geht zum Schreibtisch, nimmt dahinter Platz. Dann kommandiert er: »Schriftsteller zu mir!« Im nächsten Augenblick schweben 128 Schriftstellergesichter im Raum: alle gleich braungerahmt und zu einem exakten großen Quadrat formiert. Darüber schweben drei größere Bilder: der graubärtige Vorsitzende der Schriftstellerkammer Pawel Olegow mit dem immergleichen Märtyrerausdruck im aufgedunsenen Gesicht und seine beiden noch mehr ergrauten, mürrischbedripst dreinschauenden Stellvertreter Anani Memser und Pawlo Bassinja. Der trübe Ausdruck in diesen drei Gesichtern deutet darauf hin, dass sie sich über die Tragweite der anstehenden Unterredung im Klaren sind. »Wir gehen dann mal, Terenti Bogdanowitsch«, sagt der Alte und streckt dem Fürsten die Hand hin. 58
»Schriftsteller - das ist Euer Fach.« »Alles Gute, Boris Borissowitsch!«, entgegnet Buturlin und legt seine Hand in die des Alten. Wir verbeugen uns zum Fürsten hin und folgen dem Alten nach draußen. In Begleitung desselben Hauptmanns wie vorhin laufen wir durch den Flur zurück zum Fahrstuhl. »Hör mal, Komjaga, wieso guckt dieser Olegow eigentlich immer so miesepetrig? Hat er Zahnschmerzen oder was?«, fragt mich der Alte. »Sagen wir, Seelenschmerzen, mein Ältester. Die Sorge um Russland ...« »Seelenschmerzen können nicht schaden«, nickt der Alte. »Was hat er denn geschrieben? Entschuldige die Frage, du weißt, ich bin kein Büchermensch.« »>Der russische Ofen im 20. Jahrhundert«. Ein dicker Wälzer. Ich hab ihn nicht bis zu Ende geschafft.« »Öfen lob ich mir«, sagt der Alte und seufzt. »Besonders, wenn gefüllte Piroggen in der Röhre liegen ... Wohin musst du jetzt?« »In den Kremlpalast.« »Ah ja!«, nickt er. »Sieh nur genau hin. Diese Hanswürste führen was Neues im Schilde ...« »Das kriegen wir raus, mein Ältester!«, sage ich und nicke zurück.
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DER KONZERTSAAL IM KREML hat mich immer begeistert. Schon als ich vor sechsundzwanzig Jahren das erste Mal mit meinen seligen Eltern hier war und »Schwanensee« sah, in der Pause Pfannkuchen mit rotem Kaviar futterte und aus der Kantine auf Papas Faustkeil meinen Freund Pascha anrief, in die riesige Toilette pinkeln ging, auf der Bühne die märchenhaften Ballerinen in ihren schneeweißen Tutus sah ... Und jetzt, da meine Schläfen vom ersten Raureif überzogen sind, ist es immer noch so. Ein vorzüglicher Saal! Alles an ihm strahlt Festlichkeit aus, für Staatsfeiertage wie gemacht, alles, wie es sein muss. Der Haken ist nur, dass auf der Bühne dieses gewaltigen Saales nicht immer die rechten Dinge vonstattengehen. Staatsfeindliche Umtriebe dringen selbst bis an diesen Ort vor. Aber dafür sind wir ja da, um für Ordnung zu sorgen und die Umtriebe im Keim zu ersticken. Wir sitzen im leeren Zuschauerraum. Rechts von mir der Spielleiter. Links der Aufsichtsführende aus der Geheimen Kanzlei. Vor mir Fürst Sobakin aus dem Engsten Kreis. Hinter mir der Tischvorsteher der Kulturkammer. Alles ernstzunehmende, dem Staate verbundene Männer. Auf dem Programm steht das Konzert zum bevorstehenden Festtag. Machtvoll hebt es an, mit brausenden Klängen: Das Lied vom Gossudaren lässt den halbdunklen Saal erbeben. Der Kremlchor macht seine Sache gut. In Russland hat man von jeher zu singen gewusst. Erst recht, wenn der Gesang von Herzen kommt. 60
Das Lied verklingt, die wackeren Barden in ihren hübsch bestickten Hemden verneigen sich, die Jungfern in Sarafan und Häubchen tun es ihnen nach. Auch die Weizengarben, regenbogenschillernd, neigen sich uns noch ein wenig mehr zu, auch die Weiden beugen sich noch tiefer über den wie geronnenen Fluss. Über allem eine naturecht strahlende Sonne, man ist geblendet. Das ist gut. Das wird befürwortet. Von uns allen. Der langmähnige Spielleiter ist zufrieden. Das nächste Lied handelt von Russland. Auch hier kommen keine Fragen auf. Ein starkes Stück, vielmals erprobt. Anschließend ein historisches Tafelbild: die Epoche Iwans III. Raue, schicksalsschwere Zeiten. Ein erbitterter Kampf ist entbrannt um das Heil des Russländischen Staates, der noch jung und ungefestigt ist, eben erst auf die Füße gekommen. Blitz und Donner wüten, die Krieger aus Iwans Heerscharen drängen durch die Bresche, der Metropolit erhebt das Kreuz, auf dem der Widerschein des Feuers flackert - das aufsässige Nowgorod, der Einheit Russlands widerstrebend, wird zur Räson gebracht, die Abtrünnigen fallen auf die Knie, doch ihr Großfürst Iwan Wassilewitsch lässt Gnade walten, sein Schwert rührt nur sachte an ihren schuldig geneigten Häuptern, da er spricht: »Kein Gegner bin ich euch, kein Todfeind. Bin Vater euch, Schutzherr und weiser Pate. Euch und dem ganzen Großen Russenreich.« Glocken tönen. Ein Regenbogen spannt sich über Nowgorod und ganz Russland. Vögel zwitschern am Himmel. Die Nowgoroder beugen das Knie, ihre Tränen sind Freudentränen. Ein gutes, ein wahres Stück. Nur sollte man die Krieger etwas breitschultriger aussuchen, und der Metropo61
lit könnte ruhig ein bisschen stattlicher sein. Auch gibt es im Hintergrund viel unnütze Zappelei. Und dass die Vögel so niedrig kreisen, lenkt die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ab. Der Spielleiter ist einverstanden mit unseren Bemerkungen, notiert sich etwas in seinen Block. Die nächste Nummer blättert eine traurige Seite unserer jüngeren Vergangenheit auf. Sie spielt in Moskau zu Zeiten der schlimmen Weißen Wirren, auf dem Platz mit den drei Bahnhöfen. Wir sehen das einfache Volk dort stehen, das die trüben Wogen der Geschichte aus seinen Häusern auf diesen Platz gespült haben, es ist gezwungen, für das Stück Brot, welches die schändlichen Machthaber ihm genommen, sein letztes Hab und Gut feilzubieten. Die Erinnerung aus frühen Kindertagen an diese schwärenden Zeiten, als der Weiße Abszess das Blut unseres Russischen Bären vergiftete, lebt noch in mir ... Da stehen sie auf dem Platz, Russlands Menschen, mit Teekesseln, Bratpfannen, Blusen und Haarwaschmitteln in Händen. Flüchtlinge, Leute, deren Behausung in Flammen aufgegangen ist, Legionen von Menschen, die das Leid nach Moskau verschlagen hat. Greise, Kriegsversehrte, Veteranen und Helden der Arbeit. Der Anblick dieser Menge weckt in mir tiefen Gram. Der Himmel ist trübe und verhangen. Aus dem Orchestergraben dringt traurige Musik. Und da auf einmal, gleich einem blassen Hoffnungsstrahl, eine kleine Szene inmitten der Bühne, die das finstere Bild erhellt: drei obdachlose, von der Welt verstoßene Kindlein, zwei Mädchen in löchrigen Kleidern und ein schmutzstarrender Knabe mit einem Plüschbären unterm Arm. Ein zaghafter Flötenton der Hoffnung wird wach, ja, man meint ihn regelrecht erwachen zu hören. Schwingt 62
sich bebend empor. Über dem finsteren, schwärenden Platz schwebt nun ein rührendes Kinderlied: Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören, Klingt wie Morgentau so rein, so silberhell. Eine Stimme, so verlockend, so betörend, Macht mich schwindlig wie ein Kinderkarussell. Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren! Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit! Dem klaren Quell Enteilt' ich schnell, Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit. Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören, Die mich ruft in eine wunderbare Welt. Sie ist streng zu mir, möcht' sie mich doch beschwören, Dass ich heut' das Feld für morgen schon bestell'. Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren! Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit! Dem klaren Quell Enteilt' ich schnell, Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit... Da rollen die Tränen von ganz allein. Bei meinem verkaterten Schädel ist das kein Wunder, aber Fürst Sobakin in all seiner Würde muss auch schon schniefen. Er hat eine große Familie mit vielen kleinen Enkelein. Der bullige Inspektor aus der Geheimen Kanzlei sitzt da wie aus Erz gegossen. Er hat Nerven aus Stahl, die halten alles aus. Der rundliche Tischvorsteher zieht die Schultern hoch, als fröstelte ihn, anscheinend hat auch er mit 63
den Tränen zu kämpfen. Das greift den dickfelligsten Leuten ans Herz. Großartig ... Nicht nur den Stolz auf unser Land hat der Gossudar in uns geweckt, auch das Mitgefühl mit seiner schweren Vergangenheit: Wie diese drei russischen Kinderchen dastehen und ihre Hände aus dem Gestern herüberrecken, aus diesem erniedrigten, gedemütigten Land! Und ach, wir können ihnen so gar nicht helfen ... Befürwortet. Als Nächstes dann: die Gegenwart. Das pralle Leben. Die Tänze der Völker, die das Große Russland eint, dargeboten vom Moissejew-Ensemble. Der leichtfüßige Tanz der Tataren und ein wilder Kosakenreigen mit blankgezogenem Säbel und eine Tambower Leineweber-Quadrille zur Taljanka und der Wechseltanz der Nishegoroder Bastgerber mit ihren Rasselpfeifen und ein tschetschenischer Rundtanz mit reichlich Gicksern und Juchzern und ein jakutischer Schellentanz und ein tschukotischer Fuchspelztanz und ein korjakischer Rentiertanz und ein kalmükischer Hammeltanz und ein jüdischer Fracktanz und ganz viele russische Tänze, russische Tänze bis zum Abwinken, wild, verwegen, übermütig, jeder macht mit, niemand bleibt außen vor. Ein legendäres Ensemble, keine Fragen offen. Die nächsten beiden Nummern - »Die fliegenden Balalaikas« und »Ein Mädchen eilt zum Stelldichein« gehören zum klassischen Repertoire, alles daran ist abgewogen, ausgefeilt und poliert. Eine einzige Augenweide! Man meint, beim Zusehen in einem Schlitten zu sitzen und eine Rodelbahn hinabzurodeln. Der Inspektor zollt Beifall. Wir auch. Die vom Gossudaren bestallten Künstler sind einfach famos! 64
Dann folgt ein kleiner literarischer Programmpunkt: »Sei gegrüßt, meine liebe Arina Rodionowna!« Eine schon etwas angestaubte Nummer, obendrein recht lang. Doch das Volk liebt sie, und auch der Gossudar schätzt sie sehr. Der Abteilungsleiter äußert den halbherzigen Vorschlag, einen jüngeren Puschkin aufzubieten - seit zehn, zwölf Jahren spielt immer derselbe Chapenski diese Rolle, der schon nicht mehr der Jüngste ist. Aber wir wissen, der Vorschlag wird nicht fruchten, denn Chapenski hat beim Gossudaren einen Stein im Brett. Der Spielleiter zuckt die Achseln, hebt bedauernd die Hände: »Das steht nicht in meiner Macht, meine Herren, bitte haben Sie Verständnis ...« Wir haben. Nun aber kommt die Hauptsache. Die Nummer aus aktuellem Anlass mit dem Titel »Ha! Von wegen!« Alle sind angespannt, rutschen nervös in ihren Sesseln herum. Auf der Bühne ist es finster, nur der Wind heult, und die Dombras und Balalaikas klimpern ein bisschen. Dann kriecht der Mond hinter den Wolken hervor, legt alles in ein funzliges Licht. In der Bühnenmitte erkennen wir das Westrohr Nr. 3. Das nämliche. Dessenthalben es die letzten anderthalb Jahre so viel Tamtam gab, so viele Sorgen und Scherereien. Im Halbdunkel schimmernd, zieht und windet sich das Rohr quer über die Bühne, durch russischen Wald und russisches Feld, bis es auf die Westmauer stößt und ein Absperrventil mit der Aufschrift GESCHLOSSEN. Dahinter geht das Rohr durch die Mauer und verliert sich in Richtung Westen. Oben auf der Mauer steht einer unserer Grenzschützer mit einer Strahlenkanone und schaut durch den Feldstecher nach drüben. Auf einmal geraten die Dombras und Balalaikas in Erregung, die Bässe schwellen unheildrohend - neben 65
dem Absperrventil sieht man einen Maulwurfshügel wachsen. Sekunden später kommt ein spitzmäuliger Diversant mit schwarzer Sonnenbrille aus dem Hügel gekrochen, späht in die Runde, schnüffelt herum, hüpft hoch, kriegt den Ventilschieber zu fassen, zerrt mit aller Kraft, nimmt seine riesigen Zähne zu Hilfe ... Gleich hat er es geschafft, gleich strömt das Gas! Aber da fährt ein schneidender Blitz von der Mauer herab, schneidet den Maulwurf mitten entzwei, dass die Maulwurfsgedärme hervorquellen und der eingeschleuste Gasdieb seinen Geist aufgibt. Licht flammt auf, drei wackere Grenzer kommen mit verwegenen Saltos und jungenhaften Pfiffen von der Mauer gesprungen. Der eine hält eine Ziehharmonika in Händen, der zweite eine Schellentrommel, der dritte ein Paar Holzlöffel. Ihre treuen, treffsicheren Kanonen haben sie über der Schulter hängen. Die tapferen Grenzer führen einen Tanz auf und singen dazu: Auf Geheiß des Gossudaren Ward der Hahn hier zugedreht... »Checken« wollten die Barbaren, Ob was anzuzapfen geht. Hat kein Aug' man auf die Diebe, Wachsen flugs aus Rohr und Tank Viele kleine Seitentriebe. Gern friert auch kein Cyberpunk! Doch wir zeigen es den Fexen. Bei Schmarotzern sehn wir rot. Hat sich was, Europa-Exxon! Klappe zu und Affe tot!
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Hat's der Maulwurf noch nicht über, Kriegt er es von uns gesteckt: Gasen wir ihm einen rüber, Dass der Westen dran verreckt! Bei diesen Worten hebelt einer der Grenzsoldaten das Ventil auf, die beiden anderen springen herzu, halten ihre Hinterteile an den Rohrstutzen und furzen. Mit düsterem Fauchen fährt der Jungmännerfurz durch das Rohr, durch die Mauer... Prompt hebt drüben ein großes Heulen und Wehklagen an. Der Schlussakkord erklingt, die drei springen behände auf das Rohr hinauf und schwenken triumphierend ihre Kanonen. Vorhang. Die hohen Herren im Publikum erwachen aus ihrer Andacht. Sie blicken zu Fürst Sobakin hinüber. Der zwirbelt seinen Schnurrbart und denkt nach. »Nun denn, meine Herren«, spricht er sodann. »Ihre Meinung?« Tischvorsteher: »Ich sehe ein deutliches Element von Schweinigelei. Ansonsten ist die Sache aktuell, und Pfiff hat sie auch.« Aufsichtsführender: »Erstens gefällt mir nicht, dass der feindliche Kundschafter getötet wird und nicht bei lebendigem Leibe ergriffen. Und zweitens frage ich mich, wieso es nur drei Grenzer sind? Eine Wache besteht aus zwölf Mann, soviel ich weiß. Also sollten da auch zwölf Mann auf der Bühne erscheinen. Dann fiele der Furz gleich viel kräftiger aus.« Ich: »Was die Truppenstärke betrifft, so schließe ich mich meinem Vorredner an. Die Nummer hat ihren Sinn, sie zielt auf einen aktuellen Anlass. Aber ein Element von Schweinigelei ist dabei. Und das, obwohl unser Gossudar bekanntlich ein Verfechter von Reinheit und Keuschheit auf der Bühne ist.« 67
Fürst Sobakin schweigt und nickt. Dann spricht er: »Sagen Sie, meine Herren, der Schwefelwasserstoff, den unsere vortrefflichen Krieger da furzen, der ist doch brennbar, oder nicht?« »Jawohl«, bestätigt der Aufsichtsführende. »Wenn es so ist, dann frage ich mich«, fährt der Fürst, immer noch seinen Bart zwirbelnd, fort, »warum Europa unsere Fürze überhaupt zu fürchten hat?« Oho! So gehört es sich für einen aus dem Engsten Kreis. Er stößt sogleich zum Kern der Sache vor. Mit einem russischen Furz lassen sich europäische Städte beheizen! Wir kommen ins Nachdenken. Und ich hadere mit meinem Verstand: nicht auf das Nächstliegende gekommen zu sein. Andererseits habe ich ja nur Geisteswissenschaften studiert. Der Spielleiter ist blass geworden, er hüstelt nervös. »Hm ja... Das ist in der Tat nicht ganz stimmig«, gibt der Aufsichtsführende zu und kratzt sich am Kinn. »Da hinkt die Vorlage ganz gewaltig!«, ereifert sich der Tischvorsteher und hebt den dicken Zeigefinger. »Wer hat das geschrieben?« Ein hagerer Mann in Tolstoibluse taucht aus der Tiefe des Zuschauerraums hervor. »Wie können Sie sich so eine Blöße geben, sagen Sie mal! Das Thema Gas ist doch nun wirklich nicht neu!«, geht der Tischvorsteher ihn an. »Bedaure sehr. Ich bringe das in Ordnung.« »Tu das, mein Bester«, sagt der Fürst und gähnt. »Aber denk dran, übermorgen ist Generalprobe!«, versetzt der Aufsichtsführende streng. »Das kriegen wir hin, keine Bange!« »Und noch eins«, fügt der Fürst an. »Da, wo ihr den Maulwurf mit dem Strahl massakriert und die Gedärme rausquellen - das ist ein bisschen zu viel des Guten.« 68
»Wie meinen, Euer Erlaucht?« »Die ganzen Därme. Zu viel Naturalismus ist nicht gut. Ein bisschen weniger Gekröse, wenn ich bitten darf, mein Lieber.« »Zu Befehl. Wird alles korrigiert.« »Und was ist mit der Schweinigelei?«, frage ich nach. Mich trifft ein kalter Seitenblick des Fürsten. »Davon kann keine Rede sein, Herr Opritschnik. Das ist der gesunde Humor unserer Armee, der den Strelitzen hilft, ihren harten Dienst an den entlegensten Grenzen der Heimat zu schultern!« Eine lakonische Feststellung. An ihr gibt es nichts zu deuteln. Der Fürst ist ein kluger Mann. Und was den Seitenblick angeht - er mag uns Opritschniki nicht leiden, das ist es. Was man ja verstehen kann: Wir treten dem Engsten Kreis beständig auf die Fersen, atmen ihm ins Genick. »Was haben wir noch?«, fragt der Fürst und zieht eine Nagelfeile hervor. »Die Arie des Iwan Sussanin.« Die kann man sich schenken. Ich stehe auf, verbeuge mich und gehe zum Ausgang. Plötzlich fasst mich jemand im Dunkeln beim Arm. »Herr Opritschnik, ich flehe Sie an!« Eine Frauenstimme. »Wer bist du?« »Hört mich an, ich bitte Euch!«, wispert es inbrünstig und stotternd. »Ich bin die Frau des verhafteten Sekretärs Korezki.« »Bojarenvettel! Verzieh dich!« »Ich flehe Euch an! Ich flehe Euch an!« Sie fällt vor mir auf die Knie, packt mich beim Stiefel. »Fort mit dir!« Ich stoße ihr den Stiefel vor die Brust. 69
Sie stürzt zu Boden. Im nächsten Moment greifen von hinten schon wieder irgendwelche heißen Frauenhände nach mir, es flüstert: »Andrej Danilowitsch, wir bitten Sie sehr!« Ich zücke den Dolch: »Weichet, ihr Huren!« Die mageren Hände zucken zurück. »Andrej Danilowitsch, ich bin keine Hure. Ich bin Uljana Kosiowa.« Oho! Die Primaballerina vom Bolschoi-Theater. Eine Favoritin des Gossudaren, von allen Odiles und Giselles die beste. Ich habe sie in der Dunkelheit nicht erkannt. Schaue genauer hin. Tatsächlich, sie ist es. Das Bojarenluder liegt derweil bäuchlings flach. Ich stecke den Dolch weg. »Meine Dame, womit kann ich dienen?« Die Kosiowa tritt an mich heran. Wie immer bei Ballerinen wirkt ihr Gesicht aus der Nähe weniger ansehnlich als auf der Bühne. Und sie ist ganz klein. »Andrej Danilowitsch!«, flüstert sie, aus den Augenwinkeln hinüberschielend zur im Halbdunkel liegenden Bühne, wo Iwan Sussanin im Schafspelz und mit Hirtenstock betulich seine Arie schmettert. »Ich ersuche Euch um Fürsprache, flehe Euch an bei allen Heiligen, bitte von Herzen ... Klawdija Lwowna ist die Patin meiner Kinder, meine beste und teuerste Freundin, ein reiner, aufrichtiger, gottesfürchtiger Mensch, wir haben gemeinsam die Schule für Waisenkinder errichtet, eine Fürsorgeanstalt, ein hübsches, großzügiges Haus, wo die Waisenkinder etwas lernen können, ich flehe Euch an, inständig, wir alle ... Klawdija Lwowna soll übermorgen in die Verbannung verschickt werden, es bleibt nur noch ein Tag, ich bitte Euch als Christenmenschen, als Mann, als Freund des Theaters, als Mensch von Kultur ... Andrej Danilowitsch, wir wären Euch auf ewig 70
in Dankbarkeit verbunden, schlössen Euch ein in unser tägliches Gebet, Euch und Eure Familie ...« »Ich habe keine Familie«, falle ich ihr ins Wort. Sie verstummt. Schaut mich an mit großen, feuchten Augen. »Meine Zeit ist gekommen!«, singt Sussanin und schlägt ein Kreuz. Die Bojarenwitwe sielt sich auf dem Boden herum. »Wieso kommen Sie als Favoritin der Gossudarenfamilie zu mir?« »Der Gossudar ist auf den Exvorsitzenden und alle seine Mitstreiter sehr schlecht zu sprechen. Eine Begnadigung kommt für ihn nicht in Frage. Sekretär Korezki hat diesen leidigen Brief an die Franzosen doch eigenhändig verfasst. Der Name Korezki ist für den Gossudaren ein rotes Tuch.« »Erst recht frage ich Sie, was ich da ausrichten soll.« »Andrej Danilowitsch! Die Opritschnina kann Wunder vollbringen.« »Die Opritschnina steht in Schuld und Sühne für unseren Gossudaren ein, meine Dame.« »Ihr zählt zu denen, die in diesem mächtigen Orden das Sagen haben.« »Verehrteste! Die Opritschnina ist eine Bruderschaft und kein Orden.« »Andrej Danilowitsch, ich bitte Euch! Erbarmt Euch einer unglücklichen Frau. Unter euren Männerfehden haben wir Frauen am meisten zu leiden. Dabei hängt von uns doch alles Leben auf Erden ab.« Ihre Stimme bebt. Die Bojarin am Boden schluchzt leise. Der Tischvorsteher äugt schon herüber zu uns. Was soll's. Dass unsereins um Fürsprache gebeten wird, kommt beinahe täglich vor. Doch dieser Korezki, Exvorsitzender der Gesellschaftskammer, und seine ganze Bande ... 71
Doppelzüngige Nattern allesamt! Mit denen will man lieber nichts zu tun haben. »Sagen Sie ihr, sie soll verschwinden«, befehle ich. Die Ballerina beugt sich über die Liegende. »Klawdija Lwowna, mein Liebes ...« Schluchzend verschwindet die Korezkaja im Dunklen. »Gehen wir ans Tageslicht«, sage ich und begebe mich zur Tür mit dem Leuchtschild Ausgang. Die Kosiowa kommt mir nachgeeilt. Wortlos verlassen wir das Gebäude durch die Dienstpforte.
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ICH TRETE HINAUS auf den Platz, gehe zu meinem Merin. Die Kosiowa kommt mir hinterher. Bei Tageslicht nimmt sich Russlands beste Giselle noch unschöner und zerbrechlicher aus. Ihr hageres Gesicht hält sie hinter einem edlen Fuchspelzkragen versteckt. Sie trägt einen engen, langen Rock aus schwarzer Seide, unter dem ein Paar spitze schwarze Stiefelchen mit Schlangenlederbesatz hervorsehen. Die Augen der Primaballerina sind schön: groß, grau und unstet. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, können wir uns auch in meinem Wagen unterhalten«, sagt sie und weist mit dem Kopf auf einen fliederblauen Cadillac. »Doch besser in meinem«, sage ich und deute auf den Merin, der gehorsam sein Glasdeck auffährt. Nicht einmal Steuereintreiber treffen ihre Absprachen heutzutage in fremden Autos. Kein noch so bekiffter Untersekretär aus der Handelskanzlei wird sich in einen fremden Wagen setzen und einen Schwarzbittsteller anhören. Ich nehme hinter dem Lenkrad Platz. Sie auf dem Beifahrersitz. Eine Rückbank hat der Merin nicht. »Fahren wir ein Stück, Uljana Sergejewna«, sage ich, starte den Motor und verlasse den für Staatsbedienstete reservierten Parkplatz. »Seit einer Woche reiße ich mir die Beine aus, Andrej Danilowitsch.« Sie holt eine Packung Damenzigaretten, Marke Rodina, hervor, und beginnt zu rauchen. »Die Sache ist wie verhext. Es will mir einfach nicht gelingen, meiner alten Jugendfreundin aus der Klemme 73
zu helfen. Dazu kommt, dass ich morgen Vorstellung habe.« »Ist sie Ihnen denn wirklich so viel wert?« »O ja. Ich habe sonst keine Freundinnen. Sie wissen doch, wie es zugeht in der Welt des Theaters ...« »Davon hat man gehört«, sage ich, während ich den Kreml durch die Borowizkije Worota verlasse und auf den Bolschoi Kamenny Most biege. Immer schön auf der roten Spur bleibend, gebe ich Gas. Die Kosiowa nimmt einen tiefen Zug und betrachtet den Kreml, von dessen weißen Zinnen sich der Schnee kaum abhebt. »Ich war sehr aufgeregt vor dem Treffen mit Ihnen, müssen Sie wissen.« »Wieso?« »Ich hätte nie gedacht, dass es so schwer sein kann, Fürsprache für jemanden einzulegen.« »Da ist was dran.« »Und außerdem ... Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum: Mir träumte, dass an der Hauptkuppel der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale immer noch die schwarzen Bänder hängen, und der Gossudar trauert immer noch um seine erste Frau.« »Sie kannten Anastassija Fjodorowna?« »Nein. Damals war ich noch nicht Primaballerina.« Wir sind jetzt auf der Jakimanka. In diesem Teil der Stadt, Samoskworetschje, ist es wie immer voll und laut. »Darf ich denn auf Ihre Unterstützung rechnen?« »Versprechen kann ich es nicht. Aber ich könnte sehen, was sich machen lässt.« »Wie viel würde das kosten?« »Dafür gibt es feste Preise. Ein den Normalbürger betreffender Vorgang kostet gegenwärtig tausend Gold74
rubel. Bei Amtsleuten sind es dreitausend. Und wenn es um die Gesellschaftskammer geht ...« »Aber ich verlange ja nicht von Ihnen, dass Sie den ganzen Vorgang revidieren. Mir geht es nur um die Witwe!« Auf der Ordynka muss ich bremsen. Diese vielen Chinesen hier, mein Gott... »Andrej Danilowitsch! Lassen Sie mich nicht schmoren!« »Na gut ... weil Sie es sind: zwoeinhalb. Und ein Aquarium.« »Was für eins?« »Jedenfalls kein silbernes!«, sage ich lächelnd. »Bis wann?« »Wenn Ihre Freundin schon übermorgen verfrachtet werden soll, dann je schneller, desto besser.« »Also heute noch?« »Die Schlussfolgerung ist korrekt.« »Gut... Wenn es Ihnen nichts ausmacht: Würden Sie mich bitte nach Hause fahren? Meinen Wagen hole ich später nach ... Ich wohne in der Uliza Neshdanowoi.« Ich wende, düse zurück. »In welcher Währung möchten Sie das Geld haben, Andrej Danilowitsch?« »Möglichst in Goldrubeln, zweite Prägung.« »Gut. Ich denke, bis zum Abend habe ich es zusammen. Und was das Aquarium angeht... Nach goldenen Fischen zu angeln gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, wissen Sie. Wir Tänzerinnen verdienen weniger, als es den Anschein hat ... Aber Ljoscha Woronjanski hängt am Gold. Er ist ein guter Freund von mir. Von ihm kriege ich etwas.« Woronjanski ist erster Tenor am Bolschoi, das Volk himmelt ihn an. Sehr wahrscheinlich, dass er am Gold 75
nicht nur hängt, sondern auch darauf sitzt ... Schon wieder bin ich am Bolschoi Kamenny, fege auf der roten Spur über die Brücke. Links und rechts von mir dümpeln die Autos in endlosen Staus. Vorbei an der Nestor-Nationalbibliothek, der Wosdwishenka, der Universität. Ich biege ein in die berüchtigte Nikitskaja. Nach der dritten Säuberung in Folge ist es in dieser Straße still geworden. Selbst die Sbiten- und Kringelverkäufer gehen hier auf Zehenspitzen, preisen ihre Ware nur zaghaft an. Die Fenster der abgefackelten, noch nicht wieder instandgesetzten Wohnungen gähnen schwarz. Den Bürgern, diesem Pack, geht die Muffe. Recht so ... In der Neshdanowoi halte ich vor dem grauen Künstlerblock. Er ist von einer drei Meter hohen Backsteinmauer umgeben, darauf eine Lichtschranke. Die hat ihren Sinn. »Warten Sie auf mich, Andrej Danilowitsch«, sagt die Primaballerina, steigt aus und verschwindet im EingangIch rufe den Alten an. »Ältester, es gibt das Angebot, einen halben Vorgang abzukaufen.« »Wen?« »Den Sekretär Korezki.« »Wer?« »Die Kosiowa.« »Die Ballerina?« »Genau. Kriegen wir die Witwe abgezweigt?« »Könnte man versuchen. Aber da geht einiges an Prozenten ab. Wann kommt das Geld?« »Bis zum Abend will sie es auftreiben. Und außerdem habe ich das dumpfe Gefühl, Ältester ... dass sie mir gleich ein Aquarium rausbringt.« 76
»Na! Das wäre doch mal eine frohe Kunde«, sagt der Alte augenzwinkernd. »Sobald du's hast - in die Sauna damit!« »Klarer Fall!« Die Kosiowa lässt sich Zeit. Ich rauche eine Zigarette. Schalte das reine Teleradio ein. Hier lässt sich störungsfrei hören und sehen, was die Abtrünnigen unter unseren Mitbürgern nur des Nachts und mit größter Mühe einfangen können. Als Erstes drehe ich eine Runde im Untergrund, lande beim Programm »Freie Kommune«, wo sie die Liste der letzte Nacht Verhafteten durchgeben und von »wahren Hintergründen« im Fall Kunizyn faseln. Diese Schwachköpfe! Wen interessieren denn jetzt noch die »wahren Hintergründe«? ... »Radio Hoffnung« hat tagsüber Sendepause - die pennen, die Nachteulen. Desto munterer plappert es beim sibirischen »Freibeuter«, der Stimme der entlaufenen Sträflinge: »Auf Wunsch von Iwan, genannt Wanne Großfuß, der vorgestern den Abflug gemacht hat, bringen wir nun ein altes Sträflingslied!« Eine saftige Harmonika spielt, zu der eine verrauchte Jungmännerstimme zu singen anhebt: Es saßen und träumten von früher Zwei Knackis im scharfen Arrest. Bazillus, so nannt' man den einen, Den anderen schimpfte man Pest... Dieser »Freibeuter«, der da in Westsibirien herumhüpft wie ein Floh, ist schon zweimal dingfest gemacht worden - einmal durch die Geheime Kanzlei vor Ort und einmal durch uns. Der Kanzlei haben die Betreiber sich entzogen, von uns mit chinesischen Aquarien losgeeist. Während um das Lösegeld gefeilscht wurde, waren un77
sere Männer nicht untätig, renkten den drei Radiosprechern auf der Folterbank die Arme aus, und Siwolai schob der Sprecherin einen kleinen Bären in die Röhre. D o c h das Rückgrat des Senders blieb heil, ein Studio auf Kufen wurde angeschafft, und die Kettensträflinge konnten wieder auf Sendung gehen. Der Gossudar schert sich zum Glück nicht darum. Also sollen sie in Gottes N a m e n ihre Frongesänge in den Wind heulen. ... Alsbald war die Clique am Schluchzen, Es raunte die Kolyma: Im Winter, da türmte Bazillus, Im Frühling war Pest wieder da ... Ich schalte um ins Westfernsehen, wo die antirussischen Umtriebe ihren H e r d haben. Wie Ratten in der Senkgrube tummeln sich hier die feindlichen Stimmen: »Freiheit für Russland«, »Voice of America«, »Free Europe«, »Liberty«, »Deutsche Welle«, »Russland im Exil«, »Roma Russa«, »Das Russische Berlin«, »Russian Brighton Beach«, »Cote d'Azur Russe«. Ich entscheide mich für »Liberty«, den wütendsten Geiferer, und stoße sogleich auf taufrisches antirussisches Material: Im Studio hockt ein emigrierter Dichter, schmalbrüstige jüdische Brillenschlange, guter alter Bekannter von uns, mit einem zertrümmerten rechten Handgelenk als Andenken (Pojarok hatte während der Vernehmung seinen Fuß darauf stehen). Der Andersdenkende rückt mit der verkrüppelten H a n d seine altmodische Brille zurecht und deklamiert mit hysterisch bebender Falsettstimme: Ein Paragraph selbst für den Schlaf! Wo gerichtet wird, fallen Menschen! 78
»Mein Bruder - 's ist Zeit!« Für den Knast? Für den Ast? »Wir flieh'n und sind frei!« Vogelfrei! Ab, dawai! ... Judas! Mit einer Bewegung des kleinen Fingers klicke ich das liberale Mehlgesicht weg. Eklig seyen sie als wie Gewürm, das sich an Fäulnis und Aas besäufet. Das Teigige ist es, das sich Schlängelnde, das Unersättliche, das Blinde obendrein, was sie gemein macht mit dem verachteten Getier, und nur ihr beflissenes Mundwerk unterscheidet sie, welches mit stinkend Gift und Galle dermaßen um sich spritzet, dass nicht nur die Menschen drunter müssen leiden, nein, auch die von Gott geschaffene Welt wird besudelt, ihre heilige Schlichtheit und Reinheit beferkelt bis zum hintersten Horizont, bis ans Himmelsgebälk, mit der Schlangengicht ihres Hohnes und Spottes, ihrer Verachtung, ihrer Doppelzüngigkeit, ihres Zweifels, Misstrauens, Neides, ihrer Bosheit und Schamlosigkeit ... Auf »Freiheit für Russland« quengeln sie über die »geschurigelte Selbstbestimmung«, das altgläubige »Sonnenwärts« mokiert sich über die Käuflichkeit der Oberpriester in der R.O.K., das »Russische Paris« liest aus einem Buch von Jossaf Back mit dem Titel »Hysterisches Gestikulieren als Überlebensweise in Russland heute«, »Roma Russa« bringt jaulenden Affenjazz, das »Russische Berlin« ein ideologisches Wortgefecht zweier unversöhnlicher Emigrantenmonster, und auf »Voice of America« läuft das Programm »Russischer Tabuwortschatz im Exil« mit einer obszönen Nacherzählung des unsterblichen Romans »Verbrechen und Strafe«:
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Den satten Hieb mit der Scheißaxt hat die alte Fotze sauber auf den Scheitel gekriegt, sie war ja arschklein, das hat verdammt nochmal gepasst. Sie hat aufgejault wie angestochen und ist ratzbatz zusammengesackt, runter auf den Scheißfußboden, hat's grad noch fertig gekriegt, die verdorrte Mose, sich mit ihren abgewichsten Griffeln an die verkeimten Hurenzotteln zu fassen, das war's dann ... Gräulich und abscheulich - anders kann man es nicht nennen. Seit dem berühmten 37. Erlass des Gossudaren über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gebrauch unflätiger Schimpfwörter in öffentlichen wie privaten Räumen, unter ausdrücklicher A n d r o h u n g von Maßnahmen körperlicher Züchtigung, ergehen sich die Liberalen in Heulen und Zähneknirschen. Wohingegen das einfache Volk zu unserem Erstaunen dem 37. Erlass sogleich Verständnis entgegengebracht hat. N a c h einer Reihe von Schauprozessen, infolge derer auf den zentralen Plätzen der russländischen Städte die Streckbank zur A n w e n d u n g kam, der Ochsenziemer auf der Sennaja Ploschtschad pfiff und Schmerzensschreie über die Maneshnaja gellten, haben sich die Leute auf der Straße die garstigen, in alter Zeit von Fremden eingeschleppten und aufgenötigten Wörter verbissen. N u r die Intelligenzija mag sich nicht damit abfinden und fährt fort, mit giftigen Mutterflüchen um sich zu spucken: in Küchen, Schlafzimmern, Toiletten, Fahrstühlen, Abstellkammern, Hausfluren, Autos, wo sie geht und steht - mag einfach nicht lassen von diesem eklen Polypen am russischen Sprachleib, der Generationen von Landsleuten die Zunge vergiftet hat. U n d der sie80
che Westen findet an unseren Kellerlochschandmäulern seinen Spaß. Auf »Cote d'Azur Russe« schließlich wagt es ein dreister Ohrenbläser, die jüngste Verfügung des Gossudaren über die vierundzwanzigstündige Schließung des Rohrs Nr. 3 zu kritisieren. Den Herren Europäern scheint die Galle schön überzulaufen! Dutzende von Jahren haben sie unser Gas abgezapft, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, mit wie viel Aufopferung es unser fleißiges Volk aus den Tiefen holt. In Nizza ist es schon wieder kalt? Na, so was! Dann gibt's eben paarmal die Woche kalte Küche, meine Herren! Foie gras! Bon appetit! Da sind sie in China, scheint's, heller ... Die Faustkeilpeitsche knallt. Der Sekretär aus der Auswärtigen ist wieder dran. »Korostylew am Apparat. Andrej Danilowitsch, der Empfang des albanischen Gesandten ist auf morgen 14 Uhr verschoben.« »Habe verstanden!«, sage ich und schalte das Eulengesicht des Sekretärs ab. Bloß gut, denn für heute liegt auch so genug an. Bei der Entgegennahme fremdländischer Beglaubigungsurkunden durch den Gossudaren stehen wir Opritschniki neuerdings neben den Auswärtigen. Bisher war es so, dass wir den silbernen Kelch mit dem Wasser allein in Händen hielten, die Zwölferkorona aus Amtsleuten stand im Halbkreis um uns herum. Nach dem 17. August hat der Gossudar sich für eine Annäherung entschieden: Jetzt halten wir den Kelch selbander mit den Beamten. Der Alte und Shurawljow den Kelch, ich oder sonst jemand vom rechten Flügel das Handtuch, der Sekretär der Auswärtigen Kanzlei die Ellbogenstütze. Die Übrigen in Verbeugung auf dem Teppich. Sobald 81
der Gossudar den neuen Gesandten mit Handschlag begrüßt und die Urkunden entgegengenommen hat, wird von uns das Handwaschungsritual für den Gossudaren zelebriert. Dass man den Kanzleiratten nach den unseligen Augustereignissen dermaßen entgegenkommt, ist natürlich ärgerlich. Doch so will es unser Gossudar. Endlich taucht die Kosiowa wieder auf. Ich sehe es ihr an den Augen an: Sie hat es. Davon pocht sogleich das Blut in meinen Adern, Herzklopfen stellt sich ein. »Hier bitte, Andrej Danilowitsch!« Sie reicht mir eine Plastiktüte mit dem Aufdruck eines chinesischen Imbisslokals durchs Seitenfenster. »Das Geld kommt bis 18 Uhr. Ich rufe an.« Um Zurückhaltung bemüht, nicke ich, werfe die Tüte lässig auf den Beifahrersitz, schließe das Fenster. Die Kosiowa entfernt sich. Ich fahre los, biege auf die Twerskaja ein. Vor der Moskauer Stadtduma lenke ich den Wagen auf einen der roten Stellplätze für Staatskarossen. Fahre mit der Hand in die Tüte. Betaste die kühle, glatte Kugel. Umfasse sie zärtlich, schließe die Augen. Ein Aquarium! Wann habe ich das letzte Mal solch eine Herrlichkeit in der Hand gehalten? Es muss fast vier Tage her sein, eine halbe, grauenvolle Ewigkeit. Mit vor Erregung feuchten Fingern hole ich die Kugel aus der Tüte, lege sie auf die flache linke Hand: Da haben wir sie, die lieben goldenen Kleinen! Die Kugel ist durchsichtig, gefertigt aus edlem Material. Mit einer klaren Nährlösung gefüllt. Und darinnen schwimmen sieben winzige goldene Sterlette, kaum fünf Millimeter lang. Ich hebe die Kugel nahe vors Gesicht, um sie zu betrachten. Mikroskopisch kleine Fischlein! Göttliche Schöpfungen, bezaubernd schön! Blitzge82
scheite Leute haben euch erfunden, uns zur Freude. So klein seid ihr flinken goldenen Fischlein und doch so mächtig wie der Butt aus dem Märchen, der vor Zeiten den dummen russischen Iwans aus dem Volke Glück gebracht hat in Form von wunderfitzigen Schlössern, Zarentöchtern und Backöfen, die von selber backen. Das Glück aber, das ihr göttlichen Winzlinge beschert, ist unvergleichlich jedem Schloss, jedem Automatikofen und jeder holden, liebkosenden Weiblichkeit ... Ich spähe in die Kugel hinein. Schon mit bloßem Auge sehe ich, dass die Giselle mich nicht betrogen hat! Sieben goldne Sterlettchen sind in meiner Hand. Ich hole die Lupe hervor, sehe noch genauer hin: hervorragende Ware, offensichtlich chinesisches Fabrikat, kein ärmlicher Schund aus Amerika, von Holland ganz zu schweigen. Sie tummeln sich in ihrem Element, glänzen in der fahlen Moskauer Wintersonne. Einfach fabelhaft! Ich rufe den Alten an. Zeige die Kugel vor. »Alle Achtung, Komjaga!« Der Alte zwinkert mir zu und schnipst mit dem Finger gegen sein Ohrglöckchen, was als Beifallsbekundung gelten darf. »Wohin damit, Ältester?« »In die Sauna. Donskije Bani.« »Ich fliege!«, sage ich und bin schon dabei auszuparken.
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AUF DEM WEG IN DIE SAUNA überlege ich mir, wie ich die verbleibenden Aufgaben am besten auf den Rest des Tages verteile. Doch ich bin nicht bei der Sache, die Gedanken schweifen ab - neben mir planschen die goldenen Fischlein in der Kugel! Zähneknirschend zwinge ich mich, an meine Dienstpflichten zu denken. Beides dürfte noch zu schaffen sein: den Stern auszulöschen und zur Wahrsagerin zu fliegen. Auf der Donskaja ist viel Betrieb. Ich stelle das Gossudarenröhren an. Die Karossen erbeben von dem unhörbaren Ton, machen mir den Weg frei, steuern zum Straßenrand. Groß und gewaltig, dieses Röhren. Bricht sich Bahn wie ein Bulldozer. Ich drücke auf die Tube, rase dahin, als würde es brennen. Und ob es brennt! Der Goldene Sterlett wirkt stärker als jede Feuersbrunst! Was sage ich: stärker als ein Erdbeben! Vor dem gelben Gebäude der Donskije Bani komme ich zum Stehen. Neben dem Portal, bis zur Traufe aufragend, die Figur eines bärtigen Saunameisters mit wolligem Rotbart und zwei Rutenbesen in den muskulösen Händen. Besenwedelnd kneift der Riese alle dreißig Sekunden eines seiner mutwillig blickenden blauen Augen zu. Ich stopfe mir die Kugel mit den Fischlein unter den Kaftan, in die Innentasche meiner Jacke hinein, und betrete das Haus. Die Türhüter machen einen tiefen Diener. Der Alte hat unseren Saal bereits reservieren lassen. Ich lasse mir beim Ablegen des schwarzen Kaftans helfen und gehe durch den überwölbten Korridor nach hinten. Meine kupfernen Sohlenbeschläge klap84
pern über den Steinfußboden. Vor der Tür zu dem Saal wacht ein Aufpasser - Koljacha. Wir kennen ihn gut, er hütet regelmäßig unser spezielles Gemach. Kein Fremder gelangte je an dem tätowierten, breitschultrigen Hünen vorbei zu uns herein. »Grüß dich, Koljacha!«, sage ich. »Heil Euch, Andrej Danilowitsch!«, erwidert er mit einer Verbeugung. »Ist schon wer da?« »Ihr seid der Erste.« Auch gut. So sichere ich mir den besten Platz. Koljacha lässt mich in den Saal ein. Der ist nicht groß, hat niedrige Decken. Dafür ist es hier gemütlich, eine intime Atmosphäre. In der Mitte des Raumes befindet sich ein kreisrundes Tauchbecken. Rechts liegt der Dampfraum. Er wird heute nicht gebraucht und ist daher geschlossen. Wir machen uns auf andere, raffiniertere Art Dampf. Für den müsste der Rutenbesen erst noch gefunden werden ... Rund um das Becken stehen, wie Blütenblätter angeordnet, die Liegestühle. Sieben an der Zahl. So viele, wie Fischlein in der gelobten Kugel sind. Ich ziehe sie aus der Tasche meiner Brokatjacke und setze mich auf eine Stuhlkante. Die Kugel liegt auf meiner Hand. Lustig flitzen die kleinen goldenen Sterlette, ganz in ihrem Element. Gar wunderhübsch sind sie, das sieht man ohne Lupe. Es muss ein außerordentlicher Verstand sein, der dieses Vergnügen ausgeheckt hat. Vielleicht gar kein Menschenverstand. Eigentlich kann es nur ein vom Thron des Herrn gestürzter Engel sein, dem solches in den Sinn kommt. Ich lasse das Ding auf meiner Handfläche hüpfen. Teures Vergnügen! Ein einziger solcher Ball übersteigt mein Monatsgehalt. Schade eigentlich, dass diese Zau85
berkugeln in unserem rechtgläubigen Land strengstens verboten sind. Und nicht nur hier. In Amerika kriegt man für Silberfischlein zehn Jahre aufgebrummt, für goldene das Dreifache. In China wird man gleich aufgeknüpft. Und im siechen Europa kommen derlei Bällchen gar nicht vor - die Cyberpunks dort schmeißen lieber ihre billigen Trips. Seit vier Jahren pflegt unsere Geheime Kanzlei die Fische abzufangen. Doch sie kommen trotzdem zu uns geschwommen, und zwar aus dem benachbarten China. Munter schlüpfen sie den Grenzern durch die Maschen. Und daran wird sich wohl nichts ändern ... Um ehrlich zu sein: Ich kann an diesen Fischlein durchaus nichts Staatsfeindliches finden. Für das einfache Volk sind sie außer Reichweite, die reichen und vornehmen Leute indessen sollten sich ein paar Schwächen leisten dürfen. Denn Schwäche ist nicht gleich Schwäche. Nikolai Platonowitsch, der Gossudarenvater, erließ seinerzeit die grandiose Verordnung »Über den Gebrauch geistig anregender und entspannender Wirkstoffe«. Darin wurden Koks, Meti und Gras ausdrücklich für den Allgemeingebrauch zugelassen. Sie fügen dem Staat keinen Schaden zu, leisten den Bürgern bei Arbeit und Erholung gute Dienste. In jeder Apotheke kann man ein Quäntchen Koks zum staatlich festgesetzten Preis von zwo Rubel fünfzig erwerben. Dort ist auch ein entsprechender Tresen vorhanden, wo der Werktätige vor Dienstbeginn oder in der Mittagspause eine Linie ziehen kann, um beschwingt an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und das Staatswohl Russlands nach Kräften zu befördern. Ebenso werden dort Spritzen mit anregendem Meti und Tütchen mit abregendem Gras feilgeboten. Letzteres freilich erst nach 17 Uhr. Wohingegen der andere Dreck: Harry, Trips, 86
Pilze und das alles, tatsächlich dazu angetan ist, das Volk zu vergiften, das Zeug schwächt das Mark und den Willen, verjubelt das Hirn und schadet so dem Staatswesen. Weswegen der Gebrauch auf dem gesamten Territorium Russlands verboten ist. Gut durchdacht ist das und weise entschieden. Nur diese Fischlein ... die sind besser als aller Koks und Harry zusammengenommen! Das ist, wie wenn ein Regenbogen den Himmel überspannt - plötzlich ist er da und erfreut, und irgendwann ist er wieder weg. Der Sterlettregenbogen macht keinen schweren Kopf und keinen Hänger. Von einem Tritt mit beschlagenem Stiefel springt die Tür auf. So betritt nur einer den Raum: der Alte. »Komjaga! Du schon hier?« »Wo sonst, Ältester!« Ich werfe dem Alten die Kugel zu. Er fängt sie auf. Hält sie gegen das Licht, kneift die Augen zusammen, schaut. »O ja! ... Passt.« Nach ihm kommen Schelet, Samosja, Jerocha, Mokry und Prawda herein. Des Alten rechte Hand, zur Gänze. Mit seiner linken schlägt der Alte andernorts über die Stränge. Daran tut er wohl - Linke und Rechte zu verheddern gehört sich in solchen Dingen nicht. Alle sind sie schon ein bisschen aufgekratzt. Wie auch nicht - die Fischlein zum Greifen nahe! Samosja hält die Fäuste geballt, seine kohlschwarzen Augen fliegen. Jerochas Zunge beult die breitknochigen Wangen, er knirscht leise mit den Zähnen. Mokry glubscht unter den buschigen Brauen hervor, als wollte er mich durchbohren. Das letzte Mal war er es, der die Fischlein besorgt hat. Und Prawda hat die ganze Zeit die Hand am Messer - eine Angewohnheit. Seine Faust ist ganz 87
weiß, so fest hält sie das Heft umklammert. Die Rechten in der Opritschnina sind alles Feuerköpfe. Beim geringsten Anlass schneiden sie auch dem eignen Mann die Kehle durch, ohne zu zögern. Der Alte zügelt seine Leute: Gemach! Gemach! Er legt die Kugel auf dem steinernen Fußboden ab und beginnt sich als Erster auszukleiden. Diener sind hierbei nicht schicklich - wir ziehen uns selbst aus und wieder an. Die Opritschniki werfen ihre Brokatjacken ab, reißen sich die Seidenhemden vom Leib und das Unterzeug. Als alle nackt sind, legt sich jeder in seinen Stuhl. Auch ich lasse mich, die Scham mit den Händen bedeckend, nieder, dabei packt mich schon der Schüttelfrost, doch ist es die reine Vorfreude: Die goldene Seligkeit steht bevor! Wie immer nimmt der Alte den Einstieg selbst in die Hand. Splitternackt hebt er jetzt die Kugel mit den Fischlein auf und ... kommt zu mir! Natürlich, ich bin ja heute der Beschaffer. Folglich die Nummer eins unter den sieben, das erste Fischlein geht an mich. Ich strecke dem Alten den linken Arm hin, balle die Hand ein paarmal zur Faust und öffne sie wieder, während die Finger der anderen den Unterarm abdrücken. Der Alte neigt sich über meine Armbeuge wie Jahwe, der Herr. Und legt die göttliche Kugel an meine schwellende Vene. Ich sehe, wie die Fischlein plötzlich stillstehen, nur einmal hin- und herschwappen mitsamt der Flüssigkeit, bis eines plötzlich auf meine gegen die Kugel gepresste Vene zuschießt, mit der klitzekleinen Schwanzflosse wedelt und sich durch das nachgiebige Glas in die Vene hineinbohrt. Zack! Sei gegrüßt, Goldfischlein, edles Tier! Der Alte geht zu Jerocha hinüber. Der ist auch schon so weit: Zittern, Zähneknirschen, geballte Faust, straff88
gepumpte Vene. Gottvater Jahwe mit nacktem Arsch beugt sich über ihn ... Doch meine Augen kehren sich längst anderwärts. Ich sehe die Vene an meinem linken Arm. Ich sehe sie ganz deutlich. In der blassen Beuge, aus der Mitte des prallen Venenstrangs, schaut ein winziger, millimeterkurzer Sterlettschwanz hervor. O göttlicher Moment, da das goldene Fischlein in die Blutbahn eintaucht! Ein Moment, allem Irdischen enthoben, vergleichbar allenfalls der Verzückung Adams, unseres Urahnen, in den Laubhütten des Paradieses, nachdem er von nie gesehenen Früchten gekostet, wie der Graubart Jahwe sie für ihn allein erschuf. Einmal noch zuckt der goldene Schwanz, und das Fischlein ist in mir verschwunden. Schwimmt den Blutstrom hinauf! Aus dem verbliebenen Löchlein schießt eine fadendünne rote Fontäne. Ich drücke die Vene zu, lege den Kopf zurück auf das weiche Kissen, schließe die Augen. Spüre, wie das goldene Fischlein in mir schwimmt, die Vene flussauf, wie in Mütterchen Wolga zur Frühlingszeit, auf dem Weg zum Laichen in den oberen Gründen. Hinan, hinan! Das goldne Fischlein kennt sein Ziel: Es will in mein Hirn. Das seiner harrt in großer Erwartung, auf dass es den himmlischen Laich empfange, den goldenen Kaviar vom Zauberstör! Schwimm, schwimm, du mein Goldfischlein, lass dich nicht aufhalten, schleudere den güldenen Laich mir ins müde Hirn, auf dass Welten aus den Eiern schlüpfen, große, ergreifende, phantastische Welten ... Auf dass mein Hirn aus dem Schlaf erwache. Mit trockenen Lippen beginne ich laut zu zählen: Eins. Zwei. Drei... 89
ACH, WAS SEHEN MEINE AUGEN, groß u n d k u l l e r r u n d ,
Meine Augelein, so rund und honiggelb, Äuglein honiggelb an meinem Hammerkopf, Meinem Hammerkopf, dem gar gewaltigen! Und der Kopf, mein Hu-ho-hammerkopf, Sitzt auf wackerem, auf li-lu-langem Hals, Einem Hals, der ellenlang und biegsam ist, Der geschuppt ist wie ein edler Schlangenleib. Und an meines Kopfes grüner Seit' Schaukeln noch sechs Köpfe, gleiche Köpfe hin und her, Schaukeln, schwingen, schlängeln, züngeln umeinand', Blinzeln sich mit hi-ha-honiggoldnen Äuglein zu. Sie beblinzeln sich, und sie beschnauben sich, Reihum rülpsen, rotzen, fauchen, husten sie. Klappen ihre roten Rachen munter auf und zu, Rachen, aufgesperrte, rot und wunderbar, Rosa Zahnfleisch, überall mit scharfen Zähnen drin. Aus dem Rachen wallt und wa-bra-ba-bert Rauch, Wallt ein ätzend Rauch und fährt ein Feuerstoß, Ein Gegrunz entfährt ihm und ein Mordsgebrüll. Dazu kommt, dass jeder Kopf auch seinen Namen hat, Einen Namen, der ihn ehrt und der ihn ziert: Und der erste Kopf, er ward geheißen Ältester, Und der zweite Kopf daneben nennt Komjaga sich, Und der dritte Kopf ist jener, welcher Schelet heißt, Und den vierten Kopf sprich mit Samosja an, Und der fünfte Kopf kann nur Jerocha sein, Weil der sechste Kopf den Namen Mokry trägt 90
Und der siebte Kopf schlussendlich Prawda ist. Doch das siebenköpf'ge Ganze heiß' Gorynytsch ich Ist ein feuerspeiend Lindwurm, ein verheerender! Und der Rumpf, der diese sieben Köpfe trägt, Er ist bullig, bri-bra-beit und in den Hüften fett, Und an diesem wuchtig breiten, fetten Rumpf Hängt ein Schwanz, ein schwerer Ringelschwanz, Und getragen wird der Rumpf, der makellose Rumpf, Von zwei Beinen, dick und dicker noch als dick, Von zwei Füßen, zäher noch als zäh, Krall'n sich tief ins Erdreich, in das bröcklige. Aus dem Rumpf, den Hüften aber - aufgepasst! Wachsen Schwingen. Zwei! Daran sind Flughäute! Und die Schwingen, diese kri-kra-kräftigen, Kräftig-sehnigen, zieht's in die Luft hinauf. Diese Flügelspanne! Dieser kühne Schwung! Federnd, knatternd, aufwärts strebend noch und noch, Von der Scholle reißend dich, der lieben, heimischen. Wir erheben uns über das weite Land, Das gesamte Land, das ganze russische. Und wir schweben hoch, im hohen Himmelsblau, Über Grenzen weg, egal, wohin - wohin wir woll'n. Also fragt einer, es fragt der siebte Kopf: »Wohin fliegen wir, wohin führt unser Weg?« Also fragt einer, es fragt der sechste Kopf: »Welche Gegend soll es, wird es heute sein?« Also fragt einer, es fragt der fünfte Kopf: »Ist der Weg, der unsrige, ist er denn weit?« Also fragt einer, es fragt der vierte Kopf: »Wohin wenden wir die flinken Flügel dieses Mal?« Also fragt einer, es fragt der dritte Kopf: 91
»Unsren Schwanz, das Ruder, drehen wir in welchen Wind?« Also fragt einer, es fragt der zweite Kopf: »Welch Gefilde fassen wir ins scharfe Auge nun?« Doch der erste Kopf, welcher der Leitkopf ist, Der Bestimmer, gibt zur Antwort Folgendes: »Heute fliegen wir einfach der Nase nach, Durch den blauen Himmel immer geradeaus, Gradenwegs dahin bis in ein fernes Land, In ein fernes Land, das reich und mächtig ist, Das sich hinterm Meer, dem Ozean, erstreckt, Sich da bläht und blüht und an sich selbst ergetzt und das Gold und Geld reichlich gescheffelt hat. In dem Land, dem fernen Land, da kann man Häuser seh'n, Grad wie Türme hat man Häuser eins am andern steh'n, Eins am andern, alle turmhoch, nadelspitz, Stechen gnadenlos den schönen blauen Himmel an. In den hohen, spitzen Häusern wohnen Menschen drin, Menschen ohne Scham und Ehr' und ohne Hemmungen, Frech und ehrlos sind sie, ohne Gottesfurcht, Ohne Gott leben die Menschen in den Tag hinein, Und sie suhlen sich in Sünden, ganz abscheulichen, Im abscheulichsten Exzess und haben Spaß daran. Was uns heilig ist, verlachen und verhöhnen sie, Hohn und Spott, das Gift der Niedertracht, versprühen sie Und umgeben sich mit gleisnerischem Teufelszeug. Auch auf Russland, unser Heiliges, da spucken sie, 92
Unser rechtgläubiges Land geht denen am Arsch vorbei, Was auf Erden recht und wahr ist, amüsiert sie nur, Gottes Namen in den Dreck zieh'n, ja, das können die. Ebendarum lassen wir jetzt alle Grenzen hinter uns, Darum fliegen wir am hohen blauen Himmel lang, Über Nachbarländer, Handelspartner, drüber weg, Über Hain und Flur und ausgedehnte Wälder weg, Über weite, endlos weite grüne Wiesen weg, Über Flüsse weg und Seen, spiegelglatte, weg, Über alte Metropolen, ganz Europa weg. Und dann geht die Reise los, geht sie erst richtig los, Denn nun segeln quer wir über Meer und Ozean, Übern Ozean zum fernen Land der Gottlosen.« Und so geht es: Flügel spreizen, weit, so weit es geht, Und den Schwanz geschickt in alle sieben Winde drehn, Dass der achte, schnelle schräg unter die Flügel greift, Schräg von vorn, denn dieser schnelle achte ist ein Gegenwind. Und wir haben uns dem Gegenwind schnell angepasst, Ihn gesattelt und bestiegen, einem Rappen gleich, Und auf ihm, dem muntren Wildfang, ritten wir davon, Ritten aus, dem Ziel entgegen, auf Gefahren zu ... Und so flogen wir dahin bis an den zehnten Tag, Und so flogen wir dahin bis an die zehnte Nacht. Heißt: zehn Tage-Nächte über nichts als glatter See, Über Wellenbergen, Wellentälern, Gischt und Sturmgebraus. Unsre Flügelhäute machten ganz allmählich schlapp, 93
Unsre Lindwurmköpfe, alle sieben, wurden schläfrig nun, Auch der Schwanz, das Ruder, lag nicht mehr so hart am Wind, Und die Krallenfüße schlenkerten am Bauch herum. Da auf einmal sahen wir im Meer, im Ozean, Eine Insel, festgefügt aus Stahl, ein Stelzenhaus, Dazu da, das Blut zu saugen von Jahrtausenden Aus dem Schoß der Mutter Erde, aus dem tiefen Schoß. Also fuhren wir im Sturzflug auf das Eisenhaus, Rissen ab das Dach, das eiserne, Fraßen auf die zwölf Verworfenen, Ihre Knochen haben wir ins Meer gespuckt. Darauf ruhten wir drei Tage und drei Nächte lang In dem Haus, das wir in Brand gesetzt die vierte Nacht, Um sodann den Weg nach Westen wiederaufzunehmen. Und noch einmal flogen wir bis an den zehnten Tag, Und noch einmal flogen wir bis an die zehnte Nacht. Heißt: zehn Tage-Nächte über nichts als glatter See, Über Wellenbergen, Wellentälern, Gischt und Sturmgebraus. Unsre Flügelhäute machten ganz allmählich schlapp, Unsre Lindwurmköpfe, alle sieben, wurden schläfrig nun, Auch der Schwanz, das Ruder, lag nicht mehr so hart am Wind, Und die Krallenfüße schlenkerten am Bauch herum. Da auf einmal sahen wir, im Meer, im Ozean, schwimmt ein Schiff, gigantisch, sechs Etagen hoch, 94
schwimmt gen Osten - irre, was für'n Riesenkahn! Aus dem gottverlassenen, dem Ketzerland. Führt an Bord nur Schrott, nur miese Schundware, Führt an Bord nur üble Gotteslästerer, Führt an Bord nur staatsfeindliche Schriftstücke, Führt an Bord satanisches Amüsement, Führt an Bord des Teufels schwüle Lustbarkeit, Führt an Bord nur Huren, Frettchen, Schneegänse. Unser Überfall auf dieses Schiff glich einem Wirbelwind. Sieben Köpfe stießen Feuer aus, Sieben Köpfe, sieben Mäuler auch, Brannten aus das ekle Kroppzeug, gnadenlos, Fraßen auf die Huren, Frettchen, Schneegänse. Darauf ruhten wir drei Tage und drei Nächte lang, In der vierten ging die Reise wieder los. Und noch einmal flogen wir bis an den zehnten Tag, Und noch einmal flogen wir bis an die zehnte Nacht. Da auf einmal lag es vor uns, das verfluchte Land! Und wir griffen sofort an, und zwar aus vollem Rohr, Sieben Köpfe war'n ein Feuersturm, Sieben Köpfe, sieben Mäuler auch, Bissen zu, schlangen die Höllenbrut, Hauten rein, spuckten hinterher die Knochen wieder aus, und weiter ging das große Sengen und Brennen, Morden und Brandschatzen, weg mit den Scheusalen, den niederträchtigen, weg mit den widerlichen Ausgeburten, den unverfrorenen Gotteslästerern, die nicht mehr wissen, was heilig und allmächtig ist auf Erden ausgebrannt gehört dieses Pack weggeätzt wie Aschmodais Gezücht wie Schaben wie stinkende Ratten ausmerzen das alles gnadenlos ausmerzen bis auf 95
den Grund die verdammten Bastarde abfackeln mit der Flamme des Reinen Redlichen Rechtschaffenen sengen sengen sengen und nach dem Einrammen der harten Glasscheibe die beim ersten Mal ganz bleibt beim zweiten Mal knackt beim dritten Mal zerspringt stecke ich den Kopf hinein in die schummrige Wohnung keiner zu sehen verkrochen haben sie sich vor dem Schwert Gottes die Schweine doch meine gelben Augen sehen in der Dunkelheit sehen gut sehen scharf ich entdecke den ersten einen Mann zweiundvierzig Jahre hat sich im Kleiderschrank versteckt ich fackele den Schrank ab mit breitem Strahl sehe zu wie der Schrank brennt doch der drinnen sitzt zuckt nicht mal in seiner Angst der Schrank brennt das Holz prasselt der aber hockt da und rührt sich nicht ich warte bis er es nicht mehr aushält die Tür aufstößt mit einem Schrei und ich ihm einen feinen Strahl mitten in den offenen Mund setze mein Flammenspieß ist verlässlich der Mann schluckt das Feuer mein Feuer und fällt um ich suche weiter zwei Mädchen sechs und sieben Jahre sind unters Bett gekrochen das Bett ist breit ich feuere eine Breitseite Bett brennt Kissen brennt Decke brennt sie kommen vorgesprungen rennen Richtung Tür ich schicke ihnen einen Flammenfächer hinterher sie fangen Feuer noch bevor sie an der Tür sind brennen sie lichterloh ich suche weiter nach dem Süßesten suche und finde die Frau dreißig Jahre blond schreckhaft hat sich ins Badezimmer verzogen in den Spalt zwischen Wand und Waschmaschine sitzt da im bloßen Hemd nackte Knie zusammengekrümmt vor Entsetzen starr schaut mich an mit großen Augen und ich lasse mir Zeit meine Nüstern saugen den Schlafgeruch ein ich rücke näher noch näher mein Blick ist zärtlich meine Nase berührt ihre Knie sachte schiebe ich sie auseinander weiter noch wei96
ter und jetzt jetzt stoße ich hinein in ihren Schoß den allerfeinsten Feuerstrahl meinen getreuen Spieß ganz dünn und spitz und scharf fülle ihren bebenden Schoß fülle ihn aus mit meinem Flammenspieß sie schreit es ist ein unmenschlicher Schrei und ich beginne sie mit meinem Flammenstrahl langsam zu ficken ncknckficknckfickfickfickfick
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UND DAS ERWACHEN ...
Wie Von-den-Toten-Auferstehen ist das. Als kehrte man in seinen alten, lange schon toten und verscharrten Körper zurück. Kein Verlangen, o nein! Ich hebe die bleischweren Lider und sehe mich nackt im Stuhl liegen. Rühre die Glieder, huste, setze mich auf. Mir ist heiß. Ich greife nach einer Flasche eisgekühltem Birkensaft, Marke Jessenin. Koljacha hat an alles gedacht. Der Saft gluckert durch die ausgedörrte Kehle. Auch die anderen rühren und räuspern sich. Es war gut. Fischlein sind immer gut. Von ihnen kann es keinen fiesen Hänger und kein schwarzes Loch geben. Das ist etwas anderes als dieser elende Harry. Die Jungs sind wach und husten sich die Kehle frei. Der Alte trinkt gierig Saft. Sein schweißbedecktes Gesicht ist blass. Nach den Fischlein muss man als Erstes ordentlich trinken: Als Zweites ordentlich rülpsen. Und als Drittes darüber reden, was der Einzelne so getrieben hat. Wir trinken und rülpsen. Dann besprechen wir unsere Erlebnisse. Das war bereits das achte Mal, dass wir uns alle miteinander in den Lindwurm Gorynytsch verwandelt haben. Fischlein sind Sache der Gemeinschaft, sie in Einsamkeit zu gebrauchen wäre das Dümmste, was man tun kann. Der Alte hat wie immer Wünsche übrig. »Dass ihr mich immer so antreiben müsst! Entweder man sengt, oder man frisst, wie es sich gehört. Immer diese Hetzerei von einem zum anderen. Da muss mehr Ruhe rein, mehr Ordnung.« 98
»Das bist immer du, Schelet, der die Hummeln kriegt«, sagt Jerocha hustend. »Nie geht es dir schnell genug, Mann.« »Ach, kommt!«, wehrt Schelet ab und räkelt sich. »War doch prima, oder etwa nicht? Das mit dem Schiff ganz besonders ... wie sie durch die Bullaugen gekrochen sind und ins Wasser gesprungen!« »Stimmt!«, nickt Mokry. »Aber in der Stadt fand ich es noch lustiger: wie wir den Siebenstrahlfächer aufgefahren haben, und die saßen winselnd in ihrem Wolkenkratzer ... scharf! Und unser Komjaga hat wieder den Vogel abgeschossen, was? Wie er sie rangenommen hat, diese Amerikanerin! Der Arsch hat ihr geraucht!« »Komjaga hat eben Einfälle! Nicht umsonst hat er studiert, Scheiße nochmal!«, lacht Prawda. Für den Fluch kriegt er vom Alten gleich eine aufs Maul. »Entschuldige, Ältester, mich hat der Teufel geritten«, sagt Prawda und zieht eine Flunsch. »Alles in allem gut gelaufen«, zieht der Alte Bilanz. »Korrekte Fischlein!« »Korrekt!«, erklären wir uns einverstanden. Dann kleiden wir uns an. Was die Goldsterlette noch auszeichnet, ist, dass man an ihnen keine Kräfte lässt, sondern im Gegenteil welche dazugewinnt. Es ist, als wäre man zur Kur gewesen, auf unserer sonnigen Krim. Als hätten wir draußen Ende September, und du kämest gerade aus Koktebel, wo du drei Wochen im goldenen Sand herumgelegen und deine diversen Glieder einer raffinierten tatarischen Massage unterzogen hast. Und nun scherst du dich wieder heim in die Metropole, und wie du in Wnukowo landest und dem Silbervogel entsteigst, die Moskauer Landluft tief in dich einsaugst und sie ein 99
Weilchen dort drinnen behältst - da geht es dir auf einmal so gut, da fühlst du dich so wohl in deiner Haut, so im Recht, Herr der Lage, verantwortlich - und du weißt, dein Leben ist im Lot, du hast Mumm und bist ein Teil der großen Sache, hast Partner, wackere Kerls, die auf dich warten, und zu tun gibt es genug, und die Feinde sind nicht weniger geworden, und der Gossudar ist gesund und bei Laune, und was die Hauptsache ist: Russland geht es prächtig, es ist reich, es ist riesig, es ist einig, und es ist immer noch da, hat sich nicht wegbewegt in den drei Wochen, im Gegenteil - die jahrhundertealten Wurzeln sind noch tiefer hineingewachsen in das Fleisch der Erde. Der Alte hat recht. Von den Fischlein kriegt man Lust aufs Leben und aufs Arbeiten - vom Harry kriegt man nur Lust auf neuen Stoff. Ich blicke auf die Uhr. Nur ganze dreiundvierzig Minuten bin ich als Lindwurm durch die Welt gehirscht und dabei ist mir, als wäre es ein ganzes Leben gewesen. Das, anstatt mich auszulaugen, neue Kraft freigesetzt hat für den Kampf gegen äußere und innere Feinde. Was die Fischlein angeht, bewegen mich so einige Fragen: Wenn sie uns, den Opritschniki, dermaßen guttun, wieso kann man sie dann nicht wenigstens für uns legalisieren - exklusiv? Nicht nur ein Mal hat der Alte in dieser Frage schon beim Gossudaren vorgefühlt, doch der ist unerschütterlich: Vor dem Gesetz seien alle gleich. Frisch und gleichsam verjüngt verlassen wir das Bad. Ein jeder steckt dem tätowierten Koljacha einen halben Rubel zu. Zufrieden dankt er es uns mit einer Verbeugung. Draußen ist es immer noch kalt, die Sonne, schon im Sinken, hat sich hinter Wolken verzogen. Höchste Zeit, frisch ans Werk zu gehen. Bei mir liegt als Nächstes ein 100
Sternensturz an. Eine wichtige Sache, eine Staatsangelegenheit. Ich setze mich in meinen Merin und wechsle hinüber auf die Schabolowka. Erkundige mich, ob alles bereit ist. Scheint so zu sein. Ich fingere nach Zigaretten - auf die Fischlein ist der Drang zu rauchen immer groß. Keine mehr da. Ich bremse vor einem Volkskiosk. Der Händler, rotgesichtig wie ein Schaubudenkasper, steckt den Kopf aus seinem Hüttchen. »Was wünschen der Herr Opritschnik?« »Zigaretten, bitte.« »Wir hätten Rodina mit Filter und Rodina ohne selbige.« »Mit Filter. Drei Schachteln.« »Bitte schön. Wohl bekomm's!« Anscheinend hat der Junge Humor. Während ich die Brieftasche hervorhole, betrachte ich die Auslagen. Das Standardsortiment eines Lebensmittelkiosks: eine Sorte Zigaretten (Rodina) und eine Sorte Papirossy (Rossija), eine Sorte Wodka und eine Sorte Korn, Bonbons der Sorte »Teddy Tolpatsch« und Bonbons der Sorte »Teddy am Nordpol«, Schwarzbrot und Weißbrot, Butter und Margarine, Apfelmarmelade und Pflaumenmarmelade, Fleisch mit und ohne Knochen, Vollmilch und gedämpfte Milch, Hühnereier und Wachteleier, Kochwurst und Räucherwurst, Kirschkompott und Birnenkompott. Und Russischer Käse. Es war eine gute Idee vom Gossudarenvater Nikolai Platonowitsch, Gott hab ihn selig, alle ausländischen Supermärkte abzuschaffen und durch russische Kaufmannsläden zu ersetzen. Und dass das Volk dort bei allem die Wahl zwischen dem einen und dem anderen hat. Eine kluge, eine weise Entscheidung. Unser gott101
erwähltes Volk soll zwischen zweierlei wählen dürfen, nicht zwischen drei- oder dreiunddreißigerlei. Diese begrenzte Auswahl verschafft ihm seine Seelenruhe, nährt in ihm die Gewissheit bezüglich des kommenden Tages, bewahrt es vor unnützer Geschäftigkeit, macht es folglich zufriedener. Mit einem solcherweise befriedeten Volk lassen sich große Dinge anstellen. In diesem Laden hier steht alles zum Besten, nur will mir eines nicht in den Kopf: Wieso gibt es von allem zwei, ganz wie in der Arche Noah, aber nur einen Käse, nämlich Russischen? Das geht über meinen logischen Verstand. Doch es ist nicht mein Bier, sondern das des Gossudaren. Der Gossudar kann das Volk vom Kreml herab besser sehen. Wir hier krauchen zu ebener Erde wie Ameisen, wiebeln hin und wiebeln her und sehen den Wald vor Bäumen nicht. Unser Gossudar hingegen sieht und hört alles. Und er weiß, was für wen gut ist. Ich zünde mir eine Zigarette an. Sogleich fasst mich ein Bauchladenverkäufer ins Visier. Gestutzter Kinnbart, geputzter Kaftan, geschniegelte Manieren. Er bietet Bücher feil. »Belieben der Herr Opritschnik die neuesten Neuerscheinungen der schöngeistigen russländischen Literatur zu erwerben?« Mit diesen Worten klappt er vor mir seinen dreiflügeligen Bauchladen auf. Der Buchhandel ist auch vereinheitlicht, sein Angebot vom Gossudaren für gut befunden und von der Kanzlei für Wort und Schrift bestätigt. Das gute Buch steht bei unseren Menschen hoch im Kurs. Auf der linken Klappe liegt die religiöse Literatur, auf der rechten die russische Klassik und in der Mitte das Neueste, was unsere lebenden Schriftsteller geschrieben haben. Als Erstes sehe ich die Neuerscheinungen der vaterländischen Prosa durch. Iwan Korobow: »Wei102
ße Birke«, Nikolai Woropajewski: »Die unsere Väter sind«, Isaak Epstejn: »Die Eroberung der Tundra«, Raschid Sametdinow: »Russland, du mein Vaterland«, Pawel Olegow: »Die Fluren von Nishni Nowgorod«, Sawwati Scharkunow: »An der Westwand auf Wacht«, Irodiada Denjushkina: »Freund meines Herzens«, Oksana Podrobskaja: »So leben die Kinder der neuen Chinesen«. All diese Autoren sind mir wohlbekannt. Sie haben einen guten Namen, erfreuen sich der Gunst des Gossudaren und des Volkes. Dann stutze ich, als ich in einer Ecke des Kastens Michail Schwellers »Lehrbuch des Tischlerhandwerks für Gemeindeschulen« entdecke. Darunter liegt ein Lehrbuch des Schlosserhandwerks vom selben Autor. »Was hat das denn hier zu suchen?« »Ach, wir haben hier ganz in der Nähe zwei Schulen, Herr Opritschnik. Da kommen die Eltern vorbei und kaufen das.« »Verstehe. Und was ist mit dem literarischen Nachwuchs?« »Die Debüts sind wie immer für das Frühjahr angekündigt, zur Osterbuchmesse.« Alles klar. Meine Augen wandern zur Abteilung Poesie hinüber. Pafnuti Sibirski: »Heimische Weiten«, Iwan Mamont-Bely: »Apfelblüte«, Antonina Iwanowa: »Russlands Söhne, ihr getreuen«, Pjotr Iwanow: »Die Schwemmwiese«, Issai Berstejn: »Dafür dank ich dir!«, Iwan Petrowski: »Leben und leben lassen«, Salman Bassajew: »Das Lied der tschetschenischen Berge«, Wladislaw Syrkow: »Der kleine Gossudar«. Ich greife nach dem letztgenannten Buch, schlage es auf. Ein Poem über die Kindheit des Gossudaren. Jugend und Erwachsenenalter hat der Dichter Syrkow bereits zuvor gebührend behandelt. Das Buch ist edel 103
Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie 104
du liefst, flink und fröhlich, ins Offne, du streiftest durch Wald und durch Feld, zur Schule du gingst »na Rubljowke«, du flüstertest: Du, meine Welt! du wolltest stets standhaft und rein sein, du frei zu sein absahst dem Wind, du glänztest im Zeugnis mit Einsen, du necktest manch liebreizend Kind, du umgingst mit Nagel und Hammer, im Turnen du stets warst ein Ass, du inniglich liebtest die Mama, du spurtest. Auf dich war Verlass! den Hund auf die Gasse du führtest, dein erstes Herbarium entstand, den Sturmwind im Ofen du hörtest, das Ruder du nahmst in die Hand, du Lenkdrachen bautest mit Wappen, du Möhren und Schwarzwurzel zogst, du rittest auf fügsamem Rappen,
Wie beim Vater im Flugzeug du flogst, Wie du eifrig Chinesisch studiertest, Wie du lerntest: »Guojia« heißt »der Staat«, Wie die Schießbuden du frequentiertest, Wie vom Zehner du sprangest im Bad ... Wie dich Russland berührt' - jene Saite, Wie die Brust ward auf einmal so weit, Wie das Leben es gut mit dir meinte, Wie sie anbrach zuletzt, deine Zeit...
Tatsächlich nicht schlecht. Wie immer bei Syrkow ein bisschen sehr gefühlsbetont, doch dafür plastisch und anschaulich, da hat der Händler recht. Das Buch muss ich haben - um es zuerst selber zu lesen und dann Posocha zu schenken, damit er es sich anstelle dieser schmuddeligen »Heimlichen Märchen« zu Gemüte führt. Vielleicht bringt das den Schwachkopf mal zur Besinnung ... »Wie viel?«, frage ich. »Drei Rubel für jedermann und zwoeinhalb für den Herrn Opritschnik.« Das ist nicht wenig. Aber die Lebensgeschichte des Gossudaren wäre nun wirklich die falsche Gelegenheit zum Sparen. Ich reiche dem Händler das Geld. Er nimmt es mit einer Verbeugung. Ich stecke das Buch ein, steige wieder in meinen Merin. Und gebe Gas.
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STERNE AUSLÖSCHEN ist kein Honiglecken, pflegt unser Alter zu sagen. Wie auch - handelt es sich doch um eine Staatsangelegenheit. Die noch dazu ein Gespür verlangt, eine besondere Herangehensweise. Mit einem Wort: Köpfchen. Demnach einen Fuchs als Vollstrecker. Der sich immer wieder etwas einfallen lassen muss. Das ist schon etwas anderes als Gutshäuser abfackeln ... Also wieder ins Stadtzentrum. Wieder die überfüllte Jakimanka entlang, auf der roten Spur. Kamenny Most - über die Brücke. Die Sonne lugt hinter den winterlichen Wolken hervor. Der Kreml erstrahlt in ihrem Licht. Wie gut, dass seine Mauern weiß sind, seit zwölf Jahren schon. Und anstelle der satanischen Fünfzacke die goldglänzenden doppelköpfigen Staatsadler auf den Türmen des Moskauer Kremls prangen. Bei schönem Wetter ist der Kreml eine Augenweide. Welch ein Glanz von ihm ausgeht! Der Russländische Regierungspalast blendet so, dass einem der Atem stockt. Weiß wie aus Zucker gegossen stehen die Türme und Mauern, von den Kuppeln ein goldenes Glühen, pfeilschlank ragt der Große Iwan in den Himmel, zur Kirche des Heiligen Johann mit der Leiter gehörig, von Blautannen wie von strengen Wächtern umstanden. Stolz und frei weht Russlands Flagge. Hier hinter den gezackten schneeweißen Mauern schlägt das Herz der russischen Erde, hier hat der Staat seinen Thron, Mutter Heimat ihren Brustkorb, ihr Sonnengeflecht. Für diese Zuckermauern, diese Doppeladler, diese Flagge, für die in der Erzengel-Michael-Kathedrale ruhenden Gebeine 106
der russländischen Herrscher, für Rjuriks Schwert, für die Mütze des Monomach, für die Zarenkanone und die Zarenglocke, für das Kopfsteinpflaster auf dem Schönen Platz, für die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale, für die Kreml türme, für all dies sein Leben hinzugeben fiele nicht schwer. Und hätte man ein zweites - mit Freuden gäbe man es hin für den Gossudaren. Mir stehen Tränen in den Augen ... Ich biege ein auf die Wosdwishenka. Der Faustkeil zwackt mich mit drei Peitschenhieben: Ein Aktivist von den "Wackeren Burschen rapportiert, es sei bei ihnen alles bereit zum Auslöschen. Möchte aber trotzdem noch Einzelheiten absprechen, bedenken, bebrüten und bekakeln ... Er ist von der Sache nicht überzeugt, das ist einmal klar. Deswegen komme ich ja gefahren zu dir, du Trantütchen! Der junge Graf Uchow aus dem Engsten Kreis führt die Truppe an, die dem Gossudaren persönlich untersteht. Mit vollem Namen heißt sie »Bund der wackeren russländischen Burschen im Namen des Guten«. Durch die Bank heißblütige junge Männer, rechte Kerle, die aber noch an die Kandare genommen werden müssen. Mit ihrer Führung wollte es irgendwie von Beginn an nicht klappen. Haben einfach kein Glück mit ihren Köpfen, die Jungs. Zum Davonlaufen ist das! Jedes Jahr tauscht der Gossudar den Kommandoführer bei ihnen aus, aber es kommt einfach keine Linie hinein. Rätselhaft, das Ganze. Wackelburschen nennen wir von der Opritschnina diese Pappenheimer insgeheim. Da läuft eine Menge schief bei denen, auwei... Aber dafür sind wir ja da, um zu helfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir unsere Erfahrung weitergeben können. Das Büro der Burschen kommt in Sicht, ein vornehm ausstaffierter Bau. Köpfe gibt es wenige bei ihnen, aber Geld im Überfluss, wie man sieht. Plötzlich noch ein 107
Anruf, und diesmal blinkt das rote Lämpchen. Dringliche Angelegenheit. Der Alte ist dran. »Komjaga, wo steckst du gerade?« »Bei den Wackelburschen, Ältester.« »Vergiss sie und düs' ab nach Orenburg. Unsere Leute haben sich dort mit den Zöllnern in den Haaren.« »Aber dafür ist der linke Flügel zuständig, Ältester, ich hab damit die längste Zeit zu tun gehabt.« »Tschapysch begräbt seine Mutter, Sery und Wosk sind im Kreml und reden Fraktur mit Graf Saweljew, und Samosja, der Blödmann, hat auf der Ostoshenka einen aus der Strelitzenkanzlei gerammt.« Auch das noch. »Baldochai?« »Auf Dienstreise in Amsterdam. Los, Komjaga, mach hin, du musst dort sein, bevor sie uns übern Tisch ziehen. Du warst beim Zoll, du kennst den Laden. Da klemmt ein Hunderttausender, großes Ding. Wenn das abkracht, ärgern wir uns schwarz. Die Zollfritzen haben uns schon genug geschröpft diesen Monat. Kläre die Sache!« »Schuld und Sühne, mein Ältester!« Na fein. Orenburg. Das heißt: an die Trasse. Mit der Trasse ist nicht zu spaßen. Um die rauft man sich bis aufs Blut. Ich rufe die Wackelburschen an und gebe bis zum Abend Entwarnung. »Bis zum großen Heulen bin ich wieder da!« Ich fahre zurück auf die Promenaden, überquere ein neues Mal den Kamenny Most und tauche von da in die Tunnelstraße Kalushskaja-2. Eine breite, glatte Fahrbahn. Ich hole das Letzte aus meinem Merin heraus, 260 Werst die Stunde. Nach achtzehn Minuten lange ich am Flughafen Wnukowo an. Stelle meinen Merin auf einem roten Parkplatz ab und betrete die Abferti108
gungshalle. Ein Mädchen in Aeroflot-Uniform - blau mit Schulterklappen und Silberstickerei, dazu weiße Kniestiefel und weiße Lederhandschuhe - nimmt mich in Empfang, geleitet mich zum Hochsicherheitskorridor. Ich lege meine rechte Hand an die quadratische Scheibe. Augenblicklich schwebt mein ganzes Leben vor uns in der mit Kiefernharzaroma geschwängerten Luft. Geburtsjahr, Dienstgrad, Wohnort, Familienstand, SozioIndex, Gewohnheiten, besondere Kennzeichen: Muttermale, Krankheiten, Psychosoma, Charakterkern, Vorlieben, Gebrechen, Abmessungen äußerer und innerer Organe. Das Mädchen schaut auf meine körperliche und seelische Visitenkarte, erkennt und vergleicht. Totale Durchschaubarkeit!, so der Wahlspruch unseres Gossudaren. Und außerdem: Wir sind ja zu Hause, unter uns, da muss sich keiner schämen. »Wohin soll die Reise gehen, Herr Opritschnik?«, fragt die Bedienstete. »Orenburg«, antworte ich. »Erste Klasse.« »Ihr Flugzeug startet in einundzwanzig Minuten. Das Ticket kostet zwölf Rubel. Die Flugzeit beträgt fünfzig Minuten. Wie möchten Sie bezahlen?« »In bar.« Bei der Opritschnina wird immer und überall nur noch mit klingender Münze bezahlt. »Welcher Prägung?« »Zweite.« »Fein.« Das Fräulein stellt mir das Ticket aus, indem sie mit ihren Leuchthandschuhen durch die Luft fährt. Ich reiche ihr das Geld: einen goldenen Zehner mit des Gossudaren edlem Profil und zwei einzelne Rubel dazu. Sie verschwinden in der Mattscheibe. »Ich darf bitten.« 109
Mit einer angedeuteten Verbeugung winkt sie mich in den Wartesaal für Fluggäste erster Klasse durch. Ich gehe hinein. Sogleich tritt ein Mann in weißer Papacha-Pelzmütze und weißer Kosakenuniform auf mich zu und erbietet sich mit einem tiefen Diener, mir den Mantel abzunehmen. Ich überlasse ihm den schwarzen Kaftan und die Mütze. In dem geräumigen Erste-Klasse-Saal halten sich nur wenige Fluggäste auf: zwei Kasachenfamilien in üppiger Tracht, vier stille Europäer, ein alter Chinese mit einem Knaben in Begleitung, ein Bojare mit drei Dienern, eine einzelne Dame und zwei angetrunkene, laut daherredende Kaufleute. Außer der Dame und den Chinesen sind alle mit Essen beschäftigt. Die Speisewirtschaft ist gut, ich habe hier schon mehrmals gegessen. Und nach den goldenen Fischlein stellt sich der Hunger ein. Ich nehme an einem Tisch Platz. Umgehend erscheint vor mir der gläserne Kellner, der aussieht wie Gogols unsterblichen Büchern entsprungen: pausbäckig, mit prallen roten Lippen, Kräusellocken und süßlichem Lächeln. »Was wünschen der Herr, womit kann ich dienen?« »Ich wünsche«, passe ich mich seinem Tonfall an, »ein Gläschen zu trinken und ein Häppchen dazu und noch etwas Leichtes hinterher.« »Korn mit Gold- und Silberflimmer, Kaviar aus Schanghai, gedörrter Störrücken nach Taiyuaner Art, Reizker, mariniert und in Sahne, Rindskopfsülze, Flusszander aus heimischen Gewässern, Guangdonger Schinken.« »Bring Silberkorn, Reizker in Sahne und Sülze. Was gibt's als Hauptgang Herzerwärmendes?« »Sterlettsuppe, Moskauer Borschtsch, Ente mit Rüben, Kaninchen mit Nudeln, Forelle auf Holzkohle gebacken, Rinderkotelett mit Kartoffeln.« 110
»Die Suppe. Und ein Glas süßen Kwass.« »Sehr wohl, der Herr.« Der Gläserne verschwindet. Mit ihm ließe sich über alles reden, selbst über Saturnsatelliten. Sein Speicher ist im Grunde grenzenlos. Einmal im Suff erdreistete ich mich, den Gläsernen in meinem Stammlokal nach der Formel für lebendgebärende Fasern zu fragen. Er hat sie mir genannt. Um hernach in aller Ausführlichkeit den technologischen Vorgang zu erläutern. Wenn unser Alter einen gehoben hat, stellt er dem Gläsernen am liebsten immer die eine Frage: Wie lange haben wir noch, bis die Sonne explodiert? Die Antwort erfolgt auf das Jahr genau. Jetzt aber habe ich gewiss keine Zeit, lose Reden zu führen - und außerdem Hunger. Im Handumdrehen taucht das Bestellte aus dem Tisch hervor. Solche fügsamen Tische haben sie hier. Der Wodka wird prinzipiell in Karaffen serviert. Ich kippe ein Gläschen, schiebe gesalzene Reizker in Sahne nach. Zum Wodka hat die Menschheit noch nichts Bessres erfunden. Dagegen verblassen selbst die Salzgürkchen meiner alten Gouvernante. Ich verspeise ein vorzügliches Stück Sülze mit Senf, leere ein Glas gesüßten Kwass und gehe zur Fischsuppe über. Bei ihr muss man sich bekanntlich Zeit lassen. Während ich esse, schaue ich ein bisschen in die Runde. Die Kaufleute sind dabei, die zweite Karaffe niederzumachen, schwätzen über irgendeinen »Drei-Stufen-Durchzug« und »1 OO-PS-Parakleten«, die sie in Moskau anscheinend an den Mann gebracht haben. Die Kasachen palavern etwas in ihrer Sprache, essen Kuchen und trinken Tee. Der Chinese und sein Junge kauen Mitgebrachtes aus der Tüte. Die Dame raucht selbstvergessen. Sowie ich mit der Suppe fertig bin, bestelle ich eine Tasse türkisch gebrauten Kaf111
fee, rauche eine Zigarette. Dabei rufe ich unsere Jungs an der Trasse an, um zu erfahren, worum es eigentlich geht. Potrochas Gesicht erscheint. Ich schalte um auf den Intimmodus. Potrochas Erläuterungen kommen wie aus der Pistole geschossen. »Zwölf Tieflader. Gehobene Schneiderei, Schanghai-Tirana. Wir haben uns ein bisschen aufgespielt, sie gleich hinterm Großen Tor gestoppt und auf die Filzbank dirigiert, aber die Versicherer haben sich quergestellt - die haben nach der alten Tabelle kassiert, einen neuen Vertrag zu basteln hatten sie keine Lust. Wir haben über die Kammer Druck gemacht, der Boss sagt, die hätten dort mit den Zöllnern ihr eignes linkes Ding laufen - wir wieder hin zu den Zöllnern, die spielen das gleiche Spiel, der Oberste deckt die Sache, der Sekretär hat den Schwanz eingezogen, kurz: In zwei Stunden wollen sie sie ziehen lassen.« »Ah ja«, sage ich und denke nach. In solchen Fällen muss man ein guter Schachspieler sein und absehen können, was passiert. Das hier ist kein einfacher Fall, aber nachzuvollziehen. Wenn der Sekretär aus der Zollkanzlei den Schwanz eingezogen hat, heißt das, die Chinesen haben einen luftleeren Korridor gekauft und den Vertrag gleich hinter dem Grenzposten neu aufgesetzt bekommen. Damit sind sie bei den Kasachen schon mal reibungslos durchgerutscht. Und selbstredend haben sich die Zöllner nur verzogen, um am Großen Westtor wieder aufzukreuzen. Hier kriegen die Chinesen den falschen Vertrag wieder abgenommen und werden regulär zur Kasse gebeten. Alsdann wird die Versicherungsurkunde geschreddert, und die dortige Kanzlei erstellt eine Vierstundennote. Zuletzt wird der Maulwurf begraben und ein sauberer Vertrag unterschrieben - worauf die zwölf Laster mit »gehobe112
ner Schneiderei« ins ferne Albanien entschweben. Und die Zöllner uns wieder einmal gelinkt haben. Ich überlege. Potrocha wartet. »Pass auf, Bursche. Du besorgst dir den Herzkasper, beraumst mit dem Sekretär eine Sachverhaltsklärung an, nimmst zu dem Treffen einen geschmierten Federfuchser mit und stellst ein paar von unseren Ärzten dazu. Einen getürkten Vertrag habt ihr dabei?« »Selbstverständlich. Für wann soll ich das Treffen ansetzen?« Ich blicke auf die Uhr. »In anderthalb Stunden.« »Gut.« »Und dem Sekretär kannst du schon mal stecken, dass er es mit mir zu tun kriegt.« »Alles klar.« Ich stecke den Faustkeil ein. Drücke die Zigarette aus. Die Landung ist schon bekanntgegeben. Ich halte die flache Hand vor die Tischplatte, danke dem Gläsernen für das Mahl und stiefele durch den zartrosa getünchten, nach Akazienblüten duftenden Korridor zum Flieger. Der ist nicht groß, aber bequem, eine Boeing-Izendi 797 - rundum chinesisch beschriftet, versteht sich: Wer die Boeing baut, darf sie auch anmalen. Ich gehe in die erste Klasse und setze mich. Außer mir sind noch drei Personen in der Kabine: der alte Chinese mit dem Knaben und die einzelne Dame. Alle drei Zeitungen, die bei uns erscheinen, liegen aus: die »Rus«, der »Kommersant« und die »Wosroshdenije«. Aber die Nachrichten kenne ich schon alle, und sowieso habe ich gerade keine Lust, vom Papier zu lesen. Der Flieger startet. Ich bestelle mir einen Tee, dazu einen alten Film: »Rette sich, wer kann!« Wenn ich zu einem Einsatz 113
fliege, gucke ich mir immer Filmkomödien von früher an, aus alter Gewohnheit. Die sind witzig, auch wenn sie aus Sowjetzeiten stammen. Die hier handelt zum Beispiel davon, dass Löwen und Tiger per Schiff befördert werden und unterwegs aus den Käfigen ausbrechen und die Leute erschrecken. Man guckt zu und denkt: Russen hat es damals, zu Zeiten der Roten Wirren, genauso gegeben, und sie hatten genauso ihren Spaß am Leben wie wir. Nur dass sie größtenteils Atheisten waren. Ich schiele zur Seite, um mitzukriegen, was die anderen gucken: Die Chinesen gucken die »Rebellen vom Liang Shan Po«, das war klar. Und die Dame ... oho, da staune ich aber: »Die Große Russische Mauer«. So wie die Dame aussieht, hätte ich diese Vorliebe nie für möglich gehalten. »Die Große Russische Mauer« ... An die zehn Jahre ist es her, dass unser großer Fjodor Lysy, genannt Yeti Fedi, diesen Film gedreht hat. Den bedeutendsten in der Geschichte des Wiedergeborenen Russland. Darin geht es um die Verschwörung zwischen der Auswärtigen Kanzlei und der Duma, die Errichtung der Großen Westmauer, den Kampf des Gossudaren, die Anfänge der Opritschnina und um Waluj und Sweroga, die zwei Helden, die damals auf der Datscha des schurkischen Ministers ihr Leben lassen mussten. Ein Fall, der unter der Überschrift »Filetieren und verkaufen« in die Annalen Russlands eingegangen ist. Was hat dieser Film für Aufregung verursacht, wie viel Streit, wie viele Fragen und Antworten heraufbeschworen! Wie viele Beulen seinetwegen Köpfe und Karossen abbekamen! Der Schauspieler, der den Gossudaren darstellt, ist anschließend ins Kloster gegangen. Es ist lange her, dass ich den Film zum letzten Mal gesehen habe. Doch ich kenne ihn immer noch auswendig - war er doch für uns Opritschniki beinahe eine Art Lehrfilm. 114
Vor mir in der blauen Blase die Gesichter des Außenministers und seines Helfershelfers, des Duma-Vorsitzenden. Sie hocken auf der Ministerdatscha und schmieden den furchtbaren Komplott zu Russlands Teilung. DUMA-VORSITZENDER: Gesetzt den Fall, wir reißen die Macht an uns. Was fangen wir mit Russland an, Sergej Iwanowitsch? MINISTER: Filetieren und verkaufen. VORSITZENDER: An wen? MINISTER: Den Osten an die Japaner, Sibirien an die Chinesen, den Kreis Krasnodar an die Ukrainer, den Altai an die Kasachen, das Gebiet Pskow an die Esten, Nowgorod an die Weißrussen - und das Mittelstück behalten wir. Alles ist gerüstet, Boris Petrowitsch. Das Personal ist rekrutiert und befindet sich an Ort und Stelle. (Vielsagende Pause, Kerzenschein) Schon morgen kann's losgehen. Was meinst du? VORSITZENDER (sich umblickend): Ein bisschen Bammel hab ich schon, Sergej Iwanowitsch ... MINISTER (fasst den Vorsitzenden um die Schultern, bläst ihm seinen heißen Atem ins Gesicht): Nur keine Angst! Wir beide zusammen werden Moskau ausnehmen! Hörst du? Moskau! (Schließt lüstern die Augen zu einem Spalt.) Überleg doch mal, mein Lieber! Ganz Moskau wird in unserer Hand sein! (Zeigt seine schwammige Handfläche vor.) Was ist nun? Unterschreibst du? Gleich darauf sieht man die Augen des Duma-Vorsitzenden in Großaufnahme. Erst fahrig und verschreckt 115
wie bei einem gehetzten Wolf - doch auf einmal glimmt darin ein boshafter Funken und wächst sich aus zu unbändiger Wut. Im selben Moment setzt eine düstere Musik ein, ein beängstigender Schatten legt sich von schräg hinten über die Szenerie, der Nachtwind bauscht die Gardine, die Kerze flackert, ein Hund bellt. Und in der Dunkelheit ballen sich die Fäuste des Vorsitzenden bebend zuerst vor Angst und dann aus Groll und Hass gegen den Russländischen Staat. VORSITZENDER (zähneknirschend): Ich unterschreibe alles! Lysy ist ein guter Regisseur. Nicht umsonst hat ihn der Gossudar gleich nach diesem Film zum Oberhaupt der Filmkanzlei gemacht. Aber die Dame dort drüben ... Sie sieht aus wie eine Adlige. Und für die müsste dieser Film ein rotes Tuch sein. Sie schaut in die Blase, als sähe sie gar nicht richtig hin. Wie hindurch. Mit kalter, teilnahmsloser Miene. Schön ist sie nicht gerade, aber von Rasse. Dass sie nicht im Armenhaus an der Nowaja Sloboda aufgewachsen ist, sieht man. Ich kann es mir nicht verkneifen und spreche sie an. »Gefällt Ihnen der Film denn, gnädige Frau?!« Sie wendet mir ihr gepflegtes Gesicht zu. »Er gefällt mir außerordentlich, Herr Opritschnik. Ist es Ihre dienstliche Pflicht, mich das zu fragen?« Bei diesem Konter zuckt kein Muskel in ihrem Gesicht. Sie ist kaltblütig wie eine Schlange. »Durchaus nicht«, pariere ich. »Mich wundert es nur, weil in dem Film so viel Blut fließt.« »Und Sie meinen, russische Frauen mögen das nicht?« »Frauen überhaupt. Und was die russischen angeht ...« 116
»Sie haben dafür gesorgt, Herr Opritschnik, dass die russischen Frauen den Anblick von Blut seit langem gewöhnt sind.« Das hat gesessen. So leicht kommt man ihr anscheinend nicht bei. »Mag schon sein, aber ... Ich denke trotzdem, es gibt angenehmere Filme für das weibliche Auge. In diesem da steckt so viel Leid.« »Jeder nach seinem Gusto, Herr Opritschnik. Sie entsinnen sich vielleicht der alten Romanze: Was tut es, ob ich leide oder lache ...« Sie nimmt sich ein bisschen viel heraus, finde ich. »Dann entschuldigen Sie. Ich hatte einfach nur so gefragt.« »Und ich habe einfach nur so geantwortet«, erwidert sie und dreht sich weg von mir, heftet ihren leidenschaftslosen Blick wieder auf die Blase. Der Fall interessiert mich nun doch. Ich lichte sie mit meinem Faustkeil ab und gebe unserem Sicherheitsdienst ein Signal, die Dame für mich aufzubereiten. Die Antwort kommt umgehend: Anastassija Petrowna Stein-Sotskaja, die Tochter des Duma-Sekretärs Sotski. Ach, du heiliger Strohsack! Das ist genau jener Sekretär, der mit dem Duma-Vorsitzenden damals den schändlichen Plan zur Aktion »Filetieren und verkaufen« ausgeheckt hat! In der heißen Zeit damals war ich noch nicht bei der Opritschnina, saß still in meiner Zollabteilung, mit alten Büchern und Edelmetallen beschäftigt... Aber nun weiß ich, warum sie sich diesen Film anschaut, so anschaut. Es ist ja ihre Familiengeschichte! Der Sekretär Sotski ist seinerzeit, wenn die Erinnerung mich nicht trügt, mit neun weiteren Rädelsführern auf dem Schönen Platz enthauptet worden ... 117
Auf meiner Blase gehen Tiger in Käfigen um, springen sowjetische Köchinnen durchs Bild, ich kriege kaum noch etwas davon mit. Neben mir sitzt ein Opfer des Russländischen Staates. Wie mag man mit dieser Frau umgesprungen sein? Nicht einmal von ihrem Namen hat sie gelassen, nur einen Doppelnamen draus gemacht. Aus Stolz. Ich ordere eine ausführliche Biographie: 32 Jahre alt, verheiratet mit dem Textilhändler Boris Stein, hat seinerzeit sechs Jahre mit der Mutter und dem jüngeren Bruder in der Verbannung gelebt. Später Jura studiert. Charakterkern: Fliehende Schwester 18. Linkshänderin. Schlüsselbeinbruch, anfällige Lunge, schlechte Zähne, zwei Fehlgeburten, beim dritten Mal einen Jungen zur Welt gebracht, wohnhaft zurzeit in Orenburg. Steckenpferde: Bogenschießen, Schachspielen, russische Romanzen zur Gitarre singen. Ich schalte meine Tiger ab, versuche zu dösen. Doch die Gedanken kommen von allein in den Kopf gekrochen: Da sitzt neben mir ein Mensch, der gekränkt ist bis ins Mark. Der einen tiefen Groll hegt - nicht nur auf uns, die Opritschniki, nein, ebenso auf den Gossudaren. Und diesem Menschen ist nicht mehr zu helfen. Dabei hat er einen Sohn großzuziehen, und wahrscheinlich haben Stein und sie donnerstags einen Salon, wo die Orenburger Intelligenzija zusammenkommt. Da singen sie Romanzen, trinken Tee mit Kirschkonfitüre, und anschließend führen sie Gespräche. Und man muss nicht Praskowja, die Wahrsagerin, sein, um zu ahnen, worum - und um wen - diese Gespräche sich drehen ... Solche Leute gibt es - nach allem, was war-zu Hunderttausenden. Rechnet man Kinder und Ehegatten mit ein, sind es Millionen. Das ist keine gering zu veranschlagende Kraft, man muss ihr Rechnung tragen. 118
Auch hier lohnt es vorauszudenken, Züge des Gegners abzusehen. Und dass man diese Leute aus ihrer vertrauten hauptstädtischen Umgebung ausgesiedelt und nach Orenburg oder Krasnodar gescheucht hat, ist kein Ausweg, keine Lösung. Kurz: Die Gnade unseres Gossudaren ist groß. Aber das ist wohl gut so ... Am Ende gelingt es mir doch noch, ein Weilchen zu schlummern. Im Traum habe ich etwas flüchtig auftauchen und wieder entwischen sehen. Das weiße Pferd war es nicht - es war viel kleiner, krümelig und traurig. Ich schrecke hoch, als die Landung angekündigt wird. Aus dem Augenwinkel schaue ich hinüber auf die Blase mit dem historischen Film: Der läuft auf seine Entscheidung zu, das Verhör in der Geheimen Kanzlei, auf der Streckbank, die glühenden Eisen und das wutverzerrte Gesicht des Ministers: »Ich hasse euch ... Wie ich euch hasse!« Darauf das Finale, die Schlussszene: wie der Gossudar, noch ein junger Mann, vor dem Hintergrund seiner vom Licht der aufgehenden Sonne überfluteten heimatlichen Landschaft stehend, den Ziegelstein - den ersten! - in der Hand hält und, gen Westen blickend, die geheiligten Worte spricht: »Die Große Russische Mauer!« Wir landen. Potrocha holt mich ab, ein junger Mann mit Stupsnase, roten Wangen und etwas zu viel Goldpuder im Schopf. Ich steige in seinen Merin, und wie immer kommt es mir vor, als wäre es mein eigener. Dejä vu. 119
Alle Opritschniki fahren die gleichen Wagen, in Moskau wie in Orenburg oder Oimjakon: 400-PS-Limousinen der gewissen Marke in kräftigem Tomatenrot. »Grüß dich, Potrocha.« »Grüß dich, Komjaga.« Wir duzen uns alle, die Opritschnina ist eine große Familie. Auch wenn ich anderthalbmal so alt bin wie Potrocha. »Wieso tut ihr euch so schwer beim Mäusefangen? Kaum ist Tschapysch mal weg, läuft bei euch alles quer.« »Mach halblang, Komjaga. Die Sache ist link. Sie haben einen Haken in der Kanzlei sitzen. Und Tschapysch stand sich mit der Kanzlei bis vor kurzem extrem gut. Ich bin für sie ein Niemand. Da muss eine Schulter her.« »Aber eine linke. Ich bin von der rechten!« »Das tut jetzt nichts zur Sache, Komjaga. Hauptsache, du hast das Siegel. Im Streitfall braucht es einen Opritschnik mit Vollmachten.« Das muss er mir nicht sagen. Ein Opritschnik mit Vollmachten hat das Siegel. Exakt zwölf Opritschniki gibt es, die das Siegel haben. Es steckt im linken Handteller, unter der Haut. Um es mir zu nehmen, muss man mir die Hand abhacken. »Hast du den Sekretär bestellt?« »Aber sicher! In fünfzehn Minuten beginnt die Klärung des Sachverhalts.« »Ärzte?« »Alles top.« »Na dann mal los.« Potrocha manövriert verwegen, ist im Nu durch das Flughafentor und auf dem Trakt, wo er richtig Gas gibt. Wir düsen davon - nicht nach Orenburg hinein, 120
berühmt für seine gehäkelten Schals und mandeläugigen russisch-chinesischen Schönheiten, sondern in die Gegenrichtung. Unterwegs setzt Potrocha mir den Fall bis ins Kleinste auseinander. Lang, lang ist es her, dass ich beim Zoll war! In dieser Zeit hat sich viel Neues getan. Manches davon hätten wir uns damals nicht vorstellen können. Zum Beispiel gibt es inzwischen gläserne Schwarzarbeiter. Ein geheimnisvoller Export von Leerräumen hat sich etabliert. Zurzeit steht in Sibirien subtropische Luft hoch im Kurs, wird in Größenordnungen abgesetzt. Ebenso irgendwelche Boxen mit eingerollten Wünschen aus dem Reich der Mitte. Rätselhaft! Zum Glück ist, was wir heute zu erledigen haben, von simplerer Art. In einer Viertelstunde ist Potrocha an der Trasse. Hier war ich bestimmt schon drei Jahre nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich sie zu Gesicht bekomme, stockt mir aufs Neue der Atem. Diese Trasse ist ein gewaltiges Ding! Sie nimmt in Guangzhou ihren Anfang, durchquert China, kriecht durch Kasachstan, stößt durch das Südtor in der Südmauer herein und zieht sich dann quer durch unser liebes Russland bis nach Brest. Und von dort geraden Weges nach Paris. »Guangzhou-Paris«, das ist schon was! Die Trasse wurde gebaut, nachdem sich die Produktion aller wichtigen Industriegüter mehr oder weniger komplett nach China verlagert hatte. Eine zehnspurige Autobahn plus vier unterirdische Schnellzuggleise. Rund um die Uhr brummen die Schwertransporter hier entlang, flitzen die Silberpfeile unter der Erde. Man kann sich kaum sattsehen daran. Wir kommen näher. Die Trasse ist dreifach eingezäunt und scharf bewacht, um Diversanten und durchgeknallte Cyber121
punks abzuhalten. Wir fahren auf das Gelände der Kläranlage. Ein schöner, großer Bau, ganz aus Glas, speziell auf die Bedürfnisse von Fernfahrern ausgerichtet. Es gibt hier einen Wintergarten mit Palmen, eine Sauna mit Schwimmbecken, chinesische Garküchen und russische Restaurants, Turnhallen, ein Freudenhaus mit kunstfertigen Nutten, Hotel, Kino, sogar eine Eisbahn, alles da. Potrocha und ich gehen auf direktem Wege in den Klärungsraum. Dort sitzen sie schon auf Kohlen: der Sekretär der Zollkanzlei, der von uns geschmierte Untersekretär, zwei aus der Versicherungskammer, ein Obmann aus der Verkehrskanzlei und zwei Vertreter der Chinesen. Wir setzen uns dazu und beginnen mit der Klärung. Ein chinesisches Teemädchen tritt ein, bereitet weißen Tee zur Belebung von Körper und Geist, schenkt jedem lächelnd ein. Der Zollsekretär sträubt sich derweil wie ein Büffel. »Der Track ist sauber, die Kasachen haben keine Einwände, der Vertrag ist wasserdicht und in Ordnung.« Klarer Fall: Der Sekretär hat sich für die ganze Kolonne bezahlen lassen, alle zwölf Lastzüge, freie Fahrt bis nach Brest. An uns ist es nun, die Chinesen aufzuhalten, damit sie die Frist der Wegeversicherung überziehen, und dann kommt unsere Prämie obendrauf. Sie beträgt drei Prozent, das weiß an der Trasse jeder Hund. Diese drei Prozent machen, dass die Kasse der Opritschnina immer gut gefüllt ist. Und nicht nur sie. Es reicht für alle Verwahrer von Recht und Gesetz, für jeden fällt etwas ab. Mit diesen drei Prozent sind vielerlei ordentliche Ausgaben abgedeckt. Und Ausgaben haben wir, die Diener des Gossudaren, jede Menge. Das sollte ein Zollsekretär, der selber in Yuan schwimmt, doch wohl einsehen können? 122
Der Verkehrsobmann ist einer von uns. Er fängt an aufzufahren. »Bei zwei Transportern ist die chinesische Plakette der technischen Durchsicht gefälscht. Wir benötigen eine Expertise.« Ein Chinese widerspricht: »Die Plakette ist in Ordnung, hier ist das Zertifikat.« Die Leuchthieroglyphen der Urkunde erscheinen vor uns in der Luft. Ein umgangssprachliches Chinesisch habe ich mir mit den Jahren zugelegt, ohne das käme man heutzutage nicht weit. Aber die Hieroglyphen sind für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Dafür ist Potrocha firm im Chinesischen, er hat das Protokoll über einen Austausch der zweiten Turbine ausgegraben, belichtet es mit seinem Aschenputtel. »Wo ist das Gütesiegel? Hersteller? Seriennummer?« »Fabrik >Rotes Paradies