Judith Lennox
Das Herz der Nacht Roman Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg
TEIL 1 Die Vertraute April 1936 - Augu...
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Judith Lennox
Das Herz der Nacht Roman Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg
TEIL 1 Die Vertraute April 1936 - August 1939 1 KAY GARLAND BEGEGNETE MIRANDA DENISOV zum ersten Mal in einem Haus in der Charles Street in Mayfair. Miranda war
beeindruckend schön, mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Das schwarze Haar fiel seitlich gescheitelt in schimmernden Wellen auf ihre Schultern herab, und die glänzenden dunklen Augen bildeten einen aufregenden Kontrast zur magnolienweißen Haut. Sie sah älter aus als sechzehn. Und obwohl Kay, die hauptsächlich Selbstgeschneidertes trug und nur wenige, von ihrer Mutter geerbte Schmuckstücke besaß, von solchen Dingen wenig Ahnung hatte, sah sie sofort, dass Mirandas Kleid bei aller Schlichtheit hochelegant und teuer war. Miranda war höflich und liebenswürdig, wenn auch etwas distanziert. Es war Kays zweiter Besuch in dem Haus in der Charles Street. Sie hatte sich um die Stellung einer Gesellschafterin für Miss Denisov beworben, nachdem sie die Anzeige in der Times gelesen hatte. Ihr
Freund Brian, der in einem Antiquariat in der Charing Cross Road arbeitete, hatte sie darauf aufmerksam gemacht. »Geschäftsmann sucht kultivierte und gebildete junge Frau, Engländerin, zwischen 18 und 20 Jahren als Gesellschafterin für seine Tochter. Muss bereit sein zu reisen.« Kay war nie weiter als bis zur Isle of Wight gekommen. Sie wollte reisen. Sie war ganz versessen darauf zu reisen. Das erste Gespräch mit ihr hatte Mrs Ingram geführt, die Haushälterin der Familie Denisov, eine freundliche Frau aus Yorkshire. Das Verhör war gründlich und direkt. Miss Garland sei also achtzehn Jahre alt, richtig? Was für eine Erziehung sie genossen, welche Schulen sie besucht habe? Ob sie bei guter Gesundheit sei? Ob es in ihrer Familie Fälle von Tuberkulose gebe? Miss Denisovs Mutter, eine Engländerin, war, wie Mrs Ingram
erklärte, an Tuberkulose gestorben. Danach hatte Mrs Ingram Kay erläutert, welche Pflichten und Aufgaben sie erwarteten, sollte ihr der Posten als Miss Denisovs Gesellschafterin anvertraut werden. Sie werde Miss Denisov zu all ihren Unterrichtsstunden und Verabredungen sowie auf ihren Reisen begleiten. Bei Abendveranstaltungen, seien es Bälle oder Bankette, sei ihre Teilnahme nicht erforderlich, bei solchen Anlässen werde Miss Denisov von ihrer Tante, Madame Lambert, betreut. Mr Denisov lege aber großen Wert darauf, dass die neue Gesellschafterin seiner Tochter helfe, ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern - ein, zwei Stunden Unterricht jeden Morgen sollten genügen. Eine Woche später war Kay zu einem zweiten Besuch geladen worden, bei dem sie nun Miranda Denisov kennenlernen
sollte. Drei Bewerberinnen waren in die engere Wahl gekommen, wie Mrs Ingram ihr mitteilte, als sie sie in den Salon führte. Das Zimmer, in dem Miranda Denisov wartete, war prachtvoll ausgestattet. Die Sofas und Sessel hatten geschwungene Rücken- und Armlehnen, deren rotbraunes Holz zu einem warmen, weichen Glanz poliert war. Schwere Vorhänge aus blaugoldenem Damast umrahmten, seitlich gerafft, die hohen Flügelfenster. Ölgemälde schmückten die Wände, und den ganzen Boden bedeckte ein edler Orientteppich. Auf einem der Sofas saß eine Frau mittleren Alters in lila Chiffon, die Kay als Madame Lambert vorgestellt wurde. Nach dieser ersten Formalität wurden einige freundliche Floskeln ausgetauscht, bevor Madame Lambert Kay mit scharfem Blick musterte und sagte: »Sie sehen sehr jung aus, wenn ich das einmal sagen darf,
Mademoiselle Garland.« »Aber natürlich ist sie jung, Tante Sonya«, warf Miranda ein wenig ungeduldig ein. »Meinst du, ich will eine alte Scharteke als Gesellschafterin? Da hätte mir Papa ja gleich die nächste Hauslehrerin engagieren können.« Miranda wandte sich Kay zu und lächelte zum ersten Mal. »Erzählen Sie mir etwas von sich, Miss Garland. Wo wohnen Sie?« »In Pimlico, bei meiner Tante.« »Sie haben eine feste Anstellung, nicht wahr? Mrs Ingram hat es mir erzählt. Gefällt Ihnen die Arbeit nicht?« Kay war zurzeit als Erzieherin bei einer Mrs Harrison angestellt, die vier Kinder hatte. Mrs Harrison hielt nichts von der allgemeinen Schulpflicht; ihrer Meinung nach sollten Kinder nur das lernen, was sie lernen wollten. Kays Bemühungen, bei Storme, Syrie, Lionel und Orlando den
Wunsch zu wecken, etwas über die Rosenkriege oder komplexe Brüche in Erfahrung zu bringen, liefen meist völlig ins Leere. »Nicht besonders«, bekannte sie. »Ich würde sehr gern etwas anderes machen.« »Was tun Sie denn gern? Was macht Ihnen Spaß?« »Liebste Miranda -« Miranda beachtete den Einwurf ihrer Tante nicht. »Verraten Sie es mir, Miss Garland.« »Also, ich spiele gern Tennis, und besonders gern fahre ich Rad.« »Fahrradfahren! Oh, ich würde so gern einmal Fahrrad fahren. Aber Papa erlaubt es nicht - er sagt, das gehört sich nicht für eine junge Dame.« Unmöglich, dachte Kay, sich Miranda Denisov mit ihrem makellos frisierten Haar und ihrem Plisseerock aus cremefar-
benem Wollstoff auf einem Fahrrad vorzustellen, wie sie mit Karacho durch Pfützen sauste, was Kay selbst mit größtem Vergnügen tat. »Außerdem«, fuhr Kay fort, »gehe ich wahnsinnig gern ins Kino und ins Theater und ich lese mit Leidenschaft, ich kann stundenlang in antiquarischen Buchhandlungen herumstöbern, geht Ihnen das auch so? Ach, und am schönsten finde ich es, einfach zu reden - Sie wissen schon, was ich meine, diese endlosen Diskussionen, die sich bis in die Nacht hineinziehen. Etwas Interessanteres gibt es kaum, finden Sie nicht auch?« Schweigen. Kay begann, leicht nervös zu werden. Beantworte ihre Fragen kurz und freundlich, hatte ihre Tante Dot geraten, als sie sich am vergangenen Abend über das bevorstehende Vorstellungsgespräch unterhalten hatten. Da war wohl wieder
einmal ihr Mundwerk mit ihr durchgegangen. Dann sagte Miranda: »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen, Miss Garland, was meinen Sie?« »Heißt das, dass ich die Stellung habe?«, fragte Kay freudig erregt. »Richtig.« Sonya Lambert runzelte die Stirn. »Aber Miranda, cberie, dein Vater...« »Miss Garland wird Papa bestimmt gefallen, Tante Sonya.« Miranda tat die Bedenken ihrer Tante mit einem Fingerschnippen ab. »Und die anderen waren so fad.« Das Lächeln, mit dem sie Kay ansah, war beinahe verschwörerisch. »Ja, ich denke, wir werden uns glänzend verstehen.« Es regnete immer noch, als Kay wenig später das Haus der Denisovs verließ und
aufgeregt nach Hause fuhr, um ihrer Tante die frohe Botschaft zu überbringen. Kays Tante Dot war die Briefkastentante einer Frauenzeitschrift, wo sie unter dem Pseudonym »Cousine Freda« die Leserzuschriften beantwortete. Viele der Frauen, die ihr schrieben, hatten den Verlobten oder den Ehemann im Großen Krieg verloren. Manche waren arm und einsam. Als Kay noch jünger war, las Dot ihr manchmal die Briefe vor, und Kay empfahl ohne Rücksicht auf das jeweilige brennende Problem unweigerlich die Anschaffung eines Hundes. Sie selbst wünschte sich seit Jahren einen Hund, konnte aber keinen haben, weil das arme Tier den ganzen Tag allein im Haus gewesen wäre. Meistens schrieb Dot den Ratsuchenden zurück, die Arbeit sei eine große Wohltat für eine gequälte Seele, Zuneigung und Gemeinschaft ließen sich in
Freundschaft finden. War sie mit dem Schreiben fertig, nahm sie für gewöhnlich ihre Brille ab, putzte die Gläser und sagte seufzend: »Das arme Ding. Einsamkeit ist etwas Schreckliches, Kay.« Dot war unverheiratet geblieben, aber sie hatte, dem Rat getreu, den sie anderen so gern gab, einen großen Freundeskreis. Die Abendessen in Pimlico, bei denen manchmal bis zu zwölf Personen um den kleinen Esstisch saßen, waren immer lebendig und anregend. Dots Freunde kamen aus allen Generationen und aller Herren Länder: Kollegen von der Zeitschrift und Leute aus verschiedenen Vereinen, deren Arbeit für den Pazifismus, Sozialismus und den Völkerbund sie unterstützte; Maler, Romanautoren und Lyriker, von denen viele in Armut lebten; es gab den österreichischen Therapeuten, den italienischen Restaurantbesitzer, die
französische Familie aus Etaples, wo Dot im Krieg als Pflegerin im Lazarett gearbeitet hatte. Die Familie hatte sich Anfang der Zwanzigerjahre in London niedergelassen und eine kleine Privatschule eröffnet, an der die Schüler montags, mittwochs und freitags nur Französisch sprechen durften. Als Kay mit zwölf die Schule abschloss, sprach sie die Sprache fließend. Neben alten Freunden konnte gut auch eine Frau mit am Tisch sitzen, mit der Dot beim Einkaufen ins Gespräch gekommen war, oder ein junges Mädchen, das Kay im Bus kennengelernt hatte. Zu den Abendessen bei Dot fanden sich alle ein. In den Tagen nach Kays Vorstellungsgespräch wurde fieberhaft gewaschen, genäht und gepackt. Miranda, hatte Mrs Ingram der aufgeregten Kay erklärt, werde mit ihrer Tante und dem
gesamten Hauspersonal in der folgenden Woche nach Paris abreisen. Mr Denisov, der sich bereits dort aufhielt, erwartete die Ankunft seiner Tochter, sobald die Frage der Gesellschafterin für Miranda geklärt war. Es sei nicht damit zu rechnen, hatte Mrs Ingram hinzugefügt, dass man bald nach London zurückkehren werde. 3 Es war April, kalt und windig in London, aber in Frankreich war vielleicht schon Frühling. Kay packte Baumwollkleider, einen leichten Regenmantel, kurze Hosen, einen Schwimmanzug und eine Bademütze ein. Dot schneiderte ihr auf ihrer Nähmaschine ein Abendkleid. Ein eleganter Hut musste aufgetrieben werden für den Fall, dass die Denisovs Kay mit zur Kirche nehmen wollten, Strümpfe und Handschuhe mussten gestopft werden. Als J
Kay Mrs Harrison kündigte, kostete es sie Mühe, ein glückliches Lächeln zu unterdrücken, aber als sie sich einige Tage später von ihrer Tante verabschiedete, um ihren Posten bei den Denisovs anzutreten, wurde ihr doch ein wenig flau, und sie umarmte Dot mit aller Kraft. Bei ihrer Ankunft in dem eleganten Haus in Mayfair musste sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie jetzt wirklich hierhergehörte. Ihr Zimmer im zweiten Stockwerk hatte eine Tapete mit Zweigmuster und war mit einem Bett, einem Kleiderschrank, einer Kommode und einem Waschtisch ausgestattet. Kay packte aus. Ihre Sachen wirkten recht verloren in dem großen Schrank. Es klopfte. Miranda trat ein. »Ah, da sind Sie ja«, rief sie erfreut, küsste Kay auf beide Wangen und sah sich neugierig um. »Na, das ist aber eine armselige kleine
Kammer. Unser Pariser Haus ist viel schöner, Sie werden sehen.« »Mir gefällt das Zimmer.« »Man kann von hier aus wahrscheinlich in den Garten sehen.« Miranda trat zum Fenster und blickte in den gepflasterten Innenhof mit den gestutzten Buchsbäumen hinunter. Sie wandte sich wieder Kay zu. »Ich freue mich so, dass Sie hier sind. Papa wollte eine Hauslehrerin für mich engagieren, aber das habe ich mir nicht gefallen lassen. Ich bin viel zu alt für eine Hauslehrerin. Die letzte, die ich hatte, war ständig erkältet und hat beim Sprechen ununterbrochen geschnieft.« Kay lachte. »Da werden Sie mit mir vielleicht ein bisschen mehr Glück haben. Ich schniefe normalerweise nicht.« »Und die, die vor Mademoiselle Fournier da war, hat mir jedes Mal mit dem Lineal eins auf die Finger gegeben, wenn ich
etwas falsch gemacht habe. Manchmal hat es sogar geblutet.« »Ich verspreche, dass ich Ihnen nie eins auf die Finger geben werde. Ich halte nichts von körperlicher Züchtigung. So wenig wie meine Tante Dot.« »Dot? Das ist ja ein lustiger Name.« »Es ist die Abkürzung von Dorothy. Meine Tante Dot hat mich nach dem Tod meiner Mutter großgezogen. Sie war ihre jüngere Schwester. Mein Vater ist schon vor meiner Geburt im Krieg gefallen, wissen Sie.« »Und wann ist Ihre Mutter gestorben?« »Als ich drei war«, antwortete Kay. »Hm, da hatte ich meine Mutter immerhin sechs Jahre länger. Haben Sie noch Erinnerungen?« »Kaum. Sie hatte helles Haar wie ich. Wir haben damals in Hampshire gewohnt. Wir hatten Apfelbäume im Garten. Ich
kann mich erinnern, dass ich auf der Wiese lag, zu den Blüten hinaufschaute und fand, sie sähen aus wie Schnee. Wie war Ihre Mutter?« »Sie war sehr schön. Möchten Sie eine Fotografie von ihr sehen, Miss Garland?« »Bitte nennen Sie mich doch Kay. Ja, ich würde gern eine Fotografie sehen.« Miranda nahm sie mit in ihr Zimmer. Der große, luftige Raum hatte zwei hohe Schiebefenster mit rosaroten Vorhängen, die mit dem tiefen Blauviolett der Wände kontrastierten. Mit rosefarbenem Samt bezogene Sessel standen locker gruppiert im Raum verteilt, auf der Kommode und am Fußende des Betts hockten unzählige Puppen. Es waren teure, altmodische Puppen mit Wachs- oder Porzellangesichtern, in Gewänder aus Seide und Spitzen gekleidet. »Sie haben meiner Mutter gehört«,
erklärte Miranda. »Sie hat sie als kleines Mädchen gesammelt. Manche von ihnen sind sehr alt. Gefallen sie Ihnen? Manchmal mag ich sie, und manchmal finde ich sie abscheulich.« Sie griff nach einer Puppe mit einem roten Umhang und einem roten Mützchen. »Raten Sie mal, wer das ist.« »Rotkäppchen, oder?« »Manchmal, ja.« Miranda lächelte. »Aber manchmal...« Mit einer schnellen Handbewegung drehte sie den Kopf der Puppe, und statt des Kleinmädchengesichts zeigten sich jetzt die runzligen Züge eines alten Weibs. Noch eine Drehung, und eine dritte Maske erschien, eine Wolfsfratze mit roten Augen und gefletschten Zähnen. »Als ich klein war«, erzählte Miranda, »hatte ich immer Angst vor dieser Puppe. Ich dachte, der Wolf könnte in der Nacht
lebendig werden und mich fressen. Gott, wie kindisch.« Sie setzte die Puppe wieder auf die Kommode und reichte Kay ein gerahmtes Foto. »Das ist meine Mutter. War sie nicht eine schöne Frau?« »Ja, sehr schön.« Kay betrachtete das versonnene Gesicht mit den dunklen Augen. »Sie fehlt Ihnen sicher schrecklich.« »Ich habe sie nicht allzu oft gesehen. Maman kränkelte immer. Die meiste Zeit war sie weg, zur Kur oder in einem Sanatorium.« »Und Ihr Vater? Er ist doch zurzeit in Paris, nicht wahr?« »Ja. Sie werden ihn bald kennenlernen.« »Begleiten Sie ihn auf allen seinen Reisen?« »Nicht nur ich, die ganze Mannschaft. Papa ist da sehr eigen.« Miranda stellte das Foto wieder weg. »Ich bin so froh, dass ich
endlich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Tante Sonya jammert immer nur. Ach, ich hoffe, wir werden richtig gute Freundinnen.« Mirandas Blick war ein wenig ängstlich, bemerkte Kay. »Ganz sicher«, versprach sie. Wenige Tage später reisten sie nach Paris ab. Sie nahmen den Golden Arrow, den durchgehenden Expresszug, der vormittags um elf vom Victoria-Bahnhof abfuhr. Kay und Miranda teilten sich ein Abteil erster Klasse mit Mirandas Tante Sonya, die einen Pelzmantel trug und dazu einen rosaroten Samthut mit Federn. Sie fröstelte demonstrativ und klagte über die Kälte. Kay hätte gern über den kuschelig weichen Stoff gestrichen, mit dem die Sitze bezogen waren, hätte gern die Zuckerdose zur Hand genommen und mit der Fingerspitze das von den Worten »Pullman
Car Company Limited« umkränzte Wappen nachgezeichnet. Der Zug stampfte langsam aus dem Bahnhof. Draußen zogen zuerst rußgeschwärzte Lagerhäuser und Rangierbahnhöfe vorüber, dann endlose Reihen trister Hinterhöfe, wo alles, was sonst verborgen war - Mülltonnen, Wäscheleinen, kleine gemauerte Aborthäuschen -, dem Blick der Zugpassagiere preisgegeben war. Schließlich blieb London zurück, und das großstädtische Gewirr von Häusern und Straßen wurde von der grünen Hügellandschaft Kents abgelöst. Reisefieber packte Kay, als der Zug in den Hafen von Dover einlief und sie sich bereitmachten, an Bord der Fähre zu gehen. Von einem Steward geführt, gingen sie über das sachte schwankende Deck des Fährschiffs zu ihrer Kabine. Sonya Lambert streckte sich sofort mit einem
tiefen Seufzer auf einem der Betten aus. »Wir gehen an Deck, Tante Sonya«, sagte Miranda schnell, nahm Kay beim Arm und schob sie aus der Kabine. Sie stellten sich an die Reling und sahen zu, wie sich die englische Küste immer weiter entfernte. Die Wellen glitzerten, und über ihnen kreisten die Möwen. Es wehte eine steife Brise, und Kay war froh, dass sie ihren Dufflecoat angezogen und einen Schal umgebunden hatte. Miranda, die neben ihr stand, trug einen hellen Pelzmantel, dessen hochgeschlagener Kragen schmeichelnd ihr Gesicht umrahmte. Auf der Überfahrt erforschten sie erst einmal das Schiff, ehe sie sich in den Speisesaal setzten und beim Kaffeetrinken Mutmaßungen über die anderen Reisenden anstellten, sich damit vergnügten, Namen und Berufe für sie zu erfinden. Als das
Ende der Reise nahte, gingen sie wieder an Deck. Frankreich war kaum mehr als eine dunkelgraue Stelle am Horizont. Nur langsam traten Küstenlinie, Stadt und Hafen aus dem Dunst. Als Kay von Bord ging, fühlte sie sich einen Moment lang völlig desorientiert - der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken wie Meereswellen. Dann dachte sie beglückt und ungläubig: Das bin wirklich und wahrhaftig ich, Kay Garland, endlich in einem fremden Land. Sie war begeistert von allem, was sie auf der Eisenbahnfahrt durch das flache Land des Pasde-Calais sah, von den rot gedeckten Häusern der Dörfer bis zu den Ladenschildern boulangerie, tabac, epicier. Viel interessanter, fand sie, als Bäcker, Tabakladen und Lebensmittelhändler. An der Gare du Nord wurden sie von
mehreren Wagen abgeholt, die sie ins achte Arrondissement fuhren, wo die Denisovs ihr Haus hatten. Es war ein großes, elegantes Gebäude mit Baikonen mit schmiedeeisernen Gittern, ähnlich dunkel und luxuriös ausgestattet wie das Haus in der Charles Street. Kays Zimmer, in der dritten Etage gelegen, war in Blassgrün und Weiß gehalten. Wenn sie aus dem Fenster zur Straße hinunterblickte, konnte sie das Hupen der Autos hören und vorübereilende Menschen sehen. Sie verspürte eine Sehnsucht, die beinahe schmerzte, so heftig war sie; sie konnte es kaum erwarten, diese märchenhafte fremde Stadt zu erforschen. Aber vorher musste sie Dot schreiben und sie wissen lassen, dass sie gut angekommen war. Sie nahm ein Blatt Briefpapier und setzte zuerst das Datum darauf, 10. April 1936, und dann die
Adresse, wobei sie das Wort »Paris« dreimal dick unterstrich. An diesem Abend lernte Kay Mirandas Vater kennen. Konstantin Denisov war ein imposant aussehender Mann, groß und gut gebaut, mit breiter Brust, kräftigen Schultern und einem stämmigen Hals. Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme und sprach gut Französisch, wenn auch mit starkem Akzent. Kay müsse das Abendessen mit der Familie einnehmen, wenn er und seine Tochter nicht gerade irgendwelchen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen müssten, erklärte er; er betrachte es als ein Privileg, sich mit einer geborenen Engländerin unterhalten zu können. Mr Denisov bewunderte die Engländer, sie seien ein unternehmungslustiges und praktisch denkendes Volk. Es war ihm wichtig, dass seine Tochter ordentliches Englisch sprach
- es war schließlich die Muttersprache seiner Frau, Mirandas Mutter, gewesen. Er liebe England, sagte er, würde so gern in einem kleinen Haus auf dem Land leben, mit Apfelbäumen und vielen Tieren. Leider jedoch zwangen ihn seine Geschäfte, sich den größten Teil des Jahres auf dem Kontinent aufzuhalten. Die förmlichen Diners im Haus Denisov hatten, wie Kay sehr schnell feststellte, mit den familiären Abendessen zu Hause, bei Tante Dot, nichts gemein. Da stand keine einladend dampfende Terrine auf dem Tisch, aus der sich jeder seine Portion Eintopf nahm, und es fanden keine gut gelaunten Diskussionen über Politik oder den neuesten Roman statt. Die Diener, die diskret die Speisen auftrugen, das Aufgebot an Porzellan, Glas und Silber schüchterten Kay ein, sie hatte plötzlich Angst, ihre Tischmanieren seien vielleicht nicht ganz
perfekt, das braune Samtkleid, das Dot ihr für den Abend geschneidert hatte, könnte nicht genügen. Wie gut, sagte sie sich erleichtert, dass ihre Füße, die sie zu groß fand, unter dem Esstisch verborgen waren. Das Tischgespräch bestimmte Konstantin Denisov. Wenn er sprach, schwiegen alle anderen. Ein- oder zweimal merkte Kay, dass er sie musterte. Der Blick war kalt und abschätzend. Beim Nachtisch kam Luca, der Sekretär, herein, um seinem Arbeitgeber zu melden, dass ein erwarteter Anruf gekommen sei, und Denisov ging hinaus. Kay hatte den Eindruck, dass Madame Lambert und Miranda aufatmeten. In den folgenden Tagen lernte Kay den Haushalt besser kennen. Konstantin Denisovs Bedienstete und Angestellte bildeten eine internationale Truppe - eine
englische Haushälterin, ein französischer Koch, ein deutscher Chauffeur, ein italienischer Sekretär. Obwohl Denisov selbst Russe war, wurde im Haus im Allgemeinen Französisch gesprochen. Morgens war Denisov meist schon im Büro, wenn Kay und Miranda um acht Uhr aufstanden. Tante Sonya, die stets im Bett frühstückte, kam gähnend und noch im Neglige um zehn Uhr herunter. Die Stunde danach war dem Englischunterricht gewidmet, während Tante Sonya die Blumen versorgte und mit Mrs Ingram den Speisezettel besprach. An Mirandas Englisch gab es kaum noch etwas auszusetzen, darum vertrieben sich die beiden jungen Mädchen die Zeit damit, zusammen Shakespeare zu lesen. Außer Französisch und Englisch sprach Miranda fließend Deutsch und kam auch im Russischen und Italienischen gut zurecht.
Um eins aßen sie mit Tante Sonya zu Mittag, entweder in einem Restaurant oder zu Hause. Die Nachmittage waren mit Besuchen, Einkäufen, Tennis und Ballettstunden ausgefüllt. Das Ballett war Mirandas große Leidenschaft, nie hätte sie freiwillig auf eine Stunde verzichtet. Wenn ihr Vater sich über sie geärgert hatte und sie schmerzhaft bestrafen wollte, verbot er ihr den Unterrichtsbesuch. Um vier Uhr tranken sie mit Tante Sonya Tee. Alle zwei Wochen kam ein Paket von Fortnum & Mason in London mit schottischem Teekuchen, Cooper's-OxfordOrangenmarmelade und Täte and Lyle Golden Syrup. Nach dem Tee ruhte Miranda eine Stunde, danach kleideten sie sich zum Abendessen um. Um halb neun wurde serviert. Wenn Denisov mit seinen beiden Damen abends ausging, zu einer Gesellschaft oder einem Ball, brachte eines
der Mädchen Kay ein Tablett aufs Zimmer. Tante Sonya hatte ein Schoßhündchen namens Frou Frou, meist halb versteckt in den Kaskaden von Seide und Chiffon, in die seine Herrin sich tagsüber kleidete. Abends trat Sonya dramatisch in schwarzem oder blutrotem Satin auf. Im Beisein Denisovs war Sonya respektvoll und bemüht, gefällig zu sein. Jede Panne im reibungslosen Ablauf des Haushalts versuchte sie zu vertuschen. Aber wenn Konstantin Denisov nicht im Haus war, räkelte sich Sonya für gewöhnlich mit Frou Frou und einer Schachtel Pralines auf ihrem Lieblingssofa. Hin und wieder blätterte sie mit angefeuchteter Fingerspitze eine Seite in einer Zeitschrift um. Mirandas Vorschläge, spazieren zu gehen oder einen Einkaufsbummel zu machen, wurden unweigerlich mit einem matten »Ach, ich bin so müde, cherie« oder »Ich
habe so entsetzliche Kopfschmerzen, Herzchen« abgelehnt. Kay merkte von Anfang an, dass Miranda für Tante Sonya nicht viel übrig hatte. Und Tante Sonya, die Miranda zwar »cherie« und »Herzchen« nannte und mit Küsschen nicht sparte, wurde schnell gereizt, wenn Miranda nicht gleich tat, was sie wollte, oder gar zu widersprechen wagte. Eines Tages, vielleicht eine Woche nach ihrer Ankunft in Paris, hörte Kay, die gerade vom Briefkasten zurückkam, Konstantin Denisovs laute zornige Stimme aus dem Salon und dazwischen immer wieder Tante Sonyas furchtsames Blöken: »Aber Kostya, Liebster!« Schließlich folgten ein lautes Krachen und ein Schrei. Als sie nach oben blickte, bemerkte sie Miranda, die sich lauschend über das Treppengeländer beugte. Sie lief nach oben. Miranda legte beschwörend einen
Finger auf die Lippen. Unter ihnen flog die Salontür auf. Miranda nahm Kay bei der Hand. »Schnell«, flüsterte sie, »sie dürfen uns nicht entdecken.« Und hastig zog sie Kay die nächste Treppe hinauf. »Was ist denn passiert?«, fragte Kay. »Die Coreils – une famille tres snob haben eine Einladung zum Abendessen abgelehnt. Papa gibt Tante Sonya die Schuld.« Miranda schien sich darüber zu freuen. »Er ist wütend auf sie. Ich hoffe, er setzt sie endlich an die Luft.« »Aber Miranda!« Kay war schockiert. »Sie ist doch Ihre Tante.« Miranda öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Sie gingen hinein. »Nein, ist sie nicht«, entgegnete sie. »Sie ist nicht meine richtige Tante. Sie war einmal die Mätresse meines Vaters - aber das ist lange her. Und das ist auch schon alles.« Kay starrte Miranda verblüfft an. »Sie
war seine Mätresse?« »Ja, sie war seine Geliebte.« Miranda ließ sich auf ein kleines, vergoldetes Sofa fallen. »Schwer zu glauben, nicht? Sie ist so dick und hässlich und so blöd. Und trotzdem war sie mal seine Geliebte. Als mein Vater sie kennenlernte, war sie noch mit Monsieur Lambert verheiratet, diesem Unglücksraben. Der arme Kerl ist ein paar Jahre später gestorben - kein Wunder, bei so einer Frau. Der Tod muss eine Erlösung für ihn gewesen sein. Natürlich ist das zwischen Papa und ihr längst vorbei. Er hat jetzt eine andere Geliebte. Conrad hat mir erzählt, sie sei sehr hübsch.« Conrad war der Chauffeur. Miranda lachte. »Machen Sie nicht so ein entsetztes Gesicht, Kay. Haben Sie sich denn nicht schon so etwas gedacht?« Kay schüttelte den Kopf. »Sie finden es wahrscheinlich
abscheulich, dass ich so über Sonya spreche, aber glauben Sie mir, sie tut nur so, als würde sie mich mögen. Sie weiß genau, dass mein Vater sie fortschicken würde, wenn er dahinterkäme, wie unausstehlich sie mich findet, und dann wüsste sie nicht, wohin. Wir dulden einander nur, weil wir müssen. Wenn ich einmal heirate und von zu Hause weggehe, sprechen wir bestimmt nie wieder ein Wort miteinander.« Miranda runzelte die Stirn. »Ich hasse sie, weil sie mich ständig bespitzelt und ihre Nase in meine Angelegenheiten steckt. Sie belauscht mich am Telefon - manchmal macht sie sogar meine Briefe auf. Und einmal habe ich sie mit meinem Tagebuch ertappt.« »Vielleicht ist das nur ihre etwas unglückliche Art«, meinte Kay. »Vielleicht geht es ihr nur um Ihre Sicherheit, Miranda.«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie hofft, dass sie irgend etwas Nachteiliges über mich aufstöbert und es dann brühwarm meinem Vater erzählen kann. Sie bildet sich ein, dass er sie dann lieber mögen wird als mich. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie blöd ist. Manchmal nimmt sie mir auch Geld aus dem Portemonnaie.« Kay war erschüttert. »Sind Sie sicher?« »Ich weiß nie genau, wie viel Geld ich in der Tasche habe, darum kann ich nie ganz sicher sein. Aber sie beklagt sich dauernd, dass sie nicht genug Geld hat, und manchmal ist mein Portemonnaie leer. Ich glaube nicht, dass mein Vater ihr sehr viel gibt. Warum sollte er auch? Sie ist eine unnütze Person. Und sie ist gemein. Einmal, als ihr grässlicher Hund eine Vase zerbrochen hat, behauptete Sonya, es wäre einer der Angestellten gewesen. Mein Vater hat ihn entlassen. War das etwa nicht
gemein? Und ich bin es so leid, immer zu Hause herumsitzen zu müssen. >Aber ich bin so müde, cherie... Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, Herzchen.richtige Stellung