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Buch Rhiannon hasst Prinzessin Olywynne mit jeder Faser ihres Körpers, und das aus gutem Grund. Doch dann werden die Prinzessin und ihr Zwillingsbruder Owein von einem grausamen Nekromanten entführt, der die beiden opfern und dadurch einen uralten, mächtigen Magier aus dem Totenreich zurückholen will - einen Mann, vor dem das Reich schon vor tausend Jahren erzitterte. Die Einzigen, die den Schwarzmagier jetzt noch aufhalten können, sind Rhiannon und ihr geflügeltes Pferd. Aber wenn Rhiannon sich dem Nekromanten in den Weg stellt, setzt sie unweigerlich alles aufs Spiel, was ihr wichtig und teuer ist ihre Freiheit, ihr Pferd, ihre Liebe und das Leben. Und das alles für eine Frau, die sie aus tiefstem Herzen verabscheut... Autorin Kate Forsyth wurde im australischen Sydney geboren, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern lebt. Sie ist als Journalistin für mehrere Magazine tätig. Außerdem lieferbar: Der Turm der Raben (24450) Die strahlende Stadt (24451)
Kate Forsyth
Das Herz der Sterne Roman
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Book Three of Rhiannon's Ride. Heart of Stars« Für Greg Immer
»Life itself is but the shadow of death, and souls departed but the shadows of the living: all things fall under this name. The sun itself is but a dark simulacrum, and light but the shadow of God.« SIR THOMAS BROWNE The Garden of Cyrus, 1658 WAS BISHER GESCHAH . Einhorns Tochter ist nicht wie die anderen Satyricorns ihres Stammes. Da ihr Vater ein Mensch gewesen war, wuchsen ihr keine Hörner, die sonst ihren Platz innerhalb des Stammes gekennzeichnet hätten. Sie erkennt, dass die anderen Satyricorns sie bald töten werden. Ihre einzige Chance ist die Flucht. Aber wie könnte sie den schnellen Jägern ihres Stammes entkommen? Eines Tages reitet ein junger Mann, Connor der Gerechte, in das Gebiet der Satyricorns und wird gefangen genommen. Er bittet Einhorns Tochter, ihm zur Flucht zu verhelfen, denn er gehört zur Elitegarde des Righ und trägt äußerst wichtige Nachrichten für Lachlan den Geflügelten bei sich. Sie befreit ihn - aber nur weil sie eigene Fluchtpläne hegt. Einhorns Tochter träumt davon, eines der sagenhaften geflügelten Pferde Ravenshaws einzufangen und in die Freiheit zu fliegen. Um dies zu tun, braucht sie Connors Sattel und Zaumzeug. Außerdem kann sie seinen dringenden Wunsch nachempfinden, den brutalen Satyricorns zu entkommen. Als der Stamm jedoch Connor zur Strecke bringt und er das Leben ihrer Mutter bedroht, schießt Einhorns Tochter ihn in den Rücken, um ihren eigenen Verrat zu vertuschen und zugleich das Leben ihrer Mutter zu retten. Nach Art der Satyricorns schlägt sie Connor alle Zähne aus und schneidet ihm den kleinen Finger ab, um sie ihrer Knochenhalskette hinzuzufügen, und beansprucht seine Habe als ihr Eigentum. Mit deren Hilfe fängt sie ein geflügeltes Pferd ein und kann dem Stamm entkommen. Erschöpft und verletzt, werden sie und das Pferd von Lewen 3
MacNiall, dem Sohn der Baumtauscherin Lilanthe, entdeckt. Er kümmert sich um sie und das Pferd und gibt ihr einen Namen Rhiannon. Uralte Geschichten berichten von einer Frau namens Rhiannon, die so schnell ritt, dass niemand sie einfangen konnte. Lewen verbringt die Ferien bei seinen Eltern und muss danach wieder sein Studium an der Theurgia, der Schule für Hexen in Lucescere, aufnehmen. Es wird beschlossen, dass er Rhiannon und ihr geflügeltes Ross Schwarzdorn durch Ravenshaw nach Lucescere begleiten soll. Die Reisehexe Nina die Nachtigall mit Ehemann Iven und Sohn Roden sowie einer Gruppe junger Akoluthen, die in die Schule der Hexen aufgenommen werden wollen, reisen mit ihnen. Unterwegs wird der Leichnam Connors im Fluss entdeckt. Da Nina und Iven dem Righ diese Nachricht so schnell wie möglich überbringen wollen, beschließen sie, die Abkürzung durch das Tal von Fetterness zu nehmen, am zerstörten Turm der Raben vorbei, obwohl sie gewarnt werden, dass der alte Hexenturm heimgesucht und das Tal verflucht sei. Seit fünfundzwanzig Jahren verschwinden kleine Jungen, werden Gräber ausgeraubt und durchwandern Geister und Wiedergänger die Felder und Wälder. Ihren Kräften vertrauend, ignoriert Nina die Geschichten und drängt voran. Ein Sturm zwingt die kleine Gruppe, Zuflucht auf Burg Fettercairn zu suchen, das den zerstörten Turm bewacht. Die Herrin von Burg Fettercairn ist eine seltsame, alte Frau namens Lady Evaline, die noch immer um den Verlust ihres Ehemannes und ihres jungen Sohnes während der Regierungszeit Mayas der Verhexerin trauert. Der Geist des kleinen Jungen spukt auf der Burg. Nur Rhiannon kann ihn deutlich sehen, obwohl auch einige der anderen Akoluthen bange und durch die düstere Atmosphäre der Burg beunruhigt sind. Der Geist des kleinen Jungen - der im selben Alter ist wie Roden - weckt Rhiannon eines Nachts und zeigt ihr einen Raum mit den Geistern Hunderter ermordeter 4
Jungen, die sie bitten, ihnen zu helfen. Rhiannon flieht entsetzt und entdeckt zufällig einen Geheimgang zum Turm der Raben. Dort sieht sie Laird Malvern, den Herrn von Burg Fettercairn, der mit der Hilfe eines Kreises von Totenbeschwörern versucht, den Geist seines Bruders wiederzuerwecken. Stattdessen erwecken sie versehentlich den Geist einer heimtückischen Königin. Sie verspricht, Laird Malvern bei der Suche des richtigen Geheimzaubers zur Wiedererweckung zu helfen, damit er seinen toten Bruder und seinen Neffen ins Leben zurückholen kann. Zuerst muss Laird Malvern jedoch sie wiedererwecken. Der Geist spürt Rhiannons Gegenwart, und sie flieht zurück in die Burg, um Nina und die Übrigen zu warnen. Sie glauben ihr jedoch nicht, sondern denken, sie sei krank oder habe geträumt. Dann belauschen Nina und Lewen Laird Malvern und seine Schwester, wie sie Rhiannons Ermordung planen, damit nicht offenbar wird, was sie gesehen hat. Sie scheinen auch finstere Pläne für Roden zu hegen, der Lady Evalines totem Sohn Rory aufs Haar gleicht. Nina beschließt, dass sie der Burg so schnell wie möglich entfliehen müssen. Inzwischen ist Rhiannon auf Schwarzdorns Rücken entkommen, überzeugt davon, dass ihr Leben in Gefahr sei. Lewen folgt ihr und beschwört sie zurückzukehren, damit sie alle fliehen können, ohne Verdacht zu erwecken. Doch ein gewaltiger Sturm kommt auf, und Lewen und Rhiannon sind gezwungen, Zuflucht im Turm der Raben zu suchen. Hier trinken sie unwissentlich aus dem Bekenntnis-Becher, einem uralten Relikt, das Connor viele Jahre zuvor erhalten hatte. Durch den Becher verzaubert, erklären Lewen und Rhiannon einander ihre Liebe und geben ihrem Verlangen nach. Dann entdeckt Lewen die Halskette aus Knochen und Zähnen, und Rhiannon gibt zu, dass sie Connor getötet hat. Lewen ist schockiert und entsetzt und verlässt Rhiannon, die daraufhin flieht. Am Morgen trinkt Lewen erneut aus dem Becher und ist dann als er Nina durch den Kristallseh-Teich des Turms kontaktiert gezwungen, ihr zu erzählen, was er entdeckt hat, auch wenn er das Gefühl hat, Rhiannon zu verraten. Auf Ninas Rat hin
kontaktiert er den Righ und berichtet ihm alle Neuigkeiten. Der Righ ist höchst erschüttert und befiehlt Lewen, Connors Mörderin nach Lucescere zurückzubringen, damit sie sich der Gerechtigkeit stellt. Lewen begibt sich unglücklich auf die Suche nach Rhiannon, und es gelingt ihm, sie davor zu bewahren, von Laird Malverns Leuten erschossen zu werden. Sie wird gefesselt und in einem der Wohnwagen eingesperrt, und die kleine Gruppe begibt sich erneut auf ihre Reise nach Lucescere. In der nächsten Stadt erzählt man ihnen eine alte Geschichte, die Laird Malverns Verhalten weitgehend erhellt. Er war einst ein Lehrling im Turm der Raben, wurde aber daraus verbannt. Da er alle Hexen hasste, wurde er einer von Mayas Suchern, der sein Talent der außersinnlichen Wahrnehmung dazu benutzte, in ihrem Auftrag Hexen und Zauberwesen ausfindig zu machen. Eines Tages verhaftete er ein junges Mädchen und verurteilte es zum Tod durch Verbrennen. Sie wurde in den Verliesen von Burg Fettercairn festgehalten, deren Herr sein Bruder Falkner war. Lachlan der Geflügelte und seine Horde von Rebellen schlichen sich ins Schloss, um sie zu retten. Lachlan focht ein Duell mit Lord Falkner aus und tötete ihn, ohne zu wissen, dass der Lord seine junge Frau Evaline und ihren gemeinsamen Sohn Rory in einem Geheimraum versteckt hatte. Sie waren über eine Woche in dem Raum gefangen, und der kleine Junge starb schließlich an Kälte und Hunger. Laird Malvern und Lady Evaline wurden durch diese Tragödie beide halb wahnsinnig und verbrachten die nächsten fünfundzwanzig Jahre damit, einen Weg zu suchen, wie sie ihre geliebten Menschen aus dem Grab wiedererwecken und Rache an Lachlan nehmen könnten, der nun der Righ von Eileanan war. Nina und die Übrigen erkannten, welches Glück sie gehabt hatten, von Burg Fettercairn entkommen zu sein. 6 Früh am nächsten Morgen entführen Laird Malvern und seine Leute Roden und galoppieren mit ihm zur Burg zurück. Rhiannon wird freigelassen, damit sie und Schwarzdorn helfen können, ihn aufzuspüren. Eine verzweifelte Jagd zurück zur Burg beginnt, und Rhiannon gelingt es, Roden zu finden und ihn zu
retten, obwohl die arme Lady Evaline ihm aus dem Fenster hinterherspringt und umkommt. Der Laird von Fettercairn und seine Gefolgsleute werden gefangen genommen und nach Lucescere zurückgebracht, um sich wegen Mordes, Verrats und Totenbeschwörung vor Gericht zu verantworten. Auch Rhiannon muss sich dem Gericht stellen, und obwohl Lewen ihr versichert, dass alles gut würde, ist sie eine Satyricorn, und Satyricorns glauben nicht an ein glückliches Ende. Rhiannon behält Recht. Als sie in Lucescere eintrifft, wird sie im Kummertor-Turm, dem Stadtgefängnis, eingesperrt. Sie wurde zunächst ins Mörderverlies geworfen, das von der sadistischen Aufseherin Octavia der Fettleibigen bewacht wurde. Aber Lewen gelingt es, sie am nächsten Tag mit der Hilfe seiner Freunde Owein und Olwynne, der jüngeren Kinder Lachlans des Geflügelten, in eine Einzelzelle verlegen zu lassen. Der Laird von Fettercairn und seine Gefolgsleute sind ebenfalls eingesperrt, alle außer Dedrie, der es gelingt, die Unterstützung von Johanna, der führenden Heilerin des Hexensabbats, zu erringen, welche die Schwester Connors des Gerechten ist. Rhiannon wird vom Geist der toten Königin heimgesucht, den sie im Turm der Raben sah, und ist wegen ihrer Trennung von Lewen und ihrem geflügelten Pferd bekümmert. Ihre Angst wächst, je näher der Termin ihrer Verhandlung rückt. Dann, am Maitag, belegt Olwynne NicCuinn Lewen mit einem Liebeszauber und bringt ihn so dazu, sich von Rhiannon abzuwenden. Rhiannon, im Stich gelassen und im Gefängnis vergessen, ist verzweifelt. 7 In der Nacht vor der Verhandlung versucht Laird Malvern, Rhiannon während eines Gefängnisausbruchs zu entführen. Denn um die tote Königin aus ihrem Grab zu erwecken, müssen sie eine junge Frau mit starken magischen Kräften opfern, und Rhiannon - die zu viel über sie weiß - ist ihre erste Wahl. Rhiannon kann sich ihnen jedoch entziehen, und so entfliehen sie dem Gefängnis ohne sie.
Am nächsten Tag findet Rhiannons Verhandlung wegen Verrats und Mordes statt, und sie wird für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Auch wenn Lewen glaubt, seine frühere Liebe zu Rhiannon sei falsch gewesen, ist er dennoch erschüttert und aufgebracht. Er springt mit Olwynne übers Mittsommerfeuer, eine öffentliche Erklärung der Heiratsabsichten. Nina bittet den Righ derweil, Rhiannon zu begnadigen, und er stimmt zu, obwohl er weiß, dass Connors Schwester Johanna sehr zornig darüber sein wird, dass die Mörderin ihres Bruders ungeschoren davonkommt. Später in jener Nacht kehrt Isabeau in ihren Raum zurück und entdeckt, dass sich Johanna hereingeschlichen hat, um heimlich das Buch der Schatten zu Rate zu ziehen. Isabeau bittet das magische Buch, ihr zu zeigen, was Johanna gelesen hatte. Es zeigt ihr einen Zauber der Wiedererweckung, aber Isabeau entdeckt zu ihrem Entsetzen, dass dies eine Falle ist, um einen anderen tödlichen Zauber zu verbergen, der tausend Jahre zuvor von dem bösen Zauberer Brann dem Raben geschrieben wurde. Es ist ein Zwangszauber, der den Leser dazu zwingt, in der Zeit bis zu dem Tag von Branns Tod zurückzureisen und ihn aus seinem Grab wiederzuerwecken. Als sie den Zauber liest, ist auch Isabeau durch Branns Zwang gefangen. Der nächste Tag ist der Mittsommertag, und Lachlans ältester Sohn Donncan heiratet seine Cousine Bronwen, die Tochter Mayas der Verhexerin. Die Hochzeit wird von der plötzlichen Krankheit von Bronwens bester Freundin, der celestinischen Prinzes 8 sin Donnerlilie, sowie durch die Spannungen zwischen Donncan und Bronwen überschattet. Dann zeigt sich Olwynne sehr aufgebracht über die Neuigkeit, dass Rhiannon begnadigt werden soll. Sie verlässt das Fest, damit niemand ihre Erschütterung bemerkt, und sieht zu ihrem Entsetzen, wie ihr Vater, Lachlan der Geflügelte, von einem vergifteten Pfeil getötet wird. Als sie vor Schreck ohnmächtig wird, kommt ihr eine Heilerin zu Hilfe - nur dass die Heilerin in Wahr-
heit Dedrie ist, die weise Frau des Laird von Fettercairn. Sie betäubt Olwynne und entführt sie, während im gleichen Moment Ninas kleiner Sohn Roden und Olwynnes Zwillingsbruder Owein verschleppt werden. Inzwischen fliegt Donncan zu Johanna, der führenden Heilerin, damit sie seinem Vater helfen soll, entdeckt aber zu seinem Entsetzen, dass sie in die Intrige zur Tötung des Righ verwickelt ist. Sie hat Donnerlilie eingesperrt und verschleppt auch ihn. Sie plant, Donnerlilie zu zwingen, sie auf den Geheimwegen der Celestine zum Tag von Branns Tod zurückzuführen, wo sie Donncan opfern wird, um den bösen Zauberer von den Toten zu erwecken. Gleichermaßen beabsichtigt Laird Malvern, Olwynne zu opfern, um die tote Königin wiederzuerwecken, von der Isabeau vermutet, dass es ihre alte Feindin Margrit von Arran ist. Dann wird er Owein und Roden zur Burg Fettercairn zurückbringen, um seinen Bruder und seinen kleinen Neffen wiederzuerwecken. So will er gleichzeitig Rache an Lachlan und seiner Familie nehmen. Rhiannon entkommt derweil dem Kummertor-Turm, ohne zu wissen, dass Lachlan sie begnadigen wollte. Als Lachlans Witwe Iseult die Nachricht hört, vermutet sie sofort, dass Rhiannon den Righ ermordet hätte. Sie ruft einen Drachen herbei und fliegt ihr nach, wobei ihr Kummer und ihr Zorn einen heftigen Schneesturm heraufbeschwören, der den Mittsommer in Winter verwandelt. Sie findet Rhiannon, schleppt sie zurück und befiehlt, 9 dass sie beim Läuten der Dämmerungsglocke gehängt werden soll. Isabeau und Nina protestieren, aber dann wird die Nachricht von Rodens Entführung überbracht, und Nina ist so bestürzt, dass sie Rhiannons Rettung in Isabeaus Hände legt. Aber Isabeau ist in Branns Netz gefangen und kann nicht helfen. Es bleibt Lewen überlassen, Rhiannon zu retten. Er kann die Glocke nur am Läuten hindern, indem er seinen eigenen Körper um den massiven Klöppel schlingt, womit er Rhiannons Freunden Zeit verschafft, Bronwen, die neue Banrigh, davon zu überzeugen, sie zu begnadigen. Denn Bronwen, die Tochter der
Verhexerin, muss anstelle ihres Mannes regieren, an einem Hof, der von Intrigen, Verrat und Misstrauen bestimmt wird. Wenn Donncan nicht gefunden und in seine eigene Zeit zurückgebracht wird, wird sie eine Witwe sein, bevor sie zur Ehefrau werden kann. Der einzige Mensch, der eine Chance hat, Johanna aufzuhalten, ist Isabeau, die Bewahrerin des Schlüssels, aber auch sie ist in dem Zwangszauber gefangen. Da der Clan der MacCuinn zerfallen und der Hof in äußerste Verwirrung gestürzt ist, könnte nur Rhiannon mit ihrer geflügelten Stute Schwarzdorn Laird Malvern aufhalten. Sie muss alles riskieren, um die Frau zu retten, die sie mehr hasst als jeden anderen Menschen - denn Banprionnsa Olwynne ist ihre Rivalin im Kampf um Lewens Liebe. Auf ihrem verzweifelten Flug zur Rettung Olwynnes und ihres Zwillingsbruders muss sich Rhiannon der Möglichkeit stellen, all das, was ihr etwas bedeutet, zu verlieren - Lewen, Schwarzdorn, ihre Freiheit und sogar ihr eigenes Leben... 10 KUMMERVOLLE NÄCHTE »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.« JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796 RETTUNG S FLUG Rhiannon flog durch die tosende Dunkelheit und streckte ihr Gesicht nach oben, damit sie den stechenden Regen auf ihrer Haut spüren und ihn mit ihrer Zunge schmecken konnte. Wild und ungestüm zog der Wind an ihren Haaren und Kleidern, so stark, dass es schien, als würden unsichtbare Arme an ihr zerren und sie in den schwindelerregenden Raum unter ihr schleudern wollen. Rhiannon lachte. Sie öffnete die Arme weit, umarmte den Sturm. Zwischen ihren Knien spürte sie die warme, lebendige Struktur des Körpers ihrer geflügelten Stute, die zarten Knochen, die angespannten Muskeln, das pochende Herz, die alle
zusammenwirkten, um die großen Schwingen schlagen zu lassen. Wenn Schwarzdorns Schwingen ihre Kraft verlören, befände sich zwischen Rhiannon und dem Tod nichts als ein langer Schrei. Aber Rhiannon hatte keine Angst. Sie lebte. Sie war frei. Sie wurde geliebt. Sie hätte ihre Freude in den Wind schreien können, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, still zu sein. Es dämmerte schon fast in dieser kalten, sturmgepeitschten Mittsommernacht, zu einer Zeit, als alle bekannte Ordnung des Universums zerstört wurde. Der Righ war tot, in seinem eigenen Bankettsaal ermordet. Seine Erben waren verschwunden, von Feinden entführt, deren Absicht nur übler Natur sein konnte. Der Sommer war verbannt, und an seiner statt hatte dieser unnatürliche Winter eingesetzt. Korn und Hafer waren von Wind und Hagel vernichtet, das Obst von Frost befallen und die Lämmer IQ verendeten im Schnee. Es war ein aus dem Kummer der Banrigh geborener Sturm, und bis ihre Kinder gefunden und zurückgebracht würden und die Mörderin ihres Ehemannes gestellt würde, bestand anscheinend nur eine geringe Chance, dass der Sommer zurückkehren würde. Obwohl Rhiannon eine natürliche Ehrfurcht gegenüber der Macht empfand, welche die Jahreszeiten umkehren konnte, verspürte sie ansonsten nur wenig Mitgefühl für Iseult, die Banrigh-Witwe. Der Righ, der gestorben war, war nicht ihr Righ, und wenn es nach seiner Witwe gegangen wäre, hätte Rhiannon für seine Ermordung am Ende eines Seils gebaumelt. Sie war nur aufgrund der verzweifelten Bemühungen ihres Geliebten Lewen entkommen, der sich um den Klöppel der gewaltigen Glocke geschlungen hatte, welche die vollen Stunden schlug. Iseult hatte befohlen, dass Rhiannon beim Läuten der Dämmerungsglocke gehängt werden sollte, aber Lewens durchgeschüttelter und zerschlagener Körper hatte die Glocke stumm bleiben lassen und ihren Freunden Zeit verschafft, die neue Banrigh um Gnade zu bitten, und so war Rhiannon gerettet worden.
Rhiannon lächelte. Obwohl viele kalte, dunkle Stunden vergangen waren, seitdem sie sich getrennt hatten, durchwärmte sie Lewens Abschiedskuss noch immer. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bevor sie erneut in seinen Armen liegen könnte, sein nackter Körper an sie gepresst, seine Finger in ihrem Haar verschränkt, sein Stöhnen in ihrem Ohr. Sie musste ihre Knie fester in Schwarzdorns Seiten drücken und ihre Hände in die nasse, beschmutzte Mähne klammern, um ihre instinktive Verzückung bei diesem Gedanken zu kontrollieren. Je schneller du Roden, den Prionnsa und die Banprionnsa findest, desto schneller kannst du nach Hause eilen, sagte sie sich. Unter ihr erstreckte sich dunkel und dicht der Wald. Sie konnte nicht viel erkennen, trotz des scharfen Sehvermögens, das sie von ihrer Satyricorn-Mutter geerbt hatte. Der Regen geriet ihr 12 in die Augen, und weder Mond noch Sterne beleuchteten ihren Weg. Die dunklen, peitschenden Blätter unter ihr waren ebenso undurchdringlich wie die Wolken über ihr. Dennoch beugte sich Rhiannon über Schwarzdorns Schulter und suchte den Wald sorgfältig nach einem Lebenszeichen ab. Sie würden bei diesem heftigen, nassen Sturm kein Feuer entzünden, aber sie hatten vielleicht Laternen, mit denen sie ihren Weg durch den Wald beleuchteten, oder vielleicht würde sie den quadratischen Umriss einer Kutsche oder ein Glänzen von Stahl oder Glas erblicken. Sie könnte vielleicht das Wiehern eines Pferdes oder den Schrei eines kleinen, verängstigten Jungen hören. Rhiannon konnte nur beobachten und lauschen und den Wind riechen und hoffen, dass ihre Feinde sich sicher wähnten. Eine Stunde verging, und es war immer noch kein Zeichen von ihnen zu sehen. Schwarzdorns Kraft wich allmählich. Sie war nicht geeignet für solch weite Flüge im Wind. Rhiannon suchte nach einer Lücke in dem sturmgepeitschten Blätterdach, eine Stelle, wo sie sicher landen konnten. Sie spürte heftige Enttäuschung. Wenn erst das Tageslicht einsetzte, würde es schwieriger für sie und Schwarzdorn, am Himmel zu fliegen, ohne gesehen zu werden.
Sie sah den unregelmäßigen Umriss einer großen Lichtung und lenkte Schwarzdorn dorthin. Die Stute stolperte, als sie landete, und obwohl sie sich wieder fing, sanken ihr Kopf und ihre Schwingen erschöpft herab. Rhiannon führte sie in den kargen Schutz der Bäume und löste ihren Halfter und die Satteltaschen, damit die geflügelte Stute den Schnee beiseite scharren und grasen konnte. Sie waren beide nass bis auf die Haut, aber da noch immer Graupel fiel, konnten sie nicht viel mehr tun, als es zu ertragen. Bald begann der Himmel aufzuklaren, und Rhiannons kleiner Elfenblauvogel streckte den Kopf aus ihrer geräumigen Tasche und tirilierte. Rhiannon nahm den Vogel vorsichtig hervor, und 13 er kauerte sich auf ihren Finger und plusterte gegen die Kälte seine glänzenden Federn auf. »Warum beschwerst du dich, Blauchen?«, fragte Rhiannon. »Du hast die ganze Nacht gemütlich und warm in meiner Tasche gesteckt!« Der Elfenblauvogel tschilpte als Antwort, schüttelte seine Federn aus, erhob sich in die Luft und sauste wie ein blau gefiederter Pfeil in den Wald hinein. Rhiannon beobachtete seinen Flug mit jäher Freude, denn sie betrachtete den Vogel als ein lebendes Symbol für Lewens Liebe zu ihr. Er hatte ihn aus einem Stück Holz geschnitzt und irgendwie, wundersamer weise, zum Leben erweckt. Bald darauf wurde er von dem Liebeszauber der Banprionnsa Olwynne ereilt und hatte seine Gefühle für Rhiannon vergessen. Später, als Rhiannon beinahe gehängt worden wäre, war es der Elfenblauvogel, der Lewen gefunden und ihn, in gewissem Sinne, daran erinnert hatte, was er und Rhiannon einst geteilt hatten. Ohne Blauchen, dessen war sich Rhiannon sicher, wäre sie jetzt tot. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch die Bäume herab. Rhiannon rieb ihre behandschuhten Hände fest aneinander, schob dann die durchnässte Kapuze ihres Umhangs zurück und sah sich um. Sie saß am Rande eines rauen Waldpfades. Auf einer Seite erhoben sich steil Eichen und Hemlocktannen, die über dornigen
Schlehensträuchern und Farn aufragten. Hier und da steckten große, graue Felsbrocken in der Erde. Wolkenfetzen hingen über den Bäumen, und auch der Himmel über ihr war wolkenverhangen. Es war sehr kalt. Rhiannon zitterte und wünschte sich inständig trockene Kleidung und ein warmes Feuer. Als sie sich erhob, um ihre Satteltaschen nach etwas Essbarem zu durchforsten, quatschten ihre Stiefel. Sie fand mit Glockenfruchtmarmelade bestrichene Haferkekse, die sie mit Blauchen teilte, und einen knackigen Apfel, den sie mit Schwarzdorn teilte, denn hier gab es nur wenig Futter für ihre Tierfreunde. Rhiannon spülte al 14 les mit Wasser hinunter und wünschte sich die Hexenkräfte ihrer Freundin Felice , um das Wasser ohne Feuer erhitzen und sich eine Tasse Kräutertee zubereiten zu können. Die tiefen Furchen im Weg waren mit Wasser gefüllt. Während Rhiannon aß, betrachtete sie sie nachdenklich. Sie konnte nicht umhin zu hoffen, dass es die Spuren ihres Feindes waren, aber man konnte unmöglich viel mehr sagen, als dass ein schweres Fahrzeug hier entlanggefahren war. Es war kein Rollwagen eines Holzarbeiters, denn die Hufe der Pferde waren zu klein, und es hatten vier, nicht sechs Pferde die Last gezogen. Es waren Vorreiter, wie sie erkennen konnte, und ein Stück weiter vorn war ein Pferd im Schlamm ausgeglitten und gestürzt. Wer auch immer hier entlanggekommen war, hatte es zu eilig gehabt, um vorsichtig zu sein. Rhiannon schnalzte Schwarzdorn mit der Zunge zu, und als die Stute anmutig durch den Schlamm zu ihr gelangt war, schlang sie ihr die Satteltaschen wieder über den Widerrist. Sie stieg jedoch nicht auf. Der Schlamm war tief und rutschig, und Schwarzdorn war müde. Also gingen sie nebeneinander langsam den Weg entlang, wobei Rhiannons Stiefel bei jedem Schritt tief in den Schlamm einsanken. Der Elfenblauvogel sang halbherzig, während er vorausflog, aber ansonsten war außer den unzähligen Wasserläufen, die seitlich der Rinne herabliefen, kein Laut zu hören. Sie gelangten auf den
Hügelkamm, stiegen in ein graues, nebliges Tal hinab und erklommen einen weiteren Hügel. Rhiannon musste ihre Ungeduld zügeln. Sie kletterten höher. Flecken schmutzig wirkenden Schnees lagen unter den Bäumen. Der Weg kreuzte einen rauschenden Bach, und Rhiannon kniete sich hin, um die Wagenspuren zu überprüfen, die sich tief in den Schlamm eingegraben hatten. Ihr Puls beschleunigte sich vor Aufregung. Es war eindeutig, dass die Kutsche erst vor ungefähr einem Tag hier entlanggekommen war. Die Pferde hatten Mühe, sie durch den 15 Schlamm zu ziehen, und kamen nur langsam voran. Rhiannon hatte zum ersten Mal das sichere Gefühl, dass sie sie einholen könnte. Sie kamen zu einer Lichtung, auf der Spuren von Pferden zu erkennen waren, die an einen tief in den Boden getriebenen Eisenpfosten gebunden gewesen waren. Ein Durcheinander von Fußabdrücken war erkennbar. Rhiannon fand einige, die nur von den hochhackigen Schuhen einer Lady verursacht worden sein konnten, und ihr Puls beschleunigte sich weiterhin. Wie viele feine Ladys würden bei diesem Wetter durch das Hochland Rionnagans reisen? Es musste die Banprionnsa Olwynne NicCuinn sein, die in derselben Nacht verschwunden war, in der ihr Vater, der Righ, ermordet wurde. Rhiannon musste dem Drang widerstehen, auf Schwarzdorns Rücken zu springen und den Verfolgungsflug aufzunehmen. Ihre Feinde waren keine Narren, und für sie stand viel auf dem Spiel. Sie würden auf jegliche Anzeichen einer Verfolgung achten. Langsam, sorgfältig, betrachtete sie die Fußspuren weiterhin. Olwynne - wenn sie es war - war nur wenige Schritte gegangen, zum Rand der Lichtung und dann wieder zur Kutsche zurück. Rhiannon vermutete, dass es ihr gestattet worden war, sich hinter einem Baum zu erleichtern. Rhiannon konnte erkennen, dass sie gestolpert war und ihre Füße nachgezogen hatte. War sie verletzt, fragte sie sich, oder nur von Kummer und Entsetzen überwältigt?
Es waren auch die Fußabdrücke einer anderen Frau erkennbar, einer Frau, die vernünftige Schuhe trug. Rhiannon verengte die Augen. Das wäre wohl Dedrie, die weise Frau des Laird von Fettercairn. Die weise Frau hatte ein Feuer entzündet und es mit einer Art an zwei Stöcken befestigtem Unterstand geschützt. Rhiannon konnte die Löcher sehen, die in den Lehm getrieben worden waren. Viele weitere Fußabdrücke waren zu sehen, alle von Männern mit Stiefeln. Sie hatten auf einem umgestürzten 16 Baumstamm gesessen, sie waren umhergelaufen, um die Pferde zu füttern und zu tränken, sie waren zum Bach hinabgegangen, um Wasser zu holen. Einer hatte für einen Mann sehr kleine Füße, war aber offensichtlich groß und schwer, denn seine Stiefelabdrücke hatten sich tief in den Schlamm eingeprägt. Dann fand Rhiannon eine große, runde Vertiefung, wo er gesessen hatte. Oder sie. Die Abdrücke könnten auch von einer sehr großen Frau verursacht worden sein. In welchem Falle Rhiannon zu wissen glaubte, wer es war. In all dem Gewirr von Fußabdrücken konnte Rhiannon keine ausmachen, die eindeutig Owein MacCuinn, Olwynnes Zwillingsbruder, oder dem kleinen Jungen Roden gehörten, dem Sohn von Rhiannons Freundin und Mentorin Nina die Nachtigall. Sie konnte nur hoffen, dass auch sie hier waren. Dann fand Rhiannon hinter einem umgestürzten Baumstamm einen Abdruck der ihr Herz höher schlagen ließ. Dort, im Schlamm recht deutlich, war der Umriss eines kleinen, bloßen Fußes zu erkennen. Er konnte nur Roden gehören. Rhiannon lächelte erleichtert und presste eine Hand auf ihre Brust. Sie hatte sehr um den kleinen Jungen gebangt. Tatsächlich hatte sie diese gefährliche Jagd durch die Berge seinetwegen begonnen. Sie war viele Meilen mit dem jungen Roden gereist und hatte mit ihm viele Abenteuer erlebt. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er allein war und Angst hatte. Rhiannon stieg auf und drängte Schwarzdorn zum Trab. Sie war sich jetzt sicher, dass sie ihrem Feind, dem teuflischen Laird Malvern, dicht auf den Fersen war. Seine Spur gefunden zu ha-
ben, stellte sie vor das Dilemma, was sie als Nächstes tun sollte. Sie verspürte keinerlei Wunsch, Laird Malvern oder seiner giftigen weisen Frau gegenüberzutreten, und auch nicht der Horde getreuer Mörder, die ihm dienten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Prionnsa und seine Schwester, oder den jungen Roden, retten sollte. Sie hegte die vage Vorstellung, aus dem Nachthimmel 17 herabzustoßen, jemanden zu ergreifen und in Sicherheit zu fliegen. Das würde wenigstens einem von ihnen nützen, vorzugsweise Roden, aber es war eine Finte, die sie nur einmal anwenden könnte, wenn überhaupt. Im Geiste zählte sie die Pfeile in dem Köcher, der auf ihrem Rücken hing. Wenn sie es tun müsste - könnte sie den Laird und seine Handlanger dann niederschießen? Rhiannon hatte schon einmal einen Mann getötet, und es war eine verstörende Erfahrung gewesen. Er suchte manchmal ihre Träume heim - dieser Moment, als sich der Pfeil von ihrem Bogen gelöst hatte und unaufhaltsam abwärtsgesunken war, die Luft mit sirrendem Zischen durchtrennt und seine Reise tief im schnell schlagenden Herzen eines Mannes beendet hatte. Sie hatte nicht gewusst, wie einen das verfolgen konnte, die Tötung eines Menschen. Könnte sie es wieder tun, mit dem Wissen, das sie jetzt besaß? Rhiannon hoffte es. Diese Männer, die sie verfolgte, hatten inzwischen Hunderte teilweise auf grausame Art getötet. Wenn sie sie nicht aufhielt, würden sie auch Olwynne, Owein und Roden töten. Während sie dahinritt, lauschte Rhiannon angespannt auf das Rascheln des Waldes, wobei ihr Blick ständig über die Landschaft schweifte. Sie hielt häufig inne, um die Spuren vor sich zu überprüfen, benutzte all die Waidmannskunst, die sie gelernt hatte, als sie mit der Satyricorn-Herde ihrer Mutter umherzog. Sie sah, dass eines der Pferde allmählich hinter den anderen zurückblieb. Vielleicht war es dasjenige, das vor einigen Meilen ausgeglitten und gestürzt war. Es belastete vor allem ein Bein
und begann dann schwer zu hinken. Rhiannon zwang sich, noch vorsichtiger voranzugehen. Erneut setzte Graupel ein. Blauchen kam zurück und kauerte sich auf den Sattelknauf, schüttelte seine feuchten Federn, hob dann die Klappe von Rhiannons Tasche an und hüpfte geschickt hinein. Rhiannon knirschte mit den Zähnen, spannte ihre tau 18 ben Hände an, ließ wieder los und wackelte in ihren feuchten Stiefeln mit den Zehen. Sie bemühte sich, nicht an lodernde Feuer, heißen Glühwein und gebratenes Wildbret zu denken, sondern nur an Roden, der nach seiner Mutter rief. Sie umrundete eine Biegung im Weg und sah ein totes Pferd vor sich, das noch immer mitten auf dem Weg lag. Rhiannon zügelte Schwarzdorn scharf, wobei ihr Herz hämmerte. Es schien niemand sonst in der Nähe zu sein. Rhiannon wartete einen langen Moment, lauschte, sah sich um und ritt dann langsam zu dem gestürzten Pferd. Seine Reiterin lag tot daneben. Rhiannon brauchte sie nicht umzudrehen, um ihr Gesicht zu sehen. Sie wusste, wer es war. Es konnte nur eine so derart verfettete Frau geben, dass ihre abgespreizten Arme wie Polster und ihr gewaltiges Gesäß wie ein umgedrehtes Sofa wirkten. Es war Octavia die Fettleibige, die Gefängniswärterin, die Laird Malvern zur Flucht verholfen hatte. Ein Pfeil ragte aus ihrer Schulter hervor. Ein weiterer steckte im Herzen des toten Pferdes. Als Rhiannon sich das Muster der Hufabdrücke im Schlamm ansah, konnte sie eindeutig erkennen, was geschehen war. Das tapfere Pferd, das gezwungen worden war, das enorme Gewicht der Gefängniswärterin zu tragen, hatte zu versagen und zu lahmen begonnen. Sie fielen zurück. Ein anderer Reiter hatte sein Pferd gewendet, war zurückgaloppiert und hatte das Pferd erschossen. Es war gestürzt und hatte Octavia unter sich begraben. Der Reiter war näher herangekommen und hatte dann auch die fettleibige Frau kaltblütig erschossen, als sie darum rang, sich aufzurichten. Dann hatte er sein Pferd gewendet und war den Weg wieder hinaufgeritten, Pferd und Frau im Schlamm hinter sich dem Sterben überlassend.
Rhiannon atmete einige Male durch, denn sie war wider Willen erschüttert. Sie hatte Octavia gehasst und gefürchtet, wie sie noch niemals zuvor jemanden gehasst und gefürchtet hatte. Sie hatte eine Nacht in Octavias Obhut verbracht und hatte die Ge 19 fängniswärterin eine liebenswerte junge Frau an eine Kette hängen sehen, damit die Ratten sie auseinanderreißen sollten. Sie wusste, dass Octavia unglaublich grausamer Handlungen fähig gewesen war. Rhiannon hatte sich davor gefürchtet, ihr wieder begegnen zu müssen, und hätte erfreut und erleichtert sein müssen, sie so vorzufinden, tot auf der Straße. Stattdessen musste sie ihre Hände um die Zügel verkrampfen, damit sie nicht zitterten. Es war solch eine skrupellose, kaltherzige Tat, Pferd und Reiter einfach niederzuschießen, weil die Gruppe durch sie zu langsam vorankam. Die Dämmerung sank herab. Sie ritten behutsam voran. Rhiannons Herz pochte. Schwarzdorn spürte ihr Unbehagen und scheute ein wenig mit angelegten Ohren. Rhiannon besänftigte sie und behauptete sich. Der Nieselregen, der sie den ganzen Nachmittag drangsaliert hatte, verwandelte sich nun in Schnee. Rhiannon wagte es nicht, die Kapuze ihres Umhangs hochzuziehen, um dadurch nicht ihr Hörvermögen zu dämpfen. Sie zog den Umhang enger um ihren Hals und ritt weiter. Der Elfenblauvogel bildete in ihrer Tasche eine weiche, runde Wölbung, und gelegentlich senkte Rhiannon ihre Hand, um ihn zu tätscheln. Ein metallisches Geräusch erklang vor ihr. Schwarzdorn erstarrte mitten im Schritt. Rhiannon führte ihre Stute tiefer in die Düsterkeit unter den Bäumen und glitt dann von ihrem Rücken. Sie presste sich an die Seite der heftig atmenden Stute, spähte durch den Schnee und lauschte angestrengt. Sie hörte ein weiteres metallisches Klingen und dann einen leisen Fluch. Zwei große Reisekutschen waren seitlich der Straße unter den Schutz einiger großer, alter Bäume gelenkt worden. Die acht erschöpften Pferde, die sie den ganzen Tag den steilen, schlammigen Weg heraufgezogen hatten, wurden von einem jungen
Mann in grober, selbst gesponnener Kleidung und Ledergamaschen ausgeschirrt. Es war noch hell genug, dass Rhiannon das 20 mürrische, unrasierte Gesicht Jems erkennen konnte, einer der Stallburschen von Burg Fettercairn. Er hielt hin und wieder inne, um aus einem großen, verbeulten Flachmann aus Silber zu trinken, das so matt war, dass es fast schwarz wirkte. Jem pflockte die Pferde unter den Bäumen an und rieb sie rasch ab, bevor er ein paar karge Handvoll Heu vor ihnen ausstreute. Rhiannon presste die Lippen zusammen. Es ärgerte sie, dass die Pferde so schlecht behandelt wurden. Inzwischen streckten die Vorreiter ihre Rücken und beklagten sich über die Kälte und den Schlamm und das knochige Rückgrat ihrer Pferde. Jem murrte, kam heran und übernahm ihre Pferde. »Gib uns einen kleinen Schluck«, sagte der Leibwächter Ballard. »Du hast doch immer einen Tropfen bei dir, um die Knochen zu wärmen.« »Nehmt euren eigenen«, fauchte Jem. »Komm schon! Sei ein guter Junge«, sagte der Kutscher. »Sonst werden wir dem Laird von deinem kleinen Flachmann erzählen, und dann werden wir alle Durst leiden.« Jem murrte, nahm den mattierten Flachmann aus seiner Tasche und warf ihn den anderen zu. Sie nahmen alle einen Schluck wischten sich zufrieden den Mund und sagten: »Das Zeug ist gut.« »Ihr braucht nicht alles auszutrinken«, sagte Jem und streckte eine Hand nach der Flasche aus. Sie nahmen alle einen weiteren durstigen Schluck und reichten sie ihm dann zurück. Er wischte den Rand der Flasche mit einer Handvoll Schnee sorgfältig ab, ehe er sie wieder in die Tasche steckte. Während Jem diese Pferde ebenso flüchtig pflegte und fütterte, wie er es mit den Kutschpferden getan hatte, zündeten die anderen rauchende Fackeln an und steckten sie rund um das Lager in den Boden. Der Wind wechselte die Richtung, und die erschöpften Pferde hoben die Köpfe und schauten in Richtung der Schatten, wo Rhiannon kauerte. Sie beschwor sie laut
21 los, still zu bleiben, und kurz darauf senkten sie ihre Köpfe wieder. Einer der Männer öffnete den Kutschenschlag, und eine rundliche Frau mittleren Alters kletterte heraus, ein Schultertuch um sich geschlungen. »Erbarmen!«, rief sie. »Es schneit schon wieder? Welchen üblen Zauber haben diese bösen Hexen gegen uns heraufbeschworen? Hätte ich es nur gewusst, hätte ich meinen Umhang eingepackt und ein Paar Handschuhe und einen hübschen, warmen Schal anstatt...« »Hier draußen ist es so kalt wie eine Hexentitte«, sagte Jem verdrossen. »Könnt Ihr nicht ein Feuer für uns anzünden und uns etwas Heißes kochen, anstatt wie eine alte Henne herumzugackern?« »Hast du schon Feuerholz für mich gesammelt?«, fragte sie. »Ich kann nicht nur mit einem Fingerschnippen ein Feuer anzünden, Jem, da ich selbst keine Hexe bin.« »Gut«, knurrte er, vergrub die Hände in seinen Achselhöhlen und brach auf der Suche nach herabgefallenen Ästen und Zweigen durchs Unterholz. »Kommt und helft mir, ihr faulen Bastarde!«, rief er den anderen Männern zu, die ihm, leise murrend, widerwillig folgten. Ein älterer Mann streckte seinen Kopf aus dem Fenster der Kutsche. »Irving!«, fauchte er. »Muss ich die Stufen selbst herablassen?« Rhiannon erstarrte und zog sich tiefer in die Dunkelheit unter den Bäumen zurück. Ihr Herz raste. Sie hatte Laird Malvern nicht mehr gesehen, seit er in der Dunkelheit mit einem glänzenden Messer in der Hand über ihr gestanden hatte, in der Nacht, in der er versucht hatte, sie aus dem Kummertor-Turm zu entführen, in der Nacht vor ihrer Verhandlung wegen Connors Ermordung. Hätte sie nicht so laut geschrien, dass die Wächter herbeigelaufen kamen, wäre sie jetzt diejenige, die gefesselt und gebunden 21
in der anderen Kutsche läge, nicht die Banprionnsa Olwynne. Oder aber sie wäre tot. Er war ein gefährlicher Mann, der Laird von Burg Fettercairn, und er besaß die unheimliche Fähigkeit der Hexen, es zu spüren, wenn er beobachtet wurde. Er war einst ein Hexenlehrling gewesen, wie man ihr erzählt hatte, bis er in Ungnade gefallen war und verbannt wurde. Dann hatte er der Ver-hexerin seine Kräfte zur Verfügung gestellt, um Hexen ausfindig zu machen und sie zu den Feuern zu bringen, damit sie lebendig verbrannt wurden. Rhiannon wünschte, sie wäre nicht so nahe herangekommen, und versuchte vorzugeben, sie sei Schnee und Nebel und raschelnde Blätter. Der Laird von Fettercairn fror jedoch und war steif und hungrig und viel zu sehr um seine eigene Bequemlichkeit besorgt, um seine Sinne auf der Suche nach irgendwelchen Verfolgern in die Dunkelheit auszustrecken. Seine Dienstboten anfauchend, kletterte er aus der Kutsche und setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl, während Dedrie ein Feuer anzündete und Herbert, sein Kammerdiener, einen Pelzumhang über seine Knie und einen zweiten um seine Schultern legte. »Verdammt sei dieser Schnee«, grollte er. »Er behindert uns. Ich weiß nicht, wie lange das Schiff auf uns warten wird. Wir hätten weiterziehen sollen.« »Die Pferde werden versagen«, sagte Irving, sein Seneschall. »Wir wollen hier nicht festsitzen, so viele Meilen von allem entfernt. Wir sollten die Pferde besser ausruhen lassen und erst am Morgen weiterziehen, wenn wir sehen können, was vor uns liegt.« »Was ist mit den Opfern? Musstet Ihr sie unbedingt erneut betäuben, Dedrie? Ich möchte nicht, dass sie sterben, bevor wir den Friedhof erreichen.« »Sie haben bereits einmal zu entkommen versucht«, sagte Dedrie, »und wir haben heute Morgen fast eine Stunde damit verschwendet, sie wieder einzufangen. Die Betäubung hat sie doch den ganzen Tag ruhig gehalten, oder?« 3i
»Gebt ihnen besser etwas von Eurer Suppe zu essen«, sagte der Laird herablassend. »Und lasst sie ein wenig auf und ab laufen, bevor wir sie für die Nacht einsperren.« »Ja, Mylaird«, sagte Dedrie und trat zu der zweiten Kutsche hinüber, welche die ganze Zeit still und düster dagestanden hatte. Sie rief zwei der Männer zu Hilfe, und sie zogen ihre Schwerter und hielten sie in Bereitschaft, während Dedrie vorsichtig den Kutschenschlag entriegelte und ihn öffnete. Rhiannon führte Schwarzdorn leise ein gutes Stück die Straße hinab und stieg wieder auf. Sie drängte die Stute von dem Lagerplatz fort zum Trab und dann in die Luft. Der frostige Wind brannte in ihren Augen, und sie beugte sich tief über den Hals der Stute, während sie kehrtmachte und über den Wald hinweg zurückflog. Sie hatte noch immer keinen richtigen Plan, aber sie erkannte, dass sie eine Gelegenheit ergreifen musste, wenn sie sich böte. Pferd und Reiterin schwebten über dem vom Feuer beleuchteten Lager, das Geräusch von Schwarzdorns Schwingen wurde durch das beständige Rascheln des Windes in den Bäumen übertönt. Unter ihnen beugte sich Dedrie gerade in die Kutsche, und Rhiannon hörte, wie sie einen Schreckensschrei ausstieß. Dann steckten die beiden Wächter ihre Schwerter in die Scheiden und kletterten in die Kutsche. Rhiannon beobachtete, wie sie einen kleinen, schlaffen Körper in einem Nachthemd heraustrugen. Beim Anblick von Rodens zu einer Seite herabhängendem Haar verkrampfte sich Rhiannons Magen entsetzt. Dunkle Wanderer, nein!, dachte sie. Während der Wächter den kleinen Jungen neben das Feuer legte, hob der andere Wächter einen weiteren Körper heraus. Es war ein großer Rotschopf in einem hinreißenden silberfarbenen Satingewand. Ein Arm hing herab, und ihr Kopf rollte zurück. Sie wurde ebenfalls ans Feuer gelegt, und Dedrie kniete sich jäh erschreckt neben sie, die Finger am Puls ihres Halses. 23 »Ihr solltet sie besser nicht getötet haben«, sagte der Laird drohend. »Wo werden wir rechtzeitig ein anderes Opfer finden?
Wenn sie tot ist, Dedrie, werde ich Euch stattdessen die Kehle durchschneiden!« »Sie ist nicht tot«, sagte Dedrie, wandte sich um und durchsuchte ihren Korb, während die Wächter einen weiteren Körper aus der Kutsche trugen. »Vielleicht habe ich ihr zu viel von dem Mohn- und Wolfsbeerensirup gegeben. Obwohl ich ihnen nur ein wenig verabreicht habe...« Unter dem Gewicht des Prionnsa Owein schwankend - ein großer, muskulöser junger Mann mit dem zusätzlichen Gewicht zweier befiederter Schwingen, die so lang waren, wie er groß war -, traten die Wächter ans Feuer. In diesem Moment rollte sich die Banprionnsa Olwynne herum und versetzte Dedrie einen kräftigen Tritt in die Kehrseite, der sie aufs Gesicht stürzen ließ. »Lauf, Roden!«, schrie Olwynne und ergriff aus dem Stapel Feuerholz einen Stock, mit dem sie dem Laird vor dem Gesicht herumfuchtelte, als er sich erheben wollte. Der kleine Junge war aufgesprungen und rannte sofort los. Die Wächter schrien, ließen den Prionnsa fallen und versuchten verzweifelt, Roden einzufangen, als er vorüberschoss. Die Schwingen und Arme des Prionnsa waren fest an seinen Körper gebunden, aber seine Beine waren frei. Es gelang ihm, einem der Wächter die Beine unter dem Körper fortzutreten, so dass er mit lautem Schlag auf den Boden fiel. Der andere erwischte den Saum von Rodens Nachthemd und riss ihn zurück, aber Olwynne schlug ihm mit dem Stock hart auf den Kopf, so dass er Roden mit einem Schmerzensschrei losließ, beide Hände ruckartig angehoben, um sich zu schützen. Irving schlug der Banprionnsa fest ins Gesicht, und sie sank mit einem Schrei auf die Knie. Genau in dem Moment kehrten die übrigen Männer aus dem Wald zurück und ließen ihre Bün 24 del Feuerholz fallen. Einer lief los, um den kleinen Jungen abzufangen, aber Roden wich ihm aus und lief weiter. Eine Minute lang vollzog sich ein lächerliches Versteckspiel, während er dem Kreis der Männer auswich und sich zwischen ihnen hindurchdrängte, aber dann schlossen sich die suchenden Hände
langsam um ihn. Gerade als sie Roden packen wollten, fegte die schwarze, geflügelte Stute aus dem Himmel heran, und Rhiannon beugte sich herab, ergriff Roden und zog ihn hoch und in ihre Arme. Schwarzdorn schlug mit ihren großen Schwingen und flog davon. »Schießt sie herunter!«, schrie der Laird, außer sich vor Zorn. »Narren! Idioten! Schießt sie herunter!« Die Männer eilten zu ihren Bogen und Pfeilen. Irving zog seinen Dolch und hätte ihn Schwarzdorn nachgeworfen, wenn Olwynne nicht mit ihrem hochhackigen silbernen Schuh ausgetreten und ihn ihm so fest ins Schienbein gebohrt hätte, dass er aufschrie und zurückzuckte und das Messer harmlos in den Schnee flog. Er wandte sich um, schlug ihr erneut ins Gesicht und stieß sie wieder zu Boden. Es schien sie nicht zu kümmern, denn sie lachte und weinte gleichzeitig, und Owein jubelte und rief Rhiannons Namen. Es war das Letzte, was sie hörte, als sie und Roden in den dunklen, sturmumtosten Himmel auf und davon flogen. DIE STERNTRÄUMERIN Bronwen die Schöne, die neue Banrigh von Eileanan, betrat leise das Schlafzimmer. »Wie geht es ihr?«, flüsterte sie der Heilerin zu. »Die Sternträumerin ist noch sehr schwach, Euer Majestät, aber ihr fehlt nichts, was Zeit und Ruhe nicht heilen könnten«, erwiderte die Frau leise. Sie hieß Mirabelle und war eine hagere, 25 pockennarbige Frau mittleren Alters; ihr ergrauendes Haar war an der Rückseite ihres Kopfes ordentlich hochgesteckt, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Wie ihre Patientin rang auch Mirabelle mit den Nachwirkungen des mit einem Betäubungsmittel versetzten Weins, den sie in der Mittsommernacht getrunken hatte. Der Wein war mit Mohnsirup, Wolfsbeere und pulverisierter Baldrianwurzel versetzt gewesen, eine toxische Mischung, die fast augenblicklich bewusstlos machte. »Darf ich jetzt mit ihr sprechen?«, fragte Bronwen. »Ja, Euer Majestät. Sie ist jetzt wach und bei klarem Bewusstsein und macht sich große Sorgen um ihre Tochter.«
Bronwen nickte und raffte mit einer Hand die dunklen Falten ihres schwarzen Satingewandes, während sie der Heilerin um einen Wandschirm herum zum Bett der Sternträumerin folgte. Sie fühlte sich in Mirabelles Gegenwart stets eher unbehaglich, denn sie erinnerte sich daran, wie sehr sie und ihre Freunde die Heilerin gEà rgert hatten, als sie eine ihrer Lehrerinnen an der Tneurgia gewesen war. Bronwen dachte an einen speziellen Tag, als sie dem Impuls nachgegeben hatte, Mirabelle wegen ihres pockennarbigen Gesichts zu verspotten, nur um die Klasse zum Lachen zu bringen. Mirabelle schien es nichts auszumachen, da sie die Spöttelei dazu nutzte, lächelnd auf die Bedeutung der Sorgfalt hinzuweisen, wenn man sich um hochinfektiöse Krankheiten kümmerte, aber Bronwen war aufgrund ihrer Grausamkeit eher beschämt und in der Folge stets nett und freundlich zu Mirabelle gewesen, wenn sie sich begegneten. Wolkenschatten lag an einen Berg von Kissen gelehnt, während ihr schneeweißes Haar sich über die grüne Satin-Bettwäsche ergoss. Sie wirkte zerbrechlicher und ätherischer denn je. Ihre Haut war so weiß, dass sie blutleer wirkte, und es lagen violette Schatten unter ihren seltsamen, farblosen Augen. Bronwen beugte sich tief herab. Ich grüße Euch, Ehrenwerte, summte sie tief in ihrer Kehle. 26 Ich grüße dich, erwiderte die Sternträumerin ihr Summen. Ihr wisst, dass ich Eure Tochter sehr mochte, dachte Bronwen. Ich fühle mich durch ihren Verlust ebenso erschüttert wie Ihr. Mein Ehemann wird auch vermisst, und unser Land wurde ins Chaos gestürzt. Könnt Ihr mir helfen, sie zu finden? Die Sternträumerin streckte ihre langen Finger mit den vier Gelenken aus und legte sie zwischen Bronwens Augenbrauen. Ich kann meine Tochter nicht sehen, sagte die Sternträumerin. Ihre Geiststimme klang sehr gequält. Ich kann sie nicht spüren. Ist sie... sind sie... tot? Ich weiß es nicht. Die Hand der Celestine sank herab. Bronwen war verwirrt. Die Geistfähigkeit der Celestine war legendär. Es hieß, sie könnten ins Herz jedes Mannes und jeder
Frau blicken und lesen, was darin geschrieben stand, und könnten ihre Sinne weit über das Land aussenden. Wir glauben, dass sie die Alten Wege bereist haben. Wir fanden Donncans Schärpe am Eingang zum Labyrinth sowie Beweise dafür, dass Johanna tausend Jahre zurückreisen will, bis zur Zeit des Ersten Hexensabbats. Die Celestine schloss die Augen. Zu Bronwens Bestürzung liefen Tränen unter ihren geschlossenen Lidern hervor. Sie hatte noch nie zuvor eine Celestine weinen sehen. Sie hatte nicht gedacht, dass sie weinen könnten, ganz zu schweigen davon, dass es gewöhnliche Tränen aus Wasser wie bei einem Menschen wären. Verzeiht mir, Ehrenwerte, aber ist das wirklich möglich? Kann man auf den Alten Wegen so weit in der Zeit zurückreisen ? So weit, und noch weiter, erklang als Antwort. Es ist eine gefährliche Reise und uns verboten. Selbst als unsere Art von den Soldaten deiner Mutter zur Strecke gebracht und lebendig verbrannt wurde, suchten wir nicht in anderen Zeiten Zuflucht, wie einige von uns es vorschlugen. Das zu tun, hätte einen Bruch eines der heiligsten Tabus unserer Art bedeutet. Die Zeit zu beugen, bedeutet, die Ge 27 schichte umzugestalten, und die Geschichte umzugestalten, bedeutet, die Welt umzugestalten. Ein langes Schweigen entstand. Kannte Donnerlilie das Geheimnis des Zurückreisens in der Zeit?, fragte Bronwen. Die Celestine hob eine Hand und wischte sich die Tränen fort. Donnerlilie hat die Baumsprache und die Sternensprache gelernt, wie jedes Kind der Sternträumer es muss, sagte sie sehr ruhig. Dies sind die heiligsten Geheimnisse unserer Art und dürfen niemals jemandem offenbart werden, der ihr nicht angehört. Selbst der Mann, den sie dem Sommerbaum opfern wird, darf nicht all die Lieder kennen. Also weiß sie, wie man es tut? Würde sie es tun?, fragte Bronwen.
Die Sternträumerin öffnete die Augen und sah unmittelbar in Bronwens. Es war, als würde Bronwen mit einer hellen Nadel gestochen. Sie konnte diesem Blick absolut nicht standhalten, trotz all ihrer Würde und Autorität als Banrigh ganz Eilanans und der Fernen Inseln. Sie senkte den Blick, während Röte ihre Wangen überzog. Ich hätte es nicht gedacht, erklang die Antwort. Aber wenn ein Messer an die Kehle des Geflügelten gehalten wurde ... Vielleicht würde sie sich lieber den Gefahren der Alten Wege stellen und tun, was von ihr verlangt würde, als die Vollkommenheit des Sternenherzens mit dem Blut eines ermordeten Königs zu besudeln. Ich weiß es nicht. Ich war zu lange fern von meiner Tochter. Ich weiß nicht mehr, was in ihrem Herzen vorgeht. Sie hat Geheimnisse in sich verborgen und mir ihr Auge verschlossen, so dass ich diese Geheimnisse nicht mehr lesen kann. Die Celestine klang unsagbar müde und traurig. Bronwen spürte, dass ihre eigenen Augen jäh vor Mitgefühl brannten, sowie von einem Schuldgefühl, das, wie sie sich sagte, vollkommen irrational war. Es ist nicht meine Schuld, dass wir Menschen Donnerlilie mit der Zeit so faszinierten, sagte sie sich. Es war Eure 28 Entscheidung, Eure Tochter zur Jheurgia zu schicken, um unsere Art zu studieren. Ihr könnt ihr nicht vorwerfen, dass sie ihre Freiheit genutzt und zu trinken und zu tanzen und zu tändeln gelernt hat. Ihr könnt es mir nicht vorwerfen. Von dem kristallklaren Blick der Celestine durchbohrt, merkte sie, dass sie diese Version der Geschichte nicht aufrechterhalten konnte. Sie regte sich, wobei die Seide ihrer schweren Röcke raschelte, und sagte stirnrunzelnd: Wir müssen ihnen folgen, wir müssen sie zurückholen. Werdet Ihr uns den Weg weisen? Ein langes Schweigen entstand, während die Sternträumerin keinen Muskel bewegte. Sie blinzelte nicht, sie senkte den Blick nicht, sie schien kaum zu atmen.
Ich weiß, es ist verboten, fügte Bronwen verzweifelt hinzu, aber wenn wir ihnen nicht folgen, wird Johanna Donncan töten und sein lebensblut dazu benutzen, einen grausamen und bösen Zauberer wiederzuerwecken. Habt Ihr nicht die Geschichten überBrann den Raben gehört? Wie er nach Medwenna gierte, der jungen Frau seines eigenen Sohnes, und sie für sich stahl? Wie er sie ertränkte, als sie zu entkommen versuchte, ihren Kopf abschnitt und ihn seinem Sohn auf einem Silbertablett schicken ließ? Ihr sagt, es sei verboten, in der Zeit zurückzureisen, weil es die Geschichte umgestalten könnte. Stellt Euch nur eine Welt vor, in der solch ein Mensch eine zweite Chance bekäme! Was würde mit uns allen geschehen? Würde die Welt, die wir kennen, nun überhaupt bestehen? Würden Ihr und ich überhaupt existieren? Was würde mit uns geschehen? Würden wir uns einfach in Staub verwandeln und davon geweht werden? Oder wären wir das, zu was unsere Geschichte uns gemacht hätte, eine düsterere, grausamere, blutigere Geschichte als diejenige, die wir hatten, weilBrann starb? Oder würde Brann das Leben und die Welt, die er kannte, verschmähen und Donnerlilie zwingen, ihn hierher zurückzubringen, in unsere Zeit, in eine Zeit, in der die Macht der Hexen noch immer verbesserungsbedürftig ist und es nur wenige Zauberergibt, die ihm standhalten könnten? 29 Was würde das für uns bedeuten ? Für mich ? Zur Witwe geworden, bevor ich überhaupt eine Ehefrau war, und Banrigh einer verrückt gewordenen Welt? Bronwen merkte, dass sie weinte. Sie hielt inne und tat einen tiefen, zitternden Atemzug, während sie die Handballen auf ihre Augen drückte. Die Celestine blieb noch immer still und reglos. Bitte, sagte Bronwen. Ihr seid die Einzige. Die einzige übrig gebliebene Sternträumerin sagte Wolkenschatten, sehr leise. Ja..., erwiderte Bronwen traurig. Nun, wo Donnerlilie verloren ist...
Was wäre das größere Unrecht - die Gesetze meiner Art einzuhalten, das Tabu, die Zeit zu beugen, zu respektieren und so zuzulassen, dass größeres Übel geschieht, oder die strengsten und geehrtesten Gesetze wissentlich zu brechen und zu versuchen, üble Taten abzuwenden? Daneben zu stehen und zuzulassen, dass Donncan ermordet wird, damit irgendein schrecklicher Mann wiederleben kann, wäre das weitaus größere Unrecht!, sagte Bronwen heftig. Wie könnt Ihr solch eine Frage überhaupt stellen? Und meine Tochter... Ja, Donnerlilie! Was würde Brann ihr antun? Ich muss darüber nachdenken... Nein! Es ist keine Zeit! Es sind bereits zwei Tage und zwei Nächte vergangen, seit mein Ehemann entführt wurde. Tantchen Beau sagt, die beste Zeit, um die Alten Wege zu bereisen, sei die Dämmerung oder der Sonnenuntergang. Es wird in wenigen Stunden dämmerig. Bitte. Wir könnten bereits zu spät kommen. Erneut traten Wolkenschatten unerwartet Tränen in die Augen. Donnerlilie, Donnerlilie, murmelte sie. Oh, meine wunderschöne Tochter, wo bist du? Werdet Ihr aufbrechen und sie zu finden versuchen?, flehte Bronwen. 30 Die Celestine nickte. Ja. Ich muss es tun. Ruf meine Leute zusammen. Wir müssen uns bereitmachen. Ich danke Euch, ich danke Euch, sprudelte es aus Bronwen hervor. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Euch zu helfen. Sagt mir, was getan werden muss. Ich habe alles da, was ich brauche, sagte die Sternträumerin und hob ihre Hand, um zuerst ihr Herz, dann den Puls an ihrer Kehle und dann ihr drittes Auge zu berühren, das sich unter ihrem Finger öffnete, so dunkel und unergründlich wie ein Brunnen. Der kleine Junge zitterte. Rhiannon zog ihn näher an sich und schlang ihren Umhang um ihn. »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
»Rhiannon, Rhiannon«, weinte er und umklammerte mit einer eiskalten kleinen Hand ihr Handgelenk »Du bist jetzt bei mir, du bist in Sicherheit«, flüsterte sie. Er erschauderte, und sie drückte ihn fester an sich, erschüttert darüber, wie kalt er war. »Was hast du dir dabei gedacht, nur mit einem Nachthemd bekleidet im Schnee davonzulaufen?«, ermahnte sie ihn. »Sie wollten uns töten«, flüsterte er. »Nun, du bist jetzt bei mir, du bist in Sicherheit, niemand wird dich töten.« »Was ist mit Owein ... Olwynne?« »Ich werde dich in Sicherheit bringen, und dann werde ich zurückkehren und sie holen«, versprach sie. Er seufzte und lehnte sich an sie zurück, und bald beruhigte sich sein Atem. Sie blickte zu ihm hinab und erkannte, dass er schlief. Rhiannon flog in der eisigen Dunkelheit weiter. Nichts außer ihrem inneren Kompass leitete sie. Die Banrigh hatte Soldaten ausgesandt, um den Laird von Fettercairn zu verfolgen, und Rhiannon vermutete, dass sie irgendwo auf der Straße hinter 31 ihr waren. Sie beugte sich über Schwarzdorns Hals und strengte ihre Augen an, um durch die Dunkelheit etwas zu sehen, folgte der schmalen Linie Weiß, von der sie hoffte, dass es die schneebedeckte Straße wäre. Nach ungefähr einer Stunde sah sie das rote Auge eines Lagerfeuers durch die Reihen dunkler Bäume leuchten. Rhiannon ging kein Risiko ein und ließ die Stute daher auf einem Felsvorsprung ein gutes Stück oberhalb landen. Es war zu schwierig, mit dem schlafenden Kind in den Armen abzusteigen, so dass sie einfach nur ruhig dort sitzen blieb und die Szenerie beobachtete, während Schwarzdorn den Kopf hängen ließ und ihre Flanken sich vor Erschöpfung heftig hoben und senkten. Das Lager unter ihr war ordentlich errichtet. Die Pferde trugen schwere Decken auf dem Rücken, und jedes hatte einen Futtersack mit warmer Maische umgebunden. Sie waren an ein einziges Seil gebunden, das schnell gelöst werden könnte, wenn es nötig wäre. Eine Feuergrube war gegraben und mit Steinen um-
geben worden, um das Feuer vor dem Schnee zu schützen. Darüber hing ein kleiner Topf. Ein Mann rührte mit einer langen Kelle darin. Weitere Männer saßen auf einem umgestürzten Baumstamm, der nahe an die Flammen gezogen worden war. Einige aßen aus kleinen Schalen, andere zogen gerade ihre Stiefel aus und stellten sie zum Trocknen in die Nähe des Feuers, wobei sie sie zuerst mit überzähligen Socken ausstopften, damit sie die Form bewahrten. Wächter waren aufgestellt worden. Rhiannon hätte sie nicht gesehen, wenn sie nicht gewartet und so lange beobachtet hätte, denn sie saßen sehr still, trotz der bitteren Kälte, und ihre Umhänge waren grau wie die Nacht. Rhiannon näherte sich dennoch nicht an. Sie wagte es nicht, ein Risiko einzugehen. Erst als einer der Männer, die um das Feuer saßen, eine Hand ausstreckte und einen Violakasten aus einem Bündel Decken zog, ihn öffnete und das Instrument darinnen so liebevoll über 32 prüfte, als wäre es ein Kind, war sich Rhiannon sicher, dass sie, wenn auch nicht wirklich Freunde, so doch wenigstens Verbündete gefunden hatte. Sie wusste, dass Jay der Fiedler seine Viola überallhin mitnahm. Rhiannon seufzte leicht und zog Roden näher an sich. Sie glitt vorsichtig vom Rücken der Stute und bahnte sich, Schwarzdorn in der Sicherheit der Dunkelheit zurücklassend, ihren Weg den Hang hinab aufs Lager zu. »Halt! Wer ist da!«, erklang der Ruf. »Ich bin es, Rhiannon von Dubhslain, im Auftrag der Banrigh«, antwortete Rhiannon. Zu ihrer Überraschung war ihre Stimme nicht mehr als ein Krächzen. Der Wächter kam mit gezogenem Schwert auf sie zu. »Vorsichtig«, sagte sie. »Ich habe den Jungen hier.« »Den Jungen?«, fragte der Wächter ungläubig, ergriff ihren Arm und zog sie grob aufs Feuer zu, damit er sie deutlicher sehen konnte. Sie schüttelte ihn ab. »Schsch! Er schläft. Weckt ihn nicht.« Er konnte die bleiche Gestalt des Jungen in ihren Armen erkennen. »Nicht der Viscount von Laverock!«, rief er.
»Doch«, sagte Rhiannon verärgert. Sie war sehr müde und fror, und ihre Beine schienen ihr nicht mehr richtig zu gehorchen. Sofort änderte sich die Haltung des Wächters. Er legte einen Arm um sie und führte sie zum Feuer, während er Hilfe herbeirief. Weitere Männer liefen heran. Rhiannon wurde in die Wärme der Flammen gezogen, und dann kniete sich eine große Frau mit einem langen, unordentlichen Zopf vor sie hin in den Schnee und nahm ihr Roden sanft ab. Rhiannon überließ ihn ihr. »Seht ihn euch an, den armen kleinen Jungen, er ist blau vor Kälte«, sagte die Frau und ergriff eine warme Decke, um ihn darin einzuwickeln. Eine weitere Decke wurde um Rhiannon geschlungen, und dann gab man ihr einen Becher heiße Suppe in die Hände. Sie trank sie wie betäubt schlückchenweise und beobachtete, wie die Frau Rodens bloße Hände und Füße rieb und 33 nach Wärmflaschen rief, die gebracht und um ihn gelegt werden sollten. Rhiannon war es eine Weile zufrieden, nur dazusitzen und ihre Suppe zu trinken, während sie zusah, wie man sich geschickt um das schlafende Kind kümmerte, aber sobald ihr Becher geleert war, dachte sie an Schwarzdorn. Sie wollte davonschlüpfen und sich allein um ihre Stute kümmern, aber in dem Moment, in dem sie ihre Decke beiseitelegte und sich erhob, wurden zischend drei Schwerter gezogen und auf sie gerichtet. »Ich bitte Euch zu bleiben«, sagte die Frau, »und uns zu erzählen, was Ihr wisst.« Ihre Stimme klang ruhig, und sie sprach beinahe im Plauderton, aber der Ausdruck in ihren haselnussbraun-grünen Augen wirkte ebenso scharf wie die Klingen an Rhiannons Brust. Auf ihrer Schulter kauerte eine kleine, schwarze Katze mit langen Pinselohren und türkisfarbenen Augen. Sie fauchte und zeigte dabei sehr scharfe, spitze Zähne. »Ich muss mich um meine Stute kümmern«, sagte Rhiannon. Jay der Fiedler und die Frau - die nur die Zauberin sein konnte, die Finn die Katze genannt wurde - wechselten einen raschen Blick. »Ihr seid das Mädchen, das die geflügelte Stute fliegt,
nicht wahr?«, fragte Finn. Als Rhiannon nickte, fuhr sie fort: »Diejenige, die Connor getötet hat?« Rhiannon nickte erschöpft erneut. »Meine Leute werden sich um die Stute kümmern. Ihr werdet hierbleiben.« »Meine Stute wird diese Soldaten nicht an sich heranlassen«, erklärte Rhiannon mit erhobenem Kinn. »Außerdem habt Ihr kein Recht, mir zu sagen, ob ich bleiben oder gehen soll. Ich fliege im Auftrag der Banrigh.« »Tatsächlich?«, fragte Jay ruhig, und erneut erfolgte ein rascher Blickwechsel zwischen ihm und der Zauberin. Sein Gesicht zeigte nur freundliche Bedachtheit, eine Art offene Acht 34 samkeit, als warte er auf ein Zeichen von ihr, auf irgendeine plötzliche Bewegung. Finns Miene war wachsamer. »Ja, das tue ich«, antwortete Rhiannon aufgebracht. »Sie hat mich ausgeschickt, um Roden zu retten, und das hab ich getan.« »Sie hat Euch geschickt? Obwohl sie wusste, dass ich ihm auf der Spur war?« Finn klang beleidigt. »Ja, das hat sie. Schwarzdorn und ich, wir sind schnell. Wir fliegen hoch über die Welt hinweg, während Ihr Euch unten auf der Erde voran mühen müsst. Sie wusste, dass ich ihn retten würde, und das hab ich getan.« Rhiannon war sich der Tatsache bewusst, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, ihren Ton zu mäßigen, aber sie fror und war müde, und es gefiel ihr nicht, dass Schwerter gegen sie gerichtet wurden, wo sie doch gerade eine tapfere und kluge Handlung vollbracht hatte. Rhiannon erkannte, dass die Zauberin guten Grund hatte, sie nicht zu mögen. Der Mann, den sie getötet hatte, war für Jay und Finn immerhin ein lieber Freund aus der Kindheit gewesen. Sie hatten beide ihre Verhandlung wegen seiner Ermordung durchgestanden, die Hände um die goldenen Medaillen verkrampft, die sie trugen, das Symbol ihrer Mitgliedschaft in der Liga der Heilenden Hand, einer Horde Bettlerkinder, die sich zusammengeschlossen hatten, um Lachlan dem Geflügelten bei der Wiedererlangung seines Throns zu helfen. Nur vier Mitglieder der
ursprünglichen Horde waren übrig geblieben - Jay und Finn, nun verheiratet und im Dienste des Hexensabbats unterwegs, Hauptmann Dillon von der Leibwache des Righ und Johanna, welche die leitende Heilerin gewesen war, bis sie den Righ an den Tod verraten und seinen Sohn und Erben, Donncan, entführt hatte. Johanna hatte gewollt, dass Rhiannon für Connors Tod hängen sollte. Die Nachricht von Lachlans Plan, Rhiannon zu begnadigen, hatte sie dazu getrieben, seinen Mördern zu helfen. Finn und Jay mussten sie hassen. Sie wollten sie gewiss hängen sehen. Rhiannon wollte nicht in ihrer Nähe sein. Jeder Muskel 35 ihres Körpers war vor nervöser Anspannung starr. Hätte nicht die Notwendigkeit bestanden, Roden so bald wie möglich in Sicherheit zu bringen, hätte sie sich ihnen niemals genähert. Sie wünschte, sie hätte ihren Freund nicht töten müssen. Es tat ihr leid, dass Connors Tod so viel Kummer verursacht hatte. Aber so war das Leben. Menschen wurden geboren, Menschen starben. Manchmal starben sie vorzeitig. Er war ein Soldat im Dienste des Righ gewesen und musste die Risiken eines Rittes durch die Wildnis gekannt haben. Sie ging jetzt, auf der Jagd nach dem Laird von Fettercairn, dasselbe Risiko ein. Finn runzelte die Stirn, die Hände in die Hüften gestemmt. Rhiannon erwiderte ihren finsteren Blick. Die kleine, schwarze Katze auf Finns Schulter fauchte zornig. Rhiannon erwiderte das Fauchen. Finns Gesicht entspannte sich unerwarteterweise, und sie hob eine Hand, um die Elfenkatze zu beruhigen. »Also hat Ihre Majestät Euch gewaltsam angeworben, oder? Habt Ihr Papiere, die das beweisen?« »In meiner Satteltasche«, antwortete Rhiannon. »Bei meiner Stute.« »Praktisch.« »Wo sonst sollte ich sie aufbewahren?«, fragte Rhiannon. »Ich musste Roden tragen. Ich konnte in der Stockfinsternis nicht in
meinen Taschen nach einem Stück Papier suchen. Wenn Ihr wollt, werde ich es Euch zeigen, wenn Schwarzdorn hier ist.« »Woher soll ich wissen, dass Ihr nicht einfach wieder in die Nacht davonfliegen werdet?«, wollte Finn wissen. »Warum sollte ich das tun?«, erwiderte Rhiannon. »Ihr habt hier ein Feuer, Decken und heiße Suppe. Ich friere und habe Hunger und bin müde. Außerdem, was würde es Euch kümmern, wenn ich es täte? Ich bin nicht Eure Gefangene. Ihr habt kein Recht, mir zu sagen, ob ich gehen oder bleiben soll.« »Ich habe keinen Grund, Euch zu vertrauen«, sagte Finn kalt. 36 Rhiannon knirschte mit den Zähnen. »Ich bin diejenige, die Roden vor dem wahnsinnigen Laird gerettet hat, erinnert Ihr Euch?« »Also habt Ihr ihn Laird Malvern entrissen?« Die Stimme der Zauberin war voller Misstrauen. »Wie?« »Ich werde Euch alles erzählen, wenn ich nach meinem Pferd gesehen habe.« Rhiannon war unbeugsam. Einen Moment herrschte Schweigen, und Finn schaute zu ihrem Ehemann. Jay nickte. Die Soldaten senkten ihre Schwerter. »Es ist stockfinster dort draußen, und ein stürmischer Wind weht. Lasst mich mit Euch gehen, um sicherzustellen, dass Ihr Euch in dem Sturm nicht verirrt«, sagte Jay. »Nicht nötig«, sagte Rhiannon kurz angebunden. »Schwarzdorn wird zu mir kommen. Solange Eure Soldaten zurücktreten und ihre Waffen gesenkt halten. Sie mag keine Soldaten.« An ihrem Tonfall war eindeutig zu erkennen, dass sie die Empfindungen ihres Pferdes teilte. Jay nickte und vollführte eine rasche Geste in Richtung der Soldaten, die sich daraufhin alle zurückzogen. Rhiannon rief lautlos den Namen ihrer Stute, mit nur einer leichten Veränderung ihrer Miene, an der man erkannte, was sie tat. Innerhalb weniger Augenblicke schwebte das schwarze, geflügelte Pferd über ihnen in der Dunkelheit heran, wobei seine mächtigen Schwingen Schnee aufwirbelten. Schwarzdorn hatte die Ohren
angelegt, und ihre scharfen Hörner waren gesenkt. Sie stieg auf die Hinterhand und wieherte herausfordernd. Rhiannon beruhigte sie schweigend, und die Stute senkte die Vorderhufe, presste sich eng an Rhiannons Seite und warf mit verdrehten Augäpfeln und zurückgezogenen Lippen einen Seitenblick auf die Soldaten. Rhiannon streichelte ihren feuchten Hals. Schwarzdorns Rücken war an den Stellen kalt, wo der Schweiß gefroren war, und sie zitterte. Rhiannon wurde von Schuldgefühlen gepackt. Schwarzdorn war an diesem Tag weit geflogen. Sie hätte sie niemals in diesem scheußlichen Wind ste 37 hen lassen dürfen, so verschwitzt und müde, wie sie war. Rhiannon legte ihr mit klappernden Zähnen und tauben Gliedern eilig ihre eigene Decke über und begann, sie mit einer Bürste abzureiben, die sie aus ihrer Tasche nahm. Jay brachte ihr einige schwere Decken, die sie der Stute überwarf, und einer der Soldaten bereitete ein wenig warme Maische für sie. Erst als Schwarzdorn es so warm und bequem hatte, wie es mitten im Schnee neben der Straße möglich war, wandte Rhiannon ihre Aufmerksamkeit wieder den Übrigen im Lager zu. Sie sah, dass Roden in einem kleinen Zelt, das aus einer über einen Pfosten geschlungenen Tuchleinwand gemachten war, zu Bett gebracht worden war. Er war in Decken gehüllt, und ein Schlauch heißer Wein lag zu seinen Füßen sowie ein weiterer an seinem Rücken. Er schlief noch immer fest. Die Soldaten hatten entweder ihre Wachposten wieder eingenommen oder machten sich zum Schlafen bereit. Einer schürte das Feuer für die Nacht, und ein weiterer bereitete Glühwein für Finn, Jay und Rhiannon zu. Rhiannon nahm ihn dankbar an, wärmte ihre tauben Hände an dem Becher und genoss das Aroma der Gewürze. Dann wurde ihr noch eine Suppe gebracht sowie ein wenig hartes schwarzes Brot, das sie erst essen konnte, nachdem sie es in ihre Suppenschale getunkt hatte. Sie brach ein Stück ab, zerkrümelte es in der Hand und lockte damit ein verschlafenes Blauchen aus ihrer Tasche, damit es fressen konnte. Beim Anblick des Elfenblauvogels sprang die Elfenkatze
von Finns Schoß und schlich voran, dicht an den Boden gedrückt, eine Pfote erhoben. Rhiannon barg den Elfenblauvogel erschreckt wieder in ihrer Tasche und behielt die Elfenkatze genau im Auge, während diese auf sie zuschlich, ihre türkisfarbenen Augen verengt, der Schwanz peitschend. »Nein, Goblin«, sagte Finn. »Lass ihn in Ruhe.« Goblin fauchte als Antwort nur und setzte sich dann ans Feuer, den Blick auf Rhiannons Tasche fixiert. 38 Finn und Jay schwiegen, während Rhiannon ausgehungert aß und trank. Als sie schließlich fertig war und der Soldat ihre Schale genommen und in einem Tiegel mit geschmolzenem Schnee abgewaschen hatte, lehnte sich Rhiannon zurück und erwiderte die Blicke der beiden, die sie so neugierig betrachtet hatten, während sie aß. Rhiannon hatte bei der Verhandlung kaum auf sie geachtet. All ihre Aufmerksamkeit hatte den gegen sie aufgeführten Zeugen gegolten, und den Richtern, die sie verurteilt hatten. Nun betrachtete sie sie mit offener Neugier. Finn war groß und geschmeidig, mit wirrem braunem Haar, welches das Rot des Feuerscheins einfing. Die Elfenkatze war auf ihren Schoß stolziert und knetete nun mit ihren Krallen Finns Beine. Finn streichelte sie wie abwesend, den Kopf gebeugt und auf die andere Hand gestützt. Sie wirkte müde. Jay war nicht viel größer als Finn und schlank, mit dunklem Haar, dunklen Augen und olivfarbener Haut. Obwohl sein Haar, wie bei den meisten Hexern, lang war, hatte er es ordentlich zu einem Zopf zurückgebunden, und sein Bart war gestutzt. Sowohl Finn als auch Jay trugen die Kleidung eines Soldaten - einen gepolsterten Lederbrustharnisch und Gamaschen sowie einen dicken grauen Umhang. Rhiannon sah, dass diese Umhänge, wie auch ihr eigener, innen blau waren, und wunderte sich darüber, dass diese Hexen die Uniform eines Yeoman der Garde trugen, der persönlichen Leibwache des Herrschers. »Also erzählt mir, Rhiannon«, begann Jay. »Als ich Euren Namen das letzte Mal hörte, wart Ihr eine Gefangene im Kummertor-Turm. Was tut Ihr hier in den Weißlockenbergen?«
»Die Banrigh hat mich geschickt, Roden zurückzuholen, und den Prionnsa und die Banprionnsa«, sagte Rhiannon. »Iseult hat Euch geschickt?«, begann Jay, aber Rhiannon unterbrach ihn. »Nicht die alte Banrigh. Die Banrigh Bronwen. Ich hab ein Schriftstück von ihr bei mir.« 39 Als Jay sprach, konnte sie das Lächeln in seiner Stimme hören. »Arme Iseult! Sie ist nicht so alt. Erst ungefähr vierzig. Aber für ein junges Mädchen wie Euch ist das vermutlich ... also war es Bronwen, die Euch geschickt hat?« »Ja.« »Vermutlich hat die Banrigh erkannt, dass es sinnvoll ist, den Laird von Fettercairn von einer Thigearna verfolgen zu lassen. Wir haben ihre Spur gewiss verloren. Ihre Pläne waren sehr ausgefeilt.« »Ja«, wiederholte Rhiannon. Sie war noch immer auf der Hut vor dem Fiedler, aber seine sanfte Stimme und sein freundliches Verhalten trugen viel dazu bei, sie zu beruhigen. »Wir sind ihnen auf der Spur«, sagte Finn verteidigend. »Wir kommen ihnen ständig näher.« »Also sagt uns, wie kam es, dass Ihr ihnen Roden entringen konntet?«, fragte Jay. Rhiannon erklärte es ihm kurz. Als sie geendet hatte, konnte sie kaum ihr Gähnen unterdrücken, und sie erkannte, dass Finn ebenfalls so stark gähnte, dass ihr Kiefer knackte. »Das nächste Mal wird es nicht so einfach sein«, sagte Jay. »Nein«, stimmte Rhiannon ihm zu. »Sie werden den Himmel jetzt beobachten.« »Haben sie gesagt, wohin sie gehen?«, fragte Finn. »Sie erwähnten etwas von einem Schiff«, antwortete Rhiannon. »Mehr nicht.« »Das nützt nichts«, sagte Finn unruhig. »Wir vermuteten bereits, dass sie zur Küste wollen. Was ich wissen will, ist, wo an der Küste sie sich einschiffen wollen. Ich hasse es, ihnen so hin-
terherzulaufen und zu versuchen, ihren nächsten Zug nur zu erahnen.« »Nun, wir wissen, dass sie zu den Pirateninseln wollen, zum Grab Margrits von Arran«, sagte Jay. »Oder zumindest glauben wir zu wissen, dass sie dorthin gehen. Isabeau ist davon über 40 zeugt, dass sie Olwynne darum entführt haben, als Opfer, um Margrit von Arran von den Toten wiederzuerwecken.« Rhiannon nickte. »Sie wollten mich. Aber sie konnten mich nicht erwischen. Stattdessen nahmen sie die Banprionnsa. Vielleicht erkannten sie, dass sie diejenige ist, die in Wahrheit das mitleidlose Herz hat.« Sie sprach verbittert. Jay betrachtete sie mit leicht gerunzelter Stirn, verstand ihre letzten Worte nicht, spürte aber die wahre Verletztheit dahinter. »Wir werden sie einfach weiterhin verfolgen und unser Bestes tun, sie einzuholen«, sagte Finn. »Aber zuerst müssen wir Roden nach Hause in Sicherheit bringen. Vielleicht solltet Ihr ihn am besten nehmen, Rhiannon.« Rhiannon betrachtete sie misstrauisch. Einerseits wollte sie nichts mehr, als Roden zu seinen Eltern zurückzubringen und das Lächeln sich auf deren Gesichtern ausbreiten zu sehen. Andererseits fragte sie sich, ob Finn sie aus der eigentlichen Jagd herausdrängen wollte. Owein und Olwynne wurden noch immer gefangen gehalten. Sie wollte sie retten, es beenden. Sie rechnete sich rasch aus, wie lange es dauern würde, dorthin zurückzufliegen, wo Nina und Iven ihnen mit weiteren Soldaten folgten. Sie schüttelte widerwillig den Kopf. »Das dauert zu lange«, sagte sie. »Sie erreichen das Meer schon bald. Olwynne ist das erste Opfer. Ich versprach Lewen, sie zu retten.« Ein langes Schweigen entstand. Dann sagte Finn langsam, fast widerwillig: »Ihr wisst, dass Lewen und die Banprionnsa gemeinsam übers Feuer gesprungen sind? Sie sind einander versprochen, als Mann und Frau, ein Jahr und einen Tag lang.« »Ich weiß«, antwortete Rhiannon.
»Diese Schwüre dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden«, sagte Finn. »Olwynne ist eine Banprionnsa des königlichen Clans der MacCuinn.« 41 »Glaubt Ihr, das wäre mir nicht bewusst?«, erwiderte Rhiannon verärgert. Finn schien erneut mit sich zu ringen, bevor sie sprach. »Das Band zwischen Lewen und Olwynne ist stark, Rhiannon, und nicht leicht aufzuheben. Wisst Ihr, was Ihr tut?« »Meint Ihr, ob ich begreife, dass Olwynne meinen Mann verhext hat?«, fragte Rhiannon nach. »Ja, das weiß ich. Was glaubt Ihr, warum sonst ich versprochen habe, sie zu retten? Sie hat ihn mit einem Zauber belegt, den nur sie wieder brechen kann. Also finde ich sie, bringe sie zurück, und wenn sie meinen Mann nicht freilässt, nun, dann werde ich ihr den Hals brechen, ja, das werde ich.« Finn sah sie noch einen Moment länger an, dann entspannte sich ihr Gesicht, und sie brach unerwarteterweise in Lachen aus. »Nun denn, solange Ihr das wisst.« »Ja doch, ich weiß es«, erwiderte Rhiannon. »Und ich weiß noch etwas - wenn sie ihren Zauber nicht ganz schnell rückgängig macht, wird sie sich wünschen, ich hätte sie nie gerettet!« »Wie wollt Ihr sie also retten?«, fragte Finn, als sie sich wieder gefasst hatte. Rhiannon zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Noch nicht.« DAS GRABMAL Im Herzen des Gartens der Hexen befand sich ein Labyrinth aus uralten Eiben, die vor mehr als achthundert Jahren angepflanzt wurden. Das Labyrinth war so gestaltet, dass es den Unachtsamen in immer tiefere, verwirrendere Windungen führte. Es war aus konzentrischen Kreisen angelegt, die sich bis zum geweihten Teich der Zwei Monde immer weiter verkleinerten. 5i War man erst innerhalb des Labyrinths, wirkten seine engen, bedrückenden Gänge alle gleich, führten zu einer Sackgasse nach
der anderen. Der Boden war gepflastert, so dass man nicht mit dem Fuß eine Linie ziehen konnte, um den Weg zu markieren. In manchen Sackgassen lagen die Knochen derjenigen, die den Versuch gewagt hatten, das Labyrinth zu erkunden und gescheitert waren - so wurde es neuen Studenten an der Theurgia stets erzählt. Die Studenten wurden so gewiss davon abgeschreckt, das Labyrinth zu durchwandern, bis auf den einen Tag im Jahr, am Mittsommer, wenn das große Eisentor unverschlossen und das Labyrinth zum Vergnügen der Studenten geöffnet war. Diejenigen, denen es gelang, ihren Weg hindurchzufinden, wurden mit perlendem rosefarbenem Wein und Honigkuchen sowie dem Privileg belohnt, das Observatorium zu besichtigen und die geheime Stelle oberhalb des geweihten Teiches zu betrachten, wo der Leitstern so viele Jahre lang verborgen war. In der Dämmerung gingen die Hexen mit Fackeln durch das Labyrinth, suchten die vielen erhitzten, müden und frustrierten Studenten, die noch immer durch die Gänge irrten, und brachten sie zur Theurgia zurück, wo sie eine dünne Suppe und schwaches Ale bekamen. Es durch das Labyrinth zu schaffen, wurde für diejenigen als Initiationsritus betrachtet, die dem Hexensabbat beitreten wollten, und diejenigen, die das Labyrinth tatsächlich bewältigten, gaben sein Geheimnis niemals preis. Isabeau, die Bewahrerin des Schlüssels des Hexensabbats, hatte sein Geheimnis vor über zwanzig Jahren erfahren, und sie durchschritt seine gewundenen Gänge mindestens zwei Mal pro Woche, um durch das Fernglas die Sterne und die Monde zu betrachten und die Karten des Universums zu studieren, die im Observatorium aufbewahrt wurden. Selbst in der Dunkelheit und nach einer Woche mit sehr wenig Schlaf wie betäubt und stolpernd, zögerte sie nicht, wenn sie an einem Kreuzungspunkt 42 ihre Richtung wählen musste. Sie hielt einfach beim Gehen eine Hand an die Wand zu ihrer Linken. Eine große Kugel blauen Hexenlichts schwebte über ihrem Kopf und warf ein unheimliches Licht auf jene kurz geschnittenen Eibenwände, die hoch über
ihrem Kopf aufragten, und ließ diejenigen, die ihr folgten, unirdischer denn je wirken. Unmittelbar hinter Isabeau ging Wolkenschatten, die Sternträumerin der Celestine, die sich auf einen hohen, knorrigen Stock stützte. Ihr folgte wiederum ein junger Mann aus ihrer Gruppe namens Sturmreiter, der auf seinem Recht bestanden hatte, sich ihnen anzuschließen, da er, zumindest nominell, mit Donnerlilie verlobt war. Er war ein großer, geschmeidiger Mann mit für einen Celestine ungewöhnlich breiten Schultern und breitem Brustkorb sowie einem stolzen, reservierten Gesicht, das aufgrund des hohen Nasenrückens und der kantigen Wangenknochen bemerkenswert war. Isabeau dachte insgeheim, dass er eher ihrer Art glich, den Khahcohban vom Rückgrat der Welt, als wie eines der sanften Waldzauberwesen. Wie Wolkenschatten, hatte er sein übliches langes, helles Gewand abgelegt und trug wie die Übrigen vernünftige Reisekleidung - Reithose, Stiefel, ein warmes Wollwams über einem weichen Hemd und einen wasserdichten Umhang mit einer Kapuze und tiefen Taschen. Er wirkte dadurch weitaus zugänglicher. Auf seiner Schulter trug er einen großen Sack, der von etwas Großem und Rundem ausgebeult wurde. Hinter ihm kam Ghislaine Traumwandlerin, eine hellblonde Zauberin, die das Emblem des Sommerborns um den Hals trug. Sie war noch keine dreißig und galt trotz ihres allgemein zerbrechlichen Aussehens, das durch die Schatten unter ihren Augen noch verstärkt wurde, als große Schönheit. Ihr folgte Cailean von der Schattenwolke, dessen riesiger Schattenhund lautlos hinter ihm hertrottete. Er war ein dünner, ernst wirkender junger Zauberer mit gewitzter Miene und der 43 Angewohnheit, seine Kleidung zu ruinieren, indem er Bücher in seine Taschen stopfte. Alle Hunde liebten ihn, und er war oft mit einem ihm folgenden großen Rudel anzutreffen, das aus allem Möglichen bestand, von räudigen Straßenkötern bis zu hochgezüchteten Jagdhunden und kuscheligen Haustieren mit Knopf-
augen, die normalerweise im Ärmel einer edlen Lady umhergetragen wurden. Die Nachhut bildete Dide, zwei lange Dolche an seinem Gürtel und einen kleinen Dolch in seinen Stiefel gesteckt. Er trug zusätzlich zu dem leichten Bündel mit Werkzeugen und Vorräten, das auch alle anderen trugen, eine Gitarre um den Hals geschlungen, deren abgenutzter Kasten mit verschlungenen Blumenranken und Vögeln bemalt war, die mit der Zeit stark verblasst waren. Dide reiste niemals ohne seine Gitarre und eine Tasche voller Jonglierbälle. Alle drei Hexen hatten, wie üblich, ihren Hexenstab bei sich, und Isabeau trug das vertraute Gewicht des Schlüssels des Hexensabbats um ihren Hals. Ihre Vertraute, die kleine Elfeneule Buba, flog lautlos und weiß wie eine im Wind verwehte Schneeflocke voraus. Isabeau wurde von Ungeduld geplagt. Sie musste ständig anhalten und auf Wolkenschatten warten, die so langsam und müde lief wie eine alte Frau, denn ihr Körper war noch immer schwach von dem Gift, das sie getrunken hatte. Isabeau musste an sich halten, um nicht »Beeil dich! Beeil dich!« zu rufen. Es war ihr bewusst, dass sie durch den Zwangszauber, den Brann der Rabe vor eintausend Jahren in Schnörkeln mit seinem eigenen Blut im Buch der Schatten niedergeschrieben hatte, bis an die Grenzen der Duldsamkeit getrieben wurde. Dieser Zauber war hinter einem anderen Zauber verborgen gewesen, demjenigen, der das Geheimnis des Wiedererweckens der Toten offenbarte, so dass zuerst Johanna und dann Isabeau den Zauber unwissentlich gelesen hatten und nun seinem unerbittlichen 44 Willen unterlagen. Johanna hatte Donncan und Donnerlilie entfuhrt und sie gezwungen, in die Zeit von Branns Tod zurückzureisen, um ihn aus seinem Grab auferstehen zu lassen. Isabeau konnte sich nur immer wieder versichern, dass der Wunsch Johanna und ihre beiden königlichen Geiseln zu jagen, sie antrieb, und nicht Branns Verlangen danach, wieder zu leben.
Schließlich gelangten sie zu dem kreisrunden Garten inmitten des Labyrinths, verließen erleichtert den engen Gang und atmeten tief die frostige Luft ein. Nebel schwebte über den Boden und wand sich um die Zypressen, aber es wurde bereits so hell, dass sie das Kuppeldach des Observatoriums sehen konnten. Schweigend erklommen sie die Treppe, bis sie die gewaltigen Steinblöcke erreichten, die den Teich der Zwei Monde umgaben. Die Steine waren uralt, weitaus älter als der Garten oder das Labyrinth, und Isabeau wusste, dass in die Oberflächen geheimnisvolle Symbole eingemeißelt waren, die stilisierten Konturen von Sternen, Monden und Planeten sowie von Bäumen und Felsen. Diese Runen wurden von den Celestine »Baumsprache« genannt, und Isabeau verstand, trotz eines lebenslangen Studiums, noch immer nur einen Bruchteil davon. Die Symbole waren alle vor so langer Zeit hineingemeißelt worden, dass sie selbst im hellsten Sonnenlicht kaum sichtbar waren, und doch konnte man sie im Dunkeln deutlich erfühlen. Durch das Berühren dieser Runen, in einer gewissen formellen Abfolge, konnte man sein Ziel wählen, wenn man die Alten Wege bereiste. Isabeau kannte das Symbol für den Teich oberhalb des Heims ihrer Eltern bei den Verfluchten Türmen in Tirlethan. Es war wie ein gebogener Buchstabe »M« geformt, um die Zwillingsgipfel der Berge oberhalb des dortigen Sees zu repräsentieren. Ähnlich war das Zeichen für den Teich der Zwei Monde wie ein »V« geformt, das die beiden Flüsse repräsentierte, die sich zu den Schimmernden Wassern vereinten. Jedoch gab es in der Baumsprache der Celestine viele Tausende 45 von Runen, von denen sich einige sehr ähnlich waren. Dies war nur einer der vielen Gründe, warum es für jedermann, der nicht das ganze Baumalphabet kannte, so gefährlich war, die Alten Wege zu bereisen. Man konnte nur allzu leicht die falsche Rune der falschen Stelle zuordnen und an einem ganz anderen Ort oder in einer ganz anderen Zeit landen als beabsichtigt. Der Steinkreis war von den Celestine, Tausende von Jahren bevor die Menschen nach Eileanan kamen, um den geweihten
Teich errichtet worden. Dann war der Teich von den Hexen entdeckt worden, die sich in Rionnagan niedergelassen und Lucescere erbaut hatten, sofort die in dem Wasser und den Steinen verborgene Macht gespürt hatten und sie für sich nutzbar machen wollten. Das Labyrinth um den Teich war von Martha der Weisen, der Urenkelin von Cuinn Löwenherz - dem Zauberer, der die Hexen über Zeit und Raum hinweg in diese neue Welt geführt hatte - angelegt worden. Ihr Vater, Lachlan der Astronom, hatte zuerst entdeckt, dass das Licht in der Dämmerung der Sommersonnenwende wie ein goldener Pfeil durch eine Öffnung von der Größe einer Faust einen der großen Menhire traf und ein wie eine Sonne oder ein Gesicht geformtes Symbol auf dem gegenüberliegenden Stein beleuchtete. Später sollte er bemerken, dass gewisse hier und dort gezogene Linien das Aufkommen der Schlüsselkonstellationen bezeichneten und dass man, wenn man zur Zeit der Wintersonnenwende durch eine weitere große Öffnung in einem der Menhire blickte, den roten Mond aufsteigen und deren Abmessung genau ausfüllen sehen konnte. Lachlan der Astronom war es, der das Observatorium am Teich der Zwei Monde errichtete und sein Leben dem Enträtseln der Geheimnisse der großen Steine weihte. Nach einer gewissen Zeit wurde in der Nähe der Turm der Zwei Monde erbaut und somit ein Modell geschaffen, das im ganzen Land wiederholt wurde. Fast alle Hexentürme wurden auf oder um einen von Steinen umgebenen Teich der Celestine 46 erbaut, wodurch wissentlich oder unwissentlich die friedlichen Waldzauberwesen vertrieben und von ihren heiligsten Plätzen verbannt wurden. Viele der Steinkreise waren inzwischen baufällig oder zerstört. Der Teich der Zwei Monde war vollkommen von Steinen umgeben: Die großen, von Bögen gekrönten Menhire bildeten eine großartige Kolonnade, die jedoch viele der himmlischen Ereignisse verbarg, zu deren Beobachtung die Steinkreise erbaut worden waren. Was Lachlan der Astronom und seine Mithexen nicht begriffen hatten, war, dass die Steinkreise mehr als nur ein riesiger Ka-
lender waren, der die Zyklen der Sonnen und der Monde kennzeichnete. Sie waren Sternenherzen, Orte mit magnetischer Energie, die unsichtbare Linien der Macht aussandten, mit denen sie alle Menschen über den gesamten Planeten miteinander verbanden. Die Linien spiegelten die Laufbahnen der Monde, Sterne und Planeten über das Land wider und waren wie magische Straßen, die bereist werden konnten und die Celestine befähigten, sich unsichtbar und in hoher Geschwindigkeit im Land zu bewegen. Sie waren Nähte im Stoff des Universums, verbanden Raum und Zeit auf eine Art, die Isabeau noch immer nur vage begreifen konnte. Sie wusste nur, dass die Sternenherzen, die geweihten Teiche in ihren Steinkreisen, Macht konzentrierten, wie ein Vergrößerungsglas Licht konzentrierte, bis es ein Loch in Papier brennen konnte. Das Geheimnis der Alten Wege war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Celestine. Isabeau hatte ein wenig darüber erfahren, weil ihre Hüterin Meghan von den Tieren eine große Freundin und Verteidigerin der Waldzauberwesen gewesen war. Sie durfte jedoch nicht offenbaren, was sie erfahren hatte, und so wusste niemand, warum Wolkenschatten nun vor den Türen stand und mit ihren langen, viergliedrigen Fingern einen Umriss nach dem anderen nachzog. »Was tut sie?«, flüsterte Dide. 47 »Sie versucht, das Zeichen für das Grabmal der Raben zu finden«, antwortete Isabeau flüsternd. »Dorthin müssen wir zuerst reisen, in der Jetztzeit, bevor wir versuchen können, weiter in der Zeit zurückzureisen. Man kann nicht beides gleichzeitig tun.« Dide schlang seinen Rucksack über die andere Schulter. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. »Es dämmert fast«, sagte er und seufzte. »Ja, es ist an der Zeit«, stimmte Isabeau ihm zu und war froh, dass er ebenso bestrebt schien wie sie aufzubrechen. Drei Tage waren vergangen, seit Donncan und Donnerlilie entführt worden waren. Es war überhaupt nicht tröstlich zu wissen, dass sie alle
zu genau demselben Punkt in der Zeit zurückreisen würden, so dass es keinen Unterschied machte, ob Tage oder sogar Wochen vergangen wären. Abgesehen von dem üblen Drang, den der Zwangszauber ihrem Geist eingebrannt hatte, wurde Isabeau von der Angst um den jungen Righ und von der Vorstellung davon getrieben, was genau Johanna mit ihm vorhaben mochte. Nehmt euch bei den Händen, sagte Wolkenschatten. Denkt daran - wankt nicht, schaut nicht zurück, verlasst den Pfad nicht. Richtet euren Blick auf diejenigen, die vor euch gehen, und lauscht nicht auf die Geister. Lauft schnell. Alle nickten. Dobhailen, der Schattenhund, knurrte tief in seiner Kehle, und Cailean legte eine Hand auf seinen Hals. Die Sonne stieg über den Horizont und traf auf die große Steinsäule. Die Sommersonnenwende war seit drei Tagen vorüber, und so konnten sie zwar die große Feuerkugel durch das in den Menhir gehauene Loch sehen, aber das Wunder des Goldpfeils erschien nicht. Wolkenschatten drückte sanft auf eines der Symbole an der nach Süden weisenden Säule und trat dann durch den Bogengang. Sie verschwand, und nur noch ihre Hand, die Sturmreiters Hand umfasste, war zu sehen. Er folgte ihr und zog Isabeau mit sich. Sie atmete tief ein und duckte sich instinktiv, als sie in den flimmernden, silbrigen Nebel trat, der 48 den Bogengang erfüllte. Sie wusste, dass der Schock, der nun jeden Nerv durchlief, zu erwarten gewesen war, aber dadurch war der Schmerz nicht leichter zu ertragen. Dide hinter sich herziehend, verfiel sie in einen unbeholfenen, stolpernden Lauf und hielt den Blick auf Sturmreiters fließendes, weißes Haar gerichtet. Es schien in dem seltsam grünlichen Licht zu schimmern und wirbelte in dem von Blitzen heimgesuchten Wind umher, der ihr Gesicht peitschte. Es war so, als liefe man durch kalte, raue Gischt. Ihre Füße wurden fast unter ihr fortgerissen, und sie konnte das unheimliche Wehklagen und Schluchzen vieler, vieler Geister hören und den eisigen Griff ihrer Finger spüren. Einige waren so kühn, sich um ihren Kopf zu winden, ihr ins Ohr zu schreien, auf ihre Brust
und Kehle einzuschlagen und zu versuchen, sich in ihre Nase und ihren Mund zu schleichen. Sie würgte, konnte nicht atmen und schüttelte heftig den Kopf, schleuderte sie beiseite. Gib uns Leben, flüsterte ein Geist ihr ins Ohr. Du kennst das Geheimnis. Gib uns wieder Leben! »Fort, übler Geist!«, rief sie. »Dein Leben ist schon lange verwirkt.« Hinter sich konnte sie auch Dide rufen und fluchen hören, und Ghislaine intonierte ein uraltes Gebet gegen Übles. Isabeau nahm die Worte auf und hörte, wie Cailean und dann auch Dide ebenfalls einfielen. »Im Namen Eà s, unserer Mutter, unseres Vaters, unseres Kindes, du, welche die Spinnerin und Weberin und Fadenschneiderin bist, du, welche die Saat sät, die Feldfrucht hegt und die Ernte einbringt. Bei der Kraft der vier Elemente, Wind, Stein, Flamme und Regen. Bei der Kraft der klaren Himmel und des Sturms, der Regenbogen und Hagelkörner, beschütze uns an diesem Tag vor allem Übel, o Eà , Mutter, Vater, Kind, Spinnerin, Weberin, Fadenschneiderin, Jungfrau, Mutter, altes Weib...« Vor ihr summten die Celestine tief in ihrer Kehle, und hinter 49 ihr grollte und knurrte Dobhailen, ein seltsam harmonischer Kontrapunkt. Die Worte und das Summen bildeten einen Rhythmus, nach dem sie marschieren konnten. Isabeau spürte, wie ihr Schritt länger und schneller und ihr Atem gleichmäßiger wurden. Die Geister schienen sich zu verflüchtigen, bis sie nur noch Nebel und Schatten und ein kalter, sich schlängelnder Wind um ihre Ohren waren. Rund um sie herum, über ihnen und unter ihnen, befanden sich Flächen silbrig grünen Feuers, die aufloderten und brüllten und zischten. Sie konnte dort hindurch vage Umrisse sehen, einen Wald aus Bäumen, einen weißen, rauschenden Fluss, dahinter Berge. Mit jedem Schritt verschwamm das Bild jedoch mehr und eilte vorüber, und sie bekam nie die Gelegenheit, irgendeinen
Orientierungspunkt wiederzuerkennen oder festzustellen, wo sie sich befanden. Dann plötzlich zischten grüne Funken, und Isabeau spürte, wie sie fiel. Sie schrie auf und versuchte, ihre Hand freizuwinden, sich zu befreien, aber weder Dide noch Sturmreiter wollten sie loslassen. Sie fiel schmerzhaft auf die Knie, während es in ihren Ohren hallte und sie vor Schwindel blind war. Als sich ihre Sicht wieder klärte, sah sie sich um und erkannte, dass sie in einer kühlen, grauen Dämmerung viele Meilen vom Teich der Zwei Monde entfernt auf den Boden gesunken war. Im Morgennebel kauernd, auf der Kuppe eines kleinen Hügels, befand sich ein großes, graues Mausoleum, das von grüblerischen Steinraben bewacht wurde. Eine lange, in der Dämmerung karg und düster wirkende Eibenallee führte dort hinauf. Auf dem Vorplatz vor dem Mausoleum war ein länglicher, von Urnen und Statuen umgebener Teich angelegt. Er spiegelte in seinen stillen, schwarzen Wassern die Kuppel des Grabmals wider. Wir sind da, sagte Wolkenschatten erschöpft. »Ich wusste nicht, dass dies ein Sternenherz war!«, rief Isabeau aus. »Wie ungewöhnlich! Als du sagtest, wir würden zum 50 Grabmal der Raben reisen, dachte ich, du wolltest, dass wir uns ihm auf dem Alten Weg so weit wie möglich annähern und dann quer durchs Land ziehen. Ist dies wirklich ein Sternenherz? Wo ist der Steinkreis, der Sommerborn?« Allesfort, antwortete die Celestine. »Aber... warum? Wann? War es Brann der Rabe, der den Kreis einebnen ließ? Wusste er es nicht?« Der Mann, der dieses Grab erbaute, war von übler Gesinnung und hegte üble Absichten. Er wusste, dass dies ein Ort der Macht war, und wollte dessen Magie für seine eigenen Zwecke benutzen, sagte Sturmreiter. Seine Geiststimme klang tief und ernst, und sein Gesicht zeigte denselben strengen Hochmut. »Das wusste ich nicht«, sagte Isabeau zögernd und sah sich besorgt um. Nun, wo sie es wusste, erblickte sie die drei Elemen-
te, welche die geweihten Orte der Celestine stets ausmachten den Hügel, den Teich und die errichteten Steine -, aber ihre Gestalt und Anordnung, ihre Essenz, stimmte nicht. Die natürliche Wasserquelle war eingefasst und in eine starre, formelle, steingebundene Form gezwungen worden, und die errichteten Säulen zelebrierten nicht das Leben und das Vergehen der Jahreszeiten, sondern den Tod und die Eitelkeit der Menschen. Buba ließ sich auf Isabeaus Schulter nieder, und sie hob eine Hand und streichelte sie und fühlte sich getröstet. Die Übrigen streckten sich alle, wanderten umher und sprachen gelegentlich leise miteinander. Dobhailen gefiel der Anblick der Krypta nicht, und er zog die Lefzen hoch und knurrte, wobei seine grünen Augen wie Sumpfkerzen leuchteten. Cailean liebkoste seine Ohren, und der Schattenhund schlich steifbeinig voran und schnupperte an den breiten Stufen. Plötzlich hob er die Schnauze und bellte laut, der Ruf eines Jagdhundes, der einen Geruch wahrgenommen hat. Es war ein tiefer, lauter, wilder Klang, der von den Wänden widerhallte und alle zusammenzucken und erschreckt aufschreien ließ. Dobhailen sprang die 51 Stufen hinauf und bellte an der Tür erneut. Cailean folgte ihm eilig, ebenso wie die anderen. Der Hund führte sie durch die massiven Türen in die schattenhafte Kälte der Krypta. Darinnen befand sich eine lange Halle, die auf beiden Seiten von durch schwere Eisengitter geschützten Grabgewölben gesäumt war. Darüber waren elegante Bögen gespannt, deren Säulen von gemeißelten Raben mit spitzen Schnäbeln inmitten einer Rosette aus Akanthus und Eichenlaub gekrönt waren. In jedem düsteren Grabgewölbe waren Sarkophage zu sehen, dick mit Staub und Spinnweben bedeckt, deren steinerne Vorderseiten in der Feuchtigkeit bröckelten. Die Luft roch abgestanden und moderig, und Ghislaine wölbte eine Hand über Mund und Nase. Sie war totenblass. Während sie langsam die Halle hinabschritten, hallten ihre Stiefel auf den großen Steinplatten wider. Sie scharten sich unbewusst alle zusammen, Caileans Hand am Nackenfell des Hundes,
um ihn zurückzuhalten. Isabeau hatte Licht heraufbeschworen, um ihren Weg auszuleuchten. Hexenlicht war für die Erkundung einer Krypta ein kaltes und unheimliches Licht, warf dichte Schatten hinter jede Säule und jedes Grab und trog das Auge, so dass es schien, als würden die Sarkophage atmen. Am anderen Ende der Halle befand sich ein großes, kunstvolles Grabmal, auf dem eine weitere Statue lag, die Arme über der gepanzerten Brust gekreuzt, einen Zaubererstab zwischen den großen, beringten Händen. Das Grabmal war mit schlafenden, fressenden, fliegenden und nistenden Rabenfiguren bedeckt, und einer ruhte zwischen den Füßen des Zauberers, den Schnabel unter einen Flügel gesteckt. »Ich war schon früher hier«, sagte Ghislaine und brach damit die widerhallende Stille. »Als ich mit Olwynne den Traumpfad beschritt. Wir wurden hierhergeführt, an diesen Ort, von einem Raben. Wir sahen den toten Zauberer, der sein Leichentuch hinter sich herzog. Er sagte uns ...« Ihre Stimme versagte. 52 »Was hat er Euch gesagt?«, fragte Isabeau angespannt. Obwohl Ghislaine über alle ihre Erinnerungen an die Traumstraße, die sie mit der vermissten Banprionnsa beschritten hatte, berichtet hatte, blieben Details von Träumen im Nachhinein stets vage, und sowohl Ghislaine als auch Olwynne hatten mit der Zauberinnenkrankheit daniedergelegen, wodurch ihr Bericht noch seltsamer und wirrer als üblich wurde. Isabeau wusste, dass alle Einzelheiten, an die man sich erinnern konnte, von äußerster Wichtigkeit sein konnten. »Er sagte ... er sagte, die Traumwelt nütze ihm nichts, nicht mehr als die Welt der Geister. Er sagte, er wolle wieder ans Tageslicht kommen, mit einer lebendigen Seele und einem Messer, und dann würden wir ihn wieder umherwandeln sehen.« Ghislaine blickte furchtsam zu der auf dem Grabmal liegenden Statue und unterdrückte ein Schaudern. Isabeau nickte. »Er ist in der Tat eine habgierige Seele, und noch dazu stark, wenn er meine Nichte in ihren Träumen berühren kann.«
Sie beugte den Kopf und zählte die Ringe an den Händen des Zauberers. Es waren zehn. Isabeau fühlte sich ein wenig schwindelig. Ein Zauberer der zehn Ringe! Sie selbst hatte nur acht. Sie spürte zum ersten Mal, wie ihre Zuversicht kläglich schrumpfte. Wie sollte sie einen Zauberer der zehn Ringe bekämpfen, einen Zauberer, der sich eintausend Jahre lang ans Leben geklammert hatte? Cailean und Ghislaine hatten ebenfalls gezählt, und sie sah ihre Gesichter erbleichen und hörte sie den Atem anhalten. Dobhailen hatte versucht, sich Caileans Griff zu entwinden, sprang nun vorwärts, als die Hand seines Herrn unfreiwillig losließ, und schnüffelte eifrig am Fuß des Grabmals, wo die Schatten am dichtesten waren. Er hob den Kopf und bellte wieder laut, und Cailean trat augenblicklich vor, kniete sich hin und versuchte zu ergründen, was das Interesse des Hundes erweckt hatte. Er schrie laut auf und hob etwas hoch. 53 »Seht nur! Es ist Seiner Hoheits ... Seiner Majestäts ...« Er hielt eine lange, goldene Feder in der Hand. »Er muss sie aus seiner Schwinge gerissen und dort verborgen haben«, sagte Isabeau, nahm sie Cailean ab und drehte sie in den Händen. »Damit wir wissen, dass wir auf der richtigen Spur sind.« »Aber vor wie vielen Tagen waren sie hier, und wohin sind sie dann gegangen?«, fragte Dide. Wolkenschatten betrachtete die Feder und Umschrift dann weiterhin langsam das Grabmal. Isabeau wusste, dass sie nach einem Zeichen dafür suchte, dass auch ihre Tochter lebte und es ihr gut ging. Plötzlich summte sie laut und drängend und sank auf die Knie. Isabeau trat rasch zu ihr. Auf dem Boden war eine kleine Ansammlung von Blättern, Zweigen und einem weißen Kieselstein ausgelegt. Isabeau brachte die Kugel Hexenlicht auf ihre Hand hinab, damit sie das Muster deutlich sehen konnten. Sie war hier, meine Tochter war hier, sagte Wolkenschatten. Sie trafen in der Morgendämmerung des Tages nach dem Mittsom-
mertag ein und brachen in der Abenddämmerung wieder auf. Sie gingen zurück. Zurück zum Anfang sagt sie. »Zurück zum Anfang?«, fragte Isabeau. »Meint sie, zurück zum Anfang dieses Gebäudes? Zu der Zeit, als das Grabmal der Raben erbaut wurde?« Die Celestine summte verneinend, ein Laut der Verwirrung und der Unschlüssigkeit. Isabeau versuchte, die mit Zweigen und dem Kieselstein geschriebene Botschaft zu entschlüsseln. »Was ist dies?«, fragte sie und deutete auf einen kleinen Stock der zerbrochen und in einer gezackten Linie wie bei einem Blitz ausgelegt worden war. Ein langes Schweigen entstand, und dann sah Isabeau einen Tropfen Wasser den hellen Stein dunkler färben. Sie schaute überrascht auf und sah, dass die Celestine weinte. Es bedeutet Abschied, sagte Sturmreiter. 54 EINE NACHT UNTERWEGS Niemand schlief in dieser Nacht gut. Es war zu kalt. Selbst mit dem in seinem Steinkreis lodernden Feuer und ihren dicken, um sie geschlungenen Umhängen und Plaids fühlte sich die vom Boden aufsteigende Kälte beißend an und marterte sie. Es war keine Nacht, in der man unterwegs sein sollte. Rhiannon kroch in der Dämmerung aus ihrem Zelt. Der Stock der als Mittelpfosten diente, war von Eis überzogen, und Schnee war überall aufgehäuft, weiß und makellos. Der Himmel erstrahlte fahl silbrig, was bedeutete, dass ein schöner Tag bevorstand. Rhiannon fragte sich, ob der Kummer der BanrighWitwe endlich nachließ. Sie hoffte es. Alles war ins Gegenteil verkehrt worden, und das beunruhigte Rhiannon. Wenn die Welt entzweibrach, entstanden Risse, durch die dunkle Wanderer kriechen konnten. Rhiannon hatte ihre SatyricornVergangenheit noch nicht so weit hinter sich gelassen, dass sie diese Vorstellung nicht in Angst versetzt hätte. Ein Rabe schrie unheimlich. Rhiannon fuhr auf dem Absatz herum, während ihr Herz heftig pochte. Ein großer, schwarzer Vogel kauerte auf einem nahe gelegenen Ast und beobachtete sie.
Er schrie erneut spöttisch. Rhiannon beugte sich herab, hob einen Brocken Schnee auf und warf damit. Sie hatte gut gezielt. Der Schnee prallte gegen den Vogel und warf ihn fast von seinem Ast. Er breitete seine Flügel aus und flog davon, wobei er ein drittes Mal seinen rauen, schwermütigen Schrei ausstieß. »Einen auf die Sorge«, sagte eine Stimme hinter ihr. Rhiannon wandte sich zu Jay um, ihre Hände in den Ärmeln ihrer Jacke verborgen. »Das ist eines unserer Sprichwörter. Einen auf die Sorge; zwei auf den Frohsinn; drei auf einen Tod; vier auf eine Geburt; fünf auf Silber; sechs auf Gold; sieben auf ein Geheimnis, das man 55 nicht preisgeben soll; acht auf den Himmel; neun auf die Hölle; und zehn auf des Teufels eigenes Selbst.« Der Fiedler sprach wunderschön. Seine Worte sandten einen Schauer über Rhiannons Haut und erinnerten sie an die Zauberin Nina die Nachtigall, deren Magie einzig in ihrer Stimme lag. Wenn die Geschichten stimmten, dann hatte dieser schlanke, sanfte Mann Magie in seinen Fingern, und sie war in dem Klang, den er den Saiten seiner Viola entlocken konnte. Es war auch Magie in seiner Stimme, dachte Rhiannon, wenn es auch vielleicht nur der in seinen Worten inbegriffene Schrecken war, der solch eine Saite in ihr berührte. »Jeder Rabe in zwanzig Meilen Umkreis von Laird Malvern bedeutet Ärger«, sagte sie missmutig, setzte sich auf den Baumstamm und wärmte ihre Hände an der Glut. »Ihr denkt, dies sei sein Rabe gewesen?«, fragte Jay, wandte sich um und sah dem Vogel nach. »Könnte sein«, erwiderte sie und steckte ihre tauben Füße in ihre Stiefel. Blauchen kauerte kalt und elend auf ihrer Zeltstange, und sie streckte eine Hand nach ihm aus. Er flog zu ihr herüber, und sie hob ihn auf ihre Schulter, genoss das Gefühl seines leichten Gewichts. Einer der Soldaten, mit geröteter Nase und missmutig, warf einige weitere Holzscheite aufs Feuer und begann unbeholfen, aus Hafer und Wasser etwas zuzubereiten, was diese Menschen
Frühstück nannten. Rhiannon wieherte Schwarzdorn eine spöttische Bemerkung zu, und Schwarzdorn antwortete ihr. Ich nehme es, wenn du es nicht willst, sagte die Stute. Rhiannons Augen erstrahlten, als ein weiterer der Soldaten mit einem Bündel Kaninchen kam, die er am Feuer zu häuten begann. Finn lag noch immer in ihrem Schlafsack, aber plötzlich rollte sie sich herum, kroch heraus und erbrach sich, geräuschvoll und öffentlich, unter einen Busch. Als sie fertig war, wirkte sie entschieden grün. Ohne ein Wort oder einen Blick für irgend 56 jemanden, kroch sie in ihr kleines Zelt zurück und zog sich den Umhang übers Gesicht. Ihre kleine Katze, die höchst indigniert davonstolziert war, kam zurück und stieß sie mit einer Pfote neugierig an. Finn schaute nicht auf. Jay brachte ihr einen Becher Tee. Beim Geruch gebratener Kaninchen wachte auch Roden schließlich auf, streckte sein zerzaustes Haar aus dem Zelt und rieb sich müde die Augen. Er war aus seinem Bett entführt worden, mitten im Sommer, und war daher, in ein lockeres, weißes Nachtgewand gekleidet, auf diesen üblen Winter kläglich vorbereitet. Es gelang ihnen, ein schweres wollenes Wams zu finden, das er über seinem Nachtgewand tragen konnte, sowie ein Paar Socken, die wie eine Wollhose wirkten. In eine Decke gewickelt, einen Schal bis zu den Augen gezogen, gab er eine drollige Gestalt ab und empfand es offensichtlich auch so. Er schürzte mürrisch die Lippen, seine Füße hatte er nach innen gedreht, und hin und wieder zupfte er an seiner Kleidung, als versuche er, sie in eine andere Form zu ziehen. Er wollte seine Mutter und seinen Vater sehen. »Brice wird dich nach Hause zurückbringen«, sagte Finn sanft, auf einen der Soldaten deutend, der sich herabbeugte, um Roden beruhigend zuzulächeln. »Ich fürchte, wir werden noch einen oder zwei Tage unterwegs sein müssen, aber ...« »Ich will jetzt nach Hause«, sagte Roden mit wider Willen zitternder Stimme. »Bitte, ich will meine Mam.«
»Ich weiß, Liebling, und wir werden dich so bald wie möglich hinbringen. Brice ist sehr schnell, er kann wie der Wind reiten, darum kam er mit uns. Er wird dich so schnell wie möglich zu deiner Mam und deinem Dai bringen.« »Ich will jetzt zu meiner Mam!«, schrie Roden und brach plötzlich in Tränen aus. »Bitte, bitte, ich will jetzt!« »Ich werde dich zurückbringen«, sagte Rhiannon und legte die Arme um den kleinen Jungen. »Du weißt, wie schnell Schwarz 57 dorn fliegen kann. Wenn du ganz schnell frühstückst, brechen wir auf, und du wirst vor Sonnenuntergang bei deiner Mam sein.« »Wirklich?«, fragte Roden sofort heiterer. »Wirklich.« Rhiannon spürte Finns neugierigen Blick auf sich und sagte recht trotzig: »Er will zu seiner Mam. Ich werde zurück sein, bevor Ihr es merkt. So ist es ohnehin besser. Sie werden nun am Himmel nach mir suchen, und ich habe keine Lust, von einem ihrer Pfeile herabgeschossen zu werden. Wenn ich Roden sicher zurückgebracht habe, fliege ich ihnen wieder hinterher und werde dann sehen, ob ich sie überholen und irgendwie einen Hinterhalt errichten kann.« Finn nickte. »Sehr gut. Lasst mich Nina durchs Kristallsehen kontaktieren und ihr die frohe Nachricht übermitteln, dass Roden in Sicherheit ist. Dabei kann ich für Euch herausfinden, wo sie ist. Tatsächlich wird sie froh sein, Roden so rasch wiederzubekommen.« Während Roden glücklich auf seinem Kaninchenbein kaute und die Soldaten mit endlosen Fragen über Schlachten bedrängte, die sie geschlagen hatten, beobachtete Rhiannon mit angespannter Neugier, wie Finn eine kleine Silberschale aus ihrem Rucksack zog und sie mit Wasser füllte. Sie stellte sie vor sich auf den Boden und beugte sich darüber, als betrachte sie ihr Spiegelbild. Ein langes Schweigen entstand. Rhiannon war verwirrt. Sie hatte natürlich schon vom Kristallsehen gehört und mehrere Male zugesehen, als die Hexenlehrlinge es versuchten. Sie hatte immer geglaubt, das Gesicht der Person, mit der man sprach, erschiene
in der Schale und spräche so deutlich, als stünde sie unmittelbar neben einem. Aber Finns Augen waren leer, und das Wasser in der Schale war unbewegt, reflektierte nur den fahlen Winterhimmel. Nach einiger Zeit verloren die Augen der Zauberin ihren leeren, ungerichteten Blick, und sie schüttelte sich und schaute zu Jay. 58 »Das war schwer, schwerer, als ich es gewohnt bin«, erklärte sie kläglich. »Du darfst nicht versuchen, zu viel zu tun«, sagte Jay ermahnend. »Oh, Fiedel! Es geht mir gut.« Finn streckte ihren Rücken und goss das Wasser dann in den Kessel über dem Feuer. Sie wandte sich Rhiannon und Roden zu, der die Elfenkatze mit einem Wollfaden neckte, den er aus seinen zerwühlten Socken gezogen hatte. »Deine Mam ist überglücklich, dass du in Sicherheit bist, Roden, wie du dir vorstellen kannst. Sie und dein Dai-dein sind in einem kleinen Dorf namens Alloway, am Rhyllster. Dort beginnt diese Straße, also solltet Ihr sie mühelos finden können, Rhiannon. Es ist der Ort, wo Laird Malvern sein Boot verlassen hat und in den Wald gezogen ist.« »Woher wisst Ihr das alles?«, fragte Rhiannon misstrauisch. »Habt Ihr es in der Schale gesehen?« »Ja. Hexen können durch Wasser oder Feuer oder einen Edelstein miteinander sprechen, wenn sie einander gut kennen und nicht durch einen breiten Wasserlauf oder hohe Berge voneinander getrennt sind. Es ist zusätzlich hilfreich, wenn man auf die Kontaktaufnahme wartet. Nina und ich hatten vereinbart, uns in jeder Morgendämmerung und bei jedem Sonnenuntergang durchs Kristallsehen zu verständigen.« »Aber Ihr habt nicht gesprochen«, sagte Rhiannon. »Ihr wart still und ruhig.« »Wir sprechen von Geist zu Geist, so wie Ihr Euer Pferd ruft«, erklärte Finn. »Ich kenne Nina schon, seit ich ein kleiner Wicht war. Mt einer Fremden könnte ich nicht so reden.« »Ein Wicht?«, fragte Rhiannon vollkommen verwirrt.
»Ja. Sehr, sehr klein«, antwortete Finn und lächelte schief. »Aber nicht so klein wie der junge Roden hier, der einer Ameise nur bis zum Knie reicht...« »Tue ich nicht!«, protestierte Roden, während Rhiannon gera 59 de erkannte, dass dies nur wieder eine weitere der bedeutungslosen Redensarten war, für die Menschen so anfällig waren. Sie lächelte mechanisch und speicherte es für künftige Verweise in ihrem Geist ab. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannt hatte, dass man von den Menschen weitaus schneller als einer der ihren akzeptiert wurde, wenn man ebenso sprach wie sie. Als der östliche Rand des Tals heller wurde und die Vögel sangen, saß Rhiannon erneut rittlings auf Schwarzdorn und spürte die Muskeln der Stute sich in Erwartung des Fluges anspannen. Roden saß vor ihr, warm in eine Decke eingehüllt und mit einem dicken Schal um die Ohren. »Wir sehen Euch bald wieder«, sagte Finn. »Grüßt Nina und Iven herzlich.« »Pass auf dich auf, Roden«, sagte Jay und hob eine Hand, um das Knie des Jungen zu tätscheln. Roden nickte und wirkte dabei sehr ernst. Dann wendete Rhiannon Schwarzdorn jäh und drängte sie zu einem leichten Galopp, woraufhin diese wie ein schwarzer Pfeil die Straße hinabschoss, die Beine dann hoch unter ihren Bauch zog, ihre großartigen Schwingen ausbreitete und in den Himmel aufstieg. »Ju-huu!«, schrie Roden. Olwynne stöhnte. Ihr Kopf dröhnte entsetzlich, und alle ihre Glieder fühlten sich schwer an. Die wahnsinnigen Truggebilde ihrer Träume verweilten noch hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Sie hatte geträumt, sie stünde als Angeklagte in einem riesigen Gerichtssaal, in dem die Richter sich alle herabbeugten und sie anschrien, mit ihren riesigen, knochigen Fingern drohten und sie mit ihren stechenden Augen anklagten. Ich habe es aus Liebe getan, hatte sie schwach erklärt, aber sie hatten miss-
billigend die Köpfe geschüttelt und ihre Umhänge demonstrativ nach außen gekehrt, auf Rot. Blut. Feuer. Zischende, rote Nat60 tern. Ketten aus ihrem eigenen Haar fesselten sie. Ein Blutrinnsal verlief wie ein karmesinrotes Band über ihre Kehle. Dann war sie erwacht, hatte sich aus den Tiefen ihres Betäubungsschlafes empor gekämpft, aber die Wachheit bot keine Zuflucht. Die Kutsche schaukelte, ratterte und hüpfte, schwankte, schlingerte und rutschte und schien manchmal fast umzukippen. Sie und Owein wurden hilflos von einer Seite zur anderen geworfen und vom Sitz auf den Boden geschleudert, bis sie voller blauer Flecke waren und ihnen alle Glieder wehtaten. Die Luft war so kalt, dass ihr Atem in kleinen Frostwolken vor ihren Gesichtern schwebte, und ihre Glieder zitterten unkontrolliert. Sie hätten sich gerne wärmesuchend zusammengekauert, aber nachdem sich Olwynne fast die halbe Zunge abgebissen hatte, als sie mit dem Kopf gegen Oweins Kinn gekracht war, und sie ein halbes Dutzend Mal aufeinander gelandet waren, konzentrierten sie sich darauf, möglichst auf ihren Plätzen zu bleiben und die Kälte irgendwie zu ertragen. Sie konnten die Rufe des Kutschers und das Knallen seiner Peitsche sowie das Quietschen und Rattern der Kutsche, das gelegentliche schrille Wiehern eines Pferdes und das Rufen der nebenher reitenden Männer hören. Owein stemmte seine Beine gegen die Seitenwand der Kutsche und tat sein Bestes, Olwynne mit seinem Arm und seiner Schwinge zu beschützen. Seine Locken waren trotz der Kälte schweißfeucht, und er atmete rau und keuchend. Beiden war bereits übel gewesen, bis nichts mehr in ihren Mägen war, aber die Übelkeit belastete sie noch immer. Sie waren die ganze Nacht durch den Wald gefahren, wobei die Männer die Straße mit Pechfackeln ausleuchteten. Von Mohn und Baldrian betäubt, hatten Olwynne und Owein die meiste Zeit geschlafen, wenn auch unruhig. Wie dem auch sei, sobald es hell genug war, um etwas sehen zu können, wurden die Pferde mit der Peitsche in diesem wahnsinnigen, überstürzten Tempo vorangetrieben, gerade als die Straße abwärtszuführen begann.
7-1 Sie konnten das Kreischen der eingelegten Bremse sowie jemanden rufen hören. Dann schlingerte die Kutsche, schwankte heftig von einer Seite zur anderen, rutschte seitwärts und stürzte dann auf eine Seite. Olwynne schrie, als sie kopfüber geschleudert wurde und ihr Kopf hart gegen die Decke stieß. Sie landete zusammengesunken, Owein auf ihr, seine Federn sie völlig bedeckend. Sie hob eine Hand an ihren Kopf und zuckte zusammen. Ihre Finger waren blutbeschmiert. Owein gelang es stöhnend, sich von ihr zu erheben. Er hielt sich mit einer Hand seinen Arm. »Wie geht es dir?«, flüsterte er. »Olwynne? Bist du verletzt?« Sie war vor Schreck und von dem mit Betäubungsmitteln versetzten Trank, den Dedrie ihr zwangsweise verabreicht hatte, so benommen, dass sie keine Antwort formulieren konnte. Er half ihr hoch, und sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte erneut. Die Kutsche lag in merkwürdigem Winkel da, so dass die linke Tür in einer Böschung verborgen und die rechte Tür über ihren Köpfen war und einen Flecken Himmel einrahmte. Die Kutschentür wurde aufgerissen, und das mürrische, unrasierte Gesicht Jems des Stallburschen blickte finster auf sie herab. »Sie leben«, rief er jemandem zu. »Aber es ist überall Blut.« »Ich sagte meinem Laird, dass wir umstürzen würden, wenn wir in solchem Tempo weiterführen«, sagte jemand anderer. »Komm, hol sie heraus. Kannst du sie erreichen?« »Wirf mir ein Seil zu«, antwortete Jem. Es war sehr schwierig, sie aus der Kutsche zu bekommen, da sowohl Owein als auch Olwynne so bestürzt und benommen waren, dass sie nicht viel helfen konnten. Auf der Straße herrschte Chaos. Laird Malverns Kutsche war im Schlamm stecken geblieben, unten in einem Tal, wo ein kleiner Bach die Straße querte. Gleichgültig wie hart sie die Pferde peitschten - die armen, erschöpften Tiere konnten die Kutsche nicht herausziehen. Laird Malvern selbst stand knietief im Schlamm und fauchte seinen 61
Kutscher mit leiser, böser Stimme an, während sich zwei weiße Kerben von seiner Nase zu den Mundwinkeln tief in seine Haut eingruben. Oweins und Olwynnes Kutsche hatte noch anzuhalten versucht, bevor sie in die erste Kutsche krachte, und war dann umgestürzt. Die Hälfte der Pferde lagen im Schlamm, und mindestens zwei waren eindeutig schwer verletzt. Eines schrie vor Schmerzen, bis Jem mit seinem Messer ungeduldig dessen Kehle durchtrennte. Er tötete auch das andere Pferd, ohne sich die Zeit zu nehmen, sich die Verletzung anzusehen, schirrte dann die anderen Pferde aus und peitschte auf sie ein, bis sie sich hochmühten. Olwynne befand sich in einem seltsamen, benommenen Zustand, der fast einer Euphorie gleichkam. Sie konnte sich nicht auf den Füßen halten. Ihre Beine gaben einfach unter ihr nach, als wären sie aus alten Spinatstrünken gemacht, und sie merkte, dass sie wieder im Schlamm saß und ihr silberfarbenes Hochzeitskleid um sie herum knittrige Falten warf. Ein zorniger Austausch von Rufen und Beschuldigungen erfolgte, durch den Laird Malverns Stimme wie ein Schwert hindurchschnitt. »Wir haben dank eurer Dummheit bereits ein Opfer verloren«, sagte er eisig. »Und die Blaugardisten sind uns dicht auf den Fersen. Wir haben keine Zeit hierfür. Nehmt nur mit, was wir tragen können. Ballard, du bist der Kräftigste, du nimmst den Prionnsa. Fessele ihn gut. Piers, du nimmst die Banprionnsa. Dedrie, Ihr werdet mit Irving reiten müssen. Jem, reite voraus und versichere dich, dass kein Hinterhalt auf uns wartet. Und jetzt zu den Pferden, ihr alle!« Olwynne merkte, wie sie zu einem großen, dünnen Mann mit grauen Augen hinaufgereicht wurde, der eine Entschuldigung murmelte, als er sie auf den Sattel vor sich nahm. Olwynnes Handgelenke waren vor ihrem Körper fest zusammengebunden, und obwohl der Mann, der sie festhielt, sie ständig 62 um Verzeihung bat, hielt er sie mit eisenhartem Griff. Olwynne konnte nur dankbar sein, dass sie nicht vor Jem mit seinem hei-
ßen, lüsternen Blick gesetzt worden war, oder vor Irving, der so wirkte, als würde er junge Hunde zum Vergnügen aufhängen. Die Gruppe des Laird bestand aus zwölf Leuten, mit Dedrie als einziger Frau. Drei der Männer waren alt, gebeugt, ergraut und hinfällig, und es fiel ihnen sehr schwer, ihre Pferde in dem von Laird Malvern geforderten Tempo anzutreiben. Obwohl er ihre Pferde selbst mit seiner langen Reitgerte antrieb, und einmal frustriert auch den alten Bibliothekar Gerard, der nicht aufhören wollte zu jammern, stockte ihr Tempo dennoch. Also befahl Laird Malvern, sie auf ihren Pferden festzubinden und die Zügel von den jüngeren, kräftigeren Mitgliedern der Gruppe übernehmen zu lassen. Die armen alten Männer wurden ebenso schlimm durchgeschüttelt und umhergestoßen wie Owein und Olwynne, und ihr Wehklagen und ihre Schmerzensschreie bildeten einen beständigen Konterpunkt zu der ungleichmäßigen Melodie der Pferdehufe auf der steinigen Straße. Olwynne war eine gute Reiterin, und sie tat ihr Bestes, im Sattel zu bleiben. Aber mit gefesselten Händen, behindert von den wogenden Röcken und dem gegen ihren Beckenknochen prallenden Sattelknauf, wurde sie dennoch arg durchgeschüttelt. Sie wäre viele Male hinuntergefallen, wenn nicht die starken Arme des Mannes hinter ihr gewesen wären. Zuerst saß sie kerzengerade und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihr Rücken seine Brust streifte, aber bald ließ sie ihr Gewicht nur allzu gerne gegen ihn sinken. In der Dämmerung strauchelten die Pferde, und Olwynne weinte vor Erschöpfung. Sie tat ihr Bestes, es vor den anderen zu verbergen, aber sie konnte es dem Mann, der sie festhielt, nicht verhehlen. Er spürte jedes Erbeben und jeden Schluchzer und flüsterte ihr beständig zu: »Es tut mir so leid, Euer Hoheit. Es dauert nicht mehr lange. Kopf hoch.« 63 Olwynne konnte sich nur mit dem Arm übers Gesicht wischen und versuchen durchzuatmen. Die Straße war schon den größten Teil des Tages abwärts verlaufen, und die Landschaft hatte sich allmählich von hoch auf-
ragenden, grauen Bergen, die aus dunklen Tannen- und Kiefernwäldern aufstiegen, zu steilen Felsschluchten verändert, die in wogende Hügel grünen Waldes hinabführten. Als das Tageslicht zu schwinden begann, hielt Dedrie nach einem Lagerplatz Ausschau. Die Pferde waren so erschöpft, dass sie trotz der Peitschenhiebe und der Sporenstiche nur noch mit hängenden Köpfen vorantrotten konnten. Olwynne hatte weiterhin das Gefühl zu fallen und erwachte jäh, schreiend und sich krampfhaft an die Arme um ihre Taille klammernd. »Ganz ruhig, Euer Hoheit«, flüsterte der Man. »Wir werden jetzt jeden Moment Halt machen, und dann könnt Ihr Euch ein wenig ausruhen.« »Wann?«, rief sie verdrossen. »Wann können wir Halt machen?« »Wenn mein Laird den Befehl gibt«, sagte er. Olwynne unterdrückte ein Schluchzen. Jem kam im Trab die Straße herab. Sein Pferd war ganz von Schaum bedeckt, und Blut lief an den Stellen seine Flanken hinab, wo Jem seine Sporen hinein gegraben hatte. »Vor uns befinden sich Köhler, Mylaird. Mit einem Rollwagen und sechs Pferden.« »Ausgezeichnet«, sagte Laird Malvern. »Nehmen wir sie ihnen ab.« Er befahl den Reitern, seitlich der Straße Stellung zu beziehen, und Olwynne durfte absteigen, wenn man das unbeholfen und eilig vom Pferd Gleiten und im Schlamm Zusammensacken als Absteigen bezeichnen konnte. Owein wurde auch auf den Boden geworfen, und Olwynne sah, dass es ihrem Zwilling weitaus schlechter ging als ihr. Er war bewusstlos, und seine Sommer 64 sprossen hoben sich orangefarben von der bleichen Haut ab. Getrocknetes Blut verbarg die Hälfte seines Gesichts, und seine Handgelenke waren rotes, rohes Fleisch. Sie kroch mit einem elenden Schrei zu ihm und nahm seinen Kopf auf den Schoß. Mehr konnte sie nicht tun.
Die alten Männer wurden von ihren Pferden gehoben und bekamen Wasser zu trinken. Sie wirkten fahler und hinfälliger denn je. Olwynne sah, wie der Mann, der mit ihr geritten war, einen der alten Männer in seine Arme hob und ihn, in einen Umhang gewickelt, auf das weiche Gras am Rande der Straße legte. Der alte Mann öffnete die Augen, lächelte schwach und flüsterte: »Danke, Piers.« »Schaffst du es noch, Dai-dein?«, fragte Piers sanft. »Ich wünschte, du wärst niemals mitgekommen ... Ich wünschte ...« »Viel zu spät für Wünsche«, flüsterte der alte Mann und schloss seufzend die Augen. Piers gab seinem Vater aus einer silbernen, mit Gravuren verzierten Flasche etwas zu trinken. Er schluckte dankbar, und ein Teil der blauen Verfärbungen um seinen Mund wichen. Dann brachte Piers die Flasche zu Olwynne, und sie wischte deren Hals mit dem am wenigsten beschmutzten Teil ihres Rockes sorgfältig ab und trank vorsichtig. Es war Whiskey, der sich wie Säure einen Weg ihre Speiseröhre hinab brannte. Als sie wieder aufhörte zu husten und zu würgen, fühlte sie sich von erstaunlicher Kraft und Wärme und von Elan durchströmt. Sie hob Oweins Kopf an und goß einige Tropfen auch in seinen Mund. Das munterte ihn ein wenig auf, und er nahm ihr die Flasche mit seinen gefesselten, blutigen Händen ab und nahm noch einen großen Schluck. »Eà sei Dank für das Wasser des Lebens«, keuchte er. »Släinte mhath!« »Släinthe mhath«, wiederholte sie ironisch. Während Olwynne mit Oweins Kopf auf ihrem Schoß dage 65 sessen hatte, waren Jem, Irving und Kennard der Kutscher sowie Ballard der Leibwächter mit grimmigen Gesichtern weiter die Straße hinabgeschritten. Niemand schien sich wegen der armen, ahnungslosen Köhler vor ihnen große Sorgen zu machen. Olwynne konnte nur hoffen, dass sie nicht um ihren Rollwagen und die Zugpferde kämpfen würden.
Laird Malvern saß auf einem Stein, seinen mit Pelz besetzten Umhang um die Schultern gelegt. Sein Kammerdiener kniete vor ihm und massierte seine bestrumpften Füße. Dedrie brachte ihm Whiskey, etwas Brot und kaltes Fleisch und entschuldigte sich für die karge Verpflegung. Sie ignorierte Owein und Olwynne. Olwynne hatte seit dem Mittag, als sie etwas trockenes Brot bekommen hatte, an dem sie unterwegs knabbern konnte, sowie einem Mundvoll Wasser nichts mehr zu sich genommen. Ihr Mund war so trocken, dass sich ihre Zunge wie eine Eidechse anfühlte. »Wir brauchen Wasser und etwas zu essen«, sagte sie laut. »Wollt Ihr, dass wir sterben, bevor Ihr uns opfern könnt?« Laird Malvern vollführte eine gelangweilte Geste, und Dedrie brachte ihnen den Wasserschlauch und warf ihnen etwas Brot zu. Es war so trocken und alt, dass Olwynne es nicht essen konnte, nicht einmal, nachdem sie Wasser darauf geträufelt hatte. Sie begnügte sich mit großen Schlucken Wasser und half Owein dabei, ebenfalls etwas zu trinken. Piers bot ihnen weiteren Whiskey an, mit unglücklich verzogenem Mund, und Olwynne nahm ihn an, obwohl sie Whiskey nie gemocht hatte. Er war besser als Brot, kräftiger und wärmender, und erfüllte sie mit einem Mut, der ihr vollkommen unangebracht erschien. Als Jem zurückkehrte, dämmerte es bereits. Olwynne und Owein wurden gezwungen, die Straße hinabzustolpern, da die Pferde zu erschöpft waren, um ihre doppelte Last noch zu tragen. Ihre Erniedrigung wurde vollkommen, als Laird Malvern 66 befahl, ihnen Seile um den Hals zu legen. Jedes Mal, wenn sie wankten oder stolperten, wurden sie wieder hochgezogen, wobei das Seil in ihre Hälse einschnitt. So würde es sich also anfühlen, gehängt zu werden, dachte Olwynne und wurde von tiefer, bitterer Reue erfüllt. In der Dunkelheit gelangten sie auf eine Lichtung. Olwynne konnte über das mangelnde Licht nur froh sein. Ihre Gefangenenwärter hatten die friedlichen Köhler, die sich hier abgeplagt hatten, niedergemetzelt und ihre Leichen auf eine Seite gewor-
fen. Olwynne konnte ihre schlaffen Körper, die wie ein Haufen abgelegte Kleidung wirkten, im flackernden Licht des großen Lagerfeuers sehen. Sie fühlte sich seltsam, kalt und Elend und konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Jem, Irving, Kennard und Ballard tranken mit großem Genuss aus Jems mattiertem Flachmann. Auf dem Spieß über dem Feuer drehte sich eine Ziege und erfüllte die Luft mit dem Duft gebratenen Fleisches. Olwynne musste würgen und weinte. Owein wirkte ernst. »Dies sind wirklich böse Menschen«, flüsterte er Olwynne zu. »Bleib in meiner Nähe. Ich kann nur hoffen, dass sie uns unbeschadet dorthin bringen wollen, wo auch immer wir hingehen. Versuche, keine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.« »Was haben sie mit uns vor?«, flüsterte Olwynne gequält. »Warum nennen sie uns >die Opfer