Mike Resnick
Das Zeitalter der Sterne Science-Fiction-Roman
Deutsche Erstausgabe
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Mike Resnick
Das Zeitalter der Sterne Science-Fiction-Roman
Deutsche Erstausgabe
Knaur®
Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1985 Titel der Originalausgabe »Birthright: The Book of Man« Copyright © 1982 by Mike Resnick
Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt Umschlaggestaltung Franz Wöllzenmüller Umschlagillustration Graham Wildridge Satz: Compusatz, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-426-05793-X 1. Auflage
Auf einem unwichtigen kleinen Planeten, weit entfernt vom Zentrum der Galaxis, starrt eine Spezies zu den Sternen hinauf und träumt von Eroberungen. Diese Spezies ist der Mensch, und im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende beginnen seine Raumschiffe ins All vorzustoßen und diesen Traum wahr zu machen. Ein Sternensystem nach dem anderen wird von ihm erforscht – auf vielen läßt sich der Mensch in friedlicher Absicht nieder, wie auf dem fünften Planeten des SiriusSystems. Aber um andere Welten, etwa die Wasserwelt Gamma Leporis IV, werden fürchterliche Kriege geführt, und schon bald eilt der Menschheit der Ruf voraus, die dominante, aber auch kriegslüsternste Spezies in der ganzen Galaxie zu sein. Und nun wird der grandiose Traum von der Eroberung des Alls zum Alptraum… Mike Resnick wurde 1942 in Chicago geboren und arbeitet seit seinem 22. Lebensjahr als professioneller Schriftsteller. Bevor er sich der Science Fiction zuwandte, veröffentlichte er eine große Anzahl Bücher aus den verschiedensten Genres (Gothics, Sachbücher usw.). Heute gilt er durch Romane wie »The Soul Eater«, »Walpurgis III« und die Tetralogie »Tales from the Galactic Midway« als einer der vielversprechendsten neuen Autoren in der Science Fiction. Sein ambitioniertester Roman ist jedoch das vorliegende Buch »Das Zeitalter der Sterne«, das sich in seiner weitgespannten Thematik nur mit Asimovs »Foundation«-Zyklus und den Zukunftshistorien eines Brian Aldiss oder Olaf Stepledon vergleichen läßt.
Für Carol, wie immer, und für meine Eltern, William und Gertrude Resnick.
PROLOG
DER ANFANG Äonen vergingen, und der Mensch schlängelte sich aus dem Urschleim, und es sprossen ihm Gliedmaßen, und Daumen entwickelten sich. Er stand aufrecht, und zum erstenmal sah er die Sterne, und er wußte, eines Tages würden sie ihm gehören. Und wieder vergingen Äonen. Der Mensch wurde größer, stärker, breiter. Er streifte über das Antlitz seiner Welt, nahm sich, was er brauchte, und verbreitete sein Geschlecht über die ganze Erde. Er wurde schlau, wenn auch nicht weise, stark, wenn auch nicht unbezwingbar. Die Erde war sein, er hatte sie nach seinem Bilde neugeformt, aber der Mensch war nicht zufrieden. Er erreichte den Mond, und wenig später hatte er Siedlungen auf dem Mars und auf den Inneren Planeten errichtet. Der Asteroidengürtel war sein nächstes Ziel, und im Morgengrauen des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts hatte ihm sein Erfindungsreichtum dazu verholfen, auf den Monden der Äußeren Planeten Metropolis über Metropolis zu erbauen. Und dort kam er zum Stehen. Die Fahrt zum Mond dauerte nur mehr zehn Stunden, und selbst die Reise zu Pluto, mochte sie auch vier Jahre erfordern, war vorstellbar geworden. Vorstellbar und möglich, wie drei stetig wachsende Städte bezeugten. Aber die Sterne waren ein völlig anderes Problem. Der nächstgelegene war beinahe fünf Lichtjahre von der Erde entfernt, eine Distanz, deren Überwindung selbst in diesem technisch orientierten Jahrhundert nicht vorstellbar war. Nicht nur würde die Reise ein halbes Dutzend langlebiger
Generationen erfordern, sondern man würde dazu auch ein gewaltiges Schiff benötigen, das Platz für Sauerstoff spendende Pflanzen böte, und daher war ein solches Unternehmen sowohl finanziell als auch physikalisch undurchführbar. Also suchte der Mensch nach einer anderen Lösung. Mehr als ein Jahrhundert lang beschäftigten sich alle wissenschaftlichen Köpfe im Sonnensystem mit dem Konzept des Hyperraums, und die einzige Schlußfolgerung, zu der man zahllose Male in zahllosen Experimenten gelangte, war die, daß der Hyperraum ein Mythos sei. Und dann, in den Anfangsjahren des siebenundzwanzigsten Jahrhunderts, entwickelte ein junger Wissenschaftler auf Triton ein theoretisches Triebwerk, das ein Schiff mit Überlichtgeschwindigkeit vorantreiben würde. Wissenschaftliche Kreise lachten darüber, und sie zitierten altüberlieferte Theorien, denen zufolge ein Tachyonenantrieb nicht existieren könne. Aber die Solarregierung, verzweifelt mit der Überbevölkerung kämpfend, finanzierte sein Projekt. Zwei Jahre später hatte er ein Schiff gebaut. Man schaffte es ins All hinaus und setzte es, etwa fünfundsiebzig Millionen Meilen jenseits von Pluto, in Bewegung. Es verschwand augenblicklich, und weder das Schiff noch der Pilot wurden je wieder gesehen. Aber die totale Verwandlung von Masse in Energie und die daraus resultierende Explosion, die die Männer der Wissenschaft vorhergesagt hatten, war ausgeblieben, und so baute man weitere Schiffe nach dem Prinzip dieses überlichtschnellen Antriebs. So wie Aristoteles’ Erde, Wind, Feuer und Wasser den Menschen tausend zusätzliche Jahre lang daran gehindert hatten, die wahre Natur der Atome und Moleküle zu erkennen, hatte Einstein ihn ein halbes Jahrtausend lang von den Sternen ferngehalten. Doch nicht länger!
Zunächst eröffneten sich immense Probleme. Dreiundvierzig Schiffe verschwanden unter den Augen des Menschen, ehe eines zurückkehrte – und dieses stürzte in die Sonne und durch sie hindurch, ohne innezuhalten. Noch anderthalb Jahrhunderte mußten verstreichen, bis man ein akzeptables Bremssystem entwickelt hatte, und weitere sechzig Jahre waren nötig, bevor die Schiffe in der Lage waren, Manöver und Richtungswechsel vorzunehmen, die sich nach Meilen und nicht nach Lichtjahren definieren ließen. Aber als das dreißigste Jahrhundert anbrach, war der Mensch bereit für sein Rendezvous mit den Sternen. Proxima Centauri war der erste Stern, den er besuchte. Es zeigte sich, daß er keine Planeten besaß. Und auch Alpha Centauri, Polaris und Arcturus waren planetenlos. Der Mensch entdeckte Planetenkörper im Barnard- und Capella-System, aber es waren riesige, kalte, alte Welten, auf denen es keine Spur von Leben gab. Den ersten Kontakt mit außerirdischem Leben machte er auf dem fünften Planeten des Sirius-Systems. Die Bewohner dieses Planeten waren kleine, pelzige Flauschkugeln ohne irgendwelche Sinnesorgane. Da es aber den Sirianern an Augen, Ohren und anscheinend auch an Gehirnen gebrach, konnte der Mensch sie nicht um Lebensraum auf ihrem Planeten bitten, und so nahm er ihn sich einfach. Erst ein Jahrhundert später, nach einem kleinen Atomkrieg zwischen zwei Menschenstädten, in dessen Verlauf die sirianische Population völlig vernichtet wurde, entdeckte der Mensch, daß die kleinen Wesen Empathen gewesen waren, die hatten sterben müssen, weil sie, ohne es zu wollen, die Todesqualen der Kriegsopfer geteilt hatten. Aber zu diesem Zeitpunkt war eine solche Erkenntnis ohne Bedeutung; der Mensch war die beherrschende Lebensform auf Sirius V, nicht anders als auf hundert anderen, in der ganzen Galaxis verstreuten Planeten
auch. Er bewegte sich auf behutsamen Sohlen, wenn es nötig war, mit diplomatischem Geschick, wenn es geboten schien, und mit eiserner Faust, wenn er dazu in der Lage war. Nach sieben Jahrhunderten der Erforschung und Kolonisation hatte der Mensch ein Imperium von wahrhaft galaktischen Ausmaßen errichtet. Er bewohnte nicht mehr als vierzehnhundert Planeten, während rund zwei Millionen Welten von anderen Lebensformen genutzt wurden, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, wer der Herr der Galaxis war. Es war der Mensch – der Industrialist, der Aktivist, der Krieger. Mehr als die Population eines Planeten, dessen Führer daran gezweifelt hatten, war so weit dezimiert worden, daß diese Tatsache unumstößlich bewiesen worden war. Der Mensch war auf die Eroberung der Sterne vorbereitet gewesen. Er hatte die Technologie, die Gerissenheit und die Willenskraft dazu. Die Übernahme der Galaxis war so gut wie unvermeidlich gewesen, sie hatte in seiner Natur gelegen. Aber die Verwaltung dieses neugewonnenen Imperiums war eine völlig andere Sache…
ERSTES MILLENNIUM REPUBLIK
1: DIE PIONIERE … Als die galaktische Expansion des Menschen begann, führte das Pioniercorps den wichtigsten Teil dieser Unternehmung durch. Zu Beginn waren es nicht mehr als zweihundert Männer gewesen, doch mit dem Ende des ersten Jahrtausends der Republik zählte das Corps über fünfzigtausend Leute, und ihre Tapferkeit, Intelligenz und Anpassungsfähigkeit bilden ein beispielloses Kapitel der menschlichen Geschichte… Aus Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg von I. S. Berdan (gleichzeitig erschienen auf Terra und Deluros VIII im Jahre 13205 G. Z.)
… Gäbe es eine einzelne Facette des Menschen, von der man sagen könnte, sie repräsentiere einen Vorboten dessen, was kommen sollte, dann wäre dies die Erschaffung des Pioniercorps. Diese Expansions- und Zerstörungstechniker durchstreiften die Galaxis, assimilierten für die Republik, soviel sie konnten, und vernichteten nicht selten, was sich dem Anschluß zunächst widersetzte. Es war dies ein blutiges Vorwort zur galaktischen Geschichte des Menschen, und während man die Intelligenz, die zur Annexon zahlreicher ungastlicher Welten führte, objektiv bewundern mag, kann man angesichts der Endresultate nur schmerzlich bewegt zusammenzucken. Vielleicht vermag keiner der frühen
Triumphe des Pioniercorps dies besser zu illustrieren als die Assimilation von Zeta Cancri IV in die Republik… Aus Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 7, von Qil Nixogit (erschienen auf Eridani XVI im Jahre 19300 G. Z.)
Selbst sein Aussehen war heiß. Er hing im All, ein kleiner, blutig roter Planet, und umkreiste ein Binärsystem im lässigen Abstand von einer Drittelmillion Meilen. Sein Antlitz war pockennarbig von Kratern und Rissen, kreuz und quer überzogen von Hunderten von Spalten. Während der Periode, die als Winter gelten konnte, hätte er Blei in weniger als drei Sekunden zum Kochen gebracht. Aber der Winter war eben vorüber, und es würde dreißig Erdenjahre dauern, bis der nächste begann. Wolken im traditionellen Sinne gab es hier nicht, denn Wasser hatte niemals existiert. Aber gewaltige Gasmassen umhüllten diese Welt in zahllosen Schichten von unterschiedlicher Dichte. Hier und dort konnte man die Oberfläche sehen, ihre häßlichen, zerklüfteten Zacken. Der größte Teil aber glich einer wogenden, roten Scheibe. Die Oberfläche war rot wie das Gas, rot und zerzaust, wie ein Mann, der dringend einer Rasur bedarf. So etwas wie Schmutz gab es nicht, aber die gewaltigen Schatten bewirkten, daß die Oberfläche schmutzig aussah. Schmutzig und heiß. Und dann waren da, manchmal häufig, manchmal selten und in langen Abständen, diese wild blitzenden Lichterscheinungen. Der Planet mit seinen tiefen Spalten und seiner explosiven Brillanz war ebenso rätselhaft wie das Schiff in seinem Orbit ein Gemeinplatz war. Es war ein gewöhnliches Schiff mit seinen RepublikInsignien, seinen schon oft reparierten Luken und den beiden schlampigeffizienten Insassen. Ein Neuling im Weltall war es
nicht, dieses Schiff, das ein Dutzend Eigner und zehnmal so viele Welten gesehen hatte. Wenn es im Vakuum Geräusche gäbe, dann hätte dieses Schiff die winzige rote Welt vermutlich spotzend umkreist. Schon seit Jahrzehnten war jeder Start eine todesverachtende Herausforderung, jede Landung ein lebensbedrohliches Wagnis gewesen. Die Außenhaut des Schiffes war vom Schmutz und Ruß von einhundert verschiedenen Welten bedeckt, und vielleicht war es diese Kruste, die überhaupt verhinderte, daß es auseinanderbrach. Es neigte zu periodisch wiederkehrenden, ohrenbetäubenden und markerschütternden Vibrationen, aber diese waren eines der wenigen Anzeichen, an denen die Insassen erkennen konnten, daß es noch funktionierte. Die beiden saßen vor einem Bildschirm, unrasiert, ungekämmt, unbeschuht – und unglücklich. Der eine war groß und hager, er hatte hohle Wangen und tiefliegende, grübelnde blaue Augen. Der andere war mittelgroß, mittelschwer und hatte farbloses Haar; sein Name war Allan Nelson. »Hat das verdammte Ding wenigstens einen Namen?« fragte Milt Bowman angewidert, während er auf den Bildschirm starrte. »Keinen, den ich kenne«, grunzte Nelson. »Nur Zeta Cancri IV.« »Den letzten haben wir nach dir benannt. Also taufen wir diesen hier Bowman 29«, sagte Bowman und machte eine Notiz auf seiner Sternenkarte. »Oder war es Nummer 30?« Nelson warf einen Blick in sein Notizbuch. »Bowman 29«, sagte er schließlich. Dann schaute er auf den Bildschirm. »Das ist vielleicht ‘ne Welt.« »Drei Milliarden Welten in der Galaxis«, sagte Bowman, »und die meinen, sie müßten diese hier haben. Manchmal frage ich mich, was in den Köpfen dieser Brüder vorgeht. Wirklich.« »Wahrscheinlich fragen sie sich das gleiche in bezug auf uns«, meinte Nelson grimmig. »Ich hatte nicht den Eindruck,
daß sie die Freiwilligen für Zeta Cancri IV gewaltsam zurückschlagen mußten.« »Du meinst sicher Bowman 29.« »Wie immer er heißen mag, es gibt sicherlich nicht mehr als zweihundert Idioten, die das verdammte Ding aufreißen würden.« Er irrte sich. Es gab nicht mehr als zwei: Bowman und Nelson. Die Republik, so riesig sie auch war, konnte weiter niemanden erübrigen, denn der Mensch war zu schnell zu weit gekommen. Im Anfang, als man begann, Sols Planeten zu erforschen, waren die Stützpunkte des Menschen nichts als wissenschaftliche Außenstationen gewesen. Später dann, als die Planeten bewohnbar gemacht worden waren, hatten sich die Außenstationen in Kolonien verwandelt. Auch nach der Entwicklung des Tachyonenantriebs waren die wenigen Planeten, die der Mensch eroberte, nichts weiter als Extensionen der Erde. Aber bald gerieten diese Dinge außer Kontrolle, denn Planeten und ihre Besiedelung waren etwas völlig anderes als Außenstationen und, Kolonien. Sie waren die ständige Heimat ganzer Bevölkerungen, und ihre Umwelt mußte niedergekämpft und gebändigt, urbanisiert und mechanisiert werden. Und noch bevor der Mensch für so etwas wirklich bereit war, gab es bereits vierzehnhundert solcher Planeten. Die war vielleicht keine eindrucksvolle Zahl, aber nur eine Handvoll von ihnen besaß wenigstens entfernte Ähnlichkeit mit der Erde, und der Mensch brauchte alle elf Milliarden Angehörige seiner Rasse, nur damit alles halbwegs reibungslos funktionieren konnte. Mehr als ein Drittel der Planeten – jene nämlich mit außerirdischen Lebensformen – standen unter Kriegsrecht; dies aber erforderte eine unvorstellbar große stehende Armee. Weitere vierhundert Planeten wurden zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten und zur Rohstoffgewinnung verwendet; dazu wiederum
brauchte man zwanzig landwirtschaftlich genutzte Welten, die ihre Lebensmittel- und Wasserversorgung sicherstellten. Dreihundertfünfzig wurden neu besiedelt, und dabei mußten ihre Bewohner ihre ganze Kraft aufwenden, um Urwälder, Wüsten, Berge, Sümpfe und Meere durch Städte zu ersetzen. Vierzehnhundert Welten aber stellten einen nur unwesentlichen Teil der Galaxis dar. Der Mensch hungerte nach mehr, und so blieb er fruchtbar und mehrte sich. Er suchte neue Welten, erkundete, bevölkerte und zähmte sie. Und hier begann die Aufgabe des Pioniercorps. Anders als die Pioniere alter Zeiten, Besitzlose und Getretene, die nach der Freiheit strebten, die das neue Land ihnen schenken würde, bestand das Pioniercorps aus Experten auf dem Gebiet der Terraformung – sie erschlossen Planeten und machten sie bewohnbar. Hochspezialisiert und gründlich ausgebildet, waren die Männer und Frauen des Pioniercorps zivile Mitarbeiter der Flotte der Republik. Ihre Beziehung zur Republik war durch eine Art Regierungsauftrag definiert, und zwar insofern, als sie nicht dem direkten Befehl der Regierung unterstanden, sondern freie Agenten waren, deren Mitgliedschaft im Corps ihnen lukrative Aufträge der Republik zukommen ließ. Häufig bestand ihre Tätigkeit nur darin, die Heimat von Aliens menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Manchmal hatten sie eine feindselige Alienpopulation zu eliminieren, und gelegentlich waren sie auch gezwungen, Bevölkerungen, die nicht feindselig waren, zu vernichten. In ihren Reihen gab es Ingenieure, die mittels der Technologie der Republik Bäche in Ströme und Seen in Ozeane verwandeln konnten, die einen Planeten von der zweifachen Größe Jupiters gänzlich zu entlauben vermochten und die wußten, wie man die Ökologie einer wasserlosen Wüstenwelt in eine planetare Oase verwandelte.
Das Pioniercorps zählte etwa 28000 Mitglieder, aber die Republik, die noch immer an Wachstumsschmerzen litt und ihre schlafenden Muskeln zu spannen begann, dachte nicht in Kategorien von Hunderten, sondern von Millionen Welten, und so kam es, daß das Corps sehr dünn verstreut arbeitete. Und je spezialisierter die Bedürfnisse der Republik wurden, desto spezialisierter wurden auch die Aufgaben des Corps. Eines dieser Bedürfnisse war das nach Energie. Alle Welten der Republik hatten sich inzwischen ausnahmslos atomaren Technologien verschworen, und eine Rückkehr gab es nicht. Aber die Vorräte an Radium, Plutonium, Uran und deren Isotopen – selbst auf neuentdeckten Welten – konnten den Bedarf kaum decken. Anlagen für eine Umwandlung der Sonnenenergie wurden zehnmillionenfach erbaut, aber der Mensch hatte noch keine ökonomische Methode zur Konservierung der Solarkraft entdeckt. Da aber der Handelsverkehr der Republik beinahe zur Hälfte vom interstellaren Reiseverkehr abhing, standen neue Energiequellen ganz oben auf der Prioritätenliste des Menschen. Dann wurde Zeta Cancri IV entdeckt. Es war eine winzige, aber massereiche Welt, deren überaus hohe Rotationsgeschwindigkeit in Verbindung mit der exotischen Elementarzusammensetzung ihres Kerns zu enormen Magnetfeldern von phantastischer Energie führte. Ionen, die man in diese Felder injizierte, wurden zu Geschwindigkeiten beschleunigt, welche diejenigen, die man in den stärksten Zyklotronen des Menschen beobachten konnte, um ein Vielfaches übertrafen. Die Interaktion der elektrischen und magnetischen Felder des Planeten und die Entstehung unterschiedlicher Ionen aus der Verdunstung der Oberflächenelemente schufen beinahe ideale Bedingungen für nukleare Transformationen. Mit anderen Worten: Beliebige
Sektionen der Oberfläche von Zeta Cancri IV neigten dazu, ohne jede Vorwarnung in die Luft zu fliegen. Peng. Das brillante Schauspiel, das Bowman und Nelson auf dem Sichtschirm ihres Schiffes beobachten konnten, war lediglich das Endresultat einer Serie von Kernspaltungsreaktionen auf der Oberfläche des Planeten. Geringwertige Atome wurden durch diese nuklearen Transformationen zu umfangreicheren, instabilen Molekülen zusammengesetzt – und dann brach die Hölle los. Was auf der Erde hochspezialisierte Laborbedingungen gewesen wären, ergab sich auf Zeta Cancri IV als schlichtes Naturphänomen. Atomexplosionen rollten in unaufhörlicher Folge über die Oberfläche und eröffneten den elektrischen und magnetischen Kräften immer neue, jungfräuliche Materie. So schlicht die theoretische Erklärung sein mochte, so ehrfurchtgebietend war jedoch die Realität. Die Republik neigte dazu, mit Menschen und mit Geld überaus verschwenderisch umzugehen, aber eine Energievergeudung, wie sie tagtäglich auf Zeta Cancri IV vonstatten ging, konnte sie nicht tolerieren; also hatte man Bowman und Nelson angesprochen und ihnen den Iob angeboten, den Planeten für eine ausgewählte Gruppe von 235 »Bergleuten« – wissenschaftliche Spezialisten, die eine Möglichkeit finden würden, wie man die bislang verschwendete Energie nutzbar machen könnte – sicher und ungefährlich zu machen. Sie hatten ihren Preis genannt, die Republik hatte sich nicht die Mühe gemacht, mit ihnen zu feilschen, und der Vertrag war sogleich geschlossen worden. Wie sich herausstellte, waren die Explosionen nicht das einzige Detail, welches zu erwähnen die Republik vergessen hatte. Die Gravitation war auch nicht eben ein Thema, das sich für einen Brief nach Hause eignete. Nur die allerstärksten Bergbauschiffe der Republik würden auf dem Planeten landen können, ohne zu Brei zerquetscht zu werden – und das galt für
den Winter. Im Sommer würden sie ohnehin schmelzen, noch ehe sie sich der Planetenoberfläche auf zwanzig Meilen genähert hätten. Abgesehen von den Explosionen und der hohen Gravitation war nämlich auch das Klima nicht so, daß man es als angenehm’ empfunden hätte. Der Planet bewegte sich in einem elliptischen Orbit, und eine Umkreisung dauerte dreiunddreißig Jahre. Im Winter war er eine Drittelmilliarde Meilen von seinem binären Muttergestirn entfernt, im Sommer aber würden es nur noch einhundertfünfzig Millionen Meilen sein, und die Republik hatte noch nichts entwickelt, was der bei dieser Distanz herrschenden Hitze hätte widerstehen können. So würde man den Planeten, selbst wenn es gelänge, ihn zu erschließen, immer nur während eines Zeitraums von wenigen Jahren »anzapfen« können, und dann würde man ihn verlassen müssen, bis er wieder genügend weit von Zeta Cancri entfernt war. Und zur Krönung des Ganzen war die Atmosphäre für Menschen völlig ungeeignet. »Abgesehen von diesen kleinen Problemchen«, meinte Bowman, der eben eine Liste der Schwierigkeiten verlesen hatte, »ist dieser Job ein Spaziergang.« »Genau.« Nelson grinste. »Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb die Regierung glaubte, uns zwei Millionen Dollar aufdrängen zu müssen. Ist ja fast ‘n bezahlter Urlaub.« »Tja«, sagte Bowman und nippte an seinem Kaffee, »irgendwelche Vorschläge?« »Ein paar hätte ich schon – bezüglich der Typen, die uns dieses Päckchen hier angedreht haben«, antwortete Nelson. Er seufzte. »Na, wenigstens haben wir zunächst Frühling. Das gibt uns ein wenig Zeit zum Nachdenken.« »Glaubst du, dort unten könnte etwas leben?« fragte Bowman. Nelson schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich stark. Aber mit Sicherheit läßt es sich natürlich nicht sagen, ohne daß wir landen. Falls wir es tun«, fügte er hinzu, »wird es
wahrscheinlich immer noch kein Leben geben. Uns dann auch nicht.« »Sehr tröstlich«, meinte Bowman. »Ich freue mich über das Vertrauen, das die Republik in uns setzt, aber allmählich wünsche ich mir, sie hätten es jemand anderem geschenkt. Wir können auf dem verdammten Ding nicht landen, wir können keine freundlichen Eingeborenen finden, die unsere Arbeit tun, und diese verfluchten Explosionen lassen sich nicht kartographieren.« »Die Explosionen sind das Verzwickteste an der Sache, stimmt.« Nelson nickte. »Wenn sie nicht wären, würden wir den Rest vielleicht sogar schaffen.« »Wenn sie nicht wären, gäb’s diesen Job nicht«, grunzte Bowman. »Ich hab’ den Computer seit fast drei Stunden damit beschäftigt. Sie sind absolut regellos. Es kann an derselben Stelle im Abstand von einer Stunde zwei Explosionen geben, und genausogut kann ein halbes Jahrhundert in aller Ruhe verstreichen, ohne daß etwas passiert. Und ohne sie zu kartographieren oder vorherzusagen, können wir uns der Oberfläche nicht so weit nähern, daß wir etwas herausfinden können, was wir nicht schon wissen.« »Vielleicht könnten wir das verdammte Ding ein paar Wochen lang umkreisen und dann zurückkehren und sagen, wir hätten’s nicht geschafft«, meinte Nelson. »Und schreiben zwei Millionen Mäuse in den Kamin?« fragte Bowman. »Ich würde sagen, wir haben die schlechteren Karten, Milt«, erwiderte Nelson. »Erstens: Die Gravitation ist zu stark, als daß wir landen könnten. Zweitens: Die Luft ist nicht atembar und außerdem radioaktiv. Drittens: Selbst wenn ein Pionierschiff hier landen könnte, würde es schmelzen, bevor es wieder starten könnte. Viertens: Ein permanenter Stützpunkt wäre ausgeschlossen, selbst wenn es uns gelänge, alle diese
Probleme zu lösen, denn in zehn Jahren wird die Temperatur des Planeten sich verdoppelt haben. Fünftens: Selbst wenn keiner der bis jetzt genannten Gründe ausreichen würde, um uns von unseren Plänen abzubringen, können wir immer noch nicht wissen, wann es zu einer Explosion kommt, die uns geradewegs in die Hölle schießt. Sechstens…« »Na, daß es einfach sein würde, haben sie nie behauptet«, unterbrach Bowman grinsend. Drei Tage später war sein Grinsen verschwunden und vergessen. Die Sensoren des Schiffes hatten 129 neue Explosionen verzeichnet, und der Computer hatte bestätigt, daß sie allesamt spontan und regellos aufgetreten waren. »Und falls das noch nicht reicht«, sagte Bowman mit einem Blick auf die Wertetabellen, »es sieht so aus, als würde der Planet von Minute zu Minute kleiner. Nicht so schnell, daß man es sehen kann, aber es genügt, um ihn in vier- bis fünftausend Jahren auseinanderfliegen zu lassen.« »Und was jetzt?« fragte Nelson. »Mir fällt nicht mehr viel ein«, sagte Bowman. »Ich bin die ganze Nacht über am Computer gewesen. Unser Blechkollege meint, wir brauchten nichts weiter zu tun, als uns ein superstarkes Bergbauschiff zu besorgen und Immunität gegen Hitze, Strahlung und alles, was knallt in der Nacht, zu entwickeln.« Eine Woche später hatte die Situation sich nicht spürbar gebessert. Die beiden Pioniere hatten ein Dutzend Sonden in den Planeten geschossen. Eine war innerhalb von Minuten in einer Explosion verdampft, und die übrigen hatten nicht viel länger gehalten: Hitze und Strahlung hatten sie nach kurzer Zeit desaktiviert. Sie hatten eine Robotsonde hinausgeschickt, die ihnen eine Probe von der oberen Atmosphärenschicht beschaffen sollte, und die Gravitation hatte sie auf den Planeten hinuntergezerrt und zerschmettert, bevor sie ihre Daten an den Computer weitergeben konnte. Sie
hatten ihren Orbit verkleinert und dafür beinahe mit dem Leben bezahlt. Sie hatten zwei Nuklearsprengköpfe in die Stratosphäre des Planeten geschossen und dort gezündet, ohne jedoch die natürlichen Explosionen damit spürbar zu stimulieren oder zu dämpfen. Und sie hatten 3407 Partien Blackjack gespielt, ohne damit der Lösung ihres Problems näherzukommen. »Weißt du was?« sagte Bowman. »Jemand, der versucht, diesen Planeten zu knacken, könnte dabei wirklich den Verstand verlieren. Ich meine, wie verwandelt man eine Welt, die sich in nuklearen Anfällen windet, in einen hübschen Ferienort? Na, zurück zum Datenschirm.« Er wandte sich dem Computer zu. Der Datenschirm war keine große Hilfe. In den Datenspeichern fand sich einfach keine analoge Situation. »Wir könnten uns in den Mastercomputer auf Deluros VIII einschalten«, schlug Nelson vor. »Vielleicht weiß der etwas, was unser Baby hier übersehen hat.« »Klar«, stimmte Bowman sarkastisch zu. »Und dann zahlen wir eine Million Dollar für dieses Privileg. Da laß ich doch lieber den ganzen Auftrag platzen. Als Anfänger hab’ ich mich mal in dieses Ding eingeschaltet, und dann sind meine nächsten fünf Honorare für die Gebühren draufgegangen.« »Was schlägst du dann vor?« »Ich weiß es nicht. Wir versuchend einfach weiter. Früher oder später müssen wir einfach etwas über diesen verdammten Planeten herausfinden.« Bowman hatte recht. Sie fanden tatsächlich etwas heraus, zwei Tage später. Die beiden Pioniere hatten das letzte Dutzend ihrer Sonden abgeschickt, ohne große Hoffnung auf greifbare Resultate zu haben, aber eine der Sonden funktionierte lange genug, um die Gegenwart von Leben auf oder unter der Oberfläche melden zu können.
»Das ist Wahnsinn!« sagte Bowman. »Was um alles in der Welt kann denn da unten leben?« »Das werden wir erst erfahren, wenn wir noch ein paar Sonden losschießen können«, sagte Nelson. »Wir müssen einen Weg finden, Kontakt mit ihnen aufzunehmen«, meinte Bowman. »Sie sind die einzigen, die uns helfen können, diese verrückte Welt zu knacken. Erinnerst du dich noch, wie ich vor ein paar Tagen so ausgiebig über den Mastercomputer gemeckert habe?« Nelson nickte. »Dann vergiß es jetzt«, sagte Bowman. »Ich glaube, diesmal werden wir auf das Ding nicht verzichten können.« Nelson erhob keine Einwände, und wenige Stunden später war ihr Schiffscomputer an den Master angeschlossen. Er teilte ihm alle verfügbaren Daten über den Planeten mit und wartete dann darauf, daß die gewaltige Maschine daraus eine Hypothese über die Beschaffenheit der Bewohner dieser Welt konstruierte. Aber die Schlußfolgerung des Computers stimmte niemanden zuversichtlich. »Wenn es stimmt, was Superhirn sagt«, erklärte Bowman mit Blick auf die Ausdrucke, »ernähren sich die kleinen Halunken von Energie. Das paßt ins Bild, denke ich, denn wovon sollten sie sich sonst ernähren? Aber es bedeutet vermutlich auch, daß sie sich kein Bein ausreißen werden, um uns dabei zu helfen, die Energie des Planeten abzuzapfen.« Er sah auf. »Da wir noch dranhängen und dem Ding sowieso schon unser halbes Honorar schulden, können wir es auch gleich fragen, was es von einer Landemöglichkeit für die Bergleute hält.« Der Computer sagte NEIN, und zwar so nachdrücklich, wie einem Computer dies nur möglich ist. Es blieb ihnen noch Zeit für eine Frage, und so beschloß Bowman festzustellen, ob der Mastercomputer eine Alternative zum Platzen des Vertrages anbieten könnte. Er konnte.
»Na, da soll mich doch…«, sagte Bowman, als er den Ausdruck überflog. »Was sagt er denn?« wollte Nelson wissen. »Er sagt, zusammengefaßt, da wir Mohammed nicht zum Berg bringen könnten, bestünde unsere Alternative darin, den Berg zu Mohammed zu schaffen.« »Und was bedeutet das, wenn man es aus dem Biblischen übersetzt?« »Es bedeutet, daß wir, statt Leute auf Bowman 29 landen zu lassen, die Energie in ein Kraftfeld ableiten und quer durch die Galaxis schicken könnten.« »Verstehst du etwas von Kraftfeldern?« fragte Nelson. »Nein«, antwortete Bowman. »Du?« »Nein.« »Aber ich wette, Superhirn kann uns etwas darüber erzählen«, sagte Bowman angewidert. »Da geht unsere zweite Million dahin. Weißt du, in diesem Computer-Busineß steckt doch mehr, als man auf den ersten Blick vermutet.« »Wenn du einmal dabei bist«, sagte Nelson, »solltest du ihn auch gleich fragen, wie man ein solches Feld kartographiert, wenn es sich durch den Weltraum bewegt. Wir wollen ja nicht, daß uns ein Schiff hineinläuft, und wir wollen auch nicht, daß es unterwegs mit Sternen oder Planeten kollidiert. Außerdem kann Superhirn dann auch gleich austüfteln, wie man all diese Energie abzapft und nutzbar macht, wenn sie erst dort angekommen ist, wo wir sie hinschicken.« »Diese Frage kann die Republik bezahlen«, meinte Bowman. »Bevor du dich jetzt wieder einschaltest, Milt…« sagte Nelson. »Wir haben hier auch ein kleines ethisches Problem, das wir vorher lösen müssen.« »Du meinst die Energiefresser?« Nelson nickte. »Sie werden verhungern, weißt du.« »Aber nicht sofort«, sagte Bowman.
»Ich wußte nicht, daß langsames Verhungern besser ist als schnelles«, entgegnete Nelson. »Ist es auch nicht«, sagte Bowman. »Aber wir dürfen die andere Seite der Medaille nicht vergessen.« »Unser Geld?« »Das auch nicht«, sagte Bowman. »Aber ich dachte jetzt eher an die Lebenserwartung, die diese Rasse hat. So wie der Planet sich selbst in Stücke sprengt, kann es nicht länger als fünftausend Jahre dauern, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Und diese Wesen hier werden niemals irgendwohin auswandern. Verflucht, es gibt nirgends einen Platz für eine Spezies, die hier leben kann.« »Auf einem Stern vielleicht?« »Ausgeschlossen. Ein Stern von der Größe von Zeta Cancri würde sie verbrutzeln lassen, bevor sie sich ihm nähern könnten, und selbst wenn er es nicht täte, wäre die Umwelt dort immer noch eine völlig andere. Abgesehen davon werden sie nie eine Raumfahrttechnik entwickeln. Der einzige Treibstoff, den sie haben, ist ihre Nahrung, und weshalb sollen sie von hier fortgehen, solange sie noch Nahrung haben?« »Weil du vielleicht nicht der einzige in der Galaxis bist, der weiß, daß dieser Planet stirbt.« »Mag sein«, sagte Bowman. »Aber wir können nicht von vornherein davon ausgehen, daß sie intelligent sind. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, daß sie es nicht sind.« »Wieso nicht?« »Weil dies ganz offensichtlich ein junger Planet ist. Er stirbt sozusagen in der Blüte seiner Jugend. Es gab hier kaum genug Zeit, überhaupt Leben zu entwickeln, geschweige denn intelligentes Leben. Abgesehen davon verfügt kein Lebewesen über eine so große Anpassungsfähigkeit, daß es sich zu einem Energiefresser entwickeln könnte, wenn es vorher etwas anderes war. Und wenn man davon ausgeht, daß diese
Lebewesen schon immer Energie gefressen haben, weshalb sollten sie dann Intelligenz entwickelt haben? Es gab keinen umweltbedingten Bedarf dafür.« »Moment«, sagte Nelson. »Die Sonde hat uns mitgeteilt, daß sie unter der Oberfläche leben. Vielleicht mußten sie Intelligenz entwickeln, um den Explosionen immer einen Schritt voraus sein zu können.« »Die Sonde hat mitgeteilt, daß sie auf oder unter der Oberfläche sind. Es gibt keinen Grund, die eine Möglichkeit der anderen vorzuziehen.« »Es gibt einen verdammt guten Grund. Du hast die Explosionen gesehen, Milt. Die könnte niemand überleben.« »Wenn sie etwas entwickelt haben«, meinte Bowman, »dann vermutlich ein instinktives Bewußtsein der Notwendigkeit, bestimmte Gegenden zu bestimmten Zeiten zu meiden.« »Mag sein«, sagte Nelson. »Aber ich finde, es klingt, als wolltest du dir selbst etwas einreden.« Bowman seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber wir haben hier einen Auftrag auszuführen. Wir haben einen Vertrag unterschrieben, wir stehen bereits mit einer Million Dollar in der Kreide, und wir sind im Begriff, die zweite Million ebenfalls auszuspucken. Wenn wir unsere Kosten abgezogen haben, werden wir zwar keinen Gewinn machen, aber besonders groß wird unser Verlust auch nicht sein. Die Alternative ist, daß wir den Vertrag platzen lassen und den Computer mit dem Honorar für zukünftige Jobs bezahlen.« »Ich glaube, darauf läuft es letztlich hinaus«, sagte Nelson. »So ist es«, stimmte Bowman grimmig zu. »Also sollten wir uns jetzt entscheiden.« Die schweigenden, friedlichen Eingeborenen von Zeta Cancri IV lebten in seliger Unkenntnis der Diskussion, die Hunderte von Meilen über ihnen geführt wurde. Sie gingen ihren Geschäften nach, die für jeden außer sie selbst gänzlich
unverständlich waren, planten hoffnungsfroh ihre Zukunft und lobten dankbar ihren Gott für dieses Land des Überflusses, das Er ihnen geschenkt hatte. Als die Pioniere ihre Entscheidung getroffen hatten, schalteten sie sich noch einmal in den Mastercomputer ein, und viele Lichtjahre weit entfernt notierte die Republik eine neue Welt auf der Habenseite des Menschen.
2: Die Kartographen … Die Kartographische Behörde – und vor allem der Komplex von Caliban –, zweifellos die bis dahin und noch lange Zeit darüber hinaus größte wissenschaftliche Errungenschaft, gewann schon bald eine Bedeutung, die sich die Bevölkerung allgemein nicht träumen ließ. Zum ersten Mal seit der Mensch die Sterne erreicht hatte, war das Militär dem wissenschaftlichen Arm der Republik ganz und gar untergeordnet, und die expansionistische Bewegung entwickelte ein hohes Maß an Ordnung und Zielstrebigkeit. Die verschiedenen Abteilungen der Kartographischen Behörde verschmolzen miteinander unter der inspirierten Leitung von Robert Tileson Landon, einem fast unglaublich hellsichtigen Wissenschaftler, der im Jahre 301 G. Z. die Gesamtleitung der Kartographie übernommen hatte und seitdem damit beschäftigt war, die aufknospende junge Wissenschaft zu einer Form und Gestalt zu führen, deren Bedeutung weit vitaler war, als es selbst die Anfangsplaner von Caliban hatten voraussehen können. Im Laufe der fünfundsechzig Jahre, während derer Landon die Behörde leitete, erzielte man phänomenale Fortschritte in…
Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg … Die Kartographische Behörde, die im Jahre 197 G. Z. in Caliban eingerichtet wurde, bot ein beinahe perfektes Beispiel dafür, wie eine pure Wissenschaft sich in ein Vehikel für fortgesetzte Territorialvergrößerung verwandeln konnte. Entscheidend motiviert wurde diese Perversion durch Dr. Robert T. Landon. Er verwandte ebenso viel Zeit auf die Pflege seines eigenen Images wie auf seinen imperialen Appetit, und als er starb, hatte er sich in den Augen des Volkes zum Helden aufgeschwungen – gleichwohl bleibt es eine Tatsache, daß er, direkt oder indirekt, dafür verantwortlich war, daß… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 7
Gewaltig, dachte Nelson, war eine Untertreibung. Noch ehe das Schiff in die Atmosphäre eingedrungen war, stach das Gebäude aus seiner Umgebung hervor. Obwohl er noch nie auf der Erde gewesen war, konnte er sich nicht vorstellen, wie es hier ein Bauwerk geben sollte, das größer wäre als das Große K. Es bedeckte eine Fläche von etwa sechzig mal vierzig Meilen, ein Komplex aus schwerem, schimmerndem Stahl, der die rötlichen Strahlen der Sonne reflektierte, ein silbriger Eisberg, dessen Masse zu neun Zehnteln unter der Erdoberfläche verborgen war und der sich dennoch gut achtzehnhundert Meter hoch über den Erdboden erhob. Ja, »gewaltig« war in der Tat eine Untertreibung, aber ein Wort, das dem Großen K hätte gerecht werden können, war noch nicht erfunden worden. Das »Große K« war natürlich nicht sein richtiger Name, aber »Kartographische Behörde« klang einfach nicht großartig genug, und so hatten die Pioniere sich eine eigene Bezeichnung ausgedacht.
Nelson hatte das »Große K« noch nie gesehen, obwohl er schon viel davon gehört hatte. Ein Bauwerk, das mehr als zehn Billionen Dollar gekostet hatte und eine halbe Million Vollzeitbeschäftigte beherbergte, fand bei den Medien mehr als nur beiläufige Beachtung. Teile davon standen jedem offen, der minimalen Sicherheitsanforderungen genügte, aber nur wenige Leute unternahmen tatsächlich eine Besichtigungstour. Zum einen lag der Planet Caliban abseits der vielbereisten Strecken in einer Galaxis, die, soweit es den menschlichen Bevölkerungsanteil betrifft, recht dünn besiedelt war, und zum anderen erforderte es mindestens zwei Tage, ein einziges Stockwerk des »Großen K« von einem Ende bis zum anderen zu durchqueren. Herauszufinden, was hier im einzelnen vor sich ging, hätte mehr als ein Menschenleben lang gedauert. Aber nicht alle Stockwerke des »Großen K« konnte man so einfach durchstreifen. Nelson hatte das uneingeschränkte Okay der Sicherheitsabteilung, und er war auf Landons persönliche Einladung hin hier, und dennoch dauerte es fast drei Stunden, bis er in die Vorzimmer des Direktors vorgedrungen war, und eine weitere Stunde, bis Landon ihn schließlich begrüßte. Von Angesicht zu Angesicht hatte er den Direktor noch nicht gesehen, aber das Aussehen dieses Mannes war ebenso bekannt wie das des Komplexes, den er mit eiserner Hand leitete. Landon war ein Mann mittleren Alters – Nelson schätzte ihn auf Ende Vierzig –, und sein lockiger, brauner Bart wirkte ein wenig zerzaust. Wenn die Männer seiner Familie je ein humorvolles oder freundliches Zwinkern in den Augen gehabt hatten, dann war es aus der Erbmasse verschwunden, bevor Landon zur Welt kam. Aber er sah auch nicht hager oder erschöpft aus, wie man es sich von einem Mann in seiner verantwortungsvollen Position erwartet hätte. Wenn dieser Mann mit dem hartgeschnittenen Kinn und den
präzisen Handbewegungen eine unangreifbare Eigenschaft besaß, dann war es ein unerschütterliches Selbstvertrauen. »Nelson?« Der Direktor streckte seine Hand zur Begrüßung aus. »Ich bin Landon.« »Erfreut, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Nelson. »Soll ich Sie Doktor nennen oder Mister oder…?« »Landon genügt«, antwortete der Direktor. »Kommen Sie in mein Büro, und nehmen Sie Platz.« Nelson folgte ihm in einen Raum, dessen Einrichtung von beinahe spartanischer Strenge war. Er hatte nicht genau gewußt, was er eigentlich erwartete, aber das hier war es ganz gewiß nicht gewesen: einen einfachen Holzschreibtisch, drei Stühle, zwei Sprechanlagen, ein kleines Bücherregal, ein paar ziemlich gewöhnliche pastorale Gemälde an der Wand (er hielt sie für Drucke) und ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und vier Gläsern. Der Fußboden war abgenutzt und bestand aus einem Holz, das er noch nie gesehen hatte. Landon zog einen Stapel Papiere aus einer Schreibtischschublade und blätterte sie durch; hin und wieder warf er einen Blick auf Nelson. »Bartholomew Nelson«, sagte er, halb lesend, halb sinnierend. »Siebzehn Jahre im Pioniercorps gedient, vorher Studium der Chemie, Geologie und Soziologie. Vierundzwanzig Aufträge erhalten, sechzehn ausgeführt, sieben platzen lassen. Einer ist derzeit Gegenstand eines Gerichtsverfahrens.« Er sah auf. »Alles in allem nicht schlecht, wenn man bedenkt, was für Planeten darunter waren. Verwandt mit dem Nelson, der bei der Erschließung von Bowman 29 dabei war?« »Das war mein Großvater, Sir«, antwortete Nelson. »Guter Mann. Hab’ ihn nie kennengelernt, aber man hat immer mit Hochachtung von ihm geredet. Hat hervorragende Arbeit auf Delphini VII und VIII geleistet, nach Bowmans Tod. Aber ich
habe Sie nicht hergebeten, um mit Ihnen über Ihre Vorfahren zu plaudern.« »Das habe ich mir gedacht, Sir«, sagte Nelson. »Also«, sagte Landon. »Ich habe einen Job für Sie, wenn Sie Lust dazu haben.« »Verzeihen Sie, Sir«, sagte Nelson, »aber ist es nicht sehr ungewöhnlich, daß der Direktor der Kartographenbehörde sich mit Aufträgen dieser Art befaßt? Ich meine, bisher habe ich immer mit der Flotte verhandelt, gelegentlich auch mit jemandem aus der geologischen Abteilung.« »Absolut richtig«, stimmte Landon zu. »Es ist durchaus ungewöhnlich. Es ist überhaupt noch nie vorgekommen.« »Darf ich fragen, wieso es jetzt vorkommt?« »Das dürfen Sie. Aber lassen Sie sich von der Antwort nicht verwirren.« »Das werde ich nicht.« »Gut, reden wir also offen miteinander: Ich habe einen Job für Sie, von dem die Flotte nichts weiß und den sie zweifellos mißbilligen würde, wenn sie davon erführe.« »Ist so etwas nicht gleichbedeutend mit Verrat, Sir?« fragte Nelson, eher verblüfft als schockiert. »Das ist eine Frage des Standpunktes«, erwiderte Landon. »Falls Sie sich dann sicherer fühlen, kann ich Ihnen sagen, daß Sie für die mächtigste Einzelorganisation in der gesamten Galaxis arbeiten werden.« »Aber Sie sind doch nichts weiter als ein Haufen Kartenzeichner!« platzte Nelson heraus. Landon starrte ihn einen Moment lang eisig an und redete dann weiter, als habe ihn niemand unterbrochen. »Und – das sage ich in aller Bescheidenheit – Sie werden für den mächtigsten Mann in der Geschichte der Menschheit arbeiten: für mich.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob ich weiß, was ich dazu sagen soll, Sir«, antwortete Nelson. »Ein wenig habe ich das Gefühl, daß jemand sich einen Spaß mit mir machen will.« »Ihre Gefühle sind mir schnuppe«, sagte Landon. »Aber wenn Sie den Job meinen Anweisungen entsprechend ausführen, biete ich Ihnen eine halbe Milliarde Dollar – oder einhundert Millionen Credits, falls Ihnen diese neumodische Währung lieber ist.« Noch einmal wühlte er in seinem Schreibtisch herum und förderte einen Scheck zutage. Er schob ihn zu Nelson hinüber, und der studierte ihn und stieß dann einen leisen Pfiff aus. »Glauben Sie jetzt immer noch, ich mache Witze?« »Sagen wir, meine Vorbehalte schwinden dahin«, antwortete Nelson. »Ich hab’ nichts dagegen, ein reicher Verräter zu sein. Nicht wenn es um solche Summen geht.« »Es hat nichts mit Verrat zu tun«, sagte Landon. »Wenn Sie Ihre Arbeit getan haben, sind Sie wahrscheinlich ein größerer Held als ich. Es ist nur so, daß manche Dinge im Papierkrieg auf der Erde steckenbleiben, und deshalb würde es Jahre dauern, wenn man die Sache durch offizielle Kanäle laufen ließe. Wenn die verdammten Idioten nur einmal auf mich hören wollten, dann würden sie den gesamten Regierungsapparat mit Mann und Maus nach Deluros VIII verlagern: Deluros VIII ist zwanzigmal so groß wie die Erde, hat das gleiche Klima und liegt erheblich näher am Zentrum der Dinge. Irgendwann wird der Umzug ohnehin unvermeidlich sein, aber sie trödeln eben zu gern. Das macht es verdammt schwierig für mich, ihnen ihre Galaxis zu erobern. Ich tu’s natürlich, aber sie könnten mir die Arbeit erheblich erleichtern.« Nelson klappte die Augen ein paarmal auf und zu. Das Ganze war offensichtlich kein Traum, und der Direktor war nicht so wie die Irren, denen er bisher begegnet war, aber alles, was er
sagte, klang schrecklich grotesk. Ein Kartenzeichner bot einem Pionier keine halbe Milliarde Dollar für einen Verrat und beklagte sich dann, weil die Regierung ihn bei der Eroberung der Sterne behinderte. »Ich sehe Zweifel in Ihrem Blick«, bemerkte Landon trocken. »›Verblüffung‹ wäre zutreffender«, sagte Nelson. »Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann ist es eine überraschende Enthüllung. Wenn nicht, dann hat ein völlig aus dem Gleichgewicht geworfener Egomane die Leitung einer ziemlich bedeutenden Regierungsbehörde inne. Beides trifft mich ein wenig unvorbereitet.« Landon lachte zum ersten Mal. »Das ist es, was mir an euch Pionieren gefällt. Wer sonst würde dem Direktor der Kartographie sagen, er habe nicht mehr alle Tassen im Schrank? Ich sag’ Ihnen was: Kommen Sie mit mir auf einen kleinen Rundgang. Vielleicht hilft Ihnen das, Ihre Entscheidung zu treffen. Und denken Sie immer daran: Verrückt oder nicht – aber ein Scheck von der Regierung kann nicht platzen.« »Nur aus diesem Grunde bin ich jetzt noch hier«, erwiderte Nelson offen. »Gut für Sie. Ich traue niemandem, der nicht seine eigenen Interessen im Auge behält. Kommen Sie jetzt.« Mit diesen Worten stand er auf und ging hinaus in sein Vorzimmer. Nelson folgte ihm. Als er seinen Bürokomplex verließ, gesellte sich ein Quartett von Sicherheitsbeamten zu ihm. Er ging auf einen kleinen, batteriegetriebenen Wagen zu, winkte Nelson, sich neben ihn zu setzen, wartete, bis die Beamten die Handgriffe umfaßt hatten, und fuhr dann mit hoher Geschwindigkeit einen langen Korridor hinunter. Nelson versuchte, sich die Richtung zu merken, die Landon einschlug, aber die vielen Abzweigungen verwirrten ihn, und bald ließ er sich seufzend zurücksinken. Niemals aber entfernte der Wagen
sich mehr als fünfzig Meter von der endlosen Außenwand, und Nelson hatte den Eindruck, daß es ständig, wenn auch kaum merklich, bergauf ging. Endlich kam der Wagen quietschend zum Stehen, und Nelson und Landon stiegen aus. Die Sicherheitsbeamten sprangen von ihren Trittbrettern herunter, machten aber keine Anstalten, ihnen zu folgen. Der Direktor führte den Pionier zu einer kleinen Tür. »Sie sind hoffentlich schwindelfrei?« erkundigte er sich. »Jawohl, Sir.« »Gut. Wenn wir durch diese Tür gehen, kommen wir auf einen Balkon. Er ist ziemlich lang und auch recht breit, aber hin und wieder kommt es vor, daß mir jemand schwindlig wird. Manchmal ist es Höhenangst, manchmal liegt es einfach an der Karte.« Landon trat durch die Tür, und Nelson folgte ihm auf dem Fuße. Und blieb stehen. Und riß die Augen auf. Und wäre beinahe vom Balkon gefallen. Unter ihm erstreckte sich die Galaxis. Keine Karte, nicht ein Haufen Pünktchen auf einer Wandtafel, sondern die Galaxis. So weit das Auge reichte und weiter, so tief das Auge blickte und tiefer, breitete sie sich vor ihm aus, in ihrer gigantischen Endlosigkeit, ihrer zarten, gewaltigen Schönheit. Millionen über Millionen von Sternen, Welten ohne Ende, natürliche und künstliche Satelliten in halsbrecherischen Kreisbahnen, hier ein interstellarer Komet, dort ein Meteorsturm und dort drüben riesige Massen aus undurchsichtigen Gasen. »Was halten Sie davon?« fragte Landon mit dem Gebaren eines stolzen Vaters. »Ich habe mir nie vorgestellt…« Nelson konnte seinen Blick nicht abwenden. »Ich habe nie vermutet…« Landon kicherte. »Eine hübsche Arbeit, nicht wahr? Es ist 57,8 Meilen lang, 6,2 Meilen tief und 38,1 Meilen breit. Es enthält jeden einzelnen
Stern der Galaxis, ohne Ausnahme, und auch jedes andere Objekt, das wir kennen. So gibt es zum Beispiel mehr als zwei Millionen Asteroiden zwischen Sirius XI und XII; allerdings müßten wir das Feld vergrößern, damit man wenigstens die größeren davon erkennen kann.« »Es ist ungeheuerlich«, sagte Nelson begeistert. »Und genau«, fügte Landon hinzu. »Es bewegt sich viel zu langsam, als daß Sie es wahrnehmen könnten, aber die gesamte Galaxis rotiert hier mit ihrer normalen Geschwindigkeit, ebenso die Planeten und alle anderen Objekte. Alle Solarstürme, Ionenstürme und sonstige, sind hier verzeichnet. Wir haben sogar jedes einzelne Schiff, das der Republik gehört, und auch noch ein paar Alienschiffe.« Nelson hörte nur zur Hälfte, was der Direktor sagte. Er war von der majestätischen Großartigkeit dieser Karte wie betäubt… und dabei war »Karte« eine so unzulängliche Bezeichnung. Bei näherem Hinschauen sah er, daß die Farben der verschiedenen Sterne beibehalten worden waren. Es gab rote und gelbe Sterne, weiße Zwerge, blaue Riesen, Binärsysteme, Trinärsysteme, ja sogar längst tote, schwarze Sterne. Obgleich er keinen der Planeten deutlich genug sehen konnte, hätte er seinen letzten Dollar darauf verwettet, daß die Topographie der Myriaden von Planeten peinlichst genau der Realität entsprach. »Das ist natürlich nur ein Anfang.« Landons Stimme drang wieder zu ihm durch. Der Direktor drückte auf einen kleinen Knopf am Geländer des Balkons und sprach in ein Mikrophon. »Steuerzentrale, hier spricht Landon. Zeigen Sie uns die Erde, und stellen Sie auf hohe Vergrößerung.« Im nächsten Augenblick leuchtete weit draußen in einem der Spiralarme der simulierten Galaxis ein Licht hell auf. Es war gut fünf Meilen weit entfernt, aber so grell, daß es Nelsons Aufmerksamkeit sofort auf sich lenkte. »Terra«, erklärte Landon. »Und wenn Sie jetzt so freundlich
sein wollen, einmal hochzuschauen…« Nelsons Blick folgte Landons ausgestrecktem Finger. Irgendwo über seinem Kopf – wie nah, konnte er nicht sagen – schwebte die Erde, gelassen unter ihrem wirbelnden Wolkenschleier rotierend. »Schlechtes Wetter heute«, meinte Landon entschuldigend. »Sonst könnte man mehr als nur Australien und die Antarktis erkennen. Ich kann die Wolken entfernen lassen, aber ich bin sicher, daß Sie wissen, wie der Rest aussieht. Und hier« – er zog einen Stapel Karten aus einem Schlitz unter dem Knopf, auf den er eben gedrückt hatte – »ist das komplette Datenmaterial über die Erde: Landfläche, Seefläche, Gravitation, Durchschnittstemperaturen auf den wichtigsten Landmassen, dominante Lebensformen, Bevölkerungsziffern, augenblicklich herrschende politische Systeme, Hauptreligionen, Wirtschaft, Militärpotential, stellare Allianzen, Technologie, Sprachen, die wichtigsten Rassen, Leben im Wasser, Alter des Planeten, seine Lebenserwartung, seltene Elemente, Zusammensetzung der Atmosphäre und ungefähr alles andere, was man so wissen muß.« »Und das können Sie mit jedem Planeten in der Galaxis tun?« fragte Nelson. »Mehr oder weniger umfangreich, jawohl. Es kommt immer darauf an, wie viele Informationen wir über den betreffenden Stern besitzen. Wenn Sie die Karten nicht mögen, gibt’s das gleiche auch auf Tapes, Mikrofilm oder Sprechprints.« »Das ist phantastisch«, meinte Nelson. »Es ist recht nützlich«, sagte Landon und schob die Karten zurück in den Schlitz. »Ich will Ihnen jetzt einen wesentlichen Zweck der Anlage demonstrieren.« Noch einmal drückte er auf den Knopf. »Wieder Landon«, sagte er. »Bitte jetzt die ganze Karte dimmen.« Die Galaxis verdunkelte sich, bis die nahegelegenen, größeren Sterne kaum noch sichtbar waren und die Planeten
und die weiter entfernten Sterne gänzlich verschwanden. Nelson fand, es sehe aus, als liege das Universum im Sterben. »Okay«, sagte Landon schließlich. »Jetzt geben Sie mir noch einmal die Erde, und zwar hell.« Fünf Meilen weit entfernt strahlte ein Licht auf, heller als die hellste Sonne. »Sehr gut. Und jetzt fangen Sie an mit Sirius V und lassen Sie jeden Planeten, den wir kontrollieren, aufleuchten, sagen wir, hellgelb, und lassen Sie sie dann brennen. Geben Sie mir fünf Stück pro Sekunde.« Nelson schaute fast sieben Minuten lang zu, wie eine Kaskade von leuchtend gelben Punkten sich wellenförmig von der Erde nach Deluros VIII und dann radial durch den Kern der Galaxis ausbreitete. Und das alles war von der Erde ausgegangen. Ein Gefühl des Stolzes durchbebte ihn, als er sah, wie die zweitausendjährige Geschichte menschlichen Unternehmungsgeistes sich vor seinen Augen wiederholte. »Ausgezeichnet«, sagte Landon. »Und jetzt suchen Sie mir alle bewaffneten Schiffe der Republik, lassen Sie sie grün aufleuchten und in Halbsekunden-Intervallen blinken.« Im nächsten Augenblick wimmelte die Pseudo-Galaxis von grünen Funken. Mehr als zwanzig Millionen Lichter blinkten hypnotisch, die meisten davon an der Peripherie gelber Lichter, aber nicht wenige – etwa eine Million – auch weit vor den Grenzen des menschlichen Reiches. »Schön«, sagte Landon. »Jetzt geben Sie mir in Blau jeden Planeten, auf dem menschliches Leben möglich wäre und der noch nicht kolonisiert worden ist.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Lassen Sie alle, die gegenwärtig von intelligenten Aliens bewohnt werden, viertelsekündlich blinken.« Absolut lautlos leuchteten vierzigtausend weitere Lichter auf, und das galaktische Panorama färbte sich bläulich. Nelson war überwältigt von der Vielzahl der blauen Welten; er schätzte,
daß etwa ein Zehntel von ihnen blinkte, während der Rest stetig leuchtete. »Noch eine letzte Bitte«, sagte Landon. »Zeigen Sie mir in Hellrot jede Welt im Besitz solcher nichtmenschlicher Intelligenzen, die in der Lage wären, sich uns militärisch zu widersetzen.« Neue Lichter strahlten auf, weit über dreitausend diesmal, rot und grell. Abgesehen von den ersten Schritten der Expansion des Menschen durch die Galaxis besaß nichts von dem, was Nelson bisher gesehen hatte, ein erkennbares Muster. Aber jetzt, als er zurücktrat und seine Blicke durch das buntschillernde Panorama streifen ließ, sah er, daß die kraftvolle Expansion in Kanälen verlaufen war, und er erkannte Pfade mit größerem und solche mit geringerem Widerstand, durch die der Mensch hatte vordringen können. »Begreifen Sie jetzt ein wenig von der Bedeutung, die die Kartographische Behörde hat?« fragte Landon. »Ich glaube ja«, antwortete Nelson. »Wir repräsentieren in einem sehr realen Sinne die expansionistische Bewegung der Republik. Mit unserer Anlage hier auf Caliban sind wir – und nur wir – im Besitz einer ausreichenden Anzahl von Daten, um wissen zu können, welche Planeten wertvoll sind und welche nicht, welche uns Probleme umweltlicher oder militärischer Natur bereiten können und welche Aliens sich wie verhalten können. Wir führen die Analyse der Geschichte einen Schritt weiter; wir sehen und studieren auch den Gezeitenstrom der Zukunft. Wir können mit den gleichen Mitteln, mit denen ich Ihnen unsere heutige Position demonstriert habe, buchstäblich Kriege auf der Karte ausfechten, und wir können mit großer Zuverlässigkeit so gut wie jedes logische Ergebnis einer jeden vorstellbaren Konfrontation vorhersagen. Wir sind nicht etwa
ein Arm der Flotte. Die Flotte ist die physische Extension der Kartographie.« »Wenn Sie das Ergebnis jeder militärischen Operation akkurat voraussagen können, warum führen wir dann keinen umfassenden Eroberungskrieg?« fragte Nelson. »Eine gute Frage, auf die es leider zwei noch bessere Antworten gibt. Die erste ist allgemein bekannt: Wir schätzen, daß mehr als zehntausend Planeten von intelligenten, nichtmenschlichen Arten bewohnt sind, was natürlich deren Chancen verbessert. Die zweite aber ist weit problematischer: Ich habe nicht gesagt, daß wir das Ergebnis militärischer Operationen akkurat voraussagen können. Ich habe gesagt, wir können jedes logische Ergebnis voraussagen. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Die menschliche Logik ist zwar nicht ausschließlich auf den Menschen beschränkt, aber in der gesamten Galaxis ist sie nicht eben im Überfluß verbreitet. Und es ist verdammt schwer vorauszusehen, was eine AlienIntelligenz tun wird oder was sie tun kann. Mit neunzig Prozent der rund tausend Arten, mit denen wir bisher zusammengetroffen sind, haben wir nicht die geringste Kommunikation aufnehmen können. So sehr unterscheiden sie sich von uns. Und da die große Karte das Produkt menschlicher Intelligenz und Tatkraft ist, projiziert sie Resultate, die auf strikt menschlicher Logik und Erfahrung beruhen. Wir kennen einfach kein anderes philosophisches System, mit dem wir sie programmieren könnten.« »Ich verstehe.« Nelson nickte. »Eine Zeitlang glaubte ich beinahe, daß die Möglichkeiten der Karte so gut wie grenzenlos seien. Aber sie ist immer noch die beeindruckendste Anlage, die ich je gesehen und von der ich je gehört habe… Jetzt gestehe ich auch bereitwillig ein, daß Sie vermutlich nicht übertreiben, wenn Sie behaupten, Sie seien
der mächtigste Mensch in der Geschichte. Ich nehme an, daß ohne Ihre Billigung kein Planet erforscht oder erobert wird?« »So ist es«, bestätigte Landon. »Sehr eindrucksvoll«, sagte Nelson. »In den letzten ein, zwei Jahren hat es ein halbes Dutzend Attentate auf den Minister gegeben. Die Täter wußten nicht, wo die eigentliche Macht liegt.« »Würde ihnen auch nichts nützen«, grunzte Landon. »Die meisten unserer Verteidigungsanlagen sind nicht unbedingt augenfällig, aber es gibt keinen Ort im ganzen Universum, der besser geschützt wäre. Bedenken Sie: Kein Schiff kann näher als fünfzig Lichtjahre an uns herankommen, ohne daß wir es auf der Karte haben und bis ins letzte Detail kennen. Ich will nicht behaupten, daß wir unangreifbar wären, aber es kann sich keiner hereinschleichen und jemanden ermorden.« »Woher bekommen Sie alle Ihre Informationen?« fragte Nelson. »Das Kartengebäude selbst ist nur ein winziger Teil des kartographischen Komplexes. Wir beschäftigen über vierhunderttausend Menschen, die nichts anderes zu tun haben, als die Informationen, die tagtäglich aus der gesamten Galaxis hereinströmen, zu sammeln und zu korrelieren. In den Tiefgeschossen haben wir einen Computerkomplex, neben dem das Kartengebäude winzig erscheint. Jemand hat mir einmal erzählt, daß die Schaltkreise insgesamt mehr als achthundert Millionen Meilen lang sind; ich frage mich allerdings, wer sich die Mühe macht, so etwas zu messen. Resultate sind das einzige, was zählt, und die bekommen wir. Die Daten werden in die Karten-Steuerzentrale weitergeleitet; sie liegt ebenfalls unterirdisch und grenzt an dieses Gebäude, dessen Rauminhalt etwa zwei Kubikmeilen beträgt. Dort werden die Informationen direkt in die Datenspeicher eingespeist und augenblicklich in kartographische Begriffe
übertragen. Als ich vorhin mit der Steuerzentrale sprach, hatte der Mann am anderen Ende nichts weiter zu tun, als ein paar Standardknöpfe zu drücken, die in den kartographischen Computerkomplex einprogrammiert waren. Was Sie hier sahen, kam Ihnen greifbar und dreidimensional vor, aber es war in Wirklichkeit ein Hologramm, produziert von ein paar hunderttausend modifizierten Lasern. Jedenfalls – die Facetten, die ich Ihnen gezeigt habe, sind statisch oder wenigstens so statisch, wie die Galaxis sein kann. Die Projektion unserer Expansion ist ein wenig mühsamer, und sie erfordert eine Menge intuitiver Interpretationen. Wie ich schon sagte, man kann nicht erwarten, daß ein fünfhundert Jahre alter Bewohner des Delphini-Systems, ein Wesen, das aus Silikon besteht, Ammoniak atmet, eine Sauerstoffverbindung ausscheidet und einen Stoffwechsel hat, den wir nicht annähernd analysieren könnten, auf eine bestimmte Reaktion so reagiert wie Sie oder ich. Und genau das«, schloß der Direktor, »macht die Sache interessant.« »Ich könnte mein ganzes Leben hier drinnen verbringen«, meinte Nelson. »Sie werden den Teufel tun«, entgegnete Landon. »Ich habe Sie nicht hergeholt, damit Sie sich hier um eine Stelle bewerben. Sie sind hier, weil ich einen Auftrag für Sie habe, und aus keinem anderen Grund.« »Warum haben Sie mir dann das alles gezeigt?« fragte Nelson. »Damit Ihnen das, was ich von Ihnen will, nicht so ganz ungenießbar vorkommt«, sagte Landon. »Jetzt wissen Sie zumindest, daß wir verdammt gute Gründe haben, wenn wir Ihnen einen solchen Auftrag erteilen.« »Na, dann heraus damit«, sagte Nelson. »Wie viele Götter soll ich erschlagen?«
Zur Antwort drückte Landon auf den Knopf am Geländer, nahm das Mikrophon in die Hand und sagte: »Landon hier. Drehen Sie das verdammte Ding, bis das System Gamma Leporis direkt vor uns hängt.« Die Achse der Pseudo-Galaxis neigte sich und begann so schnell zu rotieren, daß Nelson sich wie unter Hypnose in den Schlund des Wirbels gezogen fühlte. Millionen von Sternen jagten, beinahe zu schnell für seine Augen, an ihm vorbei. Dann stoppte die Rotation so schnell, wie sie begonnen hatte. »Sehr gut«, sagte Landon. »Lassen Sie die Planeten blau blinken.« Ein mittelgroßes Binärsystem erstrahlte plötzlich vor dem Balkon, umringt von sechzehn kleinen, bläulich blinkenden Lichtpunkten. »Schön«, sagte Landon. »Geben Sie mir alle Wasserwelten im Umkreis von zehn Parsecs und dazu die Heimatwelt der Lemm.« Weitere blaue Funken glühten auf und blinkten rasch, und Nelson sah, wie sich ein Muster herausbildete. Es zeigte sich eine zehn Parsecs lange Kette von Welten, insgesamt ein Dutzend – das System von Gamma Leporis nicht gerechnet – und dazu eine weitere, die noch einmal fünf Parsecs weit entfernt war. »Gut«, sagte Landon. »Färben Sie den Heimatplaneten der Lemm jetzt bitte grün und zeigen Sie mir alle anderen Wasserwelten, die sie besitzen.« Der entlegenste der Planeten verwandelte sich in einen unglaublich grellen, grünen Lichtpunkt; die übrigen zwölf Planeten sowie drei aus dem System von Gamma Leporis färbten sich rot. »Zum Schluß zeigen Sie mir noch die fünf nächstgelegenen Welten, die wir kontrollieren.« Fünf weiße Lichter strahlten auf, alle mehr als zwölf Parsecs weit entfernt. »So, Pionier«, sagte Landon. »Das ist unser Problem.« »Ihr Problem«, antwortete Nelson. »Mein’s ist es erst, wenn ich weiß, wovon Sie reden.«
»Die Sache ist sehr einfach«, sagte der Direktor. »Die Planeten vier, fünf und sechs im System von Gamma Leporis sind Wasserwelten. Das bedeutet, daß sie von Ozeanen umhüllt sind. Keine Kontinente, nicht einmal eine Insel. Das gleiche gilt für die anderen zwölf Welten, die Sie rot leuchten sehen.« »Und?« »Die Planeten neun und zehn von Gamma Leporis sind reich an natürlichen Elementen, die die Republik braucht: Eisen, Blei, Gold und sogar ein wenig Uran.« »Und was hat das eine mit dem anderen zu tun?« fragte Nelson. »Nicht viel, von den Lemm einmal abgesehen«, erklärte Landon. »Wir wissen nicht viel über sie, mit Ausnahme der Tatsache, daß sie uns zumindest in einer Hinsicht sehr ähnlich sind.« »Und in welcher?« »Sie wollen ein Imperium. Sie haben auf den fünfzehn in Frage stehenden Wasserwelten Stützpunkte eingerichtet, künstliche Inseln.« »Weshalb kümmert uns das, wenn wir an den Rohstoffen auf den wasserlosen Welten interessiert sind?« »Eine gute Frage«, sagte der Direktor. »Ich will es einmal so formulieren: Was würden Sie dazu sagen, wenn eine AlienMacht sich auf Deluros V etablieren würde?« »Das würde mir nicht gefallen«, antwortete Nelson. »Und wieso nicht?« »Die Galaxis ist groß. Sie sollen sich anderswo suchen, was sie brauchen. Das Deluros-System gehört uns.« »Und wenn es friedliche Aliens wären?« »Warum dann dieser Expansionismus?« entgegnete Nelson. »Und wieso fragen sie uns nicht vorher um Erlaubnis?« »Genau«, sagte Landon. »Nun, zufällig haben wir die Bewohner des Systems von Gamma Leporis sehr wohl um Erlaubnis gebeten.«
»Und was hat das mit den Lemm zu tun?« »Eine ganze Menge«, sagte Landon. »Sehen Sie, die ichthyoide Bevölkerung von Gamma Leporis IV ist eine sehr alte Rasse. Etwa vier Milliarden Jahre alt. Ihre Intelligenz hat einen Punkt erreicht, von dem der Mensch nicht träumen könnte, nicht einmal in ferner Zukunft. Aber die Natur hat ihnen einen üblen Streich gespielt: Sie hat sie total aquatisch werden lassen. Eine Rasse ohne Technologie kann keine Fortschritte machen, und neunundneunzig Prozent aller Technologie basiert auf der Verwendung des Feuers. Auf einer Wasserwelt aber gibt es kein Feuer.« »Also sind die Lemm gekommen und haben den Planeten erobert?« fragte Nelson. »Erobert ist nicht der richtige Ausdruck«, erwiderte Landon. »Die Lemm setzten einfach ein paar schwimmende Inseln ab, warfen ein paar Tiefenbomben, gegen die die Ichthyoiden sich nicht wehren und auf die sie nicht reagieren konnten, und forderten, daß die Ichthyoiden die Rohstoffe ihrer Welt abbauten und ihnen überließen.« »Das klingt, als wären wir’s selbst gewesen«, meinte Nelson mit einem billigenden Unterton. »Es geht noch weiter«, sagte Landon. »Wir haben fast ein Jahr gebraucht, um wenigstens auf einer fundamentalen Ebene mit den Ichthyoiden kommunizieren zu können. Sie wollten weder mit uns noch mit den Lemms etwas zu tun haben. Die Lemm sind technologisch höher entwickelt; ich könnte mir vorstellen, daß wir mit ihnen innerhalb weniger Tage zu einer Kommunikation gelangen könnten.« »Warum tun wir es nicht?« »Es ist nicht nötig«, erklärte der Direktor. »Wir haben ziemlich genaue Kenntnisse über ihre Fähigkeiten, ihre Wissenschaft und ihr Empfinden gegenüber anderen Rassen.« »Was heißt das?«
»Nun, es gibt beispielsweise keine Kuppeln auf den Wasserwelten. Das bedeutet, daß die Lemm auf Kohlenstoff basierende Sauerstoffatmer sind. Die Grundlagen ihrer Wissenschaft sind offensichtlich ein wenig anders als die der unsrigen, denn sonst wären sie eher an Gamma Leporis IX und X als an den Wasserwelten interessiert. Und wir wissen, daß sie eine aggressive Rasse sind, die gegen einen gelegentlichen Eroberungsfeldzug nichts einzuwenden hat.« »Warum schicken wir nicht die Flotte gegen sie?« fragte Nelson. »Aus zwei Gründen. Erstens: Da ihre Wissenschaft sich von unserer unterscheidet, wissen wir nicht, was sie gegen uns zu unternehmen in der Lage sind. Unsere Verbreitung in der Galaxis ist noch zu dünn, als daß wir uns jetzt schon in einen größeren Krieg verwickeln lassen könnten.« »Und was ist der zweite Grund?« »Ganz einfach: Wir sind im Verhältnis von einer Million zu eins in der Minderzahl in der Galaxis. Wir werden sie für uns gewinnen, eines Tages, Stück für Stück. Aber wenn wir zu früh in unserer Laufbahn zu viel Getöse machen, dann könnten sich unsere Gegner – die realen und die potentiellen – miteinander verbünden, bevor wir bereit sind. Deshalb sagt die Flotte: Pfoten weg.« »Aber Sie denken gar nicht daran«, sagte Nelson. »Genauso ist es«, bestätigte Landon. »Wir brauchen diese Welten.« Er nahm das Mikrophon in die Hand. »Zeigen Sie alle Welten, die gegenwärtig in Betracht kommen, in Weiß«, sagte er. »Und dann auch die fünfzig nächstliegenden, von Menschen kontrollierten Welten.« Er wartete einen Augenblick und wandte sich dann an Nelson. »Sehen Sie?« sagte er. »Es ist eine neue Expansionslinie, die ein weiteres Dutzend Systeme in unsere Sammlung bringen und ein weiteres Dutzend unserem Einflußbereich unterwerfen würde.«
»Und was wäre dabei mein Job?« wollte Nelson wissen. »Lassen Sie den Heimatplaneten der Lemm in Ruhe«, sagte Landon, »aber vertreiben Sie sie von den Wasserwelten. Können Sie das?« »Ich denke schon«, meinte Nelson und kratzte sich am Kopf. »Wenn sie Sauerstoffatmer sind, dürfte es nicht allzu schwierig sein, die Luft zu vergiften. Eine oder zwei wirklich gemeine Bomben auf jeden Planeten…« »Keine Bomben«, sagte Landon. »Wenn ich einen Krieg haben wollte, würde ich die Flotte hinschicken.« »Aber die will doch nicht«, gab Nelson zu bedenken. »Egal. Wir wollen nicht, daß die Lemm herausfinden, was mit ihnen passiert ist oder wer dafür verantwortlich ist.« »Okay«, sagte Nelson. »Dasselbe Prinzip: Die Luft wird vergiftet. Ohne Bomben ist es mehr Arbeit, aber es geht.« »Heimlich?« Nelson nickte. »Und ich kann es kurzlebig machen, so daß der Effekt nach rund zwei Jahren wieder verschwindet. Dann können wir kommen. Im Grunde könnte man sich die Landwelten gleichzeitig vornehmen«, fügte er hinzu. »Das würde sie irreführen, und außerdem könnten sie sich dann nicht dorthin zurückziehen. Wie viele Lemm werde ich ungefähr töten?« »Das brauchen Sie nicht zu wissen.« »Nein, vermutlich nicht«, sagte Nelson zustimmend. »Noch Fragen?« erkundigte sich der Direktor auf dem Rückweg zum Wagen. »Nur eine«, sagte Nelson. »Ich tue das, damit wir zwei Welten besetzen können: Gamma Leporis IX und X. Aber Ihre Kartenprojektion zeigte siebzehn neue Welten.« »Auf elf dieser Wasserwelten gibt es kein intelligentes Leben. Und wenn die Lemm erst vertrieben sind, könnte ich
mir vorstellen, daß die Ichthyoiden sich nur allzu gern mit ihren Rettern verbünden werden.« »Und wenn nicht?« »Tja«, sagte Landon, und ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen, »wenn es darauf ankommt, glaube ich, kann der Mensch eine Wasserbombe bauen, die mindestens ebenso stark ist wie die der Lemm. Meinen Sie nicht auch?« Nelson nickte heftig.
3: Die Bergleute … Es war in der Periode zwischen 370 und 390 G. Z. daß die Föderation der Bergleute die ersten, noch zögernden Schritte zu einer Position der finanziellen und politischen Macht unternahm; geführt wurde die Föderation von dem kühnen, visionären Jerim Coleman, einem jungen Jurastudenten, der die Sache der Bergleute zu seiner eigenen gemacht hatte. Coleman, ein zutiefst moralischer und religiöser Mann, war verantwortlich für den heldenhaften Kampf der unterdrückten Bergleute auf fünf Außenwelten, einschließlich… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
…Coleman, der den Höhepunkt seiner Macht gegen Ende des fünften Jahrhunderts (G. Z.) erreichte, verkörperte die verabscheuungswürdigsten Eigenschaften des Menschen in der Periode seiner größten galaktischen Expansion. Unnachgiebig und kompromißlos, war er allein für den Tod von mehr als fünftausend Angehörigen seiner eigenen Spezies verantwortlich, außerdem… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
An der Tür traf Coleman auf eine Butterkugel. So etwas kam nicht gänzlich unerwartet. Er wußte, daß die Bergleute sich nicht selten mit den eingeborenen Lebensformen zusammentaten, gelegentlich aus beidseitigem Bedürfnis, aber häufiger aus schierer Einsamkeit und Langeweile. Und er wußte auch genug, um zu bleiben, wo er war, bis einer der Bergleute auftauchte. Jede Spezies, die Gamma Leporis IX – mit seiner bitteren Kälte, den rasenden Winden, den Staubstürmen und der lastenden Gravitation – ihre Heimat nennen konnte, mußte ziemlich rauhe Burschen hervorbringen, die man besser nicht verärgerte. Die Butterkugel stieß einen trommelfellzerfetzenden Schrei aus, und einen Augenblick später öffnete einer der Bergleute die Tür. »Was ist los, Ferdinand?« fragte der grauhaarige Mann. Dann fiel sein Blick auf Coleman. »Sind Sie von der Föderation?« Coleman nickte. »Na, dann kommen Sie herein«, sagte der Bergmann. »Kümmern Sie sich nicht um Ferdy. Alles in allem ist er ziemlich harmlos.« Coleman folgte dem Mann in das große Auditorium. Die meisten Plätze waren besetzt. Er schätzte die Zuhörerzahl auf dreihundertfünfzig. Das war nicht schlecht, wenn man bedachte, daß auf dem ganzen Planeten nur vierhundertzweiundzwanzig Menschen lebten. Er ging unverzüglich zum Rednerpodium, stellte seine Aktentasche ab, zog einen Stapel Papier heraus und nahm dankbar zur Kenntnis, daß auf dem Regal direkt unter dem schrägen Brett, auf dem er seine Papiere ablegen sollte, das aber zweifellos statt dessen als Stütze für seine Ellbogen dienen würde, eine Tasse Kaffee stand. Er dachte daran, den Mantel auszuziehen, beschloß dann aber zu warten, bis ihm ein wenig wärmer
geworden wäre. Er nahm einen Schluck Kaffee, klopfte prüfend auf das Mikrophon und sah ins Publikum. »Meine Herren«, sagte er und wartete, bis die leisen Gespräche ringsum gänzlich verstummt waren. »Es freut mich, daß Sie in so großer Zahl erschienen sind. Ich bin froh, daß Sie diese Versammlung für so wichtig hielten, daß Sie Ihre Videos für eine Weile verlassen haben.« Für diesen Satz hatte er sich einen leisen Lacher erhofft, und erfreut stellte er fest, daß tatsächlich ein heiteres Raunen durch die Versammlung ging. Gamma Leporis IX war mehr als ein Lichtjahr von der nächsten Sendestation entfernt. »Sagen Sie«, fuhr er fort, blies sich in die Hände und rieb sie aneinander, »wann ist denn hier eigentlich Sommer?« »Wir haben Sommer«, schrie jemand. »Sie sollten mal herkommen, wenn’s draußen wirklich frisch ist.« Das brachte den Lacher, auf den er gewartet hatte. Wenn es hier einen Hauch von Feindseligkeit gegeben hatte, dann war sie zumindest vorläufig besänftigt. »Tja, meine Herren«, sagte er, »ich will gleich zur Sache kommen. Mein Name ist Jerim Coleman, und ich vertrete die neugegründete Föderation der Bergleute. Gegenwärtig besitzt die Republik achthundertdreiundfünfzig Bergbauwelten. Mehr als die Hälfte davon hat sich bereits für die Föderation ausgesprochen – und dabei haben wir uns auf vielen noch gar nicht vorgestellt. Ich habe darum gebeten, heute abend zu Ihnen sprechen zu dürfen, weil ich Ihnen ein wenig über uns erzählen und Ihnen eine Reihe von konkreten Gründen darlegen möchte, weshalb es in Ihrem eigenen Interesse liegt, sich der Föderation anzuschließen.« Sein Blick wanderte durch das Publikum. So weit, so gut. Jetzt also die seidenweiche Hand in einem Handschuh aus gehärtetem Stahl.
»Ich weiß, daß Sie schon eine ganze Reihe von Geschichten über das gehört haben, was Sie erwartet, wenn Sie der Föderation beitreten. Ich will also nicht um den heißen Brei herumreden. Wenn Sie unserer Organisation beitreten, wird jeder von Ihnen fünf Erdenjahre lang die Hälfte seines Einkommens an uns überweisen müssen. Jeder von Ihnen wird einen Vertrag unterschreiben müssen, mit dem er sich verpflichtet, den Bergbauberuf noch mindestens fünfzehn Jahre lang auszuüben. Sie werden sich außerdem einer umfangreichen psychologischen Schulung unterziehen müssen.« Er wartete auf die Reaktion, die er schon so viele Male an so vielen Orten erlebt hatte: zuerst Stille, dann Flüstern und Murmeln und schließlich eine Reihe empörter Beschimpfungen, Ausrufe und Fragen. Er wartete vier volle Minuten, bis der Geräuschpegel sich wieder so weit gesenkt hatte, daß er fortfahren konnte. »Meine Herren«, sagte er dann, »schenken Sie mir noch ein paar Minuten Ihre Aufmerksamkeit. Die meisten der Einwände, die Sie erheben wollen, sind mir bekannt, und ich will mein Bestes tun, darauf sofort zu antworten. Wenn ich damit fertig bin, werde ich nur allzugern Fragen aus dem Publikum beantworten. Ich bitte Sie nur, mich erst zu Ende anzuhören. Außerdem«, fügte er hinzu, »wird der Heimweg angenehmer, wenn Ihnen das Blut kocht.« Ein paar der Männer grinsten, und irgendwo links johlte einer. »Ihr Haupteinwand ist vermutlich der, daß keine Organisation so viel für Sie tun könnte, daß sie die Hälfte Ihres Jahreseinkommens verdiente. Schließlich wird keine zweite Berufsgruppe so gut bezahlt wie Sie. Nicht, daß Sie es nicht verdienten: Sie sind schließlich keine einfachen Hackenschwinger, sondern hochtrainierte Spezialisten, Sie haben die Aufsicht über die Minenroboter und sind für sie
verantwortlich, und Sie raffinieren das Erz, das sie zutage fördern. Mit all dem sind Sie beinahe unersetzbar. Ihr zweiter Einwand richtet sich gegen den Fünfzehn-Jahres-Vertrag. Sie werden hoch bezahlt, weil Ihre Arbeit infolge der Umweltbedingungen extrem riskant ist; Sie alle – oder doch die meisten – hoffen darauf, hier ein Vermögen zu machen und dann in die Zivilisation zurückzukehren und dort ein paar der hartverdienten Credits auszugeben. Habe ich recht mit dieser Annahme?« Alle nickten zustimmend. »Gut. Nun, bevor ich auf diese und auf andere Einwände eingehe, möchte ich Ihnen ein paar Minuten lang über den Hintergrund der Föderation berichten, damit Sie besser begreifen können, was genau wir Ihnen anzubieten haben. Schließlich könnten wir solche extremen Mitgliedschaftsbedingungen nicht stellen, wenn wir Ihnen für Ihre Zeit und Ihr Geld nichts Gleichwertiges zu bieten hätten. Und versuchen Sie bei allem bitte stets im Kopf zu behalten, daß dreiundachtzig Prozent der Welten, denen die Mitgliedschaft angeboten wurde, unserer Organisation beigetreten sind. Betrachten wir einmal, ohne das bisher Gesagte zu vergessen, kurz die Bergbauindustrie, wie sie heute existiert. Die Republik kontrolliert nahezu dreitausendfünfhundert Welten, und fast ein Viertel davon ist ausschließlich dem Bergbau vorbehalten. Die Republik hat rund siebenunddreißig Milliarden Bürger, und weniger als zwei Millionen davon sind Bergleute. Im Grunde befinden wir uns also in einer Situation, in der weniger als ein Zehntausendstel-Prozent der Republikbevölkerung mehr als zwanzig Prozent des Republikterritoriums kontrolliert. Ökonomisch gesehen ist das Ungleichgewicht noch größer. Die Energieversorgung der Republik ist nahezu ausschließlich durch die Kernkraft gewährleistet – bis auf einen kleinen Teil kommt das gesamte
spaltbare Material von dreihundertsieben Bergbauwelten. Eine davon ist Gamma Leporis IX. Die Republik braucht Metalle für Schiffe und Rüstungsgüter – diese kommen ausnahmslos von den Bergbauwelten. Eine davon ist Gamma Leporis IX.« »Also brauchen sie uns«, sagte eine gelangweilte Stimme direkt vor ihm. »Deshalb bezahlen sie uns ja so gut.« »Ah, aber tun sie das wirklich?« erwiderte Coleman. »Sie, Sir, scheinen nichts dagegen zu haben, mit mir zu reden: Hätten Sie etwas dagegen, mir zu sagen, wie hoch Ihr Jahresgehalt ist?« »Warum nicht?« antwortete der Mann trotzig. »Fünfundsiebzigtausend Credits.« »Und was ist Ihr Job?« »Gold- und Silberförderung.« »Wieviel fördern Sie?« »Eine Menge.« »Mehr als eine Tonne im Jahr?« »Eher eine Tonne in der Woche«, sagte der Bergmann nicht ohne Stolz. »Kennen Sie den gegenwärtigen Goldpreis?« wollte Coleman wissen. »Nein, den kenne ich nicht. Er ist vermutlich hoch.« »Sie vermuten richtig, mein Freund«, sagte Coleman. »Dreiundfünfzig Credits die Unze. Die Republik bezahlt Ihr Gehalt mit dem, was Sie an einem Tag fördern, und hat dabei noch Geld übrig. Und das ist nicht die einzige Art, Sie zu übervorteilen«, fuhr Coleman fort, jetzt wieder an das ganze Publikum gewandt. »Ich habe dem Einführungsvortrag entnommen, daß auf dieser Welt ursprünglich tausend Bergleute lebten, als man vor zehn Jahren den Betrieb hier aufnahm. Was ist aus den übrigen fünfhundertachtundsiebzig geworden?«
»Die Nelsons haben sie erwischt«, sagte der Mann, der auch vorher gesprochen hatte. »Und was, bitte, sind die Nelsons?« fragte Coleman. »Wenn Sie je einen sehen, werden Sie’s wissen«, sagte der Mann andächtig und unter großem Gelächter des Publikums. »Vor vierzig Jahren hat sie ein Typ namens Nelson entdeckt, der Pionier, der dieses System erschlossen hat. Es sind große, pelzige Lebewesen. Fleischfresser können sie nicht sein, da es auf diesem Planeten keine Beutetiere für sie gibt. Ich vermute, daß sie sich von Mineralien ernähren, obwohl ich nicht weiß, wie sie damit einen Pelz hervorbringen können. Aber was sie auch sein mögen, jedenfalls haben sie es nicht gern, wenn man durch ihren Futtertrog läuft.« »Mit anderen Worten, sie haben mehr als fünfhundert Bergleute getötet?« »Sie haben sie in kleine Stücke zerrissen«, erklärte der Mann. »Sie hätten uns vermutlich alle abgeschlachtet, wenn wir nicht auf die Butterkugeln gestoßen wären.« »Butterkugeln?« wiederholte Coleman, der genau wußte, wovon die Rede war. »Große, runde, gelbe Dinger mit kleinen Stummelbeinchen. Sie haben eins gesehen, als Sie hereinkamen. Sind völlig zahm, aber Gift für die Nelsons. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber anscheinend senden sie eine Art Strahlung oder elektrische Ladung aus, mit denen sie die Nelsons aus den Schuhen werfen. Wir haben herausgefunden, daß sie verrückt sind nach Magnesium; also geben wir ihnen alles, was wir finden, und dafür bleiben sie in der Nähe und verhindern, daß die Nelsons uns dezimieren. Damit sind alle Beteiligten zufrieden – außer den Nelsons.« »Abgesehen also von allen anderen Risiken, denen Sie ausgesetzt sind«, folgerte Coleman, »müssen Sie sich auch noch einer feindseligen Alienpopulation erwehren. Außerdem
haben Sie die Butterkugeln zu loyalen Alliierten der Republik gemacht, ohne daß man sich dafür erkenntlich gezeigt hätte. Stimmt das?« Alle nickten zustimmend. »Deshalb behaupte ich, daß die Bergleute die am meisten ausgebeutete Minorität der Republik sind«, erklärte Coleman. »Was immer sie Ihnen bezahlen – es ist nicht genug. Ganz gleich, welche politische und ökonomische Macht Sie besitzen – sie ist winzig im Vergleich zu der, die Ihnen zukommt. Und das, meine Herren, ist der Grund für die Existenz der Föderation.« »Wir haben alle nichts gegen bessere Verträge«, sagte ein Mann im Hintergrund. »Aber Sie haben uns noch nicht gesagt, wie Sie uns dazu verhelfen wollen und wozu Sie soviel Geld brauchen.« »Dazu komme ich jetzt«, sagte Coleman. »Zunächst einmal kann die Föderation nur funktionieren, wenn mindestens achtzig Prozent der Bergbauwelten ihr beigetreten sind. Vorher ist unsere Macht einfach nicht groß genug. Aus diesem Grunde brauchen wir Zeit: Zeit, um eine machtvolle Lobby auf der Erde und auf Deluros VIII zu organisieren, Zeit, um der Regierung klarzumachen, daß sie keine andere Wahl hat, als mit uns zu kooperieren. Wir veranschlagen dafür mindestens zwölf Jahre, und deshalb müssen wir verlangen, daß Sie mindestens fünfzehn Jahre bei uns bleiben. Wenn die Sache einmal ins Rollen gekommen ist, wäre das einzige, was uns aufhalten könnte, die Auflösung unserer eigenen Reihen.« »Und wozu soviel Geld?« wollte ein anderer Bergmann wissen. »Aus den gleichen Gründen: Lobby, Organisation und Propaganda. Und wenn Sie noch fünfzehn Jahre auf diesem Planeten bleiben, haben Sie sowieso keine Möglichkeit, das Geld auszugeben.« »Und was haben Sie uns als Gegenleistung zu bieten?« fragte derselbe Mann, immer noch zweifelnd. »Anbieten ist vielleicht
das falsche Wort«, erwiderte Coleman gelassen. »Wir werden eine substantielle Beteiligung an allem fordern. Jeder Bergmann wird ein Dreihundertstel dessen bekommen, was er produziert. Kein Gehalt, so astronomisch es auch sein mag, könnte eine solche Höhe erreichen. Wir werden zudem auf einer politischen Vertretung bestehen, die noch nicht in allen Details konzipiert worden ist. Eine Vertretung aber, die auf dem Anteil an der Gesamtbevölkerung basiert, ist für uns gänzlich unakzeptabel, und eine, die unserer ökonomischen Bedeutung entspricht, ist gegenwärtig noch nicht denkbar. Aber wir müssen und werden ein tragbares Arrangement ausarbeiten.« »Und wenn die Republik nicht einverstanden ist?« fragte einer der Männer. »Sie wird einverstanden sein.« »Aber wenn sie es nicht ist?« »Dann werden alle Bergbauwelten der Republik in den Streik treten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird man Sie sorgfältig und gründlich darauf trainieren zu tun, was von Ihnen verlangt wird. Und wie lange, glauben Sie, kann die Republik einen galaxisweiten Streik durchstehen? Einen Tag? Eine Woche? Gewiß kein Jahr. Denken Sie darüber nach, meine Herren. Die Kartographie ist vielleicht die große Kraft, die unsere Expansion vorantreibt, aber Sie, und Sie allein, sind die wichtigste Macht, wenn es darum geht, nutzbar zu machen, was uns schon gehört. Bis heute waren Sie ein schlafender Riese, aber jetzt ist es an der Zeit, zu erwachen und die trägen Muskeln zu strecken.« Ein leises Raunen erfüllte den Raum. »Meine Herren, ich möchte Sie nicht drängen«, sagte Coleman, »aber ich muß Sie noch heute abend um Ihre Entscheidung bitten. Morgen früh werde ich abreisen, um Ihre
weniger glücklichen Kollegen auf Gamma Leporis X zu besuchen und…« »Was heißt das, ›weniger glücklich‹«, wollte ein Bergmann wissen. »Nun, die Luft hier ist vielleicht kalt«, sagte Coleman lächelnd, »aber man kann sie wenigstens atmen. Wie ich schon sagte, werde ich jetzt gern Ihre Fragen beantworten, aber ich brauche Ihre Entscheidung bis zum Sonnenaufgang, ganz gleich, wie sie ausfällt.« Niemand, am wenigsten Coleman selbst, war überrascht, als Gamma Leporis IX beinahe geschlossen für einen Beitritt zur Föderation stimmte.
Es dauerte keine zwölf Jahre. Alles war schneller gegangen, als Coleman erwartet hatte, und jetzt, sieben Jahre nach seinem Besuch im System von Gamma Leporis, stand er vor dem Sekretär der Republik, und der ergrauende Politiker stürzte sich aus einer Tirade in die andere, ohne eine Atempause einzulegen. »Was zum Teufel soll das heißen, Coleman?« schrie er zum dutzendsten Mal. »Das ist Erpressung, schlicht und einfach. Die Republik wird sich von einem Haufen militanter Querulanten nicht zu irgendwelchen Handlungen zwingen lassen.« »Ich bitte widersprechen zu dürfen, Sir«, sagte Coleman. »Mit allem Respekt natürlich. Aber wenn die Republik vor lauter Angst nicht beinahe den Verstand verloren hätte, dann wäre es sicher möglich gewesen, unser Problem auf einer niedrigeren Ebene zu regulieren.« »Ihr einziges Problem ist Ihre sogenannte Föderation!« bellte der Sekretär. »Und ich werde es nicht regulieren. Ich werde es zertreten.«
»Das glaube ich nicht«, versetzte Coleman. »Darf ich Platz nehmen, während wir darüber sprechen?« »Nein!« brüllte der Sekretär. »Sie dürfen nicht Platz nehmen, und wir werden auch nicht darüber sprechen! Wären Sie wie ein vernünftiger Mensch zu mir gekommen, hätte ich mit Vergnügen alles mit Ihnen diskutiert. Aber nein, Sie werfen mir eine Liste mit Ultimaten auf den Schreibtisch und verlangen, daß die Republik vor einer Horde wild gewordener Rowdys Kotau macht.« »Wenn ich mich wie ein vernünftiger Mensch benommen hätte«, sagte Coleman, »und wenn ich nicht mit einer Liste von Forderungen zu Ihnen gekommen wäre, die unter keinen Umständen zur Diskussion stehen, dann wäre ich wahrscheinlich gar nicht hier. Man würde mich zur Abkühlung von einem Büro ins andere schicken, und alle Regierungsmitglieder würden hoffen, daß das Problem sich von allein löst. Meine Gegenwart in Ihrem Büro ist an sich schon Beweis für die Wirksamkeit unserer Methoden.« »Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?« wollte der Sekretär wissen. »Sie sind kein Bergmann. Wie kommt es, daß Sie dieser Organisation angehören können? Wo ist das Hauptquartier der Föderation? Wer sind ihre offiziellen Vertreter?« »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen das erzählen werde«, antwortete Coleman ruhig. »Keine dieser Informationen könnte unserer Sache in irgendeiner Weise dienlich sein, aber ich könnte mir vorstellen, daß es unserer Organisation auf vielfache Weise schaden könnte, wenn ich Ihnen weitere Fakten über uns anvertraute.« »Auf welche Weise zum Beispiel?« »Es ist nicht unvorstellbar, daß unsere Zentrale unverzüglich attackiert würde, wenn Sie erst wüßten, wo sie sich befindet«, erklärte Coleman. »Wir beabsichtigen nicht, Gewalt
anzuwenden, aber wir sind durchaus willens, uns zu verteidigen und zu schützen. Unsere Macht liegt in unserer ökonomischen und moralischen Kraft, nicht in unserer militärischen Stärke.« »Sie werden bald erfahren, wie gering Ihre militärische Stärke wirklich ist«, sagte der Sekretär. »Wann soll dieser galaxisweite Streik stattfinden?« »Um Mitternacht wird er beginnen. Erdenzeit.« Der Sekretär drückte auf einen der zahllosen Knöpfe auf seiner Gegensprechanlage. »Die 27. Flotte ist augenblicklich nach Spica II in Marsch zu setzen. Pünktlich um Mitternacht, Erdenzeit, soll sie den Bergleuten befehlen, fünfzig Tonnen Eisen auszuliefern. Sollten die Bergleute sich weigern, hat die Flotte geeignete Schritte zu unternehmen, um das Eisen sicherzustellen. Verstanden?« Er schaltete das Gerät ab, ohne auf eine Antwort zu warten. »So, Mr. Coleman. Wollen sehen, was Ihrer Föderation dazu einfällt.« Coleman zog ein kleines Transistorsprechgerät aus der Tasche und schaltete es ein. »Hier spricht Coleman.« Er wartete, bis sein Stimmenmuster akzeptiert worden war. »Heute nacht ist es Spica II«, sagte er dann. »Schaffen Sie augenblicklich eine Kamera hin.« Er schob den Kommunikator in die Tasche und schaute den Sekretär, wie er hoffte, siegesgewiß lächelnd an. »Sie sind am Zug, Sir.« »Sie reden, als handelte es sich um ein Schachspiel und nicht um einen Fall von Hochverrat gegen die Republik«, sagte der Sekretär. »Aber da Sie die Grundregeln klargelegt haben, will ich hoffen, daß Sie sich auch daran halten werden.« Wieder schaltete er seine Gegensprechanlage ein. »Innerhalb der nächsten fünf Tage ist jedes Schiff, das sich dem Spica-System auf weniger als ein Parsec nähert, abzufangen und festzuhalten.« Er sah Coleman unverwandt an. »Glauben Sie immer noch, Sie hätten eine Chance?«
»Ich höre von Ihnen, wenn Sie bereit sind, unsere Forderungen öffentlich zu akzeptieren«, erwiderte Coleman. Er wandte sich um und verließ das Büro. Pünktlich um Mitternacht trat die Föderation der Bergleute in Streik. Elf Minuten nach Mitternacht verlangte der Kommandant des Flaggschiffs der 27. Flotte, daß die Bergleute von Spica II ihre Tagesförderung ablieferten. Zwölf Minuten nach Mitternacht hatten die Bergleute sich geweigert. Vierzehn Minuten nach Mitternacht stellte die 27. Flotte den Bergleuten ein Ultimatum mit einer Frist von zehn Minuten – danach, hieß es, werde man das Eisen gewaltsam holen und die Bergleute unter Arrest stellen. Zweiundzwanzig Minuten nach Mitternacht hatten die zweiundsiebzig Bergleute, die die Gesamtbevölkerung von Spica II bildeten, sich in der größten Raffinerie des Planeten versammelt und eine Serie von drei Atombomben gezündet. Drei Minuten nach ein Uhr wurde Coleman von einem bewaffneten Wachmann in das Büro des Sekretärs geführt. »Was zum Teufel versuchen Sie damit zu beweisen?« herrschte der Sekretär ihn an; offensichtlich hatte man ihn erst kürzlich aus tiefem Schlaf geweckt. »Wir versuchen nicht, irgend etwas zu beweisen«, entgegnete Coleman. »Wir versuchen, etwas zu erringen, nämlich unsere Rechte. Diese Bergleute haben sich zehn Jahre lang täglich drei Stunden einer intensiven hypnotischen Konditionierung unterzogen, und sie sind rückhaltlos bereit, für ihre Rechte zu sterben, falls dies notwendig sein sollte. Ja, sie sind so stark konditioniert, daß sie in dieser Frage überhaupt keine Wahl haben. Jeder Widerstand der Republik wird diese Reaktion auslösen. Ich versichere Ihnen, daß unsere Entschlossenheit nicht erschüttert werden kann und wird.«
»Verdammt, Ihre Leute sind die bestbezahlten in der ganzen Republik!« »Nicht gut genug bezahlt, wenn man bedenkt, welche Dienste wir der Republik leisten«, antwortete Coleman. »Sind Sie schon bereit, auf unsere Forderungen einzugehen?« »Sie können die Bergbauplaneten einen nach dem anderen in Stücke sprengen, bevor wir uns dieser Art von Erpressung beugen«, tobte der Sekretär. »Das bezweifle ich, Sir«, sagte Coleman. »Wenn die Republik erst einmal begriffen hat, wie fest die Bergleute an ihre Sache glauben…« »Davon wird nichts an die Öffentlichkeit dringen«, versetzte der Sekretär. »Wir haben Ihr Schiff festgehalten, und wir werden auch jedes andere Schiff aufhalten, das versucht, sich einem der Bergbauplaneten zu nähern.« »Dann wird Ihr eigenes Gewissen Sie schließlich zum Nachgeben zwingen.« Colemans Gesichtsausdruck zeigte größere Zuversicht, als er in Wahrheit empfand. »Schaffen Sie ihn hier raus«, befahl der Sekretär angewidert. »Steht er unter Arrest?« erkundigte sich einer der Adjutanten. »Verflucht, natürlich! Klagen Sie ihn des Hochverrats an, und sperren Sie ihn ein!« Coleman wurde in eine elektrifizierte Zelle gebracht. Er bekam genug zu essen und wurde mit größter Freundlichkeit behandelt. Jeden Morgen durfte er die Nachrichten-Tapes anschauen. Er fand nichts über die Ergebnisse der Streikaktion, nicht einmal einen Hinweis darauf, daß sie stattgefunden hatte, aber er war sicher, daß der Streik fortgesetzt wurde. Die Republik würde eine oder zwei Wochen lang ohne die Bergbauwelten auskommen können, vielleicht sogar drei. Aber dann würde der interstellare Verkehr knirschend zum Stehen kommen. Nicht lange, und die Krankenhäuser würden verzweifelt Nachschub verlangen. Sie würden die Not als erste
zu spüren bekommen, und Coleman bedauerte das. Aber nach kurzer Zeit würden auch die großen Raumfahrtkartelle betroffen sein, und sie würden laut und deutlich um Hilfe schreien. Selbst der Sekretär würde die Sache nicht mehr lange vertuschen können. Coleman verbrachte genau neunzehn Tage, sechs Stunden und vierundzwanzig Minuten im Gefängnis. Dann brachte man ihn wieder in das Büro des Sekretärs. Der Sekretär schien nach ihrer letzten Begegnung sichtlich gealtert zu sein. Tiefe, harte Falten umgaben seine Augen, und seine schlaffen Wangen schienen noch trauriger herabzuhängen. »Wenn Sie Freunde auf Praesepe II und VI, auf Alphard XVII oder auf Altair V hatten, dann werden Sie sie nie wiedersehen. Ich hoffe, das macht Sie glücklich.« »Es macht mich sehr traurig«, sagte Coleman ehrlich. »Und ich weiß, daß ihr Tod schwer auf dem Gewissen der Republik lasten muß.« »Und was ist mit Ihrem Gewissen?« fragte der Sekretär. »Berührt Sie die Tatsache, daß mehr als viertausend Patienten haben sterben müssen, weil die Krankenhäuser durch Ihren Streik lebenswichtiges Nachschubmaterial nicht mehr erhalten haben?« »Ich bedauere ihren Tod zutiefst«, sagte Coleman, seine Worte sorgfältig wählend. »Aber Sie wissen, was wir wollen. Wir sind unserer Sache ganz und gar ergeben, und zu viele von uns sind jetzt schon dafür gestorben. Wenn der Republik an den Rechten ihrer Bergleute und am Leben ihrer Kranken etwas liegt, hat sie die Möglichkeit, den Streik noch in dieser Minute zu beenden.« »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Drohungen beeindrucken uns nicht.« »Wir können warten«, sagte Coleman. »Die Zeit ist auf unserer Seite. Nicht einmal Sie, der Sie alle Mittel der
Republik zur Verfügung haben, können die Angelegenheit sehr viel länger vertuschen. Wenn Sie sie von Anfang an nicht geheimgehalten hätten, wären die Sympathien der Leute möglicherweise auf Ihrer Seite. Aber jetzt sind die Bergleute von fünf Planeten tot, und nicht ein einziger Soldat hat auch nur eine Schramme. Was glauben Sie, auf wessen Seite die Öffentlichkeit sich jetzt stellen wird?« »Was soll uns daran hindern, alle verbliebenen Bergbauwelten zu umzingeln und zu übernehmen, sobald die Bergleute sich selbst in die Luft gesprengt haben?« »Wir benutzen außergewöhnlich schmutzige Bomben«, sagte Coleman gelassen. »Es würde Jahre dauern, bevor die Welten wieder betreten und die geförderten Rohstoffe wieder gefahrlos verwendet werden könnten. Glauben Sie, die Wirtschaft der Republik kann einen solchen Zeitraum unversehrt überstehen?« Der Sekretär schloß die Augen, ließ den Kopf sinken und dachte eine ganze Minute lang nach. Dann schaute er seine Adjutanten an. »Würden Sie mich und Mr. Coleman bitte für einen Augenblick allein lassen?« Als der Raum sich geleert hatte, winkte er Coleman, ihm gegenüber Platz zu nehmen. »Wenn wir uns mit Ihren finanziellen Bedingungen einverstanden erklären, werden Sie dann Ihre Forderung nach einer stärkeren politischen Vertretung aufgeben?« Coleman schüttelte den Kopf. »Sie werden alles unterschreiben. Weshalb sollten wir also nachgeben? Zu viele von uns sind gestorben, als daß wir jetzt noch anfangen könnten zu verhandeln.« »Welchen Nutzen haben Sie von dieser Sache?« »Ich bekomme Gerechtigkeit.« »Ich meine Sie persönlich.«
»Mein Gehalt beträgt eine Viertelmillion Credits pro Jahr«, sagte Coleman. »Neunzig Prozent davon spende ich für unser medizinisches Programm.« »Ich habe es noch nie ertragen, mit einem durch und durch rechtschaffenen Menschen verhandeln zu müssen«, sagte der Sekretär seufzend. Er zog die Forderungsliste der Bergleute aus seiner Schublade, nahm sein Amtssiegel, stempelte die Blätter ab und setzte seinen Namen darunter.
Auf beinahe tausend in der ganzen Galaxis verstreuten Planeten waren Siegesfeiern im Gange, und die auf Gamma Leporis IX gehörte nicht zu den langweiligen. Berauschende Getränke flossen in Strömen, und ausgelassene Fröhlichkeit herrschte in dieser letzten Nacht der Untätigkeit. »Hey!« schrie jemand. »Holen wir Ferdy rein und geben wir ihm was zu trinken! Er hat genauso viel Recht hierzusein wie jeder andere auch.« Das hatte er in der Tat, stimmte Ferdinand bei sich zu. Er besaß keine Gehörorgane, mit denen er den Schall hätte auffangen können, aber er hatte andere Möglichkeiten zu verstehen, was gesprochen wurde, und er hatte den ganzen Abend aufmerksam gelauscht. Es gefiel ihm nicht besonders im Auditorium. Es war warm und ungemütlich, der hohe Sauerstoffgehalt der Luft ließ seine Augen brennen, sein Stoffwechsel vertrug den Whiskey nicht, den sie in ihn hineinschütteten. Aber die Menschen waren eine recht angenehme Spezies, und es bereitete ihm großen Spaß, Nelsons zu töten und dafür Magnesium zu bekommen. Morgen, entschied er, würde es immer noch früh genug sein, den Menschen die Liste vorzulegen, die die Forderungen der Butterkugeln enthielt.
4: Die Psychologen … Vermutlich expandierte kein zweites Forschungsgebiet so rasch wie die Psychologie, denn während der Mensch ursprünglich nur sich selbst als Subjekt gekannt hatte, stand er jetzt buchstäblich Tausenden von Rassen gegenüber, und viele davon waren von einer so fremdartigen Beschaffenheit, daß allein die Unterscheidung zwischen bewußtseinsbegabten und rein vegetativen Lebensformen zu einer Aufgabe von titanischen Ausmaßen wurde. Ein halbes Jahrtausend lang konnte der Mensch nur mit weniger als fünf Prozent der übrigen in der Galaxis vertretenen Rassen kommunizieren; je umfassender jedoch seine psychologischen Fähigkeiten wurden, desto größer wurde seine Kommunikationsfähigkeit, bis er sich mit fast der Hälfte aller Rassen verständigen und austauschen konnte… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Entgegen ihrer ursprünglichen Konzeption als reine Wissenschaft wurde die Psychologie vom Menschen bald zu einem weiteren Werkzeug für seine expansionistischen Unternehmungen zweckentfremdet, und oft benutzte er sie, um Lücken in dem geistigen Verteidigungspanzer seiner Gegner ausfindig zu machen. Gleichwohl war der Zweck der AlienPsychologie in den Jahren ihres Entstehens – 100 bis 600 G. Z. – im wesentlichen ein rein idealistischer. Einige faszinierende Probleme erhoben sich und wurden schließlich gelöst, und ein großer Teil der vom Menschen entwickelten Methoden wurden von anderen Rassen übernommen, beispielsweise… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 7
Consuela Orta betrat das Zimmer und lächelte dem Narrenkapp höflich zu. Augenblicklich begann das Narrenkapp an seinem Schwanz zu kauen. »Guten Morgen«, sagte sie. Das Narrenkapp knurrte sie furchterregend an und begann dann, seinen Kopf wieder und wieder gegen die gepolsterte Wand zu schlagen. »Möchtest du Wasser?« fragte Consuela und stellte eine Schüssel auf den Boden. Das Narrenkapp kicherte hysterisch, nahm noch einen Bissen von seinem Schwanz und warf sich dann auf den Rücken, die Beine starr in die Luft gereckt. Consuela blieb stehen und wartete fünf Minuten. Dann seufzte sie und wandte sich zum Gehen. »Guten Morgen«, sagte das Narrenkapp. »Guten Morgen«, wiederholte Consuela. Das Narrenkapp jagte zweimal im Kreis durch den Raum, warf seine Wasserschüssel um und begann, die Lache vom Boden aufzulecken. Consuela ging hinaus, schloß die Tür hinter sich und trat neben einen Mann, der auf dem Gang gestanden und sie durch einen einseitigen Spiegel beobachtet hatte. »Dieses Ding ist verrückter als die meisten anderen, nicht?« fragte der Mann. »Der Name ist passend«, meinte Consuela zustimmend und nickte dem Kommissar zu. »Es ist ein faszinierendes Geschöpf«, sagte der Mann begeistert. »Wirklich faszinierend. Manchmal glaube ich fast, ich habe mir das falsche Gebiet ausgesucht.« »Und welches, bitte, ist Ihr Gebiet, Mr. Tanayoka?« fragte Consuela. »Man hat mich beauftragt, Ihnen unser Institut zu zeigen und Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, aber bisher hat mir noch niemand gesagt, warum.« »Darauf komme ich gleich zu sprechen, Miss Orta«, sagte der kleine schwarzhaarige Mann. »Mrs. Orta«, korrigierte sie. »Ich bitte um Entschuldigung. Aber zurück zu dem Narrenkapp: Ist es intelligent?«
»Das ist eine heikle Frage.« Consuela lächelte. »Ich habe schon viele Menschen getroffen, von denen ich nicht sagen würde, daß sie intelligent sind. Wenn Sie wissen wollen, ob es ein Bewußtsein besitzt, dann antworte ich Ihnen: vermutlich ja. Keine bewußtseinslose Lebensform könnte auf die gleichen Stimuli so viele verschiedene und voneinander abweichende Reaktionen zeigen. Ein Lebewesen, dem die Fähigkeit zu kreativem Denken völlig fehlte, würde sich nach einem festen Muster verhalten. Aber gestern zum Beispiel hat das Narrenkapp sein Wasser unverzüglich ausgetrunken, und dann hat es mir würdevoll die Hand geschüttelt und versucht, auf der Zimmerdecke zu stehen.« »Vielleicht hat es heute keinen Durst gehabt«, schlug Tanayoka vor. »Wenn man seine Verhaltensgeschichte zugrunde legt, würde ich es für ebenso wahrscheinlich halten, daß es gestern nicht durstig war und heute vor Durst fast gestorben wäre. Nein, je mehr ich darüber nachdenke, desto fester wird meine Überzeugung, daß es ein Bewußtsein hat. Es ist vielleicht ein wenig verwirrt, aber es hat ein Bewußtsein. Ich brauche jetzt nur noch ein gewisses Maß an Sinn in das zu bringen, was es tut.« Sie lachte grimmig. »Wenn es überhaupt jemanden gibt, der das kann, dann sind Sie es, wie man mir sagte«, erklärte Tanayoka. »Es ist Ihnen bei fast fünfunddreißig Prozent Ihrer Fälle gelungen. Das ist weit mehr als die Norm.« »Tja, das bin ich – die Ersatzmutter der Galaxis.« Consuela verstummte und sah Tanayoka an. »Woher wissen Sie das?« »Ich habe Ihren Vorgesetzten gesagt, daß ich ihren besten Alien-Psychologen haben will. Und mit dieser Empfehlung« – er schwenkte eine Plastikkarte vor Consuelas Nase hin und her – »bekomme ich fast immer, was ich haben will.« »Und jetzt wollen Sie mich haben.«
»So ist es«, bestätigte Tanayoka fröhlich. »Und welches seltene Tierchen soll ich für Ihre Abteilung ergründen?« fragte Consuela. »Haben Sie je vom Planeten Beelzebub gehört?« »Klingt, als sei das Ganze direkt dem Verlorenen Paradies entsprungen«, meinte Consuela. »Ich bezweifle sehr, daß dieser Planet jemals ein Kandidat für das Paradies war«, antwortete Tanayoka. »Er ist ungefähr fünfundvierzig Lichtjahre weit entfernt. Ich will jetzt nicht in physikalische Details gehen, aber ich kann Ihnen sagen, das Kügelchen ist ziemlich wertvoll. Es gibt dort beinahe unanständig viel Gold, Platin, Silber und sogar Uran.« »Ich sehe das Problem noch nicht«, sagte Consuela. »Das Problem ist, daß es auf Beelzebub eine einheimische AlienPopulation gibt. Wir bauen seit ungefähr acht Monaten dort Bodenschätze ab. Sie haben niemals versucht, Kontakt mit uns aufzunehmen oder sich mit uns zu verständigen, aber sie verbergen sich auch nicht. Jedenfalls – dreißig Wochen lang hatten wir keine Probleme. Dann, vor achtzehn Tagen, als wir anfingen, das verarbeitete Erz auf unser Schiff zu laden, um dann in eine andere Gegend umzuziehen, begannen sie plötzlich, unsere Bergleute in Stücke zu reißen. Die Föderation der Bergleute hat einen Streik ausgerufen. Sie gehen nicht wieder nach Beelzebub zurück, wenn die Republik nicht für ihre Sicherheit garantiert.« »Die Galaxis ist groß«, sagte Consuela. »Warum bauen Sie nicht einen anderen Planeten ab?« »Es ist nicht allgemein bekannt«, sagte Tanayoka, »aber die Republik hat gegenwärtig beträchtliche Probleme, ihre Währung zu stützen. Sehen Sie, wir verwenden dazu immer noch seltene Metalle, und auch wenn die Tage der Goldwährung sicherlich gezählt sind, wird es noch ein Weilchen dauern, bis sie vorüber sind. Wir brauchen das, was
Beelzebub uns zu bieten hat, Mrs. Orta, und wir brauchen es dringend.« »Dringend genug, um eine ganze Eingeborenenbevölkerung auszurotten, wenn sich herausstellen sollte, daß sie kein Bewußtsein besitzt?« fragte Consuela, und ein Schimmer des Begreifens erschien in ihren Augen. Tanayoka nickte. »Ihre Hauptaufgabe ist es festzustellen, ob sie intelligent sind oder nicht. Wir wollen nicht, daß der Fall Doradus IV sich wiederholt.« Consuela nickte. Seit die Flotte auf Doradus IV eine ganze bewußtseinsbegabte Rasse vernichtet hatte, indem sie den Planeten entlaubte, bevor sie begann, ihn auszubeuten – von oben besaßen die Doradusianer verblüffende Ähnlichkeit mit Kohlköpfen –, hatte eine ganze Reihe von Alienwelten die Handelsbeziehungen zur Republik abgebrochen. Die Regierung war plötzlich sehr empfindlich in bezug auf ihr öffentliches Image geworden; sie hatte Grund dazu, und neue Katastrophen konnte niemand gebrauchen. »Wenn Sie sagen, dies sei meine Hauptaufgabe, klingt das, als gäbe es noch eine andere Aufgabe für mich«, sagte Consuela. »Ist das so?« »In der Tat«, antwortete Tanayoka. »Wenn sie ein Bewußtsein haben, sollen Sie versuchen, sie zu überreden, uns in Frieden unseren Bergbau betreiben zu lassen.« »Und wenn mir das nicht gelingt?« »Warum wollen wir jetzt über häßliche Alternativen nachdenken?« meinte Tanayoka. »Sie sind die Beste auf Ihrem Gebiet. Nehmen wir einfach an, daß Sie den Auftrag erfüllen werden.« Consuela mußte plötzlich daran denken, weshalb sie ihr Leben dem Umgang mit nichtmenschlichen Lebewesen und deren nichtmenschlichen Motivationen gewidmet hatte. »Wir treffen uns heute abend am Raumhafen«, sagte Tanayoka. »Und, Mrs. Orta, da ist noch eine Überlegung zu berücksichtigen.«
»Oh?« Consuela hob die Augenbrauen. »Man bedrängt meine Abteilung, möglichst bald eine Lösung zu präsentieren. Leider muß ich diesen Druck zum Teil an Sie weitergeben.« »Wieviel Zeit habe ich?« »Zwanzig Tage.« »Zwanzig Tage!« explodierte sie. »Ist Ihnen eigentlich klar, wie lange man braucht, um eine Aliensprache zu erlernen oder um herauszufinden, was einen Alien motiviert, oder…« »Anfangs hat man mir nur zehn Tage eingeräumt«, unterbrach Tanayoka entschuldigend. »Mehr kann ich wirklich nicht tun.« »Doch. Sie können Ihrer Abteilung sagen, daß diese Geschichte meiner Ansicht nach zum Himmel stinkt.« »Ich habe die Befugnis, Sie auch gegen Ihren Willen mitzunehmen«, sagte Tanayoka sanft. »Oh, ich komme freiwillig. In zwanzig Tagen kann ich zwar nicht viel tun, aber die armen Wesen verdienen, daß man sich wenigstens ansatzweise um sie kümmert, bevor man sie vernichtet.« Als sie an Bord von Tanayokas Schiff kam, kochte sie innerlich immer noch, und sie hatte sich bei der Ankunft auf Beelzebub nicht spürbar beruhigt. Tanayoka führte sie zu einem gepanzerten Bodenfahrzeug und fuhr mit ihr zum Minengebiet. Sieben kleine Berge hatte man dort ausgeräumt. Die Bergleute hatten die Landschaft sorgfältig wiederhergestellt, bevor sie weitergezogen waren, und die Erzraffinerie, die am Fuße des größten Berges gestanden hatte, war abgerissen worden. »Wo stand Ihr Schiff, und an welcher Stelle fand der Angriff statt?« fragte Consuela nach einer oberflächlichen Erkundung des Geländes.
»Das Schiff stand etwa zwei Meilen weit südlich von hier«, antwortete Tanayoka. »Die Bergleute wurden ziemlich genau an dieser Stelle überfallen, auf der wir jetzt stehen.« »Ich nehme an, sie haben sich gewehrt«, sagte Consuela trocken. »Ihr Vertrag gibt Ihnen das Recht, sich zu verteidigen«, sagte Tanayoka. »Offensive oder aggressive Aktionen sind allerdings ausdrücklich untersagt.« »Vermutlich hat niemand daran gedacht, einen Alienleichnam aufzubewahren?« »Unsere Waffen haben sie leider zu Ascheklümpchen verschmort«, antwortete Tanayoka. »Aber ich habe ein paar Photos von den Aliens, die Elaine Bowman aufgenommen hat – die Pionierin, die diesen Planeten erschlossen hat.« »Wieso haben Sie mir die nicht schon unterwegs gezeigt?« »Weil Sie nicht danach gefragt haben.« »Kann ich sie bitte jetzt sehen?« Er zog zwei transparente Kuben aus seiner Tasche. In jedem war das Hologramm eines Bewohners dieses Planeten. Sie standen aufrecht, aber es war unmöglich abzuschätzen, wie groß oder wie klein sie in Wirklichkeit sein mochten, da es keinen Bezugspunkt gab. In ihren Köpfen saßen ziemlich große Augen, breite Münder und kaum erkennbare Hörorgane. Nasenlöcher waren nicht zu sehen, aber Consuela vermutete, daß es sich um so schmale Schlitze handelte, daß das Hologramm sie nicht wiedergeben konnte. Die Haut der Wesen war dünn und ledrig, und sie schimmerte rötlich. »Nun, was halten Sie von ihnen?« erkundigte Tanayoka sich, als sie die Holowürfel betrachtet hatte. »So schnell?« fragte sie mit einem Lächeln. »Ich dachte, die Bilder könnten Ihnen vielleicht schon einen Anhaltspunkt vermitteln, ob diese Wesen intelligent sind oder nicht.«
»Sie teilen mir mehr über den Planeten als über die Aliens mit«, sagte Consuela. »Die Gravitation entspricht etwa der auf Terra oder Deluros VIII, sonst wären sie nicht aufrecht und schlank. Die Durchschnittstemperatur liegt zwischen fünfundzwanzig und achtundvierzig Grad Celsius; wenn sie niedriger wäre, brauchten sie Haare, Federn oder sonst etwas, um ihren Körper gegen den Wärmeverlust zu schützen; wäre sie höher, wären es vermutlich Nachttiere, und das sind diese kleinen Ungeheuer offensichtlich nicht. Außerdem stammen sie sicher nicht aus einer bergreichen Gegend von Beelzebub, denn sonst wäre ihre motorische Muskulatur ausgeprägter.« »Über den Planeten weiß ich Bescheid«, erklärte Tanayoka. »Wir stehen schließlich darauf. Ich will wissen, ob sie intelligent sind. Und – was ebenso wichtig ist – weshalb haben sie unsere Bergleute überfallen?« »Und Sie erwarten, daß ich Ihnen alles das erzähle, nachdem ich diese Wesen und ihre mögliche Kultur noch nie zu Gesicht bekommen habe?« sagte Consuela. »Es freut mich, daß die Republik so großes Vertrauen in meine Fähigkeiten setzt, aber es ist absolut ausgeschlossen.« Sie schwieg für einen Augenblick. »Im Moment kennen wir nur eine einzige Tatsache, die von einem gewissen Wert sein könnte: Daß sie mehr als ein halbes Jahr abgewartet haben, bevor sie uns angriffen, und daß sie es erst taten, als wir uns anschickten, das Erz abzutransportieren.« »Impliziert das Intelligenz?« »Vielleicht. Es könnte sich auch lediglich um Territorialverhalten handeln. Viele nichtintelligente Lebewesen neigen dazu zu verteidigen, was sie für ihr Eigentum halten. Denken Sie nur an einen Hund und seinen Knochen.« »Was sagt Ihnen die Tatsache, daß sie weder Kleidung noch Schmuck tragen?«
»Es ist warm auf diesem Planeten«, antwortete Consuela. »Und nicht alle denkenden Wesen halten es für notwendig, Amulette oder Schmuckstücke zu tragen. Nein, ich fürchte, ich kann nichts weiter sagen, wenn ich nicht Gelegenheit bekomme, eines von ihnen aus der Nähe zu beobachten.« »Sie haben anscheinend kein Verlangen, sich vor uns zu verstecken«, sagte Tanayoka. »Ich kann eins von ihnen fangen und herbringen lassen. Das wird höchstens ein paar Stunden dauern.« »Aber es darf nicht verletzt werden«, gab Consuela zu bedenken. »Selbstverständlich nicht. Meine liebe Mrs. Orta, halten Sie uns denn für Ungeheuer?« »Wenn Sie die Höflichkeit besitzen, mich zum Schiff zu bringen, bis der Alien eintrifft, werde ich die Höflichkeit besitzen, diese Frage nicht zu beantworten.« Tanayoka seufzte, brachte Consuela zurück in ihr Quartier an Bord des Raumschiffes und gab seinen Leuten die Anweisung, einen der Aliens zu fangen. Zwei Stunden später klopfte er an ihre Tür und meldete, daß ein Alien auf der Brücke sei und um das Vergnügen ihrer Bekanntschaft bitte. Sie folgte Tanayoka, der sie zu einem Eingeborenen des Planeten Beelzebub führte; das Geschöpf streifte auf und ab wie ein Tier im Käfig, und in der Tat hatte es eine gewisse Ähnlichkeit damit. Consuela nahm sich einen Stuhl und setzte sich hin, um es zu beobachten. Der Alien stieß einen lauten, tutenden Ruf aus, funkelte sie einen Moment lang an und trabte dann wieder auf und ab. »Der Kiefer ist ganz verkehrt«, sagte Consuela. »Es scheint sich durch Saugen zu ernähren. Zähne kann es unmöglich haben.« »Sind Sie etwa Physiologin und Psychologin?« fragte Tanayoka. »Von beidem ein wenig. Unser Fachgebiet hat sich
sehr viel weiterentwickelt, seit wir uns damit beschäftigten, weshalb Ehemänner gelegentlich herumstreunten.« »Touché!« sagte der kleine Mann. »Ich sehe, daß es gut ausgebildete Daumen an beiden Händen hat. Würde das nicht eine Art von Intelligenz implizieren? Ich meine, man braucht Daumen, um Maschinen zu bauen und so weiter.« »Auf der Erde leben immer noch ein paar Affen in Gefangenschaft«, antwortete Consuela. »Sie haben Daumen, aber sie sind in einer evolutionären Sackgasse gelandet und haben deshalb nie die Fähigkeit zu abstraktem Denken entwickelt.« »Was für eine Art Sackgasse ist denn das?« »Nun, sie sind Pflanzenfresser«, erklärte Consuela. »Sie brauchen also mit ihren Händen nichts weiter zu tun, als Bananen zu schälen. Es gibt für sie keine umweltbedingte Notwendigkeit zum Denken.« »Das soll aber doch wohl nicht heißen, daß nur Fleischfresser Intelligenz entwickeln können«, sagte Tanayoka. »Was ist denn mit den Butterkugeln von Gamma Leporis IX oder…« »Sie haben mich mißverstanden«, unterbrach Consuela. »Fleischfresser zu sein hat nichts mit der Entwicklung von Intelligenz zu tun. Tatsächlich entstammt nur ein sehr kleiner Prozentsatz der bewußtseinsbegabten Rassen einer fleischfressenden Spezies. Die meisten Fleischfresser haben physische Mittel entwickelt, mit denen sie ihre Beute fangen und töten. Ich habe gesagt, daß Umwelterfordernisse Intelligenz hervorbringen. Der Mensch hat sie entwickelt, weil er ungefähr hundert Pfund wog und versuchen mußte, Tiere zu töten, die eine halbe Tonne wogen, damit er etwas zum Abendessen hatte. Keine wie immer beschaffene körperliche Ausstattung hätte ihm dabei helfen können. Andere Rassen entwickeln aus anderen Gründen Intelligenz. Aber viele von
ihnen – eigentlich die meisten – geraten irgendwann auf einen Holzweg. Wie die Affen.« »Und wie können Sie erkennen, ob unser Alien hier intelligent ist?« »Ich werde ihn fragen«, sagte Consuela. »Wie denn? Sie wissen nichts über seine Sprache.« »Es ist möglich, daß wir eine Sprache miteinander gemeinsam haben. Dürfte ich Sie um Papier und einen Stift bitten?« Tanayoka ließ das Gewünschte bringen, und wenig später zeichnete sie sorgfältig ein Dreieck auf das Papier und schrieb den Satz des Pythagoras darunter. »Wie kommen Sie darauf, daß es auch nur einigermaßen vertraut mit dem Quadrat über der Hypotenuse und seinen Verwandten sein könnte?« fragte Tanayoka. »Es ist ein Satz von universeller Bedeutung«, sagte Consuela. »Ich vermute, daß er auf Beelzebub ebenso gültig ist wie auf der Erde.« Sie reichte dem Alien das Papier durch die Gitterstäbe. Er betrachtete die Zeichen darauf, verzog den Mund und zerriß den Bogen. Drei weitere Versuche erbrachten das gleiche Ergebnis. »Offensichtlich hat er keine geometrischen Neigungen«, meinte Consuela. »Ich werde es jetzt mit ein paar simplen Binärgleichungen versuchen, aber meistens ist eine Technologie der Vorläufer und Wegbereiter für die Kenntnis eines binären Systems, und es gibt auf diesem Planeten keinen Hinweis auf das Vorhandensein einer Technologie. Also rechne ich damit, daß unser Freund damit nicht anders verfahren wird als mit Pythagoras.« Das Geschöpf riß fünf Blätter in Fetzen, bevor Consuela seufzend Papier und Bleistift beiseite legte. »Unmathematisch«, befand sie. »Oder unkooperativ. Wahrscheinlich eher das zweite.«
»Unintelligent?« fragte Tanayoka vorsichtig. »Nicht unbedingt. Ich habe einen Sohn, der sich von jedem Kellner mit dem Wechselgeld betrügen ließ, und er ist heute ein Journalist von recht gutem Ruf. Seine mathematischen Kenntnisse sind noch immer grauenhaft, aber ich würde ihn kaum für unintelligent halten.« »Allmählich begreife ich, mit welchen Problemen Sie sich bei Ihrer Arbeit herumschlagen müssen«, sagte Tanayoka, und er lächelte ingrimmig. »Ich habe auch schon daran gedacht, daß dieses Wesen möglicherweise sehr genau weiß, was Sie von ihm wollen, und daß es einfach nicht bereit ist, Ihnen mehr als Namen, Rang und Dienstnummer mitzuteilen.« »Das ist gut möglich«, sagte sie zustimmend, ohne den Blick von dem Alien zu wenden. »Die Psychologie insgesamt ist in sechzehn Prozent ihrer Fälle erfolgreich«, sagte Tanayoka. »Ich finde es schon erstaunlich, daß Sie eine Trefferquote von nur einem Prozent erreichen.« »Nun, mit Prozentzahlen läßt sich leicht jonglieren«, erwiderte Consuela. »Meistens betrachtet die Republik es als einen Erfolg, wenn wir die Schwachstellen der Aliens herausfinden. Aber sie zu verstehen erfordert sehr viel mehr Arbeit.« Sie schwieg und betrachtete den Alien eine ganze Weile. »Hat er schon Wasser bekommen, seit er gefangen wurde?« »Meines Wissens nicht«, antwortete Tanayoka. »Gut«, sagte Consuela. »Wollen sehen, ob wir eine kleine Belohnungssituation herbeiführen können.« Unterstützt von einigen Besatzungsmitgliedern, stellte sie zwei transparente Kästen auf, von denen jeder einen Krug Wasser enthielt. Der eine Kasten hatte einen unpräparierten roten Deckel, der andere Deckel war blau und stand unter einer leichten elektrischen Spannung. Dann ließ sie den Raum aufheizen und
die Luftfeuchtigkeit steigern, bis alle, Menschen wie Alien, sich sehr unbehaglich fühlten. Sie zeigte dem Alien die beiden Kästen. Augenblicklich öffnete er den mit dem blauen Deckel. »Wir können nicht alle Glückskinder sein«, meinte Consuela, als der Alien das Wasser aus dem Kasten trank. Die Kästen wurden herausgeholt, das ausgetrunkene Wasser wurde ersetzt, und wieder wurde der Alien mit den Kästen konfrontiert. Diesmal entschied er sich für den mit dem roten Deckel. Bei den folgenden beiden Malen nahm er abwechselnd den blauen und den roten Deckel ab, und Consuela wandte sich an Tanayoka. »Inzwischen müßte er eigentlich wissen, welcher von den beiden unter Strom steht«, sagte sie. »Wir werden die Kästen jetzt vertauschen.« Nach dreißig Versuchen hatte der Alien siebenundzwanzigmal den blauen Kasten geöffnet. »Manche sind eben von Natur aus dumm«, meinte Tanayoka. »Ganz und gar nicht«, sagte Consuela. »Ein nicht denkendes Wesen würde in fünfzig Prozent der Fälle die rote Kiste öffnen, wahrscheinlich sogar öfter. Glauben Sie mir, unser Freund kennt den Unterschied.« »Warum läßt er sich dann fast jedesmal absichtlich einen Elektroschock verpassen?« »Vielleicht gefällt ihm das Gefühl. Wir haben es hier nicht mit menschlicher Physiologie zu tun.« »Also ist er intelligent?« »Intelligenter als eine Labormaus«, sagte Consuela. »Mehr kann ich Ihnen heute dazu nicht sagen. Lassen Sie den Raum wieder abkühlen, und besorgen Sie ihm etwas zu essen.« Sie verließen den Brückenkomplex, und Consuela bat darum, daß man sie noch einmal zu dem Bergbaugelände bringen möge. »Es fällt mir ein wenig schwer zu verstehen, weshalb die Aliens nie etwas gegen die Bergleute unternahmen, solange
diese die Mineralien abbauten und verarbeiteten.« Ihre Blicke wanderten in der Gegend umher. »Es wäre viel naheliegender gewesen anzugreifen, als die Leute anfingen, die Berge zu erschließen.« »Vielleicht wollten sie sichergehen, daß das Erz entfernt wurde, bevor sie sich darauf einließen, tatsächlich etwas zu unternehmen«, meinte Tanayoka. Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt keinerlei Spuren irgendeiner Technologie auf diesem Planeten«, sagte sie. »Sie konnten nicht wissen, was eine Erzraffinerie war. Weshalb also warteten sie?« »Ist das so wichtig?« fragte Tanayoka. »Aber gewiß. Wenn ich einen Grund dafür finde, daß sie nichts dagegen hatten, wenn Rohstoffe aus dem Boden geholt wurden, wohl aber dagegen, daß man das Erz verarbeitete, dann könnte ich vermutlich damit beweisen, daß sie intelligent sind.« »Wie denn?« »Nun, da sie selbst keine Erfahrungen mit verhüttetem Erz haben, müßten sie durch abstraktes Denken extrapolieren, wozu es verwendet werden könnte.« »Und weshalb sollten sie etwas dagegen einzuwenden haben?« »Das ist nicht wichtig. Die bloße Tatsache, daß sie eine Argumentationskette bilden konnten, die zur Ablehnung des Vorganges führte, wäre ein hinreichender Beweis für ihre Intelligenz. Verlangen Sie nicht von mir, innerhalb von zwanzig Tagen ihr kollektives Bewußtsein zu analysieren. Wenn ich Ihnen beweisen kann, daß sie intelligent sind, müßte das genügen, um die Republik davon abzubringen, sie zu vernichten.« Sie wanderte vom Gelände der Raffinerie zum Fuße des nächsten Berges und wieder zurück.
Dann zuckte sie die Achseln, schüttelte den Kopf und erklärte, sie wolle nun zum Schiff zurück. An diesem Tage besuchte sie den Alien nicht noch einmal, sondern brütete während der letzten Stunden über dem Bericht, den Elaine Bowman über den Planeten verfaßt hatte. Viel war ihm nicht zu entnehmen. Die Alienbevölkerung war nomadisch, aber das galt für viele intelligente Rassen. Sie besaßen eine rigide Stammesstruktur, aber das galt auch für Paviane und Ameisen. Eine erkennbare Sprache hatte die Pionierin Bowman nicht wahrgenommen, aber Pioniere waren in Alien-Linguistik nicht ausgebildet. Spuren einer Technologie hatte es nicht gegeben, aber auch der Mensch hatte mehr als eine Million Jahre lang ohne jede Technologie existiert. Kurzes gab einfach nicht genug Informationen, um – so oder so – zu einer Schlußfolgerung gelangen zu können. Das war nicht weiter verwunderlich: Die Aliens füllten nur wenige Seiten in einem Bericht, der sich vornehmlich mit den Bodenschätzen, die es auf diesem Planeten gab, und mit den Bedingungen, unter denen die Bergleute würden arbeiten müssen, zu beschäftigen hatte. Den folgenden Morgen verbrachte Consuela damit, einfache Bilder und noch einfachere mathematische Formeln für den Alien zu Papier zu bringen – ohne jeden Erfolg. Schließlich ließ sie sich ein paar Materialproben von rohen und verarbeiteten Mineralien bringen. Sie zeigte und reichte sie dem Alien nacheinander, aber auch damit bewegte sie ihn zu keiner Reaktion. Sie nahm die Laserpistole eines Besatzungsmitglieds und vernichtete die Proben. Der Alien ignorierte sie. Sie reichte ihm ein goldenes Schmuckstück. Er führte es an seine Lippen, verzog das Gesicht und warf es ihr zurück.
Die beiden folgenden Tage verbrachte sie damit zu versuchen, sich mit dem Alien zu verständigen oder ihn zu veranlassen, daß er ihr demonstrierte, wie er verhüttetes von rohem Erz unterscheiden konnte. Aber wenn der Alien verstand, was sie wollte, oder wenn es ihn überhaupt kümmerte, dann wußte er es geschickt zu verbergen. An ihrem fünften Tag auf Beelzebub veranlaßte Consuela zwei Besatzungsmitglieder, ihr ein Miniaturraumschiff und winzige menschliche Figuren anzufertigen. Sie baute die Modelle auf einem Brett vor dem Alien auf, legte den Figuren winzige Stücke von verhüttetem Erz in die Hände und schob sie langsam über das Brett in das Raumschiff. Der Alien wirkte gelangweilt. »Haben Sie inzwischen einen Hinweis auf mögliche Intelligenz gefunden?« fragte Tanayoka beim Abendessen. »Nicht den geringsten«, antwortete Consuela. »Und ich weiß auch noch keine Antwort auf das noch wichtigere Problem, weshalb sie nämlich die Bergleute ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt angriffen.« »Wichtiger?« fragte Tanayoka. »Gewiß. Selbst wenn sie nicht intelligent sind, will ich nicht, daß sie ausgerottet werden. Wenn ich herausfinden kann, was dem Überfall vorausging, können wir vielleicht vermeiden, sie noch einmal zu provozieren.« Am sechsten Tag ließ sie von der Besatzung eine kleine, provisorische Schmelzanlage draußen vor dem Schiff errichten. Unter schwerer Bewachung führte man den Alien hinaus und ließ ihn zuschauen. Er zeigte nicht das geringste Interesse. Am siebenten Tage führte man den Alien zu einem Berg in der Nähe, in dem kein Erzabbau betrieben worden war. Consuela borgte sich wieder eine Laserwaffe aus, brannte einen Meter hoch über dem Boden ein Loch in den Felsen und legte ein paar kostbare Erze im Naturzustand frei. Begleitet
von dem Alien und seinen Bewachern, trug sie das Erz vom Berg zum Schiff. Dort schmolz sie unter den Augen des Alien alles ein und wartete auf seine Reaktion. Nichts geschah. Nachdem sie einen weiteren Tag mit Kommunikationsversuchen zugebracht hatte, wandte Consuela sich an Tanayoka. »Es ist zwar äußerst unwahrscheinlich«, sagte sie, »aber es besteht eine geringe Möglichkeit, daß Sie einen gefangen haben, der einem menschlichen Dorftrottel entspricht. Lassen Sie ihn laufen und beschaffen Sie mir einen anderen.« Tanayoka gab die entsprechenden Anweisungen, und drei Stunden später versuchte Consuela, aus einem neuen Probanden schlau zu werden. Als der sechzehnte Tag auf Beelzebub graute, ließ sie auch den zweiten Alien laufen. »Wenn Sie glauben, daß es Sinn hat, bringen wir Ihnen einen dritten«, bot Tanayoka sanftmütig an. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn mir auch sonst nichts gelungen ist, so habe ich doch wenigstens bewiesen, daß innerhalb der Frist, die mir noch bleibt, niemand mit diesen Burschen kommunizieren wird.« »Sie geben also auf?« »Ich denke gar nicht daran. Ich muß das Problem nur anders angehen. Entweder haben die beiden sich anders als sonst verhalten, weil sie nicht mit uns kooperieren wollten, oder es ist ihnen schnuppe, was wir mit ihren Bodenschätzen anfangen. Da die Republik die erste Schlußfolgerung untragbar finden wird, muß ich von der zweiten ausgehen.« »Ich bin nicht ganz sicher, daß ich verstehe, was Sie meinen, Mrs. Orta«, sagte Tanayoka. »Da Sie nicht die Absicht haben, den Bergbaubetrieb einzustellen, und da die Aliens sich für den Bergbau nicht zu interessieren scheinen, muß ich davon ausgehen, daß dem Angriff etwas anderes vorausgegangen ist. Nun bin ich in den
Naturwissenschaften nicht so bewandert, wie ich es sein sollte, aber könnte vielleicht eine Ihrer Maschinen möglicherweise ein Geräusch hervorgebracht haben – vielleicht unhörbar für unsere Ohren –, das sie vor Schmerz oder Wut hat wild werden lassen?« »Nein«, sagte Tanayoka. »Wir haben sämtliche physikalischen Ursachen erwogen, bevor wir Sie anforderten. Es gab natürlich beißende Gerüche, aber die hatte es schon Wochen vorher gegeben. Die schädliche Strahlung reichte nicht einmal aus, ein Insekt zu töten. Keiner der Bergleute hat zum Spaß oder für den Kochtopf Aliens oder sonst etwas gejagt. Wir haben niemals Megaphone oder Verstärkermikrophone benutzt, weil wir nicht wollten, daß die Lautstärke sie erschreckte. Wir haben das Schiff in völlig leerem, wüstenartigem Gelände aufsetzen lassen, um sicherzugehen, daß wir kein Lebewesen gefährdeten.« »Haben die Leute das Schiff auch während der ersten dreißig Wochen aufgesucht?« fragte Consuela. »Selbstverständlich.« »Was«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm, »können sie dann plötzlich anders gemacht haben?« »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Tanayoka. »Lassen Sie mich noch einmal einen Blick auf das Gelände werfen«, sagte Consuela. Sie nahmen ein Bodenfahrzeug, und wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie streifte umher, und allmählich war sie sicher, daß die Antwort ihr ins Gesicht lachte. Wenn es ihr nur gelänge, ihre Vorurteile lange genug abzustreifen, würde sie sie erkennen. »Sie sehen bedrückt aus«, sagte Tanayoka sanft nach einer Weile. »Ich versuche nur, meinen Kopf zu klären«, sagte sie. »Wissen Sie, Alien-Psychologen neigen oft allzusehr zu anthropomorphem Denken; sie vermuten menschliche Züge und Wertvorstellungen bei Aliens, die so etwas einfach nicht besitzen. Ich muß mich zwingen, mich nicht weiter zu fragen,
was mich veranlaßt hätte, die Bergleute anzugreifen, und statt dessen das Problem so angehen, wie ein Alien es täte.« »Ich verstehe«, sagte Tanayoka. »Es kann sich um etwas so Abseitiges oder Geringfügiges handeln, daß ein Mensch es gänzlich übersehen würde«, fuhr sie fort. »Haben die Bergleute beispielsweise Latrinen oder sanitäre Anlagen errichtet, die man als Entweihung des Bodens betrachten könnte?« »Das ist sehr wahrscheinlich«, sagte Tanayoka. »Aber ich könnte Ihnen wirklich nicht sagen, wo. Wir haben alles wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt, bevor wir abzogen. Wir haben sogar einen Extratag darauf verwendet, die Berge wieder zu restaurieren.« »Gibt es etwas anderes, was sie am letzten Tag getan haben könnten und was bis dahin nie vorgekommen war? Haben sie eine Party gefeiert oder einen Funkspruch zur Erde oder nach Deluros VIII geschickt?« »Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.« »Warum wurden sie dann angegriffen?« fragte sie, und ihr Ärger galt mehr ihr selbst als ihrem Begleiter. »Die Aliens haben ihnen ein halbes Jahr lang dabei zugesehen, wie sie die Berge ausräumten. Was haben sie anders gemacht?« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, Mrs. Orta.« »Das wünschte ich auch«, sagte Consuela. Sie seufzte, ging zum Fahrzeug und warf noch einen letzten, langen Blick auf das Gelände, bevor sie zum Schiff zurückkehrte. Und dann hatte sie es. »Komisch«, sagte sie. »Was ist?« Staunend schüttelte sie den Kopf. »Natürlich.« »Sie haben es, wie?« fragte Tanayoka aufgeregt. »Was haben wir getan?« »Sie wissen es auch«, sagte Consuela. »Es ist wieder diese verdammte Tendenz zum anthropomorphen Denken. Ich hätte es schon vor zwei Wochen wissen können.«
»Also, ich weiß es noch nicht«, sagte Tanayoka. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie herausgefunden haben?« »Verfahren Sie einfach, indem Sie eine Möglichkeit nach der anderen eliminieren«, sagte Consuela. »Was taten unsere Bergleute, als sie bereit waren, diese Gegend zu verlassen? Nun, sie versuchten, das Erz ins Schiff zu schaffen, aber wir sind notwendigerweise gezwungen anzunehmen, daß dies die Aliens nicht zu ihrem Überfall veranlaßt hat.« »Wieso sind wir gezwungen?« »Weil wir beide wissen, daß es verdammt schlecht für die Aliens wäre, wenn dies der Grund wäre. Die Republik wird nicht aufhören, sich von Beelzebub zu holen, was sie braucht. Außerdem haben unsere Alien-Probanden nicht das geringste Interesse an verhüttetem Erz gezeigt. Wir wissen auch, daß es nicht das Wissen um die bevorstehende Abreise des Schiffes gewesen sein kann, denn davon wußten sie ja nichts. Und wir wissen, daß die Bergleute in ihrer Freude über die Beendigung der ersten Phase ihres Jobs nichts getan haben, was die Aliens hätte aufstören können.« »Aber es gibt nichts anderes«, stöhnte Tanayoka. »Doch«, sagte Consuela. »Sehen Sie sich doch um, Mr. Tanayoka. Sagen Sie mir, was Sie sehen.« »Die Berge.« »Und was taten die Bergleute mit den Bergen, als sie mit dem Abbau fertig waren?« »Nichts.« »Sie begreifen immer noch nicht, wie?« Consuela lächelte. »Sie stellten sie wieder her.« »Ja, selbstverständlich«, sagte Tanayoka. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß…« »Aber ja. Es ist das einzige, was sie nicht dreißig Wochen lang getan hatten, während die Aliens ihnen zuschauten.«
»Aber weshalb sollten sie in Raserei verfallen, wenn wir das Land wieder in den Zustand versetzen, in dem wir es gefunden haben? Das ergibt doch keinen Sinn.« »Für Sie und mich nicht, nein«, bestätigte Consuela. »Aber für die Eingeborenen von Beelzebub muß es sehr wohl einen Sinn ergeben.« »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.« Tanayoka hob frustriert die Hände über den Kopf. »Nein, aber es ist wahrscheinlich das Fremdartigste, was Sie je gehört haben«, korrigierte Consuela. »Merken Sie sich: Aliens sind nicht in unserem Sinne gut oder schlecht, klug oder dumm. Das einzige Wort, mit dem man sie angemessen beschreiben kann, ist ›anders‹.« »Aber weshalb sollten sie etwas dagegenhaben, daß wir die Berge restaurierten?« fragte Tanayoka beharrlich. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Consuela. »Kann denn eine Rasse, die so reagiert, intelligent sein?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Consuela. »Und um ganz offen zu sprechen: Im Augenblick ist mir nichts so gleichgültig wie die Antwort auf diese Frage.« »Aber…« »Bitte lassen Sie mich weitersprechen, Mr. Tanayoka. Sie haben mich hergebracht, damit ich Ihr Problem löse. Es ist immer möglich, daß ich mich irre, aber ich glaube, ich habe es gelöst. Es muß Ihnen jedoch klar sein, daß die Angehörigen meines Berufes weder zaubern können noch allmächtig sind. Es kann leicht Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern, bis wir verstehen, weshalb sie nichts dagegenhaben, daß man ihre Bodenschätze ausbeutet, aber in Raserei verfallen, wenn man danach den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. Es kann noch langer dauern, bis zweifelsfrei feststeht, daß sie intelligente Wesen sind oder daß sie es nicht sind. Die Psychologie ist kaum eine exakte Wissenschaft. Aber ich
glaube, ich habe herausgefunden, wie man die Sicherheit Ihrer Bergleute garantieren kann, und ich hoffe zuversichtlich, daß ich den Aliens damit eine ausreichend lange Frist gewonnen habe, innerhalb derer zukünftige Psychologen alle Fragen beantworten können. Und jetzt«, schloß sie, »würde ich, wenn Sie meine Dienste nicht länger benötigen, gern nach Hause zurückkehren.«
Vier Monate später besuchte Tanayoka sie. »Sie hatten recht«, sagte er voller Bewunderung. »Ich glaube, die Bergleute und ich haben Ihnen eigentlich nicht so recht vertraut, aber es hat funktioniert. Als sie die nächsten drei Berge abgebaut hatten, ließen sie sie einfach so zurück, wie sie waren, und es gab überhaupt keine Zwischenfälle.« »Es freut mich, zu hören, daß alles gut verlaufen ist«, sagte Consuela. »Ich glaube, es wird Sie noch mehr freuen zu erfahren, daß man ein Team von drei Psychologen nach Beelzebub entsandt hat, damit sie die Eingeborenen gründlich studieren.« »Das freut mich in der Tat.« »Da ich schon einmal hier bin – darf ich Sie zum Essen einladen, Mrs. Orta?« fragte Tanayoka. »Ich würde gern mitkommen, aber leider bin ich heute ein wenig spät dran mit meiner Runde.« Consuela schüttelte dem kleinen Mann die Hand. Dann ging sie den Gang hinunter, blieb bei einem Wasserhahn stehen, um eine kleine Schüssel mit Wasser zu füllen, seufzte einmal und öffnete die Tür. Hinter der Tür saß das Narrenkapp und kaute fröhlich auf seinem Schwanz herum.
5: Die Kaufleute … Als diese Welten dem aufblühenden Finanzimperium der Republik einverleibt wurden, war es die Aufgabe der Kaufleute und vor allem des Ministeriums für Handel und Verkehr, auf den neuen Planeten finanzstarke Wirtschaftssysteme zu etablieren. Das vielleicht wichtigste Individuum in der Galaxis in jener Periode war Kipchoge Ngana, dessen Mitschuld am Tode der Republik seit Jahrtausenden Gegenstand der Diskussion ist. Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Der bedeutendste unter ihnen war Kipchoge Ngana (884 bis 971 G. Z.), ein rücksichtsloses Finanzund Organisationsgenie, das aller Publicity geschickt aus dem Weg ging. Er war es, der mit Zähnen und Klauen dagegen kämpfte, daß den nichtmenschlichen Rassen wenigstens die fundamentalsten Rechte zuerkannt wurden, und der die stagnierende und innerlich verrottete Republik weit über ihre eigentliche Lebensfähigkeit hinaus in Gang hielt. Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Kipchoge Ngana kippte seinen Stuhl nach hinten, legte die Füße auf den Schreibtisch und seufzte. Es war gut gelaufen, für sein Ministerium wie für die Republik. Das galaktische Bruttosozialprodukt hatte sich im sechsten Jahrzehnt hintereinander verdoppelt, der kurze Handelskrieg mit Darion III war vorüber, und noch nie zuvor war es dem Menschen so gutgegangen. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Eigentlich hätte er Zufriedenheit und Selbstgefälligkeit verspüren müssen,
aber statt dessen fühlte er sich wie ein Mann, der eben einen Schuh an den Kopf bekommen hatte und nun auf den zweiten wartete, ohne zu wissen, aus welcher Richtung er kommen würde. Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender: zwei Besuche von unteren Beamten aus der Kartographie, Mittagessen mit einer Handelsorganisation aus den neugegründeten denebianischen Kolonien und schließlich eine Planungskonferenz in seinem eigenen Hause, dem Ministerium für Handel und Verkehr. Sein Spezialgebiet war das letztere, und er war ganz und gar überzeugt, daß keine Facette der Republik diesem Ministerium an Bedeutung wirklich gleichkam. Zweifellos brauchte man die Kartographen, um zu entscheiden, nach welchem Plan die Expansion vorangetrieben werden sollte. Pioniercorps und Flotte waren unbedingt erforderlich, wenn neue Planeten zu erschließen waren, und natürlich war die Psychologie das Lieblingskind der Wissenschaftspopularisierer. Aber ihre Bedeutung endete, wenn das Ziel erreicht war. Alle diese Wissenschaften und Parawissenschaften hatten eine klar umrissene Aufgabe zu erfüllen, und wenn das geschehen war, zogen sie weiter zur nächsten Welt. Und dann, wenn der Planet bewohnbar gemacht worden war, wenn die Kontakte mit den Aliens hergestellt waren, wenn die Republik die neue Welt an sich genommen hatte – dann folgte, unter der erfahrenen Leitung des Ministeriums für Handel und Industrie, der Auftritt der Kaufleute. Sie pfropften die Welt auf die sich immer weiter ausbreitenden Verästelungen der galaktischen Wirtschaft und zogen sie mit sicherer Hand in die finanzielle Einflußsphäre der Republik. Längst hatte die Republik begriffen, daß militärische Gewalt nur im äußersten Falle ein zweckmäßiges Mittel war und nur in solchen Situationen eingesetzt werden durfte, in denen eine andere Lösung nicht mehr denkbar war. Der Trick war – und
hier lag Nganas Spezialität –, in den einzelnen Welten Finanzund Wirtschaftssysteme einzuführen und abzuwarten, bis diese in eine so starke Abhängigkeit von der Fortführung der Handelsbeziehungen mit der Republik geraten waren, daß Revolte und Isolationismus für sie selber zum schädlichsten und unratsamsten aller Mittel geworden waren. Auf etwa einem Drittel der von intelligenten Wesen bevölkerten Planeten waren die Probleme unbedeutend gewesen, da ökonomische Strukturen bereits existierten. Die übrigen Welten aber entwickelten sich zu Nganas Lieblingsprojekten. Und er war gut auf seinem Gebiet. Da war zum Beispiel Balok VII, ein kleiner Planet, bewohnt von einer sich ganz und gar selbst versorgenden Gesellschaft, die noch recht weit unten auf der evolutionären Stufenleiter stand, aber gleichwohl intelligent war. Die Eingeborenen, vom Typ her annähernd humanoid, waren Vegetarier, und die beständige Suche nach den großen Nahrungsmengen, die sie benötigten, um zu existieren, hatte verhindert, daß sie viele andere Fähigkeiten entwickelten. Es gab Versuche im Bereich des Ackerbaus, aber das Klima war zu unstet, als daß man sich von den Ernteerträgen hätte abhängig machen können, und die Wirtschaft entwickelte sich nie über das Stadium des einfachen Tauschhandels hinaus. Ngana hatte sich die Welt angesehen, rund zwanzigtausend »Agrarberater« dorthin entsandt und die Menge der verfügbaren Nahrung innerhalb von drei Jahren verfünffacht, ohne den Eingeborenen auch nur eine einzige Zahlung oder Zahlungszusage abzunehmen und ohne ihnen zu zeigen, mit welchen Methoden die Republik das Nahrungsangebot hatte vervielfachen können. Nach diesen drei Jahren ergab sich ein spürbarer Bevölkerungszuwachs, und zu diesem Zeitpunkt wurden die landwirtschaftlichen Geräte an private Interessenten innerhalb der Republik verkauft oder vermietet.
Dieses System funktionierte weitere fünf Jahre, doch dann wurde, auf Anweisung von Ngana, jegliche »Unterstützung« eingestellt. Not brach aus, und Krankheiten erhoben ihr häßliches Haupt. Die Republik schickte kostenlose Medikamente, aber nach sechs Monaten riß der Hilfsstrom ab. Die Medikamente wurden an die Geschäftsleute der Republik verkauft. Diese vermieteten Landwirtschaftsmaschinen an die Eingeborenen und ließen sich dafür mit den Ernteerträgen bestimmter Anbauprodukte bezahlen. Nachdem die erste Zahlung für die Maschinen verbucht worden war, verkauften die Geschäftsleute den Eingeborenen die von der Republik erworbenen Medikamente auf Kredit; die Schulden sollten mit den Erträgen zukünftiger Ernten bezahlt werden. Es dauerte noch einmal fünf Jahre, und die Eingeborenen von Balok VII brauchten weder Geräte noch Medikamente, da sie inzwischen in der Lage waren, diese Dinge selbst herzustellen, aber ihre Agrarökonomie wuchs und gedieh; die ersten Papiercredits der Republik waren in die Gesellschaft eingeführt worden, und damit hatte man neue, bessere Landwirtschaftsmaschinen erworben. Natürlich förderte die beständige Einführung neuer, höher entwickelter Maschinen die Produktion immer umfangreicherer Ernten, und die Republik war der einzige Aufkäufer weit und breit. Es war einfach gewesen. Korus XVI hatte schon andere Probleme geboten. Dort lebte eine Rasse von Silikonorganismen, die Ammoniak atmeten, eine Kohlenstoffverbindung ausschieden und eine durchaus lebensfähige Ökonomie besaßen, die hauptsächlich auf Edelmetallen basierte. Die Eingeborenen genossen ihre Isolation vom Haupthandelsstrom der Republik und zeigten nicht das Verlangen, mit einer anderen als ihrer eigenen Rasse Handel zu treiben.
Ngana autorisierte fünfzig Händler, die seltensten der Edelmetalle, die den Grundstock der Finanzstruktur von Korus XVI bildeten, künstlich herzustellen, und überschwemmte den Planeten damit; er überließ sie Privatpersonen im Austausch gegen Elemente, die für den Menschen von entsprechendem Wert waren. Fünfzig Prozent der bei diesen Geschäften erzielten Gewinne wurden in die beständige Überschwemmung des Marktes investiert, bis die verschiedenen Münzen korusianischer Herkunft so gut wie wertlos geworden waren. Die verbleibenden fünfzig Prozent der Profite wurden darauf verwendet, die korusianische Wirtschaft zu »retten«, indem man sie mit dem Wirtschaftssystem der Republik in Gleichklang brachte. Für ihren Einsatz erhielten die Kaufleute das auf fünfzig Jahre befristete Recht zum exklusiven Handel mit dem neuen Planeten. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte man Korus XVI auf die Liste der Wirtschaftssatelliten der Republik gezwungen. Hin und wieder geschah es, daß ein Planet versuchte, seine wirtschaftlichen Verbindungen zur Republik abzubrechen; selten aber waren solche Versuche erfolgreich. Das erste Druckmittel der Republik war ein umfassendes Handelsembargo. Falls diese Maßnahme keine Wirkung zeigte, konnte jedes Medium des finanziellen Austausches, das der Planet verwendete, von den Kaufleuten, die den Handel mit diesem speziellen System kontrollierten, in beliebigem Umfang dupliziert werden. Abgesehen von spaltbarem Material, das überall in der Galaxis immer begehrter wurde, war nichts so rar, daß der Mensch nicht eine Planetenladung davon hätte erübrigen können, um ein unbotmäßiges Wirtschaftssystem in seine Schranken zu verweisen: Diamanten, seltene Erden, Drogen, Wasser, Chlor – was immer einem unabhängig gesinnten Planeten wert und teuer sein mochte, konnte innerhalb kürzester Frist wertlos gemacht
werden. Die meisten ökonomischen Systeme, ob natürlich gewachsen oder von der Republik zwangsweise eingeführt, handelten allgemein mit artifiziellen Tauschmedien, die ihren Wert allein aus dem Vertrauen gewannen, das die Bevölkerung in sie setzte. Es gab jedoch eine kleine Anzahl von Welten, für die das nicht galt. Wenn beispielsweise die Welt X Äpfel über alles schätzte und Äpfel das Haupttauschmedium waren, welches aber nicht akkumuliert, sondern gegessen wurde, dann würde die Einfuhr von immer mehr Äpfeln nicht dazu führen, daß die Republik die Kontrolle über dieses Wirtschaftssystem übernehmen könnte. Aber wenn man etwas finden konnte, das die Apfelernte vernichtete, und dann durch die Kaufleute der Republik neue Äpfel auf den Planeten brachte, war das Ziel meistens erreicht. Ja, Ngana verstand sein Handwerk, und er verstand es hervorragend. Mehr als viertausend intelligente Rassen hatte man bereits entdeckt, und über fünfzehnhundert davon waren schon jetzt integrierte Zahnrädchen in der riesigen Wirtschaftsmaschinerie der Republik. Ngana erwartete, daß diese Zahl sich mindestens verdoppeln würde, ehe er in Pension ging.
Aber jetzt empfand er Unbehagen, und er konnte nicht genau sagen, warum. Seit über einem Jahr verspürte er diese Unruhe schon, und er war erfüllt von nebelhaften Zweifeln darüber, ob es weise sei, so viele Rassen so schnell zu assimilieren. Kämpfe um ökonomische Unabhängigkeit fürchtete er nicht; solche Probleme konnten und würden rasch und effizient beigelegt werden. Nein, es war etwas anderes, etwas, von dem er spürte, daß es weiter reichte, aber es war wie ein Lichtfünkchen, das er nur aus dem Augenwinkel sehen konnte – wenn er sich ihm zuwandte, war es verschwunden.
Ein Summer erklang auf seinem Schreibtisch, und er drückte auf den Knopf, der die Gegensprechanlage einschaltete. Es war Renyan, der Minister für Handel und Verkehr, sein unmittelbarer Vorgesetzter. Das von grauen Haaren umrahmte Gesicht blickte sorgenvoll. »Kip«, sagte Renyan, »sagen Sie alles ab, was für heute noch auf Ihrem Terminkalender steht, und kommen Sie unverzüglich in mein Büro.« »Ist es etwas Ernstes?« fragte Ngana. »Etwas sehr Ernstes.« »Bin schon unterwegs.« Ngana schaltete das Sprechgerät ab. Er dachte daran, einen Notizblock einzustecken, aber vermutlich würde die Besprechung ohnehin aufgezeichnet werden, und das genügte, wenn er später noch einmal alles durchgehen wollte. Fünf Minuten später saß er an einem großen, ovalen Tisch; ihm gegenüber Renyan und eine ältliche Frau, die er nicht kannte. »Kip«, begann Renyan, »dies ist Miss Agatha Moore, Mitglied unserer Handelskommission auf Lodin XI. Miss Moore bringt uns, scheint mir, ziemlich finstere Nachrichten.« »Nun, was können wir denn für Sie tun, Miss Moore?« fragte Ngana. »Nichts«, antwortete Agatha Moore. »Aber es ist immerhin möglich, daß ich etwas für Sie tun kann oder daß ich Sie wenigstens auf etwas vorbereiten kann, was man Ihnen antun wird.« Ngana warf einen raschen Blick zu Renyan hinüber, aber der zuckte nur die Achseln und hob die Augenbrauen. »Sprechen Sie von mir persönlich?« fragte Ngana. »Leider nicht«, sagte Miss Moore. »Sie sind für mich insofern der Adressat, als Sie ein Mitglied der Republik sind. Und«, fügte sie gedankenvoll hinzu, »weil Ihre unübertreffliche Tüchtigkeit das Problem geschaffen hat.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Miss Moore.« Ngana fuhr sich mit den Fingern durch das drahtige schwarze Haar. »Wenn Ihnen bekannt wäre, was ich Ihnen sagen will, dann säße ich jetzt nicht hier«, erklärte Miss Agatha Moore steif. »Verzeihen Sie«, sagte Ngana. »Bitte fahren Sie fort.« »Mr. Ngana, ich bin keine Psychologin, und ich vermute, Sie sind es auch nicht. Man braucht jedoch kein Meister auf diesem Gebiet zu sein, wenn man erkennen will, was vor sich geht.« Ngana schaute Renyan wieder an. Inzwischen war er fast sicher, daß das Ganze sich als verzwickter Scherz entpuppen würde. »Um fortzufahren«, sagte Miss Moore, »möchte ich Sie bitten, mir genau zu sagen, was Ihr Spezialgebiet ist, Mr. Ngana.« »Meine Aufgabe ist es, günstige ökonomische Bedingungen in Alien-Zivilisationen zu schaffen und ihre Planeten für den Handel mit den Kaufleuten der Republik zu öffnen.« »Mit anderen Worten: Sie entwickeln unterentwickelte Planeten und geben ihnen alle ökonomischen Vorteile, die den Mitgliedswelten der Republik zustehen.« »Das ist im wesentlichen korrekt.« »Ist Ihnen das galaktische Bruttosozialprodukt der letzten zwölf Monate bekannt?« »160,4 Billiarden Credits, ungefähr«, antwortete Ngana. »160,369, genau gesagt«, erklärte Miss Moore. »Und ist Ihnen bekannt, wie groß der Teil ist, der direkt auf den Ertrag nichtmenschlicher Welten und Populationen zurückgeht?« »Nein, das ist mir nicht bekannt.« »88,321 Billiarden Credits«, sagte Miss Moore. »Können Sie daraus etwas schließen?«
»Nur, daß wir mit der Einverleibung dieser Planeten in unser Wirtschaftssystem gute Arbeit geleistet haben«, erwiderte Ngana. »So sehen Sie die Sache«, meinte Miss Moore. »Diese Planeten dagegen haben das Gefühl, sie seien Wirtschaftssklaven.« »Und das heißt?« »Und das heißt, daß sie der Auffassung sind, wenn sie schon einen so großen Beitrag zum Kapital der Republik leisten, stünde ihnen auch ein Anteil am Gewinn zu. Um es präziser zu sagen: Sie verlangen das Bürgerrecht, und zwar sofort.« »Das war der andere Schuh«, brummte Ngana düster. »Wie bitte?« fragte Renyan. »Nichts«, sagte Ngana. »Woher wissen Sie, daß es so ist?« »Bei Ihrer Arbeit haben Sie mit Zahlen zu tun«, antwortete Miss Moore. »Ich dagegen arbeite mit Menschen wie mit Aliens. Bei einem Kongreß auf Lodin XI war dies der Hauptgesprächspunkt unter den dort anwesenden Aliens, und sie schienen nicht sonderlich bemüht zu sein, ihre Gefühle in dieser Hinsicht zu verbergen. Sie wollen eine entsprechende Gegenleistung für ihren wirtschaftlichen Beitrag zur Republik.« »Sie wollen also ein Stück vom Kuchen haben, wie?« fragte Ngana. »Wie gut sind sie organisiert?« »Hervorragend«, erwiderte Miss Moore. »Wie ich schon sagte, Mr. Ngana – Sie haben Ihre Arbeit zu gut getan. Sie haben jetzt einen Wirtschafts-Club – einen Club, den Sie ihnen gegeben haben –, mit dem sie uns bedrohen können.« »Gibt es Berichte, die das bestätigen?« fragte Ngana, an Renyan gewandt. »Ich habe den ganzen Tag die Fühler ausgestreckt«, antwortete Renyan. »Die Bewegung scheint noch in den Kinderschuhen zu stecken, aber sie existiert.«
»Haben Sie schon Kontakt zur Psychologie aufgenommen?« »Nein, Kip. Ich dachte, wir sollten erst einmal alle unsere Optionen besprechen.« »Nun, dann beginne ich mit der Annahme, daß die Republik nicht eben begeistert über die Vorstellung ist, vierhundert Milliarden Aliens das Wahlrecht zu verleihen«, sagte Ngana trocken. »Das bedeutet: Ganz gleich, zu welchen Maßnahmen wir uns entschließen, sie müssen in jedem Fall darauf abzielen zu verhindern, daß die Bewegung ans Ziel gelangt. Richtig?« »Darf ich Sie daran erinnern, daß Ihre eigene Rasse vor nur zweitausendsechshundert Jahren in einer Sklaverei gefangen war, die weit härter und schlimmer war als die Ökonomischen Fesseln, die Sie heute um diese Welten gelegt haben?« »Ich nehme zur Kenntnis, was Sie meinen«, versetzte Ngana. »Meine eigenen Vorfahren haben allerdings den afrikanischen Kontinent erst lange nach dem amerikanischen Bürgerkrieg verlassen. Und um ehrlich zu sein, Miss Moore – wenn ich in den denebianischen Kolonien oder auf Lodin XI oder einer anderen kürzlich assimilierten Welt wäre, dann würde ich mit ganzem Herzen für die unverzügliche Verleihung des vollständigen Bürgerrechtes eintreten, wie ich es auch getan hätte, wenn ich vor zweieinhalb Jahrtausenden Sklave in Amerika gewesen wäre. Aber ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin ein hochrangiger Mitarbeiter der Republik, und ich habe den Auftrag, die Interessen meines Arbeitgebers durchzusetzen. Um es direkt und ohne Umschweife zu sagen: Ich gehöre zu den Besitzenden. Die Argumente der Besitzlosen, der Habenichtse, sprechen mich emotional an, aber ich tue meine Arbeit mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen. Und wenn der Mensch seine wie auch immer geartete Bestimmung in der Galaxis erfüllen und sein wie auch immer geartetes Geburtsrecht beanspruchen soll, dann wird er dieses Ziel weit schneller erreichen, wenn er nicht zuläßt, daß alle
seine Errungenschaften den Vorstellungen irgendwelcher Aliens von Fairplay und Moral oder auch seinen eigenen diesbezüglichen Vorstellungen untergeordnet werden.« »Wie nobel«, sagte Miss Moore sarkastisch. »Nobilität ist ein Ladenhüter. Man bezahlt mich dafür, daß ich Probleme löse, nicht dafür, daß ich sie wegmoralisiere. Ich bedaure, daß Sie meine Ethik nicht bewundern können, aber andererseits halte ich wohl auch nicht viel von Ihrem Pragmatismus.« »Kip«, unterbrach Renyan hastig, »warten Sie im Vorzimmer auf mich, und besprechen Sie derweilen die Einzelaspekte des Problems mit den Psychologen. Ich komme gleich zu Ihnen.« Ngana erhob sich, ging hinaus in das üppig eingerichtete Vorzimmer und setzte sich. Ein paar Minuten später kam Renyan heraus. Er sah aufgeregt aus. »Wissen Sie, Kip«, begann er, »als ich Sie herrief, hatten wir es nur mit einer einzigen Krise zu tun. Jetzt sind es zwei.« »Ach?« »Sie will uns feuern.« »Uns beide?« »Sie, weil Sie gesagt haben, was Sie gesagt haben, und mich, weil ich Sie nicht auf der Stelle gefeuert habe.« »Sie ist nichts weiter als eine triviale alte Tante«, sagte Ngana. »Eine reiche, politisch einflußreiche, triviale alte Tante«, korrigierte Renyan. »Wie ernst ist das Problem?« »Das hängt davon ab, wen sie kennt. Sie könnte…« »Ich meine nicht diese Querulantin«, unterbrach Ngana brüsk. »Ich meine das Problem. Wie ernst ist es den Außenwelten mit dem Bürgerrecht?« »Wie ich schon sagte, ich habe es erst vor ein paar Stunden erfahren, aber die Stimmung scheint deutlich dafür zu sein, nach allem, was wir in Erfahrung bringen konnten.« »Und die Republik ist natürlich dagegen?«
»Selbstverständlich.« »Wie eng sind die Planeten miteinander assoziiert? Können sie vereint handeln?« »Noch nicht«, sagte Renyan. »Aber geben Sie ihnen noch zwanzig Jahre, und die Sache sieht anders aus. Wir haben keine Handels-, Immigrations- oder Reisebeschränkungen. Wenn sie sich zusammenschließen wollen, haben sie reichlich Gelegenheit dazu.« »Okay«, sagte Ngana. »Ich denke, wir sollten damit anfangen, daß wir die Psychologen beauftragen, alle die Welten zu eliminieren, die nicht den Mumm oder das Temperament haben, sich gegen uns zu erheben. Das dürfte etwa die Hälfte sein. Die übrigen können wir dann so heftig unter Druck setzen, daß sie nicht aussteigen können.« »Sie sehen die Sache falsch«, sagte Renyan. »Sie wollen nicht aussteigen. Sie wollen mehr Macht innerhalb der Republik, nicht Unabhängigkeit.« »Ich weiß«, sagte Ngana. »Aber zuerst müssen wir ihre Verhandlungsposition schwächen.« »Und das müssen wir tun, ohne der Republik finanziell den Strick um den Hals zu legen«, ergänzte Renyan. »Ich weiß nicht, wie ich es diplomatisch formulieren soll«, sagte Ngana, »aber…« »Aber was?« fragte Renyan. »Aber Sie besitzen eine bemerkenswerte Fähigkeit, auf das Offensichtliche hinzuweisen. Ich will Ihren Stolz nicht verletzen. Man hat Sie für Ihren Posten ausgewählt, weil Sie ein phantastischer Verwaltungsmann sind. Aber die Lösung dieses Problems überschreitet einfach die Grenzen Ihrer Erfahrung. Darf ich, mit allem Respekt, deshalb vorschlagen, daß Sie die Angelegenheit Ihrem Gehirntrust überlassen?« »Also Ihnen?«
»Also mir und meinen Mitarbeitern. Sie können die von uns erarbeitete Lösung dann so modifizieren, daß sie den augenblicklichen politischen, diplomatischen und administrativen Erfordernissen entspricht, aber ich kann weit mehr auf die Beine bringen, wenn ich jetzt in mein Büro zurückkehre, als wenn ich diesen Knochen jetzt hier mit Ihnen abnage.« »Wissen Sie, was ich an Ihnen so abscheulich finde, Kip?« fragte Renyan. »Was denn?« »Sie können der höflichste Halunke auf der ganzen Welt sein, wenn Sie versuchen, mir etwas zu beweisen, aber wenn wir beide wissen, daß Sie recht haben, können Sie der widerlichste Kerl sein, den ich kenne.« Ngana grinste ihn an und kehrte in sein Büro zurück. Er versammelte die vier höchstrangigen seiner zahlreichen Mitarbeiter, erläuterte ihnen das Problem und beauftragte sie, die einzelnen Details des Planes, den er entwickelt hatte, zu koordinieren. Als dies geschehen war, ließ er sich von den Psychologen eine grobe Charakterskizze zu jeder Rasse geben, mit der er es zu tun haben würde. Einige waren dem Menschen loyal ergeben, einige waren unfähig, die emotionale Unabhängigkeit für ein Ultimatum gegen die Republik aufzubringen, und einige waren einfach nicht interessiert. Es blieben 845 Welten, die alles in ihrer Macht Stehende tun konnten und würden, um das Bürgerrecht zu erkämpfen. Bürgerrecht – das war natürlich nur ein Wort, ein Vorbote dessen, was kommen würde. Aber was es bedeutete, war klar: letztlich die Übergabe der politischen Macht vom Menschen an die Aliens. Es war ein verzwicktes Problem voller politischer Stolpersteine. Die Republik hatte kein Verlangen danach, die Alienwelten mit militärischer Gewalt bei der Stange zu halten. Es gab schließlich weit über eine Milliarde Sonnen in der
Galaxis; fast die Hälfte davon besaß Planeten, und auf jedem zwanzigsten Planeten gab es Lebensformen, die entweder bewußtseinsbegabt waren oder es eines Tages sein würden. Das waren eine Menge Lebensformen, wenn man sie gegen sich hatte. Außerdem gab es zweitausendfünfhundert intelligente Rassen, die noch keine Handelsbeziehungen mit der Republik akzeptiert hatten. Würde man ihre Brüder auf allzu offensichtliche Weise an der Gurgel packen, wäre dies nicht eben ein Anreiz für sie, der ökonomischen Bruderschaft der Republik beizutreten. Und schließlich war da die potentielle Fünfte Kolonne: Die Menschen, die meinten, daß die Alienwelten jedes moralische und legale Anrecht auf das Bürgerrecht hätten und die politische Zukunft der Galaxis mitbestimmen müßten. Sie würden das lästigste aller Hindernisse sein, denn an diesem Punkt seiner Geschichte war der Mensch gezwungen, seine exklusive kleine Gemeinschaft möglichst einig zu halten. Zu viele fremde Interessen stürmten von außen auf ihn ein, als daß er hätte zulassen können, daß interne Streitigkeiten sein junges Primat in der Galaxis gefährdeten. Ja, bei der Lösung des Problems mußten die menschlichen Sympathisanten auf jeden Fall mit Glacehandschuhen angefaßt werden. Die stählerne Faust, entschied er, mußte vorläufig noch in der Tasche bleiben. Die ersten Berichte trafen ein. Gamma Leporis IV konnte keine Schwierigkeiten machen; die Leute dort waren immer noch Wasserbewohner, und ihre Verbindung zu den übrigen Rassen war leicht zu unterbinden. Die denebianischen Kolonien waren ein Unruheherd; man vermutete, daß sie über Atomwaffen verfügten und auch in der Lage seien, sie abzufeuern. Die Wirtschaft von Binder VI hing völlig von der Kernkraft ab, aber die Leute dort besaßen kein eigenes spaltbares Material. Ein Embargo würde sie vermutlich wieder auf Vordermann bringen. Canphor VI und VII hingegen
würden einem Embargo mehr als zehn Jahre lang standhalten können; dort herrschten lebensfähige politische Systeme, und die letzten beiden Gouverneure waren gewählt worden, weil sie für die Bürgerrechtsbewegung eingetreten waren. Und so ging es weiter, Planet auf Planet, Rasse auf Rasse, Wirtschaftssystem auf Wirtschaftssystem. Gegen Ende der Woche begann die Realität vor Nganas Augen Gestalt anzunehmen: Es gab in der Tat keine Möglichkeit, die 845 Welten länger von ihrem Platz am Futtertrog fernzuhalten. Keine von ihnen. Kurzfristig wäre es sicher hier und dort möglich, aber wollte man die aufsässigen Planeten nicht mit Haut und Haaren annektieren, würde nichts anderes übrigbleiben als die totale politische und ökonomische Freigabe. »Und das«, beschloß Ngana die Zusammenfassung, die er seinen Untergebenen geliefert hatte, »wäre die sprichwörtliche Büchse der Pandora. Am Ende würde die Hälfte dieser Planeten zu ökonomischer und möglicherweise auch sozialer Barbarei zurückkehren. Aber die andere Hälfte würde sich zusammenschließen und zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenzbündnis werden. Zunächst würde es sich lediglich um wirtschaftliche Konkurrenz handeln, aber früher oder später würden auch politische und militärische Bereiche davon erfaßt werden. Und an diesem Punkt in der Geschichte kann der Mensch ein solches Risiko einfach noch nicht eingehen. Ich halte es für ratsam, die nötigsten Zugeständnisse zu machen und dafür zu sorgen, daß die Veränderung so langsam und so schwierig wie möglich vonstatten geht, damit der Mensch Kräfte und Energien sammeln kann, um irgendwann ein zweites Mal nach dem Primat in der Galaxis zu greifen. Will jemand dazu etwas sagen?« »Nach den nächsten Wahlen möchte ich dann aber weit weg sein«, meinte einer der Mitarbeiter erregt. »Die nächste Wahl
werden wir überstehen und die nächsten Zwanzig danach auch«, erwiderte Ngana. »Die Machtstrukturen der Galaxis werden sich verändern, und die Veränderung wird ungeheuer und wesentlich sein, wenngleich auch – hoffen wir – nur vorübergehend. Aber von uns wird sie niemand erleben. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß wir ihnen die Zügel der Regierung übergeben, ohne wenigstens ein bißchen Widerstand zu leisten, oder? Nein, meine Herren, das werden wir nicht tun. Unsere Empfehlungen sind folgende: Erstens. Die repräsentativen Bereiche werden neu und möglichst günstig definiert. Gewisse belanglose Funktionen werden, wie die Alten zu sagen pflegten, mit heißer Luft gefüllt. Dies und ein paar Gesetzesänderungen in bezug auf das Wahlverfahren dürfte uns die politische Macht langfristig sichern, selbst wenn alle Aliens der Galaxis morgen schon das Wahlrecht erhielten. Zweitens. Keine assimilierte Welt wird das Bürgerrecht erhalten, ohne eine geringe Gebühr dafür zu entrichten. Ich denke hier an eine Größenordnung von dreiunddreißig Prozent des planetarischen Bruttosozialproduktes, und zwar für einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Drittens. Die Repräsentation basiert auf Planeten- und nicht auf Kopfzahlen. Dadurch wäre der Mensch durch nahezu zehntausend Planeten und Kolonien repräsentiert; keine andere Rasse hätte mehr als zwei Dutzend.« »Wenn sie Punkt drei hören, werden sie Zeter und Mordio schreien«, sagte einer der Mitarbeiter. »Sollen sie. Es wird fünfzig Jahre dauern, bis sie diese Regel außer Kraft gesetzt haben. Das sind noch einmal fünfzig Jahre Frist für den Menschen. Viertens. Alle Militärstreitkräfte sind dem Oberbefehl des Menschen zu unterstellen.« »Das werden sie auch nicht akzeptieren«, meinte der Mitarbeiter.
»Nein, sie werden dagegen Einspruch erheben. Aber welcher menschliche Commander wird seine Flotte einem Alien übergeben, nur weil eine Alien-Regierung es sagt? Fünftens und letztens. Vor der Verleihung des Bürgerrechtes ist eine Volkszählung durchzuführen. Auch das verschafft uns rund zwanzig Jahre.« Die Liste der Empfehlungen wurde niedergeschrieben und Renyan vorgelegt, der sie mit Hilfe seiner Juristen subtil, diplomatisch und juristisch einwandfrei formulierte. Sodann wurde sie dem Sekretär der Republik vorgelegt, der sie mit seinem Siegel versah und zum Gesetz erklärte. Die Aliens waren nicht glücklich darüber, aber es war besser als nichts, und so erklärten sie sich, ein Planet nach dem anderen, mit den Bedingungen einverstanden. Und das war, fand Ngana, recht vernünftig von ihnen, denn ohne das Bürgerrecht besaßen sie kaum eine Möglichkeit, Einwände dagegen zu erheben. Wochen später wurde er in Renyans Büro gerufen, wo er wieder auf Miss Agatha Moore traf; sie hatte jetzt den Vorsitz in der neugebildeten Kommission für die Rechte der Aliens. Es folgte eine kurze Diskussion über kleinere Probleme, und dann öffnete Renyan eine Flasche von seinem feinsten Liqueur und stellte Gläser auf den Tisch. »Auf den Menschen«, sagte er, sein Glas erhebend, »der zwar nicht von Rosenduft umwölkt aus dieser Sache hervorgegangen ist, aber immer noch ganz oben steht.« »Meinen Sie das wirklich, Mr. Renyan?« fragte Agatha Moore. »Unbedingt«, antwortete Renyan großspurig. »Mit einem einzigen Rundschlag haben wir das Jahreseinkommen der Republik um zirka zwanzig Prozent erhöht, haben das, was einer Revolution gleichkam, im Keim erstickt, haben unsere andersrassigen Brüder zufriedengestellt, wenn nicht gar
glücklich gemacht, und die politische Macht des Menschen für die absehbare Zukunft gesichert.« »Und was meinen Sie, Mr. Ngana?« fragte sie. »Ich meine, daß der Mensch fertig ist«, erwiderte er ohne Umschweife. »Was?« rief Renyan. »Oh, nicht morgen und auch nicht in hundert Jahren. Ich habe noch eine lange Frist herausgeschunden. Aber die Schrift steht an der Wand. Wir haben viel zu schnell viel zu weit expandiert, wollten zu viel zu früh tun. Noch vier-, fünfhundert Jahre, dann haben wir keine Stolpersteine mehr, die wir den anderen Rassen in den Weg legen könnten, und dann stehen wir draußen im Regen. Ich habe uns eine ausreichend starke Militärmacht gesichert, so daß wir überleben werden. Ja, wir werden mehr als überleben. Wir werden wachsen und gedeihen. Aber wir werden die Galaxis nicht mit eiserner Hand regieren. Noch nicht jedenfalls. Das erste Kapitel in der galaktischen Geschichte des Menschen nähert sich seinem Ende. Das Beste, was wir tun können, ist zu konsolidieren, was wir haben, und zu versuchen, es noch ein paar Jahrtausende zu behalten. Dann erst werden wir bereit sein, wieder Fortschritte zu machen.« »Das klingt, als stünde ein galaktisches Dunkles Zeitalter vor der Tür«, meinte Renyan spöttisch. »Nein«, sagte Ngana. »Aber unser erstes Goldenes Zeitalter wird in den Jahren, die vor uns liegen, schwarze Flecken bekommen. Habe ich recht, Miss Moore?« »Absolut«, bestätigte sie. »Na, ich will verdammt sein«, schimpfte Renyan. »Sie reden, als hätten Sie uns ausverkauft.« »Überhaupt nicht«, sagte Ngana. »Ich habe lediglich das Unvermeidliche so weit wie möglich hinausgeschoben, und ich habe den besten Handel abgeschlossen, der unter diesen Umständen möglich war. Das Problem – ich will es nicht
Fehler nennen – lag in unserem allem zugrunde liegenden Traum von einem Imperium. Wir wollen uns nichts vormachen: Es ist ein Imperium, wovon wir träumen. Um einen Planeten zu kontrollieren, muß man seine Wirtschaft kontrollieren, aber damit ein Planet eine Wirtschaft haben kann, muß seine Bevölkerung so intelligent sein, daß sie schließlich auch eine faire Bezahlung für ihre Arbeit verlangen wird. Sie, die Bewohner dieser Welten, haben sich diesen historischen Augenblick erwählt, um eine solche Bezahlung einzufordern. Wenn Ihnen damit wohler ist, kann ich Ihnen versprechen, daß der Mensch weiterhin die mächtigste und potenteste Rasse der Galaxis sein wird. Aber in tausend Jahren, vielleicht früher, vielleicht später, wird er allein und außerhalb einer Galaxis stehen, die sich gegen ihn verbündet hat oder deren Ziele zumindest erheblich andere sind als die, welche er verfolgt. Und dann wird der Mensch den zweiten Schritt zu seiner Bestimmung tun. Der erste war die Überwindung der Hindernisse, die die Natur ihm in den Weg gestellt hatte, und den ist er mit bewundernswerter Leichtigkeit gegangen. Der nächste Schritt wird die Überwindung der intelligenten Rassen der Galaxis sein – einige von ihnen ein Nebenprodukt der Natur und andere wiederum Wechselbälger, entsprungen aus einer illegitimen Liaison zwischen Mensch und Natur, denn viele von ihnen besäßen nicht diese ärgerliche Energie und einen solchen Ehrgeiz, wenn wir ihnen nicht Anleitung und Beispiel gegeben hätten. Es würde mich überraschen, wenn der Mensch diesen Schritt so leichtfüßig tun könnte wie den ersten, aber wenn er der wahre Herr der Galaxis ist, wird er ihn früher oder später tun müssen.« »Wahrscheinlich später«, meinte Agatha Moore. »Geben Sie uns nicht zu früh verloren«, mahnte Ngana. »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen – ich muß die ferne
Zukunft jetzt leider verlassen und mich wieder den drängenden Problemen der Gegenwart widmen. Die Eingeborenen von Pinot VIII scheinen sich nicht im geringsten dafür zu interessieren, was ein Kredit heutzutage wert ist, und da ich mein Gehalt immer noch beziehe, muß ich mich wahrscheinlich um die Angelegenheit kümmern.« Und mit diesen Worten eilte der Mann, der das Leben der Republik verlängert und gleichzeitig ihr Todesurteil verfaßt hatte, in sein Büro zurück, tief versunken in sein neuestes Problem. Die Zukunft mußte ohne ihn zurechtkommen, und was die Gegenwart betraf – er hatte zu arbeiten.
DRITTES MILLENNIUM DEMOKRATIE
6: Die Diplomaten …Bald war es unübersehbar, daß die Demokratie die Proportionen eines Frankenstein-Monstrums angenommen hatte, welches der Mensch gegen sich selbst entfesselt hatte. Fast jedes Amt von Einfluß in der ganzen Galaxis war von nichtmenschlichen Rassen besetzt, und der Mensch verhandelte plötzlich aus einer Position der Schwäche, wie er sie bislang nicht gekannt hatte. Um zu bewahren, was an politischer und ökonomischer Macht geblieben war, übernahmen die Diplomaten neue Machtfunktionen; sie waren nicht mehr nur Botschafter, sondern sie gestalteten die eigentliche Politik, wie beispielsweise der… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Noch nie hatte der Mensch Rückschläge leichten Herzens hingenommen, nicht einmal diejenigen, welche als Ergebnis einer galaxisweiten Bürgerrechtsbewegung und einer darauf folgenden demokratischen Neustrukturierung zustande kamen, und so entwickelte der Mensch nach kurzer Zeit sein Diplomatisches Corps. Nach außen hin waren die Angehörigen dieses Corps nichts als Botschafter des guten Willens, deren einziger Auftrag es war, neue Verbündete zu gewinnen und Mißverständnisse mit den alten auszubügeln, aber in Wahrheit… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Elfhundert Jahre, sinnierte Hermione Chatham-Smythe, waren eine lange Zeit, wenn man sie ohne Ruhmesglanz verbringen mußte. Sie blickte auf einen der Bildschirme, während ihr Schiff durch den Weltraum jagte, und tausend Millionen Sterne verschwammen zu einem gewaltigen, funkelnden Vorhang. Einige dieser Sterne hatte der Mensch verloren, andere besaß er noch. Aber es gelüstete ihn nach allen, und sein Hunger war so groß, daß er ihren Geschmack fast auf der Zunge spürte. Diese leere, nagende Gier war nicht neu. Der Mensch hatte sie schon früher verspürt, und wahrscheinlich war er damit geboren worden. Und wie ein starker junger Riese war er durch die Galaxis gestreift und hatte sich genommen, was ihm gefiel. Aber in seinem jugendlichen Eifer hatte er mehr zusammengerafft, als seine Hände hatten halten können, und Stück für Stück begannen seine Schätze ihm zu entgleiten. Er, der einst zwölftausend Welten in der Hand gehalten und nach immer neuen gegriffen hatte, besaß jetzt noch ärmliche neunhundert, und seit fünfzig Generationen strebte er mittlerweile danach wiederzugewinnen, was einst sein gewesen war. Die Welten waren an und für sich wertvoll, aber noch wertvoller waren sie als Symbol, als Zeichen für das Primat des Menschen. Und er würde sie zurückbekommen. Noch jetzt, mit dem Rücken zur Wand, träumte er nicht vom Überleben, sondern davon, noch einmal sein galaktisches Geburtsrecht geltend zu machen. Der Erfolg würde nicht so mühelos erreicht werden wie in den Blütetagen der Republik, aber diesmal würde er mit größerer Sorgfalt angestrebt und auf solidere Fundamente gestellt werden. Diesmal würde er haltbar sein, und er würde
die Zeit des Menschen überdauern. Und der Mensch beabsichtigte, noch lange am Leben zu bleiben. Die ersten Schritte waren einfach: Der Mensch konsolidierte, was ihm geblieben war. Stück für Stück begann er wieder zu expandieren, aber niemals betrat er eine neue Welt oder ein neues System, ehe die letzte Erwerbung gesichert war. Und niemals vergaß der Mensch, daß eine ganze Galaxis gegen ihn stand, eine Galaxis, der er geholfen hatte, sich zusammenzuschließen, um sich seinen Machtansprüchen zu widersetzen. Es war eine Galaxis, die ganz oder teilweise noch immer seinen Handel, seine Wissenschaft, seine Antriebskraft brauchte. Aber es war auch eine Galaxis, die nicht mehr nach den Regeln des Menschen spielte. Und hier – Hermione seufzte – kam sie ins Spiel. Sie schaltete ein Sprechgerät ein, das neben ihr stand, und sagte: »Dauert’s noch lange?« »Noch ungefähr zwei Stunden«, antwortete der Pilot. »Gibt es abschließende Anweisungen bezüglich des Anfluges?« »Nicht wenn unsere Informationen korrekt sind. Sobald wir nah genug sind, daß Sicht- oder Sensorgeräte feststellen können, was los ist, stoppen Sie.« Sie wandte sich wieder dem Monitor zu. Irgendwo weit voraus lag ihr Ziel, der Schauplatz eines sehr belanglosen kleinen Krieges zwischen zwei sehr belanglosen kleinen Rassen. Die Mächtigen auf Deluros VIII (die Erde hatte man nicht aufgegeben, aber die Bürokratie war längst über sie hinausgewachsen) hatten entschieden, daß eine oder beide Rassen einen Freund brauchten. Zumindest eine von Kipchoge Nganas zweitausend Jahre alten Prophezeiungen hatte sich erfüllt: Obwohl die militärische und ökonomische Macht des Menschen im Vergleich zum Bündnis der übrigen galaktischen Rassen winzig zu nennen war, gab es doch keine Einzelrasse, die mächtiger war als er. Und dies bedeutete natürlich, daß er
derjenige war, der den Ton angab, solange sein Umgang mit anderen Rassen auf der Basis eins zu eins blieb. Knapp zwei Stunden später teilte der Pilot ihr mit, daß sie jetzt in das System eindrängen, zu welchem der Heimatplanet der Ramorianer gehörte. Hermione schickte nach Commodore Lucius Barnes, ihrem jungen, supereffizienten Militärberater. »Haben sich unsere Basisinformationen bestätigt?« fragte sie ihn. »So ziemlich«, antwortete Barnes. »Ramor unterscheidet sich kaum von der Erde. Es ist ungefähr zehn Prozent kleiner, der Sauerstoffgehalt der Luft ist ein wenig höher, ein Axialrotationszyklus dauert neunzehn Stunden, das Sonnenjahr scheint zirka 322 Tage zu dauern. Zumindest theoretisch sprechen sie Galaktik-O.« Diese letzte Information war erfreulich. Eine Sprache, die von allen in der Galaxis lebenden Rassen beherrscht werden konnte, gab es nicht, aber auf dem Gebiet der Kommunikation hatte man große Fortschritte erzielt, und der wichtigste davon war die Entwicklung von Galaktik-O, -C, -M, -G und -N. Diese Buchstaben standen für Oxygen, Chlor, Methan, Guttural und nichtklassifizierbar. Fast fünfundachtzig Prozent der intelligenten Rassen atmeten entweder Sauerstoff, Chlorgas oder Methan, und man konnte nicht erwarten, daß ein kristalliner Methanatmer die gleichen Explosivlaute hervorbringen konnte wie ein aus Kohlenstoffverbindungen bestehender Sauerstoffatmer. Und so weiter. Also hatte man fünf Formen der Sprache Galaktik entwickelt, und die meisten Rassen konnten sich in zumindest einer der Varianten verständlich machen. Einen Übersetzungsmechanismus, der spontan oder auch nur langsam jede Eingeborenensprache hätte übersetzen können, gab es nicht und würde es wohl auch niemals geben, aber jeder galaktische Reisende führte einen Translator bei sich, ein unglaublich winziges Gerät, welches
jede Variante von Galaktik augenblicklich übersetzen konnte. Unter fünf Rassen fand sich bestenfalls eine, die von der Existenz der Galaktik-Sprachen wußte, aber schon ein so geringer Prozentsatz erleichterte dem Reisenden seine Arbeit beträchtlich. »Können wir die Situation schon übersehen?« fragte Hermione. »Jawohl, Madam«, antwortete Barnes. »Es gibt sechs Planeten im System. Ramor selbst hat zwei Monde, und der fünfte Planet, ein Riese, hat elf. Die meisten davon sind kolonisiert, und unsere spektrographische Analyse zeigt, daß es auf allen Eisen und ein paar seltene Metalle gibt – vermutlich der Grund für die Kolonisation. In diesem Augenblick werden der dritte und der siebente Mond des fünften Planeten von einer anscheinend ziemlich kleinen Einsatztruppe angegriffen.« »Das sind vermutlich die Teroni«, sagte Hermione. »Was wissen wir über Teron, Madam?« »Chloratmer. Teron gehört zum nächsten Sonnensystem, etwa zwei Parsecs von hier. Den vierten Planeten dieser Sonne haben wir früher einmal kontrolliert, aber an Teron, dem neunten Planeten, hatten wir noch nie ein Interesse. Nach dem, was wir haben in Erfahrung bringen können, gab es zwischen Teron und Ramor eine Vereinbarung, welche Ramor gestattete, den zweiten Planeten im System von Teron auszubeuten, während die Teroni die Schürfrechte auf den Monden des fünften Planeten von Ramor erhielten. Wir wissen nicht genau, was als nächstes geschah, aber vor sechs Jahren wurden alle Bergbaueinheiten abgezogen, die Botschaften geschlossen und die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Seither hat es mehrere kleinere Schießereien zwischen den beiden Rassen gegeben, aber noch keinen umfassenden Krieg.« »Warum nicht?«
»Die Teroni würden sicherlich am Ende gewinnen, aber auch sie würden verheerende Verluste einstecken müssen.« »Weshalb sind wir überhaupt im System von Ramor und nicht bei Teron?« »Weil Ramor einen großen Bruder mit starken Muskeln offenbar dringender benötigt«, erklärte Hermione. »Seit Jahrhunderten war keines der beiden Systeme bereit, mit dem Menschen Geschäfte zu machen, aber beide besitzen landwirtschaftliche Produkte und seltene Erden, die wir brauchen. Meine Anweisungen sind entzückend unbestimmt: Ich soll den Handelsverkehr mit einem oder beiden Planeten in Gang bringen. Wie ich das anfange, ist meine Sache.« »Und können Sie mit dem, was wir wissen, etwas anfangen?« »Allerdings«, sagte Hermione. »Wie schätzen Sie die Leistungsfähigkeit ihrer Kriegsschiffe im Vergleich zu diesem hier ein?« »Keine Konkurrenz«, war die Antwort. »Nach den Sensordaten, die wir empfangen haben, sind zwanzig von ihnen erforderlich, um eine Beule in unsere Außenhaut zu schießen.« »Und Sie glauben, daß es wenig oder keinen Unterschied zwischen den ramorianischen Schiffen und denen der Teroni gibt?« »In ihrer Struktur unterscheiden sie sich völlig voneinander«, antwortete Barnes. »Aber was die Leistungsfähigkeit betrifft, so sind es zwei Seiten derselben Medaille.« »Nun, wie ich es sehe«, sagte Hermione, »besitzen die Teroni eine Flotte von ungefähr fünfundfünfzig Kriegsschiffen, und die Ramorianer haben zweiunddreißig Schiffe.« »Wenn es so ist«, antwortete Barnes, »hat keiner der beiden Planeten genug, um sich gegen einen Totalangriff des anderen adäquat zu verteidigen. Früher oder später würde eines der gegnerischen Schiffe durchbrechen.«
»Das meine ich auch«, sagte Hermione. »Deshalb haben sie ihre bewaffneten Auseinandersetzungen auf die Bergbaukolonien beschränkt. Es scheint eine ungeschriebene Spielregel zu sein, daß massive Angriffe und massive Vergeltungsmaßnahmen unter allen Umständen vermieden werden müssen. Sagen Sie, wie viele Teroni-Schiffe befinden sich im Augenblick in der Umgebung der ramorianischen Monde?« »Sechzehn haben wir definitiv gesichtet. Vielleicht kommt noch eines hinzu, vielleicht zwei.« »Das müßte genügen«, überlegte Hermione. »Könnten Sie mir bitte eine Verbindung mit Ramor herstellen?« Wenige Augenblicke später sprach sie mit einem Mann, der zumindest autorisiert war, im Namen des Regierungschefs von Ramor zu sprechen, wenn er es nicht sogar selber war. »Das Schiff Haiti vom Planeten Deluros VIII aus dem Besitz der menschlichen Rasse sendet Ihnen seinen Gruß«, sagte sie. »Wir heißen die Haiti willkommen«, antwortete der Ramorianer, »und bitten sie mit allem Respekt, uns mitzuteilen, was sie zu uns führt.« »Zu lange schon leben unsere Rassen isoliert voneinander«, sagte Hermione, sorgfältig bemüht, ihr Galaktik-O unmißverständlich zu formulieren. »Wir sind in aller Bescheidenheit der Ansicht, daß die Zeit gekommen ist, da unsere beiden Rassen ihren Bruderbund erneuern und die Raumrouten für den freien Handelsverkehr zwischen unseren Welten öffnen. Als Geste unseres guten Willens bringen wir eine Fracht, die aus Maschinen zur Fabrikation synthetischer Gewebe besteht, von denen wir wissen, daß Ihre Bergleute sie hochschätzen werden. Wir erbitten nichts dafür – nur das Recht auf freien Handel mit Ihnen.« »Ich bedaure, aber das ist ganz ausgeschlossen«, antwortete der Ramorianer. »Vor Jahrhunderten schon hat unser Volk einen Geschmack davon bekommen, was es heißt, freien
Handel mit den Menschen zu treiben, und die Erinnerung daran brennt noch immer auf unserer Zunge. Wir werden Sie nicht behelligen, aber es ist Ihnen untersagt, auf einem unserer Planeten zu landen. Wir danken Ihnen für Ihre freundschaftliche Geste, aber wir können und werden weder dieses noch andere Angebote zur Wiederaufnahme des Handels mit Deluros VIII oder anderen vom Menschen beherrschten Planeten akzeptieren.« Hermione brach die Verbindung ab und wandte sich an Barnes. »Madam?« »Ich glaube, es ist an der Zeit für eine kraftvollere Geste«, sagte sie. »Sie sagten eben, sechzehn Teroni-Schiffe attackierten die Monde des fünften Planeten. Können wir ohne großes Risiko für uns selbst ein Dutzend davon zerstören?« »Auf jeden Fall.« »Dann veranlassen Sie, daß es geschieht, und jagen Sie die überlebenden Teroni aus diesem System hinaus und in die Richtung ihres Heimatplaneten.« Innerhalb weniger Minuten hatte die Haiti die belagerten Monde erreicht. Ohne Vorwarnung ließ sie fünf Teroni-Schiffe verdampfen, noch ehe diese bemerkt hatten, daß sie gekommen war. Bei der Geschwindigkeit, der Wendigkeit und der Bewaffnung der Haiti war die Vernichtung der restlichen Schiffe ein Kinderspiel. Ihre Waffen – das Endprodukt eines Rüstungsrennens, das begonnen hatte, als der erste Höhlenmensch zum erstenmal einen Schenkelknochen als Keule benutzte – waren von verheerender Wirkung, und nach wenigen Augenblicken jagten die vier überlebenden Schiffe zurück nach Teron. »Gibt es eine Möglichkeit, so zu tun, als sei die Haiti manövrierunfähig geschossen?« fragte Hermione. »Jetzt gleich?«
»Nun, bevor die Teroni außer Sicht- und Sensorreichweite sind. Dann lassen Sie das Schiff nach Ramor zurückhinken, gerade so schnell, daß sie es nicht überholen können.« Der Pilot folgte Barnes’ Anweisungen, und die Teroni kehrten in der falschen Annahme, die Haiti könne erst wieder großen Schaden anrichten, wenn sie repariert wäre, nach Teron zurück. Wenig später stand Hermione erneut in Verbindung mit dem ramorianischen Sprecher. »Das Schiff Haiti von Deluros VIII aus dem Besitz der menschlichen Rasse entbietet Ihnen Grüße und Glückwünsche.« »Unsere Haltung ist unverändert«, war die knappe Antwort. »Wir bezweifeln Ihre Aufrichtigkeit nicht«, erklärte Hermione. »Aber um unseren eigenen guten Willen unter Beweis zu stellen, haben wir eine Anzahl von Teroni-Schiffen in der Gegend der Monde Ihres fünften Planeten beschossen.« »Und?« Im Radio war es nicht zu hören gewesen, aber Hermione hatte den starken Verdacht, das der Ramorianer einmal kräftig geschluckt hatte. »Und wir haben einen überwältigenden Triumph für das Volk von Ramor erzielt. Wir haben keine Flagge gezeigt, und so wird der Ruhm des Sieges allein Ihrer planetaren Regierung zugute kommen. Wir sind zuversichtlich, daß Sie dies als weiteren Beweis für unsere Freundschaft akzeptieren werden, und wir…« »Haben Sie sie alle vernichtet?« unterbrach der Ramorianer barsch. »Lassen Sie mich meine Unterlagen befragen«, sagte Hermione und grinste, als sie den ramorianischen Sprecher eine Minute lang schwitzen ließ. »Nein«, sagte sie schließlich. »Aber zwölf Teroni-Schiffe wurden völlig vernichtet, ohne daß ein Ramorianer zu Schaden kam. Vier Schiffe sind in der Tat
entkommen, aber wir haben Ihre Bergbaukolonien für die absehbare Zukunft zweifellos gesichert.« »Sie sind sicher, daß vier von ihnen entkommen sind?« »Ja«, sagte Hermione gelassen. »Wir hätten sie jagen und zur Strecke bringen können, aber wie hätten die Tyrannen von Teron dann erfahren sollen, daß sie unsere ramorianischen Freunde nicht länger ungestraft peinigen dürfen?« Etwas wie ein Stöhnen klang aus dem Lautsprecher. »Als letzte Demonstration unseres guten Willens wird die Haiti jetzt nach Deluros VIII zurückkehren und nie wieder in den ramorianischen Raumsektor eindringen, bis Sie, unsere Brüder, aktiv einen Handelsvertrag anstreben. Wir sagen Ihnen Lebewohl und wünschen Ihnen aufrichtig, daß Ihre Gottheit Sie mit Wohlgefallen betrachten möge.« »Halt!« rief der Ramorianer in panischer Hast. »Sie können unser System jetzt nicht verlassen!« »Warum nicht?« fragte Hermione unschuldig. »Wir verstehen, daß Sie zweifellos Zeit brauchen, die Implikationen unserer brüderlichen Tat zu erkennen und zu erwägen. Wir sind bereit zu warten, bis Sie aus freien Stücken und offen zu uns kommen. Es ist nicht Art des Menschen, Gewalt anzuwenden – gleich welcher Natur.« »Aber was ist, wenn die Teroni zurückkommen? Sie sind noch immer in der Überzahl.« »Warum sollten sie zurückkehren?« fragte Hermione honigsüß. »Wir haben sie neuen Respekt vor Ramors Streitkräften gelehrt, und außerdem haben sie noch nie einen Totalangriff gegen Sie geführt.« »Sie sind auch noch nie so offen provoziert worden«, erwiderte der Ramorianer erbittert. »Ich glaube«, sagte Hermione, »daß Ihre Besorgnis unbegründet ist. Ich bin sicher, daß die vier entkommenen
Teroni-Schiffe zu weit weg waren, als daß sie hätten erkennen können, daß unser Schiff ernstlich beschädigt wurde.« »Bitte, was heißt das?« fragte der Alien verzweifelt. »Als wir die Überlebenden verfolgten, traf ein verirrtes Geschoß unsere Schiffswand und machte uns flügellahm. Aber ich bin sicher, daß die Teroni es nicht haben sehen können. Sie waren schließlich ungefähr zehn Millionen Meilen weit entfernt, als es geschah.« »Die Reichweite ihrer Sensoren ist etwa doppelt so groß!« jammerte der Ramorianer. »Jetzt wissen sie, daß sie ungehindert zum Vergeltungsschlag ausholen können. In weniger als zwei Tagen können sie hier sein.« »Oh, das tut mir leid«, sagte Hermione. »Die Reparaturen, die unser Schiff wieder voll einsatzfähig machen könnten, würden nicht einmal einen halben Tag beanspruchen, aber ich fürchte, in unserem gegenwärtigen Zustand wird die Reise nach Deluros VIII mindestens ein Jahr dauern. Wenn es nur irgendwo einen Platz gäbe, an dem wir die Reparatur durchführen könnten…« »Bitte warten Sie«, sagte der Ramorianer. Es klickte im Radio. Nach wenigen Minuten war er wieder da. »Man hat mich angewiesen, Sie davon zu informieren, daß Sie Ihre Reparatur auf Ramor oder im Orbit durchführen können, je nachdem, was Ihnen dienlicher erscheint.« »Wie überaus entgegenkommend von Ihnen«, sagte Hermione. »Aber ich weiß, daß wir uns tölpelhaft verhalten und Ihnen durch unsere Einmischung beträchtlichen geistigen und emotionalen Verdruß bereitet haben. Ich fände es deshalb unfair, wenn wir Ihnen weiter zur Last fallen wollten. Nein, wir werden unserem ursprünglichen Plan folgen und nach Deluros VIII zurückkehren, um dort das Schiff zu reparieren und Ihre Entscheidung über die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen abzuwarten.«
»Aber die Teroni werden uns vernichten!« »Gewiß überschätzen Sie sie«, meinte Hermione. »Allerdings, falls Sie daran dächten, nun doch ein Handelsabkommen mit uns zu schließen, würden wir, als weitere brüderliche Geste, in Ihrem Sonnensystem bleiben, bis die Teroni davon überzeugt sind, daß Ramor in der Tat unbezwingbar ist.« Hermione lehnte sich zurück, schloß die Augen und lächelte. Es war Pech, dachte sie, daß weder die Ramorianer noch Galaktik-O über ein Wort verfügten, das die Bedeutung von »Erpressung« hatte. Nicht einmal zwei Stunden später hatten Hermione ChathamSmythe, freie Botschafterin der menschlichen Rasse, und der Premierminister der ramorianischen Planetarregierung ihre Unterschriften unter einen Vertrag gesetzt, der es dem Menschen erneut gestattete, mit den Bewohnern des ramorianischen Systems Handel zu treiben. Nachdem sie Deluros VIII von dem Abschluß in Kenntnis gesetzt hatte, lud Hermione Barnes und den Piloten auf einen Brandy in ihre Suite ein. »Wohin geht es als nächstes, Madam?« fragte der Pilot. »Es ist lange her, seit wir zuletzt ein beiderseitiges Handelsabkommen mit Chloratmern in dieser Region abgeschlossen haben. Ich bin sicher, daß wir binnen kurzem auch unsere Brüder auf Teron von unserer Freundschaft und unseren guten Absichten überzeugen können. Meinen Sie nicht auch?« Sie lächelte entzückend und nippte an ihrem zarten, langstieligen Glas.
7: Die Olympier … Wie der Pony-Expreß, der sich in seinem nur elf Monate dauernden Leben einen Platz in der menschlichen Geschichte
erwarb, der seine wirklichen Leistungen an Bedeutung weit übertraf, so erhielt auch der Kult der Olympier in den kurzen zweiundzwanzig Monaten seiner Existenz eine öffentliche Beachtung, die in krassem Mißverhältnis zu seinen Werken stand. Damit sollen diese romantischen Idole aus den Anfangstagen der Demokratie in keiner Weise verächtlich gemacht werden, denn zu jener Zeit brauchte der Mensch alle Helden, die er finden konnte, und es ist gewiß, daß keine zweite Gruppe dieses Bedürfnis mit ähnlichem Eifer und Schwung erfüllte wie die Olympier… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Einer flüchtigen Erwähnung wert sind vielleicht die Olympier, denn es ist zweifelhaft, daß ein zweites Segment der Menschheit ein ebenso akkurates Spiegelbild vom unglaublichen Ego des Menschen, seiner Lust an der Demütigung anderer Rassen und… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Fünfzigtausend Lebewesen erfüllten das Stadion, und unzählige Milliarden saßen draußen an den Videos. Und alle hatten ein einziges Interesse miteinander gemeinsam: ihn geschlagen, gestürzt zu sehen. »Der große Augenblick steht vor der Tür«, sagte Hailey und klopfte ihm das Leben in die Beine, während er mit dem Gesicht nach unten auf dem Massagetisch lag. »Heute werden wir’s ihnen zeigen, Junge.« Er starrte regungslos vor sich hin. »Das hoffst du«, sagte er. »Ich weiß es«, sagte Hailey. »Du bist ein Mensch, Kleiner, und
Menschen verlieren nicht. Bist du fertig für die Presse?« Er nickte. Die Tür wurde entriegelt, und eine Flut von Reportern, Menschen und Aliens, ergoß sich in den Raum und drängte sich um ihn. »Glauben Sie immer noch, Sie werden ihn packen, Big John?« Er nickte. Olympier waren bekannt für ihre Zurückhaltung. Sie hatten Manager, die für sie Fragen beantworteten. »Da draußen sind es fünfundfünfzig Grad«, sagte einer. »Und Sauerstoff gibt’s auch wenig.« Er starrte den Reporter an. Er hatte ihm keine Frage gestellt. Also würde er auch nicht antworten. »Jungs«, sagte Hailey und trat vor ihn, »ihr wißt, daß Big John sich emotional auf das, was kommt, vorbereiten muß. Also richtet eure Fragen an mich. Ich werde sie mit Vergnügen alle beantworten.« Zuversichtlich grinste er in eine der Videokameras. »Ich wußte nicht, daß Olympier Emotionen haben«, sagte ein Reporter von Lodin XI sarkastisch. »Aber klar, aber klar«, schwatzte Hailey. »Sie sind bloß zu professionell, sie zu zeigen, das ist alles.« »Mr. Hailey«, sagte ein Chloratmer in einem Raumanzug durch seinen Translator, »was genau hofft Mr. Tinsmith mit all dem zu beweisen?« »Ich bin froh, daß Sie diese Frage stellen, Sir«, sagte Hailey. »Ich bin wirklich sehr froh, denn ich bin sicher, daß viele Ihrer Zuschauer sich diese Frage auch schon gestellt haben. Nun, ich will die Antwort folgendermaßen formulieren: Big John Tinsmith ist ein Olympier, mit allem, was das impliziert. Vor vier Jahren hat er seine Gelübde abgelegt, er hat totale Abstinenz von Geschlechtsverkehr, alkoholischen Stimulanzien, schädlichen Betäubungsmitteln und Tabak geschworen. Als Mitglied des Ordens der Olympier hat er die
gleiche Aufgabe wie alle seine Brüder: Er reist in der Galaxis umher, um als Botschafter den guten Willen und den Sportsgeist des Menschen hinauszutragen und eingeborene Rassen anderer Systeme zum körperlichen Wettstreit in Disziplinen herauszufordern, in denen sie Spezialisten sind.« »Und warum hat dann noch kein Olympier einen Torqual zum Ringkampf herausgefordert?« wollte ein anderer Reporter wissen. »Und wie ich schon sagte«, fuhr Hailey ungerührt fort, »sind die Eingeborenen von Emra IV mit Recht stolz auf ihre Schnellfüßigkeit. Der Wettlauf ist bei ihnen die am höchsten entwickelte Sportart, und so…« »Es hat nicht zufällig mit der Tatsache zu tun, daß die Torquals aus zwölfhundert Pfund solider Muskeln bestehen, wie?« bohrte der Reporter. »Nun, eigentlich hatten wir es noch nicht bekanntgeben wollen, aber Sherif Ibn ben Iskad hat Torqual herausgefordert. Sie sollen im nächsten Monat ihren Champion für einen Kampf aufstellen.« »Sherif Iskad!« jauchzte ein menschlicher Reporter. »Na, das ist eine Neuigkeit! Iskad hat doch noch nie verloren, oder?« »Kein Olympier hat je verloren«, sagte Hailey. »Und wenn diese Frage jetzt geklärt ist, möchte ich gern zum Thema zurückkehren. Big John Tinsmith wird gegen den besten Läufer antreten, den Emra IV aufbieten kann, und ich garantiere Ihnen, Sie werden…« Hailey redete und redete, er beantwortete die Fragen, die ihm paßten, und wich geschickt denen aus, die ihm weniger gut gefielen. Schließlich, eine Viertelstunde vor dem Antreten, ließ er den Raum räumen und wandte sich an Tinsmith. »Wie fühlst du dich, Kleiner?« »Gut«, sagte Tinsmith, der keinen Muskel gerührt hatte. »Herb!« bellte Hailey. »Schließ die Tür ab, und schieb den
Riegel vor. In den nächsten zehn Minuten kommt hier keiner rein.« Der Trainerassistent gehorchte, und Hailey zog eine kleine Ledertasche unter dem Massagetisch hervor. Er öffnete sie, holte ein paar Injektionsspritzen hervor und betrachtete die Etiketten auf etwa zwanzig Glasampullen. »Adrenalin«, verkündete er und spritzte eine massive Dosis in Tinsmiths Arm. »Das Gelände machte auch einen etwas rauhen Eindruck. Ein bißchen Phenylbutazon kann nicht schaden.« Eine Dosis ging in jede Wade. »Damit kannst du die Luft leichter atmen… und hier, das wird dir die Hitze erträglich machen… tja, das war’s dann. Schlägt’s schon an?« Tinsmith bewegte sich zum ersten Mal; er setzte sich auf und ließ die langen, schlanken Beine baumeln. Er atmete zweimal tief ein, blies die Luft langsam von sich und nickte. »Gut«, sagte Hailey. »Persönlich war ich ja gegen dieses Rennen. Ich finde, es ist noch ein wenig zu früh für dich. Aber weil Olympier nicht nein sagen können, haben wir es hinausgezögert, so lange es ging, und dann zugestimmt.« Tinsmith rutschte vom Tisch herunter, kniete nieder und begann, seine Schuhe straff zu schnüren. »Dieser Kerl ist schnell, da mach dir mal nichts vor«, sagte Hailey. »Verdammt schnell. Die erste Meile wird er in weniger als drei Minuten runterreißen, und das heißt, du wirst so weit zurückliegen, daß du ihn wahrscheinlich nicht mal mehr sehen kannst. Aber die Emraner haben keine Ausdauer. Die zweite Meile wird ihn schätzungsweise dreieinhalb Minuten kosten und die dritte dreidreiviertel. Spar dir deine Kraft bis dahin auf. Es sind vier Meilen und achtzig Yards. Wenn du läufst, wie du trainiert hast, solltest du eine gute Viertelmeile vor dem Finish mit ihm gleichziehen.« Hailey kicherte. »Das wird ein Ding! Du läßt dem Halunken Hunderte von Yards Vorsprung, und auf der Zielgeraden läßt du ihn hinter dir, wenn jeder Alien
von hier bis zum Rand schon glaubt, der erste Olympier wäre endlich geschlagen. Wunderschön nenne ich das!« »Fertig«, sagte Tinsmith und wandte sich zur Tür. »Vergiß nicht, Kleiner«, sagte Hailey. »Kein Olympier hat jemals verloren. Du repräsentierst die Rasse des Menschen. Sein ganzes Ansehen ruht auf deinen Schultern. Wenn auch nur einer von euch besiegt wird, muß der Orden der Olympier sich auflösen.« »Ich weiß«, sagte Tinsmith tonlos. Hailey öffnete die Tür. »Soll ich mitgehen? Dir bis zur Rennbahn Gesellschaft leisten?« »Olympier gehen allein«, sagte Tinsmith und ging hinaus. Er lief durch einen langen, schmalen, gewundenen Gang, und nach wenigen Minuten hatte er die Nullebene des riesigen Stadions erreicht. Die Luft war heiß und drückend. Er atmete tief, stellte fest, daß die Spritze wirkte, und trat hinaus ins Freie, wo die Menge auf den Tribünen ihn sehen konnte. Die Massen johlten. Ohne eine Emotion zu zeigen oder zu empfinden, ohne nach rechts oder links zu schauen, ging er auf seinen wartenden Gegner zu. Der Emraner war humanoid. Er war etwa einen Meter fünfzig groß und hatte dicke, kraftvolle Beine. Vor allem die Waden waren knotig von Muskeln, und die Füße, wiewohl ein wenig gespreizt, wirkten extrem effizient. Seine Haut hatte die Farbe rötlicher Bronze, und Körper und Kopf waren völlig haarlos. Tinsmith warf einen Blick auf den Brustkasten des Emraners: Seine Lungenkapazität schien nicht größer als seine eigene zu sein. Sein Blick wanderte hinauf zu Nase und Mund des Emraners. Die Nase war groß, der Mund klein, und das Kinn stand vor. Das bedeutete, daß er auf der letzten Meile nicht mit dem Mund nach Luft würde schnappen können – wenn er erst einmal erschöpft war, würde er es bleiben. Zufrieden und ohne den Emraner weiter anzuschauen
oder zu begrüßen, stellte er sich an der Startlinie auf, verschränkte die Arme und schaute starr geradeaus. Einer der Funktionäre trat auf ihn zu und bot ihm einen modifizierten Translator an, denn es war wohlbekannt, daß Olympier keine andere Sprache als die ihrer Heimatwelten sprachen. Er schüttelte den Kopf, und der Funktionär zog sich achselzuckend zurück. Ein Emraner sprach jetzt durch das Mikrophon, und die Lautsprecheranlage ließ blecherne Echos durch das ganze Stadion hallen. Begeisterte Jubelrufe erhoben sich, und Tinsmith wußte, daß der Name des einheimischen Champions gefallen war. Kurz darauf wurde gejohlt, während er hörte, wie sein eigener Name in gräßlicher Verstümmelung verkündet wurde. Dann steckte man die Rennstrecke ab – eine Dreifachumrundung des gewaltigen Stadions auf einer steinigen Bahn –, und die Grundregeln wurden verlesen. Durch Münzenwurf wurde entschieden, wer auf der Innenbahn laufen sollte. Tinsmith verschmähte es zu sagen, für welche Seite er sich entschied, aber der Emraner wettete und verlor. Tinsmith ging an seinen Platz auf der Startlinie. Während er gebückt dastand und auf den Start des Rennens wartete, warf er einen Seitenblick auf den Emraner und studierte ihn kurz. Er war humanoid genug, daß Tinsmith die furchtbare Anspannung und Konzentration sehen konnte, die sich in lebhaften Farben auf seinem jetzt schon schweißüberströmten Gesicht abzeichnete. Und warum sollte er nicht angespannt sein? Er trug schließlich ebenfalls eine schwere Last auf seinen Schultern. Er war der schnellste Läufer aus einer Rasse von Schnelläufern. Der Emraner fühlte Tinsmiths Blick auf sich; er sah ihn an und verzog seinen Mund zu etwas, das einem Grinsen gleichkam. Tinsmith starrte mit eisiger, ausdrucksloser Miene zurück.
Er hatte nichts gegen dieses Wesen, wie er auch gegen seine früheren Gegner nichts gehabt hatte, wie auch Iskad nichts gegen die Geschöpfe gehabt hatte, die er mit seiner Muskelkraft vernichtete, wie auch der brillante Kobernykov nichts gegen die vielen tausend Wesen gehabt hatte, die er am Spielbrett schlug. Es war nicht seine Absicht, diesem Gegner vor dem Riesenpublikum seiner Artgenossen die Schmach der Niederlage zuzufügen. Aber Olympier hatten keine andere Wahl, als zu gewinnen. Wenn ein Olympier, ganz gleich wo, verlöre, würde der Mythos der Unbezwingbarkeit des Menschen, an dem sie bauten, zerstört sein, und sie wären nichts weiter als eine von vielen begabten Konkurrenzrassen in den Sportstadien der Galaxis. Und das, soviel wußte er, war nicht zu akzeptieren. Mehr noch, es war unvorstellbar. Aber nicht, um Schmeichelhaftes für die Menschheit zu vollbringen, traten die Olympier zu ihren Wettkämpfen an. Dies war ein Nebeneffekt und nicht selten ein lästiger. Sie lebten nur zu dem Zweck, das Johlen der anderen Rassen zu hören, wenn sie das Spielfeld betraten, welches immer wieder neu aufbrandete, doch auch immer schwächer wurde – zu hören, wie die Schmähungen im Laufe des Wettstreits allmählich verstummten, bis schließlich respektvolle Stille herrschte, vielleicht sogar Ehrfurcht das Stadion erfüllte. Diese Ehrfurcht galt nicht dem individuellen Olympier, sondern der Rasse, die er repräsentierte, und so sollte es auch sein. Aber jetzt war keine Zeit für weitere Reflexionen, denn das Rennen hatte begonnen, und der Emraner sprintete davon. Tinsmith versuchte einen Augenblick lang, ihm auf den Fersen zu bleiben, aber dann verfiel er in gleichmäßiges Laufen, und seine langen, geschmeidigen Beine verschlangen die Distanz mit schwerelosem Schritt. Auf der ersten Viertelmeile atmete er durch die Nasenlöcher und testete die Wirksamkeit der
Stimulantien; dann kehrte er befriedigt zu seiner normalen Atemmethode zurück – ein tiefer Zug alle drei Schritte. Weit vor ihm baute der Emraner seinen Vorsprung aus; der Abstand betrug erst zweihundert, dann dreihundert Yards. Der Olympier achtete nicht darauf. Hailey hatte ihm gesagt, was der Emraner leisten konnte und was nicht, und er kannte auch seine eigenen Fähigkeiten. Wenn Haileys Informationen zutrafen, würde er den Emraner in ungefähr elf Minuten eingeholt haben. Und wenn Hailey sich irrte… Er schüttelte den Kopf. Hailey irrte sich niemals. Die Massen jubelten und brüllten den Namen ihres Champions, und überall in der Galaxis sahen fünfhundert Milliarden Zuschauer, wie der Olympier so weit zurückfiel, daß die Videokameras nicht beide Läufer zugleich erfassen konnten. Und Tinsmith wußte, jeder einzelne von ihnen, Mensch oder Alien, würde sich die gleiche Frage stellen: Konnte dies der Tag sein? Konnte dies der Tag sein, an dem der erste Olympier einen Wettkampf verlor? Alle außer Hailey stellten sich diese Frage; der aber saß stumm in seiner Loge, die Stoppuhr in der Hand, und nickte. Der Kleine machte sich gut, und er befolgte die Anweisungen bis aufs I-Tüpfelchen. Die erste halbe in 1:49, die Meile in 3:40. Er hob sein Fernglas an die Augen und sah, daß sein Schützling weder Anstrengung noch Erschöpfung erkennen ließ. Zufrieden lehnte er sich zurück. Am Ende der zweiten Meile hatte sich der Vorsprung des Emraners nicht verringert, und selbst die wenigen Menschen im Stadion spürten, daß eine Niederlage drohte. Aber dann, langsam und unbeirrbar, begann Tinsmith, die Lücke zu verkleinern. Nach drei Meilen lag er nur noch zweihundert Yards zurück, und als sie zum letzten Mal in die Gegengerade einbogen, hatte er den Vorsprung des Emraners auf einhundertfünfzig Yards verringert. Und diese Distanz blieb bestehen, als erst der Emraner und über zwanzig Sekunden später auch Tinsmith in die letzte
Kurve einbogen. Der Olympier starrte durch dünne Staubschleier der fliegenden Bronzegestalt nach. Hier stimmte etwas nicht! Der Emraner hätte ihm jetzt näher rücken müssen; nach jenem gewaltigen Sprint am Anfang hätte jetzt Erschöpfung seine schweren, stämmigen Beine erlahmen und Schritte und Atem kürzer werden lassen müssen. Aber das geschah nicht. Noch immer fraßen seine Beine den Boden, und noch immer behielt er seinen Vorsprung bei. In diesem Augenblick wußte Tinsmith, daß er nicht länger abwarten konnte, daß es auf der Zielgeraden zu spät sein würde, daß sein Körper, der die Anstrengung bereits zu spüren begann, jetzt auf die Herausforderung würde reagieren müssen. Dies würde kein Spaziergang für ihn werden, hier gab es keinen müden Gegner, an dem er lässig vorbeiziehen könnte, wenn er die Anonymität des Sieges erlangen wollte, das Wissen, daß er nur einer auf einer langen Liste von Siegern war – und nicht der letzte Olympier. Er spurtete voran, mehr angespornt von der Angst vor der Niederlage als von der Lust am Sieg. Seine Beine schmerzten, seine Sohlen brannten, und sein Atem kam in kurzen, stechenden Stößen. Mit Riesenschritten bog er in die Zielgerade ein, sein Körper schrie nach Erlösung, und seine Gedanken mühten sich verzweifelt, die Qualen zu verdrängen. Jetzt lag er noch siebzig Yards hinter dem Emraner zurück, jetzt noch fünfzig. Der Emraner hörte das Brüllen der Menge, und er wußte, daß der Olympier ihm nachsetzte, und zwang seine eigenen gemarterten Beine, ihr Tempo zu halten. Weiter und weiter rannten die beiden, und jeder trug eine Welt auf seinen Schultern. Tinsmith verringerte noch immer den Vorsprung des Emraners, aber die Strecke näherte sich ihrem Ende. Er legte den Kopf in den Nacken, sein Blick verschwamm, und mit seiner ganzen Willenskraft verdrängte
er die Flecken, die vor seinen Augen tanzten, und konzentrierte sich auf die Zielleine. Nur zweihundert Yards weit entfernt hing sie quer über der Bahn. Für den Emraner waren es noch einhundertsiebzig. Er würde verlieren. Er wußte es, er fühlte es in jedem seiner pochenden Muskeln, in jedem seiner markerschütternden Schritte. Wenn man in zukünftigen Jahren, auf Welten, die heute noch nicht entdeckt waren, von den Olympiern spräche, dann würde es sein Name sein, den man erwähnte. Der, der verloren hatte. »Nein!« schrie er. »Nein, nicht ich!« Sein Tempo beschleunigte sich. Er lief nicht mehr dem Emraner nach, er rannte vor jedem Menschen davon, der jetzt oder in Zukunft in der Galaxis lebte. »NEIN!« Er schrie noch, als er die Ziellinie überquerte – fünf Schritte vor seinem Gegner. Er wollte zusammenbrechen, wollte seinen mißhandelten Körper mit dem Staub und den Steinen des Stadionbodens verschmelzen lassen. Aber das ging nicht. Noch nicht; er mußte zuerst zurück in die Garderobe. Verschwommen nahm er wahr, daß einer von Haileys Assistenten durch den Cordon aus Polizisten und Funktionären brach und auf ihn zustürzte, um ihn zu stützen, aber er schob ihn mit einer Bewegung seines langen, schweißnassen Armes beiseite. Jemand anders brachte ihm einen Krug Wasser. Später würde er trinken, später würde er es liter-, gallonenweise in seine trockene, rauhe Kehle rinnen lassen. Aber nicht jetzt. Nicht vor ihnen. Das Feuer in seiner Lunge begann zu verglimmen, und ein dumpfer, pochender Schmerz trat an seine Stelle. Plötzlich erinnerte er sich an die Kameras. Er schluckte einmal und richtete sich dann zu voller Größe auf. Ruhig und verachtungsvoll blickte er auf die Schar der Reporter; dann
wandte er sich ab und begann den langen, schmerzhaften Marsch in die Garderobe. Hailey machte Anstalten, ihn zu begleiten, aber dann blieb er stehen. Einer von Haileys Assistenten wollte ihm folgen, aber Hailey packte seinen Arm und hielt ihn zurück. Er verstand es. Olympier gingen allein.
8: Die Anwälte … Wie die Olympier für den Menschen auf den Feldern der Ehre kämpften, so kämpften – auf wesentlich bedeutsamere Weise – die Anwälte für ihn in den Gerichtshöfen. Die Probleme waren neu und unermeßlich, denn eine Million fremder Welten mit einem verschlungenen Geflecht aus Sitten, Gesetzen und Statuten waren die Schlachtfelder, und nahezu jeder zweite Gesetzesbrecher wußte nicht einmal, daß er gegen das Recht eines Planeten verstoßen hatte. In vielen Fällen waren Gesetze einfach unverständlich und für jemanden, der im menschlichen Kulturkreis aufgewachsen war, gänzlich sinnlos; aber auch in solchen Fällen ließ der Mensch es nicht an Fürsorge für seinesgleichen fehlen, und mochte der Fall auch noch so hoffnungslos erscheinen, stets wurden ein oder mehrere Anwälte dem fehlgegangenen Bruder zu Hilfe geschickt. Wohl kein zweiter Anwalt gelangte in der Periode der Demokratie zu ähnlich großem Ruhm wie Ivor Khalinov. Geboren in dem gewaltigen Komplex auf Caliban, wuchs er auf dieser ungeheuren Welt zum Manne heran, bevor er… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
…Khalinov (2399-2484 G. Z.) erreichte galaktischen Ruhm nach einer Reihe von unbestreitbar brillant geführten Fällen an
den Gerichten von Lodin XI, Binder VI und Canphor VII, auf Welten also, auf denen zuvor kein Mensch jemals einen Prozeß gewonnen hatte. Zweifellos war Khalinov eines der größten juristischen Genies seiner Zeit, aber die Taktiken, die er bei Gericht und in den Voruntersuchungen anwendete, waren gleichwohl… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
»Mein Sohn«, sagte Khalinov und spähte unter seinen buschigen grauen Augenbrauen hervor, »ich will ganz offen zu dir sein. Ich wäre in diesem Fall weit lieber Ankläger als Verteidiger.« »Danke«, sagte der blondhaarige junge Mann finster. »Oh, ich habe nicht gesagt, ich werde den Fall nicht übernehmen«, sagte Khalinov. »Deine Eltern bezahlen mir viel mehr, als du wert bist. Viel mehr, als überhaupt jemand wert ist, soweit es mich betrifft. Ich habe nur zum Ausdruck bringen wollen, daß die Chancen meiner Ansicht nach gegen uns stehen.« »Sie haben schon hoffnungslose Fälle gewonnen«, sagte der Junge beinahe flehentlich. »Ihr Schlußplädoyer in dem Lästerungsfall auf Lodin XI ist Pflichtlektüre an jeder Schule im Deluros-System.« »Na, nicht an jeder Schule.« Khalinov lächelte. »Aber wie dem auch sei, dein Fall unterscheidet sich ein wenig von dem Vergehen der Blasphemie aus Unkenntnis lokaler Sitten. Du wirst beschuldigt, siebenundfünfzig intelligente Wesen auf dem Planeten Atria XVI getötet zu haben. Es war zwar eine zugegeben unbeabsichtigte, durch Fahrlässigkeit herbeigeführte Tat, und böse Absicht läßt sich keinesfalls unterstellen, aber es bleibt eine Tatsache, daß du diese Todesfälle verursacht hast.« »Aber…«
»Außerdem läßt sich auf Atria keine Anklage aushandeln. Totschlag, Mord, fahrlässige Tötung – das atrianische Gesetz kennt diese Unterscheidungen nicht. Du hast jemanden getötet, oder du hast es nicht getan – die Umstände spielen keine Rolle. Und, mein Sohn, du hast sie getötet.« »Warum wollen Sie mich dann überhaupt noch verteidigen?« »Abgesehen von dem Geld, das ich dafür bekomme, meinst du?« fragte Khalinov. »Vermutlich, weil ich immer noch glaube, daß jeder Mensch ein Recht auf Verteidigung hat – und auf Atria XVI brauchst du eine bessere Verteidigung als die meisten anderen Leute. Weißt du, schon die simple Tatsache, daß du dich der Verhaftung widersetzt und hierher nach Deluros VIII zurückbegeben hast, rechtfertigt dort eine lebenslange Freiheitsstrafe. Du wußtest, daß wir dich ausliefern würden, oder nicht?« »Ich habe nicht darüber nachgedacht«, antwortete der Junge. »Ich konnte einfach nicht fassen, was da geschah. Welche Strafe habe ich zu erwarten, wenn ich schuldig gesprochen werde, Mr. Khalinov?« »Im atrianischen System gibt es für Mord nur eine einzige Strafe«, sagte Khalinov. »Den Tod durch Hitze.« Der Junge schien zusammenzuschrumpfen. »Irgendwie hatte ich so etwas erwartet.« »Noch werfen wir das Handtuch nicht, mein Sohn«, sagte Khalinov. »Das alles bedeutet nur, daß wir ein bißchen härter werden kämpfen müssen.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und vier bewaffnete Wachen kamen ins Zimmer. Er nickte ihnen zu und wandte sich dann noch einmal an den Jungen. »Sie werden dich nach Komornos bringen, einen Mond von Atria V, und dort wirst du den Prozeß erwarten. Ich habe die Vernehmungsprotokolle und die Anklageschrift hier, dazu die Transkriptionen unserer Gespräche. Falls sich also
nichts Neues mehr ergeben sollte, sehen wir uns erst vor Gericht wieder.« Als der Junge hinausgeführt wurde, drückte Khalinov auf zwei andere Knöpfe, mit denen er seine Juniorpartner, Kominsky und Braque, herbeirufen konnte. Keiner von beiden bekam das Innere eines Gerichtssaales zu sehen, solange es sich vermeiden ließ, denn keiner der beiden verfügte auch nur über einen Bruchteil von Khalinovs Beredsamkeit, aber das hieß nicht, daß sie ihre Gehälter für Nichtstun bezogen. Kominsky, ein orthodoxer Jude in einer Zeit, da fast alle anderen Religionen aus Mangel an Interesse eingegangen waren, wußte mehr über nichtmenschliches Strafrecht, als Khalinov jemals zu lernen hoffen konnte, und Braque, ehemals Gouverneur auf Praesepe III, war der Mann, der die Papierberge unter Kontrolle hatte, die sich meterhoch aufzutürmen pflegten, wann immer ein Mensch auf einer Alien-Welt unter Anklage stand. Es gab noch weitere Partner und Assistenten, siebenundzwanzig, um genau zu sein, aber die meisten von ihnen hatten mit Wirtschafts- und interstellarem Handelsrecht zu tun, mit lebensnotwendigen Gebieten also, denen es allerdings gänzlich an jener Art von Publizität mangelte, welche Khalinovs berühmte Fälle umgab. »Wie ich höre, haben wir es diesmal mit einer Stinkbombe zu tun«, sagte Braque und zog einen langen, gelben Gerichtsblock hervor. (Manche Gebräuche änderten sich einfach nie.) »Wenn es meine Gewohnheit wäre zu wetten«, antwortete Khalinov, »und wenn mir extrem konservativ zumute wäre, dann würde ich fünf Millionen gegen eins setzen, daß unser Junge innerhalb von drei Stunden vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen, verurteilt und hingerichtet wird.« »Was hat er denn getan?« fragte Kominsky. »Er hat geniest.« »Und dann?« erkundigte sich Braque.
»Dann hat er sich der Verhaftung widersetzt und ist nach Deluros VIII geflohen.« »Ist das alles?« »Ja.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, vermutete Braque. »Meinen Sie?« »Nicht unbedingt«, sagte Kominsky, und seine Augen funkelten interessiert. »Wo ist es passiert?« »Auf Atria XVI.« »Eine Methanwelt?« Khalinov nickte. »Der verdammte Idiot hatte seinen Translator abgeschaltet.« Kominsky nickte grimmig, aber Braque machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich verstehe nicht, wieso das ein Problem ist«, sagte er. »Das Problem«, sagte Khalinov, »ist einfach dies: Die Atrianer sind eine kristalline Rasse, Methanatmer, die bei unglaublich niedrigen Temperaturen leben. Der junge Heinrich Krantz – jawohl, der Sohn des Kommandanten – war dort als Militäradjutant auf einer Geschäftsmission. Ich weiß nicht, ob er betrunken oder nüchtern war, aber aus welchen Gründen auch immer, freiwillig oder ohne Absicht – er schwört, das letztere sei der Fall –, schaltete er seinen Translator ab, während er auf einer atrianischen Hauptstraße spazierenging. Und dann nieste er, ohne daß irgend etwas dieses Geräusch hätte dämpfen oder ersticken können.« »Und?« fragte Braque. »Und siebenundfünfzig Atrianer zersprangen wie zarte Kristallfiguren«, sagte Khalinov. »Als die Zivilpolizei vor ihm stand, geriet er in Panik und beschloß, hierher zurückzukehren.« »Wie ist er ihnen entkommen?« fragte Braque. »Er drohte, einen seiner Schutzhandschuhe auszuziehen. Seine
Körperwärme hätte jeden Atrianer im Umkreis von fünfzig Metern umgebracht. Er selbst hätte es auch nicht überlebt, aber das hilft ihm nicht. Nun, sie ließen ihn gehen, schickten ihm einen Funkspruch voraus, und als er hier landete, wurde er unverzüglich festgenommen. Ich habe fast zwei Wochen damit zugebracht, Henderson drüben bei der Auslieferungsbehörde zu piesacken und zu bedrohen, aber es hat nichts genützt: Wir können ihn nicht behalten. Es geht um die Pflege unserer Freundschaft zu den Atrianern. Er muß vor Gericht gestellt werden.« »Aber das wird doch entzückend aussehen«, meinte Kominsky, »wenn Sie so dastehen, mit einem fünfzig Pfund schweren Schutzanzug am Leibe, und Ihre ganz bezaubernde Redekunst tröpfelt sanft klingend aus Ihrem Translator.« »Erinnern Sie mich nicht daran«, sagte Khalinov und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Jedenfalls – Verhandlung ist in drei Wochen.« »Die Atrianer verschwenden keine Zeit, wie?« sagte Braque. »Anscheinend treiben sie ihre Prozesse gern rasch und mit fester Hand voran«, meinte Kominsky mit einer Grimasse. »Das tun sie in der Tat«, bestätigte Khalinov. »Und das bedeutet, daß wir viel Arbeit haben, aber wenig Zeit, sie zu tun.« Er wandte sich an Braque. »Arrangieren Sie bitte Unterkünfte für uns drei, außerdem für sechs Reporter – nicht alle müssen unsere Freunde sein – und zwei Kameraleute. Sollten sie irgend etwas benötigen, um die Wärme und Laufgeräusche ihrer Kameras oder auch das Kratzen ihrer Stifte zu dämpfen, sehen Sie zu, daß sie es bekommen. Und falls ich irgendeine Spezialausrüstung brauche, damit ich im Gerichtssaal umherstolzieren oder mit dem Fuß aufstampfen kann, besorgen Sie sie mir in doppelter Ausfertigung. Dann stellen Sie fest, wie die politische Situation auf Atria XVI aussieht und ob wir dem Lord Obermufti ein paar Geschenke
anbieten können, ohne jemand anderen zu beleidigen. Finden Sie heraus, was einem wandelnden Kronleuchter gefällt, und schaffen Sie es heran. Wenn möglich, lassen Sie uns auf Komornos wohnen; dort ist es für uns wahrscheinlich angenehmer, und wir brauchen keine Angst zu haben, daß wir versehentlich ein paar Atrianer in Scherben husten. Und schließlich bringen Sie in Erfahrung, welche Form ihre visuellen Medien haben, und treiben Sie ein paar Experten auf.« Er entließ Braque mit einer Handbewegung und wandte sich an Kominsky. »Okay«, sagte er. »Klären Sie mich auf.« »Es ist vielleicht ein Schock für Sie, Ivor«, sagte Kominsky, »aber nicht einmal ich habe sämtliche Daten über sämtliche Rassen der Galaxis im Kopf.« »Dann sagen Sie mir, was Sie ganz allgemein über Methanatmer wissen, bevor Sie in die Bibliothek springen – oder wohin Sie sonst springen mögen, wenn Sie versuchen, mir vorzumachen, Sie seien ein Genie.« »Nun, allgemein gesprochen«, sagte Kominsky, »sind zirka neunzig Prozent aller methanatmenden Rassen kristallin. Sie sind extrem empfindlich gegen Geräusche und Wärme, aber davon abgesehen sind sie fast nicht umzubringen. Wenn man einen normalen Methanatmer mit der Kraft einer kleinen Granate, aber ohne den dazugehörigen Lärm und die Hitze treffen könnte, würde er es wahrscheinlich nicht einmal spüren. Ein zweiter interessanter Punkt ist, daß die meisten Methanatmer, da sie so gut wie unzerstörbar sind, extrem langlebig sind. Gewöhnlich werden sie Tausende von Jahren alt. Infolgedessen neigen sie dazu, friedfertig und versonnen vor sich hin zu leben, und das ist einer der Gründe dafür, daß sie nicht so furchtbar viel zustande gebracht haben – in menschlichen Kategorien zumindest. Die aus ihrer Physiologie
und aus einer Tausende von Jahren umspannenden Lebenserwartung resultierende Geisteshaltung hat dazu geführt, daß nur sehr wenige Methanatmer-Rassen über eine nennenswerte technologische Entwicklung verfügen. Ihre PSIFähigkeiten sind nie gründlich untersucht worden, aber ich würde annehmen, daß sie auf dem Gebiet der Telepathie ein wenig über dem Durchschnitt und in den übrigen dazugehörigen Begabungen im unteren Bereich der Skala rangieren. Da ihre Gesellschaftsstrukturen und ihre Mobilität im wesentlichen statisch orientiert sind, würde ich vermuten, daß ihr Strafrecht äußerst einfach und sehr rigide ist. Sie haben wenig Erfahrung mit Gesetzesbrechern, Ordnungswidrigkeiten gibt es so gut wie überhaupt nicht, und von Kriminellen würden sie ihre Gesellschaft rasch und sehr nachhaltig befreien. Selbstverständlich kann es sein«, schloß er grinsend, »daß nichts davon auf diese spezielle Methanatmer-Rasse zutrifft.« »Danke«, grunzte Khalinov. »Haben Sie noch irgend etwas anderes in Ihrem gewaltigen Kopf, das Sie mir anbieten könnten?« »Mein Gehirn ist gewaltig«, korrigierte Kominsky. »Mein Kopf ist nur die nichtswürdige Schale. Und was weitere Informationen betrifft, so kann ich nur noch hinzufügen, daß sie, da sie niemals zu Fleischfressern haben werden können, selbst fahrlässige Tötung weder sonderlich rational noch mit großer Milde betrachten werden. Mord ist sogar für eine Rasse, die einst um des nackten Überlebens willen zum Töten gezwungen war, eine häßliche Sache. Für einen Methanatmer ist es, schätze ich, überhaupt undenkbar, einen anderen zu töten, vor allem, da die meisten geschlechtslos sind und sich deshalb auch ein Verbrechen aus Leidenschaft nicht vorstellen können.«
»Okay«, sagte Khalinov. »Ich hätte Angst, Ihnen zuzuhören, wenn Sie von einer Sache redeten, von der Sie etwas verstehen.« Er erhob sich. »Finden Sie soviel wie möglich über die Atrianer heraus, sehen Sie sich die Fälle an, die sie womöglich auf anderen Planeten gewonnen oder verloren haben, und kommen sie in zwei Tagen wieder zu mir.« Während seine Mitarbeiter ihren Aufgaben nachgingen, begab Khalinov sich in die Bibliothek im Kellergeschoß des Gebäudes und machte sich daran, das atrianische Recht zu studieren. Ermutigend war es nicht. Im Verlauf der zwölf Jahrhunderte, in denen Atria XVI Mitglied der galaktischen Gemeinschaft war, hatte man dort fünf Nichtatrianern den Prozeß wegen Mordes gemacht; keiner davon war ein Mensch gewesen. Alle waren für schuldig befunden worden, und alle hatte man hingerichtet. Das atrianische Strafrecht war eine Mischung aus kindisch einfachen Gesetzen und erschreckend harten Strafen. Die meisten Verbrechen erschienen Khalinov sinnlos; offensichtlich konnten sie nur von einem Atrianer gegen die Person oder den Besitz eines anderen begangen werden. Aber die Strafen für diejenigen Verbrechen, die von Nichtatrianern verübt werden konnten, waren nur allzu verständlich. Jeder, der wissentlich oder unwissentlich, ganz gleich, aus welchem Grunde, den Tod eines Atrianers verschuldete – und sei es aus Notwehr –, war des Mordes schuldig. Die Strafe: Tod. Jeder, der eine atrianische Wohnung ohne schriftliche Erlaubnis betrat, war nach atrianischer Auffassung des Einbruchs schuldig. Die Strafe: Tod. Jeder, der atrianische Besitztümer oder Produkte an sich nahm, ohne dafür eine angemessene und so vereinbarte Zahlung zu leisten, war des Raubes und/oder Diebstahls schuldig. Die Strafe: Tod.
Und das war, in toto, ihr Strafrecht für nichtatrianische Rassen. Das, was nicht in diesen Gesetzen stand, verriet Khalinov beinahe ebensoviel über diese Rasse wie das, was ausdrücklich darin enthalten war. Zum einen hatte Kominsky offensichtlich recht gehabt, als er sagte, daß sie nahezu unzerstörbar seien, denn von Körperverletzung oder dergleichen war nicht die Rede. Vermutlich hatte er ebenso recht über seine Bemerkungen hinsichtlich ihrer philosophischen Neigungen, denn anders als bei den meisten Rassen in der Galaxis wurde Blasphemie oder die Verhöhnung lokaler religiöser Gebräuche nirgends erwähnt. Und so gut wie kein Zweifel konnte an ihrer Langlebigkeit bestehen, denn nirgends fand sich eine andere Strafe als der Tod, und das war einleuchtend, da Gefängnisstrafen für eine buchstäblich unsterbliche Rasse bedeutungslos sein mußten. Die Protokolle der fünf Gerichtsverfahren gegen die des Mordes angeklagten Nichtatrianer waren nahezu identisch. In allen Fällen war auf Fahrlässigkeit plädiert worden. In nur einem Falle schien das Gericht anderer Meinung gewesen zu sein, aber für das Urteil war dies ohne Belang. Wenn ein Nichtatrianer den Tod eines Atrianers verursacht hatte, war sein Leben verwirkt. Punktum. Er las weiter. Der Angeklagte brauchte nicht anwesend zu sein. Wenn er es war, durfte er seinen Anklägern nicht gegenübertreten, wenn sie damit nicht einverstanden waren. Das Gericht bestand aus fünf willkürlich auszuwählenden Geschworenen, die von der Verteidigung abgelehnt werden konnten. Und – schließlich – es gab nur einen Gerichtshof auf Atria, da Verbrechen relativ selten waren. Infolgedessen war sein Urteil endgültig; es gab absolut keine Möglichkeit, Berufung einzulegen. Krantz war auf Deluros VIII einer vorläufigen Vernehmung unterzogen worden; dabei hatte man
ihn zunächst der leichteren Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt und der versuchten Strafvereitelung beschuldigt. Zudem war man zu dem Schluß gekommen, daß eine Auslieferung gerechtfertigt sei. Auf Atria XVI war sein Fall bislang noch nicht verhandelt worden, denn auf diesem unvorstellbar eisigen Planeten gab es keine Anklageschriften und keine Voruntersuchungen. Es gab nichts als einen simplen Urteilsspruch: nicht schuldig oder schuldig. Nachdem er zwei Stunden lang über den kargen schriftlichen Aufzeichnungen über atrianisches Recht gebrütet hatte, sah es mehr und mehr danach aus, als werde dieser Fall nicht als einer von Ivor Khalinovs brillanten Triumphen in die Rechtsgeschichte eingehen. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß noch jemand im Raum war; erschrocken hob er den Kopf. Es war Kominsky; er kehrte eben von seinen eigenen Studien zurück und sah ebenso finster aus wie Khalinov. »Nun?« fragte der Anwalt. »Um ein etwas dürftiges Bild zu wählen«, sagte Kominsky, »würde ich sagen, wenn der junge Krantz ein Pferd wäre, könnte man sich eine Menge Zeit und Geld sparen, wenn man ihm sofort eine Kugel durch den Kopf jagte.« »Sieht es so schlecht aus?« »Na, gut sieht es nicht aus. Ich werde es Ihnen Punkt für Punkt darlegen. Erstens: Der einzige Atrianer, der auf einem anderen Planeten einen Prozeß gewonnen hat, wurde nach seiner Rückkehr auf Atria XVI hingerichtet, weil sie das Urteil für zu milde hielten. Zweitens: Sie sind zerbrechlicher als die meisten Methanatmer; zweifellos kann ein lauter Nieser, verstärkt durch den ungefilterten, ungedämpften Translator auf Krantzs Sauerstoffhelm, jeden Atrianer in seiner Nähe in tausend Stücke zerspringen lassen. Drittens: Sie halten sich an die Gesetze der Galaktischen Handelskommission insofern, als ihr eigener interplanetarischer und interstellarer
Handelsverkehr betroffen ist, aber sie scheinen dies als unvermeidliche und ärgerliche Last zu empfinden; keine der kultivierteren Verhaltensnormen Vie beispielsweise Gnade hat in Angelegenheiten des Planeten Gültigkeit. Viertens: Sie haben keine Religion, und selbst wenn sie eine hätten, würde ich bezweifeln, daß ihr Gott zu der nachsichtigen Sorte gehören würde. Fünftens: Sie sind definitiv asexuell und vermehren sich durch eine Art Sprossen, so unglaublich das klingen mag. Sechstens: Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei mehr als dreitausend Jahren. Siebtens: Noch nie hat eine Gerichtsverhandlung länger als zwei Stunden gedauert. Achtens: Ich brauche einen Drink.« »Mit dem letzten Punkt bin ich einverstanden.« Khalinov zog eine Taschenflasche hervor. »Und was ist mit den ersten sieben?« »Oh, mit denen bin ich auch einverstanden. Deshalb trinke ich mit Ihnen.« Mit einem langen »Aaahh« wischte er sich über die Rippen und reichte Kominsky die Flasche. »Treiben Sie Braque auf, so rasch Sie können. Wenn er nicht den ganzen Nachmittag verschlafen hat, müßte er inzwischen wissen, welche Kommunukationsform auf Atria XVI als Video durchgeht. Lassen Sie ihn ein paar Jungs zusammentrommeln, die mit diesem Medium umgehen können. Sie sollen eine Fünf-Minuten-Aufzeichnung machen.« »Wovon?« »Von einem Atrianer, der bei einem Besuch auf Deluros VIII versehentlich einen Schutzhandschuh verliert und dabei siebenundfünfzig Menschen an Kälteschock sterben läßt.« »Okay«, sagte Kominsky zweifelnd. »Aber…« »Aber was?« »Aber ich könnte mir vorstellen, daß ein atrianischer Richter den Schauspieler zum Tode verurteilt, weil er so getan hat, als
würde er anderen das Leben nehmen.« Khalinov funkelte ihn an.
Im Gerichtssaal drängten sich Presseleute, Krantzs Eltern und ihre einflußreichen Freunde, Khalinovs Mitarbeiter und Assistenten und eine Handvoll wunderschöner, bläulichweißer, gläsern schimmernder Wesen. Khalinov selbst, der sich in seinem modifizierten Thermo-Sauerstoffanzug äußerst unbehaglich fühlte, saß an einem Tisch etwa sieben Meter weit von einem großen Kristallgeschöpf entfernt, welches entweder stand, saß, hockte oder am Boden lag – Khalinov konnte es nicht mit Sicherheit feststellen. »Hat die Verteidigung etwas zu sagen, bevor das Urteil verkündet wird?« fragte der Atrianer. Seine Worte klangen wie ein zartes Läuten, aber aus Khalinovs Translator drangen sie als flaches, gleichförmig gesprochenes Galaktik-O. Der Anwalt erhob sich. »Euer Ehren«, sagte er, »ich habe nicht einmal die Anklage gehört, die gegen meinen Mandanten erhoben wird.« »Hat man Ihnen nicht eine Kopie unseres Strafrechts geschickt und dazu einen Bericht über die Taten des Menschen Krantz?« »Doch, aber es ist gebräuchlich, daß der Vertreter der Anklage die Anklageschrift verliest, bevor die Verteidigung Stellung nimmt.« »Von welchen Gebräuchen sprechen Sie, Mensch Khalinov?« fragte der Richter. »Von unseren oder von Ihren?« »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren«, sagte Khalinov und verbeugte sich tief. »Da die Dinge so liegen, möchte ich beantragen, meinen Mandanten im Sinne der Anklage des vorbedachten Mordes für nicht schuldig zu sprechen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß das Wort ›vorbedacht‹ in der Anklage enthalten gewesen ist«, sagte der Richter. »Aber es muß doch wenigstens impliziert gewesen sein, Euer Ehren«, sagte Khalinov, »denn sonst ist nicht Mord, sondern ein anderes Verbrechen gemeint.« »Dies zu entscheiden überlassen Sie bitte mir«, sagte der Atrianer. »Sie haben, aus Gründen, die Sie selbst am besten kennen, das Geschworenengericht abgelehnt. Damit haben Sie die Verantwortung für alle Entscheidungen und Interpretation allein mir auferlegt. Meine Interpretation ist, daß Mord nach atrianischem Recht nicht des Vorbedachts bedarf, sondern schlicht und ausdrücklich als Tötung eines oder mehrerer Atrianer definiert ist, ganz gleich, mit welchen Mitteln, mit oder ohne Motiv und Vorbedacht. Daher lehne ich Ihren Antrag ab, weil die Anklage nicht auf vorbedachten Mord lautet.« »Wenn mein Mandant sich schuldig bekennt, ist die Verhandlung augenblicklich zu Ende, nicht wahr?« fragte Khalinov. »Jawohl.« »Dann bekennt Heinrich Krantz sich nicht schuldig im Sinne der Anklage.« »Obwohl Sie selbst wissen, daß er das Verbrechen begangen hat?« fragte der Atrianer. »Trotzdem«, bestätigte Khalinov und betrachtete das Gesicht des Atrianers, um dort irgendeinen Ausdruck zu entdecken, aber er fand keinen. »Später werden wir vielleicht anders plädieren, aber wie soll ich sonst meinen Mandanten vertreten? Schließlich halte ich mich nur an die Regeln dieses Gerichtes.« »Sie benutzen Sie, und zwar um Ihres eigenen Vorteils willen«, korrigierte der Richter. »Einverstanden«, sagte Khalinov. »Aber ist es nicht meine Aufgabe, die Interessen meines Mandanten, so gut ich kann, zu
beschützen? Von uns aus kann die Anklage jetzt ihr Beweismaterial präsentieren.« »Ich vertrete auch die Anklage«, sagte der Richter. »Ich weiß mit unumstößlicher Sicherheit, daß der Mensch Krantz den Tod von siebenundfünfzig Atrianern auf folgende Weise verursacht hat…« Der Translator erging sich in einer ausführlichen Schilderung des Verbrechens. Als der Atrianer geendet hatte, erhob sich Khalinov erneut. »Euer Ehren«, sagte er, »mit Erlaubnis des Gerichtes möchte ich jetzt eine visuelle Vorführung vornehmen.« Er nickte zwei Assistenten zu, und die beiden schleppten das atrianische Äquivalent eines dreidimensionalen Videoempfängers heran. »Steht dieses Beweisstück in direkter Beziehung zu Ihrer Verteidigung?« erkundigte sich der Richter. »Oder – genauer gesagt – wird es beweisen, daß meine Informationen fehlerhaft sind und daß Ihr Mandant des Mordes nicht schuldig ist?« »Nicht direkt«, gab Khalinov zu. »Aber es ist von einiger Relevanz in bezug auf das Verbrechen des Mordes auf dem Planeten Atria XVI an sich und deshalb…« »Das Beweisstück wird nicht zugelassen«, unterbrach ihn der Richter. »Aber Euer Ehren…« »Mensch Khalinov«, sagte der Richter. »Die Entscheidungen des Gerichtes sind nicht zu diskutieren oder auch nur in Frage zu stellen. Ihr Beweisstück wird nicht zugelassen. Wenn Sie nicht absolut und jenseits allen Zweifels beweisen können, daß der Mensch Krantz den ihm zur Last gelegten Tod von siebenundfünfzig Atrianern nicht verursacht hat, verschwenden Sie nur die Zeit dieses Gerichtes.« »Soweit mir bekannt ist, haben Sie davon jede Menge zu verschwenden«, schnappte Khalinov. »Hier steht das Leben eines Menschen auf dem Spiel. Ich beabsichtige, dafür zu
sorgen, daß dieser Mensch die beste und umfassendste Verteidigung erhält, zu der ich fähig bin.« »Wohl gesprochen«, sagte der Richter. »Aber irrelevant.« »Nicht irrelevanter als das Leben von siebenundfünfzig Atrianern«, versetzte Khalinov. »Mein Mandant ist ein intelligentes Lebewesen, ebenso wie die verstorbenen Atrianer. Was könnte von größerer Relevanz als seine Verteidigung sein?« Der Richter schwieg eine ganze Weile, bevor er sagte: »Fahren Sie fort.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Mit der Erlaubnis des Gerichtes möchte ich den Zeugen Professor Nigel Patrick aufrufen. Er kommt von der Universität…« »Moment«, sagte der Richter. »Befand sich der Mensch Patrick auf Atria XVI, als das Verbrechen begangen wurde?« »Einspruch, Euer Ehren«, sagte Khalinov. »Noch ist nicht erwiesen, daß ein Verbrechen begangen wurde.« »Der Einspruch ist abgelehnt. Tatsächlich wurde noch nicht bewiesen, daß das Verbrechen nicht begangen wurde.« »Dann will ich Ihre Frage beantworten: Nein, Professor Patrick befand sich zu keiner Zeit seines Lebens auf Atria XVI – er hat gestern zum erstenmal seinen Fuß auf diesen Planeten gesetzt.« »Wie«, fragte der Atrianer, »könnte der Mensch Patrick dann zugunsten Ihres Mandanten aussagen?« »Professor Patrick ist Doktor der Kriminologie und Doktor der Ethik«, erklärte Khalinov. »Die Verteidigung wird versuchen zu zeigen, daß auf vielen ähnlichen Welten…« »Abgelehnt«, sagte der Richter. »Verdammt, Euer Ehren!« brüllte Khalinov, aber aus dem Translator drang nur ein sanftes Klingeln. »Wie soll ich meine Verteidigung aufbauen, wenn Sie mir jedes Beweismittel und jedes Sachverständigengutachten von vornherein verweigern?«
»Ihre Beweismittel stehen in keinem Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall«, sagte der Richter. »Was nicht dazu dient, die Unrichtigkeit der Anklage zu beweisen, ist irrelevant.« »Es ist nicht irrelevant! Ihr Recht ist irrelevant.« »Mensch Khalinov«, sagte der Atrianer gelassen, »unser Recht steht hier nicht zur Debatte. Ihr Mandant steht zur Debatte. Bitte fahren Sie fort.« Khalinov senkte nachdenklich den Kopf; es war ihm schmerzhaft bewußt, daß Reporter und Kameras jeden Augenblick dieses Fiaskos mitbekamen. Es war ihm aber auch bewußt, daß er weiterreden mußte, denn in dem Augenblick, da er verstummte, hätte er seine Niederlage zugegeben. »Euer Ehren«, begann er. »Sie haben eben gesagt, Ihr Recht stünde hier nicht zur Debatte. Ist denn eines Ihrer Gesetze jemals Gegenstand einer Gerichtsverhandlung gewesen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil Gesetze nicht schuldig oder unschuldig sein und deshalb auch nicht vor Gericht gestellt werden können.« »Aber Gesetze können gut oder böse sein«, beharrte Khalinov. »Was würden Sie tun, wenn Sie herausfänden, daß ein Gesetz böse ist?« »Gesetze an sich können nicht gut oder böse sein«, erklärte der Atrianer. »Deshalb ist Ihre Frage irrelevant.« »Aber Gesetze können sehr wohl praktikabel oder impraktikabel sein, nicht wahr?« sagte Khalinov. »Beispielsweise wäre doch ein Gesetz, das anordnete, daß ich hier ohne Translator vor Ihnen argumentieren muß, impraktikabel, nicht wahr? Oder ein Gesetz, welches mir verböte, einen Schutzanzug mit Lebenserhaltungssystemen zu tragen?«
»Das ist richtig«, sagte der Atrianer. »Aber solche Gesetze haben wir nicht.« »Bitte gestatten Sie mir fortzufahren, da Sie mir jede andere Verteidigungslinie untersagt haben.« »Sie dürfen fortfahren«, sagte der Richter. »Ich danke Ihnen. Darf ich Sie um Ihre juristische Meinung bitten, Euer Ehren?« »Ja.« »Warum wäre ein Gesetz, welches erforderte, daß ich ohne Schutzanzug hier erscheine, impraktikabel?« »Selbstverständlich, weil Sie sterben würden«, war die Antwort. »Würde ein Bewohner von Atria XVI auch sterben, wenn er hier ohne einen Schutzanzug vor Ihnen erscheinen müßte?« »Natürlich nicht«, erwiderte der Richter. »Wäre ein Gesetz, das die Bewohner von Atria XVI zwänge, einen Schutzanzug wie den meinen zu tragen, impraktikabel?« »Natürlich. Ein Atrianer würde sterben.« »Würden Sie mir dann so weit zustimmen, Euer Ehren, daß es zumindest bestimmte Fälle geben kann, in denen ein Gesetz praktisch nicht gleichermaßen auf Atrianer und Nichtatrianer angewendet werden kann?« »Ich stimme Ihnen zu«, antwortete der Richter, »und ich weiß, was Sie mit Ihrer Argumentation sagen wollen. Aber es war eine rein hypothetische Argumentation. Im Falle des Menschen Krantz hat dieser jedoch siebenundfünfzig Atrianer getötet.« »Darauf werde ich gleich kommen«, sagte Khalinov. »Lassen Sie mich meine Hypothese weiterführen. Wenn mein Schutzanzug im nächsten Augenblick einen Defekt erleiden würde, und zwar infolge einer Fehlfunktion, die eindeutig auf die Schuld des Herstellers zurückzuführen wäre, würde binnen kurzer Zeit eine beträchtliche Menge Wärme aus meinem Anzug entweichen, genug, um jeden Atrianer hier im Raum zu
töten. Wer wäre dafür verantwortlich: Ich selbst, der Hersteller des Anzugs, der Verkäufer, von dem ich ihn erworben habe, der Experte von der Qualitätskontrolle, der den Mangel übersehen hat, oder vielleicht die Firma, welche die Maschinen herstellt, auf denen die Anzüge produziert werden?« »Diese Frage kann ich ohne weitere Daten nicht beantworten.« »Das ist verständlich«, sagte Khalinov. »Aber würden Sie so weit gehen, wenigstens zu sagen, daß ich an den aus dem Defekt resultierenden Todesfällen unschuldig bin?« »Unter Vorbehalten würde ich Ihnen einräumen, daß Sie nicht schuldig wären«, sagte der Richter langsam. »Aber darf ich Sie nochmals vorsorglich darauf hinweisen, daß es hier lediglich um einen hypothetischen Fall geht? Der Translator des Menschen Krantz wurde untersucht, und man hat festgestellt, daß er fehlerlos funktionierte.« »Also gut«, sagte Khalinov; er stakste vor dem Richter hin und her und hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Sehen wir uns den Fall Heinrich Krantz an. Und denken wir immer daran, daß Sie festgestellt haben – hypothetisch, wohlgemerkt –, daß ein Gesetz impraktikabel sein kann und daß nicht unter allen Umständen der tödlich Agierende für den Tod eines Atrianers verantwortlich sein muß. Nun denn, sehen wir uns an, was geschehen ist. Heinrich Krantz, ein Mensch ohne Vorstrafenregister, befand sich auf einer verkehrsreichen atrianischen Hauptstraße. Aus irgendeinem Grunde war sein Translator abgeschaltet – und ich darf das Gericht daran erinnern, daß der Grund dafür nicht ermittelt worden ist. Womöglich war es eine Folge von Fahrlässigkeit auf Seiten des Menschen Krantz; ebensogut aber kann der Schalter im Gedränge durch einen vorüberhastenden Atrianer in die AusPosition gedrückt worden sein.
Auf jeden Fall war der Translator abgeschaltet. Nun ist der Translator auf Sauerstoffwelten ein in der Hand zu tragendes Kleingerät. Auf Welten, deren atmosphärische Bedingungen so sind, daß wir einen Schutzanzug tragen müssen, ist der Translator in den durchsichtigen Helm eingebaut. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Schutzanzüge mit den Lebenserhaltungssystemen sind häufig ohnehin derart lästig, daß eine solche Lösung weit praktischer ist, als wenn man das Gerät ständig in der Hand halten müßte. Noch eine zweite Tatsache ist in diesem Zusammenhang zu vermerken: Da Menschen auf solchen Welten nur selten allein unterwegs sind, schalten sie gelegentlich ihren Translator ab, damit es ihnen möglich ist, miteinander zu sprechen. Wenn der Translator in Betrieb ist, dämpft er unsere Stimmen und verwandelt sie in angenehmere, kohärentere und – in Ihrem Falle – weniger lebensgefährliche Klänge, aber wenn man ihn abschaltet, werden unsere Stimmen überhaupt nicht gedämpft. Die Schuld dafür mögen Sie dem Fabrikanten oder dem Erfinder zuschreiben, gewiß aber nicht meinem Mandanten. Nun haben wir hier also Heinrich Krantz, der auf einer Ihrer Hauptstraßen dahinspaziert und – aus Gründen, die noch nicht ermittelt wurden – seinen Translator abgeschaltet hat. Was hat er getan? Ich weiß nicht, ob es bei Ihnen oder selbst in Galaktik-M einen entsprechenden Ausdruck gibt, aber er nieste. Dies ist ein unwillkürlicher Akt, verursacht durch eine, man könnte fast sagen, biologische Defizienz unserer Rasse. Hätte jemand eine tödliche Waffe auf Heinrich Krantz gerichtet und ihm gesagt, er werde diese Waffe abfeuern, wenn Krantz auch nur einen Laut von sich gebe – so groß seine Angst und seine Liebe zum Leben auch hätten sein mögen, er hätte es doch nicht vermocht, sein Niesen in diesem Augenblick zu unterdrücken. Es war ein Akt, der meinem Mandanten nicht eigentümlich ist,
sondern ihm in vielen tausend Generationen eingeprägt wurde. Ich habe ein wissenschaftliches Gutachten bei mir, welches besagt, daß Niesen nicht nur beim Menschen, sondern bei achtzig Prozent der sauerstoffatmenden Rassen verbreitet ist.« Er trat an seinen Tisch, zog ein paar Papiere aus einem Ordner und legte sie dem Richter vor. »Euer Ehren«, schloß er, »ich will jetzt noch einmal das Bekenntnis meines Mandanten vortragen. Nach atrianischem Recht müßte er sich schuldig bekennen, denn er hat den Tod von siebenundfünfzig Ihrer Mitbürger ausgelöst. Aber auf der Grundlage der Argumente, die ich Ihnen vorgetragen habe, und der Hypothese, welcher Sie selbst zugestimmt haben, bitte ich nachdrücklich darum – nein, ich fordere, daß die Umstände, die den in Frage stehenden Akt begleiten, ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt werden. Keine Rasse, deren Lebenserwartung so groß ist wie die Ihre, kann völlig ohne Barmherzigkeit und Mitgefühl sein. Wenn Sie meinen Mandanten schon nicht für unschuldig befinden können, so werden Sie mir doch sicher wenigstens zustimmen, daß er nicht eine so hohe Strafe für einen unwillkürlichen Akt erleiden sollte, den er physisch weder damals noch jetzt vermeiden konnte und kann. Auf Deluros VIII wie auf den meisten von Menschen wie von Nichtmenschen bevölkerten Planeten der Galaxis gestattet das Gesetz verschiedene Grade der Milde, die den verschiedenen Graden der Schuld des Beklagten entsprechen. Wenn Euer Ehren sich dazu bereitfinden könnten, das Urteil so lange aufzuschieben, wie Sie brauchen, um Ihre Gesetze nach einer solchen Möglichkeit zu durchsuchen – und nur zu gern werde ich Ihnen auf meine eigenen Kosten zahlreiche Experten zur Verfügung stellen, die diese Möglichkeiten mit Ihnen besprechen werden –, dann wäre, glaube ich, sowohl meinem Mandanten als auch dem atrianischen Recht damit gedient. Ich danke Ihnen für Ihre
Geduld und Toleranz, und ich hoffe, daß Sie in Ihrer Weisheit zu einer Entscheidung gelangen werden, die sowohl gegen meinen Mandaten als auch gegen das Andenken jener verstorbenen Atrianer fair sein wird, welche, wenngleich sie ums Leben kamen, nicht unschuldiger waren als Heinrich Krantz.« Khalinov setzte sich hin; er schwitzte heftig. Er wünschte sich, er hätte in dem Gesicht des Atrianers einen Ausdruck erkennen können, der ihm verraten hätte, was das zarte, blauweiße Kristallwesen dachte, aber da war nichts zu sehen. Er würde einfach dasitzen und abwarten müssen. Fast eine Stunde lang saß der atrianische Richter regungslos und schweigend da. Dann endlich blickte er auf, und Stille senkte sich über den Gerichtssaal, als Menschen wie Aliens auf den Urteilsspruch warteten. »Mensch Khalinov«, sagte der Atrianer. »Sie haben mir Anlaß gegeben, tief und ernsthaft über das nachzudenken, was Sie gesagt haben. Zu meinem Bedauern bin ich dennoch zu dem Schluß gekommen, daß der Mensch Krantz schuldig zu sprechen ist. Er wird hiermit zum Tode durch Hitze verurteilt. Die Hinrichtung findet morgen statt.« »Aber Euer Ehren…« Khalinov sprang auf. »Gestatten Sie, daß ich fortfahre«, sagte der Richter. »Das Gericht hat Ihr Plädoyer zur Kenntnis genommen und ist bereit einzuräumen, daß Ihre Argumente in bestimmten Fällen, einschließlich des Falles des Menschen Krantz, Gültigkeit besitzen.« »Warum dann ein so hartes Urteil?« »Die Lebenserwartung des Menschen Krantz liegt nach Ihren Begriffen zwischen neunzig und einhundertzehn Jahren, nicht wahr?« »Ja.« »Nun, die Lebenserwartung eines Atrianers liegt bei zirka dreitausendfünfhundert Jahren. Zwar bin ich gern bereit
zuzugeben, daß eine Freiheitsstrafe von fünfzig oder gar weniger Jahren vom Standpunkt Ihres Mandanten aus durchaus angemessen erschiene, aber Sie müssen doch bedenken, daß dies eine schlimmere Beleidigung gegen die Familien der Verstorbenen und gegen die ganze Bevölkerung von Atria XVI wäre als ein möglicher Freispruch. Sie lieben es, mit Hypothesen zu argumentieren; gestatten Sie mir also, Ihnen auch einmal eine hypothetische Frage zu stellen: Wie würden Sie reagieren, wenn ein Lebewesen, welches des Mordes an siebenundfünfzig Menschen auf Deluros VIII für schuldig befunden wäre, zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt würde?« Khalinov schloß die Augen. Dagegen war nichts mehr zu sagen. »Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Er wandte sich zum Gehen. »Mensch Khalinov«, sagte der Richter. Der Anwalt blieb stehen. »Dies bedeutet nicht, daß Ihre Logik und Ihre Bemühungen fruchtlos gewesen sind. Wenn Sie bis zu Ihrem Rückflug nach Deluros VIII noch ein wenig Zeit haben, nehmen Sie bitte meine Einladung entgegen, mich in meinen Gemächern zu besuchen. Bringen Sie ein paar Ihrer juristischen Schriften mit. Ich würde gern einige Gedanken mit Ihnen austauschen.« »Ich betrachte diese Einladung als ein seltenes Privileg, Euer Ehren«, sagte Khalinov, und er fragte sich, ob er nun gewonnen oder verloren hatte. »Gibt es ein spezielles Thema, über welches Sie sprechen möchten?« »Ich denke«, sagte der Atrianer, »wir beginnen mit fahrlässiger Tötung.« Und da wußte er: Krantz hatte verloren. Aber der Mensch hatte – vielleicht – gewonnen.
9: Die Ärzte … Und während der Mensch zahllose Äonen gebraucht hatte, um seine medizinische Wissenschaft bis zu dem Punkt zu entwickeln, da nahezu jede menschliche Erkrankung diagnostiziert und mit sicherer Aussicht auf Heilung behandelt werden konnte, war er gezwungen, die gleiche Leistung innerhalb einer unendlich viel geringeren Frist noch einmal zu erbringen, als nämlich der Kontakt zu anderen Rassen aufgenommen wurde. Und als wäre dieses Problem für die Ärzte, die kühn jenen neuartigen und unglaublich vielfältigen Horizonten zustrebten, nicht kompliziert genug gewesen, lauerte im Hintergrund immer auch die prekäre Position des Menschen in den politischen Verflechtungen der Galaxis… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg (In Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen findet sich keine Erwähnung der Mediziner.)
»Was ihm fehlt?« schnappte der hagere Darlinski. »Verdammt, ich weiß nicht mal, wieso das verfluchte Ding überhaupt lebt!« »Ich bezahle Ihnen nicht genug, als daß Sie sich veranlaßt fühlen könnten, mir hier die Primadonna vorzuspielen«, erwiderte Hammett grob. »Fahren Sie mit Ihren Tests fort, bis Sie wissen, was er hat.« »Erstens«, sagte Darlinski, »müßten Sie mir beweisen, daß es ein ›Er‹ ist. Zweitens bezahlen Sie mir nicht genug, als daß ich mich überhaupt veranlaßt fühlen könnte, hier besonders viel zu tun. Und drittens…« »Bringen Sie ihn in Ordnung, und Sie bekommen eine Gehaltserhöhung«, unterbrach Hammett, sichtlich verärgert. »Ich will keine gottverdammte Gehaltserhöhung!« schrie Darlinski. »Ich will ein gesundes Exemplar von diesen Was-
weiß-ich, damit ich einen Unterschied finden kann, zum Teufel!« »Er ist der einzige, den wir haben.« »Hatte das Ding denn keine Freunde oder Mitarbeiter?« »Zum zwölften Mal: nein«, antwortete Hammett. »Dann zum dreizehnten Mal: Was in drei Teufels Namen tut ein planetarischer Gesandter ohne einen einzigen Mitarbeiter?« »Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er einmal aufschrie, dann kollabierte und nicht sofort wiederbelebt werden konnte. Deshalb hat man ihn hergebracht.« »Natürlich konnten sie ihn nicht wiederbeleben. Wenn sie ihm ins Gesicht geschlagen hätten, wäre dabei womöglich jeder Knochen in dem Ding zerbrochen, das es statt eines Schädels hat. Und nach allem, was ich weiß, könnte es schmelzen, wenn man es mit kaltem Wasser übergießt.« An einer Gegensprechanlage blinkte eine Lampe auf, und Darlinski drückte auf einen Knopf. »Pathologie hier, Boß«, sagte eine lakonische Stimme. »Haben Sie schon was für uns?« Darlinski zischte ein paar ausgewählte, aber nicht druckreife Wörter in das Mikrophon. »Werden Sie nicht gleich sauer, Boß. Sie brauchen doch nur herauszufinden, was das Ding am Laufen hält.« »Ich weiß«, knurrte Darlinski. »Der fette Halunke, der diesen Laden hier leitet, hat mir eine Gehaltserhöhung versprochen, wenn ich es schaffe.« »Junge, das haut mich vom Stuhl«, antwortete die lakonische Stimme. »Der fette Halunke, der diesen Planeten hier leitet, hat uns einen Krieg versprochen, wenn Sie es nicht schaffen. Also viel Spaß.« »Wovon reden Sie?« fragte Hammett und stürzte sich auf die Sprechanlage.
»Na, haben Sie die letzten Nachrichtentapes nicht gesehen?« fragte die Stimme aus der Pathologie. »Zum Teufel, Sie haben das verdammte Ding seit sechs Stunden da oben!« »Sagen Sie mir nur, was los ist.« »Na, anscheinend behaupten die Kollegen dieses Clowns bei ihm daheim auf Pnath, wir hätten ihn entweder gekidnappt oder umgebracht. Ich nehme an, er war hier auf ’ner Art Friedensmission – ‘n sehr privater kleiner Krieg, den die Regierung wohl lieber vertuscht hat –, und jetzt glauben sie, daß wir mit schmutzigen Tricks arbeiten. Den Medien zufolge wird sich ein an sich belangloser Konflikt zu einem ausgewachsenen Krieg entwickeln, wenn es uns nicht gelingt, die Pnathier oder Pnathen, oder wie immer sie sich nennen mögen, davon zu überzeugen, daß wir ein reines Gewissen haben.« »Hat einer von den Genies in der Zentrale vielleicht mal daran gedacht, einen pnathischen Mediziner anzufordern?« erkundigte sich Darlinski. »Jawoll. Aber die Pnathisten glauben, wir hätten diesen hier umgebracht oder einer Gehirnwäsche unterzogen, und deshalb wollen sie niemanden mehr schicken, bevor er nicht gesund und wohlbehalten wieder bei ihnen ist.« »Entzückend«, sagte Darlinski. »Und was ist, wenn mir das verdammte Ding wegstirbt?« »Tja«, gluckste der Pathologe. »Ich könnte mir vorstellen, daß sie bei der Flotte noch einen gebrauchen könnten, der ihnen die Bratpfannen spült. Adios!« Es klickte im Lautsprecher. Hammett wartete, bis der Schwall von Flüchen, der Darlinski entströmte, für eine Atempause verstummte. Dann ging er zu dem pnathischen Botschafter hinüber.
»Mir war nicht klar, daß es sich um diese Art von Zwischenfall handelt«, sagte er. »Gehen wir wieder an die Arbeit.« »Was heißt: ›Gehen wir‹?« kläffte Darlinski. »Sie können doch einen Tumor nicht von einer Warze unterscheiden. Gehen Sie wieder in Ihr verdammtes Büro, und zerbrechen Sie sich den Kopf darüber, wie Sie die Heizungsrechnung für die nächste Woche bezahlen werden.« Er wandte sich dem Patienten zu. Hammett zuckte die Achseln, ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. Darlinski atmete tief ein, seufzte und schaute auf die Notizen, die er während der letzten Stunden auf seinen Block gekritzelt hatte. Viel war es nicht. Der Pnathier atmete ein SauerstoffStickstoff-Gemisch, aber es war nicht vorauszusehen, ob eine Dosis mit vierzig Prozent Sauerstoff ihn wiederbeleben oder umbringen würde. Das gleiche galt für eine neunzigprozentige Stickstoffdosis. Die Haut war extrem fein, aber er wagte nicht, eine Gewebeprobe zu nehmen oder ihn auch nur zu kratzen, denn nach allem, was er wußte, waren die Pnathier – zumindest dieser hier – chronisch hämophil. Aus diesem Grunde konnte er dem Geschöpf nicht einmal eine Blutprobe entnehmen. Auch über die Gravitation, die auf der Heimatwelt des Pnathiers herrschte, konnte er keinerlei Vermutungen anstellen. Das Wesen besaß drei Beine, auf denen es stehen konnte – ein Hinweis auf starke Gravitation. Aber sein Körperbau wirkte zerbrechlicher, als dies bei hoher Schwerkraft möglich gewesen wäre. Eine Röntgen-Untersuchung vorzunehmen wagte er natürlich schon gar nicht, denn es stand zu befürchten, daß die Reaktion darauf tödlich oder doch zumindest lebensbedrohlich sein würde. Hände oder Arme besaß das Wesen nicht, wohl aber ein Trio von röhrenförmigen Auswüchsen, die überaus flexibel waren.
Als Tentakel konnte man sie nicht bezeichnen, aber als Hände schon gar nicht. Er versuchte ihre Funktion zu ergründen, doch ohne Erfolg. Offenkundig war diese Rasse intelligent; sie hatte die Maschinerie entwickelt, die man für die Raumfahrt und den Krieg benötigte, aber wenn er versuchte, sich eine Steuerkonsole auf einem ihrer Schiffe vorzustellen, blieb sein Kopf leer. Was den Kopf betraf, so saß dieser auf einem dünnen Stielhals und wies nicht eine, sondern vier Öffnungen auf, bei denen es sich um Münder handeln konnte oder auch nicht. Sie waren senkrecht übereinander angeordnet, und nur die dritte dieser Öffnungen ließ das Kristallglas seiner Armbanduhr beschlagen. Aber ein Wesen, das vier Münder benötigt hätte, war ihm noch nie über den Weg gelaufen, und er hatte auch nicht den Eindruck, daß die drei verbleibenden Öffnungen zum Atemapparat gehörten – es sei denn, sie entsprächen drei verschnupften Nasen. Es konnte sich um Ohren handeln, aber auch das erschien unwahrscheinlich; bei allen Spezies, die er je untersucht hatte, bei Menschen wie bei Aliens, intelligenten wie nichtintelligenten, waren die Ohren aus Gründen der Zweckmäßigkeit viel weiter auseinander angebracht gewesen. Harnröhre und Anus? Denkbar – aber wenn ja, was war was, und wie sollte man sie vom Mund unterscheiden können? Er grinste bei der Vorstellung, wie ein Alien-Arzt ihm das Äquivalent heißer Hühnerbrühe in den Hintern schüttete, und dann runzelte er die Stirn, als ihm bewußt wurde, daß dies erst komisch sein würde, wenn er den Alien kuriert hatte. Das heißt, dachte er bei sich, falls ich ihn je kuriere. Der Pnathier hatte zwei Augen. Die Lider waren geschlossen, aber er hatte sie hochgezogen und festgestellt, daß die Augen stumpf waren und die Pupillen auf Lichtreize nur sehr schwach reagierten. Gleich oberhalb der Augen begann die Hirnschale, eine längliche Struktur, die sich in einem Winkel von fünfundvierzig Grad an das Gesicht anschloß, fast
wie bei einem Säugling, dessen Schädel infolge einer komplizierten Geburt schrecklich mißgestaltet war. Der Puls schlug beinahe doppelt so schnell wie sein eigener, aber das mochte am Gravitationsunterschied liegen. Es konnte aber auch ein Zeichen dafür sein, daß der Patient im Sterben lag. Oder… Darlinski fluchte wieder, trat einen Schritt zurück und starrte den Pnathier an. Er fühlte sich unter furchtbaren Druck gesetzt. Verdammt, Sauerstoffatmer waren nicht mal sein Spezialgebiet. Aber Jacobson war irgendwo auf Deluros VIII im Urlaub, und so hatten sie das junge Genie aus seiner Chloratmer-Station abgezogen, mit dem Gesicht zu dem Pnathier aufgestellt, ihm einen Klaps gegeben und gesagt: Los! Die Frage war nur: Wohin? Hammett unterbrach seine ohnedies mühselige Konzentration, indem er ihn über die Gegensprechanlage rief. »Haben Sie schon eine Idee?« »Nur in bezug darauf, was ich mit Ihnen machen werde, wenn ich diesen Patienten nicht mehr am Halse habe«, erwiderte Darlinski angewidert. »Ich hoffe, wir werden beide lange genug hier sein, damit Sie eine Chance haben, Ihre Ideen zu verwirklichen«, sagte Hammett. »Ich hab’ die Geschichte überprüft, und sie stimmt. Die Regierung hat noch ein wenig mehr Zeit für uns herausgeschunden, aber wenn wir unser Botschafterchen nicht innerhalb von ein paar Tagen wieder auf die Beine gebracht haben, damit er uns entlasten kann, sind wir erledigt.« »Ich nehme nicht an, daß irgend jemand daran gedacht hat, mir von einem pnathischen Mediziner irgendwelche nützlichen Informationen zu besorgen«, sagte Darlinski. »Ja und nein.« »Und was in drei Teufels Namen soll das heißen?« schnaubte Darlinski.
»Ja, man hat sehr wohl daran gedacht, sich zu erkundigen, und nein, niemand hat etwas herausbringen können. Sie haben keine Ahnung von der politischen Situation. Ich kann es selber kaum fassen. Ich weiß nicht, ob diese Rasse aus lauter Paranoikern besteht oder was – jedenfalls werden sie niemanden herschicken und uns auch keinerlei Informationen über ihre physiologische Beschaffenheit zukommen lassen, ehe sie wissen, daß ihr Botschafter guter Dinge ist.« »Wodurch sie natürlich garantieren, daß er nie wieder guter Dinge sein wird«, ergänzte Darlinski grimmig. »Ich habe allerdings erfahren können, daß es sich um ein weibliches Exemplar handelt. Sie heißt… na ja, der Name ist eigentlich unaussprechlich, aber ein annäherndes menschliches Äquivalent wäre wohl Leonora. Und nein, sie ist nicht schwanger.« »Haben die Ihnen das erzählt?« »Nicht mit so vielen Worten, aber ich habe den Eindruck gewonnen, daß sie eben erst in das fortpflanzungsfähige Alter gekommen ist.« »Und warum im Namen aller Höllenteufel ist sie dann unser einziger Botschafter von einer Rasse, mit der wir uns im Krieg befinden?« tobte Darlinski. »Woher soll ich das wissen?« entgegnete Hammett. »Die Psychologen arbeiten daran, aber sie haben noch weniger Anhaltspunkte als Sie.« »Ich hoffe, Sie erwarten jetzt nicht, daß ich vor lauter Mitleid mit den Psychologen in Tränen ausbreche?« »Nein. Aber versauen Sie diesen einen Fall, und Sie können den Rest Ihres Lebens damit verbringen, Mitleid mit sich selbst und mit mir zu haben.« »Sehr komisch«, grollte Darlinski. »Nicht komisch«, korrigierte Hammett. »Äußerst ernst. Mir ist es lieber, Sie bringen sie aus Versehen um, als daß sie
möglicherweise daliegt und stirbt, weil sie nicht behandelt wird. Von mir aus fangen Sie damit an, daß Sie ihr mit bloßen Händen das Herz aus dem Leibe reißen, aber Sie müssen irgend etwas tun. Gibt es jemanden, den ich Ihnen als Assistenten schicken kann?« Darlinski brüllte eine Verneinung in das Sprechgerät und schaltete es ab. Dann begab er sich zurück zu der Pnathierin und untersuchte sie erneut, diesmal bewaffnet mit dem Wissen, daß sie eine Frau war. Dies implizierte eine Körperhöhlung, die bei einem Mann nicht vorhanden sein würde, aber als er sie Zoll für Zoll untersuchte, stellte er fest, daß die einzigen Öffnungen an ihrem Körper die Pseudomünder an ihrem Kopf waren. Der eine davon diente offensichtlich zur Atmung, woraus folgte, daß die übrigen drei der Nahrungsaufnahme, dem Geschlechtsverkehr und einem dritten, bisher nicht bestimmbaren Zweck dienten. Und beim besten Willen konnte er nicht unterscheiden, welcher wozu dienen sollte. Er warf einen Blick auf die Uhr und erkannte, daß er seit mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen war und vermutlich demnächst zusammenbrechen würde. Dies bedeutete, daß er etwas in die Pathologie hinunterschicken mußte, das sie analysieren konnten, während er schliefe. Er ließ zwei Krankenschwestern kommen und traf die nötigen Vorbereitungen, um kleine Hautproben von den tentakelhaften Gliedmaßen der Patientin und eine von ihrem Rumpf sowie Abstriche aus den drei nicht der Atmung dienenden Körperöffnungen zu entnehmen. In seiner Sorgfalt bemerkte er, daß bei der letzten Hautprobe eine kleine Menge einer rosafarbenen Flüssigkeit hervorquoll. Es mußte sich um Blut handeln, und sofort brachte er ein wenig davon auf einen Objektträger und lehnte sich zurück, um zu sehen, ob die Blutung von allein zum Stillstand kommen würde. Das geschah, und zwar beinahe sofort; er wies eine der beiden
Schwestern an, die Proben ins Labor der Pathologie hinunterzubringen. »In sechs Stunden will ich den Bericht sehen. Und jetzt besorgen Sie mir ein Zimmer mit einer heißen Dusche, und veranlassen Sie, daß mir in fünf Stunden jemand ein Frühstück und ein Stimulans bringt.« Hierauf wartete er, bis man ihm eines der nahegelegenen Schlafquartiere zugewiesen hatte, und mit einem Seufzer begab er sich dorthin, um es, wenn auch für nur kurze Zeit, zu benutzen. Als er erwachte, war er ebenso müde wie vorher, und wenige Minuten später stand er neben Jennings aus der Pathologie, und abwechselnd betrachteten sie die Objektträger im pathologischen Labor. »Nicht daß es irgend etwas beweisen würde, daß sie verdammt wenig rote Blutkörperchen hat«, sagte Jennings eben. »Es könnte natürlich auf eine schwerwiegende Bluterkrankung hindeuten. Andererseits braucht das verfluchte Ding vielleicht kaum rote Blutkörperchen. Ich glaube, wir sollten davon ausgehen, daß diese Blutzusammensetzung ziemlich normal ist.« »Aus einem bestimmten Grund?« fragte Darlinski. »Aus dem besten, den es geben kann«, antwortete Jennings. »Wenn sie nicht normal ist, dann haben wir nämlich Pech. Ich habe die Zusammensetzung analysiert. Wir haben keine Möglichkeit, Erythrozyten eines Typs zu synthetisieren, den sie nicht abstößt, bevor sie stirbt, weil sie zu wenig davon hat. Aus Gründen des Pragmatismus also werden wir so tun, als sei das Blutbild normal, was immer ihr sonst fehlen mag.« Darlinski nickte und grunzte zustimmend. »Was ist mit den Gewebeproben?«
»Sie meinen die Haut?« fragte Jennings. »Tja, da könnten wir ein bißchen mehr Glück haben… oder Pech, je nachdem, wie man’s nimmt.« »Verraten Sie mir, wie man’s nehmen kann«, sagte Darlinski alarmbereit. »Wenn Sie es nehmen wie ein Arzt, der etwas sucht, was er kurieren kann, dann haben wir vielleicht etwas für Sie. Hier, sehen Sie sich das an.« Darlinski beugte sich tief über das starke Mikroskop und spähte in das Okular. Auf dem Objektträger lag eine winzige Hautprobe, und ohne daß er erst auf die stärkste Vergrößerung hätte schalten müssen, konnte Darlinski sehen, daß die Zellaktivität beträchtlich war. »Was ist da los?« fragte er. »Genau kann ich es nicht sagen«, antwortete Jennings. »Aber das da müßte nach allen Regeln der Kunst ein sehr totes Stück Haut sein, und ganz offensichtlich ist es das nicht. Beim besten Willen kann ich nicht feststellen, woher es mit dem notwendigen Blut und Sauerstoff versorgt wird.« »Da wir gerade von Sauerstoff reden«, sagte Darlinski. »Mit welcher Dosierung kann ich sie beatmen?« »Nach der Blutstruktur zu urteilen, lebt sie vermutlich augenblicklich in etwas, was bei uns einem Sauerstoffzelt entspräche. Ich würde die Verantwortung für eine höhere Sauerstoffdosis nicht übernehmen wollen. Er könnte ihr die Lunge verbrennen.« »Und wie sieht’s mit den Abstrichen aus?« »Tja, also das ist mal wirklich interessant«, sagte Jennings. »Haben Sie etwas gefunden?« »Nein. Ich habe nicht das geringste gefunden.« »Sie sind aber leicht zu interessieren.«
»Moment, Boß«, sagte Jennings. »Ich will Ihnen vorher eine Frage stellen: Wer zum Teufel hat Ihnen erzählt, daß es sich um ein weibliches Exemplar handelt?« »Hammett.« »Und wer hat es ihm erzählt?« »Die Pnathier.« »Yeah? Na, mit meinen Befunden läßt sich das nicht beweisen.« »Was haben die Abstriche gezeigt?« Darlinski kratzte sich am Kopf. »Nichts. Besser gesagt, nichts, was im entferntesten geschlechtlich sein könnte. Ich habe die drei Abstriche durchnumeriert. Abstrich Nummer eins, aus der untersten der drei Öffnungen, enthält Spuren von Wasser, ein paar Enzyme und Reste von zwei oder drei anderen organischen Flüssigkeiten. Daraus und aus der Tatsache, daß sie nicht in ihre Bestandteile zerlegt sind, müssen wir schließen, daß diese Öffnung der Aufnahme flüssiger Nahrung dient. Abstrich zwei enthält zahlreiche Spuren von Feststoffen, ein paar Fäulnisbakterien sowie etwas, das die Funktion einer milden Magensäure zu haben scheint. Ergo: Hier wird die feste Nahrung aufgenommen. Abstrich drei ist ein Problem, aber ich möchte vermuten, daß die Funktion der Öffnung ausschließlich vokal ist.« »Aber, verdammt, eine dieser Körperöffnungen muß die Funktion einer Vagina haben«, fluchte Darlinski. »Es sind die einzigen Öffnungen am ganzen Körper, und das Subjekt ist definitiv weiblich.« »Mag sein, aber dann küßt und kopuliert sie nicht so, wie wir es gewohnt sind«, meinte Jennings. »Da ist keine Spur von Sexualhormonen, Gleitflüssigkeit oder anderen Sekreten, die der Wissenschaft bekannt wären, und da sie eine warmblütige
Sauerstoffatmerin ist, muß ich annehmen, daß ihre Sexualhormone nicht allzu schwer aufzufinden sein dürften.« »Könnte die Öffnung der Ausscheidung dienen?« fragte Darlinski. »Höchst zweifelhaft«, antwortete Jennings. »Nein, ich will es eindeutiger formulieren: definitiv nicht. Ich hätte mit Sicherheit etwas gefunden, das darauf hindeutete, wenn dies der Fall wäre. Tut mir leid, daß ich Ihnen ein Problem mache, Boß, aber so sieht’s nun mal aus.« »Ein Problem? Zum Teufel, das sind mindestens zwei.« »Ja?« »Erstens: Ich habe einen weiblichen Patienten ohne erkennbare Sexualorgane. Zweitens: Ich habe einen Esser ohne erkennbare Ausscheidungsmöglichkeit für die Abfallprodukte.« »Vielleicht ist es das, was ihr fehlt.« Jennings grinste. »Vielleicht hat sie zuviel gegessen und steht kurz vor der Explosion.« »Vielen Dank«, sagte Darlinski. »Ich sollte jetzt mal wieder zu ihr zurückgehen und mir überlegen, was ich als nächstes tun kann.« Als er ein paar Minuten später bei der Pnathierin ankam, schnappte sie matt nach Luft. Ihr Gesicht und folglich auch die Atemöffnung waren von einer faulig riechenden Substanz bedeckt, die aus der Nahrungsaufnahmeöffnung zu dringen schien. Rasch rief Darlinski einen Assistenten zu Hilfe, und es gelang ihm, die Pnathierin auf die Seite zu drehen und ihr mit einem antiseptischen Tuch den Kopf abzuwischen. Nach kurzer Zeit ging die Atmung wieder normal. Darlinski wies den Assistenten an, die Patientin im Auge zu behalten und begab sich mit einer Probe von der Substanz zurück in die Pathologie. »So«, sagte Jennings nach einer halben Stunde des Testens und Untersuchens, »ich glaube, eines Ihrer Probleme
haben wir gelöst. Anscheinend hat ein und dieselbe Körperöffnung eine doppelte Aufgabe: Sie nimmt die Nahrung auf und scheidet die Abfallstoffe aus. Äußerst ineffizient. Ja, ich würde sagen, außergewöhnlich ineffizient.« »Sie sind sicher, daß es sich nicht um Erbrochenes handelt?« fragte Darlinski. »Absolut sicher«, erwiderte Jennings. »Dann wären noch teilweise unverdaute Nahrungspartikel darin enthalten gewesen. Aber dieses Zeug ist völlig zersetzt. Der Körper hat sich den größten Teil dessen, was er benötigte, genommen, und das ist der Rest.« »So erfahren wir ständig etwas Neues«, sagte Darlinski. »Ich wette, wenn wir das verdammte Ding noch ein Jahr hierbehalten dürfen, kriegen wir am Ende sogar raus, woran es stirbt.« »Aber wenn man den Nachrichtenmeldungen folgen darf«, gab Jennings zu bedenken, »dann haben Sie beträchtlich weniger als ein Jahr.« »Erinnern Sie mich nicht daran. Wie stehen die Chancen, daß es stirbt, wenn ich eine Röntgen- und Fluoroskopuntersuchung vornehme?« »Die Röntgenstrahlen werden vermutlich keinen Schaden anrichten. Unter normalen Umständen würde ich sagen, eine Fluoroskopuntersuchung käme nicht in Frage, aber dies sind wohl kaum normale Umstände, also tun Sie’s ruhig.« Zwei Stunden später betrachtete Darlinski eine Reihe von Röntgenaufnahmen und fluchte wild. »Wie sieht’s aus, Boß?« fragte Jennings über die Gegensprechanlage. »Also, Knochen kann sie sich nicht gebrochen haben«, stellte Darlinski fest. »Das verfluchte Mädel hat nämlich nicht einen einzigen Knochen im Leib.« »Hat das Fluoroskop etwas gebracht?«
»Nichts. Ich habe schon Insekten gesehen, die ein komplizierteres Verdauungssystem hatten. Die Nahrung geht rein, wird in ungefähr jede einzelne Zelle transportiert, und was übrigbleibt, kommt nach ungefähr einem Tag wieder heraus. Die einzige Möglichkeit, die jetzt noch bleibt, ist ein Hirnschaden, und woher zum Teufel soll ich wissen, ob es sich darum handelt, wenn ich nicht vorher mal ein funktionstüchtiges Modell eines gesunden Hirns zu sehen bekomme?« Wieder entfuhr ihm ein Schwall von Flüchen. »Dieses blöde Geschöpf ergibt einfach keinen Sinn!« »So ist es«, sagte Jennings. »Diese Gewebeproben…« »Was ist damit?« »Sie wachsen. Noch eine Woche, und sie bedecken den ganzen verdammten Objektträger.« »Könnte es sich um eine Form von Krebs handeln?« fragte Darlinski. »Ausgeschlossen«, antwortete Jennings. »Kein Krebs, den ich kenne, würde sich so verhalten. Die Proben sind nicht kultiviert worden. Nach allem, was ich weiß, müßten sie abgestorben sein und verfaulen.« »Außerdem hätte ich es schon festgestellt, wenn es sich um eine Hautkrebsform handelte«, stimmte Darlinski zu. Er stand auf. »Es ist Wahnsinn! Das Atemsystem arbeitet. Das Verdauungssystem arbeitet. Der Kreislauf funktioniert. Was zum Teufel kann denn noch fehlen?« »Vielleicht hat sie’n Schlaganfall?« schlug Jennings vor. »Das bezweifle ich. Wenn ein Blutklumpen im Gehirn säße, müßte sie auch noch anderweitig beeinträchtigt sein. Einen Herzinfarkt können wir wahrscheinlich ebenfalls ausschließen. Wir haben nicht den geringsten Therapieversuch unternommen, und dennoch bleibt der Zustand – ganz gleich, inwiefern er vom Normalzustand abweicht – stabil. Wenn es sich um einen plötzlichen Anfall gehandelt hätte, würde der
Zustand sich jetzt entweder verschlechtern oder verbessern. Aber beides ist nicht der Fall.« »Wenn Sie noch andere Paradoxien suchen«, schlug Jennings vor, »dann könnten Sie ja mal herausfinden, warum immer noch jeder so tut, als handle es sich um eine Frau.« »Ich habe genug eigene Paradoxien, mit denen ich mich beschäftigen kann«, versetzte Darlinski. »Da brauche ich nicht noch welche von Ihnen.« »Wollte Ihnen nur helfen, Boß. Bis später dann.« Darlinski begab sich zu dem Patienten zurück und murmelte wüste Obszönitäten vor sich hin. Es fügte sich einfach nicht ineinander – selbst ein Virus hätte sie bei gänzlich fehlender Therapie inzwischen entweder getötet oder wäre von Antikörpern ganz oder teilweise vernichtet worden. Das war vielleicht das Unheimlichste an der ganzen Situation: Daß dieser Botschafter sich schlicht weigerte, sich zu verändern; sein Zustand besserte sich nicht, und er verschlechterte sich nicht. Okay, beschloß er, betrachten wir es einmal logisch. Wenn der Zustand der Pnathierin sich nicht veränderte, dann mußte es daran liegen, daß etwas in ihrem Innern oder in ihrer Umgebung ebenfalls unverändert blieb. Da er, so gut dies möglich war, festgestellt hatte, daß ihre internen Systeme allesamt normal funktionierten, und da Jennings bisher weder Mikroben noch Bakterien oder Viren hatte entdecken können, die womöglich schädlich sein könnten, würde er bei seiner Arbeit von der Hypothese ausgehen, daß es sich entweder um ein Blutgerinnsel oder einen Tumor in ihrem Gehirn handelte, den er nicht einmal finden, geschweige denn heilen konnte, oder daß das Problem in der äußeren Umgebung zu finden sei. Und falls die äußere Umgebung der Grund für ihre Probleme war, dann lag die naheliegendste Möglichkeit zur Veränderung dieser Umgebung in der Atmosphäre und der Schwerkraft. Er begann die Schwerkraft im Raum bis auf null g zu reduzieren,
ohne daß ein sichtbarer Effekt zutage getreten wäre. Sodann erhöhte er die Gravitation langsam bis auf drei g. Die Atmung ging jetzt ein wenig schwerer, aber weitere Reaktionen waren nicht zu erkennen, und er hielt es nicht für ratsam, ein knochenloses Lebewesen einer noch stärkeren Gravitation auszusetzen. Er legte ein Beatmungsgerät über die Atemöffnung der Pnathierin und senkte den Sauerstoffgehalt der Atemluft auf fünfzehn und dann auf zwölf Prozent. Bei acht Prozent erwartete er, daß die Patientin begänne, Anzeichen des Erstickens zu zeigen, aber statt dessen entdeckte er, daß ein Augenlid sichtbar zuckte. In dieser Weise ermutigt, senkte er den Sauerstoffgehalt auf vier Prozent – und dann brach die Hölle los. Die pnathische Botschafterin begann, unzusammenhängend zu flüstern und wild mit ihren Tentakelgliedmaßen um sich zu schlagen. Darlinski wich ihnen leichtfüßig aus, schnallte den Körper auf dem Tisch fest und setzte sich hin, um sie zu beobachten. Ihre Augen waren geöffnet, aber blicklos, und ihre Bewegungen waren auch nach zehn Minuten so regellos, daß er davon überzeugt war, sie werde auch im Laufe von zwölf Lebensspannen nicht lernen können, Nahrung in ihren Mund zu schieben, geschweige denn ein Raumschiff zu steuern. Irgendwo in seinem Hinterkopf dämmerte eine Idee herauf, aber zuerst mußte er ein paar Fakten überprüfen. Er rief Jennings an. »Sagen Sie«, fragte er den Pathologen, »was genau würde einem Menschen, der ein neunzehnprozentiges Sauerstoffgemisch atmet, passieren, wenn man den Sauerstoffgehalt seiner Atemluft verdoppelte?« »Er würde sich wahrscheinlich scheckig lachen«, antwortete Jennings, ohne zu zögern.
»Das weiß ich«, sagte Darlinski. »Aber wäre es auch möglich, daß er statt dessen ohnmächtig würde?« »Das bezweifle ich. Warum?« »Und wenn man den Sauerstoff vervierfachte – auf sechsundsiebzig Prozent oder mehr?« »Das hat man in Notfällen schon oft getan.« »Und haben die Patienten dann das Bewußtsein verloren?« »Hin und wieder, ja. Aber selten. Worauf wollen Sie hinaus?« »Noch eine Frage, dann sag’ ich’s Ihnen.« »Fragen Sie.« »Was würde geschehen, wenn man einen Menschen in ein neunzigprozentiges Sauerstoffgemisch steckte…« »Kein Problem«, war die rasche Antwort. »Sie haben mich nicht ausreden lassen«, sagte Darlinski. »Was würde geschehen, wenn man ihn hineinsteckte und dann eine Woche lang darin ließe?« »Das ist meines Wissens noch nie geschehen. Wahrscheinlich würden das Gehirn und dann die Lunge ausbrennen, und zwar in dieser Reihenfolge… Moment mal! Wollen Sie damit etwa sagen…« »… daß unsere Botschafterin ein vierprozentiges Sauerstoffgemisch atmet und daß sie seit ihrer Ankunft in einer Atmosphäre lebt, die nach unseren Begriffen einem neunzigprozentigen Gemisch entspricht. Zunächst war es wahrscheinlich belebend, wenn nicht gar berauschend für sie. Aber irgendwann hat sie der Schlag getroffen, und seither lebt sie in einem Zustand des Kollaps.« »Dann haben Sie’s!« rief Jennings. »War eigentlich ziemlich einfach, nicht?« »Gelöst habe ich das Problem damit noch nicht«, erwiderte Darlinski. »Wahrscheinlich hat sie nicht mehr genug Grips, um sich selbst die Schuhe zuzubinden. Sie ist völlig unkoordiniert,
sieht nichts, und zwei der Körperöffnungen sabbern. Meiner Meinung nach rangiert sie beträchtlich weit unterhalb eines mongoloiden Idioten auf der Skala der Intelligenz, wie auch immer die aussehen mag. Vielleicht können wir sie wieder gesund machen, aber funktionieren wird sie nicht mehr.« »Wenn es Ihnen die Sache leichter macht: Sie war vermutlich schon eine Stunde nach ihrem Kollaps so, wie sie jetzt ist.« »Na, da bin ich aber froh«, sagte Darlinski und unterbrach die Verbindung. Seine Idee nahm Gestalt an, aber er mußte noch mit Hammett sprechen. Er erklärte ihm den Stand der Dinge und wartete dann, während Hammett sich mit der Regierung in Verbindung setzte. »Gute Arbeit«, sagte Hammett eine Stunde später, »aber die Pnathier kaufen es uns nicht ab. Erstens glauben sie, daß wir sie belügen, und zweitens meinen sie, selbst wenn es die Wahrheit wäre, sei es unsere Schuld. Wir haben’s fast geschafft, aber eben nur fast. Der Waffenstillstand endet in zwei Tagen. Wenn Sie also bis dahin keinen Weg gefunden haben, ein Gemüse wieder zu einem intelligenten Wesen zu machen…« Er verstummte. »Lassen Sie mich eine Frage stellen«, sagte Darlinski. »Nur zu.« »Woher wissen Sie, daß es sich bei dem Botschafter um eine Frau handelt?« »Die Pnathier – oder besser gesagt, der pnathische Sprecher hat es uns gesagt.« »Er hat gesagt, sie sei weiblichen Geschlechts?« »Ja.« »Was waren seine genauen Worte?« »Ich weiß es nicht mehr genau. Es war ein allgemeiner Ausdruck des Bedauerns darüber, daß Leonore eben erst den
Punkt körperlicher Reife erreicht habe, da sie Nachkommen haben könne.« »Ist das eine exakte, wörtliche Übersetzung?« »Nicht ganz. Aber es ist so exakt, wie unsere Übersetzer die Äußerungen einer Rasse, die nicht Galaktik spricht, wiedergeben können.« »Unsere heterosexuellen, männlichen und weiblichen Übersetzer«, sagte Darlinski. »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Hammett. »Fragen Sie mich nicht«, antwortete Darlinski. »Lassen Sie mich jetzt eines klären. Ob die Botschafterin als Gemüse weiterlebt oder morgen stirbt, ist für die Pläne der Pnathier nicht von Belang. Habe ich recht?« »Sie haben recht.« »Gut. Ich muß Sie um einen Gefallen bitten.« »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Hammett. »Ich möchte, daß der Operationssaal 607 und der angrenzende Erholungsraum abgesperrt werden. Dann richten Sie bitte beide Räume für eine Atmosphäre aus dreieinhalb Prozent Sauerstoff, fünfundneunzig Prozent Stickstoff und anderthalb Prozent trägen Elementen her. Standardgravitation. Und schließlich stellen Sie einen Posten auf, und sorgen Sie dafür, daß außer Jennings niemand ohne meine ausdrückliche Erlaubnis in die Nähe kommt.« »Geben Sie mir zwei Stunden Zeit, und Sie bekommen, was Sie haben wollen«, sagte Hammett. »Aber…« »Keine Fragen. Ach ja, noch eines. Beschaffen Sie mir eine Tonne mit einem Kubikmeter der konzentriertesten Salpetersäure, die wir haben, und sorgen Sie dafür, daß ein undurchsichtiger Deckel drauf ist…« » Salpetersäure?« »Jawohl. Und vergessen Sie die Abdeckung nicht. In zwei Stunden bin ich unten im OP.«
Wie versprochen, hatte Hammett die Räume vorbereitet, als Darlinski und eine Krankenschwester den pnathischen Patienten zum vereinbarten Zeitpunkt heranrollten. Jennings erwartete sie schon, und in seinem Gesicht lag ein verwunderter Ausdruck. »Wissen Sie«, sagte er, »ich habe mir wirklich das Hirn zermartert, um herauszufinden, was für eine Operation Sie hier planen. Aber mir fällt immer nur eine einzige verrückte Antwort ein.« »Überhaupt nicht verrückt«, erwiderte Darlinski. »Ich habe den heimlichen Verdacht, daß es die einzige vernünftige Möglichkeit ist. Sie können die Anästhesie übernehmen.« »Werden Sie einen Anästhesisten brauchen?« »Gleich. Schwester – Sie, Jennings und ich setzen uns jetzt Sauerstoffmasken auf.« Als dies geschehen war, ließ er den Sauerstoffgehalt der Luft auf dreieinhalb Prozent senken. »Okay, Jennings, stellen Sie das Beatmungsgerät auf fünfunddreißig Prozent und lassen Sie sie einschlafen.« Jennings drückte die Maske auf die Atemöffnung der Pnathierin, und die Botschafterin war fast augenblicklich ohnmächtig. »Ist die Tonne mit der Säure hier?« fragte Darlinski. Er blickte umher, bis er sie entdeckt hatte. »Okay, Schwester, bereiten wir die Amputation vor.« »Was werden wir amputieren, Sir?« fragte die Schwester. »Den Kopf«, sagte Darlinski. »Ich hab’s gewußt!« triumphierte Jennings. »Jetzt sind Sie übergeschnappt.« »Was haben wir zu verlieren?« fragte Darlinski, ungerührt von dem schreckensbleichen Gesicht der Schwester. »Ob sie bewußtlos ist oder tot, der Krieg bricht in beiden Fällen aus. Dies ist die einzige Möglichkeit, ihn zu verhindern.« Und mit diesen Worten machte er in der Mitte des langen Stieles, der bei den Pnathiern als Hals galt, einen tiefen Einschnitt. Seine
Hände bewegten sich rasch und geübt, bis der Kopf beinahe abgetrennt war. »Schwester«, sagte er dann und sah einen Moment lang auf. »Es wird Ihnen zweifellos gewaltig gegen den Strich gehen, aber ich will nicht, daß hier etwas vernäht oder sonstwie verschlossen wird. Wenn Sie es wünschen, werden wir für etwa neunzig Sekunden eine Aderpresse anlegen, aber dann muß sie wieder entfernt werden.« Die Schwester, bleich und von Grauen erfüllt, nickte matt. »Jennings, Sie wissen, was Sie mit dem Kopf zu tun haben?« »Die Tonne?« Darlinski nickte. »Wenn ich recht habe, wird das Ding sowieso Zeter und Mordio schreien. Also werden wir es so schnell wie möglich vernichten.« »Wäre der Verbrennungsofen nicht humaner gewesen?« »Ohne Zweifel. Aber ich habe keine Lust, einen plappernden, abgetrennten Kopf durch fünf Etagen und volle Korridore zum Verbrennungsofen zu tragen. Sie etwa?« »Ich verstehe, was Sie meinen.« Jennings grinste. Er grunzte, als der Kopf vom Körper der Pnathierin herunterrollte, und dann trug er ihn, den Blick nach Möglichkeit abwendend, zu der undurchsichtigen Tonne und warf ihn hinein. Als er wieder an der OP-Tisch trat, entfernte Darlinski eben die Aderpresse. Kein Blut quoll hervor. »Wahrscheinlich wird es nicht notwendig sein, obwohl jetzt der Mund fehlt, aber lassen Sie uns den Hals noch ein wenig öffnen und einen Atmungsschlauch einführen. Und dann sollten sie rasch in die Pathologie laufen und sich überlegen, welche Lösung wir ihm intravenös einflößen sollen, bis er wieder selbst essen kann, obwohl das bei all dem subkutanen Fett kaum erforderlich sein wird.« Jennings verschwand, und Darlinski wandte sich an die Krankenschwester. »Bis die Geschichte abgeschlossen ist, muß ich Sie leider bitten, Ihr
Quartier nicht zu verlassen. Sie werden mit niemandem außer mit Dr. Jennings, Mr. Hammett oder mir darüber sprechen. Ist das klar?« Die Schwester nickte. »Fein. Bleiben Sie noch ein wenig hier, bis wir einen Ersatz gefunden haben. Und rufen Sie Hammett an, und sagen Sie ihm, er soll sich herunterschwingen, aber schleunigst.« Hammett war nach genau vier Minuten an Ort und Stelle, und Darlinski erklärte ihm die Operation. »Sehen Sie«, begann er, »das ganze Problem lag darin, daß der Botschafter definitiv nicht weiblichen Geschlechts ist. Eine Zeitlang habe ich mich in die Irre führen lassen, aber ich konnte mich erst darum kümmern, als ich herausgefunden hatte, was überhaupt zu diesem Zusammenbruch geführt hat. Dabei hatte es so viele Hinweise gegeben, daß ich eigentlich schon früher hätte darauf kommen können: Die Tatsache, daß sein Gewebe weiterwuchs, selbst wenn es nicht kultiviert wurde; die Tatsache, daß wir keinen Sexualapparat finden konnten; die Tatsache, daß es keine Vorrichtung zur Absonderung von Sporen gab. Was also konnte es anderes sein als ein Lebewesen, das sich durch Zellteilung vermehrt und folglich die Fähigkeit zur Regeneration besitzt? Eigentlich hätte ich mir schon am ersten Tag etwas Ähnliches denken können, als nur eine der drei Schürfwunden bei der Gewebeentnahme blutete und das Blut nach zwei oder drei Sekunden geronnen war.« »Aber kann es sich denn einen neuen Kopf wachsen lassen?« fragte Hammett. »Schließlich haben Sie das Gehirn und die Mundöffnungen entfernt. Sogar ein Seestern muß einen Teil seiner Mitte behalten, damit ihm ein neuer Arm wachsen kann.« »Ich denke, es wird klappen. Andernfalls wären Körper und Kopf vermutlich sofort abgestorben. Aber sie haben beide weitergelebt, und deshalb habe ich den Kopf vernichtet: Ich
wollte nicht, daß diesem hirnlosen Pseudo-Schädel ein neuer Körper wuchs. Außerdem neigen wir, wenn ich es einmal so nennen darf, zu terramorphem Denken, das heißt, wir schreiben allen Formen extraterrestrischen Lebens terranische Eigenschaften zu. Mir erscheint es unwahrscheinlich, daß ein Lebewesen mit abgetrenntem Kopf überleben könnte, aber es bleibt eine Tatsache, daß dieses Wesen lebt. Aber das Hauptproblem ist damit noch immer nicht gelöst.« »Und welches ist das?« fragte Hammett. »Das neue Gehirn wird nicht wissen, daß es einem Botschafter gehört, oder daß wir ihm das Leben gerettet haben. Wir sollten uns also auf einen kleinen Krieg vorbereiten.«
10: Die Politiker … So kam es, daß gegen Ende des ersten Jahrtausends der Demokratie eine Woge der Erregung über die menschlichen Welten und Kolonien der Galaxis hinwegrollte. Lange hatten sie darauf gewartet, daß der Mensch das wieder einnahm, was sie für sein rechtmäßiges Primat innerhalb der intelligenten Rassen hielten, und die herrschende Stimmung war jenem uralten Credo von der »offenbaren Bestimmung« zum Verwechseln ähnlich. Und in der Tat wurde es rasch offenbar, daß der Mensch seine galaktische Lehrzeit beendet hatte und sich nicht länger mit einer zweitrangigen Rolle im großen Plan der Dinge zufriedengeben würde. Auf dem Höhepunkt dieser Krise aus widerstreitenden Philosophien und Weltanschauungen begann Joshua Bellows (2943 – 3009 G. Z.) seinen kometenhaften Aufstieg zur Macht. Während er bei den Massen ungeheuer populär war, wurde er von gewissen Elementen in seiner eigenen Partei zunächst
angefeindet und später hochgelobt. Wenn es stimmt, daß große Ereignisse große Führer hervorbringen, dann… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Daß Bellows als Politiker über beträchtlichen Charme und Charisma verfügte, ist unbestreitbar. Aber die noch existierenden Schriften und Tapes von ihm lassen auch darauf schließen, daß er weder die Fähigkeit noch auch ursprünglich die Motivation besaß, die Leistungen zu vollbringen, die er vollbrachte, hätten hinter den Kulissen nicht mächtige Helfer agiert…… Obgleich die Demokratie ihn um mehr als zwölf Jahrhunderte überdauerte, kann doch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß Bellows verantwortlich… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Josh Bellows saß hinter einem riesigen Schreibtisch, dessen polierte Fläche hier und da mit Papieren und Dokumenten übersät war; neben seinem rechten Arm reihten sich die Knöpfe mehrerer Gegensprechanlagen aneinander. Makellos gekleidet und frisiert, war er gleichsam die Verkörperung der Würde mit seinem dichten, grauschwarzen Haarschopf, den festen, harten Konturen seines Kinns und den feinen Lachfältchen an den Seiten seiner klaren, blauen Augen. Er sah Zoll für Zoll aus wie ein Menschenführer, und das war er ja auch. »Nun, wie geht’s voran?« fragte er. Die Gestalt, die sich seinem Schreibtisch näherte, war in beinahe jeder Hinsicht die Antithese zu ihm. In zerknüllte, ungebügelte Kleider gehüllt, spähte der Mann durch Brillengläser, die so dick waren, daß man seine Augen dahinter nicht sehen konnte; das, was ihm an Haaren geblieben war,
befand sich in einem Zustand heilloser Verwirrung, und er wirkte in dieser majestätischen Umgebung so fehl am Platz wie nur irgend möglich. »Die Einheimischen werden unruhig«, sagte Melvyn Hill, zog sich einen wunderschön geschnitzten Stuhl aus doradusianischem Holz heran und legte ganz unzeremoniell die Füße auf den Schreibtisch. »Die Einheimischen sehen immer unruhig aus, wenn man von oben auf sie hinunterblickt«, bemerkte Bellows. »Als ich einer von ihnen war, war ich auch unruhig. Deshalb bin ich heute hier.« »Das war ein bißchen anders, Josh. Du warst unruhig, weil du Macht wolltest. Sie sind unruhig, weil sie wollen, daß du diese Macht ausübst.« »Ich weiß.« Bellows runzelte die Stirn. »Aber was zum Teufel erwarten sie von mir? Daß ich den Krieg erkläre?« »Nein«, antwortete Hill. »Obwohl«, fügte er nachdenklich hinzu, »wahrscheinlich nicht einer von fünfen dagegen wäre.« »Ich bin mit vierundsechzig Prozent der Stimmen zum Gouverneur von Deluros VIII gewählt worden«, sagte Bellows. »Ich denke, das ist schon eine Art Mandat für meine eigene Urteilskraft.« »Mit dem ersten Teil bin ich einverstanden, Josh«, sagte Hill. »Es ist eine Art Mandat.« »Weißt du«, sagte Bellows grinsend, »du bist das einzige Mitglied meines Stabes, bei dessen Anblick ich mich unaufhörlich frage, ob es weise war, mich nicht mit Jasagern und Speichelleckern zu umgeben.« »Du bezahlst mich zu gut, als daß ich herumsitzen, am Daumen lutschen und dir ab und zu sagen dürfte, daß alles, was du tust, richtig ist.« Grunzend schwenkte Hill seine Beine vom Schreibtisch. »Jemand in dieser verdammten Verwaltung sollte dir die Wahrheit sagen.«
»Und die ist?« »Die Wahrheit ist, daß die Gefahr eines Amtsenthebungsverfahrens gegen dich weit größer ist, als du einsehen willst.« Bellows starrte ihn einen Moment lang an, und sein Gesicht blieb ungerührt. »Unsinn«, sagte er schließlich. Hill erhob sich. »Laß es mich wissen, wenn du den Rest meines Berichtes hören willst.« Er wandte sich zum Gehen. »Moment!« schnappte Bellows. »Setz dich auf deinen Stuhl und spuck’s aus!« Hill machte kehrt und nahm wieder Platz. »Soll ich anfangen?« fragte er. Bellows nickte. »Also gut. Du hast dich um den Gouverneursposten beworben, und deine Wahlkampagne hast du auf der These von der menschlichen Vorherrschaft aufgebaut. Das hat dein Gegner auch getan, aber du warst derjenige, der anfing zu verkünden, es sei die offenbare Bestimmung des Menschen, wieder die Galaxis zu beherrschen.« »Das ist Politik«, sagte Bellows. »No, Sir, das war nicht nur Politik. Politik wäre es gewesen, wenn du versprochen hättest, die Lemm auszurotten – oder irgendeine andere Rasse, die uns ein Dorn im Auge ist. Ein schneller Krieg, wie der, den wir von ein paar Jahrhunderten gegen Pnath geführt haben; er war völlig sinnlos, aber wir gewannen ihn mit Leichtigkeit, und danach trug jeder die Nase ein bißchen höher. Das ist Politik. Aber du hast mehr getan. Du hast ihnen einen Traum gegeben, das Versprechen, daß unsere Rasse wieder ihre alte Oberherrschaft zurückgewinnen wird. Du hast fast ein Jahr lang in dieses Horn geblasen. Nun, ich will zugeben, daß du dazu gezwungen warst, weil du sonst niemals gewonnen hättest, aber deine Wählerschaft hat dich auf diesen Platz gesetzt, und jetzt werden sie allmählich ungeduldig und warten darauf, daß du sie ins gelobte Land führst. Du bist jetzt seit fast drei Jahren im Amt, das sind
knapp sechzig Prozent deiner Amtszeit, und du hast noch nichts anzubieten. Deshalb«, fuhr er fort, »nehmen sie die Angelegenheit jetzt selbst in die Hand. Auf einigen Welten, die wir zusammen mit anderen Rassen bewohnen, hat es Pogrome gegeben; im Weltraum haben hier und da leichte Gefechte zwischen Schiffen von unseren Außenwelten und verschiedenen Alienschiffen stattgefunden; und die Legislative behandelt deine Empfehlungen inzwischen ziemlich schleppend. Die menschliche Rasse besitzt eine stehende Streitmacht von etwa sechzig Millionen Schiffen und zehn Milliarden Leuten in der gesamten Galaxis, und allmählich werden die Leute unruhig. Was deine Amtsenthebung betrifft, so fangen die Medien eben erst an, darüber zu reden, aber ich habe Köpfe gezählt, und es fehlen ihnen nur noch ungefähr zwei Dutzend Stimmen.« »Achtundzwanzig Stimmen«, korrigierte Bellows. »Das war letzten Monat«, beharrte Hill. »Josh, du kannst nicht einfach dasitzen und an deinen Füßen herumspielen. Du mußt etwas tun.« »Und was zum Beispiel?« fragte Bellows leise. »Was zum Teufel wollen sie denn? Daß ich Lodin XI und die CanphorZwillinge überfalle? Soll ich jeden Alien in der Galaxis abschlachten, nur damit sie zufrieden sind? Ich bin nicht der Präsident der menschlichen Rasse, weißt du. Ich bin bloß der Gouverneur eines Planeten.« »Deluros VIII ist mehr als ein Planet, und das wissen wir beide«, sagte Hill. »Seit die Verwaltung von Terra hierher verlegt wurde, sind wir zum sozialen, politischen und moralischen Zentrum der menschlichen Rasse geworden. Seit Jahrhunderten ist der Gouverneur von Deluros VIII der mächtigste Mensch in der Galaxis. Praktisch ist dieser Posten identisch mit dem des Präsidenten der menschlichen Rasse.
Wenn du einen Befehl gibst, wird ihn jede militärische Einheit von hier bis zum Rand ohne jeden Einwand befolgen; wenn unsere Konjunktur steigt oder fällt, folgt uns jede von Menschen besiedelte Welt innerhalb eines Jahres. Also erzähle mir nicht diesen Quatsch von der kleinen, unbedeutenden Welt, deren Gouverneur du bist.« »Alles, was ich je versprochen habe, war, daß ich dem Menschen seine Würde zurückgeben wollte«, sagte Bellows. »Ich habe gesagt, es sei unsere offenbare Bestimmung, zur Spitze emporzusteigen, und das ist es auch – aber nicht, indem wir die anderen Burschen in den Abgrund stürzen. Wir werden es schaffen, indem wir härter arbeiten, mehr produzieren, gerissener sind…« »Blödsinn! Dieses Versprechen könntest du nicht einlösen, wenn deine Amtsperiode zehntausend Jahre betrüge und du bis zum letzten Tag lebtest. Jetzt paß auf.« Hill faltete die Hände und löste sie wieder voneinander. »Du bist hübsch, wortgewandt und liebenswert zur Welt gekommen. Das meine ich ernst. Ich habe dich immer gemocht, und ich mag dich sogar jetzt noch, während du unser beider Karriere den Bach hinuntergehen läßt. Du kommst daher wie ein starker, aber liebevoller Vater, dem jeder automatisch vertraut. Überlaßt euren Schlamassel nur Josh; der wird sich schon drum kümmern. Das Problem ist: Du hast dieses Ding, das du dein Gehirn nennst, in deinem ganzen Leben noch nicht benutzen müssen. Gottähnlichen Vaterfiguren fällt alles in den Schoß, und wenn es einmal irgendwo Dreckarbeit zu erledigen gab, war immer jemand wie ich in der Nähe. Nicht daß wir etwas dagegen einzuwenden gehabt hätten. Aber jetzt bist du Gouverneur von Deluros VIII, und so, wie die Demokratie strukturiert ist, gibt es kein höheres Amt, das ein Mensch anstreben könnte. Jetzt mußt du Leistung zeigen – du kannst nicht mehr versuchen, dem Burschen über dir den Job
wegzunehmen. Und wenn du dich nicht dazu entschließen kannst, die gewünschten Aktionen durchzuführen, dann laß mich oder sonst jemanden es in deinem Namen tun, denn sonst werden diese schöngeschnittenen, edlen Züge und diese aristokratische Gestalt schneller aus den Geschichtsbüchern verschwinden, als du dir jetzt ausmalen kannst.« »Nun, ich werde ganz sicher auch nicht als derjenige Mensch in die Geschichte eingehen, der den ersten galaktischen Krieg entfesselte«, antwortete Bellows. »Ich habe nicht vor, der Nachwelt als größter wahnsinniger Völkermörder aller Zeiten im Gedächtnis zu bleiben.« »Es geht nicht um Völkermord«, erklärte Hill. »Es geht darum, daß man seine Gegnerschaft testet, daß man bohrt und stochert, bis man einen schwachen Punkt gefunden hat, und daß man dann die Lücke schließt und sich von neuem umschaut. Niemand verlangt, daß wir uns die Nase abschneiden, um unser Gesicht zu ärgern; wir brauchen die anderen Rassen nicht weniger als früher, vielleicht sogar mehr. Aber wir brauchen sie zu unseren Bedingungen, nicht zu ihren.« »Das haben wir alles schon einmal besprochen«, sagte Bellows und blätterte durch seinen Terminkalender. »Offensichtlich hat es bisher nicht viel genützt«, erwiderte Hill. »Verdammt, Josh, ich weiß, daß du Bedenken hast, aber der Gouverneur kann sich Unschlüssigkeit nicht leisten. Früher oder später mußt du es tun, und dann tu’s besser gleich.« »Wenn es auf unblutige Weise geschehen könnte, hätte ich nichts dagegen«, sagte Bellows. »Aber es geht um intelligente Lebewesen, Mel, und nicht um Figuren auf einem Schachbrett.« »Ich bitte um Verzeihung, aber wir alle sind nur Figuren auf einem Schachbrett. Der Erfolg oder der Mißerfolg eines
Politikers wird daran gemessen, wie gut oder wie schlecht er die Figuren hin und herschieben kann.« »Mel, wenn der Mensch die Galaxis beherrschen soll – und ich bin davon überzeugt, daß ihm dies bestimmt ist –, dann muß er es tun, indem er Führungskraft auf denjenigen Gebieten zeigt, die seinen wahren Wert repräsentieren: Fleiß, Würde und Verstand. Nicht die Demonstration simpler Stärke wird uns zu rechtmäßigen Herrschern machen – wenn damit überhaupt etwas bewiesen wird, dann nur, daß wir noch nicht reif dazu sind.« »Das ist wunderbare Rhetorik, Josh, und ich hoffe, daß du es in deine Memoiren schreiben wirst, aber es ist zugleich auch ein Haufen Gefasel aus dem Elfenbeinturm. Auch wenn Religion, Moral und Joshua Bellows etwas anderes sagen, ist der Mensch weder gut noch schlecht, weder rein noch unrein. Er ist nichts weiter als der Mensch, und seine Bestimmung, wenn er eine hat, ist es, das Beste aus seinen Talenten zu machen, ohne zu versuchen, sie zu bewerten. Wenn es ihm einfällt, nach den Sternen zu greifen, dann ist es seine Pflicht, das so gut und so effizient wie möglich zu tun. Wenn er dann versagt – gut; er hat sein Bestes getan. Aber der Mensch darf nicht einfach hübsche Platitüden hervorblubbern, während es in seinem Universum noch Dinge gibt, die er nicht erledigt hat. Ich habe gehört, daß man den Menschen als Gesellschaftswesen bezeichnet hat. Einige, die profunder dachten, haben daraus geschlossen, daß er ein politisches Wesen sei. Ich habe Frauen gekannt, die geschworen hätten, er sei ein sexuelles Wesen. Sie alle haben nicht völlig unrecht, aber bis zur Wahrheit sind sie auch nicht vorgedrungen. Der Mensch ist ein Konkurrenzwesen. Philosophen träumen von Utopien, in denen für jedes Bedürfnis gesorgt ist und wo es unbegrenzt viel Zeit zur Kontemplation gibt. Utopie, zum Teufel – das ist Wahnsinn! Der Mensch lebt jetzt in einer
Utopie, in einer Zeit nämlich, in der es so viele Herausforderungen gibt, wie er sich nur wünschen kann. Aber er kann die Herausforderungen erst annehmen, wenn du grünes Licht dazu gibst.« »Und du sagst, sie schicken sich an, mich aus dem Amt zu jagen, wenn ich es nicht tue?« »Sie wollen es nicht tun, Josh«, sagte Hill. »Bei deinem Magnetismus werden sie jeden Kurs unterstützen, den du einschlägst. Die Legislative ist mit dir viel glücklicher, als sie es ohne dich wäre. Aber du mußt schon mitspielen.« »Den Meinungsumfragen zufolge bin ich so beliebt wie eh und je«, sagte Bellows. »Was wäre, wenn ich sie zwänge, die Karten auf den Tisch zu legen, sich durchzusetzen oder die Klappe zu halten?« »Du würdest verlieren«, antwortete Hill, ohne zu zögern. »Deine Popularität basiert zu einem großen Teil auf Geschichten, die ich in den Medien lanciert habe: Unsere Streitkräfte zögen sich zusammen, und wir bereiteten uns allmählich darauf vor, unsere alte Position zurückzuerkämpfen. Wenn herauskommt, daß diese Stories getürkt sind, brauchst du nicht mehr auf die Legislative zu warten. Die Wähler werden dich eigenhändig auf die Straße setzen.« Bellows schickte Hill für eine Stunde weg, weil er eine andere Besprechung hatte, und rief den knorrigen Berater dann wieder in sein Büro. »Wo würdest du anfangen?« fragte der Gouverneur ohne Umschweife. »Ah«, sagte Hill und grinste. »Jemand anders hat dir das gleiche gesagt.« »Was sie mir gesagt haben, geht dich nichts an«, versetzte Bellows. »Du sollst mir hier nur Vorschläge machen.« Hill gluckste. »Anscheinend haben sie es dir in glühenden Farben geschildert. He? Okay, Josh, wie wär’s damit als unblutiger
Anfang: Laß alle Translatoren so umbauen, daß sie Terranisch, aber nicht mehr Galaktik-O übersetzen.« »Du bist verrückt!« explodierte Bellows. »Weißt du, was das für unseren Handelsverkehr bedeuten würde – ganz zu schweigen von unserem diplomatischen Corps? Niemand würde mehr verstehen können, was wir sagen.« »Sie würden es lernen«, sagte Hill leise. »Besser noch: Laß die Translatoren überhaupt verschrotten und verbiete GalaktikO. Zwinge die anderen Rassen, sich an unsere Spielregeln zu halten. Wir sind noch immer die mächtigste einzelne Militärund Wirtschaftsmacht in der Galaxis; früher oder später wird es in ihrem eigenen Interesse liegen nachzugeben.« »Aber bis dahin sprechen wir mit niemandem mehr, außer mit Menschen. Ist es das?« fragte Bellows. »Was glaubst du denn, wie lange es dauern wird?« konterte Hill. »Mehr als zweitausend Planeten sind in ihrer medikamentösen Versorgung von uns abhängig, und beinahe zehntausend benötigen Produkte von unseren Landwirtschaftswelten. Die übrigen werden sich vielleicht ein bißchen mehr Zeit lassen, aber es sind immerhin runde zwölftausend Welten, die innerhalb eines Monats Terranisch lernen werden. Und vergiß nicht: Dies ist nur ein symbolischer Akt, ein einfaches Mittel, uns in unserer Identität zu bestätigen.« »Betrachte es als abgelehnt«, sagte Bellows. »Es würde zuviel Verwirrung stiften, es würde die Hälfte der Methanatmer umbringen, mit denen wir kommunizieren, und außerdem will ich verdammt sein, wenn ich Millionen von Lebewesen von der lebenswichtigen Medizinversorgung abschneide, nur um einer Geste willen.« Hill atmete tief. »Also gut. Statt sie dir alle auf einmal vorzunehmen, nimm dir den größten vor.« »Was heißt das?« »Canphor VI und VII.«
»Willst du mir ernsthaft vorschlagen, ich solle einen Krieg mit den Canphor-Zwillingen vom Zaun brechen?« fragte Bellows empört. »Ich soll sie allesamt in die Hölle bombardieren, nur um mir die Legislative vom Hals zu schaffen?« »So ist es«, bestätigte Hill. »Mit Vorbehalt allerdings.« »Das ist immerhin tröstlich. Ich dachte nicht, daß du an irgendeinem Punkt Vorbehalte haben könntest.« »Wenn es um physisches oder politisches Überleben geht«, erwiderte Hill, »habe ich so viele Vorbehalte wie kaum jemand sonst. Mein Vorschlag ist nicht, daß wir die Canphor-Zwillinge oder eine andere Welt angreifen sollten. Wir müssen auch an unser Image denken.« »Wovon redest du dann?« »Ich schlage vor, daß wir einen Angriff der Canphor-Welten gegen Deluros VIII zurückschlagen«, sagte Hill. »Unter solchen Bedingungen hättest du doch keinen Einwand gegen einen Krieg mit ihnen, oder?« »Allerdings nicht«, sagte Bellows. »Aber ich glaube, sie werden uns ebensowenig angreifen wie wir sie.« »Es ist wirklich schade, daß ich nicht mit deinem Aussehen und dieser tiefen, gedankenvollen, sonoren Stimme zur Welt gekommen bin, Josh«, sagte Hill mit einem dünnen Lächeln. »Ich wäre noch zu Lebzeiten zu einem Gott geworden.« »Vermutlich erklärst du mir eben, wie dumm ich bin«, erwiderte Bellows trocken. »Richtig«, sagte Hill. »Nicht daß ich es dir vorwerfe. Deshalb hast du ja mich.« »Ich weiß eigentlich nicht genau, weshalb ich dich habe, aber ganz gewiß nicht, weil du für mich Kriege anstiften sollst«, erklärte Bellows mit Entschiedenheit. »Betrachte dieses Thema als beendet, bis ich es persönlich wieder aufgreife.« Hill verließ das Büro des Gouverneurs und kehrte in sein eigenes
zurück, wo ihn zwei seiner Mitarbeiter erwarteten. »Ging’s?« fragte einer. Hill schüttelte den Kopf. »Er begreift einfach nicht, wie tief er in der Tinte sitzt, und er ist vor allem zu human, als daß er irgend etwas unternehmen würde, um die Situation zu verbessern.« Er schloß die Augen. »Gott beschütze uns vor anständigen und moralischen Führern!« fügte er erbost hinzu. »Was jetzt?« fragte der andere. »Ich weiß es nicht genau«, sagte Hill. Er kratzte sich den Rest seines ehemals buschigen Haarschopfes. »Um der Menschheit und um seinetwillen sollten wir etwas unternehmen. Das Problem ist nur, daß er alles vereiteln kann, was ich tue.« »Wenn er es tut, wird man ihn an die Luft setzen, und Sie werden Gouverneur«, meinte der erste Assistent. »Was ist daran so schrecklich?« »Sie werden es kaum glauben«, sagte Hill und starrte den Mann an, »aber ich bin selbst nicht völlig frei von Idealen. Ich weiß, was der Mensch tun muß, und vieles davon wird nicht sehr angenehm sein. Wir brauchen einen Gouverneur wie Josh Bellows, einen, der uns davon überzeugen kann, daß alles, was wir zu erreichen versuchen, und die Mittel, die wir dazu verwenden, nicht nur akzeptabel, sondern grundsätzlich moralisch einwandfrei sind. Wenn Josh uns befiehlt, morgen zwanzig intelligente Rassen auszulöschen, werden wir die Gewißheit haben, daß es absolut richtig ist. Wenn ich es befehle, wird jedermann denken, ich sei ein machtbesessener Diktator, der an Größenwahn leidet. Die Leute brauchen einen Führer, den sie lieben, achten und – ja, verehren können, verdammt. Josh ist so einer, also müssen wir dafür sorgen, daß er derjenige ist, der den Stein ins Rollen bringt.« »Haben Sie schon einmal daran gedacht«, fragte einer der beiden Mitarbeiter, »daß der Grund für das hohe Ansehen, welches Josh genießt, in der Tatsache begründet ist, daß der
größte Teil dessen, was geschehen muß, für ihn völlig unvorstellbar ist?« »Dieser Gedanke ist mir in der Tat gelegentlich in den Sinn gekommen.« Hill grinste. »Wissen Sie, es sind miese Halunken wie ich, die den Lauf der Geschichte beeinflussen, aber es sind Leute wie Josh, die die Öffentlichkeit dazu bringen, daß es ihr gefällt.« »Ich frage noch einmal: Was jetzt?« drängte der zweite Mitarbeiter. »Nun«, meinte Hill, »es hat wohl nicht viel Sinn, wenn wir versuchen, Josh dazu zu bringen, wissentlich eine aktive Rolle in dieser Sache zu übernehmen. Er mag eine Menge altmodischer Skrupel haben, aber er ist nicht dämlich, und er wird sich zu nichts drängen lassen, was er nicht will. Wir werden für den Anfang einfach um ihn herumarbeiten müssen.« »Und wie?« »Ich bin nicht völlig ohne Befugnisse in diesem Verwaltungsapparat«, sagte Hill sanft. »Wer befehligt unsere Flotte im Canphor-System?« »Greeley.« »Schön.« Er ging hinüber zu einem Recorder, nahm das Mikrophon in die Hand und setzte sich. »An Admiral Greeley, 11. Flotte«, begann er. »Vertraulich.« Er wartete die üblichen fünf Sekunden ab, die erforderlich sein würden, damit Greeleys Daumenabdruck den Scrambler desaktivieren könnte. »Ich grüße Sie, Admiral. Hier spricht Melvyn Hill, Kommunikationscode…« Er hielt inne und warf einen Blick in sein Codebuch. »Code 47A3T98S. Angesichts dessen, was ich jetzt sagen werde, möchte ich, daß sie meinen Code und meinen Stimmabdruck mit ihren Datenspeichern überprüfen, damit Sie nachher bezüglich meiner Identität keinen Zweifel haben.« Er ließ ausreichend Zeit für einen
solchen Check verstreichen und fuhr dann fort. »Es ist uns zu Kenntnis gekommen, Admiral, daß eine Reihe von Piratenschiffen, die ihr Unwesen auf unseren Handelsrouten treiben, dabei unwissentlich von Canphor VI beschützt werden. Infolgedessen haben wir mit der Regierung von Canphor VI eine geheime Vereinbarung getroffen, welche besagt, daß alle nichtmilitärischen Schiffe, die unter den Farben dieses Planeten reisen, an Steuerbord zudem ein spezielles Emblem deutlich sichtbar zur Schau tragen werden. Die Form dieses Emblems ist« – er blickte auf die Figuren, die er in seinen Notizblock gekritzelt hatte, und wählte ein beliebiges Muster aus – »ein Achteck mit einem Kreis. Jedes nichtmilitärische Schiff, daß ein solches Emblem nicht trägt, ist wahrscheinlich ein Pirat. Ihre Aufgabe ist es, die ersten drei derartigen Schiffe, denen Sie begegnen, zu zerstören, und mir dann direkt Bericht zu erstatten. Unter keinen Umständen ist diese Angelegenheit auf irgendeiner Wellenlänge des Subraum-Radios zu besprechen, denn wir müssen befürchten, daß unser Funkverkehr zumindest teilweise abgehört wird. Zudem sind nicht mehr als drei Schiffe zu vernichten, denn diese vorläufige Aktion soll den beteiligten Parteien lediglich demonstrieren, daß unsere Schiffe nicht länger als leichte Beute zu betrachten sind. Eine umfassende Kampagne kommt erst später in Betracht. Viel Glück.« Er stellte den Recorder ab und warf die Kassette einem seiner Assistenten zu. »Bringen Sie das persönlich zu Greeley«, befahl er. »Gehen Sie erst wieder weg, wenn Sie sehen, daß er es in der Hand hält.« Er wandte sich dem anderen Mitarbeiter zu. »Von diesem Augenblick an wird alle Korrespondenz mit Aliens, die dieses Büro verläßt, in terranischer Sprache gehalten werden. Das gilt für Tapes wie auch für schriftliche Dokumente.« »Und was ist, wenn der Boß nein sagt?«
»Er hat sich um einen ziemlich großen Planeten zu kümmern. Ich glaube nicht, daß er sich die Mühe macht, etwas zu lesen, das von hier hinausgeht. Wenn er es doch tut, stellen Sie sich dumm, und schicken Sie ihn zu mir.« Hierauf entspannte Hill sich, ging seinen Geschäften nach und wartete auf den Bericht von Canphor VI. Nach weniger als einer Woche traf er ein. Mission ausgeführt. Weitere Instruktionen? Greeley Einige Augenblicke später stand er erneut in dem gediegenen Büro des Gouverneurs. »Vielleicht erklärst du mir mal, was zum Teufel hier eigentlich vorgeht?« verlangte Bellows. »Sir?« »Komm mir nicht mit deinem ›Sir‹, Mel! Die Regierung von Canphor VI tobt, weil wir angeblich drei von ihren Handelsschiffen abgeschossen haben, und von Greeley bekomme ich keine vernünftige Antwort. Er sagt immer nur, ich soll dich fragen.« »Ich habe Greeley nur gesagt, er soll ein Auge auf Piratenschiffe haben«, sagte Hill. »Seit einem Jahrhundert hat es in einem Umkreis von fünfzig Parsecs um das Canphor-System kein Piratenschiff mehr gegeben, und das weißt du«, schnappte Bellows. »Ich will eine Erklärung, und zwar rasch.« »Die kann ich dir erst geben, wenn ich die Angelegenheit untersucht habe«, behauptete Hill. »Vorläufig schlage ich vor, daß wir sofort eine ausführliche Entschuldigungsnote an Canphor VI schicken. Wenn es dir recht ist, werde ich das übernehmen. Ich schicke dir den Entwurf zum Abzeichnen.« Bellows starrte seinen Berater über den gewaltigen Schreibtisch hinweg an. »Ich weiß nicht, was du vorhast, Mel, aber im Augenblick bewegst du dich auf sehr dünnem Eis.
Ungeachtet vergangener Freundschaft werde ich nicht zögern, dich fallenzulassen, wenn ich es für nötig halte – und ich werde es für nötig halten, falls ein solcher Zwischenfall sich wiederholt.« Hill kehrte in sein Büro zurück, diktierte eine Entschuldigungsnote und schickte sie an Bellows. Kurz darauf kam sie mit dem Zeichen des Gouverneurs versehen zurück. »Okay«, sagte Hill zu seiner Sekretärin. »Schicken Sie das Ding ab.« »Auf Galaktik, Sir?« erkundigte sie sich. »Auf Terranisch«, antwortete er ruhig. Wenige Stunden später schickte die Regierung von Canphor VI eine Botschaft zurück: Die Entschuldigung sei nicht akzeptabel. »Was wird der Gouverneur dazu sagen?« fragte einer der Assistenten und betrachtete die transkribierte Antwort. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Hill. »Aber ich glaube nicht, daß er viel sagen wird.« »Ach? Wieso nicht?« »Weil ich bereits Kopien unseres Entschuldigungsschreibens sowie der Antwort von Canphor VI an die Medien gegeben habe.« Die Sprechanlage blinkte auf, und Hill drückte auf einen Knopf. »Hill hier.« »Mel, hier spricht Josh. Ich weiß nicht, weshalb Canphor VI deine Note abgelehnt hat, aber ich habe einen starken Verdacht. War sie in Galaktik abgefaßt?« »Das weiß ich nicht mehr«, sagte Hill. »Das war’s!« brüllte der Gouverneur. »Du hast zwei Tage Zeit, deine Angelegenheiten zu ordnen und dein Büro zu räumen. Du bist entlassen.« »Das würde ich der Presse aber erst in ein paar Stunden mitteilen, Josh«, bemerkte Hill. »Und weshalb?« »Weil es keine Schlagzeile bringen wird, bevor sie mit der Berichterstattung über Canphors Ablehnung fertig sind.« Ohne ein weiteres Wort unterbrach Bellows die Verbindung. »Wir
haben nicht viel Zeit«, sagte Hill zu seinen Assistenten. »In drei Stunden wird jeder Mensch im Deluros-System nach Krieg schreien, und morgen früh wird auch der Rest der menschlichen Welten nach Blut lechzen. Wenn Josh seinen politischen Skalp behalten will, muß er angreifen – und wie ich Josh kenne, wird er zaudern, bis es zu spät ist.« »Ich sehe nicht, was Sie dagegen tun könnten«, sagte einer der Assistenten. »Darum bin ich auch hier der Boß und nicht Sie«, erklärte Hill. »Schicken Sie die folgende Nachricht an Greeley. Unverschlüsselt.« Er machte eine Pause, um die Sätze im Geiste zu formulieren, und begann mit seinem Diktat: Admiral: Der Inhalt dieser Nachricht ist von so großer Dringlichkeit, daß wir keine Zeit zum Verschlüsseln haben. Der geplante Angriff gegen das Canphor-System wird in fünf Tagen stattfinden. Diese Verzögerung ist bedauerlich, aber der Großteil unserer Flotte ist im Manövereinsatz am Rand. Greifen Sie nicht – ich wiederhole, greifen Sie nicht vorher an, da Sie vor Rückkehr der Flotte keinerlei Unterstützung von Deluros VIII erwarten können. Sollten Sie irgendwelche Zweifel hinsichtlich Ihrer Befehle haben, kehren Sie unverzüglich zu Ihrer Basis nach Deluros V zurück. Melvyn Hill Assistent des Gouverneurs Hill sah auf. »Welches war die letzte Frequenz, die Canphor VI geknackt hat?« »H57, vor ungefähr einer Woche.« »Gut. Schicken Sie das über H57, aber auf Terranisch. Wir wollen ja nicht, daß es ihnen allzuleicht gemacht wird.«
»Und was ist, wenn Greeley angreift?« fragte ein Assistent. »Das wird er nicht tun«, antwortete Hill. »Er wird keine Ahnung haben, wovon ich rede. Also wird er blitzgeschwind zur Basis zurückkehren, gerade rechtzeitig, um bei der Verteidigung gegen die Flottenverbände von Canphor VI zu helfen.« Hill verließ sein Büro und spazierte lässig zu Bellows Räumen hinüber. Draußen vor der Tür rauchte er eine Zigarre, dann sah er auf die Uhr und entschied, daß sein Funkspruch inzwischen abgeschickt und abgefangen sein müsse. Also trat er ein. Die Sicherheitsbeamten waren bereits darüber informiert worden, daß er nicht mehr zum Stab gehörte, und versperrten ihm den Weg. Er mußte einen formellen Antrag stellen, den Gouverneur sehen zu dürfen. Eine Stunde lang ließ man ihn im Vorzimmer schmoren, bis er endlich eingelassen wurde. »Ich weiß nicht, weshalb ich meine Zeit mit solchen Dingen vergeude«, sagte Bellows. »Ich habe nichts mit dir zu besprechen.« »Aber ich habe eine Menge mit dir zu besprechen, Josh«, sagte Hill. »Zumal dies wahrscheinlich das letzte Mal ist, daß wir miteinander reden. Darf ich mich setzen?« Bellows starrte ihn durchdringend an und nickte dann. »Warum hast du das getan, Mel?« »Wahrscheinlich sollte ich sagen, ich habe es für dich getan«, antwortete Hill. »In gewisser Weise stimmt das auch. Aber vor allem habe ich es für die Menschheit getan.« Er machte eine Pause. »Josh, ich will dir keinen Schrecken einjagen, aber es wird nicht einmal einen Tag dauern, bis du einen Krieg am Halse hast. Es gibt keinen Ausweg für dich. Du kannst dich nicht drücken, also solltest du dich entschließen, ihn zu gewinnen.« »Wovon redest du?« wollte Bellows wissen. »Von Canphor VI«, erwiderte Hill. »Und möglicherweise auch von Canphor VII. Sie werden jetzt bald Deluros VIII angreifen. Es wird
wenig Mühe kosten, sie zurückzuschlagen, und wenig mehr Mühe, sie zu besiegen. Sie gehen von der Voraussetzung aus, daß wir ungeschützt sind.« Bellows streckte die Hand nach der Sprechanlage aus, aber Hill legte ihm die Hand auf den Arm. »Nichts überstürzen, Josh. Greeley wird vor ihnen zurücksein. Wahrscheinlich hat er schon jetzt alle Welt in Aufruhr versetzt. Laß uns noch ein paar Minuten über alles reden. Danach kannst du mit mir tun, was du willst.« Bellows ließ sich zurücksinken. Er kochte vor Wut. »Josh, ich werde dir jetzt nicht erzählen, wie das alles zustandegekommen ist. Es ist so simpel, daß du mir sowieso nicht glauben würdest, und außerdem wirst du mit mehr Kraft und moralischer Entrüstung im Video sprechen können, wenn du es nicht weißt. Worauf es ankommt, ist dies: Es hat angefangen. Der Mensch wird seine erste Sprosse auf der Leiter erklimmen, und du wirst in die Geschichte eingehen als der Bursche, der den Einfall gehabt hat. Weder deine Amtszeit noch dein Leben, ja, nicht einmal ein Jahrtausend wird ausreichen, um es zu vollenden, aber jetzt hat es angefangen, und es wird durch nichts mehr aufzuhalten sein. Du hast das Volk hinter dir«, fuhr Hill fort. »Und du hast die unerschütterliche Loyalität des Militärs. Diese Schlacht wird nicht mehr als ein kleines Scharmützel sein, und wie ich dich kenne, wirst du Canphor äußerst großzügige Bedingungen stellen, wenn es erst vorüber ist. Aber das mindeste, was die Legislative verlangen wird, ist, daß Canphor zu einem menschlichen Protektorat wird. Sie werden zunächst mehr fordern, aber ich denke, du wirst dich mit ihnen auf diesen Kompromiß einigen können. Was immer dabei herauskommt, die Canphor-Welten werden in Zukunft Steuern an Deluros VIII zahlen, und unsere Zölle werden ihren Statuswechsel reflektieren. Und wenn du erst herausgefunden hast, wie leicht das alles ist, wird es in dieser oder jener Form immer wieder
passieren. Du wirst auf einer Flutwelle der Begeisterung reiten, und du wirst sie entweder steuern, wohin sie sowieso strebt, oder du wirst innerhalb eines Monats aus dem Sattel geworfen werden. Du mußt sorgsam und umsichtig vorgehen und der Demokratie unaufhörlich deine Referenz erweisen. Vielleicht wird sie die galaktische Macht noch lange repräsentieren, aber die, Schrift steht an der Wand. Am Ende wird der Mensch es sein, der befiehlt.« »Ich weiß nicht, was du getan zu haben glaubst«, sagte Bellows. »Aber was immer es ist, es kann ungeschehen gemacht werden. Wenn eine angreifende Streitmacht von Canphor unterwegs hierher ist, dann werde ich dafür sorgen, daß sie zurückgerufen wird.« »Ja, ja«, sagte Hill. »Aber sie haben gehört, was zu hören sie erwartet haben, und sie werden nichts von dem, was du ihnen erzählen kannst, glauben.« »Sie werden mir glauben, wenn ich ihnen sage, daß wir bereit sind, den Angriff zurückzuschlagen.« »Ich fürchte, das werden sie nicht tun«, meinte Hill. »Es gibt keine Möglichkeit mehr, es aufzuhalten, Josh. Du solltest dir jetzt lieber überlegen, wie du den Leuten erklären willst, daß du genau der Führer bist, den sie sich schon immer gewünscht haben.« Hill stand auf und verließ langsam das Büro. Bellows verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, zu verifizieren, was man ihm erzählt hatte, und zwei weitere Stunden vergingen unter panischen, aber fruchtlosen Versuchen, den nahenden Konflikt abzuwenden. Als die Nacht sich herabsenkte, saß der Gouverneur von Deluros VIII allein in seinem halbdunklen Büro, die Hände vor sich gefaltet, und starrte auf seine Finger. Er dachte an Rücktritt, doch er wußte, daß dies sich auf die Flutwelle der Ereignisse nicht auswirken würde. Er erwog sogar, Hill zu
einem öffentlichen Geständnis zu zwingen, aber schon, als dieser Gedanke ihm in den Sinn kam, wußte er, daß das Volk Hills Unternehmung begrüßen würde. Bellows war von ganzem Herzen anständig. Er wollte niemanden vernichten. Er glaubte zutiefst daran, daß der Mensch durch die Kraft seiner eigenen Leistungen siegreich aus der galaktischen Entwicklung hervorgehen würde. Außerdem war die Menschheit gegenüber den anderen Rassen hoffnungslos in der Minderheit. Der Kurs, welchen Hill eingeschlagen hatte, würde äußerst gefahrvoll sein, und bei jedem Fehltritt würden grauenvolle Abgründe drohen… Der Mensch würde teilen und herrschen müssen, aber in einem Maßstab, den sich jetzt noch niemand vorstellen konnte. Und er würde lautlos vorgehen müssen, würde vor der Erfüllung seines Planes stehen müssen, ehe die Galaxis erwachte und sah, was geschah, denn sonst würde der Schuß nach hinten losgehen, und zwar mit Macht. Andererseits, wenn der Mensch befähigt war, einen solchen Plan zu vollbringen, hatte er es dann nicht auch verdient? Schließlich ging es hier im Grunde nicht um das Überleben des Stärksten, sondern um den Aufstieg des Stärksten. Die Rassen der Galaxis würden nicht aufhören zu funktionieren, und unter der Führung des Menschen würden sie voraussichtlich sogar noch besser funktionieren. Oder versuchte er jetzt, sich herauszureden? Der Mensch war fähig zu so prachtvollen Leistungen, zu solcher Großzügigkeit gegen andere Rassen – warum mußte er diese aggressive, dunkle Seite seiner Natur hervorbrechen lassen? Oder war es überhaupt nicht seine dunkle Seite? Machte der Mensch vielleicht nur, wie Hill gesagt hatte, das Beste aus allen seinen Attributen, dieses eingeschlossen? Bellows streckte die Hand nach dem Sprechknopf aus, der die Presse herbeirufen würde.
Während die Reporter nach und nach in sein Büro kamen, traf er seine Entscheidung – oder, so dachte er mit amüsiertem Gleichmut, er erkannte endlich an, daß jemand anders die Entscheidung längst für ihn getroffen hatte. Sicher besaß er viele andere Qualitäten – Güte, Weisheit und Integrität –, aber sie alle hatten ihn in dieser Krise im Stich gelassen; was ihm geblieben war, war die wichtigste Qualität, die jeder Politiker besaß: Überlebenswille. »Meine Herren«, begann er und starrte sie mit seinen klaren blauen Augen unerschütterlich an. »Wie ich soeben erfahren habe, hat die Kriegsflotte Canphor VI verlassen, um einen heimtückischen Überfall gegen Deluros VIII zu führen. Weder wir noch irgendwelche anderen Planeten, die die Rasse Mensch beherbergen, werden eine solche nicht provozierte Aktion hinnehmen oder ihr nachgeben. Ich habe daher die siebte, die neunte, die elfte und die achtzehnte Flotte angewiesen, die folgenden Schritte…«
SECHSTES MILLENNIUM OLIGARCHIE
11: Die Administratoren (Eine Erwähnung der Administratoren an sich findet sich weder in Der Mensch… noch in Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen.) Die Demokratie starb nicht schnell, und das wollte der Mensch auch nicht unbedingt. In dem Augenblick, da der legendäre Joshua Bellows den gescheiterten Angriff der CanphorZwillinge gegen Deluros VIII zurückgeschlagen, kurz hintereinander mehrere Kämpfe gewonnen und schließlich das gesamte System von Canphor unter Kriegsrecht gestellt hatte, war die Schrift an der Wand erschienen. Zum zweiten Male in der galaktischen Geschichte war der Kartographiekomplex auf dem fernen Caliban zum wichtigsten Einzelfaktor in der Expansionsbewegung des Menschen geworden, aber diesmal war es ein reifer Mensch, einer, der den bitteren Nachgeschmack allzu rapider Expansion kannte, als er begann, sein Imperium um sich herum zu sammeln. Diese Expansion war nicht der Erfolg von Zufallstreffern. Diesmal wurden nicht strategische Systeme zur Strecke gebracht und dann neue Herausforderungen angenommen, viele Parsecs weit entfernt. Der Mensch war jetzt gründlicher, methodischer, und er ging mit verbissener Zielstrebigkeit zu Werke. Gleichzeitig verbreitete er sich von Deluros VIII, Terra und Sirius V aus in alle Richtungen und nahm sich jede Welt, die auf seinem Wege lag. Wenn sich ihm eine größere Militärmacht entgegenstellte – wie es bei Lodin XI geschah –,
vernichtete er sie, aber allgemein bevorzugte er die nachhaltigere, verheerendere Methode des Wirtschaftskrieges, um rebellische Welten zur Räson zu bringen. Als das vierte Jahrtausend seines galaktischen Einflusses dem Ende zustrebte, beherrschte der Mensch fast die Hälfte der von intelligenten Wesen bevölkerten Welten der Galaxis, obgleich die Demokratie noch immer existierte. Zehn weitere Jahrhunderte vergingen, und er war im Besitz – entweder militärisch oder ökonomisch – von rund achtzig Prozent der bewohnten Planeten, und die Demokratie starb ohne ein Wimmern. An ihre Stelle trat die siebensitzige Oligarchie. Nach außen hin gab es keinerlei Einschränkungen bezüglich der Sitze, aber es waren ausnahmslos Menschen, die sie innehatten, und so war es gewesen, seit man die Oligarchie ins Leben gerufen hatte. Unter diesem Wechsel hatten die Aliens allerdings nicht zu leiden, denn der Mensch war immer noch ein Macher, ein Erbauer, eine treibende Kraft, und er kümmerte sich mit größerer Umsicht um seine Besitzungen, als es die von Aliens dominierte Demokratie getan hatte. Die Verwaltung des oligatorischen Imperiums war keineswegs eine leichte Aufgabe, und tatsächlich verbrachte und steuerte sie mehr als zwei Jahrhunderte lang die Energien des Menschen, was angesichts dieses unermeßlichen Unternehmens nicht erstaunt. Im Morgengrauen der oligarchischen Ära gab es zirka 1400000 bewohnte Planeten in der Galaxis, 1150000 davon befanden sich mit Eifer, willig, stillschweigend oder sich sträubend unter der politischen und ökonomischen Oberherrschaft der Oligarchie. Die Probleme, die ein solches Imperium präsentierte, waren gewaltig. So zahlten beispielsweise alle Mitgliedswelten Steuern. Obgleich die planetarischen Regierungen die fiskalische Verantwortung zu tragen hatten, arbeiteten sie unter
der Oberaufsicht der Oligarchie, welche zu diesem Zwecke durchschnittlich zwanzig Leute auf jedem Alien-Planeten und fünfzig auf jedem hauptsächlich von Menschen besiedelten Planeten einsetzte. Dies bedeutete, daß allein die Steuerbehörde mehr als fünfundzwanzig Millionen Außenstellenmitarbeiter und weitere sechs Millionen Angestellte in der Zentrale beschäftigen mußte. Wie alle Behörden war sie hoffnungslos unterbesetzt. Die Militärbürokratie dehnte sich rasch zu unorganisierbaren Dimensionen aus. Die Oligarchie hatte eine stehende Einsatztruppe von etwa fünfundzwanzig Milliarden Soldaten geerbt. Wenn auch nur die Hälfte davon demobilisiert worden wäre, nachdem die Demokratie ihren Geist aufgegeben hatte, hätte dies die Ökonomie von buchstäblich Hunderttausenden von Welten zerstört, und so blieben diese Leute in den verschiedenen Abteilungen einer Truppe, die in Friedenstagen mehr Offiziere zählte als je zuvor in den Zeiten des Krieges. Die Landwirtschaft verursachte ein spezielles Problem. Eine Mißernte konnte es nicht mehr geben – nicht bei über fünfzigtausend landwirtschaftlich genutzten Welten. Aber die Schaffung gleichmäßiger Tarife und die Kanalisierung bestimmter Erzeugnisse zu bestimmten Planeten waren unglaublich komplizierte Aufgaben. Ein Nebenprodukt war das Wiederauftreten weitverbreiteter Drogensucht, deren Bekämpfung durch die Tatsache, daß der Anbau schädlicher Pflanzen nicht kriminalisiert werden konnte, zusätzlich erschwert wurde. Beispielsweise empfanden die Eingeborenen von Altair III Weizen als überaus starkes Stimulans und Halluzinogen, während Opium ein Grundnahrungsmittel für die Bewohner von Aldebaran XIII war. Schon nach zwei Jahrzehnten war die Bürokratie über die Grenzen von Deluros VIII hinausgewachsen, obwohl dieser Planet einen Durchmesser von achtundzwanzigtausend Meilen
hatte. Die Kartographen bestätigten, daß es zwar eine Handvoll größerer Planeten gab, die für die Besiedlung durch Menschen geeignet waren, doch keiner davon sei groß genug, als daß es gerechtfertigt sei, Deluros VIII zu verlassen. Schließlich aber fand man eine zufriedenstellende Lösung, und kurz danach wurde sie in die Tat umgesetzt. Deluros VI, ein anderer großer Planet, der allerdings nicht ganz die Ausmaße des OligarchieHauptquartiers besaß, wurde mit einer Anzahl sorgsam angebrachter, extrem starker Explosionsladungen zersprengt. Die kleinen sowie die unregelmäßigen Trümmer wurden sodann gänzlich vernichtet. Die verbleibenden achtundvierzig Planetoiden, ein jeder von der Größe des terranischen Mondes, wurde Sitz der großen Behörden der Oligarchie. Auf jedem der Planetoiden wurden Kuppeln errichtet, Komplexe, die ihre gesamte Oberfläche bedeckten, wurden erbaut und Lebenserhaltungssysteme installiert. Innerhalb eines halben Jahrhunderts war beinahe die gesamte Verwaltungsbürokratie von Deluros VIII auf einen der Deluros-VI-Planetoiden umgesiedelt. Die Orbits waren aufeinander abgestimmt worden, die Planetoiden umkreisten den riesigen Deluros viele Millionen Meilen weit voneinander entfernt, und Zehntausende von Schiffen jagten täglich zwischen der Heimatwelt der Oligarchie und ihren achtundvierzig Außenstellen hin und her. Hier kreiste Handel, ein massiver, rotbrauner Felsbrocken, dessen Milliarden von Stahl-und-Plastik-Büros das Sonnenlicht blendend reflektierten; dort jagte der kleinste der Planetoiden, Erziehung und Soziales, dahin und rotierte alle sechzehn Stunden einmal um seine Achse. Auf der anderen Seite der Sonne befand sich der gigantische Militärkomplex; er beanspruchte vier ganze Planetoiden und drohte schon wieder an Platzmangel zu ersticken. Auf halber Strecke zwischen Tag und Abend lag der Planetoid der Untersuchungsbehörde. Bei zirka achtzig
Millionen bürokratischen Aufträgen pro Jahr, einem gewaltigen Drogenhandelsverkehr und diversen Aktionen rebellischer Aliens konnte man kaum sagen, daß es dieser Behörde an Arbeit mangelte. Keiner der Planetoiden hatte mit seiner Arbeit leichtes Spiel. Die Kommunikationsbehörde zum Beispiel hatte den ersten Erlaß der ersten Oligarchen in die Tat umzusetzen: Terranisch wurde zur Amtssprache. Der Finanzplanetoid hatte unablässig damit zu tun, die Tendenzen zwischen Inflation und Depression auszugleichen, und die Tatsache, daß es im oligarchischen Imperium eine solche Vielzahl von Welten und somit keine Einzelsubstanz gab, die selten genug gewesen wäre, als daß man sie zur allgemeinen Währung hätte erheben können, erleichterte diese Aufgabe nicht. Die Arbeitsbehörde widmete sich zu vier Fünfteln dem Problem, die Bergleute bei Laune zu halten, ohne ihnen allzuviel Macht zu überlassen. Niemand wußte genau, was sich eigentlich auf dem Wissenschaftsplanetoiden abspielte, aber dort standen einhundertzweiundzwanzig riesige Gebäude, jedes von ihnen Hunderte von Meilen lang. Hier beschäftigte man sich mit den einhundertzweiundzwanzig Hauptwissenschaften, und nirgends schien Langeweile zu herrschen. Aber als Ulice Ston aus ihrem Fenster auf die funkelnden, schimmernden Miniwelten hinausblickte, wußte sie, daß die Behörde für Alien-Angelegenheiten im Augenblick von allen das größte Problem zu bewältigen hatte und daß sie als Direktorin der Behörde für Alien-Angelegenheiten dieses Problem bewältigen mußte. Ihre Hauptarbeit galt der juristisch einwandfreien Formulierung, der Vergabe von Empfehlungen zur Ratifikation und schließlich der Durchsetzung einer runden halben Million Verträge pro Jahr. Alle Kriege, an denen keine Menschen beteiligt waren, gehörten gleichfalls zu ihrer Domäne,
außerdem Beschwerden über die Mißhandlung von Aliens. Und, so dachte sie seufzend, Bareimus. Der Fall Bareimus – schlicht gesagt – stank zum Himmel. Von Rechts wegen hätte sich die Wissenschaft oder vielleicht auch eine Abteilung des Militärs damit beschäftigen müssen, aber da das Problem Aliens betraf, gehörte es ihr. Und es war ein teuflisches Problem. Bareimus war ein Stern, der ungefähr acht Parsecs vom Binder-System entfernt war. Er hatte sieben Planeten, die ihn in Abständen von vierunddreißig bis zweihundertachtzig Millionen Meilen umkreisten. Zwei dieser Planeten waren bewohnt, fünf gänzlich ohne Leben. Die Astronomiebehörde hatte – mit Hilfe von Methoden, die sie nicht einmal ansatzweise verstand – festgestellt, daß Bareimus im Begriff war, innerhalb von zwei Jahren zur Nova, möglicherweise gar zur Super-Nova, zu werden. Ihre Aufgabe war es, die einheimische Bevölkerung von Bareimus III und V zu evakuieren, bevor die Katastrophe stattfand. Die Eingeborenen von Bareimus V, eine friedfertige, philosophisch orientierte Rasse von Chloratmern, waren mehr als erfreut darüber, sich unter einer stabilen Sonne ansiedeln zu können, und das Problem war lediglich logistischer Natur. »Lediglich«, überlegte sie, war allerdings kaum ein angemessenes Attribut bei der Beschreibung der Umsiedlung von zirka zwei Milliarden Individuen mitsamt ihres Besitzes, die innerhalb eines Jahres quer durch die halbe Galaxis transportiert werden mußten. Ihre Sorgen aber – und ihr aufblühendes Magengeschwür – wurden von Bareimus III verursacht. Es gab niemanden in der Behörde, ja, niemanden innerhalb der Oligarchie, der zu dieser Angelegenheit keine Meinung gehabt hätte – bis auf eine erwähnenswerte Ausnahme: Die Psychologen vermochten
nicht zu einer kollektiven Ansicht zu gelangen, und hier lag die Wurzel des Problems. Das Ganze hatte etwa fünf Jahre zuvor begonnen, als ein botanisches Forschungsschiff auf einer Lichtung neben einer der dichter bewaldeten Regionen von Bareimus III gelandet war. Die Besatzung hatte geglaubt, inmitten einer üppigen, grünen Vegetation zu landen, aber als man von Bord ging, stellte sich heraus, daß das Schiff auf einem kleinen, unfruchtbaren Lehmplatz gelandet war. Niemand hatte sich darüber den Kopf zerbrochen, bis die Biologen damit begannen, Proben einzusammeln, um sie ins Labor zu schaffen – und einige der kleinen, grünen Pflanzen, denen sie sich näherten, die Flucht ergriffen. Es gelang ihnen schließlich, ein paar davon einzufangen, indem sie ein großes Netz über sie warfen, und als sie die Pflanzen ein wenig später zum Schiff tragen wollten, stellten sie fest, daß sie wieder festgewurzelt waren. Sie gruben die Pflanzen mitsamt dem Boden aus, brachten sie ins Schiff und stellten fest, daß es sich um halbe Fleischfresser handelte. Sie mußten keine Insekten und Nagetiere verspeisen, aber sie konnten es tun, und in der Tat schienen sie besser zu gedeihen, wenn ihr Speisezettel eine gelegentliche Bereicherung durch kleines Getier erfuhr. Nach solchen Mahlzeiten wirkten sie gesünder und lebendiger. Auch ihre Farbe leuchtete dann kräftiger, was einen der Biologen dazu verführte, sie Grünies zu nennen, und dieser Name blieb an ihnen hängen. Der nächste ungewöhnliche Zwischenfall ereignete sich ein wenig später bei derselben Forschungsexpedition, als ein Botaniker eine noch glimmende Zigarre achtlos auf den kahlen Boden warf, der noch Sekunden vorher mit Grünies bedeckt gewesen war. Als die Zigarre durch die Luft flog, huschten die Grünies davon und ließen ihr weiten Raum. Die Neugier des Botanikers war erwacht; er
kehrte zum Schiff zurück, zündete eine Zigarre an und hielt sie in die Nähe der Grünies. Sie reagierten nicht. Er ließ sie auf eine der Pflanzen fallen. Obwohl der untere Teil des Stiels böse Verbrennungen davontrug, machte die Pflanze keinerlei Anstalten, ihre Wurzeln einzuziehen und zu fliehen. Weitere Experimente erwiesen, daß die Muster-Grünies an Bord des Schiffes nichts von jenem Selbsterhaltungsinstinkt zeigten, den sie in ihrer natürlichen Umwelt hatten erkennen lassen, und ein belohnungsorientiertes Experiment unter Verwendung von Kleintieren veranlaßte sie nicht zu einem Verhalten, das sich von dem exotischer Vettern der Venusfliegenfalle unterschieden hätte. Die Experimente und Beobachtungen wurden notiert, aufgezeichnet und vergessen. Dann, etwa zwei Jahre danach, landete wieder ein Schiff im Bareimus-System. Während ihres Aufenthaltes unter den Chloratmern von Bareimus V entdeckte die Besatzung einen Defekt an den Lebenserhaltungssystemen, und da die einheimische Bevölkerung keine Hilfe anbieten konnte, schickte man eine Nachricht an den nächstgelegenen Planeten, von dem zu erwarten war, daß er zu einer Reparatur in der Lage sein würde, und beschloß, die Ankunft des Rettungsschiffes auf Bareimus III abzuwarten, wo es nicht nötig sein würde, den begrenzten Sauerstoffvorrat aufzubrauchen. Die Beobachtungen, die die Besatzungsmitglieder mit den Grünies machten, waren mit denen aus den ersten Berichten identisch, obgleich diesmal niemand Experimente unternahm. Nach ihrer Rückkehr ins Deluros-System übermittelten sie ihre Beobachtungen an den Biologie-Planetoiden, und schließlich stellte jemand, dessen Interesse groß genug war, alles zu lesen, sämtliche Berichte zusammen, und daraufhin wurde eine weitere Expedition nach Bareimus III entsandt, deren ausschließliche Aufgabe es diesmal war herauszufinden, was hinter den Grünies steckte.
Das Schiff landete, und die Wissenschaftler fanden die Berichte über die Verhaltensweisen der Grünies bestätigt. Fünf der Pflanzen wurden »gefangen« und in das Treibhaus des Schiffes geschafft, wo sie auf keinerlei Reize mehr reagierten. Sie wurden gekennzeichnet und wieder dorthin zurückgebracht, wo man sie gefunden hatte, zwischen Tausenden anderer Grünies. Und hier, zwischen ihren Artgenossen, reagierten sie wieder auf Hitze und andere Bedrohungen. Das Experiment wurde viele Male mit verschiedenen Grünies wiederholt, und die Resultate waren jedesmal identisch. Unter Laborbedingungen verhielten sie sich wie normale Pflanzen, aber in ihrer natürlichen Umgebung trachteten sie danach, sich unter allen Umständen vor Gefahren zu schützen. Als nächstes verlegte man eine Anzahl Grünies nicht in das Treibhaus des Schiffes, sondern in ein Gelände, das ein paar Meilen weit von den anderen Grünies entfernt war. Sie reagierten noch immer, jetzt jedoch langsamer, als seien sie verwirrt. Ihre Ratlosigkeit steigerte sich proportional zum Abstand zu ihren Artgenossen und ihrer Heimatkolonie, und als sie genau 5127 Kilometer weit davon entfernt waren, wurden sie abermals regungslos. Im nächsten Schritt verpflanzte man größere und immer größere Mengen von Grünies etwa sechs Kilometer weiter. Als man von den elftausendfünfhundert einer Kolonie etwa zweitausend verpflanzt hatte, begannen sie zu reagieren, aber wiederum äußerst träge und in offensichtlicher Konfusion. Mit dem Wachsen ihrer Zahl stieg auch ihre Effizienz, bis – bei 4367 Grünies – ihre Funktionsfähigkeit ebenso groß war wie die der ursprünglichen Kolonie, wohingegen in dieser alle Reaktionen erstarben, als ihre Zahl auf zirka eintausendfünfhundert reduziert wurde. Die Implikationen dieser Resultate waren atemberaubend. Hier wirkte zweifellos ein Gruppenverstand. Jede Pflanze
fungierte als einzelne Zelle in einem Gehirn. Bei nur eintausendfünfhundert Zellen existierte lediglich ein Verstandspotential, bei zweitausend Zellen gab es kinetische, aber unbalancierte Reaktionsleistungen, und bei 4367 und mehr Zellen war die Leistungsspitze erreicht. Der Massenverstand der Grünies war ein Phänomen, welches in der Galaxis bis dahin unbekannt gewesen war, selbst unter den wenigen Rassen, die telepathische Fähigkeiten besaßen. Das nächste Problem, dem sich die Wissenschaftler gegenüber sahen, war von gleicher oder noch größerer Bedeutung. Wenn man einräumte, daß die Grünies als Gruppe über eine Art von Verstand verfügten, waren sie dann auch intelligent? Ein funktionierendes Hirn war noch kein Beweis für das Vorhandensein einer bewußten Intelligenz; auf jede intelligente Lebensform, die der Mensch gefunden hatte, kamen Tausende andere, denen die Fähigkeit zu abstraktem Denken fehlte. Die Aufgabe war verzwickt und kompliziert, denn bisher hatte man noch nie eine Vegetation entdeckt, die auch nur durch Andeutungen hätte erkennen lassen, daß sie die Kapazität der Grünies zu intelligentem Handeln besaß. Niemand wußte also, wie man eine Pflanze auf mögliche Intelligenz untersuchen konnte. Zahllose Belohnungssituationen wurden entwickelt, gewöhnlich unter Verwendung kleiner, auf Bareimus III beheimateter Nager. In allen Fällen entwickelten die Grünies Methoden, sie zu fangen. Aber waren sie deshalb intelligent? Oder waren sie nichts als eiskalte, effiziente Jäger mit Tausenden von Sinnesorganen? Das wußte niemand. Eine ganze Grünie-Kolonie wurde zum Biologie-Planetoiden befördert und dort studiert. Tausende von Botanikern und Psychologen entwickelten buchstäblich Millionen von Tests. Die meisten davon wurden augenblicklich verworfen, aber jene, die durchgeführt wurden, erbrachten keine erkennbaren
Resultate. Die Grünies lösten fast jedes Labyrinth- oder Jagdproblem, das man sich ausdachte, aber sie zeigten kein Interesse für andere Dinge. Sie erfanden Auswege aus Ernährungsschwierigkeiten, an denen selbst der Mensch gescheitert wäre, aber wenn sie ihre Nahrung dann zu sich genommen hatten, wurden sie geistig träge und unbeweglich. Sie ließen sich auch nicht spalten: Wenn man die eine Hälfte der Kolonie mit Nahrung versorgte und die andere hungern ließ, rief dies keinen Gemüsekrieg im kleinen hervor. Und, so folgerten die Wissenschaftler, warum hätte es das auch tun sollen? Wenn die Hälfte eines Gehirns zu wenig Blut oder Sauerstoff bekommt, greift sie ja auch nicht zu den Waffen und fällt über die andere Hälfte her. Niemand jedoch war ganz und gar von der Intelligenz der Grünies überzeugt. Es lag einfach daran, daß niemand in der Lage war, sich vorzustellen, welche Art von Gedanken den Verstand der Grünies erfüllen könnten. Man zog Telepathen vom fernen Planeten Domar hinzu; sie alle stimmten darin überein, daß hier geistige Aktivitäten einer bestimmten Art vorhanden seien, einer so fremden Art jedoch, daß keiner von ihnen einen Kontakt dazu herstellen oder auch nur annähernd ergründen konnte, wie sie funktionierten. Dies war der Stand der Dinge, als man entdeckte, daß Bareimus im Begriff war, zur Nova zu werden. Und weil niemand wußte, was die Grünies waren oder nicht waren, hatte man das Problem aufatmend an Ulice Ston weitergegeben, die noch niemals einen Grünie zu Gesicht bekommen hatte und so gut wie keine Kenntnisse in Botanik oder Alien-Psychologie besaß. Als erstes hatte sie die Kosten und die Logistik für eine Evakuation der Grünies von Bareimus III ermitteln lassen. Dazu waren Vorkosten von über zwei Milliarden Credits erforderlich, die allein auf die Lokalisierung und
Kartographierung der Grünie-Kolonien verwandt wurden. Sodann wurde die Kartographie beauftragt, eine Welt ausfindig zu machen, die hinsichtlich ihrer Atmosphäre und ihrer Schwerkraft mit Bareimus III vergleichbar war. 3096 Planeten entsprachen den Voraussetzungen, aber nur auf vieren gab es die erforderliche Insekten- und Nagetierpopulation. Meistens verursachte eine Evakuation keine ökologischen Probleme auf dem neuen Planeten, aber wie in jeder anderen Hinsicht waren die Grünies auch hier eine Ausnahme: Sie pflegten sich von lebendem organischem Material zu ernähren, und fünfundvierzig Milliarden transplantierte Grünies würden das ökologische Gleichgewicht eines Planeten in jedem Falle empfindlich stören. Damit fielen zwei der vier Planeten aus. Auf den anderen beiden indes schien es so viele Pflanzenfresser zu geben, daß erhebliche Zweifel an der Überlebensfähigkeit der Grünies in einer so räuberischen Umwelt gerechtfertigt waren. Außerdem – falls sie intelligent waren, durfte man sie überhaupt nicht in einer Umwelt ansiedeln, in der sie um ihr Überleben würden kämpfen müssen. Auf Ulices Vorberichte hin arrangierten die Psychologen eine Reihe weiterer Experimente, in denen unterschiedliche Pflanzenfresser auf die Grünies losgelassen wurden. Die meisten von ihnen verschmähten die kleinen Pflänzchen, aber die wenigen, die sich daran interessiert zeigten, sie zu verspeisen, brauchten sie nur einzufangen. Die Grünies, so folgerte man, mochten vielleicht Meister des Ausweichmanövers sein, aber an offensiver oder defensiver Bewaffnung, die gegen Größeres als ihre normale Beute wirksam eingesetzt werden konnte, ermangelte es ihnen. Als die erste Phase ihrer Aufgabe abgeschlossen war, gab Ulice ihre Empfehlungen ab: Falls die Grünies eine intelligente Spezies waren, mußten sie notgedrungen evakuiert
werden. Falls sie evakuiert werden mußten, war ein künstlicher Planetoid zu beschaffen, der ihnen die Bedingungen ihres Heimatplaneten bot. Die Evakuierung aller Grünies würde etwa eine Million Mitarbeiter erfordern, die fünf Monate lang in Schichten rund um die Uhr arbeiteten. Man würde sie, wiederum in Schichten, auf mindestens zweitausend, besser aber dreitausend Frachtschiffe verladen müssen. Schneller, so schloß der Bericht, sei diese Operation nicht durchzuführen, denn zusätzlich zu fünfundvierzig Milliarden Grünies müsse die Oligarchie auch die gesamte Nagerpopulation von Bareimus III sowie die meisten der dort lebenden Insekten evakuieren. Ulice war nicht überrascht, als man sich an ihre Empfehlungen nicht hielt. Die Oligarchie versicherte ihr, daß sie für die Umsiedlung der Rasse und für alles, was diese zum Überleben brauche, keine Kosten scheuen würde, wenn die Grünies intelligent wären. Aber im Lichte des phänomenalen Aufwandes an Menschen und Kapital könne man eine solche Aktion einfach nicht autorisieren, solange nicht zweifelsfrei feststehe, daß es sich bei den Grünies um intelligente Wesen handele. Sie verlangte eine klare Stellungnahme von den Psychologen und erhielt ein vages »kann sein«. Allgemein war man der Auffassung, daß die Grünies sehr wohl eine gewisse Art von Intelligenz besäßen, aber sie seien so anders, so fremdartig in ihrer ganzen Erscheinung, daß eine objektive Antwort auf diese Frage erst möglich sei, wenn man weitere, schlüssige Tests entwickelt und durchgeführt habe… Die Militärs informierten sie mit höflichem Bedauern, daß sie ihr zwar mit Vergnügen zur Hand gehen wollten und sicherlich auch in der Lage wären, die Evakuation mit weniger Leuten und in kürzerer Zeit durchzuführen, als sie veranschlagt hatte, aber ihr Etat sei schon jetzt so gut wie ausgeschöpft, und nur mit knapper Not gelinge es ihnen, ihren profanen Alltagsaufgaben
nachzukommen. Selbstverständlich, so fügten sie hinzu, falls sie der Oligarchie einen Exekutivbefehl und dazu vielleicht noch eine großzügige Finanzierungszuweisung abringen könne, tja, dann sei man nur allzu gern bereit, helfend einzuspringen… Die Finanzbehörde teilte ihr kalt mit, daß sie über weit mehr als das erforderliche Kapital verfüge, und selbstverständlich werde sie für den Schutz einer Rasse, die unter die Sanktionen des Oligarchischen Rechtes falle, jede Summe zahlen. Ob die Grünies in den Kreis der geschützten Rassen zu rechnen seien? Nein? Nun, dann sei die Lage schon ein wenig schwieriger, aber sie brauche ja nur eine offizielle Erklärung der Psychologen zu beschaffen, in der bestätigt werde, daß die Grünies eine intelligente Rasse seien. Dann werde das Geld wie Wasser fließen… Die Behörde für Erziehung und Soziales wußte nicht, wie sie helfen sollte, aber falls jemand einen Weg fände, sich mit den Grünies zu verständigen, würde man mit Freuden tun, was sie könnte. Könnte sie unterdessen möglicherweise ein paar der Forschungsergebnisse, die Botaniker und Psychologen zusammengetragen hatten, herüberschicken, so daß man die Grünies in die Bücher und Tapes aufnehmen könnte…? Nur die Medien kamen ihr zu Hilfe. Mit einmütiger Kampfeslust nahmen sie den Fall der Grünies auf. Schon nach wenigen Wochen gab es auf jedem Planeten einen »Rettet-die-Grünies!«-Ausschuß, und in drei Universitäten kam es tatsächlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wegen des mangelnden Engagements der Oligarchie. Was die Alien-Rassen betraf, so hatten sie ihre eigenen Probleme und dachten überhaupt nicht daran, ihren Kopf für eine Rasse von Pflanzen hinzuhalten, die unter Umständen intelligent waren. Außerdem war ihnen der intellektuelle Status der Grünies, falls vorhanden, ebenso fremd wie dem
Menschen… So kam es, daß das Problem in ihrer Behörde und auf ihrem Schreibtisch blieb. Gelegentlich fühlte sie sich versucht zu erklären, die Grünies seien nicht intelligent, und dann ihre Hände in Unschuld zu waschen, aber wie jedermann hegte auch sie den heimlichen Verdacht, daß die Grünies sehr wohl denken konnten. Schließlich, wer konnte wissen, mit welchen Gedanken eine Pflanze sich beschäftigte? Es gab keinen Zweifel daran, daß die Psychologen zusammen mit den Botanikern früher oder später den Status der Grünies bestimmen würden. »Später« allerdings würde es den Grünies nichts mehr nützen. Wenn man berücksichtigte, wieviel Zeit nötig sein würde, um die Räder der Evakuation und des Planetoidenbauens in Gang zu setzen, und wenn man zusätzlich einen Sicherheitsfaktor einplante, für den Fall, daß Bareimus ein wenig früher als erwartet zur Nova wurde, so blieben ihr schätzungsweise noch höchstens drei Monate für die Bewältigung der unübersehbaren Aktenberge und den Start des Evakuationsprojektes. Die Psychologie tat ihr Bestes, daran war nicht zu zweifeln, aber in diesem Falle war das Beste eben nicht gut genug. Im Bewußtsein des Zeitfaktors hatte man sich hastig darangemacht, die Grünies zu zwingen, ihre Fähigkeit zu kreativem Denken zu demonstrieren. Man stellte ihnen die erforderlichen Werkzeuge und Apparate zur Produktion von Kunstlicht zur Verfügung und entzog ihnen dann das Sonnenlicht. Ein ganzes Drittel der Grünie-Kolonie starb ab, ehe man das Experiment abbrach. Man reduzierte die Nahrungsrationen der Grünies um achtzig Prozent und versuchte, sie dazu zu bringen, daß sie die verbleibenden Nager und Insekten zur Zucht verwendeten, anstatt sie planlos aufzufressen. Ein Viertel der verbliebenen Grünies verhungerte, bevor das Experiment abgebrochen wurde. Man injizierte einer Anzahl von Grünies die DNS-Moleküle von
ähnlichen Pflanzen; diejenigen, die nicht sofort abstarben, zeigten überhaupt keine Veränderung. Man hielt die Grünies unter ständiger Beobachtung, um herauszufinden, ob sie in irgendeiner Weise miteinander kommunizierten, aber es gelang nicht, die Methode der Kommunikation zu ergründen. Man importierte eine besonders giftige Spezies von vegetarischen Wespen, die auf Balok VII beheimatet waren, weil man hoffte, daß die Grünies einen anderen Verteidigungsmechanismus als die Flucht entwickeln würden, und fünfhundert Grünies wurden vernichtet, bevor man die Wespen wieder entfernte. Man versuchte es mit allem, was man mit vereinten Kräften zu entwickeln vermochte, ohne sichtbare Wirkungen zu erzielen; gleichwohl aber war man außerstande, schlüssig festzustellen, daß die Grünies nicht dachten, oder auch nur, daß sie einfach nicht auf diesen speziellen Ebenen dachten. Und dann, zwei Monate vor Ulkes Fristablauf, gelang der Psychologie der erste echte Durchbruch. Bei Experimenten mit Ultraschallschwingungen fand man heraus, daß diese Geräusche eine beruhigende Wirkung auf die Grünies ausübten. Man installierte eine Anzahl von Knöpfen und Hebeln, und unverzüglich begriffen die Grünies, wie diese zu manipulieren waren, wenn weitere Ultraschallwellen produziert werden sollten. Dann wurden weitere Frequenzen hinzugefügt, und innerhalb von drei Tagen vermochten die Grünies Melodien von immer größerer Komplexität zu komponieren. Die Klänge bewegten sich natürlich jenseits des menschlichen Hörbereiches, aber auf oszilloskopischen Instrumenten konnte man jeden Ton, jede Variation und jede subtile Nuance der Orchestrierung sichtbar machen. Da es allmählich dringend notwendig wurde, mit der Evakuation zu beginnen oder den Gedanken daran aufzugeben, begann Ulice auf eine Entscheidung bezüglich der intellektuellen Kapazität der Grünies zu drängen. Ihrer Ansicht
nach lag es auf der Hand, daß Wesen, die so verschlungene symphonische Arrangements hervorbringen konnten, auch intelligent sein mußten, aber die Psychologie war noch immer nicht zu einer definitiven Stellungnahme bereit. Schließlich, so wandte man ein, komponierten viele Vögel auf der Erde wie auch auf zahllosen anderen Welten bezaubernde Melodien, ohne daß jemand behauptet hätte, diese Kunst sei eine Manifestation von Intelligenz. Man räumte ein, daß noch kein Vogel – und vermutlich auch noch kein Mensch – eine so komplexe Musik wie die der Grünies produziert habe; aber das beweise nicht zwingend… Auf eigene Initiative engagierte Ulice eine Anzahl von Musikern, die die oszilloskopischen Ablesungen der Grünie-Symphonien in Noten transponierten, die vor einem menschlichen Publikum gespielt werden konnten. Weiteres Geld wurde darauf verwandt, ein Orchester zu bestellen, und nach einer Probenwoche hatte die GrünieSymphonie Nr. 6 Premiere vor einem Publikum, das ausschließlich aus Psychologen und Musikern bestand. Die Symphonie war anders als alles, was man je zuvor gehört hatte. Die Hälfte des Publikums verließ den Saal, ehe das Programm beendet war, während die meisten derer, die blieben, dem Orchester – und eigentlich den Komponisten – stehend Applaus spendeten. Auf Befragen zeigte sich, daß die Meinungen gleichmäßig geteilt waren. Rostikol, vielleicht der größte Dirigent, den Deluros VIII je gesehen hatte, behauptete, daß es sich um ein absolut geniales Werk handele und daß seiner Meinung nach nicht der geringste Zweifel daran bestehen könne, daß die Grünies intelligent seien, höchstwahrscheinlich intelligenter noch als der Mensch. Malor, der ungekrönte König der EKomponisten, fand das Werk interessant, aber unverständlich. Und Kirkelund, der Kritikerpapst der Alienkultur auf Canphor VII, bezeichnete die Komposition als eine scheußliche
Kakophonie, die nichts weiter erkennen lasse als eine beliebige Auswahl diskordanten und atonalen thematischen Materials und kaum die Art Musik sei, die als Grundlage für ein Plädoyer auf Intelligenz dienen könne. Die sieben Oligarchen und die Militärs enthielten sich jeder verbindlichen Äußerung; sie warteten die Entscheidung der Psychologen ab. Die Psychologie neigte zu einer Erklärung, die die Grünies zu einer intelligenten Rasse erhob, aber ohne weitere Daten konnte man sich auch hier noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung durchringen. Ulice kam zu dem Schluß, daß sie nun nicht länger warten könne, und zwei Tage später verkündete die Behörde für Alien-Angelegenheiten öffentlich, daß die Grünies eine intelligente Rasse seien und man sich nach Kräften bemühen werde, sie von Bareimus III zu evakuieren, bevor dessen Sonne zur Nova würde. Sie wies ihre Exekutivassistenten an, die entsprechenden Antragsformulare auszufüllen, und sandte die Unterlagen sodann an diejenigen Stellen der Oligarchie, deren Hilfe sie benötigte. Die erste Antwort kam von der Finanzbehörde. Das Geld liege abrufbereit; man sei jedoch nicht willens, es auf das Wort einer Frau hin freizugeben, die nicht über die geringste Erfahrung und Expertisen auf dem Gebiet der AlienPsychologie verfüge. Die nächsten, die reagierten, waren die Militärs. Sie waren immer noch überaus gern bereit zu helfen – aber ihnen seien die Hände gebunden, bis der Oligarchische Rat ihnen seine schriftliche Zustimmung habe zukommen lassen. Die Psychologie antwortete mit einem Wutschrei. Mit welchem Recht glaubte Ulice Ston ihrer Funktion vorgreifen zu dürfen? Die Grünies würden offiziell als intelligente Rasse erklärt werden, wenn und falls sie es für angebracht hielten, und nicht vorher. Und der Rat erhob einfach in kollektiver
Verzweiflung die Hände über den Kopf und wandte sich dann anderen Geschäften zu. Das Problem war immer noch nicht gelöst, als Bareimus zwei Jahre später zur Nova wurde und fast einen Monat lang als hellster Stern am örtlichen Himmel strahlte. Die GrünieKolonie auf dem Wissenschaftsplanetoiden wuchs und produzierte meisterhafte Symphonien. Noch immer weigerte die Psychologie sich, ein Urteil über ihren Intellekt zu fällen. Die Erziehungsbehörde entschied, die Grünies nicht in die Schulbücher zu integrieren, bis man zu einer Lösung gekommen sei. Der Bereich des Militärs, zu dessen Aufgaben die Evakuation von Planeten gehörte, wandte seine Aufmerksamkeit anderen Problemen zu. Ulice Ston legte die Leitung der Behörde nieder, heiratete einen Mann, der noch nie im Leben einen Fuß auf eine Welt des Deluros-Systems gesetzt hatte, und bekam im Laufe der nächsten elf Jahre acht Kinder.
12: Die Medien … Mehr als eine Million Welten standen unter der Herrschaft der Oligarchie, und so war es unausweichlich, daß die Nachrichtenmedien an Macht und Autorität gewannen. Zumeist wurde diese Macht dazu benutzt, die Öffentlichkeit zu bilden und zu informieren, aber hin und wieder kam es auch zu Fällen von Mißbrauch; so ereignete sich beispielsweise jene berüchtigte Affäre im System von Aldebaran: Hier verweigerte man dem rechtmäßig gewählten Koordinator Gile Cobart (5406 bis 5469 G. Z.) den Zugang zu allen… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Es war Jörg Bomin (5389 – 5466 G. Z.), der die Macht der Medien umfassender erkannte als jeder andere und der bewies, daß selbst bei einer Rasse wie der menschlichen die Feder mächtiger ist als das Schwert. Später von seiner eigenen Rasse in Mißkredit gebracht und selbst von seinem eigenen Finanzimperium geschmäht, war Bomin allein derjenige, der sich gegen das tyrannische Regime… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Niemand war besonders überrascht, daß Cobart einen neuen Angriff gestartet hatte. Es war der fünfte innerhalb von vier Wochen. Es war kein militärischer Angriff, denn Gile Cobart befand sich nicht im Krieg mit einer externen Macht. Als rechtmäßig gewählter Koordinator des Aldebaran-Systems wußte er seine Grenzen durch die machtvolle Gegenwart der Oligarchie gesichert. Aber innerhalb des Systems besaß er die Oberherrschaft. Besser gesagt, er strebte sie an. Sein Problem waren – wie bei allen politischen Führern – die Medien. Er bewältigte dieses Problem mit einer Methode, deren Mangel an Originalität durch ihre Gewaltsamkeit ausgeglichen wurde: Er attackierte seine Kritiker, züchtigte sie, wann immer es möglich war, und versuchte, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. Und im System von Aldebaran hatte er – was auf anderen Welten, wo Kartelle und Monopole verboten waren, unmöglich gewesen wäre – nur einen einzigen Feind: KOMSA, das Kommunikations-System Aldebaran. KOMSA kontrollierte, ganz oder teilweise, jedes Nachrichtentape, jeden Video- und Radiokanal und jede der altmodischen Zeitungen.
Und KOMSA liebte Cobart ebensowenig, wie er KOMSA ausstehen konnte. Besondere Sympathien zwischen den beiden hatte es ohnehin nie gegeben. Während der letzten Wahlen hatte KOMSA sich angesichts der zur Verfügung stehenden Kandidaten verzweifelt die Haare gerauft; es hatte sich geweigert, einen von ihnen zum Koordinator hochzuloben, und hatte auf der Seitenlinie gesessen, als das Volk Gile Cobart mit nur neunundzwanzig Prozent der Stimmen zum Koordinator machte. Aber wenngleich er nur minimalen Rückhalt bei den Wählern besaß, begann er doch, ein Maximum an Macht um sich zu sammeln. Er war, zumindest formal, gezwungen, sich an die Gesetze der Oligarchie zu halten. Aber die Gesetze waren in vielen Fällen recht verschwommen formuliert, und ein machthungriger Mann konnte viele Wege finden, sie zu umgehen. Ein solcher Mann war Gile Cobart. Als erstes kam die systematische Zentralisierung der Regierung. Aldebaran VII wurde zur Hauptwelt des Systems gemacht, und die siebzehn anderen Planeten wurden ökonomische Satelliten. Die Probleme der eingeborenen Aliens von Aldebaran II, IV, V, und XIII wurden beiseite geschoben, wiewohl man ihrer in Reden oft gedachte. Schon bald begann das schmückende Beiwerk der Diktatur – prachtvoll uniformierte Leibgarden, Verweigerung von Pressekonferenzen, der Entzug des Wahlrechts für ehedem mit allen Bürgerrechten ausgestattete Gruppen der Bevölkerung, Prozesse gegen politische Gegner – Form und Gestalt anzunehmen. Nur KOMSA stellte sich gegen ihn, und er empfand es als seine Pflicht – und als sein Vergnügen –, KOMSA bei jeder Gelegenheit öffentlich zu attackieren.
KOMSA und sein Vorsitzender Jörg Bomin betrachteten weder die Angriffe noch den Angreifer mit Gleichmut. Das Unternehmen war das größte im Sonnensystem, und sein Vermögen war fast so groß wie das planetarische Vermögen von Aldebaran VII. Wenn Cobart nach einem Gegner gesucht hatte, der seiner Zeit und seiner Anstrengungen würdig war, dann hätte er sich keinen besseren aussuchen können. Täglich attackierten Bomins Sender, Tapes und Zeitungen Cobart und seine Politik. Jeden Nachmittag pflegte einer von Cobarts Sprechern mit unterschiedlich starker Feindseligkeit zu antworten. Der Kampf zwischen der nicht-freien Presse und der nicht-freien Regierung war auf einem fieberhaften Höhepunkt angelangt, als Bomin seinen Vorstand zu einer Sitzung zusammenrief. Er gab kein sehr heroisches Bild ab, wie er so vor ihnen stand. In einer Zeit, da die menschliche Durchschnittsgröße weit über einem Meter achtzig lag, maß er knapp einen Meter fünfzig. In einer Gesellschaft, in der der ökonomische und soziale Status eines Mannes zumeist an seiner modischen Kleidung zu erkennen war, kleidete er sich schlichter als die niedersten Dienstboten. In einer Branche, in der Stil mindestens ebenso wichtig wie Substanz war, sprach er mit einem leichten Lispeln, war kahlköpfig und untergewichtig. Das einzige, was für ihn sprach, war die Tatsache, daß er immer lieferte, was von ihm verlangt wurde. Für KOMSA erbrachte er schon seit geraumer Zeit beträchtliche Leistungen. Er hatte als kleiner Angestellter begonnen und rasch die Konzernleiter erklommen, dabei aber so wenigen wie möglich auf die Finger getreten. Als er schließlich an die Schalthebel der Macht gelangt war, hatte er sichergestellt, daß die Vertriebsabteilung für Tapes und Zeitschriften eine Schlüsselposition für alle Non-VideoMedien einnahm, und er hatte ein systemumspannendes
Vertriebsimperium aufgebaut, welches der Vorherrschaft des KOMSA im Bereich des Äthers in nichts mehr nachstand. Niemals ließ er zu, daß KOMSA außerhalb der Medien investierte. Überschußkapital – und davon gab es viel – floß in existierende Konzernunternehmen zurück, und neue Zeitungen wurden gegründet, neue Tapes, neue Videostationen und immer neue Vertriebsstellen. KOMSA und Bomin waren autarke Existenzen, die sich ständig voneinander ernährten, ständig wachsend, doch niemals wuchernd. »Meine Herren«, sagte er, nachdem er einen Schluck Wasser zu sich genommen hatte, »ich will nicht erst um den heißen Brei herumreden. Der Koordinator hat mich für morgen abend zu einer privaten Besprechung zu sich gebeten. Über den Gegenstand dieser Unterredung kann kaum ein Zweifel bestehen. Er wird – das ist so gut wie sicher – mit der Verstaatlichung des KOMSA drohen. Ebenso sicher ist es, daß ich mich weigern werde, irgendeiner seiner möglichen Drohungen nachzugeben. Gibt es Fragen dazu?« Er wartete eine angemessene Weile, und als er sicher sein konnte, daß niemand etwas zu sagen hatte, fuhr er fort. »Ich will annehmen, daß Ihr Schweigen als Unterstützung meiner Position zu verstehen ist. Nichts anderes hatte ich erhofft und hätte ich erwartet. Es muß Ihnen jedoch klar sein, daß ich seine Forderungen nicht einfach zurückweisen und nach Hause gehen kann. Dies zu tun wäre völlig wirkungslos und würde unsere Position kaum verbessern. Er muß schließlich schon jetzt wissen, daß meine Reaktion negativ sein wird, so wie Sie es ja auch schon wußten. Ich glaube deshalb, daß wir damit rechnen müssen, unsere weitere Existenz in irgendeiner Weise bedroht zu finden. Denn wenn er KOMSA nicht besitzen kann, wird sein nächster Schritt zweifellos darauf abzielen, es zu zerstören.«
»Er hat keine legale Möglichkeit, das zu tun«, sagte eines der Vorstandsmitglieder. »Er hatte in der vergangenen Woche auch keine legale Möglichkeit, Pollart vor Gericht zu stellen und zu verurteilen, aber ich sehe, daß es ihm anscheinend trotzdem gelungen ist«, antwortete Bomin freundlich. »Wir können uns an die Oligarchie wenden«, schlug ein anderer vor. »Das können wir in der Tat tun«, sagte Bomin, »aber was können wir ihm beweisen, wenn er seine Drohung dann bestreitet? Die Möglichkeit, unser Gespräch heimlich aufzuzeichnen, habe ich verworfen. Ich bin sicher, daß er genug Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat, die das verhindern. Haben Sie andere Vorschläge?« Er sah sich im Raum um. »Nicht? Nun, wenn niemand weitere Vorschläge zu unserer Verteidigung oder zu einem Gegenangriff zu machen hat, dann möchte ich jetzt gern wissen, ob der Vorstand bereit ist, alle meine Entscheidungen bezüglich dessen, was ich im Verlauf der Besprechung sagen oder tun will, mitzutragen.« Die Vorstandsmitglieder betrachteten ihn angelegentlich. Der alte Fuchs hatte etwas im Ärmel, das war sicher, und ebenso sicher war, daß er nicht beabsichtigte, es ihnen zu verraten. Er hatte ihnen Gelegenheit geboten, die spärlichen Ideen, die sie haben mochten, zu präsentieren, und dann hatte er sie abgeschossen; jetzt aber stellte er sie vor die einzige Alternative: Sie sollten ihm blind und vorbehaltlos vertrauen. Sie kannten Cobart, und sie kannten Bomin. Die Wahl war nicht schwer: Sie gaben Bomin freie Hand zu tun, was er für richtig hielt. Dies überraschte ihn nicht mehr als Cobarts letzte Attacke gegen KOMSA. Als erstes wies er seinen Stab an, daß die Besprechung unter keinen Umständen vorab in den Medien zu erwähnen sei und daß man sich auch später der Berichterstattung über das Zusammentreffen enthalten werde.
Aus Respekt vor dem Amt des Koordinators, nicht vor dem gegenwärtigen Amtsinhaber, duschte und rasierte er sich, bevor er sich auf den Weg machte. Auf einem gewundenen Weg führte man ihn in Cobarts Büro. Dann schloß sich die Tür hinter ihm, und er war allein mit dem Koordinator in dessen riesigem, prunkvollen Büro. »Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte Cobart anstelle einer Begrüßung. »Ich will, daß Sie und KOMSA mich in Ruhe lassen.« »Nichts leichter als das«, erwiderte Bomin mit einem Lächeln. »Geben Sie die Macht zurück, die sie dem Volk des Aldebaran-Systems genommen und illegal an sich gerissen haben.« »Das ist genau die Art von unruhestiftenden Redensarten, die mir gegen den Strich geht«, sagte Cobart. »Wenn Sie wissen, was gut für Sie ist, werden Sie aufhören, gegen meine Administration zu schießen.« »Und das ist genau die Art von Holzhammerdrohungen, die mir gegen den Strich geht, Mr. Cobart«, entgegnete Bomin. »Sie haben mich doch sicher nicht nur zu diesem Zweck hergebeten.« »Ich habe Sie überhaupt nicht hergebeten. Ich habe Ihnen befohlen, hier zu erscheinen.« »Und ich habe das Für und Wider abgewogen und mich freiwillig bereitgefunden, Ihrer Einladung zu folgen.« »Bomin, ich habe genug von Ihrem aufrührerischen Gerede. Einige Ihrer Statements, die Sie über KOMSA veröffentlicht haben, sind gleichbedeutend mit Hochverrat.« »Gewiß doch nicht mit Hochverrat gegen die Oligarchie«, sagte Bomin sanft. »Oder wollen Sie etwa sagen, ich hätte Verrat gegen das Volk des Aldebaran-Systems begangen? Denn wenn es das ist, was Sie meinen, dann brauchen Sie nur offiziell Anklage zu erheben…«
»Was würden Sie sagen«, unterbrach Cobart, »wenn ich Ihnen mitteilte, daß es in meiner verfassungsgemäßen Macht liegt, KOMSA zu verstaatlichen?« »Erstens würde ich sagen, daß dies mit Sicherheit nicht im Bereich Ihrer realen oder implizierten Kompetenzen liegt«, sagte Bomin. »Und zweitens würde ich sagen, daß Ihr Wunsch, dies zu tun, mich kaum überrascht.« »Ich brauche nur ein Wort zu sagen, und KOMSA wird zu einer Agentur der Regierung«, fuhr Cobart fort. »Oh, vor Gericht wird dies zweifellos rückgängig gemacht werden, und wenn nicht, dann wird die Oligarchie es rückgängig machen. Aber das wird seine Zeit brauchen… ein Jahr, vielleicht mehr… Inzwischen hätte das Volk beide Seiten gehört, und die meisten Ihrer smarten jungen Männer dürften sichere Jobs auf anderen Gebieten gefunden haben. Denken Sie darüber nach, Bomin.« »Oh, ich kann Ihnen versichern, daß ich darüber bereits nachgedacht habe. Feingefühl gehört nicht zu Ihren bemerkenswerten Qualitäten, Mr. Koordinator. Sehen Sie, wir bei KOMSA haben dies schon seit langem erwartet.« »Das bezweifle ich nicht«, sagte Cobart. »Und ist Ihnen eine Alternativlösung eingefallen, die ich akzeptieren könnte?« »Das ist durchaus möglich«, sagte Bomin. »Sie behaupten, wir stellten Ihre Seite unfair dar, richtig?« Cobart nickte. »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen für Ihr schriftliches Versprechen, das Thema der KOMSA-Verstaatlichung nie wieder zur Sprache zu bringen, verspräche – ebenfalls schriftlich, um sicherzugehen –, daß KOMSA Ihnen die gleiche Zeit für die Darstellung Ihrer Seite der Medaille einräumen wird? Mit anderen Worten: Wir garantieren Ihnen eine Minute Sendezeit für jede Minute, in der wir Sie kritisieren, und eine Zeitungsspalte für jede Anti-Cobart-Spalte
in unseren Blättern.« Cobart lehnte das Angebot ab, ganz wie Bomin es erwartet hatte. Jetzt kam der Köder. »Was, wenn ich Ihnen weiter verspräche, daß in den drei Jahren vor der nächsten Wahl keines der zum KOMSA oder dessen Tochterunternehmen gehörenden Medien Sie oder Ihre Administration kritisieren wird, weder direkt noch implizit?« Cobart starrte ihn an. »Ist das Ihr Ernst?« »Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so aufrichtig wie jetzt«, behauptete Bomin. »Ich will noch hinzufügen, daß wir in dem Fall, daß die KOMSA ihren Teil der Vereinbarung vor der nächsten Wahl brechen sollte, keinen Widerstand gegen die Verstaatlichung leisten werden.« »Schreiben Sie das auf«, sagte Cobart. »Habe ich schon«, sagte Bomin und zog ein Bündel Dokumente aus seinem kleinen, aus einer Titaniumlegierung bestehenden Aktenkoffer. »Wie Sie sehen«, sagte er und breitete die Papiere vor Cobart auf dem Tisch aus, »habe ich ein Dokument für jede Vereinbarung mitgebracht, die wir möglicherweise treffen konnten. Natürlich hatte ich nicht erwartet, daß Sie sich zu halbherzigen Maßnahmen bereitfinden würden, aber ich war auch darauf vorbereitet – für den Fall, daß Sie philanthropische Anwandlungen bekommen sollten… Ah, hier ist es ja.« Er zog eines der Dokumente zwischen den übrigen hervor, unterschrieb es und zeichnete auch die Kopie ab. »Wenn Sie die Unterlagen mit Ihrer Unterschrift und Ihrem Amtssiegel versehen wollen, haben wir die Angelegenheit zum Abschluß gebracht.« »Sie haben unglaublich schnell eingelenkt«, sagte Cobart und starrte auf die Dokumente. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß Jörg Bomin sich kampflos ergeben würde.« »Das Endergebnis war unausweichlich«, sagte Bomin. »Mit oder ohne Vereinbarung – in ein paar Tagen dürfte KOMSA Sie nicht mehr packen können. Auf diese Weise kann ich
wenigstens dafür sorgen, daß nicht alle Nachrichten von Ihnen kommen.« Cobart betrachtete wieder das Dokument. »Fügen Sie eine Klausel hinzu, nach der diese Vereinbarung geheimgehalten wird, bis eine der beiden Parteien sie bricht, und ich unterschreibe das Ding.« »Haben Sie die Absicht, sie zu brechen, Mr. Koordinator?« fragte Bomin sanft. »Nein«, sagte Cobart. »Aber an dem Tag, an dem Sie sie brechen, werde ich Sie mit diesem verdammten Papier ans Kreuz nageln.« »Und bis dahin«, meinte Bomin, »wäre es Ihnen lieb, wenn die Leute nicht wüßten, daß wir übereingekommen sind, ihnen nicht die Wahrheit über Sie zu sagen. Aber ich habe nichts dagegen, einen diesbezüglichen Paragraphen hinzuzufügen.« Er schrieb die Klausel in den Vertrag, zeichnete sie im Original und in der Kopie ab und reichte die Papiere zu Cobart hinüber, der sie las, unterzeichnete und mit seinem offiziellen Amtssiegel versah. »Ich hoffe nicht, daß ich diese Geschichte morgen irgendwo lesen, hören oder sehen kann«, sagte Cobart böse und schob Bomin die Kopie zu. »Oh, seien Sie versichert, daß das nicht geschehen wird«, sagte Bomin und ging. Am nächsten Morgen berief Bomin erneut eine Vorstandssitzung ein und ließ auch die Chefs der einzelnen Medien hinzukommen. Als alle versammelt waren, las er ihnen die Vereinbarung vor, die er und Cobart unterschrieben hatten. »Sie haben uns ruiniert!« rief einer der Direktoren. »Was zum Teufel ist denn in Sie gefahren?« wollte ein anderer wissen. »Aber das Gegenteil ist der Fall, meine Herren«, sagte Bomin besänftigend. »Gestern abend, als er diese Vereinbarung mit seiner Unterschrift versah, hat Gile Cobart seinen eigenen
politischen Nachruf unterschrieben. Allerdings hat er es bisher ebensowenig bemerkt wie Sie.« »Sie hätten nicht vielleicht Lust, uns das zu erklären, oder?« erkundigte sich der Chef der Nachrichtentapes. »Aber mit dem größten Vergnügen«, sagte Bomin. »Darum habe ich diese Sitzung anberaumt. Nun, um verstehen zu können, was geschehen ist und was geschehen wird, müssen Sie die Vereinbarung in ihrer Gesamtheit verstehen, mit dem, was sie sagt, und mit dem, was sie nicht sagt. Beispielsweise haben wir uns bereiterklärt, Cobart gleiche Sendezeit und gleichen Raum in den Medien zu gewähren – mit anderen Worten: Jedesmal, wenn wir ihn anschießen, bekommt er die Chance zurückzuschlagen. Wir haben uns darüber hinaus bereit erklärt, ihn niemals anzuschießen.« »Ist das nicht ein Widerspruch?« fragte der Tape-Chef. »Das glaube ich kaum«, sagte Bomin. »KOMSA wird Cobart und seine Administration nie wieder attackieren, und Cobart wird niemals in der Lage sein, Sendezeit oder Platz zu fordern, um sich zu verteidigen.« »Wenn das. bedeutet, daß wir jetzt auf die Linie der Regierung einschwenken, reiche ich hier und jetzt meine Kündigung ein«, sagte der Chef der Video-Abteilung. »Haben Sie das Gefühl, ich hätte KOMSA ausverkauft?« fragte Bomin. »Ja, das habe ich.« »Wenn Sie das wirklich glauben«, sagte Bomin kalt, »haben Sie nicht genug Grips für die Leitung Ihrer Abteilung. Ihre Kündigung ist akzeptiert. Ich fahre fort: Wir werden Cobart nie wieder attackieren. Wir werden ihn auch niemals loben. Kurz gesagt: Von diesem Augenblick an wird keine Sektion des KOMSA je wieder seinen Namen erwähnen. Ob seine Administration einen triumphierenden Aufstieg oder einen verheerenden Fall erlebt – von heute an werden alle
Meldungen, die Cobart betreffen, notiert, abgelegt und vergessen. Mir ist klar, daß dies mit einigen Problemen verbunden sein wird; ich denke nur an das neue Landwirtschaftsgesetz für Aldebaran IX. Über das Gesetz wird berichtet werden können und müssen, aber die Urheberschaft wird nicht kommentiert. Keine Sendezeit, keine Tape-Zeit, keine Printspalte für Cobart oder seine Administration. Nichts. Haben Sie verstanden?« »Er wird Zeter und Mordio schreien«, meinte der VideoChef. »Junger Mann«, sagte Bomin sanft, »Sie sind bereits aller Ihrer Aufgaben enthoben. Aber ich will annehmen, daß noch jemand im Raum ist, der sich eben diese Frage stellt, und deshalb will ich darauf eingehen. Cobart kann uns unmöglich schaden, indem er Einwände gegen dieses Verfahren erhebt. Zum einen kann er das Volk nur durch persönliche Auftritte erreichen, und um einen genügend großen Teil des Volkes auf diese Weise zu erreichen, würde er so viel Zeit aufwenden müssen, daß er seinen Aufgaben als Koordinator nicht mehr nachkommen könnte. Aus drei Gründen aber könnte er den Leuten die Vereinbarung nicht einmal zeigen: Erstens, er hat schriftlich sein Wort gegeben, es nicht zu tun; zweitens, wir werden ihm keinen Zutritt zu irgendeinem Bereich der Medien gewähren; drittens, es kann ihm nicht daran gelegen sein, daß das Volk erfährt, was der Kernpunkt unserer Vereinbarung ist. Und wenn Sie einen vierten Grund brauchen: Wir sind juristisch nicht angreifbar. Nichts in der Vereinbarung kann uns hindern, so zu verfahren, und da wir ein privates Monopol sind, kann die Regierung unserer redaktionellen Entscheidungsvollmacht keinerlei Einschränkungen auferlegen. Persönlich würde ich vermuten, daß Cobart versuchen wird, Nachrichten von benachbarten Systemen hereinzuschleusen. Aber ganz gleich, woher diese Nachrichten stammen mögen, selbst wenn sie aus der Kammer des Rates
auf Deluros VIII kommen, sie erreichen das Volk nur durch unsere Medien. Und eben dies werden wir beharrlich ablehnen. Haben Sie noch Fragen? Nein? Dann ist die Sitzung geschlossen. Bis heute abend wird mein Büro präzise Direktiven ausgearbeitet haben, die jedem in der Organisation zugeleitet werden. Was Sie betrifft«, fügte er hinzu und deutete dabei auf den Video-Chef, »Sie räumen innerhalb einer Woche Ihr Büro. Sie bekommen eine Abfindung in Höhe eines Jahresgehaltes.« Er sagte es so freundlich, daß jeder, der ihn nicht kannte, geschworen hätte, daß er scherzte. Aber Jörg Bomin scherzte niemals im Zusammenhang mit KOMSA. Innerhalb von drei Tagen hatte die Cobart-Administration zu spüren begonnen, was geschehen war. Cobart selbst beschloß, KOMSA herauszufordern, indem er eine Stunde Videozeit für eine Ansprache verlangte, die von lebenswichtiger Bedeutung für das System sei. Sein Antrag wurde weder abgelehnt noch angenommen. Man ignorierte ihn einfach. Alle Reporter aller Medien wurden kurzfristig vom Dienst in seiner Residenz suspendiert, und aus den Nachrichten der Woche wurde jede Erwähnung von Cobarts Namen herausgeschnitten. Achtundsiebzig Tage lang kämpfte Cobart einen vergeblichen Kampf gegen den Medienboykott. Dann schuf er in seiner Verzweiflung eine Regierungsbehörde, die ihre eigenen Tapes und Zeitungen publizieren sollte. KOMSA konterte mit Hilfe seiner eigenen Vertriebskanäle. Legal konnte man nicht verbieten, daß die Vertriebsstellen auch die Tapes und Zeitungen der Regierung absetzten, aber der Konzern wies darauf hin, daß seine Schiffe, die jeden Tag buchstäblich Tausende von Tapes und Zeitungen auszuliefern hätten, in einem erbärmlichen Zustand seien, und so könne es hin und wieder vorkommen, daß die eine oder andere Lieferung nicht ganz pünktlich sei…
Die Einzelhändler rechneten den Gewinn aus dem Verkauf von zwei Regierungspublikationen gegen den Verlust aller anderen Publikationen auf und kamen zu dem einzigen finanziell gangbaren Schluß: Cobarts Tapes und Zeitungen wurden aus dem Sortiment genommen. Der nächste Schritt der Regierung war der Versuch, durch private Kanäle Anzeigen in den Medien zu schalten, in denen die Regierung unterstützt wurde. Diese Anzeigen wurden von KOMSA weder angenommen noch abgelehnt, der Konzern erstattete einfach die Zahlungen kommentarlos zurück. Es folgte ein kleinerer Angriff gegen Aldebaran X, KOMSA Hauptquartier. KOMSA rief die Oligarchie zu Hilfe, ohne den Feind beim Namen zu nennen, und Cobart zog seine Streitkräfte zurück, ehe die Flotte auf dem Schauplatz eintraf. Schließlich versuchte Cobart, KOMSA zu verstaatlichen. Bomin ging unverzüglich vor den Oligarchischen Rat, legte ihm die Vereinbarung vor und vertrat seine Sache mit leidenschaftlichem Nachdruck. Der Rat entschied, daß Cobarts Bestrebungen illegal seien. Bald erschienen zahlreiche Umfragen in den Medien, die Kandidatenvorschläge für die nächsten Wahlen enthielten. Die Kandidatenlisten fanden breite Veröffentlichung – nur Cobart stand nicht darauf, und wenn sein Name auf einem Wahlscheinmuster stand, galt dieses als ungültig. Innerhalb eines Jahres war die Regierung ins Taumeln geraten, nach zwei Jahren begann sie zu bröckeln, und als die Wahl kam, war sie tot. Cobart kandidierte, aber obgleich sein Name, wie es sich für den Amtsinhaber geziemte, an der Spitze des Wahlzettels stand, konnte er nur vier Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Seine Partei, die bis dahin das Parlament des Systems mit einer hauchdünnen Mehrheit beherrscht hatte, behielt weniger als ein Fünftel der bisherigen Anzahl der Sitze. In den Geschichtsbüchern fand Gile Cobart nur beiläufige
Erwähnung, und als er mit dreiundsechzig Jahren starb, war er geschlagen, gebrochen und in Vergessenheit geraten. Der nächste Koordinator, der noch drei Jahre zuvor die VideoAbteilung des KOMSA geleitet hatte, unterzeichnete natürlich keine Vereinbarung mehr; er wetzte die Scharten in den politischen Beziehungen zur Oligarchie aus, ließ Jörg Bomin innerhalb von drei Monaten ermorden, verstaatlichte die Medien und genoß fortan eine Herrschaft, die sich Gile Cobart selbst in den schönsten Tagen seines Regimes nicht hätte träumen lassen.
13: Die Künstler … In gewisser Hinsicht kann man die Künstler als die Revolutionäre in der mittleren Oligarchie-Periode betrachten. Die Literatur hatte eben erst begonnen, die Tatsache zu reflektieren, daß der Mensch die Galaxis dominierte, und die Klassiker der vergangenen Jahrhunderte hatten gezeigt, wie er auf vielerlei Arten die zahlreichen Bedrohungen, die sein Primat gefährdet hatten, überwunden hatte. Jetzt waren es die Künstler, die von der Linie der Regierung abwichen, indem sie die Schönheit der Aliens entdeckten, sich gegen die Lebensbedingungen vieler Aliens empörten und Toleranz gegenüber ihrer Lebensweise demonstrierten. Sie waren, in einem sehr realen Sinne, das Gewissen des Menschen – ein sehr einsames Gewissen allerdings, von ihren Artgenossen mit Mißtrauen betrachtet und von den Wesen, denen sie helfen wollten, häufig ignoriert oder mißverstanden. Der bedeutendste Schriftsteller dieser Periode war ohne Zweifel Fillard Niis (5I427-5510 G. Z.), dessen unsterblicher Aufschrei eines empörten Gewissens, Der stählerne Stiefel, in
mehr als sechs Milliarden Exemplaren verkauft wurde und bis dahin zweifellos das meistgelesene Buch in der Geschichte der Menschheit war… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Über Niis selbst weiß man wenig mehr als die Tatsache, daß er als der größte Autor seiner Zeit galt, sowohl in der als Fiktion bezeichneten, dem Menschen eigentümlichen Literaturform als auch auf den traditionelleren Gebieten der Dokumentarliteratur und des philosophischen Essays. Noch heute existieren Exemplare des Buches Der stählerne Stiefel. Das wenige, das wir über Niis und den Ursprung dieses Buches wissen, ist im Manuskript eines Video-Interviews enthalten, welches im Jahre 5502 G. Z. geführt wurde, also etwa dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
THORRIN: Guten Abend, meine Damen und Herren, und willkommen zu einer neuen Ausgabe von Im Rückblick. Ich bin Lornath H. Thorrin, Ihr Moderator, und heute Abend ist mein Gast Fillard Niis, der Autor, der mit seinem Buch Der stählerne Stiefel schon zu Lebzeiten literarische Unsterblichkeit erlangt hat. Mr. Niis – dies sei denjenigen unter Ihnen gesagt, die dreißig Jahre lang in einem anderen Universum gelebt haben – ist der Verfasser von neun RomanBestsellern und buchstäblich Hunderten von Essays. Im Jahre 5466 kandidierte er in den Wahlen auf Terra, wurde mit knapper Mehrheit gewählt und trat dann zurück, nachdem er erklärt hatte, daß die auf allen Gebieten herrschende Korruption es ihm unmöglich mache, sein Amt angemessen zu
führen. Er verlegte seinen Wohnsitz ins Deluros-System, wo er im Jahre 5472 ein Buch schrieb, neben welchem alle seine übrigen Leistungen verblaßten: Der stählerne Stiefel. In den ersten vier Jahren nach seinem Erscheinen erlebte es eine Auflage von mehr als einer Milliarde Exemplaren, und inzwischen nähert es sich mit Riesenschritten der SechsMilliarden-Marke. Es ist also das meistverkaufte Buch in der Geschichte der Galaxis. Wie erklären Sie sich, zurückblickend, den anfänglichen Erfolg des Buches? NIIS: Um ehrlich zu sein, Lornath: Ich war zu jener Zeit als Schriftsteller nicht gerade unbekannt, und wenn ich mich recht erinnere, wurde das Buch mit einem recht umfangreichen Werbeetat auf den Markt gebracht, und das hat ihm natürlich nicht geschadet. Aber ich glaube, der Hauptgrund für den Erfolg war die Tatsache, daß das Buch das Gewissen der menschlichen Rasse berührt hatte, ein Gewissen, welches allzu lange geschlafen hatte. Jahrhundertelang war der Mensch davon besessen gewesen, sich mit Zähnen und Klauen an die Spitze der galaktischen Hierarchie zu kämpfen und seine Vormachtstellung gegenüber den anderen Rassen zu sichern. Als der Stählerne Stiefel erschien, war es an der Zeit, zurückzublicken und das Gemetzel zu betrachten, daß wir auf unserem Weg hinterlassen hatten. THORRIN: Wie jedermann weiß, behandelt das Buch die verabscheuungswürdige Behandlung, die verschiedene AlienRassen von unseren Händen erleiden mußten, während wir die galaktische Expansion vorantrieben. Aber nur wenige Leute wissen genau, was eigentlich dazu geführt hat, daß Sie dieses Buch schrieben.
NIIS: Ich hatte eben die letzten Korrekturen an Eine Handvoll Staub beendet – was im übrigen der letzte Roman ist, den ich je geschrieben habe, – und ich verspürte das Bedürfnis, Deluros zu verlassen, um meine Gedanken gänzlich von meiner Arbeit zu befreien. Ich beschloß, auf Pollux IX Urlaub zu machen; man pries diesen Planeten als eine der besseren neuen Urlaubskolonien. Dort angekommen, nahm ich mir ein Zimmer im nobelsten Hotel, das ich finden konnte, und verbrachte die nächsten Tage damit, mich von Sonnenschein und Alkohol durchtränken zu lassen. Eines Abends, ich war seit etwa einer Woche dort, beschloß ich, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Eine organisierte Stadtrundfahrt war noch nie das richtige für mich gewesen, und so machte ich mich allein auf den Weg. Mein Orientierungssinn ist schlecht, und so hatte ich mich bald rettungslos verirrt. Ich geriet in das Alien-Viertel der Stadt, und plötzlich, in Sichtweite des hochaufragenden Turms meines Hotels, fand ich mich umgeben von beinahe unvorstellbarer Schmutzigkeit und Armut. Die Lebensbedingungen dort waren absolut schockierend. Leichen lagen überall auf der Straße, und der Müll türmte sich vor den Behausungen. Das Wasser war so faulig, daß ich es aus einer Entfernung von zweihundert Metern riechen konnte. Ohne ein Fachmann zu sein, sah ich, daß zahlreiche Polluxaner dringend ärztliche Hilfe benötigten. Als ich schließlich wieder zu meinem Hotel zurückgefunden hatte, suchte ich unsere Botschafterin auf und beklagte mich bei ihr über die empörenden Zustände, die ich vorgefunden hatte. Ich flehte sie buchstäblich an, ein Team von Medizinern in das Alien-Viertel zu entsenden; schließlich waren die Polluxaner sauerstoffatmende Humanoide, und ich vermutete, daß selbst nichtspezialisierte Humanmediziner in der Lage sein müßten, ihr Leiden wenigstens ein bißchen zu lindern. Die Botschafterin erwiderte, daß die Polluxaner mit ihrem Leben
zufrieden seien und daß es nicht unsere Sache sei, uns in ihre Angelegenheiten einzumischen. Sie behauptete, die Polluxaner könnten sauberes Wasser nicht vertragen; sie brauchten die zahlreichen Mineralstoffe, die in der übelriechenden Brühe aus ihren Teichen enthalten seien. Außerdem gab sie an, daß sie ihre Toten nicht etwa mißachteten, sondern schlicht unemotional und areligiös seien; die Toten werde man am nächsten Morgen davonkarren und verbrennen. Schließlich äußerte sie die Meinung, daß die Aliens in Anbetracht dessen, daß das Viertel bereits Jahrhunderte alt sei, offenbar keinerlei Interesse an der Instandsetzung oder an einem Sanierungs- und Sanitärprogramm hätten. Der Mensch sei schließlich sozusagen ein Neuling auf dem Planeten, und insofern hätten wir kein Recht, den Eingeborenen unsere Wertvorstellungen aufzuzwingen, Ihre Antworten klangen recht vernünftig, aber ich beschloß, das Problem dennoch ein wenig gründlicher zu untersuchen. Ich fand heraus, daß sie mit dem, was sie über die Toten gesagt hatte, recht gehabt hatte. Alles andere aber waren entweder mit Vorbedacht geäußerte Lügen oder grobe Fehleinschätzungen der wahren Situation gewesen. Beispielsweise brauchen die Polluxaner in der Tat gewisse Mineralstoffe, die in purem H2O nicht enthalten sind – aber das Wasser, das sie tranken, enthielt nicht nur die nötigen Mineralien, sondern darüber hinaus eine beträchtliche Menge an Industrieabfällen – genug, um ihre Sterbequote um dreihundert Prozent zu erhöhen. Was die Hygienebedingungen betraf, so entsprach ihr Wohnviertel im Grunde einer Reservation, die sie nicht verlassen durften, nicht einmal, um Müll und Abfälle auf einer freien Ebene hinter der Stadt abzukippen. Der Müll wurde nur dann abtransportiert, wenn der Gestank so durchdringend wurde, daß er das Feriengebiet erreichte und die Urlaubsgäste belästigte. In jenen Tagen nahm Der stählerne Stiefel in meinem Geist Gestalt an. Ich
verbrachte das darauffolgende Jahr mit einer Reise zu einigen Planeten, die der Oligarchie kürzlich einverleibt worden waren, und auf den meisten davon fand ich beklagenswerte Zustände vor. Häufig wußten wir nicht einmal, daß wir den Aliens in der einen oder anderen Weise Schaden zugefügt hatten, doch das änderte nichts an den Tatsachen. Wir benutzten bewohnte Alienwelten, um tödlichen radioaktiven Müll abzuladen, um neuartige Kriegswaffen zu testen und um mit diversen Ökosystemen und Mutationen Tests durchzuführen. In mehreren unserer Vario-Umwelt-Zoos hielten wir sogar bewußtseinsbegabte Chlor- und Methanatmer. Wohin ich auch blickte, überall fand ich, daß der Mensch die Würde und die Selbstachtung intelligenter Alienrassen in den Schmutz getreten hatte. Zumeist war dies nicht mit böser Absicht geschehen, aber gelegentlich waren solche Aktionen auch das Ergebnis sorgfältig geplanter und programmierter Politik gewesen. So schlossen wir beispielsweise zwischen 5300 und 5500 über zehntausend Verträge mit Alienrassen – 10478 waren es genau. Und wissen Sie, wie viele davon gebrochen wurden? THORRIN: Nein. NIIS: Alle bis auf sechzig. THORRIN: Welche Wirkung hatte der Erfolg des Buches auf Sie persönlich als Autor des meistverkauften Buches aller Zeiten? NIIS: Zunächst einmal hat er mich und die nächsten paar Generationen meiner Familie unglaublich reich gemacht. Und um ehrlich zu sein, muß ich hinzufügen, daß er mir einen Platz in der Literaturgeschichte gesichert hat. Aber es gab auch
schädliche Effekte. Sehen Sie, kein Buch, so kraftvoll oder aktuell es auch sein mag, verkauft sich so gut wie Der stählerne Stiefel, wenn man dafür nicht eine intensive Publicity-Kampagne führt. Werbegelder auszugeben war nur ein kleiner Teil des ganzen Unternehmens. Nach dem Erscheinen des Buches war ich durch Vertrag fast drei Jahre lang gezwungen, Tourneen über die Planeten der Oligarchie zu machen, persönlich hier und dort aufzutreten, mich in VideoShows interviewen zu lassen und das Buch sowie die Ideen, die dahinter standen, so vielen Leuten wie möglich nahezubringen. Es war ein finanzieller Erfolg, aber es hat mich physisch und künstlerisch beeinträchtigt. Ich wollte wieder arbeiten, wieder ein Thema zurechtschmieden, aber ich fand keine Zeit mehr dazu. THORRIN: Aber gab es nicht eine ganze Reihe ähnlicher Bücher, die veröffentlicht wurden, kurz nachdem der Erfolg des Stählernen Stiefels bekannt geworden war? NIIS: Allerdings, aber sie blieben ohne besondere Wirkung, und tatsächlich waren sie auch so einseitig und voller Leidenschaft verfaßt, daß sie beinahe das gesamte Thema der Mißhandlung von Aliens zum Privatbesitz eines Elitekults gemacht hätten. Vielleicht fehlt es mir an Großzügigkeit, aber ich bin davon überzeugt, daß diese Bücher und ihre Autoren die Kraft der Argumente geschmälert und die schlimme Lage der Aliens verharmlost haben. THORRIN: Mit anderen Worten, keiner von ihnen vermochte Substantive und Verben so schön oder so wirkungsvoll zu kombinieren, wie Sie es können. Und da ihnen Ihre literarische Begabung fehlte, versagten sie, wo Ihnen Erfolg beschieden war. Wir verraten ja kein Geheimnis, wenn wir sagen, daß kein
anderes Buch zu diesem Thema in mehr als neun Millionen Exemplaren verkauft worden ist. NIIS: Aber das lag nicht an mangelnder Aufrichtigkeit. Betrachten Sie es wie einen juristischen Fall: Auch der aufrichtigste Anwalt wird der Sache seines Klienten nur Schaden zufügen, wenn er nicht fähig ist, seine Argumente fachgerecht vorzutragen. Gleichwohl, diese Autoren haben eine Reihe von Lesern erreicht, die den Stählernen Stiefel vermutlich nicht gelesen oder gekauft hatten, und deshalb stört es mich nicht, daß sie sich in dieser Weise an den fahrenden Zug angehängt haben. THORRIN: Können Sie rückblickend sagen, daß unsere Politik gegenüber den anderen Rassen sich nach dem Erscheinen Ihres Buches geändert hat? NIIS: Ich glaube, verdammt wenig, um es geradeheraus zu sagen. THORRIN: Woran, glauben Sie, liegt das? NIIS: Ich weiß es nicht. Vielleicht haben die falschen Leute mein Buch gelesen. Als uns klar wurde, wie gut sich das Ding verkaufte, war ich voller Hoffnung. Ich war natürlich vom professionellen Standpunkt aus erfreut, aber ich dachte eben auch, ich hätte bei meinen Lesern eine empfindliche Saite angerührt, hätte sie mit der Wahrheit über unsere Art des Umgangs mit nichtmenschlichen Lebewesen konfrontiert und in ihnen das Verlangen erweckt, dies und jenes wiedergutzumachen. Aber es stellte sich heraus, daß dem nicht so war.
THORRIN: Aber waren es nicht Milliarden von Lesern? Wollen Sie sagen, Sie hätten das Gefühl, das Buch sei völlig ohne Wirkung auf diese vielen Menschen geblieben? NIIS: Das ist es praktisch, was ich meine. Ich glaube, die große Mehrheit hat das Buch gelesen, hat ganz zu Recht eine Art von kollektiver Schuld verspürt, und nach einer solchen schmerzlosen Mini-Läuterung sind die Leute zu Bett gegangen und haben das Ganze vergessen. THORRIN: Natürlich glauben Sie dies nicht erst seit gestern. Wie reagierten Sie, als Ihnen zum erstenmal der Gedanke kam, daß Ihr Buch zwar ohne jeden Zweifel ein Bestseller sei, nicht aber eine neue Ära der Harmonie unter den Rassen eröffnet habe? NIIS: Es war ja nicht so, daß ich mich eines Tages umschaute und sagte: He, was ist los mit den Leuten? Die Oligarchie unternahm nichts, aber zum Teufel, seit wann handeln Regierungen, weil jemand ein Buch geschrieben hat? Ich gründete eine Gruppe, die den Aliens helfen sollte, und ich weiß, daß mit der ersten Popularitätswoge des Stählernen Stiefels ähnliche Gruppen zu Hunderten ins Leben gerufen wurden. Einige von ihnen brachten ziemlich viel Geld auf und machten sich daran, umfangreiche Pläne in die Tat umzusetzen. Das Deprimierende war, daß sieben Jahre später meine Gruppe die einzige war, die noch existierte, und daß unser Einkommen, welches sich ausschließlich aus Spenden zusammensetzte, von vierzig Millionen Credits im ersten Jahr auf knappe sechzigtausend im siebten Jahr gesunken war. Es war, als hätte jeder genau soviel Zeit und Geld aufgebracht, wie erforderlich war, damit er sein Gewissen beruhigen konnte und sozusagen seine Schuld bezahlt hatte, und dann die ganze
Sache vergessen. Schlimm ist nur, daß das Problem immer noch existiert. Es hat sich nichts gebessert. THORRIN: Was ist mit den Aliens selbst? Ich hasse es, melodramatisch zu klingen, aber plant man heute irgendwo Aufstände oder Revolutionen? NIIS: Gegen die Oligarchie? Das soll wohl ein Witz sein. Wie kämpft man gegen eine Einstellung, die auf eine Million Welten verbreitet ist, oder gegen eine Flotte, die innerhalb von zwei Jahren die halbe Galaxis vernichten könnte? Wie wollen Sie gegen ein Wirtschaftssystem kämpfen, das – ohne daß Sie es so wollten oder daß Sie daran etwas hätten ändern können – alles ist, was Sie von einem Elend trennt, welches noch größer ist als jenes, in dem Sie heute leben müssen? THORRIN: Was soll dann aus ihnen werden? NIIS: Das weiß ich nicht. Ich hoffe, daß diese hinterhältige Väterlichkeit irgendwann wieder dort verschwindet, wo sie hergekommen ist, obwohl ich das bezweifle. Inzwischen werden sie sich damit abfinden müssen, daß die Dinge so sind, wie sie sind und wie sie noch lange zu bleiben drohen. THORRIN: Verzeihen Sie, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie nicht eines Tages aufstehen und »Tod den Tyrannen!« oder etwas Ähnliches schreien sollen. Haben denn sie nicht auch Ihr Buch gelesen? NIIS: Einige schon. Die meisten konnten es nicht verstehen. THORRIN: Aber Übersetzungen…
Ihr
Verlag
hätte
doch
sicher
NIIS: Ich habe nicht gesagt, sie konnten es nicht lesen. Ich habe gesagt, sie konnten es nicht verstehen. Sie dürfen nicht vergessen: Es sind Aliens, mit allem, was dieses Wort impliziert. Ihre Hoffnungen, ihre Träume und Ziele, ihre Lebensweise, ja, ihre Denkprozesse sind unserem Verständnis fremd. Ich hatte gehofft, daß mein Buch dies klarmachen würde: In einigen Fällen haben wir uns vergangen, indem wir sie unterjochten, aber zumeist spielte sich ihr Denken und Reagieren auf einer für uns dermaßen unzugänglichen Ebene ab, daß es niemals zu einem wirklichen Konflikt kam. Wir kamen, taten, was wir wollten, und sie ließen es einfach zu, oder – was noch öfter der Fall war – sie ignorierten uns. THORRIN: Es muß sehr frustrierend sein, wenn man der Messias eines Volkes ist, das nicht erlöst werden will. NIIS: Ich habe mich nie als Messias aufgespielt. Und was die Alienrassen und ihre Erlösung angeht, so gibt es ein paar – etwa die Canphoriten –, die sehr aktiv danach verlangen; und wer will sagen, daß die anderen es nicht auch tun? Der stählerne Stiefel handelte von der Unmenschlichkeit des Menschen im Umgang mit anderen Wesen, und nicht von deren Reaktion darauf. Was ich, anders ausgedrückt, sage, ist, daß wir uns moralisch oder unmoralisch verhalten können, ohne daß es dabei wichtig wäre, daß ein Alien seine Lage akzeptiert oder daß er es nicht tut – was zählt, sind allein unsere Taten. THORRIN: Und doch ist, trotz des fabelhaften Erfolges, den Ihr Buch hatte, Ihr Plädoyer von der einen Seite abgelehnt und von der anderen ignoriert worden.
NIIS: Das stimmt. Meine einzige Hoffnung, die einzige Hoffnung, die Menschen je gehabt haben – angefangen bei den ersten Höhlenmenschen, die nicht mit dem Feuer umgehen konnten, bis zu dem letzten Autor, der die Empörung der Öffentlichkeit nicht zu mobilisieren vermag –, ist die nächste Generation. Vielleicht wird morgen das große Erwachen kommen. THORRIN: Ich bin sicher, daß wir das alle gern glauben würden. NIIS: Glauben würde ich es auch gern. Aber… THORRIN: Ja? NIIS: Nun, ich will nicht sagen, daß ein Morgen nicht kommen wird. Aber ich befürchte, es wird so spät kommen, daß es niemandem mehr hilft.
14: Die Biochemiker … Irgendwann um das Jahr 5600 G. Z. scheinen die Biowissenschaften und vor allem die Biochemie auf ein falsches Gleis geraten zu sein, und dies trotz des legendären »Projektes«, das die Phantasie der Menschen jahrhundertelang fasziniert hatte. Auf vielen verwandten Gebieten wurden Fortschritte erzielt, aber… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Es war das Gebiet der Biochemie und ihrer Schwesterwissenschaften, wo der Mensch beinahe ein Meisterwerk vollbracht hätte, dessen Ergebnisse er mit den
anderen Rassen der Galaxis hätte teilen können. Mit nüchterner Zielstrebigkeit wurden jahrtausendealte Probleme im Zusammenhang mit der künstlichen Schaffung zellularen Lebens gelöst, und Parthenogenese gestattete buchstäblich Milliarden von weiblichen Individuen aller Rassen, die Nachkommenschaft zu haben, die eine grausame Natur ihnen auszutragen verbot. In der Tat: Wenn der Mensch in den Jahren der Oligarchie irgendwann eine Inspiration gewesen ist, dann waren es die biochemischen Wissenschaften, die… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Es sah wirklich nicht aus wie ein Supermann. »Fehlschlag Nr. 1098«, sagte Rojers und wandte sich verachtungsvoll grunzend von dem Inkubator ab. »Sollen wir es vernichten, Sir?« erkundigte sich einer der Laborassistenten. »Von mir aus«, sagte Rojers. »Die maximale Intelligenzkapazität eines Zehnjährigen und ein Körper, der nie aus dem Rollstuhl herauskäme. Ja, geben Sie ihm sechs Kubik von der tödlichen Lösung, und injizieren Sie sie ihm direkt ins Herz – wo immer das sein mag.« Mißmutig verließ Rojers den Brutraum, ging den langen, hellbeleuchteten Korridor hinunter an seinem eigenen Büro vorbei und blieb vor Herbans Tür stehen. Er warf einen kurzen Blick auf den Titel »Leiter der Abteilung Biochemie«, der in säuberlichen Goldlettern auf der Tür stand, grunzte noch einmal und trat ein. Herban, ein kleiner Mann mit mittelbrauner Haut, kurzem, schwarzem Haar – das einstmals üppiger gewesen sein mußte – und tiefen Falten auf der Stirn, erwartete ihn, die Füße auf den Schreibtisch und die Hände hinter den Kopf gelegt. »Nun?« fragte Herban. »Sehen Sie’s mir nicht an?« erwiderte Rojers. »Na, dann gehen Sie eben wieder ans Zeichenbrett«,
sagte Herban. »Das ist schließlich nicht das Ende des Universums.« »Aber meins wird es bald sein, verdammt«, antwortete Rojers verdrossen. »Heute bin ich zehn Jahre hier, wissen Sie.« Herban nickte. »Das bedeutet, daß ich in jedem verdammten Jahr auf durchschnittlich 109,8 Fehlschläge komme.« »Haben Sie Mitleid mit sich selbst?« kicherte Herban. »Ich kann nichts Komisches daran finden!« bellte Rojers. »Nee. Wahrscheinlich nicht. Noch nicht.« »Was soll das heißen ›noch nicht‹?« fragte Rojers. »Mir reicht’s. Ich hab’ genug. Ich reiche meine Kündigung ein.« »Ja, aber ich nehme sie nicht an«, entgegnete Herban. »Setzen Sie sich. Nehmen Sie eine Zigarre.« »Haben Sie nicht verstanden?« fragte Rojers gereizt. »Ich kündige.« »Dann betrachten Sie die Zigarre als Abschiedsgeschenk«, meinte Herban. »Eigentlich überrascht es mich, daß Sie so lange gebraucht haben. Als ich zum ersten Mal beschloß, meine Papiere zu nehmen, hatte ich erst ungefähr dreihundert Experimente gemacht. Vermutlich ist das alles nur eine Frage des Selbstvertrauens. Ich wußte, wie gut ich war, und ich dachte, wenn ich bei dreihundert Versuchen nicht ein einziges Mal Erfolg habe, dann schaffe ich’s nie. Ich habe dreißig Jahre gebraucht, um zu begreifen, daß ich dreihundert Erfolge gehabt hatte. Ihnen – wenn meine mathematischen Kenntnisse nicht trügen – fehlen noch zwei an insgesamt elfhundert Erfolgen, mehr oder weniger. Ihr Mund steht offen, mein Junge. Warum stecken Sie nicht ‘ne Zigarre hinein, und dann unterhalten wir uns ein bißchen.« Rojers ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und starrte seinen Mentor an. Ohne darüber nachzudenken, biß er das Ende der Zigarre ab und zündete sie an.
»Ah, eine gute Zigarre ist wirklich das Schönste auf der Welt«, sagte Herban, inhalierte tief und blies dann den Rauch mit einem Seufzer von sich, der alle Ekstase enthielt, zu der er fähig war. »Etwas Schöneres gibt es wirklich nicht. Ich nehme an, Sie haben den Körper zerstört?« Rojers nickte. Herban zuckte die Achseln. »Na, das schadet wohl nichts. Hätte ja keinen Sinn, ihn heranwachsen zu lassen, denn sonst wären wir alle hier bald arbeitslos.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Rojers langsam. »Ich meine, das Ding war ein Freak, wie alle anderen. Minimale Intelligenz, langsame Reaktion auf Reize, Beine fast unbrauchbar. Was versuchen Sie mir zu erzählen?« »Die Wahrheit. Mit großem W, nicht in der gemäßigten Kleinschreibung, die sie in diesem Laden benutzen. Es hat mehr als ein halbes Leben gedauert, bis ich darauf gestoßen bin, vermutlich, weil sie so simpel ist. Meine Vorgänger sind natürlich auch alle mal draufgekommen, und sie haben aus dem gleichen Grund wie ich den Mund gehalten. Aber Sie sind der hellste Bursche in meiner Umgebung, obwohl Sie erst in den Dreißigern sind, und da ich die Absicht habe, mich in den nächsten Jahren irgendwann zur Ruhe zu setzen und meine Pension in dicke Zigarren und noch dickere Frauen umzusetzen, erscheint es mir nur folgerichtig, daß Sie meinen Platz einnehmen – das heißt, falls Sie sich entschließen könnten, Ihre Kündigung zurückzuziehen. Deshalb führen wir jetzt diese kleine Unterredung. Es gibt schließlich keinen Grund, Sie jahrelang im dunkeln tappen zu lassen, so wie ich es getan habe.« »Ich nehme an«, sagte Rojers eisig, »daß es einen Bereich des Projektes gibt, der sich meinem Verständnis entzieht.« »Einen Bereich!« Herban lachte. »Junge, Sie verstehen das ganze gottverdammte Ding nicht! Aber jetzt ziehen Sie mal nicht so ein saures Gesicht. Sie sind in guter Gesellschaft.
Niemand in der ganzen Galaxis versteht, worum es geht. Niemand außer mir. Und obwohl ich ein gottverdammtes Genie bin, habe ich dreißig Jahre gebraucht, es herauszufinden. Heute frage ich mich oft mit Staunen, weshalb mir nicht schon nach dem dritten oder vierten Experiment ein Licht aufging.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, öffnete den Mund und ließ den Rauch mit seiner eigenen Geschwindigkeit herauswölken. »Aber zum Teufel, ich war jung, idealistisch und all der andere Quatsch. Wahrscheinlich konnte man es mir ebensowenig wie Ihnen heute verdenken, daß ich an das Projekt glaubte.« »Wollen Sie damit andeuten, daß das Projekt ein Betrug ist?« Ein Gefühl der moralischen Entrüstung begann sich in Rojers zu regen. »Nun, ja und nein«, sagte Herban. »Ja und nein.« »Was soll das heißen?« »Genau das, was ich sage«, erwiderte Herban. »Wollen mal sehen, ob wir Sie nicht dazu bringen können, Ihr Gehirn ein bißchen anzustrengen. Schließlich – wenn Sie der nächste Chefbiochemiker der Oligarchie werden sollen, dann dürfen Sie niemanden brauchen, der Ihnen Ihre Schlußfolgerungen auf dem Silbertablett präsentiert. Sagen Sie mir, was Sie für den Zweck des Projektes halten.« »Den kennt jedes Schulkind«, sagte Rojers gereizt. »Ich wüßte nur gern, worauf Sie hinauswollen.« »Haben Sie noch ein wenig Geduld mit mir.« Der Ältere grinste und zündete seine erloschene Zigarre an. »Erzählen Sie mir etwas über das Projekt.« »Ich komme mir vor wie ein Idiot«, sagte Rojers. »Okay: Das Projekt sucht nach einem Weg, die Evolution zu beschleunigen, indem es die künstliche Entwicklung des Homo superior anstrebt.«
»Gegen diese Beschreibung ist nichts zu sagen. Und in dieser Hinsicht ist das Projekt auch absolut legitim. Das heißt, ›legitim‹ ist ein irreführender Ausdruck; lassen Sie mich lieber sagen, daß das Projekt in dieser Hinsicht ehrlich ist. Seine Motive sind lauter, und seine Tugendhaftigkeit, wenn schon nicht sein Erfolg, steht außer Frage.« »Dann weiß ich immer noch nicht, wovon Sie reden.« »Nun, fangen wir beim Anfang an, wollen wir, mein Junge?« sagte Herban. »Wissen Sie, wann das Projekt begonnen wurde?« »Nicht genau. Vor ungefähr vierhundert Jahren.« »Versuchen Sie’s mit viertausend.« Herban grinste. »Damit kommen Sie der Wahrheit ein ganzes Stück näher. Es begann – allerdings im geheimen – in den letzten Tagen der Republik. Ursprünglich arbeiteten nur vier Menschen daran, und die Zahl der Mitarbeiter blieb immer unterhalb eines Dutzends, bis die Oligarchie vor vierhundert Jahren – genau gesagt, vor 388 Jahren – beschloß, aus Gründen politischer Ratsamkeit die Öffentlichkeit zu informieren.« »Viertausend Jahre?« wiederholte Rojers. »Aber warum hat man es geheimgehalten?« »Aus Gründen zwingender Notwendigkeit«, erklärte Herban. »Sehen Sie, die ursprüngliche Idee war, eine echten Homo superior zu schaffen, eine Rasse, die den Menschen übertreffen sollte. Das heißt, eigentlich übertreffen sollte sie ihn natürlich nicht, denn niemand dürfte versessen darauf sein, sein eigenes Aussterben zu beschleunigen. Aber, sagen wir, die neue Rasse sollte den Menschen auf den Myriaden von Welten repräsentieren, gewaltige neue Domänen für uns erobern und dann weiterziehen, während wir die Früchte ihrer Arbeit ernteten. Eine niedliche Vorstellung. Sie müssen davon geträumt haben, eine Menschenrasse zu schaffen, die den Intellekt eines Robelianers, die Körperkraft eines Torqualen,
die PSI-Fähigkeiten eines Domariers besaß und dabei dem Menschen vorbehaltlos ergeben war.« Er zuckte die Achseln. »Na, es war eine junge Wissenschaft, und ich denke, ihre Träume sind verzeihlich. Die Geheimhaltung aber war aus zweierlei Gründen notwendig: Man wollte vermeiden, den guten alten Homo sap zu erschrecken, und man wollte vermeiden, die anderen Rassen, auf die wir unsere nette kleine Überraschung loslassen wollten, vorzeitig zu warnen. Und natürlich war es bei den begrenzten Mitteln und einer winzigen Zahl von ausgebildeten Biochemikern nicht verwunderlich, daß man in den dreitausendsechshundert Jahren eigentlich keine nennenswerten Erfolge erzielte. Dann aber kamen die Setts. Heute weiß jeder davon, aber ursprünglich wurde die ganze Geschichte vertuscht. Schließlich waren sie die erste Rasse, die uns in so etwas wie einer größeren Schlacht besiegte. Das geschah vor etwa fünfhundert Jahren, und da es sich weit draußen am Rand ereignete, konnte die Oligarchie es ohne Schwierigkeiten mehr als ein Jahrhundert lang geheimhalten. Dann aber sprach es sich doch bis Deluros VIII, Sirius V und zu den anderen Hauptwelten herum, und die Hölle brach los. Das Volk verlangte, daß die Oligarchie etwas unternehmen solle. Zehn Jahre lang zermarterte sich die ganze verdammte Regierung ihr kollektives Hirn, um eine Antwort zu finden, bevor man sie stürzte, und dann fiel irgendeinem Aktenhengst das Projekt ein. Über Nacht gab man uns einen Mitarbeiterstab von zweihundert Leuten, der allmählich auf dreitausend anwuchs, und unser Budget war absolut astronomisch. Während der nächsten zehn Jahre lernte die biochemische Wissenschaft mehr als in den siebzig Jahrhunderten zuvor, und die Oligarchie hatte die Öffentlichkeit mit einer Seifenblase, einem Wunschtraum, an der Nase herumgeführt: Wir würden eine Rasse von Supermenschen erschaffen, mit deren Hilfe wir die
Setts in die Hölle jagen würden. Es klappte in jeder Hinsicht hervorragend. Natürlich stellte sich wenig später heraus, daß die Setts furchtbar empfindlich gegen Masern waren, und sie kapitulierten bedingungslos, als wir ihren Heimatplaneten mit einer Million Tonnen Masernviren übersprühten. Aber das Volk hatte den Traum von der Superrasse gekauft, und die Regierung hielt für politisch ratsam, die Arbeit an dem Projekt fortzusetzen.« »War es das, was Sie meinten, als Sie andeuteten, es sei ein Riesenbetrug?« wollte Rojers erregt wissen. »Daß die Oligarchie eigentlich gar keinen Homo superior haben will?« »Nein, nein«, antwortete Herban, »wahrscheinlich wollen sie wirklich keine Supermenschen im Nacken haben – und wenn das Volk einmal darüber nachdächte, würde es sie wahrscheinlich auch nicht wollen. Aber niemand hat uns in irgendeiner Weise zu behindern versucht. Wenn Gott selbst einmal aus einem unserer Inkubatoren herausspränge, gäbe es niemanden, der uns veranlassen könnte, Ihn zurückzustecken.« Er lachte leise. »Und ebensowenig könnten sie Ihn dazu zwingen zurückzugehen, wenn Er dazu keine Lust hätte. Aber darum geht es nicht. Gott wird hier nicht zum Vorschein kommen. Zumindest nicht als direktes Resultat unserer Experimente.« »Das sagen Sie immer wieder«, meinte Rojers, der jetzt noch ratloser war als zuvor. »Wieso?« »Na, es liegt doch auf der Hand«, antwortete Herban. Er drückte auf ein paar Tasten an seinem Computerterminal, wartete einen Moment lang und schaute dann auf das Display. »Bis zu diesem Augenblick haben wir 1036753 Experimente mit menschlichen Genen durchgeführt. Wir haben versucht, DNS-Molekülen Evolutionsmuster aufzuzwingen. Wir haben versucht, grundlegende Mutationen auszulösen. Wir haben Gene und Chromosomen nach vorgegebenen Plänen und auch
willkürlich beschossen. Wir haben weit über dreitausend Möglichkeiten und Hunderttausende von Variationen dieser Möglichkeiten erprobt. Im Laufe dieser Untersuchungen haben wir für die Wissenschaft der Parthenogenese gewaltige Erfolge erzielt, aber unsere Supermenschen haben wir noch nicht zustande gebracht. Haben Sie je daran gedacht, nach dem Grund dafür zu fragen?« »Höchstens einmal pro Stunde.« »Na, das Problem ist wahrscheinlich zu simpel, als daß ein helles Bürschchen wie Sie es lösen könnte. Wenn Sie einen der wilden Nachkommen der Delphini-II-Kolonisten fragten, würde er Ihnen die Antwort vermutlich sofort geben können.« »Da ich selbst keinen Wilden persönlich kenne«, sagte Rojers, »muß ich Ihnen die Frage stellen. Damit ist natürlich keine vergleichbare Wertung beabsichtigt.« »Ich fühle mich auch nicht beleidigt.« Herban grinste. »Die Lösung des Problems liegt einfach in der Definition, und seine Ursache ist vermutlich unser komplexer Background.« »Ich kann Ihnen da nicht ganz folgen, Sir.« »Drücken wir es anders aus. Unsere Vorstellung von einer Supermenschenrasse würde wahrscheinlich beträchtlich von der eines Wilden abweichen, oder nicht? Ich meine, dessen Ideal wäre ein Mann, der einen großen Pflanzenfresser mit bloßen Händen zur Strecke bringen könnte, unter extremen Temperaturen überleben würde und die Potenz besäße, eine ganze Welt zu bevölkern – und dergleichen mehr. Einverstanden?« »Vermutlich, ja.« »Unsere Vorstellung aber reflektiert die Bedürfnisse, die wir empfinden. Welche Qualitäten müßte ein Supermensch Ihrer Meinung nach zumindest besitzen?« »Zunächst einmal eine intellektuelle Kapazität, die die unsere weit übertrifft. Und« – Rojers kratzte sich nachdenklich am
Kopf – »eine Reihe von PSI-Fähigkeiten: Telepathie, Telekinese und so weiter. Und in dem gleichen Maße, in welchem seine Gehirnkapazität gesteigert würde, dürfte seine physische Leistungsfähigkeit sinken, da er seinen Körper nur noch begrenzt einsetzen müßte. Aber das sind Klippschulweisheiten. Das weiß jedes Kind.« »Nicht ganz«, sagte Herban mit einem leisen Lächeln. »Unser Wilder hätte Einwände… vorausgesetzt, daß sein Intellekt ausreichte, Ihrer Argumentation zu folgen. Sonst nämlich würde er Sie mitten im Satz unterbrechen und in den nächsten Kochtopf werfen. Und das Interessante daran wäre, daß er trotz mangelnder Intelligenz und Bildung recht hätte und Sie nicht.« »Es klingt nicht, als wollten Sie scherzen«, sagte Rojers zweifelnd, »aber das muß doch ein Witz sein.« »Oh, es ist ein Witz, ganz ohne Zweifel«, bestätigte Herban. »Aber er geht auf unsere Kosten. Sehen Sie, der Mensch hat sich geistig so weit entwickelt, wie er konnte. Weiter geht es nicht. Unter dem Aspekt des Intellektuellen sind Homo sapiens und Homo superior ein und dieselbe Rasse. Ich werde diese Behauptung gleich qualifizieren, aber im wesentlichen ist sie so zutreffend.« Rojers starrte ihn ungläubig an und machte keine Anstalten, ihn mit einem Protest zu unterbrechen. Also nahm Herban wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarre und fuhr dann fort. »Was, Sie kluger junger Mann, ist der fundamentalste Grund für die natürliche Evolution?« »Umweltbedingte Erfordernisse«, antwortete Rojers mechanisch. »So ist es. Und genau das ist der Grund, weshalb wir keinen geistigen Supermann erschaffen werden. Der Mensch hat zu keiner Zeit mehr als dreißig Prozent seines intellektuellen Potentials genutzt; und solange die übrigen siebzig Prozent
noch brachliegen und nur darauf warten, angezapft zu werden, gibt es absolut keinen Grund für einen evolutionären Prozeß, der unsere Basisintelligenz vergrößern würde. Das gleiche gilt für Telepathie. Der Mensch brauchte sie ursprünglich nicht, weil er über die Fähigkeit verfügte, sich durch Sprache zu verständigen. Als er sich schließlich so weit von seinen Artgenossen entfernte, daß Sprache diese Distanzen nicht mehr überbrücken konnte, machte er sich die Radiowellen zunutze, Radar, Video, Sonar und Dutzende anderer Medien, mit denen er seine Wörter und Bilder über weite Strecken transportieren konnte. Warum also sollte es einen Bedarf für Telepathie geben? Es gibt keinen. Telekinese? Lächerlich. Wir haben Maschinen, mit denen wir buchstäblich Sterne vernichten können, mit denen wir Planeten aus ihrem Orbit zu schleudern vermögen. Welchen denkbaren Grund hätten wir, die Fähigkeit zur Telekinese zu entwickeln? Nehmen Sie jede einzelne Eigenschaft unseres hypothetischen Supermenschen, und Sie werden finden, daß kein umweltbedingter Bedarf dafür besteht. Nun, wie ich vorhin sagte, werde ich diese Behauptung bis zu einem gewissen Grad qualifizieren: Telepathie und sogar leichte Telekinese lassen sich unter Laborbedingungen zumindest gelegentlich herbeiführen. Aber zu diesem Zweck müssen wir Genstrukturen und Umwelt von Fötus und Kind so radikal verändern, daß unser Geschöpf von der Welt total abgeschnitten ist: Es darf keinerlei Sinnesorgane besitzen. In solchen Fällen entsteht zumeist ein völlig abgestumpftes oder wahnsinniges Gehirn. Gelegentlich wird das wahnsinnige Gehirn sich sein Reservepotential zunutze machen und telepathische Züge entwickeln, aber natürlich ist der Verstand dann so irrational, daß ein sinnvoller Kontakt oder gar ein bestimmtes Training ganz unmöglich ist. Hingegen ist es überhaupt nicht schwierig, den Supermenschen unseres Wilden
zu erschaffen, denn die physische Umgebung können wir sehr wohl beeinflussen, und wir können auch an den DNSMolekülen herumbasteln. Solche Produkte holen wir jeden Tag aus den Inkubatoren. Wir erschaffen behaarte Supermenschen, riesenhafte Supermenschen, dreiäugige Supermenschen, schwimmfähige Supermenschen, und wenn wir uns bemühten, könnten wir sicher auch methanatmende Supermenschen hervorbringen. Wir können so gut wie jeden Typ von Supermenschen zustande bringen – nur keine superintelligenten.« »Das heißt, es ist eine Sackgasse?« fragte Rojers. »Ganz und gar nicht. Sie vergessen die nichtgenutzten siebzig Prozent. Schon vor Beginn der frühzeitlichen Raumfahrt gab es zahlreiche dokumentierte Laborversuche, die sich mit Telepathie, Präkognition und vielen anderen PSI-Fähigkeiten und ähnlichen Talenten beschäftigten. Zweifellos verfügt jeder menschliche Körper über das Potential, alle die Leistungen zu vollbringen, die wir von unserem hypothetischen und unerreichbaren Supermenschen erwarten, aber wir haben keine Möglichkeit, dieses Potential anzuzapfen. Es ist das gleiche Problem: Sie besäßen, wenn es nötig wäre, das Potential zu einem telepathischen Hilferuf, und möglicherweise könnten Sie sich sogar selbst aus dem Gefahrenbereich teleportieren. Aber Sie werden es niemals tun, solange Sie schreien und rennen oder auf einen Alarmknopf drücken und in ein Raumschiff springen können. Und wenn Ihnen keine Hilfsmittel zur Verfügung stünden, hätten Sie einfach ein Lagerhaus voller Special effects; was Ihnen aber fehlt – was uns allen fehlt –, ist eine rationale Methode, den Schlüssel in die Tür des Lagerhauses zu stecken. Armer Homo superior…« »Wozu dann aber die Fassade der SupermenschenEntwicklung?« fragte Rojers.
»Damit wird ein höheres Ziel getarnt«, sagte Herban. »Ein höheres Ziel?« wiederholte Rojers. »So wie Sie das sagen, klingt es nun wirklich unheimlich.« »Das ist alles eine Frage des Standpunktes«, erwiderte Herban. »Ich betrachte es als überaus nutzbringend. Aber kommen Sie mit, und entscheiden Sie selbst.« Mit diesen Worten schwang der kleine Mann die Beine vom Schreibtisch, drückte seine Zigarre aus, erhob sich und winkte Rojers, ihm auf den Gang hinaus zu folgen. Als sie ein Stück weit gegangen waren, gelangten sie zu einem Horizontallift, der sie durch den mächtigen Biochemie- und Genetikkomplex brachte. Am Ende der Fahrt stiegen sie in einen Vertikallift um und rasten mit hoher Geschwindigkeit abwärts. Rojers hatte keine Ahnung, wie schnell sie sich bewegten, aber er schätzte, daß sie mindestens zweihundert Meter tief unter der Erde waren, bevor der Lift anfing zu bremsen. Zumindest, so fand er, war das, was hier vor sich ging, nicht allzu gründlich versteckt. Andererseits, dachte er weiter, wieso sollte es das sein? Schließlich bezahlte die Oligarchie dafür, und die Politik des Projektes war es, stets mit offenen Karten zu spielen. Das Projekt war ja überhaupt nur ins Leben gerufen und beibehalten worden, weil das Volk es so gewollt hatte. Die Türen öffneten sich, und Herban führte Rojers in einen zweiten Horizontallift, vorbei an zwei Sicherheitskontrollen. Dreimal wechselten sie den Lift, und jedesmal waren die Kontrollen strenger, bis sie schließlich vor einem massiven Bleiportal angelangt waren, welches langsam vor ihnen zur Seite glitt, als Herban seine Kennkarte in einen fast unsichtbaren Schlitz geschoben hatte. »Hier ist es«, grunzte der Leiter der Biochemie, als er durch die Tür ging. Rojers sah sich um; er war nicht beeindruckt. Dieser Bereich erschien ihm kaum anders als der, mit dem er vertraut war:
Korridore führten in alle Richtungen; zahlreiche Türen trugen Aufschriften, die die Abteilungen und Unterabteilungen bezeichneten, welche sich hinter ihnen verbargen; am hinteren Ende des breitesten Ganges schien ein recht großer Hörsaal zu liegen. Hin und wieder kam ein Techniker im Laborkittel aus einer Tür und verschwand hinter einer anderen, und einmal glaubte Rojers eine Frau zu sehen, die in einem Bleianzug eilig einen Gang durchquerte. Im großen und ganzen aber schien hier nicht die hektische Hast und Betriebsamkeit zu herrschen, die die großen Inkubatorräume und ihre Umgebung in den oberen Trakten erfüllte. Einiges aber war recht merkwürdig. Die Frau in dem Bleianzug zum Beispiel und die Tatsache, daß zwei der Türen, die er mit Herban durchschritt, aus Blei zu sein schienen, während die übrigen zumeist aus Plastik bestanden. Sie kamen zu einem Gang, an dessen Anfang ein Schild mit der Aufschrift HOCHSICHERHEIT drohte. Hier bogen sie ein. Herban nickte zwei Technikern zu, die leise miteinander redend vor einer der Türen standen, und blieb dann vor einer großen, nicht weiter gekennzeichneten Schiebetür stehen. Wieder schob er seine Kennkarte ein, und wieder glitt die Tür zur Seite; die beiden Männer traten hindurch und gelangten in einen Raum, der aussah wie ein extrem kompliziertes Laboratorium. Mit der Einrichtung jedoch war Rojers zum größten Teil nicht vertraut. Es gab hier weit weniger Geräte zur Arbeit an Genstrukturen als oben, aber dafür beträchtlich mehr, die zumindest oberflächlich große Ähnlichkeit mit enzephalographischen und kardiographischen Apparaten besaßen. Im Unterschied zu den Labors, an deren sterile Atmosphäre Rojers sich im Laufe seines Berufslebens gewöhnt hatte, schien dieser Komplex ebensosehr auf Behaglichkeit wie auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet zu sein. Überall sah man Polstersessel, Aschenbecher (hierbei allerdings mochte es sich
um eine Folge von Herbans Auffassung handeln, daß jeder – aber auch wirklich jeder – Zigarren rauchen sollte), Speiseautomaten, Bücher und Tapes mit populärer Unterhaltung und eine Anlage, die den Raum mit Musik, Bildern oder beidem überfluten konnte. »Haben Sie eine Ahnung, wo Sie hier sind?« fragte Herban freundlich und nahm neben einem Aschenbecher Platz. »Nein«, sagte Rojers. »Ich muß allerdings zugeben, daß ich mir oft vorgestellt habe, Ihr Schlafzimmer könnte so aussehen.« Herban gluckste und zündete sich eine Zigarre an. »Leider nicht. In meinem Schlafzimmer drängen sich zumeist die fettesten, nacktesten Frauen, die man mit Geld kaufen kann. Nein, mein Junge, Sie befinden sich in einem unserer Basistesträume.« »Wen testen Sie denn hier?« fragte Rojers. »Und worauf?« »Wir testen Menschen«, sagte Herban. »Und wir testen sie, um festzustellen, ob sie die hypothetischen Supermenschen sind.« »Jetzt bin ich völlig verwirrt«, sagte Rojers. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, wir könnten keine Supermenschen erschaffen, und es klang verdammt überzeugend. Wollen Sie mir jetzt erzählen, daß Sie nicht die Wahrheit gesagt haben?« »Aber nein.« »Wie kommen dann diese sogenannten Supermenschen zustande? Welches Labor produziert sie?« »Überhaupt kein Labor. Als ich Ihnen sagte, der Mensch werde sich nicht zu einem geistigen Supermann entwickeln, habe ich nicht gelogen. Aber ich habe nicht behauptet, ein solcher Supermann könne nicht existieren.« »Ich komme mir vor, als säße ich wieder auf der Schulbank«, stöhnte Rojers erschöpft. »Jedesmal wenn ich glaube, daß ich weiß, wovon Sie reden, legen Sie einen neuen Stein auf die Mauer.«
»Nun, ich will zugeben, daß Sie zunächst eine Menge falscher Annahmen beiseite legen müssen«, sagte Herban. »Aber alles, was ich Ihnen heute erzählt habe, ist wahr und widerspricht sich nicht. Zum Beispiel sagte ich, daß wir uns nicht zu geistigen Supermenschen entwickeln könnten. Das stimmt. Und jetzt sage ich Ihnen, daß es in der Tat geistige Supermenschen gibt und daß wir hier unten mit ihnen arbeiten. Auch das stimmt.« »Aber woher kommen sie, wenn wir sie nicht erschaffen haben?« beharrte Rojers. »Ziemlich genau daher, wo auch Sie und ich herkommen. Natürliche Selektion, natürliche Zeugung und höchstwahrscheinlich auch natürliche Geburt.« Rojers starrte ihn wortlos an. »Sehen Sie«, fuhr Herban fort, »diese Supermenschen sind keine Mutationen – zumindest nicht in dem Sinne, in dem Sie an Mutationen arbeiten. Ich will es Ihnen vereinfachen. Täglich werden schätzungsweise eine Million menschliche Mutationen gezeugt. Die Hälfte davon wird schon nach Stunden reabsorbiert. Die meisten der übrigen sind so geringfügig, daß man sie eigentlich kaum bemerkt: Ein Kind kommt mit einer blonden Strähne in einem ansonsten roten Haarschopf oder mit einem unheimlich aussehenden Muttermal zur Welt. Manche erregen geringes Aufsehen, beispielsweise ein Kind mit sechs Fingern oder mit einer dünnen Fleischschicht über dem Anus oder mit der Anlage zu nur sechsundzwanzig Zähnen. Gemeinhin sind diese Veränderungen so geringfügig, daß sie uns nicht auffallen. Und genau besehen werden auch nur wenige Mutationen weitervererbt. Wir haben noch immer unseren Blinddarm, wir haben noch Mandeln, und wir haben noch Haare am Körper. Trotz der Tatsache, daß es Familien gibt, in denen die Mütter ihre Kinder seit achtzig oder neunzig Generationen nicht mehr stillen, entwickeln die weiblichen Kinder noch Brüste,
manchmal sogar sehr große und hübsche. Nein, wie gesagt, Mutationen werden selten weitergegeben, und keine Mutation hat bisher einen Supermenschen hervorgebracht, dessen geistige Kapazitäten größer gewesen wären als Ihre oder meine. Aber«, fuhr er fort und stieß dabei mit seiner Zigarre in die Luft, »eine Mutation ist auch gar nicht erforderlich, um einen geistigen Supermann hervorzubringen. Wie ich oben schon sagte: Es ist nichts weiter erforderlich, als daß ein Mann oder eine Frau hundert oder auch nur fünfzig Prozent des Potentials nutzt, mit dem er oder sie geboren wurde.« »Und solche Leute haben Sie gefunden und testen sie hier unten?« fragte Rojers. »Wir finden solche Leute seit viertausend Jahren oder länger«, sagte Herban. »Und wir testen sie hier unten, jawohl.« »Und was für Talente haben Sie schon gefunden?« »Oh, ein bißchen von allem. Außer Präkognition. Meistens können die Spökenkieker, wie man sie nennt, bevorstehende Ereignisse fühlen, niemals aber die Details. Größtenteils handelt es sich um ein Gefühl von unerträglich gespannter Erwartung, und ganz selten nur hat es Geltung oder Bezug für irgend jemand anderen außer ihnen selbst. Aber wir haben schon Telepathen gefunden, die senden, empfangen oder beides konnten. Wir haben Levitatoren gehabt. Wir hatten auch schon Teleporter, aber es waren nur insgesamt drei, und zwei davon mußten mit einer unabwendbaren Todesdrohung konfrontiert werden, bevor sie sich selbst aus dem Gefahrenbereich teleportierten. Weit mehr Leute haben wir gefunden, die recht gute telekinetische Begabung aufwiesen. Und selbstverständlich haben wir auch ein paar Intelligenzen, die weit über die Skala hinausschießen und deren Hirnleistung so groß ist, daß wir noch keine verständliche Methode haben, sie zu messen.«
»Phantastisch«, sagte Rojers. »Und wunderbar.« »Phantastisch auf jeden Fall«, entgegnete Herban trocken. »Aber die meisten von ihnen gehen intakt nach Hause.« »Was heißt das, sie gehen intakt nach Hause?« wollte Rojers wissen. »Na, was ich sage. Warum, glauben Sie, unternehmen wir alle diese Tests?« »Ich nehme an, aus den gleichen Gründen, aus denen wir versuchen, in den Inkubatorräumen die Evolution zu bezwingen: um einen Supermenschen zu erschaffen.« »Aber diese Supermenschen sind bereits erschaffen«, bemerkte Herban. »Dann, könnte ich mir denken, will man sie darauf trainieren, daß sie ihre Talente nach besten Kräften nutzbar machen und zum Wohle der Oligarchie einsetzen.« »Was für eine absolut kindische Antwort!« Herban lachte. »Wenn genügend viele von ihnen ihre Talente nach besten Kräften und mit ihrem Maximalpotential nutzen würden, dann wäre die Oligarchie – und der Mensch – innerhalb von fünfzig Jahren am Ende. Nein, mein junger Idealist, wir haben definitiv kein Interesse daran, ihnen zu helfen, Supermenschen zu werden, und sie dann auf die menschliche Gesellschaft loszulassen.« »Heißt das, Sie bringen sie um?« »Jetzt machen Sie nicht ein so erschrecktes Gesicht«, sagte Herban besänftigend. »Wir wollen doch nicht vergessen, daß Sie ungefähr jedes Lebewesen getötet haben, das Sie vorher geschaffen hatten.« »Aber das waren Babys«, protestierte Rojers. »Und mehr als die Hälfte davon befand sich noch im Embryonalzustand.« »Es läuft auf das gleiche hinaus«, beharrte Herban. »Aber wenn es Sie beruhigt: Wir bringen sie nicht mit dem ausdrücklichen Ziel, sie zu töten, hierher. Wir haben ein
galaxisweites Netz, mit dem wir jeden Menschen ausfindig machen, der über das verfügt, was man als wildes Talent bezeichnen könnte. Und wenn man bedenkt, wie viele Milliarden Menschen es gibt, dann entgehen uns nicht viele. Nun, wenn sie gefunden sind – und zumeist sind es Jugendliche, bei denen Außenseiter entsprechende Fähigkeiten entdecken –, werden sie entweder hierher oder in eines von sieben ähnlichen, über die Galaxis verstreuten Laboratorien geschafft. Hier angekommen, werden sie auf Herz und Nieren untersucht. Bevor wir damit fertig sind, kennen wir die absoluten Grenzen ihrer Fähigkeiten; nicht selten finden wir sogar Talente, von denen sie selbst nicht wußten, daß sie sie besaßen. Außerdem führen wir umfassende Analysen ihrer Genstruktur durch, wir untersuchen DNS-Code, Sperma, Ovum – alles, was möglicherweise einen Einfluß auf ihre Nachkommenschaft haben könnte, wenngleich ich einräumen muß, daß wir bisher noch nichts Außergewöhnliches entdeckt haben. Wenn dies geschehen ist, können wir eine von drei möglichen Entscheidungen treffen. Wenn die Chance besteht, daß das Talent sich weitervererben könnte – und da wir dies nicht genetisch bestimmen können, müssen wir es einfach als möglich voraussetzen, wenn jemand in den vergangenen fünf Generationen irgendeine ungewöhnliche Fähigkeit gezeigt hat –, werden sie sterilisiert, ohne daß sie es wissen natürlich. Wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß das Talent sich nicht fortpflanzt, entlassen wir sie meist in die Gesellschaft zurück, vor allem, wenn es sich um ein nicht allzu spektakuläres Talent handelt, etwa um leichte Telepathie. Wenn es sich hingegen um etwas Interessantes handelt, etwas, das die Leute veranlassen könnte, von uns zu verlangen, daß wir es nutzbar machen, verschiffen wir das Individuum meistens auf eine der Grenzwelten.«
»Das waren zwei Entscheidungen«, sagte Rojers. »Sie erwähnten aber drei.« »Die dritte dürfte auf der Hand liegen.« »Der Tod?« »Rasch und schmerzlos, wenn das Talent es erforderlich macht.« Herban nickte. »Und um Ihrer nächsten Frage vorzugreifen: Das Talent macht diese Entscheidung erforderlich, wenn es sich jemals in irgendeiner Weise zum Nachteil des Menschen verwenden ließe. Wenn beispielsweise die Intelligenz eines Mannes so groß ist, daß kein Instrument in unserer technologisch orientierten Kultur sie messen kann, dann ist er zu gefährlich, als daß er weiterleben dürfte. Zugegeben, es ist denkbar, daß eine solche Intelligenz einen sinnvollen Kontakt zu einer der Rassen aufnehmen könnte, zu denen wir bisher nicht durchdringen konnten, oder daß sie Krankheiten heilen könnte, gegen die wir bisher machtlos waren… aber sie könnte auch eine Flotte an sich bringen und eine politische Anhängerschaft um sich sammeln, mit der die bestehende Ordnung der Dinge gestürzt werden könnte. Und das gilt nicht nur für Intelligenz. Ein Mann, der die Kraft der Telekinese im vollen Ausmaß beherrscht, kann die Elemente im Kern eines Sterns manipulieren und ihn zur Nova werden lassen. So etwas könnte sich als nützlich erweisen, wenn wir wieder einmal so etwas wie den Krieg mit den Setts erleben sollten. Aber was, wenn er zu dem Schluß kommt, die Regierung seines eigenen Systems sei völlig korrupt? Und das gleiche gilt für andere Talente. Ein legitimer Fall von Hellsichtigkeit – und wir haben noch keinen gefunden – würde die ökonomische Struktur jeder Welt vernichten, die sich in nennenswertem Ausmaß mit Finanzspekulationen beschäftigt. Teleportation? Mehr als die Hälfte unserer Wirtschaft ist mit dem interstellaren und interplanetarischen Reise- und Transportverkehr verknüpft. Die Fähigkeit, einen anderen
gegen dessen Willen zu hypnotisieren? Damit könnte man absolute Kontrolle über ein System, möglicherweise über die ganze Galaxis erlangen. Nein, mein Junge, solche Talente kann man nicht weiterleben lassen. Wir vernichten nicht jeden hochintelligenten Menschen, nicht jeden, der Telekinese beherrscht, und auch nicht jeden Telepathen. Nur diejenigen, die eine deutliche Gefahr darstellen. Wohlgemerkt, ich sage nicht: eine gegenwärtige Gefahr. Zukünftige Gefahren sind keinen Deut besser. Und wenn wir die äußeren Grenzen eines gefährlichen Mannes entdecken, bevor er es tut, ist es für ihn sehr viel schwieriger, einen Verteidigungswall gegen uns zu errichten, auf geistiger oder auf anderer Ebene.« »Und wie viele Menschen töten Sie?« fragte Rojers. »Jährlich bringen wir ungefähr eine Million in jedes der Laborzentren. Wir finden weit mehr, aber die meisten von ihnen werden schon auf der unteren Ebene wieder aussortiert. Wir bekommen nur die wirklich problematischen. Von dieser Million verlassen uns ungefähr achthunderttausend intakt und noch einmal hundertachtzigtausend sterilisiert. Was die restlichen zwanzigtausend betrifft… nun, innerhalb eines halben Jahrhunderts retten wir die Galaxis potentiell eine Million mal.« »Sie retten Sie? Wovor?« fragte Rojers angewidert. »Wir retten sie nicht vor etwas«, antwortete Herban sehr langsam und mit großem Ernst. »Wir retten sie für etwas: für den Menschen. Schauen Sie nicht so moralisch entrüstet drein, mein Junge. Ich weiß, Sie denken an all die unschuldigen Supermenschen, die hier unten in den Tod gegangen sind, an all die wundervollen Talente, die uns hier und jetzt das Paradies hätten bringen können. Vielleicht hätten sie es wirklich tun können. Aber ich denke an die dreihundert
Milliarden Menschen, die ihr Geburtsrecht nicht abtreten werden. Nicht einmal an ihre Abkömmlinge.« »Und was ist mit den Inkubatoren?« wollte Rojers wissen. »Was ist mit den kleinen Lebewesen, die wir jeden Tag erschaffen und wieder auslöschen?« »Sie erfüllen ihren Zweck«, sagte Herban. »Und ihr Zweck ist nur teilweise, euch Jungs zu trainieren und die Unterdisziplin der Parthenogenese weiter voranzutreiben.« »Ach?« Rojers war immer noch mißtrauisch. »Unbedingt. Sehen Sie, die Talente, mit denen wir uns hier unten beschäftigen, sind sehr seltene Erscheinungen, auch diejenigen, die ihre Fähigkeiten womöglich weitervererben würden. Aber wenn Sie je eine genetische Methode entdecken, diese siebzig Prozent zu erschließen, dann wird die ganze Menschheit glücklich weiterkommen. Aber sie wird nicht zulassen, daß einzelne ihr einen Schritt voraus sind.« »Aber in viertausend Jahren haben wir eine solche Methode nicht entdeckt!« »Vielleicht werden Sie auch in den nächsten viertausend Jahren nichts entdecken. Aber es ist einen Versuch wert. Und inzwischen geht es dem Menschen doch gar so schlecht nicht mit seiner Hinterlist und seinen faulen Tricks – oder?« Er stand unvermittelt auf. »Ich lasse Sie jetzt hier; Sie können über das nachdenken, was ich Ihnen erzählt habe. In ein paar Stunden bin ich wieder da.« An der Tür blieb Herban stehen und wandte sich noch einmal zu Rojers um. »Es steht jetzt in Ihrer Macht, ein Geheimnis zu enthüllen, das ein paar Jahrhunderte lang bewahrt worden ist. Also betrachten Sie alle seine Aspekte mit großer Sorgfalt.« Er ging hinaus, und die Tür glitt hinter ihm ins Schloß. Rojers saß da und dachte nach. Er erwog die Offenbarungen dieses Tages, durchdachte sie logisch, philosophisch, praktisch, idealistisch, moralisch, pragmatisch. Als er damit fertig war, runzelte er die
Stirn und dachte noch ein wenig mehr nach. Als Herban zurückkehrte, erhob er sich schweigend und folgte dem Chef der Biochemiker zurück zu seiner eigenen Ebene. Als sie sich dem Inkubatorraum näherten, trat ein forscher junger Mann, der für die Nachrichtentapes eines fernen Systems berichtete, auf sie zu und bat um ein Interview. »Ich bin gerade beschäftigt«, sagte Herban. »Aber ich bin sicher, Dr. Rojers wird sich mit Vergnügen ein wenig mit Ihnen unterhalten.« Rojers nickte zustimmend. »Schön«, sagte der Reporter. »Können Sie mir erzählen, was hinter diesem Projekt steckt? Wie hat es angefangen?« »Gern«, sagte Rojers ruhig und trat an die Inkubatoren. »Obwohl – viel zu erzählen gibt es da nicht. Das Projekt wurde vor knapp vierhundert Jahren ins Leben gerufen, um eine Rasse von Supermenschen zu entwickeln, Geistesriesen, die Leistungen vollbringen könnten, die jetzt noch unerreichbar für uns sind. Bis jetzt haben wir unser Ideal noch nicht erschaffen, aber wir arbeiten immer noch daran, ehrlich gesagt. Ja, Sie können Ihren Hörern sagen, daß wir möglicherweise am Rande eines größeren Durchbruchs stehen. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir bis zum Ende des Jahrhunderts am menschlichen Chromosom eine telepathische…« Herban blieb stehen und wartete, bis die beiden außer Hörweite waren. Dann zündete er sich seufzend eine Zigarre an und kehrte in sein unterirdisches Büro zurück. Er hatte noch viel zu tun, bevor er nach Hause gehen und sich seinen fetten, nackten Frauen widmen konnte.
15: Die Kriegsherren … Und als die Oligarchie innehielt, um sich zu konsolidieren, erhoben sich ringsum an den Rändern des Imperiums
Kriegsherren zu Dutzenden. Alle bis auf einen wurden entweder ignoriert oder auf einen Streich zur Strecke gebracht. Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Über Grath (? -5912 G. Z.) selbst ist wenig bekannt, außer daß er, mit einer erbarmungswürdigen Minderzahl gegen eine bedrückende Übermacht kämpfend, sich gegen das imperialistische Imperium seiner Rasse erhob und den Sieg nur um Haaresbreite verfehlte. Zweifellos besaß er den brillantesten Militärverstand der oligarchischen Ära – wie überhaupt vielleicht jeder Ära –, und die meisten der historischen Schlachten Graths sind bis auf den heutigen Tag Standardbeispiele in den Lehrbüchern… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Eigentlich hätte es Utopia so nahe sein müssen, daß man den Unterschied nicht mehr bemerkte. Die Oligarchie hatte geteilt, geherrscht, erobert und konsolidiert, und zum ersten Mal in seiner galaktischen Existenz hatte der Mensch keine Feinde mehr. Das heißt, kein Alien war mehr sein Feind. Aber zwei Millionen Welten waren eine Menge Territorium für eine einzige politische Einheit, und so begann der Mensch wieder einmal, gegen sich selbst zu kämpfen. Buchstäblich Hunderte von Kriegsherren erschienen überall an der Peripherie des Imperiums; die meisten von ihnen wurden ohne viel Federlesen niedergeschlagen, aber eine kleine Handvoll – unter ihnen Grath – errang nach einer Weile einen kleinen Sieg nach dem anderen.
Und jetzt stand er da, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte vom Boden eines nirgends verzeichneten Planeten, eine halbe Galaxis weit von Deluros VIII entfernt, zum Himmel hinauf. Die Lichtpunkte der Sterne verschmolzen miteinander und wurden zu einem grenzenlosen weißen Schleier, der in der Unendlichkeit zu verwehen schien. Aber das war eine visuelle Illusion, nichts weiter. Grath wußte genau, wo Deluros war, er kannte jeden möglichen Weg dorthin, und er kannte auch den langen und blutigen Weg, den er sich würde bahnen müssen, um so wie jetzt auf jeder Welt zu stehen, von deren Boden aus man Deluros erkennen konnte, wie es sich aus dem riesigen weißen Nebel abhob, den er eines Tages zu beherrschen hoffte. Als erstes käme Altair, dann die Bergbauwelten von Spica, damit sein Nachschub gesichert wäre. Diesen Eroberungen würde er eine rasche Finte in Richtung auf Terra folgen lassen. Der Geburtsort der Rasse diente keinem nützlichen militärischen Zweck, aber die vielen hundert Milliarden, die ihn um vielversprechenderer Welten willen verlassen hatten, verehrten den Planeten mit beinahe religiöser Intensität. Die Flotte würde auf diesen Schachzug reagieren, und innerhalb eines halben Tages würden seine Hauptkräfte Sirius V vernichtet haben. Dann würde es weitergehen nach Binder, Canphor, Lodin – und schließlich nach Deluros selbst. Allein Caliban würde ungeschoren davonkommen, denn Caliban war zu wertvoll, als daß er es hätte zerstören dürfen. Es würde weder schnell noch leicht vonstatten gehen. Deluros befand sich nicht im geometrischen Zentrum der Galaxis, aber es war das Epizentrum der Oligarchie. Man konnte sich ihm nicht nähern, ohne mindestens eine Viertelmillion Welten des Imperiums zu passieren, eine jede geschützt von der gewaltigen Flotte der Oligarchie. Und da waren die anderen Kriegsherren zu bedenken, die ihm zumindest zu Anfang noch mehr Schwierigkeiten bereiten würden als die Flotte. Einmal,
vor Jahren, hatte er eine Zusammenkunft arrangiert, weil er gehofft hatte, der Oligarchie eine geeinte militärische Front präsentieren zu können, aber seine Bemühungen waren fruchtlos geblieben. Ihre Visionen waren kleinkariert, ihr Blick kurzsichtig. Sie wollten Brosamen, er aber wollte den ganzen Kuchen. Zu Anfang hatte er nichts als dreiundvierzig Getreue und ein Schiff besessen. Zwei Jahre der Piraterie hatten seine persönliche Flotte auf siebzehn Schiffe anwachsen lassen, und seine Gefolgschaft zählte sechstausend Männer. Das Piratendasein war lukrativ, und leicht hätte er unbegrenzt so weiterleben können, aber seine Träume galten Größerem als der bloßen Anhäufung von Reichtümern, und sein nagender Hunger nach Macht wurde ergänzt durch einen ausgefuchsten Militärverstand und einen starken Charakter, der augenblicklichen und unbeirrbaren Gehorsam verlangte. Nach seinem ersten siegreichen Zusammentreffen mit der Flotte war es gewesen, daß er in Kategorien von Eroberung zu denken begann und nicht mehr nur an Beutezügen interessiert war. Sicher, das Glück war auf seiner Seite gewesen, aber das war ohne Bedeutung. Zum ersten Mal in drei Jahrhunderten hatte die Flotte auch nur ein kleines Scharmützel verloren, und dies hatte den Mythos der Unbesiegbarkeit zerschmettert, der sich um die Streitkräfte der Oligarchie gerankt hatte. Als nächstes steckte er ein kleines Gebiet außen am Rande der Galaxis ab. Seine Grenzen umschlossen 376 Sterne mit ungefähr 550 Planeten, von denen ungefähr 35 bewohnt waren. Er gestattete sich ein halbes Jahr, um zum uneingeschränkten Herrscher dieser Region zu werden, und er unterbot die selbstauferlegte Frist um mehr als einen Monat. Von hier aus wuchs sein Imperium, stets am Rand, stets weit entfernt von den Nachschubbasen der Oligarchie und ihrer Flotte. Fast fünf Jahre lang vermied er jede Konfrontation mit der Flotte; er bewegte sich langsam und vorsichtig und sicherte jeden
Neugewinn, bevor er weiterzog. Andere MöchtegernKriegsherren lernten aus seinen Erfolgen, und bald steckten auch sie ihre Territorialansprüche ab. Einigen von ihnen stieg die neugewonnene Macht zu Kopfe, und sie zogen allzufrüh gegen die Flotte. Sie wurden vernichtet. Andere versuchten, von Graths Besitztümern etwas loszubrechen, aber auch ihnen war kein Erfolg beschieden. Die Führer ließ Grath immer hinrichten. Die Unterlinge, die sich ihm ergeben zeigten, wurden in seine Reihen aufgenommen, und diejenigen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten fanden bei ihm bessere Behandlung als unter ihren früheren Kommandanten. Schließlich aber zwangen ökonomische Erfordernisse ihn, gegen die Oligarchie zu ziehen. Er hatte fast fünf Millionen Menschen zu ernähren, und schmerzlich war ihm bewußt, daß die Desertionsrate unter den Soldaten, die auf den bewohnbaren Planeten seiner Domäne stationiert waren, stetig wuchs. Der Rand war so gut wie sein, und weder einzelne Systeme noch Systemgruppen vermochten sich seiner Militärmacht entgegenzustellen. Nacheinander hatten sie sich ergeben, und angesichts dieser unblutigen Siegeszüge waren seine Leute von Langeweile erfüllt. Er spürte, daß sie ein neues Ziel brauchten, und das einzige Ziel, welches ihre Phantasie noch befeuern und ihre Kampfeslust beflügeln konnte, war die Oligarchie selbst. Er wandte seinen Blick von den Sternen ab und seinen Gefährten zu, die hinter ihm standen und seine Befehle erwarteten. »Meine Herren«, sagte er, »der erste Schlag muß eine deutliche Sprache sprechen. Einen schlecht bemannten Außenposten oder einen kleinen Konvoi von Schiffen der Flotte zu überfallen würde unsere Kraft nicht auf die Probe stellen, und auf Deluros würde man darüber vermutlich nicht einmal die Achseln zucken.«
»Und was ist schlecht daran, wenn Deluros weiterschlummert, während wir nach seiner Kehle greifen?« fragte einer seiner Subkommandanten. »Nun, so ironisch es auch erscheinen mag«, sagte Grath, »solange Deluros schlummert, ist es unangreifbar. Wir können nur dann nahe genug herankommen, wenn es uns gelingt, die Flotte vom Kern der Galaxis fortzulocken. Wenn sie uns fürchten, wenn sie die Hauptmasse ihrer Streitkräfte mobilisieren, dann haben wir eine Chance. Der Trick ist, daß sie niemals unsere wahre Größe und Stärke erfahren dürfen; sie müssen nervös genug sein, uns zu suchen, dürfen aber nicht klug genug sein zu wissen, daß wir eine halbe Million Schiffe besitzen.« Er hielt inne und schaute sich langsam in der Runde um. »Zu diesem Zweck werden wir einen massiven Angriff gegen Altair VII führen.« »Ein leichtes Spiel ist nicht nach Ihrem Geschmack, wie?« bemerkte einer der Adjutanten. »Ein leichtes Spiel können wir in dieser Galaxis millionenfach finden«, erwiderte Grath. »Keines davon – und nicht einmal alle zusammen genommen – würde uns irgendeinen Nutzen bringen. Die Oligarchie kontrolliert fast zwei Millionen Welten. Sie kontrolliert fünf Sechstel der galaktischen Wirtschaft. Sie hat eine Flotte von über fünf Millionen Kriegsschiffen mit durchschnittlich zweihundert Mann Besatzung, nicht zu reden von den Milliarden der übrigen Soldaten und Söldner auf den Planeten, die unter militärischer Kontrolle stehen. Um der Oligarchie auch nur einen Kratzer zuzufügen, müssen wir gegen etwas Großes, etwas Bedeutendes antreten. Glauben Sie, es kümmert sie auch nur einen Deut, was wir hier draußen am Rande treiben? Wir sind hier so weit entfernt vom Kern der Dinge, daß man uns nicht einmal als geringfügiges Ärgernis betrachtet. Wir haben genug Zeit damit verschwendet, auf Beute auszugehen. Wenn
wir je die Herrschaft gewinnen wollen, ist es Zeit, damit zu beginnen. Die Zeit ist wahrscheinlich unser größter Feind. Die Galaxis ist groß, so groß, daß selbst unser schnellstes Schiff mehr als ein Jahr brauchen würde, sie zu durchqueren, sofern sich niemand ihm entgegenstellt. Sie zu durchqueren, wenn wir in einem Verhältnis von hundert zu eins in der Minderzahl sind, wenn wir im Grunde weder Möglichkeit noch Gelegenheit haben, Schiffe oder Leute zu ersetzen… Das, meine Herren, ist die gegenwärtige Situation. Wir werden in wenigen Jahren tun müssen, was eigentlich eine Aufgabe für Generationen wäre. Und beginnen«, schloß er, »werden wir mit Altair VII.« Altair VII war das politische und wirtschaftliche Zentrum einer Region mit einem Durchmesser von fast siebenhundertfünfundzwanzig Lichtjahren. Es war von allen oligarchischen Großwelten am weitesten von Deluros VIII entfernt, und hier saß die Zentralregierung für Zehntausende von Grenzwelten bis weit hinaus zum Rand. Insofern maß man Altair VII im Gefüge der Oligarchie eine lebenswichtige Bedeutung bei, und zu seinem Schutz (wie auch für gelegentliche Expeditionen gegen unbotmäßige Grenzwelten) war hier eine Flotte von 35000 Schiffen stationiert. Für eine andere Militärmacht als die Oligarchie war Altair VII von geringem strategischem Wert. Der Planet war zu weit vom Kern der Galaxis entfernt, als daß er als Operationsbasis nutzbar gewesen wäre, und er benötigte drei ganze Landwirtschaftswelten zur Deckung seines Bedarfs. Sein einziger Wert lag in seiner komplexen und hocheffizienten Bürokratie. Fast sechs Milliarden Menschen, beinahe alle in dieser oder jener Weise bei der Regierung beschäftigt, arbeiteten in den riesigen, endlosen Glaspalästen, und sie führten ein Leben zwischen Aktenschränken, Tischcomputern und in der ständigen Angst vor Degradierung oder Kündigung.
Aber auch Macht wohnte hier: Die Macht, aufbegehrende Welten zu disziplinieren, die Herrschaft des Menschen auf einen Planeten hier oder ein System dort auszuweiten; und unausgesprochen, aber niemals vergessen, wohnte hier auch die Macht der Oligarchie. Die Schlacht um das Altair-System war kurz, wie das für Raumschlachten in jenen Tagen meistens zutraf. Grath hatte gut geplant; er hatte die Koordinaten des Sterns, seines Hauptplaneten und aller Schiffe seiner eigenen Armada in zahllose Computer programmiert. Entfernungen wurden vermessen, Zeiten berechnet, die Raumkrümmung berücksichtigt, und schließlich wurde jedem einzelnen Schiff ein Flugplan einprogrammiert. Sie starteten nicht alle zugleich und nicht alle mit der gleichen Geschwindigkeit, und sie nahmen auch nicht alle den gleichen Kurs. Aber jedes war so programmiert, daß die gesamte Flotte das Altair-System geschlossen erreichte. Dem bloßen Auge wäre die Ankunft von Graths Flotte wie Zauberei erschienen; in einer Sekunde war das System leer, und in der nächsten wimmelte es von einer halben Million Schiffe, die auf Sublichtgeschwindigkeit herabbremsten. Aber die Technologie der Weltraumkonflikte verließ sich längst nicht mehr auf das bloße Auge, und so war die Flotte der Oligarchie nicht gänzlich unvorbereitet. Eine Anzahl von Graths Schiffen schoß um Lichtjahre über das Altair-System hinaus, ein paar stürzten in die Sonne, und einige prallten auf den größten der sechzehn Planeten des Systems. Aber die Hauptmasse der Flotte traf im geplanten Augenblick am geplanten Ort ein, und nach einem kurzen, heftigen Gefecht mit relativ schweren Verlusten auf beiden Seiten ordnete sich die Schlacht – wie solche Schlachten es oft tun – zu einer Serie von Manipulationen, kugelförmigen Umzingelungsmanövern, dreidimensionalen Phalangen und all den anderen komplexen militärischen Formationen, die sich
die raffiniertesten Computer der Köpfe der Galaxis nur vorstellen konnten. Es dauerte fast drei Wochen, Wochen langer und verschlungener Manöver, unterbrochen von kurzen, unglaublich gewalttätigen Zusammenstößen. Am Ende gehörte Altair VII – und damit das ganze Altair-System – Grath. Es hatte ihn einundzwanzig Tage und sechsundvierzigtausend Schiffe gekostet. Die nächsten Monate verbrachte er damit, seine Streitkräfte neu zu gruppieren, die spärlichen Nachschublinien, die er geschaffen hatte, zu festigen und auf eine Reaktion der Oligarchie zu warten. Es kam keine. »Unser nächstes Ziel«, verkündete er eines Abends, »ist Valleux II, eine Bergbauwelt, die auf Platin spezialisiert ist. Sie liegt etwa hundert Lichtjahre näher am Kern als Altair. Außerdem habe ich beschlossen, die Stützpunkte am Rand endgültig aufzugeben.« »Aber warum?« fragte ein Adjutant. »Wir sind hier doch beinahe unangreifbar.« »Eben«, sagte Grath. »Möglicherweise glaubten sie, wir hätten einen kleinen Streit mit Altair VII gehabt, aber wenn wir Valleux angreifen, wissen sie, daß wir es ernst meinen. Nun, wenn ich der Kommandeur der Flotte wäre, würde ich als erstes versuchen, meinen Feind in Schach zu halten, bis ich wüßte, wie groß und wie stark seine Streitkräfte sind, und ich Entsprechendes gegen ihn mobilisieren könnte. Der beste Platz, ihn in Schach zu halten, wäre die Region am Rand, wo er sich am wenigsten verwundbar fühlt. Außerdem könnte ich, wenn ich wüßte, wo seine Basis ist, ihn jedesmal, wenn er von einem Feldzug zurückkehrt, dezimieren. Nein, meine Herren – von heute an bis zu dem Tag, da wir auf Deluros VIII landen, ist unsere einzige Basis die Armada. Und jetzt«, schloß er,
»sollten wir uns mit den Computern befassen und unseren Angriff gegen Valleux koordinieren.« Die Flottenverbände, die Valleux II beschützten, waren beträchtlich kleiner als die im Altair-System, und die Schlacht, wiewohl von beiden Seiten verbissen geführt, dauerte nicht so lange. Wenn man das Interim der Neugruppierung mitzählt, kostete Valleux II Grath hundertsechsundzwanzig Tage und zwölftausendvierhundertfünfzig Schiffe. Rasch hintereinander nahmen seine Streitkräfte Ballion X, Hesperite III und Quantos IX. Sie kosteten ihn hundertzweiundfünfzig Tage und sechzehntausendfünfzig Schiffe. Mit einem letzten großen Schlag überrannte er das ganze Belore-System zum Preis von dreiundneunzig Tagen und zweiundzwanzigtausendvierhundertdreißig Schiffen. Und noch immer kam keine Reaktion von der Oligarchie. »Und warum sollten sie auch reagieren?« sann er, mehr für sich, in einer Konferenz an Bord seines Flaggschiffs. »Was haben sie verloren? Fast nichts, verglichen mit dem, was sie besitzen. Selbst jetzt, da wir Altair und Belore in der Tasche haben, möchte ich wetten, daß wir noch immer so unwichtig sind, daß sich niemand auch nur die Mühe gemacht hat, den sieben Oligarchen von uns zu erzählen. Die Galaxis ist so verdammt groß, und wir sind so verdammt klein…« Er sah auf. »Meine Herren, keiner von uns wird jünger. Wir haben unsere Kräfte im Kampf bewiesen, und jetzt schlage ich vor, daß wir uns ein so bedeutendes Ziel setzen, daß sie uns nicht länger ignorieren können: die Bergbauplaneten von Spica.« Seine Untergebenen waren darüber nicht glücklich, und das hatte er auch nicht erwartet. Altair und Belore waren eine Sache, aber Spica… Das System wurde von einer Flotte gesichert, die so groß war wie ihre eigene, und es lag so weit innerhalb des oligarchischen Machtbereiches, daß es keine
klare, saubere Rückzugslinie geben konnte. Andererseits – Spica VI war ein Schiffbauplanet, und um den Krieg fortzusetzen (den die Gegenseite, wie alle ingrimmig zugeben mußten, nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte, und in den sie schon gar nicht eingetreten war), brauchten sie Schiffe mehr als alles andere. Die Schlacht um Spica war die blutigste, die jemals vorher oder nachher im Weltraum geschlagen wurde. Nach langem, erschöpfendem Kampf ging Grath, so sagen es die Geschichtsbücher, als Sieger hervor. Grath wußte es besser. Es hatte ihn vierhundertfünfundneunzig Tage und dreihundertsechzigtausendvierhundertfünfzig Schiffe gekostet. Und es kostete ihn mehr als das. Fast vier Jahre mußte er warten, bis die großen Werften auf Spica VI seine Flotte ersetzt hatten. In dieser Zeit wandte er sich wieder dem Piratentum zu; jetzt allerdings bestand seine Beute aus Waffen und Schiffen und nicht mehr aus Credits und Juwelen. Sein Haar war jetzt von grauen Strähnen durchzogen, und die festen Linien seines Gesichts hatten sich noch tiefer eingeprägt. Wieder einmal rief er die anderen Kriegsherren zu einer Konferenz zusammen, und wieder einmal stellte sich heraus, daß Einigkeit und der Traum von einem Imperium ihren Horizont überschritt. Sein ursprünglicher, meisterlicher Plan war es gewesen, nun eine Finte gegen die Erde zu führen, während der Hauptteil seiner Streitkräfte Sirius attackieren sollte, aber es zeigte sich, daß eine Finte nicht erforderlich war. Die Erde war unbewacht, sie schlummerte majestätisch, während das Leben einer Rasse, die sie geboren hatte, eine halbe Galaxis weit entfernt seinen Lauf nahm. Es war ein ganz und gar unblutiger Coup, aber er kostete ihn zweihundert Tage, einhundertfünfzig, um die Finte in einen Eroberungszug umzuwandeln, und fünfzig für die
Wiedervereinigung seiner Armada für den Überfall auf Sirius. Und endlich geschah es. Sirius war zu wichtig für die Oligarchie, er lag zu nah am Herzen der Dinge, als daß sie ihn bereitwillig hätte verlieren können. Als unter Kämpfen und Manövern sechs Wochen ergebnislos verstrichen waren, meldeten seine Scoutschiffe, daß Verstärkungseinheiten der Oligarchie unterwegs seien, und zwar mindestens drei Millionen Schiffe. Er zog sich, so rasch er konnte, nach Spica zurück, um eine Viertelmillion Schiffe schwächer als zu Beginn des Unternehmens. In den nächsten drei Jahren bohrte er sich immer wieder wie ein Pfeil in den Körper des oligarchischen Machtbereiches, überfiel hier eine Flotteneinheit, zerstörte dort einen Planeten und füllte seine Verluste an Schiffen und Menschen auf. Die Oligarchie – kalt, erhaben und empfindungslos – tolerierte ihn einfach. Er kämpfte eine Reihe von Schlachten, die in den Annalen der Kriegführung für lange Zeit unvergessen bleiben sollten. In einem Verhältnis von acht zu eins in der Minderzahl zwang er die Flotte im System von Delphini zum Rückzug, mit einer vernichteten und einer verkrüppelten Flanke führte er seine Streitmacht nach einem gescheiterten Überfall auf Barlok XIV zurück und in Sicherheit, und immer, wenn die Chancen gleich oder beinahe gleich standen, blieb er der unumstrittene Sieger. Wenn auf den Außenwelten vom Kriegsherren gesprochen wurde, war die Rede von Grath und von niemandem sonst. Aber die Oligarchie schenkte ihm nur wenig Beachtung, und seine Taten galten im großen Gefüge der Dinge als so trivial, daß die Medien von Deluros nicht über sie berichteten. »Meine Herren«, verkündete er eines Abends, als seine Untergebenen in seinem Quartier versammelt waren, »hinter mir sehen Sie eine TriDi-Karte der Galaxis. Hier« – er wies auf einen winzigen Punkt am Rand – »haben wir angefangen. Und hier«
– er deutete auf einen anderen – »stehen wir heute. Was können wir daraus ableiten?« Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann sagte eine Stimme: »Na ja, wir haben fast den halben Weg hinter uns.« »Falsch!« entgegnete Grath barsch. »Wir haben nichts erreicht! Nichts! Was besitzen wir in Wahrheit? Eine Handvoll Welten, nicht mehr als achttausend, auf der Linie unseres Eroberungszuges. Wir haben keine Einflußsphären, keine Pufferzonen, keine wirtschaftliche Macht. Wenn Sie im Komplex von Caliban jedes System, das uns gehört, von der Karte nähmen, könnten Jahre vergehen, bis jemand den Unterschied bemerkte. Dies ist kein Weg, der zur Vernichtung der Oligarchie führt. Gewiß, wir haben sie fast drei Millionen Schiffe gekostet, aber wahrscheinlich haben sie dafür inzwischen zehnfachen Ersatz geschaffen. Wir haben es falsch angefangen. Mit einem Feldzug geht es nicht. Kein Mensch, auch keine Gruppe von Menschen, kann Schritt für Schritt zu erobern hoffen, was der Mensch in sechstausend Jahren assimiliert hat. Kein Wunder, daß die Oligarchie sich nicht um uns kümmert; sie rechnet damit, daß wir an Altersschwäche sterben, lange bevor wir zu einer wirklichen Bedrohung ihrer Sicherheit werden können.« »Was schlagen Sie dann vor?« »Ich schlage vor, daß wir einen schnellen, überraschenden Alles-oder-nichts-Angriff gegen das Herz der Oligarchie führen – gegen Deluros selbst. Wenn wir Deluros beherrschen, beherrschen wir das Imperium. Wenn nicht, sind wir nur eine Bande von Piraten, ein wenig stärker und erfolgreicher vielleicht als die anderen, aber Piraten nichtsdestoweniger.« »Ein ziemlich dicker Brocken«, meinte ein Adjutant. »Was wollen Sie sonst tun? Noch einmal gegen Sirius ziehen? Sie haben ihn einmal beschützt, und sie werden es wieder tun. Sie werden jeden Planeten zwischen Sirius und Deluros schützen,
bewohnbar oder nicht. Das bedeutet: Bevor wir auf Schlagweite an Deluros herankommen, müssen wir ungefähr einhundertfünfzigtausend harte Schlachten gewinnen.« »Es gibt eine Alternative«, sagte ein Adjutant. »Welche?« fragte Grath. »Wir schaffen unser eigenes Imperium. Wir beginnen am Rand und assimilieren so viele Welten, wie wir können, und nähern uns dabei immer mehr den Außenbezirken der Oligarchie. Irgendwann werden wir ihnen ebenbürtig sein, so daß wir sie herausfordern können.« »Nein«, entgegnete Grath hart. »Erstens sind wir Soldaten, keine Administratoren. Wenn wir versuchten, ein Imperium zu errichten und am Leben zu erhalten, würde es zerfallen, bevor es noch begonnen hätte, während Deluros bereits in der Lage ist, ein schon bestehendes Imperium zu verwalten. Wir werden deshalb die Milliarden von Tentakeln, die von Deluros aus die Oligarchie zusammenhalten, nicht zerstören. Wir werden einfach die Macht übernehmen – das ist viel einfacher, als solche Tentakel auf einer Welt, die wir zu diesem Zweck auswählen, erst zu erschaffen. Zweitens bin ich nicht so sicher, daß zukünftige Generationen ebensolchen Hunger nach der Oligarchie verspüren werden wie wir. Sie haben nicht wie wir gekämpft für das, was wir besitzen, und so ist es leicht möglich, daß sie satt und zufrieden werden. Ich strebe nach der Herrschaft, meine Söhne aber werden vielleicht nur nach ihrem eigenen Behagen streben. Und schließlich haben wir hier keine stabile Gesellschaft. Wir sind eine militärische Streitmacht, eine lebende, atmende Einheit, die nur so lange zusammenhalten kann, wie sie ein militärisches Ziel vor Augen hat. Nein, meine Herren: Unser Ziel ist Deluros.« Vielleicht besser als jeder andere kannte er die Probleme, die damit verbunden sein würden, und die mikroskopische Chance des Sieges. Fast zehn Jahre lang produzierten die Fabriken auf
Spica Waffen und Schiffe, während er seine Leute mit kleineren Scharmützeln und Eroberungsfahrten beschäftigt hielt. Als er schließlich glaubte, bereit zu sein, organisierte er seine Armada aus rund sechs Millionen Schiffen und machte sich auf den Weg nach Deluros. Sein Haar war jetzt weiß, und seine einstmals aufrechte Haltung war ein wenig gebeugt, aber der brillante Geist und seine magnetische Persönlichkeit, mit denen er seinen letzten Schlag erdacht und strukturiert hatte, hatten keine Einbuße erlitten. Einladende Ziele, wie Binder oder die Canphor-Zwillinge, blieben unbeachtet, als seine Flotte geradewegs der Kehle des Imperiums zujagte. Er passierte Rigel und Emra und Terrazane und Zeta Cancri, und nichts geschah. Es war fast, als beobachte die Oligarchie ihn amüsiert, um zu sehen, wie nah dieser Emporkömmling wohl heranzukommen wagen würde. Sie passierten eine Million Sterne, fünf Millionen, zwanzig Millionen, und das Licht vom Kern der Galaxis wurde immer heller. Und dann, ganz plötzlich, kam die Flotte. Millionen und aber Millionen von Schiffen stießen auf ihn herab, so viele, daß sie die Sterne verdunkelten. Sie kamen von den Seiten, von oben und von unten, sie rasten heran und begrüßten ihn mit einer Feuersalve, die in den ersten Minuten des Kampfes seine halbe Armada vernichtete. Kühl und gelassen begann er seine Befehle zu erteilen. Eine Finte hier, ein kurzes Engagement dort, ein kleines Opfer hier, ein großes Blutbad dort. Und wann immer er sich bewegte, näherte er sich Deluros. Innerhalb eines Tages war seine Flotte auf eine halbe Million Schiffe zusammengeschrumpft, und nach einer Woche waren es weniger als sechzigtausend… und noch immer näherte er sich Deluros. Nach acht Tagen erbitterten Kampfes fanden die Computer keine andere Alternative zur bedingungslosen Kapitulation, und so steuerte er die Handvoll Schiffe, die ihm
geblieben waren, selbst. Und schließlich, so brillant sein Widerstand auch war, wurde er eingekreist und gestellt. Seine Blicke huschten über den Bildschirm und versuchten, den riesigen, strahlenden Stern zu finden, der Deluros war, aber noch war er zu weit entfernt, und er ging unter im Licht seiner Millionen Nachbarn. Dumpf starrte er auf den Monitor. Es war zu groß. Zu viel, als daß ein einzelner Mann es sich nehmen, ja, als daß er nur davon träumen könnte, es sich zu nehmen. Das einzige Wort, daß ihm einfiel, war »vermessen«. »Und wenn man sich vorstellt«, dachte er wehmütig, bevor die Feuerkraft der Flotte sein Schiff zerfetzte, »daß Alexander weinte, weil es nichts mehr zu erobern gab…«
16: Die Verschwörer … Es war Admiral Ramos Broder (5966-6063 G. Z.), der nach den schrecklichen Ereignissen des Jahres 5993 dem Militär nicht nur ein gewisses Maß an Stabilität zurückgab, sondern dem es auch gelang, Wain Connough, die treibende Kraft beim Ende der oligarchischen Ära, zu entlarven… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Der Verfasser ist allerdings der Meinung, daß Connough und Boron nicht so schwarz und Broder nicht so weiß waren, wie die Geschichtsschreibung sie gemalt hat. Denn zwar trifft es zu, daß Connough einen Monat nach dem Fall der Oligarchie wegen Verrats hingerichtet wurde und daß Broders Verhalten in dieser Zeit und während der nächsten siebzig Jahre beispielhaft war, aber es erscheint doch unwahrscheinlich, daß es überhaupt zu dieser Situation hätte
kommen können, wenn Broders Vorgesetzter, Admiral Esten Klare (5903-5993 G. Z.), nicht auf geheimnisumwobene Weise zu Tode gekommen wäre. Aber wie dem auch sei, eines läßt sich mit Sicherheit sagen: Noch nie ist eine Körperschaft von vergleichbarer Macht so schnell gestürzt wie die Oligarchie… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
»Das haben wir Grath zu verdanken«, sagte Broder und betrachtete eine kleine, illuminierte TriDi-Darstellung der Galaxis. »Aber der ist seit mehr als achtzig Jahren tot«, entgegnete Quince. »Ich begreife nicht, was er damit zu tun haben kann.« »Er war der erste«, sagte Broder. »Er hat es ihnen gezeigt, er hat gezeigt, wie weit ein einzelner Mann kommen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange die übrigen Kriegsherren brauchen würden, bis sie herausfänden, daß sie noch ein Stück weiter kämen, wenn sie sich zusammentäten.« »Aber nicht einmal Grath ist es gelungen, sie auf seine Seite zu ziehen«, protestierte Quince. »Er hat es doch versucht, sogar bis zu seinem letzten Schlag gegen Deluros.« »Sie mußten erst sehen, daß es möglich war«, erklärte Broder. »Sie mußten wissen, daß eine gesetzlose Streitmacht unter der richtigen Führung die Flotte attackieren und damit davonkommen konnte. Außerdem brauchte Grath sie nicht.« »Am Ende doch.« »Sie hätten ihm nichts genützt«, sagte Broder. »In Graths besten Tagen können alle Kriegsherren zusammen genommen nicht mehr als hundert Millionen Männer kommandiert haben. Aber heute sehen die Dinge anders aus. Jetzt liegt ihre Zahl zwischen vier und fünf Milliarden. Sehen Sie sich die Karte an.« Die beiden Männer wandten sich der illuminierten Spirale zu. »Sie haben gewaltige Breschen geschlagen. Wirklich
gewaltige Breschen. Und da sie niemanden mit Graths Talent unter sich haben, begnügen sie sich damit, die Oligarchie Stück für Stück an ihren äußersten Grenzen zu zerfetzen.« »Warum machen wir uns dann Sorgen?« fragte Quince. »Es wird Ewigkeiten dauern, bis sie sich Deluros zuwenden können.« »Das bezweifle ich.« »Warum?« »Aus zwei Gründen«, sagte Broder. »Erstens: Früher oder später werden sie begreifen, was Grath die ganze Zeit über wußte: Daß der schnellste Weg zur Eroberung der Oligarchie die Eroberung von Deluros ist. Und zweitens, daß der einzige andere Weg zur Eroberung der Oligarchie ist, sie in kleine Stücke zu zerreißen; das aber bedeutet, daß zwischen ihnen und den Kriegsherren, die schließlich hier landen werden, dreißig Generationen liegen.« »Dann rechnen Sie also mit einem Überfall auf Deluros?« Broder zuckte die Schultern. »Wenn ich zu ihnen gehörte – ja, ich würde es riskieren und Deluros überfallen. Aber so – wer weiß? Zum Teufel, wahrscheinlich verbringen sie mehr Zeit damit, sich untereinander zu prügeln, als gegen die Flotte zu kämpfen. Trotzdem, eines Tages werden sie auftauchen.« Das Gespräch wurde noch eine Weile fortgesetzt, und dann kehrte Broder in sein Büro zurück. Als Vertreter des Oberkommandierenden der Verteidigungsstreitmacht von Deluros hatte er die Aufgabe, Truppen und Flotte einsatzbereit zu halten… und abzuwarten. Das Warten dauerte schon lange. Grath war bis auf knapp zweihundert Lichtjahre herangekommen, ehe die Flotte den Schlagbaum heruntergelassen hatte, und kein Kriegsherr hatte die Dreistigkeit besessen, sich noch einmal so nah heranzuwagen. Früher oder später würden sie es wieder versuchen, würden ein paar Lichtjahre näher kommen und
würden wieder zurückgeschlagen oder vernichtet werden. Und er, Admiral Ramos Broder, Ehrenabsolvent der Militärakademie von Deluros, Autor zweier hochgeschätzter Bücher über die Taktik des Weltraumkrieges, ehemaliger Botschafter auf Canphor VI, würde alt werden und sterben, während er auf die Gelegenheit wartete, seine Fähigkeiten in der Schlacht zu beweisen. Natürlich, dachte er mit schmalem Grinsen, sicher war dieser Job. Aber eines der Probleme bei einem sicheren Job war, daß die Leute über einem auch einen sicheren Job hatten, so daß man kaum mit einer Beförderung rechnen konnte, bevor sie starben oder sich zur Ruhe setzten. Für Leute wie Quince war das in Ordnung, aber nicht für ihn. Er wollte eine Position, die seinen Fähigkeiten entsprach, und erst, wenn und falls er Gelegenheit bekäme, diese Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, würde er auch eine solche Position bekommen können. Bis dahin aber, so schloß er, dürfte die Hälfte der Leute über ihm ohnehin gestorben sein, und er würde seine Beförderung bekommen. Weder diese Überlegungen noch die dazugehörigen Frustrationen waren etwas Neues für ihn. Ganz im Gegenteil – seit Jahren lebte er damit, obgleich die Zeit ihn nicht hatte zermürben können. Deshalb war er einverstanden gewesen, den Mann zu empfangen, der jetzt in sein Büro geleitet wurde. »Connough?« fragte er und streckte die Hand aus. Der Mann nickte. Er war sehr groß und hatte lange Arme und große blaue Augen, deren Blick ruhelos durch das Büro huschte und Fenster, Gegensprechanlagen und all das Beiwerk der Bürokratie aufmerksam betrachtete. Broder wandte sich an seinen Adjutanten. »Keine Anrufe, keine Besuche, keine Kommunikation irgendwelcher Art. Und keine Aufzeichnung. Verstanden?« Der Adjutant bestätigte und verließ das Büro. »Mir ist klar, daß Sie ein großes
persönliches Risiko auf sich genommen haben, indem Sie herkamen«, begann Broder. »Ich kann Ihnen versichern, daß keinerlei Aufzeichnung unseres Gespräches aufbewahrt werden wird. Falls Ihre Anwesenheit bekannt werden sollte, werde ich Ihnen freies Geleit zu jedem Zielort Ihrer Wahl garantieren.« Connough grunzte und sah sich immer noch um. »Sie dürfen den Raum untersuchen, wenn Sie wollen«, sagte Broder. Connough blickte noch einmal in die Runde und schüttelte dann den Kopf. »Das wird nicht notwendig sein.« »Schön«, sagte Broder. »Dann wollen wir zur Sache kommen. Zunächst einmal: Wie sind Sie ohne Papiere hierhergekommen?« »Ich habe Papiere«, sagte Connough und zog sie aus der Tasche. »Ich habe mich mißverständlich ausgedrückt«, sagte Broder. »Mir ist selbstverständlich klar, daß Sie über die notwendigen Identifikationspapiere verfügen, um mein Büro zu erreichen. Meine Neugier richtet sich eher darauf, wie es Ihnen gelingen konnte, bis zum Rand und wieder zurück zu gelangen, ohne am einen oder anderen Ende Ihrer Reise festgenommen zu werden.« »Ich habe Mittel und Wege«, sagte Connough. »Das genügt mir nicht«, erklärte Broder. »Wenn ich auch nur in Erwägung ziehen soll, mich an dieser Unternehmung zu beteiligen, dann muß ich direkte Antworten bekommen. Ansonsten verschwenden Sie nur Ihre und meine Zeit.« »Die Galaxis ist groß, Admiral, und es ist unmöglich, jede Raumroute zu kontrollieren. Meine Organisation besitzt zahlreiche kleine Handelsschiffe, und es war überaus einfach, Papiere zu fälschen, die besagten, daß ich eines davon besaß und betrieb und daß ich Handelsrechte für mehrere Grenzwelten habe. Belasko wußte, daß ich kam, und so hatte
ich keine Schwierigkeiten, durch seinen Militärkordon in das Bethar-System zu gelangen.« »Belasko!« unterbrach Broder. »Sie sind ihm persönlich begegnet?« Connough nickte. »Können Sie mir das beweisen?« Connough zog eine kleine Plastikkarte hervor. »Hierauf werden Sie Belaskos Daumenabdruck finden. Stecken Sie sie in Ihren Computer, und überprüfen Sie sie.« Broder tat es, und ein paar Minuten später meldete der Computer, daß der Daumenabdruck in der Tat von Belasko stamme, dem Rädelsführer einer losen Föderation von Kriegsherren. »Wie hat Belasko auf Ihren Vorschlag reagiert?« »Im großen und ganzen so, wie ich es erwartet hatte«, antwortete Connough. »Im Austausch gegen Sirius V, Lodin XI und deren militärische und ökonomische Einflußsphären wird er tun, was wir verlangen.« »Und was ist das genau?« »Er soll einen fingierten Angriff gegen das Binder-System fliegen, wenn wir ihm das Startzeichen geben, und gegen eine Totalamnestie öffentlich seine Loyalität zu Deluros bekunden.« »In dieser Reihenfolge, hoffe ich.« Broder grinste. »Dies ist eine todernste Sache, Admiral«, erwiderte Connough. »Ich kann absolut keinen Anlaß für Scherze dabei entdecken.« »Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte Broder. »Okay, gehen wir weiter. Wie viele Leute hat Ihre Organisation?« »Ich bedaure, aber diese Information kann ich Ihnen erst geben, wenn Sie sich bereit erklärt haben mitzuarbeiten.« »Das ist fair. Aber beantworten Sie mir eine andere Frage: Haben Sie mindestens zwanzigtausend Männer auf Deluros VIII?« »Nein.« »Das dachte ich mir«, sagte Broder. »Zehntausend?«
»Ich bin nicht hier, um Ratespielchen mit Ihnen zu spielen, Admiral«, antwortete Connough. »Sagen wir einfach, wir haben mehr als genug.« »Das bezweifle ich, aber belassen wir es für den Augenblick dabei«, meinte Broder. »Sie haben mir noch nicht die Frage gestellt, die für Sie eigentlich die wichtigste sein müßte«, bemerkte Connough. »Oh? Und welche wäre das?« fragte Broder. »Warum wir von allen Menschen auf Deluros VIII ausgerechnet Sie ausgesucht haben.« »Diese Frage ist mir allerdings schon durch den Kopf gegangen«, bestätigte Broder. »Aber es war nicht allzu schwierig, die Antwort zu finden. Zunächst einmal: Nichts von dem, was ich je gesagt oder geschrieben habe, könnte Sie zu dem Schluß verleiten, daß ich Ihrer Sache Sympathie entgegenbringen oder Sie nicht gleich wegen Hochverrats zum Tode verurteilen lassen könnte. Und bei einem Unternehmen dieser Art haben Sie meinen Namen ganz gewiß nicht aus dem Hut gezogen. Also lag der Schluß nahe, daß Sie nicht unbedingt mich wollten, sondern den Mann, der meine Position innehat. Ich war es nur zufällig; je nach Ihrem Zeitplan hätten Sie ebensogut meine Vorgänger oder meinen Nachfolger verwenden können. Die einzige Frage, die übrigblieb, war: Wieso mein Job? Ich meine, ich bin ja nur zweiter unter Admiral Klare. Aber Klares Schwager ist im Oligarchischen Rat, und das bedeutet, daß er wahrscheinlich zu loyal ist, als daß man riskieren könnte, ihn auch nur anzusprechen. Es bedeutet außerdem – zumindest unterstelle ich das –, daß Klare wahrscheinlich bei der nächsten Gelegenheit ermordet werden wird, wodurch ich, zumindest vorübergehend, die Führung der Verteidigungsflotte dieses Systems erhalten werde.
Weshalb nun sollte es für Ihre Pläne von Bedeutung sein, daß ich diese Position innehabe? Die einzige Antwort, die mir dazu einfällt, ist, daß man von mir erwartet, daß ich die Flotte im entscheidenden Moment fehlleite. Und zwar höchstwahrscheinlich«, fügte er mit einem scharfen Blick auf Connough hinzu, »wenn Belasko seinen Scheinangriff auf Binder führt. Stimmt das?« Connough nickte. »Dann lassen Sie mich fortfahren«, sagte Broder. »Da Belasko weder die Schlagkraft noch die Lust hat, sich mit der Hauptmasse unserer Streitmacht herumzuschlagen, ist der einzige Grund dafür, daß Sie die Flotte in Atem halten wollen, der, daß sie gar nicht erst in Versuchung kommen soll, sich in das einzumischen, was Sie mit Deluros VIII vorhaben, und bei ihrer Rückkehr ein fait accompli vorfindet. Und wenn Sie weniger als zwanzigtausend Leute hier haben – vermutlich nicht einmal ein Viertel davon –, könnte ich mir vorstellen, daß Sie versuchen werden, die sieben Oligarchen zu töten.« »Nicht ganz, Admiral«, sagte Connough. »Nur sechs.« »Wer darf weiterleben?« fragte Broder. »Das ist ohne Bedeutung. Aber wenn wir sie alle sieben umbringen, wird das Chaos ausbrechen. Hingegen…« »…wenn Sie einen leben lassen, ist es Ihnen gelungen, die Oligarchie mit einem raschen Handstreich zur Monarchie umzuwandeln. Unter diesen Umständen, da bin ich sicher, wird Sie keiner zurückweisen. Zumal dann nicht«, fügte er hinzu, und dabei grinste er wieder, »wenn ein schneller und sicherer Tod die einzige Alternative ist.« »So ist es«, sagte Connough. »Nicht unbedingt«, widersprach Broder. »Dreh- und Angelpunkt des Ganzen ist die Frage, ob es Ihnen gelingt, sechs der sieben bestbewachten Männer der Galaxis schnell und überraschend vom Leben zum Tode zu befördern. Wieso glauben Sie, daß Sie das schaffen werden?«
»Wir haben Leute in hohen Stabspositionen bei jedem Oligarchen. Es wird nicht allzu schwierig sein.« »Ich habe meine Zweifel. Zum Stab eines jeden Oligarchen gehören auch eine verdammte Menge Leibwächter. Außerdem – der Zeitplan wird dabei zu einem lebenswichtigen Faktor. Alle sechs müssen ermordet werden, bevor einer von ihnen die Situation erkennt und seine Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Wie planen Sie dieses kleine Problem zu umgehen?« Fast eine Stunde lang erläuterte Connough die geplanten Ermordungen bis ins letzte Detail. Broder hörte aufmerksam zu, stellte gelegentlich eine Frage, machte selten eine Bemerkung. Am Ende dieser Zeit lehnte Connough sich in seinem Stuhl zurück. »Nun?« fragte er. »Persönlich glaube ich, die Chancen stehen irgendwo bei tausend zu eins gegen Sie«, begann Broder. »Erstens: Sie haben keine Ahnung, wie der verbleibende Oligarch auf das alles reagieren wird. Selbst wenn ihm die Vorstellung, Kaiser zu spielen, gefallen sollte, wird er Sie wahrscheinlich alle hinrichten lassen, bevor Sie ihn in peinliche Situationen bringen können. Und wenn Ihre Aktion ihn wirklich in Rage gebracht hat, wird er Sie schon deshalb hinrichten lassen. Zweitens: Während sich die Oligarchie in einem kurzfristigen Zustand des Chaos befindet und die Befehlskette vorübergehend unklar geworden ist, wird Belasko womöglich versuchen, sich einen großen Brocken unseres Territoriums unter den Nagel zu reißen. Oder er trompetet die ganze Geschichte hinaus und läßt sich von einer Woge öffentlicher Entrüstung an die Macht schwemmen. Drittens: Ich bezweifle stark, daß es Ihnen gelingen wird, mehr als einen Oligarchen zu töten, bevor Ihrer Organisation der Himmel auf den Kopf fällt. Wenn Sie außergewöhnliches Glück haben, schaffen Sie zwei. Aber nicht mehr. Ihr Plan hängt, viertens, zu einem beträchtlichen Grad von meiner
Beteiligung ab. Bis jetzt aber sehe ich noch keinen Grund, weshalb ich mich auf Ihre Seite stellen sollte. Wohl aber sehe ich zahlreiche Gründe, weshalb ich es nicht tun sollte.« »Ihre ersten drei Einwände vermag ich nicht zu entkräften, Admiral«, antwortete Connough. »Was allerdings den letzten Punkt betrifft, so gebe ich Ihnen die Zusage – schriftlich, auf Sprechtape und in jeder anderen Form, die Sie wünschen –, daß Sie nach erfolgreicher Beendigung der Affäre zum Oberkommandierenden der gesamten Streitkräfte der Oligarchie ernannt werden. Oder der Monarchie – je nachdem, wie man es betrachtet.« »Das ist sehr beeindruckend«, sagte Broder. »Es würde mich noch mehr beeindrucken, wenn ich wüßte, daß Sie zu dem Zeitpunkt, da ich das Oberkommando übernehmen möchte, auch an der Macht oder doch wenigstens am Leben sind.« »Nun, wir können wohl nicht gut jenes Mitglied des Rates, das wir am Ende verschonen werden, jetzt schon dazu veranlassen, dieses Versprechen abzugeben«, erwiderte Connough. »Wir reden davon, Admiral, daß die größte politische und militärische Einzelmacht, die es je gegeben hat, gestürzt werden soll. Es dürfte nicht verwundern, daß bei einem solchen Unternehmen Ungewißheiten bezüglich seines Gelingens und seiner Nachwirkungen bestehen.« »Was sollte die Medien und die Öffentlichkeit an der Vermutung hindern, daß der überlebende Oligarch die ganze Geschichte selbst gesteuert hat?« fragte Broder, das Thema wechselnd. »Auch auf sein Leben wird man einen Anschlag verüben, und ganz gewiß wird er ernstliche, wenn auch nicht tödliche Verletzungen davontragen. Die gescheiterten Attentäter werden sterben, so daß sie nicht verraten können, was sie wissen. Die Schuld für den Zwischenfall wird man einer gewissen radikalen Randgruppe zuschreiben, die, wiewohl
unschuldig, die Verantwortung mit dem größten Vergnügen übernehmen wird.« »Wie lange wird es dauern, bis Sie bereit sind loszuschlagen?« »Nicht länger als dreißig Tage«, sagte Connough. »Das bedeutet, daß Admiral Klare beinahe unverzüglich ermordet werden muß.« »Es ist ein schwachsinniger Plan«, behauptete Broder. »Wieso glauben Sie, daß ich Sie nicht hochgehen lasse, sobald Sie mein Büro verlassen? Diese Unterhaltung wurde nicht abgehört und nicht aufgezeichnet. Ich könnte jede Komplizenschaft abstreiten und wäre über Nacht ein Held.« »Das könnten Sie tun«, räumte Connough ein. »Das ist ein Risiko, das ich eingehen muß.« »Sie haben Nerven, daß muß ich Ihnen lassen«, sagte Broder. »Bis wann wollen Sie meine Entscheidung haben?« »Bis heute abend. Sie brauchen nicht noch einmal Kontakt mit mir aufzunehmen. Wenn Sie sich entschließen sollten mitzumachen, finden Sie eine Möglichkeit, daß Admiral Klare morgen nachmittag einen Mann namens Deros Boron in seinem Büro empfängt. Um alles andere wird man sich kümmern, und Sie erhalten Ihre Instruktionen, wenn es soweit ist. Wenn Boron keinen Zutritt zu Klares Büro bekommt, werden Sie mein Angebot abgelehnt haben.« »Kann ich Sie auf irgendeine Weise erreichen?« fragte Broder. »Nein.« Broder saß da und starrte die Wand an. Es war ein verrückter Vorschlag, und die Chancen standen eine Million zu eins. Wahrscheinlich würde die ganze Sache von Anfang an schiefgehen. Wahrscheinlich würde sogar Klare unversehrt bleiben. Die Oligarchie hatte astronomisch große Chancen zu überleben. Und selbst wenn Klare und sechs der Oligarchen erfolgreich beiseite geräumt werden könnten, wären die
Chancen geradezu grenzenlos groß, daß der siebente Oligarch den Männern, die ihn im Handumdrehen zum mächtigsten Individuum der Geschichte gemacht hätten, nicht Auge in Auge gegenübertreten würde. Und seine eigenen Überlebenschancen waren vermutlich auch nicht erheblich besser als die der geplanten Opfer, dachte er mit einer Grimasse. Soviel zur negativen Seite… aber gab es wenigstens den Hauch eines positiven Argumentes? Es gab eines. Davor stand ein halbes Hundert Wenns, aber es endete damit, daß er die Führung des gesamten Militärapparates der Oligarchie übernähme. Unglaublich? Zum Teufel, natürlich! Unwahrscheinlich? Gewiß. Wahrscheinlich war, daß die Oligarchie unbeschädigt überleben würde, und in diesem Falle wäre es sicher, daß er stellvertretender Kommandeur der Verteidigungsflotte von Deluros VIII bleiben würde. Das bei weitem weniger wahrscheinliche Ergebnis wäre, daß die Oligarchie zerbräche, und dann würde er zu einer Position aufsteigen, die unter den jetzigen Bedingungen für ihn unerreichbar war. Er erwog jeden Aspekt der Lage und begriff schließlich, daß Logik ihn nicht mehr weiterbringen würde. Jetzt traten Instinkt, Intuition, Erfahrung, kurz, alles, was ihn zum Menschen machte und von der Maschine unterschied, an ihre Stelle. Er betätigte einen Schaltknopf auf seinem Schreibtisch. »Admiral Klare? Hier spricht Broder. Es gibt da einen Burschen namens Boron, der über ein paar recht interessante Informationen in Sachen Belasko verfügt. Könnten Sie ihn eventuell morgen nachmittag empfangen?«
SIEBTES MILLENNIUM MONARCHIE
17: Die Herrscher … Vestolian I. (6284-6348 G. Z.) war einer der weniger ehrgeizigen Herrscher in der frühen Periode des Commonwealth. Er war ein ruhiger, nachdenklicher Mann, und seine Herrschaft nahm schon bald die Züge seiner Persönlichkeit an. Gleich nachdem er das Direktorat übernommen hatte, erließ er eine Reihe von Proklamationen, die, je nachdem, wie man sie interpretieren wollte, seine Position in unübersehbarem Ausmaße gestärkt oder bedrohlich geschwächt haben könnten. Leider werden wir niemals erfahren, welche Wirkung seine Proklamationen hatten, denn im Jahre 6321, dem zweiten Jahr seiner Herrschaft… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Zwar wurde das siebte Jahrtausend der Galaktischen Ära als Commonwealth bezeichnet, aber die Historiker bezeichnen es heute zutreffender als Monarchie. Diese beiden Bezeichnungen unterscheiden sich beträchtlich voneinander; die Fakten, für die sie stehen, tun es nicht. Vestolian I. der von 6319 bis 6348 regierte, übertraf die meisten der frühen Monarchen an Erleuchtung und Weitsicht. Er war es, der versuchte, einen Teil der Macht, die seine unmittelbaren Vorfahren dem Volke entrissen hatten, mittels seiner dramatischen Proklamationen des Jahres 6320
zurückzugeben. Zweien seiner Berater, Zenorra und Oberlieu, wird es gemeinhin zugeschrieben, daß sie das Verlangen nach absoluter Herrschaft in ihm wiedererweckten; der daraus resultierende Widerruf der… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 8
Eine Monarchie kann die bei weitem effizienteste aller Regierungsformen sein, aber sie kann sich auch als völlig unzulänglich erweisen. In beiden Fällen ist der regierende Monarch der bestimmende Faktor. Ein intelligenter, selbstloser und entschlußfreudiger Monarch kann schnell und sicher handeln, ohne Tage – oder gar Jahre – damit zu verbringen, sich durch endlose Berge von Papier zu wühlen oder Kompromisse mit einer Vielzahl von Parlamentsfraktionen zu schließen. Ein von gutem Willen geleiteter, aber uninspirierter Monarch ist gezwungen, sich auf seine Berater zu verlassen, von denen ein jeder gewisse Eigeninteressen zu berücksichtigen hat. Ein dummer, kleinlicher und selbstsüchtiger Monarch hat mehr Möglichkeiten zu Mutwilligkeit, Mißherrschaft und unverstellter Bosheit als der Inhaber jedes anderen Amtes. In den ersten Jahrhunderten der Monarchie hatte die menschliche Rasse Monarchen aller drei Sorten und noch einige, bei denen sich diese Charakterzüge vermischten, erlebt. Offiziell wurde die Monarchie im Jahre 5994 (Galaktischer Zeitrechnung) ausgerufen. Bis 6013 hatte es sieben Ermordungen und/oder Umstürze gegeben, und erst mit der Herrschaft Torions des Zweiten, der im Jahre 6067 an die Macht kam, konnte sich eine zuverlässige Thronfolge etablieren. Torion II. gab der zerfallenden galaktischen Wirtschaft ihre Stabilität zurück, er konsolidierte und festigte die Kontrolle des Menschen über seinen Besitz, gab dem
Imperium des Menschen den Namen Commonwealth und sich selbst den Titel eines Direktors. Er überlebte seine beiden Söhne und seine vier Töchter, und sein Nachfolger wurde im Jahre 6126 sein Enkel Torion III. dessen wichtigster Beitrag zur Monarchie das Schwebende Königreich war, ein riesiger Planetoid, ursprünglich einer der Überreste von Deluros VI, den er mit einer Kuppel und mit Triebwerken ausrüstete, so daß er mit ihm das Commonwealth durchreisen konnte. Das Schwebende Königreich wurde das Heim aller zukünftigen Direktoren, wenngleich der größte Teil der Verwaltungsbürokratie weiterhin auf Deluros VIII blieb – und tatsächlich verließ das Schwebende Königreich die unmittelbare Nachbarschaft von Deluros auch nur selten und dann nur zu offiziellen Staatsbesuchen. Torion III. blieb ohne Nachkommen, und so wurde seine Nichte, Valla I. im Jahre 6148 zur ersten Direktrice des Commonwealth. Acht Direktoren und eine weitere Direktrice folgten ihr im Amte, bis Vestolian im Jahre 6319 das Direktorat übernahm. Er war ein kleiner, gelehrsamer Mann, der mit leiser Stimme sprach und sich in der Öffentlichkeit unwohl fühlte; er gelangte erst an die Macht, nachdem seine beiden älteren Brüder durch denselben tragischen Defekt im Lebenserhaltungssystem ums Leben gekommen waren, dem auch seine Mutter, Biora I. zum Opfer gefallen war. Weder durch Temperament noch durch Ausbildung dazu prädestiniert, die Geschicke seiner Rasse zu lenken, war er nichtsdestoweniger ein Mann mit gutem Willen, entschlossen, sein kompliziertes Amt zu meistern und das Commonwealth mit dem ganzen Einsatz seiner nicht unbeträchtlichen Fähigkeiten zu führen. Er war seit genau fünf Tagen Direktor, als er sich in einen Krieg mit drei Sternensystemen verwickelt fand, deren Namen er noch nie zuvor gehört hatte.
»Gut«, sagte er, als es ihm schließlich gelungen war, die Beraterschar seiner Mutter um sich zu versammeln. »Wie die meisten von Ihnen vermutlich wissen, hat man mich mitten in der Nacht geweckt und mir mitgeteilt, daß das Commonwealth sich im Krieg befindet. Ich gebe zu, es ist kein besonders großer Krieg, denn wir sind viele, und die sind wenige, aber es ist trotzdem ein Krieg. Hätte nun jemand von Ihnen vielleicht Lust, mir zu sagen, was hier vorgeht? Ich meine, ich habe keinen Krieg autorisiert, und ich bin kaum lange genug im Amt, als daß ich jemanden hätte beleidigen können. Wer sind überhaupt diese Argaven, und was ist der Grund für ihre Aktion?« Oberlieu, der Präfekt für Alien-Angelegenheiten, trat einen Schritt vor. »Wenn ich darf, Direktor…?« Vestolian nickte, und er räusperte sich. »Direktor, die Argaven sind eine humanoide Rasse, die auf der Evolutionsleiter mindestens ebenso hoch steht wie der Mensch. Sie beherrschen derzeit drei Systeme, aber man glaubt, daß sie von Darion V abstammen.« »Und was hält man für ihr Problem?« »Sie wurden vor fast zweihundert Jahren in das Commonwealth inkorporiert«, sagte Oberlieu. »Man gelangte bald zu der Auffassung, daß ihre Steuerzahlungen an Deluros nicht angemessen seien, und Ihr Urgroßonkel, Jordin II. belegte alle Landwirtschaftsprodukte, die aus ihren Systemen exportiert wurden, mit einem hohen Zoll.« Er verstummte, und sein Gesicht ließ Unbehagen erkennen. »Und?« »Es scheint«, fuhr Oberlieu langsam fort, »daß die Argaven seit sechzig Jahren bei den verschiedenen Direktoren um Audienzen eingekommen sind, damit dieser Zoll aufgehoben werde. Sie behaupten, ihre Wirtschaft befinde sich seit jenem Erlaß in einem Zustand unaufhörlicher Depression; die Argavenwelten sind vorwiegend von der Landwirtschaft abhängig.«
»Ich nehme an, man hat ihnen nie eine Audienz gewährt«, sagte Vestolian. »So ist es«, antwortete Oberlieu. »Reden Sie weiter.« »Anscheinend haben sie in den letzten Jahren wiederholt mit Aufstand gedroht, falls die Zölle nicht aufgehoben würden. Jetzt haben sie ihre Drohung wahr gemacht.« »Warum wurden die Zölle nicht aufgehoben oder wenigstens neu berechnet?« fragte der Direktor. »Nur ein Direktor kann ein Gesetz aufheben, das ein Direktor erlassen hat.« »Und warum wurden die Beschwerden der Argaven niemals einem Direktor zu Gehör gebracht?« »Nach meinen Unterlagen ist das geschehen«, erklärte Oberlieu. »Jordin II. und Vilor I. weigerten sich, die Argaven zu empfangen.« »Aber die sind beide seit mehr als fünfzig Jahren tot«, schnappte Vestolian. »Soll das etwa heißen, daß seit fünfzig Jahren keinem der Direktoren diese Situation bewußt gewesen ist, trotz einer offenen Kriegsdrohung?« »Jawohl, Direktor«, antwortete Oberlieu. »Genau das soll es wohl heißen.« »Ich betrachte dies zumindest als grobe und verbrecherische Nachlässigkeit«, sagte Vestolian. »Wir werden den Zoll umgehend aufheben und alles in unserer Macht Stehende tun, um die Wirtschaft der Argaven wieder auf die Beine zu bringen. Zudem sind Kompetenzkanäle zu etablieren, mit denen sichergestellt ist, daß dergleichen nie wieder geschehen kann.« »Ich fürchte, das ist ausgeschlossen«, wandte Zenorra, der Protokollchef, ein. »Erklären Sie das!« »Das würde ich lieber unter vier Augen tun, Direktor«, sagte Zenorra.
»Ich bin noch nicht so lange Direktor, daß ich Geheimnisse hätte«, erwiderte Vestolian. »Ich sehe keinen Grund für ein Gespräch unter vier Augen.« Zenorra zuckte die Achseln. »Wenn Sie meinen…« »Das meine ich.« »Nun, zunächst einmal, Direktor«, begann Zenorra, »können Sie sich nennen, wie es Ihnen gerade in den Kram paßt: Direktor, Protektor, Erster Bürger und so weiter. Was Sie sind, ist immer dasselbe: ein Kaiser, ein absoluter Herrscher. Das kann sehr vorteilhaft sein, aber es ist ein zweischneidiges Schwert. Jetzt zum Beispiel sind rund zwanzig Berater mit Ihnen zusammen in diesem Raum. Wir sind – in aller Bescheidenheit – Experten auf unserem jeweiligen Gebiet. Zusammen wissen wir alles, was man zur Führung eines Imperiums von der Größe und Komplexität des Commonwealth wissen kann. Gleichwohl könnten Sie uns, auch wenn wir uns ausnahmslos über einen bestimmten Aktionskurs einig wären, überstimmen und tun, was Sie wollen. Sie sind der mächtigste Mensch, ja, überhaupt das mächtigste intelligente Wesen, das jemals gelebt hat, und Sie werden es bleiben, bis der nächste Direktor an Ihren Platz rückt.« »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Vestolian. »Einen Augenblick noch. Wie ich schon sagte, Sie sind das mächtigste Lebewesen in der Galaxis. Nun, der erste – und vielleicht der einzige – Zweck der Macht ist es, daß sie sich selbst erhält. Studieren Sie Ihre Geschichtsbücher, und Sie werden finden, daß es weder in der Oligarchie noch in der Demokratie oder in der Republik und auch nicht in der Zeit, da die Rasse noch auf der Erde lebte, einen Führer gegeben hat, der jemals freiwillig auch nur einen Teil der Macht, die er auf sich vereinigte, abgegeben hätte. Politische Macht ist dem Wasser nicht unähnlich: Sie kennt Ebbe und Flut, und sie fließt
den Weg des geringsten Widerstandes. Unter normalen Umständen führt dieser Weg zu einem einzelnen Mann, zu dem Mann an der Spitze; aber wenn er sich bewußt bemüht, diesen Prozeß umzukehren, selbst mit etwas so Trivialem wie einem Zoll, der einer Rasse auferlegt wurde, die fünfzigtausend Lichtjahre weit entfernt lebt, dann bricht er damit eine kleine Bresche in den Deich, um es mal so auszudrücken, und er leitet den Rückfluß der Macht ein. Mir ist klar, daß es für Sie ein schrecklich uneffektiver Aufwand ist, solche geringfügigen Entscheidungen selbst treffen zu müssen, und gewiß hat jeder von uns das Recht, in Ihrem Namen zu sprechen. Aber wenn das zu häufig geschieht, dann werden über kurz oder lang auch unsere Untergebenen beginnen, in Ihrem Namen zu sprechen, und dann dauert es nicht mehr lange, bis buchstäblich Milliarden von Menschen Erlasse im Namen des Direktors herausgeben.« »Sie werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen einige Fragen stelle«, sagte Vestolian; er wirkte noch nicht überzeugt. »Aber selbstverständlich«, erwiderte Zenorra. »Zunächst einmal – wenn ich der einzige Mensch im Commonwealth bin, der befugt ist, Entscheidungen zu treffen, wozu habe ich dann fast zwei Millionen planetare Gouverneure? Warum beschäftigen wir auf Deluros VIII und auf den Planetoiden von Deluros VI dreißig Milliarden Bürokraten, wenn sie sich ohne meine Erlaubnis nicht einmal in der Nase bohren dürfen? Die Hälfte unserer Flotte ist so weit vom Schwebenden Königreich entfernt, daß es nicht weniger als einen halben Monat dauert, wenn man nur Kontakt mit den Schiffen aufnehmen will. Wenn sie nicht auf eigene Initiative tätig werden dürfen, was zum Teufel tun sie dann dort draußen?« »Gestatten Sie mir, diesen ersten Teil zu beantworten?« bat Oberlieu. Vestolian nickte. »Soweit es Gouvernements und Alien-Angelegenheiten betrifft, ist jeder Gouverneur in den
inneren Angelegenheiten seines Planeten autonom, solange er sich an die weitgefaßten Richtlinien von Deluros hält. Erst bei interplanetarischen Problemen sind die Hände des Gouverneurs gebunden, obgleich es ihm natürlich freisteht, Empfehlungen abzugeben – ja, man erwartet es sogar von ihm.« »Was die Bürokratie auf Deluros angeht«, sagte Zenorra, »so werden dort in der Tat täglich Entscheidungen gefällt. Aber es sind relativ geringfügige Entscheidungen, solche, die sich auf das spezielle Fachgebiet des betreffenden Bürokraten beschränken. Selbstverständlich ist die Flotte ermächtigt, sich selbst zu verteidigen und sich in interplanetarische Streitigkeiten zwischen einzelnen Commonwealth-Welten friedenstiftend einzuschalten, aber offensive Aktionen darf sie nur auf Ihren direkten Befehl hin einleiten.« »Ich wiederhole«, sagte Vestolian, »daß dies das uneffektivste System ist, das ich mir vorstellen kann. Wir haben zwei Millionen Gouverneure und mehr als eine Viertelmillion Admirale, nicht zu reden von den Generalen der planetaren Streitkräfte. Ich würde an Altersschwäche sterben, bevor ich nur alle ihre Namen aussprechen könnte, auch ohne jedem einen Befehl zu erteilen. Wie hat denn das Commonwealth durch all die Jahrhunderte hindurch funktionieren können?« »Sie scheinen sich in der irrigen Auffassung zu befinden, daß es keine Kommandokette gibt«, sagte Zenorra. »Tatsächlich brauchen Sie nur dem Admiral, der für einen bestimmten Sektor der Galaxis verantwortlich ist, einen knappen militärischen Befehl zukommen zu lassen. Der Befehl wird dann durch vorhandene Kanäle an den Mann weitergegeben, der den Auftrag erfüllen kann.« »Und was hindert den verantwortlichen Admiral daran, diesen Befehl selbst zu erteilen?«
»Die Sicherheit«, antwortete Oberlieu. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht«, sagte Vestolian. »Dies ist nicht die Oligarchie oder die Demokratie«, erklärte Oberlieu. »Die Veränderung mag geringfügig erscheinen, aber sie ist es nicht. Sehen Sie, in allen früheren Regierungsstrukturen waren die Aufstiegsmöglichkeiten unbegrenzt. Jeder Mensch, vom gemeinsten Arbeiter bis zum brillantesten Demagogen, konnte aus eigener Anstrengung und auf eigene Initiative an die Spitze gelangen. Es war möglich. Doch so ist es nicht mehr. Sie sind der absolute Herrscher, und selbst wenn Ihre engsten Vertrauten sich miteinander verschwören und Ihnen nach dem Leben trachten würden, könnte doch keiner von uns Ihr Nachfolger im Direktorat werden, bevor jedes einzelne Mitglied Ihrer Familie, die unter unglaublich schwerer Bewachung über die halbe Galaxis verstreut lebt, eliminiert wäre. So ist – in einem mehr oder weniger hohen Grade – jeder Angehörige des Commonwealth Ihrem Belieben ausgeliefert, und, um offen zu sprechen, das Potential von Belohnung und Beförderung entspricht nicht ganz dem von Tadel oder Strafe, was die Dimensionen betrifft. Die unterste Stufe ist breit und so tief wie ein gewaltiger Abgrund, aber die oberste bietet nur einem Mann Platz, und dieser Platz ist nicht nur besetzt, sondern für die nächsten hundert Generationen bereits vergeben. Macht Ihnen das die Situation ein wenig klarer, Direktor?« »Ganz klar«, erwiderte Vestolian trocken. »Es bedeutet, daß niemand im ganzen Commonwealth den Mumm besitzt, auch nur sein Hemd zu wechseln, bevor er meinen Segen hat.« »Sie beharren auf Ihren Versuchen, das Problem zu simplifizieren«, sagte Zenorra. »Dabei ist es alles andere als simpel. Um einmal die andere Seite der Medaille zu betrachten: Sie können ein Mitglied des Commonwealth in einem weit größeren Umfang belohnen, als dies je zuvor
möglich war. Sie können einen Schwachsinnigen nehmen und ihn zum Leiter jeder beliebigen Militäreinheit und jedes wissenschaftlichen Instituts machen, sie können ihn zum Herrn eines eigenen Planeten machen, und Sie können auch sonst tun, was Ihnen Spaß macht.« »Aber neben der Fähigkeit, zu belohnen oder zu bestrafen«, schaltete Oberlieu sich ein, »haben Sie auch die Möglichkeit zu ignorieren. Im Grunde ist es mehr als nur eine Möglichkeit. Es ist ein eingebauter Mangel des Systems. Sie haben Ihre Macht durch den Zufall Ihrer Geburt bekommen. Sie wurden in die richtige Familie geboren, und zwar zum, wie sich herausstellte, richtigen Augenblick, und nichts außer Ihrem Hinscheiden oder einer galaxisweiten Revolution kann Ihnen Ihre Position mehr streitig machen. Sie sind der einzige Mensch im Commonwealth, der nicht letztlich einer höheren Autorität oder einem planetaren Wahlgremium verantwortlich ist. Insofern kann, anders als bei den Milliarden Ihrer Untergebenen, keine Entscheidung, die Sie treffen, Ihren Status verändern, selbst wenn Sie uns in einen wirklichen Krieg stürzten und nicht in diesen belanglosen kleinen Konflikt mit den Argaven. Ist es deshalb ein Wunder, daß die Verantwortung mehr als früher noch oben delegiert wird?« »Und«, fügte Zenorra hinzu, »bei einer ganzen Galaxis, die Sie zu regieren haben, ist es nur natürlich, daß Sie auch im Rahmen einer anderen politischen Organisation nicht die Zeit hätten, sich auch nur einem Zehntel der Probleme zu widmen, die nur durch den Direktor entschieden werden dürfen. Und so wie die Dinge jetzt stehen…« Er verstummte. »Korrigieren Sie mich, wenn ich unrecht habe«, sagte Vestolian, »aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie und die übrigen Mitglieder meines Beraterstabes diejenigen, die entscheiden, welche Probleme Priorität besitzen und welche zu ignorieren sind.«
»Bis zu einem gewissen Grade, ja«, bestätigte Zenorra. »Obgleich es Ihnen natürlich freisteht, bezüglich eines Problems, das Ihren Schreibtisch erreicht, zu handeln oder auch nicht zu handeln. In gleicher Weise können Sie auch Direktiven zu solchen Problemen herausgeben, die man Ihnen nicht vorgelegt hat.« »Dies ist, im wesentlichen, das System, das jetzt besteht?« fragte Vestolian. Seine Berater nickten. »Dann werden wir ein paar Veränderungen vornehmen«, sagte er und starrte trotzig in die Runde. Er war von Natur aus kein Mann der Tat, dieser Direktor, und er hatte nicht einmal begonnen, das Ausmaß seiner Macht zu begreifen, aber er hatte genug verstanden, um zu wissen, daß sein Wort absolutes Gesetz war und daß etwas geschehen mußte, damit dieses Gesetz schneller und gleichmäßiger verbreitet wurde. Er beendete die Besprechung, indem er seine Anweisungen zum Problem der Argaven noch einmal wiederholte, und kehrte dann in sein Quartier zurück, um die Situation zu überdenken. Drei Tage später rief er Zenorra und Oberlieu zu einer Unterredung zu sich. Unterdessen empfing er die Nachricht über ein Scharmützel in der Belthar-Region, welches seine Mutter zwanzig Jahre zuvor befohlen hatte – ein Befehl, der erst jetzt ausgeführt worden war. Er erfuhr, daß eine komplette Alien-Population untergegangen war, deren Sonne zur Nova geworden war, weil der Gouverneur gezögert hatte, die Evakuation ohne schriftliche Genehmigung des Direktors anzuordnen. Er erfuhr, daß ungefähr dreihundert Staatschefs tödlich beleidigt waren, weil er nicht in der Lage gewesen war, sich in der Woche nach dem Tode seiner Mutter mit jedem von ihnen unter vier Augen zu treffen. Und er erfuhr, daß in den Großen Magellanwolken eine mysteriöse Rasse von Gaswesen leben sollte, mit der man noch keinen Kontakt aufgenommen und keine Freundschaft geschlossen, die man nicht studiert
und/oder ausgebeutet hatte, weil niemand wußte, wie der Direktor darüber dachte. »Meine Herren«, sagte Vestolian, als seine beiden höchsten Adjutanten eingetroffen waren, »ich muß zugeben, daß ich mich heftig versucht gefühlt habe abzudanken. Ich habe mich nur aus einem einzigen Grunde dagegen entschieden: Ich liebe meine Tochter, und ich kann mir kein grausameres Vermächtnis vorstellen als das Direktorat, wie es jetzt besteht. Ich habe daher eine Liste von Anweisungen vorbereitet – wohlgemerkt, Anweisungen, nicht Vorschlägen –, die ich so bald als möglich verwirklicht sehen möchte. Ich muß, auch wenn ich mich wiederholen sollte, die Dringlichkeit dieser Anweisungen betonen: Wenn nicht jede einzelne innerhalb von dreißig Tagen durchgeführt sein sollte, werde ich Sie beide Ihres Amtes entheben. Ist das klar?« »Völlig klar«, sagte Zenorra und machte ein beunruhigtes Gesicht. Oberlieu nickte nur und runzelte die Stirn. »Zunächst einmal erhalten die planetaren Gouverneure die Autonomie, Unruhen nicht nur auf ihren eigenen Planeten, sondern im Bereich ihres gesamten Sonnensystems selbst beizulegen.« »Aber was ist, wenn es in einem System drei Gouverneure gibt, die keinen ständigen Kontakt miteinander haben?« wandte Zenorra ein. »Unterbrechen Sie mich nicht, bevor ich fertig bin«, sagte Vestolian. »Es wird für jeweils zehn Systeme einen Oberaufseher geben, dem Sie einen Titel nach Ihrem Belieben verleihen können; er ist ermächtigt, jeden Disput, den mehrere Gouverneure ihm vortragen, zu entscheiden. Jeweils zehn Oberaufseher sind wiederum einem Manne verantwortlich, der hundert Sonnensysteme zu überwachen hat und ebenfalls auf Eigeninitiative hin zu handeln befugt ist. In diesem Verhältnis wird sich die Befehlskette bis zu Oberlieus Büro fortpflanzen. Die Flotte ist zu autorisieren, jede Aktion zu unternehmen, die
sie für geboten hält. Das schließt offensive Aktionen ein. Die einzige Einschränkung ist, daß solche Aktionen innerhalb von dreißig Tagen offiziell genehmigt werden oder bis dahin beendet sein müssen. Richten Sie eine Befehlskette von vier bis sieben Männern ein, die bei mir endet, damit ich die Aktionen der Flotte gegebenenfalls genehmigen kann, und stellen Sie sicher, daß man mich nicht mit jedem kleinen Scharmützel belästigt, sondern nur mit Operationen, die wirklich als kriegerisch gelten können.« »Direktor, an dieser Stelle muß ich Sie unterbrechen«, sagte Zenorra. »Aus welchem Grunde?« wollte Vestolian wissen. »Ich will Sie darauf hinweisen, daß Sie dieses Statement qualifizieren müssen. Die Ausrottung der Gesamtbevölkerung eines Planeten mag dieser wie der totale Krieg erscheinen, während Sie darin nicht mehr als eine Polizeiaktion sehen könnten.« »Ein exzellenter Hinweis«, sagte Vestolian. »Sie, Zenorra, werden fünfzehn verschiedene Definitionen von Krieg und Scharmützel aufsetzen und mir bis morgen früh vorlegen lassen. Ich werde dann diejenige auswählen, die wir verwenden werden. Aber jetzt weiter: Alle wissenschaftlichen Abteilungen melden mir ausschließlich größere Durchbrüche. Um zu solchen Durchbrüchen zu ermutigen, wird man ihnen soviel Geld zu Verfügung stellen, wie sie verlangen – innerhalb vernünftiger Grenzen. Zu Vergabe berechtigt ist die Etat-, Finanz- und Schatzbehörde. Sollte es zu Unstimmigkeiten über die Höhe der zu vergebenden Summe kommen, wird ein dreiköpfiges Schiedskomitee die Entscheidung treffen. Dieses Komitee besteht aus einem Wissenschaftler, einem Ökonomen und Oberlieu. Eine Revision der Entscheidung durch mich kann nur mit zureichendem Grund beantragt werden, und die Entscheidung, ob ein Grund zureichend ist, obliegt Oberlieu.
Als nächstes ist eine Befehlskette für unser diplomatisches Corps zu etablieren. Wir werden eine Reihe weitgefaßter Direktiven herausgeben, und jedem Botschafter steht es, solange er sich innerhalb dieser Direktiven bewegt, frei, nach eigener Beurteilung zu handeln.« »Damit ist es für alle außer einer Handvoll Leute unmöglich, mit Ihnen zu sprechen«, sagte Oberlieu. »So ist es. Vermutlich wird mir diese Handvoll genug zu tun geben.« Er schwieg und sah seine beiden Berater an. »Meine Herren, ich habe weder die Zeit noch die Ausbildung, noch Lust, mich mit den täglichen Routinegeschäften des Schwebenden Königreiches zu befassen. Ganz gewiß werde ich mich schon gar nicht in die noch profaneren Alltagsprobleme der Galaxis einmischen. Meine letzte Anweisung lautet folgendermaßen: Wenn ein Problem Dimensionen erreicht, die meine persönliche Aufmerksamkeit erforderlich machen, und wenn festgestellt werden kann, daß dieses Problem durch fehlende Eigeninitiative oder durch die Entscheidungsunfähigkeit eines Bürokraten des Commonwealth dieses Ausmaß hat annehmen können, ist dieser Bürokrat hinzurichten. Angesichts des gegenwärtigen Zustandes sind mir unkorrekte Taten lieber als völlige Tatenlosigkeit.« »Ist das alles, Direktor?« fragte Zenorra. »Für den Augenblick ja. Wenn wir erst sehen, wie diese Befehle ausgeführt werden, können wir das gegenwärtige System weiter modifizieren. Es überrascht mich«, fügte er hinzu, »daß noch keiner meiner Vorgänger ein solches System einführen wollte.« »Sie wollten«, sagte Oberlieu. »Jeder einzelne«, bestätigte Zenorra. Vestolian funkelte sie einen Moment lang mit eisiger Miene an und entließ sie dann.
Es würde Zeit brauchen, das wußte er, bis die Befehle alle betroffenen Parteien erreicht hätten. Zwei Jahre, schätzte er, aber er räumte ein, daß es leicht zehn Jahre würde dauern können, bis sich im Commonwealth eine spürbare Veränderung abzeichnete. Aber wenn es erst so weit wäre, würde es ihm vielleicht sogar Spaß machen, Direktor zu sein. Wie sich herausstellte, hatte er sich in beiden Punkten geirrt: Es dauerte nicht zehn Jahre, und es machte ihm ganz gewiß keinen Spaß. Beispiel: Die insektoide Bevölkerung von Procyon II, die unter starken Überbevölkerungsproblemen litt, hatte einen Vorwand gefunden, einen Krieg mit den Humanoiden von Procyon III vom Zaun zu brechen. Die beiden Gouverneure, die zu keiner Einigung gelangen konnten, hatten den Fall ihrem Oberaufseher vorgetragen, aber bevor es diesem gelingen konnte, den Fall gründlich abzuwägen, hatte die Flotte sich eingeschaltet und den Krieg beendet, indem sie Procyon II mit tödlicher Strahlung bombardierte. Neunzig Prozent der Insektoiden wurden vernichtet, aber auf sieben der übrigen neun Insektoidenwelten des Commonwealth brachen spontan antimenschliche Pogrome aus. Als Vestolian die Angelegenheit untersuchte, stellte sich heraus, daß die beiden Gouverneure sich an den vorgeschriebenen Kompetenzenweg gehalten hatten, und der Flotte war definitiv nicht vorzuwerfen, daß sie untätig zugeschaut hätte. Beispiel: Die Abteilung für Mikrobiologie hatte ein Forschungsbudget von siebzehn Milliarden Credits beantragt, die Etatbehörde hatte vier Milliarden genehmigt. Das Schiedskomitee hatte die Summe auf sechs Milliarden festgelegt, und daraufhin war die gesamte Mikrobiologie in Streik getreten, um eine Unterredung mit dem Direktor zu erzwingen. Da die Abteilung den größten Teil der von Menschen auf Alienplaneten benötigten Impfstoffe
produzierte, war ein Streik nicht tolerierbar, und Vestolian war gezwungen, sich ihre Argumente anzuhören. Er erhöhte das Budget auf neun Milliarden, und da es keine höhere Autorität mehr gab, an die sie sich hätten wenden können, nahmen die Biologen bereitwillig ihre Arbeit wieder auf. Inzwischen waren auf den Grenzwelten drei Expeditionstruppenkontingente wegen fehlender Impfstoffe gestorben. Beispiel: Der Botschafter auf Alioth XIV, einer dem Commonwealth noch nicht einverleibten Welt, hatte seine Vorstellungen von einer utopischen Demokratie der gesamten Bevölkerung so erfolgreich nahebringen können, daß ein blutiger Bürgerkrieg aufflammte, und bevor die totalitäre Führungsmacht die Opposition besiegt und ausgehungert hatte, waren neunundzwanzig Millionen Tote auf der Strecke geblieben. Als man den Botschafter vor den tobenden Vestolian führte, protestierte er, daß er lediglich wie befohlen die Initiative ergriffen habe. Warum habe er dann das Problem nicht früher gemeldet, als es noch lösbar gewesen wäre? Weil der Direktor unmißverständlich zum Ausdruck gebracht habe, daß er erst konsultiert zu werden wünsche, wenn alles andere fehlgeschlagen sei – und da sei es, bedauerlicherweise, zu spät gewesen. Beispiel: Eine lose zusammenhängende Union von zweihundert Welten drohte sich vom Commonwealth abzuspalten, weil der Direktor sich buchstäblich unerreichbar für sie gemacht habe. Als man darauf hinwies, daß alle zweihundert Planeten wirtschaftlich gesund und militärisch stark seien und daß der Direktor damit beschäftigt sei, Probleme des Commonwealth zu beseitigen, und daß außerdem keiner der früheren Direktoren jemals Delegationen von einem der in Frage stehenden Planeten empfangen habe, erwiderte man, daß von den Vorgängern des Direktors es zumindest keiner zur offiziellen Politik erhoben habe, sie nicht zu empfangen. Das Ganze war eine Frage von Semantik und
Standpunkten, aber Vestolian war gezwungen, drei Tage mit Botschaftern der zweihundert Welten zu vergeuden, wenn er nicht als Alternative dazu seine Streitkräfte einsetzen und das Problem militärisch lösen wollte. Beispiel: Die Probleme, die seinen Schreibtisch erreichten, waren selten komplexe Situationen, die Exekutiventscheidungen erforderten, wie sie nur von Vestolian getroffen werden konnten. Weit öfter ging es um diplomatische und bürokratische Mißverständnisse, die überproportional aufgebläht worden waren. Beispiel: Die ernsten Probleme, diejenigen also, mit denen Vestolian sich hätte beschäftigen müssen, wurden auf sehr viel tieferen Ebenen bearbeitet – und oft überhaupt erst geschaffen –, und zumeist gingen sie irgendwo in der komplizierten Befehlskette verloren, um erst in zukünftigen Generationen wieder aufzuflammen. Wieder einmal befahl er Zenorra und Oberlieu zu sich. »Guter Gott«, brummte er, mehr zu sich als zu ihnen, »es ist ja schlimmer als vorher!« Er hob den Kopf und sah Zenorra an. »Ich habe gute, angemessene, intelligente Anweisungen erlassen«, sagte er. »Anweisungen, die speziell dazu entwickelt waren, bürokratischen Wirrwarr und Stagnation auszuschalten, Anweisungen, die mir Zeit hätten schaffen müssen, mich wichtigeren Angelegenheiten zu widmen als dem Zeug, das mich jetzt den lieben langen Tag über in Atem hält. Was ist schiefgegangen?« Zenorra zuckte die Achseln. »Was schiefgegangen ist, hat nichts mit Ihnen oder Ihren Absichten zu tun, Direktor«, sagte er. »Was schiefgegangen ist, liegt in der Natur des Menschen und seines Imperiums. Ist Ihnen nie aufgefallen, daß – so paradox es auch erscheinen mag – immer dann, wenn der Mensch und das, was er besitzt, am kleinsten und am schwächsten ist, seine Regierungsform zumeist die Demokratie
ist, in der das Volk am breitesten und artikuliertesten vertreten ist? Wenn der Mensch und sein Reich an Größe und Macht gewinnen, werden schnellere und nachdrücklichere Entscheidungen erforderlich, und die Regierung wird dementsprechend immer weniger repräsentativ und wandelt sich von der Republik zur Oligarchie. Und jetzt, mit einem Imperium, das buchstäblich die Galaxis umschließt, besteht ein dringendes Bedürfnis nach einer einzigen, obersten Autorität. Es gibt zu viele unterschiedliche Rassen und voneinander abweichende Interessen, als daß sie in irgendeiner Weise fair repräsentiert werden könnten: Alles, was noch bleibt, ist die eiserne Herrschaft eines einzelnen Menschen. Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber das richtige Wort ist ›Monarchie‹. Zugegeben, Sie können nur einen winzigen Prozentsatz der Entscheidungen persönlich bearbeiten, aber zumindest nach außen hin darf es nur einen einzigen Führer geben, dessen Regierung nicht zu hinterfragen oder zu debattieren ist, dessen Macht absolut ist. Ich will Ihnen noch etwas sagen, Direktor: Wenn Sie Ihre Anweisungen widerrufen, was Sie ja zweifellos tun werden, werden sich damit die Probleme um keinen Deut verringern. Unsere Regierung wird ineffizient bleiben. Buchstäblich Tausende von Welten mit legitimen Problemen und Beschwerden werden ignoriert oder falsch behandelt werden, und Probleme, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten gesät wurden, werden immer wieder aufsprießen und uns in Verlegenheit bringen. Andererseits – wenn Sie auch nur eine Ihrer Machtbefugnisse abgeben, wird das Endresultat die Anarchie sein. So uneffektiv unser System auch sein mag, es ist immer noch effektiver als jede andere Methode, ein Imperium von dieser Größe zu regieren. Wir sind einfach zu weit gekommen, als daß wir noch zurückgehen könnten. Eine Wahl, gleich welcher Art, würde ein halbes Jahrhundert dauern, und das Machtvakuum, das in dieser Zeit entstünde,
wäre einfach nicht erträglich. Die kulturelle und ökonomische Interdependenz zwischen den Welten des Commonwealth ist so groß, daß eine Rückkehr zum Isolationismus unmöglich wäre. Selbst die Alien-Rassen sind militärisch und ökonomisch an uns gebunden. Nein, die einzige Alternative zu unserem System wäre eine galaxisweite Anarchie, und sie kann nicht akzeptabel sein.« »Das glaube ich auch nicht«, sagte Vestolian seufzend. »Aber ich vermute, daß muß jeder Direktor selbst herausfinden.« Zenorra nickte betrübt. »Setzen Sie alle meine bisherigen Anweisungen außer Kraft«, sagte Vestolian. »Wir müssen uns damit abfinden, daß die Dinge so sind, wie sie sind, und ab und zu einen bittersüßen Trinkspruch darauf ausbringen, wie sie niemals hätten werden können.« Und der Direktor des Commonwealth wünschte sich, irgend jemand anders irgendwo im Universum zu sein, als er ein einsames Nachtmahl zu sich nahm und früh zu Bett ging. An diesem Abend wurde eine Emigrationsproklamation, die sein Großvater dreiundsechzig Jahre zuvor erlassen hatte, auf einem Planeten in Kraft gesetzt, der auf den meisten Karten des Commonwealth noch nicht verzeichnet war. Man weckte ihn mitten in der Nacht, um ihm mitzuteilen, daß er sich wieder einmal im Krieg befinde.
18: Die Symbionten … Es war unausweichlich, daß der Mensch seinen Blick schließlich anderen Galaxien zuwandte. Die Probleme, denen er sich gegenübersah, als er versuchte, über die Grenzen seiner eigenen Sternengruppe hinauszugreifen, ließen sowohl in ihrer Größe als auch in ihrer Schwierigkeit jede andere
Herausforderung, vor der er je gestanden hatte, verblassen. Tatsächlich erforderte schon das bloße Überleben einer Reise von mehr als einer Million Lichtjahre zur nächsten benachbarten Galaxis überaus innovative Ideen… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg (In Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen findet sich keine Erwähnung der Symbionten.)
Die Dinge hatten sich für den Menschen recht gut entwickelt. Er besaß und beherrschte fast die gesamte Galaxis; mehr würde er nie in die Hände bekommen. Zwar gab es noch Planeten und auch ein paar ganze Systeme, die er nicht assimiliert hatte, aber die hatte er gründlich untersucht und festgestellt, daß sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Und es gab immer noch eine Handvoll von Rassen, die außerhalb des gewaltigen Wirtschaftsnetzes des Commonwealth existierten, aber sie hatten so wenig Wertvolles zu bieten, daß der Mensch sich noch nicht weiter um sie gekümmert hatte. Und so hatte der Mensch auf der Suche nach neuen Herausforderungen seinen Blick nach außen schweifen lassen. Die Vorstellung hatte schon seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden, existiert, und der Direktor des Schwebenden Königreiches hatte sie schließlich in Worte gefaßt: Die Bestimmung des Menschen hatte in dieser Galaxis nur ihren Anfang genommen. Zur Reife würde sie erst mit dem ganzen Universum gelangen. Es gab eine Menge patriotisches und philosophisches Geschwätz, aber im Kern war es immer das gleiche: Der Mensch beherrschte die Galaxis praktisch so, wie man die Galaxis beherrschen konnte. Der nächste Schritt war die Eroberung und schließliche Annektierung des AndromedaNebels. Das erste und schwierigste Problem war die
unglaublich gewaltige Entfernung, die sich zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen nicht in Zoll, Fuß, Meilen oder Parsecs ausdrücken ließ, sondern in Hunderttausenden von Lichtjahren. Die ersten Pläne erforderten ein viele Meilen langes Raumschiff, dessen Besatzung zunächst aus zehn oder zwölf Paaren bestehen und das nicht nur ihnen, sondern auch fünf Generationen ihrer Nachkommenschaft Platz bieten sollte. Das Projekt war unbezahlbar, aber was der Direktor wollte, bekam der Direktor meistens auch, ganz gleich, was es kostete. Dann, als das Projekt ein paar Jahre alt war, gelang einem obskuren Wissenschaftler in einer der Kuppelkolonien im Capella-System ein neuer Durchbruch in der Raumfahrttechnik oder, besser gesagt, der erste wirkliche Fortschritt seit fast siebentausend Jahren. Es war nichts weiter als eine komplexe Formel für einen reduzierten Tachyonenantrieb (der paradoxerweise viel größere Geschwindigkeiten hervorbrachte als das vorherige Modell), aber es schien zu funktionieren und wurde den für das Projekt Verantwortlichen übergeben. Sie führten Tests durch, entdeckten zu ihrer Überraschung, daß es in der Praxis ebenso gut funktionierte wie in der Theorie, und nahmen es in ihre Pläne auf. Jetzt würde man für die Reise nicht mehr Generationen, sondern nur noch Jahre brauchen – genau gesagt, elf. Eine drei Jahre dauernde Erforschung der neuen Galaxis würde folgen, und nach einem Vierteljahrhundert könnte die Crew wieder daheim sein und über ihre Entdeckungen berichten. Dann mußte der Plan noch einmal modifiziert werden. Es würde keine Crew geben und womöglich gar keinen Flug. Die erforderlichen Triebwerke waren so groß, so unstabil und zudem so unfähig zu allem außer einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, daß eine weitere Last einfach nicht untergebracht werden konnte. Der Mensch fand sich ins Morgengrauen des Raumfahrtzeitalters zurückversetzt: Er
besaß die Antriebskraft, mit der er Andromeda innerhalb von Jahren statt von Äonen erreichen konnte, aber diese Antriebskraft konnte über ihr eigenes Gewicht hinaus nicht eine einzige Extratonne verkraften. Die Wissenschaft wälzte das Problem hin und her, und ohne Zweifel würde es eines Tages gelöst werden. Aber der Direktor hatte kein Interesse an Dingen, die »eines Tages« geschehen würden. Seiner Vorstellung von einer ihm geziemenden Fußnote in den Geschichtsbüchern entsprach etwa die Errichtung einer Andromeda-Kolonie zu seinen Lebzeiten. Und hier kam Bartol ins Spiel. Viele Leute fragten sich erstaunt, was ein Biologe beim Andromeda-Projekt verloren hatte, aber tatsächlich war er in jeder praktischen Hinsicht das Projekt. Die Miniaturisierung von Steuerinstrumenten und die Komprimierung von Luft und Nahrungsmitteln war kaum noch weiterzutreiben, und immer noch benötigten diese Dinge mehr Platz, als vorhanden war. Sogar eine Tiefschlafkammer verbrauchte zuviel Raum und Energie, und obwohl die Vorräte, die man für einen »eingefrorenen« Piloten brauchte, erheblich reduziert waren, übertraf ihre Menge noch immer die Frachtkapazitäten des Schiffes. Dann schlug einer der hellen Burschen im Labor vor, man solle sich einmal überlegen, wie die Hunks für das Projekt nutzbar zu machen seien, und da Bartol die führende Autorität auf dem Gebiet der Hunks war, wurde er dienstverpflichtet und an die Arbeit gesetzt. Niemand, nicht einmal Bartol, wußte genau, wie die Hunks funktionierten. Sie waren eine so verworren konstituierte Rasse von Lebewesen, wie man sie ein zweites Mal nicht entdeckt hatte, und die Psychologen hatten mehr als vierhundert Jahre gebraucht, bis sie schließlich erklärt hatten, daß es sich um vernunftbegabte Wesen handelte. Der durchschnittliche Hunk sah aus wie eine große, grüne, schleimige Amöbe. Bisher hatte
man nicht entdeckt, daß er irgendwelche Sinnesorgane besaß, aber er konnte die Gegenwart anderer offensichtlich spüren. Er bewegte sich mit einem Kriechmechanismus, wie ihn die Natur tolpatschiger und unzweckmäßiger nirgends entwickelt hatte, und ein erkennbares Oben oder Unten hatte er nicht. Aber er besaß etwas, daß ihn unbezahlbar machte: Eine Körperchemie, die ein Kohlendioxidgemisch einatmete, eine Sauerstoff-Stickstoff-Verbindung ausatmete, menschliche Exkremente verzehrte und die Bestandteile menschlicher Nahrung ausschied. Kurz gesagt, man konnte ihn mit einem menschlichen Piloten zu einer total symbiotischen Verbindung zusammenfügen. Selbstverständlich würde keine der beiden Lebensformen soviel ausatmen oder ausscheiden, wie sie zu sich genommen hatte, aber der Unterschied war so gering, daß das Schiff die erforderlichen Zusatzmengen leicht fassen konnte. Es war die einzige denkbare Möglichkeit, das Andromeda-Projekt in absehbarer Zukunft durchzuführen, und so stürzten sich sowohl das Schwebende Königreich als auch die Projektwissenschaftler entzückt darauf. Die Piloten allerdings waren ein Problem für sich. Leise und nur gelegentlich zunächst, dann aber immer deutlicher und hartnäckiger, wehrten sie sich gegen diese symbiotische Beziehung. Ihr Einwand, sagte die Psychologie, richtet sich gegen die Vorstellung, sich von den Ausscheidungen eines anderen Wesens ernähren zu sollen, seine Exkremente zu essen und einzuatmen, was es ausatmet. »Dann konditionieren Sie sie«, sagte Bartol. Und die Psychologie holte die potentiellen Piloten für einen Monat zu sich, und als sie zurückkamen, hatten sie keine Einwände mehr gegen die weniger geschmackvollen physischen Aspekte der Symbiose. Und es gefiel ihnen immer noch nicht.
Jetzt, sagte die Psychologie, richtet sich ihr Widerwille gegen die Tatsache, daß ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen von der Gesundheit und dem Wohlergehen eines ganz und gar fremdartigen Alien abhängen soll. Sie wollen nicht sterben, bloß weil ein Hunk mal krank wird. »Dann lehren Sie sie Hunk-Physiologie und -Medizin«, sagte Bartol. Also holten die Biologen sich die Piloten und ließen ihnen einen Crash-Kurs in Hunk-Physiologie angedeihen, und sie brachten ihnen bei, einen Hunk fachkundiger gesund zu erhalten als sich selbst. Und es war ihnen immer noch zuwider. Bartol rief schließlich Jesser, den Piloten, der die Reise wahrscheinlich als erster unternehmen würde, zu sich in sein Büro und bot ihm an, das Problem zu diskutieren. Jesser kam herein und starrte ihn unheilvoll an. »Wie ich höre, haben wir immer noch ein kleines Problem«, sagte Bartol und bot dem Piloten einen Drink an, den dieser zurückwies. »Keins, das man nicht dadurch lösen könnte, daß man die Hunks zum Teufel schickt«, sagte Jesser. »Das kommt aber leider gar nicht in Frage«, antwortete Bartol. »Es gibt einfach keine praktikable Methode, eine intergalaktische Reise ohne sie zu unternehmen. Außerdem verursachen nicht die Hunks Probleme im Projekt, sondern Sie und die übrigen Piloten.« »Dann besorgen Sie sich neue Piloten«, versetzte Jesser. »Ich werde mich nämlich nicht an einen Hunk anschließen lassen. Nicht für fünfundzwanzig Jahre und nicht für fünfundzwanzig Minuten.« »Das habe ich bereits gehört«, sagte Bartol. »Ich glaube nicht, daß Sie Lust haben, mir Ihre Gründe dafür zu erläutern. Ich weiß, daß Sie keine physische Abneigung gegen eine lebensspendende symbiotische Beziehung hegen, und ich weiß,
daß Sie einen Hunk-Partner ebenso gut lebendig und gesund erhalten können wie ich. Wo liegt das Problem?« »Ich mach’s einfach nicht«, antwortete Jesser leise, aber bestimmt. »Von mir aus können Sie mich ruhig feuern. Ich bekomme überall einen Job.« »Wenn Sie der einzige Pilot wären, der so denkt«, erwiderte Bartol, »wären Sie nicht zwei Sekunden länger bei uns. Aber Sie sind es nicht, und deshalb muß ich dieser Sache auf den Grund gehen. Was haben Sie daran auszusetzen, daß ein Hunk Sie so lange am Leben erhält, daß Sie das erste intelligente Lebewesen in einer fremden Galaxis sind?« »Sie können nicht besonders gut zählen, wie?« meinte Jesser. »Was zum Teufel soll denn das nun wieder heißen?« fragte Bartol, aber Jesser drehte sich um und ging hinaus. Erneut konsultierte er die Psychologie, und wenig später erhielt er die Antwort. Die Piloten hatten nichts dagegen, daß die Hunks sie am Leben erhalten sollten. Sie hatten nichts gegen die Lebensgefahr, in die sie geraten würden, wenn ein Hunk krank würde oder gar stürbe. Aber was ihnen nicht schmeckte, war die Vorstellung, daß ein Hunk an Bord des ersten Schiffes im Andromeda-Nebel sein sollte. »Aber das ist doch verrückt!« rief Bartol. »Mag sein«, sagte Lavers, der Psychologe. »Aber das ist das Problem, in einem Satz. Es wird die wichtigste Stunde in der Geschichte des Menschen sein, die größte seiner Leistungen, und sie sind unter keinen Umständen willens, eine andere Rasse daran teilhaben zu lassen.« »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe!« behauptete Bartol. »Ohne die Hunks kommen wir doch gar nicht hin.« »Sie wissen das, ich weiß es, und die Piloten wissen es auch. Sie sagen, dann sollten wir eben warten, bis wir die
Technologie besitzen, die uns dazu befähigt, es allein zu schaffen, wie der Mensch es immer getan hat.« »Dann konditionieren Sie es aus ihnen heraus.« »Geht nicht.« »Was heißt das?« fragte Bartol. »Sie haben sie so konditioniert, daß sie eine symbiotische Verbindung akzeptieren, und das ist viel widerlicher.« »Es ist physisch unangenehmer«, sagte Lavers. »Und wir haben mittlerweise einen Punkt erreicht, an dem es uns möglich ist, Menschen gegen ungefähr jede physische Belastung zu konditionieren. Ich will nicht bestreiten, daß es, zumindest für die meisten von uns, auch geistig widerlicher ist als vieles andere und daß wir auch diesen Widerwillen überwinden können. Aber wenn Sie von unserem augenblicklichen Problem sprechen, dann verlangen Sie von mir, daß ich alles verändere, was den Menschen zum Menschen macht, und ich glaube nicht, daß ich das kann. Oh, ich kann sie in den tiefsten Hypnoseschlaf versetzen, den Sie sich nur vorstellen können, und ihnen in jeder Stunde eine Million mal einhämmern, daß die Hunks im Getriebe dieses Unternehmens notwendige Zahnrädchen sind und daß sie für ihre Teilnahme an der Mission nicht nur keine Lorbeeren erwarten, sondern nicht einmal begreifen werden, daß überhaupt eine Mission stattfindet. Und diese Konditionierung wird eine Weile anhalten – ein Jahr lang, zwei, vielleicht zehn –, aber früher oder später werden sie sie durchbrechen. Es ist leichter, einen Menschen so zu konditionieren, daß er ißt und trinkt, wenn die Alternative Verhungern und Verdursten heißt, als ihn zu konditionieren, einen Triumph mit einer anderen Rasse zu teilen, wenn die Alternative heißt, ihn nicht zu teilen.« »Unsinn«, sagte Bartol. »Konditionieren Sie sie, und bringen Sie sie auf den Weg. Ich garantiere Ihnen, sie werden nicht auf
halber Strecke den Stecker herausziehen, wenn sie die Konditionierung durchbrechen.« Lavers seufzte. »Nun, Sie sind der Verantwortliche für diesen Bereich des Projekts. Ich werde tun, was Sie sagen, aber ich schlage Ihnen eine kleine Wette vor.« »Ach?« »Ich wette fünfhundert Credits, daß das Schiff es nicht hin und zurück schafft.« »Ich hoffe zuversichtlich, daß ich längst tot und begraben bin, wenn es soweit ist«, sagte Bartol. »Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit.« »Es wird keine fünfundzwanzig Jahre dauern«, meinte Lavers. »Die Wette gilt«, sagte Bartol. »Wissen Sie was? Ich glaube, Sie sind genauso verrückt wie Jesser.« Und so wurden die Piloten noch einmal konditioniert, und nicht einmal ein Jahr später hatte die Andromeda I den Orbit, in dem man sie gebaut hatte, verlassen und jagte mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die intergalaktische Leere. Jesser hatte sich in der Tat bereit gefunden, die Mission zu fliegen, und als er zwei Jahre unterwegs war, ohne daß es zu unliebsamen Zwischenfällen gekommen wäre, startete man vier weitere Andromeda-Schiffe, ein jedes mit dem Auftrag, einen anderen Sektor der Nachbar-Galaxis zu kartographieren. Barton verbrachte den größten Teil des folgenden Jahres in der Leitzentrale des Projekts und kontrollierte die täglichen Ablesungen der fünf Hunks, während Lavers das gleiche mit den Piloten tat. Die Schiffe befanden sich exakt auf dem programmierten Kurs und hielten auch den Zeitplan ein, die Insassen waren bei bester körperlicher Gesundheit, und so gab der Direktor die Nachricht vom Andromeda-Projekt schließlich an die Medien. Die Leute stürzten sich auf die Neuigkeit. Sie spürten, daß es wieder ein Ziel gab, daß neue Herausforderungen zu bestehen
waren. Andromeda, so stimmten die meisten überein, würde für den Anfang genügen, so wie Sirius ein paar Jahrtausende zuvor als Appetithappen ausgereicht hatte. Aber Andromeda war nur eine Galaxis und dabei keine besonders große oder eindrucksvolle. Allein in der näheren Umgebung gab es mehr als fünfzig Galaxien, und dann… »… und dann bemerkte ich diese Fluktuation«, sagte einer der unteren Mitarbeiter im Andromeda-Stab. Lavers betrachtete den Ausdruck und schüttelte den Kopf. »Nicht gut«, sagte er. »Gar nicht gut.« »Gibt’s ein Problem?« fragte Bartol und schlenderte herbei. »Enzephalogramm«, sagte Lavers. »Wessen?« »Jessers.« »Und was heißt das?« fragte Bartol. »Vielleicht gar nichts«, antwortete Lavers. »Aber wenn Sie sich noch an die Wette erinnern, die wir vor ein paar Jahren abgeschlossen haben… also, ich glaube, an Ihrer Stelle würde ich das Geld bereithalten.« »Wegen einer leichten Abweichung von der Norm?« fragte Bartol. »Wenn Sie dreihunderttausend Lichtjahre weit vom nächsten Stern entfernt mit einem Alien zusammengekoppelt sind, gibt es keine ›leichten‹ Abweichungen«, erwiderte Lavers. Die Abweichung hielt so lange an, daß man sie schließlich als Standardwert akzeptierte – bis die übrigen Piloten die gleiche Abweichung zeigten, und zwar alle nach einer Flugzeit von zwei oder drei Jahren. »Aber es ist ganz und gar nicht das gleiche«, widersprach Lavers. »Bei den anderen ist es weniger, leichter. Jesser hat sich in den letzten zwei Jahren so allmählich verändert, daß es kaum wie eine Veränderung erschien, bis man es mit den anderen vier verglich.«
Bartol grinste nur und gab seinem Vertrauen in den grundsätzlichen Selbsterhaltungsinstinkt der fünf Piloten Ausdruck. Und dann verließ Jessers enzephalographische Kurve eines Tages jäh die Skala und kehrte dann zu ihrer ursprünglichen Norm zurück – alles in einem Zeitraum von vier Stunden. »Das war’s«, meinte Lavers. »Er hat es durchbrochen. In ein paar Jahren werden die anderen auch soweit sein.« »Dann hat er es eben durchbrochen«, entgegnete Bartol. »Dadurch ändert sich nichts. Er wird die Situation evaluieren, wird begreifen, daß die Rückkehr ohne die Möglichkeit, sich um einen Stern oder ein Schwarzes Loch zu schleudern, mehr Treibstoff erfordert, als er hat, und dann wird er weiterfliegen. Schließlich ist er ein Mensch, und Menschen bemühen sich, am Leben zu bleiben.« »Menschen tun vieles«, erwiderte Lavers ruhig. Und dreihundertfünfzigtausend Lichtjahre weit entfernt warf Jesser einen letzten, unheilvollen Blick auf seinen Gefährten und hakte dann langsam sein Atemgerät los.
19: Die Philosophen … Mit der Gründung der Universität auf Aristoteles begann das Commonwealth mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks brillante Philosophen hervorzubringen. Rückblickend können wir sogar mit einiger Sicherheit sagen, daß die Philosophie in der Mitte des siebten galaktischen Jahrtausends, genauer gesagt, zwischen 6400 und 6700 G. Z. aus den verschwommenen Grenzen einer Kunst herauswuchs und zu einer Wissenschaft gedieh. Einige brillante Aufsätze befinden sich noch immer in den Archiven, sowohl auf den diversen
Planetoiden von Deluros VI als auch in der gewaltigen Bibliothek auf Deluros VIII… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Das Fach der Philosophie scheint um 6500 G. Z. eine äußerst unphilosophische und am Ende dann tödliche Entwicklung genommen zu haben. Angelpunkt dieser Entwicklung ist vermutlich die Karriere der Belore Theriole (6488-6602 G. Z.), fraglos der letzten der großen menschlichen Philosophen… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
»Brillant!« sagte Hillyar. »Absolut brillant!« Er legte das dicke Bündel Papier auf den großen Tisch, lehnte sich zurück und sah aus wie ein Mann, der zu stolzieren versuchte, ohne die Beine zu bewegen. »Das habe ich Ihnen doch gesagt«, erwiderte Brannot. »Ich würde es begrüßen, wenn wir ihm unverzüglich eine Fakultätsstellung anbieten könnten, bevor eine andere Schule ihn erwischt.« Die beiden anderen Mitglieder des Prüfungsausschusses nickten zustimmend. »Bevor ich es offiziell bekanntgebe«, sagte Brannot, »möchte ich zu Protokoll geben, daß wir alle dieser Auffassung sind.« »Absolut«, bestätigte Hillyar. Die übrigen wiederholten, was er gesagt hatte. »Gut. Das wäre dann erledigt.« Brannot wandte sich der kleinen Gestalt zu, die schweigend in einer Ecke des Raumes saß. »Professor Theriole, wenngleich die Angelegenheiten unserer Universität für Sie allenfalls von flüchtigem Interesse sein können, wären wir doch nichtsdestoweniger geehrt, wenn
eine Persönlichkeit Ihres Ranges unsere Empfehlung mit ihrem Namen bekräftigen wollte.« Belore Theriole sah auf und strich sich eine Strähne ergrauenden Haares aus der Stirn. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich glaube, ich fühle mich nicht bewogen, es zu tun.« »Haben wir Sie auf irgendeine Weise beleidigt?« fragte Brannot, und in seiner Stimme schwang ein Unterton der Besorgnis mit. »Nein«, sagte Belore nachdenklich. »Ich glaube, ich würde nicht so weit gehen zu sagen, Sie hätten mich beleidigt.« »Könnte es dann sein, daß Sie mit unserer Bewertung dieses Papiers nicht übereinstimmen?« beharrte Brannot. »Oh, ich bin sicher, daß der in Frage stehende Student und die in Frage stehende Arbeit gleichermaßen brillant sind«, antwortete Belore. »Ich glaube einen Hauch von Mißfallen zu vernehmen«, sagte Brannot. »Dürfte ich Sie vielleicht bitten, Ihre Aussage zu erläutern?« »Wenn Sie darauf bestehen, Professor Brannot«, sagte Belore mit einem Seufzer. »›Darauf bestehen‹ ist ein zu hartes Wort«, erwiderte Brannot. »Sagen wir lieber, ich bitte Sie ernsthaft darum. Wenn eine Philosophin Ihres Ranges unserer nichtswürdigen Universität die einzigartige Ehre erweist, unserem Prüfungsausschuß als Gast beizuwohnen, ist es schließlich nur recht und billig, daß wir lernen, was immer es vom Standpunkt eines so distinguierten Außenseiters über uns und unsere Hochschule zu lernen gibt.« »Es ist wirklich schade, daß ich mir das Erröten abgewöhnt habe, als ich noch ein junges Mädchen war«, sagte Belore, ohne eine Miene zu verziehen. »Sonst hätten Sie mir jetzt schon den Kopf verdreht, Professor.« Allgemeines Glucksen
erhob sich unter den Gelehrten, aber Belore fuhr fort. »Als man mich bat herzukommen, habe ich die Einladung mit Vergnügen angenommen. Der Planet Aristoteles ist schließlich eine recht faszinierende Konzeption, und ich hatte ihn zuvor noch nie besucht. Und ich muß sagen, daß Aristoteles physikalisch meine Erwartungen noch weit übertroffen hat. Ich glaube, eine Vorstellung von einer Universitätswelt, von einem Planeten der Größe Terras, der in einen Garten von academiae verwandelt worden ist, kann man sich erst machen, wenn man es gesehen hat. Ihre Bibliotheken allein dürften der Neid eines jeden Systems in der Galaxis sein, und die Architekten, die Ihre Gebäude entwarfen, haben sich damit zweifellos einen Platz in jener Ecke des Himmels gesichert, die den Genies vorbehalten ist. Außerdem entnehme ich dem, was ich über Ihre Zugangsvoraussetzungen gehört habe, daß es auf dem ganzen Planeten nicht einen einzigen Dummkopf gibt, wenn man sogenannte Honoratioren wie mich einmal ausnimmt. Aristoteles zieht die Creme der jungen Intellektuellen des Commonwealth heran und behandelt sie offensichtlich so, wie es ihren Fähigkeiten gebührt. Soviel zu den physischen Aspekten. Was die Curricula angeht, so kann man vermutlich nirgends ein gründlicheres oder mannigfaltigeres Studium absolvieren als hier. Die Studenten, zumindest die wenigen, mit denen ich habe sprechen können, machen einen relativ ausgeglichenen Eindruck und scheinen die Gabe einer ungewöhnlich raschen Auffassung zu besitzen. Die Fakultät, das muß man nicht erst erwähnen, ist die beste, die sich zusammenstellen ließe. Nachdem ich dies gesagt habe, will ich nun einen Schritt weitergehen. Ich kann natürlich nicht für die anderen Studiengebiete sprechen, aber in meinem Fach, der Philosophie, verfügen Sie, glaube ich, ohne jeden Zweifel über
die fähigsten Köpfe, die die menschliche Rasse bisher hat hervorbringen können.« »Dann billigen Sie, was wir hier tun?« fragte Brannot selbstgefällig. »Ganz im Gegenteil«, erwiderte Belore lächelnd. »Ich finde es erstickend und irrelevant.« »Was!« Die vier Männer sprangen gleichzeitig auf, mehr verblüfft als empört. »Ich habe noch nie ein so großartiges Potential so dreist verschwendet gesehen«, erklärte Belore. »Es erscheint mir fast unvorstellbar, wie eine Rasse, die in der Lage ist, eine Welt wie Aristoteles zu erschaffen, zugleich fähig sein kann, sie so unverfroren zu mißbrauchen und fehlzuleiten.« »Professor Theriole«, sagte Brannot, mühsam um seine Fassung kämpfend, »würden Sie bitte erklären, was Sie meinen?« »Ich will es versuchen«, erwiderte Belore, »obgleich ich bezweifle, daß es viel nützen wird. Wenn Sie meiner Meinung wären, hätte es zu dieser Situation gar nicht erst kommen können.« »Warum versuchen Sie es nicht einfach?« schlug Hillyar vor. »Das will ich ja«, sagte Belore. »Lassen Sie mich damit beginnen, daß ich Ihnen ein paar Fragen stelle, wenn es gestattet ist.« »Bitte«, sagte Brannot hochfahrend. »Professor Brannot, was ist die Position der philosophischen Abteilung hinsichtlich der Werke des Thomas von Aquin?« »Ein brillanter primitiver Philosoph«, antwortete Brannot. »In seinen Tagen ohnegleichen, aber definitiv widerlegt.« »Widerlegt?« fragte Belore. »Sie meinen, in seinen religiösen Ansichten und Argumenten.« »Jawohl.« »Einschließlich des Arguments von der Ersten Ursache?«
»Gewiß. Es läßt sich widerlegen durch die Menge aller negativen Zahlen, durch die Menge aller reinen Brüche, durch…« »Sie haben recht«, unterbrach Belore. »Was ist mit Plato?« »Wir studieren ihn natürlich. Er ist der erste große Philosoph des Menschen, und…« »Der erste war er nicht, aber lassen wir es dabei«, sagte Belore ruhig. »Jedenfalls studieren wir ihn. Aber auch dieser Mann ist viele Male widerlegt worden, praktisch wie theoretisch. Vor wenigen hundert Jahren noch wurde die bonitische Kolonie nach den Vorschriften seiner Republik organisiert, und sie hatte nur wenige Jahre Bestand.« »Zu viele Philosophen-Könige und nicht genug Straßenkehrer, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Belore. »Wie ist es mit den Schriften Braxtoks von Canphor VII?« »Er war doch nicht einmal ein Mensch!« rief Brannot. »Ist seine Sicht des Universums damit ungültig?« fragte Belore. »Ganz und gar nicht«, erklärte Hillyar hastig. »Tatsächlich veranstalten wir eine ganze Reihe von Seminaren über AlienPhilosophien.« »Ach?« sagte Belore. »Wie viele?« »Ich habe die Zahlen gerade nicht vorliegen«, antwortete Hillyar. »Aber es sind nicht wenige.« »Ich hatte die Zahlen vor ein paar Stunden vor mir«, sagte Belore. »Gefunden habe ich siebzehn. Siebzehn von mehr als sechshundert.« »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Brannot. »Einfach auf folgendes«, antwortete Belore. »Ich habe mir die verschiedenen Dissertationen angeschaut, die diesem Prüfungsausschuß in letzter Zeit vorgelegen haben, und ich finde, sie sind beunruhigend.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, die Studenten seien außergewöhnlich brillant«, wandte Hillyar ein. »Das sind sie auch«, bestätigte Belore. »Und das gleiche gilt für ihre Arbeiten.« »Ich fand, daß sie ausgezeichnet argumentierten«, sagte Brannot. »Das fand ich auch«, stimmte Belore zu. »Bei denen, die zu lesen ich mir die Mühe gemacht habe.« »Dann verstehe ich Ihren Einwand nicht.« »Das dachte ich mir«, sagte Belore. »Ich habe mir etwa fünfzehn Promotionsdissertationen angeschaut. Sieben davon beschäftigten sich mit der Ethik unseres Verhaltens gegenüber Alienrassen. Drei untersuchten das Verhältnis des Menschen zu seiner Technologie. Die restlichen fünf unternahmen es in unterschiedlichem Maße, die politischen, ökonomischen und militärischen Exzesse der Monarchie zu rechtfertigen.« »Sie meinen ›des Commonwealth‹«, unterbrach Hillyar sanft. »Ich weiß schon, was ich meine«, sagte Belore. »Und genauso weiß ich auch, meine Herren, was mir an diesen Arbeiten nicht gefällt. Ich weiß nicht, ob eine Absicht dahintersteckt oder nicht, aber das Fach Philosophie ist in ernster Gefahr, in einen Nebenzweig der politischen Wissenschaften umgewandelt zu werden.« »Unsinn«, sagte Brannot. »Wie kann eine Intellektuelle Ihres Ranges auf der Grundlage einer Handvoll Dissertationen zu einer solchen Schlußfolgerung kommen?« »Wenn diese spezielle Handvoll sich in ihrem Inhalt merklich von der des letzten Jahres oder des vorletzten Jahres unterscheidet, dann werde ich meine Meinung ändern«, sagte Belore. »Aber ich habe den Verdacht, daß dem nicht so ist. Und das ist es, was mich beunruhigt. Das – und Ihre Einstellung. Ich habe beispielsweise Thomas von Aquin erwähnt, und Sie sprudeln mir eine mathematische Entgegnung
auf eine esoterische Theorie hervor, neben welcher die gesamte Mathematik zur Bedeutungslosigkeit verblaßt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung im Universum? Wenn ja, ist dann die erste und ursprüngliche Ursache des Ganzen die Schöpfung? Belästigen Sie mich nicht mit negativen Zahlen oder mit astronomischen Theorien über kontrahierende und expandierende Universen. Ich will wissen: Gibt es einen Intellekt oder eine Lebenskraft, die absichtlich oder nicht diesen ganzen Prozeß in Gang gesetzt hat, oder gibt es sie nicht? Aquin argumentierte, zu Recht oder zu Unrecht, auf der Grundlage einer Kombination aus Glauben, Intellekt und Empirie, und Sie antworten ihm mit Mathematik und Astronomie. Ich sage Ihnen aber, daß Ihre Antworten keinen Schuß Pulver wert sind. Plato nun sprach von einer utopischen Republik mit einem eigenen Kodex von idealisierten ethischen Imperativen. Und weil es einer kleinen Gruppe von desillusionierten Radikalen nicht gelang, diesen Kodex zu verwirklichen, betrachten Sie Plato als archaisch und widerlegt. Ich halte dem entgegen, daß eine philosophische Abteilung, die Platos Werke negiert, weil die bonitische Kolonie gescheitert ist, sich selbst widerlegt hat, ohne Plato auch nur einen Kratzer zuzufügen. Was hingegen Braxtok betrifft, so hat er – oder, besser gesagt, es – das vielleicht komplexeste ethische Argument für die Annahme eines göttlichen Seins geliefert. Zugegeben, es war kein Sein, mit dem ein Mensch etwas anfangen könnte, aber das kann die Gültigkeit des Arguments nicht beeinträchtigen. Ich will mit all dem auf folgendes hinaus: Mir scheint, die Philosophie hat nicht nur ihre Wurzeln, sondern auch ihre Ziele vergessen. Niemand stellt mehr Fragen über die Natur des Menschen, über seinen Platz im Universum oder über die Existenz oder die Notwendigkeit eines göttlichen Wesens. Nur weil Descartes zu dem Schluß kam, daß niemand an seiner eigenen
Existenz zweifeln dürfe, ist das noch nicht wahr – oder falsch. Warum stellt niemand mehr diese zentralen Fragen, warum beschäftigt sich niemand mehr mit diesen zentralen Argumenten? Meine Herren, was Sie produzieren, sind keine Philosophen. Weit gefehlt. Was Sie hier hervorbringen, ist die brillanteste Schule von Pragmatikern unserer Geschichte. Aber Pragmatismus ist nicht die einzige Richtung der Philosophie, und politische und soziale Doktrinen sind nicht die einzigen – und nicht einmal legitime – Ziele der Philosophie. Ihre jungen Männer und Frauen – und auch Sie selbst – wollen wissen, wie etwas funktioniert oder ob es funktioniert oder welche Wirkung es haben wird. Alle anderen Überlegungen – etwa, ob es richtig oder falsch ist, gut oder böse, der Natur des Menschen gemäß oder nicht – werden entweder ignoriert oder so umstrukturiert, daß sie sich in das zugrunde liegende pragmatische Konzept, das gerade betrachtet wird, einfügen lassen. Und das, meine Herren, ist der Grund, weshalb ich weder meinen Namen noch meinen Einfluß für eine Petition zur Verfügung stellen werde, die einen weiteren Nichtphilosophen für diesen Stab von Nichtphilosophen beschaffen soll. Ich weine um die Kritik der reinen Vernunft in diesen Tagen der reinen Machbarkeit.« »Meine liebe Frau Professor Theriole«, sagte Brannot, »glauben Sie denn wirklich, daß wir, das Lehrpersonal oder auch unsere Studenten, kein Verständnis mehr für die haben, die Sie zweifellos als ›reine Philosophen‹ bezeichnen würden? Vielleicht ist mein Wissen über sie nicht so groß wie das Ihre, aber auch ich bin nicht gänzlich unbewandert in diesen Aspekten der Philosophie. Aber der Unterschied zwischen Verstehen und positivem Akzeptieren ist ein beträchtlicher, und hier verlassen Sie nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch die der meisten unserer Studenten. Wir halten ihnen
schließlich keine Pistole an den Kopf und erklären ihnen, ihre Dissertationen müssen auf die wirkliche Welt anwendbar sein.« »Wenn man sie liest, merkt man davon nichts«, bemerkte Belore trocken. »Professor«, fuhr Brannot fort, »wir befinden uns an einem Kreuzweg auf dem Felde der Philosophie. Wir können weiterhin die alten, unbeantworteten und unbeantwortbaren Fragen durchkauen, und die Philosophie wird bleiben, was sie immer war: ein Salonspiel zur geistigen Gymnastik, gespielt von Intellektuellen in ihrem Elfenbeinturm. Wir können aber auch versuchen, sowohl alte als auch neue philosophische Konzepte auf unser tägliches Leben anzuwenden und sie für uns arbeiten zu lassen.« »Ich war dem offensichtlich irrigen Eindruck zum Opfer gefallen, daß wir schon in der Vergangenheit philosophische Konzepte für uns hätten arbeiten lassen«, versetzte Belore. »Die Zehn Gebote fallen mir ein, aber ich möchte wetten, daß es im Laufe der letzten zehntausend Jahre noch ein oder zwei andere Konzepte dieser Art gegeben hat.« »Das gebe ich gern zu«, sagte Brannot, »aber das bestärkt nur mein Argument: Die Philosophie kann und muß sich mit der Realität beschäftigen. Nehmen Sie beispielsweise Bischof Berkeleys Gottesbeweis, das einzige menschliche Argument für die Existenz einer Gottheit, welches noch nicht widerlegt worden ist. Ich frage Sie, nicht von Professor zu Professor, sondern von Mensch zu Mensch: Wer interessiert sich tatsächlich einen Deut dafür, ob es nun einen Unsichtbaren Beobachter gibt oder nicht? Oder nehmen Sie den geheiligten Descartes, der dachte und also war. Ich habe keinen Zweifel, was meine eigene Existenz betrifft: Ich habe Magengeschwüre, Kopfschmerzen und Sorgen, die mir zufriedenstellend beweisen, daß ich bin. Aber Descartes trieb das Ganze einen
Schritt weiter: Er schloß aus der einzelnen Tatsache, daß er existierte, auf die Existenz des gesamten Universums. Um so besser für ihn. Aber ich kann die Existenz eines großen Granitblocks draußen vor diesem Gebäude aus meiner eigenen Existenz schließen, und ich kann es ebensogut bleibenlassen; in beiden Fällen ist dies ohne Einfluß auf den Wahrheitsgehalt der Schlußfolgerung. Andererseits«, fuhr er fort, »wenn ich sagen wollte: ›Ich habe Hunger, also bin ich‹, wäre dies von größerer Relevanz, denn mein nächster Schritt wäre die Erwägung, was zu tun sei, um meinen Hunger zu lindern, und dies würde nicht nur zu praktischen Vorschlägen führen, sondern auch zu ethischen Überlegungen. Ich will damit sagen, Professor: Die Philosophie muß etwas tun. Sie darf nicht herumliegen und akademischen Dilettanten als logisches Spielzeug dienen.« »Es erübrigt sich zu sagen, daß ich nicht Ihrer Meinung bin«, sagte Belore. »Was Sie beschreiben, ist schlichtweg keine Philosophie mehr. Praktizierende Politiker bestimmen unsere öffentliche Ethik und unser Verhalten, ob uns das paßt oder nicht, und ein halbes Hundert anderer Wissenschaften bekümmert sich um unseren Hunger und unser Wohlbehagen. Philosophie, wahre Philosophie, hat mit der Seele zu tun, und ich benutze dieses Wort nicht im religiösen Sinne. Oder, wenn Sie eine mundgerechtere Definition vorziehen: Sie beschäftigt sich mit demjenigen Teil des Geistes – und beachten Sie, daß ich nicht gesagt habe: des menschlichen Geistes –, für den sich weder Psychiater noch Psychologen interessieren. Ihr Ziel ist es, einen Überblick über das Universum und über das Leben und über das Sein zu geben. Ihr Ziel ist die Beantwortung von Fragen nicht mehr als die Fragen selbst, und das Lösen von Problemen obliegt ihr nicht mehr als das Schaffen neuer Betrachtungsweisen für diese Probleme. Ich sage es noch einmal: Pragmatismus ist eine Philosophie, aber es ist nicht die
einzige Philosophie und nicht einmal eine der wichtigsten Philosophien.« »Wie kommt es dann, daß die überwältigende Mehrheit unserer Philosophen nicht mit Ihnen übereinstimmt?« wollte Hillyar wissen. »Weil Menschen wie Sie sie konditioniert haben«, antwortete Belore unverblümt. »Außerdem ist dies kein Gebiet wie die Politik, auf dem Mehrheiten das Sagen haben. Die Tatsache, daß die meisten mit Ihnen einer Meinung sind, bedeutet nichts weiter, als daß mehr Leute sich irren, als man unter anderen Umständen vernünftigerweise erwarten würde.« »Wie ich sehe«, meinte Brannot, »wird keiner hier den anderen von der Richtigkeit seines Standpunktes überzeugen können.« »Vermutlich nicht, und das ist bedauerlich«, sagte Belore. »Meine Herren, ich glaube, wir sollten diese Unterredung abkürzen, bevor die Wellen der Erregung höher schlagen. Sie können mir weitere Dissertationen zusenden, und ich werde die Richtigkeit der Argumentation kommentieren, wie ich es Ihnen zugesagt habe. Vermutlich aber würde es uns alle glücklicher stimmen, wenn ich nichts weiter damit oder mit Ihnen zu tun hätte.« Mit diesen Worten erhob sie sich und verließ das Gebäude, und dabei fühlte sie sich abwechselnd jünger und älter, als sie tatsächlich war. »Tja«, sagte Hillyar, nachdem ein paar Minuten lang Stille geherrscht hatte. »Was sagt man dazu?« »Sie war eine brillante Frau, zu ihrer Zeit«, sagte Brannot langsam. »Es ist betrüblich zu sehen, wie sie den Kontakt zur Realität verloren hat. Die Philosophie würde immer eine Kunst und niemals eine Wissenschaft sein, wenn es nach ihrem Willen ginge.«
»Welch eine Frechheit!« bemerkte Hillyar. »Als ob wir nichts von Plato und Kant und Aquin wüßten! Was sollen wir denn tun – darauf bestehen, daß jeder Doktorand sein halbes Leben damit zubringt, seinen eigenen Nabel zu betrachten?« »Wir wollen nicht zu barsch über sie urteilen«, meinte Brannot munter. »Vergessen Sie nicht – diese welke, runzlige Schale hat einmal einen wirklich überragenden Geist beherbergt.« Damit nahm er sich die nächste Arbeit vor, die mit einer Reihe von beeindruckenden Argumenten die wirtschaftliche Unterjochung der Eingeborenen von Broward III rechtfertigte, und nach kurzer Zeit vertiefte er sich fasziniert und hingerissen in die feingeschmiedete Kette ausgeklügelter Argumentation, die sich vor ihm entrollte.
20: Die Architekten …Fraglos der größte unter den Architekten des Commonwealth war Ebar Mallow (6700-6755 G. Z.), der aus unbekannten Gründen aus den Reihen seines Berufsstandes verschwunden zu sein scheint, nachdem das unglückselige Projekt des Büros für Alien-Angelegenheiten vollendet worden war. Gleichwohl sichert ihm allein dieses Bauwerk einen Platz an der Spitze der menschlichen Architekturgeschichte… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
…Das mißratene Büro steht noch heute an seinem Platz, und in vieler Hinsicht ist es wohl das bemerkenswerteste Gebäude, das je eine Rasse errichtet hat. Sein Entwurf, und vielleicht auch sein schließliches Schicksal, ist sicher großenteils Ebar Mallow zuzuschreiben, dem vielleicht brillantesten Architekten, der seit dem Bau von Caliban in Erscheinung
getreten war. Noch heute funktioniert das Büro so, wie es den Entwürfen entspricht; bedauerlich ist nur, daß… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
»Was zum Teufel ist denn das?« fragte Mallow und deutete auf die riesige Struktur, die da in sein Büro transportiert wurde. »Das, mein bücherkluger Freund, ist ein Stuhl«, erklärte Verlor, der an den abziehenden Arbeitern vorbei ins Büro trat. »Ein Stuhl für was?« fragte Mallow und versuchte, sich die Kreatur vorzustellen, die auf diesem Ding bequem würde sitzen können, aber er scheiterte kläglich. »Für den Botschafter von Castor V«, sagte Verlor. »Ich wußte nicht, daß es im Castor-System intelligentes Leben gibt«, sagte Mallow. »Nach Auskunft unserer Psychologen haben sie vor etwa dreitausend Jahren die Grenze zwischen der vernunftlosen und der denkenden Kreatur überschritten. Nach Auskunft der Castoriten waren sie bereits eine intelligente Spezies, als es den Menschen hier noch nicht gab.« »Er kommt aber doch sicher nicht her, um über dieses Problem zu diskutieren«, sagte Mallow angewidert. »Ich werde ihm mit dem größten Vergnügen attestieren, daß seine Spezies seit dem Urknall intelligent war, wenn ihn das glücklich macht. Vor allem, wenn er diesen Stuhl ausfüllen kann.« »Er will aus anderen Gründen mit Ihnen reden«, sagte Verlor. »Wenn ich recht verstanden habe, will er über das Büro sprechen.« »Kommt gar nicht in Frage!« kläffte Mallow. »Ich habe sieben Jahre darauf verwendet, die Pläne vom Schwebenden Königreich genehmigen zu lassen, und ich werde jetzt nicht in letzter Minute irgendwelche Veränderungen vornehmen, bloß weil ein elefantiner Großkotz von Castor hier…«
»Immer mit der Ruhe«, unterbrach Verlor. »Wir wissen ja noch gar nicht, was er will.« »Ist auch egal«, beharrte Mallow. »Es wird nichts geändert.« »Hören Sie«, sagte Verlor, »wir haben alle unsere Befehle. Sie sollen das Büro entwerfen und bauen. Ich soll dafür sorgen, daß unser Gast mit aller gebotenen Höflichkeit behandelt wird. Er ist kein kleiner Bürohengst. Er ist der castorianische Botschafter im Commonwealth.« »Soll das heißen, daß Castor nicht einmal Mitglied des Commonwealth ist?« wollte Mallow wissen. »Sein Status ist momentan in der Schwebe. Man hat – höflich – darum gebeten, daß sie beitreten mögen. Falls sie beschließen, es nicht zu tun…« »… wird man sie unhöflich noch einmal bitten«, schloß Mallow. »Höchstwahrscheinlich, ja«, stimmte Verlor zu. »Unfreundlichkeiten gegen den Botschafter sind jedoch unter allen Umständen vom Schwebenden Königreich einzuleiten, nicht von Ihnen. Verstanden?« »Verstanden«, sagte Mallow verdrossen. »Und wann erwarten wir Ihren Besucher?« »Wenn ich die Kühnheit besitzen darf, Ihre Diskussion zu unterbrechen«, sagte die kalte, unverbindliche Stimme eines Translators, »dann kann ich Ihnen mitteilen, daß ich zu unserer Besprechung bereit bin.« Die beiden Männer blickten zur Tür, und dort stand ein massiges, dickgliedriges Wesen. Sein stumpfer, breiter Schädel war von einer Plastikmaske mit eingebautem Translator bedeckt, und die schwergepanzerte Haut war offen der Luft ausgesetzt. Das Wesen hatte die dreibeinige, dreifüßige Körperstruktur und -haltung, wie sie bei den meisten Bewohnern von Welten mit hoher Gravitation verbreitet waren. An der Maske baumelten kleine Medaillen – offensichtlich Orden und offizielle Statussymbole.
»Wie lange stehen Sie schon da?« fragte Mallow. »Mein Name ist Krotar«, sagte der Castorianer, die Frage ignorierend. »Können wir anfangen?« »Ich lasse die beiden Herren für ein paar Minuten allein«, sagte Verlor. »Summen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.« »Ich verwahre mich gegen die Bezeichnung ›Herr‹«, sagte Krotar. »Aber da der Translator das terranische Wort womöglich nicht genau oder allzu wörtlich wiedergibt, verzichte ich auf einen förmlichen Protest.« Was glaubt der eigentlich, wer er ist, verdammt? schien Mallows Blick zu fragen, bevor er sich wieder Krotar zuwandte. »Nun, Mr. Krotar«, sagte er, »was kann ich für Sie tun?« »Als erstes können Sie mich mit ›Botschafter Krotar‹ anreden«, sagte der Castorianer. »Wie Sie wünschen, Botschafter«, sagte Mallow und fragte sich, wie wohl die weniger diplomatischen Castorianer auftreten mochten. »Und dann«, fuhr Krotar mit zustimmendem Nicken fort, »können Sie mir die Pläne für das Büro für AlienAngelegenheiten zeigen.« »Gibt es einen besonderen Grund für Ihr Interesse?« erkundigte Mallow sich, während er das Zimmer verdunkelte und ein TriDi-Abbild des Büros in den Bereich zwischen ihm und den Botschafter projizierte. »Ich würde Sie nicht fragen, wenn ich keinen Grund hätte«, erwiderte Krotar. »Sie werden mir die Pläne erläutern.« »Wie Sie wünschen.« Mallow zuckte die Achseln und hielt den stereotypen Vortrag, den er in den vergangenen zwei Jahren wohl tausendmal gehalten hatte. »Das neue Büro für Alien-Angelegenheiten wird auf Deluros IV erbaut werden. Sein Grundriß ist rechteckig, und dies wird sich nicht ändern,
obgleich das Gebäude sich zur Spitze hin um nahezu fünfzig Prozent verjüngt. Die Spitze des Gebäudes wird sich etwa zwei Kilometer hoch über dem Boden befinden. Die Grundfläche des Büros mißt vier Kilometer in der Länge und drei in der Breite. Die Außenfassade wird, wie Sie schon sehen können, zahlreiche Kunstwerke von fast allen bekannten Kulturen der Galaxis enthalten.« »Einschließlich Castor?« fragte Krotar. »Wenn Castor zum Commonwealth gehört, wird zweifellos auch seine Kunst in die Fassade integriert werden«, sagte Mallow und hoffte inständig, daß das Schwebende Königreich bessere Manieren zu einer Grundvoraussetzung für den Beitritt erheben werde. Er betätigte eine Anzahl von Schaltern auf seinem Tisch. Das TriDi-Bild veränderte sich; es zeigte jetzt einen miniaturisierten Querschnitt durch die Lobby des Gebäudes. »Nun, das Büro wird zwar mit unterschiedlichen Umweltbedingungen ausgestattet werden, aber die Lobby, durch welche alle Lebewesen ein- und ausgehen werden, muß davon ausgenommen sein. Deluros IV ist fast ohne Atmosphäre, und die Gravitation ist etwa halb so stark wie auf Deluros VIII. Es wäre also ein Leichtes, hier eine Atmosphäre und eine künstliche Schwerkraft einzuplanen, die dem Geschmack des Menschen entsprächen«, fuhr er fort, und langsam geriet er in Schwung. »Aber Bevorzugungen wird es im Büro nicht geben. Überall in der Lobby wird es zahlreiche Zeichen und Aufzeichnungsstände in allen bekannten Sprachen der Galaxis geben, die die verschiedenen Mitgliedsrassen in die entsprechenden Bereiche dirigieren. Buchstäblich Hunderte von beweglichen Laufbändern werden die Halle durchqueren und umfahren, und jedes von ihnen führt zu einem bestimmten Aufzug. Die Aufzüge sind so angelegt, daß sie gleichzeitig mindestens zehn Mitglieder jeder beliebigen Rasse aufnehmen
können, was für ein paar der kleinwüchsigeren Rassen bedeutet, daß fast einhundert Individuen in einem Aufzug untergebracht werden können. Die Aufzüge reagieren auf die eigene Sprache einer jeden Rasse, außerdem auf einen Translator, der Terranisch oder eine der fünf anerkannten Formen von Galaktik spricht. Sobald man einem Aufzug mitgeteilt hat, daß niemand ihn mehr betrete, wird er seine Türen hermetisch versiegeln, und innerhalb von dreißig bis sechzig Sekunden wird die Atmosphäre der jeweiligen Heimatwelt der Benutzer und deren Gravitation im Inneren des Aufzugs hergestellt sein. Ohne andere Anweisungen wird der Aufzug sich sodann zu dem Stockwerk oder dem Sektor, der der Benutzung durch die entsprechende Spezies vorbehalten ist, in Bewegung setzen. Übrigens können sich die meisten dieser Aufzüge ebensogut waagerecht wie senkrecht vorwärts bewegen, denn nur sehr wenige Spezies werden ein eigenes Stockwerk für sich allein benötigen. Jeder Aufzug und jedes Büro wird mit einer hinreichenden Anzahl von Schutzanzügen ausgestattet sein, welche auf die Bedürfnisse der betreffenden Rasse in diesem Aufzug – oder Büro – zugeschnitten sind. Zu diesen Anzügen gehören Atmosphärenhelme und Gesichtsmasken.« Er betätigte zwei weitere Schalter, und an die Stelle des Aufzuges trat ein Querschnitt durch eine der oberen Ebenen des Gebäudes. »Hier haben wir jetzt einen typischen Etagenplan. Es ist, wenn ich mich recht erinnere, der 288. Stock. Jede Sektion bietet mehr als genügend Platz für dreihundert Mitglieder einer Rasse, aber sie kann ohne Schwierigkeiten in kleinere Abteile zerlegt werden, indem man einen der Tischcomputer entsprechend programmiert. Wie Sie bemerken werden, befindet sich auf halber Strecke des Südganges eine undurchdringliche Barriere; sie trennt die unterschiedlichen
Umweltbedingungen, wenn zwei Rassen sich ein Stockwerk teilen. Die einzige Möglichkeit für ein Individuum, aus der einen Sektion in die andere zu gelangen, liegt in der Benutzung eines Horizontallifts. Ich sollte vielleicht noch darauf hinweisen, daß die Aufzüge sich unverzüglich zu ihrem Zielort bewegen, sich aber nicht öffnen werden, ehe die Atmosphäre abgesogen worden ist und die Insassen ihre Schutzanzüge angelegt haben. Dies ist, um einen alten Ausdruck zu verwenden, ein narrensicheres System. Jedes Büro kann mit jedem anderen Büro unmittelbar in Verbindung treten. Die Kommunikation zwischen den einzelnen Büros wird unterwegs sofort übersetzt, es sei denn, daß Anrufer oder Angerufener anders entscheiden. Jede Rasse wird ihre eigene Cafeteria und ihre eigenen Schlafquartiere haben, außerdem Bibliotheken und, soweit möglich, kommerzielle Videoübertragungen von ihrem Heimatplaneten. Zudem wird jede Rasse selbstverständlich über Erholungs- und über medizinische Einrichtungen verfügen.« »Wird es Sicherheitskräfte geben?« fragte Krotar. »Unbedingt.« »Woraus werden sie bestehen?« »Aus Menschen«, sagte Mallow. »Ich verstehe«, erwiderte Krotar. »Wieso, wenn ich fragen darf, soll das Büro für Alien-Angelegenheiten auf Deluros IV errichtet werden, wenn doch Deluros VIII oder das Schwebende Königreich sich als Bauplatz viel eher anböten, falls die Rasse des Menschen wahrhaftig daran interessiert ist, die übrigen Rassen der Galaxis von ihrem guten Willen zu überzeugen?« »Ich bin kein Politiker, Botschafter Krotar«, antwortete Mallow. »Ich bin nur der Architekt. Man hat mich beauftragt, auf Deluros IV zu bauen, und dort werde ich bauen. Wenn ich meine private Meinung äußern darf, so würde ich schätzen,
daß die Kosten für einen solchen Bau auf Deluros VIII, wo eine weit stärkere Gravitation herrscht, so hoch sein dürften, daß das Projekt nicht durchführbar wäre.« »Wollen Sie mir weismachen, daß eine Rasse, die das Schwebende Königreich und die Planetoiden von Deluros VI hat bauen können, die ein zig Milliarden zählendes, stehendes Heer und eine gigantische Flotte unterhalten kann – daß eine solche Rasse nicht auch die architektonischen und ökonomischen Mittel finden kann, um auf Deluros VIII eine einzige Behausung für nichtmenschliche Rassen zu errichten?« »Ich will Ihnen überhaupt nichts weismachen, Botschafter«, erwiderte Mallow gereizt. »Wenn Sie eine Szene machen wollen, suchen Sie sich besser Verlor. Interkulturelle Zwischenfälle sind sein Ressort. Ich baue nur Häuser.« Krotar erhob sich. Er überragte Mallow und das TriDi des 288. Stockwerks wie ein Turm. Einen Moment lang fürchtete Mallow für seine Sicherheit, aber der Castorianer starrte ihn nur an. Wenn sein Gesicht einen Ausdruck von Wut oder Empörung zeigte, so vermochte Mallow ihn nicht zu erkennen. »Ich denke«, sagte Krotar, und seine Wort kamen so flach und emotionslos aus dem Translator, daß man in Weißglut geraten konnte, »ich denke, Sie können sich die Mühe sparen, castorianische Kunstwerke an der Außenfront dieses Büros anzubringen.« »Eigentlich hatte ich das auch nicht vor«, antwortete Mallow. »Vielleicht sagen Sie mir mal, weshalb Sie überhaupt gekommen sind.« »Das ist meine Sache«, erwiderte Krotar. »Ihre ist es, wie Sie bereits sagten, Häuser zu bauen.« Als er gegangen war, trat Verlor wieder ein. »Na?« fragte er. »Was, na?« gab Mallow zurück. »Was hat er gewollt?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Mallow. »Er kam herein, konnte vor Hochnäsigkeit kaum laufen, sah
sich die Pläne für das Büro an, erfuhr, daß die Sicherheitskräfte Menschen seien, und erklärte, er wolle nichts damit zu tun haben.« »Das dachte ich mir«, sagte Verlor. »Er ist der neunte, der sich abmeldet, und dabei war er nicht mal Mitglied.« »Verstehe ich nicht«, sagte Mallow. »Ich auch nicht«, meinte Verlor. »Aber aus irgendwelchen Gründen scheint bei den Aliens etwas im Gange zu sein. Es ist keine offene Rebellion oder so etwas. Eher sieht es so aus, als hätten sie beschlossen, mit einer trivialen Geste ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, und dazu haben sie sich das Büro ausgesucht.« »Das klingt ziemlich weit hergeholt.« »Mag sein«, sagte Verlor. »Aber bis jetzt hat noch keiner von ihnen einen vernünftigen Grund für seinen Rückzug angegeben. Die Canphoriten haben abgelehnt, weil sie vier Stockwerke haben wollten und wir Ihnen nur eins und den Teil eines zweiten anbieten konnten. Die Lemm hatten etwas dagegen, Angehörige ihrer eigenen Rasse zu importieren, damit diese ihnen das Essen zubereiten. Den Emranern paßte es nicht, daß das Büro irgendwo im Bereich des DelurosSystems angesiedelt sein sollte. Und so ging’s weiter.« »Warum haben Sie mir das nicht schon früher erzählt?« fragte Mallow. »Weil der Direktor uns befohlen hat, das Büro plangemäß weiterzubauen.« »Na ja«, sagte Mallow mißmutig. »Ich denke, ich könnte das Stockwerk der Canphoriten immer noch mit neuen Umweltbedingungen ausrüsten, und dann könnten wir…« »Nein«, unterbracht Verlor. »Der Bau wird so errichtet, wie er einmal abgesegnet wurde. Wenn bestimmte Rassen ihn nicht freiwillig beziehen wollen, nun, dann haben wir gewisse Druckmittel, die wir anwenden können.«
»Sind Sie sicher, daß ich nicht ein paar Stockwerke in ein Lazarett umbauen sollte?« fragte Mallow sardonisch. »Machen Sie damit keine Witze«, erwiderte Verlor. »Vielleicht werden Sie es noch tun müssen.« »Können wir irgend etwas tun, um das Büro für sie attraktiver zu gestalten?« fragte Mallow. » Es klingt zwar nicht so, als richteten sich ihre Einwände gegen das Büro an sich, aber es würde mir nicht gefallen, wenn die Pläne umsonst gewesen wären.« »Nichts wird umsonst gewesen sein«, entgegnete Verlor. »Vergessen Sie nicht: Deluros IV hat beinahe keine Atmosphäre, und deshalb kann das verdammte Ding dort zehn Millionen Jahre lang stehen und immer noch aussehen wie am ersten Tag. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb wir eine luftlose Welt ausgesucht haben. Bei Caliban hat man daran nie gedacht, und deswegen ist der Kartographie-Komplex ständig im Bau, und das Reparieren und Renovieren nimmt kein Ende. Mit dem Büro wird das nicht geschehen.« »Nein«, sagte Mallow grimmig. »Man wird es bauen und vergessen. Was zum Teufel ist eigentlich los mit diesen Kreaturen? Wissen sie nicht, daß das Büro die größte architektonische Einzelleistung seit Caliban sein wird? Vielleicht sogar eine noch größere, denn Caliban war niemals umweltvariabel.« »Die Schwierigkeit liegt darin, daß Sie es vom Standpunkt des Architekten aus betrachten, und sie sehen es mit den Augen politisch denkender Aliens. Wissen Sie, das Commonwealth ist mittlerweile so gigantisch, daß es beinahe unmöglich ist, es noch effizient zu verwalten, und deshalb sticht die Aliens jetzt der Hafer, und sie bohren, bis sie eine weiche Stelle finden. Sie wissen, wieviel Beachtung das Büro in den Medien gefunden hat und wie hart wir kämpfen mußten, bis wir die Finanzierung durchgedrückt hatten. Gibt es für sie
eine bessere Möglichkeit, uns in Verlegenheit zu bringen, als die, daß sie jetzt einfach nicht mitmachen?« Es zeigte sich, daß Verlors Worte in besorgniserweckender Weise prophetisch gewesen waren. Innerhalb der nächsten Tage gaben dreißig weitere Rassen kund, daß sie beschlossen hätten, das Büro nicht zu beziehen, und als ein Jahr vergangen war, hatte jede nichtmenschliche Rasse einen Vorwand gefunden, dem Projekt seine Unterstützung zu verweigern. Mallow hatte zuviel von sich selbst in das Büro gesteckt, als daß er sich jetzt kampflos ergeben hätte. Er unternahm eine Reise nach Lodin XI, und man gewährte ihm eine Audienz bei den eingeborenen Führern. »Die Gründe für Ihre Aktion«, begann er, »sind mir sehr wohl bewußt. Ich bin kein Politiker, und deshalb kann ich nicht sagen, ob Ihre Ziele gerechtfertigt sind oder nicht. Ich bin Architekt, und was ich Ihnen anzubieten habe, ist ein Gebäude, wie es nie zuvor jemand gebaut oder auch nur geplant hat. Sie behaupten, Sie wollten in Harmonie und Gleichheit mit dem Menschen zusammenleben. Ich nehme Sie beim Wort. Dieses Gebäude, in seiner gesamten Konzeption, gestattet Ihnen genau das. Sie – und auch alle anderen Rassen, einschließlich des Menschen – werden so zusammenleben, und zwar in einer gläsernen Schüssel. Wir alle werden harmonisch funktionieren, denn wir werden es müssen, weil die einzige Alternative wäre, vor den Augen der gesamten Galaxis zuzugeben, daß wir es nicht können. Vielleicht können wir es nicht, aber wir werden niemals eine bessere Gelegenheit finden, es zu versuchen, als jetzt, mit diesem Gebäude.« Die Lodiniten hörten ihm höflich zu und lehnten sein Angebot ebenso höflich ab. Als nächstes standen die Canphor-Zwillinge auf seiner Liste. »Wenigstens«, flehte er, »benutzen Sie dieses vornehme Projekt nicht als Symbol Ihres Trotzes gegen die menschliche
Rasse. Wenn Sie politisch agieren müssen, dann tun Sie es. Bezahlen Sie keine Steuern mehr, akzeptieren Sie keine menschlichen Gouverneure, gestatten Sie keine Militärbasen des Commonwealth mehr auf Ihren Monden. Aber lassen Sie dieses Büro zustande kommen. Es ist die letzte, die größte Chance für alle Rassen der Galaxis.« Die Canphoriten johlten, bis er den Raum verließ. Als seine Reise ihn auf den Insektoiden-Planeten Procyon II führte, hatte er seine Taktik schon geändert. »Sie hatten zweifellos ein bitteres Leben«, erklärte er. »Ich bin ebenso entrüstet und empört über das, was unsere Flotte Ihnen unter Vestolian angetan hat, wie Sie selbst es sind. Aber Sie können sich nicht einfach vom Markt der Ideen und Kulturen zurückziehen. Kommen Sie in das Büro. Beweisen Sie, daß Sie besser sind als wir. Sie werden jede Gelegenheit dazu bekommen. Jede Einrichtung wird Ihnen offenstehen, jede Bequemlichkeit wird für Sie geschaffen werden. Und wenn Sie den Sturz des Commonwealth planen wollen – gäbe es dafür einen besseren Ort als das Büro, wo Sie ständig und augenblicklich Kontakt zu anderen Rassen haben, die sich in gleicher Weise mißhandelt fühlen?« Die Procyoner, Insektoiden, konnten nicht begreifen, weshalb man das Büro überhaupt erst erbaut hatte. Sie hegten keinen Groll gegen die Menschen; ihre dezimierte Bevölkerung hatte schon nach wenigen Jahren wieder den ursprünglichen Stand erreicht. Sie konnten mit dem Problem nichts anfangen. Weshalb sollten sie die weite Reise zum Büro machen, um dort zu essen und zu schlafen, wenn sie das doch auch zu Hause tun konnten? Sein nächstes Ziel war Domar, aber dort bekam er nicht einmal Gelegenheit, das Schiff zu verlassen. Die Domarier, eine der wenigen PSI-Rassen in der Galaxis, wußten, was er sagen wollte, und sie kauften es ihm nicht ab. Wieso sollte eine
Rasse von Telepathen auch das Bedürfnis nach engem, physischem Kontakt zu anderen Rassen haben? Auf Terrazane hatte er das Gefühl, über ein Mittel zu verfügen, mit dem er eigentlich eine positive Reaktion hervorlocken könnte. »Das Volk von Terrazane«, rief er, »ist in der ganzen Galaxis berühmt für die prachtvollen Bauten, die es in seinen Städten errichtet. Sie werden besser als jede andere Rasse begreifen, daß ein Projekt wie das Büro entwickelt worden ist, damit man es benutzt. Es einfach dastehen zu lassen, es zu einem leeren, sterilen Monument der Nutzlosigkeit zu machen, wäre beinahe verbrecherisches Tun. Ich bin sicher, daß die Terrazaner das Büro nicht boykottieren werden.« Aber er hatte sich wieder einmal geirrt. Die Kunst der Terrazaner war nicht funktional. Riesige, detailliert ausgeschmückte Bauwerke überzogen den Planeten, aber ihr einziger Zweck war die Erbauung des Publikums. Auf Aldebaran XIII hielten die Eingeborenen den neuen Bau für einen Versuch des Menschen, sein Gewissen zu beruhigen, und sie reagierten so gewalttätig, daß eine bewaffnete Eskorte ihn zum Schiff zurückbegleiten mußte. Auf Gamma Leporis IV traf er auf eine im Wasser lebende Rasse, die noch nie vom Menschen ausgebeutet worden war, die noch nie einen Krieg mit ihm geführt hatten und für die es keinen Grund gab, ihm Feindseligkeit entgegenzubringen. In einen Unterwasserschutzanzug mit modifiziertem Translator gekleidet, sprach Mallow zu ihrer Delegation. »Ich kann nicht verstehen, weshalb Sie Ihre Unterstützung für das Büro zurückgezogen haben«, erklärte er. »Zwischen unseren Rassen hat stets eine freundschaftliche Beziehung bestanden, und da es so wenige andere Rassen von Wasserbewohnern gibt, sind die Möglichkeiten, etwas über die vielen tausend anderen Rassen zu erfahren, selbst für diejenigen unter Ihnen, die
bereits andere Welten bereist haben, äußerst begrenzt. Aber hier im Büro wären die Möglichkeiten, Ihren Schatz an Wissen und auch an Bündnissen zu vergrößern, geradezu grenzenlos. Sie hätten genug Platz zum Leben, und allen Ihren Bedürfnissen – medizinischen wie auch religiösen, sozialen und sogar sexuellen – würde man umsichtig Rechnung tragen. Sie, die Sie mit dem Büro am meisten gewinnen und die Sie den geringsten Anlaß haben, meine Rasse in Verlegenheit zu bringen, werden Ihre Position gewiß noch einmal überdenken.« Sie stimmten mit allem, was er sagte, überein. Das Büro würde es ihnen unendlich viel leichter machen, Kontakt mit anderen Rassen aufzunehmen, und selbstverständlich hätten sie nichts gegen den Menschen, der sie ja vor langer Zeit einmal von der tyrannischen Herrschaft der Lemm befreit habe. Die wenigen anderen Rassen jedoch, mit denen sie Kontakt hätten, seien der Auffassung, daß die eiserne Herrschaft des Menschen in der Galaxis eine Geste der Demonstration erforderlich mache, und während sie persönlich nichts als äußerste Wertschätzung für den Menschen aufbrächten, könnten sie sich doch nicht dem Willen der Mehrheit entgegenstellen, vor allem nicht in einer Situation wie dieser, in der es ihnen physiologisch unmöglich sei, sich ein umfassendes Bild von dem in Frage stehenden Problem zu machen. Das alles sei nicht böse gemeint, aber unter diesen Umständen… Und so ging es weiter, Planet für Planet, Rasse auf Rasse. Als er den zwanzigsten Alienplaneten besuchte, stellte er fest, daß er längst nicht der einzige Commonwealthgesandte war, der die Aliens zu bewegen versuchte, ihre Haltung noch einmal zu überdenken. Auf dem siebenundzwanzigsten Planeten schließlich, auf Balok VII, hatte er Erfolg, doch die Früchte seiner Mühen wurden kurz darauf vernichtet, als nämlich das Commonwealth begann, Wirtschaftssanktionen gegen
diejenigen Alienwelten zu verhängen, die nicht bereit waren, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Die Balokiten, die schon entschlossen gewesen waren, das Büro mit einer Delegation zu beziehen, machten auf dem Absatz kehrt und zogen ihre Unterstützung zurück. Die Setts ließen es tatsächlich zu einem Krieg mit der Flotte kommen und konnten ihre Position fast einen Monat lang halten, bevor sie restlos vernichtet wurden. Während den Mühen des Menschen Fehlschlag über Fehlschlag beschieden war, nahm die Arbeit am Büro unverdrossen ihren Fortgang. Fundamente wurden gelegt, Wände und Fassaden hochgezogen, Umweltsysteme installiert, Kommunikations- und Übersetzungssysteme eingebaut, Nahrungsmittelsyntheselabors und Krankenabteilungen geschaffen und Innendekoration und Mobilar importiert. Nach zehn Jahren war das Büro fertig, ein riesiger, stolzer und unglaublich komplexer monolithischer Bau, der sich mehrere tausend Meter hoch über den felsigen Boden von Deluros IV erhob, von allen Richtungen aus meilenweit sichtbar. Alle seine internen Systeme funktionierten reibungslos, und seine Außenwände waren ein Lobgesang auf die Kunst von tausend intelligenten Rassen. So stand es da. Und so, das wußte Mallow, würde es in alle Ewigkeit stehen, ein leeres, unbenutztes Monument der Brillanz wie auch der Schwächen des Menschen, ein Bauwerk, das so ausgereift und in Konzeption und Ausführung so weitsichtig angelegt war, daß weder der Mensch noch seine Nachbarn in der Galaxis je dafür bereit sein würden. Am Abend der Fertigstellung betrank sich Mallow und blieb eine ganze Woche lang sternhagelvoll. Als er danach wieder nüchtern wurde, kündigte er seine Stellung, verließ das Deluros-System, schlug seine Zelte rund vierzigtausend Lichtjahre weit entfernt auf und verdiente ein Vermögen mit dem Entwurf von preiswerten, aber höchst
nützlichen Gruppenunterkünften für die Kolonisten auf Delta Scuti II.
21: Die Sammler … Als für das Commonwealth eine Periode schwerer Unruhe anbrach, war es vor allem die Aufgabe der Planetengouverneure, ihre einheimischen Bevölkerungen im Zaum zu halten. Sie waren eine bemerkenswerte Schar, diese Gouverneure, ausgestattet mit der Vollmacht, auf ihrer jeweiligen Welt im Namen des Commonwealth zu sprechen. Einer der größten unter ihnen war Selimund (6888 – 6970 G. Z.), ein Mann von beachtlichen politischen Fähigkeiten, der das Museum für antike Waffen auf Deluros VIII gründete… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg (In Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen findet sich weder eine Erwähnung Selimunds und seiner legendären Sammlung noch überhaupt eine Erwähnung der Sammler und ihrer Sammlungen.)
Das Gouverneursdasein hatte seine Vorteile, dachte Selimund, selbst wenn man auf einem Pulverfaß wie Mirzam X saß. Zum einen waren ja so gut wie alle Alienwelten heutzutage Pulverfässer, und da Mirzam X ein wenig größer als die meisten der anderen war, haftete dieser Position auch ein wenig mehr Prestige an. Zum anderen verachteten die Eingeborenen die Menschheit so hingebungsvoll und unverhohlen, daß er zwangsläufig nur geringen Kontakt mit ihnen hatte. Außerdem war da noch eine Sammlung. Der Mensch hatte schon immer den Drang gehabt, Dinge zu sammeln und sich mit geordneten Serien von Besitztümern zu umgeben. Möglicherweise handelte es sich um eine
intellektualisierte Ausprägung seines territorialen Urinstinktes, aber vielleicht auch nicht. Selimund selbst nannte es den »Beutelrattentrieb«, obgleich kein Exemplar dieser längst ausgerotteten Spezies diesen Fetisch so weit getrieben hatte wie der Mensch. Da war etwas in seiner Natur, das nicht nur im Besitzerstolz schwelgen konnte, sondern auch in der sorgsamen Abfassung von Listen der Objekte, die zu beschaffen waren, und derjenigen, die bereits beschafft waren, sowie im numerischen, alphabetischen oder auf andere Weise säuberlich strukturierten Ordnen solcher Listen und Besitztümer. Es war eigentlich nicht Habgier, was dahinter steckte, denn die meisten Sammler verwandten enorme Mengen von Zeit und Kapital auf die Akkumulation von Objekten – oder, was öfter der Fall war, von Serien und Sätzen von Objekten –, die von den meisten anderen Menschen als trivial oder gar wertlos angesehen wurden. Das Sammeln war im Laufe der Jahrtausende zu einer hochspezialisierten Tätigkeit geworden, nicht anders als jede andere Unternehmung. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da es einem Menschen möglich gewesen war, sich innerhalb eines Lebens die Gesamtsumme aller wissenschaftlichen Kenntnisse anzueignen. Als die Rasse ihren Geburtsort verlassen und begonnen hatte, die Galaxis zu durchdringen, konnte niemand mehr auch nur sein eigenes, hochspezialisiertes Fachgebiet einigermaßen vollständig überblicken, und die Vorstellung vom wahren Renaissancemenschen war für immer verloren. In gleichem Maße wurden auch Kollektionen immer spezialisierter. Es war noch möglich, das Gesamtwerk eines bestimmten Malers oder Schriftstellers oder repräsentative Briefmarken aus jeder Periode der Geschichte eines einzelnen Planeten zusammenzutragen – aber etwa sämtliche literarischer Werke eines bestimmten Genres oder alle Briefmarken aus
einer bestimmten Zeit der galaktischen Geschichte zu komplettieren, war schlechterdings unmöglich. Unverzagt aber fuhr der Mensch fort, sich den Besitzerfreuden hinzugeben, dem lustvollen Streben nach der Vervollständigung irgendeiner launenhaften Sammlung von Dingen, die seine Phantasie angeregt oder seine Gier aufgestachelt hatten. Von Briefmarken und Münzen über Meisterwerke der Kunst bis hin zu den unglaublichsten Objekten, so wertlos sie an sich auch sein mochten, sammelte der Mensch einfach alles. Nur wenige Menschen aber sammelten so fachkundig, leidenschaftlich und erfolgreich wie der Gouverneur von Mirzam X. Selimund, dessen engste Beziehung zum militärischen Leben von den bewaffneten Leibwächtern in seiner Dienstresidenz verkörpert wurde, hatte aus Gründen, die er vermutlich selber nicht kannte, schon in jungen Jahren beschlossen, daß es nichts Faszinierenderes gab als das Studium – und folglich auch das Sammeln – von Feuerwaffen der Aliens. Fabrikation und Besitz aller derartigen Waffen war seit Begründung des Commonwealth streng verboten, aber das ließ ihren Erwerb nur zu einer um so größeren Herausforderung werden. Er hatte mit Handfeuerwaffen von den Canphor-Zwillingen und Lodin XI aus der Zeit der Demokratie begonnen, und allmählich hatte er seinen Besitz vergrößert und sich dabei, von dieser historischen Periode ausgehend, vorwärts und rückwärts durch die Zeit bewegt. Inzwischen galt er als größte lebende Autorität auf dem Gebiet der Waffentechnik der späten demokratischen Periode, und mehr als einmal hatte man ihn schon hinzugezogen, wenn die Echtheit eines Stückes aus dieser Ära zu bestimmen war. Seine Kollektion war auf Deluros VIII ständig ausgestellt, und er hatte sie dem Commonwealth testamentarisch vermacht. Ihren Wert schätzte man auf zweiundzwanzig Millionen Credits, aber wie alle
Sammler definierte er den Wert seiner Sammlung in emotionalen und nicht in pekuniären Begriffen, denn verkaufen würde er niemals auch nur ein Stück davon. Von einigen Stücken würde er sich allerdings im Tausch durchaus trennen, und zu diesem Zweck hatte er eines Nachmittags schon früh seinen Schreibtisch aufgeräumt und erwartete nun Baros Durmin, einen Mann, der mit antiken Waffen handelte und der angeblich auf ein unglaublich kostbares Lager antiker Feuerwaffen gestoßen war. Durmin hatte immer größere Schwierigkeiten, seine Lagerbestände aufzufüllen, und so hatte er statt einer Bargeldtransaktion einen Tauschhandel vorgeschlagen. Selimund wußte nicht genau, was Durmin zu bieten hatte, aber zumeist lieferte der Mann erstklassige Ware, und deshalb war der Gouverneur bereit, sich die Stücke wenigstens anzuschauen. Durmin, ein großer Mann mit Händen wie Specksaiten und einer tiefen, dröhnenden Stimme, wurde in Selimunds Büro geführt, gefolgt von zwei Assistenten, die einen großen, verzierten Container von der Größe eines Koffers hereintrugen. »Hallo, Baros«, begrüßte Selimund ihn. »Nun, was haben Sie da für einen phantastischen Fund, von dem Sie so schwärmen?« »Das glauben Sie erst, wenn Sie es selbst gesehen haben, Gouverneur«, sagte Durmin. »Okay, Jungs, macht auf.« Die beiden Männer entriegelten den Container und öffneten ihn. Selimund warf einen Blick hinein, bemüht, nicht allzu aufgeregt zu erscheinen, und Durmin nahm ein kleines, in toranische Spinnenseide gehülltes Objekt heraus. Wortlos entfernte er die Umhüllung und reichte den Gegenstand dann über den Tisch zu Selimund, der ihn behutsam in den Händen drehte.
»Eine Laserpistole«, murmelte er und hielt sie ans Licht. »Frühe Demokratie nein, sagen wir, späte Republik. Handarbeit. Gut für vier Minuten ohne Nachladen. Abzugssystem paßt auf annähernd menschliche Hand, wahrscheinlich aber ein bißchen kleiner. Emra IV, würde ich sagen. Möglicherweise Lemm.« Gedankenverloren hielt er inne. »Nein, Lemm könnte es nicht sein. Da gab es nie Laserwaffen. Wahrscheinlich emranisch. Gute Verarbeitung. Sieht beinahe neu aus.« Er sah Durmin an. »Was haben Sie sonst noch?« Durmin reichte ihm eine zweite Waffe. »Herrlich!« rief Selimund. »Absolut hinreißend!« Er nahm sie in die Hand und betastete sie, als sei sie aus feinstem Kristall, das jeden Augenblick zerspringen könnte. »Eine Explosivprojektilpistole! In meiner ganzen Sammlung gibt es nur eine einzige. Sie kamen in den Anfangstagen der Demokratie aus der Mode. Habe nie begriffen, warum. Es waren tödliche kleine Waffen. Woher haben Sie dieses ganze Zeug, Baros?« »Sorry.« Durmin grinste. »Berufsgeheimnis.« Selimund nickte. Eigentlich hatte er auf diese Frage auch keine Antwort erwartet. In den nächsten Stunden betrachtete er die restlichen siebzehn Waffen, untersuchte sie und schätzte im Geiste ihre Verarbeitung und ihren Marktwert ab. Die Stücke waren in einem hervorragenden Zustand, als seien sie noch an demselben Morgen aus der Fabrik gekommen. Die beweglichen Teile waren gut geölt, die metallenen Teile schimmerten, und Kolben und Griffe waren glatt wie Glas. Alle waren von Emranern oder einer sehr ähnlichen Rasse benutzt worden, denn alle waren für denselben Handtyp entworfen, eine Hand mit drei oder vier Fingern und kurzem Daumen, ein wenig kleiner als eine menschliche Hand.
»Was verlangen Sie für alles?« fragte Selimund schließlich. »Nun, Gouverneur, wenn ich einen Preis nennen sollte, läge er bei einer halben Million Credits«, sagte Durmin. »Aber ich sagte bereits, daß ich sie nicht gegen bar verkaufe. Ich will sie eintauschen. Die Atomkanone von Doradus IV, die in der Ausstellung auf Deluros steht, käme in Betracht, dazu zwei Handwaffen aus der frühen Republikperiode von Torqual und Procyon III.« »Nicht die Kanone«, antwortete Selimund nachdrücklich. »Dafür müßten Sie zweimal so viele Waffen bieten.« »Das ließe sich arrangieren«, erwiderte Durmin. »In dem Lager habe ich mehr als nur das hier gefunden.« »Dann bringen Sie mir den Rest morgen früh, und wir reden über die Sache«, schlug Selimund vor. »Einverstanden«, sagte Durmin. »Ich habe noch vierzehn Stücke.« »Dann kommen wir bestimmt zu einem Abschluß«, meinte Selimund. »Wenn Sie wollen, können Sie diese Stücke über Nacht hierlassen. Ich werde sie schwer bewachen lassen und garantiere Ihnen persönlich, daß sie unversehrt bleiben.« Durmin schien darüber einen Moment lang nachzudenken. Dann nickte er und verschwand mit seinen Assistenten. Selimund aß spät zu Abend und versuchte dann, sich mit einem Nachrichtentape zu entspannen. Es klappte nicht. Seine Gedanken schweiften ständig zurück zu den Waffen in seinem Büro, und schließlich gab er dem Drang nach, sie noch einmal in Augenschein zu nehmen. Er entließ die Wachtposten, verschloß die Tür hinter ihnen und breitete die Waffen auf seinem Schreibtisch aus. Drei der Stücke, so entschied er, waren mit Sicherheit emranisch, wahrscheinlich sogar sieben. Die anderen stammten von einer ähnlichen Spezies, aber er konnte sich nicht erklären, wieso man sie an demselben Ort hatte finden können. Na ja,
das Finden war Durmins Sache. Er brauchte die Dinger nur zu kaufen. Und er würde sie bekommen. Durmin hatte sie ein wenig niedrig veranschlagt; er selbst schätzte die ganze Ladung auf eine Dreiviertelmillion Credits, und das, was morgen hinzukäme, würde den Wert gewiß auf das Doppelte erhöhen. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Waffen mit liebevollem Blick; er stellte sich vor, wie sie in seinem Museum auf Deluros VIII aussehen würden. Welch ein Fund! Eigentlich hatte er nicht erwartet, so viele Waffen aus der Spätzeit der Republik und der Frühzeit der Demokratie zusammenzutragen, solange er lebte. Was die Kanone anging, so würde er sie jederzeit ersetzen können, und außerdem hatte ihm nie besonders viel daran gelegen. Handwaffen waren seine Spezialität, und dies war das magische Geschenk einer wohlwollenden Gottheit. Behutsam und liebevoll nahm er eine andere der altertümlichen Explosivprojektilpistolen in die Hand und untersuchte sie noch einmal. Sie war hervorragend ausbalanciert, und Durmin hatte sie geradezu vortrefflich restauriert. Er konnte absolut keine Spur von Korrosion oder Abnutzung an den beweglichen Teilen entdecken. Er begann sie auseinanderzubauen und bewunderte das handwerkliche Geschick, das man auf die Anfertigung verwendet hatte. Diese Waffe war kein Zierrat. Sie war nur zu einem Zweck, einem einzigen Zweck, hergestellt worden: zum Zerstören. Ein effizienterer kleiner Zerstörungsapparat war nie gebaut worden. Er bemerkte, daß er ein paar Fingerabdrücke auf der Pistole hinterlassen hatte, während er sie untersuchte, und so öffnete er eine seiner Schreibtischschubladen und zog ein weiches Tuch hervor, um sie zu säubern.
Und während er den Lauf reinigte, bevor er die Waffe wieder zusammensetzte, sah er das Pulver. Hier stimmte etwas nicht. Die Waffe war Jahrtausende alt und in den letzten paar Wochen mindestens einmal gereinigt worden. Nirgends hätte hier eine Spur von Schießpulver sein dürfen. Vorsichtig legte er die Pistole auf den Tisch und starrte sie an. Er verstand genug von der Restaurierung alter Waffen, um sicher zu sein, daß das Pulver kein Überrest irgendwelcher Säuberungs- oder Restaurierungsarbeiten sein konnte. Nein – es war zwar nicht so viel, daß man daran riechen oder davon schmecken konnte, aber er zweifelte nicht daran, daß es sich um Schießpulver handelte. Aber wieso? Die Pistole wurde auf Schießständen nicht benutzt; ein einziges Explosivgeschoß aus ihrem Lauf hätte einem Haus von der Größe seiner Residenz die Seitenwand weggerissen. Er rief die Wachen herbei und beauftragte sie festzustellen, ob es seit dem Krieg, den die Setts wegen des unglückseligen Büros für Alien-Angelegenheiten mit dem Commonwealth geführt hatten, irgendwo bewaffnete Aufstände gegeben habe. Die Antwort kam innerhalb weniger Minuten: Auf den Canphor-Zwillingen und vielleicht einem Dutzend anderer Welten hatte es sporadische Unruhen gegeben, aber sie alle waren beinahe augenblicklich beigelegt worden. Die nächsten zwei Stunden brachte er damit zu, Durmins Aktivitäten des vergangenen Jahres zurückzuverfolgen. Durmin war zwar ein weitgereister Mann, aber niemals hatte er einen Fuß auf eine der betreffenden Welten gesetzt. Und das bedeutete, daß hinter dieser Sache mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermutete. Viel mehr. Zum einen bedeutete es, daß sich weiterer Ärger mit den Aliens zusammenbraute. Zum anderen, daß derjenige, von dem Durmin die Waffen erworben hatte, gut gerüstet sein mußte, denn sonst hätte er niemals so viele
Stücke freiwillig aus der Hand gegeben, ganz gleich, wieviel Durmin ihm dafür bezahlt hätte. Und das wiederum implizierte, daß die Aliens alles andere als waffenlos waren. Sie besaßen Feuerwaffen aus sieben Jahrtausenden, und die meisten, wenn nicht alle, funktionierten noch. Diese Erkenntnisse führten zu weiteren Überlegungen: Wozu brauchte Durmin die doradusianische Kanone? Sie war nicht annähernd soviel wert wie diese Handwaffen hier, zumindest nicht für einen Sammler. Aber für einen Waffenschmuggler, dessen Klientel wirklich schwere Geschütze brauchte, war sie wahrscheinlich soviel wert wie Hunderte von Pistolen. Und die beiden Pistolen, die Durmin zusätzlich zu der Kanone haben wollte? Wahrscheinlich seine Kommission für den Abschluß des Handels. Und nicht einmal eine schlechte Kommission, fand Selimund. Die beiden waren als Paar sicherlich 35000 Credits wert. Eine nach der anderen begann Selimund die übrigen Waffen zu zerlegen. Bei den Laserpistolen war es nicht festzustellen, aber die elf Explosivpistolen zeigten Spuren kürzlichen Gebrauchs. Wahrscheinlich war es Ausschuß, vermutete er, Waffen, die nicht leistungsfähig genug waren und deshalb von den Rebellen abgelegt worden waren. Abgelegt oder nicht, sie waren trotzdem wunderschön – Meisterwerke der Kunst antiker Waffenschmiede. Wie prunkvoll sie sich im Museum ausnehmen würden! Bis auf die Laserpistole aus der Republikzeit; die würde in seinem Büro bleiben, hermetisch versiegelt in einer gläsernen Vitrine. Vielleicht würde er eine kleine Bronzeplakette anbringen lassen, auf welcher die Verwendungsweise und Funktion eingraviert sein würden. Heftig schüttelte er den Kopf. Genug der Tagträume! Seine oberste Aufgabe war jetzt herauszufinden, wo diese Rebellenstreitkräfte standen, wie stark sie waren und wann sie
planten, sich in Bewegung zu setzen. Dies würde er dann dem Schwebenden Königreich melden, und wenn alles gutging, hatte er gewiß eine hübsche Gehaltserhöhung zu erwarten. Das Problem war nur, daß er nicht mehr Geld brauchte, sondern Dinge, für die er es ausgeben könnte. Dinge wie Waffen aus der Zeit der Republik und der Demokratie… Er setzte alle Waffen wieder zusammen, rief die Wachtposten zurück und ging zu Bett, ein von Sorgen geplagter Mann. Als er aufwachte, fühlte er sich nicht besser. Er ließ das Frühstück ausfallen, begab sich in sein Büro und schaute sich noch einmal die Waffen an. Liebevoll und mit tiefem Bedauern berührte er jede einzelne. Sie waren so verdammt schön. Er hatte bereits erwogen, Durmin vom Fleck weg verhaften zu lassen und die Waffen als Beweismaterial zu konfiszieren. Aber dann würde er sie dem Gericht übergeben müssen und sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, den Händler und seine Mitarbeiter ermorden zu lassen, aber aus rein praktischen Gründen hatte er diese Idee verworfen. Nein, er würde die Angelegenheit anders zu Ende bringen müssen. Sammlung hin, Sammlung her – seine oberste Loyalität hatte dem Commonwealth zu gelten. Nicht daß das Commonwealth seine Hilfe oder seine Loyalität wirklich benötigen würde. Schließlich – was konnte ein Planet, auch wenn er gut bewaffnet war, gegen die geballte Macht von fast zwei Millionen Welten ausrichten? Sehr viel mehr als eine Polizeiaktion würde ein solcher Aufstand nicht erfordern. Natürlich konnte die Kanone einen enormen Schaden anrichten, aber das ließe sich mit einem einfachen Trick verhindern: Er brauchte nur den Auslösemechanismus unbrauchbar machen zu lassen, bevor er Durmin das Geschütz übergab. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde jede Rasse, die die vor ihm liegenden Waffen hatte aufarbeiten können, auch
in der Lage sein, die Kanone zu reparieren, aber es bestand immerhin die Chance, daß ein so komplizierter Mechanismus ihre Fähigkeiten überstieg. Zumindest hätte er dies gern geglaubt. Außerdem befand sich die Galaxis im Fluß. Immer häufiger flackerten Rebellionen auf, und gewiß waren Durmins Kontaktpersonen nicht die einzigen Aliens, die jahrhundertelang heimlich Waffen zusammengetragen und nur auf den Tag gewartet hatten, da sie sich endlich erheben und gegen die Unterdrückung durch das Commonwealth kämpfen würden. Wegen dieser Operation jetzt Alarm zu schlagen würde das Problem nicht lösen; wahrscheinlich würde es die Aufstände auf den übrigen Welten nicht einmal verzögern. Es gab tausend Rassen, die früher oder später gegen den Menschen zu den Waffen greifen würden – aber es gab nur eine solche Sammlung und vermutlich nur diese eine Gelegenheit, ihr solche Schätze einzuverleiben. Außerdem bestand in diesen Tagen der verzögerungslosen Interstellarkommunikation nicht die geringste Chance, daß die Aliens ihr Arsenal noch nicht versteckt hätten, wenn die Flotte einträfe. Durmin ans Messer zu liefern wäre nichts als eine leere Geste, ein Akt verfehlter Ehrenhaftigkeit. Noch einmal umfaßte er die Explosivpistole, streichelte sie liebevoll und umschlang sie mit seinen Händen. Er hielt sie noch, als Durmin mit einem zweiten Container eintraf. »Hier ist der Rest«, sagte er und baute die Stücke sorgfältig auf Selimunds Schreibtisch auf. Selimund betrachtete sie eines nach dem anderen. Plötzlich erstarrte er. »Ist es das, wofür ich es halte?« fragte er leise. »Ich dachte mir, daß es Ihnen gefallen würde, Gouverneur.« Durmin lächelte. »Eine Pistole von Terra, siebenundzwanzigstes Jahrhundert«, wisperte Selimund. Er streckte eine zitternde Hand aus und
berührte die Waffe sanft und ehrfurchtsvoll. »Ich habe schon ein paar Zeichnungen gesehen, aber…« »Sie ist schön, nicht wahr?« meinte Durmin. Selimund nickte. »Ich weiß, daß Ihre Spezialität Alienwaffen sind«, sagte Durmin, »aber wenn sich eine solche Gelegenheit bietet… Tja, sie ist wohl das Juwel in dieser Lieferung. Deshalb muß ich auf der Kanone bestehen.« Selimund starrte ihn lange und eindringlich an, aber dann wanderte sein Blick unwillkürlich zu der Pistole zurück. »Abgemacht«, sagte er. Wenig später hantierte er mit peinlicher Sorgfalt an dem neuesten Prachtstück seiner Sammlung, er polierte und putzte es und verschwendete keinen Gedanken mehr an eine Galaxis, die es wieder einmal ratsam fand, Waffen zu horten.
22: Die Rebellen … Als das Jahrtausend seinem unruhigen Ende entgegenging, gürtete der Mensch sich für die größte Herausforderung, die sein Primat in der Galaxis in Frage stellen sollte. So seltsam es auch erscheinen mag, kam diese Herausforderung doch nicht nur von den Alienrassen, sondern auch von einer Anzahl fehlgeleiteter Menschen. Unter den ersten, die ihr Mäntelchen nach dem neuen Wind hängten, war Loran Baird, ein ehemaliger Flottenoffizier, der aus Gründen, die nur er selbst kannte… Der Mensch: Zwölf Jahrtausende Leistung und Erfolg
… Es war die Allianz zwischen zwei visionären Individuen, Brastillios von Canphor VII (6977 – 7202 G. Z.) und Loran
Baird von Aldebaran X (6955 – 7020 G. Z.), die den ersten Schritt zum Fall nicht nur der Monarchie, sondern der Tyrannenherrschaft des Menschen über die Rassen der Galaxis überhaupt einleitete. Obgleich sie beide kriegerischen Rassen angehörten, gelang es ihnen doch, ein Band aus gegenseitigem Vertrauen und echter Freundschaft zu knüpfen, und infolgedessen… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
Nach und nach ging alles zum Teufel. Castor V war dem Commonwealth nicht beigetreten, und rund fünfzig andere Planeten, die zunächst unschlüssig zu sein schienen, hatten es ebenfalls nicht getan. Und mehr noch – einige der Grenzwelten hatte der Hafer gestochen, und sie hatten tatsächlich versucht, das Commonwealth zu verjagen. Natürlich war ihnen das nicht gelungen, aber jeder dieser rebellischen Akte drang ein wenig weiter, bevor er niedergeschlagen werden konnte. Und dann kam der wirkliche Schock. Spica VI, die riesige, geheiligte Schiffbauwelt, die nur von Menschen bevölkert wurde, erklärte ihre Unabhängigkeit vom Commonwealth. Das Schwebende Königreich stand mit dem Rücken zur Wand, und es reagierte mit dem, was ihm geblieben war – mit Gewalt und immer mehr Gewalt. Die Spicaner kämpften bis zum letzten Mann, und als die kurze, aber blutige Schlacht vorüber war, bedeckten fast zwei Millionen tote Menschen den Boden des Planeten, einen einstmals industrialisierten Boden, der jetzt und für alle Zeit von Schutt und Trümmern übersät war. »Das Problem ist«, sagte Baird, »daß sich niemand die Mühe macht, diese verdammten Aufstände zu organisieren und so zu koordinieren, daß eine maximale Wirkung erreicht wird.« Sein Gegenüber sah ihn über den Tisch hinweg an. »Wie können
Sie Koordination erwarten?« fragte er schließlich. »Sie haben tausend Alienrassen und eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die nichts miteinander gemeinsam haben außer ihrer Feindseligkeit gegen das Schwebende Königreich und Deluros. Sie haben nie zusammengearbeitet, nie einander vertraut und nie zusammen gegen einen gemeinsamen Feind gekämpft. Warum sollten sie jetzt damit anfangen? Oder, um es anders auszudrücken – Sie sind ein Mensch. Welcher Canphorit oder Lodinit oder Emraner, der halbwegs bei Sinnen ist, sollte Ihnen trauen?« »Ich weiß, was Sie meinen, Jannis«, sagte Baird, »aber am Ende werden sie mir trotzdem vertrauen müssen, genauso wie ich ihnen vertrauen muß.« »Ja, aber tun Sie das auch?« Jannis lächelte. »Wenn es sein muß, werde ich es tun«, erwiderte Baird entschlossen. »Darum habe ich Sie kommen lassen. Sie arbeiten als Kaufmann auf Canphor VII. Sie machen Geschäfte mit diesen verfluchten Wesen. Können Sie eine Zusammenkunft zwischen mir und einem ihrer Untergrundführer organisieren?« »Das hab’ ich mir gedacht«, sagte Jannis. »Wieso Canphor? Wieso nicht eine Rasse, die nicht auf fünftausend Jahre Aufsässigkeit zurückblicken kann? Wieso nicht eine Rasse, die nicht überlegt, wie sie Sie ermorden könnte, sobald Sie den Raum betreten haben?« »Weil die Canphor-Zwillinge die nicht-menschlichen Rassen anführen, und wenn wir diese Tyrannei je stürzen wollen, brauchen wir ihre Hilfe.« »Wer sind diese mysteriösen ›Wir‹?« fragte Jannis. »Wen vertreten Sie hier?« Bairds Augen wurden schmal. »Diese Information bleibt den Canphoriten vorbehalten«, antwortete er. »Ich nehme an, man hat mich überprüft und für zu leicht befunden«, bemerkte Jannis trocken.
»Je weniger Sie wissen, desto weniger Ärger werden Sie haben, wenn uns das Dach auf den Kopf fallen sollte«, erwiderte Baird. Er schob eine dicke Rolle Geld über den Tisch. »Werden Sie es tun?« Jannis betrachtete die Rolle und nickte dann. »Ich denke mir, es wird auf einer der Außenwelten stattfinden müssen. Sie werden zu keinem Planeten kommen, den Sie ihnen vorschlagen, und Sie werden sicherlich keinen Fuß in das Canphor-System setzen.« »Zum Teufel, natürlich«, entgegnete Baird. »Sie sollen wissen, daß es uns ernst ist.« »Wie wär’s dann mit Canphor III?« schlug Jannis vor. »So wird es nicht nach einer totalen Kapitulation aussehen.« »Nein«, sagte Baird entschlossen. »Ich will einen der Zwillinge. VI oder VII, das ist mir gleich.« Jannis zuckte die Achseln. »Es ist Ihre Beerdigung, nicht meine…« Aber hier, so entschied Baird, als sein Gesprächspartner gegangen war, irrte Jannis. Es war die Beerdigung des Commonwealth. Nicht heute, nicht im nächsten Jahr, vielleicht nicht einmal in hundert Jahren. Aber es würde der Anfang sein. Jannis meldete sich ein paar Tage später. Die Canphoriten hatten sich zu seinem Erstaunen mit der Zusammenkunft einverstanden erklärt. Die beiden Menschen würden nach Canphor VI reisen, wo Jannis mit Baird zu einem bestimmten Gebäude gehen und ihn dort allein lassen würde. Für Bairds Rückreise waren keinerlei Vorkehrungen getroffen worden, eine Tatsache, die Jannis entschieden bedrohlich fand, aber Baird stimmte den Bedingungen bereitwillig zu. Baird war noch nie auf einem der beiden Canphor-Zwillinge gewesen, und als Jannis’ Schiff auf dem Raumhafen von Canphor VI landete, stellte er mit Staunen fest, daß nur wenig zu sehen war. In Anbetracht der langen und wechselvollen Geschichte
der Canphoriten hatte er gedacht, daß es auf den beiden bewohnten Planeten von Leben und Aktivität nur so wimmeln müsse. »Lassen Sie sich nicht irreführen«, sagte Jannis, als Baird ihn danach befragte. »Die meisten Anlagen von Canphor VI sind unterirdisch. Ich vermute, sie hatten es aus verständlichen Gründen irgendwann satt, ihre Städte immer wieder aufzubauen, nachdem wir sie dem Boden gleichgemacht hatten. Auf Canphor VII ist die Situation ziemlich genau die gleiche. In den letzten paar Jahrhunderten sind die Immobilienpreise mit größerer Bautiefe immer rascher in den Himmel gestiegen. Nur der ärmste Teil der Bevölkerung lebt noch an der Oberfläche, und das erfüllt praktisch einen doppelten Zweck.« »Inwiefern?« fragte Baird. »Dadurch bleibt das Commonwealth zufrieden und dumm. Zufrieden, weil der Bereich des Planeten, der noch zugänglich ist, so ruhig und augenscheinlich ungerüstet zu jeder Art von Gewalttätigkeit ist, und dumm, weil die Oberfläche nun wirklich alles andere als repräsentativ für den Planeten ist.« Er öffnete die Schiffsluke und stieg aus. Ein fensterloses Fahrzeug erwartete sie. »Es ist ferngesteuert«, erklärte Jannis. »Der Grund dafür ist, daß so niemand hineinschauen kann. Dadurch sind die Chancen für einen Unfall verringert.« »Wie überleben Sie eigentlich in Ihrem Geschäft?« fragte Baird. »Ich nehme an, Sie meinen physisch, nicht finanziell«, antwortete Jannis grinsend. »Ich bleibe stets an der Oberfläche, und ich arbeite von unserer Botschaft aus.« Sie bestiegen das Fahrzeug, und augenblicklich setzte es sich in Bewegung und raste durch die rote, kahle Landschaft. Nach, ein paar Minuten ging es in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel bergab, und als der Wagen schließlich wieder geradeaus fuhr, schätzte Baird,
daß sie sich zirka vier Meilen unter der Oberfläche befinden müßten. Es folgte eine Reihe scharfer Kurven – so viele, daß er zu dem Schluß kam, dies diene dazu, ihn zu verwirren, falls er versuchen sollte, sich den Rückweg einzuprägen, und so war es in der Tat. Schließlich hielt der Wagen an. Die Türen öffneten sich automatisch und gaben den Blick auf das Innere eines großen Gebäudes frei, dessen Bauweise anders war als alles, was Menschen je gebaut hatten. »Ich soll nicht mit Ihnen aussteigen«, erklärte Jannis. »Wahrscheinlich wird man mich hier festhalten, bis Sie mit ihnen fertig sind – oder umgekehrt.« Baird nickte und stieg aus. Kein einziger Canphorit war zu sehen, und so ging er zu der einzigen Tür, die er finden konnte, öffnete sie und trat hindurch. Er hörte, wie sie sich hinter ihm schloß, und sah, daß er sich in einem kleinen, verdunkelten Raum befand. Nicht weit von ihm entfernt stand ein Canphorit. Das Geschöpf war typisch für seine Rasse, sie alle sahen in Bairds Augen gleich aus: groß, unglaublich schlank, mit einem großen, birnenförmigen Kopf, kleinen, dunklen Augen und einem runden, vorgewölbten Mund. Der Typ war humanoid, aber alles andere als menschlich. »Sie sind Baird«, sagte das Wesen, und seine Worte kamen stumpf und eintönig aus einem Translator. »Jawohl«, sagte Baird. »Und Sie?« »Ich bin Brastillios.« »Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Baird. »Sind Sie das wirklich?« fragte Brastillios. Baird nickte. »Wo sind die anderen?« »Welche anderen?« »Ich dachte, ich würde mit den Führern Ihrer Untergrundbewegung zusammentreffen«, sagte Baird. »Ich bin ermächtigt, in ihrem Namen zu sprechen«, antwortete der Canphorit.
»Nun gut«, sagte Baird und versuchte, das Beste aus dieser Situation zu machen. »Dann sollten wir jetzt zur Sache kommen.« »Und um welche Sache geht es?« fragte Brastillios. »Ich glaube, das wissen Sie, denn sonst wären Sie nicht hier«, sagte Baird. »Aber wenn Sie wollen, daß ich es für Sie buchstabiere, werde ich es tun. Meine Sache ist es, das Commonwealth zu stürzen.« »Und weshalb sollte ein Mensch den Wunsch haben, andere Menschen zu stürzen, wenn es noch so viele Nichtmenschen in der Galaxis gibt, Nichtmenschen, die Ihre Rasse mit großem Vergnügen abschlachten?« »Was meine Regierung tut und was meine Rasse billigt, ist nicht notwendigerweise dasselbe«, erklärte Baird. »Ich frage mich, ob es so ist«, erwiderte Brastillios. »Ganz gewiß aber haben Sie viele Merkmale mit Ihrer Regierung gemeinsam. So sprechen beispielsweise weder Sie meine Sprache noch ich die Ihre, aber ich bin es, der einen Translator mitgebracht hat.« »Man hat mir gesagt, ich dürfte nichts mitbringen«, entgegnete Baird. »Nichts«, stimmte Brastillios zu, »als den Wunsch, einem Canphoriten zu begegnen. Und jetzt, da dies geschehen ist, wissen Sie doch sicher, ob ich von Canphor VI oder von Canphor VII stamme?« »Was macht das für einen Unterschied?« fragte Baird. »Es gibt nur zwei Seiten in dieser Sache. Canphor VI und Canphor VII sind auf derselben Seite. Weshalb sollte ich also eines dem anderen vorziehen?« »Nobel empfunden und geschickt ausgewichen«, sagte Brastillios. »Ich bin auf Canphor VII geboren, und ich bin mit Ihnen der Meinung, daß dies keinen Unterschied macht. Hier ist der Mensch, und dort ist alles andere.«
»Ich muß Sie korrigieren«, widersprach Baird. »Hier sind einige Menschen, und dort ist alles andere.« »Sie haben meine ursprüngliche Frage noch nicht beantwortet«, sagte der Canphorit. »Wie können Sie wollen, daß wir Ihnen helfen?« »Nun, ein großer Teil der Menschheit findet das Commonwealth ebenso unerträglich wie Sie. Unsere Wirtschaft ist instabil, unsere Kultur stagniert, und unser Ehrgeiz wurde fehlgeleitet und erstickt.« »Erzählen Sie mir von Ihrem Ehrgeiz«, sagte Brastillios. »Die Menschen hat es immer nach fernen Welten gelüstet. Warum sollte ich glauben, daß es Sie nicht nach der meinen gelüstet?« »Es gibt bessere Ziele, die die Menschen anstreben könnten, als die Unterjochung anderer Rassen«, erklärte Baird. »Es ist merkwürdig, nicht wahr«, sagte der Canphorit, »daß der Mensch im Laufe seiner langen Geschichte nicht ein einziges Mal daran gedacht hat, eines dieser besseren Ziele anzuvisieren.« »Ich bin nicht hier, um mich für den Rest der Menschheit zu entschuldigen«, versetzte Baird. »Mir geht es um die Zukunft. Sie wollen das Schwebende Königreich stürzen. Das wollen wir auch. Sie können es nicht allein tun. Ich kann es auch nicht. Aber gemeinsam können wir vielleicht einiges in Bewegung bringen.« »Und wenn diese Bewegung eine Woge hervorgebracht hat, die das Commonwealth wegspült – was werden Sie dann tun?« fragte Brastillios. »Diese Frage könnte ich Ihnen auch stellen«, antwortete Baird. »Wenn das Commonwealth zerfällt, ist der Mensch völlig machtlos in einer Galaxis, die von einer gewaltigen Überzahl von anderen Rassen bewohnt ist, die vermutlich das eine oder andere Huhn mit ihm zu rupfen haben.«
»Die Idee der Bestrafung ist dem Denken der meisten Rassen völlig fremd. Ich glaube, der Mensch hat von uns wenig zu befürchten, wenn das Commonwealth erst vernichtet ist«, log Brastillios. »In gleicher Weise kann ich Ihnen versichern, daß die Menschen, für die ich hier spreche, nicht zu der Sorte gehören, die sich gegen ihre Verbündeten wendet«, log Baird. »Gegen wen werden sie sich dann wenden?« fragte Brastillios. »Menschen wenden sich immer gegen irgend jemanden.« »Die Rasse des Menschen zu regieren wird genügend Zeit in Anspruch nehmen«, erklärte Baird. »Uns gehört bereits ein ziemlich großer Teil der Galaxis. Mehr brauchen wir nicht.« »Und wer wird in dieser philanthropischen neuen Ordnung regieren? Sie?« »Dieser Gedanke ist mir allerdings schon einmal gekommen.« »Es ist ein unrealistischer Gedanke«, sagte Brastillios. »Wir können dem Commonwealth einen schmerzhaften Schlag versetzen, aber gleichwohl wird es Sie wie mich um Jahrhunderte, wenn nicht gar um Jahrtausende, überleben.« »Dann haben wir keine Zeit zu verschwenden«, sagte Baird. »Legen wir die Karten auf den Tisch?« »Mein Translator versagt vor diesem idiomatischen Ausdruck.« »Er besagt, daß unsere Besprechung einen Punkt erreicht hat, an dem wir frei und offen miteinander reden müssen«, sagte Baird. »Und da Sie immer noch Zweifel zu hegen scheinen, will ich damit beginnen. Durch diverse Kontakte, die mich mit der Flotte verbinden, kann ich für unsere Seite eine Streitmacht von etwa zwölf Millionen Leuten, zwei Millionen Schiffen und einem beträchtlichen Arsenal auf die Beine bringen. Keine Einzeleinheit erreicht mehr als fünf Prozent des Ganzen. Sie sind überall in der Galaxis verstreut, aber dies mag sich als
Vorteil erweisen, denn so werden wir verhindern, daß das Commonwealth seine Kräfte zusammenzieht. Nun, wie viele Planeten gibt es, die Sie beherrschen oder beeinflussen können?« »Ich finde es interessant, daß Sie mir Zahlen von Lebewesen nennen und von mir erwarten, daß ich Ihnen Zahlen von Planeten dagegensetze«, meinte Brastillios. »In beiden Fällen rede ich von strategischen Einheiten«, korrigierte Baird. »Mir ist ebenso wie Ihnen klar, daß weder meine Menschen noch Ihre Alliierten das Commonwealth militärisch zu stürzen in der Lage sind, wie die Dinge jetzt stehen. Aber eine gut ausgestattete Serie von Überfällen und Rebellionen läßt in anderen Menschen und Aliens vielleicht die Idee erwachen, daß es möglich ist.« »Warum sollten andere Menschen sich auf Ihre Seite stellen?« fragte Brastillios. »Warum sollten sie nicht lieber ihre Vormachtstellung bis zum Tode verteidigen?« »Der Mensch steht gern auf Seiten des Siegers«, antwortete Baird. »Niemand würde es als Aufgabe der Vormachtstellung betrachten. Es wäre der Sturz einer unpopulären Regierung. Ich wiederhole also meine Frage: Wie viele Welten können Sie beeinflussen?« »Vielleicht dreitausend, vielleicht mehr«, sagte Brastillios. »Begriffe wie ›vielleicht‹ darf es hier nicht geben«, erwiderte Baird. »Wir müssen die ganze Operation bis ins letzte Detail koordinieren. Jede Rebellion, sei es in der Flotte, sei es auf einer der nichtmenschlichen Welten, muß spontan wirken, und sie alle müssen strategisch verteilt werden, damit daraus für die Flotte ein Höchstmaß an Verwirrung und Schwierigkeiten entsteht. Und es darf auch nicht nur militärische Aktionen geben, denn wir wollen ja nicht, daß die ersten zehn Planeten, die sich erheben, nacheinander in Stücke gesprengt werden –
das würde den Rest entmutigen. Nun, welche Art von Waffen haben Sie zur Verfügung?« Der Canphorit zählte auf, was sich in seinem Arsenal befand, und äußerte informierte Schätzungen über das, was die anderen Alienwelten besitzen mochten. Baird vernahm mit Überraschung, daß sie so gut bewaffnet waren, aber er sagte nichts. Schließlich wurde seine Aufgabe dadurch nur leichter. »Ihre Geschichtsbücher werden über das, was Sie heute getan haben, nicht sehr freundlich urteilen«, sagte Brastillios, als sie sich über die groben Umrisse der Strategie geeinigt hatten. »Wenn wir siegen, werde ich diese Bücher schreiben«, bemerkte Baird. »Und wenn wir untergehen, wird jemand anders das Commonwealth irgendwann in der Zukunft stürzen, und in diesem Falle wird man mich als Visionär bezeichnen, der vor seiner Zeit geboren wurde. Was werden die Bücher über Sie sagen, wenn wir eine vernichtende Niederlage einstecken müssen?« »Die Bücher sind schon seit Jahrtausenden geschrieben«, sagte Brastillios. »Wir haben nur auf den richtigen Zeitpunkt für die Veröffentlichung gewartet.« Einen flüchtigen Augenblick lang befürchtete Baird, er könnte mehr abgebissen haben, als er schlucken konnte. Dann zuckte er die Achseln. Die Aliens würden ihm keine Probleme bereiten. Sie würden während der nächsten Jahrhunderte in vorderster Linie kämpfen, und wenn sie immer noch der Hafer stechen sollte, nachdem die Überreste des Commonwealth ihre Reihen dezimiert haben würden… nun, der Mensch war nicht ganz ohne Erfahrung im Umgang mit Alienrassen. Brastillios starrte den Menschen eindringlich an. Auch er hatte seine Zweifel über diese Allianz. Menschen waren immer noch Menschen. Aber dann zuckte auch er die Achseln. Diese vorübergehende Partnerschaft war ein notwendiges Übel, nicht mehr und nicht weniger. Früher oder später würden sich die
Machtverhältnisse in der Galaxis neu formieren, und wenn es Menschen gab, die diese Umwälzung früher herbeiführen wollten, indem sie anderen dabei halfen, einen Teil ihrer eigenen Spezies zu vernichten – was sollte er dagegen einzuwenden haben? Sie vereinbarten eine Reihe von zukünftigen Besprechungen, in denen jedes einzelne Detail koordiniert werden sollte. Und dann, zum ersten Mal in der Geschichte der Galaxis, schüttelten Mensch und Alien einander die Hände in gegenseitiger Freundschaft und Brüderlichkeit. Hinter dem Rücken kreuzten beide die Finger.
SIEBZEHNTES MILLENNIUM ANARCHIE
23: Die Archäologen … Und während das Imperium des Menschen dahinschwand, bildete sich kein zentraler Herrschaftsträger unter den übrigen Rassen, und Anarchie verbreitete sich durch die Galaxis… Im Laufe des siebzehnten Jahrtausends G. Z. wandte sich die Rasse des Menschen, ihrer einstmals gewaltigen militärischen und wirtschaftlichen Macht verlustig, friedvolleren Beschäftigungen zu. Allgemein erwachte neues Interesse an den Wurzeln der Spezies, und jetzt erst machten sich Scharen von Archäologen daran, die Erde und die frühen Kolonien gründlich zu erforschen und zu untersuchen. Unter den erfolgreichsten dieser Wissenschaftler war Breece, eine Frau von Bethar III, deren Veröffentlichungen bis auf den heutigen Tag gelesen werden… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
Breece stand auf der Erde und fragte sich, wo Jahrhunderte und aber Jahrhunderte geblieben sein mochten. Die Erde war nicht verlassen, genaugenommen, und die Rasse des Menschen stand nicht vor dem Aussterben, genaugenommen. Aber o weh! dachte sie, wie tief waren die Mächtigen gefallen. So hoch war der Mensch emporgestiegen, daß es viele lange Jahrtausende gedauert hatte, bis er auch den letzten Rest seiner einstmaligen Vorherrschaft, seiner Macht und seines Besitzes
verloren hatte. Winzige Teile des letzteren waren sogar noch vorhanden: das Deluros-System – eine Serie von Geisterwelten, funkelnd, effizient und unbenutzt; Sirius V, dessen Grenzen sich immer enger zusammengezogen hatten, bis er nur noch eine einzige gewaltige Stadt beherbergte; Caliban, ein noch immer lebendiger, noch immer funktionierender Anachronismus, ein Mechanismus, der in alle Ewigkeit darauf warten würde, die Bewegungen einer seit Jahrhunderten toten und vergessenen Flotte zu vermelden; das Schwebende Königreich, dessen kaiserliche Paläste in Fabriken verwandelt und dessen Triebwerke abgeschaltet worden waren, dazu verdammt, ziellos von System zu System zu gleiten, bis irgendein Stern sich schließlich erbarmen und es an seinen Busen ziehen würde; die Kolonien von Capella und Deneb; etwa viertausend weit verstreute Welten – und schließlich die alte Erde selbst. Im Laufe der Zeit nach dem Fall des Commonwealth – oder der Monarchie, wie man es schließlich genannt hatte – war eine Rasse nach der anderen wieder erstarkt und hatte sich alles oder zumindest einiges von dem, was der Mensch sich angeeignet hatte, wieder zurückgenommen. Viele von ihnen kümmerte weder der Mensch noch das, was er ihnen angetan hatte, aber es gab auch solche – die Canphoriten, die Lodiniten, die Emraner und hundert andere –, deren Leidenschaft im Andenken an diese Dinge groß genug war, um die Lethargie der übrigen Rassen aufzuwiegen. Stück für Stück, mit der Geduld eines Hiob und dem Geschick eines Grath, hatten sie begonnen, den Menschen zurückzudrängen, ihn in planetarische Nischen zu zwingen, ihm den Zugang zu einer Welt hier, einem System dort zu verwehren, eine Fabrik auf diesem Planeten zu verstaatlichen oder ein Labor oder ein College auf jenem zu zerstören. Der Mensch wehrte sich, wie er sich immer wehren würde. Anfangs waren seine Verluste minimal, aber er hatte den
Gipfel erklommen, hatte die Galaxis in den Händen gehalten, und jetzt konnte es nur noch abwärts gehen. Er tat es so, wie er aufgestiegen war: streitend, kämpfend, täuschend, lügend, und hier und da ließ er vereinzelt Vornehmheit im Wechsel mit Barbarei erkennen, gerade soviel, daß die Galaxis sich fragte, ob er nicht ein Gott oder aber ein mörderisches Ungeheuer aus der Hölle sei und nicht einfach eine von vielen intelligenten Rassen. Und wahrlich, dachte Breece, der Mensch war nicht eine von zahllosen anderen Spezies, die in den Geschichtsbüchern verzeichnet und dann vergessen wurden. Er war etwas Besonderes und anders als die anderen. Keine Rasse war wie er fähig zu solcher Großzügigkeit, solchem Idealismus, solchen Leistungen, doch keine andere Rasse konnte auch so beispiellos kleinlich, bestialisch, unehrlich und ehrlos sein wie er. Was immer man sonst über den Menschen sagen mochte, er war einzigartig – und letztlich aus diesem und aus keinem anderen Grund stand sie jetzt auf der Mutterwelt des Menschen, durchfroren und vom Regen durchnäßt, auf der Suche nach dem, was diesem merkwürdigen, intelligenten Affen Gestalt gegeben haben mochte, was ihn besser hatte werden lassen als die Besten der Galaxis, ärmer als die Elendsten, was ihn nach den Sternen hatte greifen und dem Schicksal seinen Trotz ins Gesicht hatte schreien lassen. Sie stand im Zwielicht und starrte auf das hinaus, was einst, vor Ewigkeiten, die Serengeti-Ebene gewesen war. Dieses nun verdorrte, unfruchtbare Land, das sich vom immer noch pittoresken Ngorongoro-Krater bis hinunter zum trockenen Bett des Victoria-Sees erstreckte, hatte den größten Teil der Geschichte des Menschen miterlebt, solange er noch auf der Erde lebte. Hier hatte er das Licht der Welt erblickt, hier hatte er das Rad und die Keule erfunden und das Feuer entdeckt. Hier hatte er sich mit bloßen Fäusten dem legendären
Schwarzmähnenlöwen entgegengestellt und seinen Mitmenschen in die Sklaverei verkauft. Der Erste und der Vierte Weltkrieg waren weit genug nach Süden und nach Osten vorgedrungen, um die Serengeti vorübergehend in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Hier hatte der Mensch, sechshundert Jahre vor Beginn der Galaktischen Zeitrechnung, die letzte der mit ihm konkurrierenden Landbewohner-Spezies ausgerottet, und hier hatte man ein Jahrhundert danach mit der Forschungsarbeit zum Tachyonenantrieb begonnen. Und jetzt lag die Serengeti wieder einsam und verlassen, kniehoch von Dschungelgras überwuchert, umgrenzt von Dornengestrüpp, und unter ihrem Boden verbargen sich menschlicher Müll und menschliche Artefakte aus einer Million Jahre. Es sah aus wie ein guter Platz für die Suche nach Antworten. Seufzend wandte Breece sich ab und ging zu ihrer Kuppel zurück. Morgen – falls es aufhören sollte zu regnen, würde sie anfangen zu graben, zu markieren, zu katalogisieren. Und vielleicht, ja, vielleicht… Sie schreckte zusammen, als sie hinter sich ein paar Zweige knacken hörte. »Wer ist da?« fragte sie laut. »Ich habe Ihr Camp gesehen und mir die Freiheit genommen herüberzukommen«, sagten die kalten, klaren Töne eines modifizierten Terranisch-Translators. »Wer sind Sie?« fragte sie und spähte in die herabsinkende Dunkelheit. »Ich bin Milnor vom Mond Kormonos aus dem System von Atria und gehöre zur Rasse der Rinn«, sagte die Stimme. Angestrengt versuchten ihre Augen, das Dunkel zu durchdringen, und dann sah sie den Rinn. Er war annähernd humanoid von Gestalt, ein wenig gedrungener und muskulöser als ein Mensch allerdings, und seine Haut besaß einen grünlichen Schimmer. Sein Körper war unbekleidet bis auf
einen Beutel, der ihm über die Schulter hing, und von beträchtlichem Haarwuchs bedeckt. Der Rinn sprach durch einen Translator, der vor einen kinnähnlichen Vorsprung des Gesichts geschnallt war, aber er trug keine Gesichtsmaske und auch keinen Helm; er schien es gewöhnt zu sein, die Luft der Erde zu atmen. »Ich bin Breece und gehöre zur Rasse Mensch«, sagte sie. »Was tun Sie hier?« »Ich bin Archäologe«, sagte Milnor. »Ich bin seit siebzehn Jahren auf der Erde; ich grabe in Ruinen herum, durchstöbere Häuser, die noch stehen, und manchmal spreche ich auch mit Menschen, die sich an diese Welt geklammert haben. Seit fast zwei Monaten bin ich in der Serengeti. Einer meiner Roboter hat mir gesagt, daß hier ein Camp sei. Ich bin gekommen, um die Motive Ihres Hierseins zu ergründen.« »Ich habe das gleiche Recht hierzusein wie Sie«, sagte Breece. »Vielleicht ein größeres.« »Das bestreite ich nicht«, sagte Milnor. »Ich möchte nur mitteilen, daß ich völlig unpolitisch bin und mich für nichts als meine Arbeit interessiere. Wenn Sie meine Anwesenheit hier als Belästigung empfinden, bin ich gern bereit, meine Operationsbasis zu verlegen, bis Sie fortgehen.« »Aber das wird nicht nötig sein«, erwiderte Breece in einer plötzlichen Aufwallung eines schlechten Gewissens. »Ich bin nicht streitsüchtig. Ich glaube, wir sind sogar Angehörige desselben Berufes.« »Das hatte ich gehofft«, sagte der Rinn. »Dennoch hielt ich es, ohne Sie damit beleidigen zu wollen, für das beste, sicherzustellen, daß dem so ist – obgleich wohl niemand außer einem Archäologen einen Grund haben könnte, sich hier aufzuhalten.« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Breece. »Ich könnte es mir hübsch vorstellen, hier zu leben.«
»Auf der Grundlage meines Wissens über den Menschen und unterstützt durch die Erkenntnisse, die ich auf der Erde gefunden habe, würde ich vermuten, daß Sie Sehnsucht nach der Gesellschaft Ihrer Artgenossen entwickeln.« »Den meisten Menschen würde es so gehen«, sagte Breece zustimmend. »Aber nicht Ihnen?« »Nein. Ich bin anders.« Der Mund des Rinn verzog sich zu dem, was einem Lächeln entsprechen mochte, und straffte sich dann plötzlich wieder. »Wenn Sie den Wunsch nach Einsamkeit haben…« »Ihre Gegenwart stört mich nicht, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen«, beruhigte Breece ihn. »Ich finde es sogar höchst anregend, mit einem Archäologen einer anderen Rasse Ideen auszutauschen.« »Ausgezeichnet«, antwortete Milnor, und er lächelte wieder. »Würde es Sie stören, wenn ich zunächst ein wenig Nahrung zu mir nähme? Mein Stoffwechsel ist so angelegt, daß ich fünf oder sechsmal täglich speisen muß.« »Ich frage mich, wie Sie dann noch Zeit für Ihre Arbeit finden können«, meinte Breece. »Ich schlafe nicht«, erklärte der Rinn. »Darf ich einen meiner Roboter herbeirufen?« »Selbstverständlich«, antwortete Breece, und einen Augenblick später näherte sich ein Roboter, der von dem Rinn kaum zu unterscheiden war, mit einem kleinen Container. »Es ist rein vegetarische Nahrung«, sagte Milnor. »Aber wenn Sie den Anblick meiner Nahrungsaufnahme als unangenehm empfinden sollten, will ich gern beiseite gehen.« »Das ist nicht nötig«, erwiderte Breece. Während Milnor ein paar Pflanzen und Gräser verspeiste, musterte sie den Roboter. »Das ist eine fabelhafte Maschine«, sagte sie schließlich. »Es ist erstaunlich, welche Fortschritte die Wissenschaft der Robotik in letzter Zeit gemacht hat.«
»In der Tat«, stimmte Milnor zu. »Und dabei war es eine Wissenschaft, die der Mensch begründet hatte. Warum eigentlich hat Ihre Rasse nur einen so minimalen Nutzen daraus gezogen?« »Wir haben es vorgezogen, Dinge selbst zu tun«, antwortete Breece. »Das ist wahr.« Milnor nickte. »Der Mensch hat niemals Pardon gegeben, aber er hat auch nie welchen verlangt. Eine faszinierende Rasse.« »Was hat Sie dazu veranlaßt, der Erforschung meiner Rasse soviel Zeit zu widmen?« fragte Breece. »So viele der intelligenten Rassen sind damit beschäftigt, blindlings Krieg gegen den Menschen zu führen, daß ich meinte, jemand solle einmal versuchen, Sie zu verstehen.« »Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl«, sagte Breece. »Und haben Sie etwas über uns gelernt, wodurch Sie uns besser haben verstehen können?« »Das ist eine schwierige Frage«, sagte Milnor. »Warum?« »Nun, je mehr ich über Ihre Rasse herausfinde, desto weniger vermag ich sie zu begreifen.« »Na, willkommen im Club.« Breece lachte bitter. »Vielleicht können Sie ja einige Punkte für mich erhellen«, sagte Milnor eifrig – zumindest sah er eifrig aus. Die Worte, die aus dem Translator kamen, waren ohne jede Gefühlsregung. »Ich will es versuchen«, meinte Breece. »Aber bitte seien Sie nicht enttäuscht, wenn ich mich als ebenso ratlos erweisen sollte, wie Sie es selbst sind.« »Nun, beispielsweise«, begann Milnor – und jetzt waren es nicht mehr Mensch und Alien, sondern zwei archäologische Profis, die über ihr Fachgebiet diskutierten –, »nur sehr wenige Rassen der Galaxis haben an Religionen geglaubt, obgleich viele das philosophische Konzept einer Gottheit akzeptieren. Aber der Mensch hatte nicht nur eine Religion, sondern
buchstäblich Hunderte. Viele davon haben sehr vernünftige ethische Codes und Direktiven herausgegeben, aus denen sich das Zivilrecht der Erde und später auch des Commonwealth zum größten Teil ableiten ließ. Zudem haben alle großen Gestalten der Religionen – angefangen bei Jesus und Buddha, bis fast zum Ende der menschlichen Geschichte – eine Doktrin von Liebe und Friedfertigkeit gepredigt.« »Sie vergessen Moses, der symbolisch das Schwert Gottes ergriff, um die Ägypter zu erschlagen.« »Aber nicht einmal Moses gestattete seinem Volk zu kämpfen«, entgegnete Milnor, »und Moses war es, der seiner Nation die Zehn Gebote gab. Meine Frage ist nun folgende: Bei solchen ethischen Codes und moralischen Führern, dazu bedroht von einer für die meisten Menschen sicher sehr realen Alternative von Höllenfeuer und ewiger Verdammnis, hätte der Mensch doch eigentlich sozial und moralisch zu einer der friedlichsten und ethischsten aller Rassen werden müssen. Doch dies ist offensichtlich nicht der Fall, einigen seltenen Beispielen des Gegenteils zum Trotz. Können Sie mir dafür vom Standpunkt des Menschen aus eine Erklärung geben?« »Als Archäologin kann ich das nicht«, antwortete Breece. »Aber vielleicht ist die Archäologie nicht die richtige Wissenschaft für die Beantwortung dieser Frage.« »Welche Wissenschaft wäre besser dazu geeignet?« fragte der Rinn. »Die Anthropologie vielleicht. Oder die Psychologie. Vielleicht sogar die Philosophie. Auf jeden Fall, glaube ich, liegt die Antwort in mehr als einem Punkt. Die Bedingungen auf der alten Erde waren so, daß der Mensch entweder physikalisch scheinbar unmögliche Fähigkeiten entwickeln mußte – beispielsweise die geometrische Vervielfältigung von Kraft und Geschwindigkeit – oder aber gezwungen war, sich zu einem intelligenten Lebewesen zu entwickeln. Ohne
vorherigen umweltbedingten Bedarf kommt keine Evolution zustande, und in diesem Falle gab es Bedarf für einen physischen Ausgleich, eine Methode, mit deren Hilfe der Mensch die Tiere töten konnte, die er für sein Überleben töten mußte. Dies führte zur Erfindung der Waffen. Manche, wahrscheinlich sogar die meisten Leute, behaupten, die gesamte menschliche Geschichte sei nur daraus gefolgt.« »Nicht unbedingt«, sagte Milnor. »Der Mensch ist nicht der einzige intelligente Fleischfresser in der Galaxis.« »Ja, das stimmt«, antwortete Breece. »Wie ich sagte, dies ist nur ein Teil der Antwort, nur einer der Einflüsse, denen die Rasse ausgesetzt war.« »Und was ist mit der Religion und mit den erhabenen philosophischen Systemen, die der Mensch entworfen hat?« fragte der Rinn. »Die Religion war eine emotionale Krücke und auch eine emotionale Waffe. Sie war eine Krücke insofern, als sie eine umfassende Erklärung für alles Unerklärbare bot, und eine Waffe insofern, als sie weitsichtigen Männern wie zum Beispiel Moses ermöglichte, sich auf die Autorität Gottes zu berufen, um die Menschen dazu zu bringen, ihre ethischen Systeme zu akzeptieren.« »Das verstehe ich«, sagte Milnor. »Aber wann kam es zu dem Zusammenbruch?« »Schwer zu sagen. Aber jedesmal, wenn der Mensch etwas Neues erreichte, beispielsweise die Luftfahrt, waren Vögel und Wolken nicht länger wunderbare Dinge für uns, und wieder war eine Seite der Bibel plötzlich nur noch schöne Literatur. Und was die ethischen Systeme betrifft, so kann ich Ihnen eigentlich keine Antwort geben. Als der Mensch in die Galaxis hinauszog, bekam er vielleicht das Gefühl, er sei größer als Gott, und folglich vergaß er den ethischen Imperativ, der ihm
gebot, die auf der Erde entstandenen und an die Erde gebundenen Gesetze zu befolgen.« »Aber diese Gesetze ignorierte der Mensch doch auch während eines Großteils seiner irdischen Existenz«, wandte Milnor ein. »Ich weiß«, sagte Breece. »Vielleicht waren die Gesetze für perfekte Wesen geschaffen, und der Mensch ist nicht perfekt. Wenn ich die Antworten hätte, wäre ich nicht mehr hier.« »Ich verstehe«, sagte Milnor. »Wenn Sie mir sagen könnten, für welche Periode Sie sich am meisten interessieren, könnte ich Ihnen vielleicht insofern helfen, als ich ihnen raten könnte, wo Sie mit Ihren Ausgrabungen beginnen sollten.« »Das ist sehr großzügig von Ihnen, Milnor«, sagte Breece. »Aber die Wahrheit ist, daß ich einfach nicht weiß, wo ich anfangen soll. Meine Rasse stirbt, sie fällt an allen Fronten zurück, sie verliert alles, was ihr einst lieb und teuer war. Ich will wissen, warum. Ich will wissen, was uns dazu gebracht hat, dies alles überhaupt zu tun. Ich will wissen, warum wir erfolgreich waren und weshalb wir gescheitert sind. Wenn Sie mir irgendwo in der Galaxis einen Punkt zeigen und sagen können: ›Graben Sie dort, und Sie werden finden, was es ist, das den Menschen zum Menschen macht‹, dann werde ich immer in Ihrer Schuld stehen. Aber ich glaube, das können Sie nicht. Oder doch?« »Leider kann ich es nicht«, antwortete Milnor. »Dann muß ich wohl auf meine eigene, planlose Weise weitersuchen.« Sie drehte das Gesicht in den milden Abendwind und atmete die kalte, saubere Luft. »Die Stelle, auf der wir jetzt stehen, war vielleicht einmal der Garten Eden. Ich frage mich, ob wir je erfahren werden, weshalb der Mensch ihn verlassen wollte. Er hat sich nicht aus dem Paradies fortgeschlichen, wissen Sie. Er ist stolz und aufrecht hinausgegangen. Ist das nicht sonderbar?«
»Sie sind nicht wie die meisten Menschen, die ich kenne«, sagte Milnor nach einer Weile nachdenklichen Schweigens. »Ein wenig von mir ist in allen Menschen, und ein wenig von allen ist in mir«, sagte Breece. »Ich will Wissen. Ist das nicht just der Charakterzug, der den Menschen auf den Weg führte, auf dem er dahin gelangte, wo er jetzt ist?« »War es wirklich der Drang nach Wissen?« fragte Milnor. »Oder war es die Gier nach Besitz?« »Ich weiß es nicht.« Breece hob die Schultern. »Und doch – obwohl ich mich vieler Dinge, die meine Rasse getan hat, schäme, empfinde ich doch Stolz angesichts ihrer Leistungen. Pioniere, Olympier, Kriegsherren – sie alle haben dem Schicksal getrotzt. Vielleicht haben sie sich auf Felder gewagt, auf denen sie nichts verloren hatten, vielleicht haben sie manchem auf die Zehen getreten und weit Schlimmeres verbrochen, aber sie haben gesiegt, und auf perverse Weise erfüllt es mich mit Stolz, zu ihnen zu gehören. Ich frage mich, ob ich mich damit versündige…« »Darauf kann ich nicht antworten«, sagte Milnor. »Aber erlauben Sie mir statt dessen, Ihnen eine letzte Frage zu stellen, und dann will ich Sie dem Schlaf überlassen, den Sie inzwischen zweifellos brauchen. Wenn man einräumt, daß alles, was Sie gesagt haben, mehr oder weniger zutreffend ist, wie kommt es dann, daß Sie Ihr Leben damit verbringen, eine Spezies zu studieren, von der wir beide zugeben müssen, daß sie sich im Dämmerlicht des Abends befindet? Was wird es Ihnen nutzen, die Tugenden des Menschen, seine Fehler und Schwächen zu kennen?« »Sie meinen, mir persönlich?« Der Rinn nickte. »Ich bin nicht sicher«, sagte Breece. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann tue ich es vielleicht, weil ich Ärger empfinde.« »Ärger?« fragte Milnor. »Weshalb?«
»Ärger über all die Menschen, die während des Zenits unserer Rasse lebten. Es gab eine Zeit, da gehörte uns alles, und wir ließen es fahren. Das heißt, sie ließen es fahren. Vielleicht bin ich verbittert, weil sie mein Geburtsrecht verspielt haben.« »Wirklich?« fragte Milnor. »Vielleicht«, sagte Breece. »Vielleicht ist es auch das Gefühl, das ich bekomme, wenn ich über die Serengeti hinblicke und sie sehe, wie sie der primitive Mensch vor Ewigkeiten gesehen haben muß – mit einem Unterschied: Seine Zukunft als Rasse lag vor ihm, meine liegt hinter mir. Ich glaube, es ist traurig, daß hier nie wieder etwas anderes wachsen wird als Gras. Keine Tiere, keine Vögel und keine Menschen.« »Um einen Ausdruck von Ihnen zu benutzen: Sie weinen um das Dahinscheiden Ihrer Rasse«, sagte der Rinn. »Trifft das zu?« »Nein«, antwortete Breece. »Erst will ich wissen, wie und warum es dazu kam und weshalb es unvermeidlich war. Dann werde ich entscheiden, ob deshalb ein paar Tränen zu vergießen sind oder nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Milnor, ich muß schlafen.« »Ich verstehe«, sagte der Rinn. »Aber wenn es Sie nicht beleidigt, möchte ich Ihnen gern ein Geschenk machen.« »Ein Geschenk?« »Ja«, sagte Milnor. »Es ist ein menschliches Artefakt.« Sogleich leuchtete ihr Gesicht interessiert auf. »Ich glaube«, fuhr der Rinn fort, »Sie brauchen es nur zu studieren, bis Sie es durch und durch kennen, und einige Ihrer Fragen werden beantwortet sein.« »Ich bezweifle, daß es ein Artefakt gibt, das so etwas leisten könnte«, meinte Breece. »Dieses hier kann es«, erwiderte Milnor. Er nahm seinen Beutel von der Schulter, schob eine seiner gedrungenen Hände
hinein, wühlte einen Moment lang darin herum und förderte dann das Artefakt zutage. Er polierte es sorgfältig mit einem weichen Tuch und reichte es ihr dann. Es war ein Spiegel.
24: Die Priester … In der Mitte des siebzehnten galaktischen Jahrtausends, als die Rasse des Menschen sich allerorten in Gefahr und Auflösung befand, wurde ein starkes Interesse an der Religion wiedergeboren; diese Inkarnation jedoch besaß nichts von dem Prunk der alten, auf der Erde entstandenen Religionen des Menschen. Sie war einfach, geradlinig und kannte nur wenige Dogmen – in Wahrheit mehr eine ethische Doktrin als eine Religion im etablierten Sinne des Wortes. Eines der ungelösten Geheimnisse im Zusammenhang mit dem Menschen ist die Frage, weshalb die Religion zu einer Zeit, da ihre Tröstungen doch heiß begehrt hätten sein müssen, nur für so kurze Zeit erblühte und nur so wenige Advokaten finden konnte… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
Es war ein schmutziges kleines Dorf, umgeben von zahllosen anderen schmutzigen kleinen Dörfern, die allesamt wie Leprageschwüre die Oberfläche von Raxar II bedeckten. Verfallene Steinbauten umsäumten, was einstmals ein städtischer Platz gewesen war, und in der Mitte des Platzes erhob sich ein staubbedeckter Springbrunnen, der schon seit Jahrzehnten nicht mehr funktionierte. Mihal hastete über den Platz, ohne nach rechts oder links zu schauen, und er versuchte, nicht an all den Schmutz zu denken, den er später von seinen Gewändern würde waschen müssen. In der Linken trug er ein paar Bücher, und die Rechte hielt ein
feinbesticktes, weißes Taschentuch, mit dem er sich ständig den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Er sehnte sich nach einer Zigarre oder einer Pfeife, nach irgend etwas, womit er seine Gedanken von der drückenden Hitze hätte ablenken können. Aber Tabak war seit einigen Jahren immer schwieriger aufzutreiben gewesen, und da sein Preis der Knappheit entsprechend gestiegen war, hatte er das Rauchen aufgegeben, nicht aber das Verlangen danach. Ein kleines Mädchen lugte hinter einem baufälligen Gebäude hervor, und er lächelte es an. »Kannst du mir sagen, wo ich Rodat finde?« fragte er. Mit ihrem schmutzigen Unterarm wischte sie sich die laufende Nase ab und deutete dann auf ein nahe gelegenes Haus. Bevor sie wieder verschwand, dankte er ihr und ging dann auf das Haus zu. Er suchte nach einer Tür, an die er hätte klopfen können, doch als er keine finden konnte, zuckte er die Achseln und trat durch die offene Höhlung ins Haus. »Hallo«, rief er. »Ist jemand daheim?« »Hier drinnen«, antwortete eine rauhe Stimme. Er folgte ihr und sah sich kurz darauf in einem kleinen Zimmer. Insekten summten durch die Löcher, die einmal Fenster gewesen waren, ein und aus, und die Hitze, die hier herrschte, war noch unerträglicher, falls das überhaupt möglich war. Auf dem Fußboden, auf einer über die Maßen schmierigen Decke, lag ein alter, ausgemergelter, bärtiger Mann, den Mihal auf zirka achtzig Jahre schätzte. »Ich bin Per Mihal«, sagte Mihal und versuchte, seinen Blick vom nackten Körper des Alten abzuwenden. »Ein Neuer, he?« sagte der Alte. »Was ist aus Per Lomil geworden?« »Er wurde nach Spica II versetzt«, antwortete Mihal, und im Geiste fügte er hinzu: der Glückspilz! »Und Per Degos?« »Tot«, sagte Mihal. »Sie sind Rodat?«
Der Mann nickte nur, denn jetzt schüttelte ihn ein plötzlicher Hustenanfall. »Dies ist mein erster Tag auf Raxar II«, erklärte Mihal, als der Mann ermattet auf die Decke zurücksank, »aber ich werde eine ganze Weile hier sein. Man sagte mir, daß…« Er brach ab und suchte nach einer taktvollen Formulierung. »Daß ich im Sterben liege?« fragte Rodat. »Nun, man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, Priester. Was kann ich für Sie tun?« »Für mich?« wiederholte Mihal verblüfft. »Ich bin hier, um Ihnen Ihr Leiden zu lindern, Ihnen Frieden und Trost in… in Ihren letzten Stunden zu bringen.« »Ich werde noch drei oder vier Tage überstehen, Priester«, entgegnete Rodat. »Hetzen Sie mich nicht, wenn ich noch nicht bereit bin.« »Es ist schon gut«, sagte Mihal und setzte sich neben dem Alten auf den Boden. »Ich werde bei Ihnen bleiben bis zum Ende.« »Wollen mich gründlich verabschieden, wie?« »Sagen wir, ich helfe Ihnen, sich darauf vorzubereiten, an den Busen Ihres Schöpfers zurückzukehren«, entgegnete Mihal. »Der soll warten, bis ich soweit bin«, sagte der Alte. »Ich hab’s nicht eilig.« »Ich will nicht anmaßend klingen«, sagte Mihal, »aber ich muß sagen, ich finde Ihre Haltung nicht richtig. Sie sprechen von Gott und nicht von irgendeinem Hauswirt, den man mit verächtlicher Miene abtun kann. Er ist der Schöpfer aller Dinge, und Er schickt sich an, Sie in sein Königreich zu holen.« Der alte Mann starrte ihn einen Moment lang an, und dann wandte er sich ab und spuckte auf den rissigen Boden. »Priester«, sagte er schließlich, »du mußt noch viel lernen. Ich
glaube an denselben Gott wie du, und ich glaube hingebungsvoller an Ihn als du.« »Dann bitten Sie Ihn um Verzeihung, und Er wird sie Ihnen gewähren«, sagte Mihal. »Verzeihung?« fragte Rodat. »Wofür?« »Für die Verstöße des Menschen gegen Gottes Gesetz«, antwortete Mihal. »Glauben Sie das alles, oder können Sie es auswendig herunterleiern?« erkundigte sich der Alte. »Ich muß doch um Verzeihung bitten!« sagte Mihal empört. »Tun Sie das nicht«, erwiderte Rodat. »Wenn ich zurechtkomme, ohne Gott um Verzeihung zu bitten, brauchen Sie sich auch nicht bei mir zu entschuldigen. Vielleicht sollten Sie mich einfach in Ruhe lassen und Ihre Religion anderswo verhökern.« »Ich bin kein Höker«, entgegnete Mihal hitzig. »Ob Sie an die Religion glauben oder nicht, hat absolut keine Bedeutung für ihre Wahrheit. Wenn alle Menschen, die je gelebt haben, niemals an Gott geglaubt hätten, wäre dann Seine Existenz weniger real?« »Verwechseln Sie Gott nicht mit Religion, Priester. Gott hat es immer gegeben, aber die Religionen kommen und gehen mit den Jahreszeiten.« Mihal beugte sich vor und wischte dem Alten den Schweiß von der Stirn. »Sie glühen vom Fieber«, sagte er. »Kann ich etwas tun, um es Ihnen bequemer zu machen?« »Wenn Sie den Mund halten wollten, wäre das ein guter Anfang«, versetzte Rodat. »Was haben Sie gegen mich?« fragte Mihal. »Ich will Ihnen doch nur helfen.« »Sie können mir helfen, indem Sie mich allein lassen. Ich lasse Ihnen rechtzeitig Bescheid sagen, so daß Sie für den Fangschuß wieder hier sein können.«
Der Alte schloß die Augen und lag ein paar Minuten lang reglos da. Mihal öffnete eines seiner Bücher und begann laut zu lesen. Es war ein Bußgebet. »Ich hoffe, Sie tun das für Ihr eigenes Wohl«, sagte der alte Mann und klappte die Augen auf. »Von mir aus halten Sie mich wach, aber ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, daß Sie Gott für mich um Verzeihung bitten.« »Sie werden vielleicht wirklich verdammt sein, wenn ich es nicht tue«, sagte Mihal. »Bitte lassen Sie mich Ihnen auf die einzige Weise helfen, die ich kenne. Ihnen ist Ihre Seele vielleicht gleichgültig, aber für mich ist sie von größter Bedeutung.« »Wieso?« schnarrte der Alte. »Ihre ist mir doch auch schnuppe.« »Aber ich bin Priester geworden, um den Menschen zu dienen«, sagte Mihal. »Das ist mein einziges Ziel im Leben, und meine größte Freude dazu.« »Dann habe ich mit Ihnen noch mehr Mitleid als Sie mit mir.« Wieder schloß er die Augen, und bald ging sein Atem zwar schwach, aber regelmäßig. Per Mihal seufzte. Es erschien so unnütz, hier bei einem Manne zu sitzen, der nichts von dem haben wollte, was er zu bieten hatte, aber das nahm dem Angebot nichts von seiner Bedeutung. Während er dasaß und den Sterbenden anstarrte, fragte er sich, weshalb die Religion solche Schwierigkeiten hatte, sich nach einer Lücke von sechstausend Jahren wieder zu etablieren. Damals war sie gestorben, weil sie begonnen hatte, Dogma über Dogma aufzustellen, bis die Dogmen wie eine Pyramide in den Himmel gewachsen waren. Und als der Mensch lernte, unter dem Meer und in der Luft zu leben, als er erst seine Umwelt und dann sein Schicksal beherrschte, waren die Dogmen, eines nach dem anderen, am Wegesrand liegengeblieben. Die fundamentalen Gesetze der Religion
begannen zu verwittern, und als der Mensch schließlich die Sterne erreichte und Akte vollzog, die bis dahin Gott vorbehalten waren, war dies das vorläufige Ende der Religion. Aber Religion war mehr als nur eine Serie von Dogmen und Ritualen. Sie war ein Mittel, die Unterdrückten mit dem Tag des Jüngsten Gerichts zu trösten, an welchem alles Unrecht gerichtet, an dem die Letzten die Ersten sein würden. Als der Mensch die Galaxis beherrschte, brauchte er diesen Trost nicht, aber jetzt war er wieder unter den Letzten. Aber diesmal, überlegte Mihal, schnappte der Mensch nicht mehr so bereitwillig nach dem Köder. Er war bereit, Gott zu verehren, aber nicht nach dessen Bedingungen, sondern nach seinen eigenen. In seinem kurzen Leben hatte Mihal schon vieles gesehen: Armut, Lust, Gier, Stolz, Wut, Resignation, Vornehmheit. Das einzige, was er, außerhalb der Klostermauern, hinter denen er seine Ausbildung genossen hatte, nicht gesehen hatte, war ein einzelner Mensch, der das Bedürfnis oder das Verlangen verspürt hätte, Gott um Vergebung für das zu bitten, was die Rasse getan hatte. Liebe, Frömmigkeit und Anbetung gehörten zum geistlichen Repertoir des Menschen, die Bitte um Verzeihung anscheinend nicht. Aber war er deshalb weniger würdig, gerettet zu werden? Der Mensch war schließlich, was er war: ein Tier, das seiner Natur stets treu bleiben würde. Und da Gott ihn mit dieser Natur ausgestattet hatte, mußte sie auch einen Sinn haben. Und was Gott geschaffen und mit Sinn versehen hatte, mußte er lieben. Mihal verachtete den Elfenbeinturm, aber er war nichtsdestoweniger ein Idealist, und seine Aufgabe war es, Gottes getretenen Kindern Trost zu bringen. Die Tatsache, daß sie auf diesen Trost nicht sonderlich versessen waren, machte die Aufgabe nur um so reizvoller. Ein Geräusch hinter ihm riß ihn aus seinen Gedanken, und als er sich umdrehte, sah er ein Mädchen von sechzehn oder
siebzehn Jahren im Eingang stehen. Sie trug einen Korb in der Hand. »Ist er schon tot?« fragte sie. »Mein Gott, welch eine gefühllose Frage!« sagte Mihal. »Eine praktische Frage. Ich habe ihm etwas zu essen gebracht. Es hat keinen Sinn, es hierzulassen, wenn er tot ist. Wir haben so schon kaum genug.« »Ich verstehe«, sagte Mihal, und er fragte sich, ob er sich entschuldigen sollte, aber dann beschloß er, es bleiben zu lassen. »Er schläft nur.« Sie stellte den Korb neben dem alten Mann auf den Boden. »Ich heiße Pilar«, sagte sie. »Er ist mein Onkel.« »Ich bin Per Mihal«, sagte Mihal und streckte die Hand aus. »Oh. Der neue Priester?« Er nickte. »Sind Sie schon lange hier?« »Ich bin heute morgen angekommen. Den größten Teil des Tages habe ich damit verbracht, mich zu fragen, wie Sie die Lebensbedingungen hier ertragen können.« »Niemand hat uns gesagt, daß wir eine Wahl hätten«, erwiderte Pilar. »Hätten Sie Lust zu einem kleinen Spaziergang, während Rodat anscheinend ruhig Schläft?« fragte Mihal. »Ich habe noch nicht viel vom Dorf gesehen.« »Gut«, antwortete sie. »Aber viel zu sehen gibt es nicht.« Sie gingen hinaus, und Mihal fühlte, wie die riesige Sonne wieder auf ihn herniederbrannte. Er war erschüttert von der Armut, die ihn allenthalben umgab. Sogar für ein Ghetto war es schlimm. Er fragte sich, was eine Alienrasse, die hier in ferner Zukunft einmal Spuren des Menschen finden mochte, davon halten würde. Würden sie noch erkennen, daß diese
elenden Kreaturen einst die Galaxis beherrscht hatten? Er bezweifelte es. »Wie lange werden Sie bei uns bleiben, Per Mihal?« fragte Pilar, während sie zwischen verfallenen Gebäuden umherspazierten. »Bis man mich versetzt«, antwortete er. »Vielleicht eine Woche, vielleicht mein ganzes Leben lang.« »Nun, über zuwenig Arbeit werden Sie sich nicht beklagen können«, meinte sie. »Ich wünschte, ich könnte es doch«, erwiderte er. »Was?« »Ich glaube, Priester sind wie Ärzte«, erklärte er. »Nichts würde uns glücklicher machen als ein Mangel an Patienten.« »So etwas müssen Sie heutzutage kaum befürchten. Unser Imperium ist dahin, unsere Vorherrschaft nur noch eine dunkle Erinnerung. Auf manchen Welten jagt man uns wie Tiere, auf anderen werden wir in Ghettos gesperrt. Solange sich diese Lage nicht bessert, können Sie Ihren Laden offenhalten.« »Wir ernähren uns nicht vom Elend«, entgegnete Mihal sanft. »Wir bekämpfen es.« »Sie würden aber ziemlich albern aussehen, wenn sie gegen die Luft kämpfen wollten, oder?« Pilar lachte. »Sie wären wie eine Flotte ohne Gegner. Es sind Leute wie wir, die dafür sorgen, daß Leute wie Sie im Geschäft bleiben.« »Glauben Sie mir, Pilar«, sagte er, »nichts würde mich glücklicher machen als das Ende aller Armut und allen Elends.« »Und was würden Sie dann mit Ihrer ganzen Zeit anfangen?« »Ich würde sie damit verbringen, Gott wegen Seiner Güte zu preisen«, erklärte Mihal inbrünstig. »Ehrlich? Verbringen Sie Ihre Zeit denn jetzt damit, Ihn zu verdammen, weil Er uns verlassen hat?« »Natürlich nicht!« erwiderte Mihal. »Ich bitte Ihn um Vergebung für die Sünden, die wir in unserer langen und
blutigen Geschichte begangen haben und für die wir nun leiden müssen.« »Oh«, sagte Pilar. »Halten Sie das nicht für richtig?« »Ich bin kein Priester, und ich verstehe nicht viel von Religion«, sagte sie, »aber ich an Ihrer Stelle würde Ihn bitten, Seine Finger aus unseren Angelegenheiten zu nehmen und uns wieder an die Spitze klettern zu lassen, wenn wir das tun können.« »Es beunruhigt mich, daß man viele Menschen findet, die so denken«, sagte Mihal. »Wenn Sie Gottes Existenz anerkennen, dann müßten Sie doch…« »Oh, ich glaube an Gott«, unterbrach Pilar. »Aber mein Glaube an den Menschen ist stärker.« »Ist das nicht ein wenig inkonsequent?« fragte Mihal sanft. »Sehen Sie sich doch um, Per Mihal.« Mit einer weiten Gebärde umfaßte Pilar die staubbedeckten Straßen und die verfallenen Häuser. »Das ist Gottes Werk. Und dann betrachten Sie Deluros. Oder Caliban. Oder die Erde. Der Mensch hat sie gebaut.« »Der Mensch hat sie gebaut, ja«, stimmte Mihal zu. »Aber nur durch die Gnade Gottes. Nur Gott kann eine Welt erschaffen.« »Mag sein«, sagte Pilar, »aber nur der Mensch kann sie nutzbar machen. Ich betrachte es als eine Art Partnerschaft. Gott stellt uns etwas zur Verfügung, und wir machen etwas daraus. Aber seit einer Weile kommt nicht mehr sehr viel von Gott.« »Dann müssen wir Ihn um Vergebung dafür bitten, daß wir Ihn beleidigt haben«, meinte Mihal. »Ich achte Gott zu sehr, als daß ich Ihn anlügen würde, und ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, ich bedauerte etwas, was der Mensch getan hat. Es heißt, die Religion sei eine spirituelle Krücke, Per Mihal. Wenn sie uns aber zwingt, zu
lügen und zu kriechen, dann dient sie nicht als Krücke, sondern dann bringt sie uns dazu, daß wir uns selbst die Beine amputieren, um uns Gottes Sympathie einzuhandeln. Welcher Gott aber würde sich so zum Narren halten lassen?« »Niemand will, daß Sie lügen, Pilar«, erwiderte Mihal. »Die Religion versucht nur, Ihnen Ihr Verhältnis zu Gott bewußt zu machen. Wenn Sie dieses Verhältnis erst verstanden haben, wird es keine Lüge mehr sein, wenn Sie Ihn um Vergebung bitten.« »Empfinden Sie denn nicht ein gewisses Maß an Stolz auf das, was wir getan haben?« fragte Pilar. »In seiner Zeit ist der Mensch über eine Million fremder Welten gewandert, und er hat die Natur nach seinem Willen verformt. Er hat der Galaxis Gestalt, Zusammenhang und Sinn gegeben. Weshalb sollte ich mich dessen schämen?« »Sehen Sie doch nur, wohin es uns geführt hat!« »Nächstes Mal werden wir es besser machen.« Mihal zuckte die Achseln. »Ich glaube, wir sollten jetzt zurückkehren. Wir waren jetzt fast vierzig Minuten lang fort.« Sie gingen zu Rodat zurück und hielten während des restlichen Tages abwechselnd an seiner Seite Wache. Als der Abend anbrach, wurde sein Atem unregelmäßig, und sein linker Arm begann krampfhaft zu zucken. Schließlich öffnete er die Augen. »Immer noch hier, Priester?« »Ich habe nicht vor, Sie zu verlassen«, antwortete Mihal feierlich. Der Alte murmelte etwas Unverständliches, aber es klang nicht wie ein Kompliment. Plötzlich straffte sich sein Körper, als habe ein furchtbarer Schmerz ihn durchzuckt. Mihal ergriff seine Hand. »Haben Sie Mut«, sagte er leise, als Rodat sich allmählich wieder entspannte. »Sie auch«, sagte der Alte. »Und Kraft.« »Ich? Warum?«
»Priester, du wirst es nötig haben.« Für eine Weile schwieg Mihal. Dann begann er wieder aus seinem Gebetbuch vorzulesen, aber Rodat befahl ihm, den Mund zu halten, und starrte unerschrocken hinaus in die Dunkelheit, ohne mit der Wimper zu zucken und mit zusammengebissenen Zähnen, bereit, seinem Schöpfer selbstbewußt entgegenzutreten. Mihal klappte das Buch zu und seufzte. Er fühlte plötzlich die schreckliche Befürchtung, daß er den Rest seines Lebens damit verbringen könnte, toleriert zu werden. »Ich glaube, du hast recht, alter Mann«, sagte er schließlich. »Eh?« »Ich glaube, es wird ein langer Dienst werden.«
25: Die Pazifisten (In Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen findet sich keine Erwähnung der Pazifisten.)
Der große Raum füllte sich nach und nach. Hier saß ein Canphorit, groß, schlank und würdevoll, dort hockte ein Emraner, mit schwellenden Muskeln, voller Unbehagen hin und her rutschend, und jetzt kamen die Botschafter von Lodin XI, Castor V und Procyon III durch die Tür, und sie waren einander so unähnlich, wie es intelligente Wesen nur sein konnten. In der Mitte zwischen all diesen farbenfroh gekleideten Wesen, die hier aus allen Himmelsrichtungen der Galaxis zusammengekommen waren, standen zwei Menschen. »Sieht nach einem ganz guten Ergebnis aus«, sagte Lipas, der kleinere der beiden. »Es ist besser, als ich gehofft hatte«, antwortete Thome. »Vielleicht kommen wir mit heiler Haut davon.« Ein Teroni kam auf sie zu. Sein Gesicht war von Chlorgas in seinem
Schutzhelm verschleiert. »Wo bleibt Ihre Delegation?« fragte er. »Sie kommt schon, keine Angst«, antwortete Thome auf Galaktik-O. »Das will ich hoffen«, erwiderte der Teroni; er wandte sich ab und ging zu einer Gruppe anderer Chloratmer. »Ich frage mich, wo sie tatsächlich bleiben«, sagte Lipas leise. »Viel länger werden wir sie nicht mehr hinhalten können.« »Sie haben erst eine halbe Stunde Verspätung«, meinte Thome zuversichtlich. »Außerdem ist ein Drittel der Aliens auch noch nicht hier.« »Aber die sind nicht so wichtig für die Konferenz«, wandte Lipas ein. »Wir sind es.« Das war in der Tat die Crux der Angelegenheit. Der Mensch stand diesmal im Mittelpunkt der Konferenz. Jede andere Rasse, ja, jede Gruppe von Rassen, war im Grunde nichts als Staffage. Der Mensch hatte im vergangenen Jahrhundert harte Zeiten durchgemacht, hart sogar im Vergleich mit denen zu Beginn des Jahrtausends. Von damals viertausend Welten waren ihm weniger als fünfhundert geblieben. Seine Militärmacht, die sich in der Blütezeit der Oligarchie und der frühen Monarchie nicht einmal hatte berechnen lassen, war jetzt aktenkundig: 53305 Schlachtschiffe, ein stehendes Heer von weniger als einer Milliarde Soldaten und rund siebzehn Milliarden Handfeuerwaffen. Es waren noch immer gewaltige Zahlen, aber nur wenige der in diesem Raum versammelten Rassen hatten Anlaß, den Menschen deshalb zu beneiden. Die meisten verfügten über eine weit größere Schlagkraft und unvergleichlich bessere Kommunikationssysteme. Die Wirtschaft des Menschen hatte noch mehr gelitten als seine militärische Macht. Von seinen 489 Welten wanden sich 368 in den Krämpfen einer schweren Depression, und die meisten der übrigen kämpften auf aussichtslosem Posten gegen eine galoppierende Inflation. Zur Erhaltung der Planetoiden
von Deluros VI hatten die finanziellen Mittel gefehlt, und so hatte man sie schließlich ausgeschlachtet und an wissenschaftliche Institute der Aliens verkauft. An allen Fronten näherte sich der Stern des Menschen mit rasender Geschwindigkeit seinem Tiefpunkt. Vereinzelte antimenschliche Pogrome waren zu Vernichtungskriegen im großen Stil geworden, Wirtschaftssanktionen hatten sich zu galaxisweiten Boykotts ausgewachsen, und die Alienrassen hatten Verträge mit einer Regelmäßigkeit, wie sie früher einmal dem Menschen eigen gewesen war, geschlossen und wieder gebrochen. Der Mensch reagierte mit Täuschung, Arglist und Druck in einem Maße, von dem er sich den größten Erfolg versprach, aber die Aliens waren jahrtausendelang bei einem Meister in die Schule gegangen, und sie hatten ihre Lektionen gelernt. Also griff der Mensch zur Gewalt. Die Hälfte seiner mageren Flotte ging in einer einzigen kurzen Schlacht in der Region von Praesepe VI verloren. Der Planet Aristoteles wurde gänzlich in Stücke gesprengt. Innerhalb von weniger als einer Woche wurden alle Welten des Spica-Systems von den Aliens erobert, eine nach der anderen. Zerfetzt und taumelnd, blutend, aber ungebeugt, kämpfte der Mensch weiter. Das heißt, die meisten Menschen kämpften weiter. Aber es gab auch einige wenige, unter ihnen Thome, die keinen Sinn mehr darin sahen, Niederlage auf Niederlage, Demütigung über Demütigung, hinzunehmen. Er predigte nicht die Kapitulation, denn ein Mensch kapitulierte nicht, auch nicht Thome. Aber er trat dafür ein, sich mit den anderen Rassen der Galaxis auf politischem Wege zu einigen, und schon bald war seine Gefolgschaft so groß geworden, daß er sich zur Gründung einer Partei ermutigt fühlte. Die Partei kandidierte bei Wahlen auf Sirius V, Delta Scuti II und Terra… und sie
verlor jedesmal. Nach einer angemessenen Pause kandidierten seine Anhänger noch einmal und verloren wieder. Entschlossen, der Menschheit zu beweisen, daß Pazifismus eine gangbare Alternative zu einer bitteren Serie von Kriegen sei, die nur mit der Ausrottung der ganzen Rasse würden enden können, überging er die Gremien seiner Regierung und wandte sich direkt an die Aliens. Wenn er eine Konferenz aller Rassen der Galaxis, den Menschen eingeschlossen, arrangieren könnte, würden sie daran teilnehmen? Die Aliens saßen an den Schalthebeln der Macht, und sie wußten es. Nur wenn bestimmte Bedingungen erfüllt würden, gaben sie zur Antwort, würden sie an einer solchen Konferenz teilnehmen. Was für Bedingungen? Alle Delegierten würden mit Translatoren sprechen. Nicht mit modifizierten Terranisch-Translatoren, sondern mit Galaktik-Translatoren. Thome war einverstanden. Die Konferenz würde auf Doradus IV stattfinden – eingedenk der ersten Rasse, die der Mensch weltweit ausgerottet hatte, aus Gleichgültigkeit eher denn aus Bosheit. Thome war einverstanden. Die Delegation der Menschen müsse autorisiert sein, für die gesamte Rasse zu sprechen. Sie hätten genug Erfahrungen damit, einen Vertrag mit einer Gruppe von Repräsentanten zu unterzeichnen und dann zu hören, daß andere Menschen einfach bestritten, daß irgend jemand für ihre spezifischen Interessen gesprochen habe. Thome war einverstanden. Die Rasse des Menschen müsse vor der Konferenz die Waffen restlos niederlegen.
Thome erklärte immer wieder, daß er weder den Einfluß noch die Macht besitze, die Menschheit zum Niederlegen ihrer Waffen zu veranlassen. Dies sei schließlich eines der erhofften Ziele der Konferenz. Er könne jedoch dafür garantieren, daß kein Mensch unter Waffen an der Konferenz teilnehmen werde. Nach einigem Zögern erklärten sich die Aliens einverstanden. Es gab, den Menschen eingeschlossen, 13.042 intelligente Rassen in der Galaxis. Einige davon, wie die Insektoiden von Procyon II, die sich für die Angelegenheiten anderer Rassen nicht interessierten, oder die Ichthyoiden von Gamma Leporis IV, die keinen Groll gegen den Menschen hegten, wurden nicht eingeladen. Aber von den 11.039 Rassen, die eingeladen wurden, Delegationen zu entsenden, sagten 9.844 zu. Selbst so eigenartige und exotische Wesen wie die Vasoriten, die ihr ganzes Leben damit zubrachten, auf unglaublich langen, unermüdlichen Beinen ihrer kleinen roten Sonne über den Horizont zu folgen, versprachen teilzunehmen. Im Grunde hatte Thome viel größere Schwierigkeiten, die Menschheit zur Teilnahme zu überreden, als es bei den Aliens der Fall gewesen war. Der Mensch war schließlich der Anlaß für die Konferenz. Man würde von ihm erwarten, daß er die Waffen niederlegte, daß er territoriale Zugeständnisse machte, daß er wirtschaftlichen Tribut entrichtete, und dies alles gefiel ihm nicht. Thome stellte unablässig die einzige Alternative dagegen – den Tod der Rasse – und schließlich, nach langem Zögern, erklärten sich die Führer der lose zusammenhängenden Interstellaren Union des Menschen, einer konservativen Regierung, die mehr durch Konsens als durch eine tatsächliche Manifestation echter politischer Macht herrschte, einverstanden. Es hatte zahlreiche Anmerkungen gegeben. Die Aliens waren davon in Kenntnis zu setzen, daß die Anwesenheit des
Menschen nicht als eine Form von Schwäche oder Kapitulation zu verstehen sei, sondern lediglich als Bereitschaft, die Situation am Konferenztisch und nicht auf dem Schlachtfeld weiterzubesprechen. Die Aliens sollten sich der Tatsache bewußt sein, daß der Mensch trotz des kläglichen Zustands seiner Bewaffnung nicht beabsichtige, seine Rasse völlig schutzlos zu machen. Die Aliens müßten wissen, daß die Verwendung von Galaktik-Translatoren ein vorläufiges Entgegenkommen, nicht aber eine ständige Abkehr von traditionsreichen menschlichen Gepflogenheiten sei. Die Aliens müßten dieses wissen, jenes tun, in dem und dem Punkte nachgeben… Thome bereinigte so viele Mißhelligkeiten, wie er konnte, und kehrte dann mit einer Liste derjenigen Forderungen, die nicht zur Disposition standen, zu den Aliens zurück. Die Aliens erklärten sich mit einer Reihe davon einverstanden und brachten die Menschen schließlich dazu, auf die restlichen zu verzichten. Es hatte fast drei Jahre gedauert, die Konferenz vorzubereiten, Jahre, in denen der Mensch sieben weitere Welten verloren hatte, Jahre, in denen Thome fast täglich daran zweifelte, daß sein Projekt jemals von Erfolg gekrönt sein würde, aber dann endlich war der vereinbarte Moment gekommen. Er schaute umher, lächelte den humanoiden Delegierten von Emra zu, nickte, als ein Bewohner von Torqual vorüberging, und verneigte sich tief vor einem Kristallgeschöpf vom fernen Atria. »Es wird klappen«, flüsterte er seinem Begleiter aufgeregt zu. »Ich spüre es in meinen Knochen. Sieh sie doch an, Lipas. Sie sind nicht auf Blut aus. Sie wollen das Töten genauso beenden wie wir.« Lipas ließ seinen Blick durch den Raum wandern. »Möglich«, gab er zu. »Ich habe einem dieser Wesen von Leptimus V die Hand gegeben, und es hat nicht einmal
gezuckt. Noch vor zwei Jahren wäre es dorthin gerannt, wo unsereins ein Badezimmer hätte, um seine von der menschlichen Berührung besudelten Hände zu waschen.« Ein dreibeiniger Pnathier kam schwerfällig zu Thome herüber. An seinem Helm hing ein ungeheuer komplexes Arrangement von Translatoren. »Ich bin jetzt seit fast einem halben Tag hier«, sagte er. »Wann soll die Konferenz beginnen?« »Nahezu achtzig Rassen fehlen noch«, antwortete Thome. »Sobald sie alle da sind, werden wir die Sitzung eröffnen, Botschafter.« »Und was ist mit Ihrer Delegation?« erkundigte sich der Pnathier. »Ist sie schon hier?« »Nein«, sagte Thome, »sie ist unter den Delegationen, die wir noch erwarten.« Der Pnathier starrte ihn einen Moment lang an und gesellte sich dann zu einem Lodiniten, der in der Nähe stand. Weitere zwei Stunden später fehlten nur noch vierzehn Rassen, und Lerollion von Canphor VII, dem ersten der Canphor-Zwillinge, kam auf Thome zu. »Wo bleibt Ihre Delegation?« fragte er, und selbst sein Translator schien vor Ärger zu vibrieren. »Sie wird schon kommen«, antwortete Thome. »Sie hat schließlich die halbe Galaxis zu durchqueren. Ich glaube nicht, daß man ein paar Stunden Verspätung als Vertrauensbruch interpretieren kann.« »Dennoch können wir die Konferenz nicht länger aufschieben«, sagte Lerollion. »Wissen Sie einen Grund, weshalb wir nicht ohne Ihre Delegation beginnen sollten?« »Unbedingt«, erwiderte Thome. »Meine Delegation ist der einzige Anlaß für unser heutiges Zusammentreffen.« »Gleichviel«, sagte Lerollion. »Es ist Zeit anzufangen.« Der Canphorit trat an das Rednerpult, schaltete den Verstärker ein
und bat die Delegierten, ihre Plätze einzunehmen. »Delegierte«, sagte er dann. »Ich, Lerollion von Canphor VII, eröffne hiermit diese Konferenz. Der Protokollführer wird die Anwesenheitsliste verlesen.« Der Protokollführer, ein untersetztes kleines Geschöpf von Robel, verlas die Namen der einzelnen Welten, vom heißen, staubigen Aldebaran II bis Zeta Piscium IX. Nur sechs Delegationen fehlten noch. »Ich hatte eine Eröffnungsrede geschrieben«, sagte Lerollion, »eine Rede von Freundschaft und Versöhnung. Ohne den versammelten Delegierten zu nahe treten zu wollen, habe ich diese Rede nicht an Ihre Adresse gerichtet, denn Sie alle sind ja unsere Freunde, wie Sie wohl wissen. Die Rede war gerichtet an eine bestimmte Rasse von Lebewesen« – er legte eine Pause ein, um Thome einen langen, feindseligen Blick zuzuwerfen –, »an eine Rasse, von der ich vielleicht zuviel erwartet hatte. Dennoch«, fuhr er fort, »wenn ich denn enttäuscht werden sollte, liegt die Schuld unzweifelhaft bei mir, denn nichts in der Geschichte dieser Rasse hat mir einen Hinweis darauf geben können, daß sie die Worte, die ich vorbereitet hatte, würde hören, anerkennen oder gar sich zu Herzen nehmen wollen. Es ist eine Rasse von Barbaren, eine Rasse, die hier die letzte Chance erhalten soll, der Gemeinschaft unserer friedlichen Welten beizutreten. Ich weiß nicht, warum diese Rasse unter solchen Umständen nicht die erste war, die hier ankam. Ich weiß nicht, warum sie auch jetzt noch nicht da ist. Aber ich weiß, was das unausweichliche Ergebnis sein wird, wenn diese Rasse uns auch dieses letzte Mal beleidigen sollte.« Er machte eine Pause. »Ich sehe, daß Thome von der Rasse Mensch um das Wort bittet. Er möge sprechen.« Der Canphorit setzte sich, und Thome trat ans Rednerpult. »Ich weiß sehr wohl, daß das Bedauern und die Ungeduld, die Lerollion zum Ausdruck gebracht hat, von vielen der Anwesenden geteilt werden«, sagte er. »Das ist
verständlich und nur allzu gerechtfertigt. Die Rasse des Menschen hat in der Tat den größten Teil ihres heutigen Leids selbst über sich gebracht, und zwar durch ihre eigenen Taten im Laufe von mehreren Jahrtausenden galaktischer Herrschaft und Mißherrschaft. Aber aus eben diesem Grunde wurde ja die Konferenz einberufen. Wir kommen zu Ihnen mit neuen Einsichten, neuer Demut, neuen…« »Sie kommen überhaupt nicht!« unterbrach ein Emraner. »Wo ist Ihre Delegation?« verlangte ein Domarianer zu wissen. »Sie wird kommen, das versichere ich Ihnen«, sagte Thome. »Sie mögen uns Fehler und Schwächen vorhalten, soviel Sie wollen, aber ein gewisses Maß an Intelligenz und Selbsterhaltungsfähigkeit werden Sie uns sicher nicht absprechen wollen. Meine Delegation wird kommen, weil es keine gangbare Alternative für sie gibt.« »Da haben Sie allerdings recht«, rief ein Castorianer. »Eine gangbare Alternative haben Sie nicht.« »Dann lassen Sie uns in einem Geiste der Brüderlichkeit fortfahren«, sagte Thome. »Ich wollte Sie nur unserer Aufrichtigkeit versichern. Ich übergebe das Wort wieder an Lerollion von Canphor VII.« Er ging zurück zu den leeren Plätzen, die seiner Delegation vorbehalten waren, und setzte sich neben Lipas. »Hast du schon etwas gehört?« fragte er nervös. Lipas schüttelte den Kopf. »Na, verdammt, allmählich könnten sie wirklich kommen!« fauchte Thome. »Hast du schon einmal daran gedacht, daß Lerollion recht haben könnte? Daß sie vielleicht gar nicht kommen?« »Sie müssen«, beharrte Thome hartnäckig. »Wenn sie hier nicht erscheinen, ist alles zu Ende.«
Nacheinander ergriffen die Alien-Delegationen das Wort. Einige der Reden waren versöhnlich, andere unverbindlich und wieder andere von offener Feindseligkeit. Stundenlang ging es so, und Thome wartete auf seine Delegation. Als es dunkel wurde, ergriff Lerollion noch einmal das Wort. »Einige der hier versammelten Rassen werden sich bald zurückziehen müssen, um zu schlafen oder um Nahrung zu sich zu nehmen«, sagte er. »Wenn jedoch Thome von der Rasse Mensch bei seiner Zusicherung bleibt, daß seine Delegation kommen werde, dann bin ich bereit, auf sie zu warten.« »Ich weiß nicht, wodurch sie aufgehalten werden«, sagte Thome, »aber ich weiß, daß sie kommen werden.« »Wie ich höre, entspricht es der Psychologie Ihrer Rasse, daß der Auftritt hier als peinlich und erniedrigend empfunden werden muß. Aus diesem Grunde biete ich Ihnen an zu warten. Aber wenn sie morgen bei Sonnenaufgang nicht hier sein sollten«, fuhr Lerollion fort, »muß ich weisungsgemäß unverzüglich zu meiner Heimatwelt zurückkehren, ob die Konferenz dann noch andauert oder nicht.« Er unterbrach die Sitzung und begab sich zu seinem Platz. Als es Nacht wurde, verfiel Thome in sporadisches Dösen. Hin und wieder schreckte er auf und glaubte seine Delegation zu sehen, wie sie die riesige Halle betrat, aber bis auf Lipas, Lerollion und zehn oder zwölf andere Wesen war sie leer. Bei Tagesanbruch reiste Lerollion ab, und die meisten der übrigen Alien-Delegationen folgten seinem Beispiel. Eine kleine Schar blieb bis zum Mittag, und der Botschafter von Quantos IX ging erst, als es Abend wurde. Und dann war Thome allein mit Lipas. »Komm«, sagte der kleine Mann sanft. Thome schüttelte energisch den Kopf. »Aber es ist klar, daß sie nicht kommen werden«, sagte Lipas. »Geh schon, wenn du willst«, sagte Thome. »Dann warte ich eben allein. Einer muß ja da
sein, um sie zu begrüßen.« Lipas betrachtete seinen Freund. Dann seufzte er und verließ den Saal. »Sie werden kommen«, sagte Thome leise und starrte auf die Tür, durch die nie wieder jemand kommen würde. »Sie müssen kommen.« Er lehnte sich zurück und wartete.
26: Die Zerstörer …Nicht ohne ehrliches Bedauern und ein tiefes Schuldgefühl führte man diesen Vernichtungskrieg gegen die Überreste der einstmals stolzen Rasse Mensch. Aber angesichts seiner Neigung zu blutrünstiger Gewalt, welcher er auch nach dem Ende seiner galaktischen Vorherrschaft frönte, schien es keine Alternative zu geben. Unter den Tausenden intelligenzbegabter Rassen stammte nur eine Handvoll von Raubtieren ab, und allein der Mensch war seinem Erbe treu geblieben… Ursprung und Geschichte der intelligenten Rassen, Bd. 9
Auf einer namenlosen Welt, weit draußen am Rand der Galaxis, kämpfte der Mensch sein letztes Gefecht. Genauer gesagt waren es ein Mann und drei Frauen. Es waren mehr gewesen, als sie auf diese Welt gekommen waren, viele hundert mehr, aber jetzt lagen alle bis auf diese vier tot in der Umgebung des Höhleneingangs. Die Höhle war ungefähr sechzig Meter tief, und ihr Eingang war so schmal, daß der Mann vorübergehend steckengeblieben war, als er versuchte, den Frauen hinein zu folgen. Es war kalt und dunkel im Innern, und ein feiner, pulvriger Staub ließ das Atmen zu einer schmerzlichen Last werden. Aber hier konnten sie sich verteidigen, zumindest so lange, bis ihre Lebensmittelvorräte und das Wasser zu Ende gingen, und
wenn man die Alternative bedachte, war der Staub leicht zu ertragen. Die Höhle lag hoch an der Flanke eines zerklüfteten Berges, und nur über halsbrecherische Pfade, sich mit Händen und Füßen anklammernd, hatten die Menschen sie erreichen können. Für die Schwadron von Kragiern, die sie belagerte, war sie völlig unzugänglich; sie hatte sich am Fuße des Berges zusammengekauert, um wenigstens einen Hauch von Wärme und Behaglichkeit zu finden. Die Kragier, eine große, rundliche, unbehaarte Spezies von Beutelwesen, waren nicht von Natur aus bösartig. Aber wie fast alle intelligenten Rassen standen sie gern auf Seiten des Siegers, und der Mensch hatte seit Jahrhunderten nicht mehr gesiegt. An der Peripherie seines Imperiums hatte er einen Stützpunkt nach dem anderen verloren, und in den vergangenen achtzig Jahren war dann auch der Kern seiner Macht zerstoben: Caliban, die Erde, Deluros VIII, das Schwebende Königreich – sie alle waren gefallen. Keiner dieser Planeten war kampflos aufgegeben worden, aber sie waren dennoch verloren: Tote, trostlose Denkmäler von Macht und Ruhm, die zu ihrer Zeit ersprossen, aufgeblüht und verwelkt waren. Und allmählich, im Laufe der Jahre, wurde der Mensch, der einst Jäger gewesen war, zum Gejagten. Es war nicht nach seinem Geschmack. Die Galaxis erwies dem Menschen ebensowenig Gnade, wie er ihr gewährt hatte, und ganze Welten wurden vernichtet. Dann kamen die Ausrottungseinsätze. Sechzehn Menschen hatten eine kleine Kuppel auf Wega IX errichtet, einer Welt, auf der es noch nie Leben oder Atmosphäre gegeben hatte – eine Protonenbombe radierte sie aus. Zweitausend menschliche Flüchtlinge fanden Zuflucht auf der Oberfläche eines längst erloschenen Sterns in der Region von Beteigeuze – Stunden nach ihrer Entdeckung lebte kein einziger mehr.
Natürlich wehrte sich der Mensch, denn er hatte sich immer gewehrt. Aber ohne eine Zentralregierung, ohne Militärführer, ohne zusammenhängende Organisation fand selbst der Mensch, daß seine Chancen schlecht standen. In der Galaxis gab es 13.042 intelligenzbegabte Rassen oder Mutationen; nicht mehr als ein Dutzend davon mißbilligte die Ausrottung des Menschen, und nicht eine war bereit, an seiner Seite zu kämpfen. »Trotzdem haben wir uns nicht schlecht gehalten«, sagte der Mann und spähte auf den Berghang hinaus. »Wenn man alles recht bedenkt, haben sie für jeden gottverdammten Zoll Bodens, den sie genommen haben, teuer bezahlen müssen.« »Und für den letzten Zoll werden sie ebenso teuer bezahlen«, sagte die erste der Frauen und betrachtete versonnen das Gerät, das sie unter großen Anstrengungen zur Höhle geschleppt und in der beinahe undurchdringlichen Dunkelheit der vergangenen Nacht liebevoll wieder zusammengesetzt hatten. »Gib uns nicht voreilig auf«, sagte der Mann. »Wir sind die letzten. Nach uns wird niemand mehr da sein.« »Sprach der Vater einer neuen Rasse«, vollendete eine der Frauen sarkastisch. »Zerbrechen wir uns lieber den Kopf darüber, wie wir die alte Rasse noch ein wenig länger am Leben erhalten«, erwiderte der Mann. Er spähte zu den Kragiern hinunter. »Verflucht, die sehen so fett und gutmütig aus.« »Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln«, schlug die dritte Frau ohne große Begeisterung vor. »Du meinst, wir sollten ihnen sagen, es tut uns leid, und wir können doch nichts für das, was unsere Vorfahren getan haben?« erkundigte sich die erste Frau. »Zum Teufel!« zischte der Mann. »Es tut uns nicht leid, und wir sind stolz auf das, was vor uns war! Ich wünschte, wir
könnten während der Republik gelebt haben, damals, als wir zum ersten Mal unsere Muskeln zeigten.« »Ich würde die Monarchie vorziehen«, sagte die zweite Frau. »Habt ihr gehört, wie diese Kragier uns auf Galaktik bedrohten? Auf Galaktik! Es gab eine Zeit, da hätten sie nur eine Sprache gekannt: Terranisch. Ein Kragier, der einen Menschen in einer anderen Sprache angeredet hätte, wäre sofort getötet worden, und zwar je langsamer, desto besser.« Bei diesen Worten glühte ein Feuer in ihren Augen. »Das ist doch albern«, sagte die dritte Frau. »Wir leben jetzt, und wenn wir weiterleben wollen, müssen wir ziemlich schnell etwas unternehmen.« »Was schlägst du vor?« fragte der Mann. »Willst du dich mit zweihundert Kragiern schießen? Oder dieses verdammte Ding hier zünden« – er deutete auf das Gerät – »und den ganzen Planeten in Stücke fliegen lassen?« »Besser das als kampflose Kapitulation«, sagte die erste Frau. »Vor fünf Jahren hättest du recht gehabt«, antwortete der Mann. »Auch noch vor drei Monaten, bevor sie die Kolonie im Delphini-System erwischten. Aber jetzt sind wir die letzten. Wenn wir sterben, ist der Mensch tot. Dann ist es vorbei. Für immer. Wir haben eine Verantwortung.« »Gegen wen?« fragte die zweite Frau. »Wir sind die einzigen vier Lebewesen, denen wir etwas schulden. Niemand sonst zählt. Und ich sage, wir kämpfen.« »Du redest nicht vom Kämpfen«, sagte der Mann. »Wenn gekämpft wird, wird auch gesiegt.« »Du willst also hier sitzen und abwarten, bis wir verhungert sind? Ist es das?« fragte die zweite Frau. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte der Mann. »Ich sage nur, daß wir am Leben bleiben müssen, was immer auch geschehen mag.« Ruhelos ging er in der Höhle auf und ab. Schließlich trat er an den schmalen Eingang. »Seht doch, auf dieser Welt gibt es nichts,
was wir gebrauchen könnten oder was für irgend jemanden von Nutzen wäre. Vielleicht kann ich sie dazu überreden, uns hierzulassen, vielleicht ein Wachschiff hierzulassen, damit sie sicher sein können, daß wir nie mehr in den Weltraum zurückkehren.« »Könnte ein Kragier dich im umgekehrten Falle dazu überreden?« wollte die erste Frau wissen. »Oder sonst jemand?« echote die zweite. »Nein«, gab der Mann zu, »aber…« »Aber was?« »Aber ich bin ein Mensch«, sagte er. »Sie sind Kragier.« »Das ist das ganze Problem«, sagte die erste Frau. »Was ist das Waffenstillstandszeichen der Kragier?« fragte der Mann. »Du meinst es ernst!« sagte die erste Frau ungläubig. »Du willst wirklich hinuntergehen und mit denen reden!« »Hoffentlich ist dein Galaktik halbwegs flüssig«, sagte die zweite Frau verachtungsvoll; »Yes, Sir. Hoffentlich ist es wirklich gut. Vielleicht, wenn du dich tief genug bückst und einen Kratzfuß machst, werden sie nicht erkennen, was du bist. Vielleicht glauben sie, sie hätten eine ganz neue Spezies entdeckt.« Der Mann spuckte auf den Boden, schob seinen Körper behutsam durch die Öffnung und machte sich an den Abstieg. Mit dem Fuß trat er einen Stein los, der den Berghang hinunterpolterte, und im nächsten Augenblick erhob er sich, so daß die Kragier ihn deutlich sehen konnten, und schwenkte beide Arme wie wild hin und her. »Nicht schießen!« schrie er. »Ich komme, um zu verhandeln! Ich bin unbewaffnet!« Er war ein wenig überrascht, daß man ihm gestattete, den Abstieg ungehindert fortzusetzen, und zwei Stunden später hatte er ebenen Boden unter den Füßen. »Wer ist Ihr Anführer?« fragte er die versammelten Kragier. »Ich«, sagte der, der ihm am nächsten stand. »Ich bin gekommen, um
mit Ihnen zu reden«, sagte der Mann, bemüht, nicht ins Terranische zu verfallen. »Warum?« fragte der Kragier. »Ich will um Gnade bitten.« »Ist das alles?« fragte der Kragier. Wenn sein Gesicht zur Mimik fähig gewesen wäre, hätte es mißtrauisch ausgesehen. »Nicht ganz«, antwortete der Mann. »Sie wissen, daß es in unserer Macht liegt, den Planeten mit allem, was darauf ist, zu zerstören.« »Das wissen wir.« »Ich schlage Ihnen einen Handel vor«, sagte der Mann. »Wenn wir hierbleiben dürfen, lebend und unversehrt, dann werde ich Ihnen und Ihren Streitkräften freien Abzug gewähren. Wir haben kein Verlangen danach, zu sterben oder jemanden zu töten.« »Sie haben kein Verlangen danach, jemanden zu töten«, sagte der Kragier emotionslos, »und doch kommen Sie herunter und drohen uns mit vollständiger und totaler Vernichtung. Ist es ein Wunder, daß wir Ihnen nicht gestatten können zu überleben?« »Aber wir sind die letzten!« sagte der Mann. »Wenn Sie uns töten, ist es das Ende der menschlichen Rasse.« »Ja«, sagte der Kragier. Es klang nicht, als bedauere er es. »Es war der Mensch, der der Galaxis Form und Struktur verliehen hat. Wir haben eine zu wichtige Rolle im Plan der Geschichte gespielt, als daß wir als Rasse sterben dürften. Sicher müßten doch auch Sie einen Wert darin sehen können, einen kleinen Rest von uns am Leben zu lassen.« »So wie Sie einen kleinen Rest der anderen Rassen am Leben gelassen haben?« fragte der Kragier. »Wie viele Spezies hat der Mensch in seinem kurzen Dasein vernichtet? Wie viele Welten hat er zu Staub und Asche zermalmt?« »Aber, verdammt – ich habe doch diese Dinge nicht getan!« rief der Mann erregt.
»Wenn man Sie am Leben ließe, würden Sie es tun«, meinte der Kragier. »Sie haben es ja schon für den Planeten, auf dem wir stehen, in Betracht gezogen.« »Sagen Sie mir eine Alternative«, flehte der Mann. »Irgendeine Alternative.« »Die Alternative ist«, sagte der Kragier geduldig, »den Planeten nicht zu zerstören.« »Dann lassen Sie uns in Frieden leben.« »Sie sind ein Mensch«, sagte der Kragier. »Wenn Sie sagen, Sie wollten in Frieden leben, ist das ein Widerspruch in sich.« »Dann halten Sie uns auf diesem Planeten gefangen«, sagte der Mann. »Vernichten Sie unser Schiff, bewachen Sie den Himmel, und wir können nie wieder fort von hier.« »Ihr Schiff haben wir bereits zerstört«, antwortete der Kragier. »Und Sie werden nie wieder von hier fortgehen. Haben Sie noch etwas zu sagen?« Der Mann schaute ein letztes Mal zu den Sternen empor. Dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Dann kehren Sie zu Ihren Gefährten zurück«, sagte der Kragier. »Einem weiteren Waffenstillstand werden wir nicht zustimmen.« Langsam kletterte der Mann den Berg hinauf. »Na?« fragte die zweite Frau. »Wir sind nicht schlechter dran als vorher«, sagte der Mann. »Das heißt nickt viel«, sagte die zweite Frau. »Ich vermute, wir sind auch nicht besser dran?« »Nein.« Er sah sich in der Höhle um. »Wie lange reichen die Lebensmittel noch?« »Zwei Tage, wenn wir herzhaft zulangen«, sagte die dritte Frau. »Vielleicht eine Woche, wenn wir sparen.« »Wozu sparen?« fragte die zweite Frau. »Wenn wir schon sterben müssen, dann doch wenigstens mit vollem Magen.«
»Das meine ich auch«, stimmte die erste Frau zu. »Langsames Verhungern gehört nicht zu den angenehmen Todesarten.« »Es gibt überhaupt keine angenehme Todesart«, sagte der Mann. »Wenn diese verdammten Kragier doch nur vernünftigen Argumenten zugänglich wären!« »Aber das sind sie nicht«, meinte die dritte Frau. »Verflucht!« sagte der Mann. »Wir haben für die Galaxis zu viel bedeutet, als daß wir jetzt so sterben dürften! Sie könnten uns retten. Sie könnten diesen Planeten als Gefängnis oder als Zoo oder was-weiß-ich behalten und uns einfach leben lassen. Es kann doch nicht so zu Ende gehen! Wir sind zu weit gekommen, haben zu viel geleistet, als daß wir in diesem gottverlassenen kleinen Höllenloch krepieren dürften, ohne daß es jemand merkt. Verdammt – wir sind Menschen!« »Bravo!« rief die dritte Frau und klatschte sarkastisch in die Hände. »Wie schade, daß man diese Worte nicht mehr in die Höhlenwand einmeißeln kann.« »Ihr könnt euch ja damit zufriedengeben, hier zu sitzen und auf den Tod zu warten«, sagte der Mann. »Aber wenn wir nicht leben dürfen, dann sollten wir wenigstens nicht ohne eine Geste sterben, an die man sich vielleicht erinnern wird.« »Wir könnten alle vor den Kragiern niederknien und beten, während das Hinrichtungskommando uns niederschießt«, schlug die zweite Frau lachend vor. »Oder wir schreiben deine rührende kleine Rede auf und stecken sie in eine Flasche, in der Hoffnung, daß irgend jemand sie eines Tages findet«, fügte die dritte Frau hinzu. »Hört auf zu schwatzen«, fauchte der Mann. »Wenn wir schon sterben, sollten wir es wenigstens richtig anfangen.« »Und wie stirbt eine Rasse richtig?« fragte die zweite Frau. »Nicht, indem sie herumsitzt und jammert und kichert!« sagte
der Mann. »Wollt ihr denn nicht, daß jemand weiß, daß wir hier waren, daß hier die Menschheit ihr Ende gefunden hat?« »Wem möchtest du es denn erzählen?« fragte die zweite Frau. »Ich weiß nicht«, sagte der Mann. »Irgend jemandem.« Sein Blick wanderte in der Höhle umher und fiel auf das Gerät. »Allen.« Er ging zu dem Gerät und kniete daneben nieder. »Zumindest werden sie wissen, daß wir nicht wie Lämmer zur Schlachtbank gegangen sind, sondern daß wir bis zum bitteren Ende gekämpft haben, um zu bewahren, was der Mensch war.« Er streckte die Hand aus und drückte auf den Knopf. Der Anblick war prachtvoll.
EPILOG: 587. Millennium
Äonen vergingen, und der Mensch – oder etwas, das ihm sehr ähnlich war – schlängelte sich aus dem Urschleim, und es sprossen ihm Gliedmaßen, und Daumen entwickelten sich. Er stand aufrecht, und zum erstenmal sah er die Sterne, und er wußte, eines Tages würden sie ihm gehören müssen…