Nr. 321
Das Geheimnis der Eiszitadelle Gloophy, das Eiswesen, erwacht zu neuem Leben von Kurt Mahr
Sicherheitsvorkehr...
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Nr. 321
Das Geheimnis der Eiszitadelle Gloophy, das Eiswesen, erwacht zu neuem Leben von Kurt Mahr
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berserker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Atlan und Razamon gelangen auf eine Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Nach ihrer Flucht aus Moondrag schlagen die Kampfgefährten den Weg zur Eisküste ein. Sie erreichen das Zentrum der unheimlichen Region und enträtseln DAS GEHEIMNIS DER EISZITADELLE …
Das Geheimnis der Eiszitadelle
3
Die Hautpersonen des Romans: Kolphyr oder Gloophy - Ein Forscher aus einem Antimaterie-Universum. Atlan, Razamon und Fenrir - Zwei Männer und ein Wolf in der Eiszitadelle. Einbein - Kolphyrs Robotbegleiter. Koy der Trommler - Der Menschenjäger am Ziel seiner Suche. Phynx - Der letzte der Zyklopen.
1. Die Finsternis war allgegenwärtig, aber sie schreckte die beiden Männer nicht. In der vergangenen Nacht hatten sie zu begreifen gelernt, daß Finsternis Sicherheit bedeutete und Helligkeit den Tod. Sie waren nicht sicher, ob diese Lehre auch innerhalb des Tunnels ihre Berechtigung hatte, durch den sie sich jetzt bewegten. Sie waren hier eingedrungen in der Überzeugung, daß sie sich überall da, wo es dunkel war, in Sicherheit befanden. Bisher war ihnen keine einzige Schwerkraftfalle in die Quere gekommen, und sie schlossen daraus, daß die Erkenntnis der letzten Nacht allgemeine Gültigkeit hatte. Das Tier hatte ursprünglich die kleine Gruppe angeführt: Fenrir, der Wolf. Wölfe waren wie ihre Vettern, die Hunde, von Natur aus kurzsichtig. Daher störte Fenrir die Finsternis nicht. Er hatte andere Sinne, auf die er sich verlassen konnte. Vor kurzem aber war das mächtige Tier stehengeblieben und hatte winselnde Laute ausgestoßen. Atlan war an ihm vorbeigeschritten und hatte die Führung übernommen, dichtauf gefolgt von Razamon. Der Wolf hatte sich schließlich auch wieder in Bewegung gesetzt, wenn auch zögernd. Er bildete jetzt die Nachhut. Von Zeit zu Zeit winselte er. Es war klar, daß er sich im Innern der Eiszitadelle nicht wohl fühlte. Den beiden Männern ging es im Grunde nicht anders. Sie waren in den Tunnel eingedrungen, weil ihnen angesichts des Tages keine andere Wahl blieb. Nur in der Nacht konnten sie an dem hellen Leuchten, das von ihnen ausging, die mörderischen Schwerkraftfallen erkennen, die sich als letztes Op-
fer den Magier Marxos geholt hatten. Überdies schien der Tunnel ein Weg ins Innere der geheimnisvollen Eiszitadelle zu sein, in der Gloophy wohnte, der Gott, den die Wargoons der Eisküste verehrten. Der Marsch dauerte nun schon Stunden. Der Tunnel verlief gradlinig. War es die Anstrengung des Marsches, war es die Erschöpfung – Atlan wurde es unter der dicken Pelzkleidung plötzlich sehr heiß. Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. So vollkommen war die Finsternis, daß Razamon, der in seiner Nachdenklichkeit auf das Geräusch der Schritte nicht geachtet hatte, gegen ihn prallte. »Was ist?« fragte er überrascht. »Warum bleibst du stehen?« »Weil mir heiß ist«, antwortete der Arkonide nicht übermäßig freundlich. Razamon ging der Bissigkeit des Gefährten aus dem Wege, indem er gestand: »Mir geht es nicht besser. Mir dringt der Schweiß aus allen Poren.« Sie ruhten sich eine Zeitlang aus. Es war still in der Finsternis. Fenrir hechelte halblaut. »Dem scheint es auch warm zu sein«, bemerkte Atlan. »Ich frage mich, woher das kommt. Sind wir zu schnell vorgedrungen, oder wird es hier wirklich wärmer?« »Ich will …«, begann Atlan zu antworten, unterbrach sich aber sofort. »Was war das?« »Klang wie ein Stein, der auf den Boden fiel«, meinte Razamon. Sie gingen ein paar Schritte weiter. Die Füße tasteten scharrend den Boden ab. »Hier ist es«, sagte Atlan und bückte sich. »Ein Stück Eis. Es muß von der Wand herabgestürzt sein.« »Horch!« forderte Razamon ihn auf.
4 Von neuem standen sie still. Aus der Finsternis vor ihnen kam ein leises, regelmäßiges Geräusch. Es rührte ganz unverkennbar von fallenden Wassertropfen her. »Das Eis schmilzt!« stieß Atlan überrascht hervor. »Merkwürdige Vorstellung«, reagierte Razamon, und an seinem Tonfall erkannte der Arkonide, daß er bei diesen Worten grinste. »Der Gott der Wargoons umgibt sich mit Eis, aber in seiner Zitadelle liebt er es warm.« »Wir sind nicht sicher, daß es hier wirklich einen sogenannten ›Gott‹ gibt«, erinnerte ihn Atlan. »Was auch immer«, wischte Razamon den Einwand beiseite. »Wenn es inmitten dieser Eiswüste plötzlich warm wird, dann muß es irgendwo in der Nähe Energiequellen geben – wahrscheinlich künstliche. Wir müssen wissen, was hier vorgeht. Laß uns keine Zeit verlieren!« Die kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ein paar Schritte weiter glitt Atlan in einer flachen Pfütze aus und wäre gestürzt, hätte ihn Razamon nicht im letzten Augenblick noch aufgefangen. Fenrir schien es unter dem Eindruck der allmählich ansteigenden Temperaturen noch unbehaglicher zu sein als zuvor: Er winselte jetzt in einem fort. Atlan schritt aus. Er spürte, daß es nicht mehr weit bis ans Ziel war – was immer das Ziel auch sein mochte. Ein entscheidendes Ereignis stand unmittelbar bevor. Seine Schritte wurden weiter. Die Ungeduld hatte auch ihn in ihren Bann geschlagen. Und plötzlich sah er weit vorab – so ungewiß, daß er ein paarmal blinzeln mußte, um seiner Sache sicher zu sein – schwachen Lichtschein, einen winzigen Funken Helligkeit. Razamon, weniger scharfäugig als der Arkonide, machte eine gänzlich andere Entdeckung. »Was ist das für ein Geruch?« rief er. Atlan verlangsamte seine Schritte. Er zog die kühle, feuchte Luft ein und stellte fest, daß sich ihr in der Tat ein völlig neuartiger
Kurt Mahr Duft beigemengt hatte. Verwundert blieb er stehen. »Das kenne ich«, murmelte er, mehr zu sich selbst gewandt. »Das ist – ein terranisches Gewürz. Vanille, Anis – nein, Zimt! Zimt ist es!« Er atmete noch einmal tief ein und vergewisserte sich, daß seine Analyse richtig war. Der vertraute Duft übte eine merkwürdige Wirkung auf ihn aus. Er beseitigte alle Zweifel, daß dies womöglich der falsche Weg sein könne, und festigte sein Selbstvertrauen. »Der Geruch von Zimt und ein Licht in der Ferne«, sagte er gut gelaunt: »Weit kann es bis zu Gloophys Hexenhäuschen nicht mehr sein!«
2. Kolphyr kannte das Phänomen Zeit nicht. Deshalb hätte er nicht sagen können, wieviel Jahrhunderte oder Jahrtausende vor der Jetztzeit die Ereignisse stattfanden, die letztlich dafür verantwortlich waren, daß er in der Eiszitadelle aufgebahrt und von den Wargoons als Gottheit verehrt wurde. Kolphyr dachte in kosmischen Zuständen. Und soviel war er bereit zuzugestehen: Es war ein gänzlich anderer kosmischer Zustand, der damals geherrscht hatte, als er von Grulpfer zu seiner Forschungsreise aufbrach, als der, dem er jetzt unterworfen war.
* Es war eine mehr oder weniger alltägliche Sache, als Kolphyr zu seiner Forschungsreise aufbrach. Die Beras waren Forscher von Natur aus. Kolphyrs Nachbar kam herbei, als er sah, daß das Raumei startbereit gemacht wurde. Er fragte: »Gehst du wieder?« »Ja«, antwortete Kolphyr freundlich. »Die Sache läßt mir keine Ruhe.« »Die Materieentstehung?« »Diese, ja«, sagte Kolphyr. »Ich habe eine Hypothese entwickelt.«
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Aha«, machte der Nachbar, begehrte jedoch nicht zu wissen, worin die Hypothese bestand. »Ich hoffe, du reist in angenehmer Gesellschaft.« »Ich denke schon«, antwortete Kolphyr. »Einbein begleitet mich.« Der Nachbar machte eine Geste der Anerkennung, indem er die Muskelwülste über seinen hervortretenden Augen in die Höhe zog. »Einbein ist ein hervorragender Begleiter«, versicherte er. Kolphyr machte das Zeichen der Zustimmung. Niemand brauchte ihm zu sagen, welch ein guter Begleiter Einbein war. Einbein war nach seiner eigenen Spezifikation hergestellt worden. Der Roboter vereinte alles in sich, was ein Forscher auf seiner einsamen Reise brauchte: Wahrnehmungsvermögen, Einfallsreichtum, Mitgefühl. Einbein war im östlichen Herstellungszentrum gegossen worden. Man hatte die Moduln, die seine Gesamtheit ausmachten, auf engstem Raum untergebracht und sie dann mit einer beweglichen Haut umgossen. Der Zufall hatte es gewollt, daß aus dem Guß eine Gestalt entstand, die einem einbeinigen Bera ähnelte. Daher hatte der Robot seinen Namen. Einbein fand sich bereits an Bord des Raumeis. Als der Nachbar weitere Fragen stellte, rief er: »Laß dich von ihm nicht aufhalten! Du weißt, daß unsere Sache keinen Aufschub duldet!« Kolphyr lächelte und sagte zum Nachbarn: »Siehst du – er ist ein so vorzüglicher Begleiter, daß er schon glaubt, er könne über mich bestimmen.« Der Nachbar war voller Verständnis. »Er hat recht, weißt du?« bemerkte er. »Du bist hinter einer äußerst wichtigen Sache her. Je mehr Klarheit du über den Prozeß der Materieentstehung gewinnen kannst, desto besser für den Stand der Forschung. Du solltest wirklich so bald wie möglich aufbrechen.« Das tat Kolphyr dann auch. Er stieg in das
5 Raumei und machte es sich auf dem Liegesitz bequem. Das Raumei bestand in der Hauptsache aus Energie. Die Hülle des Fahrzeugs war transparent und dennoch undurchlässig für verschiedene Arten von Strahlung, die entweder Kolphyr oder seine wissenschaftlichen Geräte hätten gefährden können. Auch die Decken und Trennwände, die innerhalb des Fahrzeugs eingezogen worden waren, bestanden aus Energie. Lediglich die Einrichtungsgegenstände waren aus Materie gefertigt, darunter natürlich auch Einbein, den Kolphyr entweder als Begleiter oder als Einrichtungsgegenstand betrachtete – je nach dem, wie er gelaunt war. Einbein setzte das Fahrzeug in Bewegung. Das Ei hob vom Boden ab und stieg immer schneller in den grünlich leuchtenden Himmel über die Welt Grulpfer hinauf. Kolphyr genoß den Anblick, der sich ihm auf der großen Rundum-Bildfläche bot. Er war schon Hunderte von Malen in den Raum aufgestiegen, doch jedesmal faszinierte ihn das Bild seiner Welt, wie sie kleiner wurde und schließlich in der silbernen Weite des Universums verschwand. »Wie weit hinaus gehen wir diesmal?« fragte Einbein. »Wir fliegen, bis wir einen Zustand erreicht haben, in dem wir zweihunderttausend Einheiten von Grulpfer entfernt sind.« Einbein äußerte anerkennend: »Das ist weiter, als jemals ein Forscher vorgestoßen ist!« »Ja«, sagte Kolphyr. »Wir haben das auch nötig. Unser Experiment ist nicht eben ungefährlich.«
* Wie bei allen anderen Intelligenzen hatte auch bei den Beras die Zivilisation damit begonnen, daß man sich Gedanken darüber machte, wie die Umwelt, in der man sich befand, erklärt werden könne. Die Beras, die diesen Planeten Grulpfer als ihre Heimatwelt betrachteten, starteten zu diesem Vorhaben allerdings von einer an-
6 deren Ausgangsposition als andere Völker. Grulpfer war eine Welt, die einsam durch die endlosen Weiten eines silbrig schimmernden Universums trieb. Grulpfer war im eigentlichen Sinne kein Planet; denn es gab keine Sonne, um die er kreiste. Grulpfer empfing Licht und Wärme unmittelbar aus dem Kontinuum, in dem er schwebte. Obwohl die Beras den Begriff »Universum« kannten, war ihr Universum anders als das, in dem zum Beispiel die Arkoniden, die Terraner oder die Tefroder lebten. Ein terranischer Wissenschaftler, hätte er von Grulpfer gewußt, wäre zu dem Schluß gekommen, daß die Welt der Beras sich zwischen den Universen befinde – entweder in jenem Zwischenkontinuum, durch das der Weg terranischer Raumschiffe führte, oder ganz und gar im Hyperraum. Es war daher kein Wunder, daß die Art, wie die Beras ihre Umwelt sahen, sich wesentlich von der anderer Zivilisationen unterschied. Die Beras kannten keinen Zeitbegriff. Für sie gab es lediglich verschiedene Zustände des Kosmos. Der Kosmos veränderte sich, selbsttätig, in winzigen Schritten. Für jeden solchen Schritt wurde ein Quantum Zustandsenergie verbraucht, die der Kosmos von irgendwoher bezog. Intelligente Wesen konnten die Umwelt dazu veranlassen, sich abrupter als gewöhnlich zu ändern, indem sie größere Mengen Zustandsenergie freisetzten. Auf diese Weise waren sämtliche nennenswerten Erfindungen der Beras entstanden: Jemand hatte sich einen großen Betrag Zustandsenergie beschafft und setzte diesen nach bestimmten Regeln und Vorschriften frei – und schon gab es ein neues Gerät, eine neue Maschine, ein neues Etwas, das das Leben bequemer machte oder neue Wege eröffnete, die man bisher nicht hatte beschreiten können. Auf diese Weise war es den Beras relativ leichtgefallen, Fahrzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe sie ihre Welt verlassen und in das silberne Nichts vorstoßen konnten, das sie von allen Seiten umgab. Denn die beraische Forschung hatte erkannt, daß das All
Kurt Mahr die Heimat der Zustandsenergie sei, und wer sich eine unerschöpfliche Quelle dieser Energie erschließen wollte, der mußte dorthinaus vorstoßen. Man hatte festgestellt, daß das All – abgesehen von dem silbernen Leuchten, in dem man die Urform aller Zustandsenergie vermutete – nicht so leer war, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Außer dem Planeten Grulpfer gab es noch andere Materie in der endlosen Weite. Zwar kein einziges Materiestück, das groß genug gewesen wäre, um selbst wieder ein Himmelskörper genannt zu werden, aber doch riesige Mengen diffuser Gase, aus denen beizeiten wahrscheinlich neue Planeten entstehen würden – auf dieselbe Art und Weise, wie auch Grulpfer einst aus einer sich allmählich verdichtenden Gaswolke entstanden war. Die Materie des Alls war ein begehrtes Studienobjekt für Hunderte von beraischen Forschern gewesen. Man hatte festgestellt, daß der Materiegehalt des Weltalls allmählich zunahm. Die Materie mußte irgendwoher kommen. Aber das beraische Weltbild hatte noch kein Denkmodell entwickelt, mit dessen Hilfe sich der stete Zufluß von Materie hätte erklären lassen. Die Zustandsgleichungen des Kosmos waren hin und her variiert worden; aber keine der Variationen gab Aufschluß über dieses größte aller Geheimnisse. Da hatte sich Kolphyr ans Werk gemacht. Wie alle Mitglieder seines Volkes empfand er die Erforschung des Weltalls als Berufung und Lebenserfüllung zugleich. Er besaß ungewöhnlich umfangreiche Geistesgaben. Er beteiligte sich zunächst nicht an den Flügen anderer Forscher ins Weltall. Statt dessen saß er daheim und analysierte die Daten, die andere aus der silbernen Unendlichkeit zurückgebracht hatten. Allmählich entwickelte er seine Hypothese. Jedesmal, wenn ein Forscher von einem Flug ins All zurückkehrte, brachte er neue Meßergebnisse mit, die Kolphyr benützte, um seine Theorie zu testen. Schließlich war Kolphyr seiner Sache sicher. Er unternahm in rascher Folge mehrere kur-
Das Geheimnis der Eiszitadelle ze Ausflüge ins All und beschaffte sich die Daten, die er brauchte, um seine Hypothese vollends zu untermauern. Diese Arbeiten waren jetzt abgeschlossen. Der jetzige Flug diente dem Zweck, auf der Basis der Hypothese ein Experiment durchzuführen, von dem Kolphyr hoffte, daß es aus seiner Theorie ein anerkanntes Naturgesetz machen werde. Kolphyr war nämlich überzeugt, daß Zustandsenergie und Materie ein und dasselbe seien, sozusagen zwei Erscheinungsformen desselben Phänomens – so wie Wasser und Eis zwei Erscheinungsformen derselben Substanz sind. Kolphyrs Experiment lief darauf hinaus, einen eng begrenzten Sektor des Alls seiner Zustandsenergie vollständig zu berauben. Er wollte ein energetisches Vakuum schaffen. Nach seiner Hypothese würde das All bemüht sein, das Vakuum so rasch wie möglich wieder zu füllen. Infolge der Schnelligkeit des Vorgangs mußte jedoch eine Störung eintreten. Die evakuierte Zustandsenergie würde nicht nur als Energie in die Leere zurückfließen, sondern zu einem geringen, aber deutlich meßbaren Teil als neuentstandene Materie. Kolphyrs Raumei hatte Detektoren an Bord, die den Einfluß neuer Materie einwandfrei nachweisen und aufzeichnen würden. Kolphyr fieberte dem Experiment entgegen. Wenn es gelang, würde es ihm den Ruf des größten aller Forscher im Rahmen des derzeitigen und aller angrenzenden kosmischen Zustände einbringen. Es gab nur eine Gefahr. Alle Berechnungen, die bisher angestellt worden waren, hatten nicht eindeutig ermitteln können, ob die im Verlauf des Experiments neu entstehende Materie normale oder Antimaterie sein werde. Deswegen hatte Kolphyr Wert darauf gelegt, den Versuch in möglichst großer Entfernung von Grulpfer stattfinden zu lassen. Er wußte, daß er selbst mitsamt seinem Fahrzeug in tödlicher Gefahr war, falls er in einen Strom von Antimaterie geriet. Das war ein Risiko, das ein Forscher auf sich nehmen mußte. Aber er wollte nicht, daß andere We-
7 sen durch sein Experimentieren in Gefahr gerieten. Das Ei bewegte sich gemächlich durch die silberne Weite. Auf einmal sagte Einbein: »Wir nähern uns dem Zielgebiet.« Da erhob sich Kolphyr von der Liege. Er fühlte sich entspannt und tatendurstig zugleich. Mit einem Blick überflog er die Batterie der Meßinstrumente und erkannte, daß sie einsatzbereit waren. »Also machen wir uns an die Arbeit«, sagte er.
3. Ein solches Geschöpf hatte die Einöde der Eisküste noch nie zu sehen bekommen. Es war android, aber kleiner als die meisten Menschen, kaum mehr als fünf Fuß hoch. Es trug bunte Kleidung, die für die bittere Kälte der Eiswüste völlig unangemessen war. Seine Hautfarbe war ein dunkles Braun. Das Gesicht des Wesens wies unzählige Runzeln und Falten auf. Ein eisgrauer Schnauzbart bedeckte die Oberlippe. Von derselben Farbe waren auch die Haupthaare, die so kurz geschoren waren, daß sie wie ein Pelz wirkten. Am merkwürdigsten an dem fremden Geschöpf aber waren die beiden Fühler, die aus der Stirn wuchsen, eine Länge von etwa einer halben Handspanne besaßen und in kleinen Kugeln endeten. Ihre Farbe war ein dunkles Blau. Damit stachen sie so sehr von der Hautfarbe des kleinen Wesens ab, daß sie aussahen, als seien sie nachträglich aufgesetzt worden. Die Augen des Fremden, die sonst so freundlich blickten, wirkten jetzt bekümmert. Sie überflogen die schier endlose Eiswüste mit ihren Klüften und Schründen und blieben schließlich auf einer massiven Erhebung haften, die fern im Norden den Horizont begrenzte. »Ich bin Koy, der Trommler«, sagte das fremde Geschöpf zu sich selbst. »Und das dort ist die Eiszitadelle. Wenn ich sie erreiche, bin ich in Sicherheit. Aber werde ich es bis dorthin schaffen?«
8 Koy fror erbärmlich. Er trug eine orangefarbene Hose und einen hellblauen Pullover, beide aus Kunststoff, die für ein wesentlich wärmeres Klima gemacht waren. Auf dem Vorderteil des Pullovers prangte Koys Wahrzeichen: ein schwarzer Januskopf, eingestickt in einen weißen Kreis. Ein breiter schwarzer Kunststoffgürtel umschloß den Körper des Trommlers in Hüfthöhe. Von dem Gürtel herab hing rückwärts eine Tasche, in der Koy seine Utensilien und Nahrung aufzubewahren pflegte. Im Augenblick hatte er von beiden nur noch kümmerliche Überreste. Die Füße staken in halbschäftigen schwarzen Stiefeln. Der Trommler hatte den Landeplatz des Zugors, mit dem Drove ihn hatte aus dem Wachen Auge entkommen lassen, ein paar Kilometer weit hinter sich zurückgelassen. Er wußte, daß die Herren der FESTUNG nach ihm suchten. Er wußte, daß er bestraft werden würde, wenn sie seiner habhaft wurden. Sein einziges Streben war, sich dem Zugriff der Herren der FESTUNG zu entziehen. Deswegen war er auf dem Weg zur Eiszitadelle. Er wußte nicht, was ihn dort erwartete. Aber er war sicher, daß die Häscher sich vorläufig nicht in dieses Gebiet wagen würden. Die Zitadelle war für die Herren der FESTUNG tabu. Mühselig kletterte er über eine Barriere aus vereisten Felsen. Das war anstrengend und beschleunigte gleichzeitig die Zirkulation. Als Koy das Hindernis überwunden hatte, blieb er stehen, um sich eine Zeitlang auszuruhen. Das bißchen Körperwärme, das die Anstrengung erzeugt hatte, wurde von der beißenden Kälte sofort wieder aufgezehrt. »Ich halte das nicht mehr lange aus«, murmelte Koy. »Entweder es gibt einen anderen Weg, oder ich gehe hier zugrunde.« Er marschierte einen halben Kilometer weit über ebenes, glattes Eis. Dann türmte sich ein neues Hindernis vor ihm auf. Die Sonne stand hoch am Himmel. Sie spiegelte sich in den in tausendfach verschiedenen Richtungen geneigten Eisflächen und er-
Kurt Mahr zeugte verwirrende Reflexe. Aber sie wärmte nicht. Koy versetzte die beiden Broins, wie er die Fühler nannte, in schwingende Bewegung. Die Kugeln an ihren Enden schlugen gegeneinander. Durch die Bewegung der Fühler und das Aufeinanderprallen der Kugeln entstanden psionische Impulse, die Koy als ein dumpfes Trommeln wahrnahm. Er richtete die Impulse gegen die Eisbarriere, die vor ihm aufwuchtete. Das Eis reagierte mit lautem Knirschen und schrillem Kreischen. Risse entstanden in der milchigweißen Wand. Ein breites Stück der Wand rutschte in sich zusammen und versprühte einen Regen aus winzigen Eiskristallen. Die Augen des Trommlers leuchteten. »So wird es besser gehen!« sagte er wohlgemut zu sich selbst.
* Trotzdem dauerte es bis gegen Abend, bevor er die Zitadelle erreichte. Er kam von der Südwestseite her. Der riesige Komplex ragte vor und über ihm auf. Von dem Mauerwerk war keine Spur zu sehen. Bläulichweißes Eis bedeckte alles. Koy schritt am Fuß der gigantischen Mauer entlang, die die Zitadelle von allen Seiten zu umgeben schien, und suchte vergebens nach einem Tor. Mehreremal setzte er die Broins ein. Knirschend und knallend zerbarst das Eis, mit lautem Getöse stürzte ein Stück des Mauerwerks ein. Aber dahinter kamen nur noch mehr Mörtel, noch mehr Steine. Von neuem bemächtigte sich des Trommlers die Verzweiflung. Wenn er die Nacht im Freien verbringen mußte, würde er sie nicht lebend überstehen. Als die Sonne versunken war, machte er eine merkwürdige Beobachtung. Es wurde nicht vollends finster. An gewissen Stellen schien das Eis, das den Boden bedeckte, von innen heraus zu leuchten. Koy näherte sich einem solchen Ort. Undeutlich empfand er ein Gefühl der Bedrohung, die von dem Leuchten ausging. Am Rand einer solchen
Das Geheimnis der Eiszitadelle Stelle kauerte er nieder, streckte den Arm aus und schob die Hand vorsichtig in den Bannkreis des unwirklichen Lichts. Im nächsten Augenblick sprang er schreiend auf und fuhr zurück. Er hatte einen mörderischen Schlag auf die Hand erhalten. Ein Ruck hatte ihn nach vorne gerissen. Um ein Haar wäre er in das Leuchten hineingestürzt. Er zweifelte keinen Augenblick lang daran, daß er innerhalb der leuchtenden Zone erbarmungslos zerquetscht worden wäre. Nur sein Instinkt hatte ihn vor diesem entsetzlichen Schicksal bewahrt. Fortan mied Koy die leuchtenden Orte. Aber es brach ihm auch der Schweiß aus bei dem Gedanken, daß er während des Tages, als er das Leuchten nicht hatte wahrnehmen können, in ständiger Gefahr gewesen war, zerquetscht und zermalmt zu werden. Nur ein gütiges Schicksal hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Er wandte sich von neuem der hohen Mauer zu. Irgendwo mußte es einen Eingang geben. Und wenn er die ganze Wand mit Hilfe der Broins von Eis befreien sollte – er würde den Zugang finden! Plötzlich hörte er eine Stimme. »Komm her – ich will dir den Weg weisen!« sagte sie. Verblüfft sah Koy sich um. Er erblickte niemand. Die Stimme sprach Pthora, wenn auch mit einem merkwürdigen Akzent. »Wer bist du?« fragte der Trommler. »Und wo hältst du dich versteckt?« »Ich halte mich nicht versteckt. Du kannst mich nicht sehen. Ich bin Einbein.« »Einbein?« Der geheimnisvolle Besitzer der Stimme wurde ungeduldig. »Willst du mit mir diskutieren – oder soll ich dir den Eingang zur Zitadelle zeigen?« »Den Eingang, den Eingang!« rief Koy voller Aufregung. »Dann geh geradeaus!« befahl ihm Einbein. Koy gehorchte. Er ging etwa achtzig Schritte an der Mauer entlang. »Bleib stehen und dreh dich nach links!«
9 befahl die Stimme. Koy wandte sich um, bis er die Mauer vor sich hatte. »Jetzt fang an zu trommeln!« trug ihm die Stimme auf. Koy wunderte sich, woher Einbein wußte, daß er mit den Broins trommeln konnte. Das Geräusch, das mit den psionischen Impulsen einherging, war nur für ihn selbst hörbar – und für den, gegen den er die Impulse richtete. Noch nie hatte einer die mörderischen Trommelschläge gehört, der nicht unmittelbar betroffen war. Koy schlug die Enden der Broins zusammen. Er hörte das dumpfe Rumoren der psionischen Impulse und sah die Eiswand zusammenrutschen. Dahinter kam ein Tor zum Vorschein, ein riesiges Portal, dessen beide Flügel nach oben hin gerundet waren. Koy hörte zu trommeln auf, als der letzte Eisbrocken von dem Tor abgefallen war. »Und jetzt?« fragte er. Einbein schien belustigt. »Du erwartest doch nicht etwa, daß ich das Ding für dich aufmache – oder?« Koy hatte in der Tat etwas Ähnliches erwartet. »Du meinst, ich soll es zertrommeln?« »Es sei denn, du kennst eine andere Weise, es zu öffnen«, bemerkte Einbein spöttisch. Allmählich ging Koy die überhebliche Art seines unsichtbaren Gesprächspartners gegen den Strich. »Du meinst wohl, du bist hier der Größte, wie?« murmelte er unwillig. »Ich bin der einzige, also bin ich auch der größte«, antwortete Einbein ungerührt. Ärgerlich begann Koy zu trommeln. Er tat es mit solcher Wucht, daß das Portal alsbald in Stücke zerbrach. Ein dunkler Korridor tat sich auf. Aber die Luft, die Koy entgegenwehte, war wärmer als die der Umgebung. »Geh hinein!« forderte der unsichtbare Sprecher ihn auf. »Geh hinein und schaue die Wunder der Eiszitadelle!«
4.
10 Mit zwei sechsfingrigen Händen bediente Kolphyr die Schalter der komplizierten Apparatur. Währenddessen überwachte Einbein die Entwicklung des Experiments in meßtechnischer Hinsicht. Die Zusammenarbeit war reibungslos, wie sie es schon immer gewesen war. »Zustandsenergie fließt ab«, meldete der Robot. »Der Dreißigprozentpegel ist bereits unterschritten.« »Irgendein Anzeichen, daß der Kosmos reagiert?« fragte Kolphyr. »Noch nicht!« Das silbrige Leuchten in der Umgebung des Raumeis wurde schwächer. Das war ein deutliches Anzeichen dafür, daß die Zustandsenergie dieses Allsektors sich verflüchtigte. Sie wurde in angrenzende Sektoren verdrängt. In diesen Augenblicken dachte Kolphyr sich den Kosmos als lebendes Wesen. Er würde voller Überraschung feststellen, daß irgendwo in seinem unendlichen Leib plötzlich ein Loch entstanden war. Und er würde nichts Eiligeres zu tun haben, als dieses Loch wieder zu füllen. Bei der Hast, mit der er dabei zu Werke ging, würde er Fehler begehen – dergestalt, daß das Loch nicht nur mit Zustandsenergie, sondern auch mit Materie gefüllt wurde. Das war der Beweis, den Kolphyr erbringen wollte. »Unter fünfzehn Prozent!« rief Einbein. Es wurde dunkler. Kolphyr hatte jetzt nur noch eine geringe Zahl von Schaltungen vorzunehmen. Er tat es mit Bedacht und blickte zwischendurch immer wieder auf den Rundum-Bildschirm, auf dem sich die Schwärze ausbreitete. Plötzlich empfand er Beklemmung. Noch nie zuvor hatte er das All so finster erlebt. Von der Dunkelheit schien eine Bedrohung auszugehen. Kolphyr fragte sich, ob der Kosmos, den er sich als lebendes Wesen dachte, womöglich Einwände gegen dieses Experiment haben mochte. Er fürchtete sich mit einemmal. Er überlegte, ob er den Versuch abbrechen solle. Aber da war es schon zu spät. Einbein, für den der Kosmos ein völlig unfaßbarer Be-
Kurt Mahr griff war, vor dem er sich einfach deswegen nicht fürchtete, weil er ihn nicht verstand, verkündete in fast triumphierendem Tonfall: »Die Nullgrenze ist erreicht! Die Zustandsenergie ist völlig evakuiert!« Entsetzt starrte Kolphyr in die Finsternis hinaus. In diesem Augenblick wußte er, daß sein Experiment verheerende Folgen haben werde.
* Zunächst geschah nichts. Die Dunkelheit umschloß das Raumei von allen Seiten. Nirgendwo gab es auch nur das geringste Anzeichen, daß Zustandsenergie in das so plötzlich entstandene Vakuum zurückzufluten begann. »Aktivität null!« meldete der Robot. Es waren nicht die Meßgeräte, die schließlich die Reaktion des Kosmos auf den kühnen Versuch zuerst erfaßten, sondern Kolphyrs Augen. Er sah plötzlich einen Lichtpunkt inmitten der Schwärze erscheinen. Es war zuerst ein sehr matter Punkt; aber bevor Kolphyr noch zum Nachdenken kam, ob er wirklich etwas sah oder sich von einer Reaktion seiner überreizten Sehorgane täuschen ließ, hatte er soviel an Leuchtkraft gewonnen, daß er nicht mehr zu übersehen war. In diesem Augenblick machte auch Einbein die erste Wahrnehmung. »Ein großes Materiestück!« rief er aufgeregt. »Es bewegt sich direkt auf uns zu!« Ein Alarmgerät begann zu schrillen. Kolphyr erstarrte vor Schreck. Er wußte, was dieser Alarm zu bedeuten hatte, auch ohne daß Einbein es aussprach: »Das Stück besteht aus Antimaterie!« »Weg von hier!« schrie Kolphyr voller Panik. Hastig bearbeitete er die Kontrollen. Eine Kollision mit dem riesigen Antimateriebrocken würde sein Raumei, den kostbaren Dimensionstaucher, unweigerlich vernichten und ihm und Einbein den Tod bringen. Fieberhaft nahm er eine Schaltung nach der an-
Das Geheimnis der Eiszitadelle deren vor. Er sah nicht auf. Er verließ sich darauf, daß das Ei wie üblich auf seine Befehle reagierte. Plötzlich aber rief der Robot: »Die Steuerkommandos bleiben wirkungslos! Der Brocken nähert sich uns weiterhin!« Entsetzt wandte Kolphyr den Blick zur Seite. Auf der großen Bildfläche sah er den mächtigen Antimateriebrocken, der jetzt nicht mehr so hell strahlte, dafür aber um so größer geworden war. Kolphyr glaubte zu erkennen, daß er von einer mattschimmernden Aura umgeben war. Die Aura war durchsichtig. Voller Panik und Verwirrung gewahrte der Forscher unter der schimmernden Hülle die Umrisse einer Landschaft: eine Ebene, von mehreren Flüssen durchzogen, die in einem See mündeten. Er wußte nicht mehr, woran er war. Er verlor die Beherrschung. Einbein eilte herbei, um ihm zu helfen. Er sagte: »Wir werden es nicht schaffen, dem Ding auszuweichen. Wenn wir die VelstProjektoren nicht einschalten, sind wir verloren!« Fahrig machte Kolphyr die Geste der Zustimmung. »Schalte sie ein!« stieß er hervor. Einbein schloß in aller Eile eine Reihe von Kontakten. Die Projektoren liefen an und erzeugten den Velst-Schleier, der sich wie ein lockeres Gespinst um das Raumei legte. Der Schleier bildete eine Barriere, die den Austausch von Energie zwischen Materie und Antimaterie verhinderte. Die Beras hatten das Velst-Prinzip schon frühzeitig entwickelt, da sie bei ihren Vorstößen ins All immer wieder furchterregende und zum Teil tödliche Begegnungen mit Antimaterie gehabt hatten. »Du kannst beruhigt sein«, erklärte der Robot, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Projektoren einwandfrei arbeiteten. »Es droht keine unmittelbare Gefahr mehr.« Kolphyr befreite sich aus dem Bann der Todesangst. Er sah auf. Auf der Bildfläche war der Antimateriebrocken zu einem gewaltigen Gebilde geworden. Der Forscher
11 vergewisserte sich, daß sein erster Eindruck nicht getrogen hatte: Er blickte in der Tat auf eine Landschaft hinab. Er sah die verschiedenen Farben einzelner Oberflächenformationen, das rötliche Gelb einer Wüste, das Blaugrün eines geschlossenen Waldgebiets, die vielfarbenen Tupfen großer Siedlungen. Er wußte mit einemmal, daß sein Experiment fehlgeschlagen war. Der Kosmos hatte auf andere Weise reagiert, als von der Hypothese vorhergesagt wurde. Kolphyr hatte erwartet, dünne Schwaden primitiver Materie, in der Hauptsache einatomiger Gase mit Kernen, die aus ein, zwei, höchstens drei Nukleonen bestanden, in das Vakuum einströmen zu sehen. Statt dessen traf er auf einen riesigen Brocken aus voll ausgebildeter Materie, in der ohne Zweifel auch die schwersten und kompliziertesten Elemente vertreten waren. Die Theorie hatte versagt. Traurig erkannte Kolphyr, daß er sich die ganze Angelegenheit noch einmal von Anfang an durch den Kopf werde gehen lassen müssen. Mittlerweile war der große Brocken, der wohl das Überbleibsel eines Planeten sein mußte, noch näher herangekommen. Und Einbein meldete: »Er fängt uns ein!« Kolphyr hatte längst aufgehört, an den Kontrollen zu hantieren. Er beobachtete, wie die schimmernde Aura des Materiebrockens auf den Dimensionstaucher zukam. Es gab einen leichten Ruck, als der Velst-Schleier und die Aura einander begegneten. Sie durchdrangen einander, ohne daß dabei Energie ausgetauscht wurde. Das Raumei drang ins Innere der Aura ein. Der Blick wurde klarer. Kolphyr erkannte mühelos selbst geringfügige Einzelheiten auf der Oberfläche des Antimateriebrockens. Eine Zeitlang später verringerte sich die Fahrt des Dimensionstauchers auf null. Das Fahrzeug schwebte unmittelbar unter der Aura, die den Antimateriebrocken umschloß. Kolphyr versuchte, das Ei wieder in Bewegung zu setzen, aber der Versuch mißlang. Von außen wirkten Kräfte auf das
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Kurt Mahr
Fahrzeug ein, die die Wirkung des Triebwerks zunichte machten. Der Dimensionstaucher war gefangen – und mit ihm der Forscher Kolphyr und sein Begleiter, der Roboter namens Einbein. Die Aura, unter der das Raumei schwebte, war von dieser Seite aus undurchsichtig. Der Blick in das All hinaus war versperrt. Das Land dagegen, das sich unter dem Fahrzeug ausbreitete, lag im Glanz hellen Tageslichts. Es war nicht erkennbar, woher das Licht kam. Aus den Aufzeichnungen, die Einbein während der Annäherung an den Antimateriebrocken gemacht hatte, ging hervor, daß das kosmische Bruchstück sich sowohl in bezug auf Kolphyrs Fahrzeug als auch relativ zu der Welt Grulpfer mit hoher Geschwindigkeit bewegt hatte. Es gab keinen Anlaß, zu vermuten, daß an diesem Sachverhalt inzwischen etwas verändert worden sei. Der Brocken trieb mit Höchstgeschwindigkeit durch das All. Jede Sekunde entfernte ihn weiter von Grulpfer, und Kolphyr begann voller Trauer, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß er seine Heimatwelt niemals wiedersehen werde. Glücklicherweise ereignete sich in diesem Augenblick etwas, wodurch der Forscher abgelenkt und wenigstens vorübergehend von seiner Betrübnis befreit wurde. Er empfing eine mentale Schwingung, die Ausstrahlung eines intelligenten Bewußtseins! Es war ein verwirrendes Muster, desgleichen Kolphyr noch nie zuvor gesehen hatte – aber es war unzweifelhaft das Kennzeichen eines bewußten Gedankens. »Wenigstens sind wir nicht allein hier«, sagte er erleichtert zu Einbein. Der Robot jedoch hatte nichts Eiligeres zu tun, als seinen Optimismus zu dämpfen. »Man muß abwarten«, erklärte er, »ob wir den unbekannten Intelligenzen willkommen sind!«
* Damals hatte es in der FESTUNG ein
großes Entsetzen gegeben. Wenn sich Pthor zwischen den Dimensionen bewegte – auf dem Weg von der letzten überfallenen Welt zur nächsten – dann gab es zwar immer wieder unliebsame Begegnungen. Der Raum zwischen den Universen war nicht leer, und vielerlei Gefahren warteten auf den, der sich ohne angemessene Vorbereitung in das Zwischenkontinuum wagte. Aber den Materiebrocken Pthor umgab der Wölbmantel, ein Gebilde aus konzentrierter Energie. Er hatte bisher alle Gefahren abgewehrt, die Pthor bedrohten, während es sich wie ein Fahrstuhl durch die Dimensionen bewegte. Diese jüngste Begegnung jedoch war von einer Art gewesen, wie sie selbst die klügsten Magier in der Großen Barriere von Oth nicht hatten vorhersehen können. Das Objekt, auf das Pthor zusteuerte, war in Masse und Ausdehnung so geringfügig gewesen, daß man es zwar wahrgenommen, ihm aber keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Der Wölbmantel würde es ohne weiteres absorbieren. Dann aber hatte das fremde Objekt, anstatt absorbiert zu werden, den Mantel mühelos durchdrungen. Der besorgniserregende Vorgang hatte in der FESTUNG einen Alarm ausgelöst. Der Alarm besagte, daß der Fremdkörper aus Antimaterie bestand. Damit war zwar klar, warum der Wölbmantel ihm nichts hatte anhaben können, gleichzeitig aber sahen die Herren der FESTUNG ihren Herrschaftsbereich der allergrößten Gefahr ausgesetzt. Denn sobald der Fremdkörper mit der Materie von Pthor in Berührung kam – und sei es auch nur eine dünne Luftschicht unmittelbar unterhalb des Wölbmantels – mußte sich eine katastrophale Explosion ereignen, die nach aller Voraussicht von Pthor nicht viel übriglassen würde. Die Herren der FESTUNG waren ebenso erleichtert wie verwirrt, als sie feststellten, daß die Explosion nicht, wie sie erwartet hatten, unmittelbar nach dem Eindringen des Fremdkörpers stattfand. Sie wußten nicht, welchem Umstand sie dieses Glück zu verdanken hatten. Sie bewiesen ihre Umsicht
Das Geheimnis der Eiszitadelle dadurch, daß sie die Gefahr deswegen nicht geringer einschätzten. Sie trugen den Magiern auf, sofort eine Lösung des Problems zu finden, und drohten ihnen den Tod an für den Fall, daß ihnen dies nicht gelänge. Das war freilich eine leere Drohung. Denn falls die Magier keine Lösung fanden, würde irgendwann die Explosion stattfinden, und wenn das geschah, dann blieb in Pthor ohnehin keiner mehr am Leben, nicht einmal die Herren der FESTUNG. Die Magier indes waren auf der Hut. Kaum hatten die Herren der FESTUNG ihren Auftrag erteilt, da meldete sich aus der Großen Barriere von Oth der Gildemeister der Magier und verkündete, er wisse eine Lösung. Daraufhin wurde der Gildemeister mitsamt seinen beiden Beisitzern aufgefordert, auf dem schnellsten Wege in der FESTUNG zu erscheinen und seinen Plan vorzutragen. Der Gildemeister mit dem Namen Orthwin und seine beiden Beisitzer, die Gilliam und Heszor hießen, leisteten unverzüglich Folge. Als sie die FESTUNG erreichten, wurden sie in den großen Saal geführt, in dem die Herren ihre Besucher zu empfangen pflegten. Wie üblich, ließ sich keiner der Herren sehen. Sie sprachen zu Orthwin und seinen beiden Begleitern vermittels einer Stimme, die aus der Kuppel des großen Saales drang. »Welches ist euer Plan?« fragte die Stimme. Orthwin blickte auf. »Wir haben erkannt, o Herr, daß das fremde Objekt sich mit einer schützenden Hülle umgeben hat, wodurch ein Kontakt mit der Materie von Pthor vermieden wird. Das Objekt ist also entweder selbst intelligent, oder es wird von einem intelligenten Wesen gesteuert, oder es ist derart programmiert, daß es über die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen Materie und Antimaterie Bescheid weiß.« »Der Plan!« drängte die Stimme des Herrn der FESTUNG ungeduldig. »Verzeih, o Herr!« bat Orthwin untertänig. »Diese Einleitung erschien mir notwen-
13 dig. Denn solange das fremde Objekt sich vor einer Berührung mit unserer Materie ebenso fürchtet wie wir, ist die Gefahr, in der wir schweben, gering. Wir brauchen also nicht mit Hast zu Werke gehen. Wir können uns unter den Methoden, die zur Verfügung stehen, die meistversprechende aussuchen, auch wenn sie gleichzeitig die langwierigste ist.« »Der Plan!« forderte die Stimme des Herrn der FESTUNG von neuem, aber sie klang nicht mehr so ungeduldig wie noch vor wenigen Augenblicken. Orthwins Darstellung schien das Interesse des Herrn gewonnen zu haben. »Das fremde Objekt muß mit Schwerkraft gebunden und an einem sicheren Ort untergebracht werden«, erklärte der Gildemeister der Magier. »Schwerkraft?« echote die Stimme des Herrn der FESTUNG. »Mit einem Übermaß an Schwerkraft, o Herr«, bestätigte Orthwin. »Gut. An welchem Ort soll es untergebracht werden?« »Es gibt nur einen Ort, o Herr, der unter der Wucht der Schwerkraftfesseln nicht zusammenbrechen würde.« »Welcher ist das?« »Die Burg der Zyklopen, o Herr!« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann begann der Herr der FESTUNG von neuem: »Die Burg der Zyklopen steht nicht zur Verfügung. Es ist wahr, daß das Geschlecht der Zyklopen fast ausgestorben ist. Aber einer aus diesem Geschlecht lebt dort noch. Er hat den Herren der FESTUNG die Treue geschworen, und die Herren sind verpflichtet, ihm sein Erbe zu belassen, solange er lebt.« Da setzte Orthwin ein schlaues Grinsen auf und antwortete: »Ich weiß dies wohl, o Herr. Phynx ist der letzte seines Geschlechts und ein Kämpfer für Pthor, auf den niemand ein schlechtes Wort kommen lassen würde. Aber bedenkt die Lage, in der wir uns befinden, o Herr! Das fremde Objekt muß gebunden und ir-
14 gendwo untergebracht werden! Sonst wird Pthor nicht mehr allzulange existieren. Ich bitte euch, Herr, wägt diese beiden Dinge sorgfältig gegeneinander ab und trefft eine Entscheidung, ob der Lehenseid des Phynx oder das Wohl von Pthor euch wichtiger ist!« Abermals schwieg der Herr der FESTUNG eine Zeitlang. »Deine Bitte wird gegenwärtig beraten«, erklang schließlich die Antwort. »Wartet!« Die drei Magier warteten. Orthwin war seiner Sache sicher. Er kannte die Herren der FESTUNG aus langer Erfahrung. Er wußte, wie sie sich entscheiden würden. Ein Lehenseid war eine ernste Sache. Aber die Sicherheit von Pthor war noch viel ernster. Der Gildemeister täuschte sich nicht. Als die Stimme des Herrn der FESTUNG nach einigen Minuten von neuem erklang, da verkündete sie: »Eurem Vorhaben ist stattgegeben worden. Trefft Vorbereitungen, das fremde Objekt mit Schwerkraft zu fesseln. Wenn ihr soweit seid, wird die Burg der Zyklopen für die Aufnahme des Objekts zur Verfügung stehen.« Orthwin machte die Geste der Unterwürfigkeit. Sie bestand darin, daß er den Oberkörper weit nach vorne neigte. Er tat dies, richtete sich jedoch nicht wieder auf. Das mußte den Herren der FESTUNG auffallen. »Hast du noch etwas?« fragte die Stimme. »Ja, o Herr!« antwortete Orthwin und blieb in gebückter Haltung. »Wenn sich meine Bescheidenheit eine Frage erlauben darf, so möchte ich wissen, wie die Herren Phynx zur Aufgabe des Heims seiner Väter bewegen wollen.« »Es geht dich nichts an, Magier, aber ich sage es dir trotzdem«, antwortete die Stimme hochmütig. »Die Männer vom Taamberg werden Phynx überzeugen, daß es in seinem eigenen Interesse liegt, die Burg zu räumen.« Da richtete sich Orthwin endlich wieder auf, und auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Phynx war ein mächtiger
Kurt Mahr Kämpfer. Aber den Leuten vom Taamberg würde er nicht widerstehen können.
5. Das Licht wurde kräftiger, je weiter sie vordrangen. Schließlich wurde der Tunnel weiter und endete in einer Felsenkammer, von deren Wänden Wasser tropfte. Von Eis war hier keine Spur mehr zu sehen. Die Temperatur lag einige Grade über dem Gefrierpunkt. Atlan und Razamon sahen sich um. Außer der Mündung des Stollens, aus dem sie gekommen waren, gab es noch zwei weitere Öffnungen. Hinter ihnen breitete sich Finsternis aus. Das Licht, das die Felsenkammer beleuchtete, schien aus der Decke hervorzufließen. Fenrir winselte noch immer. Wenn er sich nicht bewegte, trug er die Rute zwischen den Hinterbeinen eingekniffen. Es war ein merkwürdiger Anblick: das mächtige Tier, der fürchterliche Fenris-Wolf, im Banne der Angst. »In welche Richtung wenden wir uns?« fragte Razamon. Atlan grinste. »Die Frage kam dir geschwind über die Lippen, nicht wahr?« spottete er. »Damit du nicht in Gefahr gerietest, dieselbe Frage von mir zu hören!« Razamon zuckte mit den Schultern. »Natürlich hast du recht«, bekannte er. »Du weißt also genauso wenig wie ich?« »Genauso wenig«, bestätigte der Arkonide. »Laß uns Fenrir als Wegweiser nehmen«, schlug Razamon vor. »Der Weg, vor dem der Wolf weniger Angst hat, ist der unsere!« »Die Idee ist gut«, antwortete Atlan. »Aber ich würde gerade das entgegengesetzte Kriterium nehmen.« »Du würdest in die Richtung gehen, vor der sich der Wolf am meisten fürchtet?« »Ja.« »Warum?« »Fenrir fürchtet sich vor dem, was diese
Das Geheimnis der Eiszitadelle Zitadelle enthält. Die Zitadelle enthält aber Gloophy, den Gott der Wargoons, oder irgend etwas Ähnliches. Was oder wer es auch immer sein mag – wir sind hier, um gerade das zu finden, wovor der Wolf sich fürchtet. Also müssen wir in die Richtung vordringen, die ihm den meisten Schrecken bereitet.« Razamon nickte. »Du hast recht«, bekannte er. »Wie meistens.« Atlan trat vor einen der beiden Ausgänge. Er rief Fenrir zu sich. Der Wolf folgte zögernd. Seine Augen leuchteten, der Atem ging hechelnd. Er wirkte unsicher, aber er hatte keine Angst. Der Arkonide wandte sich nach rechts und schritt auf die andere Stollenmündung zu. »Komm her, Fenrir!« rief er. Da klemmte der Wolf den Schwanz aufs neue zwischen die Beine, hockte sich auf den Boden und ließ den Kopf hängen. Er vermied es, Atlan anzusehen. Als der Arkonide zum zweiten Mal rief, warf das Tier sich vollends nieder, barg den Kopf zwischen den Vorderpfoten und gab ein helles, durchdringendes Winseln von sich. »Jetzt wissen wir, woran wir sind«, sagte Atlan zu Razamon. Der Atlanter nickte. »Jetzt wissen wir es«, versicherte er grimmig. Sie brachen auf. Der Stollen lag finster und drohend vor ihnen. Das Licht der Felsenkammer blieb rasch zurück. Als Atlan sich nach mehr als hundert Schritten umdrehte und an Razamon vorbei zurückblickte, da sah er Fenrir, den Wolf, der sich eben erst entschlossen hatte, den beiden Männern zu folgen. Seine Augen funkelten. Das Nackenhaar war gesträubt. Das Winseln war verstummt, statt dessen drang verhaltenes Grollen aus dem mächtigen Rachen. Fenrir, so schien es, hatte die Furcht überwunden. Er ging in den Kampf.
*
15 Der Stollen wand sich nach rechts. Er beschrieb einen langgestreckten Bogen. Atlan und Razamon waren in westlicher Richtung in die Zitadelle eingedrungen. Während sie dem finsteren Stollen folgten, bewegten sie sich zunächst nach Südwesten und schließlich nach Süd. Fenrir hatte wieder die Führung übernommen. Manchmal blieb er stehen und knurrte. Gewöhnlich hatte er dann die Mündung eines Seitengangs gefunden, wie Atlan sich durch Tasten vergewisserte. Er lief ein paar Schritte weit hinein und kam wieder zurück, als wolle er sagen: Da drinnen gibt's nichts für uns. Atlan wunderte sich über das Ausbleiben der Schwerkraftfallen. Nach allem, was er von Marxos gehört hatte, war zu erwarten, daß es auch im Innern der Zitadelle Zonen erhöhter Gravitation geben müsse. Marxos hatte von einem Antimateriewesen gesprochen, das in der Zitadelle gefangengehalten wurde. Die Vermutung lag nahe, daß künstliche Schwerkraft benützt wurde, um das gefährliche Wesen am Entkommen zu hindern und die Gefahr einer Berührung mit konventioneller Materie zu neutralisieren. War diese Hypothese richtig, dann mußte es auch im Inneren des riesigen Gebäudes Schwerkraftfallen geben. Die Bestätigung, daß es wirklich so war, wie Atlan vermutete, kam auf ganz andere Art und Weise, als er erwartet hatte. Fenrir war ein paar Schritte weit vorausgeeilt, wie man an dem rhythmischen Geräusch der Pfoten hören konnte. Der Stollen schien weiter zu werden. Wenn man in der Mitte stand und beide Arme ausstreckte, erreichten die Hände die Wände nicht mehr, wie sie es früher getan hatten. Ganz unvermittelt stieß der mächtige Wolf ein Geheul aus – so schaurig, daß Atlan die Haare zu Berg standen. Er blieb stehen. In der Dunkelheit vor ihm zuckte ein fahles Leuchten auf. Das Geheul des Wolfes verwandelte sich in ein wütendes, grollendes Knurren. Atlan hörte, wie Fenrir nach etwas schnappte. Er mußte sein Ziel verfehlt ha-
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ben, denn die Fänge schlugen krachend aufeinander. Im selben Augenblick wurde das gespenstische Leuchten zu einem grellen Blitz. Der Wolf heulte auf. Atlan sah, wie er von einer unwiderstehlichen Gewalt erfaßt und zu Boden geschleudert wurde. Der Blitz erlosch. Die Finsternis war vollkommener als je zuvor. Fenrir lag irgendwo in der Dunkelheit und winselte, daß es einen Stein hätte erweichen können. Das Geschehen hatte sich so schnell abgespielt, daß weder Atlan noch Razamon begriffen, was eigentlich vorging – und schon war der Spuk vorüber. Der Arkonide ging auf Hände und Knie nieder und kroch zu der Stelle, von der Fenrirs Winseln kam. Er war noch nicht weit gekommen, da tauchte noch einmal das gespenstische Licht auf, diesmal jedoch in größerer Entfernung, wenigstens einhundert Schritte den Stollen hinab. Und dann geschah das Unglaubliche. Eine Stimme ertönte – eine Stimme so mächtig, daß der Boden erbebte und die Decke zu knistern begann. Die Stimme sprach altmodisches Pthora, und die Worte lauteten: »Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Verrat büßen, den ihr an Phynx begangen habt!«
6. Damals wie heute hatten die Herren der FESTUNG keine treueren, keine verläßlicheren Untertanen als die Leute vom Taamberg, die man später dann die Berserker nannte. Die Taamberg-Krieger taten bedingungslos, was die Herren der FESTUNG von ihnen verlangten. Sie kannten keine Skrupel und kein Erbarmen. Sie schlugen, stachen und trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte, wenn es galt, einen Befehl der Herren auszuführen. Die Herren der FESTUNG hatten Phynx aufgefordert, seine Burg zu verlassen und sie den Herren zur Verfügung zu stellen. Es hatte sich dabei nur um eine Proforma-
Aufforderung gehandelt; denn jedermann wußte, daß Phynx, der letzte Zyklop, das Heim seiner Ahnen niemals freiwillig aufgeben werde. Er hatte es auch nicht für nötig gehalten, die Aufforderung der Herren der FESTUNG zu beantworten. Damit hatten die in der FESTUNG einen ausreichenden Vorwand, um gegen Phynx vorzugehen. Ein Bote wurde zum Taamberg geschickt, um den Kriegern den Befehl der Herren zu überbringen. Yasslan Knyr, der Häuptling des Taamberg-Volkes, rief seine Krieger zusammen und hielt ihnen eine flammende Rede. »Phynx, der stinkende Zyklop, hat die mächtigen Herren der FESTUNG beleidigt!« schrie er. »Wir werden diese Schmach rächen. Wir werden die Burg der Zyklopen stürmen und dem räudigen Phynx den Hals umdrehen – ihm und seinen Trollen!« Weithin hallender Jubel antwortete ihm. Die Krieger eilten, um sich zu bewaffnen. Kaum eine Stunde später war ein Haufe von mehr als achthundert zu allem entschlossener Kämpfer auf dem Weg nach Nordosten, zur Zyklopenküste. Mit den Trollen, von denen Yasslan Knyr gesprochen hatte, hatte es seine eigene Bewandtnis. Die Zyklopen, von denen im übrigen niemand wußte, woher sie eigentlich kamen, waren nicht im pthorischen Sinne des Wortes Menschen. Sie wuchsen bis über drei Meter hoch und hatten statt zwei Augen nur eines, mitten auf der Stirn. Ansonsten aber waren sie wie Menschen gebaut, und auch ihre Lebensgewohnheiten unterschieden sich nicht nennenswert von denen der Menschen. So fanden sie schließlich auch Gefallen an Menschenweibern. Sie holten sie zu sich in die Burg, indem sie sie entweder verführten, kauften oder raubten, und zeugten mit ihnen Nachwuchs. Es war eine skurrile Laune der Natur, die es zuließ, daß Zyklopenmänner und Menschenweiber miteinander fruchtbar waren, und als ebenso skurril entpuppten sich schließlich auch die Geschöpfe, die aus solcherart Verbindungen
Das Geheimnis der Eiszitadelle hervorgingen. Sie waren verwachsen, im Durchschnitt nicht mehr als anderthalb Meter groß, hatten manchmal ein Auge, manchmal zwei, in seltenen Fällen auch drei und besaßen eine Mentalität, die in der Hauptsache aus Gift und Galle bestand. Diese Wesen nannte man Trolle. In Phynx' Burg gab es einige Dutzend Trolle. Der alte Phynx war in jüngeren Jahren ein wilder Bursche gewesen. Seine Gier nach Menschenweibern hatte ihn quer durchs ganze Land getrieben, bis hinunter zur Großen Barriere von Oth. Dort war sein Auge auf die Tochter eines Magiers gefallen. Er hatte das Mädchen zu überreden versucht, sie solle mit ihm kommen. Er hatte ihrem Vater einen Sack voll Quorks geboten. Und als all dies nichts fruchtete, hatte er die Schöne schließlich geraubt und mit sich auf seine Burg genommen. Das Mädchen aber war einem jungen Magier namens Orthwin versprochen gewesen. Orthwin hatte seine Braut geliebt und den Schmerz des Verlusts niemals ganz verwunden. Den Herren der FESTUNG die Zyklopenburg als sicheren Aufbewahrungsort für das Objekt aus Antimaterie anzubieten, war Orthwins späte Rache für Phynx' Ruchlosigkeit. Yasslan Knyr aber wußte, daß er und seine Krieger, wenn sie in die Burg eindrangen, es nicht nur mit Phynx zu tun haben würden, der alleine schon ein ernstzunehmender Gegner war, sondern obendrein noch mit sechzig bis siebzig Trollen, die es in ihrer hinterlistigen Verbissenheit wohl verstanden, einem Kämpfer das Leben sauer zu machen.
* Natürlich wußte Phynx, was ihn erwartete. Die Zeiten, da die Zyklopen als souveräne Herren über das Land an der Nordküste herrschten, waren längst vorbei. Auf Pthor galt nur noch ein Regime: das der Herren der FESTUNG. Als Phynx darauf verzichtete, die Aufforderung der Herren der FESTUNG zu beantworten, wußte er, daß er
17 sich damit Ärger an den Hals holte – mehr noch: daß er sein Todesurteil sprach. Denn die Herren der FESTUNG würden die Beleidigung nicht ungestraft hinnehmen, und ihnen standen mehr Mittel zur Verfügung als ihm. Phynx war's zufrieden. Er hatte sein Leben gelebt – mehrere hundert Jahre lang. Mit ihm ging das Geschlecht der Zyklopen zu Ende. Er würde dafür sorgen, daß es ein Ende wurde, an das sich Pthor noch lange erinnern konnte. Als Yasslan Knyr mit seinen mehr als achthundert Kriegern erschien, hatten die Trolle sämtliche Zinnen der Burg bemannt und gossen Pech und flüssiges Blei auf die Angreifer hinab. Knyr verlor zweihundert Leute, bevor er auch nur einen Fuß ins Innere der Burg setzte. Aber die Pfeile seiner Krieger wüteten auch unter den Trollen. Drei Dutzend starben bei dem verzweifelten Bemühen, die Angreifer von der Burg fernzuhalten. Der blutige Kampf zog sich durch die Hallen und Gänge der Burg. Während das Häuflein seiner Getreuen schrumpfte, zog sich Phynx in den großen Saal zurück, in dem vor Jahrhunderten seine Vorfahren ihre wilden Feste gefeiert hatten. Ein einziger Troll diente ihm als Bote und hielt ihn über den Fortgang des Kampfes auf dem laufenden. So erfuhr Phynx, daß Yasslan Knyr höchstens noch eine Handvoll Krieger übrig haben würde, wenn er den großen Saal erreichte. Schließlich war der Augenblick gekommen. Unter mörderischen Axthieben zerbarst das mächtige Portal. Yasslan Knyr stürmte herein, gefolgt von neun Kriegern. Keiner von ihnen war unverletzt. Yasslan hatte ein Auge verloren, Blut strömte aus der leeren Höhle. Er erblickte den Troll, den letzten der Getreuen, fuhr mit einem wilden Schrei auf ihn zu und trennte ihm mit einem Schwertstreich den unförmigen Schädel von den Schultern. »Halt ein!« dröhnte in diesem Augenblick Phynx' mächtige Stimme.
18 Der letzte der Zyklopen saß auf einem riesigen steinernen Sessel in der Mitte des Saales. Zu dem Sessel führten drei breite Stufen hinauf. Phynx trug das Festgewand seines Geschlechts, eine wallende Robe aus purpurfarbenem Stoff. Mit halb erhobener Waffe war Yasslan Knyr stehengeblieben. »Bist du jetzt so wie ich?« verhöhnte ihn Phynx. »Siehst du nur noch aus einem Auge? Sag' mir, du Verräter – was hat dich veranlaßt, mich in meiner Burg zu überfallen?« »Du hast die Herren der FESTUNG beleidigt!« antwortete ihm Yasslan schrill. »Was ficht's dich an?« »Sie sind meine Herren! Wer sie beleidigt, beleidigt auch mich!« Da lachte Phynx schallend. »Zum Beleidigen braucht's Ehre! Wer keine Ehre hat, kann auch nicht beleidigt werden! Wie erklärst du dir das, du größter aller Feiglinge, der mit achthundert Mann anrückt, um eine Burg mit siebzig Insassen zu überfallen?« Das war mehr, als Yasslan Knyr aushalten konnte. Mit einem halberstickten Schrei fuhr er auf den steinernen Thron zu. Aber Phynx hatte sich vorgesehen. Sein Gewand teilte sich. Unter den purpurnen Falten kam eine Harpune zum Vorschein, eine Pekto. Mit dumpfem Schlag löste sich das Geschoß und fuhr dem Angreifer in den Hals. Yasslans Schrei endete mit einem gurgelnden Röcheln. Der Anführer der TaambergKrieger stürzte vornüber. Das Schwert entglitt seiner Hand und rutschte, vom eigenen Schwung getragen, scheppernd über den steinernen Boden. Die neun Krieger standen einen Augenblick lang vor Schreck erstarrt. Dann kamen sie auf den Zyklopen zu, und in ihren Augen funkelte die Mordlust. Sie sahen die Harpune, in Phynx' Hand eine furchtbare Waffe. Sie wußten, daß er wenigstens die Hälfte von ihnen umbringen würde, bevor der Rest bis zu dem steinernen Thron vordrang. Aber der Tod bedeutete ihnen wenig. Sie waren Krieger.
Kurt Mahr Phynx hob die Waffe. Die Taamberg-Leute sahen es und rückten dennoch weiter. Dann aber geschah etwas völlig Unerwartetes. Phynx lachte dröhnend auf. Er schleuderte die Harpune unter die Angreifer und rief: »Was soll das Morden, ihr Narren? Ihr habt nicht genug Gehirn, um zu begreifen, worum es hier geht. Wozu soll ich mir die Finger an euch schmutzig machen?« Dann hob er den rechten Arm, und die Krieger vom Taamberg duckten sich unwillkürlich; aber Phynx wollte ihnen nichts antun. Als sei der erhobene Arm ein Signal gewesen, tat sich rings um den steinernen Thron plötzlich der Boden auf. Der mächtige Sessel mit dem letzten der Zyklopen stürzte in die Öffnung. Hohl und schaurig gellte Phynx' Gelächter aus dem finsteren Schacht, der sich unter seinem Thron aufgetan hatte. Die Krieger vom Taamberg schworen später, das Gelächter habe nie wirklich aufgehört – es sei nur immer schwächer geworden, bis man es nicht mehr hören konnte. Sie stürzten herbei. Aber bevor sie die Stelle erreichten, an der der Thron des Zyklopen gewesen war, hatte sich der Schachtmund längst wieder geschlossen. Sie standen da und starrten einander verwundert an. Dann nahmen sie die Leiche ihres Anführers auf und verließen die Burg. Am nächsten Tag erfuhren die Herren der FESTUNG, daß die Burg der Zyklopen zu ihrer Verfügung stand.
* Über der Landschaft aus Antimaterie war es ein paarmal hell und wieder dunkel geworden. Tag und Nacht kamen und gingen, ohne daß Kolphyr erkennen konnte, was den Wechsel der Helligkeit bewirkte. Inzwischen hatte er das Leben in dem fremden Land aufmerksam studiert. Leistungsfähige optische Geräte an Bord des Dimensionstauchers holten die Oberfläche so nahe heran, daß der Forscher sogar die Gestalten der
Das Geheimnis der Eiszitadelle Wesen erkennen konnte, die das Land bevölkerten. Sie waren wesentlich kleiner als er, aber sie besaßen ebenfalls vier Extremitäten und gingen aufrecht. Es schien unter den fremden Geschöpfen eine ganze Reihe verschiedener Varianten zu geben. Manche waren dunkelhäutig, andere dagegen von heller Hautfarbe. Eine Zeitlang glaubte Kolphyr sogar, es gebe rot, grün und blauhäutige Exemplare. Aber dann entdeckte er, daß diese Leute die Angewohnheit hatten, ihren Körper mit Stücken bunten Materials zu bedecken. Was er sah, war nicht ihre Haut, sondern ihre Kleidung. Inzwischen hatte Einbein versucht, mit den Bewohnern der fremden Welt Verbindung aufzunehmen. Er hatte jedes gängige Kommunikationsmittel ausprobiert, aber keine einzige Antwort erhalten. Es mochte natürlich sein, daß die Velst-Hülle das Raumei nach außen abschirmte und die Antwortimpulse entweder absorbierte oder reflektierte. Um mehr darüber aussagen zu können, hätte man wissen müssen, welche Verständigungsmethoden die Fremden verwendeten. Kolphyr stellte fest, daß das Leben auf der fremden Welt wesentlich primitiver war als das auf Grulpfer. Die Fremden lebten in der Hauptsache in großen Siedlungen zusammen, während es auf Grulpfer schon seit langen Jahrtausenden keine Wohnkonzentrationen mehr gab. Die Fremden hatten offenbar auch Streitigkeiten untereinander, denn des öfteren sah man ganze Horden, die miteinander kämpften. Bei den Kämpfen gab es Tote – ein durchschlagender Beweis für die Primitivität dieser Leute. Nach seinen vergeblichen Versuchen, mit den Bewohnern des Antimateriebrockens Verbindung aufzunehmen, hatte Einbein sich daran gemacht, die Wechselwirkung zwischen dem Velst-Schleier und der fremden Energiefeldhülle zu analysieren. Denn es war diese Wechselwirkung, die den Dimensionstaucher manövrierunfähig machte. Gelang es, den Einfluß zu erkennen, der von
19 ihr auf das Triebwerkssystem ausging, dann war es vielleicht möglich, das Fahrzeug wieder in Bewegung zu versetzen. Einbein war sich darüber im klaren, daß es – selbst wenn sie aus dem Bann des Antimateriebrockens entkamen – so gut wie unmöglich sein werde, Grulpfer wiederzufinden. Aber er wußte sich mit Kolphyr einig, daß eine wenn auch lebenslange Suche nach der Heimatwelt dem Gefangensein unter der Schirmfeldhülle des Antimateriebrockens vorzuziehen sei. Einbein war mit seiner Analyse noch nicht allzu weit gekommen, da trat eine drastische Änderung der Lage ein. Einbeins Meßgeräte waren die ersten, die davon Wind bekamen. Der Roboter studierte die Anzeigen sorgfältig. Dann wandte er sich an Kolphyr. »Man umgibt das Fahrzeug mit einem künstlichen Schwerkraftfeld«, sagte er. Kolphyr reagierte überrascht. »Künstliche Schwerkraft?« fragte er. »Die Leute dort unten erscheinen mir viel zu primitiv, als daß sie etwas von künstlicher Schwerkraft verstehen könnten!« Es war dieselbe Diskrepanz zwischen pthorischer Lebensart und pthorischem Wissen, die einige Jahrtausende später Atlan, den Arkoniden, so sehr verwirrte wie in diesem Augenblick den beraischen Forscher. Einbeins Meßergebnisse waren jedoch eindeutig und ließen keinen Zweifel zu. Die Sphäre aus künstlicher Gravitation kontrahierte rasch und gewann dabei an Intensität. Es war klar, was die Fremden beabsichtigten. Sie fürchteten sich vor dem Fahrzeug, das in ihren Augen aus Antimaterie bestand. Sie wollten die Gefahr neutralisieren und wahrscheinlich auch das gefährliche Objekt an einem sicheren Ort unterbringen. Was sie nicht vorhersehen konnten, war, wie der Velst-Schleier und die energetische Hülle des Dimensionstauchers auf eine solche Behandlung reagieren würden. »Damit sind wir so ziemlich am Ende, Einbein«, sagte der Forscher zu seinem Roboter. »Da hast du recht«, bekannte Einbein.
20 »Der Velst-Schleier wird die Schwerkraftenergie umformen und Hyperbar-Impulse daraus machen, die unser Fahrzeug aufzehren.« »Und danach«, ergänzte Kolphyr, »werden nur noch der Schleier, wir und die nichtenergetischen Bestandteile der Inneneinrichtung übrig sein. Das Gravitationsfeld wird uns in die Tiefe ziehen und an irgendeinen Ort fesseln, der den Barbaren dieser Welt sicher erscheint.« Einbein machte die Geste der Zustimmung. Er fügte hinzu: »Ein brillanter Forscher wie du hätte ein besseres Schicksal verdient.« »Ein Schicksal verdient man sich nicht. Schicksal ist weiter nichts als Statistik«, zitierte Kolphyr seine Lebensphilosophie, die sich zugegebenermaßen von der vieler seiner Landsleute erheblich unterschied. »Es bringt nichts ein, darüber zu jammern, daß man gerade der eine unter einhundert Millionen ist, dem das ganz Außergewöhnliche zustößt. Allerdings muß ich bekennen, daß ich deine Gesellschaft vermissen werde.« Roboter wurden für eine beschränkte Lebensdauer hergestellt. Oder, wie es die Leute auf Grulpfer ausgedrückt hätten: Roboter erlebten nur eine begrenzte Anzahl verschiedener kosmischer Zustände, während die eigentlichen Beras deren unendlich viele durchmachten. Wenn Einbeins Grenzzahl erreicht war, würde er aufhören zu existieren. Von da an war Kolphyr allein. Die Aussicht war nicht sonderlich ermutigend. »Bis dahin sind es immerhin noch ein paar Millionen Makrozustände«, versuchte Einbein den Forscher zu trösten. »Wer weiß, was inzwischen geschieht!« »Du hast recht«, ereiferte sich Kolphyr. »Im Grunde genommen haben wir nicht nur keinen logischen Grund, sondern auch keinen moralischen Anlaß, uns zu beklagen. Immerhin widerfährt uns etwas Einmaliges. Wir erleben etwas, was noch kein anderer beraischer Forscher erlebt hat. Sollte es uns jemals gelingen, nach Grulpfer zurückzukehren, werden wir die Wissenschaft um ei-
Kurt Mahr nige höchst bedeutsame Erkenntnisse bereichern können.« Damit gab er sich vorerst zufrieden. Zusammen mit Einbein beobachtete er aufmerksam, wie die Gravitationssphäre immer energiereicher wurde. Ein leises Flimmern außerhalb des Dimensionstauchers deutete schließlich an, daß die Schwerkraftenergie mit dem Velst-Schleier in Wechselwirkung getreten war. Gleich darauf begann die Hülle des Fahrzeugs, sich allmählich aufzulösen.
7. Koy gelangte in einen weiten, finsteren Korridor. Die Dunkelheit schreckte ihn zunächst. Aber Einbein blieb bei ihm und unterhielt sich mit ihm. Dadurch verlor Koy seine Angst. Er stellte viele Fragen, aber das seltsame Wesen namens Einbein beantwortete nur wenige von ihnen. »Wer bist du eigentlich?« wollte er zum Beispiel wissen. »Gehörst du zu den Magiern aus der Großen Barriere von Oth?« »Warum soll ich zu diesen gehören?« wich Einbein der Frage aus. »Weil nur ein Magier es versteht, sich unsichtbar zu machen!« »Ich sagte dir schon, ich bin nicht unsichtbar. Ich bestehe aus einer Substanz, die deine Augen nicht sehen können.« »Das ist für mich dasselbe«, brummte Koy. »Wenn du also nicht von der Großen Barriere kommst, woher kommst du dann?« »Von so weit her, daß du dir keine Vorstellung machen kannst!« antwortete Einbein. Da versuchte es Koy auf eine andere Art. Er stieß ein spöttisches Lachen aus und rief: »Ich sehe schon, du weißt selbst nicht, woher du kommst!« Das wollte Einbein nicht auf sich sitzen lassen. »Halt du dich und deinesgleichen für dumm, nicht aber den höchstentwickelten Roboter von Grulpfer!« »Aha – Grulpfer!« machte Koy. »Und wo
Das Geheimnis der Eiszitadelle liegt diese finstere Welt?« »Hinter den Dimensionen«, lautete Einbeins Antwort. »Du würdest das nicht verstehen!« »Ich zweifle daran, daß du es verstehst!« sagte der Trommler bissig. »Was hast du überhaupt hier zu suchen?« »Ich bewache den Forscher!« »Welchen Forscher?« »Sein Name ist Kolphyr.« »Wonach forscht er?« »Er pflegte die Dimensionen zwischen den Universen zu erforschen. Aber seitdem wir hier gelandet sind, ruht er.« Das fand Koy überaus interessant. »Er ruht? Kann man ihn wecken? Ich möchte mit ihm sprechen!« »Das geht nicht«, antwortete Einbein. »Warum nicht?« »Er liegt auf einer Bahre, von dem VelstSchleier umgeben. Der Schleier macht ihn zum Bestandteil eines anderen Kosmos, und das ist gut so, denn er besteht aus einer anderen Materie als diese Welt. Wenn der Velst-Schleier eines Tages aufhörte zu existieren, müßte es zu einer gewaltigen Explosion kommen. Niemand kann mit dem Forscher sprechen, selbst ich nicht.« Da blieb Koy stehen und starrte durch die Finsternis in die Richtung, aus der die Stimme zu kommen schien. »Du flunkerst nicht etwa?« fragte er. »Was ist das – flunkern?« erkundigte sich Einbein. »Dich über mich lustig machen, aus mir einen Narren machen, oder sowas Ähnliches!« »Warum sollte ich das?« »Du kommst von derselben Welt wie der Forscher, nicht wahr?« »Ja.« »Wieso brauchst du dann keinen VelstSchleier – oder wie das Ding heißt? Wieso kann ich mich mit dir unterhalten, aber nicht mit dem Forscher?« Der unsichtbare Einbein gab ein Geräusch von sich, das wie ein menschlicher Seufzer klang.
21 »Weil ich nicht mehr in meiner ursprünglichen Daseinsform existiere«, antwortete er. »Das Zusammenwirken zwischen Schwerkraft und Velst-Schleier erzeugte einen merkwürdigen Effekt. Ich war einst ein Roboter. Die kombinierte Wirkung der beiden Einflüsse verzehrte meine Substanz und abstrahierte gleichzeitig meine Fähigkeit zu denken, zu kombinieren, zu hören, zu schmecken, zu fühlen, zu sehen und zu sprechen zu einem stabilen und gleichzeitig beweglichen Gebilde aus Energie. Diese Energie ist den Energieformen verwandt, wie sie in diesem Universum gebräuchlich sind. Ich kann mich also frei bewegen. Ich bin nicht an die Eiszitadelle gebunden, obwohl ich mich die meiste Zeit über hier aufhalte, um über Kolphyr zu wachen. In den vergangenen Jahrhunderten habe ich euer Land durchstreift und eure Sprache gelernt.« Koy schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht«, bekannte er. »Das glaube ich dir gerne«, erwiderte Einbein von oben herab. »Geschöpfe von meiner Art gibt es nur ganz selten. Solche Geschöpfe vereinigen in sich den Höchstgrad geistiger Vollkommenheit mit einem Maximum an Ungebundenheit.« In diesem Augenblick erschien irgendwo weit voraus ein fahles Leuchten, das mit huschenden Bewegungen näherkam. Eine mächtige Stimme dröhnte: »Wer wagt es, in meinem Reich einen solchen Lärm zu vollführen? Da sollen doch gleich alle elftausend zyklopischen Geister dreinschlagen!« »Wer … wer ist das?« stotterte Koy furchtsam. »Ein Barbar«, antwortete Einbein in angewidertem Tonfall. Hastig fügte er hinzu: »Ich kann jetzt nicht mehr bei dir bleiben. Ich muß mich um andere Dinge kümmern. Vielleicht sehe ich dich später einmal wieder!« Koy starrte verblüfft in die Richtung der Stimme. »Ich glaube gar, du hast Angst!« rief er
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aus. Aber Einbein war schon verschwunden. Wahrscheinlich hatte er wirklich Angst.
* Das Leuchten kam näher und wurde dabei heller. Koy erging es nicht anders als dem körperlosen Roboter: Er fürchtete sich. Aber das merkwürdige Leuchtgebilde hielt ein Dutzend Schritte vor ihm an, als ahne es, daß der Trommler sich vor ihm ängstigte, und die mächtige Stimme sprach viel sanfter als zuvor: »Was sehe ich? Du bist doch nicht etwa ein Troll?« »Ich … ich weiß nicht, was ein Troll ist!« stieß Koy furchtsam hervor. »Du weißt nicht, was ein Troll ist?« Daß jemand so unwissend sein könne, schien den Leuchtenden zu erzürnen. Er brüllte die Frage, daß der Boden zitterte. Koy wich entsetzt ein paar Schritte zurück. »Verzeih mir!« rief er. »Aber ich weiß es wirklich nicht!« »Aber von den Zyklopen hast du gehört?« rief der Leuchtende. »Ja«, antwortete Koy, halbwegs erleichtert, daß er nicht auch in diesem Falle seine Unwissenheit bezeugen mußte. »Und von Phynx, dem letzten der Zyklopen?« »Auch von dem«, bekannte Koy. »Der muß ein wahres Scheusal gewesen sein!« »Was …?« Das diffuse Leuchtgebilde begann zu flackern. Blitzende Tentakel fuhren auf den armen Trommler zu. Er fühlte, wie sie an seiner Kleidung zu zerren begannen. Er spürte, wie das geheimnisvolle Wesen ihn niederringen wollte. Er geriet in Panik. In seiner namenlosen Angst fiel ihm nichts anderes ein, als das zu tun, was er immer tat, wenn er in Lebensgefahr war: Er versetzte die Broins in Schwingungen und ließ die beiden Kugeln gegeneinanderschlagen, bis er das dumpfe Gedröhn der Trommeln hörte. Da gellte vor ihm ein wilder Schrei auf.
Die leuchtenden Tentakel gerieten in wirbelnde Bewegung und wurden blitzschnell zurückgezogen. Die schimmernde Nebelwolke sah plötzlich aus, als sei sie in einen Sturmwind geraten. Sie wich zurück. Vor lauter Überraschung hörte Koy auf zu trommeln. »Du bist ja ein ganz gefährlicher Bursche!« sagte die mächtige Stimme mit einem unverkennbaren Unterton von Hochachtung. »Vor dir muß man sich in acht nehmen! Wer bist du eigentlich?« »Ich bin Koy, der Trommler.« »Gehorchst du den Herren der FESTUNG?« »Ich habe ihnen gehorcht. Aber jetzt, glaube ich, sind sie hinter mir her, weil ich ihren Befehl nicht befolgt habe.« Der Leuchtende gab ein dröhnendes Gelächter von sich. »Das ist sehr gut, mein Freund! Und weißt du auch, wer ich bin?« Koy war nicht auf den Kopf gefallen. »So, wie du vorhin reagiert hast, müßtest du Phynx, der letzte Zyklop, sein.« Das Lachen brandete von neuem auf. »Dumm bist du auch nicht, mein Sohn! Wir sollten Freunde werden! Denn was die Herren der FESTUNG dir über das Geschlecht der Zyklopen erzählt haben, ist weiter nichts als Lüge. Nicht die Zyklopen waren Übeltäter, sondern die aus der FESTUNG. Sie haben mich um mein Erbe betrogen. Sie haben die Krieger vom Taamberg auf mich gehetzt und meine Trolle getötet. Ich selbst war des Lebens überdrüssig. Ich besiegte den Führer der Angreifer, schoß ihm meine Pekto in den Hals – und dann wollte ich mit mir selbst Schluß machen. Unter meinem steinernen Sitz gab es einen Schacht, der weit in die Tiefe führte. Ich hatte ihn so hergerichtet, daß er mich mitsamt dem Sitz aufnehmen würde. Ich wollte vor den Augen der dummen Taamberg-Leute verschwinden. Ich gönnte ihnen nicht den Triumph, den letzten der Zyklopen getötet zu haben.« Der Leuchtende seufzte.
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Aber ich hatte mich verrechnet. Ich stürzte – aber der Sturz war nicht tief genug, um mir das Leben zu nehmen. Ich lag auf dem Grund des Schachtes – wie viele Tage und Nächte, das weiß ich nicht mehr. Sämtliche Glieder waren gebrochen. Der Schmerz wollte mich zum Wahnsinn treiben. Aber irgendwie hing ich am Leben. Dann plötzlich geschah etwas ganz Eigenartiges. Ich spürte neue Kraft. Dünne, leuchtende Bahnen krochen durch den finsteren Schacht herab auf mich zu. Sie umfingen mich. Zuerst machten sie den Schmerz noch schlimmer. Aber dann muß irgend etwas in mir gerissen sein. Ich ließ den zerschundenen Körper zurück. Ich war nur noch das Bewußtsein von Phynx, dem letzten Zyklopen.« Staunend hatte Koy die Geschichte vernommen. Er entdeckte Ähnlichkeiten mit dem, was ihm Einbein vor kurzem erzählt hatte. Auch er war durch eine fremde Kraft gerettet worden. »Und seitdem lebst du allein in den Tiefen der Eiszitadelle?« fragte der Trommler. »Eiszitadelle?« antwortete der Leuchtende überrascht. »Ist das, was sie meine Burg heutzutage nennen?« »Ja. Denn die Burg ist von Eis bedeckt – ebenso wie das ganze Land ringsum bis hinauf zur Eisküste.« »So ist das also«, antwortete der Leuchtende, als sei ihm soeben eine Erklärung zuteil geworden, nach der er lange gesucht hatte. »Das ist köstlich! Die Herren der FESTUNG haben eine fremde Kraft eingesetzt. Warum, weiß ich nicht. Aber die Wirkung, die sie erzielte, muß für die in der FESTUNG ziemlich überraschend gekommen sein! Sie verwandelte das blühende Land in eine Eiswüste, und sie erweckte sogar den verruchten Phynx wieder zum Leben!« Er begann von neuem zu lachen. Diesmal hatte Koy weniger Angst als zuvor und konnte aufmerksamer beobachten. Die Stimme des Leuchtenden war in der Tat so mächtig, daß sie den Boden zum Zittern und das Deckengefüge zum Knirschen brachte. Von
23 den Wänden rieselte Staub. Vergebens versuchte Koy, sich vorzustellen, welch ein Ungetüm Phynx zu Lebzeiten gewesen sein mußte. Der Zyklop jedoch hatte Koys ursprüngliche Frage nicht vergessen. »Lebe ich allein?« wiederholte er. »Eigentlich nicht. Da geistert ein Widerling durch die geweihten Gemächer. Er spricht unsere Sprache auf eigentümliche Art und Weise und nennt sich Einbein. Er kam mir ein paarmal unbotmäßig, da mußte ich ihn mir zurechtbiegen. Seitdem hat er den nötigen Respekt. Und dann gibt es noch das merkwürdige Geschöpf im Festsaal. Es liegt dort, umgeben von einem leuchtenden Schleier, und durch den weiten Raum laufen feurige Schlangen, so wie sie damals zu mir in den Schacht herabkrochen. Ich glaube, es ist ein Unglückseliger, den die Herren der FESTUNG dort aufgebahrt haben. Woher er kommt, weiß ich nicht. Dieser Einfaltspinsel namens Einbein nennt ihn einen Forscher. Ich habe versucht, mit dem Forscher zu sprechen. Aber obwohl ich weiß, daß er noch lebt, hat er mir niemals geantwortet.« »Woher weißt du, daß er noch lebt?« fragte Koy. »Manchmal bewegt er seine Augen«, antwortete der Leuchtende. »Und seit neuestem gibt es da noch etwas anderes!« Der Wechsel im Tonfall war unverkennbar. Was es auch immer war, das da seit neuestem existierte, es schien den letzten Zyklopen zu erregen. »Was ist das?« erkundigte sich der Trommler. Der Leuchtende beantwortete die Frage nicht direkt. »Es waren die Herren der FESTUNG, die mich betrogen«, sagte er. »Aber es waren die Leute vom Taamberg, die hierherkamen, um mich zu töten. Seit langen Jahrhunderten warte ich darauf, daß mir endlich wieder einmal einer von den Taamberg-Leuten zu Gesicht kommt. Und heute ist es geschehen. Ich habe einen von ihnen gesehen! Er muß die Ge-
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schichte seiner Ahnen vergessen haben, sonst hätte er sich nicht hierher gewagt. Aber für sein schlechtes Gedächtnis bin ich nicht verantwortlich. Er wird mir für die Falschheit seiner Vorfahren büßen!«
8. Es dauerte nicht lange, da war die Energiehülle des Dimensionstauchers verschwunden. Verschwunden waren auch die Zwischenwände, die das Innere des Fahrzeugs in mehrere Decks eingeteilt hatten. Nur die Einrichtungsgegenstände waren noch vorhanden – und natürlich Kolphyr mit seinem Begleiter, dem Roboter namens Einbein. Das Zusammenwirken zwischen künstlicher Schwerkraft und dem Velst-Schleier schuf im Innern des kugelförmigen Gebildes, das von dem Gravitationsfeld umschlossen wurde, stabile Zustände. Kolphyr saß nach wie vor in dem bequemen Sessel, der sich nicht vom Fleck rührte und vor ihm schwebte die Konsole, mit der er früher sein Fahrzeug gesteuert und seine Experimente kontrolliert hatte. Das Ganze allerdings setzte sich wenig später in Bewegung. Die unsichtbare Kugel aus künstlicher Schwerkraft begann zu sinken. Das fremde Land kam näher. Die Kugel bewegte sich auf eine Küste zu, die von den Wellen des Meeres bespült wurde. Das Bild wurde um so verwirrender, je näher die Kugel kam. Aus der Höhe hatte Kolphyr die Grenzen des Antimateriebrockens klar erkannt. Allmählich jedoch entstand am Horizont ein diesiger Schleier, der die Sicht blockierte. So entstand der Eindruck, als reiche die türkisfarbene Fläche des Meeres bis in alle Unendlichkeit, während Kolphyr doch wußte, daß die Wasserfläche schon nach ein paar hundert Metern an der Grenze des Antimaterieklotzes endete. Das Land war grün und fruchtbar. Es gab weder Straßen noch Siedlungen, nur ein einziges mächtiges Gebäude, das sich auf einem Felsen unweit der Küste erhob. Es war
von einer gewaltigen Mauer umgeben und bestand aus Dutzenden ineinander verschachtelter Bauten, die Generationen von Bewohnern nacheinander wohl errichtet zu haben schienen. Als die Gravitationskugel sich dem riesigen Gebäude näherte, öffnete sich in der Mauer ein hohes Portal. Kolphyr spürte, wie das künstliche Schwerkraftfeld sich zusammenzog und seinen Durchmesser verringerte, um nirgendwo anzustoßen. Hinter dem Portal kamen einige Meter freier Fläche und dann abermals ein Eingang, von dem aus ein finsterer Gang in die Tiefe des Bauwerks führte. Kolphyr ließ sich von Einbein, der auch in der Finsternis sah, über die Fahrt durch die Dunkelheit berichten. Die Kugel schwebte breite, hohe Korridore entlang, bog ein paarmal ab, durchquerte einige Hallen mit Mobiliar, das für Giganten gefertigt zu sein schien, und gelangte schließlich in einen Saal von atemberaubender Größe. Diesen Saal sah Kolphyr mit eigenen Augen, denn er war durch mächtige Fackeln beleuchtet, die in den Wänden staken. In der Mitte des riesigen Raumes stand ein niedriger Felsblock mit glatter Oberfläche. Er erhob sich an derselben Stelle, an der früher Phynx' steinerner Thron gestanden hatte, aber das wußte Kolphyr nicht. Die Gravitationskugel strebte auf diesen Felsblock zu. Und plötzlich begannen die Dinge sich zu verändern. Als erstes bemerkte Kolphyr, wie die Konsole anfing sich aufzulösen. Die bunten Schaltflächen verschwanden, wurden zu Nebel, trieben davon und verschwanden. Die hellgraue Basis wurde durchsichtig und war auf einmal nicht mehr da. Hilflos sah der Forscher dann zu, wie sich ein Gegenstand nach dem anderen auflöste und zu existieren aufhörte. Er wandte sich um und sprach zu Einbein: »Was ist das? Was geht hier vor?« »Die Wechselwirkung zwischen Velst und Schwerkraft macht bei energetischen Gebilden nicht halt«, antwortete der Robot. »Sie zerstört alles, was erstens nicht orga-
Das Geheimnis der Eiszitadelle nisch und zweitens aus fremder Materie gefertigt ist.« »Fremder Materie?« fragte Kolphyr verwundert. »Fremd für diese Welt«, erklärte Einbein. »Für unsere Begriffe besteht sie aus Antimaterie. Für ihre Begriffe bestehen wir aus Antimaterie.« »Alles was nicht organisch ist …«, wiederholte Kolphyr murmelnd. Plötzlich gab es ihm einen Ruck. Er starrte den Roboter an. »Das bedeutet …«, stieß er hervor. Einbein machte die Geste der Zustimmung. »Wir müssen uns voneinander verabschieden«, sagte er. Kolphyr brauchte nicht lange, um seine Fassung wiederzugewinnen. Es war unter der Würde eines Forschers, in einem Zustand seelischen Ungleichgewichts zu verharren. »Du wirst mir fehlen, Einbein«, sprach er zu dem Roboter. »Ich bedaure, daß ich nicht hierbleiben kann, um dir weiterhin Gesellschaft zu leisten«, antwortete Einbein. Dann begann auch er, sich aufzulösen. Inzwischen hatte die Gravitationskugel den flachen Felsblock erreicht. Kolphyr spürte, wie sie anfing, ihre Form zu ändern. Sie zerfloß und wurde zu einem plattgedrückten Gebilde, das den Forscher an die Oberfläche des Felsklotzes fesselte. Der Sog des Feldes breitete ihn langgestreckt auf die steinerne Fläche. Der Velst-Schleier paßte sich der veränderten Situation an. Er schob sich als hauchdünne Schicht zwischen Kolphyr und die Unterlage, auf die der Forscher zu ruhen kam. Ansonsten umgab er Kolphyr weiterhin wie eine Blase, durch deren energetische Hülle nur die Luft drang, die der Forscher zum Atmen brauchte – und auch diese erst, nachdem die Gasmoleküle neutralisiert worden waren, so daß sie ihren Antimateriecharakter verloren. Schließlich zerfloß die Gravitationskugel vollends. Sie löste sich in einzelne Bahnen auf, die den Körper des Forschers wie Fes-
25 seln umgaben, an den Seiten des Felsblocks hinabliefen und den Boden der riesigen Halle überquerten, bis sie an den Wänden endeten. Sie strahlten ein mattes Leuchten aus, und dort, wo sie auf die Wände trafen, begannen auch diese zu strahlen. Kolphyr war in ein Netz aus Velst und künstlicher Schwerkraft eingesponnen, das ihm nur ein Minimum an Bewegungsfreiheit ließ. Er war gefangen. Einmal, als er schon einen halben Makrozustand lang auf der Felsplatte gelegen hatte, glaubte er, eine vertraute Stimme zu hören. Es war ihm, als ob er Einbein rufen höre: »Bei allen Geistern – das ist schön!« Kolphyr drehte den Kopf so weit, wie es die Fesselung ihm erlaubte, und fragte: »Einbein – bist du das?« Aber er erhielt keine Antwort.
* Die Gravitationsfesseln, die den Forscher an die Oberfläche des Felsblocks banden, reichten in Wirklichkeit viel weiter als Kolphyr sehen konnte. Sie durchdrangen die Wände des alten Gebäudes und reichten bis in die tiefsten Tiefen hinab, wo sie wie Anker wirkten, die dafür sorgten, daß sich das Schwerkraftnetz nicht lockerte. Aber auch rings um die Burg, die früher den Zyklopen gehört hatte, entstand ein Gewirr von künstlichen Schwerkraftfeldern. Die ganze Burg wurde in ein Gravitationsgespinst eingehüllt. Dieses Gespinst hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der gefährliche Fremde an Ort und Stelle gebannt blieb. Gleichzeitig aber sorgte es dafür, daß kein Unberufener sich der Burg näherte oder sie gar betrat. Die Herren der FESTUNG waren mit der geleisteten Arbeit zufrieden. Das fremde Wesen war an einen sicheren Ort gebunden, die Gefahr, die von ihm ausging, neutralisiert. Die Schwerkraftprojektoren, die in der Zyklopenburg installiert worden waren, würden eine halbe Ewigkeit lang aushalten.
26 Es gab ein ausgeklügeltes Monitor-System, das beizeiten Alarm schlagen würde, wenn einer der Projektoren auszufallen drohte. Es sah so aus, als würde die vernichtende Explosion, die sich dann ereignen mußte, wenn das Geschöpf aus Antimaterie mit der Substanz von Pthor in Berührung kam, niemals stattfinden. So gingen ein paar Monate ins Land. Da wurde den Herren der FESTUNG hinterbracht, daß an der Zyklopenküste die Bäume das Laub abwarfen und das Gras braun wurde. Späher, die die Umgebung der alten Zyklopenburg im Auge behielten, berichteten, daß des Morgens Rauhreif auf dem Land liege und auch während des Tages die Temperaturen kaum über zehn Grad anstiegen. Und das in einer Jahreszeit, in der ganz Pthor unter drückender Hitze litt! Die Herren der FESTUNG zitierten die Magier aus der Großen Barriere von Oth. Die Magier kamen, an ihrer Spitze Orthwin, und analysierten die Lage. Sie verbrachten mehrere Wochen in der Gegend, die nach ihren früheren Bewohnern die Zyklopenküste genannt wurde. Als sie zurückkehrten, hatte Orthwin folgendes zu melden: »Die künstlichen Schwerkraftfelder, die die Umgebung der ehemaligen Burg der Zyklopen durchziehen, verhindern den Wärmeaustausch zwischen diesem Gebiet und den angrenzenden Landschaften. Der Wärmefluß geht nur noch in einer Richtung vonstatten, und zwar aus dem Gebiet der Burg hinaus nach außen. Die künstlichen Gravitationsfelder täuschen einen Temperaturgradienten vor, der den Wärmegehalt der Region dazu veranlaßt, nach allen Richtungen hin abzufließen.« »Aber das ist unmöglich!« widersprachen die Herren der FESTUNG. »Bereits jetzt ist es im Gebiet der Zyklopenküste wesentlich kälter als überall sonst. Wie kann Wärme aus einem kalten Bereich in einen warmen fließen? Das widerspricht dem fundamentalsten aller Naturgesetze!« »Natürlich habt ihr recht, ihr Erhabenen«, beeilte sich Orthwin zu versichern. »Aber
Kurt Mahr der Einfluß der künstlichen Schwerkraft schafft Bedingungen, die dem Wirken der Naturgesetze entgegenstehen. Die Gravitationsfelder leisten in der Tat Arbeit, um Wärme – also thermische Energie – aus der Kälte der Zyklopenküste in die vergleichsweise wärmere Umgebung zu pumpen. Ihr könnt das daran feststellen, daß die Schwerkraftprojektoren noch mehr Energie verbrauchen, als ursprünglich vorgesehen war.« »Wie lange wird das dauern?« wollten die Herren der FESTUNG wissen. »Wie kalt wird es an der Zyklopenküste werden?« »Eis wird das Land bedecken!« prophezeite Orthwin. »Die Temperaturen dort werden das ganze Jahr über so sein wie in dem härtesten aller Winter, von dem unsere Aufzeichnungen wissen.« »So sei es!« verkündeten die Herren der FESTUNG. »Man sagt, als das fremde Fahrzeug sich auflöste, sei nur ein fremdes Wesen übriggeblieben, das aussieht wie ein riesiger Frosch. Hat man uns richtig berichtet?« »Richtig, aber oberflächlich, ihr Herren«, antwortete Orthwin. »Der Fremde ist mehr als acht Fuß groß, und er hat ein Gesicht, das aussieht wie das Gesicht eines Frosches. Aber er ist gewohnt, aufrecht zu gehen, und es ist anzunehmen, daß er über ein gehöriges Maß an Intelligenz verfügt.« »Das stört uns nicht«, sagten die Herren der FESTUNG. »Die Kälte wird ihn töten!« Da aber widersprach Orthwin. »Ich wäre glücklich, ihr Erhabenen, wenn ich dieser Ansicht zustimmen könnte. Aber es scheint, daß der Fremde weder auf Nahrung im herkömmlichen Sinn, noch auf verträgliche Umweltbedingungen angewiesen ist. Man hat beobachtet, daß das künstliche Schwerefeld in seiner unmittelbaren Umgebung mitunter schwankt. Es gibt keine andere Erklärung für dieses Phänomen, als daß der Fremde Energie aus dem Gravitationsfeld aufnimmt. Vermutlich ernährt er sich damit. Auch haben Messungen ergeben, daß die Temperatur seiner Körperoberfläche stets gleich bleibt, obwohl die Temperatur
Das Geheimnis der Eiszitadelle im großen Saal der Burg, seitdem er dort aufgebahrt wurde, um mehr als zwanzig Grad gesunken ist. Wahrscheinlich werden ihn weder Kälte noch Nahrungsmangel töten. Statt dessen steht etwas anderes zu befürchten.« »Was ist das?« wollten die Herren der Festung wissen. »Diese Schwerkraftprojektoren brauchen ein Mindestmaß an Wärme, um funktionieren zu können. Laßt die Temperatur im Innern der Burg unter den Wert sinken, bei dem Wasser gefriert, und die Projektoren werden euch eines Tages den Dienst aufsagen.« »Das darf nicht geschehen!« erklärten die Herren der FESTUNG. »Dann muß in der Burg eine Heizung installiert werden«, sagte Orthwin. Und so geschah es. Das Innere der alten Zyklopenburg wurde beheizt, damit die Schwerkraftprojektoren ihre Arbeit taten, während die Zyklopenküste zu einer Eiswüste wurde. Die wenigen Menschen, die am Rand des Gebiets wohnten, das einst die Zyklopen beherrscht hatten, flüchteten in wärmere Gegenden. Unter dem Volk ging das Gerücht, daß ein fremdes Wesen die Gegend rings um die alte Zyklopenburg verhext hätte. Die Leute mieden die Gegend. Inzwischen türmte sich Eisschicht über Eisschicht, und die Jahrzehnte und Jahrhunderte vergingen. Die Menschen, die entlang der Nordküste von Pthor und an den Rändern der Wüste Fylln wohnten, gewöhnten sich daran, das eisige Land nicht mehr die Zyklopen, sondern die Eisküste zu nennen. Und bei diesem Namen blieb es. Die Herren der FESTUNG kümmerten sich nicht um das Innere der alten Zyklopenburg. Sie hatten ihre Meßgeräte, die nachwiesen, daß die Heizung und die Schwerkraftprojektoren einwandfrei funktionierten, und mehr wollten sie nicht. Das fremde Geschöpf lag auf der flachen Oberfläche des Felsblocks, den die Herren der FESTUNG eigens für diesen Zweck hatten herrichten lassen. Solange es sich nicht bewegte, war
27 die Gefahr gebannt. Die Jetztzeit war fast schon angebrochen, da verirrte sich eine Sippe der Wargoons in die Gegend. Daß sie der unwirtlichen Landschaft nicht sofort wieder den Rücken kehrte, muß wohl seine besondere Bewandtnis gehabt haben. Wahrscheinlich wurden die Wargoons von einem mehr oder weniger unerbittlichen Gegner verfolgt, und kein anderer Ort bot ihnen die gewünschte Sicherheit. Offenbar hatten sie sich ursprünglich die alte Zyklopenburg als Domizil ausgesucht. Allein schon beim Anmarsch muß infolge der tückischen Schwerkraftfallen wenigstens die Hälfte der Sippe umgekommen sein. Fest steht, daß zumindest ein Wagemutiger damals ins Innere der Burg eindrang und bis zu dem Saal gelangte, in dem das fremde Wesen aufgebahrt war. Es ist anzunehmen, daß der Eindringling auch eine Begegnung mit Einbein hatte und von ihm den Namen des aufgebahrten Forschers erfuhr. Denn Gloophy ist nichts anderes als eine Korruption des richten Namens Kolphyr. Was auch immer damals geschah – die Wargoons waren von dem geheimnisvollen Bewohner der alten Burg so beeindruckt, daß sie ihn unter die Gottheiten erhoben und fürderhin anbeteten, ja, ihm sogar ein Bildnis errichteten, das allerdings wenig Ähnlichkeit mit dem wahren Kolphyr besaß – wahrscheinlich, weil selbst den Wagemutigen im letzten Augenblick die wilde Panik packte und er nicht mehr dazu kam, sich den Forscher von Grulpfer genau anzusehen. Dies alles geschah vor wenigstens einem Dutzend Wargoon-Generationen, und selbst die ältesten Mitglieder der Sippe erinnerten sich nicht mehr besonders genau daran, was nun im einzelnen sich eigentlich damals zugetragen hatte. Die Wargoons waren ihres kargen Lebens zufrieden und verehrten ihren Eisgott. Sie nahmen in Kauf, daß in regelmäßigen Abständen ein fliegendes Fahrzeug bei ihnen landete und mit Handelsware beladen werden mußte, für die sie keinen Gegenwert erhielten. Das war ihr Tribut an Gloophy – obwohl es zumindest fraglich war, ob
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das Fahrzeug wirklich Gloophy gehörte. Die Lage war ruhig und ohne besondere Vorkommnisse – bis die beiden Fremden auftauchten, die Fremden mit dem Wolf, und die Dinge in Bewegung brachten.
9. In der Finsternis hörte Atlan das schwere Atmen des Gefährten. Der Arkonide hatte sich inzwischen vergewissert, daß dem Wolf kein ernsthafter Schaden zugefügt worden war. Er würde in ein paar Minuten wieder auf den Beinen stehen. Er hatte Zeit, sich um Razamon zu kümmern. »Was ist los?« fragte er. »Stimmt etwas nicht?« Der Pthorer antwortete nicht sofort. Atlan wiederholte seine Frage. »Phynx …!« stieß Razamon da hervor. »Welch ein Name …!« »Besagt er dir etwas?« »Ich … ich weiß es nicht! Irgend etwas ist da – weit hinten in meinem Bewußtsein. Eine Erinnerung … an ein Geschlecht von Giganten, Einäugige …« »Zyklopen?« fragte Atlan verwundert. »Ja, das ist es! Zyklopen! So wurden sie genannt!« »Phynx war einer von ihnen?« »Ja … er war … der letzte, glaube ich!« »Die Zyklopen starben aus?« »Das auch. Aber der letzte starb eines gewaltsamen Todes!« »Phynx? Dem sind wir doch eben begegnet!« »Ja – aber in was für einer Gestalt? Ist er noch ein lebendes Wesen oder nur ein Gespenst?« Der Arkonide lachte trocken. »Von Gespenstern halte ich nicht viel. Es ist mir noch keines über den Weg gelaufen, das ich mir nicht ganz plausibel als ein Gebilde aus Energie oder Materie hätte erklären können.« »Vielleicht ist er das«, erwiderte Razamon. »Was für einen Unterschied macht es? Körper, Energie, Gespenst … wichtig ist
nur, daß er uns bedroht.« »Warum tut er das?« »Du hast ihn gehört. Er will sich für den Verrat rächen, den wir an ihm begangen haben.« »Das muß eine Art Erbsünde sein, mit der ich geboren bin«, spottete der Arkonide voller Grimm. »Bewußt jedenfalls habe ich an Phynx keinen Verrat begangen.« Razamon schüttelte den Kopf. »Nicht du!« sagte er schließlich. »Wir!« »Wer ist wir?« Da verlor der Pthorer die Beherrschung. »Weiß ich es?« schrie er. »Wir – meine Vorfahren – irgend jemand! Du hast von den Berserkern gehört! Von der Familie Knyr! Traust du den Knyrs nicht zu, daß sie einen Verrat an einem Zyklopen begehen?« Da wurde Atlan klar, daß er den Gefährten überforderte. Seine Erinnerung, soweit sie die Vergangenheit in Pthor betraf, war ausgelöscht. Nur hier und da waren noch ein paar Spuren vorhanden, undeutlich zumeist, die Razamon mehr irritierten, als daß sie ihm behilflich waren. Die Versuchung war groß, ihm eine Menge Fragen zu stellen, wann immer er auf eine solche Spur in seinem Gedächtnis traf. Man mußte dieser Versuchung widerstehen. Es machte den Pthorer zornig, wenn er merkte, daß jemand ihn auszuquetschen versuchte. »Also schön«, versuchte Atlan, den Erregten zu beruhigen: »Phynx ist hinter uns her – hinter dir, weil einer deiner Vorfahren ihm Übles angetan hat, und hinter mir, weil ich mich in deiner Gesellschaft befinde. Phynx ist offenbar kein körperbehaftetes Wesen. Er besteht aus Energie, und wenn mich nicht alles täuscht, ist diese Energie den Schwerkraftfallen verwandt. Was Fenrir geschehen ist, läßt vermuten, daß Phynx die Energie, aus der er besteht, als Waffe einsetzen kann. Wir dagegen haben weiter nichts als unsere Harpunen, die Pektos. Welchen Schluß ziehen wir aus dieser Überlegung? Kehren wir um? Reißen wir vor Phynx aus, bevor er uns umbringt? Oder steht uns eine Alternative zur Verfügung? Können wir mit
Das Geheimnis der Eiszitadelle ihm verhandeln? Gibt es irgendeinen Weg, ihm klarzumachen, daß nicht wir es sind, die ihn verraten haben? Was schlägst du vor?« Razamon hielt sich den Schädel mit beiden Händen. Er preßte die Handballen gegen die Schläfen, als wolle er durch den Druck seine Gedanken zur Ordnung zwingen. »Wir laufen nicht davon!« erklärte er schließlich. »Wir sind hierher gekommen, um das Geheimnis der Eiszitadelle zu erforschen – und genau das werden wir tun. Wir müssen auf der Hut sein. Selbst wenn Phynx mit sich reden läßt, wird es nicht einfach sein, ihn zu überzeugen. Ihm ist Entsetzliches widerfahren – wahrscheinlich von den Händen meiner Vorfahren. Aber lieber will ich in dieser Finsternis zugrunde gehen, als daß ich vor einem alten Zyklopen ausreiße!« Mittlerweile hatte Fenrir sich von dem Schock erholt. Der mächtige Wolf stand wieder auf den Beinen. Atlan kraulte ihm das Fell und fühlte, daß die Nackenhaare gesträubt standen. Aus der Kehle des Tieres drang ein verhaltenes Grollen. Fenrir war noch immer kampfeslustig.
* Sie drangen weiter vor. Atlan kam zu dem Schluß, daß sie entweder die wahre Ausdehnung der Eiszitadelle bei weitem unterschätzt hatten oder durch unerwartete Effekte genarrt wurden. Sie waren nun schon seit Stunden unterwegs und hätten das Gebäude, wie sie es sahen, wenigstens schon zweimal durchquert haben müssen – und immer noch gab es keinerlei Anzeichen, daß der ermüdende Marsch in Bälde ans Ziel führen werde. Den Rest an Trockennahrung, den sie in den Lederbeuteln mit sich führten, hatten sie längst verzehrt. An Wasser dagegen war kein Mangel. Sie hatten die Wasserbehälter mit kleingehackten Eisstücken aufgefüllt, als sie merkten, daß es im Innern der Zitadelle allmählich wärmer wurde. Inzwischen war das Eis geschmolzen, waren die Behälter fast voll. Und selbst wenn der große Durst
29 sie überkommen sollte, litten sie dennoch keine Not. Denn es gab Stellen in diesen finsteren Gängen, an denen das Wasser von der Decke troff oder an den Wänden herabrann. Fenrir war nach wie vor der Anführer. Er erkundschaftete die Korridore, die in unregelmäßigen Abständen vom Hauptgang abzweigten. Jedesmal, wenn er auf Kundschaft ging, rasteten Atlan und Razamon und warteten, ob der Wolf einen neuen Weg finde. Aber jedesmal kehrte Fenrir zurück und gab durch sein Verhalten zu erkennen, daß er nichts Nennenswertes gefunden habe. Also blieben sie in dem finsteren, aber immerhin bequemen Gang, der sich geradlinig durch die Zitadelle zu ziehen schien – auch wenn Atlan an diese Geradlinigkeit schon längst nicht mehr glaubte. Er machte den Pthorer darauf aufmerksam, daß sie schon längst die andere Seite des Gebäudes erreicht haben müßten. »Was schließt du daraus?« erkundigte sich Razamon. »Daß wir durch irgend etwas in die Irre geleitet werden«, antwortete Atlan. »Ich nehme an, daß die künstlichen Schwerkraftfelder Täuschungen hervorrufen. Sie lassen eine Strecke gerade und eben erscheinen, die in Wirklichkeit gekrümmt ist und eine Neigung beschreibt.« »Du meinst, wir sind die ganze Zeit über im Kreis herumgegangen?« »So schlimm muß es nicht gewesen sein. Aber ganz geradeaus, wie wir bisher glaubten, war unser Weg bestimmt nicht.« »Wir sollten einen der Seitengänge untersuchen«, schlug Razamon vor. »Ich bin nicht sicher, daß Fenrir genau weiß, wonach wir suchen.« Atlan war damit einverstanden. Aber als der Wolf die Mündung des nächsten Zweigkorridors entdeckte, ließ er sich nicht halten. Er gab ein dumpfes Knurren von sich und stob davon, daß die trommelnden Geräusche seiner Läufe durch die Finsternis hallten. Kurze Zeit später war aus der Tiefe des Zweiggangs ein helleres Kläffen zu hören. Es klang wie eine Aufforderung.
30 »Wahrscheinlich hat er mich verstanden«, brummte Razamon. »Er legt Wert darauf, selbst derjenige zu sein, der den neuen Weg entdeckt.« Sie drangen in den Korridor ein. Er war wesentlich schmaler als der, in dem sie sich bisher befunden hatten. Nach wenigen Schritten begann er, sich seitwärts zu krümmen. Außerdem bemerkte Atlan, daß der Boden anstieg. Plötzlich blieb er stehen. Hinter der Krümmung des Ganges war ein Licht erschienen. Es schien ziemlich nahe zu sein, denn es verbreitete genug Helligkeit, so daß man die Umrisse des Korridors erkennen konnte und das Geglitzer der Stellen, an denen Feuchtigkeit durch das Mauerwerk sickerte. Fenrirs Silhouette zeichnete sich deutlich gegen die Lichtquelle ab. Atlan tätschelte den Wolf. »Brav, Grauer!« sagte er. »Ich wußte doch, daß du den richtigen Weg finden würdest.« Fenrir antwortete mit einem halblauten, hellen Knurren, von dem man inzwischen wußte, daß es ein Ausdruck des Wohlgefallens war. Als Atlan und Razamon sich wieder in Bewegung setzten, übernahm der Wolf, wie gewohnt, die Spitze. Aber er hielt sich jetzt dichter bei seinen beiden Begleitern, als traue er dem fremden Licht nicht über den Weg. Atlan spähte voraus. Er glaubte, in der Umgebung der Lichtquelle schemenhafte Bewegungen wahrzunehmen. In den vergangenen Tagen hatte er gelernt, Fenrirs Instinkt als einen fast untrüglichen Indikator anzuerkennen. Er griff nach der Pekto, die er unter dem Pelzgewand trug. Aber bevor er die Waffe noch schußbereit machen konnte, ereignete sich das Unglück. Aus dem Licht heraus schoß ein greller Blitz. Der Arkonide duckte sich unwillkürlich. Die Entladung fuhr wenige Schritte vor ihm in die Felswand des Ganges. Fenrir stieß ein drohendes Geheul aus und machte einen mächtigen Satz vorwärts. Atlan spürte, wie der Boden wankte. In den Wänden und
Kurt Mahr in der Decke war ein verräterisches Knistern. »Die Wand reißt auf!« schrie Razamon. Atlan warf sich nach vorne. Aber die Bewegung kam zu spät. Der Fels ringsum befand sich in Auflösung. Der Korridor stürzte ein. Felsbrocken lösten sich aus Decke und Wänden und stürzten herab. Atlan blieb stehen, die Arme über den Kopf gehoben, um sich gegen den Aufprall der Steinbrocken zu schützen. Die Gesteinsmassen zwangen ihn schließlich zu Boden. Aber er hielt so lange stand, daß rings um ihn ein Hohlraum blieb, in dem er sich bewegen konnte. Der Schutt kam zur Ruhe. Die Felsstücke hatten sich ineinander verkeilt. Der Arkonide tastete seine Umgebung ab. Er stellte fest, daß er sich in einem kreisförmigen Hohlraum befand, dessen Durchmesser kaum zwei Meter betrug. Wenn Atlan sich aufrichtete, dann stieß er mit dem Kopf gegen die Trümmer, die sich über ihm aufgetürmt hatten. Er empfand es als eine Fügung des Schicksals, daß der Einbruch an einer feuchten Stelle des Ganges erfolgt war. Sonst wäre er am Staub erstickt. Er wandte sich nach rückwärts – dorthin, wo er Razamon irgendwo unter den Trümmern vermutete. Er packte eines der Trümmerstücke und wollte es bewegen – wohl wissend, daß diese Bewegung womöglich das ganze Gefüge, das ihn umgab, zum Einsturz bringen konnte. Da hörte er eine Stimme – eine Stimme so mächtig, wie sie in den finsteren Tiefen der Eiszitadelle nur einer besaß: Phynx, der letzte Zyklop. »Ich habe dich!« dröhnte die Stimme. »Verdammter Knyr – fahr zu Hölle!«
* Atlan ließ eine Minute verstreichen. Phynx meldete sich nicht mehr. Er schien mit seiner Arbeit zufrieden. Es gab keinen Zweifel, daß er selbst es war, der das Licht im Hintergrund des Ganges entzündet hatte, um die Eindringlinge in diese Richtung zu
Das Geheimnis der Eiszitadelle lenken. Und es war auch er selbst gewesen, der in Gestalt eines Blitzes die Felswand getroffen und zum Einsturz gebracht hatte. »Razamon!« rief der Arkonide halblaut. Er erhielt keine Antwort. Daraufhin versuchte er aufs neue, den Trümmerwall, der ihn umgab, zu lockern und einen Tunnel bis zu dem Ort vorzutreiben, an dem er den Pthorer vermutete. Kaum hatte er jedoch den ersten Stein bewegt, da lösten sich mehrere Felsstücke und stürzten polternd herab. Es knisterte bedrohlich überall in der labilen Struktur. Da gab Atlan vorerst auf. Er hockte sich auf den Boden und fühlte plötzlich, wie die Müdigkeit sich durch den ganzen Körper ausbreitete. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal geschlafen hatte. Aber das Nachdenken fiel ihm schwer. Die Gedanken verwirrten sich. Die Sorge um den Gefährten wollte den Schlaf vertreiben. Aber die Müdigkeit erwies sich schließlich als stärker. Der Arkonide sank zur Seite, und noch bevor seine Schulter den Stein berührte, war er eingeschlafen. Er erwachte von einem Geräusch. Unbedacht fuhr er in die Höhe und stieß sich den Schädel an der niedrigen Decke seiner Zelle. Der Schmerz verscheuchte den letzten Rest Benommenheit. Atlan hörte ein hechelndes Winseln und zur gleichen Zeit ein Kratzen und Scharren. »Fenrir!« rief der Arkonide. Das Winseln erstarb. Ein helles Knurren wurde statt dessen hörbar. Und das Kratzen und Scharren setzte mit vermehrter Kraft ein. »Vorsicht, Grauer!« rief Atlan. »Das Gewölbe stürzt sonst ein!« Er erkannte an den Geräuschen, daß der Wolf ihm nahe war – zwei, höchstens drei Meter. Er stellte sich breitbeinig hin und hob die Arme schützend über den Kopf, wie er es zuvor getan hatte. Fenrir aber vertraute seinem Instinkt, der ihm genau sagte, welche Steine er berühren durfte und welche nicht. Er entfernte ein Trümmerstück nach dem andern, ohne daß das Gefüge rings um den Ar-
31 koniden in Bewegung geriet. Plötzlich aber hielt er inne und stieß ein warnendes Geheul aus. Das bedeutete: »Ich bin dir ganz nahe! Der Fels gerät in Bewegung, wenn ich weitermache.« Der Arkonide verstand. Er spreizte die Beine weiter, um seinen Stand zu festigen, und reckte den Schädel nach vorne. Die Hände hatte er über dem Nacken gefaltet. Er rief: »Nur zu, Grauer!« Da begann das Kratzen von neuem. Aus der niedrigen Decke der Zelle lösten sich einzelne Trümmerbrocken und stürzten herab. Sie trafen Atlan auf den Armen und am Körper. Schließlich stürzte das ganze Gefüge ein. Atlan hörte den Wolf ein wütendes Geheul ausstoßen, als er selbst von einem herabfallenden Felsstück getroffen wurde. Als der Lärm endlich verebbte, stand der Arkonide fast bis zu den Hüften im Schutt. Unmittelbar vor sich hörte er das Hecheln des Wolfes. Er griff nach dem Tier, um es zu streicheln. Aber Fenrir duckte sich unter der liebkosenden Hand hindurch und nahm die Trümmerfläche in Angriff, die ein paar Schritte weiter noch immer bis zur Decke des Ganges hinaufreichte und unter der irgendwo Razamon, der Pthorer, begraben liegen mußte. »Recht hast du, mein Grauer!« murmelte der Arkonide. »Es gibt Wichtigeres zu tun. Der Himmel mag wissen, wie lange ich da gelegen habe. Währenddessen könnte es Razamon längst an den Kragen gegangen sein. Wie werde ich …« Er wurde unterbrochen. Eine Stimme drang aus der Dunkelheit und sprach: »Es ist ihm nicht an den Kragen gegangen. Er lebt noch. Allerdings ist er bewußtlos. Und – noch etwas!« Atlan war so verwirrt, daß ihm gar nicht in den Sinn kam, eine andere Frage zu stellen als diese: »Was noch?« »Ihr könnt ihn nicht befreien! So wie er liegt, liegt er gut. Aber wenn ihr euch einen Weg zu ihm bahnt, müßt ihr ein paar Fels-
32
Kurt Mahr
stücke entfernen, auf denen ein großer Felsblock ruht. Dieser würde auf euren Freund stürzen und ihn erdrücken.« Verblüfft starrte der Arkonide in die Dunkelheit. Er war nicht sicher, aus welcher Richtung die Stimme kam. Und es verwirrte ihn, daß Fenrir keinerlei Laut gab – so, als wäre da gar niemand. »Woher weißt du das alles?« fragte er. »Und überhaupt – wer bist du eigentlich?«
* »Ich bin Einbein, der Diener des Forschers«, antwortete die Stimme. Und als Atlan weiter fragte, erzählte er dem Arkoniden seine Geschichte – genauso, wie er sie Koy erzählt hatte. Nur daß Atlan zwischendurch ein paar Fragen stellte, die dem Roboter bewiesen, daß er hier einen Mann vor sich hatte, der eine Menge von wissenschaftlichen Dingen verstand. Am Ende glaubte Atlan, das unglaubliche Schicksal Einbeins einigermaßen begriffen zu haben. Das Zusammenwirken von künstlichem Schwerefeld und jener Energiehülle, die Einbein den Velst-Schleier nannte, hatte alle nichtorganische Materie aufgelöst. Auch die Hülle des Roboters war zu Nichts geworden. Seine elektronische Intelligenz jedoch stellte einen organischgeordneten Zustand dar, an dem sich die Wechselwirkung zwischen Gravitations- und Velst-Feld sich zu vergreifen nicht getraute. Einbeins Intelligenz blieb unangetastet. Aus dem substanzbehafteten Roboter wurde ein substanzloses Energiewesen, ein Kraftknäuel, das nur aus elektronischer Intelligenz bestand – wenn es in der Tat Elektronik war, was die geheimnisvollen Wesen von Grulpfer in ihren Robotern installierten. »Ich sehe, daß du ein Mann von umfangreichem Wissen und tiefer Einsicht bist«, erklärte Einbein, als seit dem Ende seines Berichts fast eine Minute verstrichen war, ohne daß jemand ein Wort gesagt hatte. »Als solchem kann ich dir eine Art Handel anbieten, der dir, mir und einem dritten Wesen zum
Vorteil gereichen wird.« Atlan war überrascht. »Wer ist das dritte Wesen? Etwa der Forscher, von dem du sprachst?« »Nein, keineswegs. Ich glaube nicht, daß dem Forscher noch geholfen werden kann. Es handelt sich um einen Eingeborenen. Er nennt sich Koy der Trommler.« Atlan horchte auf. Er war Koy nie begegnet. Aber auf der weiten Reise durch Pthor hatte er von ihm gehört. Er war ihm als ein geheimnisvolles Wesen beschrieben worden, das übernatürliche Kräfte besaß. Die, von denen er derartige Geschichten gehört hatte, waren in ihren Darstellungen nicht besonders spezifisch gewesen. Jeder hatte seine eigene Vorstellung von der äußeren Erscheinung des Trommlers, und bezüglich der Wirkung der übernatürlichen Kräfte gingen die Schilderungen noch viel weiter auseinander. Nur in dem einem waren sich alle Berichterstatter einig gewesen: Koy trug ein paar Hörner, die ihm aus der Stirn wuchsen. »Also gut«, sagte der Arkonide. »Welchen Vorteil versprichst du mir?« »Dein Freund wird befreit werden.« »Von dir?« »Nein, von Koy.« »Was verlangt Koy dafür?« »Im Augenblick noch gar nichts, denn er weiß nichts von meinem Vorschlag. Er wird ihn aber sicher gerne annehmen, wenn ihr ihn dafür in eure Gruppe aufnehmt. Er macht den Eindruck eines Wesens, das zeit seines Lebens einsam gewesen ist und die Einsamkeit satt hat. Er irrt durch die Tiefen dieses Gebäudes, weil er die Häscher auf seinen Spuren weiß. Irgendwann einmal wird er wieder hinaus müssen – und dann werden sie ihn fassen, es sei denn, er hat Gefährten, die sich seiner annehmen.« »Akzeptiert«, erklärte Atlan. »Und was beanspruchst du für deine Vermittlertätigkeit?« »Weiter nichts als die Genugtuung, daß Phynx ein Strich durch die Rechnung gemacht worden ist.«
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Phynx?« wiederholte der Arkonide überrascht. »Es war sein Tun, das deinen Freund unter den Trümmern begrub!« sagte Einbein. »Ja, ich weiß schon. Ist er dein Feind?« »Er hat eine gewisse Überheblichkeit an sich, die mir nicht behagt«, antwortete der Roboter. Atlan bedachte, was er gehört hatte. Dort irgendwo in der Dunkelheit schwebte ein Energiebündel elektronischer Intelligenz. Es gab sich menschlich, es beherrschte die Sprache des Landes. Aber es war nichtsdestoweniger die Intelligenz eines Roboters. Ein Roboter sollte sich an der Überheblichkeit eines Zyklopen stoßen? Einbeins Erläuterung war nicht gerade glaubwürdig. Trotzdem sah der Arkonide keinen Grund, warum er sich nicht auf den Handel einlassen sollte. Immerhin ging es um Razamon. Er lag seit Stunden unter den Felstrümmern begraben. Er mußte befreit werden. »Wie rasch kann Koy hier sein?« fragte der Arkonide. »Etwa in der Zeit, die ihr eine Stunde nennt«, lautete Einbeins Antwort. »Ich weiß, wo ich ihn zurückgelassen habe. Aber wenn er sich von dort bewegt hat, muß ich ihn erst suchen.« »Such ihn!« trug Atlan dem Roboter auf. »Ich warte hier auf dich!« »Ich bin unterwegs!« rief Einbein.
10. Phynx, der Leuchtende, hatte sich schließlich entfernt. Koy rief nach Einbein, aber der Roboter meldete sich nicht. Da beschlichen Koy zum erstenmal Zweifel, ob er richtig daran getan habe, sich in der Eiszitadelle zu verstecken. Zwar befand er sich hier in Sicherheit, und es war auch wärmer als draußen in der Eiswüste. Aber es gab hier keine Nahrung – und selbst wenn es welche gegeben hätte, wäre sie ihm in der Finsternis verborgen geblieben. Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Er hatte erwartet, die alte
33 Zyklopenburg leer zu finden. Einsamkeit machte ihm nichts aus – ganz im Gegensatz zu dem, was Einbein an anderem Ort über ihn gesagt hatte. Aber mit Gespenstern wollte er nichts zu tun haben. Mit Einbein hätte er sich zur Not noch abfinden können. Aber Phynx war ihm unheimlich. Und die Götter mochten wissen, wie viele Gespenster dieser Art es sonst noch in dieser alten Zitadelle gab. Koy der Trommler kauerte auf dem Boden und überlegte, welchen Schritt er als nächsten tun solle. Die Haltung der Herren der FESTUNG schätzte er so ein: Sie würden nach ihm suchen, um ihn für seine Unbotmäßigkeit zu bestrafen. Irgendwann würden die Fährtensucher den verlassenen Zugor finden und daraus schließen, daß Koy sich in der Zitadelle versteckt hielt. Falls er sich dann wirklich noch in der Zitadelle befand, würde man ihn ergreifen. War er aber nicht mehr dort, dann würde die Suche eine Zeitlang weitergehen, bis den Herren der FESTUNG die Sache nicht mehr lohnenswert erschien. Sucher wie den Trommler gab es nur selten – aber auch wieder nicht so selten, daß für Koy nicht innerhalb eines Sommers ein Ersatz gefunden werden könnte. Einen Sommer lang also würde Koy sich in acht nehmen müssen. Wenn es ihm in dieser Zeit gelang, nach Süden vorzudringen – bis Orxeya, oder besser noch bis zu den Vorbergen der Großen Barriere von Oth, dann war er in Sicherheit. Die Frage war, ob er den Zeitpunkt nicht schon versäumt hatte, zu dem er die Zitadelle hätte verlassen können, ohne den Häschern in die Arme zu laufen. Unter normalen Umständen hätten die Fährtensucher der Herren der FESTUNG den Zugor schon längst entdeckt. Aber die Umstände waren nicht normal. Das Fahrzeug lag mitten im Eis, und Koy wußte, daß die Häscher sich vor der Eiswüste fürchteten und sich nur dann hineinwagten, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Es mochte also so sein, daß der Zugor noch nicht gefunden worden war. Wenn er diesen Vorteil ausnützen wollte,
34 dann mußte er sich sofort auf die Beine machen. Er hatte vor, sich zunächst nach Südwesten zu wenden und auf dem schnellsten Weg an den Rand der Wüste Fylln zu gelangen. Er wäre lieber nach Moondrag gegangen. Aber er fürchtete, daß er in der Eiseskälte binnen kurzer Zeit den Tod finden würde. Er stand auf. Es deuchte ihn nicht schwer, den Weg zu finden, den er gekommen war. Er setzte sich in Bewegung und hatte eben die ersten fünf Schritte getan, da hörte er hinter sich eine Stimme: »Wohin gehst du, mein Freund?« Koy erkannte Einbein, den Roboter. »Zurück dorthin, wo ich hergekommen bin«, antwortete der Trommler. »Hinaus ins Eis?« »Ja.« Da sprach Einbein verächtlich: »Du bist ein Feigling, Koy!« Der Trommler aber sagte müde: »Mir ist gleichgültig, wofür du mich hältst. Ein jeder sorgt sich um das eigene Leben – du dich um das deine, ich mich um das meine.« »Du fürchtest dich vor Phynx!« »Nicht mehr als du auch«, bemerkte Koy spöttisch. »Ich weiß, wie wir ihn besiegen können!« rief der Roboter. »Ihn besiegen und diese Burg in den sichersten und behaglichsten Ort auf ganz Pthor verwandeln!« »Du phantasierst!« hielt der Trommler ihm vor. »Nein. Ich habe mächtige Freunde gefunden! Fremde! Sie befinden sich erst seit kurzem in der Zitadelle.« Koy horchte auf. Phynx hatte von einem Taamberg-Krieger gesprochen, den er vor kurzem zu Gesicht bekommen hatte. Gehörte er zu den Fremden? Waren das die Fremden, die zu finden die Herren der FESTUNG ihn ausgesandt hatten? »Was haben die Fremden mit Phynx zu tun?« fragte er vorsichtig. »Warum sollten sie uns gegen den Zyklopen beistehen?« »Weil er ihr Feind ist! Er hat sie angegriffen! Einer von ihnen liegt unter einer Masse
Kurt Mahr Fels begraben. Wenn du ihn befreist, wird er dir dankbar sein!« Da lachte der Trommler und rief: »So mächtig sind also deine Freunde, daß ich einen von ihnen erst befreien muß, bevor er mir gegen Phynx beisteht!« »Spotte nicht!« warnte der Roboter. »Die beiden Fremden und das Tier, das bei ihnen ist, sind mächtig über alle Maßstäbe hinaus. Aber gegen Tonnen von Schutt, unter denen er begraben liegt, ist selbst der Mächtigste hilflos.« »Nur ich nicht«, fuhr der Trommler fort zu spotten. Einbein schmollte. »Ich sehe, daß du eben doch nur ein ganz gewöhnlicher Feigling bist«, sagte er. »Nun denn …« »Warte!« rief Koy. »Wo sind die Fremden?« Er glaubte nicht an die Geschichte des Roboters. Was Einbein erzählt hatte, klang wenig überzeugend. Koy spürte, daß der Roboter bei dieser Sache in erster Linie sein eigenes Interesse im Auge hatte. Es war etwas Unlauteres in seinem Gehabe. Trotzdem war der Trommler bereit, auf den Vorschlag des Roboters einzugehen. »Ah – du hast es dir überlegt!« bemerkte Einbein anzüglich. »Wer wird sich die Möglichkeit entgehen lassen, die Eiszitadelle in den sichersten und behaglichsten Ort in ganz Pthor zu verwandeln?« antwortete Koy großmütig. »Also sag mir schon, wo ich die Fremden finde!« »Sagen nützt nichts«, erklärte Einbein. »Ich werde dich führen, bis du den Weg erreicht hast, auf dem du die Mächtigen nicht verfehlen kannst.« »Warum nicht weiter?« fragte Koy mißtrauisch. »Wenn wir Phynx besiegen wollen, gilt es, Vorbereitungen zu treffen«, lautete die Antwort. Koy aber glaubte, daß Einbein etwas ganz anderes im Sinn hatte.
*
Das Geheimnis der Eiszitadelle In der Tat verlor Einbein keine Zeit. Nachdem er den Trommler auf den richtigen Pfad gebracht hatte, fuhr er durch die Hallen und Gänge der alten Festung und schrie: »Phynx, du stinkender Zyklop! Wo hältst du dich versteckt?« Daß die Zyklopen wegen ihrer unangenehmen Körperausdünstung »die Stinkenden« genannt worden waren, hatte er erfahren, als er kurz nach der Landung auf dem Antimateriebrocken das Land zu durchstreifen begann. Ebenso wußte er, daß ein Zyklop es als die schlimmste Beleidigung betrachtete, so genannt zu werden. Einbeins Taktik hatte Erfolg. Gerade war er durch eine meterdicke Wand hindurchgefahren, die zwei Korridore voneinander trennte, da gewahrte er vor sich eine Kugel aus grellem Licht. Sie schwebte mehrere Handbreit über dem Boden, und eine dröhnende Stimme brach aus ihr hervor: »Hier hast du mich, du lächerliche Kreatur aus einer Welt, von der niemand je gehört hat! Es scheint dich nach Schmerz zu gelüsten, sonst hättest du nicht so laut geplärrt!« Einbein, das Bewußtsein eines Roboters, kannte keine Emotionen – auch die Furcht nicht. Aus Erfahrung wußte er aber, daß Phynx elektrische Entladungen erzeugen konnte, die das Gedankengefüge eines elektronischen Verstandes in Verwirrung brachten. Begegnungen, bei denen Einbein von solchen Entladungen getroffen worden war, hatten den Roboter davon überzeugt, daß es vorteilhaft sei, dem Zyklopen aus dem Weg zu gehen. Denn er war darauf programmiert, eine Gefährdung seines elektrischen Denkprozesses unter allen Umständen zu vermeiden. Was er damals empfunden hatte, als Phynx' Entladungen ihn trafen, konnte recht gut als Schmerz bezeichnet werden, und sein Bemühen, dem leuchtenden Zyklopen auszuweichen, wo immer er nur konnte, war ganz eindeutig das Äquivalent menschlicher Angst. »Warte!« gebot er dem leuchtenden Ge-
35 schöpf. »Ich habe nach dir gesucht, weil ich dir einen Vorschlag machen will – einen Vorschlag, der uns beiden zum Nutzen gereicht. Die Zeit drängt. Deshalb rief ich dich bei allen Namen, die ich kenne – um dich aus deinem Versteck hervorzulocken!« »Pah!« rief Phynx mit einer Stimme, die so laut war, daß der Fels zitterte. »Ich verstecke mich nicht. Aber es gibt Geschöpfe, die mir so widerwärtig sind, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben möchte. Was also ist dein Vorschlag?« Als Einbein zu sprechen begann, tat er es mit Bedacht. »Für einen von deiner Art ist es kein angenehmes Gefühl, ein Energieball zu sein, nicht wahr? Du vermißt deinen Körper – oder ist es nicht so?« »Was geht das dich an?« grollte Phynx. »Ich will dir einen Körper verschaffen!« sagte Einbein. »Du? Mir einen Körper?« rief der Zyklop überrascht. »Wie wolltest du das anfangen?« »Es gibt einen Körper in dieser Festung, der nicht gebraucht wird«, erklärte Einbein. »Du meinst den Forscher?« »Ja.« »Ist er nicht dein Herr?« »Er war mein Herr! Einer, der nur da liegt und sich nicht bewegt, braucht keinen Körper. Ich biete ihn dir an.« Phynx war sichtlich verwirrt. Bunte Fäden tanzten im Innern des leuchtenden Energieballs auf und ab. »Wie gelange ich in den Besitz des Körpers, wo er doch von einem energetischen Schleier umgeben ist?« fragte der Zyklop. »Das will ich dir gerne erklären«, antwortete Einbein. »Ich hoffe nur, daß du es verstehst!« »Halt!« rief Phynx. »Bevor du mir etwas erzählst, wovon ich vielleicht nur die Hälfte verstehe, sage mir etwas anderes!« »Was?« »Warum willst du mir einen Körper verschaffen? Hast du mich nicht für deinen ärgsten Feind gehalten?« Einbein, der wohl merkte, daß seine Wor-
36 te auf fruchtbaren Boden gefallen waren, erklärte: »Ich bin ein Roboter. Wie oft habe ich dir das schon gesagt! Roboter empfinden keine Furcht, keinen Haß, keinen Schmerz. Ich bin aufgrund logischer Überlegungen zu dem Schluß gekommen, daß es für uns beide besser ist, wenn wir zusammenarbeiten.« »Warum?« »Lange Zeit – wie ihr sagt – war es ruhig. Jetzt jedoch geraten die Dinge in Bewegung. Fremde dringen in die Zitadelle ein. Wenn wir uns nicht in acht nehmen, wird die Burg bald nicht mehr uns gehören. Wir müssen uns zur Wehr setzen. Allein kann keiner von uns die Gefahr bannen. Aber wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Ich weiß, daß diese Burg die Wohnung deiner Vorfahren ist. Sie gehört dir. Wenn wir siegen, sollst du der Herr sein und ich der Diener. Meine Morgengabe an dich, meinen Herrn, ist ein Körper, in dem du dich wohl fühlen kannst. Verstehst du nun, was ich meine?« Solchen Schmeicheleien war Phynx' Verstand nicht gewachsen. Zu lange hatte er sich danach gesehnt, als Herr und Herrscher betrachtet zu werden. Zu lange hatte er mit seinem Schicksal gehadert, das ihn körperlos in die finsteren Tiefen der Festung verbannt hatte, ohne ihm Gefährten zu geben, die sich seinem Willen beugten und ihn als ihren Herrn anerkannten. Einbeins Worte waren wie Öl auf eine brennende Wunde, wie frisches Wasser auf eine dürstende Zunge. »Bei allen Göttern – du sprichst vernünftig!« rief Phynx mit dröhnender Stimme. »Dein Plan gefällt mir. Wir wollen zusammenarbeiten, bis wir alle Fremden aus der Festung entfernt haben! Ich will der Herr sein, und du bist der Knecht. Eines aber verspreche ich dir: Ich will dir ein gerechter Herr sein, und du sollst es gut bei mir haben!« Er machte eine kurze Pause. Dann begann er von neuem. »Und nun sage mir, was ich zu tun habe!« »Es ist ganz einfach«, antwortete der Roboter. »Du kennst die Eindringlinge. Zwei
Kurt Mahr von ihnen kommen von Westen her und haben ein mächtiges Tier bei sich …« »Ich kenne sie!« unterbrach ihn Phynx grollend. »Einer von ihnen ist ein Mann vom Taamberg, ein verdammter Knyr!« »Und von Südosten her kommt ein anderer«, fuhr Einbein ungerührt fort. »Du bist auch ihm begegnet. Er trägt Hörner auf dem Schädel!« »Ich kenne ihn«, bestätigte der Zyklop. »Ich werde dafür sorgen, daß sie sich miteinander vereinigen«, erklärte der Roboter. »Sie vertrauen mir. Ich werde sie in die Richtung des großen Saales leiten, in dem der Forscher aufgebahrt liegt. Dort gibt es mächtige Schwerefelder und den VelstSchleier. Wenn wir es dahin bringen, daß die Schwerefelder mit dem Schleier in Wechselwirkung treten, dann wird eine Situation entstehen, in der du in den Körper des Forschers eindringen und ihn in Besitz nehmen kannst. Dazu ist folgendes vonnöten …« Im Tonfall eines Verschwörers teilte Einbein dem Zyklopen mit, was er zu tun hatte, um den Körper des fremden Forschers zu gewinnen.
11. »Du bist also einer der Mächtigen«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit. Atlan hatte die Schritte sich nähern hören – Geräusche, wie sie die Füße eines kleinen Geschöpfs machten. Er hatte gefragt: »Wer kommt da? Koy, der Trommler?« »Ja«, hatte die Antwort gelautet. Das Geräusch der Schritte war näher gekommen und schließlich verstummt. Der Trommler kam aus der Richtung, in der das Licht geschienen hatte, bevor der Gang eingestürzt war. Und dann machte er diese Bemerkung: »Du bist also einer der Mächtigen!« »Wer hat mich mächtig genannt«, wollte der Arkonide wissen. »Einbein.« »Er kennt mich nicht«, antwortete Atlan
Das Geheimnis der Eiszitadelle amüsiert. »Das wollen wir ihm zugute halten.« »Ich dachte mir, daß er nicht ehrlich spricht«, sagte der Trommler. »Du hast einen Gefährten, der sich in Not befindet?« »Das ist richtig. Und du kannst ihn befreien? Oder hat Einbein da auch übertrieben?« »Wenn er nur unter Schutt begraben liegt, kann ich ihm helfen«, sagte Koy. »Ist es so?« »So ist es. In dieser Hinsicht hat Einbein die Wahrheit gesagt.« »Zeig mir, wo er liegt«, bat Koy. »Strecke die Hand aus – ich werde dich führen!« bot ihm der Arkonide an. Koy gehorchte. Atlan bekam eine kleine Hand zu fassen, deren Haut merkwürdig ledrig wirkte. In diesem Augenblick konnte er sich den Trommler deutlich vorstellen, als flösse durch den körperlichen Kontakt ein Bild in sein Bewußtsein. Er sah eine kleine, aber stämmige Gestalt. Er sah ein Gesicht mit vielen Falten und großen, sympathischen Augen. Er sah die Hörner nicht, die dem Trommler aus der Stirn wuchsen. Aber diese waren durch Berichte so sicher verbürgt, daß man sie nicht zu sehen brauchte. Sie waren da, daran gab es keinen Zweifel. Die beiden Männer schritten den Korridor entlang, bis sie an die Stelle kamen, an der der Schutt bis zur Decke hinaufreichte. Koy befreite seine Hand aus dem Griff des Arkoniden. Er betastete die Trümmermauer. »Dort liegt er?« fragte er. »Irgendwo unter dem Gestein«, bestätigte Atlan. »Dann tritt zurück!« forderte ihn der Trommler auf. Fenrir hatte bislang keinen Laut von sich gegeben. Er hockte auf der Seite des Ganges. Koy war an ihm vorbeigeschritten, ohne seine Anwesenheit zu bemerken. Für den Arkoniden bedeutete dies, daß der Wolf an dem Trommler nichts auszusetzen hatte. Fenrir besaß einen feinen Instinkt. Wer von ihm nicht angeknurrt wurde, war wahrscheinlich vertrauenswürdig. Atlan hörte ein klatschendes Geräusch, das sich in rascher Folge wiederholte und
37 dessen Rhythmus immer schneller wurde. Aus dem Klatschen wurde schließlich ein dumpfes Brummen, dessen Frequenz allmählich unter die Schwelle des Hörbaren abrutschte. Dafür wurde es in der Mauer aus Schutt lebendig. Atlan hörte ein langgezogenes, schrilles Quietschen. Ein paar Felsstücke polterten herab. Eine Serie undefinierbarer Geräusche folgte. Dann wurde es plötzlich still, bis auf ein leises Scharren, das sich am Boden entlangbewegte. »Ich habe ihn«, sagte Koy. »Er lebt, aber er ist nicht bei Bewußtsein.« Atlan trat hinzu. Er bekam den schlaffen Körper des Gefährten zu fassen und zog ihn vollends aus dem Tunnel heraus, den Koy der Trommler durch den Schutt gebohrt hatte. »Wie hast du das gemacht?« fragte der Arkonide. »Mit den Broins«, antwortete Koy, als sei es die einfachste Sache der Welt. »Sind das die Dinge, die du auf dem Schädel trägst?« wollte Atlan wissen. »Ja, das sind sie«, sagte Koy. Und dann fügte er in belustigtem Tonfall hinzu: »Ich nehme an, wenn wir weiter zusammenarbeiten, werden wir uns irgendwann einmal in hellem Tageslicht sehen. Dann ist es einfacher, miteinander zurechtzukommen. Man sagte mir, du sehest wie einer der Göttersöhne aus. Ist das wahr?« Atlan antwortete nicht sofort. Er wußte nicht viel über den Trommler. Es war wichtig, daß er keine unbedachte Äußerung tat. »Wie sehen die Göttersöhne aus?« fragte er schließlich. »Sag es mir!« »Sie sind hochgewachsen«, antwortete Koy. »Ihre Haut ist hell, sie haben eine hohe Stirn, und ihr Haar ist von silberner Farbe.« »Dann könnte ich einer von ihnen sein«, antwortete Atlan. »Ich könnte, wohlgemerkt. Aber ich bin es nicht.« »Woher weißt du das?« fragte Koy voller Erregung. »Ich kenne meinen Vater«, antwortete der
38 Arkonide. »Er war kein Gott.« In diesem Augenblick war ein halblautes Stöhnen zu hören. Es kam von dorther, wo Razamon lag. Atlan beugte sich zu dem Gefährten hinab. »Bist du verletzt?« fragte er. Der Pthorer war eben erst wieder zu Bewußtsein gekommen. »Wo … bin ich?« stieß er hervor. »Phynx hat uns angegriffen«, antwortete Atlan. »Er wollte den verdammten Knyr erwischen.« »Hat er das gesagt?« »Woher sollte ich es sonst wissen!« Razamon stemmte sich auf den Ellbogen in die Höhe. »Ich wußte es!« knurrte er. »Er hat mich erkannt. Als ich geboren wurde, war er schon seit vielen Generationen verschwunden. Aber er kennt die Knyrs. Er weiß, daß sie es waren, die damals den Befehl der Herren der FESTUNG vollzogen.« Atlan kauerte neben ihm. Er spürte, wie der Pthorer den Kopf wandte. »Und was wird jetzt?« fragte Razamon. »Die Lage hat sich ein wenig geändert«, antwortete der Arkonide. »Es scheint, wir haben ein paar Verbündete gefunden.« Er berichtete Razamon von Einbein und dem Trommler. Sofort fragte der Pthorer: »Was verlangt Koy für seine Hilfe?« Der Trommler hatte die Frage gehört. Er trat herbei. »Muß man immer etwas verlangen?« sagte er. »Ich hörte durch Einbein von deiner Not und kam, um dir zu helfen. Es freut mich, daß mir das gelungen ist. Ich begehre keinen Lohn.« Da wandte sich Atlan in die Richtung, aus der die Stimme des Trommlers erklang. »Einbein sprach davon, daß du dich einsam fühlst und dankbar dafür wärest, wenn du Gefährten erhieltest.« Koy antwortete nicht sofort. »Einsam?« fragte er dann. »Ich mich einsam fühlen? Ich bin von allem Anfang an einsam gewesen. Die Einsamkeit macht mir nichts aus. Wenn ihr meine Gefährten sein
Kurt Mahr wollt, so bin ich froh darum. Aber wenn ihr meint, ich hätte für meine Hilfe eine solche Bedingung gestellt, so irrt ihr euch.« Atlan erinnerte sich, daß Einbein in der Tat nicht von bestimmten Voraussetzungen gesprochen hatte, unter denen der Trommler bereit wäre, Razamon zu Hilfe zu kommen. Was er jetzt hörte, widersprach den Aussagen des Roboters also nicht. Und dennoch wuchs das Mißtrauen des Arkoniden. Er war jetzt fast sicher, daß man Einbein nicht über den Weg trauen dürfe. Als sei sein Gedanke ein Stichwort gewesen, meldete sich in diesem Augenblick die Stimme des Roboters. »Ich sehe, ihr habt einander gefunden, und alles ist gut vonstatten gegangen. Seid ihr bereit, den Weg weiter zu verfolgen?« »Welchen Weg?« fragte Atlan. »Den Weg zum Mittelpunkt der Burg! Seid ihr nicht gekommen, um den Forscher zu schauen, der auf dem Felsen aufgebahrt liegt?« »Den wollen wir sehen!« erklärte Atlan. »Wirst du uns führen?« »Ich führe euch!« versicherte Einbein. »Ihr sollt meinen Herrn sehen!«
* Einbein kehrte zunächst zu dem Gang zurück, von dem Atlan und Razamon abgewichen waren, als Fenrir das Licht in der Ferne bemerkte. Der Wolf gab sich friedlich. Er störte sich weder an der Anwesenheit des Trommlers, noch an der Stimme Einbeins, die mitunter zu hören war. Auf der anderen Seite aber schien es, als meide Koy die Nähe des Wolfes. Atlan bemerkte es, aber er verzichtete darauf, den Trommler darauf anzusprechen. Statt dessen versuchte er, den Roboter in eine Unterhaltung zu verwickeln. Zunächst war Einbein nur zu gerne bereit, die Fragen des Arkoniden zu beantworten. Er gebärdete sich wie ein menschliches Wesen, das Jahrhunderte in der Einsamkeit verbracht hatte und die erste Gelegenheit benutzte, sich auszusprechen. Atlan erfuhr eine
Das Geheimnis der Eiszitadelle Menge von Einzelheiten, die ihm halfen, das seltsame Schicksal des Forschers und seines Robotdieners besser zu verstehen. Ab und zu mischte er Fragen nach Phynx in den Fluß der Unterhaltung. Einbein beantwortete auch diese, und aus den Informationen, die Atlan erhielt, ging hervor, daß der Zyklop auf ähnliche Weise vor dem Tod bewahrt worden war wie Einbein. Aus beiden Geschöpfen war ein energetisches Gebilde geworden. Sie unterschieden sich darin, daß der eine leuchtete und der andere nicht. Ob das daran lag, daß der eine ein organisches Wesen war und der andere ein Roboter – oder daran, daß Phynx, bevor er verwandelt wurde, aus der Materie dieser Welt bestand und Einbein aus der Substanz einer anderen, diese Frage ließ sich ohne weiteres nicht beantworten. Fest stand lediglich, daß Phynx die energetischere der beiden Gestalten war. Er war in der Lage, einen Teil der Energiesubstanz, aus der er bestand, als Waffe zu benützen. Einbein dagegen besaß diese Fähigkeit nicht. Als Atlan aber begann, spezifischere Fragen über den letzten Zyklopen zu stellen, da wurde Einbein immer schweigsamer. »Warum antwortest du nicht?« fragte der Arkonide schließlich. »Ich bin ein Fremder in diesem Land«, antwortete der Roboter. »Ich weiß nicht soviel über den letzten Zyklopen, wie du von mir erfahren willst.« Atlan hörte auf, Einbein auszufragen. Sie marschierten weiter – geführt von der Stimme des Roboters Einbein, die jetzt seltener erklang als bisher. Es gab nur einen winzigen Zwischenfall. Das war, als Koy den Trommler die Ungeduld übermannte und er auf hurtigen Beinen vorwärts huschte, bis er die Spitze des Zuges erreichte, die bisher Fenrir innegehabt hatte. Koy wußte anscheinend nicht, daß der Wolf sich dort befand. Er sprang entsetzt zur Seite, als neben ihm ein zorniges Knurren ertönte. In der Dunkelheit prallte Atlan mit dem Trommler zusammen. »Es ist der Wolf!« stieß Koy hervor. »Er mag mich nicht leiden! Ich wollte nach vor-
39 ne, aber er wollte es nicht!« Atlan faßte den kleinen Mann an der Schulter. »Wer von euch den anderen besser leiden kann, das weiß ich nicht«, sagte er. »Aber wir verfolgen alle dieselben Interessen. Also werden wir lernen, miteinander auszukommen.« Koy widersprach nicht. Fortan hielt er sich hinter dem Arkoniden, der gleich als erster nach dem Wolf an der Spitze der Gruppe ging. Der Marsch zog sich hin. Manchmal ging das Temperament mit dem Trommler durch, und er eilte nach vorne. Aber immer, wenn er in Fenrirs Nähe kam, wandte der Wolf den mächtigen Schädel zur Seite und gab Koy durch ein drohendes Knurren zu verstehen, daß er nicht erwünscht sei. Jedesmal von neuem fuhr der Trommler voller Entsetzen zurück. Er hatte dem Tier von Anfang an mißtraut, und jetzt schien es, als ob der Wolf das Mißtrauen erwidere.
* Atlan war sicher, daß der unsichtbare Roboter bei diesem Unternehmen seine eigenen Interessen verfolgte – und zwar solche, über die er bislang noch nicht gesprochen hatte. Er führte etwas im Schilde. Der Arkonide versuchte vergebens, herauszufinden, was das sein könne. Es ging Einbein nicht wirklich darum, dem großmäuligen Phynx eine Blamage zu bereiten. Er hatte etwas anderes im Sinn. Atlan nahm sich vor, die Augen jederzeit offen zu halten. Er hielt sich an Razamons Seite und sagte auf Terranisch: »Ich traue dem Roboter nicht!« Der Pthorer antwortete in derselben Sprache: »Ich auch nicht. Aber ich sehe nicht, wie er uns gefährlich werden kann.« »Alleine nicht«, pflichtete ihm der Arkonide bei. »Aber vielleicht hat er Verbündete.« »Darauf muß man achten! Diese alte Burg
40 ist so leer nicht, wie sie nach außen hin den Anschein erweckt. Die künstlichen Schwerefelder und der Velst-Schirm haben eine Reihe höchst absonderlicher Kreaturen erschaffen. Der Trommler sprach von den Trollen, die der Zyklop erwähnte. Vielleicht sind von ihnen auch noch ein paar übriggeblieben.« Plötzlich erklang ganz in der Nähe Einbeins Stimme. »Ich höre, daß ihr euch einer fremden Sprache bedient«, sagte er. »Welche ist das?« »Es ist die Sprache der Welt Terra, von der wir kommen«, antwortete Atlan so unbefangen wie möglich. Er wußte wohl, daß der Roboter Mißtrauen geschöpft hatte. Er tat aber so, als sei es das Natürlichste auf der Welt, daß er sich mit Razamon in einer Sprache unterhielt, die zwar sie beide, aber sonst niemand verstand. »Ihr stammt nicht von dieser Welt?« erkundigte sich Einbein. »Nein.« »Wie kann dein Gefährte dann ein Knyr sein?« Die Frage überraschte den Arkoniden. Woher wußte der Robot, daß Razamon aus der Familie der Knyr stammte? Zwar ließ sich die Familienähnlichkeit nicht verleugnen, aber hatte Einbein das Land wirklich so eingehend bereist, daß er sogar wußte, wie die Knyrs aussahen? Viel wahrscheinlicher war, daß er seine Kenntnisse erst vor kurzem erworben hatte – hier, im Innern der Zitadelle. War er in der Nähe gewesen, als Phynx den Gang zum Einsturz brachte? Hatte er den Fluch des Zyklopen gehört? Oder stand er gar mit Phynx auf andere Weise in Verbindung? Gab es ein Komplott zwischen dem Roboter und dem Zyklopen, das gegen die Eindringlinge gerichtet war? Waren die beiden, die einander angeblich nicht ausstehen konnten, in Wirklichkeit Verbündete? »Razamon ist früher schon einmal in Pthor gewesen«, beantwortete der Arkonide die Frage des Roboters. »Die Ähnlichkeit mit den Knyrs ist zufällig. Aber es scheint
Kurt Mahr eine Reihe von Leuten zu geben, die sich an meinen Gefährten erinnern.« »Das ist interessant«, bekannte Einbein. »Seitdem der Forscher und ich auf dieser Welt gelandet sind, hat Pthor mancherlei Berührung mit anderen Welten gehabt. Kommt ihr von einer solchen?« »Von einer solchen«, bestätigte Atlan. »Sie liegt draußen, jenseits des Wölbmantels. Ein Teil des Meeres, das man vor der Eisküste sieht, gehört zu Terra.« »Wie kommt es dann«, fragte Einbein, »daß die Horden der Nacht nicht ausschwärmen, daß die Berserker nicht ausziehen, daß die Welt rings um Pthor nicht von Horror und Entsetzen überzogen wird?« »Weil die Terraner nicht dumm sind«, antwortete der Arkonide. »Sie haben außerhalb des Wölbmantels ihr eigenes Energiefeld errichtet, das niemand, der von Pthor kommt, durchdringen kann.« »Außer dir!« »Außer mir?« »Du sagtest, du seist von draußen gekommen. Mit deinem Gefährten. Also müßt ihr den Energieschild durchdrungen haben.« »Das ist richtig.« »Und jederzeit, wenn ihr wollt, könnt ihr wieder in eure Welt zurückkehren?« »Das ist leider nicht richtig. Wir sind ausgesperrt.« »Oh!« machte Einbein. Atlan war amüsiert. »Bedrückt dich das?« fragte er. Einbein antwortete nicht. »Heh! Ich habe dir eine Frage gestellt!« rief der Arkonide. Noch immer kam keine Antwort. »Er ist fort!« sagte Razamon auf Terranisch. Atlan nickte. Es war eine nutzlose Geste, weil niemand sie sehen konnte. Einbein war verschwunden. Der Arkonide glaubte zu wissen, warum. Bisher hatte Einbein gemeint, er habe es mit Pthorern zu tun. Sie mochten über ein umfangreiches Wissen verfügen, aber sie waren doch Menschen dieses Landes und als solche verstrickt in die Mischung aus Magie und Aberglauben,
Das Geheimnis der Eiszitadelle die das Denken der Pthorer prägte. Jetzt hatte er erfahren, daß Atlan und Razamon aus einer Welt kamen, die ausreichende Mittel besaß, um die Übergriffe der Pthorer abzuwehren. Er mußte seine Verbündeten benachrichtigen, daß man es mit Leuten zu tun hatte, die nicht so einfach zu übertölpeln sein würden wie eingeborene Pthorer. Atlan fiel ein paar Schritte zurück, bis Koy der Trommler zu ihm aufschloß. »Wir müssen uns in acht nehmen«, sagte er zu ihm. »Einbein plant Übles!«
12. Kolphyr aber, der Forscher, merkte von all diesen Dingen nichts. Er lag auf dem großen Felsblock, und wenn er etwas von der Zeit verstanden hätte, dann hätte er sagen müssen, sie sei stehengeblieben. Kolphyr jedoch dachte entlang anderer Bahnen. Für ihn hatte es, seit er auf dem Antimateriebrocken gelandet war, nur wenige Änderungen des Makrozustandes gegeben. Diese waren auf die Ereignisse unmittelbar nach dem Eingefangenwerden beschränkt. Seit er hier auf dem Felsblock lag, hatte es überhaupt keine Makroänderungen mehr gegeben, höchstens noch die Aufeinanderfolge einiger Mikrozustände, die jedoch so wenig voneinander verschieden waren, daß sie dem Forscher einer wie der andere vorkamen. Seit er damals, ganz zu Anfang, Einbeins Stimme vernommen hatte, war die Hoffnung nicht von ihm gewichen, daß der Roboter, allen Erwartungen zum Trotz, womöglich doch die Auflösung aller anorganischen Materie überstanden haben könne und sich bei erster Gelegenheit wieder mit ihm in Verbindung setzen werde. Kolphyr, der Wissenschaftler, hatte in Gedanken die Lage und die verschiedenen Kräfte analysiert, wie sie damals vorgeherrscht hatten, als der Dimensionstaucher an den Antimateriebrocken gefesselt worden war. Unter gewissen Voraussetzungen bestand tatsächlich eine Möglichkeit, daß Einbein das Unglück überlebt ha-
41 ben könne. In diesem Fall würde er jetzt als körperloses Wesen irgendwo herumgeistern. Die Analyse lieferte gleichzeitig Klarheit darüber, warum der Roboter – falls er überhaupt noch existierte – sich mit seinem Herrn niemals in Verbindung gesetzt hatte. Wenn es Einbein überhaupt noch gab, dann war er in eine Energieform verwandelt worden, die den Gegebenheiten der Antimateriewelt entsprach. Er konnte durch den VelstSchleier hindurch nicht mit Kolphyr kommunizieren. Einbeins Schicksal – falls es sich wirklich so entwickelt hatte, wie die Analyse ergab – bereitete dem Forscher ein gewisses Maß an Sorge. Die Programmierung des Roboters war darauf abgestellt, daß er ständig mit organischen Wesen Kontakt hatte. Einbein war als Diener, als Begleiter konzipiert. Niemand vermochte vorherzusagen, was aus ihm werden würde, wenn er den Kontakt zu der Umwelt verlor, mit der zu harmonisieren seine grundlegende Aufgabe war. Der Roboter besaß genug Eigenintelligenz, um seine Programmierung selbst zu ändern, wenn sie ihm nicht mehr behagte. Er war von allem Anfang an – wenn auch aufgrund der Spezifikationen, die Kolphyr selbst angefertigt hatte – ein sehr eigenwilliger Bursche gewesen. Wer mochte wissen, was inzwischen aus ihm geworden war. Und dann wiederum bedachte Kolphyr sein eigenes Schicksal. Seit neuestem empfand er eine Regung, die ihm bisher völlig unbekannt gewesen war: Ungeduld. Er war – auch wenn er selbst dies nicht wußte, weil ihm der entsprechende Begriff fehlte – unsterblich. Aber Zeit seines Lebens hatten die Makrozustände einander in rascher Folge abgewechselt, war sein Leben voller Abwechslung gewesen. Die Ruhe, die ihn umgab, seitdem er mit dem Antimateriebrocken zusammengestoßen war, behagte ihm immer weniger. Durch den Velst-Schleier hindurch hatte er wahrgenommen, daß der Mikrokosmos, in dem er sich befand, nicht ganz ohne Leben war. Es gab zumindest ein Wesen, das
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Kurt Mahr
die äußere Erscheinung einer leuchtenden Kugel besaß, das sich in den Gängen des alten Gebäudes herumtrieb. Kolphyr hatte nach Wegen gesonnen, wie er mit diesem Geschöpf in Verbindung treten könne. Aber der Velst-Schleier war in seiner jetzigen Form eine undurchdringliche Barriere. Das Schicksal schien entschieden zu haben, daß Kolphyr, der Forscher, bis in alle Ewigkeit auf dem nackten Felsblock liegen solle.
13. Phynx kannte seine Aufgabe. Im entscheidenden Augenblick würde er in den großen Saal vorprellen. Seine Erscheinung würde die Leute erschrecken, die in dieser Sekunde den Saal gerade betreten hatten und sich auf den Felsblock zu bewegten, auf dem unter dem Velst-Schleier das fremde Wesen ruhte. Unter dem Eindruck des Schreckens würde Koy der Trommler seine beiden Fühler in Bewegung setzen. Phynx hatte ihre Wirkung am eigenen Leib erfahren und wußte, daß sie ernstzunehmende Waffen waren. Wieviel sie aber wirklich ausrichten konnten, das hatte er erst von Einbein erfahren. An den Wänden des Saales hingen riesige Kristalle. Phynx hatte sie gesehen. Sie schimmerten im Licht der ewigen Fackeln, die die Herren der FESTUNG dort hatten anbringen lassen. Jeder Kristall hatte 256 Kanten. Sie gehörten nicht zur ursprünglichen Ausstattung der Burg. Sie waren installiert worden, als Phynx auf der Sohle des Schachts unter seinem Thron mit dem Tod kämpfte. Er hatte sie für Ornamente gehalten – auch wenn ihm nicht klar war, warum die letzte Ruhestätte eines fremden Wesens mit derart aufwendigem Schmuck versehen worden sein sollte. Die Kristalle waren in Wirklichkeit Schwerkraftprojektoren. Sie erzeugten die mannigfachen Fäden des Gravitationsnetzes, das das fremde Wesen an die Oberfläche des Felsklotzes gebunden hielt. Gäbe es nicht diese Fäden, der Fremde hätte sich längst erhoben und wäre aus der Zita-
delle geflohen. Die Strahlung, die die Fühler des Trommlers abgaben, würde auf die Kristalle einwirken und sie zerstören. Das Schwerkraftnetz zerriß. Im selben Augenblick mußte auch der Velst-Schleier zusammenbrechen. So wenigstens stellte es Einbein dar. Der Leib des fremden Forschers lag schutzlos. Der Forscher selbst würde von den unerwarteten Vorgängen so überrascht sein, daß er keinen nennenswerten Widerstand leisten konnte, wenn Phynx ihn mit geballter Kraft ansprang. Das Bewußtsein des Zyklopen würde den fremden Geist entweder verdrängen oder unterjochen und sich in den Besitz des Körpers setzen. So hatte Einbein den Vorgang geschildert, und Phynx sah keinen Grund, an der Aufrichtigkeit seines zukünftigen Untergebenen zu zweifeln. Was hätte Einbein auch davon gehabt, wenn er ihn anlog? Der Zyklop verstand nichts von Antimaterie. Er wußte nicht, daß, wenn die Dinge sich wirklich so abspielten, wie der Roboter sie darstellte, die unausweichliche Folge eine gigantische Explosion sein mußte, die nicht nur die Zitadelle, sondern darüber hinaus große Teile von Pthor zerstören würde. Eben weil er aber keine Ahnung von diesen Dingen hatte, war Phynx um so bereitwilliger auf den hinterhältigen Plan des Roboters eingegangen.
* Schließlich tauchte in der Ferne ein Licht auf. »Wir nähern uns dem Ziel!« erklärte Einbein. »Das dort hinten ist der Lichtschein der ewigen Fackeln, die rings um die Bahre des Forschers brennen.« Seit geraumer Zeit war der Vormarsch nicht mehr so rasch gewesen wie bisher. Unter den Trümmermassen begraben zu sein, hatte Razamon doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte. Es mußten mehrere Rastpausen eingelegt werden. Proviant gab es nicht mehr. Auch der Trommler besaß
Das Geheimnis der Eiszitadelle keinerlei Vorräte. Der Anblick des fernen Lichtes jedoch verlieh dem Pthorer neue Kräfte. »Los, weiter!« stieß er ungeduldig hervor. »Nehmt auf mich keine Rücksicht! Ich schaffe es schon!« Er wies den Arm zurück, mit dem Atlan ihn stützen wollte. Humpelnd stürmte er davon und ließ eine Zeitlang sogar Fenrir hinter sich zurück. Atlans Spannung wuchs. Wenn der Roboter wirklich einen Hinterhalt plante, dann lag er irgendwo dort hinten in der Nähe des Lichts, im großen Festsaal der alten Zyklopen. Es war sehr bemerkenswert, daß in den vergangenen Stunden das Energiewesen Phynx sich kein einziges Mal mehr hatte blicken lassen. Dadurch wurde der Arkonide in seinem Verdacht bestätigt, daß Einbein und der Zyklop miteinander gemeinsame Sache machten. Der Gang weitete sich schließlich und öffnete sich zu einem riesigen, bogenförmigen Portal, das in den großen Saal hineinführte. Unter dem Torbogen blieben die Männer und der Wolf stehen. Staunend ließ Atlan den Blick durch die weite, hohe Halle wandern. In den Wänden staken übermannshohe Fackeln, die mit rötlichgelber Flamme brannten und ein gespenstisches Licht verbreiteten, in dem jeder Gegenstand mehrere Schatten warf, die unruhig hin und her zuckten. Die Fackeln schienen ihre Substanz nicht zu verzehren. Sie waren, wie Einbein gesagt hatte, ewige Fackeln. In der Mitte des riesigen Raumes erhob sich ein monolithischer Felsblock von geometrisch exakter Quaderform. Über der platten Oberfläche erhob sich ein leuchtendes Gebilde wie ein Ballon. Das Gebilde war halb durchsichtig. In seinem Innern erkannte man die Umrisse eines Wesens, das auf den ersten Blick menschenähnlich wirkte. »Der Velst-Schleier!« murmelte Atlan. »Gnade uns Gott, wenn er aufreißt!« Von dem Monolithen aus breiteten sich Bahnen, die aus purem Licht zu bestehen schienen, in alle Richtungen aus. Ihre Hel-
43 ligkeit war von derselben Art, wie sie Razamon und Atlan in der Schlucht vor der Zitadelle beobachtet hatten. Das war das Licht, vor dem man sich in acht nehmen mußte. Denn es markierte den Verlauf der künstlichen Schwerkraftfelder, und wer in den Bann einer der Bahnen geriet, war unwiderruflich verloren. Die leuchtenden Bahnen endeten an der Wand der Halle, und dort, wo sie endeten, befanden sich mächtige Kristalle, jeder zur Vollkommenheit geschliffen mit Hunderten von Kanten, in denen sich das Licht der Fackeln ebenso wie das Leuchten der Schwerkraftbahnen spiegelten. Die Kristalle funkelten und glitzerten in zauberisch bunten Farben. Man durfte sie nicht länger als ein paar Sekunden ansehen, sonst verwirrten sich einem die Sinne. Atlan nahm das überraschende Bild sorgfältig in sich auf. Er suchte nach der Falle, die er hier vermutete, fand jedoch keine Spur. Schließlich wandte er sich in die Richtung, in der Einbein gewesen war, als er zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte, und sagte: »Wir möchten deinem Herrn unsere Aufwartung machen. Wird das möglich sein?« »Wenn er euch überhaupt sehen kann, wird er sich darüber freuen«, antwortete der Roboter. Aber seine Stimme kam jetzt von einem anderen Ort. Sie hörte sich an, als sei er schon auf halbem Wege zu dem Monolithen.
* Sie traten langsam näher. Das Wesen unter dem leuchtenden Schleier entpuppte sich als ein Riese von annähernd zweieinhalb Metern Körperlänge. Die Haut war von dunkler Farbe, entweder grau oder braun, das ließ sich bei der verwirrenden Beleuchtung nicht genau sagen. Der Schädel des Fremden ruhte auf einem kurzen, stämmigen Hals. Kugelige, weit hervortretende Augen und ein in die Breite gezogener Mund mit wulstigen Lippen verliehen ihm das Ausse-
44 hen eines fröhlichen Frosches, wie man ihn in Kinderbüchern manchmal sieht. Der Frosch hatte zwei Arme und zwei Beine. Hände und Füße waren sechszehig. Der mächtige Körper war haarlos, nur auf dem Schädel erhob sich ein Büschel kleiner Gebilde, die jedoch zu seltsam geformt waren, als daß sie Haare im menschlichen Sinne hätten sein können. »Das also ist Gloophy«, sagte Razamon. »Wenig Ähnlichkeit mit der Statue in Cafoort, findest du nicht auch?« fragte der Arkonide. »Fast gar keine, würde ich sagen.« In diesem Augenblick trat auch Koy näher heran. Fenrir, der sich an Atlans Seite hielt, hatte etwas dagegen. Er knurrte drohend. Koy wich erschrocken zurück. Und genau in diesem Augenblick trat Einbeins Plan in Aktion. Im Hintergrund der Halle wurde es plötzlich lebendig. Eine intensiv leuchtende Kugel schoß von der Decke herab und unmittelbar auf den Monolithen zu. Eine dröhnende Stimme erscholl: »In den Staub mit euch, ihr Hunde! Der letzte Zyklop tritt das Erbe seiner Ahnen an!« Koy reagierte instinktiv, ohne Überlegung. Das Knurren des Wolfes hatte ihn erschreckt, die donnernde Stimme des Energiewesens erfüllte ihn mit Entsetzen. Die Broins setzten sich in Bewegung. Sie schwangen in wildem Wirbel. Ihre Bewegungen wurden so schnell, daß das Auge ihnen nicht mehr folgen konnte. Koy sah das strahlende Energiebündel auf sich zurasen und warf sich zur Seite. Was dann geschah, das würde später niemand mehr in der richtigen Reihenfolge beschreiben können. Es ereignete sich alles fast gleichzeitig. Phynx, das Energiewesen, stieß einen gellenden, langgezogenen Schrei aus, als es von den Broin-Impulsen getroffen wurde. Aus dem Hintergrund kam ein krachendes, berstendes Geräusch und das Geklirr von hunderttausend gläsernen Splittern. Entsetzt beobachtete Atlan, wie sich zwei
Kurt Mahr der mächtigen Kristalle in ihre Bestandteile auflösten. Koy mußte sie getroffen haben, als er Phynx auszuweichen versuchte. Die leuchtenden Bahnen des Gravitationsnetzes gerieten in Bewegung. Sie wurden zu zuckenden Schlangen, die über den Boden huschten. Der Fels riß auf. Spalten entstanden. Es knisterte in den Wänden und in der Decke des riesigen Saales. Fassungslos sah der Arkonide, wie das Leuchten der Schwerkraftfesseln nachließ. In diesem Augenblick verstand er die Bedeutung der großen Kristalle: Sie waren die Projektoren, die das Gravitationsnetz aufrechterhielten! Das System war durcheinandergeraten. Immer mehr Kristalle zerbarsten, obwohl Koy längst aufgehört hatte zu trommeln. Phynx schrie noch immer. Die leuchtenden Schlangen zuckten noch ein paarmal und erloschen dann für immer. »Seht, den Fremden!« schrie Razamon in höchster Angst. Atlan wirbelte herum. Der Velst-Schleier war kleiner geworden. Er schrumpfte wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft herausließ! Das Wesen im Innern des Schleiers hatte sich zu bewegen begonnen. Den Arkoniden packte das Grauen. In diesem Augenblick aber begann eine neue Reihe von Ereignissen, die seine Aufmerksamkeit ablenkte. Hoch oben, unter der Decke des Saales, war ein grelles Licht erschienen. Es blähte sich auf, wurde zu einer gigantischen Kugel, die sich anschickte, bis auf den Boden herabzureichen. Im Innern schwebte ein seltsam geformtes Geschöpf. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Fremden, besaß jedoch nur ein Bein. Es bestand aus Metall oder einer ähnlich gearteten Substanz. Während die leuchtende Kugel sich aufblähte, wuchs auch das fremdartige Geschöpf. Sein Gesicht war eine verwaschene, blasse Fläche fast ohne jegliche Gliederung, und dennoch Vermittelte es den Eindruck von intensivem Schmerz. Die langen, dünnen Arme waren wie zu einer flehenden Geste erhoben. Dann gellte ein Schrei – so entsetzlich, so
Das Geheimnis der Eiszitadelle unmenschlich, so grauenerregend, daß dem Arkoniden das Blut in den Adern gefror. In diesem Augenblick hatte der untere Rand der leuchtenden Kugel den Boden der Halle erreicht. Das fremde Geschöpf war transparent geworden. Es befand sich im Zustand der Auflösung. Der fürchterliche Schrei endete abrupt. Ein kurzes, dumpfes Geräusch folgte. Dann waren die Kugel und ihr Inhalt verschwunden, geplatzt wie eine Seifenblase. Aber noch war das Drama nicht beendet. Der strahlende Energieball, der das Wesen Phynx verkörperte, war von neuem in Bewegung geraten. Mit fauchendem Geräusch raste er durch die riesige Halle. Seine Bewegungen waren unkontrolliert. Er prallte gegen die Decke und wurde zurückgeschleudert. Knallend und krachend löste sich ein mächtiges Trümmerstück aus dem Felsgefüge und stürzte herab. Der glühende Ball raste weiter. Er begann, Substanz zu verlieren. Leuchtende Bruchstücke lösten sich ab wie schwere Tropfen Schmelzgut von einem in Glut geratenen Metallklumpen. Noch einmal, ein letztes Mal, war die Stimme des letzten Zyklopen zu hören. »Verrat! Abermals Verrat!« gellte sie durch den weiten Saal. »Verflucht sollt ihr sein …« Bei den letzten Worten verlor sie an Kraft. Der leuchtende Ball, auf ein Viertel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft, prallte gegen die Wand gegenüber dem Eingang und zerplatzte in Tausende winziger Glutstücke, die rasch erloschen. Das war das Ende von Phynx, dem letzten Zyklopen, der seinen Körper infolge einer Serie ungewöhnlicher Zufälle um viele Jahrhunderte überlebt hatte. Schaudernd wandte Atlan sich ab. Sein Blick fiel auf den Forscher.
* Der hatte sich inzwischen aufgerichtet und war von der Plattform des Monolithen herabgeglitten. Der grünlich leuchtende
45 Schleier war nun schon so eng geworden, daß er ihn fast wie ein Kleidungsstück umgab. Entsetzt wich Atlan zurück. In jeder Sekunde mußte der hauchdünne Energieschleier reißen und das fremde Geschöpf freigeben. Die Substanz des Geschöpfs aber war Antimaterie. Niemand würde die fürchterliche Explosion überleben, die unweigerlich eintreten mußte, wenn der grüne Schleier auch nur einen mikroskopisch kleinen Riß erhielt. Der Forscher hatte die großen, hervortretenden Augen mit starrem Ausdruck auf den Arkoniden gerichtet. Der Velst-Schleier hatte sich jetzt den Umrissen seines Körpers vollends angepaßt. Er hüllte ihn ein wie eine zweite Haut. Atlan schrie auf, als er sah, wie der Schleier sich in unmittelbarer Nähe der Augen zu öffnen begann. Auch rings um den Mund entstand eine Öffnung, und zwei weitere Risse zeichneten sich in der Nähe der kurzen, eng anliegenden Ohren ab. Am Ende seiner Beherrschung, schlug der Arkonide die Hände vor die Augen und erwartete schreckerstarrt den Untergang. Eine Sekunde verstrich, dann noch eine. Ungläubig spreizte Atlan die Finger und blickte zwischen ihnen hindurch. Das fremde Wesen stand vor ihm. Der grünliche Schleier hatte das Aussehen gesprungenen Glases angenommen und verdeckte die dunkle Hautfarbe des Forschers. Die Öffnungen des Velst-Feldes waren so ausgebildet, daß sie die Augen, den Mund und die Ohren freiließen. An ihren Rändern flimmerte es leicht – ein Zeichen dafür, daß der Schleier auch in den geöffneten Zonen weiterhin wirksam war. Es kam zu keiner Berührung zwischen Materie und Antimaterie. Falls der Fremde atmete, dann atmete er eine Luft, die durch die Wirkung des Schleiers auf geheimnisvolle Weise in Antimaterie verwandelt worden war. Plötzlich begann der Forscher zu sprechen. Er bediente sich einer fremden Sprache,
46 die niemand verstand. Seine Stimme war überraschend hell, manchmal sogar schrill, und wollte nicht recht zu dem mächtigen Körper passen. Ehe Atlan sich's versah, trat der fremde Riese auf ihn zu und zog ihn mit einer kräftigen Umarmung an sich. Dem Arkoniden stockte der Atem. Die Vorstellung, nur um Haaresbreite von einem mehrere Zentner schweren Koloß aus Antimaterie entfernt zu sein, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Da meldete sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sein Extrasinn. »Ich habe die Lage analysiert«, erklärte er. »Es ist nichts zu befürchten.« Erst dann wagte Atlan wieder zu atmen. Er sah zu dem breiten, fröhlichen Gesicht des Fremden auf und hörte verwundert die Worte seiner vokalreichen Sprache, die er in rascher Folge hervorstieß, wobei es ihn nicht zu stören schien, daß niemand ihn verstand. Plötzlich entließ er den Arkoniden aus der Umarmung. Er reckte die Arme, deutete hierhin und dorthin, nach oben, zur Seite und nach unten und sprach womöglich noch hastiger als zuvor. Sein Gesicht wirkte mit einemmal nicht mehr so fröhlich. Es gab etwas, das ihn beunruhigte. Jetzt, da endlich wieder Ruhe eingetreten war, ließ sich auch das verräterische Knistern im Fels wieder hören. Es kam von überall. Es gab keinen Zweifel, daß das plötzliche Verschwinden der künstlichen Schwerkraftfelder und das unkontrollierte Wüten des Energiewesens Phynx zumindest das Gefüge der großen Halle, wenn nicht sogar die Grundfesten der Zitadelle erschüttert hatte. Atlan wandte sich zu den Gefährten um. »Wir sind hier nicht mehr sicher«, sagte er. »Wir müssen die Burg auf dem schnellsten Wege verlassen.« Aus Razamons bleichem Gesicht funkelten die Augen wie Stücke geschliffener Kohle. Ihr Blick war auf den Forscher gerichtet. »Etwa mit ihm?« fragte er, ohne den Arkoniden dabei anzusehen.
Kurt Mahr Es war unschwer zu sehen, daß auch Koy sich vor dem Fremden fürchtete. Sein Blick war unstet. Nur der Wolf zeigte sich unbefangen. Er hielt sich noch immer an Atlans Seite, und wenn er den Forscher anblickte, dann geschah es ohne jegliches Interesse und ohne Reaktion. »Er kommt mit uns«, antwortete Atlan auf die Frage des Pthorers. »Er bedeutet keine Gefahr mehr!«
14. Der Auszug aus der Eiszitadelle wurde zu einer gnadenlosen Hetzjagd. In den Wänden der Hallen und Gänge hatten sich Risse gebildet. Manchmal wankte der Boden. Wenn die Fliehenden anhielten, um zu verschnaufen, dann hörten sie ringsum das Gedröhn einstürzender Räume. Die Flucht verlangte das Letzte von ihren geschundenen Körpern. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, als sie den Ausgang erreichten – jenes Portal, durch das Atlan, Razamon und Fenrir vor wer weiß wievielen Stunden in die Burg der Zyklopen eingedrungen waren. Es war Nacht. Sie blickten in die Schlucht hinab, in der unter den vielen Toten, die das heimtückische Schwerkraftnetz gefordert hatte, auch Marxos lag. Razamon rammte Atlan den Ellbogen in die Seite. »Heh – die leuchtenden Linien sind verschwunden!« stieß er krächzend hervor. Der Arkonide sah es. Das Tal würde keine weiteren Opfer mehr fordern. Das mörderische Schwerkraftnetz war zerstört. Es war von den mächtigen Kristallen aus gesteuert worden, die Koy vernichtet hatte. Hinter ihnen rumorte es dumpf. Atlan fragte sich, ob die alte Zitadelle den nächsten Sonnenaufgang noch erleben würde. Gloophy, der Fremde, hatte seit langer Zeit kein Wort mehr gesprochen. Er war der einzige, der keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte. Er schien jedoch zu spüren, daß seine Begleiter am Rand ihrer Kräfte waren.
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Wohin jetzt?« fragte Razamon. »Nach Südosten«, antwortete Koy der Trommler, von dem eigentlich niemand eine Antwort erwartet hatte. »Warum dorthin?« wollte Atlan wissen. »Ich bin mit einem Zugor aus dem Wachen Auge geflohen und habe ihn im Südosten im Eis abgestellt. In der Nähe habe ich ein kleines Paket Proviant zurückgelassen. Wir brauchen beides – den Proviant und das Fahrzeug.« Razamon und der Arkonide blickten einander an. Sie nickten gleichzeitig. Koys Vorschlag war angenommen. Es wurde ein beschwerlicher Marsch. Sie erkannten alsbald, daß sie sich, indem sie aus der Eiszitadelle flüchteten, nur vor der unmittelbaren Gefahr in Sicherheit gebracht hatten. Es schien, als sei außer der Felskonstruktion der Zyklopenburg auch das Eis in Bewegung geraten. Die Luft war wärmer geworden. Manchmal, wenn sie eine Eisspalte durchquerten, wateten sie durch Lachen von Schmelzwasser. Das Eis hatte begonnen, jene merkwürdige, grünlichdurchsichtige Konsistenz anzunehmen, die dem kundigen Beobachter verriet, daß es bereits in den Schmelzprozeß eingetreten war. Atlan konnte sich dies nicht anders erklären als damit, daß das künstliche Schwerkraftnetz weit über die Eiszitadelle gewirkt hatte – ja, daß es womöglich sogar für die Vereisung dieses Landstrichs verantwortlich war, der doch ringsum von Zonen gemäßigten, wenn nicht sogar heißen Klimas umgeben war. Während des langen Marsches versuchten Razamon und Atlan, die Vorgänge zu deuten, die sich im großen Saal der alten Zyklopenburg abgespielt hatten. Auch der Trommler beteiligte sich an der Unterhaltung, aber nur aus sicherer Entfernung – denn er und der Wolf waren einander noch immer gram. »Es ist klar«, sagte Atlan, »daß Einbein und Phynx irgendeinen Anschlag geplant hatten. Worauf er hinauslief, werden wir nie erfahren. Auf jeden Fall sollte Phynx überraschend auf der Szene erscheinen, um Koy zu
47 einer unbedachten Handlung zu veranlassen. Soweit hat der Plan funktioniert – nur scheint Koys Reaktion nicht gerade das gewesen zu sein, was die beiden Verschwörer im Auge hatten. Das Wesen in der großen Kugel muß Einbein gewesen sein. Der Name paßt zum Aussehen. Einbein existiert also nicht mehr. Auch Phynx ist tot. Die künstliche Schwerkraft hat ihnen vor langer Zeit das Leben gerettet. Das Erlöschen des Gravitationsnetzes brachte ihnen den Tod.« »Warum waren Phynx und Einbein von so grundsätzlich verschiedener Erscheinungsform?« fragte Razamon. »Der eine unsichtbar, der andere ein leuchtender Energieball?« »Wir wissen es nicht«, antwortete der Arkonide. »Es kann daher kommen, daß der eine ursprünglich ein Roboter, der andere ein organisches Wesen war. Oder es liegt daran, daß Phynx, als er noch einen Körper besaß, aus herkömmlicher Substanz bestand, während Einbein Antimaterie war.« Er hob die Schultern, um anzudeuten, daß er diese Frage nicht für wesentlich halte. Plötzlich und unerwartet sprach Gloophy wieder ein paar Worte. Es klang fast so, als sei er der Diskussion gefolgt und wolle nun seinen Teil beitragen. Razamon sah zu ihm auf und bemerkte nachdenklich: »Ich wollte nur, du beherrschtest unsere Sprache – oder könntest uns deine beibringen!« Als Gloophy den Blick des Pthorers auf sich ruhen fühlte, trat er rasch herbei, hob Razamon in die Höhe und umarmte ihn. Razamon ließ sich die Liebkosung wohl oder übel gefallen, weil er den gewaltigen Muskelkräften des Fremden nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte. Als Gloophy ihn wieder abgesetzt hatte, murmelte er: »Das wird er sich abgewöhnen müssen! Das verträgt kein Mensch!« Atlan lachte. »Unser Gloophy ist ein Unikum! Ich frage mich, wie die Leute auf ihn reagieren werden, wenn wir wieder belebtere Gegenden erreichen.« Razamon wirkte nachdenklich.
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»Heißt er wirklich Gloophy?« fragte er zweifelnd. »Irgendwie klingt mir der Name nicht glaubwürdig.« »Wir hätten Einbein fragen sollen, als er noch lebte«, meinte Atlan. »Ich habe seinen wahren Namen von Einbein gehört«, erklärte Koy der Trommler. »Er erwähnte ihn ganz zu Anfang, als wir einander eben erst begegnet waren.« »Wie lautet er?« »Ich weiß es nicht mehr. Er klang jedenfalls ganz ähnlich wie Gloophy.«
* Bei Anbruch des Morgens rasteten sie ein paar Stunden. Es war jetzt ganz klar, daß die Vernichtung des künstlichen Schwerkraftnetzes tiefgreifende Veränderungen in der Landschaft der Eisküste hervorrufen würde. Überall schmolz das Eis. Es löste sich in riesigen Klötzen und Schichten von den Flanken der Berge. Der Weg wurde von Stunde zu Stunde gefährlicher. In Anbetracht der ständig wachsenden Bedrohung wurde die Rastpause so kurz wie möglich gehalten. Koy erklärte, man werde den Landeplatz des Zugors am Nachmittag erreichen – vorausgesetzt, daß die immer mehr in Bewegung geratenden Eismassen den Weg nicht blockierten. Gloophy blieb ein freundlicher, fröhlicher Weggenosse. Von Zeit zu Zeit überkam ihn das Verlangen, einen seiner Gefährten zu umarmen und an sich zu drücken. Razamon und Koy ließen sich die Liebkosungen des Forschers mit leicht erkennbarem Mißbehagen gefallen. Atlan dagegen lachte dazu. Nur Fenrir wurde nicht in Gloophys Liebkosungsbedürfnis mit einbezogen. Ein paarmal wichen sie herabgleitenden Eisbrettern aus. Dadurch verlängerte sich der Marsch. Die Sonne berührte fast schon den Horizont, als sie den Ausgang eines Passes erreichten, von dem aus nach Koys Schilderung der Landeplatz des Zugors zu sehen war. Der Trommler hatte die Führung übernommen. Fenrir bildete freiwillig die
Nachhut, als verstehe er genau, daß seine Dienste in diesem Augenblick weniger gefragt waren. Dort, wo der Paß sich weitete und den Ausblick nach Südosten freigab, blieb Koy plötzlich stehen und hob die Arme in einer Geste des Erschreckens. Im Nu waren Atlan und Razamon an seiner Seite. »Was gibt es?« fragten sie wie aus einem Mund. Wortlos deutete der Trommler in das langgestreckte Tal hinab, das sich jenseits des Passes ausbreitete. Dort, wo es im Südosten gegen die nächste Bergkette stieß, war es von frisch aufgeschütteten Eistrümmern erfüllt. Von einigen Bergwänden schimmerte das helle Grau des nackten Felsens – ein Anblick, den man im Land der Eisküste seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. »Liegt dort der Zugor?« fragte der Arkonide beklommen. »Ja, dort liegt er«, bestätigte Koy niedergeschlagen. Atlan maß mit dem Blick die Höhe der glitzernden Halde, die das Eis aufgeschüttet hatte. »Zwecklos«, murmelte er. »An den Zugor kommen wir nicht heran.« Plötzlich machte der Trommler eine rasche Bewegung. »Was ist? Siehst du eine Möglichkeit?« wollte Atlan wissen. »Nicht, was den Zugor angeht«, antwortete Koy. »Aber ein paar hundert Meter von dem Fahrzeug entfernt habe ich den Rest meines Proviants versteckt. Es schien mir sicherer so. Ich wußte nicht, ob ich nicht hierher würde zurückkommen müssen. Und es sieht ganz so aus, als hätte das Eis gerade vor dem Versteck haltgemacht!« Sie eilten die Schräge hinab. Sie durchquerten das Tal und näherten sich der Eisbarriere, die längst zu schmelzen begonnen hatte und ihren Fuß in einem Weiher aus klarem, kaltem Wasser badete. »Dort!« rief der Trommler aufgeregt und deutete auf einen Felsen, der eben im Begriff war, sich seines Eismantels zu entledi-
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gen. Als Koy sein Versteck angelegt hatte, war hier eine dicke Eisschicht gewesen. Sie hatte sich inzwischen zum größten Teil aufgelöst. Das Proviantpaket war ein paar Meter weit weggeschwemmt worden. Aber der Inhalt war unversehrt. Großzügig verteilte der Trommler seinen Reichtum unter den Gefährten. Auch Fenrir bekam etwas, aber er wollte es nur von Atlan annehmen. Gloophy allerdings gab mit Gesten zu verstehen, daß er nichts annehmen werde. »Er lebt wahrscheinlich von der Luft«, spottete Razamon, während er auf einem zähen Stück Trockenfleisch zu kauen begann. »Du könntest recht haben!« meinte Atlan. Sie aßen spärlich. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, bis sie Gegenden erreichten, in denen Proviant erhältlich war. Aber selbst das Wenige, was sie zu sich nahmen, belebte ihre Kräfte auf nahezu wunderbare Art und Weise. Die Müdigkeit wich von ihnen. Sie fühlten sich, als würde es ihnen keine Mühe machen, in einem Stück bis
zum Rand der Wüste Fylln vorzustoßen. »Wohin halten wir uns?« fragte Razamon. »Immer weiter nach Südosten«, schlug Atlan vor. »Das bringt uns an den Rand der Wüste und dicht an der Senke der Verlorenen Seelen vorbei.« Der Pthorer bedachte diesen Vorschlag eine Sekunde lang. Dann nickte er. In diesem Augenblick rief Gloophy: »Südosten … Südosten …« Dabei schwenkte er den rechten Arm. Die Gefährten sahen ihn verwundert an. Atlan nickte dem fremden Wesen aufmunternd zu. »Nur immer weiter so!« sagte er. »Wenn wir miteinander Abenteuer bestehen wollen, müssen wir miteinander sprechen können!« Da kam Gloophy auf ihn zu und drückte ihn an sich.
ENDE
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