Nr. 321
Das Geheimnis der Eiszitadelle Gloophy, das Eiswesen, erwacht zu neuem Leben von Kurt Mahr
Sicherheitsvorkehr...
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Nr. 321
Das Geheimnis der Eiszitadelle Gloophy, das Eiswesen, erwacht zu neuem Leben von Kurt Mahr
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtau senden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berserker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Atlan und Razamon gelangen auf eine Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah men, haben Atlan und Razamon durch die Zerstörung des Kartaperators der irdi schen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Nach ihrer Flucht aus Moondrag schlagen die Kampfgefährten den Weg zur Eiskü ste ein. Sie erreichen das Zentrum der unheimlichen Region und enträtseln DAS GE HEIMNIS DER EISZITADELLE …
Das Geheimnis der Eiszitadelle
3
Die Hautpersonen des Romans:
Kolphyr oder Gloophy - Ein Forscher aus einem Antimaterie-Universum.
Atlan, Razamon und Fenrir - Zwei Männer und ein Wolf in der Eiszitadelle.
Einbein - Kolphyrs Robotbegleiter.
Koy der Trommler - Der Menschenjäger am Ziel seiner Suche.
Phynx - Der letzte der Zyklopen.
1. Die Finsternis war allgegenwärtig, aber sie schreckte die beiden Männer nicht. In der vergangenen Nacht hatten sie zu begreifen gelernt, daß Finsternis Sicherheit bedeutete und Helligkeit den Tod. Sie waren nicht si cher, ob diese Lehre auch innerhalb des Tunnels ihre Berechtigung hatte, durch den sie sich jetzt bewegten. Sie waren hier ein gedrungen in der Überzeugung, daß sie sich überall da, wo es dunkel war, in Sicherheit befanden. Bisher war ihnen keine einzige Schwerkraftfalle in die Quere gekommen, und sie schlossen daraus, daß die Erkenntnis der letzten Nacht allgemeine Gültigkeit hat te. Das Tier hatte ursprünglich die kleine Gruppe angeführt: Fenrir, der Wolf. Wölfe waren wie ihre Vettern, die Hunde, von Na tur aus kurzsichtig. Daher störte Fenrir die Finsternis nicht. Er hatte andere Sinne, auf die er sich verlassen konnte. Vor kurzem aber war das mächtige Tier stehengeblieben und hatte winselnde Laute ausgestoßen. At lan war an ihm vorbeigeschritten und hatte die Führung übernommen, dichtauf gefolgt von Razamon. Der Wolf hatte sich schließ lich auch wieder in Bewegung gesetzt, wenn auch zögernd. Er bildete jetzt die Nachhut. Von Zeit zu Zeit winselte er. Es war klar, daß er sich im Innern der Eiszitadelle nicht wohl fühlte. Den beiden Männern ging es im Grunde nicht anders. Sie waren in den Tunnel einge drungen, weil ihnen angesichts des Tages keine andere Wahl blieb. Nur in der Nacht konnten sie an dem hellen Leuchten, das von ihnen ausging, die mörderischen Schwer kraftfallen erkennen, die sich als letztes Op
fer den Magier Marxos geholt hatten. Über dies schien der Tunnel ein Weg ins Innere der geheimnisvollen Eiszitadelle zu sein, in der Gloophy wohnte, der Gott, den die War goons der Eisküste verehrten. Der Marsch dauerte nun schon Stunden. Der Tunnel verlief gradlinig. War es die An strengung des Marsches, war es die Er schöpfung – Atlan wurde es unter der dicken Pelzkleidung plötzlich sehr heiß. Er blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. So vollkommen war die Finsternis, daß Razamon, der in seiner Nachdenklich keit auf das Geräusch der Schritte nicht ge achtet hatte, gegen ihn prallte. »Was ist?« fragte er überrascht. »Warum bleibst du stehen?« »Weil mir heiß ist«, antwortete der Arko nide nicht übermäßig freundlich. Razamon ging der Bissigkeit des Gefähr ten aus dem Wege, indem er gestand: »Mir geht es nicht besser. Mir dringt der Schweiß aus allen Poren.« Sie ruhten sich eine Zeitlang aus. Es war still in der Finsternis. Fenrir hechelte halb laut. »Dem scheint es auch warm zu sein«, be merkte Atlan. »Ich frage mich, woher das kommt. Sind wir zu schnell vorgedrungen, oder wird es hier wirklich wärmer?« »Ich will …«, begann Atlan zu antworten, unterbrach sich aber sofort. »Was war das?« »Klang wie ein Stein, der auf den Boden fiel«, meinte Razamon. Sie gingen ein paar Schritte weiter. Die Füße tasteten scharrend den Boden ab. »Hier ist es«, sagte Atlan und bückte sich. »Ein Stück Eis. Es muß von der Wand her abgestürzt sein.« »Horch!« forderte Razamon ihn auf.
4 Von neuem standen sie still. Aus der Fin sternis vor ihnen kam ein leises, regelmäßi ges Geräusch. Es rührte ganz unverkennbar von fallenden Wassertropfen her. »Das Eis schmilzt!« stieß Atlan über rascht hervor. »Merkwürdige Vorstellung«, reagierte Razamon, und an seinem Tonfall erkannte der Arkonide, daß er bei diesen Worten grin ste. »Der Gott der Wargoons umgibt sich mit Eis, aber in seiner Zitadelle liebt er es warm.« »Wir sind nicht sicher, daß es hier wirk lich einen sogenannten ›Gott‹ gibt«, erinner te ihn Atlan. »Was auch immer«, wischte Razamon den Einwand beiseite. »Wenn es inmitten dieser Eiswüste plötzlich warm wird, dann muß es irgendwo in der Nähe Energiequel len geben – wahrscheinlich künstliche. Wir müssen wissen, was hier vorgeht. Laß uns keine Zeit verlieren!« Die kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ein paar Schritte weiter glitt At lan in einer flachen Pfütze aus und wäre ge stürzt, hätte ihn Razamon nicht im letzten Augenblick noch aufgefangen. Fenrir schien es unter dem Eindruck der allmählich anstei genden Temperaturen noch unbehaglicher zu sein als zuvor: Er winselte jetzt in einem fort. Atlan schritt aus. Er spürte, daß es nicht mehr weit bis ans Ziel war – was immer das Ziel auch sein mochte. Ein entscheidendes Ereignis stand unmittelbar bevor. Seine Schritte wurden weiter. Die Ungeduld hatte auch ihn in ihren Bann geschlagen. Und plötzlich sah er weit vorab – so ungewiß, daß er ein paarmal blinzeln mußte, um sei ner Sache sicher zu sein – schwachen Licht schein, einen winzigen Funken Helligkeit. Razamon, weniger scharfäugig als der Ar konide, machte eine gänzlich andere Ent deckung. »Was ist das für ein Geruch?« rief er. Atlan verlangsamte seine Schritte. Er zog die kühle, feuchte Luft ein und stellte fest, daß sich ihr in der Tat ein völlig neuartiger
Kurt Mahr Duft beigemengt hatte. Verwundert blieb er stehen. »Das kenne ich«, murmelte er, mehr zu sich selbst gewandt. »Das ist – ein terrani sches Gewürz. Vanille, Anis – nein, Zimt! Zimt ist es!« Er atmete noch einmal tief ein und verge wisserte sich, daß seine Analyse richtig war. Der vertraute Duft übte eine merkwürdige Wirkung auf ihn aus. Er beseitigte alle Zweifel, daß dies womöglich der falsche Weg sein könne, und festigte sein Selbstver trauen. »Der Geruch von Zimt und ein Licht in der Ferne«, sagte er gut gelaunt: »Weit kann es bis zu Gloophys Hexenhäuschen nicht mehr sein!«
2. Kolphyr kannte das Phänomen Zeit nicht. Deshalb hätte er nicht sagen können, wieviel Jahrhunderte oder Jahrtausende vor der Jetztzeit die Ereignisse stattfanden, die letzt lich dafür verantwortlich waren, daß er in der Eiszitadelle aufgebahrt und von den Wargoons als Gottheit verehrt wurde. Kolphyr dachte in kosmischen Zuständen. Und soviel war er bereit zuzugestehen: Es war ein gänzlich anderer kosmischer Zu stand, der damals geherrscht hatte, als er von Grulpfer zu seiner Forschungsreise auf brach, als der, dem er jetzt unterworfen war.
* Es war eine mehr oder weniger alltägliche Sache, als Kolphyr zu seiner Forschungsrei se aufbrach. Die Beras waren Forscher von Natur aus. Kolphyrs Nachbar kam herbei, als er sah, daß das Raumei startbereit ge macht wurde. Er fragte: »Gehst du wieder?« »Ja«, antwortete Kolphyr freundlich. »Die Sache läßt mir keine Ruhe.« »Die Materieentstehung?« »Diese, ja«, sagte Kolphyr. »Ich habe eine Hypothese entwickelt.«
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Aha«, machte der Nachbar, begehrte je doch nicht zu wissen, worin die Hypothese bestand. »Ich hoffe, du reist in angenehmer Gesellschaft.« »Ich denke schon«, antwortete Kolphyr. »Einbein begleitet mich.« Der Nachbar machte eine Geste der Aner kennung, indem er die Muskelwülste über seinen hervortretenden Augen in die Höhe zog. »Einbein ist ein hervorragender Beglei ter«, versicherte er. Kolphyr machte das Zeichen der Zustim mung. Niemand brauchte ihm zu sagen, welch ein guter Begleiter Einbein war. Ein bein war nach seiner eigenen Spezifikation hergestellt worden. Der Roboter vereinte al les in sich, was ein Forscher auf seiner ein samen Reise brauchte: Wahrnehmungsver mögen, Einfallsreichtum, Mitgefühl. Einbein war im östlichen Herstellungszentrum ge gossen worden. Man hatte die Moduln, die seine Gesamtheit ausmachten, auf engstem Raum untergebracht und sie dann mit einer beweglichen Haut umgossen. Der Zufall hat te es gewollt, daß aus dem Guß eine Gestalt entstand, die einem einbeinigen Bera ähnel te. Daher hatte der Robot seinen Namen. Einbein fand sich bereits an Bord des Raum eis. Als der Nachbar weitere Fragen stellte, rief er: »Laß dich von ihm nicht aufhalten! Du weißt, daß unsere Sache keinen Aufschub duldet!« Kolphyr lächelte und sagte zum Nach barn: »Siehst du – er ist ein so vorzüglicher Be gleiter, daß er schon glaubt, er könne über mich bestimmen.« Der Nachbar war voller Verständnis. »Er hat recht, weißt du?« bemerkte er. »Du bist hinter einer äußerst wichtigen Sa che her. Je mehr Klarheit du über den Pro zeß der Materieentstehung gewinnen kannst, desto besser für den Stand der Forschung. Du solltest wirklich so bald wie möglich aufbrechen.« Das tat Kolphyr dann auch. Er stieg in das
5 Raumei und machte es sich auf dem Liege sitz bequem. Das Raumei bestand in der Hauptsache aus Energie. Die Hülle des Fahrzeugs war transparent und dennoch un durchlässig für verschiedene Arten von Strahlung, die entweder Kolphyr oder seine wissenschaftlichen Geräte hätten gefährden können. Auch die Decken und Trennwände, die innerhalb des Fahrzeugs eingezogen worden waren, bestanden aus Energie. Le diglich die Einrichtungsgegenstände waren aus Materie gefertigt, darunter natürlich auch Einbein, den Kolphyr entweder als Be gleiter oder als Einrichtungsgegenstand be trachtete – je nach dem, wie er gelaunt war. Einbein setzte das Fahrzeug in Bewegung. Das Ei hob vom Boden ab und stieg immer schneller in den grünlich leuchtenden Him mel über die Welt Grulpfer hinauf. Kolphyr genoß den Anblick, der sich ihm auf der großen Rundum-Bildfläche bot. Er war schon Hunderte von Malen in den Raum aufgestiegen, doch jedesmal faszinierte ihn das Bild seiner Welt, wie sie kleiner wurde und schließlich in der silbernen Weite des Universums verschwand. »Wie weit hinaus gehen wir diesmal?« fragte Einbein. »Wir fliegen, bis wir einen Zustand er reicht haben, in dem wir zweihunderttausend Einheiten von Grulpfer entfernt sind.« Einbein äußerte anerkennend: »Das ist weiter, als jemals ein Forscher vorgestoßen ist!« »Ja«, sagte Kolphyr. »Wir haben das auch nötig. Unser Experiment ist nicht eben unge fährlich.«
* Wie bei allen anderen Intelligenzen hatte auch bei den Beras die Zivilisation damit be gonnen, daß man sich Gedanken darüber machte, wie die Umwelt, in der man sich be fand, erklärt werden könne. Die Beras, die diesen Planeten Grulpfer als ihre Heimatwelt betrachteten, starteten zu diesem Vorhaben allerdings von einer an
6 deren Ausgangsposition als andere Völker. Grulpfer war eine Welt, die einsam durch die endlosen Weiten eines silbrig schim mernden Universums trieb. Grulpfer war im eigentlichen Sinne kein Planet; denn es gab keine Sonne, um die er kreiste. Grulpfer empfing Licht und Wärme unmittelbar aus dem Kontinuum, in dem er schwebte. Obwohl die Beras den Begriff »Universum« kannten, war ihr Universum anders als das, in dem zum Beispiel die Ar koniden, die Terraner oder die Tefroder leb ten. Ein terranischer Wissenschaftler, hätte er von Grulpfer gewußt, wäre zu dem Schluß gekommen, daß die Welt der Beras sich zwischen den Universen befinde – ent weder in jenem Zwischenkontinuum, durch das der Weg terranischer Raumschiffe führ te, oder ganz und gar im Hyperraum. Es war daher kein Wunder, daß die Art, wie die Beras ihre Umwelt sahen, sich we sentlich von der anderer Zivilisationen un terschied. Die Beras kannten keinen Zeitbe griff. Für sie gab es lediglich verschiedene Zustände des Kosmos. Der Kosmos verän derte sich, selbsttätig, in winzigen Schritten. Für jeden solchen Schritt wurde ein Quan tum Zustandsenergie verbraucht, die der Kosmos von irgendwoher bezog. Intelligen te Wesen konnten die Umwelt dazu veran lassen, sich abrupter als gewöhnlich zu än dern, indem sie größere Mengen Zustands energie freisetzten. Auf diese Weise waren sämtliche nennenswerten Erfindungen der Beras entstanden: Jemand hatte sich einen großen Betrag Zustandsenergie beschafft und setzte diesen nach bestimmten Regeln und Vorschriften frei – und schon gab es ein neues Gerät, eine neue Maschine, ein neues Etwas, das das Leben bequemer machte oder neue Wege eröffnete, die man bisher nicht hatte beschreiten können. Auf diese Weise war es den Beras relativ leichtgefallen, Fahrzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe sie ihre Welt verlassen und in das silberne Nichts vorstoßen konnten, das sie von allen Seiten umgab. Denn die berai sche Forschung hatte erkannt, daß das All
Kurt Mahr die Heimat der Zustandsenergie sei, und wer sich eine unerschöpfliche Quelle dieser Energie erschließen wollte, der mußte dort hinaus vorstoßen. Man hatte festgestellt, daß das All – abge sehen von dem silbernen Leuchten, in dem man die Urform aller Zustandsenergie ver mutete – nicht so leer war, wie es auf den er sten Blick den Anschein gehabt hatte. Außer dem Planeten Grulpfer gab es noch andere Materie in der endlosen Weite. Zwar kein einziges Materiestück, das groß genug ge wesen wäre, um selbst wieder ein Himmels körper genannt zu werden, aber doch riesige Mengen diffuser Gase, aus denen beizeiten wahrscheinlich neue Planeten entstehen würden – auf dieselbe Art und Weise, wie auch Grulpfer einst aus einer sich allmählich verdichtenden Gaswolke entstanden war. Die Materie des Alls war ein begehrtes Studienobjekt für Hunderte von beraischen Forschern gewesen. Man hatte festgestellt, daß der Materiegehalt des Weltalls allmäh lich zunahm. Die Materie mußte irgendwo her kommen. Aber das beraische Weltbild hatte noch kein Denkmodell entwickelt, mit dessen Hilfe sich der stete Zufluß von Mate rie hätte erklären lassen. Die Zustandsglei chungen des Kosmos waren hin und her va riiert worden; aber keine der Variationen gab Aufschluß über dieses größte aller Ge heimnisse. Da hatte sich Kolphyr ans Werk gemacht. Wie alle Mitglieder seines Volkes empfand er die Erforschung des Weltalls als Berufung und Lebenserfüllung zugleich. Er besaß un gewöhnlich umfangreiche Geistesgaben. Er beteiligte sich zunächst nicht an den Flügen anderer Forscher ins Weltall. Statt dessen saß er daheim und analysierte die Daten, die andere aus der silbernen Unendlichkeit zu rückgebracht hatten. Allmählich entwickelte er seine Hypothese. Jedesmal, wenn ein For scher von einem Flug ins All zurückkehrte, brachte er neue Meßergebnisse mit, die Kol phyr benützte, um seine Theorie zu testen. Schließlich war Kolphyr seiner Sache sicher. Er unternahm in rascher Folge mehrere kur
Das Geheimnis der Eiszitadelle ze Ausflüge ins All und beschaffte sich die Daten, die er brauchte, um seine Hypothese vollends zu untermauern. Diese Arbeiten waren jetzt abgeschlossen. Der jetzige Flug diente dem Zweck, auf der Basis der Hypo these ein Experiment durchzuführen, von dem Kolphyr hoffte, daß es aus seiner Theo rie ein anerkanntes Naturgesetz machen werde. Kolphyr war nämlich überzeugt, daß Zu standsenergie und Materie ein und dasselbe seien, sozusagen zwei Erscheinungsformen desselben Phänomens – so wie Wasser und Eis zwei Erscheinungsformen derselben Substanz sind. Kolphyrs Experiment lief darauf hinaus, einen eng begrenzten Sektor des Alls seiner Zustandsenergie vollständig zu berauben. Er wollte ein energetisches Va kuum schaffen. Nach seiner Hypothese wür de das All bemüht sein, das Vakuum so rasch wie möglich wieder zu füllen. Infolge der Schnelligkeit des Vorgangs mußte je doch eine Störung eintreten. Die evakuierte Zustandsenergie würde nicht nur als Energie in die Leere zurückfließen, sondern zu ei nem geringen, aber deutlich meßbaren Teil als neuentstandene Materie. Kolphyrs Raumei hatte Detektoren an Bord, die den Einfluß neuer Materie ein wandfrei nachweisen und aufzeichnen wür den. Kolphyr fieberte dem Experiment ent gegen. Wenn es gelang, würde es ihm den Ruf des größten aller Forscher im Rahmen des derzeitigen und aller angrenzenden kos mischen Zustände einbringen. Es gab nur eine Gefahr. Alle Berechnun gen, die bisher angestellt worden waren, hat ten nicht eindeutig ermitteln können, ob die im Verlauf des Experiments neu entstehende Materie normale oder Antimaterie sein wer de. Deswegen hatte Kolphyr Wert darauf ge legt, den Versuch in möglichst großer Ent fernung von Grulpfer stattfinden zu lassen. Er wußte, daß er selbst mitsamt seinem Fahrzeug in tödlicher Gefahr war, falls er in einen Strom von Antimaterie geriet. Das war ein Risiko, das ein Forscher auf sich nehmen mußte. Aber er wollte nicht, daß andere We
7 sen durch sein Experimentieren in Gefahr gerieten. Das Ei bewegte sich gemächlich durch die silberne Weite. Auf einmal sagte Einbein: »Wir nähern uns dem Zielgebiet.« Da erhob sich Kolphyr von der Liege. Er fühlte sich entspannt und tatendurstig zu gleich. Mit einem Blick überflog er die Bat terie der Meßinstrumente und erkannte, daß sie einsatzbereit waren. »Also machen wir uns an die Arbeit«, sagte er.
3. Ein solches Geschöpf hatte die Einöde der Eisküste noch nie zu sehen bekommen. Es war android, aber kleiner als die meisten Menschen, kaum mehr als fünf Fuß hoch. Es trug bunte Kleidung, die für die bittere Kälte der Eiswüste völlig unangemessen war. Sei ne Hautfarbe war ein dunkles Braun. Das Gesicht des Wesens wies unzählige Runzeln und Falten auf. Ein eisgrauer Schnauzbart bedeckte die Oberlippe. Von derselben Far be waren auch die Haupthaare, die so kurz geschoren waren, daß sie wie ein Pelz wirk ten. Am merkwürdigsten an dem fremden Geschöpf aber waren die beiden Fühler, die aus der Stirn wuchsen, eine Länge von etwa einer halben Handspanne besaßen und in kleinen Kugeln endeten. Ihre Farbe war ein dunkles Blau. Damit stachen sie so sehr von der Hautfarbe des kleinen Wesens ab, daß sie aussahen, als seien sie nachträglich auf gesetzt worden. Die Augen des Fremden, die sonst so freundlich blickten, wirkten jetzt beküm mert. Sie überflogen die schier endlose Eis wüste mit ihren Klüften und Schründen und blieben schließlich auf einer massiven Erhe bung haften, die fern im Norden den Hori zont begrenzte. »Ich bin Koy, der Trommler«, sagte das fremde Geschöpf zu sich selbst. »Und das dort ist die Eiszitadelle. Wenn ich sie errei che, bin ich in Sicherheit. Aber werde ich es bis dorthin schaffen?«
8 Koy fror erbärmlich. Er trug eine orange farbene Hose und einen hellblauen Pullover, beide aus Kunststoff, die für ein wesentlich wärmeres Klima gemacht waren. Auf dem Vorderteil des Pullovers prangte Koys Wahrzeichen: ein schwarzer Januskopf, ein gestickt in einen weißen Kreis. Ein breiter schwarzer Kunststoffgürtel umschloß den Körper des Trommlers in Hüfthöhe. Von dem Gürtel herab hing rückwärts eine Ta sche, in der Koy seine Utensilien und Nah rung aufzubewahren pflegte. Im Augenblick hatte er von beiden nur noch kümmerliche Überreste. Die Füße staken in halbschäftigen schwarzen Stiefeln. Der Trommler hatte den Landeplatz des Zugors, mit dem Drove ihn hatte aus dem Wachen Auge entkommen lassen, ein paar Kilometer weit hinter sich zurückgelassen. Er wußte, daß die Herren der FESTUNG nach ihm suchten. Er wußte, daß er bestraft werden würde, wenn sie seiner habhaft wur den. Sein einziges Streben war, sich dem Zugriff der Herren der FESTUNG zu entzie hen. Deswegen war er auf dem Weg zur Eis zitadelle. Er wußte nicht, was ihn dort er wartete. Aber er war sicher, daß die Häscher sich vorläufig nicht in dieses Gebiet wagen würden. Die Zitadelle war für die Herren der FESTUNG tabu. Mühselig kletterte er über eine Barriere aus vereisten Felsen. Das war anstrengend und beschleunigte gleichzeitig die Zirkulati on. Als Koy das Hindernis überwunden hat te, blieb er stehen, um sich eine Zeitlang auszuruhen. Das bißchen Körperwärme, das die Anstrengung erzeugt hatte, wurde von der beißenden Kälte sofort wieder aufge zehrt. »Ich halte das nicht mehr lange aus«, murmelte Koy. »Entweder es gibt einen an deren Weg, oder ich gehe hier zugrunde.« Er marschierte einen halben Kilometer weit über ebenes, glattes Eis. Dann türmte sich ein neues Hindernis vor ihm auf. Die Sonne stand hoch am Himmel. Sie spiegelte sich in den in tausendfach verschiedenen Richtungen geneigten Eisflächen und er-
Kurt Mahr zeugte verwirrende Reflexe. Aber sie wärm te nicht. Koy versetzte die beiden Broins, wie er die Fühler nannte, in schwingende Bewe gung. Die Kugeln an ihren Enden schlugen gegeneinander. Durch die Bewegung der Fühler und das Aufeinanderprallen der Ku geln entstanden psionische Impulse, die Koy als ein dumpfes Trommeln wahrnahm. Er richtete die Impulse gegen die Eisbarriere, die vor ihm aufwuchtete. Das Eis reagierte mit lautem Knirschen und schrillem Krei schen. Risse entstanden in der milchigwei ßen Wand. Ein breites Stück der Wand rutschte in sich zusammen und versprühte einen Regen aus winzigen Eiskristallen. Die Augen des Trommlers leuchteten. »So wird es besser gehen!« sagte er wohl gemut zu sich selbst.
* Trotzdem dauerte es bis gegen Abend, be vor er die Zitadelle erreichte. Er kam von der Südwestseite her. Der riesige Komplex ragte vor und über ihm auf. Von dem Mau erwerk war keine Spur zu sehen. Bläulich weißes Eis bedeckte alles. Koy schritt am Fuß der gigantischen Mauer entlang, die die Zitadelle von allen Seiten zu umgeben schi en, und suchte vergebens nach einem Tor. Mehreremal setzte er die Broins ein. Knir schend und knallend zerbarst das Eis, mit lautem Getöse stürzte ein Stück des Mauer werks ein. Aber dahinter kamen nur noch mehr Mörtel, noch mehr Steine. Von neuem bemächtigte sich des Trommlers die Ver zweiflung. Wenn er die Nacht im Freien verbringen mußte, würde er sie nicht lebend überstehen. Als die Sonne versunken war, machte er eine merkwürdige Beobachtung. Es wurde nicht vollends finster. An gewissen Stellen schien das Eis, das den Boden bedeckte, von innen heraus zu leuchten. Koy näherte sich einem solchen Ort. Undeutlich empfand er ein Gefühl der Bedrohung, die von dem Leuchten ausging. Am Rand einer solchen
Das Geheimnis der Eiszitadelle Stelle kauerte er nieder, streckte den Arm aus und schob die Hand vorsichtig in den Bannkreis des unwirklichen Lichts. Im nächsten Augenblick sprang er schrei end auf und fuhr zurück. Er hatte einen mör derischen Schlag auf die Hand erhalten. Ein Ruck hatte ihn nach vorne gerissen. Um ein Haar wäre er in das Leuchten hineingestürzt. Er zweifelte keinen Augenblick lang daran, daß er innerhalb der leuchtenden Zone er barmungslos zerquetscht worden wäre. Nur sein Instinkt hatte ihn vor diesem entsetzli chen Schicksal bewahrt. Fortan mied Koy die leuchtenden Orte. Aber es brach ihm auch der Schweiß aus bei dem Gedanken, daß er während des Tages, als er das Leuchten nicht hatte wahrnehmen können, in ständiger Gefahr gewesen war, zerquetscht und zermalmt zu werden. Nur ein gütiges Schicksal hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Er wandte sich von neuem der hohen Mauer zu. Irgendwo mußte es einen Eingang geben. Und wenn er die ganze Wand mit Hilfe der Broins von Eis befreien sollte – er würde den Zugang finden! Plötzlich hörte er eine Stimme. »Komm her – ich will dir den Weg weisen!« sagte sie. Verblüfft sah Koy sich um. Er erblickte niemand. Die Stimme sprach Pthora, wenn auch mit einem merkwürdigen Akzent. »Wer bist du?« fragte der Trommler. »Und wo hältst du dich versteckt?« »Ich halte mich nicht versteckt. Du kannst mich nicht sehen. Ich bin Einbein.« »Einbein?« Der geheimnisvolle Besitzer der Stimme wurde ungeduldig. »Willst du mit mir diskutieren – oder soll ich dir den Eingang zur Zitadelle zeigen?« »Den Eingang, den Eingang!« rief Koy voller Aufregung. »Dann geh geradeaus!« befahl ihm Ein bein. Koy gehorchte. Er ging etwa achtzig Schritte an der Mauer entlang. »Bleib stehen und dreh dich nach links!«
9 befahl die Stimme. Koy wandte sich um, bis er die Mauer vor sich hatte. »Jetzt fang an zu trommeln!« trug ihm die Stimme auf. Koy wunderte sich, woher Einbein wußte, daß er mit den Broins trommeln konnte. Das Geräusch, das mit den psionischen Impulsen einherging, war nur für ihn selbst hörbar – und für den, gegen den er die Impulse rich tete. Noch nie hatte einer die mörderischen Trommelschläge gehört, der nicht unmittel bar betroffen war. Koy schlug die Enden der Broins zusam men. Er hörte das dumpfe Rumoren der psionischen Impulse und sah die Eiswand zusammenrutschen. Dahinter kam ein Tor zum Vorschein, ein riesiges Portal, dessen beide Flügel nach oben hin gerundet waren. Koy hörte zu trommeln auf, als der letzte Eisbrocken von dem Tor abgefallen war. »Und jetzt?« fragte er. Einbein schien belustigt. »Du erwartest doch nicht etwa, daß ich das Ding für dich aufmache – oder?« Koy hatte in der Tat etwas Ähnliches er wartet. »Du meinst, ich soll es zertrommeln?« »Es sei denn, du kennst eine andere Wei se, es zu öffnen«, bemerkte Einbein spöt tisch. Allmählich ging Koy die überhebliche Art seines unsichtbaren Gesprächspartners ge gen den Strich. »Du meinst wohl, du bist hier der Größte, wie?« murmelte er unwillig. »Ich bin der einzige, also bin ich auch der größte«, antwortete Einbein ungerührt. Ärgerlich begann Koy zu trommeln. Er tat es mit solcher Wucht, daß das Portal alsbald in Stücke zerbrach. Ein dunkler Korridor tat sich auf. Aber die Luft, die Koy entgegen wehte, war wärmer als die der Umgebung. »Geh hinein!« forderte der unsichtbare Sprecher ihn auf. »Geh hinein und schaue die Wunder der Eiszitadelle!«
4.
10 Mit zwei sechsfingrigen Händen bediente Kolphyr die Schalter der komplizierten Ap paratur. Währenddessen überwachte Einbein die Entwicklung des Experiments in meß technischer Hinsicht. Die Zusammenarbeit war reibungslos, wie sie es schon immer ge wesen war. »Zustandsenergie fließt ab«, meldete der Robot. »Der Dreißigprozentpegel ist bereits unterschritten.« »Irgendein Anzeichen, daß der Kosmos reagiert?« fragte Kolphyr. »Noch nicht!« Das silbrige Leuchten in der Umgebung des Raumeis wurde schwächer. Das war ein deutliches Anzeichen dafür, daß die Zu standsenergie dieses Allsektors sich ver flüchtigte. Sie wurde in angrenzende Sekto ren verdrängt. In diesen Augenblicken dach te Kolphyr sich den Kosmos als lebendes Wesen. Er würde voller Überraschung fest stellen, daß irgendwo in seinem unendlichen Leib plötzlich ein Loch entstanden war. Und er würde nichts Eiligeres zu tun haben, als dieses Loch wieder zu füllen. Bei der Hast, mit der er dabei zu Werke ging, würde er Fehler begehen – dergestalt, daß das Loch nicht nur mit Zustandsenergie, sondern auch mit Materie gefüllt wurde. Das war der Beweis, den Kolphyr erbrin gen wollte. »Unter fünfzehn Prozent!« rief Einbein. Es wurde dunkler. Kolphyr hatte jetzt nur noch eine geringe Zahl von Schaltungen vorzunehmen. Er tat es mit Bedacht und blickte zwischendurch immer wieder auf den Rundum-Bildschirm, auf dem sich die Schwärze ausbreitete. Plötzlich empfand er Beklemmung. Noch nie zuvor hatte er das All so finster erlebt. Von der Dunkelheit schien eine Bedrohung auszugehen. Kolphyr fragte sich, ob der Kosmos, den er sich als lebendes Wesen dachte, womöglich Einwän de gegen dieses Experiment haben mochte. Er fürchtete sich mit einemmal. Er überleg te, ob er den Versuch abbrechen solle. Aber da war es schon zu spät. Einbein, für den der Kosmos ein völlig unfaßbarer Be-
Kurt Mahr griff war, vor dem er sich einfach deswegen nicht fürchtete, weil er ihn nicht verstand, verkündete in fast triumphierendem Tonfall: »Die Nullgrenze ist erreicht! Die Zustand senergie ist völlig evakuiert!« Entsetzt starrte Kolphyr in die Finsternis hinaus. In diesem Augenblick wußte er, daß sein Experiment verheerende Folgen haben werde.
* Zunächst geschah nichts. Die Dunkelheit umschloß das Raumei von allen Seiten. Nirgendwo gab es auch nur das geringste Anzeichen, daß Zustandsenergie in das so plötzlich entstandene Vakuum zu rückzufluten begann. »Aktivität null!« meldete der Robot. Es waren nicht die Meßgeräte, die schließlich die Reaktion des Kosmos auf den kühnen Versuch zuerst erfaßten, sondern Kolphyrs Augen. Er sah plötzlich einen Lichtpunkt inmitten der Schwärze erschei nen. Es war zuerst ein sehr matter Punkt; aber bevor Kolphyr noch zum Nachdenken kam, ob er wirklich etwas sah oder sich von einer Reaktion seiner überreizten Sehorgane täuschen ließ, hatte er soviel an Leuchtkraft gewonnen, daß er nicht mehr zu übersehen war. In diesem Augenblick machte auch Ein bein die erste Wahrnehmung. »Ein großes Materiestück!« rief er aufge regt. »Es bewegt sich direkt auf uns zu!« Ein Alarmgerät begann zu schrillen. Kol phyr erstarrte vor Schreck. Er wußte, was dieser Alarm zu bedeuten hatte, auch ohne daß Einbein es aussprach: »Das Stück besteht aus Antimaterie!« »Weg von hier!« schrie Kolphyr voller Panik. Hastig bearbeitete er die Kontrollen. Eine Kollision mit dem riesigen Antimaterieb rocken würde sein Raumei, den kostbaren Dimensionstaucher, unweigerlich vernichten und ihm und Einbein den Tod bringen. Fie berhaft nahm er eine Schaltung nach der an
Das Geheimnis der Eiszitadelle deren vor. Er sah nicht auf. Er verließ sich darauf, daß das Ei wie üblich auf seine Be fehle reagierte. Plötzlich aber rief der Robot: »Die Steuerkommandos bleiben wir kungslos! Der Brocken nähert sich uns wei terhin!« Entsetzt wandte Kolphyr den Blick zur Seite. Auf der großen Bildfläche sah er den mächtigen Antimateriebrocken, der jetzt nicht mehr so hell strahlte, dafür aber um so größer geworden war. Kolphyr glaubte zu erkennen, daß er von einer mattschimmernden Aura umgeben war. Die Aura war durchsichtig. Voller Panik und Verwirrung gewahrte der Forscher unter der schimmernden Hülle die Umrisse einer Landschaft: ei ne Ebene, von mehreren Flüssen durchzo gen, die in einem See mündeten. Er wußte nicht mehr, woran er war. Er verlor die Beherrschung. Einbein eilte her bei, um ihm zu helfen. Er sagte: »Wir werden es nicht schaffen, dem Ding auszuweichen. Wenn wir die VelstProjektoren nicht einschalten, sind wir ver loren!« Fahrig machte Kolphyr die Geste der Zu stimmung. »Schalte sie ein!« stieß er hervor. Einbein schloß in aller Eile eine Reihe von Kontakten. Die Projektoren liefen an und erzeugten den Velst-Schleier, der sich wie ein lockeres Gespinst um das Raumei legte. Der Schleier bildete eine Barriere, die den Austausch von Energie zwischen Mate rie und Antimaterie verhinderte. Die Beras hatten das Velst-Prinzip schon frühzeitig entwickelt, da sie bei ihren Vorstößen ins All immer wieder furchterregende und zum Teil tödliche Begegnungen mit Antimaterie gehabt hatten. »Du kannst beruhigt sein«, erklärte der Robot, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Projektoren einwandfrei arbeiteten. »Es droht keine unmittelbare Gefahr mehr.« Kolphyr befreite sich aus dem Bann der Todesangst. Er sah auf. Auf der Bildfläche war der Antimateriebrocken zu einem ge waltigen Gebilde geworden. Der Forscher
11 vergewisserte sich, daß sein erster Eindruck nicht getrogen hatte: Er blickte in der Tat auf eine Landschaft hinab. Er sah die ver schiedenen Farben einzelner Oberflächen formationen, das rötliche Gelb einer Wüste, das Blaugrün eines geschlossenen Waldge biets, die vielfarbenen Tupfen großer Sied lungen. Er wußte mit einemmal, daß sein Experiment fehlgeschlagen war. Der Kos mos hatte auf andere Weise reagiert, als von der Hypothese vorhergesagt wurde. Kolphyr hatte erwartet, dünne Schwaden primitiver Materie, in der Hauptsache einatomiger Ga se mit Kernen, die aus ein, zwei, höchstens drei Nukleonen bestanden, in das Vakuum einströmen zu sehen. Statt dessen traf er auf einen riesigen Brocken aus voll ausgebilde ter Materie, in der ohne Zweifel auch die schwersten und kompliziertesten Elemente vertreten waren. Die Theorie hatte versagt. Traurig erkann te Kolphyr, daß er sich die ganze Angele genheit noch einmal von Anfang an durch den Kopf werde gehen lassen müssen. Mittlerweile war der große Brocken, der wohl das Überbleibsel eines Planeten sein mußte, noch näher herangekommen. Und Einbein meldete: »Er fängt uns ein!« Kolphyr hatte längst aufgehört, an den Kontrollen zu hantieren. Er beobachtete, wie die schimmernde Aura des Materiebrockens auf den Dimensionstaucher zukam. Es gab einen leichten Ruck, als der Velst-Schleier und die Aura einander begegneten. Sie durchdrangen einander, ohne daß dabei Energie ausgetauscht wurde. Das Raumei drang ins Innere der Aura ein. Der Blick wurde klarer. Kolphyr erkannte mühelos selbst geringfügige Einzelheiten auf der Oberfläche des Antimateriebrockens. Eine Zeitlang später verringerte sich die Fahrt des Dimensionstauchers auf null. Das Fahrzeug schwebte unmittelbar unter der Aura, die den Antimateriebrocken um schloß. Kolphyr versuchte, das Ei wieder in Bewegung zu setzen, aber der Versuch miß lang. Von außen wirkten Kräfte auf das
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Fahrzeug ein, die die Wirkung des Trieb werks zunichte machten. Der Dimensions taucher war gefangen – und mit ihm der For scher Kolphyr und sein Begleiter, der Robo ter namens Einbein. Die Aura, unter der das Raumei schwebte, war von dieser Seite aus undurchsichtig. Der Blick in das All hinaus war versperrt. Das Land dagegen, das sich unter dem Fahrzeug ausbreitete, lag im Glanz hellen Tageslichts. Es war nicht erkennbar, woher das Licht kam. Aus den Aufzeichnungen, die Einbein während der Annäherung an den Antimate riebrocken gemacht hatte, ging hervor, daß das kosmische Bruchstück sich sowohl in bezug auf Kolphyrs Fahrzeug als auch rela tiv zu der Welt Grulpfer mit hoher Ge schwindigkeit bewegt hatte. Es gab keinen Anlaß, zu vermuten, daß an diesem Sachver halt inzwischen etwas verändert worden sei. Der Brocken trieb mit Höchstgeschwindig keit durch das All. Jede Sekunde entfernte ihn weiter von Grulpfer, und Kolphyr be gann voller Trauer, die Möglichkeit in Er wägung zu ziehen, daß er seine Heimatwelt niemals wiedersehen werde. Glücklicherweise ereignete sich in diesem Augenblick etwas, wodurch der Forscher ab gelenkt und wenigstens vorübergehend von seiner Betrübnis befreit wurde. Er empfing eine mentale Schwingung, die Ausstrahlung eines intelligenten Bewußtseins! Es war ein verwirrendes Muster, desgleichen Kolphyr noch nie zuvor gesehen hatte – aber es war unzweifelhaft das Kennzeichen eines be wußten Gedankens. »Wenigstens sind wir nicht allein hier«, sagte er erleichtert zu Einbein. Der Robot je doch hatte nichts Eiligeres zu tun, als seinen Optimismus zu dämpfen. »Man muß abwarten«, erklärte er, »ob wir den unbekannten Intelligenzen willkommen sind!«
* Damals hatte es in der FESTUNG ein
großes Entsetzen gegeben. Wenn sich Pthor zwischen den Dimensionen bewegte – auf dem Weg von der letzten überfallenen Welt zur nächsten – dann gab es zwar immer wie der unliebsame Begegnungen. Der Raum zwischen den Universen war nicht leer, und vielerlei Gefahren warteten auf den, der sich ohne angemessene Vorbereitung in das Zwi schenkontinuum wagte. Aber den Materieb rocken Pthor umgab der Wölbmantel, ein Gebilde aus konzentrierter Energie. Er hatte bisher alle Gefahren abgewehrt, die Pthor bedrohten, während es sich wie ein Fahr stuhl durch die Dimensionen bewegte. Diese jüngste Begegnung jedoch war von einer Art gewesen, wie sie selbst die klüg sten Magier in der Großen Barriere von Oth nicht hatten vorhersehen können. Das Ob jekt, auf das Pthor zusteuerte, war in Masse und Ausdehnung so geringfügig gewesen, daß man es zwar wahrgenommen, ihm aber keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Der Wölbmantel würde es ohne weiteres absor bieren. Dann aber hatte das fremde Objekt, an statt absorbiert zu werden, den Mantel mü helos durchdrungen. Der besorgniserregende Vorgang hatte in der FESTUNG einen Alarm ausgelöst. Der Alarm besagte, daß der Fremdkörper aus Antimaterie bestand. Damit war zwar klar, warum der Wölbman tel ihm nichts hatte anhaben können, gleich zeitig aber sahen die Herren der FESTUNG ihren Herrschaftsbereich der allergrößten Gefahr ausgesetzt. Denn sobald der Fremd körper mit der Materie von Pthor in Berüh rung kam – und sei es auch nur eine dünne Luftschicht unmittelbar unterhalb des Wölb mantels – mußte sich eine katastrophale Ex plosion ereignen, die nach aller Voraussicht von Pthor nicht viel übriglassen würde. Die Herren der FESTUNG waren ebenso erleichtert wie verwirrt, als sie feststellten, daß die Explosion nicht, wie sie erwartet hatten, unmittelbar nach dem Eindringen des Fremdkörpers stattfand. Sie wußten nicht, welchem Umstand sie dieses Glück zu ver danken hatten. Sie bewiesen ihre Umsicht
Das Geheimnis der Eiszitadelle dadurch, daß sie die Gefahr deswegen nicht geringer einschätzten. Sie trugen den Magi ern auf, sofort eine Lösung des Problems zu finden, und drohten ihnen den Tod an für den Fall, daß ihnen dies nicht gelänge. Das war freilich eine leere Drohung. Denn falls die Magier keine Lösung fanden, würde irgendwann die Explosion stattfinden, und wenn das geschah, dann blieb in Pthor ohnehin keiner mehr am Leben, nicht einmal die Herren der FESTUNG. Die Magier indes waren auf der Hut. Kaum hatten die Herren der FESTUNG ih ren Auftrag erteilt, da meldete sich aus der Großen Barriere von Oth der Gildemeister der Magier und verkündete, er wisse eine Lösung. Daraufhin wurde der Gildemeister mitsamt seinen beiden Beisitzern aufgefor dert, auf dem schnellsten Wege in der FE STUNG zu erscheinen und seinen Plan vor zutragen. Der Gildemeister mit dem Namen Orthwin und seine beiden Beisitzer, die Gil liam und Heszor hießen, leisteten unverzüg lich Folge. Als sie die FESTUNG erreichten, wurden sie in den großen Saal geführt, in dem die Herren ihre Besucher zu empfangen pfleg ten. Wie üblich, ließ sich keiner der Herren sehen. Sie sprachen zu Orthwin und seinen beiden Begleitern vermittels einer Stimme, die aus der Kuppel des großen Saales drang. »Welches ist euer Plan?« fragte die Stim me. Orthwin blickte auf. »Wir haben erkannt, o Herr, daß das fremde Objekt sich mit einer schützenden Hülle umgeben hat, wodurch ein Kontakt mit der Materie von Pthor vermieden wird. Das Objekt ist also entweder selbst intelli gent, oder es wird von einem intelligenten Wesen gesteuert, oder es ist derart program miert, daß es über die Gefahr eines Zusam menstoßes zwischen Materie und Antimate rie Bescheid weiß.« »Der Plan!« drängte die Stimme des Herrn der FESTUNG ungeduldig. »Verzeih, o Herr!« bat Orthwin untertä nig. »Diese Einleitung erschien mir notwen
13 dig. Denn solange das fremde Objekt sich vor einer Berührung mit unserer Materie ebenso fürchtet wie wir, ist die Gefahr, in der wir schweben, gering. Wir brauchen also nicht mit Hast zu Werke gehen. Wir können uns unter den Methoden, die zur Verfügung stehen, die meistversprechende aussuchen, auch wenn sie gleichzeitig die langwierigste ist.« »Der Plan!« forderte die Stimme des Herrn der FESTUNG von neuem, aber sie klang nicht mehr so ungeduldig wie noch vor wenigen Augenblicken. Orthwins Dar stellung schien das Interesse des Herrn ge wonnen zu haben. »Das fremde Objekt muß mit Schwerkraft gebunden und an einem sicheren Ort unter gebracht werden«, erklärte der Gildemeister der Magier. »Schwerkraft?« echote die Stimme des Herrn der FESTUNG. »Mit einem Übermaß an Schwerkraft, o Herr«, bestätigte Orthwin. »Gut. An welchem Ort soll es unterge bracht werden?« »Es gibt nur einen Ort, o Herr, der unter der Wucht der Schwerkraftfesseln nicht zu sammenbrechen würde.« »Welcher ist das?« »Die Burg der Zyklopen, o Herr!« Einen Augenblick lang herrschte Schwei gen. Dann begann der Herr der FESTUNG von neuem: »Die Burg der Zyklopen steht nicht zur Verfügung. Es ist wahr, daß das Geschlecht der Zyklopen fast ausgestorben ist. Aber ei ner aus diesem Geschlecht lebt dort noch. Er hat den Herren der FESTUNG die Treue ge schworen, und die Herren sind verpflichtet, ihm sein Erbe zu belassen, solange er lebt.« Da setzte Orthwin ein schlaues Grinsen auf und antwortete: »Ich weiß dies wohl, o Herr. Phynx ist der letzte seines Geschlechts und ein Kämpfer für Pthor, auf den niemand ein schlechtes Wort kommen lassen würde. Aber bedenkt die Lage, in der wir uns befinden, o Herr! Das fremde Objekt muß gebunden und ir
14 gendwo untergebracht werden! Sonst wird Pthor nicht mehr allzulange existieren. Ich bitte euch, Herr, wägt diese beiden Dinge sorgfältig gegeneinander ab und trefft eine Entscheidung, ob der Lehenseid des Phynx oder das Wohl von Pthor euch wichtiger ist!« Abermals schwieg der Herr der FE STUNG eine Zeitlang. »Deine Bitte wird gegenwärtig beraten«, erklang schließlich die Antwort. »Wartet!« Die drei Magier warteten. Orthwin war seiner Sache sicher. Er kannte die Herren der FESTUNG aus langer Erfahrung. Er wußte, wie sie sich entscheiden würden. Ein Lehenseid war eine ernste Sache. Aber die Sicherheit von Pthor war noch viel ernster. Der Gildemeister täuschte sich nicht. Als die Stimme des Herrn der FESTUNG nach einigen Minuten von neuem erklang, da ver kündete sie: »Eurem Vorhaben ist stattgegeben wor den. Trefft Vorbereitungen, das fremde Ob jekt mit Schwerkraft zu fesseln. Wenn ihr soweit seid, wird die Burg der Zyklopen für die Aufnahme des Objekts zur Verfügung stehen.« Orthwin machte die Geste der Unterwür figkeit. Sie bestand darin, daß er den Ober körper weit nach vorne neigte. Er tat dies, richtete sich jedoch nicht wieder auf. Das mußte den Herren der FESTUNG auffallen. »Hast du noch etwas?« fragte die Stimme. »Ja, o Herr!« antwortete Orthwin und blieb in gebückter Haltung. »Wenn sich meine Bescheidenheit eine Frage erlauben darf, so möchte ich wissen, wie die Herren Phynx zur Aufgabe des Heims seiner Väter bewegen wollen.« »Es geht dich nichts an, Magier, aber ich sage es dir trotzdem«, antwortete die Stim me hochmütig. »Die Männer vom Taamberg werden Phynx überzeugen, daß es in seinem eigenen Interesse liegt, die Burg zu räu men.« Da richtete sich Orthwin endlich wieder auf, und auf seinem Gesicht lag ein zufriede nes Lächeln. Phynx war ein mächtiger
Kurt Mahr Kämpfer. Aber den Leuten vom Taamberg würde er nicht widerstehen können.
5. Das Licht wurde kräftiger, je weiter sie vordrangen. Schließlich wurde der Tunnel weiter und endete in einer Felsenkammer, von deren Wänden Wasser tropfte. Von Eis war hier keine Spur mehr zu sehen. Die Temperatur lag einige Grade über dem Ge frierpunkt. Atlan und Razamon sahen sich um. Außer der Mündung des Stollens, aus dem sie ge kommen waren, gab es noch zwei weitere Öffnungen. Hinter ihnen breitete sich Fin sternis aus. Das Licht, das die Felsenkam mer beleuchtete, schien aus der Decke her vorzufließen. Fenrir winselte noch immer. Wenn er sich nicht bewegte, trug er die Rute zwischen den Hinterbeinen eingekniffen. Es war ein merk würdiger Anblick: das mächtige Tier, der fürchterliche Fenris-Wolf, im Banne der Angst. »In welche Richtung wenden wir uns?« fragte Razamon. Atlan grinste. »Die Frage kam dir geschwind über die Lippen, nicht wahr?« spottete er. »Damit du nicht in Gefahr gerietest, dieselbe Frage von mir zu hören!« Razamon zuckte mit den Schultern. »Natürlich hast du recht«, bekannte er. »Du weißt also genauso wenig wie ich?« »Genauso wenig«, bestätigte der Arkoni de. »Laß uns Fenrir als Wegweiser nehmen«, schlug Razamon vor. »Der Weg, vor dem der Wolf weniger Angst hat, ist der unsere!« »Die Idee ist gut«, antwortete Atlan. »Aber ich würde gerade das entgegengesetz te Kriterium nehmen.« »Du würdest in die Richtung gehen, vor der sich der Wolf am meisten fürchtet?« »Ja.« »Warum?« »Fenrir fürchtet sich vor dem, was diese
Das Geheimnis der Eiszitadelle Zitadelle enthält. Die Zitadelle enthält aber Gloophy, den Gott der Wargoons, oder ir gend etwas Ähnliches. Was oder wer es auch immer sein mag – wir sind hier, um ge rade das zu finden, wovor der Wolf sich fürchtet. Also müssen wir in die Richtung vordringen, die ihm den meisten Schrecken bereitet.« Razamon nickte. »Du hast recht«, bekannte er. »Wie mei stens.« Atlan trat vor einen der beiden Ausgänge. Er rief Fenrir zu sich. Der Wolf folgte zö gernd. Seine Augen leuchteten, der Atem ging hechelnd. Er wirkte unsicher, aber er hatte keine Angst. Der Arkonide wandte sich nach rechts und schritt auf die andere Stollenmündung zu. »Komm her, Fenrir!« rief er. Da klemmte der Wolf den Schwanz aufs neue zwischen die Beine, hockte sich auf den Boden und ließ den Kopf hängen. Er vermied es, Atlan anzusehen. Als der Arko nide zum zweiten Mal rief, warf das Tier sich vollends nieder, barg den Kopf zwi schen den Vorderpfoten und gab ein helles, durchdringendes Winseln von sich. »Jetzt wissen wir, woran wir sind«, sagte Atlan zu Razamon. Der Atlanter nickte. »Jetzt wissen wir es«, versicherte er grim mig. Sie brachen auf. Der Stollen lag finster und drohend vor ihnen. Das Licht der Fel senkammer blieb rasch zurück. Als Atlan sich nach mehr als hundert Schritten um drehte und an Razamon vorbei zurückblick te, da sah er Fenrir, den Wolf, der sich eben erst entschlossen hatte, den beiden Männern zu folgen. Seine Augen funkelten. Das Nackenhaar war gesträubt. Das Winseln war verstummt, statt dessen drang verhaltenes Grollen aus dem mächtigen Rachen. Fenrir, so schien es, hatte die Furcht über wunden. Er ging in den Kampf.
*
15 Der Stollen wand sich nach rechts. Er be schrieb einen langgestreckten Bogen. Atlan und Razamon waren in westlicher Richtung in die Zitadelle eingedrungen. Während sie dem finsteren Stollen folgten, bewegten sie sich zunächst nach Südwesten und schließ lich nach Süd. Fenrir hatte wieder die Führung übernom men. Manchmal blieb er stehen und knurrte. Gewöhnlich hatte er dann die Mündung ei nes Seitengangs gefunden, wie Atlan sich durch Tasten vergewisserte. Er lief ein paar Schritte weit hinein und kam wieder zurück, als wolle er sagen: Da drinnen gibt's nichts für uns. Atlan wunderte sich über das Ausbleiben der Schwerkraftfallen. Nach allem, was er von Marxos gehört hatte, war zu erwarten, daß es auch im Innern der Zitadelle Zonen erhöhter Gravitation geben müsse. Marxos hatte von einem Antimateriewesen gespro chen, das in der Zitadelle gefangengehalten wurde. Die Vermutung lag nahe, daß künst liche Schwerkraft benützt wurde, um das ge fährliche Wesen am Entkommen zu hindern und die Gefahr einer Berührung mit konven tioneller Materie zu neutralisieren. War die se Hypothese richtig, dann mußte es auch im Inneren des riesigen Gebäudes Schwerkraft fallen geben. Die Bestätigung, daß es wirklich so war, wie Atlan vermutete, kam auf ganz andere Art und Weise, als er erwartet hatte. Fenrir war ein paar Schritte weit vorausgeeilt, wie man an dem rhythmischen Geräusch der Pfoten hören konnte. Der Stollen schien weiter zu werden. Wenn man in der Mitte stand und beide Arme ausstreckte, erreichten die Hände die Wände nicht mehr, wie sie es früher getan hatten. Ganz unvermittelt stieß der mächtige Wolf ein Geheul aus – so schaurig, daß At lan die Haare zu Berg standen. Er blieb ste hen. In der Dunkelheit vor ihm zuckte ein fahles Leuchten auf. Das Geheul des Wolfes verwandelte sich in ein wütendes, grollendes Knurren. Atlan hörte, wie Fenrir nach etwas schnappte. Er mußte sein Ziel verfehlt ha
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ben, denn die Fänge schlugen krachend auf einander. Im selben Augenblick wurde das gespenstische Leuchten zu einem grellen Blitz. Der Wolf heulte auf. Atlan sah, wie er von einer unwiderstehlichen Gewalt erfaßt und zu Boden geschleudert wurde. Der Blitz erlosch. Die Finsternis war voll kommener als je zuvor. Fenrir lag irgendwo in der Dunkelheit und winselte, daß es einen Stein hätte erweichen können. Das Gesche hen hatte sich so schnell abgespielt, daß we der Atlan noch Razamon begriffen, was ei gentlich vorging – und schon war der Spuk vorüber. Der Arkonide ging auf Hände und Knie nieder und kroch zu der Stelle, von der Fenr irs Winseln kam. Er war noch nicht weit ge kommen, da tauchte noch einmal das ge spenstische Licht auf, diesmal jedoch in grö ßerer Entfernung, wenigstens einhundert Schritte den Stollen hinab. Und dann geschah das Unglaubliche. Eine Stimme ertönte – eine Stimme so mächtig, daß der Boden erbebte und die Decke zu knistern begann. Die Stimme sprach altmodisches Pthora, und die Worte lauteten: »Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Verrat büßen, den ihr an Phynx begangen habt!«
6. Damals wie heute hatten die Herren der FESTUNG keine treueren, keine verläßli cheren Untertanen als die Leute vom Taam berg, die man später dann die Berserker nannte. Die Taamberg-Krieger taten bedin gungslos, was die Herren der FESTUNG von ihnen verlangten. Sie kannten keine Skrupel und kein Erbarmen. Sie schlugen, stachen und trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte, wenn es galt, einen Befehl der Herren auszuführen. Die Herren der FESTUNG hatten Phynx aufgefordert, seine Burg zu verlassen und sie den Herren zur Verfügung zu stellen. Es hatte sich dabei nur um eine Proforma-
Aufforderung gehandelt; denn jedermann wußte, daß Phynx, der letzte Zyklop, das Heim seiner Ahnen niemals freiwillig aufge ben werde. Er hatte es auch nicht für nötig gehalten, die Aufforderung der Herren der FESTUNG zu beantworten. Damit hatten die in der FESTUNG einen ausreichenden Vorwand, um gegen Phynx vorzugehen. Ein Bote wurde zum Taamberg geschickt, um den Kriegern den Befehl der Herren zu überbringen. Yasslan Knyr, der Häuptling des Taamberg-Volkes, rief seine Krieger zusammen und hielt ihnen eine flammende Rede. »Phynx, der stinkende Zyklop, hat die mächtigen Herren der FESTUNG belei digt!« schrie er. »Wir werden diese Schmach rächen. Wir werden die Burg der Zyklopen stürmen und dem räudigen Phynx den Hals umdrehen – ihm und seinen Trol len!« Weithin hallender Jubel antwortete ihm. Die Krieger eilten, um sich zu bewaffnen. Kaum eine Stunde später war ein Haufe von mehr als achthundert zu allem entschlosse ner Kämpfer auf dem Weg nach Nordosten, zur Zyklopenküste. Mit den Trollen, von denen Yasslan Knyr gesprochen hatte, hatte es seine eigene Be wandtnis. Die Zyklopen, von denen im übri gen niemand wußte, woher sie eigentlich ka men, waren nicht im pthorischen Sinne des Wortes Menschen. Sie wuchsen bis über drei Meter hoch und hatten statt zwei Augen nur eines, mitten auf der Stirn. Ansonsten aber waren sie wie Menschen gebaut, und auch ihre Lebensgewohnheiten unterschie den sich nicht nennenswert von denen der Menschen. So fanden sie schließlich auch Gefallen an Menschenweibern. Sie holten sie zu sich in die Burg, indem sie sie entwe der verführten, kauften oder raubten, und zeugten mit ihnen Nachwuchs. Es war eine skurrile Laune der Natur, die es zuließ, daß Zyklopenmänner und Menschenweiber mit einander fruchtbar waren, und als ebenso skurril entpuppten sich schließlich auch die Geschöpfe, die aus solcherart Verbindungen
Das Geheimnis der Eiszitadelle hervorgingen. Sie waren verwachsen, im Durchschnitt nicht mehr als anderthalb Me ter groß, hatten manchmal ein Auge, manch mal zwei, in seltenen Fällen auch drei und besaßen eine Mentalität, die in der Hauptsa che aus Gift und Galle bestand. Diese We sen nannte man Trolle. In Phynx' Burg gab es einige Dutzend Trolle. Der alte Phynx war in jüngeren Jah ren ein wilder Bursche gewesen. Seine Gier nach Menschenweibern hatte ihn quer durchs ganze Land getrieben, bis hinunter zur Großen Barriere von Oth. Dort war sein Auge auf die Tochter eines Magiers gefal len. Er hatte das Mädchen zu überreden ver sucht, sie solle mit ihm kommen. Er hatte ih rem Vater einen Sack voll Quorks geboten. Und als all dies nichts fruchtete, hatte er die Schöne schließlich geraubt und mit sich auf seine Burg genommen. Das Mädchen aber war einem jungen Magier namens Orthwin versprochen gewesen. Orthwin hatte seine Braut geliebt und den Schmerz des Verlusts niemals ganz verwunden. Den Herren der FESTUNG die Zyklopenburg als sicheren Aufbewahrungsort für das Objekt aus Anti materie anzubieten, war Orthwins späte Ra che für Phynx' Ruchlosigkeit. Yasslan Knyr aber wußte, daß er und sei ne Krieger, wenn sie in die Burg eindrangen, es nicht nur mit Phynx zu tun haben würden, der alleine schon ein ernstzunehmender Gegner war, sondern obendrein noch mit sechzig bis siebzig Trollen, die es in ihrer hinterlistigen Verbissenheit wohl verstan den, einem Kämpfer das Leben sauer zu ma chen.
* Natürlich wußte Phynx, was ihn erwarte te. Die Zeiten, da die Zyklopen als souverä ne Herren über das Land an der Nordküste herrschten, waren längst vorbei. Auf Pthor galt nur noch ein Regime: das der Herren der FESTUNG. Als Phynx darauf verzichte te, die Aufforderung der Herren der FE STUNG zu beantworten, wußte er, daß er
17 sich damit Ärger an den Hals holte – mehr noch: daß er sein Todesurteil sprach. Denn die Herren der FESTUNG würden die Belei digung nicht ungestraft hinnehmen, und ih nen standen mehr Mittel zur Verfügung als ihm. Phynx war's zufrieden. Er hatte sein Le ben gelebt – mehrere hundert Jahre lang. Mit ihm ging das Geschlecht der Zyklopen zu Ende. Er würde dafür sorgen, daß es ein En de wurde, an das sich Pthor noch lange erin nern konnte. Als Yasslan Knyr mit seinen mehr als achthundert Kriegern erschien, hatten die Trolle sämtliche Zinnen der Burg bemannt und gossen Pech und flüssiges Blei auf die Angreifer hinab. Knyr verlor zweihundert Leute, bevor er auch nur einen Fuß ins Inne re der Burg setzte. Aber die Pfeile seiner Krieger wüteten auch unter den Trollen. Drei Dutzend starben bei dem verzweifelten Bemühen, die Angreifer von der Burg fern zuhalten. Der blutige Kampf zog sich durch die Hallen und Gänge der Burg. Während das Häuflein seiner Getreuen schrumpfte, zog sich Phynx in den großen Saal zurück, in dem vor Jahrhunderten seine Vorfahren ihre wilden Feste gefeiert hatten. Ein einziger Troll diente ihm als Bote und hielt ihn über den Fortgang des Kampfes auf dem laufen den. So erfuhr Phynx, daß Yasslan Knyr höchstens noch eine Handvoll Krieger übrig haben würde, wenn er den großen Saal er reichte. Schließlich war der Augenblick gekom men. Unter mörderischen Axthieben zer barst das mächtige Portal. Yasslan Knyr stürmte herein, gefolgt von neun Kriegern. Keiner von ihnen war unverletzt. Yasslan hatte ein Auge verloren, Blut strömte aus der leeren Höhle. Er erblickte den Troll, den letzten der Getreuen, fuhr mit einem wilden Schrei auf ihn zu und trennte ihm mit einem Schwertstreich den unförmigen Schädel von den Schultern. »Halt ein!« dröhnte in diesem Augenblick Phynx' mächtige Stimme.
18 Der letzte der Zyklopen saß auf einem rie sigen steinernen Sessel in der Mitte des Saa les. Zu dem Sessel führten drei breite Stufen hinauf. Phynx trug das Festgewand seines Geschlechts, eine wallende Robe aus pur purfarbenem Stoff. Mit halb erhobener Waffe war Yasslan Knyr stehengeblieben. »Bist du jetzt so wie ich?« verhöhnte ihn Phynx. »Siehst du nur noch aus einem Au ge? Sag' mir, du Verräter – was hat dich ver anlaßt, mich in meiner Burg zu überfallen?« »Du hast die Herren der FESTUNG belei digt!« antwortete ihm Yasslan schrill. »Was ficht's dich an?« »Sie sind meine Herren! Wer sie belei digt, beleidigt auch mich!« Da lachte Phynx schallend. »Zum Beleidigen braucht's Ehre! Wer keine Ehre hat, kann auch nicht beleidigt werden! Wie erklärst du dir das, du größter aller Feiglinge, der mit achthundert Mann anrückt, um eine Burg mit siebzig Insassen zu überfallen?« Das war mehr, als Yasslan Knyr aushalten konnte. Mit einem halberstickten Schrei fuhr er auf den steinernen Thron zu. Aber Phynx hatte sich vorgesehen. Sein Gewand teilte sich. Unter den purpurnen Falten kam eine Harpune zum Vorschein, eine Pekto. Mit dumpfem Schlag löste sich das Geschoß und fuhr dem Angreifer in den Hals. Yasslans Schrei endete mit einem gurgelnden Rö cheln. Der Anführer der TaambergKrieger stürzte vornüber. Das Schwert entglitt seiner Hand und rutschte, vom eigenen Schwung getragen, scheppernd über den steinernen Boden. Die neun Krieger standen einen Augen blick lang vor Schreck erstarrt. Dann kamen sie auf den Zyklopen zu, und in ihren Augen funkelte die Mordlust. Sie sahen die Harpu ne, in Phynx' Hand eine furchtbare Waffe. Sie wußten, daß er wenigstens die Hälfte von ihnen umbringen würde, bevor der Rest bis zu dem steinernen Thron vordrang. Aber der Tod bedeutete ihnen wenig. Sie waren Krieger.
Kurt Mahr Phynx hob die Waffe. Die Taamberg-Leu te sahen es und rückten dennoch weiter. Dann aber geschah etwas völlig Unerwarte tes. Phynx lachte dröhnend auf. Er schleu derte die Harpune unter die Angreifer und rief: »Was soll das Morden, ihr Narren? Ihr habt nicht genug Gehirn, um zu begreifen, worum es hier geht. Wozu soll ich mir die Finger an euch schmutzig machen?« Dann hob er den rechten Arm, und die Krieger vom Taamberg duckten sich unwill kürlich; aber Phynx wollte ihnen nichts an tun. Als sei der erhobene Arm ein Signal ge wesen, tat sich rings um den steinernen Thron plötzlich der Boden auf. Der mächti ge Sessel mit dem letzten der Zyklopen stürzte in die Öffnung. Hohl und schaurig gellte Phynx' Gelächter aus dem finsteren Schacht, der sich unter seinem Thron aufge tan hatte. Die Krieger vom Taamberg schworen später, das Gelächter habe nie wirklich aufgehört – es sei nur immer schwächer geworden, bis man es nicht mehr hören konnte. Sie stürzten herbei. Aber bevor sie die Stelle erreichten, an der der Thron des Zy klopen gewesen war, hatte sich der Schacht mund längst wieder geschlossen. Sie standen da und starrten einander verwundert an. Dann nahmen sie die Leiche ihres Anführers auf und verließen die Burg. Am nächsten Tag erfuhren die Herren der FESTUNG, daß die Burg der Zyklopen zu ihrer Verfügung stand.
* Über der Landschaft aus Antimaterie war es ein paarmal hell und wieder dunkel ge worden. Tag und Nacht kamen und gingen, ohne daß Kolphyr erkennen konnte, was den Wechsel der Helligkeit bewirkte. Inzwi schen hatte er das Leben in dem fremden Land aufmerksam studiert. Leistungsfähige optische Geräte an Bord des Dimensionstau chers holten die Oberfläche so nahe heran, daß der Forscher sogar die Gestalten der
Das Geheimnis der Eiszitadelle Wesen erkennen konnte, die das Land be völkerten. Sie waren wesentlich kleiner als er, aber sie besaßen ebenfalls vier Extremitäten und gingen aufrecht. Es schien unter den frem den Geschöpfen eine ganze Reihe verschie dener Varianten zu geben. Manche waren dunkelhäutig, andere dagegen von heller Hautfarbe. Eine Zeitlang glaubte Kolphyr sogar, es gebe rot, grün und blauhäutige Ex emplare. Aber dann entdeckte er, daß diese Leute die Angewohnheit hatten, ihren Kör per mit Stücken bunten Materials zu be decken. Was er sah, war nicht ihre Haut, sondern ihre Kleidung. Inzwischen hatte Einbein versucht, mit den Bewohnern der fremden Welt Verbin dung aufzunehmen. Er hatte jedes gängige Kommunikationsmittel ausprobiert, aber keine einzige Antwort erhalten. Es mochte natürlich sein, daß die Velst-Hülle das Raumei nach außen abschirmte und die Ant wortimpulse entweder absorbierte oder re flektierte. Um mehr darüber aussagen zu können, hätte man wissen müssen, welche Verständigungsmethoden die Fremden ver wendeten. Kolphyr stellte fest, daß das Leben auf der fremden Welt wesentlich primitiver war als das auf Grulpfer. Die Fremden lebten in der Hauptsache in großen Siedlungen zusam men, während es auf Grulpfer schon seit lan gen Jahrtausenden keine Wohnkonzentratio nen mehr gab. Die Fremden hatten offenbar auch Streitigkeiten untereinander, denn des öfteren sah man ganze Horden, die mitein ander kämpften. Bei den Kämpfen gab es Tote – ein durchschlagender Beweis für die Primitivität dieser Leute. Nach seinen vergeblichen Versuchen, mit den Bewohnern des Antimateriebrockens Verbindung aufzunehmen, hatte Einbein sich daran gemacht, die Wechselwirkung zwischen dem Velst-Schleier und der frem den Energiefeldhülle zu analysieren. Denn es war diese Wechselwirkung, die den Di mensionstaucher manövrierunfähig machte. Gelang es, den Einfluß zu erkennen, der von
19 ihr auf das Triebwerkssystem ausging, dann war es vielleicht möglich, das Fahrzeug wie der in Bewegung zu versetzen. Einbein war sich darüber im klaren, daß es – selbst wenn sie aus dem Bann des Antimateriebrockens entkamen – so gut wie unmöglich sein wer de, Grulpfer wiederzufinden. Aber er wußte sich mit Kolphyr einig, daß eine wenn auch lebenslange Suche nach der Heimatwelt dem Gefangensein unter der Schirmfeldhülle des Antimateriebrockens vorzuziehen sei. Einbein war mit seiner Analyse noch nicht allzu weit gekommen, da trat eine dra stische Änderung der Lage ein. Einbeins Meßgeräte waren die ersten, die davon Wind bekamen. Der Roboter studierte die Anzei gen sorgfältig. Dann wandte er sich an Kol phyr. »Man umgibt das Fahrzeug mit einem künstlichen Schwerkraftfeld«, sagte er. Kolphyr reagierte überrascht. »Künstliche Schwerkraft?« fragte er. »Die Leute dort unten erscheinen mir viel zu pri mitiv, als daß sie etwas von künstlicher Schwerkraft verstehen könnten!« Es war dieselbe Diskrepanz zwischen pthorischer Lebensart und pthorischem Wis sen, die einige Jahrtausende später Atlan, den Arkoniden, so sehr verwirrte wie in die sem Augenblick den beraischen Forscher. Einbeins Meßergebnisse waren jedoch ein deutig und ließen keinen Zweifel zu. Die Sphäre aus künstlicher Gravitation kontrahierte rasch und gewann dabei an In tensität. Es war klar, was die Fremden beab sichtigten. Sie fürchteten sich vor dem Fahr zeug, das in ihren Augen aus Antimaterie bestand. Sie wollten die Gefahr neutralisie ren und wahrscheinlich auch das gefährliche Objekt an einem sicheren Ort unterbringen. Was sie nicht vorhersehen konnten, war, wie der Velst-Schleier und die energetische Hül le des Dimensionstauchers auf eine solche Behandlung reagieren würden. »Damit sind wir so ziemlich am Ende, Einbein«, sagte der Forscher zu seinem Ro boter. »Da hast du recht«, bekannte Einbein.
20 »Der Velst-Schleier wird die Schwerkraft energie umformen und Hyperbar-Impulse daraus machen, die unser Fahrzeug aufzeh ren.« »Und danach«, ergänzte Kolphyr, »werden nur noch der Schleier, wir und die nichtenergetischen Bestandteile der Innen einrichtung übrig sein. Das Gravitationsfeld wird uns in die Tiefe ziehen und an irgendei nen Ort fesseln, der den Barbaren dieser Welt sicher erscheint.« Einbein machte die Geste der Zustim mung. Er fügte hinzu: »Ein brillanter Forscher wie du hätte ein besseres Schicksal verdient.« »Ein Schicksal verdient man sich nicht. Schicksal ist weiter nichts als Statistik«, zi tierte Kolphyr seine Lebensphilosophie, die sich zugegebenermaßen von der vieler sei ner Landsleute erheblich unterschied. »Es bringt nichts ein, darüber zu jammern, daß man gerade der eine unter einhundert Millio nen ist, dem das ganz Außergewöhnliche zu stößt. Allerdings muß ich bekennen, daß ich deine Gesellschaft vermissen werde.« Roboter wurden für eine beschränkte Le bensdauer hergestellt. Oder, wie es die Leute auf Grulpfer ausgedrückt hätten: Roboter er lebten nur eine begrenzte Anzahl verschie dener kosmischer Zustände, während die eigentlichen Beras deren unendlich viele durchmachten. Wenn Einbeins Grenzzahl erreicht war, würde er aufhören zu existie ren. Von da an war Kolphyr allein. Die Aus sicht war nicht sonderlich ermutigend. »Bis dahin sind es immerhin noch ein paar Millionen Makrozustände«, versuchte Einbein den Forscher zu trösten. »Wer weiß, was inzwischen geschieht!« »Du hast recht«, ereiferte sich Kolphyr. »Im Grunde genommen haben wir nicht nur keinen logischen Grund, sondern auch kei nen moralischen Anlaß, uns zu beklagen. Immerhin widerfährt uns etwas Einmaliges. Wir erleben etwas, was noch kein anderer beraischer Forscher erlebt hat. Sollte es uns jemals gelingen, nach Grulpfer zurückzu kehren, werden wir die Wissenschaft um ei-
Kurt Mahr nige höchst bedeutsame Erkenntnisse berei chern können.« Damit gab er sich vorerst zufrieden. Zu sammen mit Einbein beobachtete er auf merksam, wie die Gravitationssphäre immer energiereicher wurde. Ein leises Flimmern außerhalb des Dimensionstauchers deutete schließlich an, daß die Schwerkraftenergie mit dem Velst-Schleier in Wechselwirkung getreten war. Gleich darauf begann die Hül le des Fahrzeugs, sich allmählich aufzulö sen.
7. Koy gelangte in einen weiten, finsteren Korridor. Die Dunkelheit schreckte ihn zu nächst. Aber Einbein blieb bei ihm und un terhielt sich mit ihm. Dadurch verlor Koy seine Angst. Er stellte viele Fragen, aber das seltsame Wesen namens Einbein beantwor tete nur wenige von ihnen. »Wer bist du eigentlich?« wollte er zum Beispiel wissen. »Gehörst du zu den Magi ern aus der Großen Barriere von Oth?« »Warum soll ich zu diesen gehören?« wich Einbein der Frage aus. »Weil nur ein Magier es versteht, sich un sichtbar zu machen!« »Ich sagte dir schon, ich bin nicht unsicht bar. Ich bestehe aus einer Substanz, die dei ne Augen nicht sehen können.« »Das ist für mich dasselbe«, brummte Koy. »Wenn du also nicht von der Großen Barriere kommst, woher kommst du dann?« »Von so weit her, daß du dir keine Vor stellung machen kannst!« antwortete Ein bein. Da versuchte es Koy auf eine andere Art. Er stieß ein spöttisches Lachen aus und rief: »Ich sehe schon, du weißt selbst nicht, woher du kommst!« Das wollte Einbein nicht auf sich sitzen lassen. »Halt du dich und deinesgleichen für dumm, nicht aber den höchstentwickelten Roboter von Grulpfer!« »Aha – Grulpfer!« machte Koy. »Und wo
Das Geheimnis der Eiszitadelle liegt diese finstere Welt?« »Hinter den Dimensionen«, lautete Ein beins Antwort. »Du würdest das nicht ver stehen!« »Ich zweifle daran, daß du es verstehst!« sagte der Trommler bissig. »Was hast du überhaupt hier zu suchen?« »Ich bewache den Forscher!« »Welchen Forscher?« »Sein Name ist Kolphyr.« »Wonach forscht er?« »Er pflegte die Dimensionen zwischen den Universen zu erforschen. Aber seitdem wir hier gelandet sind, ruht er.« Das fand Koy überaus interessant. »Er ruht? Kann man ihn wecken? Ich möchte mit ihm sprechen!« »Das geht nicht«, antwortete Einbein. »Warum nicht?« »Er liegt auf einer Bahre, von dem VelstSchleier umgeben. Der Schleier macht ihn zum Bestandteil eines anderen Kosmos, und das ist gut so, denn er besteht aus einer an deren Materie als diese Welt. Wenn der Velst-Schleier eines Tages aufhörte zu exi stieren, müßte es zu einer gewaltigen Explo sion kommen. Niemand kann mit dem For scher sprechen, selbst ich nicht.« Da blieb Koy stehen und starrte durch die Finsternis in die Richtung, aus der die Stim me zu kommen schien. »Du flunkerst nicht etwa?« fragte er. »Was ist das – flunkern?« erkundigte sich Einbein. »Dich über mich lustig machen, aus mir einen Narren machen, oder sowas Ähnli ches!« »Warum sollte ich das?« »Du kommst von derselben Welt wie der Forscher, nicht wahr?« »Ja.« »Wieso brauchst du dann keinen VelstSchleier – oder wie das Ding heißt? Wieso kann ich mich mit dir unterhalten, aber nicht mit dem Forscher?« Der unsichtbare Einbein gab ein Geräusch von sich, das wie ein menschlicher Seufzer klang.
21 »Weil ich nicht mehr in meiner ursprüng lichen Daseinsform existiere«, antwortete er. »Das Zusammenwirken zwischen Schwer kraft und Velst-Schleier erzeugte einen merkwürdigen Effekt. Ich war einst ein Ro boter. Die kombinierte Wirkung der beiden Einflüsse verzehrte meine Substanz und ab strahierte gleichzeitig meine Fähigkeit zu denken, zu kombinieren, zu hören, zu schmecken, zu fühlen, zu sehen und zu spre chen zu einem stabilen und gleichzeitig be weglichen Gebilde aus Energie. Diese Ener gie ist den Energieformen verwandt, wie sie in diesem Universum gebräuchlich sind. Ich kann mich also frei bewegen. Ich bin nicht an die Eiszitadelle gebunden, obwohl ich mich die meiste Zeit über hier aufhalte, um über Kolphyr zu wachen. In den vergan genen Jahrhunderten habe ich euer Land durchstreift und eure Sprache gelernt.« Koy schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht«, bekannte er. »Das glaube ich dir gerne«, erwiderte Einbein von oben herab. »Geschöpfe von meiner Art gibt es nur ganz selten. Solche Geschöpfe vereinigen in sich den Höchst grad geistiger Vollkommenheit mit einem Maximum an Ungebundenheit.« In diesem Augenblick erschien irgendwo weit voraus ein fahles Leuchten, das mit hu schenden Bewegungen näherkam. Eine mächtige Stimme dröhnte: »Wer wagt es, in meinem Reich einen sol chen Lärm zu vollführen? Da sollen doch gleich alle elftausend zyklopischen Geister dreinschlagen!« »Wer … wer ist das?« stotterte Koy furchtsam. »Ein Barbar«, antwortete Einbein in ange widertem Tonfall. Hastig fügte er hinzu: »Ich kann jetzt nicht mehr bei dir bleiben. Ich muß mich um andere Dinge kümmern. Vielleicht sehe ich dich später einmal wie der!« Koy starrte verblüfft in die Richtung der Stimme. »Ich glaube gar, du hast Angst!« rief er
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aus. Aber Einbein war schon verschwunden. Wahrscheinlich hatte er wirklich Angst.
* Das Leuchten kam näher und wurde dabei heller. Koy erging es nicht anders als dem körperlosen Roboter: Er fürchtete sich. Aber das merkwürdige Leuchtgebilde hielt ein Dutzend Schritte vor ihm an, als ahne es, daß der Trommler sich vor ihm ängstigte, und die mächtige Stimme sprach viel sanfter als zuvor: »Was sehe ich? Du bist doch nicht etwa ein Troll?« »Ich … ich weiß nicht, was ein Troll ist!« stieß Koy furchtsam hervor. »Du weißt nicht, was ein Troll ist?« Daß jemand so unwissend sein könne, schien den Leuchtenden zu erzürnen. Er brüllte die Frage, daß der Boden zitterte. Koy wich entsetzt ein paar Schritte zurück. »Verzeih mir!« rief er. »Aber ich weiß es wirklich nicht!« »Aber von den Zyklopen hast du gehört?« rief der Leuchtende. »Ja«, antwortete Koy, halbwegs erleich tert, daß er nicht auch in diesem Falle seine Unwissenheit bezeugen mußte. »Und von Phynx, dem letzten der Zyklo pen?« »Auch von dem«, bekannte Koy. »Der muß ein wahres Scheusal gewesen sein!« »Was …?« Das diffuse Leuchtgebilde begann zu flackern. Blitzende Tentakel fuhren auf den armen Trommler zu. Er fühlte, wie sie an seiner Kleidung zu zerren begannen. Er spürte, wie das geheimnisvolle Wesen ihn niederringen wollte. Er geriet in Panik. In seiner namenlosen Angst fiel ihm nichts an deres ein, als das zu tun, was er immer tat, wenn er in Lebensgefahr war: Er versetzte die Broins in Schwingungen und ließ die beiden Kugeln gegeneinanderschlagen, bis er das dumpfe Gedröhn der Trommeln hörte. Da gellte vor ihm ein wilder Schrei auf.
Die leuchtenden Tentakel gerieten in wir belnde Bewegung und wurden blitzschnell zurückgezogen. Die schimmernde Nebel wolke sah plötzlich aus, als sei sie in einen Sturmwind geraten. Sie wich zurück. Vor lauter Überraschung hörte Koy auf zu trommeln. »Du bist ja ein ganz gefährlicher Bur sche!« sagte die mächtige Stimme mit einem unverkennbaren Unterton von Hochachtung. »Vor dir muß man sich in acht nehmen! Wer bist du eigentlich?« »Ich bin Koy, der Trommler.« »Gehorchst du den Herren der FE STUNG?« »Ich habe ihnen gehorcht. Aber jetzt, glaube ich, sind sie hinter mir her, weil ich ihren Befehl nicht befolgt habe.« Der Leuchtende gab ein dröhnendes Ge lächter von sich. »Das ist sehr gut, mein Freund! Und weißt du auch, wer ich bin?« Koy war nicht auf den Kopf gefallen. »So, wie du vorhin reagiert hast, müßtest du Phynx, der letzte Zyklop, sein.« Das Lachen brandete von neuem auf. »Dumm bist du auch nicht, mein Sohn! Wir sollten Freunde werden! Denn was die Herren der FESTUNG dir über das Ge schlecht der Zyklopen erzählt haben, ist wei ter nichts als Lüge. Nicht die Zyklopen wa ren Übeltäter, sondern die aus der FE STUNG. Sie haben mich um mein Erbe be trogen. Sie haben die Krieger vom Taam berg auf mich gehetzt und meine Trolle ge tötet. Ich selbst war des Lebens überdrüssig. Ich besiegte den Führer der Angreifer, schoß ihm meine Pekto in den Hals – und dann wollte ich mit mir selbst Schluß machen. Unter meinem steinernen Sitz gab es einen Schacht, der weit in die Tiefe führte. Ich hat te ihn so hergerichtet, daß er mich mitsamt dem Sitz aufnehmen würde. Ich wollte vor den Augen der dummen Taamberg-Leute verschwinden. Ich gönnte ihnen nicht den Triumph, den letzten der Zyklopen getötet zu haben.« Der Leuchtende seufzte.
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Aber ich hatte mich verrechnet. Ich stürzte – aber der Sturz war nicht tief genug, um mir das Leben zu nehmen. Ich lag auf dem Grund des Schachtes – wie viele Tage und Nächte, das weiß ich nicht mehr. Sämt liche Glieder waren gebrochen. Der Schmerz wollte mich zum Wahnsinn trei ben. Aber irgendwie hing ich am Leben. Dann plötzlich geschah etwas ganz Eigen artiges. Ich spürte neue Kraft. Dünne, leuch tende Bahnen krochen durch den finsteren Schacht herab auf mich zu. Sie umfingen mich. Zuerst machten sie den Schmerz noch schlimmer. Aber dann muß irgend etwas in mir gerissen sein. Ich ließ den zerschunde nen Körper zurück. Ich war nur noch das Bewußtsein von Phynx, dem letzten Zyklo pen.« Staunend hatte Koy die Geschichte ver nommen. Er entdeckte Ähnlichkeiten mit dem, was ihm Einbein vor kurzem erzählt hatte. Auch er war durch eine fremde Kraft gerettet worden. »Und seitdem lebst du allein in den Tie fen der Eiszitadelle?« fragte der Trommler. »Eiszitadelle?« antwortete der Leuchtende überrascht. »Ist das, was sie meine Burg heutzutage nennen?« »Ja. Denn die Burg ist von Eis bedeckt – ebenso wie das ganze Land ringsum bis hin auf zur Eisküste.« »So ist das also«, antwortete der Leuch tende, als sei ihm soeben eine Erklärung zu teil geworden, nach der er lange gesucht hat te. »Das ist köstlich! Die Herren der FE STUNG haben eine fremde Kraft eingesetzt. Warum, weiß ich nicht. Aber die Wirkung, die sie erzielte, muß für die in der FE STUNG ziemlich überraschend gekommen sein! Sie verwandelte das blühende Land in eine Eiswüste, und sie erweckte sogar den verruchten Phynx wieder zum Leben!« Er begann von neuem zu lachen. Diesmal hatte Koy weniger Angst als zuvor und konnte aufmerksamer beobachten. Die Stim me des Leuchtenden war in der Tat so mäch tig, daß sie den Boden zum Zittern und das Deckengefüge zum Knirschen brachte. Von
23 den Wänden rieselte Staub. Vergebens ver suchte Koy, sich vorzustellen, welch ein Un getüm Phynx zu Lebzeiten gewesen sein mußte. Der Zyklop jedoch hatte Koys ursprüngli che Frage nicht vergessen. »Lebe ich allein?« wiederholte er. »Eigentlich nicht. Da geistert ein Widerling durch die geweihten Gemächer. Er spricht unsere Sprache auf eigentümliche Art und Weise und nennt sich Einbein. Er kam mir ein paarmal unbotmäßig, da mußte ich ihn mir zurechtbiegen. Seitdem hat er den nöti gen Respekt. Und dann gibt es noch das merkwürdige Geschöpf im Festsaal. Es liegt dort, umgeben von einem leuchtenden Schleier, und durch den weiten Raum laufen feurige Schlangen, so wie sie damals zu mir in den Schacht herabkrochen. Ich glaube, es ist ein Unglückseliger, den die Herren der FESTUNG dort aufgebahrt haben. Woher er kommt, weiß ich nicht. Dieser Einfaltspinsel namens Einbein nennt ihn einen Forscher. Ich habe versucht, mit dem Forscher zu sprechen. Aber obwohl ich weiß, daß er noch lebt, hat er mir niemals geantwortet.« »Woher weißt du, daß er noch lebt?« frag te Koy. »Manchmal bewegt er seine Augen«, ant wortete der Leuchtende. »Und seit neuestem gibt es da noch etwas anderes!« Der Wechsel im Tonfall war unverkenn bar. Was es auch immer war, das da seit neuestem existierte, es schien den letzten Zyklopen zu erregen. »Was ist das?« erkundigte sich der Trommler. Der Leuchtende beantwortete die Frage nicht direkt. »Es waren die Herren der FESTUNG, die mich betrogen«, sagte er. »Aber es waren die Leute vom Taamberg, die hierherkamen, um mich zu töten. Seit langen Jahrhunderten warte ich darauf, daß mir endlich wieder einmal einer von den Taamberg-Leuten zu Gesicht kommt. Und heute ist es geschehen. Ich habe einen von ihnen gesehen! Er muß die Ge
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schichte seiner Ahnen vergessen haben, sonst hätte er sich nicht hierher gewagt. Aber für sein schlechtes Gedächtnis bin ich nicht verantwortlich. Er wird mir für die Falschheit seiner Vorfahren büßen!«
8. Es dauerte nicht lange, da war die Ener giehülle des Dimensionstauchers ver schwunden. Verschwunden waren auch die Zwischenwände, die das Innere des Fahr zeugs in mehrere Decks eingeteilt hatten. Nur die Einrichtungsgegenstände waren noch vorhanden – und natürlich Kolphyr mit seinem Begleiter, dem Roboter namens Ein bein. Das Zusammenwirken zwischen künstli cher Schwerkraft und dem Velst-Schleier schuf im Innern des kugelförmigen Gebil des, das von dem Gravitationsfeld umschlos sen wurde, stabile Zustände. Kolphyr saß nach wie vor in dem bequemen Sessel, der sich nicht vom Fleck rührte und vor ihm schwebte die Konsole, mit der er früher sein Fahrzeug gesteuert und seine Experimente kontrolliert hatte. Das Ganze allerdings setzte sich wenig später in Bewegung. Die unsichtbare Kugel aus künstlicher Schwerkraft begann zu sin ken. Das fremde Land kam näher. Die Kugel bewegte sich auf eine Küste zu, die von den Wellen des Meeres bespült wurde. Das Bild wurde um so verwirrender, je näher die Ku gel kam. Aus der Höhe hatte Kolphyr die Grenzen des Antimateriebrockens klar er kannt. Allmählich jedoch entstand am Hori zont ein diesiger Schleier, der die Sicht blockierte. So entstand der Eindruck, als rei che die türkisfarbene Fläche des Meeres bis in alle Unendlichkeit, während Kolphyr doch wußte, daß die Wasserfläche schon nach ein paar hundert Metern an der Grenze des Antimaterieklotzes endete. Das Land war grün und fruchtbar. Es gab weder Straßen noch Siedlungen, nur ein ein ziges mächtiges Gebäude, das sich auf ei nem Felsen unweit der Küste erhob. Es war
von einer gewaltigen Mauer umgeben und bestand aus Dutzenden ineinander ver schachtelter Bauten, die Generationen von Bewohnern nacheinander wohl errichtet zu haben schienen. Als die Gravitationskugel sich dem riesi gen Gebäude näherte, öffnete sich in der Mauer ein hohes Portal. Kolphyr spürte, wie das künstliche Schwerkraftfeld sich zusam menzog und seinen Durchmesser verringer te, um nirgendwo anzustoßen. Hinter dem Portal kamen einige Meter freier Fläche und dann abermals ein Eingang, von dem aus ein finsterer Gang in die Tiefe des Bauwerks führte. Kolphyr ließ sich von Einbein, der auch in der Finsternis sah, über die Fahrt durch die Dunkelheit berichten. Die Kugel schwebte breite, hohe Korridore entlang, bog ein paar mal ab, durchquerte einige Hallen mit Mobi liar, das für Giganten gefertigt zu sein schi en, und gelangte schließlich in einen Saal von atemberaubender Größe. Diesen Saal sah Kolphyr mit eigenen Augen, denn er war durch mächtige Fackeln beleuchtet, die in den Wänden staken. In der Mitte des riesi gen Raumes stand ein niedriger Felsblock mit glatter Oberfläche. Er erhob sich an der selben Stelle, an der früher Phynx' steinerner Thron gestanden hatte, aber das wußte Kol phyr nicht. Die Gravitationskugel strebte auf diesen Felsblock zu. Und plötzlich begannen die Dinge sich zu verändern. Als erstes bemerkte Kolphyr, wie die Konsole anfing sich aufzulösen. Die bunten Schaltflächen verschwanden, wurden zu Nebel, trieben davon und verschwanden. Die hellgraue Basis wurde durchsichtig und war auf einmal nicht mehr da. Hilflos sah der Forscher dann zu, wie sich ein Gegenstand nach dem anderen auflöste und zu existieren aufhörte. Er wandte sich um und sprach zu Einbein: »Was ist das? Was geht hier vor?« »Die Wechselwirkung zwischen Velst und Schwerkraft macht bei energetischen Gebilden nicht halt«, antwortete der Robot. »Sie zerstört alles, was erstens nicht orga
Das Geheimnis der Eiszitadelle nisch und zweitens aus fremder Materie ge fertigt ist.« »Fremder Materie?« fragte Kolphyr ver wundert. »Fremd für diese Welt«, erklärte Einbein. »Für unsere Begriffe besteht sie aus Antima terie. Für ihre Begriffe bestehen wir aus An timaterie.« »Alles was nicht organisch ist …«, wie derholte Kolphyr murmelnd. Plötzlich gab es ihm einen Ruck. Er starr te den Roboter an. »Das bedeutet …«, stieß er hervor. Ein bein machte die Geste der Zustimmung. »Wir müssen uns voneinander verabschie den«, sagte er. Kolphyr brauchte nicht lange, um seine Fassung wiederzugewinnen. Es war unter der Würde eines Forschers, in einem Zu stand seelischen Ungleichgewichts zu ver harren. »Du wirst mir fehlen, Einbein«, sprach er zu dem Roboter. »Ich bedaure, daß ich nicht hierbleiben kann, um dir weiterhin Gesellschaft zu lei sten«, antwortete Einbein. Dann begann auch er, sich aufzulösen. Inzwischen hatte die Gravitationskugel den flachen Felsblock erreicht. Kolphyr spürte, wie sie anfing, ihre Form zu ändern. Sie zerfloß und wurde zu einem plattge drückten Gebilde, das den Forscher an die Oberfläche des Felsklotzes fesselte. Der Sog des Feldes breitete ihn langgestreckt auf die steinerne Fläche. Der Velst-Schleier paßte sich der veränderten Situation an. Er schob sich als hauchdünne Schicht zwischen Kol phyr und die Unterlage, auf die der Forscher zu ruhen kam. Ansonsten umgab er Kolphyr weiterhin wie eine Blase, durch deren ener getische Hülle nur die Luft drang, die der Forscher zum Atmen brauchte – und auch diese erst, nachdem die Gasmoleküle neutra lisiert worden waren, so daß sie ihren Anti materiecharakter verloren. Schließlich zerfloß die Gravitationskugel vollends. Sie löste sich in einzelne Bahnen auf, die den Körper des Forschers wie Fes
25 seln umgaben, an den Seiten des Felsblocks hinabliefen und den Boden der riesigen Hal le überquerten, bis sie an den Wänden ende ten. Sie strahlten ein mattes Leuchten aus, und dort, wo sie auf die Wände trafen, be gannen auch diese zu strahlen. Kolphyr war in ein Netz aus Velst und künstlicher Schwerkraft eingesponnen, das ihm nur ein Minimum an Bewegungsfreiheit ließ. Er war gefangen. Einmal, als er schon einen halben Makro zustand lang auf der Felsplatte gelegen hat te, glaubte er, eine vertraute Stimme zu hö ren. Es war ihm, als ob er Einbein rufen hö re: »Bei allen Geistern – das ist schön!« Kolphyr drehte den Kopf so weit, wie es die Fesselung ihm erlaubte, und fragte: »Einbein – bist du das?« Aber er erhielt keine Antwort.
* Die Gravitationsfesseln, die den Forscher an die Oberfläche des Felsblocks banden, reichten in Wirklichkeit viel weiter als Kol phyr sehen konnte. Sie durchdrangen die Wände des alten Gebäudes und reichten bis in die tiefsten Tiefen hinab, wo sie wie An ker wirkten, die dafür sorgten, daß sich das Schwerkraftnetz nicht lockerte. Aber auch rings um die Burg, die früher den Zyklopen gehört hatte, entstand ein Ge wirr von künstlichen Schwerkraftfeldern. Die ganze Burg wurde in ein Gravitationsge spinst eingehüllt. Dieses Gespinst hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß der gefährli che Fremde an Ort und Stelle gebannt blieb. Gleichzeitig aber sorgte es dafür, daß kein Unberufener sich der Burg näherte oder sie gar betrat. Die Herren der FESTUNG waren mit der geleisteten Arbeit zufrieden. Das fremde Wesen war an einen sicheren Ort gebunden, die Gefahr, die von ihm ausging, neutrali siert. Die Schwerkraftprojektoren, die in der Zyklopenburg installiert worden waren, würden eine halbe Ewigkeit lang aushalten.
26 Es gab ein ausgeklügeltes Monitor-System, das beizeiten Alarm schlagen würde, wenn einer der Projektoren auszufallen drohte. Es sah so aus, als würde die vernichtende Ex plosion, die sich dann ereignen mußte, wenn das Geschöpf aus Antimaterie mit der Sub stanz von Pthor in Berührung kam, niemals stattfinden. So gingen ein paar Monate ins Land. Da wurde den Herren der FESTUNG hinter bracht, daß an der Zyklopenküste die Bäume das Laub abwarfen und das Gras braun wur de. Späher, die die Umgebung der alten Zy klopenburg im Auge behielten, berichteten, daß des Morgens Rauhreif auf dem Land lie ge und auch während des Tages die Tempe raturen kaum über zehn Grad anstiegen. Und das in einer Jahreszeit, in der ganz Pthor un ter drückender Hitze litt! Die Herren der FESTUNG zitierten die Magier aus der Großen Barriere von Oth. Die Magier kamen, an ihrer Spitze Orthwin, und analysierten die Lage. Sie verbrachten mehrere Wochen in der Gegend, die nach ih ren früheren Bewohnern die Zyklopenküste genannt wurde. Als sie zurückkehrten, hatte Orthwin folgendes zu melden: »Die künstlichen Schwerkraftfelder, die die Umgebung der ehemaligen Burg der Zy klopen durchziehen, verhindern den Wärme austausch zwischen diesem Gebiet und den angrenzenden Landschaften. Der Wärmefluß geht nur noch in einer Richtung vonstatten, und zwar aus dem Gebiet der Burg hinaus nach außen. Die künstlichen Gravitationsfel der täuschen einen Temperaturgradienten vor, der den Wärmegehalt der Region dazu veranlaßt, nach allen Richtungen hin abzu fließen.« »Aber das ist unmöglich!« widersprachen die Herren der FESTUNG. »Bereits jetzt ist es im Gebiet der Zyklopenküste wesentlich kälter als überall sonst. Wie kann Wärme aus einem kalten Bereich in einen warmen fließen? Das widerspricht dem fundamental sten aller Naturgesetze!« »Natürlich habt ihr recht, ihr Erhabenen«, beeilte sich Orthwin zu versichern. »Aber
Kurt Mahr der Einfluß der künstlichen Schwerkraft schafft Bedingungen, die dem Wirken der Naturgesetze entgegenstehen. Die Gravitati onsfelder leisten in der Tat Arbeit, um Wär me – also thermische Energie – aus der Käl te der Zyklopenküste in die vergleichsweise wärmere Umgebung zu pumpen. Ihr könnt das daran feststellen, daß die Schwerkraft projektoren noch mehr Energie verbrauchen, als ursprünglich vorgesehen war.« »Wie lange wird das dauern?« wollten die Herren der FESTUNG wissen. »Wie kalt wird es an der Zyklopenküste werden?« »Eis wird das Land bedecken!« prophe zeite Orthwin. »Die Temperaturen dort wer den das ganze Jahr über so sein wie in dem härtesten aller Winter, von dem unsere Auf zeichnungen wissen.« »So sei es!« verkündeten die Herren der FESTUNG. »Man sagt, als das fremde Fahr zeug sich auflöste, sei nur ein fremdes We sen übriggeblieben, das aussieht wie ein rie siger Frosch. Hat man uns richtig berich tet?« »Richtig, aber oberflächlich, ihr Herren«, antwortete Orthwin. »Der Fremde ist mehr als acht Fuß groß, und er hat ein Gesicht, das aussieht wie das Gesicht eines Frosches. Aber er ist gewohnt, aufrecht zu gehen, und es ist anzunehmen, daß er über ein gehöriges Maß an Intelligenz verfügt.« »Das stört uns nicht«, sagten die Herren der FESTUNG. »Die Kälte wird ihn töten!« Da aber widersprach Orthwin. »Ich wäre glücklich, ihr Erhabenen, wenn ich dieser Ansicht zustimmen könnte. Aber es scheint, daß der Fremde weder auf Nah rung im herkömmlichen Sinn, noch auf ver trägliche Umweltbedingungen angewiesen ist. Man hat beobachtet, daß das künstliche Schwerefeld in seiner unmittelbaren Umge bung mitunter schwankt. Es gibt keine ande re Erklärung für dieses Phänomen, als daß der Fremde Energie aus dem Gravitations feld aufnimmt. Vermutlich ernährt er sich damit. Auch haben Messungen ergeben, daß die Temperatur seiner Körperoberfläche stets gleich bleibt, obwohl die Temperatur
Das Geheimnis der Eiszitadelle im großen Saal der Burg, seitdem er dort aufgebahrt wurde, um mehr als zwanzig Grad gesunken ist. Wahrscheinlich werden ihn weder Kälte noch Nahrungsmangel tö ten. Statt dessen steht etwas anderes zu be fürchten.« »Was ist das?« wollten die Herren der Fe stung wissen. »Diese Schwerkraftprojektoren brauchen ein Mindestmaß an Wärme, um funktionie ren zu können. Laßt die Temperatur im In nern der Burg unter den Wert sinken, bei dem Wasser gefriert, und die Projektoren werden euch eines Tages den Dienst aufsa gen.« »Das darf nicht geschehen!« erklärten die Herren der FESTUNG. »Dann muß in der Burg eine Heizung in stalliert werden«, sagte Orthwin. Und so geschah es. Das Innere der alten Zyklopenburg wurde beheizt, damit die Schwerkraftprojektoren ihre Arbeit taten, während die Zyklopenküste zu einer Eiswü ste wurde. Die wenigen Menschen, die am Rand des Gebiets wohnten, das einst die Zy klopen beherrscht hatten, flüchteten in wär mere Gegenden. Unter dem Volk ging das Gerücht, daß ein fremdes Wesen die Gegend rings um die alte Zyklopenburg verhext hät te. Die Leute mieden die Gegend. Inzwi schen türmte sich Eisschicht über Eisschicht, und die Jahrzehnte und Jahrhunderte vergin gen. Die Menschen, die entlang der Nordkü ste von Pthor und an den Rändern der Wüste Fylln wohnten, gewöhnten sich daran, das eisige Land nicht mehr die Zyklopen, son dern die Eisküste zu nennen. Und bei diesem Namen blieb es. Die Herren der FESTUNG kümmerten sich nicht um das Innere der alten Zyklopen burg. Sie hatten ihre Meßgeräte, die nach wiesen, daß die Heizung und die Schwer kraftprojektoren einwandfrei funktionierten, und mehr wollten sie nicht. Das fremde Ge schöpf lag auf der flachen Oberfläche des Felsblocks, den die Herren der FESTUNG eigens für diesen Zweck hatten herrichten lassen. Solange es sich nicht bewegte, war
27 die Gefahr gebannt. Die Jetztzeit war fast schon angebrochen, da verirrte sich eine Sippe der Wargoons in die Gegend. Daß sie der unwirtlichen Land schaft nicht sofort wieder den Rücken kehr te, muß wohl seine besondere Bewandtnis gehabt haben. Wahrscheinlich wurden die Wargoons von einem mehr oder weniger un erbittlichen Gegner verfolgt, und kein ande rer Ort bot ihnen die gewünschte Sicherheit. Offenbar hatten sie sich ursprünglich die alte Zyklopenburg als Domizil ausgesucht. Al lein schon beim Anmarsch muß infolge der tückischen Schwerkraftfallen wenigstens die Hälfte der Sippe umgekommen sein. Fest steht, daß zumindest ein Wagemutiger da mals ins Innere der Burg eindrang und bis zu dem Saal gelangte, in dem das fremde We sen aufgebahrt war. Es ist anzunehmen, daß der Eindringling auch eine Begegnung mit Einbein hatte und von ihm den Namen des aufgebahrten Forschers erfuhr. Denn Gloo phy ist nichts anderes als eine Korruption des richten Namens Kolphyr. Was auch immer damals geschah – die Wargoons waren von dem geheimnisvollen Bewohner der alten Burg so beeindruckt, daß sie ihn unter die Gottheiten erhoben und fürderhin anbeteten, ja, ihm sogar ein Bild nis errichteten, das allerdings wenig Ähn lichkeit mit dem wahren Kolphyr besaß – wahrscheinlich, weil selbst den Wagemuti gen im letzten Augenblick die wilde Panik packte und er nicht mehr dazu kam, sich den Forscher von Grulpfer genau anzusehen. Dies alles geschah vor wenigstens einem Dutzend Wargoon-Generationen, und selbst die ältesten Mitglieder der Sippe erinnerten sich nicht mehr besonders genau daran, was nun im einzelnen sich eigentlich damals zu getragen hatte. Die Wargoons waren ihres kargen Lebens zufrieden und verehrten ihren Eisgott. Sie nahmen in Kauf, daß in regel mäßigen Abständen ein fliegendes Fahrzeug bei ihnen landete und mit Handelsware bela den werden mußte, für die sie keinen Gegen wert erhielten. Das war ihr Tribut an Gloo phy – obwohl es zumindest fraglich war, ob
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das Fahrzeug wirklich Gloophy gehörte. Die Lage war ruhig und ohne besondere Vorkommnisse – bis die beiden Fremden auftauchten, die Fremden mit dem Wolf, und die Dinge in Bewegung brachten.
9. In der Finsternis hörte Atlan das schwere Atmen des Gefährten. Der Arkonide hatte sich inzwischen vergewissert, daß dem Wolf kein ernsthafter Schaden zugefügt worden war. Er würde in ein paar Minuten wieder auf den Beinen stehen. Er hatte Zeit, sich um Razamon zu kümmern. »Was ist los?« fragte er. »Stimmt etwas nicht?« Der Pthorer antwortete nicht sofort. Atlan wiederholte seine Frage. »Phynx …!« stieß Razamon da hervor. »Welch ein Name …!« »Besagt er dir etwas?« »Ich … ich weiß es nicht! Irgend etwas ist da – weit hinten in meinem Bewußtsein. Ei ne Erinnerung … an ein Geschlecht von Gi ganten, Einäugige …« »Zyklopen?« fragte Atlan verwundert. »Ja, das ist es! Zyklopen! So wurden sie genannt!« »Phynx war einer von ihnen?« »Ja … er war … der letzte, glaube ich!« »Die Zyklopen starben aus?« »Das auch. Aber der letzte starb eines ge waltsamen Todes!« »Phynx? Dem sind wir doch eben begeg net!« »Ja – aber in was für einer Gestalt? Ist er noch ein lebendes Wesen oder nur ein Ge spenst?« Der Arkonide lachte trocken. »Von Gespenstern halte ich nicht viel. Es ist mir noch keines über den Weg gelaufen, das ich mir nicht ganz plausibel als ein Ge bilde aus Energie oder Materie hätte erklä ren können.« »Vielleicht ist er das«, erwiderte Raza mon. »Was für einen Unterschied macht es? Körper, Energie, Gespenst … wichtig ist
nur, daß er uns bedroht.« »Warum tut er das?« »Du hast ihn gehört. Er will sich für den Verrat rächen, den wir an ihm begangen ha ben.« »Das muß eine Art Erbsünde sein, mit der ich geboren bin«, spottete der Arkonide vol ler Grimm. »Bewußt jedenfalls habe ich an Phynx keinen Verrat begangen.« Razamon schüttelte den Kopf. »Nicht du!« sagte er schließlich. »Wir!« »Wer ist wir?« Da verlor der Pthorer die Beherrschung. »Weiß ich es?« schrie er. »Wir – meine Vorfahren – irgend jemand! Du hast von den Berserkern gehört! Von der Familie Knyr! Traust du den Knyrs nicht zu, daß sie einen Verrat an einem Zyklopen begehen?« Da wurde Atlan klar, daß er den Gefähr ten überforderte. Seine Erinnerung, soweit sie die Vergangenheit in Pthor betraf, war ausgelöscht. Nur hier und da waren noch ein paar Spuren vorhanden, undeutlich zumeist, die Razamon mehr irritierten, als daß sie ihm behilflich waren. Die Versuchung war groß, ihm eine Menge Fragen zu stellen, wann immer er auf eine solche Spur in sei nem Gedächtnis traf. Man mußte dieser Ver suchung widerstehen. Es machte den Pthorer zornig, wenn er merkte, daß jemand ihn aus zuquetschen versuchte. »Also schön«, versuchte Atlan, den Er regten zu beruhigen: »Phynx ist hinter uns her – hinter dir, weil einer deiner Vorfahren ihm Übles angetan hat, und hinter mir, weil ich mich in deiner Gesellschaft befinde. Phynx ist offenbar kein körperbehaftetes Wesen. Er besteht aus Energie, und wenn mich nicht alles täuscht, ist diese Energie den Schwerkraftfallen verwandt. Was Fenrir geschehen ist, läßt vermuten, daß Phynx die Energie, aus der er besteht, als Waffe einset zen kann. Wir dagegen haben weiter nichts als unsere Harpunen, die Pektos. Welchen Schluß ziehen wir aus dieser Überlegung? Kehren wir um? Reißen wir vor Phynx aus, bevor er uns umbringt? Oder steht uns eine Alternative zur Verfügung? Können wir mit
Das Geheimnis der Eiszitadelle ihm verhandeln? Gibt es irgendeinen Weg, ihm klarzumachen, daß nicht wir es sind, die ihn verraten haben? Was schlägst du vor?« Razamon hielt sich den Schädel mit bei den Händen. Er preßte die Handballen gegen die Schläfen, als wolle er durch den Druck seine Gedanken zur Ordnung zwingen. »Wir laufen nicht davon!« erklärte er schließlich. »Wir sind hierher gekommen, um das Geheimnis der Eiszitadelle zu erfor schen – und genau das werden wir tun. Wir müssen auf der Hut sein. Selbst wenn Phynx mit sich reden läßt, wird es nicht einfach sein, ihn zu überzeugen. Ihm ist Entsetzli ches widerfahren – wahrscheinlich von den Händen meiner Vorfahren. Aber lieber will ich in dieser Finsternis zugrunde gehen, als daß ich vor einem alten Zyklopen ausreiße!« Mittlerweile hatte Fenrir sich von dem Schock erholt. Der mächtige Wolf stand wieder auf den Beinen. Atlan kraulte ihm das Fell und fühlte, daß die Nackenhaare ge sträubt standen. Aus der Kehle des Tieres drang ein verhaltenes Grollen. Fenrir war noch immer kampfeslustig.
* Sie drangen weiter vor. Atlan kam zu dem Schluß, daß sie entwe der die wahre Ausdehnung der Eiszitadelle bei weitem unterschätzt hatten oder durch unerwartete Effekte genarrt wurden. Sie wa ren nun schon seit Stunden unterwegs und hätten das Gebäude, wie sie es sahen, we nigstens schon zweimal durchquert haben müssen – und immer noch gab es keinerlei Anzeichen, daß der ermüdende Marsch in Bälde ans Ziel führen werde. Den Rest an Trockennahrung, den sie in den Lederbeuteln mit sich führten, hatten sie längst verzehrt. An Wasser dagegen war kein Mangel. Sie hatten die Wasserbehälter mit kleingehackten Eisstücken aufgefüllt, als sie merkten, daß es im Innern der Zitadelle allmählich wärmer wurde. Inzwischen war das Eis geschmolzen, waren die Behälter fast voll. Und selbst wenn der große Durst
29 sie überkommen sollte, litten sie dennoch keine Not. Denn es gab Stellen in diesen fin steren Gängen, an denen das Wasser von der Decke troff oder an den Wänden herabrann. Fenrir war nach wie vor der Anführer. Er erkundschaftete die Korridore, die in unre gelmäßigen Abständen vom Hauptgang ab zweigten. Jedesmal, wenn er auf Kundschaft ging, rasteten Atlan und Razamon und war teten, ob der Wolf einen neuen Weg finde. Aber jedesmal kehrte Fenrir zurück und gab durch sein Verhalten zu erkennen, daß er nichts Nennenswertes gefunden habe. Also blieben sie in dem finsteren, aber immerhin bequemen Gang, der sich geradlinig durch die Zitadelle zu ziehen schien – auch wenn Atlan an diese Geradlinigkeit schon längst nicht mehr glaubte. Er machte den Pthorer darauf aufmerk sam, daß sie schon längst die andere Seite des Gebäudes erreicht haben müßten. »Was schließt du daraus?« erkundigte sich Razamon. »Daß wir durch irgend etwas in die Irre geleitet werden«, antwortete Atlan. »Ich nehme an, daß die künstlichen Schwerkraft felder Täuschungen hervorrufen. Sie lassen eine Strecke gerade und eben erscheinen, die in Wirklichkeit gekrümmt ist und eine Nei gung beschreibt.« »Du meinst, wir sind die ganze Zeit über im Kreis herumgegangen?« »So schlimm muß es nicht gewesen sein. Aber ganz geradeaus, wie wir bisher glaub ten, war unser Weg bestimmt nicht.« »Wir sollten einen der Seitengänge unter suchen«, schlug Razamon vor. »Ich bin nicht sicher, daß Fenrir genau weiß, wonach wir suchen.« Atlan war damit einverstanden. Aber als der Wolf die Mündung des nächsten Zweig korridors entdeckte, ließ er sich nicht halten. Er gab ein dumpfes Knurren von sich und stob davon, daß die trommelnden Geräusche seiner Läufe durch die Finsternis hallten. Kurze Zeit später war aus der Tiefe des Zweiggangs ein helleres Kläffen zu hören. Es klang wie eine Aufforderung.
30 »Wahrscheinlich hat er mich verstanden«, brummte Razamon. »Er legt Wert darauf, selbst derjenige zu sein, der den neuen Weg entdeckt.« Sie drangen in den Korridor ein. Er war wesentlich schmaler als der, in dem sie sich bisher befunden hatten. Nach wenigen Schritten begann er, sich seitwärts zu krüm men. Außerdem bemerkte Atlan, daß der Boden anstieg. Plötzlich blieb er stehen. Hinter der Krümmung des Ganges war ein Licht er schienen. Es schien ziemlich nahe zu sein, denn es verbreitete genug Helligkeit, so daß man die Umrisse des Korridors erkennen konnte und das Geglitzer der Stellen, an de nen Feuchtigkeit durch das Mauerwerk sickerte. Fenrirs Silhouette zeichnete sich deutlich gegen die Lichtquelle ab. Atlan tätschelte den Wolf. »Brav, Grauer!« sagte er. »Ich wußte doch, daß du den richtigen Weg finden wür dest.« Fenrir antwortete mit einem halblauten, hellen Knurren, von dem man inzwischen wußte, daß es ein Ausdruck des Wohlgefal lens war. Als Atlan und Razamon sich wie der in Bewegung setzten, übernahm der Wolf, wie gewohnt, die Spitze. Aber er hielt sich jetzt dichter bei seinen beiden Beglei tern, als traue er dem fremden Licht nicht über den Weg. Atlan spähte voraus. Er glaubte, in der Umgebung der Lichtquelle schemenhafte Bewegungen wahrzunehmen. In den vergan genen Tagen hatte er gelernt, Fenrirs In stinkt als einen fast untrüglichen Indikator anzuerkennen. Er griff nach der Pekto, die er unter dem Pelzgewand trug. Aber bevor er die Waffe noch schußbereit machen konnte, ereignete sich das Unglück. Aus dem Licht heraus schoß ein greller Blitz. Der Arkonide duckte sich unwillkür lich. Die Entladung fuhr wenige Schritte vor ihm in die Felswand des Ganges. Fenrir stieß ein drohendes Geheul aus und machte einen mächtigen Satz vorwärts. Atlan spürte, wie der Boden wankte. In den Wänden und
Kurt Mahr in der Decke war ein verräterisches Kni stern. »Die Wand reißt auf!« schrie Razamon. Atlan warf sich nach vorne. Aber die Be wegung kam zu spät. Der Fels ringsum be fand sich in Auflösung. Der Korridor stürzte ein. Felsbrocken lösten sich aus Decke und Wänden und stürzten herab. Atlan blieb ste hen, die Arme über den Kopf gehoben, um sich gegen den Aufprall der Steinbrocken zu schützen. Die Gesteinsmassen zwangen ihn schließ lich zu Boden. Aber er hielt so lange stand, daß rings um ihn ein Hohlraum blieb, in dem er sich bewegen konnte. Der Schutt kam zur Ruhe. Die Felsstücke hatten sich in einander verkeilt. Der Arkonide tastete seine Umgebung ab. Er stellte fest, daß er sich in einem kreisförmigen Hohlraum befand, des sen Durchmesser kaum zwei Meter betrug. Wenn Atlan sich aufrichtete, dann stieß er mit dem Kopf gegen die Trümmer, die sich über ihm aufgetürmt hatten. Er empfand es als eine Fügung des Schicksals, daß der Einbruch an einer feuch ten Stelle des Ganges erfolgt war. Sonst wä re er am Staub erstickt. Er wandte sich nach rückwärts – dorthin, wo er Razamon irgendwo unter den Trümmern vermutete. Er pack te eines der Trümmerstücke und wollte es bewegen – wohl wissend, daß diese Bewe gung womöglich das ganze Gefüge, das ihn umgab, zum Einsturz bringen konnte. Da hörte er eine Stimme – eine Stimme so mächtig, wie sie in den finsteren Tiefen der Eiszitadelle nur einer besaß: Phynx, der letz te Zyklop. »Ich habe dich!« dröhnte die Stimme. »Verdammter Knyr – fahr zu Hölle!«
* Atlan ließ eine Minute verstreichen. Phynx meldete sich nicht mehr. Er schien mit seiner Arbeit zufrieden. Es gab keinen Zweifel, daß er selbst es war, der das Licht im Hintergrund des Ganges entzündet hatte, um die Eindringlinge in diese Richtung zu
Das Geheimnis der Eiszitadelle lenken. Und es war auch er selbst gewesen, der in Gestalt eines Blitzes die Felswand ge troffen und zum Einsturz gebracht hatte. »Razamon!« rief der Arkonide halblaut. Er erhielt keine Antwort. Daraufhin ver suchte er aufs neue, den Trümmerwall, der ihn umgab, zu lockern und einen Tunnel bis zu dem Ort vorzutreiben, an dem er den Pthorer vermutete. Kaum hatte er jedoch den ersten Stein bewegt, da lösten sich mehrere Felsstücke und stürzten polternd herab. Es knisterte bedrohlich überall in der labilen Struktur. Da gab Atlan vorerst auf. Er hockte sich auf den Boden und fühlte plötzlich, wie die Müdigkeit sich durch den ganzen Körper ausbreitete. Er versuchte, sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal geschlafen hatte. Aber das Nachdenken fiel ihm schwer. Die Gedanken verwirrten sich. Die Sorge um den Gefährten wollte den Schlaf vertreiben. Aber die Müdigkeit erwies sich schließlich als stärker. Der Arkonide sank zur Seite, und noch bevor seine Schulter den Stein berühr te, war er eingeschlafen. Er erwachte von einem Geräusch. Unbe dacht fuhr er in die Höhe und stieß sich den Schädel an der niedrigen Decke seiner Zelle. Der Schmerz verscheuchte den letzten Rest Benommenheit. Atlan hörte ein hechelndes Winseln und zur gleichen Zeit ein Kratzen und Scharren. »Fenrir!« rief der Arkonide. Das Winseln erstarb. Ein helles Knurren wurde statt dessen hörbar. Und das Kratzen und Scharren setzte mit vermehrter Kraft ein. »Vorsicht, Grauer!« rief Atlan. »Das Ge wölbe stürzt sonst ein!« Er erkannte an den Geräuschen, daß der Wolf ihm nahe war – zwei, höchstens drei Meter. Er stellte sich breitbeinig hin und hob die Arme schützend über den Kopf, wie er es zuvor getan hatte. Fenrir aber vertraute seinem Instinkt, der ihm genau sagte, welche Steine er berühren durfte und welche nicht. Er entfernte ein Trümmerstück nach dem an dern, ohne daß das Gefüge rings um den Ar
31 koniden in Bewegung geriet. Plötzlich aber hielt er inne und stieß ein warnendes Geheul aus. Das bedeutete: »Ich bin dir ganz nahe! Der Fels gerät in Bewegung, wenn ich weitermache.« Der Arkonide verstand. Er spreizte die Beine weiter, um seinen Stand zu festigen, und reckte den Schädel nach vorne. Die Hände hatte er über dem Nacken gefaltet. Er rief: »Nur zu, Grauer!« Da begann das Kratzen von neuem. Aus der niedrigen Decke der Zelle lösten sich einzelne Trümmerbrocken und stürzten her ab. Sie trafen Atlan auf den Armen und am Körper. Schließlich stürzte das ganze Gefü ge ein. Atlan hörte den Wolf ein wütendes Geheul ausstoßen, als er selbst von einem herabfallenden Felsstück getroffen wurde. Als der Lärm endlich verebbte, stand der Arkonide fast bis zu den Hüften im Schutt. Unmittelbar vor sich hörte er das Hecheln des Wolfes. Er griff nach dem Tier, um es zu streicheln. Aber Fenrir duckte sich unter der liebkosenden Hand hindurch und nahm die Trümmerfläche in Angriff, die ein paar Schritte weiter noch immer bis zur Decke des Ganges hinaufreichte und unter der ir gendwo Razamon, der Pthorer, begraben lie gen mußte. »Recht hast du, mein Grauer!« murmelte der Arkonide. »Es gibt Wichtigeres zu tun. Der Himmel mag wissen, wie lange ich da gelegen habe. Währenddessen könnte es Razamon längst an den Kragen gegangen sein. Wie werde ich …« Er wurde unterbrochen. Eine Stimme drang aus der Dunkelheit und sprach: »Es ist ihm nicht an den Kragen gegan gen. Er lebt noch. Allerdings ist er bewußt los. Und – noch etwas!« Atlan war so verwirrt, daß ihm gar nicht in den Sinn kam, eine andere Frage zu stel len als diese: »Was noch?« »Ihr könnt ihn nicht befreien! So wie er liegt, liegt er gut. Aber wenn ihr euch einen Weg zu ihm bahnt, müßt ihr ein paar Fels
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stücke entfernen, auf denen ein großer Fels block ruht. Dieser würde auf euren Freund stürzen und ihn erdrücken.« Verblüfft starrte der Arkonide in die Dun kelheit. Er war nicht sicher, aus welcher Richtung die Stimme kam. Und es verwirrte ihn, daß Fenrir keinerlei Laut gab – so, als wäre da gar niemand. »Woher weißt du das alles?« fragte er. »Und überhaupt – wer bist du eigentlich?«
* »Ich bin Einbein, der Diener des For schers«, antwortete die Stimme. Und als Atlan weiter fragte, erzählte er dem Arkoniden seine Geschichte – genauso, wie er sie Koy erzählt hatte. Nur daß Atlan zwischendurch ein paar Fragen stellte, die dem Roboter bewiesen, daß er hier einen Mann vor sich hatte, der eine Menge von wissenschaftlichen Dingen verstand. Am Ende glaubte Atlan, das unglaubliche Schicksal Einbeins einigermaßen begriffen zu haben. Das Zusammenwirken von künst lichem Schwerefeld und jener Energiehülle, die Einbein den Velst-Schleier nannte, hatte alle nichtorganische Materie aufgelöst. Auch die Hülle des Roboters war zu Nichts ge worden. Seine elektronische Intelligenz je doch stellte einen organischgeordneten Zu stand dar, an dem sich die Wechselwirkung zwischen Gravitations- und Velst-Feld sich zu vergreifen nicht getraute. Einbeins Intelli genz blieb unangetastet. Aus dem substanz behafteten Roboter wurde ein substanzloses Energiewesen, ein Kraftknäuel, das nur aus elektronischer Intelligenz bestand – wenn es in der Tat Elektronik war, was die geheim nisvollen Wesen von Grulpfer in ihren Ro botern installierten. »Ich sehe, daß du ein Mann von umfang reichem Wissen und tiefer Einsicht bist«, er klärte Einbein, als seit dem Ende seines Be richts fast eine Minute verstrichen war, ohne daß jemand ein Wort gesagt hatte. »Als sol chem kann ich dir eine Art Handel anbieten, der dir, mir und einem dritten Wesen zum
Vorteil gereichen wird.« Atlan war überrascht. »Wer ist das dritte Wesen? Etwa der For scher, von dem du sprachst?« »Nein, keineswegs. Ich glaube nicht, daß dem Forscher noch geholfen werden kann. Es handelt sich um einen Eingeborenen. Er nennt sich Koy der Trommler.« Atlan horchte auf. Er war Koy nie begeg net. Aber auf der weiten Reise durch Pthor hatte er von ihm gehört. Er war ihm als ein geheimnisvolles Wesen beschrieben worden, das übernatürliche Kräfte besaß. Die, von denen er derartige Geschichten gehört hatte, waren in ihren Darstellungen nicht beson ders spezifisch gewesen. Jeder hatte seine eigene Vorstellung von der äußeren Erschei nung des Trommlers, und bezüglich der Wirkung der übernatürlichen Kräfte gingen die Schilderungen noch viel weiter ausein ander. Nur in dem einem waren sich alle Be richterstatter einig gewesen: Koy trug ein paar Hörner, die ihm aus der Stirn wuchsen. »Also gut«, sagte der Arkonide. »Welchen Vorteil versprichst du mir?« »Dein Freund wird befreit werden.« »Von dir?« »Nein, von Koy.« »Was verlangt Koy dafür?« »Im Augenblick noch gar nichts, denn er weiß nichts von meinem Vorschlag. Er wird ihn aber sicher gerne annehmen, wenn ihr ihn dafür in eure Gruppe aufnehmt. Er macht den Eindruck eines Wesens, das zeit seines Lebens einsam gewesen ist und die Einsamkeit satt hat. Er irrt durch die Tiefen dieses Gebäudes, weil er die Häscher auf seinen Spuren weiß. Irgendwann einmal wird er wieder hinaus müssen – und dann werden sie ihn fassen, es sei denn, er hat Ge fährten, die sich seiner annehmen.« »Akzeptiert«, erklärte Atlan. »Und was beanspruchst du für deine Vermittlertätig keit?« »Weiter nichts als die Genugtuung, daß Phynx ein Strich durch die Rechnung ge macht worden ist.«
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Phynx?« wiederholte der Arkonide über rascht. »Es war sein Tun, das deinen Freund un ter den Trümmern begrub!« sagte Einbein. »Ja, ich weiß schon. Ist er dein Feind?« »Er hat eine gewisse Überheblichkeit an sich, die mir nicht behagt«, antwortete der Roboter. Atlan bedachte, was er gehört hatte. Dort irgendwo in der Dunkelheit schwebte ein Energiebündel elektronischer Intelligenz. Es gab sich menschlich, es beherrschte die Sprache des Landes. Aber es war nichtsde stoweniger die Intelligenz eines Roboters. Ein Roboter sollte sich an der Überheblich keit eines Zyklopen stoßen? Einbeins Erläuterung war nicht gerade glaubwürdig. Trotzdem sah der Arkonide keinen Grund, warum er sich nicht auf den Handel einlassen sollte. Immerhin ging es um Razamon. Er lag seit Stunden unter den Felstrümmern begraben. Er mußte befreit werden. »Wie rasch kann Koy hier sein?« fragte der Arkonide. »Etwa in der Zeit, die ihr eine Stunde nennt«, lautete Einbeins Antwort. »Ich weiß, wo ich ihn zurückgelassen habe. Aber wenn er sich von dort bewegt hat, muß ich ihn erst suchen.« »Such ihn!« trug Atlan dem Roboter auf. »Ich warte hier auf dich!« »Ich bin unterwegs!« rief Einbein.
10. Phynx, der Leuchtende, hatte sich schließ lich entfernt. Koy rief nach Einbein, aber der Roboter meldete sich nicht. Da beschlichen Koy zum erstenmal Zweifel, ob er richtig daran getan habe, sich in der Eiszitadelle zu verstecken. Zwar befand er sich hier in Si cherheit, und es war auch wärmer als drau ßen in der Eiswüste. Aber es gab hier keine Nahrung – und selbst wenn es welche gege ben hätte, wäre sie ihm in der Finsternis ver borgen geblieben. Er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Er hatte erwartet, die alte
33 Zyklopenburg leer zu finden. Einsamkeit machte ihm nichts aus – ganz im Gegensatz zu dem, was Einbein an anderem Ort über ihn gesagt hatte. Aber mit Gespenstern wollte er nichts zu tun haben. Mit Einbein hätte er sich zur Not noch abfinden können. Aber Phynx war ihm unheimlich. Und die Götter mochten wissen, wie viele Gespenster dieser Art es sonst noch in dieser alten Zitadelle gab. Koy der Trommler kauerte auf dem Bo den und überlegte, welchen Schritt er als nächsten tun solle. Die Haltung der Herren der FESTUNG schätzte er so ein: Sie wür den nach ihm suchen, um ihn für seine Un botmäßigkeit zu bestrafen. Irgendwann wür den die Fährtensucher den verlassenen Zugor finden und daraus schließen, daß Koy sich in der Zitadelle versteckt hielt. Falls er sich dann wirklich noch in der Zitadelle be fand, würde man ihn ergreifen. War er aber nicht mehr dort, dann würde die Suche eine Zeitlang weitergehen, bis den Herren der FESTUNG die Sache nicht mehr lohnens wert erschien. Sucher wie den Trommler gab es nur selten – aber auch wieder nicht so selten, daß für Koy nicht innerhalb eines Sommers ein Ersatz gefunden werden könn te. Einen Sommer lang also würde Koy sich in acht nehmen müssen. Wenn es ihm in die ser Zeit gelang, nach Süden vorzudringen – bis Orxeya, oder besser noch bis zu den Vorbergen der Großen Barriere von Oth, dann war er in Sicherheit. Die Frage war, ob er den Zeitpunkt nicht schon versäumt hatte, zu dem er die Zitadel le hätte verlassen können, ohne den Hä schern in die Arme zu laufen. Unter norma len Umständen hätten die Fährtensucher der Herren der FESTUNG den Zugor schon längst entdeckt. Aber die Umstände waren nicht normal. Das Fahrzeug lag mitten im Eis, und Koy wußte, daß die Häscher sich vor der Eiswüste fürchteten und sich nur dann hineinwagten, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Es mochte also so sein, daß der Zugor noch nicht gefunden worden war. Wenn er diesen Vorteil ausnützen wollte,
34 dann mußte er sich sofort auf die Beine ma chen. Er hatte vor, sich zunächst nach Süd westen zu wenden und auf dem schnellsten Weg an den Rand der Wüste Fylln zu gelan gen. Er wäre lieber nach Moondrag gegan gen. Aber er fürchtete, daß er in der Eises kälte binnen kurzer Zeit den Tod finden würde. Er stand auf. Es deuchte ihn nicht schwer, den Weg zu finden, den er gekommen war. Er setzte sich in Bewegung und hatte eben die ersten fünf Schritte getan, da hörte er hinter sich eine Stimme: »Wohin gehst du, mein Freund?« Koy er kannte Einbein, den Roboter. »Zurück dorthin, wo ich hergekommen bin«, antwortete der Trommler. »Hinaus ins Eis?« »Ja.« Da sprach Einbein verächtlich: »Du bist ein Feigling, Koy!« Der Trommler aber sagte müde: »Mir ist gleichgültig, wofür du mich hältst. Ein jeder sorgt sich um das eigene Leben – du dich um das deine, ich mich um das meine.« »Du fürchtest dich vor Phynx!« »Nicht mehr als du auch«, bemerkte Koy spöttisch. »Ich weiß, wie wir ihn besiegen können!« rief der Roboter. »Ihn besiegen und diese Burg in den sichersten und behaglichsten Ort auf ganz Pthor verwandeln!« »Du phantasierst!« hielt der Trommler ihm vor. »Nein. Ich habe mächtige Freunde gefun den! Fremde! Sie befinden sich erst seit kur zem in der Zitadelle.« Koy horchte auf. Phynx hatte von einem Taamberg-Krieger gesprochen, den er vor kurzem zu Gesicht bekommen hatte. Gehör te er zu den Fremden? Waren das die Frem den, die zu finden die Herren der FESTUNG ihn ausgesandt hatten? »Was haben die Fremden mit Phynx zu tun?« fragte er vorsichtig. »Warum sollten sie uns gegen den Zyklopen beistehen?« »Weil er ihr Feind ist! Er hat sie angegrif fen! Einer von ihnen liegt unter einer Masse
Kurt Mahr Fels begraben. Wenn du ihn befreist, wird er dir dankbar sein!« Da lachte der Trommler und rief: »So mächtig sind also deine Freunde, daß ich einen von ihnen erst befreien muß, bevor er mir gegen Phynx beisteht!« »Spotte nicht!« warnte der Roboter. »Die beiden Fremden und das Tier, das bei ihnen ist, sind mächtig über alle Maßstäbe hinaus. Aber gegen Tonnen von Schutt, unter denen er begraben liegt, ist selbst der Mächtigste hilflos.« »Nur ich nicht«, fuhr der Trommler fort zu spotten. Einbein schmollte. »Ich sehe, daß du eben doch nur ein ganz gewöhnlicher Feigling bist«, sagte er. »Nun denn …« »Warte!« rief Koy. »Wo sind die Frem den?« Er glaubte nicht an die Geschichte des Roboters. Was Einbein erzählt hatte, klang wenig überzeugend. Koy spürte, daß der Ro boter bei dieser Sache in erster Linie sein ei genes Interesse im Auge hatte. Es war etwas Unlauteres in seinem Gehabe. Trotzdem war der Trommler bereit, auf den Vorschlag des Roboters einzugehen. »Ah – du hast es dir überlegt!« bemerkte Einbein anzüglich. »Wer wird sich die Möglichkeit entgehen lassen, die Eiszitadelle in den sichersten und behaglichsten Ort in ganz Pthor zu verwan deln?« antwortete Koy großmütig. »Also sag mir schon, wo ich die Fremden finde!« »Sagen nützt nichts«, erklärte Einbein. »Ich werde dich führen, bis du den Weg er reicht hast, auf dem du die Mächtigen nicht verfehlen kannst.« »Warum nicht weiter?« fragte Koy miß trauisch. »Wenn wir Phynx besiegen wollen, gilt es, Vorbereitungen zu treffen«, lautete die Antwort. Koy aber glaubte, daß Einbein etwas ganz anderes im Sinn hatte.
*
Das Geheimnis der Eiszitadelle In der Tat verlor Einbein keine Zeit. Nachdem er den Trommler auf den richti gen Pfad gebracht hatte, fuhr er durch die Hallen und Gänge der alten Festung und schrie: »Phynx, du stinkender Zyklop! Wo hältst du dich versteckt?« Daß die Zyklopen wegen ihrer unange nehmen Körperausdünstung »die Stinken den« genannt worden waren, hatte er erfah ren, als er kurz nach der Landung auf dem Antimateriebrocken das Land zu durchstrei fen begann. Ebenso wußte er, daß ein Zy klop es als die schlimmste Beleidigung be trachtete, so genannt zu werden. Einbeins Taktik hatte Erfolg. Gerade war er durch eine meterdicke Wand hindurchge fahren, die zwei Korridore voneinander trennte, da gewahrte er vor sich eine Kugel aus grellem Licht. Sie schwebte mehrere Handbreit über dem Boden, und eine dröh nende Stimme brach aus ihr hervor: »Hier hast du mich, du lächerliche Krea tur aus einer Welt, von der niemand je ge hört hat! Es scheint dich nach Schmerz zu gelüsten, sonst hättest du nicht so laut ge plärrt!« Einbein, das Bewußtsein eines Roboters, kannte keine Emotionen – auch die Furcht nicht. Aus Erfahrung wußte er aber, daß Phynx elektrische Entladungen erzeugen konnte, die das Gedankengefüge eines elek tronischen Verstandes in Verwirrung brach ten. Begegnungen, bei denen Einbein von solchen Entladungen getroffen worden war, hatten den Roboter davon überzeugt, daß es vorteilhaft sei, dem Zyklopen aus dem Weg zu gehen. Denn er war darauf programmiert, eine Gefährdung seines elektrischen Denk prozesses unter allen Umständen zu vermei den. Was er damals empfunden hatte, als Phynx' Entladungen ihn trafen, konnte recht gut als Schmerz bezeichnet werden, und sein Bemühen, dem leuchtenden Zyklopen aus zuweichen, wo immer er nur konnte, war ganz eindeutig das Äquivalent menschlicher Angst. »Warte!« gebot er dem leuchtenden Ge
35 schöpf. »Ich habe nach dir gesucht, weil ich dir einen Vorschlag machen will – einen Vorschlag, der uns beiden zum Nutzen ge reicht. Die Zeit drängt. Deshalb rief ich dich bei allen Namen, die ich kenne – um dich aus deinem Versteck hervorzulocken!« »Pah!« rief Phynx mit einer Stimme, die so laut war, daß der Fels zitterte. »Ich ver stecke mich nicht. Aber es gibt Geschöpfe, die mir so widerwärtig sind, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben möchte. Was also ist dein Vorschlag?« Als Einbein zu sprechen begann, tat er es mit Bedacht. »Für einen von deiner Art ist es kein an genehmes Gefühl, ein Energieball zu sein, nicht wahr? Du vermißt deinen Körper – oder ist es nicht so?« »Was geht das dich an?« grollte Phynx. »Ich will dir einen Körper verschaffen!« sagte Einbein. »Du? Mir einen Körper?« rief der Zyklop überrascht. »Wie wolltest du das anfangen?« »Es gibt einen Körper in dieser Festung, der nicht gebraucht wird«, erklärte Einbein. »Du meinst den Forscher?« »Ja.« »Ist er nicht dein Herr?« »Er war mein Herr! Einer, der nur da liegt und sich nicht bewegt, braucht keinen Kör per. Ich biete ihn dir an.« Phynx war sichtlich verwirrt. Bunte Fäden tanzten im Innern des leuchtenden Energie balls auf und ab. »Wie gelange ich in den Besitz des Kör pers, wo er doch von einem energetischen Schleier umgeben ist?« fragte der Zyklop. »Das will ich dir gerne erklären«, antwor tete Einbein. »Ich hoffe nur, daß du es ver stehst!« »Halt!« rief Phynx. »Bevor du mir etwas erzählst, wovon ich vielleicht nur die Hälfte verstehe, sage mir etwas anderes!« »Was?« »Warum willst du mir einen Körper ver schaffen? Hast du mich nicht für deinen ärg sten Feind gehalten?« Einbein, der wohl merkte, daß seine Wor
36 te auf fruchtbaren Boden gefallen waren, er klärte: »Ich bin ein Roboter. Wie oft habe ich dir das schon gesagt! Roboter empfinden keine Furcht, keinen Haß, keinen Schmerz. Ich bin aufgrund logischer Überlegungen zu dem Schluß gekommen, daß es für uns beide bes ser ist, wenn wir zusammenarbeiten.« »Warum?« »Lange Zeit – wie ihr sagt – war es ruhig. Jetzt jedoch geraten die Dinge in Bewegung. Fremde dringen in die Zitadelle ein. Wenn wir uns nicht in acht nehmen, wird die Burg bald nicht mehr uns gehören. Wir müssen uns zur Wehr setzen. Allein kann keiner von uns die Gefahr bannen. Aber wenn wir uns zusammentun, sind wir stark. Ich weiß, daß diese Burg die Wohnung deiner Vorfahren ist. Sie gehört dir. Wenn wir siegen, sollst du der Herr sein und ich der Diener. Meine Morgengabe an dich, meinen Herrn, ist ein Körper, in dem du dich wohl fühlen kannst. Verstehst du nun, was ich meine?« Solchen Schmeicheleien war Phynx' Ver stand nicht gewachsen. Zu lange hatte er sich danach gesehnt, als Herr und Herrscher betrachtet zu werden. Zu lange hatte er mit seinem Schicksal gehadert, das ihn körperlos in die finsteren Tiefen der Festung verbannt hatte, ohne ihm Gefährten zu geben, die sich seinem Willen beugten und ihn als ihren Herrn anerkannten. Einbeins Worte waren wie Öl auf eine brennende Wunde, wie fri sches Wasser auf eine dürstende Zunge. »Bei allen Göttern – du sprichst vernünf tig!« rief Phynx mit dröhnender Stimme. »Dein Plan gefällt mir. Wir wollen zusam menarbeiten, bis wir alle Fremden aus der Festung entfernt haben! Ich will der Herr sein, und du bist der Knecht. Eines aber ver spreche ich dir: Ich will dir ein gerechter Herr sein, und du sollst es gut bei mir ha ben!« Er machte eine kurze Pause. Dann begann er von neuem. »Und nun sage mir, was ich zu tun habe!« »Es ist ganz einfach«, antwortete der Ro boter. »Du kennst die Eindringlinge. Zwei
Kurt Mahr von ihnen kommen von Westen her und ha ben ein mächtiges Tier bei sich …« »Ich kenne sie!« unterbrach ihn Phynx grollend. »Einer von ihnen ist ein Mann vom Taamberg, ein verdammter Knyr!« »Und von Südosten her kommt ein ande rer«, fuhr Einbein ungerührt fort. »Du bist auch ihm begegnet. Er trägt Hörner auf dem Schädel!« »Ich kenne ihn«, bestätigte der Zyklop. »Ich werde dafür sorgen, daß sie sich mit einander vereinigen«, erklärte der Roboter. »Sie vertrauen mir. Ich werde sie in die Richtung des großen Saales leiten, in dem der Forscher aufgebahrt liegt. Dort gibt es mächtige Schwerefelder und den VelstSchleier. Wenn wir es dahin bringen, daß die Schwerefelder mit dem Schleier in Wechselwirkung treten, dann wird eine Si tuation entstehen, in der du in den Körper des Forschers eindringen und ihn in Besitz nehmen kannst. Dazu ist folgendes vonnöten …« Im Tonfall eines Verschwörers teilte Ein bein dem Zyklopen mit, was er zu tun hatte, um den Körper des fremden Forschers zu gewinnen.
11. »Du bist also einer der Mächtigen«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit. Atlan hatte die Schritte sich nähern hören – Geräusche, wie sie die Füße eines kleinen Geschöpfs machten. Er hatte gefragt: »Wer kommt da? Koy, der Trommler?« »Ja«, hatte die Antwort gelautet. Das Geräusch der Schritte war näher ge kommen und schließlich verstummt. Der Trommler kam aus der Richtung, in der das Licht geschienen hatte, bevor der Gang ein gestürzt war. Und dann machte er diese Bemerkung: »Du bist also einer der Mächtigen!« »Wer hat mich mächtig genannt«, wollte der Arkonide wissen. »Einbein.« »Er kennt mich nicht«, antwortete Atlan
Das Geheimnis der Eiszitadelle amüsiert. »Das wollen wir ihm zugute hal ten.« »Ich dachte mir, daß er nicht ehrlich spricht«, sagte der Trommler. »Du hast einen Gefährten, der sich in Not befindet?« »Das ist richtig. Und du kannst ihn befrei en? Oder hat Einbein da auch übertrieben?« »Wenn er nur unter Schutt begraben liegt, kann ich ihm helfen«, sagte Koy. »Ist es so?« »So ist es. In dieser Hinsicht hat Einbein die Wahrheit gesagt.« »Zeig mir, wo er liegt«, bat Koy. »Strecke die Hand aus – ich werde dich führen!« bot ihm der Arkonide an. Koy gehorchte. Atlan bekam eine kleine Hand zu fassen, deren Haut merkwürdig le drig wirkte. In diesem Augenblick konnte er sich den Trommler deutlich vorstellen, als flösse durch den körperlichen Kontakt ein Bild in sein Bewußtsein. Er sah eine kleine, aber stämmige Gestalt. Er sah ein Gesicht mit vielen Falten und großen, sympathischen Augen. Er sah die Hörner nicht, die dem Trommler aus der Stirn wuchsen. Aber diese waren durch Berichte so sicher verbürgt, daß man sie nicht zu sehen brauchte. Sie waren da, daran gab es keinen Zweifel. Die beiden Männer schritten den Korridor entlang, bis sie an die Stelle kamen, an der der Schutt bis zur Decke hinaufreichte. Koy befreite seine Hand aus dem Griff des Arko niden. Er betastete die Trümmermauer. »Dort liegt er?« fragte er. »Irgendwo un ter dem Gestein«, bestätigte Atlan. »Dann tritt zurück!« forderte ihn der Trommler auf. Fenrir hatte bislang keinen Laut von sich gegeben. Er hockte auf der Seite des Gan ges. Koy war an ihm vorbeigeschritten, ohne seine Anwesenheit zu bemerken. Für den Arkoniden bedeutete dies, daß der Wolf an dem Trommler nichts auszusetzen hatte. Fenrir besaß einen feinen Instinkt. Wer von ihm nicht angeknurrt wurde, war wahr scheinlich vertrauenswürdig. Atlan hörte ein klatschendes Geräusch, das sich in rascher Folge wiederholte und
37 dessen Rhythmus immer schneller wurde. Aus dem Klatschen wurde schließlich ein dumpfes Brummen, dessen Frequenz all mählich unter die Schwelle des Hörbaren abrutschte. Dafür wurde es in der Mauer aus Schutt lebendig. Atlan hörte ein langgezogenes, schrilles Quietschen. Ein paar Felsstücke polterten herab. Eine Serie undefinierbarer Geräusche folgte. Dann wurde es plötzlich still, bis auf ein leises Scharren, das sich am Boden entlang bewegte. »Ich habe ihn«, sagte Koy. »Er lebt, aber er ist nicht bei Bewußtsein.« Atlan trat hinzu. Er bekam den schlaffen Körper des Gefährten zu fassen und zog ihn vollends aus dem Tunnel heraus, den Koy der Trommler durch den Schutt gebohrt hat te. »Wie hast du das gemacht?« fragte der Arkonide. »Mit den Broins«, antwortete Koy, als sei es die einfachste Sache der Welt. »Sind das die Dinge, die du auf dem Schädel trägst?« wollte Atlan wissen. »Ja, das sind sie«, sagte Koy. Und dann fügte er in belustigtem Tonfall hinzu: »Ich nehme an, wenn wir weiter zusammenarbei ten, werden wir uns irgendwann einmal in hellem Tageslicht sehen. Dann ist es einfa cher, miteinander zurechtzukommen. Man sagte mir, du sehest wie einer der Göttersöh ne aus. Ist das wahr?« Atlan antwortete nicht sofort. Er wußte nicht viel über den Trommler. Es war wich tig, daß er keine unbedachte Äußerung tat. »Wie sehen die Göttersöhne aus?« fragte er schließlich. »Sag es mir!« »Sie sind hochgewachsen«, antwortete Koy. »Ihre Haut ist hell, sie haben eine hohe Stirn, und ihr Haar ist von silberner Farbe.« »Dann könnte ich einer von ihnen sein«, antwortete Atlan. »Ich könnte, wohlgemerkt. Aber ich bin es nicht.« »Woher weißt du das?« fragte Koy voller Erregung. »Ich kenne meinen Vater«, antwortete der
38 Arkonide. »Er war kein Gott.« In diesem Augenblick war ein halblautes Stöhnen zu hören. Es kam von dorther, wo Razamon lag. Atlan beugte sich zu dem Ge fährten hinab. »Bist du verletzt?« fragte er. Der Pthorer war eben erst wieder zu Be wußtsein gekommen. »Wo … bin ich?« stieß er hervor. »Phynx hat uns angegriffen«, antwortete Atlan. »Er wollte den verdammten Knyr er wischen.« »Hat er das gesagt?« »Woher sollte ich es sonst wissen!« Raza mon stemmte sich auf den Ellbogen in die Höhe. »Ich wußte es!« knurrte er. »Er hat mich erkannt. Als ich geboren wurde, war er schon seit vielen Generationen verschwun den. Aber er kennt die Knyrs. Er weiß, daß sie es waren, die damals den Befehl der Her ren der FESTUNG vollzogen.« Atlan kauerte neben ihm. Er spürte, wie der Pthorer den Kopf wandte. »Und was wird jetzt?« fragte Razamon. »Die Lage hat sich ein wenig geändert«, antwortete der Arkonide. »Es scheint, wir haben ein paar Verbündete gefunden.« Er berichtete Razamon von Einbein und dem Trommler. Sofort fragte der Pthorer: »Was verlangt Koy für seine Hilfe?« Der Trommler hatte die Frage gehört. Er trat herbei. »Muß man immer etwas verlangen?« sag te er. »Ich hörte durch Einbein von deiner Not und kam, um dir zu helfen. Es freut mich, daß mir das gelungen ist. Ich begehre keinen Lohn.« Da wandte sich Atlan in die Richtung, aus der die Stimme des Trommlers erklang. »Einbein sprach davon, daß du dich ein sam fühlst und dankbar dafür wärest, wenn du Gefährten erhieltest.« Koy antwortete nicht sofort. »Einsam?« fragte er dann. »Ich mich ein sam fühlen? Ich bin von allem Anfang an einsam gewesen. Die Einsamkeit macht mir nichts aus. Wenn ihr meine Gefährten sein
Kurt Mahr wollt, so bin ich froh darum. Aber wenn ihr meint, ich hätte für meine Hilfe eine solche Bedingung gestellt, so irrt ihr euch.« Atlan erinnerte sich, daß Einbein in der Tat nicht von bestimmten Voraussetzungen gesprochen hatte, unter denen der Trommler bereit wäre, Razamon zu Hilfe zu kommen. Was er jetzt hörte, widersprach den Aussa gen des Roboters also nicht. Und dennoch wuchs das Mißtrauen des Arkoniden. Er war jetzt fast sicher, daß man Einbein nicht über den Weg trauen dürfe. Als sei sein Gedanke ein Stichwort gewe sen, meldete sich in diesem Augenblick die Stimme des Roboters. »Ich sehe, ihr habt einander gefunden, und alles ist gut vonstatten gegangen. Seid ihr bereit, den Weg weiter zu verfolgen?« »Welchen Weg?« fragte Atlan. »Den Weg zum Mittelpunkt der Burg! Seid ihr nicht gekommen, um den Forscher zu schauen, der auf dem Felsen aufgebahrt liegt?« »Den wollen wir sehen!« erklärte Atlan. »Wirst du uns führen?« »Ich führe euch!« versicherte Einbein. »Ihr sollt meinen Herrn sehen!«
* Einbein kehrte zunächst zu dem Gang zu rück, von dem Atlan und Razamon abgewi chen waren, als Fenrir das Licht in der Ferne bemerkte. Der Wolf gab sich friedlich. Er störte sich weder an der Anwesenheit des Trommlers, noch an der Stimme Einbeins, die mitunter zu hören war. Auf der anderen Seite aber schien es, als meide Koy die Nähe des Wolfes. Atlan bemerkte es, aber er ver zichtete darauf, den Trommler darauf anzu sprechen. Statt dessen versuchte er, den Ro boter in eine Unterhaltung zu verwickeln. Zunächst war Einbein nur zu gerne bereit, die Fragen des Arkoniden zu beantworten. Er gebärdete sich wie ein menschliches We sen, das Jahrhunderte in der Einsamkeit ver bracht hatte und die erste Gelegenheit be nutzte, sich auszusprechen. Atlan erfuhr eine
Das Geheimnis der Eiszitadelle Menge von Einzelheiten, die ihm halfen, das seltsame Schicksal des Forschers und seines Robotdieners besser zu verstehen. Ab und zu mischte er Fragen nach Phynx in den Fluß der Unterhaltung. Einbein beantwortete auch diese, und aus den Informationen, die Atlan erhielt, ging hervor, daß der Zyklop auf ähnliche Weise vor dem Tod bewahrt worden war wie Einbein. Aus beiden Ge schöpfen war ein energetisches Gebilde ge worden. Sie unterschieden sich darin, daß der eine leuchtete und der andere nicht. Ob das daran lag, daß der eine ein organisches Wesen war und der andere ein Roboter – oder daran, daß Phynx, bevor er verwandelt wurde, aus der Materie dieser Welt bestand und Einbein aus der Substanz einer anderen, diese Frage ließ sich ohne weiteres nicht be antworten. Fest stand lediglich, daß Phynx die energetischere der beiden Gestalten war. Er war in der Lage, einen Teil der Energie substanz, aus der er bestand, als Waffe zu benützen. Einbein dagegen besaß diese Fä higkeit nicht. Als Atlan aber begann, spezifischere Fra gen über den letzten Zyklopen zu stellen, da wurde Einbein immer schweigsamer. »Warum antwortest du nicht?« fragte der Arkonide schließlich. »Ich bin ein Fremder in diesem Land«, antwortete der Roboter. »Ich weiß nicht soviel über den letzten Zy klopen, wie du von mir erfahren willst.« Atlan hörte auf, Einbein auszufragen. Sie marschierten weiter – geführt von der Stim me des Roboters Einbein, die jetzt seltener erklang als bisher. Es gab nur einen winzi gen Zwischenfall. Das war, als Koy den Trommler die Ungeduld übermannte und er auf hurtigen Beinen vorwärts huschte, bis er die Spitze des Zuges erreichte, die bisher Fenrir innegehabt hatte. Koy wußte anschei nend nicht, daß der Wolf sich dort befand. Er sprang entsetzt zur Seite, als neben ihm ein zorniges Knurren ertönte. In der Dunkelheit prallte Atlan mit dem Trommler zusammen. »Es ist der Wolf!« stieß Koy hervor. »Er mag mich nicht leiden! Ich wollte nach vor
39 ne, aber er wollte es nicht!« Atlan faßte den kleinen Mann an der Schulter. »Wer von euch den anderen besser leiden kann, das weiß ich nicht«, sagte er. »Aber wir verfolgen alle dieselben Interessen. Also werden wir lernen, miteinander auszukom men.« Koy widersprach nicht. Fortan hielt er sich hinter dem Arkoniden, der gleich als er ster nach dem Wolf an der Spitze der Grup pe ging. Der Marsch zog sich hin. Manch mal ging das Temperament mit dem Trommler durch, und er eilte nach vorne. Aber immer, wenn er in Fenrirs Nähe kam, wandte der Wolf den mächtigen Schädel zur Seite und gab Koy durch ein drohendes Knurren zu verstehen, daß er nicht er wünscht sei. Jedesmal von neuem fuhr der Trommler voller Entsetzen zurück. Er hatte dem Tier von Anfang an mißtraut, und jetzt schien es, als ob der Wolf das Mißtrauen er widere.
* Atlan war sicher, daß der unsichtbare Ro boter bei diesem Unternehmen seine eigenen Interessen verfolgte – und zwar solche, über die er bislang noch nicht gesprochen hatte. Er führte etwas im Schilde. Der Arkonide versuchte vergebens, herauszufinden, was das sein könne. Es ging Einbein nicht wirk lich darum, dem großmäuligen Phynx eine Blamage zu bereiten. Er hatte etwas anderes im Sinn. Atlan nahm sich vor, die Augen je derzeit offen zu halten. Er hielt sich an Razamons Seite und sagte auf Terranisch: »Ich traue dem Roboter nicht!« Der Pthorer antwortete in derselben Spra che: »Ich auch nicht. Aber ich sehe nicht, wie er uns gefährlich werden kann.« »Alleine nicht«, pflichtete ihm der Arko nide bei. »Aber vielleicht hat er Verbünde te.« »Darauf muß man achten! Diese alte Burg
40 ist so leer nicht, wie sie nach außen hin den Anschein erweckt. Die künstlichen Schwe refelder und der Velst-Schirm haben eine Reihe höchst absonderlicher Kreaturen er schaffen. Der Trommler sprach von den Trollen, die der Zyklop erwähnte. Vielleicht sind von ihnen auch noch ein paar übrigge blieben.« Plötzlich erklang ganz in der Nähe Ein beins Stimme. »Ich höre, daß ihr euch einer fremden Sprache bedient«, sagte er. »Welche ist das?« »Es ist die Sprache der Welt Terra, von der wir kommen«, antwortete Atlan so unbe fangen wie möglich. Er wußte wohl, daß der Roboter Mißtrau en geschöpft hatte. Er tat aber so, als sei es das Natürlichste auf der Welt, daß er sich mit Razamon in einer Sprache unterhielt, die zwar sie beide, aber sonst niemand verstand. »Ihr stammt nicht von dieser Welt?« er kundigte sich Einbein. »Nein.« »Wie kann dein Gefährte dann ein Knyr sein?« Die Frage überraschte den Arkoniden. Woher wußte der Robot, daß Razamon aus der Familie der Knyr stammte? Zwar ließ sich die Familienähnlichkeit nicht verleug nen, aber hatte Einbein das Land wirklich so eingehend bereist, daß er sogar wußte, wie die Knyrs aussahen? Viel wahrscheinlicher war, daß er seine Kenntnisse erst vor kurzem erworben hatte – hier, im Innern der Zitadel le. War er in der Nähe gewesen, als Phynx den Gang zum Einsturz brachte? Hatte er den Fluch des Zyklopen gehört? Oder stand er gar mit Phynx auf andere Weise in Ver bindung? Gab es ein Komplott zwischen dem Roboter und dem Zyklopen, das gegen die Eindringlinge gerichtet war? Waren die beiden, die einander angeblich nicht ausste hen konnten, in Wirklichkeit Verbündete? »Razamon ist früher schon einmal in Pthor gewesen«, beantwortete der Arkonide die Frage des Roboters. »Die Ähnlichkeit mit den Knyrs ist zufällig. Aber es scheint
Kurt Mahr eine Reihe von Leuten zu geben, die sich an meinen Gefährten erinnern.« »Das ist interessant«, bekannte Einbein. »Seitdem der Forscher und ich auf dieser Welt gelandet sind, hat Pthor mancherlei Berührung mit anderen Welten gehabt. Kommt ihr von einer solchen?« »Von einer solchen«, bestätigte Atlan. »Sie liegt draußen, jenseits des Wölbman tels. Ein Teil des Meeres, das man vor der Eisküste sieht, gehört zu Terra.« »Wie kommt es dann«, fragte Einbein, »daß die Horden der Nacht nicht ausschwär men, daß die Berserker nicht ausziehen, daß die Welt rings um Pthor nicht von Horror und Entsetzen überzogen wird?« »Weil die Terraner nicht dumm sind«, antwortete der Arkonide. »Sie haben außer halb des Wölbmantels ihr eigenes Energie feld errichtet, das niemand, der von Pthor kommt, durchdringen kann.« »Außer dir!« »Außer mir?« »Du sagtest, du seist von draußen gekom men. Mit deinem Gefährten. Also müßt ihr den Energieschild durchdrungen haben.« »Das ist richtig.« »Und jederzeit, wenn ihr wollt, könnt ihr wieder in eure Welt zurückkehren?« »Das ist leider nicht richtig. Wir sind aus gesperrt.« »Oh!« machte Einbein. Atlan war amüsiert. »Bedrückt dich das?« fragte er. Einbein antwortete nicht. »Heh! Ich habe dir eine Frage gestellt!« rief der Arkonide. Noch immer kam keine Antwort. »Er ist fort!« sagte Razamon auf Terranisch. Atlan nickte. Es war eine nutzlose Geste, weil niemand sie sehen konnte. Einbein war verschwunden. Der Arkonide glaubte zu wissen, warum. Bisher hatte Einbein ge meint, er habe es mit Pthorern zu tun. Sie mochten über ein umfangreiches Wissen verfügen, aber sie waren doch Menschen dieses Landes und als solche verstrickt in die Mischung aus Magie und Aberglauben,
Das Geheimnis der Eiszitadelle die das Denken der Pthorer prägte. Jetzt hat te er erfahren, daß Atlan und Razamon aus einer Welt kamen, die ausreichende Mittel besaß, um die Übergriffe der Pthorer abzu wehren. Er mußte seine Verbündeten be nachrichtigen, daß man es mit Leuten zu tun hatte, die nicht so einfach zu übertölpeln sein würden wie eingeborene Pthorer. Atlan fiel ein paar Schritte zurück, bis Koy der Trommler zu ihm aufschloß. »Wir müssen uns in acht nehmen«, sagte er zu ihm. »Einbein plant Übles!«
12. Kolphyr aber, der Forscher, merkte von all diesen Dingen nichts. Er lag auf dem großen Felsblock, und wenn er etwas von der Zeit verstanden hätte, dann hätte er sagen müssen, sie sei stehenge blieben. Kolphyr jedoch dachte entlang anderer Bahnen. Für ihn hatte es, seit er auf dem An timateriebrocken gelandet war, nur wenige Änderungen des Makrozustandes gegeben. Diese waren auf die Ereignisse unmittelbar nach dem Eingefangenwerden beschränkt. Seit er hier auf dem Felsblock lag, hatte es überhaupt keine Makroänderungen mehr ge geben, höchstens noch die Aufeinanderfolge einiger Mikrozustände, die jedoch so wenig voneinander verschieden waren, daß sie dem Forscher einer wie der andere vorkamen. Seit er damals, ganz zu Anfang, Einbeins Stimme vernommen hatte, war die Hoffnung nicht von ihm gewichen, daß der Roboter, allen Erwartungen zum Trotz, womöglich doch die Auflösung aller anorganischen Ma terie überstanden haben könne und sich bei erster Gelegenheit wieder mit ihm in Ver bindung setzen werde. Kolphyr, der Wissen schaftler, hatte in Gedanken die Lage und die verschiedenen Kräfte analysiert, wie sie damals vorgeherrscht hatten, als der Dimen sionstaucher an den Antimateriebrocken ge fesselt worden war. Unter gewissen Voraus setzungen bestand tatsächlich eine Möglich keit, daß Einbein das Unglück überlebt ha
41 ben könne. In diesem Fall würde er jetzt als körperloses Wesen irgendwo herumgeistern. Die Analyse lieferte gleichzeitig Klarheit darüber, warum der Roboter – falls er über haupt noch existierte – sich mit seinem Herrn niemals in Verbindung gesetzt hatte. Wenn es Einbein überhaupt noch gab, dann war er in eine Energieform verwandelt wor den, die den Gegebenheiten der Antimaterie welt entsprach. Er konnte durch den VelstSchleier hindurch nicht mit Kolphyr kom munizieren. Einbeins Schicksal – falls es sich wirklich so entwickelt hatte, wie die Analyse ergab – bereitete dem Forscher ein gewisses Maß an Sorge. Die Programmierung des Roboters war darauf abgestellt, daß er ständig mit or ganischen Wesen Kontakt hatte. Einbein war als Diener, als Begleiter konzipiert. Nie mand vermochte vorherzusagen, was aus ihm werden würde, wenn er den Kontakt zu der Umwelt verlor, mit der zu harmonisieren seine grundlegende Aufgabe war. Der Robo ter besaß genug Eigenintelligenz, um seine Programmierung selbst zu ändern, wenn sie ihm nicht mehr behagte. Er war von allem Anfang an – wenn auch aufgrund der Spezi fikationen, die Kolphyr selbst angefertigt hatte – ein sehr eigenwilliger Bursche gewe sen. Wer mochte wissen, was inzwischen aus ihm geworden war. Und dann wiederum bedachte Kolphyr sein eigenes Schicksal. Seit neuestem emp fand er eine Regung, die ihm bisher völlig unbekannt gewesen war: Ungeduld. Er war – auch wenn er selbst dies nicht wußte, weil ihm der entsprechende Begriff fehlte – un sterblich. Aber Zeit seines Lebens hatten die Makrozustände einander in rascher Folge abgewechselt, war sein Leben voller Ab wechslung gewesen. Die Ruhe, die ihn um gab, seitdem er mit dem Antimateriebrocken zusammengestoßen war, behagte ihm immer weniger. Durch den Velst-Schleier hindurch hatte er wahrgenommen, daß der Mikrokosmos, in dem er sich befand, nicht ganz ohne Le ben war. Es gab zumindest ein Wesen, das
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Kurt Mahr
die äußere Erscheinung einer leuchtenden Kugel besaß, das sich in den Gängen des alten Gebäudes herumtrieb. Kolphyr hatte nach Wegen gesonnen, wie er mit diesem Geschöpf in Verbindung treten könne. Aber der Velst-Schleier war in seiner jet zigen Form eine undurchdringliche Barriere. Das Schicksal schien entschieden zu haben, daß Kolphyr, der Forscher, bis in alle Ewig keit auf dem nackten Felsblock liegen solle.
13. Phynx kannte seine Aufgabe. Im entscheidenden Augenblick würde er in den großen Saal vorprellen. Seine Er scheinung würde die Leute erschrecken, die in dieser Sekunde den Saal gerade betreten hatten und sich auf den Felsblock zu beweg ten, auf dem unter dem Velst-Schleier das fremde Wesen ruhte. Unter dem Eindruck des Schreckens wür de Koy der Trommler seine beiden Fühler in Bewegung setzen. Phynx hatte ihre Wirkung am eigenen Leib erfahren und wußte, daß sie ernstzunehmende Waffen waren. Wieviel sie aber wirklich ausrichten konnten, das hatte er erst von Einbein erfahren. An den Wänden des Saales hingen riesige Kristalle. Phynx hatte sie gesehen. Sie schimmerten im Licht der ewigen Fackeln, die die Herren der FESTUNG dort hatten anbringen lassen. Jeder Kristall hatte 256 Kanten. Sie gehörten nicht zur ursprüngli chen Ausstattung der Burg. Sie waren instal liert worden, als Phynx auf der Sohle des Schachts unter seinem Thron mit dem Tod kämpfte. Er hatte sie für Ornamente gehal ten – auch wenn ihm nicht klar war, warum die letzte Ruhestätte eines fremden Wesens mit derart aufwendigem Schmuck versehen worden sein sollte. Die Kristalle waren in Wirklichkeit Schwerkraftprojektoren. Sie er zeugten die mannigfachen Fäden des Gravi tationsnetzes, das das fremde Wesen an die Oberfläche des Felsklotzes gebunden hielt. Gäbe es nicht diese Fäden, der Fremde hätte sich längst erhoben und wäre aus der Zita-
delle geflohen. Die Strahlung, die die Fühler des Tromm lers abgaben, würde auf die Kristalle einwir ken und sie zerstören. Das Schwerkraftnetz zerriß. Im selben Augenblick mußte auch der Velst-Schleier zusammenbrechen. So wenigstens stellte es Einbein dar. Der Leib des fremden Forschers lag schutzlos. Der Forscher selbst würde von den unerwarteten Vorgängen so überrascht sein, daß er keinen nennenswerten Widerstand leisten konnte, wenn Phynx ihn mit geballter Kraft an sprang. Das Bewußtsein des Zyklopen wür de den fremden Geist entweder verdrängen oder unterjochen und sich in den Besitz des Körpers setzen. So hatte Einbein den Vorgang geschildert, und Phynx sah keinen Grund, an der Auf richtigkeit seines zukünftigen Untergebenen zu zweifeln. Was hätte Einbein auch davon gehabt, wenn er ihn anlog? Der Zyklop verstand nichts von Antimate rie. Er wußte nicht, daß, wenn die Dinge sich wirklich so abspielten, wie der Roboter sie darstellte, die unausweichliche Folge ei ne gigantische Explosion sein mußte, die nicht nur die Zitadelle, sondern darüber hin aus große Teile von Pthor zerstören würde. Eben weil er aber keine Ahnung von die sen Dingen hatte, war Phynx um so bereit williger auf den hinterhältigen Plan des Ro boters eingegangen.
* Schließlich tauchte in der Ferne ein Licht auf. »Wir nähern uns dem Ziel!« erklärte Ein bein. »Das dort hinten ist der Lichtschein der ewigen Fackeln, die rings um die Bahre des Forschers brennen.« Seit geraumer Zeit war der Vormarsch nicht mehr so rasch gewesen wie bisher. Un ter den Trümmermassen begraben zu sein, hatte Razamon doch mehr mitgenommen, als er zugeben wollte. Es mußten mehrere Rastpausen eingelegt werden. Proviant gab es nicht mehr. Auch der Trommler besaß
Das Geheimnis der Eiszitadelle keinerlei Vorräte. Der Anblick des fernen Lichtes jedoch verlieh dem Pthorer neue Kräfte. »Los, weiter!« stieß er ungeduldig hervor. »Nehmt auf mich keine Rücksicht! Ich schaffe es schon!« Er wies den Arm zurück, mit dem Atlan ihn stützen wollte. Humpelnd stürmte er da von und ließ eine Zeitlang sogar Fenrir hin ter sich zurück. Atlans Spannung wuchs. Wenn der Robo ter wirklich einen Hinterhalt plante, dann lag er irgendwo dort hinten in der Nähe des Lichts, im großen Festsaal der alten Zyklo pen. Es war sehr bemerkenswert, daß in den vergangenen Stunden das Energiewesen Phynx sich kein einziges Mal mehr hatte blicken lassen. Dadurch wurde der Arkonide in seinem Verdacht bestätigt, daß Einbein und der Zyklop miteinander gemeinsame Sache machten. Der Gang weitete sich schließlich und öff nete sich zu einem riesigen, bogenförmigen Portal, das in den großen Saal hineinführte. Unter dem Torbogen blieben die Männer und der Wolf stehen. Staunend ließ Atlan den Blick durch die weite, hohe Halle wan dern. In den Wänden staken übermannshohe Fackeln, die mit rötlichgelber Flamme brannten und ein gespenstisches Licht ver breiteten, in dem jeder Gegenstand mehrere Schatten warf, die unruhig hin und her zuck ten. Die Fackeln schienen ihre Substanz nicht zu verzehren. Sie waren, wie Einbein gesagt hatte, ewige Fackeln. In der Mitte des riesigen Raumes erhob sich ein monolithischer Felsblock von geo metrisch exakter Quaderform. Über der plat ten Oberfläche erhob sich ein leuchtendes Gebilde wie ein Ballon. Das Gebilde war halb durchsichtig. In seinem Innern erkannte man die Umrisse eines Wesens, das auf den ersten Blick menschenähnlich wirkte. »Der Velst-Schleier!« murmelte Atlan. »Gnade uns Gott, wenn er aufreißt!« Von dem Monolithen aus breiteten sich Bahnen, die aus purem Licht zu bestehen schienen, in alle Richtungen aus. Ihre Hel
43 ligkeit war von derselben Art, wie sie Raza mon und Atlan in der Schlucht vor der Zita delle beobachtet hatten. Das war das Licht, vor dem man sich in acht nehmen mußte. Denn es markierte den Verlauf der künstli chen Schwerkraftfelder, und wer in den Bann einer der Bahnen geriet, war unwider ruflich verloren. Die leuchtenden Bahnen endeten an der Wand der Halle, und dort, wo sie endeten, befanden sich mächtige Kristalle, jeder zur Vollkommenheit geschliffen mit Hunderten von Kanten, in denen sich das Licht der Fackeln ebenso wie das Leuchten der Schwerkraftbahnen spiegelten. Die Kristalle funkelten und glitzerten in zauberisch bun ten Farben. Man durfte sie nicht länger als ein paar Sekunden ansehen, sonst verwirrten sich einem die Sinne. Atlan nahm das überraschende Bild sorg fältig in sich auf. Er suchte nach der Falle, die er hier vermutete, fand jedoch keine Spur. Schließlich wandte er sich in die Rich tung, in der Einbein gewesen war, als er zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte, und sagte: »Wir möchten deinem Herrn unsere Auf wartung machen. Wird das möglich sein?« »Wenn er euch überhaupt sehen kann, wird er sich darüber freuen«, antwortete der Roboter. Aber seine Stimme kam jetzt von einem anderen Ort. Sie hörte sich an, als sei er schon auf halbem Wege zu dem Monolithen.
* Sie traten langsam näher. Das Wesen un ter dem leuchtenden Schleier entpuppte sich als ein Riese von annähernd zweieinhalb Metern Körperlänge. Die Haut war von dunkler Farbe, entweder grau oder braun, das ließ sich bei der verwirrenden Beleuch tung nicht genau sagen. Der Schädel des Fremden ruhte auf einem kurzen, stämmigen Hals. Kugelige, weit hervortretende Augen und ein in die Breite gezogener Mund mit wulstigen Lippen verliehen ihm das Ausse
44 hen eines fröhlichen Frosches, wie man ihn in Kinderbüchern manchmal sieht. Der Frosch hatte zwei Arme und zwei Beine. Hände und Füße waren sechszehig. Der mächtige Körper war haarlos, nur auf dem Schädel erhob sich ein Büschel kleiner Ge bilde, die jedoch zu seltsam geformt waren, als daß sie Haare im menschlichen Sinne hätten sein können. »Das also ist Gloophy«, sagte Razamon. »Wenig Ähnlichkeit mit der Statue in Ca foort, findest du nicht auch?« fragte der Ar konide. »Fast gar keine, würde ich sagen.« In diesem Augenblick trat auch Koy näher heran. Fenrir, der sich an Atlans Seite hielt, hatte etwas dagegen. Er knurrte drohend. Koy wich erschrocken zurück. Und genau in diesem Augenblick trat Einbeins Plan in Ak tion. Im Hintergrund der Halle wurde es plötz lich lebendig. Eine intensiv leuchtende Ku gel schoß von der Decke herab und unmit telbar auf den Monolithen zu. Eine dröhnen de Stimme erscholl: »In den Staub mit euch, ihr Hunde! Der letzte Zyklop tritt das Erbe seiner Ahnen an!« Koy reagierte instinktiv, ohne Überle gung. Das Knurren des Wolfes hatte ihn er schreckt, die donnernde Stimme des Ener giewesens erfüllte ihn mit Entsetzen. Die Broins setzten sich in Bewegung. Sie schwangen in wildem Wirbel. Ihre Bewe gungen wurden so schnell, daß das Auge ih nen nicht mehr folgen konnte. Koy sah das strahlende Energiebündel auf sich zurasen und warf sich zur Seite. Was dann geschah, das würde später nie mand mehr in der richtigen Reihenfolge be schreiben können. Es ereignete sich alles fast gleichzeitig. Phynx, das Energiewesen, stieß einen gellenden, langgezogenen Schrei aus, als es von den Broin-Impulsen getroffen wurde. Aus dem Hintergrund kam ein kra chendes, berstendes Geräusch und das Ge klirr von hunderttausend gläsernen Splittern. Entsetzt beobachtete Atlan, wie sich zwei
Kurt Mahr der mächtigen Kristalle in ihre Bestandteile auflösten. Koy mußte sie getroffen haben, als er Phynx auszuweichen versuchte. Die leuchtenden Bahnen des Gravitations netzes gerieten in Bewegung. Sie wurden zu zuckenden Schlangen, die über den Boden huschten. Der Fels riß auf. Spalten entstan den. Es knisterte in den Wänden und in der Decke des riesigen Saales. Fassungslos sah der Arkonide, wie das Leuchten der Schwer kraftfesseln nachließ. In diesem Augenblick verstand er die Bedeutung der großen Kri stalle: Sie waren die Projektoren, die das Gravitationsnetz aufrechterhielten! Das Sy stem war durcheinandergeraten. Immer mehr Kristalle zerbarsten, obwohl Koy längst aufgehört hatte zu trommeln. Phynx schrie noch immer. Die leuchtenden Schlan gen zuckten noch ein paarmal und erloschen dann für immer. »Seht, den Fremden!« schrie Razamon in höchster Angst. Atlan wirbelte herum. Der Velst-Schleier war kleiner geworden. Er schrumpfte wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft her ausließ! Das Wesen im Innern des Schleiers hatte sich zu bewegen begonnen. Den Arko niden packte das Grauen. In diesem Augen blick aber begann eine neue Reihe von Er eignissen, die seine Aufmerksamkeit ablenk te. Hoch oben, unter der Decke des Saales, war ein grelles Licht erschienen. Es blähte sich auf, wurde zu einer gigantischen Kugel, die sich anschickte, bis auf den Boden her abzureichen. Im Innern schwebte ein seltsam geformtes Geschöpf. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Fremden, besaß jedoch nur ein Bein. Es bestand aus Metall oder einer ähn lich gearteten Substanz. Während die leuch tende Kugel sich aufblähte, wuchs auch das fremdartige Geschöpf. Sein Gesicht war eine verwaschene, blasse Fläche fast ohne jegli che Gliederung, und dennoch Vermittelte es den Eindruck von intensivem Schmerz. Die langen, dünnen Arme waren wie zu einer flehenden Geste erhoben. Dann gellte ein Schrei – so entsetzlich, so
Das Geheimnis der Eiszitadelle unmenschlich, so grauenerregend, daß dem Arkoniden das Blut in den Adern gefror. In diesem Augenblick hatte der untere Rand der leuchtenden Kugel den Boden der Halle erreicht. Das fremde Geschöpf war transparent geworden. Es befand sich im Zu stand der Auflösung. Der fürchterliche Schrei endete abrupt. Ein kurzes, dumpfes Geräusch folgte. Dann waren die Kugel und ihr Inhalt verschwun den, geplatzt wie eine Seifenblase. Aber noch war das Drama nicht beendet. Der strahlende Energieball, der das Wesen Phynx verkörperte, war von neuem in Bewe gung geraten. Mit fauchendem Geräusch ra ste er durch die riesige Halle. Seine Bewe gungen waren unkontrolliert. Er prallte ge gen die Decke und wurde zurückgeschleu dert. Knallend und krachend löste sich ein mächtiges Trümmerstück aus dem Felsgefü ge und stürzte herab. Der glühende Ball ra ste weiter. Er begann, Substanz zu verlieren. Leuchtende Bruchstücke lösten sich ab wie schwere Tropfen Schmelzgut von einem in Glut geratenen Metallklumpen. Noch einmal, ein letztes Mal, war die Stimme des letzten Zyklopen zu hören. »Verrat! Abermals Verrat!« gellte sie durch den weiten Saal. »Verflucht sollt ihr sein …« Bei den letzten Worten verlor sie an Kraft. Der leuchtende Ball, auf ein Viertel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft, prallte gegen die Wand gegenüber dem Ein gang und zerplatzte in Tausende winziger Glutstücke, die rasch erloschen. Das war das Ende von Phynx, dem letzten Zyklopen, der seinen Körper infolge einer Serie ungewöhnlicher Zufälle um viele Jahr hunderte überlebt hatte. Schaudernd wandte Atlan sich ab. Sein Blick fiel auf den Forscher.
* Der hatte sich inzwischen aufgerichtet und war von der Plattform des Monolithen herabgeglitten. Der grünlich leuchtende
45 Schleier war nun schon so eng geworden, daß er ihn fast wie ein Kleidungsstück um gab. Entsetzt wich Atlan zurück. In jeder Se kunde mußte der hauchdünne Energieschlei er reißen und das fremde Geschöpf freige ben. Die Substanz des Geschöpfs aber war Antimaterie. Niemand würde die fürchterli che Explosion überleben, die unweigerlich eintreten mußte, wenn der grüne Schleier auch nur einen mikroskopisch kleinen Riß erhielt. Der Forscher hatte die großen, hervortre tenden Augen mit starrem Ausdruck auf den Arkoniden gerichtet. Der Velst-Schleier hat te sich jetzt den Umrissen seines Körpers vollends angepaßt. Er hüllte ihn ein wie eine zweite Haut. Atlan schrie auf, als er sah, wie der Schleier sich in unmittelbarer Nähe der Au gen zu öffnen begann. Auch rings um den Mund entstand eine Öffnung, und zwei wei tere Risse zeichneten sich in der Nähe der kurzen, eng anliegenden Ohren ab. Am Ende seiner Beherrschung, schlug der Arkonide die Hände vor die Augen und er wartete schreckerstarrt den Untergang. Eine Sekunde verstrich, dann noch eine. Ungläubig spreizte Atlan die Finger und blickte zwischen ihnen hindurch. Das frem de Wesen stand vor ihm. Der grünliche Schleier hatte das Aussehen gesprungenen Glases angenommen und verdeckte die dunkle Hautfarbe des Forschers. Die Öff nungen des Velst-Feldes waren so ausgebil det, daß sie die Augen, den Mund und die Ohren freiließen. An ihren Rändern flim merte es leicht – ein Zeichen dafür, daß der Schleier auch in den geöffneten Zonen wei terhin wirksam war. Es kam zu keiner Be rührung zwischen Materie und Antimaterie. Falls der Fremde atmete, dann atmete er eine Luft, die durch die Wirkung des Schleiers auf geheimnisvolle Weise in Antimaterie verwandelt worden war. Plötzlich begann der Forscher zu spre chen. Er bediente sich einer fremden Sprache,
46 die niemand verstand. Seine Stimme war überraschend hell, manchmal sogar schrill, und wollte nicht recht zu dem mächtigen Körper passen. Ehe Atlan sich's versah, trat der fremde Riese auf ihn zu und zog ihn mit einer kräf tigen Umarmung an sich. Dem Arkoniden stockte der Atem. Die Vorstellung, nur um Haaresbreite von einem mehrere Zentner schweren Koloß aus Antimaterie entfernt zu sein, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Da meldete sich zum ersten Mal seit lan ger Zeit wieder sein Extrasinn. »Ich habe die Lage analysiert«, erklärte er. »Es ist nichts zu befürchten.« Erst dann wagte Atlan wieder zu atmen. Er sah zu dem breiten, fröhlichen Gesicht des Fremden auf und hörte verwundert die Worte seiner vokalreichen Sprache, die er in rascher Folge hervorstieß, wobei es ihn nicht zu stören schien, daß niemand ihn verstand. Plötzlich entließ er den Arkoniden aus der Umarmung. Er reckte die Arme, deutete hierhin und dorthin, nach oben, zur Seite und nach unten und sprach womöglich noch hastiger als zuvor. Sein Gesicht wirkte mit einemmal nicht mehr so fröhlich. Es gab et was, das ihn beunruhigte. Jetzt, da endlich wieder Ruhe eingetreten war, ließ sich auch das verräterische Kni stern im Fels wieder hören. Es kam von überall. Es gab keinen Zweifel, daß das plötzliche Verschwinden der künstlichen Schwerkraftfelder und das unkontrollierte Wüten des Energiewesens Phynx zumindest das Gefüge der großen Halle, wenn nicht so gar die Grundfesten der Zitadelle erschüttert hatte. Atlan wandte sich zu den Gefährten um. »Wir sind hier nicht mehr sicher«, sagte er. »Wir müssen die Burg auf dem schnell sten Wege verlassen.« Aus Razamons bleichem Gesicht funkel ten die Augen wie Stücke geschliffener Kohle. Ihr Blick war auf den Forscher ge richtet. »Etwa mit ihm?« fragte er, ohne den Ar koniden dabei anzusehen.
Kurt Mahr Es war unschwer zu sehen, daß auch Koy sich vor dem Fremden fürchtete. Sein Blick war unstet. Nur der Wolf zeigte sich unbefangen. Er hielt sich noch immer an Atlans Seite, und wenn er den Forscher anblickte, dann gesch ah es ohne jegliches Interesse und ohne Re aktion. »Er kommt mit uns«, antwortete Atlan auf die Frage des Pthorers. »Er bedeutet keine Gefahr mehr!«
14. Der Auszug aus der Eiszitadelle wurde zu einer gnadenlosen Hetzjagd. In den Wänden der Hallen und Gänge hatten sich Risse ge bildet. Manchmal wankte der Boden. Wenn die Fliehenden anhielten, um zu verschnau fen, dann hörten sie ringsum das Gedröhn einstürzender Räume. Die Flucht verlangte das Letzte von ihren geschundenen Körpern. Sie waren am Ende ihrer Kräfte, als sie den Ausgang erreichten – jenes Portal, durch das Atlan, Razamon und Fenrir vor wer weiß wievielen Stunden in die Burg der Zyklopen eingedrungen wa ren. Es war Nacht. Sie blickten in die Schlucht hinab, in der unter den vielen Toten, die das heimtückische Schwerkraftnetz gefordert hatte, auch Marxos lag. Razamon rammte Atlan den Ellbogen in die Seite. »Heh – die leuchtenden Linien sind ver schwunden!« stieß er krächzend hervor. Der Arkonide sah es. Das Tal würde keine weiteren Opfer mehr fordern. Das mörderi sche Schwerkraftnetz war zerstört. Es war von den mächtigen Kristallen aus gesteuert worden, die Koy vernichtet hatte. Hinter ihnen rumorte es dumpf. Atlan fragte sich, ob die alte Zitadelle den näch sten Sonnenaufgang noch erleben würde. Gloophy, der Fremde, hatte seit langer Zeit kein Wort mehr gesprochen. Er war der ein zige, der keinerlei Ermüdungserscheinungen zeigte. Er schien jedoch zu spüren, daß seine Begleiter am Rand ihrer Kräfte waren.
Das Geheimnis der Eiszitadelle »Wohin jetzt?« fragte Razamon. »Nach Südosten«, antwortete Koy der Trommler, von dem eigentlich niemand eine Antwort erwartet hatte. »Warum dorthin?« wollte Atlan wissen. »Ich bin mit einem Zugor aus dem Wa chen Auge geflohen und habe ihn im Süd osten im Eis abgestellt. In der Nähe habe ich ein kleines Paket Proviant zurückgelassen. Wir brauchen beides – den Proviant und das Fahrzeug.« Razamon und der Arkonide blickten ein ander an. Sie nickten gleichzeitig. Koys Vorschlag war angenommen. Es wurde ein beschwerlicher Marsch. Sie erkannten alsbald, daß sie sich, indem sie aus der Eiszitadelle flüchteten, nur vor der unmittelbaren Gefahr in Sicherheit gebracht hatten. Es schien, als sei außer der Felskon struktion der Zyklopenburg auch das Eis in Bewegung geraten. Die Luft war wärmer ge worden. Manchmal, wenn sie eine Eisspalte durchquerten, wateten sie durch Lachen von Schmelzwasser. Das Eis hatte begonnen, je ne merkwürdige, grünlichdurchsichtige Konsistenz anzunehmen, die dem kundigen Beobachter verriet, daß es bereits in den Schmelzprozeß eingetreten war. Atlan konn te sich dies nicht anders erklären als damit, daß das künstliche Schwerkraftnetz weit über die Eiszitadelle gewirkt hatte – ja, daß es womöglich sogar für die Vereisung dieses Landstrichs verantwortlich war, der doch ringsum von Zonen gemäßigten, wenn nicht sogar heißen Klimas umgeben war. Während des langen Marsches versuchten Razamon und Atlan, die Vorgänge zu deu ten, die sich im großen Saal der alten Zyklo penburg abgespielt hatten. Auch der Trommler beteiligte sich an der Unterhal tung, aber nur aus sicherer Entfernung – denn er und der Wolf waren einander noch immer gram. »Es ist klar«, sagte Atlan, »daß Einbein und Phynx irgendeinen Anschlag geplant hatten. Worauf er hinauslief, werden wir nie erfahren. Auf jeden Fall sollte Phynx überra schend auf der Szene erscheinen, um Koy zu
47 einer unbedachten Handlung zu veranlassen. Soweit hat der Plan funktioniert – nur scheint Koys Reaktion nicht gerade das ge wesen zu sein, was die beiden Verschwörer im Auge hatten. Das Wesen in der großen Kugel muß Einbein gewesen sein. Der Na me paßt zum Aussehen. Einbein existiert al so nicht mehr. Auch Phynx ist tot. Die künstliche Schwerkraft hat ihnen vor langer Zeit das Leben gerettet. Das Erlöschen des Gravitationsnetzes brachte ihnen den Tod.« »Warum waren Phynx und Einbein von so grundsätzlich verschiedener Erscheinungs form?« fragte Razamon. »Der eine unsicht bar, der andere ein leuchtender Energie ball?« »Wir wissen es nicht«, antwortete der Ar konide. »Es kann daher kommen, daß der ei ne ursprünglich ein Roboter, der andere ein organisches Wesen war. Oder es liegt daran, daß Phynx, als er noch einen Körper besaß, aus herkömmlicher Substanz bestand, wäh rend Einbein Antimaterie war.« Er hob die Schultern, um anzudeuten, daß er diese Frage nicht für wesentlich halte. Plötzlich und unerwartet sprach Gloophy wieder ein paar Worte. Es klang fast so, als sei er der Diskussion gefolgt und wolle nun seinen Teil beitragen. Razamon sah zu ihm auf und bemerkte nachdenklich: »Ich wollte nur, du beherrschtest unsere Sprache – oder könntest uns deine beibrin gen!« Als Gloophy den Blick des Pthorers auf sich ruhen fühlte, trat er rasch herbei, hob Razamon in die Höhe und umarmte ihn. Razamon ließ sich die Liebkosung wohl oder übel gefallen, weil er den gewaltigen Muskelkräften des Fremden nichts Ebenbür tiges entgegenzusetzen hatte. Als Gloophy ihn wieder abgesetzt hatte, murmelte er: »Das wird er sich abgewöhnen müssen! Das verträgt kein Mensch!« Atlan lachte. »Unser Gloophy ist ein Unikum! Ich frage mich, wie die Leute auf ihn reagieren wer den, wenn wir wieder belebtere Gegenden erreichen.« Razamon wirkte nachdenklich.
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»Heißt er wirklich Gloophy?« fragte er zweifelnd. »Irgendwie klingt mir der Name nicht glaubwürdig.« »Wir hätten Einbein fragen sollen, als er noch lebte«, meinte Atlan. »Ich habe seinen wahren Namen von Ein bein gehört«, erklärte Koy der Trommler. »Er erwähnte ihn ganz zu Anfang, als wir einander eben erst begegnet waren.« »Wie lautet er?« »Ich weiß es nicht mehr. Er klang jeden falls ganz ähnlich wie Gloophy.«
* Bei Anbruch des Morgens rasteten sie ein paar Stunden. Es war jetzt ganz klar, daß die Vernich tung des künstlichen Schwerkraftnetzes tief greifende Veränderungen in der Landschaft der Eisküste hervorrufen würde. Überall schmolz das Eis. Es löste sich in riesigen Klötzen und Schichten von den Flanken der Berge. Der Weg wurde von Stunde zu Stun de gefährlicher. In Anbetracht der ständig wachsenden Bedrohung wurde die Rastpau se so kurz wie möglich gehalten. Koy erklär te, man werde den Landeplatz des Zugors am Nachmittag erreichen – vorausgesetzt, daß die immer mehr in Bewegung geraten den Eismassen den Weg nicht blockierten. Gloophy blieb ein freundlicher, fröhlicher Weggenosse. Von Zeit zu Zeit überkam ihn das Verlangen, einen seiner Gefährten zu umarmen und an sich zu drücken. Razamon und Koy ließen sich die Liebkosungen des Forschers mit leicht erkennbarem Mißbeha gen gefallen. Atlan dagegen lachte dazu. Nur Fenrir wurde nicht in Gloophys Liebko sungsbedürfnis mit einbezogen. Ein paarmal wichen sie herabgleitenden Eisbrettern aus. Dadurch verlängerte sich der Marsch. Die Sonne berührte fast schon den Horizont, als sie den Ausgang eines Pas ses erreichten, von dem aus nach Koys Schilderung der Landeplatz des Zugors zu sehen war. Der Trommler hatte die Führung übernommen. Fenrir bildete freiwillig die
Nachhut, als verstehe er genau, daß seine Dienste in diesem Augenblick weniger ge fragt waren. Dort, wo der Paß sich weitete und den Ausblick nach Südosten freigab, blieb Koy plötzlich stehen und hob die Arme in einer Geste des Erschreckens. Im Nu waren Atlan und Razamon an seiner Seite. »Was gibt es?« fragten sie wie aus einem Mund. Wortlos deutete der Trommler in das langgestreckte Tal hinab, das sich jenseits des Passes ausbreitete. Dort, wo es im Süd osten gegen die nächste Bergkette stieß, war es von frisch aufgeschütteten Eistrümmern erfüllt. Von einigen Bergwänden schimmer te das helle Grau des nackten Felsens – ein Anblick, den man im Land der Eisküste seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. »Liegt dort der Zugor?« fragte der Arko nide beklommen. »Ja, dort liegt er«, bestätigte Koy nieder geschlagen. Atlan maß mit dem Blick die Höhe der glitzernden Halde, die das Eis aufgeschüttet hatte. »Zwecklos«, murmelte er. »An den Zugor kommen wir nicht heran.« Plötzlich machte der Trommler eine rasche Bewegung. »Was ist? Siehst du eine Möglichkeit?« wollte Atlan wissen. »Nicht, was den Zugor angeht«, antworte te Koy. »Aber ein paar hundert Meter von dem Fahrzeug entfernt habe ich den Rest meines Proviants versteckt. Es schien mir si cherer so. Ich wußte nicht, ob ich nicht hier her würde zurückkommen müssen. Und es sieht ganz so aus, als hätte das Eis gerade vor dem Versteck haltgemacht!« Sie eilten die Schräge hinab. Sie durch querten das Tal und näherten sich der Eis barriere, die längst zu schmelzen begonnen hatte und ihren Fuß in einem Weiher aus klarem, kaltem Wasser badete. »Dort!« rief der Trommler aufgeregt und deutete auf einen Felsen, der eben im Be griff war, sich seines Eismantels zu entledi
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gen. Als Koy sein Versteck angelegt hatte, war hier eine dicke Eisschicht gewesen. Sie hatte sich inzwischen zum größten Teil aufgelöst. Das Proviantpaket war ein paar Meter weit weggeschwemmt worden. Aber der Inhalt war unversehrt. Großzügig verteilte der Trommler seinen Reichtum unter den Ge fährten. Auch Fenrir bekam etwas, aber er wollte es nur von Atlan annehmen. Gloophy allerdings gab mit Gesten zu verstehen, daß er nichts annehmen werde. »Er lebt wahrscheinlich von der Luft«, spottete Razamon, während er auf einem zä hen Stück Trockenfleisch zu kauen begann. »Du könntest recht haben!« meinte Atlan. Sie aßen spärlich. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, bis sie Gegenden er reichten, in denen Proviant erhältlich war. Aber selbst das Wenige, was sie zu sich nah men, belebte ihre Kräfte auf nahezu wunder bare Art und Weise. Die Müdigkeit wich von ihnen. Sie fühlten sich, als würde es ih nen keine Mühe machen, in einem Stück bis
zum Rand der Wüste Fylln vorzustoßen. »Wohin halten wir uns?« fragte Razamon. »Immer weiter nach Südosten«, schlug Atlan vor. »Das bringt uns an den Rand der Wüste und dicht an der Senke der Verlore nen Seelen vorbei.« Der Pthorer bedachte diesen Vorschlag ei ne Sekunde lang. Dann nickte er. In diesem Augenblick rief Gloophy: »Südosten … Südosten …« Dabei schwenkte er den rechten Arm. Die Gefährten sahen ihn verwundert an. Atlan nickte dem fremden Wesen aufmun ternd zu. »Nur immer weiter so!« sagte er. »Wenn wir miteinander Abenteuer bestehen wollen, müssen wir miteinander sprechen können!« Da kam Gloophy auf ihn zu und drückte ihn an sich.
E N D E
ENDE