Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Forschungskreuzer VIVAN...
7 downloads
272 Views
543KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Forschungskreuzer VIVANCAS II entdeckt im Sektor Süd/Neun 887 die erste Spur. Ein kleiner, aus Eis bestehender Mond wird gesichtet, in dessen Innerem Lebewesen eingeschlossen zu sein scheinen. Das Büro für extraterrestrische Angelegenheiten wird von dem Fund benachrichtigt – und Bela Rover, der neue Chef des BEA, bittet Cliff McLane um Hilfe. Die ORION startet und erreicht in Rekordzeit den Planeten Terrossian, von dem der Eismond stammen muß. Zweitausend terranische Pioniere, die seit Jahren in den Gletschern von Terrossian leben, glauben, alle Geheimnisse des Planeten zu kennen – bis Cliff McLane sie eines anderen belehrt.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23) Die phantastischen Planeten (O 24) Gefahr für Basis 104 (O 25) Die schwarzen Schmetterlinge (O 26)
BAND 27
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DAS EISGEFÄNGNIS Zukunftsroman
Deutsche Erstveröffentlichung
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag, nach Ideen zur großen Fernsehserie »Raumpatrouille«, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH. geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Foto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott & Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Buches enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer
1 Als die VIVANCAS II für einige Minuten aus dem Hyperraum hervorsprang, weil der Kommandant ein astronomisches Besteck aufnehmen wollte, hob der Astrogator seine Hand und sagte in aufgeregtem Tonfall: »Kapitän Arshile!« Der Kommandant des Vermessungsschiffes drehte den Kopf und sah hinüber zum Platz des Astrogators. »Was gibt es?« »Ehe ich die Bestimmungen mache – ein annähernd runder Körper treibt langsam, aber auf Kollisionskurs auf die VIVANCAS zu. Soll ich ...?« »Ja, natürlich«, sagte Jean-Claude Arshile schnell. »Legen Sie das Bild auf meinen Schirm um.« Der runde Zentralschirm wechselte das Bild. Bis eben waren die Strukturen der Sterne sichtbar gewesen, dieses Gewimmel von leuchtenden Punkten und willkürlichen Verdichtungsformen, von Filamenten und von Sonnen, deren Strahlungsmodus als Leuchtfeuer diente. Jetzt rutschte das Bild näher, und in der Vergrößerung sah der Kommandant einen kleinen, mondähnlichen Körper, schon mehr einen Boliden. Wenn das Licht der kleinen, weißen Sonne auf diesen herandriftenden Körper fiel, sah man, daß er sich drehte. Er funkelte wie Eis, wie ein unregelmäßiger, glänzender Schneeball. Jean-Claude Arshile brummte: »Ein Bolide aus Eis auf Kollisionskurs – nicht unbedingt häufig. Ich glaube, wir sollten uns ein wenig mit ihm beschäftigen. Schließlid ist die VIVANCAS II ein Vermessungsschiff.«
Er brachte mit einigen kleinen Korrekturmanövern das Schiff auf einen anderen Kurs, beschleunigte dann ein wenig und flog parallel zu dem Fund. Jetzt hatten sie die kleine, weiße Sonne im Rücken. »Machen Sie das Besteck und geben Sie die ermittelten Daten an den Ersten weiter, ja?« sagte der Kommandant zum Astrogator. »Ich werde eine Analyse durchführen.« »Wird gemacht!« Der Kommandant stützte den Kopf in die Hände, lehnte sich vor und betrachtete den dahintreibenden Fund, den sie gemacht hatten. Dann drehte er den Regler der Vergrößerung weiter auf, das Objekt schien auf den Schirm zuzuspringen. Der Drehimpuls war nicht sehr hoch, auf einer Skala las Arshile die Größe ab. Sie betrug grob dreißig Meter. Der Mann stellte einige Geräte ein und nahm dann eine Serie von Messungen vor. Mit halblauter Stimme sprach er die Ergebnisse ins elektronische Bordbuch. »Es ist ein bolidenähnlicher Körper aus Eis, der durch seine Drehung auf allen Seiten unregelmäßig abgeschmolzen, beziehungsweise verdunstet ist. Er bewegt sich mit zwölf Metern in der Sekunde geradeaus, also mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit eines normalen Meteors. Ich ... einen Augenblick!« Der Erste Offizier kam von seinem Platz vor dem Eingabeelement heran und blieb hinter dem Kommandanten stehen. »Du hast etwas gesehen?« fragte er leise. Jean-Claude deutete wortlos auf die Linien eines Oszillographen und veränderte dann die Feineinstellung.
»Der Körper hat an zwei Stellen etwas Ähnliches wie Massekonzentrationen aufzuweisen.« »Das bedeutet für uns«, meinte der Erste Offizier, »daß in dieser Eiskugel an zwei Punkten Einschlüsse vorhanden sind, wie in einem Stück Bernstein.« »So oder ähnlich. Die Tabelle.« Die beiden Männer verglichen, während die VIVANCAS II neben dem Boliden dahintrieb, die ermittelten Linien mit den Darstellungen der Tabellen. Sie brauchten dazu einige Minuten, und als das Ergebnis feststand, konnten sie es nicht glauben. Der Kommandant schaltete die BSA, die Bordsprechanlage, an und sagte: »Kommandant an alle: Bitte kommen Sie sofort zu mir!« »Verstanden.« Das Schiff hatte eine Besatzung von sieben Mann, die hier in diesem Raumkubus kartographische Arbeiten durchführten, um die Sternkarten auf den letzten Stand zu bringen, eventuelle Abweichungen festzustellen und Feinwerte dort einzutragen, wo die ersten Schiffe nur einfache Fotografien angefertigt und Planetenbahnen festgestellt hatten. Einige Minuten später umstanden sechs Männer in verschiedenen Dienstgraden und Uniformen den Kommandanten, der mit seinen Geräten hantierte und unaufhörlich Berechnungen niederschrieb. »Also ...«, sagte Arshile aufgeregt, »ich schildere, was ich von hier aus habe feststellen können.« Das Bordbuch nahm jedes seiner Worte auf und speicherte die Dokumentation unter Uhrzeit und Datum dieses Tages. »Das spezifische Gewicht dieses Körpers entspricht
dem von normalem Eis. Wir haben hier das gleiche Phänomen wie bei den Ringen des Saturn im heimatlichen System. An zwei Stellen, gleichsam zwei Kernen innerhalb der unregelmäßigen Eiskugel, haben wir Massekonzentrationen festgestellt, die aber nicht etwa Felsen oder Erzen entsprechen, sondern die typischen Linien von organischem Gewebe aufweisen. Vielleicht ist dies eine Mißweisung der Geräte, aber das kann ich nicht glauben. Wenn es sich so verhält, dann könnten dort im Eis tiefgefrorene Wesen eingeschlossen sein. Ich erinnere an die Mastodonten, die wir noch vor Jahrhunderten aus dem Eis unseres eigenen Planeten ausgegraben haben.« Der Kommandant holte tief Luft und wischte über seine Stirn. »Gleichzeitig haben wir aber – hier, dieses Gerät zeigt es deutlich an – im Zentrum der Einschlüsse ziemlich starke Energie feststellen können. Es ist inaktive Energie, batterieähnlich.« Er drehte sich um und schaute in die ungläubigen Gesichter der Mannschaft. »Etwas untypisch, nicht wahr?« Der Erste erwiderte ernst: »Das ist stark untertrieben, Jean-Claude. Eine Zwischenfrage – können wir anhand einer Bewegungsrechnung feststellen, woher dieser Eiskörper kommt?« Der Kommandant deutete auf den Astrogator. »Das dauert nicht länger als Minuten, wenn wir die Komputer zur Hilfe nehmen. Fangen wir an!« Der Astrogator ging zurück an seinen Platz und begann zu rechnen, seine Schirme auszuwerten. Er arbeitete schnell und konzentriert, vollkommen im
Bann dieses seltsamen Fundes. Eis war nicht selten im Kosmos, Boliden gehörten sozusagen zu den gesetzmäßigen Raumkörpern, auf die man überall stieß. Ein Eisbolide gehörte schon zu den Seltenheiten, und einer, in dem Einschlüsse dieser Art, also organisch und gleichzeitig energetisch, festgestellt werden konnten, besaß absoluten wissenschaftlichen Seltenheitswert. Und es war niemand an Bord, der den Messungen der terranischen Präzisionsinstrumente, verbessert durch die Mikrotechnik der DherraniZivilisation, mißtraut hätte. »Achtung!« murmelte der Astrogator. »Datenfluß zum Komputer!« Der Erste gab kurz zur Antwort: »Kanäle frei!« Ein angespanntes, erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus. Der Rest der Besatzung, lauter Männer, deren Beruf es war, mit den wissenschaftlichen Fakten zu hantieren, die ihnen die Schöpfung zur Verfügung gestellt hatte, wußten, worum es gehen konnte. »Danke. Maschine rechnet!« sagte der Chefkybernetiker in die Stille hinein. Dann hörten sie das Brummen der Rechenmaschine, schließlich das lange Hämmern der Schreibapparatur, das eine Minute lang ohne jede Unterbrechung dauerte. Der Schnelldrucker warf eine Menge Papier aus, das sich zusammenfaltete und schließlich vom Ersten abgerissen wurde. »Erklärung?« fragte Jean-Claude Arshile laut. Er zog das Handbuch aus dem Fach und schlug zuerst den Raumsektor auf, in dem sie sich befanden. Es war Süd/Neun 887. Dann wartete er ruhig.
»Ich habe die Positionenspeicher zugeschaltet«, erklärte der Erste. »Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe der Sonne Galileo. Das ist die weiß leuchtende Sonne, fünfzehn Astronomische Einheiten entfernt.« Jean-Claude knurrte ungeduldig: »Weiter!« »Um diese Sonne bewegt sich ein Planet, wie so oft. Sein Name ist Terrossian.« Der Kommandant suchte den Namen und fand ihn auf der drittnächsten Seite des Handbuches. »Interessant!« murmelte er. »Dieser Eisbolide kann mit maschinenhafter Wahrscheinlichkeit von achtzig zu zwanzig ein winziger Mond dieses Planeten gewesen sein. Den Daten zufolge müßte vor einigen Jahren eine winzige Kollision diesen Körper aus dem Anziehungsbereich geworfen haben. Der Ausbruch aus der stabilen Kreisbahn muß in einer Position stattgefunden haben, die die Anziehungskraft aufhob und nur die Fliehkraft wirken ließ – die Folge war höchstwahrscheinlich ein Kurs, der praktisch einer Geraden entspricht, die wir von der Sonne bis hierher ziehen können. Natürlich sind hier nur die Informationen der Bahn und der Masse dieses Körpers berücksichtigt.« »Danke«, sagte Arshile. »Ist das alles?« »Ja. Mehr hat die Maschine aus den Daten nicht herausholen können. Bedeutet das für Team Eins, daß es hinausgehen wird?« »Vielleicht!« sagte der Kommandant. »Laßt mich nachdenken.« Er lehnte sich in den schweren Sessel zurück, spielte mit dem Verschluß der Gurte und starrte den
Eisbrocken an, der neben dem Schiff trieb ... oder vielmehr driftete das Schiff neben dem Boliden vom System fort. Terrossian, der Planet. Er brauchte zweihundert Jahre für einen Umlauf um seine Sonne und war im Handbuch als eine Eiskugel mit eineinhalbfacher irdischer Schwerkraft verzeichnet, mit einer extrem gekippten Rotationsachse. Eis ... mit dem spezifischen Gewicht von zweiundneunzig Hundertsteln bezogen auf Wasser, mit zwei Einlagerungen. Waren es eingefrorene Tiere oder Intelligenzwesen? Waren es merkwürdige Mischwesen zwischen organischem Gewebe und energetischem Antrieb, etwas Ähnliches wie ein Cyborg oder ein Androide? Arshile zuckte die Schultern und sagte zum Funker: »Setzen Sie einen Funkspruch an T.R.A.V. und an das Büro für extraterrestrische Angelegenheiten, zu Händen von Mister Rover, ab. Schildern Sie, was wir gefunden haben und sagen Sie, daß wir hinausgehen werden, um den Fund zu untersuchen.« Er starrte die Zeichnungen und die Bahnelemente des einzigen Planeten um diese Sonne an. »Terrossian – das ist eine merkwürdige Welt«, sagte er zu sich selbst. Der Funker unterbrach die Überlegungen des Kommandanten. »Funkspruch ist abgesetzt«, sagte er. »Danke.« Vor Jean-Claudes innerem Auge erschien ein Bild. Das Bild dieses verlassenen Planeten, auf dem zehn terranische Kolonien im ewigen Eis verankert waren.
Dort arbeiteten hochbezahlte Männer und förderten Erdöl. Aber es war eine Art von Erdöl, die es im gesamten bekannten Bereich des Universums kein zweitesmal mehr gab. Die Tonne Öl, deren Frachtkosten erheblich waren, kostete bereits, bevor sie in den Tanks der Robotschiffe verschwand, ein kleines Vermögen. Sie war für Schalter und Kondensatoren der Raumfahrttechnik so wichtig geworden, daß sich der Einsatz auf diesem verlassenen Planeten nahe der Grenze der 900-Parsek-Raumkugel mehr als nur lohnte. »Gehen wir hinaus?« fragte der Erste drängend. »Warte noch ein paar Minuten«, erwiderte JeanClaude. »Das alles muß genau überlegt und durchdacht werden.« Er stellte sich einen Schauer von kleinen Eismonden vor die um den Planeten mit der Decke aus ewigen Gletschern schwebten. Dadurch, daß die Achse des Planeten in bezug zur Bahnebene einen Winkel von über fünfundvierzig Grad aufwies, der Planet in fünfzehn Stunden einmal rotierte, tauten etwa alle Jahrhunderte je einmal die südpolare, dann wieder die nordpolare Zone auf. Der Boden dieser Welt kam nur an wenigen Stellen jemals zum Blühen, wurde von der Sonne gewärmt. Irgendwann war eine Kollision erfolgt, hatte jenen Eisklumpen vom Planeten weggeschleudert, hinaus in den dunklen Raum. Vielleicht war er damals bereits annähernd rund gewesen, vielleicht nicht. Aber innerhalb dieses merkwürdigen Boliden gab es etwas, das einmal – vielleicht vor einer kleinen Ewigkeit – auf dem Planeten gelebt hatte. Jetzt war es eingeschlossen und nur unter dem Einfluß von Röntgen-
strahlen zu sehen als runde, dunkle Masse organischer Substanzen, mit einem Kern aus reiner Energie. Welcher Organismus? Welche Energie? Woher, wie alt, welche Geheimnisse ... die Fragen konnten zumindest zum großen Teil geklärt werden. Jean-Claude stand auf, hob den Arm und sagte zu seinem Ersten Offizier: »In Ordnung. Wir gehen hinaus. Ich halte es nicht für zweckmäßig, die Männer auf Terrossian durch einen Funkspruch zu alarmieren. Sie wissen über diesen Boliden vermutlich noch weniger als wir.« »Zumal«, sagte der Funker, der ebenfalls zum Team Eins gehörte und jetzt seine Geräte auf Automatik umschaltete und aus dem Sessel aufstand, »dieser Körper aus der Bahn gerissen wurde, noch ehe man die Ölkolonie gegründet hatte. Wann starten wir, Kommandant?« Arshile sagte halblaut: »In einer Stunde. Bis dahin habe ich noch etwas zu tun – wir müssen die Voraussetzungen für unsere Untersuchungen schaffen. Ich bin, falls Fragen bestehen sollten, in der Kabine für die LaserstrahlKanone.« »Verstanden«, sagte der Funker. Er winkte dem Ersten. Sie fuhren zusammen mit dem Kommandanten hinunter in den Ringkorridor, der mit wissenschaftlichen Geräten, Vorräten und den verschiedenen Archivkisten vollgestellt war. Dort öffneten sie drei eingebaute Schrankfächer und nahmen die Raumanzüge mit den riesigen leuchtenden Nummern auf Brust- und Rückenteil heraus. Jean-Claude deutete auf den Anzug mit der Num-
mer 1 und sagte, während er die Schleuse zur Laserkammer öffnete: »Führe bitte die Funktionskontrollen für meinen Anzug auch durch, ja?« »Selbstverständlich, Boß«, murmelte der Erste. Die Schleuse glitt hinter dem Kommandanten zu. * Jean-Claude Arshile war ein Mann von fünfundfünfzig Jahren. Er hatte graue, etwas zu kleine Augen unter weißen und buschigen Brauen, die über der Nasenwurzel zusammengewachsen waren. Auch sein Haar war weiß und außerordentlich gepflegt, fast zu sorgfältig für einen Raumfahrer geschnitten. JeanClaude, auf Terra geboren und französisch erzogen, flog seit dreißig Jahren im Raum, und er hatte viele Talente kommen und gehen sehen. Seit zwei Jahrzehnten flog er in verschiedenen Schiffen, aber immer für wissenschaftliche Zwecke. Er las sehr viel und schwärmte geradezu für mittelalterliche Musik. Im Alter von elf Jahren, als ihn seine Mutter in ein Raumschiff mitgenommen hatte, erblickte er den ersten Toten seines Lebens, einen Selbstmörder, der draußen, vor dem Schiff, den Helm seines Raumanzugs geöffnet hatte. Seit diesem Augenblick hatte ihn der Weltraum in seinen Bann geschlagen. Jetzt visierte Arshile durch das Fadenkreuz des Lasers den Boliden aus Eis an, der sich langsam neben dem Schiff drehte, im Licht der Sterne und der weit entfernten weißen Sonne. »Ruhig ...«, murmelte er.
Er richtete den Strahl aus, verglich die Drehbewegung des Körpers mit der Linie, die er über das Eis brennen würde und zog dann drei Sekunden lang den Abzug durch. Brummend schaltete sich der Transformator ein, ein dunkelroter Lichtstrahl stand plötzlich zwischen Schiff und Eiskugel und schnitt eine Kugelkalotte ab. Der Dampf verteilte sich augenblicklich, die Moleküle jagten hinaus ins Vakuum. »Ich muß an die Kerne heran, aber nicht zu nahe«, murmelte Arshile. Der Laserstrahl besaß eine Energiemenge, die den Boliden und mit ihm auch den Doppelkern in Teile zersägen konnte. Arshile wollte nur soviel Eis wegschmelzen, wie unbedingt nötig war, um dann mit den Handstrahlern das Geheimnis vorsichtig herausschälen zu können. Ein zweiter Schnitt. Dort, wo der Strahl auftraf, kochte und verdampfte das Eis unter einer Nebelbildung, die vorübergehend die Sicht versperrte. Vorsichtig schnitt Jean-Claude eine zweite Scheibe von der Kugel ab und benützte die Drehung des Körpers geschickt dazu, um systematisch vorzugehen. Binnen einiger Minuten bestand der kugelförmige Bolide nur noch aus einer Zweidrittel-Kugel. Mit zwei Daumenbewegungen schaltete der Kommandant die Maschinen aus und stand auf – in der Kabine war es eng, und die Umformer entwickelten eine große Hitze. Fünfzehn Minuten später verließen drei Männer das Schiff durch die zusätzliche Lukenschleuse oberhalb der Kommandokanzel. Gleichzeitig wurde eine LANCET ausgeschleust und bezog eine Position oberhalb des Schiffes, auf halbem Weg zwischen der
VIVANCAS II und dem Boliden, der hundertachtzehn Meter entfernt war und sich noch immer drehte, eine merkwürdig erscheinende sphäroide Form, irgendwie unvollendet oder zerstört, wie eine angeschnittene Frucht – eine Frucht mit gefährlichen, schlafenden Kernen. Drei Gestalten trieben langsam hinüber. * Die Stimme von Royce Haevyside, dem Chefingenieur und Ersten Offizier, entsprach der Wesensart dieses Mannes. Sie war kühl, manchmal fast von abstrakter Gleichförmigkeit. Royce sprach überlegt, aber nicht langsam. Was er sagte, stimmte meist, wenig war an seinen Sätzen überflüssig. Auch er war schon zu lange im Raum, um sich von dessen Gefahren oder Schönheiten mehr berauschen zu lassen, als er unbedingt für nötig hielt, um seinen Beruf weiterhin auszuüben. In seiner Jugend hatte er einmal vor dem Großen Barriereriff gefischt, und sein Boot war gekentert. Er trieb im Tauchanzug und in dem aufgeblasenen Rettungsfloß einunddreißig Stunden im Meer, und diese einunddreißig Stunden hatten sein gesamtes weiteres Leben geformt. Jetzt schwebte er mit den beiden anderen Männern auf den Eisklotz zu – dünne Leinen verbanden die Männer miteinander und mit dem Raumschiff. »Royce spricht. Wie sichern wir uns?« Der Kommandant sagte: »Wir schmelzen Löcher ins Eis und sperren die Seile daran.«
»Verstanden«, sagte der Funker. Er hieß Noll Seversky und war rothaarig. Einmaliges Abstoßen hatte gereicht, um die drei Männer geradeaus auf die Eisfläche treiben zu lassen. Jean-Claude erreichte sie zuerst, entsicherte seinen schweren Strahler und feuerte eine Sekunde lang. Am Rand der geraden Schnittfläche erschien ein kopfgroßes Loch. »Noch einmal!« sagte Royce. Während sie die letzten dreißig Meter zurücklegten, drehte sich der Bolide um hundertachtzig Grad. Ein zweites Loch wurde hineingeschnitten, dann erreichten die Männer das Eis. »Leinen kappen!« sagte der Kommandant. Minuten später verbanden zwei dünne Leinen die beiden Löcher. Die Kunststoffleinen waren quer über die gerade Eisfläche gespannt, und als sich die drei Männer aufrichteten und mit den Füßen die Fläche betraten, veränderte sich ihr Oben-unten-Gefühl. Bisher war die Diskusform des Schiffes ein Orientierungsplateau gewesen, jetzt drehte sich die Bezugsplattform innerhalb von Sekunden um neunzig Grad. Sie standen auf dem Eis und tasteten und zogen sich dem Mittelpunkt der Kreisfläche entgegen. »Licht!« Zwei Scheinwerfer, mit breiten Klammern an den Schultern der Raumanzüge befestigt, leuchteten auf und strichen über die grausilberne Fläche. Und unter dem nur wenig durchsichtigen Eis sahen die Männer die Umrisse einer ziemlich großen, kugelförmigen Masse. Jean-Claude ordnete an: »Es sind zwei Kerne. Wir stehen sozusagen um ei-
nen von ihnen herum. Lassen wir vorläufig den anderen in Ruhe. Wir versuchen, mit den Strahlwaffen diesen Kern hier herauszuschmelzen.« Royce widersprach: »Wir müssen darauf achten, daß eine dicke Schicht Eis den Kern von allen Seiten bedeckt. Wenn es organisches Gewebe ist, würde es sich sonst im Vakuum verändern, zersetzen.« »Einverstanden. Los!« Drei dünne Strahlen polarisierten, gerichteten Lichtes schlugen in das Eis ein und wurden von den Männern bewegt. Man schnitt vier tiefe Spalten in die Fläche, die sich wie die Spitze einer Pyramide fünf Meter tief im Eis vereinigten. Dampf schoß hoch und verteilte sich, schlug vorher auf die Raumanzüge nieder und bildete einen dünnen Wassertröpfchen-Nebel der sich auflöste. Im Schatten kristallisierten winzige Wassertröpfchen zu Eis und trieben davon wie Schnee auf einem Planeten. Die drei Männer verständigten sich durch knappe Zurufe. Fünfzehn Minuten. »Vorsicht!« rief Jean-Claude. Royce hob den Arm. Der Erste steckte in dem Raumanzug, auf dessen Flächen die Ziffer 2 leuchtete. »Wir sind durch!« sagte Seversky und hob ebenfalls den Arm. Dann stellte er seinen schweren Strahler ab. Der Kommandant überlegte, schließlich sagte er durch Funk: »Wir haben mehrere Möglichkeiten. Die Pyramide mißt etwa fünf Meter an den Kanten. Unser Laderaum, der jetzt ziemlich leer ist hat eine Schleuse, durch die diese Eispyramide hineingehen würde, be-
ziehungsweise eine Luke. Wir können die Pyramide herausziehen und treiben lassen – dann fliegen wir mit der VIVANCAS heran und schieben uns über das Eis. Im Schiff können wir unseren Fund untersuchen. Einverstanden, Royce?« »Meinetwegen. Wer zieht das Ding aus dem Loch?« »Die LANCET. Mit dem Fußteller einer Landestütze. Keine gute Idee?« Der Astrogator, der das Beiboot steuerte, sagte über Funk: »Ich schätze, das ist sogar eine sehr gute Idee, meine Herren. Ich mache mich bereit.« »Verstanden. Anfliegen!« sagte Jean-Claude. Die Männer schnitten nach dem gleichen Verfahren zwei Löcher in die Eiskanten, zogen eine ihrer verbindenden Leinen hindurch und warteten, an den anderen Seilen gesichert, bis die LANCET antrieb und leicht gegen das Eis stieß. Die Seile wurden um eines der ausgefahrenen Landebeine geschlungen, dann kam der Befehl. »Vorsichtig beschleunigen«, sagte Seversky, der rothaarige Funker. Etwas heiser und voller Konzentration erwiderte der LANCET-Pilot: »Aber gern, Noll!« Zentimeterweise beschleunigte das Beiboot, die Zugseile strafften sich. Die Eispyramide wurde langsam aus dem Rest des Boliden hervorgezogen. Ein Meter, dann waren es zwei, schließlich hatte die Pyramide das Loch vollständig verlassen und trieb in Richtung auf das Schiff ab. Der Pilot stieß behutsam
zurück und bremste so genau, daß der kinetische Impuls des Eispfropfens aufgehoben wurde. Zehn Meter von dem Boliden entfernt, hielt die Pyramide an. Gleichzeitig bewegten sich alle Körper in eine gemeinsame Richtung, fort von der kleinen weißen Sonne. Jean-Claude sagte scharf: »Ich löse die Seile ab. Ihr geht zurück ins Schiff. Klar?« »Verstanden!« antworteten Noll und Royce fast gleichzeitig. Die beiden Männer lösten die Sicherungsseile, stießen sich ab und dirigierten sich durch winzige Korrekturstöße der Rückendüsen bis zur Schleuse. Der Kommandant schwebte in einem engen Bogen bis zum Landebein der LANCET, koppelte dort die Seile ab und kletterte ins Innere des Bootes. Langsam schwebte die LANCET zurück zum Raumschiff und verschwand im Landeschacht. Die Segmente der Luke schoben sich ineinander. Die vier Männer trafen sich im Ringkorridor und öffneten ihre Raumhelme. »Was haltet ihr von unserem Fund?« fragte der Kommandant. »Eine, wie es scheint, etwas mysteriöse Sache«, wandte Royce ein und schaltete einige Servoaggregate seines Anzugs ab. »Bei dem Hinausschleppen schaltete ich meinen Scheinwerfer ein – es sieht so aus, als sei dort ein großes, rundes Tier eingeschlossen.« Der Astrogator sagte: »Das vermute ich ebenfalls. Werden Sie das Manöver einleiten, Kommandant?«
Jean-Claude nickte leicht und erwiderte: »Ja. Ich denke, ich bin noch nicht zu alt dazu.« Er blickte auf die Uhr, lächelte zurückhaltend und versprach: »In fünfundvierzig Minuten ist unser kosmischer Fund im Laderaum. Was mich im Moment noch sehr beschäftigt, ist die Frage, auf welche Weise wir sein Geheimnis lösen werden.« Royce Haevyside fragte sarkastisch zurück: »Werden wir denn sein Geheimnis lösen?« »Ich hoffe es«, schloß der Kommandant. Dann zog er sich den Raumanzug aus und fuhr mit dem kleinen Lift hinauf in die Kommandokanzel. Nacheinander wurden die einzelnen Schaltungen durchgeführt, die Männer saßen wieder an ihren Pulten. Auf dem großen, runden Zentralbildschirm sah Jean-Claude die Pyramide, schräg vor dem aufgeschnittenen Boliden. Ein Schalterdruck, und die mächtigen Landescheinwerfer flammten auf, wurden einreguliert. Sie leuchteten den Boliden voll aus. Das Eis wurde teilweise halbtransparent, aber der große, runde Fleck innerhalb des Materials war unübersehbar. Dann bewegten sich die beiden Körper auf dem Schirm – also bewegte sich das Raumschiff. Es drehte sich zuerst um achtzig Grad, dann glitten die Lukenteile auseinander und bildeten eine fünf mal fünf Meter große Öffnung in der Oberschale des Diskusschiffes. »Soll nicht jemand nach draußen gehen und dich einweisen?« fragte der Erste Offizier. »Nicht nötig«, sagte der Kommandant kurz. Das Schiff bewegte sich weiter. Langsam trieb es auf die Pyramide zu, näherte sich der Grundfläche. Jean-Claude Arshile hatte sich nicht verschätzt. Ohne
die Ränder der Luke zu berühren, verschwand der Klotz im Innern. Minuten später ging ein leichter Ruck durch das Schiff – ein zweiter folgte, als der Kommandant die künstliche Schwerkraft zuschaltete. »Sitzt!« sagte er. Der Chefkybernetiker murmelte: »Gratuliere!« Jean-Claude drehte sich schnell herum und grinste ihn an. Dann führte er einige Schaltungen durch und flutete den Laderaum mit Atemluft. Dann lehnte er sich zurück und sagte: »Demokratische Abstimmung – wollen wir den Fund nach Terra fliegen und dort untersuchen lassen oder versuchen wir schon hier, uns über den Inhalt des Eiskeiles schlüssig zu werden?« »Wir sollten das Mysterium hier zu lösen versuchen«, sagte der Astrogator. »Ich bin dafür, sofern die rechtliche Lage es zuläßt.« »Wir sind dazu berechtigt«, meinte der Kommandant schnell. »Testen wir an Ort und Stelle«, schlug auch der Funker vor. »Einverstanden.« Zuerst schaltete der Kommandant die Heizung des Frachtraumes ein und drehte den Regler bis zum Maximalwert hoch. Dann überlegte er und murmelte schließlich: »Zwei Mann im Schutzanzug – wir müssen die Frachträume öfters zum Weltraum hin öffnen. Schließlich können wir ein paar Hektoliter Wasser nicht einfach in die Tanks zurückleiten. Welche Meßgeräte wenden wir an?« Royce Haevyside murmelte:
»An diesem Punkt dürfte es schwierig werden. Ich schlage vor, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die wir haben – viel ist es nicht.« »Du hast recht.« Die Männer unterbrachen die Diskussion, um unten in der Kombüse zu essen. Zwei Stunden später aktivierte der Kommandant die Linsen und schaltete das Flutlicht im Laderaum ein, dann schlüpften Royce und er in die leichten Schutzanzüge und gingen in den Laderaum. Glücklicherweise befand sich die Schleuse zum Innenschiff einen halben Meter über dem Boden, denn als der Erste und sein Vorgesetzter den Raum betraten, standen sie bis zu den Knöcheln im Wasser. Der Raum war mit einer warmen, feuchten Luft gefüllt. Royce schloß seinen Helm, schaltete die Ventilation des Anzugs ein und fragte, sobald er das Funkgerät eingeschaltet hatte: »Hinaus mit dem Wasser?« »Jawohl!« Die Schleuse war dicht, und maschinell wurde nun die Luke wieder geöffnet. Eine Vakuumpumpe lief an und jagte das Wasser aus dem Raum. Als der Nebel ins All hinausströmte, beschleunigt durch das Diffusionsgefälle, wurde die Sicht schlagartig klarer. Aus dem pyramidenförmigen Eisblock war ein fast glasklarer stumpfer Kegel mit Rundungen geworden statt der scharfen Kanten. Und durch das Glas dieses schmelzenden Eisblocks sahen die beiden Männer den Inhalt. »Eine große, silbergraue Masse, annähernd rund, aber mit vielen tiefen Einschnitten.« Jemand rief über Funk:
»Bitte von der Linse weggehen!« »Okay!« Langsam und voller kaum unterdrückter Spannung gingen die beiden Männer um ihren Fund herum. Die Luke war offen, der Boden des Frachtraumes trocken. Das verdunstende Wasser zog sofort hinaus ins Vakuum, und das Eis wurde klarer, je mehr es sich auflöste. Jetzt trennten nur noch Millimeter von Eis die äußeren Schichten des hartgefrorenen Organismus vom Vakuum. Die Heizplatten in dem Frachtraumboden arbeiteten weiterhin mit Maximalhitze. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch das letzte Eis abgeschmolzen war. Vermutlich lag dieses Wesen bereits ohne schützende Eisschicht auf dem Boden des Schiffsraumes. »Luke zu!« Der Kommandant gab den Befehl, und vom Schaltpult der VIVANCAS II erfolgte der Impuls. Geräuschlos und langsam schlossen sich die Segmente. Luft fauchte in den Raum hinein, und als die roten Lampen zu leuchten aufhörten, klappten Royce und Jean-Claude die Visiere der Schutzhelme auf. »Was jetzt?« fragte der Chefkybernetiker. »Warten«, antwortete der Kommandant lakonisch. Etwa dreißig Minuten später gab es kein sichtbares Eis mehr. Der Boden war zentimeterhoch mit Wasser bedeckt. Vor den beiden Männern lag oder stand ein fast runder Block, etwa vier Meter durchmessend, er wirkte wie ein Tier, dessen kaum zu erkennende Glieder sich sehr eng an seinen Körper preßten – so stark, daß die Gliedmaßen und der Körper fast eine gemeinsame Oberfläche aufwiesen, so fest preßten sich die Glieder in das andere Gewebe. Augen oder
andere auffallenden Sinnesorgane waren nicht zu sehen. »Wie lange warten?« fragte Royce. »Du fragst eine Kleinigkeit mehr, als drei bis vier Weise beantworten können«, antwortete der Kommandant. »Hier! Ich messe Energie an.« »Schiffsmaschinen?« »Mehr wissenschaftlichen Ernst«, empfahl ihm Jean-Claude. »Ohne Spaß – im Innern dieses Wesens scheint ein energetischer Prozeß anzulaufen. Während noch bei der ersten Messung mit den Schiffsdetektoren ein schwacher Strom festgestellt wurde, haben wir hier wesentlich andere Impulse.« »Laß sehen.« Sie betrachteten die Skalen eines kombinierten Gerätes. Hier schlug ein Zeiger rhythmisch aus, und spitze Kurven zeichneten sich auf dem Glas des Oszillographen ab. Es schien, als ob dieses Wesen erwachte. Plötzlich drehte Royce den Kopf und flüsterte: »Ruhe. Es summt!« Der Kommandant stand regungslos da und horchte. Tatsächlich, es summte. Ein tiefes, unterdrücktes Brummen kam aus dem Zentrum der gefrorenen Masse hervor, setzte sich durch die Schichten des harten, eisigen Gewebes fort und schlug an die Ohren der beiden Männer. Gleichzeitig setzte sich die umgewandelte Energie um eine Potenz herauf, der Zeiger zuckte zum anderen Ende der Skala, und die Kurven wurden härter und die Zacken heftiger und spitzer. Als ob in dem eiskalten Fremdling eine schwere Maschine anlaufen würde.
Royce sagte nach einigen Sekunden alarmiert: »Schalte die Heizkörper aus, Jean-Claude!« »Sie sind bereits seit dreißig Minuten ausgeschaltet«, sagte der Kommandant unwillig. »Aber woher kommt die Hitze – viel Möglichkeiten haben wir nun nicht mehr!« Er trat zwei Schritte nach vorn und streckte die Hand aus. Dann blieb er stehen und zog langsam seinen dunklen Handschuh aus. Mit gespreizten Fingern näherte er seine Hand dem silbergrauen Ball. »Hitze!« flüsterte er. Royce folgte dem Beispiel des Kommandanten, und als er mit den Fingerkuppen die Haut des seltsamen Gastes berührte, mußte er feststellen, daß die Temperatur mindestens fünfzig Grad Celsius betrug. Fast zu heiß zum Anfassen. Der Körper strahlte in den nächsten Sekunden eine ständig steigende Hitze aus, und die Luft begann trocken zu werden. »Vielleicht explodiert das Ding?« Jean-Claude zuckte die Schultern und zog sich bis zur Schleuse zurück, öffnete die innere Tür. »Wir haben uns hier eine kosmische Hitzebombe hereingeholt«, sagte der Erste und stellte sich neben den Kommandanten. Seine Hand tastete nach dem Riegel der Schleusentür. Die Hitze nahm zu! Und dann veränderte sich die Oberfläche dieses Fundes. Die pralle, glatte Haut wurde runzlig und dunkelgrau, dann zeichneten sich entlang der Runzeln hellbraune Linien ab sie wurden dunkler, schwärzer, der Körper schrumpfte zusammen und wurde kleiner. Dann traten nacheinander vier schlanke lange Beine oder Arme aus der Masse her-
vor, schrumpften bis zur Dicke von Schnüren zusammen und verkohlten ohne jede Rauchentwicklung, ohne Dämpfe oder störenden Rauch, ohne Gerüche ... es war mehr als seltsam. Alles geschah völlig lautlos. Die beiden Männer fühlten, wie ihnen eine Hitzewelle entgegenschlug. Ihre Lippen wurden trocken und spröde, die Augen begannen zu tränen. »Was ist das?« fragte jemand aus der Kommandokanzel. Er bekam keine Antwort. Das fremde Wesen wurde kleiner und dunkler. Die Farbe veränderte sich insgesamt, und binnen fünf Minuten wurde aus dem drei Meter oder mehr durchmessenden Gegenstand ein Ball, der nicht mehr maß als einen halben Meter. Es war erschreckend anzusehen. Schließlich zerfiel dieser Ball in ein spitzkegeliges Aschehäufchen, und als die Männer den Boden der Frachtluke anstarrten, sahen sie, daß er in einem ringförmigen Bereich dunkelrot glühte. Aus der Asche kräuselte sich wie ein Signal eine dünne, blaue Rauchwolke, dann wich die Starre von den beiden Männern. Kommandant Jean-Claude Arshile blickte seinen Freund an und murmelte leise: »Wir machen keinen zweiten Versuch. Wir setzen einen eindeutigen Funkspruch ab und fliegen zurück nach Terra – das ist zu hoch für uns. Wir sind ein Vermessungsschiff, kein biologisches Labor.« Royce nickte, dann erwiderte er leise: »Wer immer es war – unser eisiger Gast hat sich aufgelöst. Ich habe den deutlichen Verdacht, es war eine komplizierte Art von Selbstmord.«
Schweigend gingen die beiden Männer zurück in die Kommandokanzel der VIVANCAS II und leiteten den Rückflug zur Erde ein. Sie waren einundsiebzig Tage im All gewesen, aber diese letzten Stunden hatten ihnen genügt. Sollten sich Berufenere und wissenschaftlich besser ausgebildete Männer mit dem zweiten Kern dieses Eisboliden beschäftigen.
2 Wenn man die Bahn des Planeten Terrossian betrachtete indem man eine Projektion erstellte, die in bezug auf die Milchstraße den Nordpol dieses Planeten »oben« lokalisierte, fielen mehrere Dinge auf, eines aber sah man auf den ersten Blick. Es war die große Neigung der Polachse gegenüber der Ekliptik, also der flächenhaften Projektion des Bahnkreises. Um einen Umlauf um die kleine Sonne Galileo zu vollenden, brauchte Terrossian zweihundert Jahre nach irdischer Rechnung. Etwas pauschal ausgedrückt, bedeutete es, daß rund fünfzig Jahre der Nordpol des Planeten ständig im Dunkel lag, also keinerlei Sonneneinstrahlung einfing. Fünfzig Jahre lang befand er sich direkt im Strahlungsbereich des Zentrumssternes, und das restliche Jahrhundert bildete Herbst und Frühling. Natürlich ließen sich diese vier Zeiträume von je einem halben Jahrhundert nicht so genau trennen – sie verschwammen ineinander. Frühling, Sommer, Herbst und Winter ... vier Jahreszeiten von je einem halben Jahrhundert. Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, näherte sich der ›Frühling‹ dem Sommer, das bedeutete, daß es in der nördlichen Polargegend einen Tag von fünfzig Jahren Länge und Sonnenwärme geben würde – alles Dinge, die niemand in dieser terranischen Kolonie mehr zu kennen glaubte. Der Südpol lag jetzt im Dunkeln, dort sammelte sich jetzt das Eis an, das in der nördlichen Polargegend abschmolz, verdunstete, als Regen oder Schnee
fiel und wieder aufgelöst wurde. Der Boden entwikkelte dort, wo ihn kein Eis mehr bedeckte, geradezu paradiesische und dschungelhaft wuchernde Formen der Flora – aber es gab nur wenige, winzige Tiere. Natürlich waren die Röhrenbahnen, die Tunnelsysteme und die Kugelbauten, die im ewigen Eis eingebettet waren, nicht gefährdet – sie lagen tief genug unter der Eisdecke ebenso wie die Meiler, die senkrechten Schächte und die Bohranlagen, die Förderanlagen ... und alles, was der Homo sapiens mitgebracht hatte, als er beschloß, das technisch wertvolle Erdöl dieses Planeten abzubauen. Einer der Männer, die sich über den ersten Lichtschimmer freuten, war Roqué Alsina. Roqué war in seinem Röhrengleiter unterwegs. Er raste mit fast zweihundert Stundenkilometern durch die Röhre, die man mit gewaltigen Hitzeexkavatoren ins ewige Gletschereis geschmolzen hatte. Die messerscharfen Kufen des Gefährts, das einem langgestreckten Tropfen ähnelte, glitten fast geräuschlos durch das Eis, die Tunnels waren so exakt vermessen und ausgebrannt worden, daß es kaum Unebenheiten gab. Man konnte hier große Geschwindigkeiten herausfahren. Und da jede Röhre nur in einer Richtung befahren wurde und außerdem in jeden Wagen ein Abstandsradar eingebaut war, erfolgte dieser rasende Ritt durch das blauschimmernde Eis fast ohne jedes Risiko. Alsina war vierunddreißig Jahre alt. Alles, was er schätzte, gab es hier auf Terrossian. Einsamkeit dann, wenn er es wollte, Unterhaltung im Zentrum der Kugelstädte – was hieß schon Städte bei einer Planetenbevölkerung von zehn Kolonien zu je
zweihundert Mann –, wenn er die Einsamkeit satt hatte. Nordlichter, Eiswanderungen, rasende und riskante Fahrten im Icemobil, ein Lohn, der innerhalb der 900-Parsek-Raumkugel seinesgleichen suchte, ein Dienstvertrag, der nach zwei Jahren – irdischer Rechnung! – auslief ... er war zufrieden. Er kauerte, gehüllt in Sturzhelm, Eisbrille und ausgeschnittenem Gesichtsschutz, gewärmt von einem riesigen Pelzmantel, der bis zu den Knöcheln reichte, hinter der gekrümmten Scheibe des Tropfens und sah, daß aus diesem Gefährt nichts mehr herauszuholen war. Zweihundertzehn Stundenkilometer. Der Andruck preßte ihn in jeder Kurve tief in den Sitz. »Eine Dusche, dann ein Abendessen, schließlich Musik und Schlaf!« knurrte der Mann, zog die Schultern hoch und lachte, als das rasende Gefährt auf seinen vier Kufen, von der Fliehkraft hoch in die Wandung der Röhre hinaufgetragen, wieder herunterglitt und in die letzte Gerade hineinschoß. Das Radargerät stellte in fünf Kilometern Entfernung das Ende dieses Tunnels fest, drosselte selbständig die Turbinenleistung und verringerte im Lauf der nächsten fünftausend Meter die Geschwindigkeit bis zum Punkt Null. »Endlich!« murmelte Roqué und schwang sich aus der Sitzschale. Seine Sohlen waren mit einem Spray imprägniert, der das Rutschen verhinderte. In wenigen Jahren, so wußte Roqué, würde seine Wohnkugel am Rand der riesigen Polargletscher liegen. Er kam von seiner Arbeitsstelle, die ziemlich direkt am magnetischen und planetographischen Nordpol lag – für ihn waren die nächsten fünfzehn Stunden reine Freizeit.
Er betätigte einen Schalter, und die Robotsteuerung schob den Eisgleiter in den ausgeschnittenen Hangar. Alles war hier auf das ungewöhnliche Medium abgestimmt, in dem die zehn Kolonien lagen. Jede Kolonie bearbeitete eine fündig gewordene Bohrung, und jede Kolonie besaß einen eigenen Hafen für die Raumschiffe, die von Zeit zu Zeit die Ladung hier übernahmen. Langsam ging Alsina den niedrigen, breiten Korridor bis zu seinem Ende, öffnete die konvex geformte Tür seiner Kugel und trat ein. Er atmete tief ein und aus – die warme Luft brannte in seinem Gesicht. »Das wäre dies!« murmelte er. Die eine Hälfte der Kolonie bestand aus Männern, die andere Hälfte aus Mädchen. Das Leben auf engem Raum brachte seine eigene Problematik mit, und es herrschten hier radikal andere Verhältnisse als beispielsweise auf Terra. Was hier wie Liebe aussah, konnte in einer zivilisierten, nicht mehr pionierhaften Welt in Haß umschlagen und, seltener, umgekehrt. »Musik!« schrie Alsina und schaltete das Bandgerät ein. Die Musik entsprach ebenfalls seinem Charakter; seine Musikbibliothek enthielt ausnahmslos nur wilde, heiße Rhythmen oder Melodien von unsäglicher Traurigkeit. Roqué Alsina war ein Mann, wie er nur in Filmen geschildert wurde – bis zum Extrem an beiden Seiten der Skala angesiedelt, kein Mann des Mittelmaßes. Wild und unbeherrscht, dann aber wieder schwermütig und jedem Angriff von außen schutzlos ausgesetzt. Adriane kannte dies und richtete sich danach und versuchte zu vermitteln, aber seit dem Zwischenfall mit den drei Stalagmiten am
Bohrgestänge hatten sich ihre Beziehungen doch etwas normalisiert. Eine Stunde später hantierte Alsina in der »Küche.« Seine Wohnkugel war, wie alle anderen auf diesem Planeten, ein genormtes Erzeugnis. Sie durchmaß genau fünf Meter und enthielt alles, was in einer kleinen Wohnung vorhanden sein mußte. Mikrotechnik wurde hier großgeschrieben. Eine einzige Tür, ein breiter Montagebügel, der sich »oben« an der Kugel befand, eine Abfallvernichtungsanlage. Die Kugel konnte als autarker Wohnbezirk angesehen werden; sie bot ihrem Bewohner im Fall einer Katastrophe eine Überlebenszeit von drei Wochen. Der einzige Raum, der wirklich bewohnbar war, bestand aus einer zwei Meter zehn Zentimeter hohen und fünf Meter durchmessenden Scheibe im Mittelpunkt der Konstruktion. Roqué deckte sorgfältig den kleinen Tisch, noch immer hämmerte die Wiedergabeanlage die krachenden Rhythmen in den Raum und ließ die Teller klirren. Das Essen war fertig. Roqué stellte sich vor das kleine Audioskop und wählte eine vierstellige Ziffer an. Adriane schien auf seinen Anruf gewartet zu haben, denn sie stand in ihrer engen, weißen Parka bereits vor den Linsen. »Das Essen ist fertig, Eiskalte!« sagte Roqué. »Ich bin in genau acht Komma sechs Sekunden bei dir«, erwiderte das Mädchen und hob eine zylindrische Verpackung aus rostfreiem Stahlblech hoch. Der Zylinder durchmaß zwanzig Zentimeter und war etwa vierzig Zentimeter hoch. Adriane lächelte dazu und nickte. »Ich habe eine sehr scharfe Suppe gekocht!« empfahl sich Alsina.
»Ich verstehe, Herr Stützpunktleiter«, sagte sie und schaltete ab. Ihre beiden Wohnkugeln waren vierhundert Meter voneinander getrennt; sie befanden sich an den gegenüberliegenden Bezirken der kreisförmigen Anordnung. Das Mädchen brauchte drei Minuten, ehe sie die Tür öffnete, die Parka auszog und den Zylinder auf eine kleine, niedrige Bank vor dem Tonbandgerät stellte. »Guten Abend.« Sie küßte ihn leicht und setzte sich an den Tisch, streckte die langen Beine aus und stützte provozierend die Ellbogen auf die Tischkante. »Ich habe etwas außerordentlich Seltenes mitgebracht«, sagte das Mädchen nach einer Weile. Vorher hatte sie die Lautsprecher etwas gedrosselt und den Geruch des Essens geschnuppert. Nicht etwa, daß sie nicht kochen konnte – aber Roqué konnte es besser und kochte liebend gern. »So?« fragte er und schleppte das Tablett an den Tisch heran. »Ja. Du bist heute nicht neugierig?« »Neugieriger auf dich«, sagte er leichthin und schielte nach dem Metallzylinder. »Etwas ist dort drin – aber was?« Sie lächelte rätselhaft und erwiderte leise: »Ein Ding, das nur alle Jahrhunderte erwacht und dann lange lebt, aber nicht so lange wie unsere Liebe.« Roqué brach in ein schallendes Gelächter aus. »Du Optimist!« sagte er. »Ist es eine Ölprobe?« »Etwas ganz Entgegengesetztes«, sagte sie. »Ich habe Hunger.« »Ich auch«, antwortete der Mann und sah zu, wie
das Mädchen schnell, geschickt und mit sicheren Bewegungen das Essen austeilte. Sie war die zweite Ärztin dieser kleinen Zweihundert-Mann-Kolonie. Alles, was sie zu behandeln hatte, waren nervöse Störungen, Knochenbrüche, Abschürfungen und Quetschungen, aber niemals einen Schnupfen oder die noch immer nicht besiegte Grippe. Die Atemluft, die man durch lange Kanäle von der Oberfläche des Riesengletschers herunterleitete, war fast steril, jedenfalls frei von krankheitserregenden Keimen. »Auf das Essen«, sagte sie. »Unter anderem.« Während die Musik leise spielte, aßen sie schweigend und langsam. Roqué war ein hervorragender Koch; die Kunst, unter den Konserven und den tiefgekühlten Waren das Richtige auszusuchen, miteinander zu kombinieren, zu würzen und mit immer neuen Kombinationen zu variieren, beherrschte Alsina auf das Vortrefflichste. Nach etwa einer halben Stunde, als der Kaffee in den Tassen roch, sagte das Mädchen: »Möchtest du nicht den Zylinder öffnen?« »Ich möchte«, sagte er, beugte sich hinüber und hob den schimmernden Zylinder auf, drehte den Verschluß herunter und hörte, wie Adriane sagte: »Juan Allende hat sie mitgebracht, von den Stoned Ices.« »Ich verstehe.« Roqué griff in den Zylinder hinein und holte eine, ebenfalls zylindrische Vase hervor. In dieser metallenen Konstruktion steckte eine Pflanze. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Gewächs, das Alsina kannte.
»Wie du«, sagte er atemlos. »Bezaubernd!« Es war eine dunkelgrüne, fast schwarze Pflanze, etwa dreißig Zentimeter hoch. Sie sah aus wie die Mischung aller schönen Pflanzen der Erde und einiger Kolonialplaneten, aber gänzlich anders. Umrahmt von schwarzgrünen Ranken leuchtete eine weiße Blüte dem Mann entgegen, und die beiden Staubgefäße waren geformt wie Antennen, voller unvergleichlicher Eleganz, zitternd und bebend infolge des Turgors. Sie wirkten wie aufgeregte Trommelstöcke, die etwas signalisieren wollten. Gerade der Farbgegensatz und die Formen waren entscheidend – schwarzgrün, kristallweiß, fast blendend als ob das Sonnenlicht auf nacktes Eis prallte. Und signalgelb das war das Innere der Blüte. Die beiden Kugeln an den Spitzen der Staubgefäße waren von einem leuchtenden, irisierenden Rot. »Nur du bist schöner«, sagte er und stellte die Blume mitten auf den Tisch. »Du meinst mich?« fragte das Mädchen leise und nahm die Augen nicht von diesem Wunderwerk der Flora weg. »Oder die Blume?« »Beides«, sagte Roqué zerstreut. »Beides und etwas mehr.« Er beobachtetes wie sich die Blume drehte. Drehte! Sie bewegte die Wurzeln nicht, die in der schwarzen, fetten Erde staken. Die Blume drehte binnen einer einzigen Sekunde ihren zentralen Schaft und richtete die Kugeln der Staubgefäße auf eine bestimmte Stelle der Wohnkugel, und zwar auf den Bildschirm. So verharrte sie, lautlos, schön und geheimnisvoll, wie ... Roqué fiel kein passender Vergleich ein.
Die Staubgefäße zitterten und bebten, als wollten sie etwas ausdrücken, als wollten sie ein unhörbares, nicht feststellbares Signal übermitteln. »Stoned Ices?« fragte der Mann und stand auf, ging auf dicken Socken um den Tisch herum und küßte das Mädchen. »Danke!« »Ja. Es war die erste Pflanze, die von einem Menschen hier auf Terrossian entdeckt wurde. Du weißt, Juan Allende verehrt mich, seit er bei mir Würfelzukker gegessen hat.« Roqué nickte schweigend, dann murmelte er: »Ich weiß! Dieser stille, zurückhaltende Ipsologe!« Während Adriane und Roqué schweigend und wie gebannt vor der absoluten Schönheit dieser Blume saßen und das Gewächs anstarrten, ohne zu reden, wurde der Kaffee in den Tassen kalt. * Mitten in der elfstündigen Nacht wurden sie wach – gleichzeitig. Es war ihnen, als habe das Eis gebebt. Adriane hob den Arm, tastete etwas umher und schaltete das kleine, gelbe Licht an. Sie stieß gegen den Lesewürfel, in dem Roqué vor dem Einschlafen über Terrossian nachgelesen hatte und warf ihn herunter. Er polterte über den Boden und stieß gegen ein fast leeres Rotweinglas. Es klirrte. »Schichtwechsel!« knurrte der Mann und drehte sich herum, noch im Schlaf befangen. »Erdbeben!« sagte sie und rüttelte an seiner Schulter. »Wo?«
Alsina richtete sich auf; dieses Wort hatte Assoziationen ausgelöst, die mit seiner Arbeit zusammenhingen, und das machte ihn vollends wach. »Hier«, sagte das Mädchen und lehnte sich gegen die gepolsterte Wand. Schemenhaft wurde sie sich des Umstandes bewußt, daß Zentimeter jenseits ihrer Wirbelsäule einige hundert Meter gewachsenen Eises warteten, durchhöhlt, voller Magazine und Verbindungsgänge. Und auf einer Eissäule befand sich die Wohnkugel, in der sie nun waren. Wieder schwankte die Kugel, Geschirr klapperte, ein Glas fiel um, und das Bandgerät schaltete sich ein. Flamencomusik war zu hören, sehr gedämpft. »Hör zu, Roqué«, sagte Adriane leise. »Ich habe es genau gemerkt. Die Kugel hat sich bewegt, und zwar um mindestens einen Meter nach unten. Das Eis schmilzt oder bricht. Jedenfalls sind wir in Gefahr. Steh also auf und unternimm etwas.« Er richtete sich auf, gähnte, und mitten im Gähnen überraschte sie der dritte, weitaus heftigste Eisstoß. Die Kugel fiel drei Meter nach unten, schlug hart auf und wankte hin und her, wie ein Stehaufmännchen, dann kam sie knirschend zur Ruhe. Mit einem einzigen Satz war Roqué im Zimmer und warf sich in die Kleidung. Er riß den Verschluß der schweren Pelzparka hoch und lief die drei Schritte bis zur Tür. Sie ließ sich widerstandslos öffnen – ein eisiger Hauch wehte herein. Das Mädchen sagte: »Ich werde mich erkälten, Mann!« Alsina knurrte zurück: »Trink etwas Glühwein.« Er nahm den Handscheinwerfer von der Halterung
dicht neben der Tür, schaltete das Gerät ein und schloß die Tür von außen. Die Geräusche seiner Bewegungen wurden leiser und schließlich unhörbar. Roqué Alsina stand, als er seine Wohnkugel verlassen hatte, in einer amphitheatrischen Ausschmelzung innerhalb des Eises. Vier Meter über sich erkannte er den Einschnitt des Korridors. Die Kugel lag jetzt auf dem Grund eines ausgerundeten Kessels, und das Wasser, das sich gebildet hatte, begann um die Stiefel des Mannes herum zu schmelzen. »Verdammt!« sagte Alsina laut. »Stürmischer Frühling!« Am Rand des Eises zeigte sich ein Kopf; es war einer der Techniker, die mit ihm zusammen am Projekt Vier arbeiteten. »Frierst du?« rief er herunter. »Nein, aber ich sorge mich«, sagte Alsina laut. »Meine Kugel ist, wie du siehst, abgesunken. Sind andere Wohnkugeln ebenfalls umgekippt, abgesackt oder geflutet worden?« »Nicht in unserer Kolonie. Aber die Seismographen verzeichneten diesen Eisstoß sehr genau. Keine Nachbeben – es war ein lokaler Effekt. Geht deine Heizung so gut?« Roqué knurrte: »Besorge eine Strickleiter und wirf sie herunter, dann sage dem Schmelztrupp Bescheid, daß er meine Kugel morgen an eine andere Stelle setzt. Ich gehe zurück ins Bett – Nachtschlaf ist heilig.« Der Techniker grinste und rief: »Schönen Gruß an Adriane – kommt sie morgen zur Häkelstunde?« Alsina bückte sich, riß einen Eissplitter mit der blo-
ßen Hand aus der Wand und feuerte ihn nach oben ab, wie einen kurzen Speer. Der Techniker riß seinen Kopf zurück und entfernte sich lachend. Einige Sekunden lang hörte Roqué ihn noch im Gang singen; es war ein Stück aus einer italienischen Oper. Und am Morgen – also der Zeit, in der hier unten die Tagesbeleuchtung eingeschaltet wurde, sahen sie, warum das Loch ausgeschmolzen war. Sie fanden ein nasses Häufchen Asche. Der Funkspruch wurde abgesetzt ... niemand war sicher, ob nicht mit diesem ersten Schmelzvorgang die Vernichtung oder zumindest die teilweise Zerstörung dieser ersten von zehn wichtigen und kostspielig eingerichteten Stationen eingeleitet worden war. »Dringend ... high speed ... an Rover im Büro für extraterrestrische Angelegenheiten ... Kolonie Sigma auf Terrossian durch rätselhafte Schmelzvorgänge gefährdet. Eingreifen unbedingt nötig. Keine Schäden, keine Toten, keine Verletzten, aber der Verdacht besteht, daß die Schmelzvorgänge weitergehen und die Ölförderung lahmlegen. Wir erbitten baldige Antwort, um unsere Leute beruhigen zu können, andernfalls genaue Verhaltensregeln. Gruß: Alvees. Ende ... high speed!« Und mit diesem Hypergramm waren die Ferien der ORION-Crew schlagartig beendet. Bis auf die von Atan Shubashi: Er lag im Krankenhaus – er war beim Wasserskifahren mit einer Boje zusammengestoßen und hatte sich den Fuß gebrochen. »Verdammt!« sagte Lydia van Dyke, als sie das Hypergramm las. *
General Lydia van Dyke saß in einem der ultramodernen Sessel und schaukelte leicht, die Kunststoffkarte zwischen den Fingern. Sie betrachtete den neuen Mann im Büro für extraterrestrische Angelegenheiten. Es war ein schnurrbärtiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit hellen, graugrünen Augen – Bela Rover saß hinter seinem Schreibtisch und musterte Lydia ebenso intensiv, wie sie es tat. Er sah eine etwa sechsunddreißigjährige Frau mit grauen Augen, dunkelbraunem Haar und einer ausgezeichneten Figur und langen, schlanken Fingern. »Sie scheinen nicht besonders davon begeistert zu sein, daß Cliff McLane und sein Team von mir für diese Frage angeworben worden sind?« fragte Bela Rover halblaut mit einer ruhigen, sonoren Stimme. »Nicht unbedingt«, sagte der weibliche General der Schnellen Raumverbände. »Warum?« »Sehen Sie ... Atan Shubashi liegt mit einem klobigen Gipsverband um den Fuß im Krankenhaus. Er fällt also aus dem Team heraus, und wenn man die Crew durch einen anderen Mann ergänzt, dann leidet die Kontinuität.« Rover schlug mit dem Handrücken leicht auf den Aktenordner, der sämtliche Daten enthielt, angefangen von dem merkwürdigen Fund der VIVANCAS II bis zu dem rätselhaften Schmelzvorgang auf Terrossian. »Gnädige Frau«, sagte Rover mit ausgesuchter Höflichkeit, »ich fürchte, ich muß darauf bestehen, daß Ihr Schützling und Freund McLane diesen Einsatz fliegt. Wir haben keinen anderen Mann in der Flotte, der Erfahrung, Intuition und genügend Durch-
setzungswillen im gleichen Maß mitbringt wie McLane. Wir brauchen ihn.« »Ich sehe es ein, aber das bedeutet nicht, daß ich es gutheiße«, sagte Lydia und legte ein Bein über das andere. Interessiert und schweigend sah Rover zu, lehnte sich dann zurück und murmelte: »Ihr Verständnis adelt Sie, General. Würden Sie es für mich übernehmen, McLane diese unschöne Nachricht zu bringen – er scheint sein Videophon abgeschaltet zu haben. Er soll dort draußen in ORIONIsland eine interessante, aber reichlich merkwürdige Lebensart entwickelt haben.« Lydia sagte trocken: »Alles, was von der Norm abweicht, hält das Establishment für merkwürdig. Ich muß gestehen, ich kenne Cliffs neueste Versuche der Daseinsbewältigung noch nicht, sie scheinen mich aber, wenn ich es recht überlege, zu faszinieren.« Sie schaute auf die Digitaluhr an ihrem Finger und stand auf. »Einverstanden. Ich gehe hin und sage ihm, was auf ihn wartet. Sollte ich in drei Stunden nicht wieder hier sein lassen Sie mich bitte holen. Ich bin dann entweder Cliffs Charme erlegen oder seinen fernöstlichen Weisheiten.« Auch Rover stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Ihr Wunsch wird gebührende Berücksichtigung finden, General.« Er blickte aus dem Fenster; dieses Büro war in einem der neuen Hochhäuser untergebracht und ersetzte eine Menge von alten, baufälligen Bungalows, die einem kleinen Park und einer Meereswasserent-
salzungsanlage Platz gemacht hatten. Dann deutete Rover auf einen weißen Keil, fast am Horizont, und sagte: »Ich wünschte, ich wäre auch dort draußen auf ORION-Island und hätte nicht die Arbeit, die ich hier habe. Glücklicher McLane!« »Sehen Sie«, antwortete Lydia van Dyke lächelnd und öffnete die Tür, »Sie beneiden Cliff. Das bedeutet, daß er den rechten Weg eingeschlagen hat. Auf Wiedersehen!« Die Tür fuhr hinter Lydia van Dyke zu. Bela Rover schüttelte den Kopf und widmete sich wieder den Aufzeichnungen, die ihm von der Mannschaft des Vermessungsschiffes VIVANCAS II und von dem Stationsleiter der kleinen Kolonie auf Terrossian übermittelt worden waren – eine mehr als nur merkwürdige Sache. Betrachtete man sie ohne den normalen Grad an notwendigem Optimismus, dann schien die Eiswelt binnen kurzer Zeit in Gefahr zu sein. General van Dyke rief einen der winzigen Robotwagen her, nannte das Ziel und lehnte sich zurück. Außerhalb der runden Plastikkuppel glitt die Landschaft der Insel vorbei, die von Jahr zu Jahr grüner wurde. Immer mehr konzentrierte sich das Leben in wenigen, hervorragend ausgerüsteten Hochhäusern, und die vielen kleinen Parzellen verschwanden. Minuten später kreiselte der Wagen die lange Rampe abwärts und hielt vor einem der Eingänge zum submarinen Gleitbändersystem, das nach ORION-Island führte. Lydia bewunderte die kühne Architektur, ging die Treppe hinauf und betrat das Band.
Sie stand eine Weile lang bewundernd auf der Terrasse des hundertsten Stockwerkes und betrachtete das Meer. Dann drehte sie sich herum und suchte die Tür, die zu Cliffs Wohnung führte. Die merkwürdige, fremde Melodie war zu hören, dann Cliffs Stimme. »Höre ich recht? Die netteste meiner Vorgesetzten bemüht sich höchstpersönlich?« Lydia sagte gutgelaunt: »Unterbreche ich Sie in Ihrer Meditation?« Cliff öffnete die Tür selbst und schüttelte Lydias Hand. Lydia sah sich neugierig um und betrat dann das phantastische Wohnzimmer. »Hier leben Sie jetzt?« fragte sie leise. »Und weitaus weniger aufwendig als in meinem Bungalow. Sogar ein Swimming-pool befindet sich hier oben.« Lydia ließ sich in dem hohen Teppich nieder und wartete darauf, daß ihr Cliff etwas anbot und vielleicht etwas Konversation machte. Cliff hob den Arm, lächelte und sagte laut: »Ishmee ... komm bitte herein und begrüße unseren Gast. Eine willkommene Abwechslung nach all den langen Urlaubstagen.« Ishmee, in einen hauchdünnen weißen Hosenanzug gekleidet, kam aus der winzigen Küche und trug eine Platte mit drei flachen Schalen vor sich her. Sie setzte die Platte ab, setzte sich selbst und begrüßte Lydia van Dyke. Was sie aus ihren Gedanken erfuhr, schien sie nicht zu beunruhigen. Auch war der Charakter von Lydia van Dyke einwandfrei – Cliff wußte dies schon seit mindestens zwei Jahren, und Ishmee erfaßte diesen Umstand mit Hilfe ihrer Bishayrgabe. »Willkommen, General«, sagte sie.
Lydia stützte sich mit beiden Händen gegen den weichen Teppich ab, sah sich aufmerksam um und betrachtete die so radikal veränderte Umwelt. Cliff trug wieder seinen weißen Sarong; sein schmaler Bart war frisch rasiert und gekämmt, was die grauen Stellen darin nicht verdecken konnte. Cliff schien stolz auf seine grauen Schläfenhaare und auf das riesige Amulett an seiner Brust zu sein. »Ich habe Mühe, Sie wiederzuerkennen«, sagte Lydia. »Ich bin fast der gleiche geblieben«, sagte Cliff und reichte ihr eine Schale. »Nur die Umgebung hat sich verändert. Ich habe mich von der lärmenden, betriebsamen Welt zurückgezogen wie eine Schnecke in ihr vollautomatisches Haus. Und mit gewissen Gewohnheiten habe ich auch gebrochen – radikal.« Während Ishmee aus einer hohen, konischen Kanne Alkohol in die Schalen goß, schnupperte Lydia an der Flüssigkeit und verzog mißtrauisch das Gesicht. »Was ist das?« fragte sie und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Metallschale. »Japanischer Reiswein«, sagte Cliff. »Mit reinem Alkohol und gewissen Gewürzen gemischt.« »Apart. Sie ahnen, weswegen ich hier bin?« Der leidgeprüfte Kommandant der ORION VIII nickte langsam und sagte dann leise: »Überlegen wir einmal ... Sie wollten meine neue Wohnung kennenlernen und mir mitteilen, daß Wamsler einen ungeheuer dringenden Auftrag für uns hat, trotz der Tatsache, daß Atan in Gips liegt.« Lydia lächelte zuerst Ishmee an, dann Cliff. »Ihre erste Vermutung, Cliff, ist richtig. Die zweite stimmt nicht ganz. Kennen Sie Rover?«
Cliff hob die Schale mit drei ausgestreckten Fingern an den Mund und murmelte: »Bela Rover? Das neue Pferd im BEA?« »So ist es.« »Ein tüchtiger Mann. Ich habe schon viel von ihm gehört. Eigentlich sollte er die Stelle eines Turceed einnehmen, hat sich dann aber entschlossen, auf der Erde zu arbeiten. Was will Bela von mir?« Lydia zögerte einige Sekunden, dann bekannte sie: »Er hat Wamsler gebeten, Sie und Ihre Crew freizustellen. Auf dem Planeten Terrossian und in seiner Nähe haben einige merkwürdige Dinge Verwirrungen hervorgerufen. Jean-Claude Arshile und ...« Cliff hob die Hand und unterbrach leise. »Ich habe davon gehört. Es ist ziemlich merkwürdig. Und wir sollen hinfliegen und nachsehen?« »Ja. Man bittet Sie darum. Anstelle Shubashis soll ein neuer Mann an Bord gehen, bis Atan wieder gesundet ist.« »Kennen Sie ihn? Ich nehme niemanden, der nicht Spitzenklasse ist.« Lydia sagte ruhig: »Er ist Spitzenklasse. Warum haben Sie ihr Videophon abgeschaltet?« Cliff machte eine nebensächliche Handbewegung und grinste. »Wir haben ... meditiert, Ishmee und ich. Noch einen Schluck vom Vinkoo?« »Nein, danke. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen, Cliff – nicht mehr seit dem Tag, an dem sie mit dem Großen Schiff wieder eintrafen und uns berichteten, was in der Basis 104 vorgefallen war, sehr zum Ärger Spring-Brauners. Wie sehr hat sich
eigentlich die Eigenschaft ausgewirkt, die Sie mitbrachten?« Ishmee sagte mit einem sardonischen Lächeln: »Mit Hilfe von Bishayr können wir von der ORION-Crew den Charakter eines jeden Menschen innerhalb von Minuten durchleuchten.« Lydia sagte eine Spur kühler, als sie es beabsichtigt hatte: »Glücklicherweise ist mein Charakter trotz meines Berufes ziemlich lauter. Ich meine auch nicht Bishayr sondern den Umstand, daß Sie alle eigentlich Botschafter der Dara sind.« Cliff lehnte sich an die Wand, schloß die Augen und federte ein wenig auf dem Schaumstoffwürfel. Er durchdachte die Situation, in der er sich jetzt befand. Wieder einmal sollte er hinaus in den Raum und versuchen, merkwürdige Eigenschaften des Universums zu durchschauen, zu klären, den Menschen zu helfen, den Kosmos besser zu verstehen. Immerhin war dies besser als die Einsätze früherer Tage: hier brauchte nicht mit Overkill oder mit Laserstrahlen gegen andere Wesen gekämpft zu werden. Es war eine Wohltat, zwischen den Sternen zu fliegen und eine Art naturwissenschaftlicher Detektivarbeit zu betreiben. Je mehr er über den Eisboliden und über die rätselhaften Schmelzvorgänge nachdachte, desto mehr begeisterte er sich für diese Aufgabe. Schließlich lehnte sich der braunhaarige Mann vor und grinste Lydia van Dyke an. »Schade, daß wir nicht öfters Gelegenheit haben, uns zu unterhalten; Sie sind ein sehr angenehmer Gesprächspartner – privat gesprochen. Dienstlich gesprochen kann ich Ihnen sagen, daß ich gern anneh-
me. Die Terrossian-Angelegenheit interessiert mich. Wer ist dieser neue Astrogator?« Lydia flüsterte gespielt geheimnisvoll: »Henryk Villas Leibastrogator. Aaron Toshiro.« Cliff rang sich ein anerkennendes Lächeln ab und knurrte: »Schier zuviel der Ehre. Ein ausgezeichneter Mann. Wir werden uns viel über Literatur unterhalten können. Ich habe mit ihm zusammen einige Zeit lang studiert. Wann ist der Start vorgesehen?« Lydia zog die Kunststoffolie aus der Brusttasche und las das Datum ab. »Übermorgen früh. Die ORION wird gerade startklar gemacht. Sie werden auf Terrossian in neuen Wohnkugeln leben. Wir haben bereits ein Robotschiff losgeschickt.« »Einverstanden. Wann und wo werde ich in meinen Auftrag eingeweiht?« Lydia schaute auf die Uhr. »Um neun Uhr, heute abend, gibt Bela Rover einen kleinen Empfang in seinen Diensträumen. Sie und die Crew sind herzlich eingeladen. Jean-Claude Arshile und Aaron Toshiro sind ebenfalls eingeladen worden. Das Büro für extraterrestrische Angelegenheiten macht es ein wenig lustiger als unser cholerischer Wamsler.« Cliff stand auf und reichte Lydia die Hand. »Wir werden rechtzeitig dort sein«, versprach er. »Nüchtern und ohne fernöstliche Weisheiten. Seit ich mich zurückgezogen habe, wuchern die Legenden.« Lydia schlug ihm kameradschaftlich gegen den Oberarm und sagte sarkastisch: »Als ob Sie nicht genau dies herausfordern wollten,
Cliff! Sie sind durchschaut!« Cliff und Ishmee begleiteten den General bis hinaus auf die Terrasse. »Noch lange nicht. In meinen Ärmeln sind noch viele schöne Karten.« Sie verabschiedeten sich, und Cliff sah der schlanken Frau noch rund fünfzig Meter weit nach. Ishmee schwieg, und als Lydia unter dem Vordach der Liftanlage verschwunden war, sagte sie: »Sie gehört zwar nicht zu deinen Anbeterinnen, von denen es hier und anderswo wimmelt, aber sie ist so etwas wie deine treueste Freundin. Hin und wieder mache sogar ich den Fehler, dich zu unterschätzen. Der Große McLane, beliebt, gefürchtet und bewundert – überall im Kosmos. Was kannst du mir über Terrossian erzählen?« Cliff drehte den Kopf herum. »Du möchtest mitfliegen?« »Selbstverständlich«, antwortete sie ruhig. »Erstens werde ich dich nicht aus den Augen lassen, zweitens interessiert mich das, was ich in den Gedanken gelesen habe, brennend, und drittens ist ein Flug nach Süd/Neun 887 immerhin eine Reise wert.« Cliff runzelte die Stirn und fragte schnell: »Was hatte Lydia in ihren Gedanken?« Das Mädchen im weißen Anzug erwiderte langsam und nachdenklich: »Das, was in der Nähe des Planeten und im ewigen Eis dieser Welt selbst passierte, mag nicht schlimm gewesen sein, tatsächlich kam niemand und nichts zu Schaden. Aber Rover und sein Stab sind beunruhigt. Sie befürchten, daß die Kolonien im Eis sehr gefährdet sind. Darüber hinaus natürlich auch die zweitau-
send Menschen, und ganz zu schweigen von dem wertvollen Öl. Und – sie glauben nicht, daß es eine tödliche Bedrohung ist, sind aber überzeugt, daß unsachgemäße Behandlung dieses Problems aus einem merkwürdigen Vorfall eine akute Gefahr machen kann. Sie sind alle sehr besorgt.« Cliff starrte hinaus auf die gewaltige, blaue Fläche des Meeres, auf der die Sonne Tausende winziger, strahlender Reflexe hervorrief. »Eiswelt in Gefahr?« fragte er sich selbst. »Das etwa waren die Gedanken Jean-Claude Arshiles, Bela Rovers und Roqué Alsinas!« bestätigte Ishmee mit Nachdruck. Langsam gingen sie in Cliffs Wohnung zurück. Während Cliff in dem würfelartigen Korridor stehenblieb und die leuchtenden Sternkarten betrachtete, dachte er daran, daß sich im Laufe der letzten zwei Jahre viel für die Menschen der Erde und ihre Vertreter auf den Planeten der 900-Parsek-Raumkugel geändert hatte. Und er, Oberst McLane, einer der untypischen Raumfahrer jener Jahre, war mit den Anfängen einer jeden neuen Entwicklung eng verbunden. Er hatte durch Kontakte, durch mutige Vorstöße und einen nicht zu unterdrückenden Forscherdrang versucht, das große Abenteuer der Raumfahrt zu bereichern und einiger Geheimnisse zu entkleiden. Und ... immer wieder stieß der Homo sapiens gegen Grenzen, traf auf Dinge, die ihm wie Wunder erschienen, schlug sich mit Faktoren herum, von denen er nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte, als er sich zu den Sternen aufmachte. Es würde bei dem Planeten namens Terrossian nicht anders sein.
Vielleicht etwas gefährlicher als auf dem Planeten der schwarzen Schmetterlinge; vielleicht. Man wußte es vorher nie. »In Ordnung, McLane«, sagte Cliff zu sich selbst. »Fliegen wir also mit einem neuen Astrogator nach Terrossian.«
3 Gegen Ende des neunten Tages – die ORION VIII war mit Höchstgeschwindigkeit geflogen – befanden sich alle sechs Mitglieder der Crew in der Kommandokanzel. Bisher war der Flug ohne jeden Zwischenfall vonstatten gegangen. Und Aaron Toshiro hatte sich als angenehmer, stiller und zurückhaltender Mensch gezeigt. Ishmee und Helga hatten Kaffee und Sandwiches gemacht und heraufgebracht; in der Kanzel herrschte eine angenehme, leicht schläfrige Stimmung. Ein Stück von Tomas Peter lief leise als Backgroundmusik über die Lautsprecher der Bordsprechanlage. Cliff rührte in seiner Tasse, schwenkte seinen Sessel nach rechts und schaute Aaron an. »Sie haben sämtliche Unterlagen durchgesehen, Toshiro«, sagte er langsam und unbetont. »Was halten Sie von dieser Angelegenheit?« Toshiro machte mit drei Fingern seiner linken Hand eine Bewegung, als wolle er sein Kinn zuspitzen. Dann sagte er knapp: »Eine ganze Menge, Kommandant.« Helga sagte von ihrem Pult aus: »Sie denken sicher an die Funde von eingefrorenen Mastodonten und anderen Tieren, die man auf der Erde gemacht hat ...« Mario de Monti schloß sich an. Er sagte: »... und auf anderen Planeten ebenso.« »Ja«, antwortete der Astrogator. Er war groß und schlank, fast etwas zu schlank. Seine Uniform, die deutlich den Eingriff eines Schneiders zeigte, saß ta-
dellos und war fleckenlos sauber. Aaron war ein sehr gutaussehender Mann mit einer Menge scharfer Linien im Gesicht, aber er schien jede noch so geringe Einzelheit seines Innenlebens nur ungern preiszugeben. Er hatte fast schwarze Augen unter schmalen, hochgewölbten Brauen, und am Mittelfinger der rechten Hand trug er einen schweren, mit blauen Steinen verzierten Ring, in den eine winzige Digitaluhr eingearbeitet war. »Ja, daran denke ich«, wiederholte er nachdenklich. »Es ist sehr wahrscheinlich, fast sicher, daß beide Vorkommnisse einen und denselben Grund haben. In beiden Fällen vernichtete sich ein Wesen dadurch, daß es plötzlich eine riesige Energiemenge freisetzte. Und zwar schlagartig.« Hasso Sigbjörnson saß auf der Armlehne von Marios Sessel, hob die Hand mit der Tasse und sagte undeutlich: »Ich habe eine Idee, Männer!« Ishmee warf ihm unter hochgezogenen Brauen einen langen Blick zu, und Hasso verbesserte sich hastig: »Männer und Frauen, oder Mädchen – jedenfalls glaube ich folgendes: Diese schlagartige Entfesselung der Energie war in beiden Fällen eine Panne. Ich denke hier ebenfalls an schlagartig eingefrorene Wesen – Tiere oder Intelligenzen. Aber ich möchte hier etwas modifizieren. Wie wäre es, wenn wir die Winterschlaf-Theorie in unsere Überlegungen mit hereinnehmen würden?« »Winterschlaf?« fragte Ishmee. »Ja. Tiere, die im Sommer oder während einer Jahreszeit – wie lange sie auch immer sein mag – leben,
sich paaren, fortpflanzen, ernähren und dann, wenn die Dunkelheit wieder kommt, sich verkriechen und mit erheblich reduziertem Energiebedarf den ganzen Winter über schlafen.« Mario de Monti kratzte sich hinter dem Ohr und bemerkte verblüfft: »Sie sterben dann, wenn man ihren Winterschlaf verhindert oder unterbricht. Jedenfalls ist eine Verhinderung oder eine Unterbrechung für sie gefährlich.« Cliff schüttelte den Kopf und sah auf das Bordchronometer. In wenigen Stunden würde die ORION VIII im System der Sonne Galileo aus dem Hyperraum gehen und in normaler Unterlichtfahrt dem Planeten entgegenrasen, der aus der Entfernung nicht viel anders aussehen würde wie der Eisbolide, den Jean-Claude Arshile entdeckt hatte. »Nein«, sagte Cliff. »Ihr simplifiziert etwas zu sehr!« Er machte eine Pause und sah wieder auf die betreffenden Seiten des Handbuches, das, aufgeschlagen beim Planetennamen Terrossian, genau über der Scheibe des Zentralschirms lag. »Ich weiß von keinem Tier, das wir auf der Erde oder auf den Planeten entdeckt haben, das ein eigenes Kraftwerk mit sich herumschleppt.« Helga Legrelle strich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte unsicher: »Es war ja auch nur eine Denkhilfe, Cliff!« »Trotzdem«, sagte der Kommandant. Er blieb weiterhin skeptisch. »Denkt bitte einmal genau nach! Bei allen interessanten und auf den ersten Blick wunderbaren Erscheinungen innerhalb der Raumkugel
brauchten wir lange, um das Rätsel zu lösen. Dieses Wesen in Arshiles Boliden ist nicht einfach ein winterschlafendes Tier, das eine Batterie eingebaut hat. Es wird weitaus komplizierter sein.« »Ich bleibe dabei«, sagte Mario nachdrücklich. »Wir sollten sämtliche zugängliche Informationen bei unseren Überlegungen verwerten. Nichts ist so abseitig oder fragwürdig, als daß es nicht irgendwo als Hilfsmodell dienen könnte.« Jetzt stimmte der Kommandant zu. »Darin stimme ich mit dir überein, Mario. Aber ... wir nähern uns dem Planeten und gleichzeitig auch dem Problem. Warten wir ab, in einigen Stunden wird alles etwas anders aussehen. Vielleicht auch weniger merkwürdig.« »Einverstanden«, sagte Aaron. »Kann ich noch etwas von dieser Brühe haben?« Helga richtete sich steil auf und fragte: »Sie meinen doch nicht etwa meinen Kaffee, Aaron?« »Nein«, sagte der neue Astrogator liebenswürdig. »Hätte ich den Kaffee gemeint, dann würde ich auch die entsprechende Bezeichnung gewählt haben. Das hier ist etwas, das ich nicht kenne.« Während Helga versuchte, ihn mit ihren wütenden Blicken aufzuspießen, brachen Hasso und Mario in helles Gelächter aus, und der Kommandant sagte entschuldigend: »Aaron hat nicht unrecht – der Kaffee ist wirklich etwas schlaff, liebste Helga!« Sie schwieg beleidigt. *
Wie eine gewaltige, drohende Lawine schob sich das Bild des Eisplaneten dem Raumschiff entgegen. Eine mächtige, konvex gekrümmte Fläche, deren Ränder bereits den Sichtschirm überfluteten. Zwischen den strahlenden, ausgedehnten Eismassen tauchten sehr viele kleine graue und etwas weniger grüne Flächen auf. Es waren abgeaperte Gebiete, die vielleicht jetzt wieder zu einem flüchtigen Leben erwachten, das nicht länger als fünfzig Jahre dauerte. Die Unterbrechungen der durchgehenden Eisdecke befanden sich meist in der Nähe des Äquators. Die nordpolare Kuppe war um einiges weniger ausgedehnt als die südliche. »Funkkontakt!« sagte Helga. Gleichzeitig schaltete sie das Tomas-Peter-Band aus und legte die Kanäle auf die Bordlautsprecher um. »Kontakt!« sagte Cliff. Die Stimme eines unbekannten Mannes sagte deutlich: »Hier Robotstation Sigma des Planeten Terrossian. Ausnahmsweise mit einem Angehörigen der Kolonie bemannt. Wir erwarten um diese Zeit Radarkontakt mit Raumschiff ORION VIII. Bitte bestätigen.« Cliff grinste und bog das Mikrophon zurecht. »Hier Kommandant McLane an Bord von ORION VIII. Wir erbitten einen Landepeilstrahl und, falls nötig, besondere Anweisungen.« Der Mann auf dem Planeten antwortete: »Der Peilstrahl wird gerade eingeschaltet. Bitte landen Sie dort, wo sich die Robotschiffe befinden. Sie werden erwartet. Gute Landung!« Cliff antwortete: »Und tauende Gletscher!«
Die Verbindung wurde getrennt. Wolkenfetzen flogen über das Eis. Die Sonne, die jetzt einen Großteil des Nordpolgebietes bestrahlte, verwandelte das Eis in eine spiegelnde Fläche mit stumpfen Unterbrechungen. Schneestürme tobten dort und Tornados. Es war eine unfreundliche und gewalttätige Welt, auf der die ORION zu landen versuchte. Aber sie war faszinierend. »Erstaunlich!« murmelte der Kommandant. Er betrachtete, die Finger an den Hebeln der Handsteuerung, die Einzelheiten des Planeten. Das Schiff sank entlang des Peilstrahles fast senkrecht herunter, aber in achttausend Metern Höhe erfaßte ein Jetstream die diskusförmige Konstruktion und wirbelte sie aus dem Kurs. Cliff reagierte blitzschnell, steuerte entgegen der Windrichtung und stabilisierte das Schiff wieder. Aber der Sturm riß und zerrte an dem Diskus, kippte ihn, versuchte ihn abzudrängen, wirbelte ihn herum. Sekundenlang waren die Linsensysteme mitten in einem wütenden Schneesturm. Cliff sah auf dem riesigen Schirm nur noch weiße Wirbel. Dann riß die Wolkendecke auf, und als das Schiff eine Höhe von zweitausend Metern erreicht hatte, verlangsamte der Kommandant die Fallgeschwindigkeit. »Ein ausgesprochen unfreundlicher Empfang!« stellte Mario fest und korrigierte den Sitz der Anschnallgurte. »Nomen est omen«, sagte Aaron. »Es fängt schon gut an ... wie wird es aufhören?« »Ich hoffe: besser!« sagte Cliff. Unter ihm breitete sich ein Gletscherplateau aus, der Kommandant kniff die Augen zusammen und schaltete dann wegen der grellen Lichtfülle einen
Filter vor die Linsen außenschiffs. »Eine phantastische Anlage!« sagte Cliff. »Mario! Sieh einmal her!« Der Erste Offizier, der den Kursanflug zur Sicherheit programmiert hatte, legte einen Hebel herum und stand auf, nachdem er das Gurtschloß geöffnet hatte. Er beugte sich über Cliff und stützte sich auf die Schulter des Kommandanten. »Prächtig!« sagte er. »Geradezu unbezahlbar!« »Doch!« stimmte Cliff weniger begeistert zu. »Nett haben die es hier!« Das Schiff wurde noch langsamer und arbeitete jetzt mit den Antischwerkraftpolstern. Auf dem Zentralschirm schimmerte die Landschaft unter ihnen. Ein riesiger zylindrischer Kessel mit überhängenden Wänden war fünfzig oder mehr Meter tief aus dem Hochplateau hinausgeschmolzen worden. Der Sturm und der mitgeführte Schnee strichen oberhalb dieses Kessels hinweg und senkten sich vermutlich nur selten bis auf den Grund. Dort unten schwebten sechs Robotschiffe über dem blanken Eis. Einige dicke, gepanzerte Schlauchleitungen mit angekoppelten Heizsystemen verbanden die Schiffe mit einem schwarzen Rohr, das aus der Eiswand herausragte. Am Rand des Kessels befand sich ein etwa zwanzig Meter durchmessender Kugelbau, und als sich die ORION noch weiter senkte, sahen Cliff und Mario, daß die Kugel mit den zahlreichen kleinen halbkugeligen Fenstern mit langen, gespannten Stahlseilen in Kunststoffumhüllungen im Eis verankert war. Sie sah aus wie ein Klumpen in einem bizarren Spinnennetz. »Achtung! Landung!« sagte Cliff.
Die letzten zweihundert Meter. Majestätisch langsam senkte sich der Diskus nach unten. Die Sonne riß funkelnde Reflexe aus der silbern schimmernden Außenhülle, diese Reflexe wurden von den Eisflächen widergespiegelt und ergaben ein Muster von hin und her huschenden Lichtern innerhalb des Kessels. An den Rändern der Versenkung befanden sich lange Reihen von teilweise durchlöcherten, teilweise abgeaperten und durch Schmelzvorgänge glatt geschliffenen Eistürmen. Es gab jede Form, jede verwirrende Struktur, spitz und stumpf, abgerundet, geweihähnlich, felsig oder zu phantastischen Tierformen oder anderen Phantasiegebilden geschmolzen und vom Sturm ausgeschliffen. Das Spiel von gleißendem Licht und harten Schatten und von den verschiedenen Zonen der Transparenz – sie erglühten in pastellenen Farben: rötlich, gelb, grün und silbergrau – schuf so einen Zaun um den künstlichen Krater, der aussah, als habe man die Zähne von archaischen Riesentieren in das weiße Eis gerammt. Mario hörte, wie Cliff beeindruckt einatmete. »Wir setzen auf!« Nacheinander wurden die Maschinen ausgeschaltet. Die ORION VIII ruhte jetzt wieder zehn Meter über dem Boden. Ein Robotwagen kam aus einem Stollen gefahren; die Konstruktion umrundete geschickt die vier Mauern, die sich abwechselnd von links, rechts, oben und schräg vorn in die Höhlung hineinschoben und so einen künstlichen Windbrecher und Windfang bildeten. Eine einfache, aber in ihrer Wirkung raffinierte Einrichtung. Der Robotwagen war mit breiten Niederdruckreifen ausgerüstet, in denen man scharfe Spikes erkennen konnte. Er raste heran.
»Was wollen sie mit diesem Ding?« wunderte sich Helga. Sie bekam keine Antwort, aber die Lautsprecher der Funkanlage knackten. »Willkommen, ORION VIII, auf Terrossian«, sagte eine Stimme. Es schien ein anderer Mann als vorhin zu sein; die folgenden Worte bestätigten diese Annahme. »Hier spricht der technische Leiter dieser Zone, Roqué Alsina. Betrachten Sie bitte den Robot – er wird Ihnen den Weg zeigen.« »Danke, Alsina!« sagte Helga. »Wir müssen nur noch unsere Wintersachen auspacken.« »Verstanden.« Der Robot blieb stehen, zwei Arme schoben sich seitwärts hervor, dann krachten zwei helle, schmetternde Detonationen. Sie hallten in dem Kessel wider, in dem die anderen sechs Schiffe mit den großen RZiffern schwebten. Zwei Bolzen waren ins Eis geschossen worden. Der Robot griff nach unten, klinkte zwei Ringe in die Bolzen und lief dann wieder gerade auf den Stolleneingang zu. Hinter sich rollte er einen ein Meter breiten, dicken Kunststoffteppich ab. Das Gespinst war konstruiert wie ein sehr dickmaschiges Netz und verhinderte das Ausrutschen. Mario de Monti lästerte grimmig: »Sie scheinen uns für miserable Diplomaten zu halten, diese widerlichen Pioniere von Terrossian.« Ishmee fragte verwundert: »Diplomaten? Diplomaten der Dara?« »Irgendwelche Diplomaten«, antwortete der Chefkybernetiker. »Sie glauben nämlich, dieses Eisparkett ist für uns zu glatt.«
»Mann!« sagte Cliff in ehrfürchtiger Verwunderung über so viel gewaltsamen Humor. »Sicher werden sie uns nicht als Leute betrachten, denen die Lösung des schmelzenden Rätsels schon nach einigen Minuten gelingt.« »Nein, sicher nicht«, sagte Aaron Toshiro. »Ganz bestimmt nicht. Aber wir sollten das Schiff verlassen ... in neun Stunden ist es dunkel.« Cliff stand auf, nachdem er das Schiff entsprechend versorgt hatte und sagte: »Wir ziehen uns die mitgebrachten Sachen an und gehen dann über den schönen Teppich unseren Gastgebern entgegen. Ohne sarkastisch wirken zu wollen: Ich hoffe nicht, daß diese Basis hier in Kürze weggeschmolzen wird.« Sie zogen gefütterte Stiefel an, die durch ein winziges Aggregat beheizt wurden. Die Stiefel reichten bis knapp unter das Knie. Darüber kamen knöchellange Mäntel, innen mit einem Kunstfasergewebe gefüttert, außen mit einem wasserabweisenden Kunstlederbezug; sie waren schwarz. Große Kapuzen und ein Kragen, der sich über den Kopf ziehen ließ, vervollständigten die Ausrüstung. Cliff zog seine Handschuhe an, als er mit Ishmee zusammen in der Liftschleuse stand. »Kannst du irgendwelche Gedanken von langsam erwachenden Intelligenzwesen feststellen, Ishmee?« fragte er leise aber er glaubte nicht, eine positive Antwort zu bekommen. »Nein. Nichts. Nur die typisch menschlichen Gedankenausstrahlungen von etwa zweihundert Pionieren, männlich und weiblich.« »Ich fürchtete es«, sagte der Kommandant.
Die Schleusentür fuhr auf, ein eisiger Hauch schlug ins Innere. Cliff setzte die dunkle Brille auf, schüttelte sich und zog den Saum des hochgestellten Pelzkragens hoch. »Ich glaube«, sagte er undeutlich zwischen dem Kunstfell hervor, »ich habe irrtümlich einen warmen Eisplaneten erwartet.« Die sechs Mitglieder der ORION-Crew gingen ziemlich schnell durch die gleißende Helle und die klirrende Kälte auf den Eingang des Stollens zu. Es war nahezu windstill hier unten. Cliff ging als erster um die schrägen und geraden Wände herum, die als Windfang dienten. Es wurde dunkler, Cliff nahm die Brille ab. Eine Minute später umringten die Terraner eine kleine Gruppe von drei Männern, die ähnlich wie die Crew gekleidet waren. Sie stellten sich vor: Roqué Alsina Juan Allende und ... der dritte Mann entpuppte sich als Mädchen. Es war Adriane Globokar. »Sie wollen uns also helfen?« stellte Roqué nach einem langen, abschätzenden Blick auf Cliff fest. Cliff versenkte sich in Alsinas Charakter, und er stieß auf einige Faktoren, die sich gemeinhin schwer vereinbaren ließen. Er spürte die versteckte Zurückhaltung des Mannes, die keinesfalls berechtigt war und sagte langsam: »Sollten Sie es über sich bringen, Alsina, den Phänomenen etwas weniger voreingenommen als mir entgegenzutreten, wäre unsere Anwesenheit hier vermutlich restlos unnötig.« Alsina schnappte laut: »Wie meinen Sie das, Oberst?« Cliff breitete die Arme aus, stieß an Mario, ent-
schuldigte sich durch Blicke und sagte nachdrücklich: »Alle Dinge sind erklärbar. Sie verweigern sich einem Menschen nur dann, wenn man mit einer festumrissenen Menge von persönlichen Vorurteilen an die Aufklärung herangeht. Alle großen Entdecker der Geschichte waren im Augenblick, da sie etwas Neues sahen oder spürten, unbefangen wie Kinder. Sie kamen allerdings auch manchmal um wie Kinder.« Adriane lenkte ein. »Meine Aufgabe hier ist es, vorübergehend, Ihnen alles zu sagen, zu berichten, zu schildern und zu zeigen, was Sie brauchen. Kann ich Sie zu Ihren Wohnkugeln bringen? Wir haben sie ziemlich weit oben angebracht, weil wir der Auffassung waren, daß Sie sich zunächst mit dem Raumschiff unseren Planeten ansehen werden. Sie haben aber einen direkten Zugang zu unserer Kolonie.« »Wie schön«, sagte Mario de Monti unvermittelt. »Haben alle Mädchen hier solch ausdrucksvolle Augen wie Sie?« Adriane sagte ungerührt: »Nicht alle, aber viele, Mister de Monti. Ich rate Ihnen gut, stets vorher die anwesenden Herren zu fragen, ehe Sie Ihre terranischen Charmebänder abspielen; Sie würden dann einige Tragödien verhüten helfen.« Mario war hocherfreut über diese Antwort und ging neben ihr einige Meter in den Stollen hinein. Er sagte leise: »Roqué braucht keine Angst zu haben. Ich liebe zwar Ihre Stimme und Ihre Augen, aber wir dienen der Wissenschaft, nicht unserem eigenen, primitiven Vergnügen.«
Das Mädchen verbeugte sich etwas und erwiderte kühl: »Aus genau diesem Grund, denke ich, hat man Sie hierhergeschickt.« »So war es«, bestätigte Mario mit blankem Sarkasmus. »Wir haben uns förmlich geschlagen, um einmal die höflichsten Pioniere der Raumkugel kennenzulernen. Und ich bekenne neidlos und voller Bewunderung – wir haben wirklich die personifizierte Höflichkeit und das inkarnierte Entgegenkommen gefunden.« Drei Meter hinter ihm rief Roqué Alsina: »Flirten Sie nicht, de Monti!« Mario drehte sich um und musterte den Pionier. Er war etwas außer Form, aber er hoffte, Alsina in das gewachsene Eis rammen zu können, falls der Pionier sich hinreißen ließ. »Keine Sorge«, sagte er trocken. »Ich werde meinen Importcharme nicht gegen Sie anwenden; schließlich suche ich Gegner, keine Opfer. Würden Sie mir bitte berichten, was nach Ihrer Meinung der Impuls für den Schmelzvorgang gewesen ist?« »Also«, sagte Aaron unvermittelt, »die warme Höflichkeit war's nicht. Das halte ich für ausgeschlossen.« Ishmee tat im Augenblick das Klügste, was sie unternehmen konnte: Sie schwieg und versuchte, die Schwingungen genau zu definieren, die hier zwischen den beiden Parteien herrschten. Eifersucht. Das war es! Keine Angst wegen der Schmelzkatastrophe, dazu waren die Pioniere zu selbstbewußt, zu klug und mit zu großen technischen Möglichkeiten
ausgerüstet. Sie brachten auch nicht der Crew a priori Ablehnung gegenüber, aber sie würden es nicht lieben, wenn die McLane-Leute für sie die Phänomene erkannten und die Geheimnisse lösten. Sie waren schlicht und einfach auf die Besserwisser von der Erde in ihren neuen Pelzen und dem leichten Geruch nach Rasierwasser eifersüchtig. An diesem Punkt der Überlegungen angelangt, lächelte Ishmee und schob die Kapuze drei Zentimeter weit zurück. »Vor wieviel Tagen oder Wochen hat der Frühling angefangen?« fragte sie dann. Juan Allende und Roqué starrten sich verblüfft an. »Sie müssen wissen ...«, begann Allende. Ishmee unterbrach ihn ruhig, aber sehr bestimmt. Sie sagte halblaut: »Ich weiß.« Allende lachte verlegen auf. Er besaß einen Charakter von der Transparenz des Milchglases, in das man Stahldraht vergossen hatte. Ein harmloser, netter junger Mann, dessen innerste Struktur von einer überraschenden Härte war. Er würde im entscheidenden Moment mehr leisten als Roqué. »Folgendes ist dazu zu bemerken«, sagte er dann. »Die Eisdecke war um den Äquator niemals ganz geschlossen. Wir haben zweimal Frühling – einmal den exakt planetarischen, der mit dem Sonnenstand und der Polachsenneigung zusammenhängt und für uns nichts anderes bedeutet als einen erhöhten Lichteinfall in gewissen Gebieten. Dann den zweiten Frühling, der vom Erscheinen der ersten Pflanze gekennzeichnet wird. Dieser Frühling – astronomisch ist es inzwischen schon fast Sommer – begann vor zwanzig Tagen.«
Hasso Sigbjörnson nickte dem Mädchen dankend zu und blieb am Fuß der Treppe stehen. Sie war frisch aus dem Eis herausgeschmolzen worden und mit keilförmigen Stücken von demselben Kunststoffgewebe bedeckt, das auch vom Schiff bis zum Stollen führte. »Gibt es eine solche ›erste Pflanze‹?« fragte der Bordingenieur. Seine Stimme schaffte es innerhalb von drei Sekunden – so lange brauchte er, um seine Frage auszusprechen –, die Spannungen zwischen den beiden Gruppen zu beseitigen. »Ja!« sagte Adriane Globokar. Cliff wirbelte herum und deutete mit dem Finger auf das Mädchen. »Wo?« Sie schien etwas verwirrt zu sein. »Ich habe sie bei ... Roqué gelassen. Sie steht in seiner Wohnkugel. Eine sehr schöne Blume.« »Das sind Stiefmütterchen auch«, bestätigte Cliff unbewegten Gesichtes. »Würde es den Rahmen Ihres Entgegenkommens sprengen, wenn Sie mir diese Blume in meine neue Wohnkugel bringen würden? Natürlich in entsprechender Begleitung!« »Sie wird Ihnen gebracht werden!« versicherte Alsina. »Gut. Danke schon jetzt«, sagte der Kommandant. »Ich nehme an, am Ende dieser Treppe liegen unsere Behausungen?« »Ja.« Cliff streckte dem Pionier seine Hand entgegen, und nach einem kaum wahrnehmbaren Zaudern ergriff Roqué Alsina Cliffs Hand und drückte sie. Er
konnte natürlich nicht widerstehen und versuchte eine Kraftprobe, indem er die Hand zusammenpreßte, als versuche er, Wasser aus einem Stein zu quetschen. Cliff lächelte, so daß alle seine Zähne sichtbar wurden und drückte seinerseits zu. Es war, schon in der Akademie, ein beliebter Sport gewesen, und Cliff hatte jahrelang mit entsprechenden Geräten trainiert. Genau fünf Sekunden später knickte Alsina leicht in den Knien ein, ließ dann die Hand los und schüttelte sie. »Ich glaube«, knurrte er widerwillig, »wir könnten uns verständigen.« »Aber sicher«, sagte Cliff. »Schade, daß Sie Abstinenzler sind.« Als Alsina laut zu lachen begann, drehte sich der Kommandant um und ging als letzter seiner Crew die Treppe hinauf. Am Ende der Treppe war ein ebenfalls kugelförmiger Raum ausgeschmolzen worden; da die Exkavatoren nicht flächenhaft, sondern von einem Hitzezentrum aus arbeiteten, war das die natürlichste Form. Die fünf konvexen Türen der Wohnkugeln waren zum Zentrum hin angeordnet, die sechste Kugel befand sich dicht neben der Treppe. Cliff blieb stehen und sah sich um. In der Decke der ausgehöhlten Kugel hing ein Leuchtkörper, der keinerlei Wärme entwickelte. »In einer halben Stunde treffen wir uns in meiner Wohnkugel«, sagte er und öffnete die nächste Tür. »Ich werde nur noch schnell mein Make-up auffrischen.« Helga grinste und sagte leise: »Vergiß nicht – die tiefe Temperatur macht den Lippenstift etwas problematisch.« Cliff streckte seinen Kopf aus der Tür und flüsterte:
»Ich weiß! Eiskalte Küsse und so ...« Er drehte sich um, schaltete das Licht ein und merkte, daß gegen sein Erwarten die Kugel beheizt und voll ausgerüstet war. Er wußte, wieviel Anschlüsse erfolgt waren, blieb kurz neben dem Einstieg stehen und betrachtete den Raum; überraschend viel Platz, überraschend komfortabel, trotz der genormten Fertigbauteile. Aber die Möglichkeiten, durch Muster und Farben immer neue Kombinationen hervorzurufen, waren nahezu unendlich groß. Cliff schlug die Kapuze zurück, zog den langen Maximantel aus und warf ihn über die Lehne der breiten Schlafcouch. Dann ging er in den Raum hinein, schaltete einige Beleuchtungskörper und die Belüftungsanlage ein und setzte sich. »Irrsinnig gemütlich!« murmelte er. Er schaltete das Bandgerät ein, wartete einige Sekunden und drehte dann die Lautstärke zurück. Es war überraschenderweise Barockmusik. Cliff lehnte sich schwer in den Sessel hinein, schloß die Augen und legte die Stiefel auf ein niedriges Sideboard. Langsam zogen die einzelnen Bestandteile dieses kosmischen Puzzlespieles an ihm vorbei. Das Eis ... die Planetenbahn ... der Raumhafen ... die wenig entgegenkommende Art der Pioniere ... und die Tiere, die im Kälteschlaf oder Kältetod lagen und sich selbst verbrannten. »Es ist noch zu früh«, sagte der Kommandant und zapfte eine Tasse Kaffee aus der automatischen Maschine ab, goß Alkohol darauf und rührte vorsichtig um. Ein betäubender Geruch durchzog die Wohnkugel, das autarke System. Cliff schaltete die Sichtscheibe an und blinzelte, als sich das Bild voll erstellte.
»Verdammtes Eis!« knurrte der Kommandant. Die Sonne beschrieb jetzt, im späten ›Frühling‹ dieses Planeten, eine runde Bahn, an deren oberstem Punkt sie sich etwa dreißig Grad über dem Horizont befand. Jeden Tag glitt dieser Punkt etwas höher, aber erst nach fünfundzwanzig Jahren würde der absolut höchste Sonnenstand erreicht werden. Trotzdem war die Temperatur fühlbar gestiegen. An der Tür ertönte ein hartes Klopfen. »Ja!« rief Cliff und drehte sich um. Das Mädchen Adriane öffnete die Tür, hinter ihr stand Juan Allende. Er war bekannt als der Mann, der mit einem Baseballschläger den ersten Amokläufer der Kolonie zwei Meter vor der Kontrolltafel der zentralen Energieversorgung gestoppt hatte. Seit diesem Erlebnis zeigte Juan eine Eigentümlichkeit: Er neigte dazu, sich laut mit sich selbst zu unterhalten, wenn kein anderer Gesprächspartner in der Nähe war. Juan Allende trug den stählernen Zylinder, in dem Cliff die Blume vermutete. »Treten Sie näher, meine lieben Freunde«, sagte Cliff salbungsvoll. »Es freut mich sehr, mit Blumen beschenkt zu werden, kaum daß ich meinen Stiefel auf Ihr Eis gesetzt habe.« Schweigend schloß Allende die Tür hinter sich. Adriane nahm ihm den Zylinder ab, stellte ihn auf den Tisch und holte die Blume heraus. Cliff richtete die Punktleuchte darauf und blieb stumm und beeindruckt stehen. Er ging langsam und wie erstarrt in einem Halbkreis um die Pflanze herum, die ihre Staubgefäße ausstreckte wie ... wie die Schmetterlinge auf Caernavan't. Eine Idee zuckte Cliff durch den Kopf, aber sie war so wenig ausgeprägt, daß er sich schon
nach Sekunden nicht mehr erinnern konnte. »Bezaubernd!« sagte er leise. Das Mädchen warf ihm einen schwer deutbaren Blick zu, zuckte dann die Schultern und öffnete ihren Pelzmantel. »Das ist die erste Blume, die es hier in unserer Nähe gab, draußen, jenseits des Gletscherrandes in der Ebene. Juan hat sie gefunden, als er auf einem Kontrollflug war.« »Inzwischen gibt es Hunderte davon«, ergänzte Juan Allende. »Auch in der Kolonie?« fragte der Kommandant. Juan zuckte mit den Achseln. »Das ist durchaus möglich«, sagte er nachdenklich. »Natürlich kenne ich nur wenige Wohnkugeln von innen. Aber es ist zu vermuten, daß sich einige Mädchen Blumen auf den Tisch gestellt haben. In den wenigen öffentlichen Kugeln habe ich keine bemerkt.« Cliff dankte. »Sagen Sie«, meinte er nach einiger Zeit. »Sie haben die entsprechenden Messungen sicher unternommen. Wie stark schmilzt das Eis ab, welche Maximalgrenzen sind zu beobachten?« Juan bohrte mit einem Zeigefinger wütend in seinem Ohr und brummte dann: »Ich kann Ihnen die Pläne bringen lassen. Die Oberfläche dieses Polgletschers senkt sich um zwanzig Meter. Die Ränder des Gletschers rundherum ziehen sich um etwa fünfundneunzig Kilometer zurück.« »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht«, fragte Cliff provozierend, »daß eventuell diese Blumen eine Art Signal ausstrahlen könnten? Betrachten
Sie die langen, fast überdimensionierten Staubgefäße ... sie bewegen sich wie die Fühler von Insekten.« »Was hat das mit den Schmelzungen zu tun?« fragte Adriane. »Das weiß ich nicht. Vielleicht hat es etwas zu tun«, sagte Cliff. »Gut, ich danke Ihnen. Wen darf ich anrufen, wenn ich etwas brauche? Eine Auskunft oder etwas Entsprechendes?« »Rufen Sie einfach die Ziffer Eins. Dort werden Sie von einem Robot bedient, der Ihnen alles sagen kann.« Cliff verbeugte sich ironisch, als Juan und Adriane seine Wohnkugel verließen. Einige Zeit später hatte sich die gesamte Crew in Cliffs Wohnkugel versammelt und schaute bewundernd und leicht irritiert die Blume an. Sie hatten eine solche Pflanze noch nie gesehen. Sie war einmalig. Schön, aufregend, sah unschuldig aus und vermittelte doch den Eindruck von etwas Fremdem, Bedrohlichem. Die schlangenartigen, fast wie biegsame Antennen wirkenden Staubgefäße bewegten sich zitternd und, wie es schien, voller Leidenschaft, als wollten sie in Richtung auf den Bildschirm die Wand durchbrechen und die ganze Blume mitsamt dem stählernen Topf hinter sich herzerren. »Seltsam«, sagte Aaron. »Einen Augenblick!« Er verließ den Raum und kam drei Minuten später wieder zurück. Dann öffnete er einen stabilen kleinen Stahlkoffer und hob die Bauteile eines Meßgerätes heraus, räumte den Tisch ab und während sich Cliff und die anderen über die Linien der Karte beugten und das Ausmaß feststellten, in dem sich das Eis zurückzog,
das Ausmaß des zu erwartenden Grüngürtels um den Pol also, nahm Aaron seine Messungen vor. Er schloß Zeigerinstrumente an Verstärker an, koppelte Batterien daran und drückte Schalter herunter. Dann grinste er lautlos, breitete ein großes Zellstofftuch aus und nahm die Pflanze aus dem stählernen Behälter heraus und legte sie inmitten bröckelnder Erde auf das Tuch. Als er zwei Sonden in das Erdreich einführte, schlugen mehrere Zeiger stark aus. »Achtung!« sagte er scharf. Die Köpfe der Mannschaft drehten sich schnell herum, die Crew kam näher, und um den Tisch bildete sich ein enger Kreis. Cliff fragte besorgt: »Was hast du ... was haben Sie festgestellt, Aaron?« »Sie können mich ruhig duzen«, sagte der Astrogator. »Ich habe festgestellt, daß die Pflanze und das Erdreich zusammen einen deutlichen Batterieeffekt ergeben. Ich schlage vor, wir lassen im Erdöllabor dieses Stützpunktes eine Qualitätsanalyse durchführen.« Mario de Monti sagte nach einem langen Blick auf die Zeiger, die sich kaum bewegten, nur ... sie zitterten fast unmerklich, in einem schwach feststellbaren Rhythmus: »Das würde bedeuten, daß die Erde dieses Planeten, zumindest an vielen Stellen, stark bleihaltig ist, und die Pflanze sondert verdünnte Schwefelsäure ab.« Der Astrogator bestätigte: »So oder ähnlich, Mario.«
Eine einfache Bleibatterie, also einer der chemisch einfachsten Energiespeicher der klassischen Physik, bestand aus einem Behälter, der säurefest sein mußte. Bei einer entsprechend schwachen Säurekonzentration, wie sie hier vorlag, konnte der Behälter fortfallen, beziehungsweise bildete der tiefgefrorene Boden eine Art Begrenzung. Wie allerdings der Umstand der positiven und negativen Speichersätze hier gelöst war, blieb zur Stunde noch unklar. »Einverstanden«, sagte Cliff. »Schaffen wir entsprechende Proben in das Labor und lassen sie testen.« Sie ergingen sich noch einige Zeit lang in Theorien, dann trennten sie sich wieder. Sie waren müde. Nach einem schnellen Essen, das Ishmee bereitete, ging Cliff wieder zurück in seine Wohnkugel, setzte sich gegenüber dem Tisch hin und starrte die Blüte an. Die Staubgefäße bewegten sich wie Antennen.
4 Aus dem Erdreich bezog die Pflanze auf dem Umweg über die Säure, die ihre Wurzeln ausschieden, eine schwache elektrische Energie. Braunes Bleioxyd einer noch nicht feststellbaren positiven Bleischicht und graues Blei der negativen Schicht wurden zu blaßgrauem Bleisulfat verwandelt, dabei verdünnte sich die Säurekonzentration; Wasser wurde gebildet. Dieser Batterieeffekt schien für alle Pflanzen zu gelten, da sie ein gemeinsames Erdreich besaßen, in der gleichen Erde wuchsen. Im Innern der Pflanze wurde der schwache elektrische Strom – Ishmee hatte die Stärke der Messungen vergessen – umgewandelt in eine Art Funksignal, das die Staubgefäße ausstrahlten. Als vom Labor der Bescheid eintraf daß man in den Pflanzenteilen Kupferspuren festgestellt hatte, war auch das Geheimnis der Leitfähigkeit keines mehr. Die Staubgefäße wirkten wie ein primitives Funkgerät; sie arbeiteten wie ein Relais einer primitiven Türglocke. Diesem Umstand war die zitternde Bewegung der langen Staubgefäße zuzuschreiben. Ein Signal ...! Ishmee lag entspannt in dem breiten Bett, in das sich die Couch verwandelt hatte. Die Temperatur innerhalb der Wohnkugel war gesenkt worden – die Servomechanismen arbeiteten mit gewohnter Zuverlässigkeit. Es waren keinerlei Geräusche zu hören, denn das dicke Eis schirmte die einzelnen Bezirke hervorragend voneinander ab. Eine ungewohnte Stille umgab das Mädchen mit dem kurzen, schwarzen Haar und den goldfarbenen Augen.
Sie versuchte, mit Hilfe ihrer halbtelepathischen Begabung, Strömungen und Gedanken, Signale und Schwingungen aufzufangen, die fast überall dann festzustellen waren, wenn völlige, ausschließliche Ruhe herrschte – wie hier. Und nach einiger Zeit strömten Eindrücke und vage Vorstellungen auf das Mädchen ein. Signale? Angenommen, so dachte Ishmee, diese Pflanze war der erste Bote der neu erwachenden Flora. Wasser Wärme, Sonnenstrahlen ... und die Blumen begannen zu wachsen. Sie bildeten die Nahrung für die Fauna. Aber noch gab es hier kein einziges wirklich großes Tier; winzige Nagetiere waren festgestellt worden, Käfer und wenige Fluginsekten. Ein Sommer von rund einem halben Jahrhundert aber war die biologische Chance für Großtiere. »Schlaf«, murmelte Ishmee müde. »Winterschlaf?« Das könnte eine Möglichkeit sein. Die großen Tiere schliefen, in meterdickes Eis eingehüllt, den langen Winter. Sie ließen sich im späten Herbst, bei dem Schein der Sonne über dem Eis, einschneien und einfrieren und erwachten erst wieder dann, wenn die Polgegend in den Bereich der Sonneneinstrahlung geriet. Ishmee schlief ein. Sie wurde zögernd wach, als sich das Bett bewegte. Ishmee rieb die Augen, richtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit hinein. Signale aller Art strömten auf ihr Hirn ein, aber keines davon war zu deuten. Es war ein wilder Aufruhr von sich überlappenden, aufgeregten Impulsen. Und jetzt kippte das Bett und mit ihm der Boden der Wohnkugel um eini-
ge Grad, ein harter Schlag von Metall gegen Eis ging durch den Raum. Irgendwo klirrten Glas oder Porzellanteile gegeneinander. »Was ist das?« fragte Ishmee. Sie fürchtete sich nicht einmal, sie wunderte sich aber stark. Sie hatte wohl im Unbewußten erwartet, daß in ihrer Nähe ein Schmelzvorgang stattfinden würde – aber jetzt wurden die Schwankungen stärker, das Klirren und Klappern wurde lauter. Die Kugel schwankte von einer Seite zur anderen, drehte sich dann plötzlich um hundert Grad, sackte um mehrere Meter ab und zog wieder hoch, als ob man sie in Wasser geworfen hätte. »Cliff!« schrie Ishmee. Plötzlich befand sich das Mädchen im Griff der Angst. Ein hartes, drohendes Poltern kam von außen dann ein schwerer Schlag, der die Wohnkugel in halbe Drehungen versetzte. Sie schwankte, schlug ständig gegen andere harte Dinge, taumelte und fiel dann um etwa zehn Meter senkrecht nach unten. Es donnerte und krachte. Ishmee schrie. Dann herrschte Ruhe. Ishmee atmete tief ein und aus, setzte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen. Von draußen kam ein knisterndes Geräusch, als ob sich riesige Eiskristalle in die Wohnkugel bohren würden. Ishmee stand auf, schaltete das Licht ein – es schien alles wie vorher zu funktionieren. Das Mädchen zog sich an und legte den Mantel in die Nähe. »Was jetzt?« Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Wieder gab es diese brechenden Geräusche. Unterhalb der Türschwelle
sah Ishmee im Licht, das aus der Kugel nach außen drang, eine durchgehende Eisschicht. Sie griff nach rechts, nahm den Handscheinwerfer aus der federnden Halterung und schaltete ihn ein. Das Licht brach sich an den glatten, tropfenden Wänden. Das Wasser, das daran entlanglief, gefror an einigen Stellen bereits wieder und bildete ein System langer, glitzernder Eiszapfen. Ishmee schaute nach oben und sah, wie eine andere Wohnkugel schräg im Eis hing. Langsam bewegte sich die Kugel, rutschte aus dem Loch, dann fiel sie senkrecht nach unten und krachte auf Ishmees Kugel. Es gab einen lauten, hallenden Schlag, der sich durch den neugeschaffenen Hohlraum und die Korridore fortsetzte. Im Eis schienen sich eine Menge von Spalten zu befinden, durch die das Wasser ablaufen konnte. »Wer immer dort drinnen geschlafen haben sollte«, sagte Ishmee mit Galgenhumor, »jetzt ist er sicher wach geworden.« Es stand fest, daß in unmittelbarer Nähe der sechs neuinstallierten Wohnkugeln einer der gefürchteten Schmelzvorgänge stattgefunden hatte. Ishmee verließ ihre Kugel, trat auf das Eis hinaus und rutschte langsam und vorsichtig bis an die glatte Eiswand hinüber. Der Strahl aus ihrem Scheinwerfer beleuchtete die sechs Kugeln, die übereinander lagen, wie eine Handvoll großer Kugeln in einem zylindrischen Gefäß. Nacheinander gingen die Türen auf, und die restliche Crew in allen Stadien des Angezogenseins wurde sichtbar. »Ist jemand verletzt?« schrie Cliff McLane aufgeregt. Seine Kugel war diejenige, die zuletzt herunterge-
kracht war. Von der Decke der neuentstandenen Höhle baumelten die langen, silbern leuchtenden Verbindungskabel herunter. »Nein!« rief Hasso Sigbjörnson. »Ausgerechnet mitten im schönsten Schlaf mußte das passieren.« »Ich bin sehr erschrocken!« meinte Helga Legrelle laut. »Und einiges Geschirr ist auch kaputt.« Eine halbe Minute später stand fest, daß niemand ernsthaft verletzt war. »Es ist das beste«, rief der Kommandant, »wir setzen unsere unterbrochene Nachtruhe fort. In unserer Nähe wird kein Schmelzvorgang mehr stattfinden, und passiert ist auch nichts. Bis morgen dann!« Er schlug die Tür zu seiner Wohnkugel zu, ein leichter Ruck erschütterte die fünf anderen Kugeln. »Von mir aus – recht hat er!« knurrte Hasso Sigbjörnson. Einige Minuten später sahen die Pioniere, die mit Strickleitern und Seilwinden die Treppe hinaufgestürmt kamen, nur noch die Kugeln unter sich liegen. Sie zuckten die Schultern, hängten eine Strickleiter an den Rand des Absturzes und warfen sie herunter, dann gingen sie wieder. Nicht einmal der skeptische McLane glaubte jetzt, daß Blume und Schmelzvorgang nichts miteinander zu tun hatten. Die Crew schlief neun Stunden lang. * Ein elektronisch gesteuerter Exkavator hatte einen neuen Stollen gegraben, und nacheinander glitten die
sechs Wohnkugeln auf kleinen schlittenähnlichen Untersätzen aus dem geschmolzenen Loch heraus. Der Nebel des verdampften Wassers schlug sich überall nieder. Cliff McLane und Aaron Toshiro hatten die schweren Pelzmäntel ausgezogen und suchten, unterstützt von einer Batterie Punktlichter, die künstlich geschaffene Höhlung ab. Aaron richtete sich auf, schaltete seinen starken Scheinwerfer aus und fragte unruhig: »Was suchen wir eigentlich, Cliff?« Der Kommandant suchte weiter und kratzte mit einem Stahlstift an dem neugebildeten Eis herum. »Das weiß ich selbst nicht. Einfach alles, was es hier gibt – außer Eis natürlich. Der Schmelzvorgang lief nicht ohne Rückstände ab.« Sie suchten weiter, verbissen, schweigend und fröstelnd. Während die übrigen der Crew die Wohnkugeln an einer Stelle unterbrachten, an der sie hofften, nicht mehr durch nächtliche Wasserfluten beunruhigt zu werden, krochen die beiden Männer hier am Boden der Höhle herum und suchten jeden Quadratzentimeter des Eises ab. Sie arbeiteten schon eine Stunde lang und hatten nichts gefunden. Unablässig dachten sie über die Theorie nach, die sich inzwischen aus allen beobachteten Ereignissen gebildet hatte. Was war richtig? Mit einer Serie schneller, sorgfältig gezielter Schläge hämmerte Aaron auf ein mächtiges Bündel von Eiszapfen ein; mehr als drei Meter lang und einen halben Meter dick. Nacheinander schlugen die Eisspeere zu Boden und splitterten in lange Bruchstücke. Cliff sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite und fluchte.
»Hast du vor, mich umzubringen?« »Nein«, rief Aaron wütend. »Das ist der Preis der Wissenschaft. Ein verwundeter Kommandant gegen einen Fund, der durchs Eis schimmert.« Cliff kam langsam näher, den Unterarm schützend vor das Gesicht gehalten und blendete voll auf die Stelle des Eises, von der die langen Splitter brachen. Drei, vier schwere Schläge, dann brach der Kern der Eismasse herunter. Dahinter sahen die beiden Terraner ein faustgroßes Stück. »Eindeutig schwarz«, sagte Cliff. »An dieser Stelle müßte der Kern der Hitzeentwicklung gewesen sein«, sagte Aaron leise. »Hier unten kannst du das frische Eis in den alten Spalten erkennen.« Cliff zog langsam seine HM 4 aus der Tasche, entsicherte die Strahlenwaffe und winkte dann dem Astrogator, zurückzutreten. Dann schoß er. Der Strahl traf auf das Eis, verdampfte es augenblicklich und schnitt einen Kreis hinein, in dessen Mittelpunkt jener schwarze Gegenstand lag. Langsam bewegte Cliff sein Handgelenk. Plötzlich sah es so aus, als ob sie der Lösung des Geheimnisses einen Schritt näher gekommen wären. Nachdem der Dampf hochgestiegen, das Wasser nach unten abgeflossen war, zeigte sich ein breiter Spalt um den Gegenstand. »Los, ausbrechen!« sagte Cliff ungeduldig. Aaron setzte sein stählernes Werkzeug ein, stemmte es in den Spalt und warf sich mit voller Kraft gegen den Hebelarm. Es knirschte, dann gab es ein scharfes, knackendes Geräusch. Der ungleichför-
mig zylindrische Eisblock brach aus der Öffnung, krachte inmitten der Splitter zu Boden. »Labor?« fragte Aaron kurz. »Natürlich!« Sie schlugen ein dünnes Netz um den Eisblock, hoben ihn auf und gingen auf die Strickleiter zu. Zwei Meter kletterten sie daran hoch, dann schwangen sie sich in den runden Korridor hinein und liefen ihn schnell abwärts, kamen an der Gruppe der arbeitenden Crew-Angehörigen vorbei und stießen auf Juan Allende. Cliff packte den Pionier am Arm, um nicht auszurutschen. »Wo finde ich das Labor, Juan?« fragte er. Juan sah Aaron an, dann den Gegenstand, der zwischen Cliff und dem Astrogator im Netz hing, dann nickte er und sagte schnell: »Sie haben etwas gefunden? Ich bringe Sie ins Labor.« Auf einem neu ausgerollten Belag rannten sie hinunter zum Hauptgang, bogen in den Korridor ein, der zu den halbkreisförmig angeordneten Kugeln führte und blieben nach einigen zwanzig Metern vor einer Kugel stehen, auf deren breiter Tür der Buchstabe L aufgespritzt war. Juan Allende klopfte an, riß die Tür auf und deutete auf Cliff und Aaron. »Carradine«, sagte er halblaut, »diese Herren brauchen deine Kenntnisse.« Das Mädchen im roten Laborkittel sagte: »Sie können sie haben.« Juan deutete nach innen, verbeugte sich knapp und murmelte: »Carradine wird Ihnen helfen, meine Herren.« »Zu gütig«, knurrte Cliff und ging hinter Aaron in
den Raum hinein. Er enthielt nur einen einzigen Sessel und sonst eine vollständige Laboreinrichtung und einen unverhältnismäßig großen Exhaustorschacht. Carradine musterte Cliff so eindringlich wie eine ihrer Erdölproben und fragte in deutlicher Zurückhaltung: »Was wollen Sie wissen?« Cliff wuchtete den Eisblock hoch und ließ ihn ein Stück über den Labortisch gleiten. »Wir haben hier vermutlich die Überreste eines dieser Wesen, die für die Schmelzvorgänge verantwortlich sind.« Carradine stand langsam auf und starrte Cliff an. »Wie?« Aaron Toshiro erklärte höflich: »Sie haben sich nicht verhört, meine Dame. Wenn Sie allerdings ebenso tüchtig wie charmant sind, dann fürchten wir, muß unsere Funkerin die Untersuchung führen. Sie versteht auch ein bißchen von Histologie.« Das Mädchen lächelte etwas, dann deutete sie auf den Tisch und sagte: »Ich fürchte, wir alle hier müssen uns erst an den Gedanken gewöhnen, daß es etwas gibt, das wir selbst nicht durchschauen und lösen können. Und darüber hinaus auch an die Überlegung, daß eine Crew der Raumflotte vielleicht besser ist als die Männer unserer Kolonien.« Cliff grinste und murmelte: »Wir bestehen nicht darauf. Aber jetzt ... gehen wir an die Untersuchung heran!« Aaron und er zogen die auffälligen Expeditionsjakken aus, befestigten sie an klemmenden Wandhaken und halfen dem Mädchen. Starke Lampen richteten
sich auf den Eisblock, der auf ein Gitter gelegt wurde. Unter dem Block schoben sie eine Kunststoffwanne, von der aus ein Schlauch zu einem Knochenfilter und aus diesem heraus wieder in den Abfluß führte. Sämtliche Abwässer der Kolonie versickerten in langen, tiefen Eisspalten. Vier Infrarotstrahler wurden eingeschaltet, der Block begann zu tropfen, endlich rann das Wasser mehr und mehr herunter. Nach einer halben Stunde lag auf dem Rost ein fast kugelförmiges Stück Gewebe, silbergrau, und ein röhrenförmiger Fortsatz, der aus der Kugel wegführte. »So!« sagte Cliff zufrieden. »Das besagt gar nichts«, meinte Carradine. »Terrossian wird seine Geheimnisse nicht so leicht preisgeben. Was wissen wir schon?« Cliff saß auf einem niedrigen Tisch, baumelte mit den Beinen und ließ seinen Fund nicht aus den Augen. Carradine stieß jetzt mit einer langen, gekrümmten Nadel in die graue Masse hinein. »Wir wissen inzwischen ziemlich genau«, sagte Aaron halblaut, »daß die Erwärmung des Bodens die Triebe weckt. Die der Pflanzen natürlich; von den Pionieren wage ich dies nicht zu behaupten. Die Pflanzen wachsen, wenn die Sonne einen bestimmten Höchststand und die Wärme eine bestimmte Grenze erreicht hat. Unter ihnen sind auch diese Signalblumen, die wir inzwischen kennen. Sie wachsen und blühen, und solange die Blüte geöffnet ist, sendet sie Impulse aus. Das wurde inzwischen von mir festgestellt. Die Staubgefäße wirken wie Antennen, die Blüte wie ein organisches Funkgerät.« »Schön«, sagte Carradine und rückte die Infrarot-
lampen näher. »Bei dieser Erkenntnis habe ich Ihnen schließlich geholfen. Aber was besagt das schon?« »Eine ganze Menge«, antwortete Aaron. »Es gibt in der Natur nichts Unsinniges, selbst wenn es auf den ersten Blick so scheint.« Cliff lachte kurz und fügte hinzu: »Auch nicht unter Raumfahrern, übrigens.« »Wenn also irgendwo ein Sender ist«, sagte Aaron und beugte sich vor, um zu sehen, wie Carradine ihre Prüfungen ausdehnte, »dann muß auch an anderer Stelle ein Empfänger sein.« Carradine schnitt jetzt aus der weichen Haut des Gewebes einen Streifen heraus und brachte ihn in ein automatisches Mikrotom; das entstandene, hauchdünne Präparat wurde unter ein Mikroskop geschoben. Das Mädchen beugte sich über das riesige Okular. »Oder mehrere Empfänger«, sagte sie leise und drehte an der Regulierschraube. »Richtig!« »Und diese Empfänger sind entweder in jenen vier Meter durchmessenden Kugelformen enthalten, oder die Wesen im Eis reagieren direkt auf die Blumensignale, vielmehr auf die Funksignale der Blüten.« »Und genau das«, sagte die Labortechnikerin mit Bestimmtheit, »ist keineswegs bewiesen.« »Nein, aber beweisbar«, schloß der Kommandant. Nach einer Stunde konzentrierter Arbeit, bei der beide Männer halfen, hatten sie erste Ergebnisse. Offensichtlich war der Fund ein Teil eines Tieres, eines Wesens dieses Planeten. Die äußerste Hautschicht wirkte in vielerlei Hinsicht wie ein Raumanzug. Sie war weder wasser-
noch gasdurchlässig. Sie schirmte den Inhalt gegen Ultraviolettstrahlen so gut wie vollkommen ab, ebenso gegen alpha-Teilchen und gegen Röntgenstrahlen. Die Außenschicht regenerierte sich offensichtlich ständig aus einer Basalzellenschicht und war nur drei Millimeter dick. »Und wie steht es mit der Temperaturisolierung?« fragte Cliff. Carradine antwortete: »Ich habe eben eine Messung durchgeführt, aber die Ergebnisse sind etwas ungenau. Aber auch gegenüber Hitze und Kälte schützt diese Außenhaut vorzüglich. Sie wirkt wie gasdichtes Kunstleder, durch Schaumstoff verstärkt. Die eingeschlossene Luft in diesen Randzellen wirkt, da Luft ein schlechter Wärmeleiter ist, hervorragend temperaturisolierend.« Cliff flüsterte: »Also genau die Haut, die wir für ein Wesen erwarten müssen, das ›eisfest‹ sein muß.« »Jawohl. Was haben wir noch?« »Etwas Geduld, bitte. Die Untersuchung ist ohnehin sehr flüchtig durchgeführt, weil mir Geräte fehlen – außerdem bin ich nicht ganz der Fachmann, den man dafür braucht.« Cliff beschwichtigte das Mädchen und sagte: »Wir brauchen auch weniger eine hervorragend durchgeführte Untersuchung, sondern mehr eine Menge von stichhaltigen Ergebnissen, die sich kombinieren lassen. Was hier vorgeht, ist weniger wichtig als wie es funktioniert.« »Ich verstehe«, antwortete Carradine. Die drei zerlegten ihren Fund. Sie entdeckten Ner-
venleiter, die einem isolierten Draht ähnlicher waren als jedem beobachteten Nerv. In diesen Leitern befanden sich ebenfalls Metallspuren von Kupfer und Eisen. Der Knochen – denn nichts anderes sollte dieses röhrenförmige Stück Materie darstellen – war den Anforderungen dieses im Eis überwinternden Tieres ebenfalls spielend gewachsen. Und trotzdem: Alle Ergebnisse waren derart, daß sie einen anderen Schluß förmlich herausforderten. Cliff McLane hatte seine Gedanken als erster geordnet und sprach seine Vermutung laut aus: »Das, was wir wissen, entspricht unseren Vorstellungen, die wir von einem Tier haben müssen, das rund hundertfünfzig Jahre im Eis schläft. Aber die Werte, die wir hier festgestellt haben, gehen weit, sehr weit drüber hinaus. Dieses Tier, oder vielleicht ist es auch ein Intelligenzwesen, leistet mehr. Das ist für mich eine klare Sache. Und ...« Cliff wurde ernst, lehnte sich vor und starrte auf die Reste der verschiedenen Präparate. Dann sagte er heiser: »Und ich sage euch: Wir werden mit diesem Wesen noch einige sehr merkwürdige Überraschungen erleben.« Aaron konterte: »Das glaube ich sogar, ohne darüber nachgedacht zu haben. Es wird Überraschungen geben. Die erste kennen wir alle bereits.« Das Mädchen deutete auf den Aufbau der Untersuchungsgeräte und fragte halblaut: »Wir kennen sie. Warum ›explodieren‹ diese Wesen? Warum schmelzen sie, plötzlich und unerwartet, Höhlen von dreißig Metern Durchmesser ins Eis?«
Aaron zuckte die Schultern. »Wir werden es wissen, ehe die ORION wieder von Terrossian startet!« versprach der Kommandant. Aber als er das Labor verließ, war er keineswegs sicher. Langsam gingen Hasso Sigbjörnson und Helga Legrelle entlang des kaum erkennbaren Pfades. Genauer gesagt war dies kein Pfad, sondern eine breite Bahn von Steinen, die von dem auftauenden Boden seit Jahrtausenden ausgestoßen und zur Seite geschoben worden waren. Das Eis, das eineinhalb Jahrhunderte darauf gedrückt hatte, war wie eine gigantische Walze darübergegangen und hatte die Steine tief in das bleihaltige Erdreich gedrückt. Zwischen den großen Steinen wuchs ein saftiges, dunkelgrünes Moos. Das Gebiet, betrachtete man es vom Rand des abfallenden Gletschers aus, wirkte wie ein gewaltiges, bis an den Horizont reichendes Mosaik – die Steinwälle waren die unregelmäßigen Grenzen vieleckiger Grünzonen. Diese Zonen aber bildeten annähernd halbrunde Hügel. »Erstaunlich!« sagte Helga. »Hier wachsen sogar Bäume.« Sie bewegten sich vorsichtig und geradezu behutsam durch die Pflanzen auf den Mittelpunkt eines dieser grünen Areale zu. Der Grund, weswegen sie so vorsichtig waren und darauf achteten, keine der großen Pflanzen niederzutreten, war die Erkenntnis, daß die Pflanzen Impulse aussendeten, also nicht leblos waren, wie andere Typen der Flora. Sigbjörnson, der Bordingenieur, war vor einer halben Stunde beim ersten Sonnenlicht des frühen und kurzen Planetentages, mit der LANCET gestartet.
Zuerst hatte er mit Helga neben sich den Rand der riesigen Polkalotte angeflogen und von dort eine Menge Fotos gemacht, von dem unmittelbaren, senkrechten Absturz des Eisrandes hinunter auf das langsam erwachende Land heruntergesehen. »Ja«, erwiderte Hasso leise, als könnte er die Ruhe der Landschaft stören, »ich habe von den Pionieren gehört, daß die Bäume die hundertfünfzig Jahre gut überstehen können. Sie legen sich, wenn die ersten Schneestürme heranheulen, flach auf den Boden.« Helga nickte. Sie drehten sich herum und sahen die Eiswand. »Ich habe Angst, der Gletscher fällt jede Sekunde auf uns herunter!« sagte die Funkerin leise. Hasso tröstete sie. »Die Steilwand wird noch ein paar Jahrzehnte halten«, sagte er. »Aber sie wird von Tag zu Tag kleiner.« Die Sonne strahlte schräg gegen die Eiswand. In langen, breiten Flächen rann das Schmelzwasser herunter, höhlte die Erde unterhalb der Eismasse aus und floß ab. Die Gegend war leicht abschüssig, so daß ein breiter Bach nach Osten ablaufen konnte. Die Sonnenstrahlen machten aus der Eiswand eine grell leuchtende Mauer, die sich an beiden Seiten mit dem Horizont vereinigte. Die unwesentlich höhere Oberflächenschwerkraft behinderte die Terraner nur sehr geringfügig. Die Temperatur: etwa fünfundzwanzig Grad Celsius. »Angenommen«, sagte die Funkerin und setzte die schnurrende Kamera ab, »diese Eiswesen würden jetzt oder etwas später aus einem langen Schlaf erwa-
chen. Warum sprengen sie sich selbst in die Luft?« Sie verließen das Zentrum der Grünfläche und gingen parallel zu der Eiswand nach Westen, mit der Sonne schräg im Rücken. »Keine Ahnung«, sagte Hasso. »Ohne Zweifel ist das ein Unfall, jedenfalls nicht beabsichtigt.« »Nein, ein Selbstmord ist sicher nicht beabsichtigt«, sagte Helga Legrelle. »Ob diese Wesen intelligent sind?« Der Bordingenieur hob die Schultern und ließ sie wieder resignierend fallen. Dann sagte er: »Wir sind seit drei Tagen hier. Es wäre nicht einmal einem Riesenteam von Wissenschaftlern möglich, in dieser kurzen Zeit so viele Feststellungen zu treffen, um daraus die richtigen Schlüsse ziehen zu können.« »Was bleibt uns also übrig?« Hasso lächelte zurückhaltend und erwiderte: »Suchen und warten.« Langsam gingen sie weiter. Sie schauten sich um, versuchten, in dem ihnen unbekannten Gelände etwas zu sehen. Was sie suchten, wußten sie nicht. Vielleicht fanden sie etwas, einen Gegenstand, einen Hinweis oder ein auffälliges Geschehen, das ihnen weiterhelfen konnte. Die LANCET stand fünfhundert Meter weiter östlich auf dem Steinpfad. Eine Viertelstunde lang gingen Hasso und Helga nebeneinander entlang der Pfade, wechselten von einer Seitenfläche des grünen Vielecks auf eine andere. Die Sonne kletterte höher und höher. Es wurde geringfügig wärmer. »Hörst du etwas?« fragte Hasso plötzlich und blieb stehen. Er faßte Helga am Oberarm und drehte sie halb herum. »Dieses Summen?«
»Genau das meine ich«, erwiderte er. »Das Geräusch kommt von dort vorn.« Sie gingen langsam und auf Zehenspitzen weiter. Einige Meter vor ihnen war ein helles, summendes Geräusch entstanden. Es klang so, als ob viele Fliegen oder Wespen zwischen Zweigen herumflogen und ständig mit den Körpern gegen die Blätter und Stengel stießen. Aber bisher waren, abgesehen von Käfern, keine Insekten beobachtet worden. »Näher heran«, sagte Hasso. Dann sahen sie es. Eine Masse schwarzer Käfer mit blauschillernden Flügeln krabbelte, kroch und hüpfte über den Steinpfad. Die Insekten nahmen ihre Flügel zur Hilfe, um sehr kurze Strecken zu fliegen, offensichtlich waren die Flügel noch nicht genügend entwickelt. Es waren Hunderte von verschieden großen Tieren derselben Art. Sie bewegten sich zwischen den Zweigen und Ranken, krabbelten auf den Steinen und über die Moospolster und verschwanden unter einer Reihe von niedrigen Büschen, die wie auf eine Spitze gestellte Würfel aussahen. »Wollen wir nachsehen?« fragte Hasso Sigbjörnson leise und stieg über den breiten Streifen der Tierchen. »Ich denke, wir müssen nachsehen!« beharrte Helga. Sie bahnten sich vorsichtig einen Weg durch die niedrigen Büsche. »Wohin rennen die Käfer?« murmelte Hasso. »Dorthin, wohin wir auch gehen«, sagte Helga, aber sie stand ebenso unter dem Eindruck des Unwahrscheinlichen und Aufregenden wie Hasso. Die riesige Wand neben ihnen von der eine Welle kühler
Luft ausging, die helle Sonne und das summende Geräusch, das von dem breiten Zug der rennenden, fliegenden und hüpfenden Käfer ausging ... irgend etwas ging hier vor, das nicht in das Schema paßte, das sich die Pioniere und die Raumschiffsbesatzung von Terrossian gemacht hatten. Etwa fünfzig Meter weit ging es neben dem breiten Streifen der Insekten in die Richtung der Eiswand. Langsam bewegten sich Helga und Hasso, die Hände an den Griffen der Gasdruckwaffen, geradeaus. Sie sprachen nicht miteinander, aber ihre Augen suchten jeden Zentimeter zwischen den seltsam starren, dicken Blättern ab, entdeckten aber nichts. Wieder einige Schritte. »Hier ist es«, sagte Hasso mit rauher Stimme. Auf einem freien Platz, etwa zehn Meter durchmessend, waren sämtliche Pflanzen niedergetrampelt. Als die zwei Terraner den Rand der Fläche erreichten, sahen sie, daß Moos, niedrige Sträucher und das fette, kurzstielige Gras abgefressen waren, nicht zusammengedrückt. In der Mitte, wie ein zusammengebrochener Elefant, lag ein großes, silbergraues Tier. Es war tot oder im Sterben, denn sie konnten keine Bewegung feststellen. Nein ... es war noch nicht tot. Die Insekten waren der Beweis dafür. Sie bildeten einen Kreis um das Wesen, aber kein einziger der schwarzen Käfer krabbelte auf das Tier. Sie warteten darauf, daß es starb. »Diesmal war es keine Explosion«, sagte Helga flüsternd. Ein Schwarm Insekten erhob sich bei den Worten, schwirrte herum und ließ sich wieder nieder. »Ruhig ...!«
Sie gingen in zwei Richtungen auseinander, die Kamera begann zu surren. Der Ton des winzigen Motors zerschnitt die Stille, und das Wesen öffnete ein Auge und sah Hasso an. Das Auge war groß und sehr menschlich, und die durchsichtige Hornschicht, die darüberlag, begann trübe zu werden. Jetzt erst konnte Hasso die Gestalt des Tieres ausmachen. Es war ein Vierfüßler mit Pranken wie etwa ein Eisbär. Zwischen den Klauen aber wuchsen fingerartige Auswüchse hervor, die sich jetzt mit erstaunlicher Ähnlichkeit einer menschlichen Hand in das Moos krallten. Vier stämmige, mit dicker Lederhaut bedeckte Gliedmaßen; die Gelenke schienen aus ringförmig angeordneten Elementen zu bestehen, ähnlich wie ein schwerer Raumanzug. Darüber befand sich ein Körper, den man am ehesten mit dem einer Großkatze vergleichen konnte. Unter der Haut zeichneten sich breite Adern und dicke Muskelbündel ab. Das Tier besaß keinen Schwanz, aber der Kopf war bemerkenswerter als alles andere. Hasso ging nach links, um den Kopf ganz filmen zu können. Als er die Augen vom Sucher nahm, sah er, daß das Tier ihm mit dem Blick gefolgt war. Seine beiden großen Augen starrten ihn an. Darüber stellte der Bordingenieur Höröffnungen fest, die von runden Hautlappen verschlossen werden konnten – die Lappen hingen herunter, kraftlos und ohne Bewegung. Eine dünne Membran flatterte, als das Surren des Kameramotors aufhörte, sie bewegte sich bei dem Geräusch von Hassos Schritten. Ein breites Maul, das jetzt offenstand, zeigte die Zähne eines Pflanzenfressers. Aber auch hier konnte Hasso keinen treffenden Vergleich finden.
»Verdammt!« flüsterte er. »Es liegt im Sterben.« Wieder vibrierte die Membrane, und der Ring der Käfer zuckte unregelmäßig vor und zurück. Das Wesen, das Hasso mit frappierend menschlichen Augen anstarrte, als warte es auf etwas, bewegte jetzt eine der vorderen Gliedmaßen. Die langen Krallen glitten aus den Hautscheiden, und die fingerähnlichen Fortsätze krümmten sich ein und verschwanden. Millimeterweise hob das Tier die Vorderpranke, zog drei der Krallen ganz langsam wieder ein und grub dann eine Linie in das Moos. »Eine Botschaft ... Nachricht?« flüsterte Hasso. Er merkte nicht, daß er gesprochen hatte. Die Linie wurde fortgesetzt, eine zweite folgte, dann eine dritte. Hasso machte zögernd zwei Schritte nach vorn und sah, daß die drei Linien ein Dreieck bildeten. Ein Dreieck! Hasso zielte mit der Kamera, ohne hinzusehen, starrte schweigend das Wesen an und merkte nicht einmal, daß Helga an seiner Seite stand und seinen Arm gepackt hielt. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie leise. Hasso gab keine Antwort. Er beobachtete schweigend, wie sich auch die vierte Kralle wieder einzog, wie die Pranke kraftlos herunterfiel und gegen den Körper klatschte. Dann riß sich der Ingenieur zusammen und ging mit zwei, drei Schritten auf das rätselhafte Wesen zu. Er sah, wie sich der Ring der Käfer vor seinen Stiefeln auseinanderzog, das Summen wurde lauter und aufgeregter. Hasso ließ sich auf die Hacken nieder, sah direkt in das riesige Auge des Wesens hinein und sagte mit gezwungener Ruhe: »Kann ich dir helfen?« Wieder vibrierte die Schallmembran. Hasso legte
die Hand im dünnen Handschuh auf eine hornige Knochenleiste, die sich von der Stirn des Wesens bis zur Oberlippe hinzog und zuckte mit den Schultern – das Auge hinter der kuppelartigen Hornschicht zwinkerte. »Wir können uns nicht verständigen«, sagte Hasso. »Und ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann.« Die Bewegung des Auges hörte auf. Wie eine Linse aus erstarrtem Glas, wie ein kaltes, optisches Instrument war das Auge auf ihn gerichtet. Hasso sah, wie sich die Pupille, die bisher klein gewesen war, vergrößerte und schließlich in der Bewegung erstarrte. Er wußte, daß sein rätselhaftes Gegenüber tot war. Neben ihm begannen die Käfer wie wahnsinnig zu summen, sie drangen jetzt von allen Seiten gleichmäßig gegen das Wesen vor. Sie liefen und schwirrten über Hassos Stiefel, und der weißhaarige Ingenieur richtete sich wieder auf und ging rückwärts zurück zu der Funkerin. »Was war das?« Hasso räusperte und meinte leise: »Das war ein Verständigungsversuch zwischen einem extraterrestrischen Wesen mit deutlicher Intelligenz und einem Terraner, der sah, wie es starb. Ich werde Cliff benachrichtigen.« Er gab Helga die Kamera zurück, schaltete das Armbandgerät ein und rief leise ins Mikrophon: »Hier Hasso. Ich rufe Cliff.« Vor ihm ertönte irgendwo ein hartes, metallisch klingendes Schnappen. Dann schoß eine Stichflamme senkrecht hoch, etwa dreißig Meter. Ein schmetternder Knall ertönte, und Hasso riß Helga zu Boden. In der Stille nach der Detonation war das summen-
de Geräusch der Käfer deutlicher zu hören. Ein stinkender, süßlicher Rauch zog träge über die winzige Lichtung. Hasso half Helga auf die Beine und hörte das Quäken der Stimme aus dem Lautsprecher seines Gerätes. »Einen Moment!« sagte er scharf, so daß der andere Teilnehmer es hören mußte. Dann schauten sie über den Rand der Büsche hinweg ins Zentrum des Kreises. Das Wesen hatte sich förmlich in die Luft gesprengt. Es sah aus wie ein geformter Ballon, aus dem die Luft entwichen war. Alles, was die Explosion übriggelassen hatte, war wie mit einer lebenden Schicht mit Käfern bedeckt. »Hier Sigbjörnson«, sagte Hasso gegen sein linkes Handgelenk. »Wir haben soeben eines der Eiswesen beobachtet. Es starb und sprengte sich in die Luft. Wer spricht dort?« Die Stimme von Atan Shubashis Ersatzmann war unverkennbar. »Aaron. Was ist zu tun?« »Kommt sofort hierher. Etwa eineinhalbtausend Meter westlich der LANCET, dicht neben der Gletscherwand.« »Verstanden.« Als vier Minuten später Cliff, Ishmee und Aaron mit dem zweiten Beiboot der ORION landeten, heraussprangen und rücksichtslos durch die Büsche heranstürmten, konnten sie nur noch erkennen, wie Tausende und aber Tausende von daumennagelgroßen Käfern sich über die schlaffe Hülle und die stahlartigen Reste des Knochengerüstes jenes Eiswesens hermachten. Hasso beendete die aufkommende Diskussion, in-
dem er auf den Deckel der Filmkamera klopfte und sagte: »Ich habe alles gefilmt. Bis auf die Explosion.« Cliff hatte, als er feststellte, daß dieses Wesen immerhin eine Ahnung von jener Form hatte, die man das ›Pythagoreische Dreieck‹ nannte, das Gefühl, viele neue Steine für das rätselhafte Mosaik des Planeten Terrossians gefunden zu haben.
5 Das Mädchen Adriane zog den hohen Kragen ihres Mantels zusammen, musterte Hasso Sigbjörnson mit einem langen, nachdenklichen Blick und sagte endlich: »Ich gratuliere. Das bringt uns einen riesigen Schritt weiter. Folgendes scheint nunmehr festzustehen. Einige Zeit nach Frühlingsbeginn öffnen sich die Blüten und senden. Die Impulse sind für einen merkwürdigen Mechanismus im Körper des Eiswesens Grund, ans Aufwachen zu denken. Die Energie, die inzwischen dreimal unsere Korridore verwüstet und die Wohnkugeln hat herunterkrachen lassen, soll im Normalfall dazu dienen, sich aus einer vergleichsweise dünnen Eisdecke zu befreien. Dadurch, daß wir eine Pflanze von draußen holten und hierher brachten, konnte sich die Wärme nicht genügend schnell durchs Eis fressen, also ausdehnen, und so entstanden die Detonationen, die jedesmal mit dem Tod eines Eiswesens endeten.« Cliff McLane, der interessiert beobachtet hatte, wie die Technikerin sich gegen eine nicht existierende Kälte hatte schützen wollen, saß in dem einzigen Sessel seiner Wohnkugel. Der Innenraum wurde von den zehn Personen fast völlig ausgefüllt. Sie saßen auf allem, worauf sich sitzen ließ; Roqué Alsina neben Carradine sogar auf dem Bodenteppich. »Es freut mich«, sagte der Kommandant und spürte, wie sich die Barrieren zwischen Pionieren und Raumschiffscrew langsam abzubauen begannen, »daß Sie sich unsere Ansichten zu eigen gemacht ha-
ben. Wobei ich einfügen möchte, daß dies noch lange nicht die Wahrheit zu sein braucht. Indes ... ich selbst bin davon überzeugt. Wir kommen nunmehr von den vernichteten Exemplaren im Eis zu Hassos Fund.« Aaron Toshiro zupfte ein weißes Haar aus seiner rechten Augenbraue und sagte dann, während er das Haar stirnrunzelnd betrachtete: »Hasso und Helga sind dem Idealfall sehr nahe gekommen.« Roqué murmelte: »Inwiefern Idealfall?« »Jeder hat die Chance«, sagte Ishmee mit einem Lächeln falscher Liebenswürdigkeit, »mit sechzig Jahren so klug zu werden, wie er mit zwanzig schon einmal gewesen ist. Wir sind immerhin auf dem besten Weg dazu.« Helga sagte unüberhörbar zu Hasso: »Sie prägt die gleichen Bonmots wie Cliff. Warum kamen wir dem Idealfall sehr nahe?« Cliff sagte: »Ihr habt ein Tier gefunden, das garantiert auf dem richtigen Weg aus dem Eis gekommen war. Sein Zustand ... beziehungsweise die Tatsache, daß es noch lebte, als ihr es gefunden habt, spricht dafür. Ebenfalls die Tatsache, daß die Lichtung leergefressen war. Natürlich auch der Umstand, daß es hundertfünfeinhalb Meter von der Eiswand entfernt war. Die Wand schmilzt jeden Tag um fünf Meter ab – wir können ungefähr ausrechnen, daß sich das Tier ...« Hasso warf grimmig ein: »Auf den Ausdruck ›Tier‹ möchte ich noch eingehen, Cliff!« »Einverstanden. Wir kämen dann auf einen Wert
von rund zwanzig Tagen. Er kann stimmen, aber diese Zeit erscheint mir ein wenig zu hoch. Das Wichtigste aber ist, daß dieses Wesen intelligent scheint.« »Freut mich, daß du meiner Ansicht bist, Chef«, sagte Hasso und hob sein Glas. »Ein Dreieck im Moos. Ein Dreieck, dessen Fläche F = gh/2 ist. Dieses Wesen erkannte uns als denkende Menschen, Terraner, oder wie man es auch nennen mag. Und es wählte als Kontaktmittel diese Form. Das sagt nach meiner Meinung klar aus, daß es sich nicht um ein Tier, sondern um einen Intelligenzträger handelt. Übrigens – ist diese vermaledeite Blume endlich aus der Kolonie herausgeschafft worden?« »Ja«, sagte Juan Allende. »Ich habe sie sogar dorthin zurückgeflogen, woher ich sie geholt habe.« Cliff schnippte mit den Fingern. »Trefflich«, sagte er. »Wir brauchen nur noch zu warten, bis wir ein Wesen entdecken, das erstens sich auf normale Weise aus dem Eis befreit hat, zweitens lebensfähig ist und drittens willens und in der Lage, sich mit uns irgendwie zu verständigen.« Roqué sagte ruhig, ohne erkennbaren Sarkasmus: »Was ich an Ihnen so bewundere, Mister McLane, ist Ihr ungebrochener Optimismus. Sie kommen hier an, entdecken einige Zusammenhänge und bauen Schlüsse auf, die wahrhaft atemberaubend sind.« Cliff schaute ihn an, zuckte die Schultern und erwiderte gemessen: »Ich kann Ihnen eine Erklärung bieten, Roqué. Wollen Sie sie hören?« »Ja.« »Meine Crew und ich haben eine ganze Menge der verschiedenen Erlebnisse hinter uns. Ohne daß wir
für uns beanspruchen, besonders gebildet, besonders schnell und atemberaubend kühn zu sein, kann ich folgendes sagen. Wir sind erfahrener als viele andere. Und das auch nur, weil wir soviel kennengelernt haben. Eine zweite Sache: Durch unsere Erfahrungen mußten wir erkennen, daß das Weltall zwar unendlich ist, die Schemata des Lebens und der Beziehungen zwischen denkenden Wesen aber durchaus endlich. Da wir die Mechanismen kennen, können wir solche Schlüsse ziehen, ohne sonderlich fehlzugehen. Das soll nun wirklich nicht heißen, daß wir keine Fehler begehen.« Alsina murmelte: »Das ist eine Erklärung, die ich akzeptiere. Brauchen Sie für den Umbau einen guten Techniker? Ich könnte ...« Cliff schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: »Danke, wir sind schon fast fertig. Hasso, Mario und Aaron haben sich förmlich selbst überboten.« »Ich verstehe. Was haben Sie vor?« Cliff betrachtete das Knie Carradines, das sich zwischen dem Saum des Pelzrockes und der Oberkante der Stiefel zeigte und sagte dann, als ihn Ishmee beschwörend anstarrte: »Wir suchen ein ›neugeborenes‹ Wesen. Das ist im wesentlichen alles. Wie das geschehen soll, wissen wir selbst nur ungenau. Aber wir sind überzeugt, daß wir Erfolg haben werden.« »Weil wir gerade von Erfolg sprechen«, warf Mario de Monti ein, der auf der Kante der Couch balancierte und zugesehen hatte, wie der Glühwein in den Gläsern dampfte, »warum starb dieses Tier ... Verzeihung, Hasso, dieses planetarische Wesen?«
Hasso zuckte die Schultern und murmelte: »Weiß ich's?« »Ich glaube, ich kann es erklären«, meldete sich Helga Legrelle. »Bitte!« »Ich vermute, daß es ein krankes Exemplar war. Die Natur ist in dieser Beziehung unbarmherzig; es geht um die Erhaltung der Art. Sie sondert alle Schwachen und Kranken aus. Vielleicht war dieses Tier krank, zu alt, schwach oder irgendwie mit einem Defekt behaftet. Es konnte sich nach seinem Wiederaufwecken oder Aufwachen nur kurze Zeit halten – vermutlich war es krank.« »Vermutungen, keine Beweise«, sagte Carradine. »Und weswegen erfolgte dann diese Explosion, und was löste sie aus?« »Ausgelöst wurde die Explosion mit einiger Sicherheit durch die Impulse meines Funkgeräts. Der gleiche Effekt wie diese sendende Blüte.« Juan Allende ließ sich von Mario de Monti nachschenken, und als er vorsichtig zwischen den anderen Versammelten zu seinem Platz zurückging, sagte er deutlich: »Ich weiß, warum das Wesen explodierte. Hassos Sender dürfte überflüssig gewesen sein.« Cliff zog die Brauen zusammen und erkundigte sich leise: »Warum?« »Zwischen den Käfern und diesen Tieren besteht etwas Ähnliches wie eine Nahrungsabhängigkeit. Wie hätten die lieben Käferlein sonst an das nahrhafte Fleisch dieses Wesens mit der fast undurchdringbaren Haut herangekonnt?«
»Ich bin erschüttert!« bekannte der Kommandant. »Diese Erklärung hat mir noch gefehlt. Natürlich! Anders ist es wohl kaum möglich. Terrossian ist schließlich kein Dschungelplanet voller Überfluß, sondern vergleichbar mit einer relativ kargen polaren Wüste. Mein Kompliment, Juan!« Mario verteilte den Rest des heißen Rotweines und murmelte: »Wir werden uns morgen mit diesen Problemen herumschlagen müssen, und zwar kurz nach Sonnenaufgang. Wir sollten zum gemütlichen Teil der Diskussion übergehen!« Cliff grinste. »Ich bin auch dafür!« sagte er laut. »Wollen wir alte Volkstänze von Terrossian pflegen?« Er erntete große Heiterkeit. * Jetzt flog die LANCET schon seit dreißig Minuten in langsamster Fahrt entlang der Eiswand, aber sie hatten noch nichts entdeckt. In den Sesseln kauerten nervös und konzentriert der Kommandant, Aaron Toshiro und Mario de Monti. Die drei Männer trugen die Expeditionskleidung, hatten dunkle Brillen aufgesetzt und beobachteten den Übergang zwischen dem bläulichen oder grünlichen Eis und dem Land, das von Tag zu Tag mehr blühte, mehr Formen und Farben der erwachenden Natur entwickelte. Es war wirklich wie ein irdischer Frühling, nur war die Relation zwischen Tagen dort und Jahren hier, die etwa dem ›Jahr‹ Terrossians entsprach, durcheinanderge-
bracht: der Sommer würde rund ein halbes Jahrhundert dauern, aber innerhalb von Tagen brach die Flora aus, in einer grünen Explosion. Es sah so aus, als würden die Pflanzen jedes einzelne Lichtpartikel ausnützen, als wüchsen sie um die Wette. Und auch die Tagestemperatur hatte um ein ganzes Grad zugenommen. Drei Augenpaare und zwei hochempfindliche Instrumente richteten sich auf die Eiswand, und die Männer versuchten überdies, jene silbergrauen Intelligenzwesen in der Nähe des Eises zu sehen. Darin bestand der Trugschluß von Cliff, Aaron und Mario, aber sie wußten es nicht. »Bei Sankt Orion!« stöhnte Cliff. »Sind deine Geräte in Ordnung, Aaron?« Der Astrogator antwortete unwillig: »Mache bitte nicht Maschinen für Reaktionen verantwortlich, die von denkenden Organismen verursacht werden, Kommandant. Deine Ungeduld ist groß, aber begreiflich. Ich schreie schon laut auf, wenn wir ein Wesen entdecken.« »Schließlich arbeiten wir nicht auf Provisionsbasis«, tröstete Mario. »Geduld, Cliff! Wir haben sie so oft beweisen müssen, warum nicht auch hier?« Cliff winkte ab. »Du hast ja völlig recht, aber ich bin nervös. Ich bin unruhig, weil ich geradezu fühle, daß sich in kurzer Zeit etwas ereignen wird.« Aaron grinste unverschämt. »Ja. Die Sonne wird höher stehen. Das ist alles, was sich ereignen wird! Warte nur, Cliff!« Sie schwiegen. Mit ausgefahrenen Landestützen schwebte die LANCET leise brummend über der Landschaft dahin.
Der Abstand zu den Pflanzen betrug kaum jemals mehr als dreißig Meter; eine Distanz, aus der heraus sie einen hervorragenden Überblick hatten. Was sie sahen, waren Pflanzen und Blüten, jene Steinpfade, morastige Stellen und Gebiete, in denen sich die Bäume aufrichteten, die jahrelang flach am Boden gelegen hatten. Die höchsten Exemplare waren zehn Meter hoch – nicht mehr. Langsam flogen sie weiter, starrten auf die Instrumente, durch die geöffnete Bodenluke oder durch die abgerundeten Bullaugen. Mario steuerte, Cliff war ärgerlich und unruhig, und Aaron bediente die Detektoren. Eines der Geräte würde Verdichtungen innerhalb der Eismasse feststellen, das andere sprach auf schwächste Energieemissionen an. Aus diesem Grund flog die LANCET nach Autopilot; die Empfindlichkeit des Gerätes war auf den Eigenwert der Maschinen eingepegelt worden – alles, was darüber war, wurde angezeigt. Eine Stunde verging. Der Raumhafen, diese zylindrische Basis im Eis, lag links von ihnen; sie flogen nach Osten. Die Rundung der Eisfläche die wie eine Mütze über dem Drittel der Planetenkugel lag, war so gering, daß die steil abfallende Fläche, an der das Schmelzwasser herunterrann, wie eine Gerade wirkte. Cliff dachte an die Schwarze Mauer aus Plastik, die er einmal in ähnlicher Position angestarrt hatte – hier herrschten Licht und Reflexionen. Eine zweite Stunde brach an. »Noch immer nichts!« stöhnte Cliff. Mario legte seine Hand auf Cliffs Schulter und murmelte: »Man soll Wunder nicht herausfordern!«
»Ach was!« Eine Minute später schrie Aaron auf. »Halt!« Mario kippte den Autopilot-Schalter herum und hielt die LANCET in der Luft an. Sie schwebte regungslos genau über der Kreuzung dreier Steinpfade. Cliff fragte in unheilvoller Ruhe: »Hast du etwas festgestellt, Aaron?« »Hätte ich sonst gebrüllt?« fragte der Astrogator zurück. »Ohne die Energiemenge heraufzusetzen, Mario: langsam auf die Felswand zu. Ich dirigiere den Flugweg.« »Verstanden!« erwiderte der Chefkybernetiker schnell. Die LANCET trieb langsam auf die Eiswand zu. Sie waren auf ihrem Flug etwa fünfhundert Meter von der Kante entfernt gewesen, jetzt vollführte das kugelförmige Beiboot eine Flugbahnänderung von neunzig Grad und schwebte mit etwa zwanzig Stundenkilometern auf das Eis zu. Die drei Männer schwiegen und warteten. Dann gab Aaron mit fast flüsternder Stimme einige Kursänderungen an. Mario steuerte schweigend und nickte nur, wenn Aaron »Links«, »Höher« oder »Rechts« murmelte. Nach einigen Minuten hing die LANCET bewegungslos in vierzig Metern Höhe unterhalb der Kante. Aaron griff nach McLanes Unterarm und zog den Kommandanten zu sich heran. »Hier hast du, was du wolltest!« sagte er. »Schön.« Cliff stützte seinen Kopf in beide Handflächen und schaute auf den runden Schirm des Röntgengerätes. Er sah eine stumpfgraue Fläche, die von dem stähler-
nen Ring der Armatur begrenzt wurde. Fast im Zentrum dieser grauen Fläche erkannte er einen dunklen, kugelförmigen Punkt. Aaron schaltete, und zwei sich überschneidende Koordinatenlinien erschienen im Bild. Cliff las an der ersten die Größe des Gegenstandes ab und murmelte: »Dreihundertfünfzig Zentimeter. Richtig?« Aaron antwortete leise: »Vollständig richtig, Kommandant.« Cliff schätzte den Abstand des Beibootes von der Eismauer und murmelte: »Wir stehen zehn Meter vor dem Eis. Wie tief ist dieses Ding dort drinnen?« Aaron regelte die zweite Linie ein, schaltete eine weitere dazu und las die Werte ab. »Du wirst lachen, Kommandant. Nicht mehr als siebzig Zentimeter. Fehlergrenze plusminus zehn Zentimeter.« Cliff lehnte sich zurück und sagte: »Zwischen achtzig und sechzig Zentimetern. Das dürfte nach den inzwischen vorliegenden Schätzungen reichen. Mario – wie lange kannst du dieses Stück Maschinerie in der Luft halten?« Mario schaute nach dem Energievorrat und sagte dann: »Drei Stunden. Dann allerdings muß man uns entweder abschleppen, oder ich muß die Energiezellen austauschen.« »So lange werden wir nicht zu warten brauchen«, sagte Cliff. »Ist die Kamera klar?« Er holte das Instrument hervor, sah nach der Filmmenge und legte den Kasten vor sich auf das Instrumentenpaneel. Dann sagte er laut:
»Wir warten auf den Augenblick, in dem sich dieses Wesen aus dem Eis herausschmilzt. Und wenn es Stunden dauert!« »Einverstanden!« Die LANCET hing wie ein Fesselballon in der Luft. Niemand sprach, jeder von ihnen wartete gespannt auf das Ereignis, das sie weiterbringen sollte auf dem schweren und komplizierten Weg, eine Kontaktmöglichkeit zu den Planetariern von Terrossian zu finden. Die Minuten vergingen, wie immer, wenn man warten mußte, viel zu langsam. Aaron ließ seine Instrumente nicht aus den Augen. Nach Ablauf der vierunddreißigsten Minute sagte er plötzlich: »Kamera klar, Cliff?« Der Kommandant nahm den Apparat hoch, schaltete ihn ein und richtete ihn auf den Teil der Eisfläche, den sie alle anstarrten wie eine leere Leinwand. »Was ist los?« brummte Mario und bewegte unruhig seine Schultern unter dem dicken Pullover. »Ich messe erhöhten Energieaufwand an«, erklärte Aaron. Diese gespeicherte Energie des Wesens wurde jetzt aktiviert. Die Signale der Pflanzen hatten das Tier geweckt oder eingeschaltet, je nachdem, wie man diesen einmaligen Vorgang bezeichnen wollte. Jetzt schickte es sich an, seinen Körper derartig aufzuheizen, daß das Eis schmolz. Der Körper des Tieres war jetzt noch hart und starr gefroren, wie Fisch oder Fleisch in einer Tiefkühltruhe. Wenn er sich erwärmte, wurde er weich; und wenn er sich hier in einer Höhe von rund vierzig Metern aus dem Eis schmolz, dann fiel er senkrecht herunter. Das entsprach einem
Fall aus dem fünfzehnten Stockwerk eines Hochhauses – gab es einen Körper, der ungesichert diesen Sturz überstand und dann weiterleben konnte? Sie sollten es bald erfahren. »Energiemenge um eine Potenz angestiegen!« sagte Aaron sachlich. »Verstanden!« murmelte Cliff und richtete die Kamera aus. Es begann damit, daß an dieser Stelle das Eis seine Farbe änderte. Es wurde vollkommen klar und durchsichtig. Viel mehr Wasser lief herunter und schmolz eine senkrecht verlaufende Bahn in die Fläche. Dann fauchte aus einem winzigen Loch ein Dampfstrahl heraus und löste sich auf, flatterte davon. Diese Öffnung wurde größer, und der Dampf war plötzlich weniger dicht und ließ gewisse Einzelheiten erkennen. Das Tier wurde sichtbar. Noch bildete es einen runden Klumpen, seine Gliedmaßen waren nicht genau zu unterscheiden. Dann teilte sich das Eis von innen nach außen. Die dünne Fläche schmolz zusehends zusammen, die runde Öffnung wurde größer und größer, und binnen Minuten gab es eine Öffnung von mehr als drei Metern Durchmesser in der Eisfläche. »Das ist fast so phantastisch wie die Höhle der Kokons!« murmelte der Kommandant aufgeregt. Er filmte ununterbrochen. Das Tier bewegte sich jetzt. Es schien halb blind zu sein. Es sah die LANCET nicht, sondern streckte die zwei Vorderpranken aus, klammerte sich mit Hilfe der scharfen Klauen an den Eisrand und schob seinen Kopf nach vorn, spähte nach unten zum Boden. Dann bewegte es sich um ei-
nen Meter nach vorn, verharrte einige Sekunden lang in dieser Haltung und schnellte sich dann nach vorn. »Alle Achtung!« kommentierte Mario. »Ein schneidiger Sprung!« Cliff drehte die Kamera herum, beugte sich nach vorn und filmte den Aufprall des Wesens. In einer steilen Kurve fiel der silbergraue Riese abwärts, streckte wie eine Katze alle vier Gliedmaßen aus und krachte dumpf gegen den Boden. Das Wesen lag einige Sekunden wie betäubt da, dann erhob es sich und drehte den Kopf. Es war nunmehr wach. Mit drei, vier geschmeidigen Sätzen rannte es zum Rand des Eisfläche und warf sich in den kleinen Bach; wozu diese Wäsche dienen sollte, war noch unklar. Der Astrogator murmelte: »Es könnte ein Schock sein – nach der Erhitzung des Körpers jetzt eine schnelle Abkühlung. Das sollte auch unmittelbar nach dem Wachwerden eines Raumfahrers ein wirkungsvolles Mittel sein, so richtig hellwach und fröhlich zu werden.« Das Wesen tauchte ein paarmal unter, schüttelte sich dann in einer verblüffend menschlichen Bewegung und trottete gemächlich nach Süden. Dann fing es an, die Pflanzen abzufressen. Es tat dies ohne besondere Hast, aber immerhin mit einer gewissen Zielstrebigkeit. Wie jemand, der sich lange Zeit auf ein Essen gefreut hat und sich für zu vornehm hielt, um wahllos alles in sich hineinzustopfen. »Dort unten speist unser neuer Freund«, sagte Cliff. »Lassen wir ihn zuerst essen, dann machen wir ihm unsere Aufwartung. Ich lasse mich auch ungern beim Essen stören.« »Einverstanden!« antwortete de Monti und über-
legte, was er eben miterlebt hatte. Ein Wesen, das nachweisbar fast hundertfünfzig Jahre terranischer Rechnung wie ein Felsen, hart, leblos und unbeweglich, mit ausgeschalteten oder bis auf ein Minimum reduzierten Lebensäußerungen inmitten einer dicken Eisplatte geschlafen hatte, war durch gespeicherte Körperenergie zum Leben erwacht und hatte sich selbst eine Öffnung ins Eis geschmolzen. Jetzt fraß es die dicken Blätter der Gräser und Büsche ab. Die LANCET verließ die bisherige Position und schwebte in einer sanften Kurve flach nach unten. Sie setzte etwa fünfundzwanzig Meter von dem weidenden Wesen entfernt auf; die breiten Auflageflächen der Landestützen versanken zentimetertief im feuchten Boden, im bleihaltigen Erdreich. Mario schaltete die Maschinen aus und fuhr die breite Leiter nach unten. »Und ab jetzt, Freunde«, sagte Cliff McLane eindringlich, »bitte ich, nicht unbesonnen zu handeln. Ehe wir die Kontaktversuche durch überstürztes Handeln sabotieren, sollten wir lieber abwarten, schweigen und stehenbleiben.« »Wie nett, daß du mich noch immer für einen Halbdebilen hältst«, meuterte der Erste Offizier und kletterte langsam die Leiter herunter. »Ich wollte nur meine eigenen Gedanken laut aussprechen«, entschuldigte sich Cliff. »Schon gut!« Die drei Männer standen zwischen den Landestützen und gingen auf ein Zeichen hin auf die Stelle zu, an der sie das Wesen hören konnten. Zwanzig Meter – dicke Büsche und einige Bäume versperrten die
Sicht. Die drei Männer hörten, wie das Wesen Nahrung zu sich nahm. Aaron murmelte: »Es wird dunkel, meine Herren. Riesige Wolken ziehen auf.« Sie blieben stehen und sahen entlang der Eisfläche zum Himmel. Vor der Sonne befand sich jetzt eine riesige Wolkenballung, deren Ränder blau schimmerten. Von fern rollte das Echo einer Sprengung oder eines Donnerschlages heran, ein leichter Wind kam auf. Die Terraner fröstelten, obwohl die Temperatur nicht gefallen war. »Sieht nach Sturm aus«, sagte Cliff. »Das paßt gar nicht in mein Konzept.« »Weiter!« Sie schoben sich durch die Büsche und vermieden es möglichst, viel Geräusche zu verursachen. Unter ihren Stiefeln preßte sich das Moos zusammen, kleine Käfer huschten erschreckt davon. Die Terraner begannen zu ahnen, daß ein Kontakt mit jenem gewaltigen, silbergrauen Wesen nicht ungefährlich sein konnte. Die Spannung begann sich auszubreiten. Um sie herum wurde es dunkler und dunkler. Die glänzende Eisfläche schien sich mit einer grauen Schicht zu überziehen, alle Gegenstände verloren an Konturen und Farbe, und der Wind nahm zu. Pfeifende Töne entstanden, wenn sich die großen Pflanzen bewegten. Noch zehn Meter trennten das Wesen von den Terranern; sie sahen es jetzt durch die Zweige. Cliff murmelte unsicher: »Wie sollen wir vorgehen?« Mario legte den Finger auf die Lippen und gab flüsternd zurück:
»Abwarten. Überlassen wir ihm die ersten Schritte.« Sie verließen die Deckung und blieben stehen. Krachend schnellte hinter Aaron ein starker Zweig zurück, und das Wesen hob den Kopf. Es sah aus wie ein pflanzenfressendes Raubtier von vergleichsweise riesiger Intelligenz. Die Augen starrten die Terraner an. Kein Laut ertönte. Es war eine fast gespenstische Szene voller schweigender Dramatik: hier standen drei aufrechtgehende Menschen in orangegelben, langen Jacken, dort bewegte sich unruhig, wie ein Raubtier hinter Gittern, das silbergraue Intelligenzwesen des Planeten Terrossian. Cliff entschloß sich nach etwa dreißig Sekunden, etwas zu unternehmen. Er hob die Hand. »Wir kommen«, sagte er möglichst ruhig, »um mit dir zu sprechen.« Das Wesen drehte den Kopf herum, sah Cliff an und öffnete das Maul. Zwei Reihen schneeweißer Zähne wurden sichtbar. Die Eckzähne waren ähnlich der Fangzähne von Großkatzen ausgebildet. Dann scharrte das Wesen mit einer Vorderpranke im Moos – vier parallele, tiefe Linien entstanden. Cliff senkte die Hand und nahm die Kamera in beide Hände. Er betätigte den Auslöser. Bevor der Motor zu laufen begann, spaltete ein krachender Donnerschlag die Stille, ein kreischender Windstoß folgte. Dann das Surren des Motors. »Achtung!« schrie Aaron und gab Mario einen Stoß, der den Ersten Offizier zwei Meter weit zwischen die Zweige eines Baumes schleuderte. Das Wesen vor ihnen sprang mit allen vieren zugleich vom
Boden hoch, etwa drei Meter, dann landete es wieder und duckte sich. Mit atemberaubender Geschwindigkeit raste es genau auf Cliff zu. Cliff stand mit gespreizten Beinen da, schätzte die Linie des Angriffs und bog dann seinen Körper zur Seite. Die Schultern des Tieres berührten den Schoß der Expeditionsjacke und wirbelten den schweren Stoff hoch. Cliff vollendete seine Körperdrehung, schwenkte die Kamera und knurrte wütend: »Olé!« Er fühlte sich eine Sekunde lang wie ein antiker Stierkämpfer. Das Wesen raste geradeaus durch die Büsche, wie eine wildgewordene Planierraupe. Erdreich und Fetzen von Moos wurden hochgerissen und nach hinten geschleudert. Die Männer kämpften sich wieder hoch, schauten sich ratlos an, und Cliff schaltete eben die Kamera ab und wollte etwas Bemerkenswertes sagen, als ein noch lauterer Donnerschlag ihn unterbrach. Und plötzlich heulte von der Oberkante des Eises der Blizzard herunter. »Zurück zur LANCET!« schrie der Kommandant. »Schnell!« Es ging um ihr Leben. Vom Eis herab senkte sich wie ein riesiges graues Tuch der Schnee. Es war eine Lawine aus lockeren Schneeflocken, gewaltig und furchteinflößend. In einer eleganten Kurve drehte sie sich herunter auf die blühende Landschaft des Bodens. Wie die Wahnsinnigen rannten, stolperten und sprangen die Terraner in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Binnen weniger Sekunden sahen sie nicht einmal mehr die eigenen Stiefelspitzen. Ein dichter Schleier
hüllte sie vollständig ein. Dann begannen sich die Luftmassen zu drehen wie ein Karussell. Ein heulendes, tödliches Brausen erfüllte die Luft, riß die scharfen Schneekristalle mit sich und verwandelte den Geländeabschnitt neben der Eisfläche in ein weißes Inferno. Sie verloren sich aus den Augen. Sie rannten geradeaus, aber in Wirklichkeit hatten sie jegliche Orientierung verloren. Sie waren blind, die Kristalle rissen die Gesichtshaut auf und drangen in Mund und Nase. Sie rangen nach Luft, klammerten sich schließlich irgendwo fest und warteten. Aaron gelang es, seine Expeditionsjacke zu schließen und den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. Auf diese Weise bekam er etwas Luft, aber er merkte, wie seine Finger gefühllos wurden und wie der Schnee sein Haar durchdrang, ihn durchnäßte und die Zehen taub werden ließ. Langsam, wie in Zeitlupe, sank der Astrogator zwischen den sturmgepeitschten Zweigen des kleinen Baumes zusammen und fiel zu Boden. Er dachte nur noch an die Landestütze der LANCET, dann wurde er bewußtlos. Der Schnee ging über ihn hinweg und deckte ihn zu. Mario de Monti stolperte, als er mit letzter Kraft einen der Steinpfade erreichte. Er sah ihn nicht, fühlte ihn aber undeutlich unter den Sohlen. Er wandte sich nach rechts, denn dort mußte seiner Berechnung nach die LANCET stehen – wenn der orkanartige Wind sie nicht umgerissen hatte. Mario kam noch genau zehn Schritte weit. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen den Sturm. Er setzte Schritt nach Schritt und rutschte schließlich auf den glatten, nassen Steinen aus. Er fing sich ab, ver-
suchte, sich wieder hochzustemmen, aber der Sturm drückte ihn zu Boden. Eine Schneeverwehung bildete sich, und nach Atem ringend und stöhnend brach Mario zusammen. Die Wucht des Blizzards reichte einhundert Kilometer in südlicher Richtung. Der Sturm hatte sich, von Blitzen und Donnerschlägen begleitet, in der Polnähe gebildet und fegte, sich drehend und kreiselnd, nach Süden. In seiner Spur hinterließ er eine gänzlich verwandelte Landschaft voller neuer Schneeformen, neuentstandener Hügel und verwirrender Landschaftsmerkmale. Die Schneemenge fiel, geschleudert von der Wucht des Sturmes, wie ein Leichentuch über die Grünzone und verwandelte sie binnen einer Viertelstunde in eine unregelmäßige weiße Todeslandschaft. Cliff McLane kam am weitesten. Er taumelte hilflos durch den Sturm und hatte jeden Versuch, sich zu orientieren, längst aufgegeben. Er wußte nur, daß er verloren war, wenn er hinfiel und von den Schneemassen zugeschüttet und begraben würde. Er krachte mit voller Wucht gegen einen Baum, riß sich die Haut von den erstarrten Händen, als er zupackte und sich durch die Zweige wühlte, um den Baumstamm zu erreichen. Schließlich schaffte er es. Sein Körper bebte und zitterte im gleichen Rhythmus wie das Holz. Finger und Gesichtshaut begannen gefühllos zu werden. Cliff hielt sich fest, indem er einen Arm um den Stamm legte. »Die Jacke!« sagte er, aber er fühlte, wie die Lippen steif zu werden begannen. Der orkanartige Sturm riß das Flüstern mit sich. Cliff erreichte einen Rand der wild flatternden Jak-
ke und schloß zentimeterweise den magnetischen Saum, zog die Schultern hoch und wartete mit geschlossenen Augen und zitternden Gliedern. Er wußte, daß ihn und seine Freunde nur ein unglaublicher Glücksfall retten konnte, wenn es nicht schon zu spät war. Aber noch lebte er. Mitten im Wirbel eines Schneeberges, der sich ihm entgegenwarf, blieb der Raguer stehen. Er stemmte seine vier mächtigen Pranken in den Boden und wartete. Er fühlte sich noch etwas schwach und unbeholfen, und dazu saß ihm der Schreck noch in den Gliedern. Was war das gewesen? Drei aufrechtgehende Wesen, die ihn anstarrten ... er hatte instinktiv gespürt, daß sie ihm nicht feindlich gegenüberstanden, daß sie aber entschlossen waren, ihn und seine Rasse kennenzulernen. Warum war er davongerannt? Er gab sich die Antwort. Sie waren unverhofft aufgetaucht, ohne Warnung. Bisher hatte der Raguer nur seine Artgenossen kennengelernt und die vielen kleinen Tiere dieser Welt im Eis. Er spürte, daß der Sturm, zwischen dessen Stößen Blitze einschlugen und gewaltige Donnerschläge krachten, die drei schwächlichen Exemplare vernichten würde. Aber in einer Welt von Eis, Kälte und langanhaltender Dunkelheit war jede Art von Leben so kostbar, daß es sich sogar lohnen würde, die Feinde zu retten, falls es auf dem Planeten welche gab. Mit einer Pranke wischte der Raguer den Schnee von den schützenden Augenschilden. Dann starrte er durch das Schneetreiben, drehte langsam den Kopf
und entdeckte den ersten Körper. Auf seiner Flucht war jener Eindringling an der schützenden Kugel vorbeigekommen, mit der er gelandet war. Er hatte den Eingang verfehlt. Der Raguer spurtete los, sein schlanker, kräftiger Körper bewegte sich wie eine Schlange durch Schnee, Büsche und Bäume. Er fand einen warmen Körper auf einer der Steinbarrieren, senkte den Kopf und faßte den Mann dort, wo er den Schwerpunkt feststellte. Dann schlossen sich die Zähne um kalten, glatten Stoff und stanzten einige Löcher hinein. Der Raguer beugte die Nackenmuskeln und hob den schweren Körper hoch, drehte sich um dreißig Grad und lief dann in einem gemächlichen Paßgang bis zu der Kugel, die auf ihren vier schmächtigen Beinen schwankend in dem Sturm stand. Eine Leiter! Der Raguer überlegte, wechselte dann den Zugriff und kletterte mit zwei gezielten Sprüngen die Leiter halb hoch, stemmte sich höher und zerrte dann mit einer Pranke und mit seinem Gebiß den ersten Körper hoch. Er legte ihn auf dem Boden der Kugel ab, ließ sich rückwärts fallen und rollte sich in der halbmeterhohen Schneeschicht ab. Je mehr er sich bewegte, je mehr er sich anstrengte, desto geschmeidiger wurden die Muskeln. Zurück – der zweite Eindringling. Er lag hinter einer Buschreihe, fünfzig Sprünge weit entfernt vom Standort des ersten Fundes. Der Raguer schlug seine Zähne in den gelben Stoff dicht hinter dem Genick des Fremden, spreizte die Beine und schleppte den starren Körper langsam mit sich, quer durch eine Masse Schnee, über Büsche und
Moos hinweg. Je näher er der stählernen Kugel kam, desto heller wurde es um ihn herum, desto weniger Schnee war in der Luft. Er legte den zweiten Körper nach einem heftigen Kampf mit der Leiter und dem engen Einstieg neben den anderen ab und registrierte zufrieden, daß es innerhalb der Kugel wesentlich wärmer war als draußen. Die Fremden würden wieder auftauen können. Der dritte! Der Raguer mußte lange suchen, bis er ihn entdeckte. Der dritte Fremde hatte sich sehr weit von der Kugel entfernt und stand fast ohne Bewußtsein dicht am Stamm eines Baumes. Er spürte nur noch ungenau, wie der Raguer den Baum ansprang, einige Äste abbrach und sich unter den Fremden schob. Das Wesen zerrte, bog und riß an dem erstarrten Mann, der sich halb unbewußt gegen den Eingriff wehrte, schließlich lag der Körper halb sitzend, halb vornübergekrümmt, auf dem breiten Rücken des Wesens. Der Raguer ließ sein biegsames Rückgrat schwer durchhängen, so daß sein Bauch fast den Boden streifte. So machte er sich langsam auf den Weg zur Kugel, wo die anderen zwei Fremden schon lagen.
6 Kommandant Cliff Allistair McLane kam sozusagen millimeterweise, in winzigen Schritten, wieder zu sich. Als erstes registrierte sein Körper eine schwankende Bewegung, wiegend und vorsichtig, als trüge man ihn in einer Sänfte. Dann begann die erkaltete Haut zu reagieren, die Nerven meldeten, was sie spürten. Wärme. Sie breitete sich von der Innenseite der Unterschenkel aus, griff auf die Oberschenkel über und auf den Magen, dann auf die Brust und schließlich auf die Innenseiten der Arme. Cliff versuchte, die Augen zu öffnen, aber es war, als ob er stellenweise von einem dünnen Eispanzer umgeben wäre, der bei jeder Bewegung splittern würde. Die Wärme war wohltuend und weckte ihn langsam auf, aber nur dazu, wie es schien, um ihn müder und träger zu machen. Er sehnte sich nach Schlaf, Ruhe, Wärme und Geborgenheit. Das war offensichtlich das letzte Stadium vor dem endgültigen Tod. In den Ohren war ein klingendes Geräusch, ungleichmäßig laut und schwankend in der Tonhöhe, wie von einer Pikkoloflöte. Wo aber war das Heulen, Jaulen und Wimmern des Blizzards, wo waren die schmetternden Blitzeinschläge und die rumpelnden Töne des Donnerns? Cliff fühlte durch die geschlossenen Lider, wie es heller und heller wurde, als ob er geradewegs in die Sonne hineinliefe. Die Haut an seinem gesamten Körper begann zu prickeln wie tausend Nadelstiche. Das Sturmgeräusch war verschwunden, und endlich gelang es Cliff, die Augen zu öffnen. Er atmete schwer und stoßweise.
Er sah ... direkt vor seinen Augen, zwei oder drei Zentimeter entfernt, den Ausschnitt eines Photos, unwahrscheinlich vergrößert. Eine glatte, feuchte Fläche von silbergrauer Farbe. Auf dieser Fläche, die vollkommen glatt war wie Plastik, bemerkte er die Erhebungen winziger Äderchen und einige Narben, die nicht länger als Millimeter waren und schlitzförmig. Die Haut roch nach Nässe, nach Schnee und frischen Pflanzen. Woher kannte er diese Haut? Seine Gedanken vollführten einen wirren Tanz. Diese Haut hatte er unter den Punktleuchten in Carradines Labor gesehen. Es war die Haut eines jener Eiswesen. Die Überlegungen machten einen Sprung nach vorn, und plötzlich wurden alle Gefühle und Beobachtungen ins richtige Licht gerückt. Cliff hob seinen Kopf, stemmte sich mit den Händen hoch und merkte, daß er auf einem Eiswesen ritt. »He!« krächzte er, »was soll das?« Das Tier ... nein, das intelligente Wesen unter ihm hielt an, dann drehte es den Kopf um hundertachtzig Grad, so daß die großen Augen Cliff direkt ansahen. Jede weitere Bewegung rief in sämtlichen Muskeln und Nerven Cliffs betäubende Schmerzwellen aus. Er war naß, und um ihn herum dampfte es ebenfalls. Die dunkle Brille hatte er verloren. »Ich werde verrückt«, murmelte Cliff, bekam einen Hustenanfall und unterbrach sich. Das Wesen unter ihm stand, als sei es aus Stein gemeißelt. Nur hin und wieder bewegte sich ein Muskel. Cliff sah jetzt seine Umgebung einigermaßen klar. Er hob einen Arm, schirmte die Augen gegen das grelle Sonnenlicht ab und bemerkte, daß der Blizzard
verschwunden war wie ein Spuk. Die ganze Landschaft leuchtete unter den stechenden Sonnenstrahlen wie eine riesige Fläche von weißem, mit Diamantstaub gemischtem Staub. Die Augen begannen zu schmerzen. Langsam stieg von dem Schnee ein leichter Nebel auf; in wenigen Sekunden würde ein gewaltiger Schmelzvorgang stattfinden, der noch vor Beginn der Nacht aus allem Schnee Dampf, Nebelmassen und Schmelzwasser gemacht haben würde. Fünfzig Meter direkt vor Cliff stand die LANCET. Sie stand einen halben Meter tief im Schnee, aber auf der kugelförmigen Zelle des Beibootes befand sich kein Schnee mehr. Cliff sah die Spuren, die der Raguer hinterlassen hatte. Eine neue Überlegung schlich sich in Cliffs Gedanken. »Mein Freund«, murmelte er undeutlich, »wie es den Anschein hat, sind deine Verdienste um den Fortbestand der ORION-Crew erheblich. Bringe mich zu Mario und Aaron, ja?« Er klopfte dem Wesen auf den Rücken, und offensichtlich wurde dieses Signal verstanden. Das Wesen ging langsam weiter. »Danke«, murmelte Cliff und überlegte sich fieberhaft, wie er es anstellen konnte, mit seinem Lebensretter in einen Kontakt zu kommen, der eine Unterhaltung ermöglichte. Nichts fiel ihm ein. Minuten später blieb der Raguer – natürlich kannte Cliff diesen Eigenbegriff der silbergrauen Wesen nicht – unterhalb der Einstiegsleiter stehen. Cliff ließ sich zu Boden gleiten, versank bis zu den Knien in dem nassen, klebenden Schnee und hielt sich an der Sprosse der Leiter fest. Er betrachtete dieses Wesen,
das etwa so groß war wie ein terranischer Tiger, aber wesentlich längere Gliedmaßen besaß. Es war ein Tierkörper in einer durchaus ästhetischen Form, geschmeidig, stark und schlank, wie für große Kraftanstrengungen, übergroße Wendigkeit und erhebliche Geschwindigkeit geschaffen. »Wie fange ich es an?« murmelte der Kommandant und fühlte, wie eine übergroße Müdigkeit ihn zu überfallen drohte. Dann bückte er sich stöhnend und zeichnete ein Dreieck in den Schnee. Das Wesen sah ihm aufmerksam zu, dann hob es eine Pranke, krümmte eine der blauschimmernden Krallen nach vorn und zeichnete über die drei Linien des Dreiecks jeweils ein Rechteck. Cliff sah atemlos zu. Dann kam ihm eine Idee, die zwar nicht gerade neu war, aber ziemlich wirkungsvoll zu werden versprach. Er ging in einer der tiefen Spuren langsam von links nach rechts und zeichnete einen primitiven Comicstrip in den Schnee. Ein Blitz, dann eine wirbelnde Spirale, schließlich ein Strichmännchen, das von einem Schneeberg erdrückt zu werden drohte. Dann einen Raguer, der dieses Strichmännchen mit sich zu einer stark schematisierten LANCET schleppte. Schließlich ein weiteres Strichmännchen, das auf einem Raguer ritt. Schließlich das letzte Bild: Das Männchen, das Cliff darstellen sollte, reichte dem tierähnlichen Wesen eine Hand und ergriff eine Pranke. Der Raguer bewegte sich, musterte die Zeichnungen und ritzte mit der gefährlich aussehenden Klaue zwei Kreise um das letzte Bild.
Cliff fühlte, wie ihn die Schwäche zu übermannen drohte. Seine Haut juckte an jedem Quadratzentimeter. Er hob die Hand bis in Schulterhöhe und kehrte die Handfläche dem Wesen zu, wankte zurück zur LANCET, bis er schließlich Halt an der Sprosse fand. »Ich muß jetzt starten und mich um unsere Kameraden kümmern«, sagte er schwach und versuchte, mit dem anderen Arm durch Gesten klarzumachen, was er meinte. »Ich danke dir – morgen treffen wir uns wieder hier, ja?« Er deutete auf das Wesen, auf sich und auf den Boden. Das Wesen zeichnete als Antwort einen Kreis in den Schnee, in dessen Mitte die LANCET undeutlich und grob gezeichnet zu erkennen war; eine Kugel mit vier Spinnenbeinen. »Verstanden!« sagte Cliff und begann, die Sprossen hochzuklettern. In halber Höhe verlor er den Halt und sackte zurück, aber das Wesen machte einen Sprung und stieß Cliff mit der Knochenleiste zwischen den Augen wieder nach oben. Erschöpft fiel der Kommandant über Mario und Aaron. Beide Männer bewegten sich schwach. »Etwas weniger Glück, und wir wären nicht mehr am Leben!« murmelte der Kommandant und schaltete die Maschinen ein, drehte den Schalter der Heizung auf den Maximalwert und wuchtete sich in den Sessel. Dann machte er aus den Bordvorräten drei Becher von Nahrungskonzentraten heiß. Minuten später trank er den ersten aus und wartete ab, bis er sich wieder einigermaßen gekräftigt hatte. »Zuerst Mario ...« Cliff hielt Mario die Nase zu, und als der Chefky-
bernetiker sich wehrte und den Mund öffnete wie ein sterbender Fisch, flößte ihm Cliff das heiße Getränk ein. Es enthielt alle Nährstoffe, um einen Halbtoten für eine halbe Stunde der Welt zurückzugeben. Mario hustete, würgte, atmete schwer, aber nach einigen Sekunden versuchte er mit aller Sturheit, deren er fähig war, auf die Beine zu kommen. Cliff half ihm, und Minuten später kauerte Mario in seinem Sessel und zitterte, die Arme um die Knie geschlungen. »Verdammter Schnee!« röchelte er und sah zu, wie Cliff den Astrogator bearbeitete und versuchte, den dritten Becher loszuwerden. Zwanzig Minuten später startete Cliff das Beiboot und flog den garantiert schlechtesten Flug seines Lebens. Unterwegs gelang es ihm noch, über Funk die Notlage durchzugeben, dann setzte er krachend in der Mitte des eisigen Raumhafens auf. Ein Kommando der Pioniere schaffte Mario, Cliff und Aaron in das kleine Lazarett der Kolonie. Keiner der drei Männer merkte etwas, denn sie schliefen und ließen alles über sich ergehen. Sie wachten erst nach fünfzehn Stunden wieder auf. * Cliff lag in einem weichen, bequemen Hausanzug unter der flauschigen Decke. Der Kommandant lehnte sich gegen die Kissen und sagte leise: »Geht es den beiden anderen auch so gut wie zur?« »Ja«, antwortete Ishmee. Sie befanden sich in Cliffs Wohnkugel. Es war warm, und die wenigen elastischen Verbände störten
den Kommandanten kaum. Er fühlte eine wohlige Müdigkeit, aber wenn er daran dachte, was vor ihnen lag, dann wurde er schlagartig unruhig. Neben der Couch stand ein niedriger Tisch, auf dem sich das Kaffeegeschirr befand. Ishmee ging langsam hin und her und berichtete: »Wir haben euch aus der LANCET geholt und sind mit einem der Röhrenschlitten zum Lazarett gerast. Dort haben sie euch behandelt, in Tiefschlaf versetzt und in die Wohnkugeln gebracht. Euch fehlt nichts, und in einem Tag seid ihr wieder vollständig bei Kräften. Was ist eigentlich vorgefallen?« Cliff trank einen großen Schluck des starken schwarzen Gebräus und sagte dann: »Vorgefallen sind mehrere Dinge kurz nacheinander. Und wir wissen jetzt nicht viel mehr als vorher. Doch, eines: Diese Wesen sind keine Feinde, sondern ...« Er erzählte eine Stunde lang, was er erlebt hatte. »Sieh«, murmelte er dann, »wir können uns mit ihnen verständigen, aber nur in sehr primitivem Maß. Alle Ausdrücke wie Freundschaft, Verantwortung, Mitarbeit und ähnlich abstrakte Begriffe sind nicht in Bildern auszudrücken, oder man müßte ganze Geschichten zeichnen. Die Schrift kann nicht schnell gelernt werden. Auch bei größter Anstrengung ist es unmöglich, mit diesen Wesen zu verkehren ... und wir haben erst einen einzigen ›Gesprächspartner‹ gefunden. Welchen Ausweg gibt es, Ishmee?« Jemand klopfte an der Tür. »Herein, und Füße gut abtreten!« rief das schwarzhaarige Mädchen. Roqué Alsina kam herein, zog seinen schweren
Mantel aus und warf ihn vorsichtig über die Sessellehne. Dann setzte er sich neben Cliff auf den Couchrand, nachdem er Ishmee begrüßt hatte. Jede versteckte Feindseligkeit – und auch der letzte Rest von eifersüchtigem Mißtrauen – schien seit den Minuten verschwunden zu sein, in denen Alsina Cliff zum wartenden Eisgleiter getragen hatte. Alsina hatte eine deutliche Schwache der Raumschiff-Crew mitangesehen, und das hatte ihm das alte Gefühl der Überlegenheit wieder zurückgegeben, wenn auch deutlich korrigiert. »Wie geht es?« fragte er und legte einen Gegenstand auf Cliffs Knie. »Ausgezeichnet«, sagte Cliff und schüttelte Roqués Hand. »Meine Kamera!« Alsina nickte und zog aus der Brusttasche seines Anzugs ein Bündel von Vergrößerungen. »Ich bin mit dem Helikopter gestartet und hatte ein modifiziertes Minensuchgerät bei mir. Ich fand die Kamera unter einem letzten Schneerest, öffnete sie später und ließ den Film entwickeln, die besten Aufnahmen sind hier zusammengeheftet.« »Hervorragende Arbeit, Roqué!« bestätigte Cliff. Sie sahen sich zu dritt die Bilder an, und der Kommandant wies auf Einzelheiten hin, die diese merkwürdige Geschichte deutlicher machten. Dann lehnte er sich wieder zurück und fragte nachdenklich: »Die Frage ist nun: Was unternehmen wir?« Alsina gab zurück: »Ist es unbedingt notwendig, etwas zu tun, Cliff? Können wir diese Wesen nicht einfach so weiterleben lassen wie bisher? Sie stören und ärgern uns nicht, nehmen uns nichts weg – und wir nehmen ihnen
auch nichts weg und bemühen uns, sie nicht zu stören. Die Geschichte mit der Blume war ein Einzelfall. Er wird sich auf diesem Planeten nicht wiederholen.« »Darum geht es nicht«, widersprach der Kommandant. »Die Lage muß von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet werden. Sozusagen auf interplanetarischer Ebene.« »Das verstehe, wer will!« knurrte Alsina, dann überlegte er. Mit den Monden, den Boliden und Planeten der 900-Parsek-Raumkugel unternahm die Erde das gleiche, wie es früher mit den weißen Zonen der Weltkarten geübt worden war. Das Land, das nicht besiedelt war, in dem niemand lebte außer Tieren und Pflanzen, gehörte dem, der es entdeckte und nutzbar machte. Anders war es, wenn es auf einem Planeten Tiere gab. Man schonte ihren Lebensraum, soweit es ging und schoß nur dann, wenn es wirklich unumgänglich war. Zur Selbstverteidigung oder wegen Nahrungsmangel. Das änderte sich schlagartig, wenn diese Tiere plötzlich zu Intelligenzwesen wurden. Etwa so wie auf Caernavan't – oder hier auf Terrossian. Dann gehörte der Planet ihnen ebenso, wie die Erde den Terranern gehört. Jeder andere Mensch war in diesem Augenblick ein Gast, der kommen und gehen konnte, wann es den rechtmäßigen Besitzern des Planeten gefiel. Wenn es ihnen gefiel. Man war gezwungen, im Interesse aller Beteiligten und natürlich auch der Expansionsbestrebungen der Erde, sich mit den Besitzern des betreffenden Planeten zu verständigen und eine Übereinkunft zu finden.
Das war überall dort geschehen, wo man auf intelligentes Leben gestoßen war; nicht gerade häufig, aber oft genug, um einige Präzedenzfälle zu schaffen. »Verstehen Sie jetzt, warum uns einfach keine andere Wahl bleibt?« fragte Ishmee und bot Alsina Kaffee an. »So ungefähr«, antwortete er. Cliff setzte seine Tasse ab und fuhr mit leiser, eindringlicher Stimme fort: »Und außerdem ist es jetzt aus mehreren Gründen mein persönliches Problem geworden, Roqué.« »Warum?« fragte der Techniker. »Erstens hat dieses Wesen meine beiden Kameraden und mich aus Todesgefahr gerettet; das kann nicht wegdiskutiert werden. Das allein verpflichtet mich bereits, eine Kommunikationsbasis zu finden. Zum zweiten war es seit meinem Eintritt in die Flotte mein Bestreben, Aggressionen aller Art zu verhindern. Leider mußte ich in den letzten Tagen des interstellaren Krieges mitkämpfen, und leider erlebte ich die Invasion der Extraterrestrier im vollen Umfang mit. Wie gesagt: leider! Und seit dieser Zeit bin ich einigermaßen allergisch gegen den Einsatz von Lasern oder Overkill zu anderen als wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zwecken. Wir Terraner haben da eine unglückselige Hypothek von Kämpfen mit uns herumzuschleppen. Es ist unnötig, unmoralisch und gänzlich sinnlos, hier auf Terrossian selbst den Hauch von Auseinandersetzungen heraufbeschwören zu wollen. Ich bin überzeugt, Roqué Alsina, Sie sind mit mir einer Meinung.« Cliff grinste ihn an.
»Natürlich«, sagte der Chefpionier. »Aber schließlich habe ich nicht Ihre Erfahrung in solchen Dingen. Aber ... wie wollen Sie mit diesen Wesen zurechtkommen?« »Schon die Mehrzahl?« Alsina nickte ernst und erwiderte: »Ich habe bei meiner Suche nach der Kamera mindestens fünfundvierzig dieser Wesen beobachtet. Größere und kleinere, folglich ältere und jüngere.« Nachdenklich flüsterte das Mädchen mit den goldfarbenen Augen: »Die jüngsten sind mindestens zweihundert Jahre alt, Cliff!« »Ich weiß. Fünfundvierzig allein hier am Eisrand. Es handelt sich also nicht um eine aussterbende Rasse.« »Sicher nicht!« sagte Alsina deutlich. »Meine Frage ist noch unbeantwortet, Kommandant!« Cliff nagte an seiner Unterlippe, dann richtete er seinen Oberkörper auf und griff nach der Tasse. »Wir haben drei Möglichkeiten«, sagte er. »Welche?« »Wir können versuchen, uns mit ihnen durch ein System von Zeichnungen zu verständigen. Das würde einen Stab von Wissenschaftlern erfordern und viel Zeichenkarton. Und wie soll ich es schaffen, die vermutliche Tausende von Wesen zu Schulklassen zusammenzufassen? Das scheidet also aus. Zweitens: Ishmee mit ihrer halbtelepathischen Begabung versucht, Gedankenimpulse dieser Wesen aufzufangen. Das würde bedeuten, daß wir sie unter Umständen verstehen aber nicht mit ihnen reden können. Und die dritte Möglichkeit ist mir eingefallen, als ich im Betäubungsrausch lag. Jedenfalls hatte
ich die Lösung parat, als ich hier im Dunkeln aufwachte und niemand sich um mich kümmerte ...«, er grinste Ishmee zu. »Sie haben eine Art, andere Menschen auf die Folter zu spannen!« sagte Alsina vorwurfsvoll. »Warten Sie nur«, prophezeite das Mädchen, »bis Sie ihn pausenlos Bonmots formulieren hören. Er hat darin einige Übung!« »Das ist ja ausgezeichnet!« antwortete der Chefpionier. »Man findet vor allem das ausgezeichnet, was seine eigene Ansicht bestätigt«, sagte Cliff mit dem unschuldigsten Gesicht der Raumflotte, »die Eitelkeit ist die Muse der Kritik!« Ishmee lachte. »Haben Sie's gehört? Wie ein Automat. Man wirft oben ein Lächeln hinein, und unten leuchtet eine flammende Schrift auf, nach Texten von Allistarius McLane Orionensis dem Jüngeren.« Nachdem sich Cliff die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, deutete er auf das Mädchen und sagte: »Sattle die ORION! Rufe Mario und Aaron! Ich fliege!« »Er redet irre«, sagte Alsina. »Soll ich den Arzt holen?« Mit verträumtem Gesichtsausdruck murmelte Cliff: »Lieber die Ärztin. Ich fliege. Und zwar fliege ich nach Caernavan't und hole eine der Kugeln hierher. Es ist nicht weit: Süd/Neun 900. Diese telepathischen Kugelwesen werden mir helfen, und das wird auch ein geglückter Versuch interplanetarer Zusammenarbeit werden.«
Ishmee sagte verblüfft: »Das scheint die Lösung zu sein. Werden die Kugeln mitmachen?« Cliff zuckte die Schultern. »Natürlich werde ich einiges zu tun haben, um die schüchternen Kugeln von ihrer Verpflichtung zu überzeugen. Ich rechne mir aber gute Chancen aus, da die Überzeugung, die Kugeln wären häßlich, inzwischen abgebaut sein dürfte.« Roqué stand auf und knurrte: »Kugeln! Welche Kugeln?« Cliff und Ishmee erzählten ihm kurz, was es mit den Lebewesen des Planeten Caernavan't auf sich hatte. Der Einsiedler schien dem Techniker besonders zu imponieren. Endlich sagte er: »Ich glaube, Sie haben recht, McLane. Wann wollen Sie starten? Wann sind Sie wieder zurück?« Cliff zählte an den Fingern ab und sagte: »Ich starte morgen früh. Ein Tag Flug, ein Tag Aufenthalt, ein zweiter Tag für den Rückflug. In einer Woche könnten wir mit etwas Glück das Verständigungsproblem gelöst haben.« Ishmee fragte: »Und was tue ich?« Cliff sagte ohne Ironie: »Ich glaube, es wäre kein Fehler, wenn du versuchen würdest, gewisse Vorarbeiten zu leisten. Deine halbtelepathische Begabung würde uns, wenn wir mit einem Kugelwesen zurückkommen, entscheidend helfen.« »Einverstanden«, meinte Ishmee, »wenn auch mit gewissen Vorbehalten.«
»Mit welchen?« »Wenn es uns gelingt, jenes Exemplar zu treffen, das euch gerettet hat, dann hätte ich einen Anknüpfungspunkt für meine Arbeit.« Cliff deutete auf Roqué und fragte: »Glauben Sie, daß Sie, Ishmee und Helga das schaffen könnten? Stichwort wäre der Startplatz der LANCET nach der Rettungsaktion.« »Einverstanden!« Cliff lehnte sich in die Kissen und dachte mit geschlossenen Augen nach ... sein Plan versprach einigen Erfolg. Vor allem wurde er dadurch, daß er mit den geringsten Mitteln operierte, weniger anfällig und konnte vermutlich in einer wesentlich kürzeren Zeit auskommen. Natürlich mußte der Chef des Büros für extraterrestrische Angelegenheiten, Bela Rover, verständigt werden. Cliff beschloß, einige Stunden zu schlafen und dann mit den anderen Partnern zu besprechen, wie der Einsatz durchgeführt werden sollte. »Ich sehe Licht!« murmelte er und schlief ein. * Es sah so aus, als habe nie ein Blizzard die Landschaft verwüstet. Entlang einer strahlenden Gletscherwand von reinem Weiß, hin und wieder durchzogen von grünen oder blauen Spalten und Streifen, erstreckte sich die Landschaft aus einem intensiven, dunklen Grün, durchsetzt von den winzigen Punkten weißer Blüten. Sogar die Steinwälle begannen zuzuwuchern. Es war wenige Minuten nach dem Start der ORION
VIII nach Caernavan't. Helga Legrelle, Ishmee und Roqué Alsina gingen langsam vom Eis weg in südlicher Richtung. Schräg hinter ihnen stand der Helikopter der Kolonie; die Enden der Tragflügel zitterten noch etwas. »Wie möchten Sie es denn?« fragte Alsina leise. »Möglichst bequem«, sagte Ishmee. »Versuchen wir es immerhin«, seufzte Helga. »Obwohl ich nicht ganz sicher bin, daß wir Erfolg haben werden. Diese Wesen drängen sich sicher nicht danach, mit uns zusammenzutreffen.« »Wahrscheinlich nicht, aber möglich«, wandte der Cheftechniker ein. Sie gingen langsam, nach allen Seiten Ausschau haltend, auf die Stelle zu, an der McLane seinen grafischen Dialog mit dem Wesen geführt hatte. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann sahen sie vor sich die vier Abdrücke der Landeteller im feuchten Boden. »Die Zeichnungen sind leider dahingeschmolzen, sonst könnten wir jetzt Cliffs grafische Talente begutachten«, sagte die Funkerin. »Aber wo ist dieses Wesen?« »Nur Geduld!« meinte Alsina und deutete auf den Boden rings um die Abdrücke. »Was ...?« »Spuren«, antwortete er lakonisch. In den vergangenen vierzig Stunden waren hier entweder sehr viele Wesen umhergelaufen, oder aber ein einzelnes Exemplar hatte auf Cliff gewartet. Zahlreiche Abdrücke von raubtierähnlichen Pfoten waren zu sehen, teilweise verwischt, teilweise sehr deutlich, je nach Untergrund. Die drei Terraner warteten eine Weile und suchten den Boden nach anderen Merk-
malen ab, aber es war ziemlich nutzlos. Ishmee dachte inzwischen an die Äußerung Cliffs, daß diese Wesen nicht nur zwei Jahrhunderte Permafrost, sondern auch noch ganz andere Belastungen auszuhalten vermochten. Was meinte Cliff? Was konnte dies sein? Sie lehnte sich gegen einen knorrigen Baumstamm in der Nähe des ›Treffpunktes‹ und schloß die Augen. Zuerst störte sie noch der Gehörsinn. Sie nahm das weiche Blasen des Windes auf ihrem Gesicht wahr, die Bewegungen der beiden anderen Terraner und das fast unhörbare Summen der Insekten. Die Blätter raschelten, irgendwo knackte ein Ast, und noch weiter entfernt löste sich ein Eisbrocken aus der schmelzenden Wand und schlug dumpf krachend ins Erdreich ein wie ein Stein. Dann vermischten sich alle Umweltgeräusche zu einem einzigen Ton, der nach und nach leiser zu werden schien und schließlich nicht mehr wahrgenommen wurde. Ishmee hatte, solange sie lebte, oft über ihre merkwürdige Begabung und die aller anderen Turceed nachgedacht – sie wußte selbst nicht, wie es funktionierte. Sie streckte eine Art geistige Fühler aus, die wie Antennen die Schwingungen auffingen. Wie zum Beispiel jetzt. Irgendwoher kam ein deutlicher Gedanke. Nicht ausgesprochen, auch nicht in Bildern, sondern wesenlos und undeutlich. Raguer. »Was ist ein Raguer?« dachte Ishmee zögernd. Ein anderer Gedanke, deutlicher jetzt, kam auf sie zu. Ich bin ein Raguer. »Du mußt eines dieser Wesen sein, die wir suchen.
Warum kommst du nicht etwas näher?« Die Verständigung wurde undeutlich und verschwommen, als Ishmee versuchte, diesen Dialog weiterzuführen. Es hatte den Anschein, als sei dieses Wesen einfach damit überfordert, einen klaren, deutlich auf eine Persönlichkeit gerichteten Gedanken zu formulieren. Immerhin – eine flüchtige Verständigung war erfolgt. Ishmee fühlte auch noch, wie ein Wirrwarr von vielen Gedanken, eine Aura, die von einem dieser Wesen ausstrahlte wie eine Hitzewelle, deutlich erkennbar näher kam. Der Raguer schien sich der Gruppe zu nähern. Ishmee öffnete die Augen und sah Helga Legrelle, steif und ängstlich, die einen Raguer anstarrte, der fast geräuschlos herankam. Er lief wie eine Großkatze, geschmeidig lautlos und schnell und blieb drei Meter vor Roqué und Helga stehen. »Huch!« machte die Funkerin. »Keine Beunruhigung!« rief Ishmee scharf und ging auf Alsina zu, der die Hand am Griff der HM 4 hatte. »Trotzdem ... ein merkwürdiges Gefühl«, sagte er und hakte den Daumen in den Gürtel. »Erwarten Sie, daß die erste Begegnung eines Menschen und eines Planetariers mit brüllendem Gelächter einhergeht?« fragte Ishmee aufgebracht. »Lassen Sie die Waffe in Ruhe.« Alsina fragte verwirrt: »Haben Sie ...?« »Ja. Ich habe den Begriff erfahren, den sich diese Wesen gegeben haben. Sie nennen sich Raguer. Dieses Wesen ist sozusagen Cliffs Freund und ausgesprochen gutartig. Ich habe den Eindruck, die Raguer
sind hochintelligent, aber sie hatten niemals Gelegenheit, abstrakte Dinge zu lernen und zu begreifen. Weil nämlich alle hundert Jahre spätestens ein langer Schlaf beginnt.« Alsina betrachtete das Wesen, das auf Ishmee zulief und neben ihrem Knie stehenblieb. Der Kopf reichte dem Mädchen bis zur Brust. »Ein phantastischer Anblick. Ich möchte nicht einem wütenden Raguer gegenüberstehen!« sagte der Techniker. »Ich glaube, ich auch nicht«, erwiderte Helga. »Und was willst du jetzt noch wissen, Ishmee?« »Nicht mehr viel.« Sie betrachteten schweigend und fast aufdringlich den Raguer. Besonders interessierten sie die Finger, die zwischen den Krallen ausgefahren werden konnten. Dies war ein wichtiges Merkmal; diese Planetarier konnten, wenn sie einmal begriffen hatten, Arbeiten wie eine menschliche Hand ausführen. Und nicht nur mit zwei, sondern mit vier Händen. »Klavier zu vier Händen«, sagte Helga ironisch, »von einem Raguer ausgeführt. Chopin würde erblassen.« »Meinetwegen. Wichtig ist nur, daß wir uns mit ihnen verständigen können.« Ishmee sah den Blick des Wesens auf sich gerichtet und betrachtete die großen Augen. Sie waren, wie die Augen irdischer Katzen, darauf eingerichtet, auch bei einer sehr geringen Lichtmenge deutlich zu sehen. Jetzt war die Pupille fast geschlossen. Ishmee legte eine Hand auf das Muskelbündel im Rücken des Tieres und überlegte zielgerichtet: Wie ist eine Zusammenarbeit möglich?
Die Antwort, die sie auf halbtelepathischem Weg bekam, war undeutlich, aber gut verständlich. Ein Strom Gedanken, die sich mit allen Begriffen wie Kennenlernen, Freundschaft, Geborgenheit, leichter Neugierde, Zuverlässigkeit und ähnlichen Abstrakta umschreiben ließen, kam auf sie zu. Sie verstand. »Cliff hatte recht«, sagte sie deutlich. »Wir brauchen die Kugeln. Sie müssen unsere Gedanken lesen und weitergeben, wie schon gehabt. Hoffentlich kommt Cliff nicht unverrichteter Dinge zurück.« Alsina bat: »Fragen Sie den Raguer, ob wir weiterhin auf seinem Planeten Öl bohren dürfen, Ishmee!« Ishmee schüttelte bedauernd den Kopf und antwortete leise: »Das übersteigt meine Fähigkeiten. Nicht so sehr meine Fähigkeiten als mein Problem, es dem Raguer deutlich zu machen. Er würde alle die technologischen Begriffe nicht verstehen, selbst wenn ich sie formulieren könnte. Tut mir leid!« »Schon gut.« Helga Legrelle hatte sich noch nicht mit dem Raguer angefreundet. Sie betrachtete das Wesen, das jetzt ruhig neben Ishmee ging, mit unterdrücktem Mißtrauen, aber nicht unfreundlich. »Aktion beendet?« fragte Alsina. »Ja«, sagte Ishmee. »Zur vollen Zufriedenheit.« »Ich weiß nicht«, meinte Helga skeptisch, »aber so sehr anfreunden werde ich mich mit den Raguer nicht. Oder nur sehr spät.« »Ich verstehe dich!« sagte Ishmee und ließ ihre Hand auf dem Nacken des Wesens liegen. Sie gingen zu viert nebeneinander auf den wartenden Hub-
schrauber zu, drei Terraner und ein Bewohner dieses bemerkenswerten Planeten. Der Raguer sah ihnen nach, als sie die Maschine enterten und die Maschinen in Gang setzten. Der Ausdruck dieses tigerähnlichen Wesens ließ Ishmee und Alsina daran denken, daß dieser Raguer ihr Wiederkommen förmlich ersehnte. Und gerade das machte Ishmee stutzig. * Die Sensation war vollkommen, als Cliff McLane einen Raguer durch die Gänge der Kolonie führte, als sei es ein gutdressierter Hund. Er hatte zwar eine Kugel überreden können, mit ihm zu kommen, aber die Scheu, sich einem größeren Personenkreis zu zeigen, war noch nicht völlig abgebaut worden. Die Kugel wartete in Cliffs Wohnkugel. Die Pioniere standen neben ihren Türen und sahen zu, wie der schlanke Kommandant und das silbergraue Wesen nebeneinander unter den Leuchtplatten hindurchgingen und vor Cliffs Kugel stehenblieben. Cliff hob den Arm, drehte sich um und sagte laut und deutlich: »Vielleicht schaffen wir es dieses Mal!« Juan Allende rief zurück: »Viel Spaß, Cliff!« Cliff nickte und öffnete die Tür. Der Raum war fast leer. Die Kugel hatte ihre vier Beine gekreuzt und saß auf dem Videophongerät. Cliff wußte noch immer nicht, wie der Eindruck entstand, daß er sich von der Kugel nachdrücklich angestarrt fühlte. Cliff deutete in den Wohnraum hinein und sagte zum Raguer:
»Dort hinein, mein Freund!« Die Pioniere sahen mit steigender Verblüffung, wie das Wesen durchaus menschlich mit dem Kopf nickte und mit einem einzigen Weitsprung vom Korridor aus mitten in den Wohnraum hineinsprang. Cliff drehte sich grinsend um, obwohl er sich nicht gerade sehr behaglich fühlte und sah Ishmee heranlaufen. Sie ergriff seine Hand und sagte schweratmend: »Ich werde zweifellos keinen Satz in dieser Reichweite zusammenbekommen. Ich habe jedenfalls, was du brauchst.« »Das beruhigt mich«, antwortete der Kommandant und schloß die Tür. Vier verschiedene Wesen befanden sich jetzt in diesem runden Wohnbezirks Sie alle würden in den nächsten Stunden Teil eines gedanklichen Ringes werden, der einzigartig in Cliffs Karriere war – und ebenso einzigartig im Leben von Ishmee, dem Raguer und der namenlosen Kugel von Caernavan't. Cliff setzte sich und atmete schwer aus. »Langsam und schön schematisch hintereinander«, sagte er laut. »Ich weiß, daß die Kugel, mein ganz spezieller Freund seit dem Punkt, wo sie sich telekinetisch in die Handsteuerung der ORION eingeschaltet hat, zwischen den Sätzen lesen kann. Ich habe ihr bereits erklärt, worum es geht – wir können also sofort anfangen.« Er bedeutete dem Raguer, sich hinzusetzen. Das Wesen sah ständig zur Tür, als wäre es beunruhigt. Der ruhelosen Bewegung des Kopfes nach zu schließen, schien der Umstand, daß die Tür geschlossen war, den Raguer zu stören. Cliff stand auf und murmelte:
»Begreiflich ... nach mehr als einem Jahrhundert eingeschlossen im Eis kann ein anständiger Raguer eine klaustrophobische Neigung nicht unterdrücken. Ich sehe nach, was sich tun läßt.« Er öffnete die Tür und lehnte sie an, so eng es ging. Augenblicklich beruhigte sich das silberglänzende Wesen. »Wir beide?« fragte Ishmee. »Ja«, sagte Cliff. »Zur Kontrolle und zur Erfolgssicherung gleichermaßen notwendig.« Sie setzten sich auf die Couch, lehnten sich entspannt zurück, dann setzte Cliff die Hochdruckspritze an. Er hatte ein spezifisches Mittel ausgesucht, das sie genau zwei Stunden lang in einem tranceähnlichen Halbschlaf halten und dann unbedingt wieder aufwecken würde. Er war sich der üblen Nachwirkungen des letzten Versuchs noch sehr bewußt, bei dem ihn die Ausscheidungen der Kokons betäubt hatten. Zweimal zischte die Preßluftspritze auf, dann versanken Cliff und Ishmee in einen Rachen Schlaf. Er war dadurch gekennzeichnet, daß sie wußten, daß sie schliefen, und daß sie alles, was jetzt folgte, wie in einem deutlichen Traum erlebten. Jetzt begann die Kugel zu handeln. Dieses monadenhafte Etwas, sonst Bestandteil einer gedanklichen Gemeinschaft aus Tausenden von Einzelwesen, hatte sich seit einigen Minuten mit der Intelligenz und dem Verstand des Raguer beschäftigt. Dann ... Die Kugel merkte deutlich, daß hier eine Menge ausgezeichneter Begabungen im intellektuellen Halbschlaf vorhanden waren. Dieses Wesen war lernfähig, aber es hatte niemals lernen können, wenigstens nicht
mehr als die notwendigen Mechanismen zum Überleben. Jetzt galt es, zwischen den beiden Terranern (die der Kugel gut bekannt waren) eine Brücke zu bilden. Das war einfach (da sich die Terraner besser kannten als die Kugel das Mädchen). Und zwischen diesem Doppelverstand und dem Raguer mußte ebenfalls eine gedankliche Brücke errichtet werden. Das war etwas schwerer, aber binnen Minuten war es geschafft. »Ein Grußwort«, so hatte der Kommandant die Kugel gebeten, »sollte einen starken Anfang und einen starken Schluß haben. Beide sollten möglichst unmittelbar ineinander übergehen.« Danach richtete sich die Kugel. Der Gedankenaustausch begann ...
7 »Wir sind eine Rasse von leidlich intelligenten Wesen, die mit Raumschiffen die Entfernungen zwischen den einzelnen Sonnen und Planeten überwinden können. Und wir stießen eines Tages auch auf diese Welt. Wir nannten sie Terrossian, und das Feuer am Himmel, die Sonne, nennen wir Galileo. Wir sind seit zwanzig Jahren Gäste auf diesem Planeten, weil wir nicht wußten, daß es die Raguer gab. Sind wir geduldet, oder müssen wir den Planeten verlassen?« Das fragte der Kommandant. Der Raguer verstand, weil die Kugel die Frage entsprechend umgesetzt hatte. Und die Antwort wurde dementsprechend umgeformt. Der Raguer fragte: »Was ist Raumfahrt?« Cliff versuchte es ihm zu erklären. Er gebrauchte die übliche Nomenklatur und die gewohnte Terminologie. Er sprach von den sichtbaren Lichtpünktchen, erklärte die Natur der Sonnen und Planeten, definierte Lichtjahr und Parsek, gab einen sehr knappen Überblick über ein Raumschiff und dessen Möglichkeiten. Er schilderte die Ankunft der Pioniere, die Wichtigkeit des Öls und stellte seine Frage noch einmal. Die Antwort: »Ihr seid geschätzte Gäste, weil ich glaube, daß wir von euch viel lernen können. Wir sind nicht dumm, aber wir konnten nie lernen. Vor unendlich langer Zeit war unser Planet nur an zwei Stellen mit Eis bedeckt.« »Woher weißt du das?«
»Jeder von uns hat etwas Ähnliches wie eine Erinnerung daran, auch wenn niemand es direkt erlebt hat. Die Tatsache daß wir lange Zeit im Eis eingefroren sind, ist uns bewußt. Sie trägt die Schuld daran, daß wir niemals eine richtige Kultur entwickeln konnten.« Das war deutlich. Cliff fragte aufgeregt: »Wie geht dieses Einfrieren und Wiederaufwachen vor sich?« Die Antwort erstaunte ihn nicht besonders, denn er hatte bereits fast alles so oder ähnlich überlegt. Seine Thesen wurden zur Gewißheit. Die Antwort des Raguer: »Wenn es kalt wird, wenn der erste Schnee fällt, haben wir genügend Energie und Nährstoffe gespeichert. Wir legen uns hin und warten. Dann kommt Schnee und Kälte. Wir werden hart und gefrieren. Dann schlafen wir – wenn wir schlafen, merken wir nichts von dem was um uns geschieht. Wir schlafen. Wie lange das dauert, weiß keiner von uns. Wir können nicht rechnen und keine derartig großen Schlüsse ziehen. Dann, eines Tages, wird es dort, wo wir eingefroren waren, wärmer. Die Samen und Sporen der Pflanzen öffnen sich und beginnen zu wachsen und zu blühen. Wenn eine bestimmte Pflanze blüht, entwickelt die Blüte eine Art Signal. Dieses Signal weckt etwas in unseren Körpern, und wir bereiten uns darauf vor, uns aus dem Eis zu brennen. Dieser Vorgang wird ohne unser bewußtes Zutun eingeleitet, wenn unsere Augen eine gewisse Menge Licht einfangen, also wenn die Eisschicht, die uns bedeckt, entsprechend dünn geworden ist.
Wir werden schnell heiß, schmelzen das Wasser und werden frei. Wir finden immer wieder Reste von unseren Artgenossen, die das Signal zum falschen Zeitpunkt erhalten haben. Das Eis um sie herum war zu dick – die Hitze und der Wasserdruck ließen die Raguer sterben.« Cliff fragte: »Warum sprengen sich sterbende Raguer außerhalb des Eises selbst in Stücke?« Die Antwort: »Von Warmperiode zur nächsten Lebensphase werden es immer weniger von uns. Wir sind nicht dafür geboren, lange Zeit im Eis zu leben, auch wenn wir uns angepaßt haben. Wir sterben als Rasse aus, und aus eigener Kraft können wir uns keine neue Heimat suchen. Auch aus diesem Grund seid ihr Terraner liebe Gäste. In unserer sagenartigen Erinnerung gibt es eine Geschichte, in der es zwei Raguern gelungen ist, diese Welt zu verlassen und eine andere zu suchen. Sie kamen niemals zurück. Sie ...« Cliff taumelte hoch, sackte dann wieder zusammen und versetzte der Kugel einen leichten Schock durch die Intensität seiner Gedanken. »Wir haben einen kleinen Mond gefunden«, sagte Cliff. »Dort sind die beiden Raguer im Eis gefangen. Nur noch einer lebt.« Schweigen. Dann die Bitte: »Ihr Terraner habt Raumschiffe. Ihr könnt von einem Planeten zum anderen fliegen, wie ich jetzt weiß. Bitte, versucht, uns von hier wegzubringen.« Cliff schwieg, aber Ishmee dachte an VALKYRIE, den neuen Heimatplaneten der Turceed.
»Wir können euch von hier wegbringen und wenn ich mit unseren Herrschern rede, werden sie es auch erlauben. Aber vorher gibt es noch ein paar Probleme zu lösen. Das, was du hier erlebst, ist zu schwierig. Wie können wir uns mit euch unterhalten?« Der Raguer war sehr erstaunt. Er dachte: »Wir können sprechen. Ihr könnt auch sprechen. Wir hören euch!« Cliff fuhr dazwischen. »Wir hören euch nicht!« Wieder gab es ein Schweigen, das von Überlegungen des Raguer ausgefüllt war. Endlich erwiderte er: »Merkwürdig. Eure Stimmen klingen in unseren Membranen zu hoch, fast zu schrill. Aber wir können euch hören!« Cliff wußte: Die Verständigung der Raguer untereinander erfolgte offensichtlich nicht in der Skala von sechzehn bis zwanzigtausend Hertz, sondern darunter. Die Wesen unterhielten sich in einem Baßbereich, der nur sechzehn Hertz umfaßte. Entsprechende Umformgeräte waren keine besondere technische Leistung. Das Verständigungsproblem konnte also als gelöst betrachtet werden. Er sagte: »Eines Tages werden wir direkt miteinander sprechen können, nur über eine zwischengeschaltete Maschine. Aber du hast die Frage noch nicht beantwortet. Wir haben zweimal beobachtet, wie Raguer starben. Einmal, als einer von euch mit viel Wärme geweckt wurde.« »Wir müssen so langsam schmelzen, wie unsere ei-
gene Körperenergie es schafft. Jeder Einfluß von außen stört dieses Gleichgewicht, und der Körper löst schlagartig die Energie aus. Auch die Restenergie wird dazu verwendet, ohne unseren Willen, uns einen schnellen Tod zu geben.« Cliff sagte: »Ich verstehe. Diese zwei Artgenossen – wann verließen sie den Planeten?« »Vor undenkbar langer Zeit.« »Genauer?« fragte Ishmee. »Als es so kalt zu werden begann, daß jeweils eine halbe Welt im Eis lag.« »Also wirklich vor Jahrhunderttausenden. Wie verließen sie den Planeten?« »Jemand, den wir nicht mehr kennen, nahm sie mit.« »Sie haben keine andere Welt erreicht!« sagte Ishmee, und dann berichtete sie dem Raguer, was sie aus den Aktennotizen von Jean-Claude Arshile wußte, der beim Versuch, den eiskalten Boliden zu enträtseln, einen Raguer getötet hatte, ohne es zu wollen. Der andere trieb mit dem Rest dieses Mikromondes weiter vom System weg. Vermutlich war der Mond lange Zeit ein Begleiter dieses Planeten gewesen und erst vor relativ kurzer Zeit aus der Bahn geworfen worden. Ishmee sagte: »Wir werden den Raguer holen und hier in der Nähe der Eisfläche auftauen lassen. Er wird uns berichten, was vor undenkbar langer Zeit geschehen ist. Und wenn wir alles wissen, dann werden wir zu unseren Herren Siegen und sie bitten, euch einen Planeten zu überlassen. Weißt du, wie hoch die Anzahl
der lebenden Raguer auf dieser Planetenhälfte ist?« Antwort: »Ich kenne die Zahlen nicht. Es sind mehr als sechsunddreißig.« Sechsunddreißig? Cliff wußte es. Er erklärte: »Sechzehn Zehen mit Klauen darin und zwanzig menschenähnliche Fingerfortsätze. Die Raguer können nicht weiter zählen als ihre ›Finger‹ reichen.« »Das ist richtig.« Die Überraschung kam erst. Wieder bat der Raguer: »Wenn ihr den letzten der Alten aus dem Weltraum holt, nehmt mich bitte mit. Ich kann – und das weiß ich auch aus der Erinnerung – außerhalb einer schützenden Luft existieren und arbeiten. Etwa eine Stunde lang, so lange reicht mein Luftvorrat.« Cliffs Gedanken schrien: »Ich habe es gewußt! Ich ahnte es zumindest! Diese Wesen sind für weitaus höhere Belastungen ausgelegt. Und wenn sie außerhalb der Atmosphäre existieren können, vermögen sie es auch in einer anderen Lufthülle zu tun, die wir nur mit Raumanzügen betreten können. Ihr sagt, ihr werdet nur wegen der Dauerfrostperioden immer weniger? Ist das richtig?« Der Raguer sagte voller Trauer: »Jede Stunde verwundet uns, aber die letzte Stunde bringt uns endlich um. Wir werden uns vermehren, sobald wir eine Welt gefunden haben, auf der wir nicht mehr lange Zeit einfrieren müssen, um zu überleben.« Ishmee meinte: »Unsere Zeit endet langsam. Wir sollten verspre-
chen, den Raguer mitzunehmen, wenn wir den Mikromond suchen und entern.« Cliff sagte: »Ich verspreche es ausdrücklich. Unser Freund hier wird der erste Raguer sein, der am Anfang einer großen Menge von ausgezeichneten Helfern und Partnern der Terraner steht. Bist du damit einverstanden?« Antwort: »Ich bin überzeugt, ich und meine Artgenossen werden von euch viel Gutes lernen. Leider ist es unumgänglich, daß wir auch schlechte Dinge lernen.« Ishmee sagte weich: »Ich sehe, du bist ein Philosoph!« »Was ist das?« Schon halb im Erwachen flüsterte das schwarzhaarige Mädchen: »Etwas Ähnliches wie ein Cliff McLane in Terrossian-Verhältnissen. Morgen starten wir, um den letzten Raguer der frühen Jahre zu finden.« Cliff schloß: »So ist es.« »Ich danke euch!« stammelten die Gedanken des Raguers voller Verwirrung. Er hatte in den vergangenen zwei Stunden sich selbst um ein Vielfaches übertroffen. Er hatte die Grundzüge einer fremden Terminologie gesehen und sich so verhalten, wie man es nicht erwartet hätte. Als Cliff aufwachte, waren alle vier erschöpft. Ishmee sank zusammen, und Cliff bettete sie vorsichtig auf die Liege, deckte sie zu und wußte, daß, wenn sie aufwachte, sie sich zuerst an nichts, dann mehr und in Schüben an alles erinnern würde, was in
diesen rund hundertzwanzig Minuten an Gedanken ausgetauscht worden war. Die Kugel von Caernavan't hatte sich in den dunkelsten Winkel zurückgezogen, der innerhalb der dämmerigen Wohnkugel zu finden war. Der Raguer lag wie ein schlafender Tiger da und rührte sich nicht einmal, als der Kommandant über die ausgestreckte Pranke stolperte. Cliff verließ diese Wohnkugel und taumelte, restlos erschöpft, über den breiten Korridor in die Richtung auf die leere Wohnkugel Ishmees. Carradine, die in diesem Augenblick das Labor verließ, sagte zu Juan Allende an ihrer Seite: »Es ist furchtbar. Dieser Raumfahrer ist ein so selbstbewußter, netter Mann. Und jetzt ist er schon wieder betrunken!« * Irgendwo mitten in der Kolonie waren zwei Wohnkugeln durch einen mannshohen, flexiblen Schlauch verbunden worden. Im Innern der Metallgehäuse befanden sich keine Wohnmöbel, sondern zwei runde Theken und drei Dutzend Barhocker. Die Bar der Kolonie Sigma war in hellen, lustigen Farben gehalten, leise Musik war zu hören, als Cliff McLane die Tür öffnete und die wenigen Stufen hinaufging. Er hängte seinen langen Mantel an einen Haken, drehte sich um und sagte: »Guten Abend.« Der Mann und das Mädchen, die nebeneinander an der Theke saßen, drehten sich beim Klang von Cliffs
Stimme überrascht um. Es waren Juan Allende und Carradine. Cliff betrachtete die Technikerin, die heute hier freiwillig Dienst machte, mit Kennermiene und setzte sich neben Carradine. »Sie gestatten doch sicher«, sagte er leise. Carradine rümpfte die Nase und sagte bitter: »Vor zwölf Stunden habe ich Sie über den Korridor torkeln sehen, stockbetrunken. Und jetzt fangen Sie schon wieder an!« Cliff brach in Gelächter aus und erklärte mit geheimnisvollem Flüstern: »Ich bin nur dann genial, wenn ich betrunken bin, Schönste!« »Das hat man oft«, bestätigte das Mädchen. Plötzlich wurde Cliffs Gesicht sehr ernst. Er sagte hart: »Ich habe den letzten Schluck schwachprozentigen Alkohols getrunken, als wir in meiner Wohnkugel das Vorgehen abgesprochen haben. Sie waren dabei. Dieses Taumeln gestern nacht – ich war restlos erschöpft, weil ich über die vermittelnde Telepathiekugel von Caernavan't mit dem Raguer gesprochen habe. Ishmee ist gleich nach dieser Sitzung eingeschlafen ... habe ich es überhaupt nötig, mich zu rechtfertigen?« »Eigentlich nicht«, sagte Carradine. »Aber mir lag die Bemerkung sozusagen auf der Zunge.« Juan Allende murmelte: »Wo sonst. Darf ich Sie auf ein Glas einladen, Kommandant?« »Gern.« Sie bestellten etwas gut Riechendes Hochprozentiges und prosteten sich zu. Cliff berichtete, was er seit dem Treffen mit dem Raguer unternommen hatte. Er hatte einen dringenden Funkspruch an Rover abge-
schickt und ihn über die Lage aufgeklärt. Gleichzeitig hatte er die Spezifikationen des Raguer-Metabolismus übermittelt, damit die Erde für ihre neuen Verbündeten einen geeigneten leeren Planeten aussuchen konnte. Jetzt, ehe der Start zum Mikromond erfolgte, mußte Cliff erst die Antwort von Rover abwarten. Allende fragte: »Wir dürfen also hierbleiben und weiterarbeiten?« »Sofern ein Raguer für alle sprechen kann – ja!« Minuten später setzten sich auch Roqué Alsina und Adriane neben Cliff. Cliff berichtete ein zweitesmal, was er erlebt hatte und wie er sich das weitere Vorgehen dachte. Einige der Rätsel waren glatt gelöst, der Rest, hauptsächlich der geschichtliche Hintergrund dieser Wesen hier, war noch unklar. Cliff schilderte zum Vergleich die Umsiedlungsaktion der Turceed nach VALKYRIE und brachte es fertig, daß die fünf Pioniere gebannt und geradezu aufgeregt zuhörten. Langsam schienen sie zu begreifen, daß die gewaltige technische Ausrüstung der Erde solche Aktionen geradezu herausforderte. Alsina sagte bewundernd: »Das haben Sie ja ganz nett hinbekommen, Cliff.« Cliff zuckte mit den Schultern und meinte: »Mir haben alle möglichen Umstände geholfen. Etwas Glück war auch dabei. Und wenn ich meine Crew nicht gehabt hätte und Ihre Unterstützung, stünde ich noch heute am Anfang.« »Ja«, sagte Roqué, »wir haben Ihnen geholfen. Wie wäre es, wenn Sie sich revanchieren würden?« Cliff sagte höflich: »Was hätten Sie denn gern? Etwa eine Familienpackung Speiseeis?«
Roqué brach in Lachen aus. »Fast erraten. Eis haben wir hier genügend. Wie wäre es, wenn Sie uns Pionieren Gelegenheit geben würden, Ihnen und der Crew zu beweisen, daß wir auch nicht gerade hilflos sind.« Cliff betrachtete durch sein fast leeres Glas das Gesicht der Bardame. »Daß Sie hilflos sind, hat niemand behauptet, wird auch niemand behaupten, Roqué. Was wollen Sie?« Roqué grinste durchdringend und fragte lauernd: »Lieben Sie Geschwindigkeit?« »Außer beim Trinken«, sagte Cliff. »Und bei ein paar anderen Beschäftigungen, aber das gehört wohl nicht dazu ... natürlich liebe ich Geschwindigkeit. Was können Sie mir anbieten?« Juan murmelte: »Eisschlitten!« »Genau. Wir haben ein Netz von Röhrentunnels zwischen den einzelnen Kolonien hier ausgeschmolzen. Zwischen den einzelnen Abschnitten gibt es Flächen unter freiem Himmel und zahlreiche Umsteigemöglichkeiten. Möchten Sie mit mir ein Wettrennen unternehmen? Terra gegen Terrossian?« Alsina lachte grimmig. »Mit größtem Vergnügen«, sagte Cliff. »Vorausgesetzt, es besteht Chancengleichheit.« Juan und Carradine versicherten wie aus einem Mund: »Dafür garantieren wir. Ihnen gehen die genauen Pläne der Stationen und der Verbindungen zu, und die Beförderungsmittel werden bereitgestellt. Sie werden hier serienmäßig verwendet. Und ich selbst bürge dafür, daß Alsina keine besseren oder schlech-
teren Maschinen bekommt als Sie.« Cliff hielt der Bardame das Glas entgegen und sagte laut: »Ich nehme die Herausforderung an. Ein Mann oder mehr Personen?« Roqué antwortete: »Nur Sie und ich. Und das mit Spitzengeschwindigkeiten von zweihundertfünfzig Stundenkilometern und mehr.« Cliff hob die Hand und schränkte ein: »Aber zuerst muß ich meine dienstlichen Pflichten wahrnehmen. Der Mikromond ist das nächste!« »Einverstanden.« Carradine fragte: »Wann starten Sie?« Cliff schaute auf die Uhr und murmelte: »Ich warte nur noch auf einen Funkspruch von Bela Rover. Dann können wir starten. Der Raguer wird mitgenommen. Er ist inzwischen zum Schoßhund von Ishmee und Hasso geworden und frißt sämtliche Salatvorräte unserer Wohnkugeln auf.« Das Barmädchen schloß: »Das ist der Nachteil der Sozialarbeit Terras!« Sie saßen noch einige Stunden lang in der Bar, unterhielten sich und tranken geringe Mengen. Cliff erfuhr auch aus den Äußerungen der Pioniere, daß dieses Eisrennen offensichtlich schwerer zu gewinnen war, als er dachte – eine Strecke von zweieinhalbtausend Kilometern war zu durchfahren, wenn der Rundkurs gewählt würde. Das bedeutete sechs Wagenwechsel und vier Unterbrechungen durch freie Flächen. Cliff begann sich auf dieses Wettrennen zu freuen. Gerade, als der Kommandant den letzten
Schluck trinken wollte, summte sein Armbandgerät auf. »Nicht einmal an der Theke hat ein geplagter Kommandant seinen Seelenfrieden!« stöhnte Cliff und schaltete Mikrophon und Lautsprecher ein. »Hier Cliff. Wer spricht?« »Helga Legrelle. Soeben ist ein Funkspruch eingetroffen. Ich habe die Leitung in deine Wohnkugel umgelegt. Kommst du?« »Selbstverständlich!« sagte Cliff und stand auf. Er streckte Alsina die Hand entgegen und sagte deutlich und nachdrücklich: »Ich freue mich schon auf unser Rennen, Alsina. Wärmen Sie schon die Kufen!« Er verließ die Bar und ging schnell hinüber in seine Wohnkugel. Nur das Wesen des Planeten Caernavan't wartete. Der Empfänger stand eingeschaltet auf dem Sideboard neben Cliffs Couch. Cliff kippte die Empfangstaste herunter und hörte den Text ab. »Hier Bela Rover. An Cliff McLane, ORION VIII ... gehen Sie weiterhin nach Ermessen vor. Spezifikationen der sogenannten Raguer für VALKYRIE entsprechend. Die Zusicherung der Turceed-Kolonie liegt vor. Wir sind mit Ihren Plänen einverstanden – bitte bringen Sie ein Exemplar der Raguer nach Terra und fliegen Sie das benötigte Kugelwesen wieder zurück. Gezeichnet Rover. Ende.« Cliff nickte und kommentierte: »Auch nicht gerade der beste Stil: das benötigte Kugelwesen! Ha!« Dann benachrichtigte er seine Mannschaft. Sie würden in acht Stunden starten und versuchen, den Mikromond zu entern und den uralten Raguer zu befreien. Wer damals die beiden Exemplare in den
Weltraum mitgenommen hatte, gehörte noch zu den ungelösten Rätseln dieses Raumkubus. * »Bist du sicher, Mario, daß dein Rechengerät zuverlässig arbeitet?« fragte Aaron Toshiro, der konzentriert seine Schirme beobachtete. »Zuverlässiger und schneller als dein armseliges Gehirn«, antwortete Mario gereizt. Sie rasten mit dem Raumschiff halb lichtschnell auf der Geraden entlang, die von Jean-Claude Arshiles Mannschaft ermittelt worden war. Und noch immer tauchte der Mikromond nicht auf den Schirmen auf. Die gesamte Crew saß an ihren Plätzen, und in der Mitte der Kommandokanzel lag in majestätischer Ruhe der silbergraue Raguer. »Bitte keine Schlägerei!« warnte Cliff. »Der Kurs ist richtig!« Sie hatten in der Mappe mit den Einsatzunterlagen selbstverständlich die Kursberechnung des Mikromondes gefunden, die von den Prozeßrechnern der VIVANCAS II durchgeführt worden waren. Dann hatte Mario de Monti den Kurs der ORION parallel zu dieser Geraden programmiert – und auf dieser Bahn raste nun das Diskusschiff dem Mikromond nach. Aber ... der Mond schien verloren zu sein, verschwunden ... »Wo steckt dieses blödsinnige gefrorene Stück Kosmos?« fragte Hasso, der neben Cliff stand, sich auf die Blende des Zentralschirms stützte und das
Bild der Sterne betrachtete. »Ehrenwort!« sagte Ishmee trocken, »ich habe es nicht gestohlen!« »Möglich ist alles«, antwortete der Kommandant. »Unser Gast weiß es auch nicht. Aber wenn wir den Mond haben, dann nehmen wir ihn in den Laderaum, fliegen den Planeten an und laden den Eisklotz direkt in der Landschaft ab.« »Wenn ...«, murmelte Toshiro. Einige Minuten raste das Raumschiff durch das All. Es flog einen schnurgeraden Kurs, brachte Lichtminute nach Lichtminute hinter sich. Sämtliche Geräte, mit denen man diesen Boliden erfassen konnte, waren eingeschaltet und richteten ihre Antennen und Erfassungssysteme in Fahrtrichtung auf die unbeweglichen Sterne. Das Licht der kleinen Sonne Galileo wurde schwächer. Niemand sprach, aber deutlich war es, daß die Spannung wuchs. Schließlich mußte dieser Mond gefunden werden können, er ging nicht einfach verloren ... »Hier ist er!« sagte Aaron erleichtert. Augenblicklich bremste Cliff den Diskus ab, runzelte die Stirn und starrte auf den großen runden Schirm. Er erkannte nichts – keine Unterbrechung des Sterngewimmels, keinen halbierten weißen Ball. »Du siehst«, wandte sich Cliff an Hasso und deutete auf das Zentrum des Bildes, »daß ich nichts sehe.« Aaron knurrte: »Das wirst du gleich sehen!« Er schaltete das Bild seines Vorausradars auf Cliffs Schirm. Da war der Mikromond – deutlich sichtbar. Die Manipulationen der VIVANCAS-II-Crew moch-
ten den Drehimpuls dieses Körpers geändert und erhöht haben. Jedenfalls drehte sich der Mond unaufhörlich entlang seiner Querachse. Er rollte sozusagen seine Flugbahn entlang. Cliff sagte: »Ich gleiche an.« Er beschleunigte die ORION wieder, überholte den Boliden und schaltete zurück auf den normalen Linsensatz seiner Sichtscheibe. Dann bugsierte er das Schiff so auf die Bahn des Boliden, daß der Diskus zehn Meter vor dem Boliden ins All hinausflog. Die Entfernung beider Körper zueinander blieb konstant, als Cliff die ermittelten Werte in den Autopiloten eingab und umschaltete. »Das wird eine teuflisch schwere Bergung!« sagte Aaron. »Wie fangen wir die Drehung ab?« erkundigte sich Mario neugierig und kam näher. Cliff schlug vor: »Den kleinen Raketenwerfer einsetzen und eine Pulverrakete in den Körper einschießen. Und eine zweite. So lange, bis die Drehung aufgehört hat – wir brauchen nur eine Komponente zu berücksichtigen, nämlich dem jetzigen Drehimpuls entgegenzuarbeiten.« »Und dann mit dem Ladegeschirr am Kran befestigen und in die ORION ziehen!« sagte Helga. »Einverstanden. Wer übernimmt den Job mit den Raketen?« Mario hob die Hand. »Ich.« Helga sagte: »Ob du es glaubst oder nicht, ich möchte die Seilwinde bedienen. Ich war schon seit Jahren nicht mehr
in der Schwerelosigkeit. Ich sehne mich geradezu danach!« Cliff grinste verständnisvoll; er kannte diesen psychologischen Effekt, von dem jeder Raumfahrer dann und wann heimgesucht wurde. »Kommandant an Funkerin«, sagte er. »Einverstanden. Ich koordiniere hier und ...« Er sah dem Raguer zu, der aufgestanden war und neugierig auf den Schirm blickte. Cliff hatte eine exzellente Idee, stand wortlos auf und ging zum Lift. Er holte aus einem Vorratsfach einen Kunststoffwürfel, einen schweren Hammer und einen fingerdicken Stift aus Stahl, mit ausklappbaren Widerhaken und einer Öse am anderen Ende. Dann fädelte er eine dicke Fangleine ein, schlug einen Knoten und kam zurück in die Kanzel. Er setzte sich vor dem Raguer auf den Boden und lachte, als er sah, wie ihn der Rest der Crew neugierig anstarrte. Cliff winkte seinem neuen Freund. »Zur Sache«, sagte er. »Jetzt kannst du gleich einmal beweisen, wie geschickt du bist. Und wenn du schön brav bist und alle deine Aufgaben löst, darfst du auch mit der schönen Funkerin hinaus ins All gehen und ihr helfen. Das wird sie davon überzeugen, daß deine Nachspeise nicht das zarte Fleisch terranischer Mädchen ist.« Cliff gliederte seinen Versuch in mehrere Phasen. Zuerst demonstrierte er, wie man einen Hammer ergriff, dann setzte er den Stahlstift ein und trieb ihn schließlich mit acht Schlägen in den Kunststoffwürfel hinein. Er riß an der Schnur – der Stift rührte sich nicht mehr. »Nachmachen!« sagte er, drehte die Widerhaken
zurück, indem er einen Bajonettverschluß bewegte und zog den Stift aus dem Würfel. »Aaaachtung!« sagte Aaron gespannt. Der Raguer öffnete seinen Rachen und setzte sich auf die Hinterläufe. Dann legte er eine Pranke auf den Würfel und hielt ihn damit fest. Mit der anderen Pranke ergriff er den Nagel, zwei Finger schoben sich hervor und hielten den Nagel fest. Der Hammer wurde von Fingern und Krallen gleichzeitig umfaßt, und mit zehn Schlägen, von denen jeder mit größerer Sicherheit als sein Vorgänger geführt wurde, trieb der Raguer den Nagel in den Würfel. Schließlich biß er in die Schnur und zerrte daran. »Hervorragend!« rief Ishmee und sprang auf. In der Kabine erhob sich ein ausgelassenes Geschrei und Gelächter. Die Terraner waren überzeugt, daß dieses Wesen rasend schnell lernte und noch schneller begriff. Cliff deutete auf Mario und sagte: »Ein Raumanzuggürtel, ein Karabinerhaken und dreißig Meter Sicherungsleine. Der Raguer geht mit hinaus!« Mario verschwand im Lift. »Ich eile!« versicherte der Chefkybernetiker. Die Crew half zusammen, und wenige Minuten später war alles bereit. Mario stand neben Helga, zwischen ihnen befand sich der Raguer. Man hatte ihm den Gürtel um den Leib befestigt, daran die Beine eingeklinkt. Die Luke des Laderaumes war weit offen, und der Chefkybernetiker hatte den schweren Raketenwerfer in beiden Armen. Die Funkgeräte waren eingeschaltet. Helga und Mario hatten sich mit je zwei Fangschnüren angeseilt.
»Gut zielen, Mario!« empfahl die Funkerin. »Habe ich jemals schon etwas falsch gemacht?« fragte er zurück. »Noch nie, nein!« sagte die Funkerin. Mario zielte lange und betätigte den Auslöser. Aus dem langen, durchlöcherten Führungsrohr fegte lautlos die Pulverrakete heraus. Rauch und Feuer quollen aus den Leitlöchern, hüllten Mario sekundenlang ein. Die Rakete drehte sich schnell, überwand die Entfernung und schlug mit ihrer stählernen Spitze in den Boliden ein. Eisstücke splitterten nach allen Seiten und trieben davon, sich in der Schwerelosigkeit über zwei Achsen drehend. Der Treibsatz, der ausreichte, um die Rakete viertausend Meter hoch durch eine Lufthülle zu jagen, war wie eine strahlende Fackel im Eis. Tausende Reflexe funkelten auf. Der Treibsatz brannte neunzig Sekunden lang und erlosch dann schlagartig. Cliffs Stimme kam aus dem kleinen Lautsprecher im Helminneren. »Die Rotation hat sich sichtbar verlangsamt. Auf alle Fälle noch eine, Mario!« »Verstanden.« Mario betrachtete den Boliden, der jetzt aussah wie ein unregelmäßig halbierter Apfel. Die Rakete hatte nach dem Gesetz von Aktion und Reaktion die Drehung verlangsamt, aber jetzt war die Drehachse etwas verkantet worden. Mario zielte mit Kimme und Korn nach einem anderen Platz, feuerte. Wieder schlug die Rakete ein. Sie brannte aus und brachte sowohl die Drehachse wieder in die vorherige Lage als auch die Eigenbewegung des Mikromondes fast zum Erliegen. Jetzt bewegte sich der Bolide um ein Vielfaches langsamer,
und wenn die Bergung schnell genug vonstatten ging, hatte dieser Rest für das Schiff und die Aktion keine unangenehmen Folgen mehr. »Können wir starten?« fragte Helga. Cliffs Stimme war deutlich. »Ja. Ich ziehe gerade einen Anzug an, um notfalls einspringen zu können. Fangt an.« Mario klopfte dem Raguer auf den Nacken und deutete auf den Eisboliden, der etwa fünfundzwanzig Meter entfernt war. Im Gürtel des Wesens steckten mehrere Eisnägel, ein Hammer und zwei Seilrollen. Der Raguer nickte mehrmals, dann spannte er seine Muskeln an. Das hatte noch niemand von ihnen beobachtet. Unter der silbergrauen Haut entstanden plötzlich breite, gewölbte Muskelstränge wie kleine, dicke Bündel von Schlangen. Das geschlossene Maul des Wesens deutete auf den Mikromond, dann schnellte sich der Raguer vom Boden der Ladefläche weg. Es war ein eigenartiges, exotisches Schauspiel. Der schlanke Körper streckte sich, wie es schien, in einem Sekundenbruchteil. Mit eng zusammengepreßten Hinterläufen und weit ausgestreckten Vorderpranken segelte der Raguer, das dünne Seil hinter sich ausspulend, langsam durch den Raum zwischen den beiden Körpern. Er fing sich so weich ab daß er fast nicht abgetrieben wurde, und seine Klauen krallten sich ins Eis und hielten den zentnerschweren Körper fest. Dann begann das Wesen zu arbeiten. Cliff schaltete nacheinander drei der Landescheinwerfer ein und richtete sie genau auf die Stelle des Boliden, an der sich der Raguer befand. Atemlos und aufgeregt sah die Crew zu, teils mit eigenen Augen,
teils verfolgte sie die Aktion auf dem Zentralschirm, wie der Raguer vorsichtig einen der Stifte aus dem Gurt zog und mit kurzen, schnellen Schlägen ins Eis trieb. Sein Körper bewegte sich, als habe dieses Wesen sein Leben lang nichts anderes getan als Raumstationen zusammenzuschrauben – oder ähnliche Arbeiten. Der Raguer sicherte sich mit einer Leine am ersten Nagel, visierte einen anderen Platz an und sprang vorsichtig in diese Richtung. Die Prozedur wiederholte sich. Ein zweites Stahlseil wurde angebracht. Dann ein drittes. Der Raguer verband diese drei Teilstücke miteinander, zog das Seil zwischen Haut und Gürtel heraus und klinkte es ein. Dann drehte sich dieses unbegreifliche Wesen langsam um fast hundertachtzig Grad, blickte ins Licht der drei Scheinwerfer, und der Kommandant schaltete sie schnell aus. »Er springt!« keuchte Mario auf. Er sah eine halbe Sekunde später den Raguer auf sich zutreiben und bewegte sich langsam zur Seite. Unter seinen Sohlen herrschte jetzt wieder volle Schwerkraft; Cliff hatte sie, kurz vor dem Sprung des Raguer, ausgeschaltet. Das intelligente Raubtier des Planeten Terrossian landete weich neben Mario auf dem Boden der Ladefläche und ging auf drei Beinen humpelnd auf Helga zu. In der vierten Pranke hatte es das kunststoffummantelte Stahlseil, das in die drei Teilstücke mündete, die ihrerseits an den Eisnägeln befestigt waren. Cliff sagte bewundernd: »Eine Glanzleistung. Die Raguer werden hiermit zu Instrukteuren ernannt, die in den Akademien den Raumkadetten das richtige Verhalten in der Schwe-
relosigkeit lehren sollen. Helga – jetzt kommt dein Part. Ich schalte die Schwerkraft wieder aus, damit der Brocken nicht zu sehr ins Schiff hineinkracht.« Helga klinkte das Seil in das Verbindungsglied der Seiltrommel und schaltete den Vortrieb ein. Langsam drehte sich die Trommel. »Vorsicht!« Helga hakte einen der Sicherungsgurte ab, um sich besser bewegen zu können. Mario stand dicht neben dem Schott, das ins Schiff führte. Der Raguer versuchte, allerdings reichlich ungeschickt, seine dünne Sicherungsleine wieder aufzurollen. Zentimeterweise wurde jetzt das Zugseil gestrafft, schließlich war es steif wie eine Gitarrensaite. »Er kommt!« murmelte Mario. Der Mikromond näherte sich. Langsam, fast behutsam, ließ Helga Legrelle die Trommel rotieren. Das Zugseil wurde aufgespult, mächtige Elektromotoren wurden stark untersetzt, um den tonnenschweren Boliden heranzuschleppen. Genauer: das Schiff und der Bolide bewegten sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit aufeinander zu. Die Geschwindigkeitsdifferenz entsprach dem Masseverhältnis beider Körper zueinander. »Noch elf Meter!« kommentierte Aaron über Funk. Und in der letzten Phase des Einholens geschah es. Während der Bolide durch den Zug genügend Eigengeschwindigkeit entwickelt hatte, lockerte sich die Spannung des Zugseiles etwas. Als der Körper die Umfassung der geöffneten Luke erreichte, verkantete er sich, nachdem er mit einem dumpfen Schlag den Schiffskörper berührt hatte. Wieder straffte sich das Zugseil, aber zu schnell, und durch die Kälte des
dunklen Raumes waren die Fasern spröde geworden. Das Seil riß. Die Spannung, unter der es unmittelbar vor dem Bruch gestanden hatte, verwandelte vier Meter der Stahltrosse in eine Peitschenschnur. In einem Sekundenbruchteil zuckte diese Peitsche quer durch den Laderaum und zerhieb den Gurt, an dem Helga gesichert war. Die Funkerin wurde an die Wand geschleudert, machte einige hastige Bewegungen – zu hastige Gesten. Sie schleuderte sich selbst aus der Luke hinaus, drehte sich um ihre Längsachse und trieb mit ziemlich bemerkenswerter Geschwindigkeit in den leeren Raum hinaus. Der Bolide berührte den Boden in der Sekunde, in der Cliff – zu spät für Helga – die künstliche Schwerkraft wieder einschaltete. »Halt!« schrie jemand. Mario stöhnte auf: »Helga! Sie treibt ab!« Aber ehe jemand reagieren konnte, handelte der Raguer. Er kauerte sich zu Boden und spannte seine Muskeln an, dann schoß er wie ein Pfeil von der Sehne davon, der Funkerin nach. Hinter ihm sah Mario die skurrilen Strukturen des aufrollenden Fangseiles. Mario de Monti, der zeit seines Lebens noch niemals unter besonderen Minderwertigkeitsgefühlen gelitten hatte, preßte beide Hände an die Stahlverkleidung der Schleusenluke und flüsterte gebannt: »Ich gebe glatt mein Offizierspatent zurück! Dieser Raguer ...« Er beendete den Satz nicht, sondern sah zu, wie das raubtierähnliche Intelligenzwesen von Terrossian der Funkerin das Leben rettete.
8 Helga Legrelle fürchtete sich. Sie sprach kein einziges Wort, sondern sie atmete schwer und versuchte, ihre Furcht nicht deutlich werden zu lassen. Das Mädchen machte nur einen einzigen Fehler – sie hatte ihre Arme ausgebreitet, als sie aus dem Laderaum hinausgestoßen worden war. Jetzt versuchte sie, trotz der Drehung ihres Körpers, die Arme anzuziehen und versetzte sich dadurch in wesentlich schnellere Drehung. Drei oder vier Meter hinter der Funkerin schwebte mit weit ausgebreiteten Vorderpranken der Raguer. »Mario?« fragte Cliff alarmiert. Mario gab sich einen Ruck und erwachte aus seiner Starre. Alles dauerte nur Sekunden. »Ja?« »Ich greife ein.« Mario lachte kurz, schaute senkrecht nach oben und murmelte: »Unnötig, Kommandant!« Der Raguer hatte sich mit wesentlich größerer Kraft abgestoßen als das Mädchen. Er war schneller und holte sie ein, schlug langsam die ausgebreiteten Vorderpranken zusammen und umfaßte Helga genau um den Gürtel. Dann vollführte er eine blitzschnelle Bewegung. Nur noch eine der vorderen Gliedmaßen hielt jetzt Helga fest, die zweite griff in das locker folgende Seil, umfaßte es und wickelte es um die Klaue. Noch einige Windungen, dann war das Seil gestrafft, und der Raguer zog langsam, aber nachdrücklich daran. Beide Körper trieben jetzt wieder auf das Schiff zu. Cliff und Mario handelten fast gleichzeitig, aber in
verschiedener Weise. Cliff schwenkte das Schiff herum und nahm Fahrt auf, flog dem seltsamen Gespann entgegen. Mario ging vorwärts, faßte das Seil an und zog seinerseits daran. Er fing den Fall von Helga und dem Raguer ab und schloß dann durch einen Hebelzug die Luke des Laderaumes. »Alles erledigt!« sagte Mario zufrieden und nahm Helga in die Arme. Cliff wußte, daß sich der Erste Offizier um alles kümmerte und sagte über das Bordsprechsystem: »Der Bolide ist eingeholt. Ich leite den Rückflug nach Terrossian ein.« Hasso knurrte: »Verstanden.« Helga stand noch zu sehr unter dem Eindruck des Vorgefallenen. Mario sah an der Leuchtanzeige, daß die Luke geschlossen war und öffnete die Mannschleuse zu den Schiffsinnenräumen. Er führte Helga in den Ringkorridor, und hinter ihnen trottete zufrieden wie ein Hund der Raguer, noch immer mit dem breiten Gürtel und nachschleifender Sicherungsleine. Die Schleuse fuhr in die Dichtungen. Mario nahm zuerst seinen eigenen Helm ab, dann half er dem Mädchen, den Raumanzug abzulegen. Helga bemühte sich, das Zittern zu unterdrücken, und in den nächsten Sekunden schaffte sie es auch – sie war nicht wirklich in Gefahr gewesen, denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Anzugversorgung zusammenbrach, hätte das Team sie mit spielender Leichtigkeit retten können, entweder mit einer der LANCETS oder mit dem Raumschiff selbst. Mario streichelte Helgas Wange und fragte leise und besorgt: »Wie fühlst du dich, Kleines?«
Helga schluckte und flüsterte stockend: »Es geht schon wieder. Irgendwie ist es trotz aller Sicherheit furchtbar, so allein zwischen den Sternen zu fliegen ... der Raguer ... er ist einfach phantastisch. Ich ...« Mario zog sie zum Lift und sagte: »Später, Helgamädchen!« Sie gingen zum Lift, fuhren zu dritt hinauf in die Kommandokanzel, und Mario blieb neben Helga stehen, bis sie sich in ihren Funksessel fallen ließ. Dann deutete der Chefkybernetiker auf den Raguer und sagte: »Und hier haben wir den Held des Tages.« Cliff beschleunigte die ORION mit ihrer untypischen Last und jagte dem Planeten entgegen. »Wir werden ihn auf Terrossian gebührend feiern.« Das silberglänzende Raumschiff raste dem weißen Planeten entgegen. Die Mannschaft stand noch unter dem Bann der Dinge und schwieg bis zur Landung. Dann wurde der Eisbolide ausgeladen und lag, wie ein Findling von ungewöhnlicher Form, in der stechenden Sonne, zweihundertfünfzig Meter von der Eiskante entfernt. Man schätzte, daß es ungefähr zwei Tage dauern würde, bis sich dieses Wesen ausschmelzen würde. Wenn es nicht schon durch die lange Zeit im Eis getötet worden war. * Cliff und Mario starteten unmittelbar nach der Landung wieder und brachten das Kugelwesen zurück nach Caernavan't. Unterwegs wurden einige Funk-
sprüche gewechselt und das Büro für extraterrestrische Angelegenheiten ordnete an, daß die ORION eine Gruppe von zehn Raguern nach VALKYRIE bringen sollte – nach Möglichkeit auch den Raguer aus dem Boliden. Dort würde eine wissenschaftliche Kommission die merkwürdigen Wesen erwarten. »Alle Wetter!« sagte Mario anerkennend, als er den Text nachlas. »Und sogar eine Übersetzungsmaschine soll konstruiert werden.« Cliff betrachtete das Problem weniger von der heiteren Seite. »Du hast gesehen, wie sich ein Raguer im freien Fall bewegt. Es gibt nur einen zutreffenden Ausdruck dafür.« Mario grinste. »Virtuos?« »Das ist es, was ich meine. Virtuos. Ich sehe in der Freundschaft mit den Raguern eine ausgezeichnete und noch sehr entwicklungsfähige Möglichkeit der Zusammenarbeit im Weltall.« Mario schloß: »Dein Wort in Wamslers Ohr, Cliff.« Sie landeten wieder auf Terrossian und erfuhren, daß sie um vier Stunden zu spät gekommen waren. Der Raguer im Boliden hatte sich selbst herausgeschmolzen, war genau siebzehn Meter weit gelaufen – in Richtung des Gletscherbaches – und dann gestorben. Eine Explosion hatte ihn zerfetzt, und jetzt fraßen ihn die vielen kleinen Käfer, die inzwischen alle fliegen konnten. Das Geheimnis des Mikromondes blieb ungelöst. *
Roqué Alsina und der Kommandant standen sich gegenüber. Die ORION-Crew umringte die zwei Männer, und die Pioniere, die gerade nicht arbeiteten, bildeten die Kulisse dieser Szene. Beide Männer trugen Sturzhelme in verschiedenen Farben; Cliffs Helm war verchromt. Schwere Stiefel, eng anliegende Kleidung, die durch Batterien geheizt wurde, lange Handschuhe und dicke Schutzbrillen – das war die übrige Ausrüstung. Hier zweigten zwei Tunnelröhren ab, eine führte nach Beta, die andere nach Tau. Die Männer hatten sich entschlossen, nicht nur zeitlich, sondern auch in der Richtung gegeneinander anzutreten. »Ich fahre nach Beta, Sie fahren nach Tau, Cliff.« Cliff grinste schief und setzte die Schutzbrille auf. Er kannte inzwischen die Pläne der Bahnen, und der Charakter dieses Gegners ließ es nicht zu, daß Cliff offensichtlich betrogen wurde. Die Chancen standen – es wurde hoch gewettet! – genau neunundvierzig zu einundfünfzig für Alsina. »Warum nicht umgekehrt?« fragte der Kommandant und sah nach rechts, schräg hinunter. Dort stand mit laufender Maschine einer der Eisschlitten. Alsina zuckte die Schultern. »Warum nicht? Von mir aus?« Ishmee und Carradine traten vor. Die Pionierin sagte laut: »Wer zuerst wieder hier eintrifft, hat gewonnen, gleichgültig, ob er zu Fuß oder auf abmontierten Kufen anrückt!« Cliff und Alsina schüttelten sich die Hände, dann zogen sie die schweren Handschuhe an. Sie gingen die Treppe hinunter, und Cliff hätte sich beinahe das Rennen erspart denn er stürzte und fiel der Länge
nach auf das Eis. Brüllendes Gelächter begleitete ihn, als er in den Schalensitz kletterte. Die anderen Sitze waren abmontiert worden, aber nur bei diesen beiden Startfahrzeugen. Die Tanks waren voll, die Mechaniken durchgetestet. Ishmee hielt die Signalpistole in der Hand. »Noch zehn Sekunden!« rief sie. Beide Männer setzten sich zurecht, jagten mehrmals die Turbinen hoch und hantierten an der Bodenbremse; es waren vier raspelähnliche Flächen, die sich gegen die Fahrtrichtung stemmten und den Schlitten förmlich hochhoben. Das Aufheulen der Turbinen verschluckte die nächste Zeitangabe. Schließlich gab Ishmee den Startschuß ab, und die zwei Männer ließen den Hebel der Bremse hochschnellen. Mit einer Beschleunigung von vier g wurde Cliff gegen die Rückenlehne gepreßt, als der Schlitten nach vorn schoß und sich in dem dämmerigen Tunnel verlor. Die Wartenden standen in einer Wolke verbrannter Gases. Das Rennen hatte begonnen. Die Länge der Rennstrecke betrug genau eintausend Kilometer. Cliff wußte, daß die Geraden ungefährlich waren und nur in den Kurven die Gefahr bestand, daß der Schlitten vom oberen Rand zu steil nach unten schoß und sich überschlug. Also ließ er die ersten fünfzig Kilometer die Höchstgeschwindigkeit stehen. Der Fahrtwind war so schneidend und laut, daß das Jaulen des Antriebs darin unterging. Ein einziger Scheinwerfer leuchtete die Fahrtrichtung aus. Eine Stunde lang machte sich Cliff mit den Tükken von Gefährt und Strecke vertraut, dann schien er begriffen zu haben. Die Nadel des Geschwindig-
keitsmessers tanzte ständig um die 280-KilometerGrenze. Der erste Kurvenbereich – man umging einen kleinen Berg. Dann eine offene Fläche, die spiegelglatt war. Teilweise gab es Pfützen von Schmelzwasser, durch die der Schlitten jagte und einen dampfartigen Schleier von zerstäubten Wassertröpfchen hinter sich ließ. Das Schwierige bei den freien Flächen war, auf der anderen Seite wieder den Tunneleingang zu finden. Cliff wurde langsamer und suchte, sobald das Gelände wieder anstieg. »Haha!« murmelte er und raste in den zweiten Tunnelabschnitt hinein. Wieder erhöhte er die Geschwindigkeit. Der Schlitten stieß und rumpelte, und bei der rasenden Geschwindigkeit erhöhte sich die Frequenz der Schwingungen und wurde zu einem dauernden Rütteln, das den gesamten Körper erschütterte. Nach zwei Stunden fühlte Cliff jeden Wirbel seines Rückgrates und dazu jede Bandscheibe. Eine halbe Stunde später hatte er sich an den Schmerz gewöhnt. Der neue Schlitten, jetzt schon der dritte, war nicht so schnell. Außerdem erzeugten die vier zusätzlichen Sitze starke Luftwirbel, die die Geschwindigkeit ebenfalls bremsten. Cliff dachte mit Schrecken daran, daß sich nahe der Oberfläche mitten in einem Korridor ein Raguer aus dem Eis schmelzen würde und ihm in den Weg käme ... er verwarf den Gedanken und raste weiter. Die kurzen Fahrtunterbrechungen, in denen er unter den Augen einer begeisterten Pioniermenge den
Schlitten wechselte, waren eine Erholung, obwohl Cliff humpelte, hinkte und rutschte, und das alles noch mit vornübergekrümmtem Oberkörper. Trotzdem grinste er fast auf der gesamten Fahrt. Niemand zeigte ihm die Richtung. Die fünfte Stunde fing an; Cliff hatte es fertiggebracht, mitten in der Fahrt auf die Uhr zu sehen. Er wußte nicht, auf welchem Stück der Strecke sich jetzt Roqué Alsina befand. Er fuhr gegen die Uhr. Und er dachte mit ebensoviel Grausen an die Kiste Archer's tears, die er im Fall seiner Niederlage zu besorgen hatte. Eine Kurve. Cliff war sie schon einmal gefahren, vor ungefähr sieben Tagen. Er wußte, daß sie dicht hintereinander sechs Windungen aufwies. Er trat das Gaspedal voll hinein und ließ die Steuerung los, solange er sich diese Geste noch gestatten konnte. Die Arme begannen steif zu werden – seine Schmerzen spürte der Kommandant ohnehin nicht mehr. Die erste Schleife nahm er fast oben an der Decke, nahm die Beschleunigung weg, als die Gegenkurve auftauchte und schnitt schräg hinunter, über die Sohle des Tunnels hinweg und auf die gegenüberliegende Tunnelwand zu. Er beschleunigte stark und bohrte sich in die halbe Dunkelheit hinein. »Noch fünfzig Kilometer ...«, sagte er sich. Geradeaus weiter. Jetzt kam die dreifache Windung um einen anderen Berg herum, der sich in der Nähe der Kolonie Sigma durch das Eis bohrte. Cliff wußte, daß hier die Decke über ihm nicht besonders stark war, und obendrein sah er es an der unterschiedlichen Lichtmenge, die
durch das dicke Eis kam. Dort, wo es erheblich heller wurde, war das Eis dünn. »Dünnes Eis, schmelzende Raguer!« brummte er unter dem Gesichtsschutz. Er jagte von der Tunnelwand herunter, die andere wieder hinauf, und als er mitten im Schwung war, sah er, daß er recht behalten hatte. Am Boden der Eisröhre befand sich Schmelzwasser! Genau dort, wo er in vier Sekunden entlangrasen würde, war ein drei Meter durchmessendes Loch. Und aus dem Loch wollte gerade ein Raguer nach unten springen. »Verdammt!« Cliff warf sich nach vorn und griff gleichzeitig nach beiden Bremshebeln. Die Stachelblätter krallten sich in das Eis, rissen eine Schneewolke von nadelscharfen Kristallen hoch, die hinter dem Schlitten schräge Fontänen gaben. Der Schlitten wurde brutal abgebremst, und Cliffs Körper schoß nach vorn. Er hatte sich, um Zeit sparen zu können, während des letzten Schlittenwechsels nicht angeschnallt. Cliff wurde aus dem Schlitten katapultiert, hielt sich einen Sekundenbruchteil lang am Lenkrad fest. Er rutschte kreiselnd über das Eis wie ein Brett, berührte mit einer Schulter die Pranke des Raguer und wurde herumgedreht. Der Schlitten, aus der Richtung gebracht, vollführte schnell hintereinander drei Loopings in der Röhre, und genau zwischen zwei der spiralig verlaufenden Bahnen befand sich der Raguer. Sekundenlang herrschte ein Chaos, dann richtete sich die Steuerung wieder gerade, und der Schlitten erhöhte langsam seine Geschwindigkeit und fuhr schräg auf Cliff zu.
Cliff langte nach oben, faßte Stahl an oder Kunststoff und bremste dadurch den Schlitten. Dann bekam er den Bremshebel, zog an und zog sich daran gleichzeitig hoch. Noch während der Schlitten wieder schneller wurde, setzte sich Cliff zurecht, fing das schlingernde Gefährt ab und trat den Gashebel voll durch. Wieder beschleunigte das Fahrzeug, schoß geradeaus weiter und dem Endstück entgegen. Noch zwei Kilometer bis zur Station. »Ob ich es schaffe?« fragte Cliff. Er sah Minuten später die wartende Menge ... war Alsina unter ihnen? Cliff fuhr den Schlitten bis zur letzten Zehntelsekunde voll aus, dann schaltete er die Turbine ab und zog an beiden Hebeln. Er krachte mit ungefähr vierzig Stundenkilometern gegen die Eisbarriere, wurde aus dem Sitz gerissen und flog haarscharf über die Kante. Etwa vier Meter weit flog er parallel zum Boden, dann setzte er mit Kinnschutz, Ellenbogen und Knien auf und schlitterte elf oder zwölf Meter in den Korridor hinein. Mit voller Wucht prallte er gegen Mario de Monti. Dann hörte er Geschrei, Stimmen, einen Schuß und als letztes Mario de Montis Stimme. Mario konnte sich vor Lachen kaum fassen. »Einen fliegenden Start kenne ich«, sagte er, »aber eine fliegende Landung ist selbst in Raumfahrerkreisen eine Legende.« Cliff hatte mit achtundneunzig Hundertstel Sekunden Vorsprung gesiegt. Daraufhin wurde durch Mehrheitsbeschluß ein Unentschieden festgesetzt. Und nachdem er ausgeschlafen hatte, trank Kom-
mandant McLane Juan Allende unter den einzigen Tisch der zwei Wohnkugeln, die von den Pionieren zu einer Bar umgebaut worden waren. Das war der Abschied von Terrossian. * Die ORION VIII schwebte wie ihr eigenes Denkmal auf einem der Hügel, von denen die Siedlung umgeben war. In den vergangenen rund eineinhalb Jahren waren die neugepflanzten Bäume gewachsen, andere Gebäude standen inzwischen, und das Tal atmete eine Ruhe und einen Frieden aus, als sei es Bestandteil eines gemütvollen Filmes. Die einzige Bewegung, die im Augenblick sichtbar war, stellten die Raguer dar, die vor dem Schiff warteten und die Umgebung untersuchten, indem sie hin und her liefen und die jungen Triebe von den Pflanzen fraßen. Hinter dem Diskusschiff standen die Fahrzeuge der Wissenschaftler, die seit einigen Tagen auf die Raguer warteten. Die Schiffe schwebten weit hinter der ORION, am Fuß des Hügels. Cliff lag entspannt in seinem Kommandantensessel und hatte die Ich-denke-jetzt-intensiv-nach-Haltung eingenommen; die Crew kannte diese halben Stunden, in denen der Kommandant schweigend und mit geschlossenen Augen dalag und die Stiefel auf die Umrandung des Zentralschirms gelegt hatte. Endlich, nachdem die Maschinen schon lange schwiegen und der Zentrallift zum viertenmal wieder eingeholt worden war, räusperte sich Aaron Toshiro. »Eine Frage, Kommandant McLane. Dienstlich!«
Cliff öffnete das linke Auge und starrte Aaron an, als sähe er ihn zum erstenmal. »Ja?« knurrte er. »Was belieben Eure Durchlaucht anzuordnen?« Cliff seufzte. Dann öffnete er das andere Auge, nahm die Stiefel vom Schirm und stellte die Füße auf den Boden. Die Crew verharrte schweigend; niemand wußte, worüber Cliff nachgedacht hatte. Nur wirkte nach mehr als zweijähriger Tätigkeit Cliff als Denker nur bedingt; hin und wieder hatte er hervorragende Einfälle, aber meistens war das, was er als neueste Einsicht zum besten gab, nicht eben neu. »Wir sollten aussteigen«, sagte Cliff schläfrig. »Aber genau das ist es, wozu ich gar keine Lust verspüre. Jetzt kommt die Zeit der Ansprachen, des Händeschüttelns, des Erklärens und der Belobigungen und des kollegialen Neides. Kurz – es beginnt eine unangenehme Zeit.« Mario de Monti schlug vor: »Wir könnten uns all dem durch Flucht in die Wälder von VALKYRIE oder in den Raum entziehen. Aber ich muß einschränken, daß mir das Schicksal der Raguer sehr am Herzen liegt.« Cliff knurrte wütend: »Mir auch. Leider.« Ishmee versicherte mit unüberhörbarer Ironie: »Cliff hat zwei Seelen in seiner breiten Brust. Er haßt die Umstände und liebt die Raguer. Und er weiß genau – wie wir alle, daß jetzt ein reichlich langweiliger und unersprießlicher Tag anfängt. Helfen wir ihm durch unser tiefes Verständnis, und gehen wir mit ihm hinaus zu Bela Rover und dessen Team.«
Hasso Sigbjörnson kam in die Steuerkanzel, warf einen blütenweißen Lappen, an dem er sich eben die Hände abgewischt hatte, in eine Ecke. »Ich bin ganz wild darauf«, sagte er wie nebenher, »mich mit einem Raguer zu unterhalten. Wie ich gerüchtweise gehört habe, soll das Übersetzungsgerät fast fertig sein.« Helga stand auf und legte Cliff die Hand auf die Schulter. »Kommandant! In wenigen Tagen sind wir wieder auf Terra. Du kannst dann als besonderer Freund eines Raguer wieder deinen Meditationen nachgehen.« »Einverstanden«, sagte Cliff plötzlich. »Stellen wir uns der Meute.« Im Gras des Planeten, auf dem die vom Aussterben bedrohte Rasse Ishmees eine neue Heimat gefunden hatte, blieb Cliff stehen. Die Crew befand sich im runden Schatten des Schiffes. Es war, gemessen am Sonnenstand, Mittag. »Ich kann mir nicht helfen«, sagte Cliff. »Ich habe ein Problem. Ohne jede Koketterie: Ich glaube, wir alle haben seit dem Auftauchen des ersten Raguer etwas übersehen. Etwas Entscheidendes.« Er blickte hilflos Hasso Sigbjörnson an. »Was meinst du?« fragte der Bordingenieur. »Ich weiß es nicht«, bekannte Cliff. »Ich weiß es wirklich nicht. Kennt ihr dieses Gefühl nicht ...? Ihr wißt genau, daß etwas vergessen wurde, aber niemand weiß, was es wirklich war. Ich bin weit davon entfernt, ein Pessimist zu sein aber ich weiß, daß es im Zusammenhang mit diesen fabelhaften, lernbegierigen Wesen etwas gibt, das uns mindestens stutzig machen sollte.«
Mario fragte: »Die Tatsache, daß die Raguer im Vakuum des Alls eine Zeitlang existieren können? Unter veränderten Verhältnissen können auch irdische Wale lange Zeit ohne frischen Sauerstoff existieren.« Die Gruppe bewegte sich langsam auf die Ansammlung von Fahrzeugen und Schiffen am Fuß des Hügels, an der stadtabgewandten Seite, zu. »Nein, das ist es nicht!« beharrte Cliff. »Daß wir auf Terrossian keine typisch jungen Raguer gesehen haben, also keine Kinder?« Cliff murmelte: »Die jüngsten Raguer sind zweihundert Jahre alt! Nein, auch das war es nicht. Ich glaube, ich habe einmal kurz daran gedacht, habe es wieder vergessen. Auch ist noch nicht alles wieder bewußt, was Ishmee und ich in Trance erfahren haben.« Hasso fragte: »Das Explodieren der sterbenden Raguer?« »Nein.« »Die schnelle Bereitschaft, uns zu helfen! Unsere Freunde zu werden? Daran ist unter den herrschenden Verhältnissen auch nicht viel auszusetzen. Wir hätten uns unseren potentiellen Rettern gegenüber auch nicht anders verhalten.« Cliff legte Aaron die Hand auf die Schulter und sagte verzweifelt: »Das ist es auch nicht, Aaron.« Schließlich, als sie schon die ersten Fahrzeuge erreicht hatten und die wartenden Gruppen der Wissenschaftler sahen, schaltete sich Ishmee ein. »Cliff!« Er drehte sich zu ihr herum und zog die Brauen hoch.
»Ja?« »Warte noch etwas.« Der Kommandant fragte ratlos: »Worauf?« »Spätestens auf die erste richtige Unterhaltung mit ihnen. Wenn es etwas gibt, das wir übersehen haben und das wichtig ist, dann wird es sich dann verraten. Wir haben den Terror der Dara überstanden, wir werden auch hier letztmögliche Klärung erreichen.« Cliff senkte den Kopf und starrte die Stiefelspitzen an. »Du hast recht«, sagte er leise. Dann lachte er breit, streckte die Hand aus und ging mit schnellen Schritten auf Bela Rover zu, der sich aus der ersten Gruppe gelöst hatte und der ORION-Crew entgegensah. Bela lachte breit und schüttelte Cliffs Hand, als wolle er sie abbrechen. »Nun?« fragte er. »Wo sind Ihre Schützlinge, Kommandant?« »Hier irgendwo«, sagte Cliff. »Wir brauchen sie nur zu rufen. Haben Sie dieses Umsetzungsgerät fertig?« »Ja«, sagte Bela. »Und wir haben auch die Spezialisten dabei, die in der Lage sind, ein linguistisches System zu erarbeiten, über das wir uns mit diesen Wesen unterhalten können. Wenn diese Tiere ...« »Entschuldigen Sie«, sagte Helga laut und aufgeregt, »aber Sie sollten Ihre Terminologie ändern. Die Raguer mögen für Sie wie Tiere aussehen, aber sie sind es nicht. Ich kenne kein Tier, das in der Lage ist, einen Menschen aus Raumnot zu retten.« Bela musterte die Funkerin nachdenklich, aber er sah den Ärger in ihrem Gesicht, verbeugte sich und sagte leise:
»Verzeihen Sie ... wenn ich noch einmal Tiere sage, dann ist es nicht Absicht, sondern ein Versprecher. Wenn die Raguer alles so schnell begreifen, dann haben wir in zehn Tagen das Gröbste hinter uns. Die Raguer begreifen doch schnell, nicht wahr?« Cliff nickte schweigend. »Jetzt weiß ich ...«, begann er, dann aber schloß er den Mund und grinste zurückhaltend. Als die Wissenschaftler die zehn silbergrauen Wesen sahen, wußten sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Aber dann begannen sie mit der Arbeit. Ishmee und Cliff sahen eine Weile lang zu und gingen dann hinunter in die Siedlung der Turceed. Der erste Eindruck, den sie hatten, war erfreulich. Sie kamen an einem Kindergarten vorbei. »Cliff«, sagte Ishmee. »Ich habe hier für die Crew ein Haus räumen lassen. Wir sind Ehrengäste hier, das weißt du doch, nicht wahr?« »Ja«, sagte Cliff. »Und ich weiß noch mehr.« Sie hängte sich bei ihm ein und ging quer über den zentralen Platz der Siedlung auf eines der Häuser zu. Viele Turceed waren inzwischen ausgewandert und verbrachten hier ihren Urlaub; sie waren die besten planetaren Koordinatoren, die man sich für die Verwaltung der Raumkugel und ihrer Welten denken konnte. »Du weißt, was wir vergessen haben, ja?« »So ist es«, sagte Cliff. Aus dem Haus kam Skuard herausgestürzt und umarmte zuerst seine Schwester, dann den Kommandanten. Er zog beide mit sich und rief aufgeregt etwas von einem glanzvollen Besuch, einem ausgedehnten Festmahl und einem anschließenden Um-
trunk. Cliff schüttelte nur beim Wort ›Umtrunk‹ den Kopf; er litt noch unter den Nachwirkungen der Unentschieden-Feier auf Terrossian. * Eine Woche später: Cliff McLane war mit dem Raguer allein. Der Kommandant kauerte mit untergeschlagenen Beinen auf mehreren Kissen und lehnte sich an die kühle Mauer des Zimmers. Cliffs Blick ging über den gestreckten Rücken des Wesens hinaus auf den Innenhof des Hauses. Cliff befand sich in einem Zustand, den er nicht schätzte, der aber seine Vorteile hatte. Er war zu müde, um etwas arbeiten zu können, aber gleichzeitig waren seine Gedanken von einer seltenen Klarheit. Zwischen Cliff und dem Wesen von Terrossian stand das Gerät das die Schallschwingungen zwischen rund zwanzig und zwanzigtausend in Schwingungen verwandelte, die unterhalb von siebzehn Hertz lagen. Auch eine Sprache von zweieinhalbtausend Wörtern war programmiert worden. Das gesamte Gerät war nicht größer als zwei Flugkoffer. Draußen war es ziemlich heiß. Ein träger Wind, träge wie Cliffs Bewegungen, rührte die Blätter der Bäume an. Streifen von Licht drangen in den Raum und färbten den Teppich um. Cliff starrte den Raguer an und sagte völlig unvermittelt: »Warum hast du mich angelogen, Raguer?« Das Wesen drehte den Kopf und sah Cliff etwa zehn Sekunden lang an. Dann öffnete sich das breite
Maul und entließ Worte, die nur durch die technische Apparatur hörbar wurden. Der Raguer sprach sehr langsam und schien sich jedes Wort zu überlegen. »Ich wußte, ich muß es dir eines Tages sagen.« Cliff spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Nervosität und Erregung, und auch etwas Angst. »Ja. Du mußt es mir sagen. Warum hast du gelogen?« »Frage?« »Ja, Frage.« Cliff machte eine Pause und sagte dann: »Du hast mir damals in meiner Wohnkugel fast wörtlich gesagt: Ich kann, und dies weiß ich aus der Erinnerung außerhalb einer schützenden Lufthülle existieren und arbeiten. Etwa eine Stunde lang, denn so lange reicht mein Luftvorrat. Also hast du festgestellt, wie lange du es wirklich außerhalb der Atmosphäre aushalten kannst. Also mußt du die Atmosphäre verlassen haben. Also hattest du die Möglichkeit dazu. Das war damals, als die beiden Alten den Planeten verließen. Also vor unendlich langer Zeit.« Cliff erwartete mehr oder weniger, daß der Raguer ihn zerfleischen würde, aber dieses seltsame Wesen rührte sich nicht. »Ich schließe daraus, daß du – und darüber hinaus deine Altersgenossen oder Rassegenossen – so alt bist wie diese beiden Alten im Boliden. Ist das richtig?« »Antwort«, sagte das Gerät schleppend. »Das ist richtig.« Cliff hob das Kinn und starrte in die riesigen Augen. »Ich hätte es wissen müssen, wie schnell du die stellare Terminologie begriffen hast. Du brauchtest
sie nicht zu begreifen. Du kanntest die Raumfahrt – du bist ein Raumfahrer.« »Antwort: Ja.« Cliff holte Atem und fühlte, wie seine Erregung wuchs. »Ihr hattet vor sehr vielen Jahren Raumfahrt, und du bist Raumfahrer. Dann schlug etwas fehl, und ihr gabt die Raumfahrt auf. Richtig?« »Antwort: Ja.« Cliff fühlte durch den dünnen Stoff seines Hemdes, wie kühl die Wand in seinem Rücken war. Er fragte heiser: »Ein Unfall, aber ein Unfall, der auf einen grundsätzlichen Fehler zurückzuführen war. Eis ... ein Bolide ... ich vermute, daß, nein ... doch! Ich vermute, daß euer Raumschiff eine Ladung Wasser hatte, in dem ihr euch aufgehalten habt. Dieses Wasser gefror, und mit ihm gefroren die beiden ›Alten‹.« »Ja.« Frage: »Ich weiß nicht, welcher Art der Fehler war. Aber ein Teil des Raumschiffes löste sich und bildete jenen Boliden, in dem die beiden Raumfahrer eingeschlossen waren.« »Korrektur: eingeschlossen wurden!« »Also zur Strafe. Das Schiff führte eine Notlandung aus, verbrannte und versank durch diese Hitze im Eis. Ihr hattet keine Möglichkeit, es auszuschmelzen und einen zweiten Versuch zu wagen. Richtig?« Schweigen. Dann die langsame Antwort: »Ja.« »Und dann ging langsam, in geradezu lächerlich winzigen Schritten, das Wissen verloren. Dazu ver-
nichtete das Eis jeden Ansatz einer neuen Kultur. Ihr wurdet wehrloser, uninteressierter und lethargischer. Ihr traft auf uns, und schlagartig erwachten sämtliche Raumfahrtkenntnisse wieder. Ich hätte es merken müssen, als du Helga gerettet hast – so bewegt sich nur ein ausgekochter Profi, ich hätte es wesentlich schlechter gemacht. Wie alt seid ihr wirklich?« Das Gerät sagte nur noch drei Worte: »Eine Million Jahre.« Cliff wußte, daß dieses Wesen Jahre in irdischer Zeitrechnung meinte. Als eine halbe Stunde später Ishmee in den Raum kam, sagte Cliff leise und mit rauher, verstört klingender Stimme: »Ich darf dich bekannt machen mit Commander Raguer Prac'h, dem Bordingenieur des ersten Raumschiffes von Terrossian. Sprich höflich mit meinem Kollegen.« Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Jetzt dachte er wirklich nach. ENDE