H. W. Springer
DAS ANDROMEDARÄTSEL Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH MOND...
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H. W. Springer
DAS ANDROMEDARÄTSEL Mondstation 1999
Science – Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-TASCHENBUCH MONDSTATION 1999 Nr. 25007 Copyright by ITC Incorporated Television Company, Ltd. Deutsche Lizenzausgabe 1978 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Printed in Western Germany Titelbild: ATV Umschlaggestaltung: Roland Winkler Satz: Neo-Satz, Hürth Druck- und Verarbeitung: Mohndruck, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-404-00903-7
Das Bild, das die Infrarot-Beobachtung in die Zentrale von Alpha 1 übertrug, war faszinierend und erschreckend zugleich. Vor dem Mond in der Unendlichkeit der großen Leere am Rande der Milchstraße schwebten die Wracks von Raumschiffen. Es mußten hunderte von Schiffen sein, die dort bewegungslos im Nichts zwischen der Galaxis und dem Andromeda-Nebel festsaßen. »Das sehen wir uns aus der Nähe an«, befahl Commander Koenig. Er ahnte nicht, daß die Wächter von Andromeda schon auf sie warteten…
I
Wie eine schwarze Decke lastete die Finsternis der kosmischen Nacht auf der Mondoberfläche. Kein Stern stand am sonnenlosen Himmel und schuf Illusionen von Licht und Wärme. Nur die in die Raumanzughelme der beiden Männer eingelassenen Scheinwerfer warfen Licht in die abgrundtiefe Dunkelheit und ließen die toten, schroffen Mondberge und Krater in geisterhaftem Schein hervortreten. Mit einer unbeherrschten Handbewegung schleuderte Dewey Copeland das Sonarskop von sich. Die geringe Schwerkraft des Mondes sorgte dafür, daß das schwere Echolotgerät viele Meter durch das Vakuum flog und irgendwo außerhalb der Lichtkegel der Scheinwerfer lautlos zu Boden stürzte. »Ach, hol’s der Teufel!« fluchte er erbittert. »Was soll der ganze Unsinn noch?« Michael Altmann hörte Copelands Stimme seltsam verzerrt aus den Kopfhörern seines Raumhelms. Verblüfft und entgeistert starrte er den anderen an. Er und Copeland waren Kollegen und Freunde. Sie hatten den Auftrag bekommen, mit Hilfe des Sonarskops nach neuen Tiraniumlagern zu suchen. Und nun hatte Copeland es unmöglich gemacht, daß sie ihre Aufgabe erfüllten. »Bist du verrückt geworden?« brüllte Altmann in sein Funkmikrofon. »Nein«, schrie Copeland zurück, »ich bin nicht verrückt. Aber du bist es, weil du diesen Irrsinn hier noch mitmachst!« »Irrsinn? Du weißt verdammt genau, daß die Tiraniumvorräte der Basis fast aufgebraucht sind. Ohne Tiranium keine
Energie. Und ohne Energie… Wir alle würden in allerkürzester Zeit unweigerlich zugrunde gehen.« Heiser und böse lachte Dewey Copeland auf. »Na und? Wir krepieren auf jeden Fall bald. Warum sollten wir es künstlich hinauszögern? Da…«, er zeigte zum sternlosen Mondhimmel empor, »… das ist alles, was uns erwartet. Und darauf pfeife ich! Nein, der Sinn steht mir nicht mehr nach der Tiraniumsuche. Das bißchen Zeit, das uns noch bleibt, läßt sich besser nützen. Und was mich persönlich angeht… ich wüßte da schon was.« Ein Lauern war in seine Stimme getreten, ein Lauern, das Altmann nicht entging. Der Freund war ihm plötzlich unheimlich geworden, beängstigte ihn fast. »Was willst du, Dewey?« fragte er. Hinter der Scheibe des Raumhelms verzog sich Copelands Gesicht zu einer Grimasse. »Ich will deine Frau, Altmann!« stieß er hervor. »Was?« »Du hast richtig gehört, Altmann. Ich will Elkie!« Michael Altmann war wie vor den Kopf geschlagen. Er wußte, daß Copeland nicht scherzte, wußte, daß er meinte, was er gesagt hatte. Dewey Copeland – der Mann, der sein bester Freund war. Oder der Mann, den er für seinen besten Freund gehalten hatte. »Wie ich vorhin schon sagte, Dewey – du bist verrückt!« Wieder lachte Copeland heiser auf. »Nie war ich so normal wie jetzt, Altmann. Damals, als dieser verfluchte Mond noch die Erde umkreiste, waren Elkie und ich ein Paar. Und dann kamst du und hast sie mir weggenommen. Und jetzt, Altmann, jetzt bin ich wieder dran! Ich bin mir sogar ziemlich sicher, daß sie noch immer einiges für mich empfindet.« »Ja«, mußte Altmann wider Willen zugeben, »Elkie hat noch immer etwas für dich übrig. Aber gib dich keinen falschen
Hoffnungen hin, mein Freund. Solange es mich gibt, würde sie sich niemals mit dir einlassen.« »Solange es dich gibt«, sagte Dewey Copeland mit eigenartiger Betonung. »Was willst du damit sagen, Dewey?« »Das will ich damit sagen!« keuchte Copeland. Seine behandschuhte Hand machte eine schnelle Bewegung und hielt ganz plötzlich einen Laser umklammert. Michael Altmann prallte zurück, als er die mörderische Waffe auf sich gerichtet sah. Sein Zurückweichen war so heftig, daß er trotz der Bleisohlen an seinen Füßen ins Straucheln geriet und auf den Mondboden fiel. »Dewey!« Breitbeinig stellte sich Copeland vor ihn hin, den Laser zielbewußt im Anschlag. Entschlossen funkelten seine Augen hinter der Helmscheibe. Er sah, daß der andere nach dem Frequenzwähler seines Sprechfunkgeräts tastete. Um die Basis zu alarmieren natürlich. »Ich würde das nicht tun, Altmann«, sagte er scharf und warnend. Altmann gab den Versuch, andere in den Dialog einzuschalten, hastig auf. »Dewey«, preßte er hervor, »das kannst du doch nicht machen. Wir… wir sind doch Freunde!« »Ach, sind wir das?« höhnte Copeland. Der Mann am Boden stöhnte. »Außerdem kommst du damit nicht durch. Wenn du mich umbringst… mein Tod wird sofort auf dem Monitor in der Krankenstation angezeigt werden.« »Na und? Du wärst nicht der erste, der in dieser Kraterwüste den Tod findet.« »Aber man wird feststellen, wie ich gestorben bin. Ein Laser hinterläßt unverwechselbare Spuren. Komm, sei vernünftig, Dewey. Du hast keine Chancen. Man wird…«
»Einen Dreck wird man«, unterbrach Copeland den anderen grob. »Um festzustellen, wie du krepiert bist, müßte man dich erst einmal finden. Und daß das nicht geschieht, dafür werde ich sorgen. Es gibt wunderschöne Felsspalten hier in dieser Drecksgegend. Die sind so tief… Kein Hahn wird nach dir krähen, Altmann. Elkie wird ein bißchen um dich trauern, klar. Aber da bin ja noch ich, dein und ihr bester Freund. Wir werden gemeinsam um dich weinen, und ich werde sie trösten. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich sie so weit habe!« Zynisch lachte Copeland auf, dann redete er weiter. »Und danach, Altmann, weiß du, was ich tue, wenn ich sie gehabt habe? Ich werde ihr sagen, daß ich dich getötet habe! Und dieser Augenblick wird für mich der schönste sein, seit du deinen Fuß auf den Mond gesetzt hast!« »Du Schwein«, sagte Altmann, »du gemeines, dreckiges…« Mit einem Wutschrei fuhr er aus seiner liegenden Stellung hoch. Aber Dewey Copeland ließ ihm keine Chance. Ein Lichtstrahl brach aus seinem Laser hervor, der Altmann auf der Stelle tötete. Copeland steckte die Waffe weg. Ein hartes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er den Toten hochnahm und zu der ein paar hundert Meter entfernt abgestellten Mondfähre hinübertrug. Noch bevor er das Fahrzeug erreichte, setzte sich die Basis mit ihm in Verbindung. Das Gesicht eines Assistenzarztes erschien auf dem kleinen Bildschirm seines Commlocks. »Mr. Copeland, bitte melden!« hörte er die aufgeregte Stimme des Mannes. Copeland ging erst auf Senden, nachdem er ganz sicher war, daß der Tote nicht von der Commlock-Kamera erfaßt werden konnte. »Hier Copeland«, meldete er sich.
»Mr. Copeland«, sprudelte der Assistenzarzt hervor, »unsere Kontrolltafel zeigt an, daß die Lebensfunktionen ihres Partners Michael Altmann erloschen sind.« Es gelang Copeland hervorragend, seinem vorgetäuschten Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Er erzählte dem Mediziner, daß er und Altmann sich erst vor ein paar Minuten getrennt hatten, um an verschiedenen Stellen mit dem Sonarskop nach Tiraniumlagern zu suchen. Der Arzt hatte an seinen Worten nicht den geringsten Zweifel. Als eine Dreiviertelstunde später eine Suchmannschaft zur Stelle war, hatte Copeland die Leiche Michael Altmann längst so gut unter dem Geröll eines kleinen Kraters versteckt, daß ihn niemand fand. Kalter Triumph stieg in Copeland auf. Und nun zu dir, Elkie, sagte er in Gedanken zu sich selbst.
Leroy Nilsson war Ingenieur und arbeitete im Generatorenzentrum von Alpha 1. Vor zwei Stunden war seine Schicht zu Ende gegangen. Seitdem hielt er sich in seinem Privatquartier auf und tat etwas, was er schon seit Jahren nicht mehr getan hatte: er las in der Bibel. Er war so in das Studium der Heiligen Schrift vertieft, daß er das Summen seines Commlocks nur im Unterbewußtsein mitbekam. Erst nach über dreißig Sekunden nahm auch sein vordergründiges Denken Notiz davon. Tom Stills, ein Techniker aus der hydroponischen Anlage, meldete sich. »Was ist los mit dir, Leroy?« kam Stills’ leicht ungnädige Stimme. »Wir sitzen hier und warten und warten…« Nilsson brauchte eine Weile, um überhaupt zu begreifen, was der andere von ihm wollte. Natürlich, heute war ja der Tag, an
dem er, Stills und noch zwei andere Männer ihren wöchentlichen Kartenabend abzuhalten pflegten. Poker bis tief in die Nacht. Heftig schüttelte Nilssson den Kopf. »Ihr braucht nicht auf mich zu warten, Tom. Ich komme nicht. Heute nicht und auch in Zukunft nicht mehr.« Der Techniker verstand kein Wort. »Was redest du da, Leroy?« wunderte er sich. »Du willst nicht mehr mitspielen? Ausgerechnet du, der leidenschaftlichste Pokerspieler der ganzen Basis?« »Das war ich vielleicht«, gab Nilsson zur Antwort. »Aber jetzt nicht mehr. Ich habe nachgedacht, Tom. Karten sind ein Werk des Teufels. Der Mensch sollte sie meiden wie die Pest. Auch du solltest in dich gehen und dir Gedanken machen, ob es sich lohnt, die kurze Zeit, die uns noch bleibt, mit gotteslästerlichem Tun zu verschwenden.« Die Augen Tom Stills wurden riesengroß. »Leroy, was redest du denn da?« »Geh in dich, Tom«, sagte Nilsson. Dann unterbrach er die Verbindung. Er widmete sich wieder der Bibel. Nach kurzer Zeit fingerte er eine Synthozigarette hervor. Er wollte sie gerade anzünden, als er sich bewußt wurde, was er tat. Angeekelt schleuderte er die Zigarette von sich. Er sprang auf und zertrat den Glimmstengel mit dem Absatz. Dann riß er das Zigarettenetui aus der Tasche und eilte zur Klappe des Müllschluckers. ›Müllschlucker‹ war nur eine volkstümliche Bezeichnung. In Wirklichkeit gab es in der Mondbasis keinen Müll im eigentlichen Sinne, kein Abfallprodukt. Alles, was nicht mehr benötigt oder ausgeschieden wurde, gelangte auf direktem Weg in die Recycling-Anlage, wurde in seine Bestandteile zerlegt und wieder aufbereitet. Die Alphaner konnten es sich
nicht leisten, unersetzliche Grundstoffe verlorengehen zu lassen. Ein Kreislauf mußte aufrechterhalten werden. Solche Überlegungen bewegten Leroy Nilsson in diesem Augenblick allerdings nicht. Er wollte nur eins: seine Zigaretten, diese Verkörperung ungehemmter Verschwendungs- und Genußsucht, vernichten. Wild entschlossen warf er das ganze Etui in den Schacht. Aber damit nicht genug. Nilsson riß alle Schubladen und Türen der Wandschränke in seinem Quartier auf. Und überall wurde er fündig: weitere Zigaretten… Schnaps… Bücher mit schlüpfrigen Texten… Zeitschriften mit unzüchtigen Bildern… Laster über Laster! Alles wanderte in den Recycling-Schacht. Tony Verdeschis selbstgebrauter Pseudowhisky, die Playboys der Jahrgänge 1995 bis 1997, die Romane von Charles Bukowski und Jack Players… Und noch hatte Leroy Nilsson nicht alles getan, was er tun mußte, um einen endgültigen Schlußstrich zu ziehen. Er wählte den Code Leigh Andersons an. Leigh Anderson war Computertechnikerin und unterhielt seit einem guten halben Jahr eine tolerante Liebesbeziehung zu Nilsson. Die junge Frau hatte ebenfalls dienstfrei. Ihr hübsches Gesicht erschien sofort auf seinem Commlockbildschirm. »Leroy!« begrüßte sie ihn. »Um diese Zeit? Mußt du nicht Karten spielen?« »Nein, das ist ein für allemal vorbei. Leigh, ich muß dich etwas fragen: willst du meine Frau werden?« Äußerste Verblüffung spiegelte sich in den Zügen der Technikerin. »Deine Frau, Leroy? Wieso überfällst du mich denn so unvermutet mit einer solchen Frage?« »Ich meine es ernst, Leigh!«
Sie schüttelte den Kopf, langsam aber unmißverständlich. »Leroy, du kennst doch meine Einstellung. Ich will ein freier Mensch bleiben. Auch du wolltest das immer. In dieser Beziehung hat es nie Differenzen zwischen uns gegeben. Warum dieser plötzliche Sinneswandel? Warum sollten wir unser Verhältnis auf einmal auf eine andere Basis stellen? Lassen wir alles so, wie es ist.« »Nein«, sagte Leroy Nilsson. »Unsere bisherige Beziehung ist amoralisch, verwerflich, gegen alle guten Sitten. Nur Menschen, die durch die Ehe miteinander verbunden sind, dürfen… du weißt, schon, was ich sagen will.« »Aber, Leroy…« »Ich frage dich noch einmal, Leigh: Willst du meine Frau werden?« Erneut schüttelte Leigh Anderson den Kopf, energischer noch als zuvor. »Nein, das will ich nicht«, gab sie zur Antwort. »Leroy…« Nilsson ließ sie nicht weitersprechen. »Dann tut es mir leid«, sagte er brüsk. »Demnach haben wir uns nichts mehr zu sagen. Auf Wiedersehen, Leigh!« Er ließ ihr Bild vom Schirm verschwinden. Dann kniete er mitten im Zimmer nieder, faltete die Hände und sprach: »Großer Gott, ich war ein sündiger, verderbter Mensch. Von nun an aber gelobe ich…«
Konzentriert ließ Doktor Helena Russell den Medi-Scanner über den Oberschenkel ihrer Patientin gleiten. Sie lächelte. »Sieht gut aus, Ellen«, sagte sie zufrieden, »sehr gut sogar. Das fremde Muskelgewebe hat sich prächtig integriert. Die Antikörper haben es mittlerweile akzeptiert und kämpfen nicht mehr dagegen an. Nach menschlichem Ermessen kann jetzt nichts mehr schiefgehen. In vierzehn
Tagen vielleicht noch einmal eine zweite, kurze Nachuntersuchung, aber ansonsten…« Sie trat von der Liege zurück und legte den Scanner aus der Hand. Ellen Kosinsky richtete sich in eine sitzende Stellung auf. Sie war eine Frau in mittleren Jahren und arbeitete in der technischen Abteilung. Wenn man allerdings ihre müden Bewegungen sah, hätte man auf den Gedanken kommen können, eine Greisin vor sich zu haben. Dabei war Muskelschwund heutzutage keine Erkrankung mehr, die einen davon Befallenen automatisch zu einem Pflegefall machte. »Ich danke Ihnen, Doktor Russell«, murmelte sie und griff nach den Krücken, die neben der Liege auf einer Konsole lagen. Helena Russell sah es und schüttelte den Kopf. »Nicht doch, Ellen! Lassen Sie die Krücken liegen. Sie können auch so gehen.« Zögernd legte Ellen Kosinsky die Gehstützen aus der Hand. Ganz langsam schwang sie die Beine von der Liege und stellte sich unsicher auf die Füße. Sofort knickte ihr rechtes Bein ein. »Es geht nicht«, ächzte sie. »Doch, doch, es geht, Ellen. Sie müssen nur wollen.« Abermals versuchte es die Technikern. Und abermals versagte ihr das Bein mit dem neuen Muskelmaterial den Dienst. Mit einer Grimasse ließ sich Ellen Kosinsky auf die Kante der Liege zurücksinken. Erneut wollte sie nach den Krücken greifen, aber die Ärztin kam ihr zuvor und nahm sie mit einer schnellen Bewegung an sich. »Nein, Ellen«, sagte sie energisch, »Sie brauchen diese Dinger nicht mehr. Ihr Bein hält der Belastung stand, glauben Sie es mir. Ihr Problem ist ein rein psychosomatisches, kein organisches. Sie bilden sich ein, nicht ohne Hilfsmittel gehen
zu können. Aber Sie sind sehr wohl dazu in der Lage. Kommen Sie, Ellen, lassen Sie sich nicht hängen.« Mühsam drückte sich Ellen Kosinsky von der Liege hoch. Zuerst stand sie nur auf einem Bein. Wie widerstrebend setzte sie dann auch das andere auf den Boden. Und es ging. Sie stand – mit beiden Beinen. »Na also«, lobte die Doktorin. »Da sehen Sie mal, wie prächtig das klappt.« So als könne sie es immer noch nicht ganz glauben, machte Ellen Kosinsky ein paar zögernde Schritte nach vorne. Auch das gelang ihr, wenn sie auch das rechte Bein etwas nachzog. »Und jetzt gehen Sie auf dem schnellsten Weg zum Gymnastikraum und trainieren Ihr Bein«, sagte die Ärztin. Sie lachte leise. »Die neuen Muskeln sind noch etwas…eingerostet. Sie müssen erst mal richtig auf Trab gebracht werden.« »Ja, Doktor Russell«, nickte die Patientin. Dann verließ sie die Krankenstation. Dem Ratschlag der Ärztin folgend, schlug sie den Weg zum Fitneß-Center ein. Humpelnd bewegte sie sich vorwärts. Ihr rechtes Bein kam ihr wie ein Fremdkörper vor, und sie war erstaunt, daß es ihr überhaupt gehorchte. Im Grunde ihres Herzens zweifelte sie nicht daran, daß es gleich wieder aufhören würde, den Befehlen ihres Gehirns Folge zu leisten. Und dieser Gedanke machte ihr nicht einmal Kummer. Ob sie nun ein Krüppel war oder nicht – was spielte das noch für eine Rolle? Dann stand sie vor der Tür des Centers. Der Gymnastikraum wurde vor allem von Alphanern frequentiert, die längere oder auch nur kürzere Zeit herabgesetzten Schwerkraftbedingungen ausgesetzt gewesen waren und ihre Glieder wieder an die normalen Verhältnisse der Basis gewöhnen mußten. Sie selbst
hatte die Fitneßgeräte kaum jemals aus der Nähe gesehen, hatte niemals Neigungen verspürt, sich zu trimmen. Und auch jetzt verspürte sie eine solche Neigung nicht. Wozu auch? fragte sie sich selbst. Warum sich unnötig quälen? Das hatte doch sowieso alles keinen Zweck mehr. Sie wandte sich von der Tür des Gymnastikraums ab. Eigentlich hatte sie nur das Bedürfnis, sich lang auszustrecken und einfach so liegenzubleiben. Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Privatquartier, stark daran zweifelnd, daß sie überhaupt so weit kam. Und da passierte es auch schon. Das rechte Bein fühlte sich auf einmal merkwürdig taub an, wie abgestorben. Es knickte ein, war nicht länger imstande, ihren Körper zu tragen. Mit einem Wehlaut fiel Ellen Kosinsky auf den glatten Plastikboden des Korridors. Sofort war Hilfe zur Stelle. Zwei Alphaner, die ihr entgegengekommen waren, eilten an ihre Seite. »Was ist passiert? Ist Ihnen schlecht? Sollen wir Sie zur Krankenstation bringen?« Krankenstation? Nein, was sollte sie da? Sie wollte nur in ihr Quartier. »Nein, nein«, wehrte sie ab. »Mir geht es gut. Nur mein Bein will nicht so richtig. Chronische Muskelschwäche, verstehen Sie? Wenn Sie mich nur zum Wohnkomplex B bringen würden…« Die beiden Männer halfen ihr auf. Dann faßten sie sie unter den Achseln und trugen sie mehr oder weniger. Ellen Kosinsky ließ ihr rechtes Bein schlaff nach unten hängen.
Grüblerisch blickte Commander John Koenig auf den großen Sichtbildschirm in der Kommandozentrale.
Nacht, abgrundtiefe Nacht… Und der durch das Weltall vagabundierende Mond raste mitten hinein in diese Nacht, zusammen mit den rund dreihundert Menschen der Basis Alpha 1. Niemals zuvor, seit der Mond aus seiner Umlaufbahn um die Erde gerissen worden war und steuerlos durch die Weiten der Milchstraße jagte, hatte sich eine derartig intensive Schwärze auf dem Schirm abgezeichnet. Immer hatten zahllose Lichtpunkte die kosmische Dunkelheit aufgelockert – die nahen und fernen Sterne der heimischen Galaxis, glitzernde Symbole der Hoffnung, doch noch eine neue Heimat finden zu können. Jetzt aber war dies alles anders geworden. Der Mond hatte die Grenzregionen der Milchstraße passiert, trieb hinaus in den intergalaktischen Raum. Nur noch verschwindend wenige Lichtpunkte schimmerten in der Schwärze. Und diese Lichtpunkte waren keine einzelnen Sonnen, sondern Zusammenballungen von Millionen und Abermillionen Sternen – fremde Galaxien, weit, weit entfernt, unerreichbar für die Besatzung der Mondbasis. John Koenig gehörte nicht zu den Menschen, die sich Illusionen hingeben. Die letzte Hoffnung der Alphaner hatte sich verflüchtigt. Am Rande der Milchstraße waren sie noch auf einen Planeten gestoßen, der scheinbar allen ihren Wünschen, ihn besiedeln zu können, entgegengekommen war. Dann aber hatte sich auch dieser Planet als genauso lebensfeindlich erwiesen, wie all die anderen zuvor, auf dem ihre Forschungsschiffe gelandet waren. Sie waren gezwungen gewesen, den Planeten wieder zu verlassen. Und nun würden sie keinen neuen mehr finden. Aus und vorbei… Eine eigentümliche Atmosphäre hatte sich in der Basis ausgebreitet. Die Gewißheit, nie wieder einen Planeten aus
nächster Nähe sehen, geschweige denn betreten zu können, die Kenntnis von den rapide zur Neige gehenden Energievorräten, die den Tod aller zur Folge haben würde – all dies hatte die unterschiedlichsten Verhaltensweisen bei den Alphaner hervorgerufen, je nach charakterlicher Veranlagung und Temperament. Die einen waren in dumpfe Resignation oder plötzliche Religiosität verfallen. Andere hingegen wollten sich noch einmal richtig austoben und entwickelten hedonistische Tendenzen. Und dann gab es auch noch diejenigen, die ihren in den langen Jahren des Zusammenlebens auf engstem Raum angestauten Ressentiments gegen andere plötzlich freien Lauf ließen. Alle Verhaltensweisen aber hatten eins gemeinsam: sie wirkten sich überaus negativ auf die dienstliche Disziplin in der Basis aus. Mehrfach war es in jüngster Zeit schon zu funktionellen Störungen gekommen, die die Sicherheit des unterlunaren Baukomplexes gefährdeten. John Koenig war nicht gewillt, allgemeinen Schlendrian einreißen zu lassen. Als Kommandant war er für alle verantwortlich – für diejenigen, die sich selbst bereits verlorengaben, und noch mehr vielleicht für jene, die trotz aller Hoffnungslosigkeit noch nicht aufgegeben hatten. Trotzdem konnte er nicht leugnen, daß die intergalaktische Leere, in die der Mond nun eingetaucht war, auch ihn deprimierte. Der Blick auf den Bildschirm verstärkte diese Depression noch. Die Vorstellung, daß das nächste Sternensystem, der Andromedanebel, runde zwei Millionen Lichtjahre entfernt war, hatte schon etwas Erschreckendes an sich. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Mond dem fernen Spiralnebel mit relativistischer Geschwindigkeit entgegenraste, würde er eine Ewigkeit brauchen, um Andromeda zu erreichen. Und die Menschen von der Erde waren nicht für die Ewigkeit geschaffen.
Der Commander wandte sich vom Bildschirm ab und drehte seinen Sessel den übrigen Besatzungsmitgliedern in der Kommandozentrale zu. Sie alle saßen an ihren Computerkonsolen und Monitoren und kamen ihren Überwachungsaufgaben nach. Aber selbst hier in der Zentrale, im Herzen der Mondbasis Alpha 1, machte sich der psychologische Druck, unter dem sie alle standen, deutlich bemerkbar. Selten hatte der Commander seine engsten Mitarbeiter so unkonzentriert gesehen. »Leigh!« sagte er scharf und unvermittelt, »wie sieht die Kurve des derzeitigen Energieverbrauchs aus?« Die Computertechnikerin mit dem aschblonden Haar zuckte zusammen, als habe ihr jemand eine Ohrfeige versetzt. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen. Wahrscheinlich bei ihrem Freund, mit dem sie, wie Koenig wußte, schwere Probleme hatte. Ein bißchen stotternd gab sie Antwort auf seine Frage. Die Energieverbrauchskurve war konstant – fast fünfzig Prozent unter normal. John Koenig nickte. Wenigstens hielt man sich in allen Abteilungen an das rigorose Energiesparprogramm, das er der Basis verordnet hatte. Die weiteren Auskünfte, die ihm Leigh Anderson gab, waren weniger erfreulich. Selbst wenn sich der Energieverbrauch im derzeitigen Rahmen hielt, würden die Tiraniumvorräte in knapp drei Monaten erschöpft sein. Und dann… Der Commander ließ sich mit der technischen Abteilung verbinden, die für die Tiraniumsuche auf dem Mond zuständig war. Das Gesicht Dewey Copelands erschien auf dem Monitor. Copeland war einer der Geologen der Basis, ein fähiger, ruhiger Mann normalerweise. Jetzt aber erschien er John Koenig ungewöhnlich nervös. Auch seine psychische Stabilität hatte offenbar gelitten. Das mochte aber auch daran liegen, daß
Copeland gerade erst seinen Freund und Kollegen Michael Altmann bei einem Unfall auf der Mondoberfläche verloren hatte. So etwas ging natürlich auf Nerven und Gemüt. »Wie sieht es aus, Copeland?« erkundigte sich der Commander. »Bestehen noch Aussichten, ein neues Tiraniumlager auf dem Mond zu entdecken?« »Ich glaube nicht, Sir«, antwortete der Geologe. »Sie kennen die Theorie…« Ja, John Koenig kannte die Theorie bezüglich der Tiraniumvorkommen auf dem Mond. Tiranium war ein spaltbares, radioaktives Element, das man auf der Erde nicht gekannt hatte. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil es auf Grund seiner relativ kurzen Halbwertzeit im Laufe der Jahrmilliarden längst zerfallen war. Die Entdeckung von Tiranium auf dem Mond, der ja zur selben Zeit wie die Erde entstanden war, hatte deshalb große Verblüffung hervorgerufen. Eine logische Erklärung lieferte die Spekulation, daß das auf Luna gefundene Tiranium durch Meteoreinschläge auf den Mond gekommen war. Dafür sprach auch der Umstand, daß man es bisher nur an ganz bestimmten Stellen lokalisiert hatte. Und nun sah es so aus, als ob es keine unbekannten Fundstellen mehr gab. Der Commander wies den Geologen an, trotzdem mit Hochdruck weiterzusuchen. Copeland bestätigte den Befehl. Dann verschwand sein Gesicht vom Monitor. Tony Verdeschi, der Sicherheitschef und Stellvertreter des Commanders, hatten den kurzen Dialog mit dem Geologen mitverfolgt. Er verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen. »Na, dann prost!« sagte er und setzte ein kleines Fläschchen an den Mund, das er aus einer Tasche seines Overalls hervorgeholt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ihn John Koenig an. »Lassen Sie das gefälligst, Mr. Verdeschi«, schnarrte er mit
harter Stimme. »Niemand hat Ihnen gestattet, während des Dienstes Alkohol zu trinken!« Verdeschi setzte die Flasche ab und machte ein ausgesprochen verblüfftes Gesicht. »Aber, John…« Koenig, der ansonsten kein Mann war, dem etwas an Drill und der starren Einhaltung von bürokratischen Dienstvorschriften gelegen war, schnitt ihm mit einer unwirschen Handbewegung das Wort ab. Er war bewußt hart zu seinem Freund, weil er ein deutliches Zeichen setzen wollte, um der immer mehr um sich greifenden Disziplinlosigkeit in der Basis Einhalt zu gebieten. »Spar dir deine Vertraulichkeiten, Mr. Verdeschi! Und denk in Zukunft daran, daß wir uns hier nicht in irgendeiner Kneipe befinden.« Die Miene des Sicherheitschefs gefror. »Sehr wohl, Sir«, sagte er förmlich. Dann stand er auf und verließ die Kommandozentrale. Der Commander sah wieder auf den Bildschirm, der so schwarz und trostlos war wie zuvor. Tief in seinem Innersten fragte er sich, ob Tony Verdeschis Flasche nicht vielleicht doch die beste Lösung für alle Probleme war.
II
»Commander!« John Koenig schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als er von Pandit Madhva angerufen wurde. »Ja, Pandit?« Der indische Computertechniker war verantwortlich für die Überwachung der Masse-Scanner, hochempfindlichen Ortungsinstrumenten, die Materie im Weltraum bereits aus vielen Millionen Kilometer Entfernung ausmachen konnten. »Ich habe hier etwas, Commander«, meldete Madhva. Sofort war John Koenig an seiner Konsole. Ja, das war etwas. Auf dem Monitor zeichnete sich ein Wellenmuster ab. Die Ausschläge der Massetaster waren allerdings nur sehr schwach. Der Commander runzelte die Stirn. Was konnte das sein? Hier draußen, vor den Toren der Milchstraße sozusagen, war eigentlich nur interstellare Materie von äußerst geringer Dichte zu erwarten, hauptsächlich vagabundierende Wasserstoffatome. Nichts also, was die Masse-Scanner erfassen konnten. Pandit Madhvas Meldung hatte die ganze Kommandozentrale aufmerksam gemacht. Schon schwirrten die ersten Spekulationen durch den Raum. »Ein Dunkelplanet vielleicht«, vermutete Alan Carter, der Chefpilot der Basis. »Ein Irrläufer, der sich von seiner Sonne losgerissen hat und in den intergalaktischen Raum geraten ist.« Andere Besatzungsmitglieder spekulierten über einen Neutronenstern oder hielten eine konzentrierte Ansammlung von kosmischen Staubpartikeln für möglich.
Sämtliche Spekulationen besaßen nur einen sehr geringen Wahrscheinlichkeitsgrad, denn sie stützten sich mehr auf Spontaneität als auf fundierte Überlegungen. John Koenig ließ sich nicht zur vorschnellen Abgabe eines Urteils hinreißen. Er ging ganz systematisch vor. »Was sagen die Infrarot-Sensoren?« fragte er. »Negativ«, gab Annette Fraser Auskunft. »Gravitationssensoren?« Auch diese hatten bisher nichts registriert. Und die normalen Fotolinsen natürlich auch nicht. Eins ließ sich auf Grund der Negativ-Meldungen mit Bestimmtheit sagen: der Körper, den die Masse-Scanner erfaßt hatten, konnte nicht sehr groß sein. Dunkelsterne, Planeten, ja selbst ein Körper von Kometengröße kamen nicht in Frage. Allenfalls war ein Meteor denkbar. Stunden vergingen. Abgesehen von den Masse-Scannern zeigte noch immer keins der anderen Ortungsinstrumente etwas an. Und wieder war es Pandit Madhva, der Neues zu berichten hatte. Auf seinem Monitor floß die Wellenlinie auseinander, teilte sich. Mehrere Wellenlinien – das bedeutete mehrere Objekte. Die Wahrscheinlichkeit eines Meteoritenschwarms wurde größer. Schließlich fingen auch die Gravitations-Sensoren schwache Impulse auf. Sie registrierten, wie die Masse-Scanner, verschiedene Schwerkraftquellen, die äußerst schwach waren. Die Gravitationskräfte der unbekannten Weltraumkörper würden nicht einmal ausreichen, ein über sie hinwegschwebendes Staubkorn in ihren Bann zu ziehen. Dennoch geriet die Meteor-Theorie ins Wanken. Die Gravitations-Sensoren ermittelten, daß zwischen den einzelnen Schwerkraftquellen erhebliche räumliche Entfernungen lagen. Erheblich im irdischen Verständnis, nicht im kosmischen, wo
einige Millionen Kilometer nichts bedeuteten. Immerhin – die Kinder einer Meteorfamilie zogen ihre Bahn nicht so weit voneinander getrennt durch den Weltraum. Und endlich, nach weiteren langen Stunden, erfaßten auch die Infrarot-Sensoren einige der Objekte. Es waren Raumschiffe. Raumschiffe von völlig unterschiedlicher Bauart. Große, kleine, solche, die den Eagle-Schiffen der Alphaner ähnelten, solche, die unsagbar fremdartig aussahen. Aber ihnen allen war eins gemeinsam: sie flogen nicht, hingen ausnahmslos völlig bewegungslos in der Leere des intergalaktischen Raums. Die Energietaster der Mondbasis konnten keine Impulse auffangen. Alle diese Schiffe waren tot. Wracks, die im Nichts gestrandet waren… Ein Weltraum-Friedhof lag vor den Alphanern. Und der Mond raste genau darauf zu.
III
»Wir fangen Funksignale auf, Sir!« meldete Yasko, die junge Asiatin mit dem glänzenden, lackschwarzen Haar. Die Nachricht erzeugte einige Aufregung in der Kommandozentrale. Nach Lage der Dinge war damit nicht zu rechnen gewesen. Yasko sorgte dafür, daß die Signale von allen gehört werden konnten. Natürlich war niemand in der Lage, sie zu verstehen. Aber es war vollkommen klar, daß es sich nicht um Zufallsprodukte handelte. Die Signale wiederholten sich in einem ganz bestimmten Rhythmus, konnten also von intelligenten Wesen stammen. Wenig später gelang es den Sender anzupeilen, der die Signale abstrahlte. Er befand sich an Bord des fremden Raumschiffs, das dem Mond am nächsten war. »Es ist also doch noch nicht alles tot auf diesem WeltraumFriedhof«, stellte Alan Carter fest. Maya, die schöne Psychonerin mit dem scharfen, analytisch arbeitenden Verstand, widersprach ihm. »Das ist eine voreilige Schlußfolgerung«, sagte sie. »Es kann sich genausogut um eine automatisch abgestrahlte Signalfolge handeln. Ein entsprechend programmierter Computer…« »Ich ziehe es vor, an ein lebendes Wesen zu glauben«, beharrte der Pilot auf seiner Meinung. »Es würde mir helfen, mich vorübergehend weniger einsam zu fühlen.« John Koenig wies Annette Fraser an, die Infrarot-Bilder des betreffenden Raumschiffs auf den großen Schirm zu überspielen. Mit einer schnellen Schaltung kam die Technikerin der Anweisung des Commanders nach.
Die Schwärze des Weltraums wich dem Abbild des fremden Raumers. Es war ein eigenartig geformtes, beinahe grotesk wirkendes Schiff. Man mußte unwillkürlich an eine Quelle denken. Ein derartiger Schiffstyp war den Alphanern während ihrer langen Reise durch die Milchstraße niemals begegnet. Auch Maya, die viele galaktische Rassen kannte, war nicht in der Lage, dieses Schiff irgendwo einzuordnen. »Versuchen wir unsererseits, Kontakt aufzunehmen«, sagte der Commander. »Yasko…« »Was soll ich sagen, Commander?« »Die Todgeweihten grüßen euch, oh Brüder in der Einsamkeit«, schlug Alan Carter sarkastisch vor. »Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie das durchgeben, Yasko«, meinte John Koenig achselzuckend. »Selbst wenn dort drüben noch jemand lebt, wird er mit dem Wortlaut ohnehin nicht viel anfangen können.« Yasko sendete. Nicht Alan Carters Spruch, sondern irgend etwas Japanisches, in dem eine Kirschblüte die Hauptrolle spielte. Mehrere Sekunden vergingen. Die Funkwellen brauchten ihre Zeit, um das fremde Raumschiff zu erreichen. Dasselbe galt für eine hypothetische Antwort, mit der im Grunde genommen aber kaum jemand rechnete. Vorerst ging nach wie vor nur die rhythmische Signalfolge ein. Und dann kam auf einmal die Antwort: in Form einer menschlichen Stimme, einer melodischen Frauenstimme, die leicht verzerrt klang. Die Alphaner blickten sich an. »Hört sich an wie Japanisch«, sagte Tony Verdeschi überrascht. »Es ist Japanisch!« bestätigte Yasko. »Und was heißt es?«
Yasko lächelte. »Mein Geliebter schenkte mir einen Kirschblütenkranz.« »Was?« wunderte sich der Sicherheitschef. Auch John Koenig lächelte leicht. »Ich nehme an, die Fremden haben lediglich Yaskos Worte wiederholt. Stimmt’s, Yasko?« Die japanische Technikerin nickte. »In jedem Fall bedeutet es, daß an Bord des fremden Raumers nicht nur ein Computer sendet«, zog der Commander die Schlußfolgerung. »Die exakte Wiederholung unseres Funkspruchs beweist, daß sich jemand Gedanken gemacht hat. Wir haben es also tatsächlich mit Intelligenzwesen zu tun.« »Und was werden wir jetzt tun, John?« wollte Tony Verdeschi wissen. »Wir schicken einen Eagle hinüber«, sagte der Commander.
Der Flug zu dem fremden Raumschiff sollte mehreren Zwecken dienen. Einmal ging es ganz schlicht nur darum, festzustellen, ob die Alphaner den Gestrandeten irgendwie helfen konnten. Andererseits waren die Fremden vielleicht in der Lage, einen Beitrag zur Lösung des brennenden Energieproblems in der Basis zu leisten. Und schließlich war John Koenig auch sehr interessiert daran, in Erfahrung zu bringen, wieso alle diese Raumschiffe hier bewegungslos im Weltraum hingen. Daß dies keine natürlichen Ursachen hatte, stand außer Zweifel. Und es war sicherlich kein abwegiger Gedanke, daß dem Mond dasselbe passieren konnte wie diesen Schiffen. Der Commander wollte, wenn es nur eben ging, vorbereitet sein. Entsprechend diesen Zielsetzungen bestimmte er die Mannschaft des Eagle: Alan Carter als Piloten, den Arzt Gordon Paice, den Ingenieur Leroy Nilsson, einen Spezialisten
auf dem Gebiet der Reaktortechnik, und schließlich den Linguisten und Kommunikationsfachmann Jacques d’Estelle. Er überlegte lange, ob er auch einen Mann von der Sicherheitsabteilung mitfliegen lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Dies war eine friedliche Mission. Falls es, was nie auszuschließen war, an Bord des fremden Schiffes Telepathen geben sollte, würde die Gegenwart eines solchen Mannes nur vermeidbares Mißtrauen heraufbeschwören. Dennoch wies er die Mannschaft an, vorsichtig zu sein und nichts zu riskieren. Eagle Drei startete.
»Der wandernde Planet hat ein Schiff ausgespuckt«, pulsierte Vier-dju und deutete mit einem Pseudopod auf die grünlich schimmernde Bildplatte. »Ja«, pulsierte Drei-dju zurück, »es kommt zu uns. Die Opfer haben unseren Ruf gehört.« »Dumme Opfer«, pulsierte auch Zwei-dju und walzte sich vor Vergnügen ganz aus. »Ich weiß nicht, ob sie dumm sind«, meldete sich Vier-dju wieder. »Sie können sich fortbewegen, wir nicht.« »Die Antwort ist ganz einfach«, meinte Drei-dju. »Der wandernde Planet ist zu groß. Die Nichtopfer aus der anderen Galaxis können ihn nicht stoppen.« Vier-dju ließ diese Antwort nicht gelten. »Auch ihr Schiff bewegt sich fort. Und das ist nicht groß. Es ist kleiner als das unsrige.« »Das ist wahr.« »Es gibt nur eine Erklärung«, pulsierte Vier-dju. »Die Opfer verfügen über einen Schiffsantrieb, der nicht von Kernreaktionen lebt.« »Ja, das wäre eine Erklärung.«
»Was spielt es für eine Rolle?« pulsierte Zwei-dju. »Die Opfer kommen zu uns. Und wenn sie hier sind…« Gedankenschnell rollte er sich zusammen. Es gab ein lautes, schnappendes, schmatzendes Geräusch. »Nein«, widerpulsierte Vier-dju entschlossen, »wir werden sie nicht sofort auflösen. Wir werden sie vorerst als Nichtopfer ansehen.« »Was?« Zwei-dju zuckte und waberte empört. Vier-dju ließ sich nicht beeindrucken. »Durch diese Opfer… Nichtopfer können wir unsere Bewegungsfreiheit wiedergewinnen. Wir werden über sie lernen, was wir lernen können. Wir werden sie bitten, uns mit zu ihrem Planeten zu nehmen. Und wenn wir dort erst einmal sind…« Jetzt ließ sich auch Vier-dju schmatzend zusammenrollen. Begeistert walzte sich Zwei-dju wieder aus.
Mit flammenden Bremsraketen jagte Eagle Drei auf das fremde Raumschiff zu. Größer und größer wurde es auf dem Bildschirm in der Pilotenkanzel. »Komisches Ding«, knurrte Alan Carter. »Bin wirklich gespannt, wie die Brüder aussehen, die so was bauen.« Jacques d’Estelle, der neben Carter auf dem Copilotensitz saß, kräuselte seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Wer weiß«, antwortete er, »vielleicht sehen sie wirklich aus wie unsere Brüder. Ihre Stimmen klingen jedenfalls genauso wie die eines normalen Menschen.« Der Linguist mußte es wissen. Während des Anfluges hatte er verschiedentlich Funksprechverbindung mit den Fremden gehabt. Eine Verständigung war dabei bisher jedoch nicht herausgekommen. Die anderen hatten entweder seine eigenen Worte wiederholt oder in einer Sprache geantwortet, mit der
selbst ein Fachmann wie er nicht das geringste anfangen konnte. »Bestimmt sind es ganz schauderhaft aussehende Individuen«, bezweifelte der Pilot die Menschen-Theorie. »Insekten, Kröten oder so was. Wenn sie nicht Angst hätten, uns durch ihren Anblick zu erschrecken, dann könnten sie sich doch zeigen, oder? Wir tun es schließlich auch.« »Ist was dran, ja«, mußte d’Estelle ihm beipflichten. Er hatte sich auch schon gewundert, warum die Fremden sich auf reinen Sprechverkehr beschränkten und den Trägerwellen keine Bildsignale aufmodulierten. Und ganz davon abgesehen, das Raumschiff sah wirklich nicht aus, als sei es von Humanoiden gebaut worden. Aus der Nähe wirkte es noch fremdartiger. Groß, doppelt so groß wie ein Eagle, medusenförmig, mit zahlreichen warzenartigen Auswucherungen übersät. Die Spektralanalyse ließ darauf schließen, daß die Außenhülle nicht aus Metall, sondern aus Kunststoff bestand. Das Gespräch der beiden Männer kam zum Erliegen. Alan Carter mußte sich jetzt voll darauf konzentrieren, die Geschwindigkeit des Eagle auf Null herabzusetzen und in unmittelbarer Nähe des fremden Raumers »vor Anker« zu gehen. Carter war ein hervorragender Pilot. Er schaffte das schwierige Manöver und ging dabei auch noch sehr sparsam mit der Reaktormasse um, die ja so ungeheuer kostbar geworden war. »So, das wär’s«, sagte er, nachdem er den Eagle in einer Entfernung von wenigen hundert Metern »geparkt« hatte. Ein direktes Andocken war nicht möglich gewesen. Die Luftschleusen der beiden Schiffe würden sich kaum lückenlos miteinander verbinden lassen. Und außerdem war da ja auch
noch der Gesichtspunkt der Sicherheit, der nicht ganz außer acht gelassen werden durfte. »Sie können unseren kosmischen Brüdern sagen, daß wir da sind«, meinte Carter, während er seine Instrumente checkte. »Ich glaube eigentlich nicht, daß die blind sind«, antwortete d’Estelle. Er betätigte dann aber doch das Funkgerät. Allerdings nicht, um sich mit den Fremden in Verbindung zu setzen. Er verständigte vielmehr die Mondbasis davon, daß sie ihr Ziel erreicht hatten. »Verstanden«, kam die Bestätigung aus der Kommandozentrale. Auch die Fremden meldeten sich wieder. Wie gehabt nur akustisch, nicht optisch. Was die verzerrte Männerstimme sagte, konnten die Alphaner nur ahnen. Dann aber gaben die Bewohner des Medusenschiffes ein unmißverständliches Zeichen. Einer der warzenartigen Auswüchse auf der Außenwandung klaffte auf. Eine Öffnung, die einen Durchmesser von etwa zehn Metern hatte, wurde sichtbar. »Das dürfte eine Einladung sein«, kommentierte der Linguist. »Nehmen wir sie an?« Es war nicht gerade überschäumender Enthusiasmus, der aus seiner Frage sprach. »Darum sind wir hergekommen, nicht?« Alan Carter grinste ein bißchen schief. Er hatte schon des öfteren mit Jacques d’Estelle zusammengearbeitet und wußte, daß der Franzose mit dem gepflegten Oberlippenbart ganz gewiß nicht zu den mutigsten Alphanern gehörte. D’Estelle zog es vor, Fremde mit Hilfe der elektromagnetischen Wellen zu kontaktieren. Leroy Nilsson und Gordon Paise waren inzwischen aus dem Passagierabteil nach vorne in die Kanzel gekommen. Sie hatten ihre Raumanzüge bereits geschlossen, waren bereit, zu dem Medusenschiff hinüberzuschweben.
Auf dem Monitor wurde das Gesicht John Koenigs erkennbar. »Alan«, drang seine Stimme aus der Hörmembrane, »ich hätte gerne einen Lagebericht.« Carter nickte dem Linguisten zu, und dieser schilderte dem Commander die Situation. Die Entfernung zwischen Eagle Drei und dem Mond bedingte, daß die Antwort Koenigs mehrere Sekunden auf sich warten ließ. Schließlich kam sie: »Alan, wir wollen das Risiko möglichst gering halten. Es genügt vollauf, wenn zuerst einer von euch das Schiff der Fremden betritt. Verstanden?« »Verstanden«, gab der Pilot zurück. Er sah den Linguisten an. »Da wir zuerst einmal eine Verständigung mit den Brüdern herbeiführen müßten, wären Sie der ideale Mann, Jacques.« D’Estelle wechselte etwas die Farbe und fing an, an seinem Bart zu zupfen. »Wissen Sie, Carter«, erwiderte er unsicher, »ich bin eigentlich mehr der Meinung, daß zuerst technische Probleme im Vordergrund stehen. Da wäre zum Beispiel…« Alan Carter grinste. »Technische Probleme, natürlich! Ein Raumanzug könnte undicht sein, es könnte Meteore regnen…« Er löste sich aus dem Pilotensitz und klappte seinen Raumhelm nach unten. Dann machte er Anstalten, die Kanzel zu verlassen, um zur Luftschleuse zu gehen. Gordon Paice stellte sich ihm in den Weg. »Warten Sie, Alan! Sie sind der einzige Pilot an Bord. Wenn Ihnen etwas zustößt, hängen wir hier alle fest. Es wäre deshalb vernünftiger, wenn ein anderer den Anfang macht. Ich bin gerne bereit…« »Ach was«, winkte Carter ab. »Medizinische Probleme stehen bestimmt nicht im Vordergrund. Und was die Steuerung
des Eagle angeht… Der Kurs zum Mond ist dem Bordcomputer bekannt. Der Autopilot wird Sie im Falle eines Falles sicher zurückbringen. Der Start kann per Fernsteuerung von der Basis aus erfolgen. Außerdem versteht auch Nilsson genug von den Dingen, um diesen Kahn hier auf Touren zu bringen. Nicht wahr, Leroy?« Der Ingenieur nickte. »Ja, ich wäre durchaus imstande, den Eagle zu fliegen. Aber die Notwendigkeit dazu wird sich nicht ergeben.« »Das glaube ich auch nicht«, sagte Alan Carter. »Unsere kosmischen Brüder werden mir schon nicht den Hals umdrehen.« »Sie haben mich falsch verstanden, Alan«, entgegnete der kräftige Ingenieur. »Das heißt?« »Ich werde als erster das fremde Schiff betreten!« Der Pilot verzog das Gesicht. »Das gefällt mir nicht, Leroy. Die Basis ist mit Reaktorfachleuten nicht gerade gesegnet. Sie sind ein wertvoller Mann. Wenn Ihnen etwas passiert…« »Mir passiert nichts«, sagte Leroy Nilsson mit fester Stimme. »Gott wird mich schützen!« Diesem Argument hatte auch Alan Carter nichts entgegenzusetzen. Der Ingenieur ging zur Luftschleuse hinüber.
IV
Mit Hilfe der Rückstoßdüsen seines Raumanzugs schwebte Leroy Nilsson zu dem fremden Raumschiff hinüber. Der Ingenieur handhabte die Düsen geschickt und routiniert. Auf geradem Wege steuerte er auf die Öffnung in dem Plastikleib der Meduse zu. Die in Eagle Drei zurückgebliebenen Besatzungsmitglieder konnten sein Vorwärtskommen auf einem Monitor verfolgen. Nilssons Helmkamera lieferte gestochen scharfe Bilder. Außerdem bestand ständiger Funkkontakt zu dem Ingenieur. Mit leiser Stimme vermittelte Nilsson seine Eindrücke. Seine Worte irritierten Alan Carter und die anderen beiden Männer leicht. Nilsson sprach hauptsächlich davon, was für ein wundersames Gefühl es sei, so ganz allein durch die Schwerelosigkeit des Alls zu schweben. Nie, so meinte der Ingenieur, habe er sich mit seinem Schöpfer so eng verbunden gefühlt, wie während dieser Minuten der absoluten Einsamkeit. Alan Carter machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich weiß nicht«, sagte er, »vielleicht hätte doch besser ich gehen sollen. Nilsson scheint ein etwas… äh… gestörtes Verhältnis zu den Realitäten zu haben.« Gordon Paice widersprach dieser Ansicht. »Sie tun ihm unrecht, Alan. Leroy Nilsson ist ein tief religiöser Mensch geworden. Das bedeutet aber keineswegs, daß er nun nicht mehr zu rationalen Beurteilungen fähig ist. Er sieht hinter den Dingen eben nur eine tiefere Bedeutung.« »Wenn Sie es sagen, Doktor…« Der Pilot war trotzdem nicht so ganz überzeugt.
Er konzentrierte sich auf den Monitor. Nilsson war dem Medusenschiff jetzt schon ganz nahe. Übergroß erschien die Einstiegöffnung auf dem Schirm. Ein fluoreszierendes, grünliches Licht füllte den dahinterliegenden Raum aus, bei dem es sich nur um eine Luftschleuse handeln konnte. »Ich betrete jetzt das fremde Schiff«, kündigte der Ingenieur mit ruhiger Stimme an. Keinerlei Spannung oder gar Nervosität schwang in seinen Worten mit. Sein Gottvertrauen hatte ihn ohne jeden Zweifel zu einem beinahe übermenschlich abgeklärten, gelassenen Mann gemacht. »Seien Sie vorsichtig, Leroy«, gab ihm der Pilot noch mit auf den Weg. »Und wenn Ihnen etwas komisch vorkommt, lassen Sie es uns sofort wissen.« »Das werde ich tun«, bestätigte Nilsson. Dann verringerte er mit einem ausgezeichneten Gefühl für das richtige Timing abrupt seine Geschwindigkeit. Wie in Zeitlupe glitt er in das Innere des Medusenschiffes. »Ich bin jetzt…« Ganz unvermittelt brach Nilssons Stimme ab. Gleichzeitig lieferte die Helmkamera keine Bilder mehr. Von einem Sekundenbruchteil zum anderen wurde der Monitor grau. Die Verbindung war jäh abgerissen. »Verflucht!« Alan Carter wandte sich von dem Monitor ab und blickte auf den Sichtbildschirm. Die Außenkameras des Eagle funktionierten nach wie vor einwandfrei. Sie waren ebenfalls auf die Einstiegöffnung des fremden Schiffes gerichtet. Deutlich, überdeutlich fast, zeigten sie, daß sich das Loch in der Außenhülle ganz plötzlich schloß. Es schnappte regelrecht zu, wie die Kiefer einer Bestie, die ein Beutetier verschlang. Jacques d’Estelle war totenblaß geworden. Seine Bartspitzen zitterten. »Ich… ich habe es geahnt«, stieß er hervor. »Ich habe es wirklich geahnt.«
»Was haben Sie geahnt, verdammt?« funkelte ihn Alan Carter an. »Daß die Fremden etwas im Schilde führen!« »Ach ja? Das ist mir aber völlig neu. Quatschen Sie hier nicht rum, d’Estelle. Nehmen Sie Verbindung mit diesen kosmischen Kidnappern auf!« Der Linguist murmelte noch etwas Unhörbares vor sich hin und kam dann der Aufforderung nach. Die Fremden antworteten sofort. Die schon bekannte, leicht verzerrte Männerstimme klang auf. Sie hörte sich an wie bisher. Nicht triumphierend, nicht aggressiv, ganz normal. Nur daß eben kein einziges Wort zu verstehen war. »Klingt nicht gerade wie eine Kriegserklärung«, meinte Gordon Paice. Dieser Ansicht war jetzt auch Jacques d’Estelle. »Sie haben recht, Gordon. Als Fachmann würde ich sagen…« Alan Carter winkte heftig ab. »Sagen Sie es nicht uns, sagen Sie es dem Commander. Und fragen Sie ihn, was wir jetzt tun sollen.« D’Estelle setzte sich mit der Mondbasis in Verbindung. Die Zeit verging, ohne daß sich Leroy Nilsson wieder meldete.
Auch Vier-dju und seine beiden Rassegenossen hatten auf der Bildplatte verfolgt, wie der Besucher in die Atmosphärenkammer hineingeschwebt war. Und sie verfolgten auch, wie er in seiner Lufthülle plötzlich zusammenzuckte, sich aufbäumte und kurz darauf das Bewußtsein verlor. Wie ein Gligli trieb er hilflos durch das Vakuum der Atmosphärenkammer. »Kammerklappe schließen«, pulsierte Vier-dju geistesgegenwärtig.
Ein Pseudoarm schoß aus dem Körper Drei-dju hervor und legte einen Schalter um. Die Klappe schloß sich. »Stasisfeld einschalten und auf Nichtopfer justieren«, kam der nächste Befehl. Drei-dju tat auch dies. Ein schwach flimmerndes Kraftfeld baute sich um den Besucher auf, das in seinem Wirkungsbereich jede physikalische und chemische Reaktion stoppte. »Ich verstehe nicht«, pulsierte Zwei-dju heftig. »Wieso ist das Opfer auf einmal inaktiv geworden?« »Das Nichtopfer«, berichtigte Vier-dju. »Merk dir das endlich, Dju!« »Ich bin nicht Dju, ich bin Zwei-dju!« »Du benimmst dich so einfältig wie Dju«, pulsierte Vier-dju ungerührt zurück. »Um deine Frage zu beantworten: Die einzige Erklärung ist, daß die Energieversorgung seiner Lufthülle sofort ausfiel. Er bekam keine Atemluft mehr, und die grausame Kälte des Weltraums sprang ihn an. Das Stasisfeld wird seinen Körper jetzt vor Schäden schützen.« »Das würde bedeuten, daß die Op… die Nichtopfer ihre Energie doch aus Kernreaktionen beziehen«, schaltete sich Drei-dju sachlich ein. »So muß es sein«, bestätigte Vier-dju. »Der Störfaktor der Nichtopfer aus der anderen Galaxis ist überall an Bord unseres Schiffes wirksam. Und als dieses Nichtopfer die Atmosphärenkammer betrat…« »Verstehe, verstehe«, pulsierte Zwei-dju. »Diese OpferNichtopfer leben zwar von Kernreaktionen, aber aus irgendeinem Grunde haben die aus der anderen Galaxis die Kernspaltungsprozesse auf dem wandernden Planeten und seinem Raumschiff noch nicht unterbunden.« »Du bist fast so klug wie Sieben-dju«, spottete Vier-dju.
Sein zweitjüngster Abkömmling walzte sich ärgerlich halb aus. »Trotzdem begreife ich nicht«, pulsierte er, »warum die aus der anderen Galaxis uns und all die anderen Raumschiffe hier angegriffen haben, die Wesen von dem Wanderplaneten aber nicht.« »Das«, pulsierte Vier-dju, »müssen wir versuchen, herauszufinden.« Eine Störung trat ein. Eins der auf dem fremden Schiff zurückgebliebenen Nichtopfer ließ per Funk seine Stimme ertönen, lauter, drängender als bisher. »Antworten«, befahl Vier-dju, »sofort antworten. Die Nichtopfer dürfen nicht das Gefühl bekommen, daß wir ihnen feindlich gesinnt sind.« Drei-dju funkte zurück und hoffte, die Nichtopfer damit beruhigen zu können. Anschließend rollten sich die drei zusammen und wälzten sich zur Atmosphärenkammer. Es war an der Zeit, alles über die Nichtopfer von dem wandernden Planeten zu lernen, was zu lernen war. Auch Vier-dju gierte dem Augenblick entgegen, an dem die Nichtopfer wieder als Opfer angesehen werden konnten.
An Bord von Eagle Drei herrschte nervöse Spannung. Länger als eine Stunde war es jetzt her, daß Leroy Nilsson im Inneren des Medusenschiffes verschwunden war. Und bis jetzt hatte er kein Lebenszeichen von sich gegeben. Auch sonst hatte sich nichts getan, abgesehen von gelegentlichem unverständlichem Wortsalat, der per Funk von dem fremden Schiff herübergekommen war. Alan Carter war ein Mann der Tat. Alles in ihm drängte danach, etwas zu unternehmen, etwas an der statischen
Situation zu verändern, wenn es sein mußte, auch unter Zuhilfenahme weniger friedlicher Mittel. Der Commander jedoch war strikt dagegen gewesen. »Wir werden keine Gewalt anwenden«, hatte er gesagt. »Ihr befindet euch auf einer Friedensmission, und ich möchte nicht, daß die Fremden einen anderen Eindruck bekommen.« »Und Nilsson?« hatte Carter zurückgegeben. »Glaubst du wirklich, daß die Fremden seinen Status als Friedensengel auch richtig gewürdigt haben? Warum meldet er sich nicht? Kannst du mir das sagen, John?« Der Commander war nicht in der Lage, es ihm zu sagen. Aber er hatte mehrere technische Gründe angeführt, die den vermißten Ingenieur unter Umständen daran hindern mochten, sein Funksprechgerät einzusetzen. Dem Piloten war nichts anderes übriggeblieben, als der Anweisung Folge zu leisten. John Koenig war der Commander. Sein Wort galt. Warten also… Weitere Minuten vergingen, dehnten sich zu einer neuerlichen halben Stunde. Alan Carter spielte mit dem Gedanken, den Eagle zu verlassen und ebenfalls zu dem Medusenschiff hinüberzuschweben. Ganz friedlich. Er würde sogar bereit sein, seinen Handlaser an Bord von Eagle Drei zurückzulassen. Bevor Carter den Gedanken richtig zu Ende gedacht hatte, trat die Pattsituation dann doch in eine neue Phase. Auf sehr verblüffende Art und Weise. Die Fremden meldeten sich wieder zu Wort. Nicht in unverständlichem Kauderwelsch, sondern in englischer Sprache. »Hallo, Alphaner!« kam es aus der Hörmembrane. Höchst überrascht sahen sich die drei Alphaner an.
»Hallo, Fremde!« antwortete der Pilot wenig einfallsreich. Und dann setzte er gleich hinzu: »Was ist mit Leroy Nilsson geschehen? Mit unserem Freund?« »Ja«, kam es zurück, »wir haben uns schon gedacht, daß Sie sich Sorgen um Ihren Freund machen. Aber ich kann Ihnen versichern, daß kein Anlaß zur Besorgnis vorliegt.« »Nicht?« »Nein! Mr. Nilsson hatte einige Probleme mit der Energiezufuhr seines Raumanzugs. Diese sind jedoch inzwischen behoben. Wir haben gleichzeitig die Gelegenheit genutzt, Ihre Sprache zu lernen.« »Wo ist Nilsson?« fragte Alan Carter scharf. »Wenn es ihm gutgeht, dann lassen Sie mich mit ihm sprechen.« »Ihr Freund schläft, Mr. Carter. Sie sind doch Mr. Carter, nicht wahr?« Die Fremden schienen plötzlich sehr gut informiert zu sein, fand der Pilot. Zu gut, vielleicht. Nilsson, was war mit Nilsson? Schlafen sollte er? Das war absurd. Jacques d’Estelle schaltete sich in den Dialog ein. »Fremder«, rief er. »Warum zeigen Sie sich uns nicht? Sie verfügen doch bestimmt über Bildfunk!« »Wenn Sie Wert darauf legen…« Der Bildschirm in der Pilotenkanzel flammte plötzlich auf. Er zeigte ein Gesicht, ein menschliches Gesicht, das sehr beeindruckend war. Es war nicht jung, dieses Gesicht, aber es sah unwahrscheinlich würdig aus, wozu nicht zuletzt auch ein langer weißer Bart beitrug. Tiefblaue, ungemein gütige Augen blickten die Alphaner an. Unwillkürlich hielt Alan Carter den Atem an. So ungefähr hatte er sich immer Gott Vater vorgestellt.
V
Als Leroy Nilsson wieder zu sich kam, wußte er zuerst gar nicht, was los war. Er hatte so irrsinnige Kopfschmerzen, daß er glaubte, der Schädel würde ihm gleich zerspringen. Ihm war, als hätte irgend jemand jede einzelne Zelle aus seinem Gehirn herausgeholt und anschließend nicht wieder richtig eingesetzt. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. Das fremde Raumschiff… Er hatte die Luftschleuse betreten, und dann war es gleich passiert. Die Atemluft war ihm weggeblieben, Kälte hatte ihn eingehüllt. Außerdem war die Verbindung zu Eagle Drei abrupt unterbrochen worden. Irgendwie mußte sein Raumanzug total versagt haben. Und jetzt? Erst in diesem Augenblick wurde sich Leroy Nilsson bewußt, daß er den Raumanzug nicht mehr trug. Völlig nackt lag er lang ausgestreckt auf dem Rücken. Ruckartig fuhr er hoch und setzte sich auf. Er befand sich in einem kleinen, ellipsenförmigen Raum. Bis auf die eigenartig gerundete Liege, auf deren Rand er jetzt saß, war der Raum völlig leer. Eine unsichtbare Lichtquelle sorgte für indirekte, grünliche Beleuchtung. Die Luft, die ihn umgab, roch stark nach Ozon. Aber sie war gut atembar, wenn auch der Sauerstoffgehalt sehr hoch zu sein schien. Leroy Nilsson schloß die Augen, um besser nachdenken zu können. Sofort öffnete er sie aber wieder, als er ein Geräusch hörte.
In der Wandung hatte sich ein Spalt aufgetan. Jemand betrat den Raum. Die Augen des Ingenieurs wurden groß. Eine Frau stand vor ihm. Eine wunderschöne Frau, die vollkommen menschlich aussah. Vollkommen, dachte Nilsson. Ja, vollkommen war genau der richtige Ausdruck. Sie wirkte seltsam alterslos, konnte genausogut zwanzig oder vierzig Jahre alt sein. Ihre Haut war wie frisch gefallener Schnee, und ihre Züge hatten die Lieblichkeit eines Madonnenbilds. Auch ihre Gestalt sah aus, als sei sie von begnadeter Künstlerhand geschaffen worden. Sie trug einen weit wallenden Umhang in weißer Farbe, der ihren Körper umschmeichelte. Die Frau lächelte den Ingenieur an. »Guten Tag, Mr. Nilsson«, sagte sie mit melodischer Stimme. »Es ist schön, daß Sie wieder bei Bewußtsein sind.« Nilsson war von ihrer Erscheinung so fasziniert, daß er fast zu antworten vergaß. »Wer… wer sind Sie?« brachte er schließlich mit einem Kloß in der Kehle hervor. »Meinen richtigen Namen könnten Sie nicht aussprechen«, antwortete die Frau. »Vielleicht sollten Sie mich einfach Maria nennen, Mr. Nilsson.« Maria, dachte der Ingenieur. Ja, dieser Name paßte hervorragend auf diese schöne Frau, die ihm in der Tat wie eine Inkarnation der Heiligen Jungfrau erschien. Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, ob er vielleicht tot sei und sich hier nun im Paradies befand. Aber sofort schalt er sich selbst einen Narren. Trotzdem fiel es ihm ein bißchen schwer, sich zu vergegenwärtigen, daß diese so menschlich oder gar
übermenschlich aussehende Frau einer fremden Rasse angehörte, in deren Raumschiff er sich befinden mußte. »Was ist passiert?« fragte er bemüht sachlich. »Sie haben bei Eintritt in die Atmosphärenkammer unseres Raumschiffs das Bewußtsein verloren. Sie wären jetzt schon tot, wenn wir Sie nicht geborgen hätten.« »Das verstehe ich nicht ganz. Wieso bin ich bewußtlos geworden? Mein Raumanzug…« »Das erklären wir Ihnen später, Mr. Nilsson«, unterbrach ihn die Frau milde. »Zunächst sollten Sie mit Ihren Freunden von Eagle Drei sprechen. Die schienen nämlich zu glauben, daß wir Sie umgebracht haben.« Sie löste sich von der Wand und kam auf seine Liege zu. »Kommen Sie, Mr. Nilsson«, sagte sie und streckte ihm eine fein modellierte Hand entgegen. Leroy Nilsson stand auf. Es machte ihm nichts aus, daß er nackt war. Er sah in dieser Frau kein weibliches Wesen, kein Sexualobjekt. Einmal waren ihm derartige Gedanken in den letzten Tagen ohnehin fremd geworden. Und zum zweiten erweckte die Fremde in ihm nur Assoziationen mit einer Madonna, die selbstverständlich völlig über allen körperlichen Dingen stand. Die fremde Frau verließ den ellipsenförmigen Raum, und der Ingenieur folgte ihr. Das Gehen war etwas beschwerlich für ihn. Neben den rasenden Kopfschmerzen fühlte er sich ziemlich zerschlagen. Und außerdem schien die Schwerkraft an Bord dieses Schiffes um ein beträchtliches höher zu sein, als es die Alphaner üblicherweise gewohnt waren. Er wurde einen breiten Korridor entlanggeführt, der so niedrig war, daß er fast mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Dies wunderte ihn einigermaßen, denn auch die Frau berührte mit ihrem Haar beinahe die obere Wandung. Zwangsläufig mußten Angehörige der Rasse, die etwas höher gewachsen
waren, mit eingezogenem Kopf durch ihr Schiff laufen. Wenn das nicht verrückt und widersinnig war, dann wußte er es nicht. Aber letzten Endes sollte ihn das nicht stören. Jede Rasse konnte ihre Schiffe so unpraktisch bauen, wie es ihr paßte. Der Weg, der zurückgelegt werden mußte, war nicht lang. Die fremde Frau berührte in Kniehöhe eine bestimmte Stelle der Korridorwand, die sich sofort türbreit öffnete. Nilsson und seine Begleiterin betraten den darunterliegenden Raum. Der Ingenieur erkannte sofort, daß es sich um eine Art Pilotenkanzel handeln mußte. Er sah zahlreiche, meist eigenartig geformte Schalter, Knöpfe, Hebel, Meßskalen, flackernde Lichter, Monitoren und andere Instrumente. Höchst erstaunlich fand er die Positionen, in denen die meisten von ihnen angebracht waren: in Fuß- und Kniehöhe. Sogleich aber wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem in Beschlag genommen. In diesem Kontrollraum waren zwei Personen anwesend – ein Mann und… ein Kind. Wie schon die Frau beeindruckten ihn auch diese beiden sehr. Der Mann war eine hochgewachsene, imponierende Erscheinung. Ein weißer Vollbart umrahmte ein energisches, gleichzeitig aber auch ungemein vertraueneinflößendes Gesicht. Der Mann strahlte Würde und Güte aus und vermittelte die instinktive Überzeugung, daß man sich in seiner Obhut absolut sicher und geborgen fühlen konnte. Das Kind war alles andere als der Prototyp eines pausbäckigen Lausbuben. Für sein Alter – der Junge mochte nach irdischer Rechnung zehn oder elf Lebensjahre hinter sich haben – wirkte er außerordentlich ernst, ja schwermütig. Dunkles Lockenhaar fiel in eine aristokratisch hohe Stirn, unter der dunkle Augen hervorlugten. Diese Augen schienen trotz ihrer Jugend schon unendlich viel gesehen zu haben.
Die beiden begrüßten Nilsson und machten sich bekannt. Ihre Namen bestanden aus vielen Silben, von denen der Ingenieur praktisch keine einzige behielt. Die Frau merkte das wohl, denn sie lachte leise auf. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß unsere Namen ihre Tücken haben. Nennen Sie die beiden doch einfach wie Sie wollen, Mr. Nilsson.« »Moses«, sagte Nilsson spontan. »Moses und… Tom.« Eigentlich hatte ihm für den Jungen ein ganz anderer Name auf der Zunge gelegen. Aber er hatte diesen dann doch schnell wieder heruntergeschluckt, da er keine Blasphemie begehen wollte. »Kommen Sie, Mr. Nilsson«, forderte Moses ihn auf, »setzen Sie sich. Hier ist Ihr Freund Alan Carter.« Der Weißbärtige machte eine einladende Handbewegung und deutete auf eine große Schale, die auf dem Boden stand. Innerlich runzelte Leroy Nilsson die Stirn, als ihm klar wurde, daß diese Schale wohl so etwas wie ein Sessel sein sollte. Verrückt, dachte er, total verrückt. Auch in diesem Raum hing die Decke extrem tief. Nilsson merkte, daß er die ganze Zeit unbewußt den Kopf schief gehalten hatte. Die Räumlichkeiten, die niedrige Anordnung der Instrumente, Sitzgelegenheiten nahezu auf dem Boden – all dies hätte zu einer Rasse von Zwergen gepaßt. Diese Fremden aber waren keine Zwerge. Nilsson fragte sich, warum sie es sich so unbequem machten. Vages Unbehagen stieg in ihm auf, als er auf diese Frage keine vernünftige Antwort fand. Irgend etwas stimmte nicht… Nilsson stellte seine Überlegungen für den Augenblick zurück und ließ sich in der Sesselschale nieder. Unmittelbar vor ihm war ein Bildschirm, von dem ihm das Gesicht Alan Carters entgegenleuchtete.
»Leroy, na endlich!« Große Erleichterung sprach aus Alan Carters Stimme. Sein sorgenvoll gefurchtes Gesicht entspannte sich etwas. »Geht es Ihnen gut, Leroy?« fragte er weiter. »Wir haben lange nichts von Ihnen gehört. Fast zwei Stunden!« »Oh, so lange«, sagte der Ingenieur leise und mehr zu sich selbst. Der Pilot hatte es trotzdem gehört. »Sie wußten es noch nicht?« fragte er argwöhnisch. »Sind Sie wirklich in Ordnung? Sie machen mir einen reichlich mitgenommenen Eindruck, Leroy!« »Doch, doch, ich bin völlig in Ordnung.« Alan Carters Gesicht wurde hart. »Beantworten Sie mir folgende Frage, Leroy: Wie heißt der Ort, an dem Jesus ans Kreuz geschlagen wurde?« »Was?« »Beantworten Sie meine Frage, Leroy!« »Golgatha«, sagte Nilsson. »Alan, was soll der Unsinn?« Das Harte schwand aus der Miene des Piloten. »Das war kein Unsinn, Leroy. Ich wollte nur einmal prüfen, ob Sie wirklich Sie selbst sind. Wir hatten da kürzlich einen Fall von Doppelgängern, erinnern Sie sich? Es gibt Rassen, die produzieren Duplikate von Alphanern wie andere Leute falschen Whisky.« »Nein«, sagte der Ingenieur, »das würden Moses und Maria niemals tun.« »Moses und Maria?« Neues Mißtrauen schlich in Alan Carters Gesicht. Er sah Nilsson an, als sei dieser verrückt geworden. Nilsson sagte ihm, wer Moses und Maria waren. »Ach so ist das«, zeigte sich Carter beruhigt. »Okay, Leroy, es gibt eine ganze Reihe von Punkten, die geklärt werden müssen. Fangen wir mit dem nächstliegenden an – mit Ihnen.
Der mit dem weißen Bart, Moses also, hat uns gesagt, daß Sie Probleme mit der Energiezufuhr Ihres Raumanzugs hatten und sich nach deren Beseitigung schlafen gelegt haben. Beides will mir nicht so ganz in den Kopf rein.« Der Ingenieur zog den rechten Mundwinkel nach unten. »Wenn Sie mich so direkt fragen, Alan – mir auch nicht.« »Wie?« Jetzt trat Moses an Nilssons Seite. »Mr. Carter, können Sie mich sehen?« erkundigte er sich mit sonorer Stimme. »Ja«, bestätigte der Pilot. »Gut«, sagte Moses. »Es dürfte einfacher sein, wenn ich an Stelle Mr. Nilssons einige Erklärungen gebe. Er weiß bisher kaum mehr als Sie.« »Okay, Moses, schießen Sie los!« Die Stirn des Fremden bewölkte sich. »Schießen, Mr. Carter? Ein solcher Begriff existiert nicht in unserem Sprachschatz. Wir sind eine friedfertige Rasse. Unser Glaube lehrt uns, daß der Schöpfer die zahlreichen Intelligenzwesen des Universums geschaffen hat, damit sie einander lieben und sich in Freundschaft begegnen. Nicht, damit sie auf sich schießen.« Leroy Nilssons gefühlsmäßige Sympathie für die Fremden wuchs. Ihre Gewohnheiten, Sitte und Gebräuche mochten anders sein als die der Menschen von der Erde. Aber wie diese glaubten auch sie an einen Schöpfer. Der gemeinsame Glaube kam ihm wie eine glückliche Fügung vor. Alan Carter zog den Ausdruck mit einer Geste des Bedauerns zurück. »Ist nur so eine Redensart, Moses«, informierte er den Weißbärtigen, »überliefert aus den kriegerischen Zeiten unserer Vergangenheit. Heutzutage sind wir Menschen oder Alphaner ganz auf Frieden eingestellt. Bitte sprechen Sie weiter, Moses.« Der Fremde tat dies.
»Daß Mr. Nilssons Raumanzug ausfiel, war ganz natürlich«, kam er zur Sache. »Wenn wir vorher gewußt hätten, daß seine Lebenserhaltungsenergie von einem Kernspaltungsprozeß abhängig war, wären wir nie auf den Gedanken gekommen, ihn unsere Atmosphärekammer betreten zu lassen.« »Das müssen Sie näher erklären, Moses!« »Die Erklärung ist ganz einfach: An Bord unseres Schiffes sind Kernspaltungsprozesse nicht möglich. Das gilt übrigens nicht nur für unser Schiff, sondern auch für all die anderen, die hier im intergalaktischen Raum gestrandet sind.« Diese Information setzte die Alphaner in höchstes Erstaunen. Insbesondere Nilsson, der ja Fachmann auf dem Gebiet der Reaktortechnik war. »Wie ist das möglich, Moses?« fragte er ungläubig. »Kernenergie wird erzeugt, indem spaltbares Material durch Kettenreaktion zu einem fortschreitenden Zerfall angeregt wird. Die Kettenreaktion wird in Gang gehalten durch Neutronen, die nach Spaltung eines Atomkerns frei werden, mit hoher Geschwindigkeit einen anderen Kern treffen, diesen spalten und dadurch wiederum neue Neutronen freisetzen. Warum sollte dieser Prozeß an Bord Ihres Schiffes nicht möglich sein?« »Weil an Bord unseres Schiffes ein Kraftfeld wirksam ist, das die Geschwindigkeit der Neutronen und anderer Elementarteilchen abstoppt und ihnen damit ihre Wirkung nimmt.« »Von einem solchen Kraftfeld habe ich noch nie etwas gehört«, sagte der Ingenieur. »Wir auch nicht, Mr. Nilsson. Bis wir mit unserem Schiff auf die Nichtop… auf die Wesen der anderen Galaxis stießen, die hier am Rande unserer Milchstraße lauern und mit Hilfe dieses bewußten Kraftfelds jedes Raumschiff daran hindern, weiter in den intergalaktischen Raum vorzustoßen.«
»Wie war das?« schaltete sich Alan Carter ein. »Wesen aus einer anderen Galaxis?« »Aus der Galaxis, die sie in ihrer Sprache den Andromedanebel nennen«, antwortete Moses. »Was sind das für Wesen? Sie sagten da etwas, das sich wie ›Nichtop‹ anhörte.« »Nichtop?« wiederholte der Weißbärtige. »Oh, das war nur ein Versprecher. Tatsächlich kann ich die Wesen aus der anderen Galaxis nicht beschreiben. Sie sind körperlos und verfügen über gewaltige Machtmittel. Zu gewaltig für ein friedliches Forschungsschiff wie das unsrige.« »Hm«, machte der Pilot an Bord des Eagle. »Das heißt also, daß alle Schiffe, die hier auf diesem… Weltraum-Friedhof versammelt sind, keine Energie mehr besitzen und deshalb dazu verurteilt sind, bis zum Ende des Universums hier auszuharren.« Moses nickte stumm. »Eins begreife ich nicht«, sagte Alan Carter. »Sie verfügen doch noch über Energie. Wenn Kernspaltungsprozesse an Bord Ihres Schiffes aber nicht möglich sind…« »Die Energie, über die wir noch verfügen, ist keine Atom-, sondern Sonnenenergie, in Batterien gespeichert. Sie reicht gerade aus, unser Lebenserhaltungssystem aufrechtzuerhalten. Noch! In absehbarer Zeit jedoch wird sie verbraucht sein und dann…« Moses sprach nicht weiter. Die Alphaner verstanden ihn nur zu gut. Die Mondbasis Alpha 1 blickte dem Tod ebenfalls ins Auge, wenn die vorhandenen Tiraniumvorräte aufgebraucht waren. Leroy Nilsson besann sich auf seine Aufgabe. »Moses, habe ich richtig verstanden, daß die Triebwerke Ihres Schiffes von Atomenergie gespeist wurden?« »Ja. Nur das Lebenserhaltungssystem wird durch die gespeicherte Sonnenenergie betrieben.«
»Dann könnten Sie uns vielleicht helfen«, sagte der Ingenieur. »Wir befinden uns nämlich in einer bösen Notlage.« »Wir sind immer bereit, jemandem zu helfen, der in Not ist. Dies schreibt uns der Schöpfer vor«, sagte der Weißbärtige schlicht. Diese einfachen Worte, hinter denen doch so viel menschliche Größe zu stecken schien, bewegten Leroy Nilsson tief. Er kam sich fast wie ein Dieb vor, als er fragte: »Wenn Kernspaltungsprozesse auf ihrem Schiff nicht mehr möglich sind, dann brauchen Sie doch Ihr spaltbares Material nicht mehr, oder doch?« »Nein, das brauchen wir nicht mehr«, bestätigte Moses. »Würden… Würden Sie es uns überlassen? Unsere Basis und unsere Schiffe werden nämlich noch nicht von dem Kraftfeld dieser Andromeda-Wesen gestört.« »Selbstverständlich«, antwortete Moses sofort. »Wir sind gerne bereit, Ihnen unsere Reaktormasse zu überlassen.« Er wandte sich ab und ging zu der Frau und dem Kind hinüber, die sich während des Dialogs mit Eagle Drei ganz im Hintergrund gehalten hatten. Leise sprach der Weißbärtige jetzt mit ihnen, in einer Sprache, die Nilsson nicht verstand. Das Gespräch war nur kurz. Im Anschluß daran trat die Frau auf Nilsson zu. »Mr. Nilsson, würden auch Sie uns eine Bitte erfüllen? Ich möchte ausdrücklich sagen, daß Sie unser spaltbares Material selbstverständlich auch dann bekommen, wenn Sie sie nicht erfüllen.« »Sprechen Sie, Maria«, sagte der Ingenieur. Sie wirkte fast ein bißchen verlegen, die anmutige Frau, als sie sagte: »Wie mein Mann schon andeutete, ist der Tod auf unserem Schiff vorprogrammiert. Wir drei, mein Mann, unser Sohn und ich, wir sind die letzten Überlebenden einer einstmals großen Besatzung. Würden… würden Sie uns mit
auf Ihren Planeten nehmen, Mr. Nilsson? Ich frage nicht so sehr wegen meiner Person und der meines Mannes. Es geht mir vor allen Dingen um unseren Sohn. Er ist noch so jung…« Eine Träne erschien in ihrem Augenwinkel, die den Ingenieur zutiefst rührte. Mit rauher Stimme antwortete er: »Es steht nicht in meiner Macht, darüber zu entscheiden. Aber ich werde mein möglichstes tun, unseren Commander davon zu überzeugen, daß Sie Aufnahme in unserer Basis finden.« »Wir danken Ihnen, Mr. Nilsson«, sagte die Frau leise. Und zum erstenmal verlor der Gesichtsausdruck des Kindes etwas von seiner Schwermütigkeit. * Das Gespräch zwischen der Basis und Eagle Drei war langwierig und zeitraubend. Aber es führte kein Weg daran vorbei – es mußte geführt werden. »Natürlich ist es keine Frage, ob wir noch für zusätzliche drei Personen Platz in der Basis haben«, sagte John Koenig gedankenvoll. »Die zentrale Frage ist, ob wir den drei Fremden unbedingt trauen können.« »Ja«, bestätigte Alan Carter, »das ist die zentrale Frage.« »Ich kann das von hier aus nicht beurteilen, Alan. Du bist der Mann vor Ort.« Der Pilot kratzte sich am Kinn. »Da sind zweifellos einige Merkwürdigkeiten«, sagte er langsam. »Die drei Djuaner, wie sie sich nennen, sind fast zu… sympathisch. Ich finde es auch ungewöhnlich, daß sämtliche Besatzungsmitglieder ihres Schiffs tot sein sollen, diese drei sich aber offenbar allerbester Gesundheit erfreuen. Eine richtige Familie – Vater, Mutter und Kind. Ziemlich komisch, was?« »Sicher, Alan. Aber sind das alle Bedenken, die du vorzubringen hast?« »Das Medusenschiff selbst! Weder vom Äußeren noch vom Inneren her ist es auf Humanoiden normaler Größe
zugeschnitten. Das findet selbst Leroy Nilsson, der sich ansonsten leidenschaftlich für eine Asylgewährung ausspricht. Ich glaube, man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, daß das Schiff einst einer anderen Rasse gehört hat und erst später in den Besitz der Djuaner gekommen ist. Sie behaupten aber, es sei ihr eigenes.« »Das würde also bedeuten, daß sie nicht aufrichtig sind, daß sie lügen!« »Tja«, machte der Pilot und begleitete diesen Ausruf mit einer vagen Handbewegung. »In den anderen Dingen haben sie nachweislich sehr wohl die Wahrheit gesagt. Nilsson hat sich davon überzeugen können, daß Atomspaltungsprozesse an Bord des Schiffes tatsächlich durch eine unbekannte Kraft verhindert werden. Und sie haben freimütig zugegeben, daß sie Nilsson während seiner Bewußtlosigkeit auf Herz und Nieren untersucht haben. Vor allem haben sie ziemlich rigoros seinen Geist angezapft. Darum sind sie auch so perfekt in unserer Sprache.« »Eine derartige Handlungsweise kann man ihnen nicht einmal verdenken«, meinte der Commander. »Auch wir sind für sie fremd. Und es ist nur menschlich, allem Fremden mit einem gesunden Mißtrauen zu begegnen. Sie wollten natürlich ebenfalls wissen, mit wem sie es zu tun haben.« »Ja, so sehen es die Djuaner auch. Vor allem nach dieser verhängnisvollen Konfrontation mit den geheimnisvollen Wesen aus dem Andromedanebel.« »Du glaubst an deren Existenz, Alan? Warum sind wir noch nicht von ihnen angegriffen worden?« »Das weiß ich nicht«, sagte der Pilot achselzuckend. »Aber dieser Weltraumfriedhof spricht wohl für sich.« Eine ganze Weile schwieg der Commander. Dann sagte er: »Das Gebot der Menschlichkeit verlangt praktisch von uns, daß wir sie aufnehmen, nicht?«
Alan Carter nickte langsam. »Ich glaube ja, John. Und außerdem dürften sie sich als sehr nützliche Mitglieder unserer Gemeinschaft erweisen. Sie verfügen über ein beachtliches Wissen. Ihre Methode, einen fremden Geist anzuzapfen, ist unserer telepathischen Computersymbiose weit überlegen. Und last not least, wir wollen auch nicht vergessen, daß sie bereit sind, uns ihr gesamtes Spaltmaterial zur Verfügung zu stellen.« Wenig später gab John Koenig seine Einwilligung, den drei Djuanern Asyl in der Mondbasis zu gewähren. Das spaltbare Material der Djuaner erwies sich als reines Uran 235. Die Fremden setzten es in Form von Brennringen ein, während die Alphaner Brennstäbe gewohnt waren. Dennoch war Leroy Nilsson sehr zufrieden. Es würde einen Haufen Arbeit machen, die Tiranium-Reaktoren des Generatorenzentrums in der Mondbasis umzurüsten. Unüberwindliche Schwierigkeiten waren jedoch nicht zu erwarten, wie er als Spezialist bereits jetzt sagen konnte. Die Vorräte der Djuaner würden ausreichen, die Lebenserwartung der Basis um mindestens sechs Monate zu verlängern. Neue Dankbarkeit für Moses, Maria und den Jungen erfüllten den Ingenieur. Die Djuaner waren ihm behilflich, die Reaktormasse zum Eagle hinüberzutransportieren. Was die persönlichen Dinge anging, die sie mit zum Mond nehmen wollten, waren sie sehr bescheiden und genügsam. Zwei kugelförmige Behälter aus weichem Plastikmaterial beinhalteten alles, was ihnen wert und teuer erschien. Noch etwas aus dem Besitz der Fremden sollte den Flug zum Mond mitmachen. Moses hatte die Mitnahme vorgeschlagen, und die Alphaner waren nur zu gerne bereit, auf das Angebot einzugehen. Sonnenbatterien in verschiedenen Größen…
Nützlich wäre auch die Mitnahme des Stasisgenerators, kurz Stasisator genannt, gewesen. Dieses Gerät sah auf den ersten Blick aus wie eine große Heizsonne. Es wirkte recht unscheinbar, hatte es aber in sich. Nilsson wußte, daß er diesem Gerät sein Leben verdankte. Hätten es die Djuaner nicht sofort eingeschaltet, als er bewußtlos durch die Luftschleuse trieb, wäre sein Gehirn durch akuten Sauerstoffmangel rettungslos zerstört worden. So aber war er durch die zeitweilige völlige Stillegung seiner Lebensfunktionen unbeschadet davongekommen. Leider war der Stasisator stationär eingebaut und mußte deshalb zurückbleiben. Nilsson war der erste, der das Medusenschiff verließ und zum Eagle hinüberschwebte. Sein Anzug, jetzt durch eine von Moses eingebaute Sonnenbatterie mit Energie versorgt, funktionierte bestens. Alan Carter ließ die Djuaner nicht sofort nachkommen. Nilsson erfuhr gleich, warum nicht. Doktor Paice trat auf ihn zu und forderte ihn auf, sich auszuziehen. Der Ingenieur runzelte die Stirn. »Wozu soll das gut sein?« Carter gab die Antwort. »Spezielle Anweisung des Commanders«, sagte er. »Um jedes Risiko auszuschalten, hält er noch so einen Golgatha-Test für angebracht.« Nilsson mußte lachen. »Sie halten mich noch immer für einen Doppelgänger?« »Es geht nur um das Risiko, Leroy.« Achselzuckend fügte sich Nilsson. Er entkleidete sich und ließ sich dann von Paice eingehend untersuchen. Der MediScanner des Arztes glitt über jeden Quadratzentimeter seines Körpers, zeigte jedoch nur ganz normale Werte an. »Sie scheinen wirklich echt zu sein«, lächelte Paice. »Und urgesund dazu.«
Leroy Nilsson nickte dazu nur. Er fühlte sich wieder völlig fit. Die Kopfschmerzen und die Erschöpfung waren längst wieder von ihm gewichen. Anschließend gab Alan Carter den Djuanern grünes Licht. Sie kamen. Nicht in Anzügen, die ihre Körper eng umschlossen, sondern in kugelartigen Gebilden – Kleinstraumschiffen sozusagen. Während Maria, Moses und Tom in der Luftschleuse des Eagle auf den Druckausgleich warteten, führten Alan Carter und Gordon Paice eine kurze Diskussion. Der Pilot sprach sich dafür aus, auch die Djuaner medizinisch untersuchen zu lassen. Der Arzt hielt davon jedoch nicht viel. »Was soll dabei herauskommen, Alan? Selbst wenn sie vom Äußeren her wie Menschen aussehen, ist es wahrscheinlich, daß ihr Metabolismus völlig anders aufgebaut ist. Denken Sie nur an Maya, unsere hübsche Psychonerin. Mein Untersuchungsergebnis würde uns also überhaupt nichts sagen.« »Na, dann nicht«, gab sich Alan Carter geschlagen. Wenig später betraten die drei Djuaner das Passagierabteil von Eagle Drei. »Willkommen in der neuen Heimat«, sagte Leroy Nilsson. »Ich hoffe, Sie werden sich wohl fühlen bei uns.« »Ich glaube schon«, sagte Moses und lächelte.
VI
»Ich kann mir nicht helfen, John, aber ich finde es… unmoralisch.« Dr. Helena Russell blickte mißbilligend auf den Monitor, auf dem eine ausgesprochen häusliche Szene zu sehen war. Drei Menschen, zwei Erwachsene und ein Kind, saßen in einem Privatquartier des Wohnkomplexes C und unterhielten sich. Der Mann trank gelegentlich aus dem vor ihm stehenden Glas, während der Junge mit sichtlich gutem Appetit SynthoErdnüsse in den Mund schob. »Ja, unmoralisch«, wiederholte die Ärztin. »Ich komme mir vor wie eine Wanze!« Der Commander lächelte leicht. »Ein Tierchen, mit dem du wirklich keine Ähnlichkeit hast, meine Liebe.« Das Lächeln wich sofort wieder von seinen Zügen. »Aber im Ernst, Helena…« »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser«, schaltete sich Tony Verdeschi ein. »Dieser Ansicht waren schon alle meine großen Kollegen auf der guten, alten Erde. Dulles, Berija…« »Und Big Brother!« schnaubte Helena. »Tony, du bist ein übler Zyniker.« »Wer war Big Brother?« fragte Maya wißbegierig. Die junge Psychonerin hatte, seit sie auf dem Mond war, alle in der Basis verfügbare Literatur studiert, die es über Leben und Kultur der Erdenmenschen gab. Big Brother war ihr dabei jedoch nicht untergekommen. Helena klärte sie auf: »Bog Brother ist eine Romanfigur. In diesem Roman, der 1984 heißt, tat der Staat genau das, was wir jetzt tun. Er beobachtete seine Bürger auf Schritt und Tritt. Bei
ihrer Arbeit, in ihrer Freizeit, selbst bei… Nun, ich will nicht geschmacklos werden.« »Erstens«, sagte Tony Verdeschi, »sind wir hier kein machthungriger Staat, sondern eine unfreiwillig auf Gedeih und Verderb zusammengeschweißte Notgemeinschaft. Und zweitens beobachten wir nur neue Mitglieder dieser Notgemeinschaft. Und dies nur so lange, bis wir ganz sicher sind, daß wir ihnen hundertprozentig vertrauen können.« »Tony hat recht«, pflichtete der Commander bei. »Aus dem bisherigen Verhalten der Djuaner läßt sich schließen, daß sie unser Vertrauen wahrscheinlich wirklich verdienen. Aber bevor nicht auch der letzte Zweifel ausgeräumt ist, müssen wir leider auch ihre Intimsphäre noch etwas antasten.« Maya blickte erst John Koenig, dann den Sicherheitschef strafend an. »Dann habt ihr also seinerzeit, als ich Mitglied eurer Notgemeinschaft wurde, auch meine Intimsphäre angetastet!« sagte sie mit gespielter Entrüstung. »Nun«, druckste Tony Verdeschi, »bei dir war das etwas anderes. Ich… wir haben natürlich gleich gemerkt, daß auf dich hundertprozentig Verlaß ist. Deine Beobachtung konnte sehr schnell eingestellt werden.« »Das sagte er nur, weil er in dich verliebt ist«, widersprach Helena. »Glaub ihm kein Wort. Tatsächlich bist natürlich auch du eine ganze Weile kontrolliert worden.« Maya drohte dem Sicherheitschef mit dem Finger. »Wenn ich das gewußt hätte, Tony, dann wärst du bei mir völlig chancenlos gewesen. Ja, ich glaube, ich werde sogar vielleicht noch nachträglich gewisse Konsequenzen ziehen.« Das lustige Funkeln in ihren Augen verriet jedoch deutlich, daß Tony Verdeschi kein größerer Liebeskummer bevorstand. Zudem wußte jedermann nur allzugut, daß sie die Gefühle des Sicherheitschefs in vollem Umfang erwiderte.
Die vier widmeten ihre Aufmerksamkeit wieder dem Monitor. Die Djuaner unterhielten sich nach wie vor. Wie immer, wenn sie unter sich waren, unerhört gestenreich. Ihre Hände bewegten sich wie die Stöcke eines Schlagzeugs, und auch Kopf und Füße hatten ihren Anteil. Verstehen konnten die Alphaner nichts. Zwar hörten sie die Worte, aber der Inhalt blieb ihnen verborgen. Auch der Zentralcomputer der Mondbasis konnte mit der Sprache der Djuaner nichts anfangen. Mehrere Unterhaltungen von Moses, Maria und Tom waren aufgezeichnet und anschließend dem Elektronengehirn zwecks Auswertung eingegeben worden. Dieses aber hatte in den djuanischen Lauten keinen systematischen Aufbau, keine festen Regeln, ja nicht einmal die jeder Sprache an sich immanenten Wortwiederholungen erkennen können. Kurz darauf wandten sich der Commander, die Ärztin und Maya vom Monitor ab, um sich ihren eigenen Aufgaben und Pflichten zu widmen. Tony Verdeschi blieb vor dem Schirm sitzen. Als Sicherheitschef war er für die Überwachung der Djuaner verantwortlich. Er seufzte. Wenn ihn nicht alles täuschte, lagen wieder einige höchst langweilige Stunden vor ihm. Er wußte so manches, was er lieber getan hätte. »Warum unternehmen wir nicht endlich etwas?« pulsierte Zwei-dju übellaunig. »Wann sehen wir diese Nichtopfer endlich als Opfer an? Lange halte ich es in dieser widerwärtigen Alphanergestalt nicht mehr aus!« »Beherrsche dich!« pulsierte Vier-dju zurück. »Wir sind noch nicht so weit, unsere Tarnung aufgeben zu können.« »Dlo, dlo!« pulsierte Zwei-dju böse. Vier-Dju hatte Verständnis für seinen Abkömmling. Auch ihm fiel es zusehends schwerer, unablässig den Körper eines
Alphaners formen zu müssen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich endlich einmal wieder richtig auszuwalzen. Ah, mußte das schön sein! Die Alphanergestalt war denkbar unvorteilhaft. Die größte Schwierigkeit bereitete das Pulsieren. Er war es gewohnt, dies mit dem ganzen Körper zu tun. Jetzt aber mußte er sich darauf beschränken, weitgehend nur mit jener Körperpartie zu pulsieren, die die sogenannten Hände formte. Das war sehr anstrengend und wurde obendrein noch durch den ständigen Zwang kompliziert, jedes Pulsieren mit sinnlosen Tönen zu begleiten. Diese Töne mußten jedoch sein, denn Humanoiden pflegten sich nun einmal durch akustische Signale zu verständigen. Eine sehr primitive Methode der Gedankenübermittlung, fand Vier-dju. Die Körpersprache war viel ausdrucksstärker und nuancenreicher als das sogenannte Sprechen, das nachzuahmen eine höchst simple Angelegenheit war. Dumm war nur, daß man die Neigung hatte, es immer wieder zu vergessen. »Wann hältst du den Zeitpunkt für gekommen, an dem wir losschlagen können?« wollte Drei-dju wissen. Vier-dju mußte seine Frage mehr erraten, als daß er sie sehen konnte. Sein ältester Abkömmling hatte hauptsächlich mit dem sogenannten Arm pulsiert. Und der war kaum zu sehen, da er weitgehend von der so überaus lästigen Kleidung verdeckt wurde, ohne die die Alphaner aus absurden Gründen nicht auszukommen glaubten. »Pulsiere deutlicher«, forderte er Drei-dju auf. Sein Abkömmling wiederholte die Frage. Vier-dju antwortete: »Wir können erst losschlagen, wenn wir alles über diese Basis wissen. Wir müssen wissen, wie viele Alphaner es gibt, wie sie organisiert sind, wie die Befehlsgewalten verteilt sind. Wir müssen über die technischen Anlagen Bescheid wissen, über die Waffen, über
das Lebenserhaltungssystem. Und wir müssen darüber informiert sein, wo alles untergebracht ist. Der ganze Basiskomplex ist sehr ausgedehnt, und wir haben bisher nur sehr wenig davon gesehen. Man mißtraut uns noch, zeigt uns nichts von Bedeutung.« »Und man schränkt unsere Bewegungsfreiheit ein!« pulsierte Zwei-dju dazwischen. »Darüber kannst du dich noch am wenigsten beklagen, Zweidju. Du giltst als Kind und damit in jedem Fall als völlig harmlos. Du kannst dich in weiten Teilen der Basis frei bewegen und wirst dabei nicht einmal überwacht.« Vier-dju griff nach dem Glas auf dem kleinen Tisch vor ihm und setzte es an den sogenannten Mund. Auch dieses lächerliche Essen und Trinken gehörte zu den lästigen Dingen, die man vortäuschen mußte. Schwierigkeiten, das synthetische Zeug aufzulösen, hatten sie allerdings nicht. Aber natürlich konnten sie von dieser toten Nahrung nicht existieren. Nahrung mußte leben, sonst war sie wertlos. Wenn sie ihre Kulturen nicht mitgebracht hätten, wären sie jetzt übel drangewesen. »Nimm etwas von diesem Krümelzeug da«, wies er Zwei-dju an. »Man erwartet von Kindern, daß sie fortwährend naschen.« »Der Dreck beleidigt meinen Metabolismus«, beschwerte sich Zwei-dju. »Nimm etwas!« pulsierte Vier-dju wütend. »Du weißt, daß wir akustisch und optisch überwacht werden. Und wir wollen alles vermeiden, um unsere Beobachter noch mißtrauischer zu machen, als sie schon sind.« Schwach vor sich hin pulsierend, griff Zwei-dju nach den Synthonüssen, die bei den Alphanern als Delikatesse galten, seinen Körper aber zum Wabern brachten. Zum Glück war das unter dem Overall, den er trug, nicht zu erkennen.
»Mein Metabolismus verlangt danach, etwas ganz anderes aufzulösen«, pulsierte er gierig. »Und wenn ich nicht bald Gelegenheit dazu bekomme…« »Du wirst dich zusammennehmen, Zwei-dju!« »Wann?« pulsierte Drei-dju fragend. »Wann fangen wir an, Besitz von der Station zu ergreifen?« »Wenn wir über alles Bescheid wissen.« »Und wann wird das sein?« blieb Drei-dju beharrlich. »Es kann noch lange dauern, bis sich das Mißtrauen der Alphaner endlich legt.« Vier-dju wußte, daß sein ältester Abkömmling recht hatte. Warten – das war keine Lösung auf Dauer. Sie mußten von sich aus etwas tun, mußten selbst die Initiative ergreifen. Zu dumm, daß die Zeitspanne, in der sie dieses Nichtopfer Leroy Nilsson angezapft hatten, nur so knapp bemessen gewesen war. Aus seinem Geist wäre sicherlich noch viel mehr herauszuholen gewesen. Lauter Kenntnisse, die sie jetzt brennend interessierten. Andererseits jedoch… Es bestand kein Zweifel, daß Nilsson nicht zur Führungsspitze der Alphaner gehörte. Ganz sicher verfügte er ohnehin nicht über das umfassende Wissen, um das es Vier-dju ging. Man müßte einen der Alphaner aus der Führungsspitze anzapfen, überlegte er. Einen, der in der Hierarchie der Basis möglichst hoch stand. Vier-dju dachte scharf nach, vergegenwärtigte sich einige der Schlüsselpersonen. Jameson, das Nichtopfer, dem die Waffenabteilung unterstand? Tony Verdeschi, das Nichtopfer, das für die Sicherheit der Basis verantwortlich war? John Koenig, der Kommandant?
Ja, warum nicht? Warum nicht das Nichtopfer ganz oben an der Spitze? »Ich habe die Lösung!« pulsierte er heftig. »Ich weiß jetzt, wie wir uns all die Informationen beschaffen werden, die wir benötigen.« Seine Abkömmlinge waren ganz gespannte Aufmerksamkeit. »Ich werde John Koenig anzapfen und seinem Geist alle Informationen entziehen!« pulsierte er entschlossen. Drei-dju zeigte sich ungläubig, wies auf die ständige Überwachung hin, die sie über sich ergehen lassen mußten. »Ja«, pulsierte Vier-dju, »es ist richtig, daß wir überwacht werden. Hier in unserem Quartier sind jederzeit akustische und optische Beobachtungsgeräte auf uns gerichtet. In Räumen, zu denen wir freien Zutritt haben, dürfte es genauso sein. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sich auch im Privatquartier des Commanders Überwachungsinstrumente befinden. Wenn ich dem Commander einen Privatbesuch abstatte…« Dieser Gedankengang leuchtete seinen Abkömmlingen ein. Es war fast eine Art Begeisterung, die sie erfaßte. Zwei-dju war sogar bereit, freiwillig eine Synthonuß aufzulösen.
VII
John Koenig machte sich große Sorgen. Während der Mond weiter in den intergalaktischen Raum hinausraste, kamen von den Ortungsinstrumenten immer mehr Meldungen über neu entdeckte Raumschiffe, die bewegungslos im All hingen. Der kosmische Friedhof wurde ständig größer. Hunderte von Wracks waren bisher schon geortet worden. Aber es gab kaum einen Zweifel, daß ihre Zahl tatsächlich noch viel höher war. Die Infrarot-Sensoren konnten schließlich nur jene Schiffe sichtbar machen, die noch Wärme abstrahlten, die also vor absehbarer Zeit noch funktionstüchtig gewesen waren. Wracks jedoch, die schon so lange hier hingen, daß ihre Temperatur den absoluten Nullpunkt erreicht hatte, konnten gar nicht mehr auf den Bildschirm gebannt werden. Wesen aus dem Andromeda-Nebel sollten für das große Schiffssterben verantwortlich sein? Der Commander konnte es einfach nicht glauben. »Kann mir jemand sagen, wie Bewohner der AndromedaGalaxis hier hingekommen sein sollen?« fragte er. »Zwei Millionen Lichtjahre! Es würde Äonen dauern, die mit einem Raumschiff zurückzulegen.« Tony Verdeschi zuckte die Achseln. »Fest steht, daß irgend jemand all diese Schiffe gestoppt haben muß. Und wenn unsere Djuaner sagen, es seien Wesen aus dem AndromedaNebel gewesen… Was hätten sie davon, uns ein Märchen zu erzählen?« »Aber warum, verdammt noch mal? Welches Interesse sollten Andromedaner daran haben, zwei Millionen Lichtjahre
von ihrer Galaxis entfernt einen Schiffsfriedhof einzurichten? Das ist mir ein absolutes Rätsel!« »Das Andromeda-Rätsel!« sagte Alan Carter. »Wer es löst, darf weiterfliegen.« Es sollte ein Scherz sein, aber niemand lachte. In Tony Verdeschis Gesicht trat ein grüblerischer Ausdruck. Er strich sich eine seiner schwarzen Locken aus der Stirn, als hindere ihn diese beim Nachdenken. »Es gibt noch ein weiteres Rätsel«, sagte er gedankenvoll. »Wo wollten alle diese Schiffe hin? Zum Andromeda-Nebel doch wohl kaum. Denn den würden nicht einmal die Ururenkel einer Schiffsbesatzung aus der Nähe zu sehen kriegen, selbst wenn die Rasse noch so langlebig ist.« »Forschungsschiffe, die wie die Djuaner die Dichte von Wasserstoffatomen im intergalaktischen Raum messen wollen«, stellte Alan Carter zur Debatte. »Schiffe, die sich vor irgend etwas auf der Flucht befinden. Dann solche wie wir – Schiffe, die außer Kontrolle geraten sind.« John Koenig runzelte zweifelnd die Stirn. »So viele, Alan?« »Na ja…« Der Pilot wußte selbst, daß seine Theorien ziemlich weit hergeholt waren. »Noch ein drittes Rätsel«, sagte Maya, die sich bisher an den Spekulationen nicht beteiligt hatte. »Und das wäre?« »Warum haben die sagenhaften Andromedaner bisher weder den Mond noch Eagle Drei belästigt?« »In der Tat«, erwiderte der Commander. »Nur stelle ich mir weniger die Frage, warum wir noch nicht angegriffen worden sind. Viel drängender ist die Frage, ob wir noch angegriffen werden!« Alan Carter verzog unangenehm berührt das Gesicht. »Mal die neunundneunzig Raumteufel nicht an die Wand, John! Wenn in unseren Reaktoren keine Kernspaltungsprozesse mehr
stattfinden, dann sind wir sofort erledigt. Leider können wir nicht auf stille Reserven wie Sonnenbatterien oder etwas ähnliches zurückgreifen.« »Eben«, sagte der Commander, »deshalb mache ich mir so große Sorgen. Wenn uns die Andromedaner mit ihrem unseligen Störfeld beglücken…« Seine Worte waren wie ein auslösendes Signal. »Commander!« gellte plötzlich Sandra Benes’ Stimme durch die Kommandozentrale. John Koenig fuhr in seinem Sessel herum, blickte die Technikerin an, die mit weit aufgerissenen Augen ihren Monitor anstarrte. Entsetzen und nackte Angst prägten ihre Züge. Sandra Benes war normalerweise kein Mädchen, das so leicht die Nerven verlor. Wenn sie von Panik erfaßt wurde, mußte ein guter Grund vorliegen. »Was ist los, Sandra?« fragte Koenig bemüht ruhig. Mit einem schrillen Unterton in der Stimme sagte die schwarzhaarige junge Frau: »Meine Kontrollen zeigen an, daß der Mond langsam, aber sicher an Geschwindigkeit verliert!« Sekundenlang herrschte Totenstille in der Zentrale. Dann brach Alan Carter das Schweigen und sprach das aus, was alle dachten, aber noch nicht wahrhaben wollten. »Die Andromedaner greifen an!«
John Koenig hieb auf den Knopf der Kommunikationskonsole, der eine sofortige Verbindung mit dem Generatorenzentrum herstellte. Leroy Nilssons Gesicht erschien auf dem Monitor. »Commander?« »Leroy, haben Sie nichts zu melden?«
Die ruhige, entspannte Miene des Ingenieurs überzog sich mit leichter Verwunderung, als er die laute, drängende Stimme Koenigs hörte. »Melden, Sir?« »Was ist mit den Reaktoren?« »Ach, das meinen Sie. Nun, wir haben alle Vorbereitungen getroffen, zum gegebenen Zeitpunkt auf Uranbasis umstellen zu können. Die Brennringe der Djuaner…« »Das meine ich nicht«, unterbrach Koenig. »Kein Ausfall? Keine Störung?« »Nicht, daß uns bisher etwas aufgefallen ist.« »Überprüfen Sie das noch einmal.« »Commander, ich versichere Ihnen…« »Tun Sie es. Jetzt!« »Okay, Commander.« »Ich warte!« Die Mattscheibe wurde leer, als sich der Ingenieur entfernte. Der Commander hörte, wie er sich im Hintergrund mit Kollegen unterhielt. Wenig später war Nilsson wieder auf dem Monitor. »Reaktorbetrieb völlig normal«, meldete er. John Koenig stieß hörbar die Luft aus. »Gut, Leroy. Bei der geringsten Störung… Sie benachrichtigen mich sofort, verstanden, Leroy?« »Verstanden.« Der Commander schaltete ab, wandte sich dann sofort an Sandra Benes. »Wie sieht es mit der Geschwindigkeit des Mondes aus?« »Fällt weiterhin ab. Die Abnahmerate ist nur geringfügig. Pro Minute steht das Komma noch zwischen mehreren Nullen. Die Kurve verläuft jedoch gleichmäßig nach unten.« Sandra Benes sagte es mit einer Stimme, die wieder einigermaßen gefaßt klang. Die Nachricht aus dem
Generatorenzentrum, daß die Reaktoren noch störungsfrei arbeiteten, hatte ihre Panik gezügelt. Bei den übrigen Besatzungsmitgliedern in der Zentrale war es nicht anders. John Koenig wollte es genau wissen. Er gab Anweisung, auch sämtliche anderen Energiequellen in der Mondstation, die ausnahmslos auf Tiranium-Basis arbeiteten, durchzuchecken. Nach und nach liefen die Meldungen ein: keine Störungen. Dann jedoch, als sich die Erleichterung bereits spürbar überall in der Zentrale ausgebreitet hatte, kam die schockierende Nachricht. Sie kam aus der technischen Abteilung, die für die Wartung der Eagles verantwortlich war. Die Kernreaktoren aller Raumschiffe waren inaktiv geworden! Die Alphaner würden von nun an nicht mehr in der Lage sein, den Mond zu verlassen.
Auch Vier-dju und seine Abkömmlinge hatten Commlocks bekommen, jene elektronischen Universalgeräte, die unter anderem auch der direkten Kommunikation zwischen den einzelnen Alphanern dienten. Vier-dju setzte sich mit Commander Koenig in Verbindung, erreichte ihn auch sofort. Das Gesicht des höchsten Nichtopfers der Basis schimmerte auf dem kleinen Sichtbildschirm des Commlocks. »Oh, Moses«, grüßte Koenig. Vier-dju ahmte mit der Körperpartie, aus der er den sogenannten Mund geformt hatte, die Sprache der Nichtopfer nach. »Commander, ich hätte sie gerne einmal gesprochen.«
Koenig nickte. »Das trifft sich gut, Moses. Ich hatte sowieso vor, mich mit Ihnen zu unterhalten. Kommen Sie doch einfach in die Kommandozentrale. Sie kennen den Weg?« Vier-dju war bereits in der Zentrale gewesen. Ein neuerlicher Besuch konnte ihm keine neuen Kenntnisse vermitteln. Außerdem würde sich sein Plan nur dann in die Tat umsetzen lassen, wenn er mit dem höchsten Nichtopfer allein war. »Ich hätte Sie gern allein gesprochen, Commander. Unter vier Augen, wie Sie sagen.« Sie hatten ja nur zwei Augen, diese mißgestalteten Wesen, während er und die Seinen optische Eindrücke mit allen Körperpartien aufnehmen konnten. Das galt auch für die akustische Wahrnehmung. Das Nichtopfer überlegte kurz, nickte dann. »Gut, Moses, kommen Sie in mein Privatquartier. Sagen wir in… einer Stunde?« »Ich danke Ihnen, Commander.« Vier-dju legte das Commlock zur Seite. »Er ist darauf reingefallen, der große Führer der Alphaner«, pulsierte er seinen Abkömmlingen zu. »Bald werden wir alles wissen, was wir wissen wollen. Ich werde jede einzelne seiner Gehirnwindungen anzapfen!« Drei-dju und Zwei-dju zeigten sich mit ihrem Abspalter sehr zufrieden. Bevor Vier-dju nach Ablauf der vereinbarten Zeit das Quartier verließ, verspürte er das Bedürfnis, seinen Metabolismus etwas zu stärken. Er öffnete den mitgebrachten Kulturenbehälter, steckte die sogenannte Hand hinein und löste ein Gligli auf. Er waberte innerlich bei der Vorstellung, was die Nichtopfer tun würden, wenn sie sehen könnten, was er da tat. Aber die Gefahr bestand nicht. Die Beobachtungskamera konnte schließlich nicht durch die Wandung des Behälters blicken.
Was er sonst noch für seinen Besuch bei Koenig benötigte, hatte er bereits in einer Tasche des Overalls verborgen. In dieser Hinsicht waren die lästigen Kleiderfetzen ganz praktisch. Vier-dju ging und stand kurz darauf vor der Tür von Koenigs Privatquartier. Normalerweise konnten Türen in der Basis durch ein Funksignal des Commlocks geöffnet werden – wenn der entsprechende Code einprogrammiert war. Aber nur wenige Commlocks waren mit dem Code des höchsten Nichtopfers ausgestattet. Vier-djus gehörte natürlich nicht dazu. Er mußte einen Signalknopf drücken, wie es Sitte war in der Mondstation. Der Commander ließ die Tür von innen aufgleiten, und Vierdju trat ein. Hinter ihm schloß sich die Tür wieder. »Ah, Moses…« Das Nichtopfer kam ihm entgegen und bot ihm einen Sessel an. Vier-dju setzte sich, obgleich ihm die dabei unabdingbare verkrümmte Körperhaltung mit fortschreitender Dauer immer mehr zu schaffen machte. Sich noch einmal richtig auswalzen zu können, danach stand ihm der Sinn. »Was führt Sie zu mir, Moses?« fragte der Commander, der mittlerweile in einem gegenüberstehenden Sessel ebenfalls Platz genommen hatte. Mit seinen Scheinaugen blickte Vier-dju das Nichtopfer an. Gleichzeitig tastete er mit seinen zahllosen wirklichen Sehzellen den ganzen Raum ab. Eine geheime Kamera oder ein verstecktes Mikrofon konnte er nirgendwo entdecken. Aber er wollte trotzdem ganz sichergehen. »Commander«, sagte er mit seinem sogenannten Mund, »das Problem, das ich habe, ist ein bißchen heikel.« Koenig zauberte etwas auf sein Gesicht, was die Alphaner Lächeln nannten und das nachzuahmen Vier-dju immer etwas schwerfiel.
»Sprechen Sie, Moses.« Vier-dju zögerte bewußt. »Es geht um eine religiöse Angelegenheit, Sir. Verstehen Sie mich recht… aber ich möchte nicht, daß außer Ihnen jemand etwas davon erfährt.« »Keine Sorge, Moses. Was man mir anvertraut, behalte ich auch für mich.« »Das glaube ich gerne, Sir. Nur…« »Ja, Moses?« »Es ist wegen… wegen des Mikrophons und der Kamera. In unserem Quartier… Ich meine, ich verstehe ja, daß Sie uns Fremden mißtrauen und Auge und Ohr auf uns halten, aber…« Mit seinem stockenden Vortrag war Vier-dju sehr zufrieden. Erwartungsgemäß erzielte er damit auch Wirkung bei seinem Gegenüber. Fast bestürzt fragte das Nichtopfer: »Sie haben etwas von unserer… äh… Kontrolle gemerkt?« »Es ließ sich nicht vermeiden, Sir. Wir Djuaner haben sehr scharfe Augen. Nicht daß wir Ihnen die Kontrolle unserer Personen übelnehmen. Nur jetzt, wie gesagt…« »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken«, sagte der Commander schnell. »In meinem Quartier gibt es keine versteckten Kameras und Mikrophone. Wir sind ganz unter uns.« Nichts, was Vier-dju lieber vernommen hätte. Jetzt konnte er beruhigt darangehen, seine Absichten zu verwirklichen. Wie nebenbei ließ er seine rechte Scheinhand in einer der Overalltaschen gleiten. »Das beruhigt mich, Commander. Wie ich schon andeutete, geht es um ein religiöses Problem. Wir Djuaner sind sehr gläubige Lebewesen. Wir sind es gewohnt, unserem Schöpfer an jedem Tag in einer Zeremonie für unsere Existenz zu danken. Und nun ist es so, daß wir hier bei Ihnen keine Gelegenheit finden, die Zeremonie zu vollziehen.«
Das Nichtopfer antwortete: »Aber Moses, niemand hindert…« Weiter ließ ihn Vier-dju nicht kommen. Seine Scheinfinger betätigten den Auslöser des kleinen Stasisators, den er in der Overalltasche verborgen hielt. Augenblicklich baute sich das Stasisfeld um John Koenig auf. Das Nichtopfer erstarrte, blieb völlig unbeweglich, mit halb erhobener Hand und geöffnetem Mund, im Sessel sitzen. Jeder biologische Prozeß in seinem Körper war gestoppt. Das Blut floß nicht mehr durch die Adern, die Atemtätigkeit hatte ausgesetzt, das Herz stand still. Vor Zufriedenheit fluktuierte Vier-dju so stark, daß die Nähte des Overalls krachten. Er stand aus dem Sessel auf und trat auf das Nichtopfer zu. Ganz kurz spürte er das Verlangen, Koenig zum Opfer zu machen, ihn genüßlich aufzulösen. Aber er hatte doch keine Mühe, seine Instinkte zu bändigen. Noch war der Zeitpunkt nicht gekommen. Vier-dju ließ aus seinem sogenannten Gesicht ein Pseudopod herauswachsen. Züngelnd bewegte es sich auf die Stirn des Nichtopfers zu. Aus der Spitze des Pseudopods traten mehrere haarfeine Fühler hervor. Wie Nadeln bohrten sich die Fühler in die Schläfe John Koenigs, wuchsen, tasteten sich durch den Schädelknochen, breiteten sich aus, fraßen sich im Gehirn fest. Der Bewußtseinsinhalt John Koenigs wurde zum offenen Buch, in denen der Djuaner lesen konnte. Unbeweglich, fast so, als sei er ebenfalls von einem Stasisfeld umgeben, stand Vier-dju da und nahm voll konzentriert alles in sich auf, was der Geist des Nichtopfers zu bieten hatte. Minuten vergingen… Vier-dju war so in sein Tun vertieft, daß er das Piepen von Koenigs Commlock fast nicht mitbekommen hätte. Als er dann doch aufmerksam wurde, zog er gedankenschnell die Fühler
zurück und ließ sich unverzüglich wieder in seinem Sessel nieder. Danach ließ er das Stasisfeld zusammenbrechen. »… Sie daran, Ihre Zeremonie so oft zu vollziehen, wie es Ihnen beliebt«, setzte der Commander seinen vorhin angefangenen Satz fort, ganz so, als habe es niemals eine Unterbrechung gegeben. Er bemerkte das Piepen seines Commlocks. »Entschuldigen Sie einen Augenblick, Moses«, sagte er und drückte den Sprechkopf des Commlocks. Eine Technikerin aus der Kommandozentrale wollte ihn sprechen. »Commander, die Geschwindigkeit des Mondes ist weiter…« Koenig schnitt dem Nichtopfer das Wort ab. »Nicht jetzt, Sandra! Ich befinde mich in einer Besprechung. Stören Sie mich in der nächsten Stunde nur, wenn Dinge von größter Wichtigkeit anstehen, verstanden?« Er schaltete das Commlock aus und wandte sich wieder seinem Besucher zu. »Geschwindigkeit des Mondes?« griff Vier-dju die Worte der Technikerin auf. »Stimmt etwas damit nicht?« Der Commander lachte. »Ach, was! Eine reine Routinemeldung. Entschuldigen Sie nochmals, Moses. Wovon spra…« Vier-dju hatte schon wieder den Stasisgenerator aktiviert. Wie zuvor wurde das Nichtopfer von lebloser Starre befallen. Unverzüglich streckte Vier-dju wieder seine Fühler aus. Information auf Information saugte er aus dem Bewußtsein des höchsten Alphaners. Bald schon wußte er über die Basis, ihre Einrichtungen und ihre Menschen fast so gut Bescheid wie der Commander selbst. Und er war informiert über den Angriff der Andromedaner.
Schon begann ein Plan in ihm zu reifen, wie sich das erworbene Wissen am nutzbringendsten verwenden ließ, um die Station voll unter Kontrolle zu bekommen. Vier-dju dehnte das Abzapfen des Nichtopfers nicht zu lange aus. Wenn der Commander merkte, wieviel Zeit vergangen war, konnte er mißtrauisch werden. Außerdem würde er unerträgliche Kopfschmerzen bekommen, wenn die Fühler noch länger in seinem Gehirn herumwühlten. Diesen Überlegungen folgend, zog sich Vier-dju bald aus dem Bewußtsein des Nichtopfers zurück und hob das Stasisfeld wieder auf. »… chen wir doch gerade?« fragte der wieder belebte Koenig. »Ach ja, von Ihrer religiösen Zeremonie natürlich. Schildern Sie mir Ihr Problem, Moses.« Vier-dju erzählte ihm irgendeinen Bjobjo über Abgekapseltsein in sich selbst, über Alleinsein mit dem Schöpfer und ähnliche Einsamkeitswünsche mehr. Letzten Endes lief das Ganze darauf heraus, daß die Djuaner ihre Zeremonie nur vollziehen konnten, wenn Sie dabei nicht von neugierigen Alphaneraugen unter Beobachtung gehalten wurden. Koenig zeigte volles Verständnis und versprach, die Überwachung einzuschränken und bald ganz einzustellen. Inwieweit ihm allerdings tatsächlich zu trauen war, konnte Vier-dju nicht so ganz beurteilen. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß er hier zwei Gliglis mit einem Pseudopod geschnappt hatte. Er hatte dem Commander einen guten Grund für seinen Besuch genannt. Und er und die Seinen konnten hoffen, bald wieder einen Gligli langsam und genußvoll auflösen zu können, ohne befürchten zu müssen, dabei beobachtet zu werden.
Vier-dju hatte sein Ziel erreicht und schickte sich an, aus dem Sessel aufzustehen, um zu gehen. Aber das Nichtopfer hielt ihn zurück. »Warten Sie, Moses, ich hätte da auch noch etwas, was ich gerne mit Ihnen besprechen würde.« Mit seinen Scheinaugen blickte Vier-dju den Commander erwartungsvoll an. »Ich stehe voll zu Ihrer Verfügung, Sir.« Koenig nickte. »Sehr schön, Moses. Ich wüßte gerne etwas mehr über diese Wesen aus der Andromeda-Galaxis, die Ihr Schiff lahmgelegt haben.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht viel sagen, Commander«, erwiderte Vier-dju. »Die Wesen aus der anderen Galaxis haben unser Raumschiff auf Null-Geschwindigkeit herabgebremst und dann dieses rätselhafte Störfeld in unserem Schiff wirksam werden lassen.« »Warum? Haben Ihnen die Andromedaner keinen Grund genannt?« Vier-dju schüttelte seinen Scheinkopf. »Wir haben niemals persönlichen Kontakt mit den Wesen aus der anderen Galaxis gehabt.« »Was? Woher wissen Sie dann überhaupt, daß es Andromedaner waren, die Sie gestoppt haben?« »Das wissen wir nur von Leidensgenossen«, sagte Vier-dju. »Wir hatten Funkkontakt, ganz kurz nur, mit einem anderen Raumschiff, das ebenfalls zur Bewegungslosigkeit verdammt wurde. Woher die Besatzung dieses Raumschiffs ihre Informationen über die Wesen aus der anderen Galaxis bezogen hat…« Vier-dju zuckte mit den sogenannten Achseln. Das Nichtopfer war sichtlich enttäuscht, als es sagte: »Ich danke Ihnen, Moses.« »Ich habe zu danken«, erwiderte Vier-dju. Dann ging er.
VIII
Kaum hatte sein Abspalter das Quartier verlassen, um das oberste Nichtopfer aufzusuchen, wurde auch Zwei-dju von Aufbruchsstimmung gepackt. »Wohin willst du?« pulsierte Drei-dju. »Ich tue das, was die Alphaner von einem sogenannten kleinen Jungen erwarten. Ich besuche Leute und stelle neugierige Fragen.« »Sei vorsichtig«, belehrte ihn Drei-dju. »Wir dürfen keine Fehler machen.« »Bin ich ein Dju?« pulsierte Zwei-dju zurück. Wenig später schlüpfte er durch die Tür hinaus in den Korridor. Vorsichtig sein? Ja, er würde vorsichtig sein. Aber trotzdem würde er jetzt genau das tun, wonach sein Körper schon seit schieren Ewigkeiten lechzte. Er würde ein Nichtopfer als Opfer ansehen und… Er mußte sich beherrschen, nicht zu heftig zu fluktuieren. Zu offen gezeigte Vorfreude konnte alles verderben. Überwachungskameras gab es in allen Korridoren. Nicht jedoch in dem Quartier, das er jetzt aufsuchen wollte. Er war schon mehrmals bei diesem bisherigen Nichtopfer gewesen und hatte sich den Raum ganz genau angesehen. Und falls ihm doch eine Kamera oder ein Mikrophon entgangen sein sollte – sein Abspalter hatte recht gehabt, als er sagte, daß man ihn, Zwei-dju, als harmlos einstufte und der Überwachung nicht für wert hielt. Diese Dummköpfe würden sich wundern! Zwei-dju beschleunigte den Schritt seiner sogenannten Beine. Er mußte sich beeilen, mußte wieder zurück im Quartier sein,
bevor sein Abspalter wiederkam. Vier-dju mit seiner übertriebenen Vorsicht brachte es fertig, ihm im letzten Augenblick noch dazwischenzufunken. Das Quartier, auf das er es abgesehen hatte, lag ebenfalls im Wohnkomplex C, nicht weit von seinem eigenen entfernt. Zwei-dju bog in den Korridor ein, wo es untergebracht war. Seine Sehzellen umfaßten sofort die drehbare Kamera, die diesen Sektor ständig unter Kontrolle hielt. Er hatte Glück. Das Kameraauge zeigte gerade in die entgegengesetzte Richtung und hatte ihn noch nicht erfaßt. Und dabei sollte es auch bleiben! Zwei-dju eilte unter die Kamera, ließ seinen Scheinarm die doppelte Länge annehmen und zerschmetterte mit einem harten Schlag die Linse. Glassplitter rieselten auf ihn hinab, aber das kümmerte ihn nicht weiter. Er schnappte sie und löste sie sofort auf. Sein Metabolismus wurde dadurch kaum mehr angeekelt als durch die widerwärtigen Synthonüsse. Natürlich würde man bald den Ausfall der Kamera registrieren. Aber bis dahin war er längst am Ziel. Augenblicke später stand er vor der Tür des Quartiers. Das bisherige Nichtopfer traute ihm ohne jede Einschränkung, hatte ihm sogar den Code seines Türschlosses gegeben. Ein wohlerzogener Knabe wie Tom drang nicht einfach in das Privatquartier einer jungen Frau ein. Er klopfte höflich an. Und genau das tat Zwei-dju dann auch.
Verständnislos blickte Sandra Benes hoch. »Es… es hat ihn nicht einmal interessiert«, sagte sie. »Er will nur gestört werden, wenn Dinge von größter Wichtigkeit anstehen. Als ob es nicht von größter Wichtigkeit wäre, daß die Abnahmerate der Mondgeschwindigkeit um mehr als hundert Prozent größer geworden ist.«
Tony Verdeschi war erst jetzt aufmerksam geworden. »Sie wollten dem Commander von der Verlangsamung Kenntnis geben? Jetzt gerade in seinem Privatquartier?« »Ja.« »Oh, verdammt, Sandra!« »Ich verstehe nicht, Tony. Er muß doch wissen…« »Natürlich muß er das wissen«, unterbrach sie der Sicherheitschef. »Aber nicht gerade zu dem Zeitpunkt, in dem er sich mit Moses unterhält. Der Commander will nicht, daß die Djuaner etwas von der Verlangsamung des Mondes und dem Ausfall der Eagle-Reaktoren erfahren. Wir kennen die Psyche der Djuaner zu wenig. Wer weiß, vielleicht geraten sie in Panik und tun irgendwelche unüberlegten Dinge, wenn Ihnen klar wird, daß auch ihre neue Heimat von den Andromedanern bedroht wird.« Sandra Benes machte ein betretenes Gesicht. »Tut mir leid, Tony«, sagte sie, »das habe ich nicht gewußt.« »Konnten Sie auch nicht, Sandra. Als der Commander Anweisung gab, die Djuaner nicht zu unterrichten, saß Elkie Altmann auf Ihrem Platz. Sie hatten gerade schichtfrei. Na ja, John wird das Thema Moses gegenüber schon herunterspielen. Machen Sie sich keine Gedanken, Sandra.« »Ich mache mir aber Gedanken«, antwortete die Technikerin. »Vor allem über die Tatsache, daß der Mond in absehbarer Zeit zum Stillstand kommen wird.« Tony Verdeschi seufzte tief auf. »Das tun wir alle, Sandra. Das tun wir alle.« Da John Koenig im Augenblick nicht in der Kommandozentrale war, führte Verdeschi als sein Vertreter das Kommando. Er hielt es für angebracht, zu überprüfen, ob der Geschwindigkeitsabfall den Ausfall weiterer TiraniumReaktionen mit sich geführt hatte. Er gab Anweisung, sämtliche Abteilungen der Basis durchzuchecken.
Das Ergebnis war beruhigend. Außer den Eagle-Schiffen war kein System in Mitleidenschaft gezogen worden. Weniger beruhigend war allerdings, daß die Techniker und Wissenschaftler es noch nicht fertiggebracht hatten, das geheimnisvolle Kraftfeld anzumessen. Jenes geheimnisvolle Kraftfeld, das den Neutronenfluß in den Eagle-Reaktoren stoppte. Langsam fing Tony Verdeschi an, die Wesen aus dem Andromeda-Nebel zu fürchten. Und nicht nur er.
»… sowieso bald alles zu Ende«, sprach Elkie Altmann in ihr privates Logbuch, als sie das Klopfen an der Tür hörte. Sie schaltete das Mikrophon aus und legte das AudioTagebuch zur Seite. »Ja, bitte?« rief sie. »Ich bin es – Tom«, sagte der Besucher draußen auf dem Korridor. »Oh, Tom, komm doch rein!« Mit dem Comlock öffnete sie die Tür, und der junge Djuaner schlüpfte in den Raum. Hinter ihm glitt die Tür wieder zu. »Störe ich, Elkie?« »Aber nein, Tom«, wehrte die junge Frau ab. »Du weißt doch, daß ich mich über jeden Besuch freue.« Das, was sie sagte, stimmte in vollem Umfang. Seit dem Tod ihres Mannes bei dieser schicksalhaften Tiranium-Suche fühlte sie sich unendlich einsam. Der anfängliche Trost, den ihr Dewey Copeland gespendet hatte, war schnell noch tieferer Niedergeschlagenheit gewichen, als ihr immer klarer wurde, daß Dewey am Tode Michaels wahrscheinlich nicht unschuldig war. Copeland, der Mann, den sie einst zu lieben geglaubt hatte, war für sie zum Inbegriff der Verderbtheit
geworden. Um so wohler fühlte sie sich in der Gesellschaft dieses Jungen, der das genaue Gegenteil verkörperte – Unschuld. Einen Sohn wie Tom hätte sie sich immer gewünscht. Klug, anmutig, wohlerzogen. Leider waren die Verhältnisse in der Mondstation immer dagegen gewesen. Eine Gemeinschaft, die auf so engem Raum zusammengedrängt war, konnte es sich nicht leisten, Kinder in die Welt zu setzen. Elkie Altmann wußte, daß manche um ihre Mutterschaft betrogene Frau in der Basis so dachte wie sie. Als das djuanische Kind so plötzlich zum Mitglied der alphanischen Gemeinschaft geworden war, hatte sich schnell ein richtiger kleiner Konkurrenzkampf um die Gunst des Jungen entwickelt. Elkie war richtig froh darüber, daß sie bei Tom einen besonderen Stein im Brett zu haben schien. Und sie hoffte, daß das auch so bleiben würde. Sie kannte Toms Vorlieben, wußte, daß er sich vor allem für technische Dinge interessierte, für die er ein erstaunliches Verständnis aufbrachte. Er war halt ein echtes Kind des Weltraumzeitalters. Der Junge stand noch immer mitten im Raum. »Komm, setz dich, Tom«, sagte Elkie. »Über was sollen wir uns heute mal unterhalten? Möchtest du, daß ich dir etwas über unsere Eagle-Schiffe erzähle?« »Nein«, antwortete der junge Djuaner. »Das ist jetzt nicht mehr nötig.« »Nicht mehr nötig, Tom? Wie soll ich das verstehen?« »Wir wissen jetzt wahrscheinlich schon alles über eure albernen Schiffchen«, sagte Tom. Nanu? wunderte sich Elkie. Wie sprach er denn auf einmal? Das war doch nicht seine sonstige höfliche Art. Sie war etwas irritiert.
»Möchtest du ein paar Synthonüsse?« fragte sie. Sie wußte, daß er die kleinen Knacker für sein Leben gern mochte. »Wenn du willst, daß ich dir hier auf den Teppich kotze, dann kannst du mir ein paar von den Drecksdingern geben!« »Tom!« Elkie Altmann war völlig entsetzt. Tom, der nette, liebe Junge, entpuppte sich als garstiger Rüpel. Sie war wie vor den Kopf geschlagen, konnte es gar nicht fassen. Die nächste unangenehme Überraschung kam gleich danach. Das Kind eilte auf sie zu, riß ihr das Commlock aus der oberen Overalltasche und schleuderte es achtlos in eine Ecke. »Das brauchst du jetzt nicht mehr, Opfer!« sagte er mit plötzlich ganz verzerrter Stimme. Opfer? Elkie Altmann merkte, daß sie auf einmal eine schreckliche Angst vor diesem Kind hatte. Sie wurde sich bewußt, daß Tom kein Kind der Erde war, daß er einer fremden Rasse angehörte. Bisher hatte sie nie so ganz verstanden, warum Commander Koenig und die anderen Verantwortlichen Tom und seinen so edel wirkenden Eltern mit Mißtrauen und entwürdigenden Überwachungsmaßnahmen entgegengetreten waren. Aber jetzt? Sie hatte ein sehr ungutes Gefühl. Das Gefühl trog sie nicht. Tom streckte seine Hände nach ihr aus, packte ihren Overall und riß ihn ihr mit einem gewaltigen Ruck vom Leibe. »Im Naturzustand bist du appetitlicher, Opfer!« sagte der junge Djuaner. Vor Entsetzen schrie Elkie Altmann nicht einmal. Die unwahrscheinliche Kraft, mit der er den praktisch unzerreißbaren Stoff zerfetzt hatte, das war… übermenschlich. Was hatte er vor? Ein elf- oder zwölfjähriger Junge… Er wollte sie doch nicht etwa…
Nein, er wollte ihr keine Gewalt antun. Nicht in dem Sinne, in dem sie sich das plötzlich schockartig vorgestellt hatte. Etwas viel Schrecklicheres, Grauenhafteres stand ihr bevor. Es vollzog sich eine alptraumhafte Metamorphose. Aus dem anmutigen, hübschen Knaben Tom wurde ein… Ding, ein Ungeheuer. Mit Augen, in denen der Wahnsinn zu glimmen begann, wurde Elkie Altmann Zeuge des Unglaublichen. Die menschliche Gestalt des jungen Djuaners verformte sich. Kopf, Leib und Glieder bildeten sich zurück, wurden zu einer amorphen, kugelförmigen Masse, um die der Overall herumschlotterte. Das matte Braun der Haut wich einem giftigen, schillernden Grün. Das kugelförmige Stadium des Geschöpfes hatte nicht lange Bestand. Die grüne Körpermasse floß auseinander, wie ein Teig, der mit dem Nudelholz plattgewalzt wurde, dehnte sich dabei nach allen Seiten aus. Der Overall platzte aus allen Nähten. Elkie Altmann schrie jetzt – laut, gellend, durchdringend. Die in ihr lodernde Panik brach sich Bahn. Aber in jenem kleinen Teil ihres Bewußtseins, mit dem sie noch ein bißchen klar denken konnte, wußte sie, daß ihr Schrei ungehört verhallen würde. Die Wände des Quartiers waren perfekt schallisoliert. Kein einziger Laut würde nach draußen dringen. Ein paar Herzschläge lang arbeitete Elkie Altmanns Verstand ganz normal. Weg! schrie es in ihr. Raus aus diesem Raum des unvorstellbaren Grauens! Sie machte einen blitzschnellen Sprung zur Seite, wollte dann zur Tür stürzen. Sie schaffte es nicht. Urplötzlich schnellte die jetzt teppichartige grüne Masse hoch wie eine Fliegenklatsche, schoß auf die junge Frau zu, schlang sich um sie, hüllte sie von allen Seiten ein.
Elkie Altmann sah und hörte nichts mehr, merkte nur, wie sie zu Boden gerissen wurde. Mörderische Schmerzen drangen auf sie ein. Tausend, zehntausend Nadeln schienen in ihren Körper hineinzustechen. Säure schien ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Knochen zu verbrennen. Ihr Schrei erstarb in einem Gurgeln. Elkie Altmann war nicht mehr.
IX
Vier-dju und Zwei-dju kamen nahezu gleichzeitig von ihren Unternehmungen zurück. Vier-dju betrat das gemeinsame Quartier, als sein Abkömmling gerade dabei war, seinen völlig zerfetzten Overall gegen einen anderen zu wechseln. »Was hast du gemacht?« pulsierte Vier-dju sofort. »Er war weg«, antwortete Drei-dju. »Aber er will nicht pulsieren, wo er war.« »Zwei-dju?« Die nackte menschliche Gestalt Zwei-djus stand jetzt unbekleidet da, hielt den neuen Overall noch in den Scheinhänden. »Ich… ich habe einen Alphaner besucht«, pulsierte Zwei-dju. »Wie es sich für einen aufgeschlossenen alphanischen Jungen gehört.« »Willst du gefälligst nicht mit dem sogenannten Bauch pulsieren«, entrüstete sich Vier-dju. »Du weißt doch genau, daß jede deiner Bewegungen beobachtet wird.« »Ja, ja, schon gut.« Zwei-dju schlüpfte in den Reserveoverall. »So, jetzt können die Nichtopfer den Bauch nicht mehr sehen. Zufrieden?« »Nein!« pulsierte Vier-dju immer noch wütend. »Wo warst du? Wieso hast du dieses Kleidungsstück zerfetzt?« Ein böser Verdacht kam ihm. »Du hast dich doch nicht etwa irgendwo ausgewalzt, Zwei-dju?« Zwei-dju antwortete nicht. »Zwei-dju!« »Ja, ja«, pulsierte der zweitjüngste Abkömmling schließlich zurück. »Ja, ich habe mich ausgewalzt. Aber ihr könnt ganz
beruhigt sein. Keine Kamera und kein Nichtopfer haben mich dabei beobachtet. Und damit ihr es ganz genau wißt – ich habe mich nicht nur ausgewalzt, ich habe auch noch ein Opfer aufgelöst! Es war herrlich.« Die Erinnerung an seinen Genuß veranlaßte ihn, heftig zu fluktuieren. Überaus energisch mußte ihn Vier-dju zur Ordnung rufen, damit er sein verräterisches Benehmen einstellte. »Du bist wahnsinnig, Zwei-dju. Du bist dümmer als Dju. Deine Unbeherrschtheit kann uns alles verderben. Gerade jetzt, wo ich all die Informationen besitze, die uns helfen werden, die ganze Basis in unsere Gewalt zu bekommen.« Zwei-dju zeigte sich jetzt doch etwas schuldbewußt. Er versprach, bis zu dem Zeitpunkt, an dem aus den Nichtopfern endlich Opfer werden würden, Beherrschung zu üben. »Aber es liegt wirklich kein Grund zur Besorgnis vor«, pulsierte er beschwichtigend. »Unbeobachtet habe ich den Raum des Opfers betreten, und unbeobachtet habe ich ihn wieder verlassen. Alle Spuren habe ich beseitigt. Sogar die Kleidung des Opfers habe ich aufgelöst, obgleich mein Metabolismus heftig protestierte. Niemand wird mich verdächtigen, wenn das Verschwinden des Opfers Elkie Altmann bekannt wird.« Vier-dju war davon keineswegs überzeugt. Aber er mußte sich mit den Tatsachen abfinden. Zwei-dju war noch zu jung, zu dumm, um alle Konsequenzen im voraus richtig abschätzen zu können. Zum Glück war Dju schon bald nach der Abspaltung verendet. Nicht auszudenken, wenn sein jüngster Abkömmling auch noch dabei gewesen wäre. Wie es Moses geziemte, setzte er sich in einen Sessel und forderte auch Zwei-dju und Drei-dju auf, sich alphanisch zu verhalten.
Dann berichtete er seinen Abkömmlingen vom Ergebnis, der Abzapfung des höchsten Nichtopfers, das auch bald zum Opfer werden würde.
John Koenig fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stöhnte leise. »Fehlt dir was, John?« fragte Tony Verdeschi. »Kopfschmerzen«, antwortete der Commander. Er stützte den Ellenbogen auf die Seitenlehne seines Kommandosessels und bettete den Kopf in die Hand. »So schlimm?« »Es reicht, Tony.« »Vielleicht ist dir die Nachricht, daß der Mond immer langsamer wird, auf den Kopf geschlagen«, vermutete der Sicherheitschef nachdenklich. »Das war eine böse Nachricht, ja. Aber ich glaube nicht, daß sie der Grund für meinen brummenden Schädel ist.« »Sondern?« »Tja!« John Koenig legte die Stirn in grüblerische Falten. »Es ist vielleicht albern, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß unser Freund Moses die Verantwortung dafür trägt. Die Schmerzen fingen an, als ich mit ihm in meinem Quartier sprach.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann noch hinzu: »Überhaupt war das ein sehr eigenartiges Gespräch.« »Moses hat es schon vorher ziemlich geheimnisvoll gemacht«, meinte der Sicherheitschef. »Was wollte er von dir?« Der Commander unterrichtete Verdeschi vom Inhalt der Unterredung mit dem Djuaner.
»Aber mit ›eigenartig‹ meinte ich eigentlich gar nicht so sehr die Themen, die wir besprochen haben. Ich meinte mehr die Begleitumstände.« »Begleitumstände?« John Koenig nickte. »Mein Dialog mit Moses war im Grunde genommen recht kurz. Nachdem ich Moses verabschiedet hatte, mußte ich allerdings feststellen, daß ich tatsächlich fast anderthalb Stunden vergangen waren.« Tony Verdeschi zog ein Memopad aus der Tasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Moses hat sich genau eine Stunde und dreiunddreißig Minuten außerhalb seines Quartiers aufgehalten«, meldete er. »Das hat der zuständige Sicherheitsbeauftragte Tanaka registriert, der in der fraglichen Zeit den Kontrollmonitor überwachte.« »Kommt hin, ja«, sagte der Commander. »Noch eine Merkwürdigkeit, die die Djuaner betrifft«, sprach der Sicherheitschef weiter. »Tanaka hat weiterhin registriert, daß auch Tom in der fraglichen Zeit…«, er warf wieder einen Blick auf sein Memopad, »… genau achtundvierzig Minuten außerhalb des Quartiers verbracht hat.« »Wo?« Verdeschi zuckte die Achseln. »Wir waren uns einig darüber, daß wir den Jungen nicht auf Schritt und Tritt mit der Kamera verfolgen wollten. Mehrere der normalen Kontrollkameras in Wohnblock C haben ihn aufgenommen. Aber diese Kameras arbeiten ja nicht lückenlos. Ist ja auch nicht ihre Aufgabe. Wo Tom abgeblieben ist, läßt sich nicht sagen. Er wird seine Zeit, wie er es immer tat, bei irgendeinem Besatzungsmitglied verbracht haben. Etwas mehr als eine halbe Stunde lang. Dann ist er wieder von einer routinemäßigen Kamera erfaßt worden.« »Was ist daran also merkwürdig?« fragte Koenig.
Der Sicherheitschef verzog das Gesicht. »Die Tatsache, daß Tom mit total zerfetztem Overall zurückgekommen ist und sich im Quartier gleich einen neuen angezogen hat.« Helena Russell, die zu den beiden Männern getreten war, hatte den letzten Teil des Gesprächs mitbekommen. »Na und?« schaltete sie sich ein. »Kinder in diesem Alter spielen nun einmal gern. Ihr zwei wart auch mal jung. Seid ihr nie mit zerrissenen Hosen nach Hause gekommen?« »Doch«, sagte Tony Verdeschi. »Nur waren meine Hosen damals nicht aus einem Material gemacht, das höchstens ein Bär zerreißen kann. Und dann kann ich mich nicht erinnern, hier in unseren Wohnkomplexen schon mal einen scharfastigen Baum oder eine Kletterplastik gesehen zu haben.« »Das ist allerdings wahr«, mußte die Ärztin zugeben. »Trotzdem sehe ich zwischen Toms zerrissenem Overall und meinem Kopf keinen Zusammenhang«, stellte der Commander klar. »Mit deinem Kopf?« wunderte sich Helena und blickte ihn an. »Du siehst schlecht aus, John!« »So fühle ich mich auch.« »Was hast du?« »Kopfschmerzen hat er«, erläuterte Verdeschi. Die beiden Männer setzten die Ärztin ins Bild. Helena kniff die Augen leicht zusammen. »Dir fehlt also Zeit, ja?« »Fehlt?« wiederholte Koenig. »So kann man es nicht sagen. Die Zeit ist unheimlich langsam für mich vergangen. So eine Art geistige Zeitlupe.« »Medizinisch gibt es so etwas nicht«, wies Helena diese Spekulation zurück. »Es müssen andere Gründe vorliegen. Hypnose ist nicht ausgeschlossen.« »Ach was«, wehrte der Commander ab. »Ich bin völlig Herr meiner Sinne.«
»Ein Hypnotisierter weiß nicht unbedingt etwas von seinem Zustand«, belehrte ihn die Ärztin. »Das ist ja gerade der Witz bei der Sache.« »Warum sollte mich Moses hypnotisieren wollen?« fragte Koenig zweifelnd. »Es sind Fremde!« sagte Tony Verdeschi mit dem berufsmäßigen Mißtrauen eines Sicherheitschefs. Er blickte zu Takahama Tanaka hinüber, der vor dem Kontrollmonitor saß. »Sehen wir doch einmal, was unsere lieben Gäste jetzt so machen.« John Koenig erhob sich aus dem Kommandosessel und folgte Verdeschi. Auch Helena schloß sich an. »Irgend etwas Ungewöhnliches, Takahama?« erkundigte sich der Sicherheitschef. Tanaka verneinte. »Sie benehmen sich so wie immer, Chef«, gab er Auskunft. Helena, Koenig und Verdeschi konnten sich selbst davon überzeugen. Die drei Djuaner saßen in ihrem Quartier und unterhielten sich in ihrer unverständlichen Sprache, die sie wie gewohnt mit einem auffälligen Gestenreichtum würzten. »Natürlich wissen sie, daß sie noch immer beobachtet und abgehört werden«, meinte Verdeschi. »Diese religiöse Zeremonie, um die es Moses ging… John, willst du zeitweilig wirklich auf eine Beobachtung verzichten?« »Ich hatte es vor«, antwortete der Commander. »Aber ich muß sagen, daß mir jetzt doch gewisse Bedenken gekommen sind.« »Sehr gut«, lobte der Sicherheitschef.
Nach wie vor wüteten die Kopfschmerzen heftig im Schädel des Commanders.
Helena, liebende Frau und verantwortungsbewußte Ärztin, machte von ihrer Autorität als Chefin des alphanischen Gesundheitswesens Gebrauch. »Du kommst jetzt mit mir in die Krankenstation, John«, sagte sie, jeden Widerstand von vornherein im Keim erstickend. »Und dort werde ich mir dich einmal richtig vornehmen.« John Koenig protestierte nicht. In der Krankenstation ließ er sich willig auf einen Diagnosetisch legen und von dem großen stationären MediScanner abtasten. Das Gerät konnte keinen körperlichen Mangel feststellen und attestierte dem Patienten eine blendende Gesundheit. Auch für die Kopfschmerzen fand es eine Erklärung: unverhältnismäßig hohe Beanspruchung der Gehirnzellen, verbunden mit einer psychischen Reizung – besonders des Erinnerungszentrums. Der Commander schoß förmlich von dem Behandlungstisch hoch, als ihm Helena die Computer-Diagnose vortrug. »Hohe Beanspruchung der Gehirnzellen? Okay, ich denke vielleicht ein bißchen viel, speziell in jüngster Zeit. Aber physische Reizung? Was bedeutet das?« »Alkohol, Drogen…« »Weder das eine, noch das andere! Also?« Doktor Gordon Paice, der Helena assistiert hatte, betrachtete jenen Teil des Computerausdrucks, der sich mit der Oberflächenbeschaffenheit der Epidermis beschäftigte. Der Scanner hatte zahlreiche Beschädigungen festgestellt. Das war an sich völlig normal, denn der Mensch stieß, quetschte, malträtierte seine Haut am Tage fortwährend, ohne daß er sich dessen in der Mehrzahl der Fälle bewußt wurde. Hier trat jedoch ein Muster zutage,… das er in fast identischer Weise kürzlich schon einmal gesehen hatte.
»Gestatten Sie, Commander?« Paice nahm ein Mikroskop zur Hand und betrachtete dadurch Koenigs rechte Schläfe. Dann legte er das Mikroskop wieder aus der Hand. »Genau wie ich es mir dachte«, sagte er mit einem beinahe dramatischen Unterton. »Was haben Sie sich gedacht?« fragte John Koenig scharf. »An ihrer Schläfe befinden sich haarfeine Einstiche, Commander. Derartige Einstiche wies auch der Schädel Leroy Nilssons auf, nachdem die Djuaner sein Bewußtsein angezapft hatten. Diese Anzapfung Nilssons haben die Djuaner freimütig zugegeben. Ob sie es allerdings auch in Ihrem Falle tun…« »Sie sagen, mein Bewußtsein sei angezapft worden, Gordon?« bellte der Commander. »Daran kann nicht der geringste Zweifel bestehen, Sir!«
»Der wandernde Planet kommt zum Stillstand?« pulsierte Drei-dju, nachdem er den Bericht seines Abspalters gesehen hatte. »Das ist schlecht, ganz schlecht. Bald werden wir dann wieder ohne Opfer sein.« »Nein«, pulsierte Vier-dju zurück. »Was kümmert es uns, ob der Planet durch den Raum wandert oder nicht?« »Wenn der Planet nicht mehr wandert, werden wir keine neuen Sternregionen erreichen können, um frische Opfer zu finden. Die Alphaner werden nicht ewig reichen. Und dann? Wieder werden wir nur auf unsere Kulturen angewiesen sein.« »Ja, das werden wir.« »Gligli«, pulsierte Zwei-dju enttäuscht. »Immer wieder Gligli. Mein Metabolismus liebt die Gligli-Opfer nicht. Alphaner – ja!« Die Erinnerung an das vorhin aufgelöste Opfer veranlaßte ihn zum Fluktuieren.
Vor Vergnügen fluktuierte auch Vier-dju ein bißchen. »Dein Metabolismus liebt die Alphaner-Opfer?« »Ja, ja!« »Dann freue dich, Zwei-dju. Denn als ich gerade von den Kulturen pulsierte, auf die wir angewiesen sein werden, meinte ich keine Gligli-, sondern Alphaner-Kulturen. Wir werden Alphaner züchten!« »Aber sie spalten sich nicht und brüten auch nicht! Ich habe keinen einzigen jungen Alphaner gesehen.« »Du irrst trotzdem, Zwei-dju«, pulsierte Vier-dju. »Als ich den höchsten Alphaner anzapfte, habe ich erfahren, daß sie keineswegs steril sind, wie wir dachten. Sie können sehr wohl brüten! Sie tun es nur deshalb nicht, weil sonst die Station vor Alphanern überquellen würde. Wenn wir die Macht an uns gerissen haben, werden wir sie zwingen, zu brüten. Und trotzdem wird die Station…« »… nicht vor Alphanern überquellen!« vervollständigte Dreidju den Gedanken. Alle drei mußten sich beherrschen, vor Vorfreude nicht so heftig zu pulsieren, daß ihre Beobachter stutzig wurden.
X
Sandra Benes war ein bißchen ärgerlich. Ihr Dienst war längst beendet, aber wer nicht kam, war ihre Ablösung. Wo blieb Elkie? Zum wiederholten Mal wählte sie den Code von Elkie Altmanns Commlock, aber die Kollegin dachte gar nicht daran, sich zu melden. Sandra betrachtete das als äußerst unkollegial. Sicher, sie hatte großes Verständnis für Elkies seelische Krisen. Wer hätte kein Verständnis für eine Frau gehabt, deren Mann kürzlich durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen war? Wenn sich Elkie nicht wohl fühlte, bitte, Sandra war gerne bereit, ihre Schicht mit zu übernehmen. Aber man konnte doch erwarten, daß sie wenigstens Bescheid sagte. Sich einfach verleugnen, nein, das ging doch etwas zu weit. Schade, daß es keine Kamera in ihrem Raum gibt, dachte Sandra. Es würde ihr letzten Endes gar nichts anderes übrigbleiben, als selbst nachzusehen, ob sich Elkie in ihrem Quartier aufhielt. Und wenn ja… Nun, sie würde der Kollegin ganz schön die Leviten lesen. Sie ging zu ihrer Kollegin Leigh Anderson an der benachbarten Konsole hinüber. Das aschblonde Mädchen war für die Überwachung des Energieverbrauchs zuständig und hatte zur Zeit wenig zu tun. »Leigh, tust du mir den Gefallen und achtest auf meinen Monitor? Die gute Elkie kommt mal wieder nicht.« »Natürlich, Sandra«, erklärte sich die Kollegin sofort einverstanden.
Sandra Benes verließ die Kommandozentrale und machte sich auf den Weg zum Wohnkomplex C. Dann stand sie vor der Tür Elkie Altmanns und klopfte. Es kam keine Antwort, auch nicht, als Sandra ihr Klopfen mehrmals mit gesteigerter Vehemenz wiederholte. Sandra überlegte kurz. Es war unhöflich, die Wohnung eines anderen Alphaners mit Hilfe des Commlocks zu öffnen, wenn dieser nicht aufmachen wollte. Aber es war genauso unhöflich, eine Kollegin schamlos auszunutzen. Da ihr Elkies Türcode bekannt war, ließ sie ihr Commlock aktiv werden. Die Tür glitt auf, und Sandra trat ein. »Elkie?« Keine Antwort. Sandra blickte sich im Raum um. Schnell wurde ihr klar, daß Elkie nicht anwesend war. Ärgerlich biß sie sich auf die Lippen. Nerven hatte die Kollegin… Dann jedoch stutzte Sandra. Ihr Blick war auf ein Wandregal gefallen, auf dem mehrere Gegenstände lagen. Darunter befanden sich auch der Lebensfunktionsanzeiger Elkies und ihr… Commlock. Daß jemand seinen Lebensfunktionsanzeiger in ungefährdeten Regionen der Mondstation nicht anlegte, war nicht unüblich. Sandra tat es oft genug auch nicht, obgleich es gegen die Vorschriften war. Aber sie wußte, daß selbst der Commander in dieser Hinsicht manchmal sündigte. Daß aber jemand sein Commlock nicht mit sich führte, war absolut unüblich. Ja, es war sogar undenkbar, denn ohne Commlock ließ sich in der Basis keine einzige Tür öffnen – auch die der Gemeinschaftsräumlichkeiten nicht. Ohne Commlock war ein Alphaner in der Basis ein in jeder Beziehung hilfloses Wesen. Und doch hatte Elkie Altmann ihr Quartier verlassen, ohne das Commlock mitzunehmen. Irgend etwas stimmte nicht! Irgend etwas war faul!
Sandra Benes verließ das Quartier ihrer Kollegin wieder und eilte mit schnellen Schritten in die Kommandozentrale zurück.
»… muß es so gewesen sein, daß mich Moses während der Unterhaltung hypnotisiert und anschließend mit irgendeiner Sonde angezapft hat.« Erbitterung sprach aus den Worten des Commanders. Er hatte sich zwischenzeitlich mit Leroy Nilsson in Verbindung gesetzt und erfahren, daß seine Kopfschmerzen absolut identisch mit denen waren, die der Ingenieur an Bord des Djuaner-Schiffes gehabt hatte. Nilssons Ankündigung, daß der Schmerz in kurzer Zeit ganz von selbst abklingen würde, war ihm nur ein sehr schwacher Trost gewesen. »Aber warum?« fragte Verdeschi. »Warum hat Moses dich angezapft?« »Es gibt nur eine logische Erklärung«, sagte Koenig. »Er wollte Informationen. Informationen über mich oder über die ganze Basis. Oder beides!« »Und das Motiv?« »Neugierde«, vermutete Helena Russell. »Wir haben uns bisher nicht gerade Mühe gegeben, den Djuaner Einblick in unsere Lebensverhältnisse zu geben. Als Fremde haben sie den natürlichen Drang, sich möglichst schnell zu akklimatisieren.« »Nein«, sagte der Commander. »Ich glaube nicht, daß es so einfach ist. Es muß mehr dahinterstecken. Die Djuaner haben irgend etwas vor.« »Zum Beispiel?« »Ich weiß es nicht.« »Warum fragen wir sie nicht einfach?« grollte Tony Verdeschi. »Warum knöpfen wir uns diesen Moses nicht einfach vor und quetschen ihn aus?«
»Das würde ich nicht für klug halten, Tony. Ich möchte Moses in dem Glauben lassen, daß sein Eindringen in mein Bewußtsein bisher unbemerkt geblieben ist. Nur so können wir ihn und seine Sippe aus der Reserve locken. Wenn wir Moses jetzt zur Rede stellen, sind die Djuaner gewarnt und werden uns mit Ausflüchten kommen. Andererseits aber… Leichter Erfolg macht unvorsichtig. Wir werden sie von jetzt ab verstärkt überwachen und darauf warten, daß sie sich eine Blöße geben.« Der Commander wurde auf Sandra Benes aufmerksam, die an den Kommandosessel herangetreten war. »Sandra?« »Entschuldigen Sie, Commander, aber ich glaube, Sie sollten Bescheid wissen.« Die schwarzhaarige Technikerin berichtete von der Unauffindbarkeit ihrer Kollegin Elkie Altmann. »Ohne Commlock?« zeigte sich Tony Verdeschi ungläubig. »Das gibt’s doch gar nicht!« »Aber genau so ist es!« bekräftigte Sandra Benes. »Und deshalb habe ich auch gedacht…« »Sehr umsichtig von Ihnen, Sandra«, lobte der Commander, der die Angelegenheit ebenfalls sehr merkwürdig fand. Er tat etwas, was normalerweise nur in Notfällen getan wurde, und ließ Elkie Altmann in der ganzen Basis per Lautsprecher ausrufen. Aber auch dieser Maßnahme blieb der Erfolg versagt. Die Technikerin meldete sich nicht. Freunde und Bekannte Elkie Altmanns wurden gefragt. Niemand hatte die junge Frau während ihrer letzten Freischicht gesehen. Es war, als sei sie vom Boden verschluckt worden. Tony Verdeschi wollte sich die automatisch aufgezeichneten Bilder der Kamera ansehen, die in dem Korridor von Elkie Altmanns Quartier installiert war. Und dabei erlebte er eine große Überraschung: es gab keine Bilder!
»John!« Der Commander hörte Verdeschis Bericht mit zusammengepreßten Lippen. »Los«, sagte er anschließend, »sehen wir uns das Ganze doch mal aus der Nähe an.« Zusammen mit dem Sicherheitschef ging er in den Wohnkomplex C. Zuerst wurde die automatische Deckenkamera unweit von Elkie Altmanns Tür überprüft. »Kein Wunder, daß die keine Bilder liefert«, knurrte Tony Verdeschi. »Da muß jemand mit einem Hammer reingeschlagen haben.« John Koenig ging in die Knie. »Was suchst du, John?« »Glas suche ich. Hier ist nicht das kleinste Splitterchen zu sehen!« »Komisch.« »Gar nicht so komisch«, meinte der Commander. »Derjenige, der die Kamera zerstört hat, ist klug genug gewesen, keine Scherben herumliegen zu lassen. Deshalb ist auch niemandem, der vorbeikam, aufgefallen, daß das Ding kaputt ist.« »Es handelt sich also in jedem Fall um eine mutwillige Zerstörung.« Böse lachte John Koenig auf. »Kein Alphaner hat einen so langen Hals, daß er versehentlich mit dem Kopf gegen die Kamera gelaufen sein kann.« Tony Verdeschi machte ein verkniffenes Gesicht. »Siehst du einen Zusammenhang mit Elkie Altmanns Verschwinden?« »Du nicht, Tony?« »Sehen wir nach!« Die beiden Männer öffneten die Tür der Technikerin und betraten ihr Quartier. Wie nicht anders zu erwarten, war Elkie Altmann nicht anwesend. Sonst fanden sie alles so vor, wie es
Sandra Benes beschrieben hatte. Da lagen der Lebensfunktionsanzeiger und das Commlock. Koenig und Verdeschi untersuchten das Quartier nach allen Regeln der Kunst. Irgendwelche Spuren, die auf Gewaltanwendung hindeuteten, fanden sie nicht. Und sie fanden auch nichts, was über den Verbleib der Frau Aufschluß geben konnte. Da fiel John Koenigs Blick auf ein Audio-Tagebuch, wie es viele Besatzungsmitglieder führten. Der Commander nahm es hoch und stellte fest, daß es auf ›Aufnahme‹ geschaltet war. Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und spielte es dann ab. Elkie Altmanns Stimme wurde hörbar: »… hat mich Dewey wieder angesprochen und so getan, als seien seine dunklen Andeutungen nur ein makabrer Scherz gewesen. Voller Ekel habe ich ihn stehenlassen. Ich glaube ihm nicht, daß er nur Scherz mit meiner Trauer getrieben har. Sein jahrelanger Haß auf mich war und ist so groß, daß ich ihm nach wie vor zutraue, Michael umgebracht zu haben, nur um mich zu treffen. Ich überlege immer noch, ob ich Commander Koenig alles sagen soll, kann mich aber noch nicht dazu durchringen. Im Grunde genommen aber spielt es eigentlich keine Rolle, denn wie es aussieht, ist sowieso bald alles zu Ende.« Elkie Altmanns Stimme brach ab. Der Commander stellte das Gerät ab. Mit gerunzelter Stirn sah er Tony Verdeschi an. »Was war denn das? Dewey! Wer ist Dewey? Dewey Copeland?« Der Sicherheitschef brauchte nicht lange zu überlegen. »Ja«, sagte er, »nur Copeland kann gemeint sein. Wenn ich mich recht erinnere, waren Elkie Altmann und Dewey Copeland vor Jahren einmal verlobt. Das war in der Zeit, als die Erde noch am Horizont aufging. Dann kam Michael
Altmann in die Basis, und Elkie hat mit Copeland Schluß gemacht und Altmann geheiratet.« »Als Altmann verunglückte, da war er zusammen mit Copeland draußen«, sagte der Commander. »Seine Leiche ist nie gefunden worden. Sollte Copeland wirklich seine Hände mit im Spiel haben? Mord aus Eifersucht und Haß?« »Nach all den Jahren?« »In jüngster Zeit haben manche Besatzungsmitglieder einen seelischen Knacks bekommen, Tony.« »Das stimmt, ja. Wenn also Copeland Altmann tatsächlich auf dem Gewissen haben sollte… Nicht auszuschließen, daß er dann auch Elkie etwas angetan hat.« »Nein, das ist nicht auszuschließen.« John Koenig griff nach seinem Commlock und holte verschiedene Informationen ein. Wenig später wußte er, daß Copeland mit dem Verschwinden der Technikerin nichts zu tun haben konnte. Der Geologe befand sich zur Zeit mit einem Kollegen außerhalb der Basis auf Tiraniumsuche. Und er war bereits zur Mondoberfläche emporgestiegen, als Elkie Altmann noch in der Kommandozentrale Dienst getan hatte. »Copeland scheidet also aus«, stellte der Sicherheitschef fest. »Was Elkie Altmann angeht – ja. Was aber ihren Mann betrifft… Wir werden der Sache nachgehen, Tony. Aber nicht jetzt. Jetzt geht es um Elkie.« Der Commander spielte das Tagebuch noch einmal ab, ging dabei weiter zurück. Es ergaben sich keine neuen Anhaltspunkte. Als der letzte Satz der Technikerin ablief, wurde Koenig jedoch plötzlich stutzig. »Hör mal genau zu, Tony«, sagte er. Dann ließ er den Schluß des Bandes noch einmal laufen – mit erhöhter Lautstärke. Auch der Sicherheitschef hörte es jetzt. Die letzten Worte Elkies wurden von einem Geräusch begleitet.
»Hörte sich an, als habe da jemand gegen die Tür geklopft«, rekapitulierte er. »Das habe ich auch herausgehört«, stimmte John Koenig zu. Er legte das Audio-Tagebuch Elkie Altmanns zur Seite und sagte dann: »Es könnte also folgendermaßen gewesen sein. Elkie befand sich hier in ihrem Quartier und besprach das Band. Jemand klopfte an die Tür. Elkie unterbrauch ihre Beschäftigung mit dem Tagebuch und ließ den Besucher herein. Und dann…« »Und dann?« »Verdammt, ich weiß es auch nicht!« Plötzlich wurden die Augen des Commanders schmal. »Tom!« sagte er scharf. »Tom? Der djuanische Junge?« »Eben der! Er ist in den benachbarten Korridoren von den Kameras registriert worden und muß in ein Quartier in der Nähe hineingegangen sein. In welches, ist nicht von einer Kamera erfaßt worden. Vielleicht weil er die Kamera, die Elkie Altmanns Tür unter Beobachtung hielt, vorher zerstört hat?« »Mensch, John! Tom hatte Kontakt zu Elkie Altmann. Er hat sie des öfteren besucht.« »Und man hat ihn beobachtet, wie er mit zerfetztem Overall in sein Quartier zurückkehrte!« John Koenig schaltete sein Commlock ein und gab Anweisung, die Tür des Djuaner-Quartiers so zu sichern, daß die Fremden den Raum nicht verlassen konnten. »Vorsichtshalber«, kommentierte er. »Wir haben zwar noch keine Beweise, aber…« Die beiden Männer kehrten in die Kommandozentrale zurück. Der Commander setzte sich sofort per Commlock mit Moses in Verbindung. Der Vater der Djuanerfamilie wirkte würdig
und freundlich wie immer, aber John Koenig sah sein Bild auf dem kleinen Sichtschirm jetzt mit etwas anderen Augen an. »Moses«, begann er, »ich hätte da eine Frage. An Ihren Sohn eigentlich.« »Ja, Commander?« »Könnte ich ihn selbst sprechen, Moses?« Der Djuaner zögerte kurz, sagte dann: »Tom fühlt sich im Moment nicht wohl. Er hat sich etwas hingelegt.« John Koenig, der gleichzeitig den Kontrollschirm der Überwachungskamera im Auge hatte, sah, daß das Kind tatsächlich auf einer Pneumocouch lag. »Gut«, sagte er, »dann wollen wir ihn nicht stören. Sie können mir eine Frage sicherlich auch beantworten, Moses. Tom ist vorhin für ungefähr eine Stunde weggewesen. Er war nicht zufällig bei einer Frau namens Elkie Altmann?« »Augenblick, Commander, ich frage ihn.« Zwischen den beiden Djuanern fand ein kurzer Dialog in unverständlichem Kauderwelsch statt, dem Koenig durch das Überwachungsmikrophon folgen konnte. »Nein, Tom war nicht bei Mrs. Altmann«, kam Moses Stimme dann wieder aus dem Commlock. »Würden Sie ihn noch fragen, wo er denn war?« Moses tat dies und beantwortete anschließend die Frage des Commanders: »Tom hat einen Techniker besucht und sich mit ihm über den Andromeda-Nebel unterhalten.« »Mit welchem Techniker?« Nach einer entsprechenden Rückfrage bei seinem Sohn erklärte Moses, daß Tom den Namen seines Gastgebers angeblich nicht kannte. »Fragen Sie aus einem bestimmten Grund, Commander?« wollte Moses wissen. »Um ehrlich zu sein, ja«, antwortete Koenig. »Es ist aufgefallen, daß Ihr Sohn mit einem zerrissenen Overall
zurückgekommen ist. Das fanden wir ein bißchen ungewöhnlich.« »Oh, das ist einfach zu erklären«, sagte der weißbärtige Fremde. »Sie wissen ja, wie Kinder sind. Tom hat mit dem Mann ein bißchen rumgetollt, und dabei ist es dann passiert.« John Koenig lachte. »Großer Gott, wenn das alles ist? Und wir haben uns schon Sorgen gemacht. Okay, Moses, das war’s, was ich wissen wollte. Bis bald.« Er unterbrach die Verbindung. »Das ist das Dümmste, was ich seit langem gehört habe«, schimpfte Tony Verdeschi. »Der Bengel lügt!« »Ich kann auch nicht sagen, daß er mich überzeugt hat«, erwiderte der Commander. »Ich möchte wetten, daß er bei Elkie Altmann gewesen ist.« Um sich nicht selbst Nachlässigkeit vorwerfen zu müssen, ließ John Koenig über das Commlock sämtliche männlichen Wesen des Wohnkomplex C, die in der fraglichen Zeit in ihren Quartieren gewesen waren, befragen. Kein einziger von ihnen hatte Tom auch nur gesehen. Anschließend gab der Commander Tony Verdeschi Anweisung, zwei Sicherheitsleute vor der Tür der Djuaner zu postieren.
XI
»Das haben wir dir zu verdanken, Dju!« pulsierte Vier-dju voller Zorn. »Sie sind mißtrauisch geworden, verdächtigen uns bereits.« Er mußte sich ungeheuer beherrschen, um nicht vor Wut zu wabern. Das konnte er sich im Augenblick jedoch unter gar keinen Umständen leisten. Mit Sicherheit wurden er und die Seinen gerade jetzt scharf beobachtet. »Niemand hat gesehen, daß ich den Raum des Opfers betreten habe«, rechtfertigte sich Zwei-dju. »Und ich habe keine Spuren hinterlassen und alle Beweise aufgelöst.« »Du hast das oberste Nichtopfer gehört! Glaubst du, er hat diese Fragen ohne Grund gestellt? Dju! Dju! Dju!« »Ich bin Zwei-dju«, beschwerte sich der Abkömmling. »Dümmer als Dju!« Zwei-dju richtete sich auf. »Ich werde jetzt zum Quartier des Opfers Elkie Altmann gehen und so tun, als wüßte ich von nichts. Das wird die Nichtopfer von meiner Unschuld überzeugen.« Schon war er an der Tür. Aber das Signal seines Commlocks vermochte nicht, sie aufgleiten zu lassen. »Ich habe es geahnt«, pulsierte Vier-dju bestürzt. »Das Mißtrauen der Nichtopfer ist so groß geworden, daß sie uns eingeschlossen haben.« »Es macht mir keine Schwierigkeiten, diese Tür zu sprengen«, erklärte Zwei-dju. »Soll ich sie auflösen?« »Nein! Das heißt… warte, Zwei-dju. Setz dich zuerst einmal wieder hin.«
Während Zwei-dju der Aufforderung seines Abspalters nachkam, dachte Vier-dju angestrengt nach. Innerhalb weniger Augenblicke schon kam er zu einem Entschluß. »Wir werden angreifen«, pulsierte er. »Wir werden die Nichtopfer als Opfer ansehen!« Sofort begannen seine Abkömmlinge zu fluktuieren. »Beherrschung!« verlangte Vier-dju. Es fiel ihnen schwer, das verräterische Fluktuieren unter Kontrolle zu behalten. »Wann?« pulsierte Zwei-dju aufgeregt. »Wann werden wir die Nichtopfer als Opfer ansehen?« »Sofort!« »Sofort.« »Ja! Sie mißtrauen uns, sie schließen uns ein. Wir müssen angreifen, bevor sie weitere Maßnahmen ergreifen, bevor sie sich vorbereiten können.« »Ja, ja!« Vier-dju ahnte, daß Zwei-dju gleich beginnen wollte, seine menschliche Gestalt abzulegen. Schnell pulsierte er seinem Abkömmling zu, damit noch zu warten. »Die Alphaner dürfen nicht zu früh merken, was wir beabsichtigen. Wie müssen sie so lange wie möglich in Sicherheit wiegen. Bleibt also noch ganz ruhig und bedenkt, daß ihre Kamera auf uns gerichtet ist.« Per Commlock stellte Vier-dju Kontakt zu dem obersten Alphaner her. »Commander?« »Ja, Moses?« Vier-dju hatte längst gelernt, in den Gesichtern der Humanoiden zu lesen. John Koenig gab sich einen gleichmütigen Anschein, ließ nichts von dem erkennen, was er wirklich dachte.
Ganz kurz überlegte Vier-dju, ob er eine Beschwerde wegen der verschlossenen Tür vorbringen sollte, verzichtete dann aber darauf. Reine Zeitverschwendung. Er ignorierte das Vorkommnis und kam gleich zu seinem eigentlichen Anliegen. »Commander«, sagte er mit seinem Scheinmund, »ich möchte auf unser Gespräch zurückkommen und Sie an Ihr Versprechen erinnern. Sie wissen, was ich meine.« »Sie meinen Ihre… äh…« »Danksagungszeremonie zu Ehren des Schöpfers«, ergänzte Vier-dju, als der oberste Alphaner zögerte. »Und jetzt möchten Sie, daß wir Kamera und Mikrophon abschalten«, sagte John Koenig. »Darum möchte ich bitten«, bestätigte Vier-dju. »Sie haben es versprochen.« Wieder zögerte John Koenig, dann sagte er: »Selbstverständlich, Moses. Sie sollen sich ungestört Ihrem Schöpfer widmen können. Ich werde sofort veranlassen, die Überwachung für die nächste Stunde einzustellen.« »Ich danke Ihnen, Commander.« Das Gesicht des obersten Alphaners verschwand von dem kleinen Bildschirm des Commlocks. »Er lügt!« pulsierte Drei-dju. »In der gegenwärtigen Situation des Mißtrauens… Koenig wäre töricht, wenn er Kamera und Mikrophon wirklich abschalten würde.« »Natürlich wird er die Überwachung nicht aufheben«, pulsierte Vier-dju zurück. »Aber wir haben jetzt ein glaubwürdiges Motiv, das zu tun!« Vier-dju kletterte auf ein Wandregal. Hoch an der Wand * hing ein sogenanntes Kunstwerk, ein Mobile aus Drahtgeflecht. Und in diesem Drahtgeflecht war die geheime Kamera untergebracht, die den ganzen Raum unter Kontrolle hielt. Vier-dju streckte seine rechte Scheinhand aus und stülpte ein Plastiktuch über das drehbare Auge der Kamera.
Auch das Mikrophon hatten die Alphaner in dem Drahtgeflecht verborgen. Vier-dju ließ seine Scheinfinger dünn wie Nadeln werden und lockerte Membrane und Gegenelektrode. Dann sprang er auf den Boden zurück. »Niemand kann es uns verdenken, wenn wir ganz sichergehen wollen, daß John Koenig sein Versprechen auch wirklich hält«, pulsierte er. »Jetzt?« pulsierte Zwei-dju fragend. Sein Scheingesicht hatte bereits die menschliche Form verloren, war amorph und grün geworden. »Ja«, pulsierte Vier-dju wild fluktuierend. »Wir verfahren genau nach unserem Plan. Es gibt keine Nichtopfer mehr! Es gibt nur noch Opfer!« Die Overalls platzten, als Vier-dju und seine Abkömmlinge die verhaßte humanoide Körperform ablegten und ihre natürliche Gestalt annahmen. Alle drei konnten der Versuchung nicht widerstehen, sich genußvoll auszuwalzen. Vier-dju mahnte zur Eile, und sie rollten sich schnell wieder zusammen. Mitnehmen mußten sie nichts – nur ihre Stasisatoren, die sie in künstlich geschaffenen Hohlräumen ihrer formbaren Körper verbargen. »Öffne die Tür, Zwei-dju!« pulsierte Vier-dju. Sein zweitjüngster Abkömmling drückte seinen Leib gegen die Quartiertür, konzentrierte sich dabei auf eine menschenkopfgroße Stelle. In Sekundenschnelle hatte er das Türmaterial aufgelöst, obgleich er angewidert dabei waberte. Ein Loch war in der Tür entstanden, ein Loch, das groß genug war für sie. Vier-dju und die Seinen ließen ihre Körper zu schlauchartigen Gebilden werden, die mühelos durch das geschaffenen Loch hindurchschlüpften konnten.
Unversehens sahen sie sich zwei Opfern gegenüber. An ihren Overalls erkannte Vier-dju, daß er sich um Angehörige des Sicherheitsdienstes handelte. »Schaltet sie aus!« pulsierte er seinen beiden Abkömmlingen zu. Er selbst schnellte auf die Korridorkamera zu. Ein Pseudopod schoß nach oben und zerschmetterte das spionierende Auge. Zwei-dju und Drei-dju hatten mit den beiden Opfern keinerlei Probleme. Bevor diese überhaupt begreifen konnten, was geschah, hatten zwei mörderische Pseudopodhiebe sie bewußtlos zu Boden gestreckt. Zwei-dju wollte eines der Opfer auflösen, aber sein Abspalter hinderte ihn daran. »Nicht jetzt, Zwei-dju!« pulsierte er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Sein Abkömmling waberte nur leicht, sah ein, daß Vier-dju recht hatte. Mit gewaltigen Kontraktionen jagten Vier-dju und die Seinen den Korridor entlang. Der Kommandozentrale entgegen…
XII
»Ich breche nur höchst ungerne ein Versprechen«, sagte John Koenig. »Aber in diesem Falle…« Keins der leitenden Besatzungsmitglieder, die mit ihm vor dem Überwachungsschirm standen, hielt ihn deshalb für einen ehrlosen Charakter. »Ein Trick ist das!« schnaubte Tony Verdeschi. »Zeremonie zu Ehren des Schöpfers… das ist ja wohl absurd. Wer weiß, was die da in aller Heimlichkeit ausbrüten wollen.« Auf dem Monitor war zu sehen, daß sich die Djuaner unterhielten. Sehr heftig. Sie arbeiteten mit Händen und Füßen, zitterten am ganzen Leib. Spezielle der Junge Tom tat sich, was den Gestenreichtum anging, besonders hervor. »Wie ein Epileptiker«, sagte Helena Russell. »Dabei ist er sonst immer so ruhig. Er wird doch nicht etwa krank sein?« »Das arme, arme Kind!« spottete der Sicherheitschef. Für einen Augenblick wurden sie vom Schirm abgelenkt. Sandra Benes meldete, daß sich die Abnahmerate der Mondgeschwindigkeit abermals gesteigert hatte. Maya, die Psychonerin mit dem Verstand eines Computers, stellte im Kopf blitzschnelle Berechnungen an. »Wenn die Abnahmerate nicht noch einmal zunimmt, wird der Mond in genau sechsundneunzig Stunden und elf Minuten das Stadium der Bewegungslosigkeit erreicht haben«, ließ sie die Besatzungsmitglieder wissen. Wenig später bestätigte der Zentralcomputer das Rechenergebnis des Mädchens. »Und ich fürchte, es wird nicht bei dieser Abnahmerate bleiben«, prophezeite Alan Carter ahnungsvoll.
Die Bilder aus dem Quartier der Djuaner nahm wieder ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Kamera zeigte die Gestalt Moses, der auf ein Regal kletterte, zeigte sein Gesicht, dann nur noch seine plötzliche riesengroße Hand. »Na, der wird doch nicht etwa…« Verdeschis Ahnung wurde von der Realität überholt. Der Bildschirm wurde dunkel. Moses hatte das Auge der Kamera mit irgend etwas zugedeckt. Augenblicke später knackte es im Lautsprecher. Dann trat auch in akustischer Hinsicht Sendepause ein. Mit Gesichtern, die nicht gerade vor Intelligenz strotzen, sahen sich die Alphaner an. »Ausgetrickst!« stellte der Commander fest. »Offiziell wissen wir gar nicht, daß Moses das Funkhaus geschlossen hat, denn wir hatten uns ja angeblich längst diskret zurückgezogen.« »Und inoffiziell?« fragte Maya. »Machen die Djuaner jetzt etwas, was sie vor uns verbergen wollen!« »Vielleicht halten sie wirklich eine religiöse Zeremonie ab«, sagte Helena sinnend. »Schließlich haben wir sie bisher nur als… gottesfürchtige Wesen kennengelernt.« »Gottesfürchtige Wesen spuken nicht in anderer Leute Schädel herum!« stellte der Commander unmißverständlich klar. Und laut rief er: »Kontrollkamera siebenunddreißig auf die große Bildfläche!« Takahama Tanaka reagierte sofort. Auf dem Zentralbildschirm der Kommandozentrale verschwand die lichtlose Nacht des intergalaktischen Raums. Aber es kam kein Bild des Korridors, in dem das Quartier der Djuaner lag.
»Was ist denn, Takahama?« fuhr der Sicherheitschef seinen Untergebenen unfreundlich an. »Schaltung ist erfolgt, Chef«, meldete der Japaner. »Die Kamera scheint nicht zu funktionieren.« »Bei allen Magnetstürmen der Milchstraße!« schrie Verdeschi. »Schon wieder Sabotage!« »Bringen Sie die Aufzeichnungen der letzten Bilder, die Kamera siebenunddreißig gemacht hat, Tanaka«, wies der Commander den Sicherheitsmann an. Tanaka arbeitete wie ein Wilder an seinen Knöpfen. »Die Kamera kann erst vor etwa einer halben Minute ausgefallen sein«, gab er bekannt. »Ich lasse das Band zurücklaufen…« »Bringen Sie schon, was Sie haben, Mann!« verlangte John Koenig ungeduldig. Bilder erschienen auf der großen Bildfläche. Bestürzende Bilder… Die beiden Sicherheitsleute, die Tony Verdeschi vor der Tür der Djuaner postiert hatte, waren zu sehen. Große, grüne Schatten drangen auf die beiden Männer ein. Dann flog irgend etwas genau auf das Auge der Kamera zu. Die Bilderfolge riß ab… Entsetzte Ausrufe wurden in der Kommandozentrale laut. Fragen schwirrten durch den Raum, Fragen, die niemand der Anwesenden beantworten konnte. John Koenig verlor die Übersicht nicht. »Kontrollkamera achtunddreißig auf den Schirm!« befahl er mit klirrender Stimme. Takahama bewies, daß er sein Handwerk verstand. Die Bilder von Kamera achtunddreißig kamen sofort. Sie zeigten einen Korridor, der völlig ruhig dalag. Kein Mensch war zu sehen. Und auch keine grünen Schatten. »Kontrollkamera sechsunddreißig!« verlangte Koenig.
Tanaka schaltete auf die Kamera um, die den Nachbarkorridor auf der anderen Seite kontrollierte. Der Bildschirm blieb dunkel. »Kamera defekt, Sir!« gab der Japaner bekannt. »Soll ich die Aufzeichnung…« »Nein! Bringen Sie…«, John Koenig stellte in Gedanken Relationen zwischen den Positionen der nächsten Kontrollkameras und der Laufgeschwindigkeit eines Sprinters an, »… Nummer dreiunddreißig, danach einunddreißig.« Tony Verdeschi war unterdessen nicht untätig gewesen. Er hatte gleich versucht, mit dem Commlock die beiden Wachtposten vor der Djuanertür zu erreichen, mit seinen Bemühungen jedoch keinen Erfolg gehabt. Jetzt setzte er sich mit dem Einsatzraum der Sicherheitsabteilung in Verbindung. »Zehn Männer sofort in Wohnkomplex C!« befahl er. »Bereich von Kontrollkamera siebenunddreißig.« »Schon unterwegs!« kam die Bestätigung. Auf dem Zentralbildschirm flimmerten jetzt die Bilder von Kamera dreiunddreißig. Sie zeigten wieder einen leeren Korridor. Einunddreißig war gestört… Der Commander und Takahama Tanaka arbeiteten schnell und konzentriert. Und als die Bilder von Kontrollkamera vierzehn auf dem Bildschirm erschien, hatten sie endlich Erfolg. Drei große, grüne Bälle kamen ins Bild. Grotesk, aber mit atemberaubender Geschwindigkeit hüpfend jagten sie einen Korridor entlang. Der Japaner ließ sich durch die erregten Aufschreie der Alphaner, die von allen Seiten auf ihn eindrangen, nicht aus dem Konzept bringen. Er blieb am Ball – im wahrsten Sinne des Wortes.
Kamera vierzehn ging zu Bruch, als aus einem der Bälle ein keulenartiger Pseudoarm herauswuchs und auf das Auge der Kamera zuschnellte. Aber da hatte Tanaka bereits auf Kamera zwölf umgeschaltet und bekam die unheimlichen Wesen wieder ins Bild. Die Wesen entkamen Tanaka nicht mehr, Kamera elf, zehn, sieben… Dann war es nicht mehr erforderlich, ihren Weg mit Hilfe der Kontrollkameras zu verfolgen. Die Zielrichtung war klar. John Koenig gab Alarm Rot, machte damit die ganze Basis auf eine lebensbedrohende Gefahr aufmerksam. Für die Kommandozentrale jedoch war es bereits zu spät. Die drei grünen Bälle kamen hüpfend hereingestürmt. Irgendwie sah es lächerlich, absurd, grotesk aus. Aber es gab niemanden in der Kommandozentrale, der gelacht hätte, selbst wenn er noch dazu gekommen wäre.
John Koenig überwand als einer der ersten den unwillkürlichen Schock, den das urplötzliche Auftauchen der unheimlichen grünen Wesen bei allen Alphanern in der Kommandozentrale hervorgerufen hatte. Er wußte sofort: diese pulsierenden, kontraktierenden und trotz ihrer scheinbaren Ballform irgendwie konturenlosen Protoplasma-Gebilde konnten nur die drei Djuaner sein. Ihre idealisierten menschlichen Gestalten – Moses, Maria und Tom – waren nichts als Maskerade, waren nichts als Täuschung gewesen. In Wirklichkeit handelte es sich um absolut fremdartige Intelligenzien, die wohl ähnliche Fähigkeit wie Maya hatten. Sie waren in der Lage, ihrem Körper eine xbeliebige Form zu geben.
Den Gedanken, gerade die Gestalten zu verkörpern, mit denen sie den Alphanern entgegengetreten waren, hatten sie natürlich nach der Untersuchung von Leroy Nilssons Gehirn gefaßt. Nilsson war ein frommer Mensch, erfüllt von dem Glauben an Gott, an Religiosität, an die christlichen Gebote. Auf geradezu perfide Art und Weise hatten so die Fremden erfaßt, welches Aussehen und welche Verhaltensweise bei Nilsson – und bei den übrigen Alphanern auch –am besten ankommen würde. Und sie hatten, von einem gewissen, ganz natürlichen Mißtrauen auf seiten ihrer Asylgeber abgesehen, einen vollen Erfolg zu verzeichnen gehabt. Alle diese Überlegungen schossen dem Commander in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf. Sie hatten auf die Schnelligkeit seiner Reaktion kaum einen Einfluß. Ihm blieb die Taktik der Djuaner nicht lange verborgen. Zwei von ihnen sicherten die Türen, wollten verhindern, daß einer der Alphaner die Flucht nach draußen antreten konnte. Und der dritte? Er stürzte wie ein grüner Kugelblitz auf seinen, John Koenigs, Kommandosessel los. Der Commander warf sich ihm entgegen, versuchte ihm den Weg zu verstellen. Es blieb bei dem Versuch. Ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen, ließ der Djuaner einen dieser Pseudoarme aus seinem kontraktierenden Leib hervorgucken. John Koenig bekam einen Schlag gegen die Brust, der so gewaltig war, daß er regelrecht hochgerissen und meterweit zurück-geschleudert wurde. Schwer krachte er gegen eine Computerkonsole und riß die wie gelähmt davorsitzende Yasko mit zu Boden. Wütende Schmerzen breiteten sich in Koenig aus. Er wußte, daß eine, wenn nicht gar mehrere Rippen gebrochen waren. Der furchtbare Schlag hatte ihm die Luft aus den Lungen
gepreßt. Nur mit äußerster Willensanstrengungen konnte er vermeiden, in Bewußtlosigkeit zu versinken. Wie durch einen dunklen Nebel nahm er wahr, daß der Djuaner jetzt seinen Kommandostand erreicht hatte, daß ein grün schillernder Pseudofinger auf einen Knopf drückte. Er wußte, was das für ein Knopf gewesen war. Mit ihm wurde die Kommandozentrale hermetisch von allen anderen Sektoren der Mondstation abgeschlossen. Die Zentrale war jetzt eine Festung, die von außen kaum eingenommen werden konnte. Schmerzlich wurde sich der Commander bewußt, daß Moses, der scheinbare Moses, die Kenntnis von der Existenz dieses Knopfes aus seinem eigenen Bewußtsein gestohlen hatte. Und mit Sicherheit nicht nur diese Kenntnis. Für die beiden Fremden an den Türen war es jetzt nicht mehr erforderlich, diese zu bewachen. Solange die globale Abriegelung nicht wieder aufgehoben wurde, würden sich die Türen nicht mehr öffnen lassen. Eine Sperre sorgte dafür, daß die Funksignale der Commlocks ignoriert wurden. Das wußten auch die Djuaner. Sie konzentrierten sich jetzt voll auf die Menschen in der Kommandozentrale. Und wie sie das taten! Ganz plötzlich hatten sie alle drei einen seltsam geformten Gegenstand in einer ihrer Pseudohände. Das Ding war etwa faustgroß und erinnerte entfernt an eine Miniheizsonne. Strahlwaffen? fragte sich der Commander verzweifelt. Nur zu gut wußte er, daß kaum jemand in der Zentrale einen Phaser oder einen Handlaser bei sich trug. In ihrer Mehrzahl würden die Besatzungsmitglieder nichts als Schlachtvieh für die fremden Invasoren sein. Und schon setzten die Djuaner die Gegenstände ein. Immer noch krampfhaft nach Luft ringend und trotz allen guten Willens nicht in der Lage, auf die Füße zu kommen, sah
der Commander, daß der Djuaner am Kommandostand auf Pandit Madhva angelegt hatte. Ein kaum wahrnehmbares Leuchten brach aus dem Strahlenkranz des Heizsonnendings. Der Inder hatte die Gefahr erkannt, die ihm drohte, hatte noch im letzten Sekundenbruchteil versucht, zur Seite zu springen. Was auch immer es für eine Energie war, die das Ding abgab, sie traf Madhva im Sprung. In verkrümmter Haltung, einen Fuß noch auf dem Boden, den anderen in der Luft, blieb Madhva wie versteinert stehen. Es war unmöglich, in dieser Haltung, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Und doch geschah genau dies. Statuengleich und allen Gesetzen der Schwerkraft hohnsprechend, verharrte der Inder in seiner Haltung, stürzte nicht zu Boden. Die Djuaner legten auf andere Besatzungsmitglieder an, verwandelten auch diese in reglose Standbilder. Entsetzensschreie gellten durch den Raum, als sich die Alphaner vor der unheimlichen Waffe schützen wollten. Einige versuchten sich irgendwo zu verbergen, andere wider besseres Wissen und nur von der Panik getrieben, nach draußen zu gelangen. Aber es gab auch einige, die sich zur Wehr setzten, erbittert und kompromißlos. John Koenig sah Tony Verdeschi. Der Freund war einer der wenigen, die nie unbewaffnet gingen. Am Boden liegend – offenbar war auch er niedergeschlagen worden – hatte er seinen Handlaser hervorgerissen und zielte damit auf einen der Djuaner. Ein gebündelter Lichtstrahl zuckte aus der Mündung des Lasers und jagte auf den grünen Ball zu. Voll wurde der Djuaner getroffen. Zischend fraß sich der Strahl in den amorphen Protoplasmahaufen, verbrannte einen Teil seines Körpers zu Asche.
Aber das machte dem Djuaner gar nichts aus. Er sonderte die verbrannte Körpermasse einfach ab und war, etwas geringer im Umfang geworden, sofort wieder voll einsatzfähig. Seine Waffe ruckte herum, nahm den Sicherheitschef ins Visier und verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit. Auch andere Alphaner kämpften. Da war Takahama Tanaka. Todesmutig stürzte er sich mit einem Stuhl in der Hand auf einen der Invasoren und drosch auf ihn ein. Erschreckendes geschah. Die Gestalt des Djuaners verformte sich, wurde zu einer Wurst, dann zu einem dünnen Fladen. Und plötzlich, fast schneller als das menschliche Auge zu schauen vermochte, schoß der Fladen hoch und stülpte sich über Tanaka. Der unglückliche Japaner kam nicht wieder zum Vorschein, wurde von der grünen Protoplasmamasse regelrecht zersetzt. Vom Grauen erfüllt ahnte John Koenig, welches Schicksal Elkie Altmann ereilt hatte. Dann war da Alan Carter. Der Pilot hatte einen Phaser gepackt und feuerte damit auf einen Djuaner. Auch er traf, vernichtete einen Teil der grünen Körpermasse – mit dem gleichen geringen Erfolg wie der Sicherheitschef. Obgleich Carter Schutz hinter einem wuchtigen Bildgerät gefunden hatte, blieb er chancenlos. Die unbekannte Energie der Djuanerwaffe durchdrang das Bildgerät und machte auch den Piloten zur Statue. Und dann war da Maya. Die Psychonierin hatte in einer Energiespindel ihre Molekularstruktur geändert, hatte die Form eines schwarzen, feuerspeienden Vogels angenommen. Mit flammendem, scharf gebogenen Schnabel stürzte sie sich auf den Fremden am Kommandostand. John Koenig nahm sich nicht die Zeit, den Ausgang des Duells zu beobachten. Er hoffte, daß die Verwandlung Mayas
die Djuaner so verblüfft hatte, daß sie auf ihn nicht achteten. Obgleich er sich vor Schmerzen kaum rühren konnte – er hatte jetzt das Gefühl, daß nicht nur ein paar Rippen, sondern der ganze Brustkorb eingedrückt war – kroch er auf Tony Verdeschi zu. Seine eigene Waffe befand sich in einer Schublade am Kommandostand, unerreichbar für ihn. Aber wenn es ihm gelang, Tonys Laser in die Hand zu bekommen… Er schaffte es tatsächlich. Der Laser lag neben der reglosen Gestalt des Freundes. Koenig packte ihn, zielte auf den Djuaner, der ihm am nächsten war, und drückte auf den Auslöser. Es gelang ihm auch, einen Teil der Protoplasmamasse zu verbrennen. Dann mußte er es geschehen lassen, daß sich eine der gegnerischen Waffen auf ihn richtete. Er sah noch, wie Maya, ebenfalls getroffen, erstarrte. Dann hörte die Welt ganz abrupt auf, für ihn zu existieren.
Vier-dju und die Seinen waren voller Triumph. Der Kampf mit den Opfern war härter gewesen als erwartet. Alle drei hatten sie Partien ihrer Körper verloren. Aber das machte ihnen nicht viel aus. Die Auflösung einiger Opfer würde die verlorengegangene Körpermasse schnell wieder ersetzen. Befriedigt fluktuierend ließen sie die Sehzellen über die Stätte ihres Sieges gleiten. Die Alphaner der Zentrale befanden sich ausnahmslos in Stasis, stellten keine Gefahr mehr dar. Und auch die übrigen in den verschiedensten Stationssektoren waren keine Gegner, die man fürchten mußte. Sie konnten höchstens unter Einsatz schwerster Waffen in die Kommandozentrale eindringen. Und davor würden sie sich ganz bestimmt hüten.
Natürlich, die ganze Basis war in Aufruhr. Die Opfer in der Kommandozentrale hatten vor ihrer Niederlage noch Großalarm gegeben. Und nun wußten die Opfer außerhalb der Zentrale nicht, was eigentlich vorging. Krampfhaft versuchten sie, mit ihren Führern in Verbindung zu treten. Überall in der Zentrale flackerten Lichter auf, piepte und summte es. Und auf den Bildschirmen war Hektik und Ratlosigkeit zu sehen. Vier-dju hielt den Zeitpunkt für gekommen, allen Opfern ihre Situation klarzumachen. Je früher sie die begriffen, desto besser war es. Nach einem leichten Wabern des Widerwillens nahm Vierdju noch einmal die Gestalt eines Humanoiden an, jene Gestalt, die den Opfern als Moses bekannt war. Dann setzte er sich in den Sessel des obersten Alphaners. Er legte einen Schalter um, der das ganze Kommunikationssystem der Mondstation gleichschaltete. Er war jetzt aus jedem Lautsprecher und Commlock zu hören, auf jedem Bildschirm, stationär oder portabel, zu sehen. Vier-dju öffnete seinen Scheinmund und sagte: »Hört mich an, Alphaner, ich habe euch Dinge von großer Bedeutung mitzuteilen. Ihr alle glaubt, mich zu kennen – Moses, den ehrwürdigen Familienvater, der zu euch als Schiffbrüchiger gekommen ist. Aber ihr irrt! Ich bin nicht Moses, der ehrwürdige Familienvater. Ich bin Vier-dju, Abkömmling des großen Hundert-dju, und ich bin euer neuer Kommandant!« Vor dem Auge der Kamera, die sein Bild in die ganze Basis trug, verwandelte sich Vier-dju in seine wahre Gestalt. Dann ließ er an einer beliebigen Stelle seines Körpers einen neuen Scheinmund entstehen und redete weiter: »Ihr habt nun gesehen, wer ich wirklich bin. Ich und meine beiden Abkömmlinge, die ihr als Maria und Tom zu kennen glaubt, haben eure Kommandozentrale erobert und alle Besatzungsmitglieder als Geiseln genommen. Hier!«
Mit einem Hebel ließ Vier-dju die Kamera wandern, bis ihre Linse auf eins der Opfer in Stasis fiel. »Die Geiseln sind nicht tot, was leicht zu beweisen ist.« Vier-dju richtete einen Stasisator auf die von der Kamera erfaßte Geisel und schaltete das Antifeld ein, das die Stasis aufhob. Das Opfer, eine weibliche Alphanerin, bewegte sich sofort. Ihr Mund öffnete sich und stieß einen gellenden Hilfeschrei aus. Augenblicklich ließ Vier-dju wieder im Stasisfeld erstarren und schweigen. »Hört weiter zu, Alphaner«, sagte er und richtete die Kamera wieder auf sich. »Wie ich bereits sagte, bin ich euer neuer Kommandant. Widerstand gegen meine Befehlsgewalt ist sinnlos. Er würde lediglich den Tod der Geiseln bedeuten. Und euren eigenen, denn ihr wißt, daß jede Anlage der Station – das Generatorenzentrum, die hydroponische Anlage, das Lebenserhaltungssystem – von der Kommandozentrale aus gesteuert und… abgeschaltet werden kann. Außerdem sind meine Abkömmlinge und ich unbesiegbar. Auch dafür werde ich euch jetzt einen Beweis liefern.« Mit einer Scheinhand packte er den Laser eines Opfers und zielte damit auf seinen eigenen Körper. Er konnte ein starkes Pulsieren nicht unterdrücken, als er den Auslöser des Lasers betätigte und einen Teil seines Körpers vernichtete. Der Schmerz war zwar nicht größer als bei einer normalen Abspaltung, aber sein ganzer Metabolismus wurde doch geschwächt. Dennoch war diese Demonstration nötig, um den Opfern vor Augen zu führen, wie stark und mächtig er und die Seinen waren. Er überlegte, ob er sie auch gleich mit ihrer zukünftigen Brüterpflicht vertraut machen sollte, ließ den Gedanken aber wieder fallen. Der Zeitpunkt wäre verfrüht gewesen. Zuerst einmal mußten sich die Opfer an ihre neue Situation
gewöhnen. Er schloß seine Ansprache deshalb ab, indem er die Opfer anwies, wieder an ihre Arbeit zu gehen und sich so zu verhalten wie immer. Anschließend folgte er dem Beispiel seiner Abkömmlinge und walzte sich voller Genuß aus. Dabei überlegte er, welche der Opfer in der Zentrale den geringsten Geiselwert besaßen.
XIII
Wie alle anderen Alphaner auch hörte Leroy Nilsson der selbstherrlichen Ansprache des Djuaners mit größter Bestürzung zu. Als sich ›Moses‹ vom würdigen Patriarchen in eine grün schillernde Monstrosität verwandelte, durchlebte Nilsson den schrecklichsten Augenblick seines Lebens. Alles was danach kam, war für ihn wie ein entsetzlicher Alptraum, den ein gerade aus dem Schlaf Erwachter noch einmal Revue vor seinem geistigen Auge passieren läßt. Noch als der Djuaner längst wieder von den Bildschirmen der Alphaner verschwunden war, stand er da wie eine der Geiseln in der Kommandozentrale – starr, unbewegt, wie versteinert. In seinem Innersten jedoch arbeitete es. Wellen eines nahezu alttestamentarischen Zorns wogten in ihm. Er war getäuscht worden, bitter getäuscht worden. Er hatte in den drei Djuanern Wesen gesehen, die dem Himmel näher waren als jeder Mensch. Und nun hatte sich herausgestellt, daß sie nicht dem Himmel, sondern der Hölle verblinden waren. Schrecklicher hätte keine Erkenntnis des Universums für ihn sein können. Und nun waren die Sendboten des Teufels mitten unter den Alphanern. Durch seine, Leroy Nilssons, Schuld. Hätte er sich an Bord des Medusenschiffs nicht von ihnen täuschen lassen, ja, hätte er nicht den Katalysator für ihr gigantisches Täuschungsmanöver gespielt, wäre es alles nicht so weit gekommen. Er war schuldig am Unglück der Alphaner. Und er mußte Sühne tun für seine Schuld und dadurch die Menschen der Mondstation von dem Übel erlösen.
Ganz genau wußte er bereits, was er tun konnte und wie er es tun konnte. Unbesiegbar wollten sie sein, die höllischen Djuaner? Es gab kein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut – wie auch immer dieses beschaffen sein mochte –, das unverwundbar und unbesiegbar war. Leroy Nilsson mußte es wissen. Er war Reaktortechniker und kannte die verheerende Macht des Atoms. Er verließ das Generatorenzentrum und ging zur Waffenabteilung hinüber.
Vier-dju hatte einige Schwierigkeiten, seine Abkömmlinge zu bändigen. Zwei-dju und Drei-dju wollten unbedingt John Koenig und Tony Verdeschi auflösen, jene beiden Opfer, die ihrem Metabolismus mit Laserstrahlen Schaden zugefügt hatten. Das aber durfte er nicht zulassen. »Die Opfer Koenig und Verdeschi sind die ranghöchsten Alphaner«, pulsierte er auf seine Abkömmlinge ein. »Als Geiseln haben sie den größten Wert für uns. Wenn die anderen Opfer erfahren, daß wir gerade diese beiden aufgelöst haben, wird ihre Reaktion unberechenbar und voller Leidenschaft sein. Dieses Risiko müssen wir nicht eingehen. Warum sucht ihr euch nicht ein anderes Opfer aus? Nehmt…« Die Entscheidung war schwierig. Aus dem Bewußtsein des obersten Opfers wußte er, daß die Männer aus der Kommandozentrale eigentlich alle dem Führungsstab der Alphaner angehörten. Ihre Auflösung würde den Zorn der Opfer draußen groß werden lassen. Vier-dju fürchtete diesen Zorn der Opfer nicht. Aber ihm lag daran, möglichst bald Ruhe in der Basis eintreten zu lassen, um das Brutprogramm anlaufen zu lassen.
Auch die jungen Frauen in der Kommandozentrale eigneten sich in der derzeitigen Phase nicht besonders gut als Opfer. Sie wurden als Brüterinnen gebraucht. Am besten würde es deshalb sein, Opfer aus einer anderen Alphanerschicht zu rekrutieren. Draußen gab es genug Alphaner, die keinen Symbolwert besaßen und auch für die Durchführung des Brutprogramms nicht benötigt wurden. Vier-dju dachte noch darüber nach, wie er geeignete Opfer am geschicktesten in die Zentrale locken konnte, als eins der Kommunikationsgeräte zu summen begann. Seit seiner Ansprache an die Masse der Opfer war es still geworden in der Zentrale. Keiner der Alphaner hatte versucht, Kontakt zu den neuen Herren aufzunehmen. Soweit es Vierdju über die zahlreichen Kontrollmonitoren beurteilen konnte, berieten die Opfer überall, hatten sich aber noch zu keiner bestimmten Handlungsweise entschließen können. Hatte jetzt vielleicht einer der Angehörigen des Führungsstabs außerhalb der Zentrale etwas von Bedeutung zu melden? Vier-dju schaltete das Kommunikationsgerät ein. Nein, es war kein Angehöriger des Führungsstabs. Es war nur das so einfältige Opfer Leroy Nilssons, das ihm und den Seinen erst den Weg in die Basis gebahnt hatte. Einen Scheinmund formend, fragte Vier-dju: »Was willst du, Leroy Nilsson?« »Ich will nichts von dir, du… du Ding«, antwortete das Opfer auf dem Bildschirm. »Ich will einen meiner Freunde sprechen. Moses, Maria oder Tom!« »Ich bin Moses«, gab Vier-dju zurück. »Ich glaube es nicht!« »So paß auf, Leroy Nilsson«, sagte Vier-dju und ließ aus der oberen Körperpartie den weißbärtigen Kopf des falschen Moses herauswachsen. »Bist du nun überzeugt?«
»Nein, ich bin nicht überzeugt. Du bist ein Ding, das mit den höllischen Tricks der Teufels arbeitet. Ich will den richtigen Moses sprechen! Gibst du mir dazu keine Gelegenheit, Ding, werde ich die Generatorenzentrale in die Luft jagen!« Wie einfältig dieses Opfer doch war, dachte Vier-dju. Fanatisch und verbohrt, in den Wirren einer verrückten Metaphysik verstrickt. Andererseits aber war dieses Opfer auch ein erstklassiger Kenner der Atomkernspaltung. Vier-dju wußte das von der Anzapfung seines Gehirns. Natürlich konnte Leroy Nilsson den Generatorenraum nicht gegen den Willen der Kommandozentrale in die Luft jagen. Aber er konnte genug Ärger am Reaktor machen, um die Energieversorgung ernsthaft zu gefährden. Sofort erkannte Vier-dju die günstige Gelegenheit. Er konnte zwei Gligli mit einem Pseudopod schnappen: den lästigen Unruhestifter eliminieren und dabei ein Opfer gewinnen. »Ich bin Moses«, sagte Vier-dju noch einmal. »Aber wenn du mir nicht glaubst, Leroy Nilsson… Du kannst in die Zentrale kommen, um dich selbst überzeugen.« »Ja, das werde ich tun«, kündigte das Opfer an. Bevor es abschalten konnte, sagte Vier-dju noch: »Bring zwei weitere Op… Alphaner mit, die als Zeugen dienen können. Das ist ein Befehl!« Ohne noch etwas zu antworten, unterbrach das Opfer die Verbindung. Mehrere Minuten vergingen. Vier-dju füllte sie vor allem damit aus, seine opfergierigen Abkömmlinge zu zügeln. »Gleich werdet ihr eure Opfer bekommen«, pulsierte er ihnen zu. »Beherrscht euch gefälligst noch.« Dann zeigte die Kontrollkamera 1 auf einem Monitor an, daß das Opfer Leroy Nilsson vor der Tür stand. Allein!
Vier-dju waberte vor Zorn. Das Opfer hatte es gewagt, seinen Befehl zu mißachten, und die verlangten Zeugen nicht mitgebracht. Das würde er büßen! Er selbst, Vier-dju, würde das ungehorsame Opfer auflösen! »Öffne die Tür, Drei-dju!« wies er seinen ältesten Abkömmling an. Für zwei Sekunden schaltete er die mehrfachen Schutzschirme der Tür aus, so daß Drei-dju das Opfer hereinlassen konnte. Anschließend stellte er die hermetische Abgeschlossenheit wieder her. Drei-dju machte Anstalten, sich auszuwalzen. Aber Vier-dju kam seiner Absicht, das Opfer aufzulösen, zuvor. »Nein!« pulsierte er scharf. »Dieses Opfer gehört mir.« Er formte einen Scheinmund. »Warum, Leroy Nilsson, hast du meinen Befehl, zwei weitere Alphaner mitzubringen, nicht befolgt? Antworte!« Eigentlich hatte Vier-dju erwartet, daß das Opfer auf die Frage gar nicht eingehen, sondern auf seinen Bjobjo mit Maria und Moses zurückkommen würde. Aber es sah sich getäuscht. Leroy Nilsson sagte: »Ich bin allein gekommen, weil ich der Ansicht bin, daß es vollauf genügt, wenn euch Höllengelichter nur ein Mensch in den Tod begleitet. Nämlich ich!« Bevor Vier-dju und die Seinen den Sinn dieser Worte begreifen konnten, zog das Opfer blitzschnell etwas unter seinem Overall hervor. Vier-dju konnte nur erkennen, daß es sich um einen länglichen, größeren Gegenstand handelte. Dann passierte es auch bereits. Das Opfer machte eine ruckartige Handbewegung. Unmittelbar vor ihm entstand ein Feuerball, klein erst, dann wachsend, größer und größer werdend. Blau, gelb, rot leuchtete die verzehrende Glut.
Eine gewaltige Druckwelle folgte. Wie von riesigen Pseudopodien gepackt, wurden Vier-dju und seine Abkömmlinge durch die Kommandozentrale geschleudert. Selbst ihre geschmeidigen, knochenlosen Protoplasmakörper bekamen einen Schock, als sie mit Urgewalt gegen die Wand klatschten. Den Aufprall hätten sie fraglos unbeschadet überstanden. Nicht aber das, was nach Feuerball, Druckwelle und jetzt losbrechendem Donnerschlag folgte. Brutale radioaktive Strahlen, die jede Körperzelle der Djuaner durchdrangen und in Sekundenbruchteilen für alle Zeiten zerstörten, setzten ihrem mörderischen Leben ein sofortiges Ende.
Bevor Spezialisten darangingen, die Schutzschirme in mühevoller Arbeit zu deaktivieren, wurde die Kommandozentrale per Fernschaltung in ein stundenlanges Strahlenbad getaucht. Erst nachdem die Geigerzähler keine Gefahr mehr anzeigten, wurden die Türen geöffnet. Zuerst barg man die Leiche des tapferen Nilsson, dem die Alphaner ihre Rettung verdankten. Die Zerstörung hielt sich, verhältnismäßig gesehen, in erträglichen Grenzen. Die Neutronengranate, die Leroy Nilsson gezündet hatte, bezog ihre Wirkung weniger aus ihrer Sprengkraft, als vielmehr aus ihrer vernichtenden Strahlung, der kein Leben widerstehen konnte. Und doch war die gesamte Besatzung der Kommandozentrale nicht zu Schaden gekommen. Nilsson, der in der Schleusenkammer des Medusenschiffes einschlägige eigene Erfahrungen gesammelt hatte, war hundertprozentig bestätigt worden: das Stasisfeld, das die Alphaner in der Zentrale einhüllte, hatte die radioaktive Strahlung ferngehalten.
Die Stasisatoren der Djuaner traten in Aktion. Es bedurfte einigen Experimentierens, um festzustellen, wie ein Stasisfeld aufgebaut und wie es wieder annulliert wurde. Daß beides ging, hatte der falsche Moses den Alphanern ja bei seiner großen Ansprache demonstriert. Jameson, der Waffenchef, übernahm die Aufgabe, die scheinbar Leblosen aus ihrer Starre zu befreien.
Verzweifelt versuchte Commander Koenig, sich zur Seite zu wälzen, um der auf ihn gerichteten Waffe des Djuaners am Kommandostand zu entgehen. In diesem Augenblick stellte er zu einer größten Verblüffung fest, daß keine Strahlwaffe auf ihn zielte und daß da auch gar keine grün schillernden Protoplasmahaufen waren. Statt dessen hörte er neben sich die Stimme Jamesons: »Ganz ruhig, Commander. Es ist längst alles vorbei!« Ähnlich ging es auch allen anderen Mitgliedern der Kommandozentrale, die ausnahmslos glaubten, in einem furchtbaren Kampfesgetümmel zu stecken und sich nun unversehens in einer ganz anderen Realität wiederfanden. Nicht in allen Fällen war die plötzliche Wiederbelebung ungefährlich. Alan Carter hatte, als er in den Bann des Stasisfelds geriet, den Finger auf dem Auslöser seines Phasers gehabt. Und das war auch bei seinem Erwachen noch so. Der aus seiner Waffe zuckende Energiestrahl vernichtet zum Glück nur eine unbesetzte Computerkonsole. Auch bei Maya gab es Komplikationen. Bevor sie sich, die Situation erkennend, wieder in ihre Mädchengestalt verwandelte, legte sie mit ihrem feurigen Vogelatem einen Stapel Magnetbänder in Schutt und Asche. Nicht, daß es bei der allgemeinen Verwüstung besonders ins Gewicht fiel.
Nach der Wiederbelebungsaktion wurde mit Hochdruck an der Reparatur der durch die Explosion defekt gewordenen Geräte und der Wiederherstellung der Ordnung gearbeitet. Eins der ersten Kontrollgeräte, die wieder funktionstüchtig wurden, war der Monitor, der die Geschwindigkeit des Mondes registrierte. Als Sandra Benes ihren Arbeitsplatz wieder einnahm, stieß sie einen kleinen Schrei aus. Dieser Schrei war verständlich, hatte sie doch festgestellt, daß die Abnahmerate der Mondgeschwindigkeit auf Null gefallen war. Unbehindert, mit gleichbleibender Geschwindigkeit, trieb der Mond in die intergalaktische Nacht hinaus. Die Wesen aus dem Andromeda-Nebel hatten aufgehört, den Mond abzubremsen.
XIV
Es war halbwegs gelungen, die Funktionstüchtigkeit der Kommandozentrale wiederherzustellen. Und auch in den anderen Abteilungen der Basis lief der durch die Djuaner empfindlich gestörte normale Dienst wieder an. Allgemeines Gesprächsthema Nummer eins war schnell nicht mehr die Invasion der grünen Protoplasmawesen. Statt dessen redeten sich die Alphaner die Köpfe über die Frage heiß, warum die geheimnisvollen Andromedaner ihre Attacke gegen den Mond eingestellt hatten. Nicht nur das unfreiwillige Bremsmanöver des Mondes war abgebrochen worden. Noch etwas anderes hatte sich herausgestellt: Die Eagles waren wieder flugbereit! Das rätselhafte Kraftfeld, das den Neutronenfluß in den Tiraniumreaktoren unterbunden hatte, existierte nicht mehr. Tony Verdeschi stellte eine gewagte Theorie auf. »Wenn ihr mich fragt«, sagte er, »dann war die verdammte Mosesbande für Mondverlangsamung und Eagle-Ausfall verantwortlich. Ihr Geschwätz von den angeblichen Überwesen aus dem Andromeda-Nebel – pure Erfindung! Sie haben uns ganz bewußt ein Märchen erzählt, um…« »Ja, Tony?« Der Commander sah den Sicherheitschef erwartungsvoll an. »Um… um… Herrgott, ich weiß das doch auch nicht! Aber irgendein Motiv werden sie schon dabei gehabt haben.« John Koenig zeigte sich ungläubig. »Abgesehen von dem fehlenden Motiv… Die Andromeda-Geschichte ist viel zu phantastisch, als daß sie jemand erfinden könnte.«
»Immerhin…«, schaltete sich Maya ein. »Eins spricht für Tonys Spekulation. Beide Phänomene, die Verlangsamung des Mondes und der Ausfall der Eagle-Triebwerke, traten zum gleichen Zeitpunkt auf. Kurz nachdem die Djuaner in die Basis gekommen waren!« Dem konnte der Commander nicht widersprechen. »Und beide Störfaktoren traten nicht mehr auf, nachdem die Djuaner tot waren!« sprach die Psychonerin weiter. Auch dies war eine Tatsache, die John Koenig nicht wegleugnen wollte. »Trotzdem«, sagte er. »Ich wüßte beim besten Willen nicht, wie die Moses-Bande auf Mond und Eagles hätten Einfluß nehmen können. Schön, sie haben uns fürchterlich getäuscht und zum Schluß auch überrumpelt. Aber das waren letzten Endes doch nur Aktionen bescheidener Größenordnung. Dies jedoch…«, John Koenig machte auf die zahlreichen Raumschiffwracks aufmerksam, die immer noch die Bahn des Mondes kreuzten, »… ist eine Größenordnung von gigantischen Ausmaßen. Und außerdem wollen wir nicht vergessen, daß das djuanische Schiff selbst betroffen war. Wenn wir auch den Djuanern nichts glauben können… Leroy Nilsson hat sich davon überzeugt, daß an Bord des Medusenschiffes keine Atomkernreaktionen möglich waren.« Dem wiederum konnte nun Tony Verdeschi nichts entgegensetzen.
John Koenig war ein vorausschauender Mann. Er rechnete durchaus damit, daß es zu einem neuen Angriff der Wesen aus dem Andromeda-Nebel – oder wer auch immer für die Phänomene verantwortlich war – kommen konnte. Und bei einer solchen Attacke war es keineswegs gesagt, daß nur die Eagle-Triebwerke von einem Reaktorausfall betroffen wurden.
Auch die Generatorenzentrale selbst konnte beim nächsten Mal in Mitleidenschaft gezogen werden. Aus diesen Überlegungen gab er Anweisung, drei Eagles startklar zu machen. Die Eagles sollten mehrere Wracks anfliegen. Ziel der Übung: Überprüfen, ob irgendwelche Energieträger für die Basis ausgebaut werden konnten, auf atomarer und auch auf nichtatomarer Grundlage. Letztere waren zwar zum Antrieb eines Raumschiffs ungeeignet, mochten aber ausreichen, im Notfall das Lebenserhaltungssystem der Basis für gewisse Zeit aufrechtzuerhalten. Moralische Bedenken, daß ein solches Tun den Tatbestand der Plünderung erfüllte, hatte der Commander nicht. Nach Lage der Dinge war nicht damit zu rechnen, daß auf einem der Wracks noch Leben existierte. Die Mondbasis gab unablässig auf allen Frequenzen Signale ab, ohne daß eine Antwort kam. Alle diese Schiffe hingen wahrscheinlich schon seit langer, langer Zeit hier im Sternenlosen Raum. Bevor die Eagles starteten, versammelte Koenig sämtliche von ihm ausgewählten Besatzungsmitglieder noch einmal in der Kommandozentrale. Er gab den Männern noch einige Anweisungen mit auf den Flug und schloß dann mit den Worten: »Falls jemand von Ihnen auf den Gedanken kommen sollte, ein Asylbegehren an mich heranzutragen… Die Antwort kann ich Ihnen bereits jetzt geben: Abgelehnt!« Und es war nicht nur Alan Carter, der zustimmend nickte.
Während die Eagles drei, vier und sieben mit den Piloten Carter, MacInlock und Fraser unterwegs waren, vergaß John Koenig auch die heimischen Energiequellen nicht: die theoretisch noch denkbaren Tiraniumlager des Mondes.
Regelmäßig ließ er sich von der für die Tiraniumsuche zuständigen Abteilung über die Fortschritte unterrichten. Er erhielt allerdings nur negative Berichte. Einer der Überbringer einer derartigen Mißerfolgsmeldung war der Geologe Dewey Copeland. Als John Koenig sein Gesicht auf dem CommlockSichtschirm sah, erinnerte er sich an eine Absicht, die im Trubel der letzten Ereignisse etwas in den Hintergrund seines Bewußtseins abgedrängt worden war. Das Audio-Tagebuch Elkie Altmanns trat vor sein geistiges Auge, und ihm fiel ein, daß er sich mit Dewey Copeland über den Tod Michael Altmanns unterhalten wollte. »Copeland«, sagte er, »ich möchte mit Ihnen noch über etwas Privates sprechen. Kommen Sie gegen 18.00 Uhr doch mal in die Kommandozentrale.« »Sprechen, Sir?« echote der Geologe. »Über was wollen Sie mit mir sprechen, wenn nicht über meine Arbeit?« Irrte sich John Koenig, oder war da ein leicht nervöses Zucken über die Züge des Mannes gehuscht? »Ich möchte mit Ihnen über ihr Verhältnis zu Michael und Elkie Altmann sprechen, Copeland«, ließ er den Geologen wissen. »In einer Stunde dann…« Der Commander unterbrach die Commlockverbindung. Anschließend setzte er sich mit Tony Verdeschi in Verbindung. »Tony, erinnerst du dich noch an Elkie Altmanns AudioTagebuch?« fragte er den Sicherheitschef. »Fall von Gedankenübertragung, was?« antwortete Verdeschi. »Ich habe zwar im Augenblick mehr als genug zu tun, aber ich habe mich zwischenzeitlich auch um diese Sache gekümmert und Elkie Altmanns Tagebuch abgehört. Nicht nur das letzte Band, sondern auch alles, was sie seit dem Tod ihres
Mannes festgehalten hat. Ich wollte gerade mit dir darüber sprechen.« »Etwas Aufschlußreiches dabei?« »Glaube schon! Wenn man Elkie glauben kann, dann hat Copeland ihr gegenüber praktisch zugegeben, daß er Michael Altmann ermordet hat. Sie gibt hier sogar ein paar Details an… Wie gesagt, recht aufschlußreich.« »Kann nicht sagen, daß ich mich freue, das zu hören«, knurrte der Commander. Sollte wirklich ein Alphaner einen anderen vorsätzlich umgebracht haben? Das wäre eine böse, schreckliche Sache gewesen. Schlimmer eigentlich noch als die Taten der Djuaner, bei denen es sich immerhin um Fremde gehandelt hatte. »Ich habe Copeland in die Zentrale bestellt«, informierte er den Sicherheitschef. »Um 18.00 Uhr. Ich möchte dich bitten…« »Ich werde dasein«, sagte Verdeschi.
Eagle drei steuerte sein Zielobjekt an, ein walzenförmiges Schiff, das in etwa so groß war wie der Eagle selbst. Carter manövrierte seinen Raumer ganz dicht an das fremde Schiff heran. Die Gefahr, eine unangenehme Überraschung zu erleben, war so gering, daß man sie getrost vergessen konnte. Die Energietaster des Eagle schlugen nicht ein einziges Grad aus. An Bord der Walze konnte es kein Leben mehr geben. Während der Pilot vorerst im Eagle zurückblieb, schwebten die drei Männer von der technischen Abteilung in ihren Raumanzügen zudem fremden Schiff hinüber. Sie fanden eine Luftschleuse, die natürlich verschlossen war. Aber die Techniker hatten keine Schwierigkeiten, mit ihren Lasern eine Öffnung in die Schiffswandung zu schneiden, so daß sie die Schleuse betreten konnten.
Auch die Trennwand ins Innere des Schiffes mußte mit den Lasern zertrennt werden. Die Männer fanden zwar in der Schleuse, eine Vorrichtung, mit der sich wahrscheinlich der Öffnungsmechanismus betätigen ließ, aber das nutzte ihnen nicht viel. Ohne Energie konnte der beste Mechanismus nicht funktionieren. Im Inneren des Schiffs gab es noch eine Atmosphäre, die bei der Öffnung zu entweichen begann. Die Meßinstrumente ihrer Raumanzüge analysierten die Atmosphäre als ein Chlorgasgemisch, dessen Einatmung die Alphaner auf der Stelle getötet hätte. Die Männer sahen sich auf dem Schiff um. Der Aufbau folgte logischen Prinzipien, so daß kaum Mühe hatten, sich zurechtzufinden. Sie stießen auf mehrere Skelette der einstigen Schiffsbesatzung. Es schien sich um eine reptilienartige Rasse gehandelt zu haben, wie es sie sehr zahlreich in der Milchstraße gab. Den Generatorenraum fanden sie dort, wo sie ihn vermutet hatten. Erwartungsgemäß war die gesamte Energie des Schiffes einst von Kernreaktoren erzeugt worden. Und genauso erwartungsgemäß fanden Kernreaktionen an Bord nicht statt. Wären die Raumanzüge der Alphaner nicht mit Sonnenbatterien aus dem Erbe der Djuaner gespeist worden, sondern wie gewohnt mit einer Tiranium-Batterie, hätte die drei Männer längst das gleiche Schicksal ereilt, wie Leroy Nilsson in der Atmosphärekammer des Medusenschiffs. So jedoch konnten sie sich gefahrlos bewegen. Und sie hatten Glück. Von Atomkraft unabhängige Energiequellen gab es nicht. Aber sie konnten einen achtbaren Vorrat an Spaltmaterial lokalisieren. Reines Tiranium! Wenn die hypothetischen Andromedaner nicht wieder eingriffen, würden die Alphaner imstande sein, dem drohenden
Tod in der Lichtlosigkeit zwischen den Galaxien ein weiteres halbes Jahr Galgenfrist abzuringen. Die an Bord des Reptilien-Schiffes herrschende Schwerelosigkeit machte den Transport des Brennmaterials zu keinem großen Problem. Bald hatten sie ihre Energiebeute im Lagerraum des Eagle verstaut. Den Rückflug zum Mond traten sie in einer fast euphorischen Stimmung an. Und das wollte in diesen Tagen der allgemeinen Hoffnungslosigkeit schon etwas heißen.
Eagle Vier unter der Leitung Mark MacInlocks hatten nicht so viel Glück wie die Besatzung von Eagle Drei. Genauer gesagt – MacInlocks Team hatte überhaupt kein Glück. Das Schiff, das sie anflogen, war ein merkwürdig geformtes Objekt, das aussah wie zwei an den Spitzen aneinandergefügte Pyramiden. Der Raumer war genauso tot wie seine Ebenbilder im alten Ägypten. Die Techniker von Eagle Vier versuchten, auf die gleiche Weise ins Innere des fremden Schiffs zu gelangen wie ihre Kollegen von Eagle Drei: mit dem Laser. Die Lichtstrahler stießen jedoch auf einen starken passiven Widerstand des Schiffsmaterials. Die Wandung bestand aus einer unglaublich resistenten Metallegierung. Und sie war außergewöhnlich dick. Die Männer erkannten gleich, daß sie Stunden brauchen würden, um eine Öffnung zu schaffen. Mark MacInlock trug sich mit der Absicht, das Kohlendioxid-Laser-Geschütz des Eagle einzusetzen und damit ein Loch in die Hülle des Pyramidenraumers zu reißen. Commander Koenig, mit dem Eagle per Funk verbunden,
sprach sich jedoch dagegen aus. Seinen Argumenten konnte sich der Pilot nicht verschließen. Wenn schon die Hülle schier unüberwindbare Schwierigkeiten machte, dann würde es an Bord des Schiffes kaum anders sein. Energie- und Zeitaufwand würden wahrscheinlich in keinem Verhältnis zum letztlich noch sehr fraglichen Erfolg stehen. Eagle Vier kehrte zur Mondbasis zurück.
Bill Fraser und das Ingenieur-Team von Eagle Sieben wurden mit einem Schiff von gewaltigen Ausmaßen konfrontiert. Wie ein riesiger Berg ragte es vor dem gewiß nicht gerade kleinen Alpha-Raumer auf. »Sieht aus wie ein riesiges Hochhaus«, sagte Bill Fraser spontan, als er den Eagle unmittelbar vor der ›Haustür‹ zum Stillstand brachte. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht wissen, daß er den Nagel fast genau auf den Kopf getroffen hatte. Ohne große Mühe drangen seine Techniker-Kollegen ins Innere des überdimensionalen Raumers ein. Auch ihnen quoll eine Atmosphäre entgegen, die lange Zeit brauchen würde, bis sie ganz aus dem Schiff entwichen war. Die Atmosphäre wäre atembar für die Alphaner gewesen, denn sie ähnelte weitgehend der Luft der Erde. James Sturgee, einer der Ingenieure, öffnete seinen Raumhelm auch ganz kurz, schloß ihn aber sofort wieder. »Pfui, das stinkt ja wie in einer Abdeckerei!« stieß er hustend hervor. »Eigentlich sollte man dir wünschen, daß du jämmerlich daran eingehst«, ließ ihn sein Kollege Purdom grob durch die Funksprechanlage wissen. »Wa… was?« hustete Sturgee.
»Ich meine das ganz im Ernst«, sagte Purdom. »Es ist unverantwortlich, sich ohne eingehende Tests und Voruntersuchungen einer fremden Atmosphäre auszusetzen. Du bist zwar noch jung, Sturgee, aber das sollte selbst ein Grünschnabel wie du wissen.« Sturgee versuchte, sich zu rechtfertigen. »Aber die Analysewerte…«, setzte er an. »Der Satan hole die Analysewerte! Was sagte eine Analyse über Mikroben, Bazillen, Bakterien und all das andere Mikrozeug aus, häh? Vielleicht bist du jetzt schon ein wandernder Ansteckungsherd!« »Na, wird schon gutgehen«, meinte Sturgee forsch. »Das will ich hoffen«, kommentierte der ältere Kollege. »In meinem eigenen Interesse.« Schweigend jetzt drangen die Männer weiter in das Innere des Schiffes vor. Sie machten erschütternde Entdeckungen. Überall fanden sie Skelette, noch mit Gewebefetzen im letzten Stadium der Verwesung behaftet. Es waren Knochengerüste, die fraglos humanoiden Charakter aufwiesen. Und es waren Hunderte, nein Tausende von Skeletten. Purdom drückte das aus, was auch seine Kollegen dachten. »Ein Kolonisationsschiff!« sagte er gepreßt. »Der Teufel soll mich holen, wenn das kein Kolonisationsschiff war.« Grauen vor den riesigen Leichenbergen beschlich die Alphaner. Und auch Grauen vor den Wesen, die verantwortlich für ein so schauriges Massensterben waren. Es mußten wahre Teufel sein, diese Andromedaner. Es fiel den Alphanern schwer, sich bis an das Kraftwerk heranzuarbeiten, dessen Dimensionen der Größe des gewaltigen Raumtransporters entsprachen.
Als sie sich mit den Reaktoren vertraut machten, erlebten sie eine herbe Enttäuschung. Dieses Kraftwerk arbeitete nicht auf der Basis von atomaren Spaltprozessen. Vielmehr wurde der umgekehrte Weg beschritten – Kernfusion, die Umwandlung von Deuterium in Helium. Die kontrollierte Anwendung der Fusionstechnik beherrschten die Menschen von der Erde und der Mondbasis nicht. Ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet beschränkten sich darauf, Wasserstoffbomben zu bauen. Frustriert mußten die Alphaner den Rückzug antreten. Dennoch atmeten sie mit einer gewissen Erleichterung auf, als sie die bedrückende Atmosphäre des Leichenschiffs hinter sich lassen konnten. Auch Eagle Sieben kehrte zur Mondbasis Alpha 1 zurück. Und dort würde James Sturgee gleich auf Quarantänestation gelegt. Zu spät, wie sich bald herausstellen sollte.
XV
Pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt stellte sich Dewey Copeland in der Kommandozentrale ein. Der dunkelhaarige Mann mit dem breitflächigen Gesicht machte einen ruhigen, beherrschten Eindruck. Auf den ersten Blick… Auf den zweiten jedoch… John Koenig kannte die Menschen, kannte insbesondere seine Alphaner. Ihm entging nicht, daß da etwas Unstetes in den Augen des Geologen nistete. Nervosität, Lebensangst… ein schlechtes Gewissen? Gemeinsam mit Tony Verdeschi nahm er den Mann in Empfang. Dann gingen alle drei Männer in eine ruhige Ecke der Zentrale und nahmen auf den Sesseln einer Konferenzgruppe Platz. Der Commander hätte es für töricht gehalten, das Gespräch mit unverbindlicher Konversation zu beginnen. Deshalb ging er gleich in medias res. »Ich deutete Ihnen ja bereits an, über was wir uns mit Ihnen unterhalten möchten, Copeland.« Der Geologe nickte. »Ute-Elkie und Michael Altmann.« »Also, Copeland«, sagte John Koenig, »dann erzählen Sie uns doch mal, wie Sie zu den beiden Altmanns standen.« Copeland zuckte die Achseln. »Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, frage mich jedoch…« »Lassen Sie mich fragen, Copeland. Dann geht alles viel einfacher und schneller.« »Bitte sehr…« Der Geologe erzählte, mit ruhiger und sicherer Stimme. Offen gab er zu, daß er lange gebraucht hatte, um seinen
Schmerz zu überwinden, nachdem ihn Elkie seinerzeit verlassen und seinen alten Freund Michael Altmann geheiratet hatte. Er räumte sogar ein, daß er beiden damals alles Unglück der Welt an den Hals gewünscht hatte. Im Laufe der Zeit aber waren seine negativen Gefühle dahingeschwunden, bis die alte Freundschaft zwischen ihm und den beiden Altmanns in den letzten Jahren Auferstehung gefeiert hatte. »Das ist alles, was ich sagen kann«, kam er zum Schluß. »Wenn ich dann jetzt vielleicht erfahren dürfte, warum Sie so interessiert an meinem Verhältnis zu den beiden Toten sind?« »Sie können sich das nicht denken?« fragte der Sicherheitschef scharf. »Nein, Sir, beim besten Willen nicht!« »Dann will ich es Ihnen sagen, Copeland«, ergriff der Commander wieder das Wort. »Elkie Altmann hat behauptet, daß Sie ihr gegenüber zugegeben haben, Michael Altmann umgebracht zu haben. Der angebliche Unfall ihres Freundes sei gar kein Unfall gewesen, sondern kalter Mord. Mord aus Rache. Weniger aus Rache an Michael, sondern an Elkie Altmann! Sie sollen Elkie sogar gesagt haben, daß Altmann von Ihnen unter einem Geröllhaufen verscharrt wurde. Und Sie sollen Sie zynisch aufgefordert haben, die verscharrte Leiche Ihres Liebsten doch zu suchen!« Dewey Copeland wurde abwechselnd rot und blaß. Ob auf Grund von Schuldgefühlen oder aus Wut wegen dieser massiven Anschuldigungen, ließ sich natürlich nicht sagen. »Das alles soll Elkie gesagt haben?« fragte er ein bißchen schrill. »Ja!« »Wer behauptet das?« »Eine Kollegin Elkies. Der hat sie nämlich alles erzählt.« »Wer?« bellte Copeland. »Wer ist die Frau? Ich werde sie .« »Was werden Sie, Copeland?«
Der Geologe, der halb von seinem Sessel hochgesprungen war, ließ sich wieder zurücksinken. »Verleumdungen«, sagte er, »böswillige Verleumdungen.« Er schwieg, sah erst Verdeschi, dann Koenig an. »Mein Gott, Sie glauben das doch nicht? Sie werden doch diese Verleumdungen nicht ernst nehmen!« »Wir wollten hören, was Sie dazu zu sagen haben, Copeland.« »Sie haben gehört, was ich dazu zu sagen habe!« »Ja«, sagte der Commander, »das haben wir. Es steht Aussage gegen Aussage. Natürlich, die Anschuldigungen kommen aus zweiter Hand. Wenn Elkie Altmann noch leben würde und selbst eine Aussage machen könnte…« John Koenig machte eine Pause, nagte dabei am Zeigefinger. »Warten Sie mal, da kommt mir ein Gedanke«, redete er dann weiter. »Die meisten von uns hier in der Basis führen ein privates Logbuch…« Er blickte zu den Computerkonsolen hinüber und rief: »Sandra kommen Sie doch mal!« Sandra Benes kam herbei. »Commander?« »Sagen Sie, Sandra, Sie kannten Elkie Altmann doch recht gut, nicht wahr?« »Wir waren gute Kolleginnen, ja.« »Wissen Sie, ob Elkie ein Tagebuch geführt hat?« »Ja«, sagte die Technikerin sofort, »Elkie hat ein AudioTagebuch geführt.« »Ganz sicher?« »Ganz sicher.« »Danke, Sandra.« Sandra Benes ging zu ihrer Computerkonsole zurück und beugte sich über den Monitor. Koenig wandte sich an den Sicherheitschef. »Tony, du hast Elkie Altmanns Quartier doch im Zusammenhang mit der
Djuaner-Affäre untersucht. Ist dir da kein Audio-Tagebuch aufgefallen? Wenn an den Beschuldigungen gegen Copeland etwas dran ist, wird sie ja wohl etwas in ihrem Tagebuch vermerkt haben.« Der Sicherheitschef zuckte die Achseln. »Ein AudioTagebuch? Ich weiß nicht, habe nicht darauf geachtet. Im Falle des grünen Monsters Tom war das ja wohl nicht von Bedeutung.« »Im vorliegenden Fall könnte es von Bedeutung sein, Tony! Ich würde dir vorschlagen, Elkie Altmanns Quartier noch einmal gründlich zu durchsuchen.« Der Commander sah den Geologen an. »Es dürfte auch in Ihrem Interesse liegen, wenn Mißverständnisse ausgeräumt werden, nicht?« »Selbstverständlich«, sagte Dewey Copeland. Tony Verdeschi erhob sich. »Okay, ich werde gleich nachsehen gehen.« Er machte Anstalten, sich zu entfernen, als ihn Sandra Benes’ Stimme aufhielt. »Commander, Mr. Verdeschi! Kommen Sie schnell! Die Geschwindigkeit des Mondes nimmt wieder ab.« Verdeschi wirbelte herum. »Verdammt!« Er eilte auf die Konsole der Technikerin zu. Auch der Commander war aufgesprungen. »In Ordnung, Copeland«, rief er dem Geologen hastig zu. »Es wird sich alles aufklären.« Dann ließ er den Geologen sitzen und ging mit schnellen Schritten zu Verdeschi und Sandra Benes hinüber. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Dewey Copeland Augenblicke später aufstand und die Kommandozentrale verließ. Der Commander blinzelte der Technikerin zu. »Sandra, Sie sind eine ganz hervorragende Lügnerin«, lobte er.
Ganz ernst antwortete das Mädchen: »Elkie Altmann war wirklich eine gute Kollegin von mir, Commander!«
Koenig und Verdeschi standen vor dem Monitor und verfolgten mit den Augen der Kontrollkameras den Weg Dewey Copelands. Ein Techniker aus Verdeschis Abteilung nahm die jeweiligen Umschaltungen vor. Der Mann hatte keine Probleme. Copeland war kein vorwärtsschießender grüner Ball. Und seine Arme waren auch nicht lang genug, um die Kameras zerschmettern zu können. Er ging schnell, der Geologe, sehr schnell sogar, lief fast. Und er schlug den geraden Weg zum Wohnkomplex C ein. »Ziemlicher Umweg, wenn man bedenkt daß sein Quartier in Trakt A liegt«, sagte der Sicherheitschef trocken. Wenig später stand Copeland vor dem Quartier Elkie Altmanns. Er hatte sein Commlock bereits in der Hand und ließ die Tür aufgleiten. Er sprintete regelrecht in den Raum hinein. Ganz klar, daß er es eilig hatte. Er glaubte, daß Verdeschi im Augenblick noch bei Sandra Benes in der Kommandozentrale beschäftigt war. Und diese einmalige Gelegenheit mußte er nutzen. Verdeschi hatte speziell für den Besuch Copelands, der bisher natürlich nur vermutet werden konnte, eine versteckte Kamera installieren lassen. Und diese Kamera lieferte jetzt die glasklaren Bilder eines Mannes, der sich hektischer Sucharbeit hingab. »Gehen wir«, sagte der Commander ohne Fröhlichkeit. Verdeschi nickte seinem Mann zu. »Okay, Stevenson. Wenn er das Osterei gefunden hat, geben Sie es mir sofort durch.« »Ay, Ay, Sir!«
Der Commander und der Sicherheitschef eilten, wie vor kurzer Zeit schon einmal, zum Quartier Elkie Altmanns. Und wieder galt es, einen Mörder zu überführen. Als sie vor der Tür ankamen, hatte sich Stevenson noch nicht gemeldet. Copeland hatte also die gar nicht einmal so geschickt versteckten Bänder noch nicht gefunden. Es vergingen noch mehr als zwei Minuten, bis endlich Stevensons Stimme aus Verdeschis Commlock kam. »Er hat Sie, Chef! Gerade stopft er alles in die recht obere Overalltasche. Er ist fertig damit. Jetzt geht er zur Tür, greift zum Commlock…« Die weiteren Informationen des Sicherheitsmannes waren überflüssig. Koenig und Verdeschi sahen selbst, wie die Tür unmittelbar vor ihnen aufglitt. Dewey Copeland prallte unwillkürlich einen Meter zurück, als er die beiden Männer so unvermutet vor sich sah. Aber er riß sich überraschend schnell zusammen. »Oh, Commander, Mr. Verdeschi!« sagte er und setzte dabei keine erschrockene, sondern lediglich eine verlegene Miene auf. »Was tun Sie hier, Copeland?« schnarrte der Sicherheitschef. Ganz kurz zögerte der Geologe. Dann sagte er: »Um der Wahrheit die Ehre zu geben – ich war über die Beschuldigungen gegen meine Person so erbost, daß ich spontan hierhergegangen bin, um selbst nach Elkies Tagebuch zu suchen.« »So, so«, sagte Tony Verdeschi. »Und? Haben Sie ihr Log gefunden?« »Leider nein«, antwortete Dewey Copeland mit treuherzigem Gesichtsausdruck. »Nicht?« »Nein! Ich habe überall gesucht, aber…« Der Geologe zuckte die Achseln.
John Koenig lächelte kalt. »Haben Sie schon mal in Ihrer Overalltasche rechts oben nachgesehen?« »In meiner…« Dewey Copelands Körper wurde stocksteif. Leichenblässe überzog sein Gesicht. Die Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton über sie hinweg. »Los, sehen Sie in der Tasche nach!« befahl der Commander. »Sonst tun wir es selbst.« Ganz langsam erwachte der Geologe aus seiner Erstarrung. Genauso langsam hob er die rechte Hand und ließ sie zur Brust wandern. Plötzlich jedoch wurde die Hand so schnell wie eine zustoßende Schlange. Sie zuckte zur rechten Overalltasche, allerdings nicht zur oberen, sondern zur unteren. In Bruchteilen von Sekunden hatte er einen Phaser herausgerissen und richtete ihn auf den Commander. »Lassen Sie mich in Frieden, Koenig!« schrie er mit verzerrter Miene. »Lassen Sie mich gehen, sonst…« Der Commander blieb gelassen. »Was soll der Unsinn, Copeland? Wo wollen Sie hingehen? Sie wissen, daß Sie ein verlorener Mann sind. Also seien Sie vernünftig…« »Nein!« unterbrach ihn der Geologe schrill. »Ich sage es noch einmal: geben Sie den Weg frei oder…« Sein Daumen legte sich auf den Auslöser. Koenig und Verdeschi wichen zurück. Copeland trat nach vorne, befand sich jetzt genau im Türrahmen. In diesem Augenblick handelte Tony Verdeschi. Er hatte sein Commlock, über das er mit Stevenson verbunden gewesen war, noch in der Hand. Gedankenschnell wählte er Elkie Altmanns Zimmercode. Das Funksignal ließ die beiden Türflügel zuschnellen. Copeland wurde zwischen ihnen eingeklemmt. Sein Ellenbogen wurde dabei getroffen und veränderte die Zielrichtung des Phasers. Auch John Koenig handelte jetzt. Er sprang zur Seite, griff dabei nach seinem Handlaser, den er nach der Erfahrung mit
den Djuanern jetzt immer bei sich trug. Schon hatte er die Waffe in der Hand. Dewey Copeland drückte auf den Auslöser. Ein mörderischer Feuerstrahl brach aus dem Phaser hervor und brachte die Korridorwand unmittelbar über dem Commander zum Glühen. John Koenig hatte keine andere Wahl. Er mußte zurückschießen. Sein Laserstrahl traf den Mann, der sich selbst als Mörder Michael Altmanns entlarvt hatte, mitten im Gesicht und tötete ihn augenblicklich. Betreten senkte der Commander den Laser und steckte ihn wieder weg. »Es ist schrecklich, einen Menschen zu töten«, sagte er schleppend. »Und es ist noch schrecklicher, wenn dieser Mensch ein Alphaner ist.« Tony Verdeschi legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Gewissensbisse. Dewey Copeland hat sich außerhalb der alphanischen Gemeinschaft gestellt. Er hat einmal getötet, und er hätte auch noch ein zweites Mal getötet. Dich! Glaube mir, es ist besser so.« John Koenig wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu. Sandra Benes meldete sich per Commlock: »Commander, die Geschwindigkeit des Mondes sinkt plötzlich rapide ab!« »Schon gut, Sandra«, antwortete der Commander müde. »Der Fall Dewey Copeland ist abgeschlossen. Kein Grund mehr, unsere kleine Komödie weiterzuspielen.« »Commander, das ist keine Komödie! Die Geschwindigkeit des Mondes fällt auf einmal wirklich wieder ab.« Ihrer Stimme war zu entnehmen, daß sie es tatsächlich ernst meinte. »Ich komme sofort«, sagte der Commander. »Over!« Er wandte sich an den Sicherheitschef. »Tony, du kümmerst dich um Copeland, ja?« Verdeschi nickte.
Wenig später war John Koenig wieder in Kommandozentrale. Er fand Sandra Benes’ Meldung voll ganz bestätigt. Und kurz darauf ging auch eine Nachricht von technischen Abteilung ein: die Eagles waren wieder Flugunfähigkeit verurteilt.
der und der zur
XVI
Langsamer und langsamer wurde der Mond. Es war sinnlos geworden, den Zeitpunkt des völligen Stillstands vorauszuberechnen, denn die Abnahmerate des Geschwindigkeitsverlust blieb nicht konstant. Außerdem hatte das Problem der Geschwindigkeitsabnahme inzwischen nur noch untergeordnete Bedeutung. Ein anderes, viel brennenderes Problem war in den Vordergrund gerückt. Eine Seuche hatte sich in der Mondstation ausgebreitet! Ganz plötzlich war sie da gewesen, die Pest von einem fremden, unbekannten Planeten. Zuerst hatte sie unter den Piloten und dem Personal der technischen Abteilung um sich gegriffen. Und dann war sie, wild und willkürlich um sich schlagend, auch über die Alphaner in den anderen Abteilungen hergefallen, wobei auch die Kommandozentrale nicht verschont blieb. Es war eine tückische, grausame Seuche. Sie begann mit einem leichten Kopfschmerz und einer seltsamen Mattheit der Glieder. Das zweite Stadium führte zu einer schmerzhaften Verhärtung der Muskulatur. Und das dritte Stadium brachte furchtbare Krämpfe, von denen der ganze Körper befallen wurde. Die Krämpfe wurden immer stärker und würden in letzter Konsequenz zum unvermeidlichen Tod des Kranken führen. Doktor Helena Russell war verzweifelt. Zwar gehörte sie zu jenen Alphanern, die aus unbekannten Gründen immun gegen die Seuche zu sein schienen, aber es war ihr bisher trotz pausenlosen Einsatzes nicht gelungen, gegen die Seuche anzukämpfen.
Obgleich es inzwischen zahlreiche Kranke gab, war es noch nicht möglich gewesen, den Erreger zu finden. Allein das Krankheitsbild konnte als Anhaltspunkt dienen. Helena und ihre Krankenabteilung waren lichtjahreweit davon entfernt, ein Gegenmittel zu finden. Bis jetzt war den Ärzten nur ein Weg eingefallen, auf dem sie wenigstens das Schlimmste vermeiden konnten. Sie hatten alle Kranken mit Hilfe der djuanischen Stasisatoren in den scheinbaren Zustand der Leblosigkeit versetzt und damit einer Verschlechterung vorgebeugt. Wenn es jedoch nicht gelang, ein Gegenmittel zu finden, spielte es für die Kranken im Grunde genommen keine Rolle, ob sie nun tot oder nur scheintot waren. Für sie gab es da keinen Unterschied. Die Zeit verging, und der unbekannte Erreger steckte immer mehr Kranke an.
Wie in allen Abteilungen hatte sich auch in der Kommandozentrale der Personalbestand stark gelichtet. Fast fünfundsiebzig Prozent der normalen Besatzung befand sich in Stasis. Eine ganze Reihe von Computerkonsolen war unbesetzt. Und die Besatzungsmitglieder, die noch arbeitsfähig waren, mußten praktisch rund um die Uhr im Dienst bleiben, um ihre erkrankten Kollegen und Kolleginnen zu ersetzen. »Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll, John«, sagte Helena zu dem Commander, als sie kurz in die Zentrale kam, um sich dort einen Überblick über Gesunde und vielleicht schon von dem Erreger Befallene zu verschaffen. »Vielleicht hätte ich gleich etwas machen sollen«, antwortete John Koenig grimmig. Wie die Ärztin gehörte er zu denjenigen, die sich bisher als unempfindlich gegen den Erreger erwiesen hatten. »Du, John? Was hättest du schon tun können?«
»Ich hätte sofort Anweisung geben sollen, diesen Unglücksraben Sturgee im Eagle zu lassen!« »Es ist noch nicht bewiesen, daß Sturgee wirklich der Mann ist, der die Seuche hereingeschleppt hat. Er selbst ist jedenfalls noch kerngesund.« »Ach, ich denke es war eure Theorie, daß Sturgee…« »Es ist noch unsere Theorie, John. Ich halte es nach wie vor für möglich, daß es in seinem Organismus vor Seuchenerregern wimmelt. Da diese jedoch bisher für uns unsichtbar geblieben sind, kann ich es natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen.« John Koenig warf einen Blick auf den Monitor, der die Mondgeschwindigkeit anzeigte. Tendenz: weiter abnehmend. Es regte ihn kaum auf. Was spielte es für eine Rolle, ob sich der Mond noch vorwärts bewegte oder nicht, wenn der letzte Alphaner starb oder in ewiger Stasis dahindämmerte? Helena gefiel diese Einstellung gar nicht. »John, was ist mit dir los? So kenne ich dich ja gar nicht!« Der Commander lächelte humorlos. »Vielleicht ist das ein Vorstadium der Seuche. Die Mattheit der Glieder fängt im Bewußtsein an.« »Nein, John, sicherlich nicht. Ich hätte von dir erwartet, daß du mehr geistige Widerstandskraft zeigst!« »Ja«, sagte der Commander, »vielleicht hast du recht. Ein Kommandant soll ein leuchtendes Vorbild sein. Sag mir nur, wie ich leuchten soll. Indem ich hier stehe und Monitoren betrachte, deren Daten und Kurven ich nicht ändern kann?« Helena seufzte. »Du könntest dafür sorgen, daß die Eagles wieder fliegen.« »Sorry, das geht leider nicht. Die Andromedaner mit ihrem Störfeld sind stärker.« »Wir haben die Sonnenbatterien der Djuaner!«
»Um einen Eagle anzutreiben? Helena! Und wohin sollte er auch fliegen? Zum nächsten Seuchenschiff?« »Zum selben, John, zum selben!« »Wie? Soll das ein Witz sein?« Helena schüttelte energisch den Kopf. »Ich meine das vollkommen im Ernst, John. Es ist praktisch die einzige Chance für uns, die Seuche loszuwerden. Wenn ich einen Toten untersuchen könnte, selbst wenn es sich dabei nur um ein Skelett handelt… Auch Viren sterben, John. Viele Viren, im Leben unentdeckbar, hat erst der Tod ans Tageslicht gebracht. Ich rechne mir eine erstklassige Chance aus, daß das auch auf unseren Erreger zutrifft.« »Trotzdem sorry«, sagte der Commander. »Wie es aussieht, werden die Eagles nie wieder fliegen. Bedanke dich bei unseren Freunden aus dem Andromadanebel.« Voller Zorn ballte Helena die Fäuste. »Ja, hört mich an, ihr Ungeheuer aus dem Andromadanebel!« sagte sie so leidenschaftlich, wie es ihrem kühlen Naturell möglich war. Den Blick hielt sie auf den großen Bildschirm gerichtet, auf dem sich als kleine, unendlich ferne Lichtspirale der Andromedanebel abzeichnete. »Verflucht sollt ihr sein, ihr Mörder!« Urplötzlich verschwand die intergalaktische Nacht von der Bildfläche. Statt dessen entstand dort ein tanzender Lichtwirbel, der in allen Farben des Spektrums leuchtete. Und eine seltsam geschlechtslose Stimme sagte: »Du irrst, Tochter der Erde. Nicht wir, sondern ihr seid die Mörder!«
XVII
Totenstille war in der Kommandozentrale eingetreten, nur unterbrochen von dem Klicken, Brummen und Sirren der Aggregate. Wie gebannt starrten alle anwesenden Besatzungsmitglieder auf den großen Bildschirm und die dort tanzende Lichtfigur. John Koenig war der erste, der sich halbwegs von seiner Überraschung erholte. Er trat ein paar Schritte auf den Bildschirm zu und blieb dann davor stehen. »Wer oder was bist du?« »Ich bin einer der Wächter der Galaxis, die ihr den Andromedanebel nennt«, klang die geschlechtslose Stimme wieder auf, die aus dem Nichts zu kommen schien. »Dann bist du also mit dafür verantwortlich, daß hier unzählige unschuldige Lebewesen einen grausamen Tod fanden«, sagte der Commander hart. »Du bist mit dafür verantwortlich, daß unser Mond zum Stillstand kommen wird. Und du bist auch mit dafür verantwortlich, daß unsere Raumschiffe nicht mehr fliegen können. Du bist ein Mörder!« »Nein«, sagte das Wesen, »wir sind keine Mörder. Wahr ist es, daß wir all diese Schiffe hier zum Stillstand gebracht haben, so wie wir auch euren Mond zum Stillstand bringen werden. Aber wir haben nicht ein einziges Individuum getötet.« Der Commander machte eine abwehrende Handbewegung. »Das sind Spiegelfechtereien. Indem Ihr die Atomkraftantriebe der Schiffe lahmlegt, setzt ihr gleichzeitig auch die Lebenserhaltungssysteme außer Kraft. Und damit werdet ihr zu Mördern.«
»Du irrst, Sohn der Erde, wenn du glaubst, daß wir nur Atomkraftantriebe außer Kraft setzen. Wir lähmen jede Kraft, die geeignet ist, ein Raumschiff oder wie in eurem Falle einen Mond unserer Galaxis zu tragen. Wohlgemerkt, nur die Antriebskraft. Wenn, wie es bei vielen Schiffen der Fall ist, die Antriebskraft gleichzeitig auch der Lebenserhaltung dient und diese dadurch beeinträchtigt wird, so liegt das primär nicht in unserer Absicht. Seht eure Basis an. Haben wir eure Atomkraftreaktoren angetastet? Wir haben es nicht getan, und wir werden es auch nicht tun. Allein die Fliehkraft eures Mondes wird von uns gebrochen werden.« John Koenig wußte nicht genau, ob er erleichtert sein sollte, zu hören, daß dem Generatorenzentrum der Mondstation also offenbar keine Gefahr drohte. Er verspürte eine tiefe Antipathie gegen dieses Lichtwesen, das zweifellos über unerhörte Machtmittel verfügte, diese Machtmittel jedoch in selbstherrlicher, ja größenwahnsinniger Art und Weise einsetzte. Erbittert fragte er: »Wenn ihr nur verhindern wollt, daß ein Schiff zu eurer Galaxis gelangt, warum tut ihr es hier? Kein lebendes Wesen wird jemals den Abgrund zwischen den Galaxien überqueren können.« Noch während er diese Worte sagte, wußte er, daß sie falsch waren, daß sie gar nicht stimmen konnten. Denn wenn dieses Lichtwesen aus dem Andromadenebel stammte… Die Stimme aus dem Nichts ging auf seinen Einwand ein. »Abgrund zwischen den Galaxien, Sohn der Erde? Wieder irrst du. Es gibt keinen Abgrund zwischen den Galaxien. In einigen Lichtstunden Entfernung haben schwarze Löcher eine Zeitverwerfung gebildet und dabei ist eines der euch bereits bekannten Raumfenster entstanden. Sehr schnell wärt ihr durch dieses Raumfenster in unserer Galaxis, würden wir euch nicht stoppen. Was glaubst du, Sohn der Erde, war das Ziel all dieser
Mörderschiffe hier? Der Abgrund zwischen den Galaxien? Beantworte dir diese Frage selbst.« Der Commander interessierte sich nicht für das Ziel der anderen Schiffe. Er interessierte sich für den Mond. So hatten sie also all die Zeit in dem Irrglauben gelebt, in der ewigen Nacht zwischen den Galaxien verkümmern zu müssen. Tatsächlich jedoch hatte diese Gefahr nie bestanden. Wenn diese sogenannten Wächter sie nicht aufhalten würden, könnten sie den Andromedanebel erreichen und dort Hoffnung haben, doch noch einen geeigneten Planeten als neue Heimat zu finden. »Warum?« fragte er. »Warum wollt ihr kein Schiff in eure Galaxis lassen? Ist sie so bevölkert, daß ihr fürchten müßt, euren Lebensraum zu verlieren?« »Und wieder irrst du, Sohn der Erde. Wir lassen sehr viele Schiffe in unsere Galaxis reisen. Wir freuen uns sogar, wenn sie kommen. Mördern jedoch müssen wir den Zugang zu unserer Galaxis versperren!« »Wir sind keine Mörder!« protestierte John Koenig scharf. »Wir sind friedliebende Menschen.« Die Lichtgestalt widersprach. »Wir kennen eure Galaxis, die ihr Milchstraße nennt, Sohn der Erde. Und wir kennen auch die Erde. Du willst nicht wirklich behaupten, daß die Menschen der Erde friedliebend sind.« In der Tat, es wäre lächerlich gewesen, so etwas zu behaupten. Die Erinnerung an den letzten Krieg ließ John noch jetzt schaudern. Dennoch erhob er Einwände, Einwände, die durchaus begründet waren. »Jetzt irrst du, Wächter von Andromeda! Wir kommen nicht als Söhne und Töchter der Erde. Wir kommen als Alphaner! Und wir Alphaner sind eine friedliebende Ras… eine friedliebende Gemeinschaft, der es sogar gelungen ist, die
Rassenschranken unserer ursprünglichen Heimat zu überwinden.« »Sehr wohl wissen wir dies, Alphaner!« antwortete die Lichtgestalt. »Wie du vielleicht gemerkt hast, haben wir euch weit, weit vordringen lassen. Viel weiter als die meisten Schiffe, die wir aufhalten mußten.« »Ihr habt uns schon einmal gestoppt«, wandte der Commander ein. »Dies geschah nur, weil es so aussah, als würde die Mörderrasse vom Planeten der Abspalter die Gewalt über eure Basis erringen. Nachdem es euch jedoch gelungen war, die Mörder zu töten, haben wir die Fesselung eures Mondes wieder aufgehoben.« John Koenig runzelte die Stirn. Was die Lichtgestalt da sagte, klang verdammt nach doppelter Moral. »Ist die Tötung eines Mörders nicht auch Mord?« fragte er. »Nein! Die Tötung eines Mörders ist Selbstverteidigung. Auch wir tun es – indirekt, wie wir vorhin schon feststellten.« »Und warum, wenn ich fragen darf, seid ihr plötzlich anderen Sinnes geworden? Warum wollt ihr uns jetzt doch aufhalten?« »Denk nach, Alphaner«, sagte die Lichtgestalt. »Ich wüßte wirklich nicht…« »Gerade du solltest es wissen! Du bist für unseren Sinneswandel verantwortlich, Mörder!« Der Commander begriff plötzlich. Ganz offensichtlich meinte die Lichtgestalt die Erschießung Dewey Copelands. Ja, nur so konnte es sein. Unmittelbar danach hatte Sandra Benes die erneute Verlangsamung des Mondes gemeldet. »Der Mann, den ich getötet habe, war ein Mörder. Es war ein Akt der Selbstverteidigung. Nichts anderes als unsere Verteidigung gegen die Rasse der… Abspalter.« Die Lichtgestalt ließ den Einwand nicht gelten.
»Die Abspalter waren für euch eine fremde Rasse von Mördern, mit denen ihr euch niemals hättet verständigen können. Es ist richtig, sich dagegen zu verteidigen. Du aber hast einen Alphaner getötet, der wiederum einen anderen Alphaner getötet hat. Eine Rasse, die sich selbst tötet, ist eine Rasse von Mördern. Deshalb ist in unserer Galaxis für euch kein Platz.« »Der Mann, den ich getötet habe, war ein Entarteter«, versuchte Koenig dem Wächter von Andromeda klarzumachen. »Er war nicht typisch für unsere Gemeinschaft.« »Ihr könnt so viele von euch töten, wie ihr wollt«, sagte die Lichtgestalt. »Allerdings nicht in unserer Galaxis. Und deshalb müssen wir euch aufhalten. Damit ihr aber seht, daß wir euch nicht feindlich gesinnt seid, will ich euch noch einen Hinweis geben. Die Seuche, die in eurer Basis tobt, stammt nicht von dem Kolonisationsschiff des Mörderplaneten Killern. Es handelt sich vielmehr um Erreger, die sich durch die Wandung der Doppelpyramide vom Planeten Aton gefressen hatten und durch die Raumanzüge eurer Techniker in eure Basis gelangten. Ein gut funktionierendes Mittel gegen die AtonErreger ist übrigens euer Medikament Kokkusserin.« So plötzlich, wie der Lichtwirbel auf dem Bildschirm erschienen war, so schnell verschwand er auch wieder.
XVIII
Per Rundschaltung setzte John Koenig alle Alphaner, die sich noch nicht in Stasis befanden, von seinem Gespräch mit dem Andromeda-Wächter in Kenntnis. Jedes einzelne Besatzungsmitglied hatte ein Recht darauf, zu erfahren wie die Situation aussah, in der sie sich alle befanden. Depression legte sich auf die Gemüter der Alphaner. Eine Depression, die vielleicht noch größer war als zuvor. Verständlich, denn nichts deprimierte mehr, als einen unerwartet aufgetauchten Hoffnungsschimmer wieder verglimmen zu sehen. Im stillen hatte der Commander erwartet, daß es einige geben würde, die ihm Vorwürfe machten. Hätte er Dewey Copeland nicht erschossen, hätte er es einfach auf dem Unfall Michael Altmanns beruhen lassen, wären die Wächter wohl bereit gewesen, den Mond passieren zu lassen. Aber er hatte das Verständnis der Alphaner unterschätzt. Kein einziger von ihnen dachte daran, ihn auch nur schief anzusehen. Sie alle billigten seine Handlungsweise und waren auch bereit, die Konsequenzen zu tragen. So bitter diese Konsequenzen auch sein mochten.
Helena Russell hatte ganz andere Probleme. Daß der Mond in kurzer Zeit ein abgewracktes Mitglied des kosmischen Friedhofs werden und in etwa einem Jahr irdischer Zeitrechnung so still wie ein Grab sein würde, interessierte sie erst in zweiter Linie. Problem Nummer eins war für sie die Seuche und die von dem Lichtwirbel vorgeschlagene Kur.
Sie wußte nicht, ob sie dem Wächter von Andromeda trauen konnte und durfte. John meinte, ja. Aber John war kein Arzt. Ein Arzt war dazu da, Leben zu retten, nicht es zu zerstören. Und Kokkusserin… Dennoch, im Grunde genommen war sie sich im klaren darüber, daß sie einen Versuch wagen mußte. Einen Versuch am Menschen! Ohne vorbereitende Tests, ohne die geringste Ahnung zu haben, ob der Versuch gelingen würde oder nicht. Eine ärztliche Todsünde. Und wer sollte das menschliche Versuchskaninchen sein? Wer sollte für alle anderen den Kopf hinhalten und im Falle eines Mißerfolgs dem sicheren Tod entgegengehen? Selten in ihrem Leben hatte sie vor derartig schweren Entscheidungen gestanden. Sie entschloß sich, das Los entscheiden zu lassen. Aus dem dicken Stapel der Krankenblätter zog sie willkürlich eins heraus. Ellen Kosinsky. Innerlich stöhnte Helena. Ausgerechnet Ellen Kosinsky! Ungeschickter hätte sich das Los auch nicht anstellen können. Sie überlegte, ob sie die Karte wieder in den Packen hineinstecken sollte, tat es dann aber doch nicht. Das Los hatte entschieden, und dabei mußte es im Interesse der Unparteilichkeit auch bleiben. Helena trat an das Bett der Frau heran. Alle Patienten lagen, obgleich man sie genausogut hätte stellen können. Im Zustand der Stasis spielte das gar keine Rolle. Mit Bedauern dachte sie daran, daß auch Doktor Vincent Opfer der Seuche geworden war. Sie hätte es gerne gesehen, ihren fähigsten Mitarbeiter jetzt an ihrer Seite zu haben. Entschlossen richtete sie den Stasisator auf Ellen Kosinsky. Sofort fuhr die Frau hoch, mit schmerzverzerrtem Gesicht und zuckenden Gliedern.
»Doktor Russell«, stöhnte sie, »Sie hatten mir doch versprochen, mich in Dingsda in Stasis zu versetzen. Warum tun Sie es nicht endlich? Oder machen Sie doch gleich ganz Schluß! Geben Sie mir eine Euthanasiespritze. Ich halte das nicht mehr länger aus.« Wild bäumte sie sich im Bett auf. »Sie haben bereits in Stasis gelegen, Ellen. Eine ganze Zeit sogar schon«, informierte Helena die Patientin. »Jetzt besteht die Möglichkeit einer Heilung mit einem ganz bestimmten Medikament. Dieses Medikament ist allerdings bei Ihrer Krankheit noch nicht getestet worden. Es besteht also auch die Möglichkeit, daß das Medikament nicht anschlägt und Sie statt dessen sterben werden.« »Ja, ja«, rief Ellen Kosinsky. »Sterben, endlich sterben! Geben Sie mir das Medikament, Doktor Russell. Dann habe ich endlich alles hinter mir.« Resignierend versetzte Helena die Patientin wieder in Stasis. Es wäre höchst unethisch gewesen, den völlig unbegründeten Todeswunsch einer verzweifelten Kranken auszunutzen. Plötzlich wurde sich Helena bewußt, daß John Koenig hinter ihr stand. »Ich habe alles mitbekommen«, sagte er. »John, warum bist du hier?« »Ob du es glaubst oder nicht, Helena, ich bin sehr daran interessiert, daß dieser Spuk hier schnellstens aufhört.« Er machte eine weitausholende Armbewegung und schloß damit den ganzen, drangvoll überbelegten Krankensaal ein. »Das hier ist ein einziges Wachsfigurenkabinett. Starre, bewegungslose Figuren! Jetzt besteht die Möglichkeit, alle diese Figuren wieder zu Menschen zu machen. Und du zögerst, Helena. Aus Gründen, die ich verstehe, aber nicht billige. Ich bin davon überzeugt, daß der Wächter uns einen guten Rat erteilt hat. Er hätte keinen Grund gehabt, uns zu täuschen. Und
deshalb wird jetzt gehandelt. Wir werden uns Tony Vornehmen. Weck ihn auf!« »John, wir können nicht einfach…« »Doch, wir können! Ich brauche Tony Verdeschi in der Kommandozentrale. Helena, das ist ein dienstlicher Befehl: weck ihn sofort auf!« Mit versteinertem Gesicht trat Helena an das Bett des Sicherheitschefs heran und befreite ihn aus der Stasis. Augenblicklich wurde Verdeschi von gräßlichen Krämpfen geschüttelt. Seine Augen aber waren ganz klar. »War ich schon…« »Ja, Tony«, sagte der Commander, »wir haben dich gerade aufgeweckt. Hältst du es ein paar Minuten aus?« »Sicher. Ich habe noch genug Betäubungsmittel in mir.« »Gut, dann paß auf.« In kurzen, schnellen Worten berichtete John Koenig von seinem Dialog mit der Lichtgestalt. Verdeschi stimmte sofort zu, dem Ratschlag des Wächters zu folgen. »Los, her mit dem Zeug!« verlangte er. »Je schneller, desto besser.« »Tony«, schaltete sich Helena ein, »ich muß dich auf eins aufmerksam machen. Kokkusserin wirkt nur gegen die Lesow’sche Krankheit. Jemand, der nicht daran leidet und Kokkusserin verabreicht bekommt, ist in knapp einer Minute tot!« Der Sicherheitschef rang sich ein Grinsen ab. »Bis sechzig kann ich ja dann noch mitzählen.« Helena zauderte. Dann setzte sie die Druckspritze an, die sie bereits vorbereitet hatte. Anschließend trat sie zurück und betrachtete mit bangem Gesichtsausdruck ihren Patienten. »Sechzig«, sagte Koenig nach einer kurzen Weile. Er hatte tatsächlich mitgezählt.
Tony Verdeschi grinste immer noch. Nach fünf Minuten grinste er zwar nicht mehr, aber er lebte noch. »Na also«, sagte der Commander. Langsam nur noch trieb der Mond durch die intergalaktische Nacht. So langsam, daß die Meßinstrumente kaum in der Lage waren, überhaupt noch eine Fortbewegung festzustellen. Keine Frage, der Punkt, an dem das Grab der Alphaner stehen würde, war fast erreicht. Es war sehr einsam um den Mond geworden. Fremde Schiffe, die unfreiwillig gestrandet waren, konnten nur noch ganz vereinzelt von den Sensoren geortet werden. Die Friedhofsregion lag fast hinter ihnen. John Koenig fragte sich, wie weit entfernt das Tor zwischen den Galaxien noch sein mochte. Nicht mehr sehr weit entfernt wahrscheinlich, und doch so unerreichbar fern. Wäre es reizvoll gewesen, in den Andromedanebel vorzudringen? Ja, reizvoll vielleicht. Mehr aber auch nicht. Zwei Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Das war zuviel, zu viel eigentlich. Während der Mond durch die Milchstraße raste, hatten die Alphaner immer noch das Gefühl gehabt, in heimischen Gefilden zu weilen. Und es war niemals ganz ausgeschlossen gewesen, die Erde eines Tages vielleicht doch wiedersehen zu können. Im fernen Andromedanebel hingegen… Die Überlegungen des Commanders wurden unterbrochen. Ganz plötzlich sprachen sämtliche Ortungsinstrumente gleichzeitig an. Und auch die große Bildfläche hatte etwas zu bieten. Ein Raumschiff war aufgetaucht. Mit kosmischen Maßstäben gemessen in allernächster Nähe – etwas mehr als dreihundert Kilometer entfernt.
Und dieses Raumschiff war kein Wrack, obgleich es sich nicht bewegte. Es war voller Energie, wie die Energietaster registrierten. Es schien so viel davon zur Verfügung zu haben, daß es sich die fremde Raumschiffbesatzung leisten konnte, es von einer Korona aus flirrendem Licht umtanzen zu lassen. Trotz dieses Überflusses machte es insgesamt jedoch einen ausgesprochen zerbrechlichen Eindruck. Es war beträchtlich kleiner als ein Eagle, wirkte mehr wie ein Spielzeug, denn wie ein raumtüchtiges Schiff. Jeder in der Kommandozentrale wußte sofort, was das fremde Schiff sein mußte, nach Lage der Dinge nur sein konnte. Das Schiff der Wächter von Andromeda! Gewisse Gedankengänge begannen in John Koenigs Bewußtsein zu rumoren. Die Basis konnte sich in Sekundenschnelle in ein waffenstarrendes Fort verwandeln. Superschwere Laser-Kanonen, Atomraketen, Desintegratoren… Es gab nur weniges, was einem konzentrierten Bombardement standhalten konnte. Und dieses kleine Spielzeugschiff… Jameson, der Waffenchef, hatte ähnliche Überlegungen angestellt. »Commander«, sagte er in fast verschwörerischem Tonfall, »wenn wir aus allen Rohren loslegen… Ich wette, von dem Lichtschiff da drüben bleiben nur ein paar Atome übrig. Dann könnte der Weg zum Tor zwischen den Galaxien frei sein für uns.« »Ja, Jameson«, antwortete der Commander langsam. »Damit könnten Sie durchaus recht haben. Nur…« »Nur, Commander?« »Es widerstrebt mir, auf irgend jemanden oder irgend etwas zu schießen, wenn ich nicht angegriffen werde.«
»Diese sogenannten Wächter haben uns angegriffen. Sie greifen uns noch an! Betrachten Sie unsere Eagles, Commander. Betrachten sie den Schneckengang des Mondes!« »Die Wächter betrachten ihre Blockade nicht als Angriff, sondern als Verteidigung. Wenn wir jetzt aus allen Rohren auf sie feuern würden… Es käme mir vor wie… Mord! Vielleicht sollten wir statt dessen versuchen, noch einmal mit ihnen zu sprechen.« »Und wenn sie wiederum ablehnen, uns durch das Tor zu lassen?« John Koenig hob die Schultern. »Ach, wissen Sie, Jameson, der Andromedanebel ist trotz dieses intergalaktischen Tors doch verdammt weit, nicht?« »Da ist viel Wahres dran«, sagte der Waffenchef gedehnt. Seine Haltung, die in den letzten Minuten der Sprungbereitschaft eines Raubtiers geglichen hatte, entspannte sich wieder. »Gratulation, Alphaner!« erfüllte plötzlich eine laute Stimme die Kommandozentrale, eine Stimme, die die Besatzungsmitglieder noch gut in Erinnerung hatten. »Ihr habt den Test bestanden.« Gleichzeitig erschien auf der großen Bildfläche der ebenfalls schon bekannte Lichtwirbel. Dem Commander gelang es, seine Überraschung schnell unter Kontrolle zu bekommen. »Test?« wiederholte er. »Es war ein Test, Alphaner. Wärt ihr zu euren Waffenbatterien geeilt, um auf unser Schiff zu schießen, hättet ihr euch endgültig als das zu erkennen gegeben, was wir in euch sahen: als Mörder. Aber ihr habt uns und euch selbst soeben bewiesen, daß ihr tatsächlich eine friedliebende Rasse seid. Ich will dir nun glauben, Alphaner, daß du mit der Erschießung deines Rassegenossen nur eine Entartung entfernt
hast. So hört denn unsere Entscheidung: es wird euch gestattet, das Tor zwischen den Galaxien zu durchfliegen. Ihr seid uns in unserer Galaxis willkommen!« »Das freut uns«, sagte der Commander. Er merkte selbst, daß es nicht unbedingt Begeisterung war, die aus seiner Stimme sprach. Der Wächter war sehr hellhörig. »Du bist nicht zufrieden, Alphaner?« »Ich sehe ein Problem«, antwortete John Koenig. »Die Geschwindigkeit unseres Mondes ist so gering geworden, daß es uns wahrscheinlich niemals gelingen wird, einen Planeten zu erreichen, der uns zu einer neuen Heimat werden könnte.« »Dieses Problem ist kein Problem, Alphaner. Genauso wie wir euren Mond abgebremst haben, können wir ihn natürlich auch wieder beschleunigen.« »Ihr könnt…« »Selbstverständlich«, sagte die fremde Stimme. »Es gibt nicht vieles, was wir nicht können.« John Koenig räusperte sich. »Dann wärt ihr also auch in der Lage, unseren Mond zurück in die Milchstraße zu schicken?« »Dazu wären wir sehr wohl in der Lage. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wir haben lediglich dafür zu sorgen, daß keine Mörder in unsere Galaxie gelangen.« »Aber ihr könntet eine Ausnahme machen«, sagte der Commander beharrlich. »Wenn du mir einen Grund nennen könntest, Alphaner?« »Ja, es gibt einen Grund. Wir sind nicht in der Lage, unseren Mond zu steuern. Wir würden wie ein Irrläufer durch eure Galaxis treiben und möglicherweise unbeabsichtigte Kollisionen heraufbeschwören.« Die Stimme aus dem Nichts lachte jetzt. »Das ist ein schlechter Grund, Alphaner. Weißt du, wie gering die Chance einer Kollision ist?«
»Sehr gering«, gab der Commander offen zu. Der Wächter antwortete nicht sofort, dann aber kam seine Stimme wieder: »Ihr würdet nur sehr ungerne in unsere Galaxis kommen, nicht wahr?« »Sagen wir es so«, erwiderte Koenig. »Wir würden lieber in unsere Milchstraße zurückkehren.« Erneut schwieg die fremde Stimme für eine kurze Weile, wurde dann wieder hörbar: »Wir werden euch euren Wunsch erfüllen, Alphaner. Schließlich könnte es der Zufall ja wollen, daß es doch zu einer Kollision kommt.« Noch einmal ertönte das Lachen des Wächters, dann verklang seine Stimme. Und auch der Lichtwirbel verschwand. Ein Jubelsturm brach in der Kommandozentrale los, der sich schnell in die anderen Abteilungen fortpflanzte. Er wurde vielleicht nur deshalb nicht ohrenbetäubend, weil sich der größte Teil der Besatzung noch in Stasis befand. Immerhin jubelte Tony Verdeschi schon kräftig mit.