Giganto meldet: Über uns ein Vulkan! 1. Geheimrakete kreuzt in der Erde Seit dem vergangenen Abend „gondelte” der Gigant...
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Giganto meldet: Über uns ein Vulkan! 1. Geheimrakete kreuzt in der Erde Seit dem vergangenen Abend „gondelte” der Giganto auf außerplanmäßiger Testfahrt durch das Innere unserer Erde. Professor Charivari, der am bogenförmigen Befehlstisch ganz allein die gewaltige Erdrakete lenkte, hatte seine jungen Freunde mitgenommen. Eben war er dabei, den Giganto zurück an die Oberfläche - zum Ferienort Monton - zu programmieren. Sein gurkenförmiger Kahlschädel mit dem lackschwarzen, fadendünnen Kinnbart glänzte gelblich über der Befehlsplatte. Marcel, dem jungen mit der runden Brille, entging nichts. Wegen seiner Geistesgegenwart nannten ihn die anderen Superhirn. Und Superhirn rief plötzlich: „Achtung, Professor...!!!” Nicht nur Charivari - auch die jungen Passagiere riß es hoch. Das Mädchen Tatjana zog den jaulenden Zwergpudel an sich. Während ein leiser Signalton die Trommelfelle schmerzhaft traf, flimmerte in der Steuerbordwand des Kommandoraums ein Funkbild auf Man erkannte das Gesicht Captain Biggs. Biggs war nahezu mondfern. Er saß in der geheimen Weltraumstation Monitor und hatte Verbindung mit dem „Schiff” in der Erde zu halten. „Erdschiff Giganto ... Erdschiff Giganto...”, kam seine Stimme schauderhaft rauh, „Todesgefahr! Wir geben euch verloren!” Der große, hagere Kommandant und seine jugendliche Besatzung standen wie vom Donner gerührt. Charivari griff an seinen fadendünnen Bart, als sei der eine Notleine. Er blickte aus schrägen Augen auf Henri, dessen Schwester, ihren jüngeren Bruder Micha. Doch von denen - wie von dem schwarzen Pudel Loulou - konnte er keinen Rat erwarten. Gérard. und .Prosper schienen zu träumen. Superhirn wandte den Kopf nach allen Seiten. Auch er, wußte nichts zu sagen. Der Kommandoraum war karg. Die Wände schimmerten sanft metallisch. Von Todesgefahr spürte man hier drinnen nichts. Im Gegenteil. Professor Charivari wirkte in seinem Bordanzug eher wie ein Trainer, der eine Jugendgruppe um sich versammelt hat. Nichts, aber auch nichts wies darauf hin, daß der Giganto unvorstellbare Hindernisse im Inneren der Erde durchdrang. Man hörte weder das Bersten von Gestein, noch ein Schürfen an der Außenhaut. Saugdüsen und Rückstoßaggregate arbeiteten nicht wahrnehmbar. Kein Schwanken teile sich den Insassen mit, nicht einmal das leiseste Vibrieren. Fahrtbeschleunigungen, Bremsvorgänge, Drehungen um Längs- oder Querachse, bewirkte der Professor durch Berühren einiger Kontaktplatten auf dem Prüftisch - oder er gab seine Befehle in ein Mikrofon an die Maschinenraum-Automatik. Nein - man spürte selbst die tollsten Purzelbäume nicht, die das Schiff in der Erde vollführte. Dank der besonderen Verzögerungseffekte saß oder stand man so behaglich wie in der Halle eines Hotels. Immer noch hingen die unheilvollen Worte von Biggs im Raum: „... Todesgefahr ...” Der Zwergpudel Loulou, Tatis und Michas Maskottchen, winselte. Der sägende Signalton hatte ihn unruhig gemacht. Er spürte das kalte Entsetzen der Menschen. „Ssst!” Tati zerrte ihn an sich, hob ihn auf und plumpste kraftlos auf die Knautschlack-Bank. Ihre Beine hatten versagt! Ausgerechnet! Wo sie doch ständig im Training war, denn sie wollte Tänzerin werden! Prosper guckte ruckhaft umher. Er schluckte und schluckte. Seine Augen blickten flehentlich, als wollte er sagen: Nun hau mir doch bitte mal einer auf den Kopf! Damit ich wach werde ... Aber es hatte ihn ja längst jemand auf den Kopf gehauen, nämlich Biggs, mit der Schreckensmeldung. Der stämmige Gérard stand da, als hätte ihm der Schiedsrichter die gelbe Karte gezeigt. „Was - was ist denn ... ?” stammelte Micha, der jüngste der Crew. Er warf sich neben seine
Schwester auf die Bank. Doch Tati konnte ihm weder Trost noch Schutz geben. Lachhafter Gedanke! Wenn der Giganto zerbarst, würden Druck und Hitze den Schiffskörper und die Besatzung in Atome verwandeln. e9Da ... !!!” Superhirn äugte durch seine enorme, runde Brille: „Biggs meldet sich wieder!” Der Signalton, der die Trommelfelle so unangenehm traf, verschreckte den Pudel noch mehr als beim erstenmal. Wau, wuff, waff sein Bellen überschlug sich. Während ihn Tati und Micha zu beruhigen versuchten, war Captain Biggs, Sicherheitschef der überwachenden Raumstation Monitor, klar auf dem Bildschirm erkennbar geworden. Man sah ihn so deutlich wie einen Tagesschau-Sprecher im Fernsehen. „Raumstation an Giganto in der Erde...”, drang seine Stimme durch den Lautsprecher. „Wiederhole: Todesgefahr ... !!!” Er gab jetzt sowohl die Position der Raumstation im Weltall als auch die von dort geortete Position des Erdschiffs Giganto innerhalb des Planeten an. Gérard sank auf den Boden und krümmte sich, als habe ihm ein Fußballgegner versehentlich einen Tritt in den Magen versetzt. „Mann, o Mann ... !” ächzte Prosper. Er ging neben Gérard in die Knie. Nur Henri wankte genauso wenig wie Professor Charivari und Superhirn. Plötzlich fragte der spindeldürre Junge rasch: „Ist Biggs wahnsinnig?” Das galt nicht der Durchsage des fernen Sicherheitschefs. Auch nicht seiner Art. Wohl war der Captain gewöhnlich ein munterer Bursche, der im Funkverkehr gern Scherze einflocht. Aber man konnte ihm nicht verdenken, daß ihm der Humor bei dieser Meldung vergangen war. Er blickte wie aus zwei Pistolenläufen, starr und kalt, als sei er blutlos vor Furcht. Superhirn begriff noch mehr: Über die Mattscheibe, genau über Biggs Stirn, zogen Schattenzeichen, grauenhafte, schwarze Sichtbilder ... Eingeblendete Symbole. Sie stellten menschliche Ohren dar ... Gellend schrie Micha auf. Der Pudel strampelte sich von Tati los und suchte einen Winkel, in dem er sich verkriechen konnte. Aber es gab an Bord nichts Unübersichtliches - genau, wie es für den Giganto wohl kein Entrinnen mehr gab. Die grauenhaften Sichtzeichen ... Die Kette von schwarzen, „menschlichen” Ohren, die pausenlos über die Stirn auf der Mattscheibe raste ... Sie waren ein Hinweis darauf, daß Biggs vergessen hatte, den Bild- und – Ton - Codierer einzustellen! Jeder Unbefugte, jeder mögliche Feind konnte ihn „klarbildlich” und „klartextlich” sehen und hören! Diese Zeichen-Vorschalt-Einrichtung hatte Biggs natürlich auch auf seinem Kontrollgerät, es mußte ein wahres Chaos in der Raumstation herrschen, eine blinde Aufregung, daß er sein Versäumnis erst so spät bemerkte. „Panne ... !” brach Biggs ab. Bild und Ton setzten aus. „Was soll das denn alles?” richtete sich Henri an den Professor. Er trat mit seinem spindeldürren Freund an den Prüftisch. Beide beugten sich mit dem Professor über die große, breite bogenförmige Platte. Darin, auf der linken Seite, war eine räumliche Darstellung der Erde zu sehen, ein wahres „Geisterbild”. Die Darstellung war nämlich einerseits durchsichtig, andererseits zeigte sie schwache Umrisse, so auch die Konturen der Kontinente. Ein roter Punkt, der in diesem dreidimensionalen Gebilde in der Platte leuchtete, bezeichnete das Erdschiff Giganto auf seiner gegenwärtigen Position und dem gegenwärtigen Kurs. Nach einer Weile schien dem Professor eine Idee zu kommen. Scheinbar sorglos sagte er zu Tati: „Bist du so lieb und gehst mit den anderen in den Wohnteil! Vielleicht führst du den Pudel im Labor 3 mal Gassi.” „Sie wollen uns los sein?” fragte das Mädchen kriegerisch. „Sie möchten mit Superhirn und Henri was besprechen? Wohl den Ernst der Lage', wie? Ich glaube, es reicht, was wir von Biggs gehört haben!” „Tati, he ... !” mahnte Bruder Henri. „Sie ... sie ... sie hat recht ...”, stotterte Prosper.
Schweratmend schlug Gérard. vor: „Geben Sie Befehl an Steuerungszentrale: Vollschub, Rückkehr zur Erdoberfläche oder so! Damit wir schleunigst in Frankreich auftauchen - möglichst wieder genau an unserem Ferienort!” „Tun Sie doch endlich was !” schrie Micha. Obwohl er längst kein Erstkläßler mehr war, stampfte er kindisch mit dem Fuß. Superhirn blickte ungerührt durch seine enorme Brille. „Ihr vergeßt wohl”, mahnte er Tatjana, Gérard, Prosper und Micha, „daß ihr euch gestern abend noch darum gerissen habt, einen Abstecher in die Erde zu machen!” „Und nun kriegt ihr kalte Füße”, sagte Henri. „Ihr gehört nicht in den Kommandoraum, wenn dicke Luft ist.” „Na, dann tun wir euch den Gefallen”, gab Tati nach. Und zu Gérard, Prosper und Micha sagte sie: „Kommt also, wir gehen erst mal in die Bordbibliothek. Da ist auch 'n Kino!” Professor Charivari war mit Superhirn und Henri allein. „Es steht schlimm, nicht wahr?” wisperte Henri. „Ja”, sagte Charivari. Seine schmalen, etwas schrägen Augen bewegten sich rascher, als es sein hagerer, ungeschickt wirkender Körper verriet. Nichts, was auf dem Befehlstisch aufleuchtete, erlosch oder als Zahlenkolonnen darüber hinzog, entging seinem Blick. Durch Berührung der Kontaktplatten rief er alle Bordsysteme ab. Die Sichtzeichen der automatischen Meldungen - von den Hauptaggregaten im Maschinenraum (der „Steuerungszentrale”) bis zum letzten, unsichtbaren Relais erschienen in den Wänden: Alles funktionierte einwandfrei. Die Störung des Funkverkehrs konnte völlig „normale” Ursachen haben. Wieder tippte Professor Charivari auf einige Kontaktplättchen. Plötzlich schwebte die geisterhafte Darstellung der Erde wie eine gewaltige Seifenblase mitten im Raum! „Das Gebilde platzt nicht”, lächelte Charivari, als er Henris Gesicht sah. „Du kannst hinein- und hindurchgreifen. Es ist ein Lichtballon.” „Licht...?” fragte Henri mordsdämlich. „Ein von mir und meinen Mitarbeitern weiterentwickeltes Hologramm”, erklärte der Professor, „ein Vollständigkeitszeichner. Ein Körper, der aus zusammengesetzten Lichtstrahlen besteht. Ich habe das Ding aus dem Prüfpult mitten in den Raum verlegt, um eine bessere Kontrolle über den roten Fahrtenschreiber-Punkt zu haben, der unseren Giganto darstellt.” Er fügte hinzu: „Ein Foto ist nur eine zweidimensionale Information. Das Hologramm eine dreidimensionale. Ich kann mit, auf und in diesem Hologramm zum Beispiel bläuliche, grünliche und rötliche Farbeffekte erzielen, wie ihr seht. Unterscheidungseffekte. Die Erde ist bläulich, wenn auch nur sehr, sehr schwach, die Kontinente sind grünlich, der Giganto ist eher rötlich als rot. Starke Farben sind nicht möglich. Ebenso fehlt das Weiß, weil Weiß keine Farbe, sondern die Summe aller Farben ist.” Superhirn nickte. „Ein farbloses Prisma gibt sämtliche Farben des Regenbogens her!” Charivari fuhr fort: „Dem Hologramm, das da im Raum schwebt, kann ich nach Belieben Längen- und Breitengrade und ihre Verlängerungen zum Erdmittelpunkt hinzuschalten.” Superhirn begriff sofort den näheren Sinn der Sache. „Man kann das Hologramm immer so drehen, daß man sieht, unter welchem Kontinent sich der Totpunkt, also unser Erdschiff, befindet?” „Mehr noch”, sagte Charivari. „Ich bin in der Lage, Erdausschnitte holographisch so ungeheuer zu, vergrößern - beispielsweise die allernächste Umgebung Gigantos im Planeten -, daß ich unseren Positionskubus mit äußerster Genauigkeit feststellen kann.” „Toll!” rief Henri. „Aber ich hatte mir die Erde platter vorgestellt. In unseren Schul-Atlanten erscheint sie immer noch als Rotations-Ellipsoid.” „Ja! Und man brauchte schließlich kein Erd-Erforschungsschiff, wenn man von außen in die Erde gucken könnte wie in eine Glaskugel”, grinste Henri. „Captain Biggs muß besoffen sein!” Superhirn widersprach: „Betrunken war Biggs bestimmt nicht. Klar kam über Bildfunk: Wir geben euch verloren ... ! Das fällt mir eben wieder ein. Und deshalb bin ich nun doch überzeugt: Die da oben wissen etwas, wovon wir keine Ahnung haben!”
Henri sperrte den Mund auf. Der Professor fuhr sich hastig über den Kahlschädel. Ungerührt fuhr Superhirn fort: „Und es muß tatsächlich etwas Furchtbares sein, denn sonst hätte Biggs nicht vergessen, die Nachricht verschlüsselt zu funken!” „Wa-was-was Furchtbares ... ?” erklang eine heisere Stimme. Unbemerkt war der übrige Teil der Besatzung zurückgekommen. Und ausgerechnet Micha hatte die letzten Worte aufgeschnappt ... Erst einmal starrten alle auf den schwebenden Lichtball, den seifenblasenartigen Fahrtenschreiber. Sie kannten ihn ja noch nicht. Loulou stutzte. Er fing an zu knurren, trippelte rückwärts und stürzte sich dann mit um so größerem Mut und lautem Gebell auf das sonderbare Ding. Aber der Ballon bot keinen Widerstand! Hustend und japsend vor Aufregung sprang der kleine Hund das Lichtgebilde immer wieder an, versuchte es zu beißen ... doch seine Zähne faßten - nichts ... ! „Das ist ein Hologramm, ein Giganto-Fahrtenschreiber. Die Farben stammen aus Laser-Geräten”, erklärte Superhirn rasch. „Aber es ist von etwas Furchtbarem gesprochen worden!” beharrte Micha. 2. „Schiff löst sich auf!” „Keine Angst”, sagte Professor Charivari schnell. „Der Giganto ist absolut sicher! Wir haben uns nur darüber unterhalten ...” Er fingerte an seinem Fadenbart, „... was Captain Biggs ... äh ... veranlaßt haben könnte...” Superhirn runzelte die Stirn. Professor Charivari, dieser Mann, der ein Doppelleben als verkannter Kauz, als schrulliger Geochronologe führte, in Wahrheit aber der mächtigste, fortschrittlichste Friedenstechnologe war er, der immer Geistesgegenwärtige, geriet vor den Freunden ins Stammeln. . . „... äh, was wohl Biggs veranlaßt hat, uns Blödsinn zu funken”, nahm er den abgerissenen Satz wieder auf „Die Bordsysteme melden nicht die geringste Gefahr von innen oder außen! Geschweige denn ... äh. ..”, er strich sich den langen, lackschwarzen Bart immer heftiger, „geschweige denn Todesgefahr!” Den Blick wieder auf der tischartigen Platte, ließ er sich in den Kommandosessel fallen. Da er aber aus dem Giganto nicht hinauszusehen brauchte wie der Pilot eines Jets aus seiner Kanzel, saß er nicht mit dem Gesicht bugwärts. Im Erdschiff war es wichtiger, den Kontrollraum mit seinen Wänden, die Schleusen und außerdem die Durchgänge zu den übrigen Räumen vor sich zu haben. „Und im übrigen ist der Giganto nicht aus Papier!” ergänzte noch der Professor. „Das wissen wir!” rief Tati. „Und manches von dem, was Superhirn kapiert, kapiere ich auch! Unsere Erdschiffhülle besteht aus einem Material, in dem die Bindungen zwischen den Atomen so verstärkt worden ist, daß sie erst bei hundert Millionen Grad aufbrechen würden. Solche Hitze kommt aber nur in 'n paar besonderen Sternen vor, und auch nur ausnahmsweise. Sogar in der Sonne herrschen nur ungefähr vierzehn Millionen Grad!” „Kluges Mädchen”, grinste Superhirn. „Die Hitze ist vom Druck abhängig. Und also macht die feste Bindung der Atome die Giganto-Hülle unempfindlich gegen Druck - wie's fachmännisch heißt: gegen Drücke bis zu mehreren Milliarden Atmosphären!” „Soviel brauch ich jedenfalls in meinem Fahrradreifen nicht”, murmelte Gérard. Alle, außer Henri und Superhirn, setzten sich wieder. Loulou ließ sich von Micha kraulen. Er spürte die Erleichterung seiner zweibeinigen Freunde. Gleich kam er sich wieder vor wie in der größten und behaglichsten Hundehütte der Welt. Es schien wenigstens so ... Der Giganto funktionierte tatsächlich erstaunlich exakt. Niemand hatte die Drehung um 180 Grad gemerkt, keiner spürte, daß es nicht mehr abwärts, sondern wieder aufwärts ging. Nur im Lichtball bewegte sich der Fahrtenschreiber-Punkt in Gegenrichtung, und die Tiefenzahlen auf der Platte nahmen nicht mehr zu, sondern ab. Einzig die Geschwindigkeit hatte Charivari etwa um die Hälfte herabgesetzt. Irgend etwas mahnte ihn
doch zur Vorsicht! „Aber wenn uns nun der Treibstoff ausgeht?” Micha war immer noch beunruhigt. „Der Treibstoff?” Jetzt lachte Superhirn laut. Auch Charivari mußte lachen, obwohl er an der Kontrollplatte sehr beschäftigt war. „Wenn uns der Treibstoff ausgeht, würde das bedeuten, daß sich der Erdball aufgelöst hätte”, erklärte Henri dem jüngeren Bruder. Selbst Gérard tippte sich an seinen Rundkopf. „Mensch, Micha! Hast du das immer noch nicht mitgekriegt? Der Giganto wird nicht wie 'n Auto oder wie 'n Flugzeug, wie´n Seeschiff - auch nicht wie 'ne Mondrakete angetrieben! Haha! An Professor Charivari verdienen die Ölscheichs nichts!” „Unser Giganto ist ein Allesfresser”, sagte der Professor, ohne von der Platte aufzusehen. „Das heißt, dieses Erdschiff verarbeitet jeden Stoff, auf den es trifft, zu Treibstoff, vor seinen sternförmigen Saugdüsen wird selbst das härteste Gestein jäh geschmolzen. Die Schmelzmasse wird von den Pumpen über den Verwerter im Heck der Maschine gejagt - und ausgestoßen.” Er fügte hinzu: „Durch den Aus- oder Rückstoß habe ich - wie beim Düsenmotor eines Jets - den ,Schub', der den Giganto vorantreibt.” „Wir fressen uns also richtig durch die Erde”, überlegte Tati. „Durch alles, was in der Erde anzutreffen ist”, vervollständigte Superhirn. „Die Giganto-Maschine wandelt auch Kohle, Gase, glühende Lavaströme, Schiefer, Erze, Diamanten, was immer du willst auch innerirdische Wasserläufe -, zu Fahrkraft und zu Energien für sämtliche verborgenen Bordgeräte um.” „Das hört sich so einfach an”, brabbelte Prosper. Er rieb sich heftig die Nase. „Geh von den einfachsten Beispielen aus, dann kommst du an jedes technische Problem ran”, lächelte Superhirn. „Womit kannst du einen guten ollen Großpapa-Ofen heizen? Mit Papier, Holz und mit verschiedenwertiger Kohle. Wenn er erst mal richtig brennt, nimmt er alles mögliche an, sogar Schuhsohlen, Tauwerk, 'n paar Pfund Kotelett-Knochen. Aber die gänzliche Umwandlung der verschiedensten Stoffe - daß Steine flüssig werden und Wasser in einem innerirdischen See schlagartig verdampft - ist nur eine Frage der aufgebotenen Hitze. Der Giganto erzeugt sie so rasend schnell, daß die Umgebung des geschaffenen ,Fahrtunnels' gar nicht mal beeinträchtigt wird. Und das Ausgestoßene bleibt hinter dem Schiff so zurück, wie die Saugdüsen es vorne angetroffen haben: Fels, zum Beispiel, erstarrt wieder.” ja, das hatte Professor Charivari schon zu Anfang begreiflich zu machen versucht. Trotzdem sagte Tati: „Der Giganto hat die Form einer riesigen Spitztüte, nicht wahr? Aber die Spitze liegt vorn! Da müßte er doch dauernd steckenbleiben!” „Du vergißt die sternförmigen Düsen”, erinnerte Gérard. „Die schaufeln wie Arme mit gespreizten Fingern eine Tunnelbreite noch weit über den Durchmesser des großen Giganto-Hecks hinaus!” Aber die Möglichkeit eines „Steckenbleibens” beunruhigte ihn doch: „Vielleicht hat Biggs das gemeint!” „Daß Biggs sich geirrt hat, steht für mich fest”, sagte Charivari. „Ich gehöre nicht zu den Forschern, die über Leichen gehen! Ich war mit meiner Sache hunderttausendfach sicher. Hätte ich sonst eine Jugendgruppe mit einem Pudel an Bord genommen?” Henri und Superhirn sahen sich rasch an. Vergaß der Professor, daß er sie alle - samt Loulou - überhastet in das Erdschiff gestopft hatte, um sie Spionen zu entziehen ...? Unheimlichen Mächten, die darauf aus waren, zu erfahren, was ihr väterlicher Freund Charivari mit all seinen Geheim-Unternehmungen eigentlich plante ... ? Gewiß - die Spione hatten sich verdrückt, und die Gefährten hatten den Professor bestürmt, eine kurze Giganto-Testfahrt mit ihnen zu machen. Über den eigentlichen Anlaß hinaus ... einen „Vergnügungs-Ausflug”, sozusagen. Biggs Meldung hatte dieses „Vergnügen” nun allerdings recht zweifelhaft erscheinen lassen ... Superhirn wollte etwas sagen, doch er kam nicht dazu. Plötzlich zuckten riesige, rotglühende Blitze über alle Wände: Schiff löst sich auf... Schiff löst sich auf... Das Innere des Giganto wurde zu einem einzigen, gellenden Schrei.
3. Grausames Warten Eine Sekunde kann sehr lang erscheinen. Todesschreck hebt die Zeit auf. Die Giganto-Fahrer saßen und standen wie erstarrt. Loulou war auf den Boden gesprungen und hockte da wie ausgestopft. Was da so entsetzlich schrie, war kein Mensch. Es war die Stimme, die künstliche Alarmstimme des Schiffes selber. Der Giganto schrie wie besessen. So, als sei er kein technisches Gebilde, sondern ein lebendes, in Panik geratenes Tier. Und die Warnblitze in den Wänden zuckten, zuckten, zuckten ... Professor Charivari faßte sich als erster. Er tippte auf eine Kontaktplatte, worauf das Kreischen der Alarmstimme erstarb. Doch immer noch zuckten die roten Blitze. Er machte ein paar Schritte: „Folgt mir!” hörten die erstarrten Gefährten. Das klang verzweifelt nach der Weisung eines Seeschiff-Kapitäns: „Alle Mann in die Boote!” Doch an ..Ausbootung” war hier in der Erde nicht zu denken! Der Giganto war kein absackendes Fahrzeug auf dem Meer, wo es immerhin Luft gab, wo die wildeste Woge den Schiffbrüchigen noch Chancen ließ! Selbst aus einem U-Boot hätte man mit dem Tauchretter vielleicht noch herausgekonnt. Aus Flugzeugen konnte man mit Fallschirmen springen. Und unter Umständen konnte man sich aus einem fahrenden Auto, aus einem entgleisenden Zug trudeln lassen: Das war immerhin möglicher, als ein Verlassen des Erdschiffs unter den gegebenen Druck- und Hitzeverhältnissen in der „steinernen Faust” des Planeten. Was Professor Charivari gewollt hatte, erfuhr keiner. Kaum hatte der Alarmschrei ausgesetzt (die Warnblitze zuckten immer noch), als in der Backbordwand das Funkbild wieder auftauchte: Captain Biggs von der Weltraumstation meldete sich! „Verschlüsselte Durchsage!” tönte seine Stimme schnell, aber klar und deutlich aus dem Lautsprecher. Diesmal handelte er vorschriftsmäßg: „Raumstation Monitor an Giganto ... Raumstation Monitor an Giganto ... Bitte melden...!!!” Die Warnblitze glühten rot ... Mit einem Satz war Charivari an der bogenförmigen Platte. Er sprach ein paar Worte ins Befehlsmikrofon. Ein zweites Bild leuchtete auf: Die Mattscheibe, auf der der Professor sich selber sah ... Der Funkverkehr klappte also beiderseits, Biggs konnte nun in den Giganto „hineinblicken”. „Hier Giganto ... Tiefe siehe Leitstrahlangabe oben. Giganto auf außerplanmäßiger Fahrt. .. Sieben Insassen, ein Test-Hund. Kubus 28 Strich 999 A 2 Komma 7 ZERO. Schlußwert Strich Strich 1. Rück-Kurs Gebiet Frankreich, Ort: Monton. Haben Blitzalarm ,Zerstörung Giganto'!” Biggs Gesicht auf dem Bild verzerrte sich: „Ich habe es gewußt.. .!” schrie er. „Sie hätten mit Vollkraft hochflitzen sollen, statt weiter so gemütlich mit Ihrem Kindergarten da unten rumzugondeln! Was heißt jetzt noch Rückkurs ...? Sie sind ja längst im Eimer mit Ihrem ...”, in der Aufregung fiel ihm nichts anderes ein, „... mit Ihrem Eimer!” Charivari streifte die Wände mit raschen Blicken: Immer noch zuckten die rotglühenden Blitze, überall, überall ... Dennoch schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein. Scharf sprach er ins Mikrofon: „Wenn Sie noch einmal die Fassung verlieren, Biggs, dann schmeiße ich Sie raus! Hören Sie mich, Biggs? Vorhin haben Sie sogar unverschlüsselt gefunkt. Sie wissen, wie gefährlich das ist! Ja, sind Sie denn blödsinnig?” Der Mann auf dem Bildschirm geriet nun erst recht außer sich. Wie Wolfsgeheul kam seine Stimme aus dem All: „Mich noch rausschmeißen? Wie denn? Wann denn? In ein paar Sekunden ist Ihr Giganto nur noch glühender Staub ... !” Was Captain Biggs sonst noch schrie, war nicht zu hören. Erst setzte der Ton aus, dann legte sich ein Schleier über das Bild. Auch das Kontrollbild erlosch. Die Verbindung war wieder gestört - und wahrscheinlich für immer ... „He. ..!” rief Prosper. Er drehte sich wie ein Kreisel.
„Was soll das? Wer ist nun eigentlich verrückt? Da sind doch immer noch die Blitze...” Gérard schien einen Fußball vor die Stirn bekommen zu haben. Der Hund bellte jetzt laut. „Sind wir schon geplatzt?” hauchte Micha, den Tati an sich gerissen hatte. Professor Charivari machte sich auf der Platte zu schaffen. Ganz ruhig durchdrang Henris Stimme den angsterfüllten Kommandoraum: „Auf meiner Uhr sind dreiunddreißig Sekunden vorüber!” „Fünfunddreißig”, berichtigte Superhirn. „Fünfunddreißig Sekunden seit Beginn des Alarms und Beginn deiner Zeitansage! Ich habe mitgestoppt!” Tatsächlich hatte er die Schrecksekunde mitgerechnet. Superhirn war und blieb Superhirn! Der nach wie vor in der Luft stehende Lichtball verriet nicht das geringste! Giganto fuhr! Er fuhr noch immer! Prosper, Gérard, Micha und seine Schwester hatten bemerkt, daß seine Wangen unter den hervorstehenden Backenknochen hohler wirkten als sonst. Gérard stemmte die Fäuste in die Hüften. „Sie sprachen von innen und außen, Herr Professor”, murrte er. „Ha! Als ob das in der Erde so´n großer Unterschied wäre! Ein Außen ist doch sowieso Quatsch! Wir stecken allemal drin, nämlich in der Falle! Ob mit, ob ohne Giganto!” „We-we-wenn was passiert”, japste Prosper, „läßt uns die Erde nie mehr los! Sie mü-mü-müssen nicht so tu-tun, als ob Sie da-das nicht wüßten!” Schluckend und fuchtelnd fuhr er fort: „Erinnern Sie sich, was Sie gesagt haben! Und wenn Sie uns nicht ausgerechnet rausgeschickt hätten...” „Prosper!” wollte Henri bremsen. Der Freund rief mit erhobener Stimme: „Sie wissen doch am besten, welch mörderischer Druck hier unten herrscht! Wenn der Giganto platzt, sind wir verbacken und verbraten!” Fast väterlich beruhigte ihn Charivari: „Wir sind bereits auf Gegenkurs - zurück, Richtung Erdoberfläche. Ziel: euer Ferienort Monton, Frankreich! Nichts auf der Kommandoplatte, kein Alarmsystem in den Wandanlagen meldet auch nur den geringsten Schaden. Der Funkverkehr mit meiner Weltraumstation ist vorübergehend gestört. Aber solche Störungen hast du wohl auch zu Hause am guten, alten Heimfernseher schon erlebt, nicht wahr?” Doch Professor Charivari schien nur so gelassen. In Wahrheit rasten seine Gedanken und Überlegungen, reiften Entschlüsse im Zeitraffer-Tempo. Wieder sprach er ins Mikrofon: „An CPS...” (Das hieß: „Central Power Section”, „Zentral-Kraft-Abteilung” - und bedeutete nichts anderes als „Maschinenzentrale”). Von der CPS aus wurde der Giganto bewegt und gesteuert, ebenso erhielten die unzähligen Bordgeräte von dort ihre Energie, ob sie sich nun in den Wänden des Befehlsraums befanden oder in den übrigen Arbeits- und Aufenthaltsräumen. „An CPS-A-Ingenieur!” rief Charivari ins Mikrofon: „Funkstation überprüfen!” Man konnte meinen, alle Stationen seien mit hochspezialisierten menschlichen Fachkräften besetzt. Dabei handelte es sich durchweg um fehlerorientierte redunante Prozeßrechnungsgeräte. Das heißt: mm mehrfach eingebaute „Rechner”, die bei Ausfällen für einander einspringen konnten. (Ein Beispiel für „Redundanz” ist die Sprache selbst: Sie sichert sich für das gewohnte Ohr ohne Schwierigkeit ganz von allein, wenn im Satz Worte oder Buchstaben ausgelassen werden. So sagen wir: „ ha´m”, statt „haben” - oder „is”, statt „ist”, ohne daß unsere Umgangssprache dadurch unverständlich wird - fehlende Redundanz gibt es bei Telefonnummern. Wird eine Zahl nicht mitgewählt, kommt keine Verbindung zustande.) Der „Central Power Sektionschef”, kurz „CPS”, war nichts anderes als der kontrollierende Maschinen-Automat. Unmenschlich ausgedrückt: Das „Hirn” des gewaltigen Kraftwerks im Heck. Und diese gotteslästerliche Erfindung hatte sogar eine Stimme! Kalt, eintönig rasselnd und quäkend, aber um so lauter, erfüllte sie wie von überallher den Kommandoraum: „Funktionstest ... durchgeführt ... !” Es folgten einige Meldungen, die nur Charivari und Superhirn begriffen. Doch soviel verstanden die anderen auch: Alles okay! Nichts, aber auch gar nichts war kaputt!
„Und mit Biggs keine Verbindung?” rief Henri. „Wie reimt sich das ... ?” Micha hatte die schauderhafte Maschinenstimme noch im Ohr. Der Pudel hopste unruhig hin und her. „Was für'n ekelhafter Schreihals fährt da mit?” fragte Micha. „Ich hatte mal einen Lehrer mit so 'ner Stimme!” „Quatsch!” unterbrach ihn Tati. Daß in Charivaris Konstruktionen Maschinenstimmen sprachen, mußte Micha doch wissen! Es gab ja auch auf Bahnhöfen längst solche „Stimmen”. Nur sagten sie dort brav und bieder die Zugfolgen an - während die Giganto-Prüf-Automatik auf spezielle Reizworte eingestellt war, die das Erdschiff betrafen. Vom Professor geschaltet, gab sie den zu kontrollierenden Apparaturen Prüfsignale ein - und verglich die „Rücksignale” mit ihren eigenen Haupt-Einspeicherungen. Erfolgte eine Übereinstimmung, so war das ein Zeichen dafür, daß das geprüfte Gerät in Ordnung war. Fehlte die Übereinstimmung jedoch, konnte der Hauptautomat den betreffenden Ausfall mit ebenfalls eingespeicherten Fehlerzeichen vergleichen. Diese wieder bedeuteten den Hinweis auf die Ursache, und so war der „CPS-Ingenieur” schließlich imstande, mit seiner Kunststimme anzugeben, was schlecht funktionierte oder gar ausgefallen war. Das Ganze war eine von Charivari genial vervollkommnete elektronische Prüfung, deren Prinzip auch in der normalen Technik längst angewandt wurde. Die Bordfunk-Station, sowohl für außen als auch für innen, war nicht schadhaft. Darüber verschaffte sich Charivari durch wiederholte Fragen Gewißheit. „Auskunft über alles ... Kursrechner, Saugdüsen, Pumpen...”, sprach Charivari mehrmals ins Mikrofon. Dabei blickte er angespannt auf die Signale in der bogenförmigen Befehlsplatte. Immer, wenn die schauerliche Meldestimme aus den Lautsprechern erklang, dieses oder jenes: „Intakt ... intakt ... intakt...”, leuchteten die entsprechenden Stellen grün auf Grün, grün, grün ... also war der Giganto durch und durch okay. „Frage: Ursache Einschaltung Blitzalarm ...” erkundigte sich der Professor langsam und deutlich. „Frage: Schaltung Alarm ... ?” „Na, so 'n abgehacktes Zeug versteht die Traumtüte im Maschinenraum bestimmt nicht”, meinte Micha. „Doch!” behauptete Gérard. „Den ollen Kunstmaxe kannst du sogar veräppeln. Ich wette, dazu gehört nur ein Kniff. Sag ihm: Guten Morgen, Herr Oberpostrat, wie geht's Ihren Kindern? Um welche Uhrzeit machen Sie Feierabend?”, dann erwidert dieser Giganto-Fatzke ungerührt...” „Vierzehn Uhr fünfundzwanzig Bordzeit”, grinste Superhirn prompt. „Wieso?” Tati machte schon lange ein Gesicht, als befände sie sich in einem großen Erd-Torpedo voller Idioten. Aber jetzt reichte es ihr: „Seid ihr noch zu retten? Selbst wenn wir heil aus der Erde rauskommen - seid ihr überhaupt, seid ihr jemals zu retten? Vierzehn Uhr fünfundzwanzig...! Nee, Kinder, bei euch ist's zehn nach zwölf!” Schnell wurde Superhirn ernst. „Gérard hat recht! Dem künstlichen Maschinen-Ingenieur kannst du alles flüstern. Er pikt sich nur das Technische heraus, und zwar das, was zum Giganto gehört! Und bei seiner komischen Ansprache an den Herrn Oberpostdirektor hat Gérard ein wichtiges Wort eingeflochten, nämlich...” „Uhrzeit!” platzte Micha heraus. Jetzt begreife ich das! Die Füllwörter überhört die Maschine!” Aber sie schien auch die Frage nach der Alarm-Ursache zu überhören. Der Professor gab es auf. „Alarmanlage in Null-Position!” befahl er. Nachdem nun schon so lange das fürchterliche Sirenengeschrei verstummt war, verblichen endlich auch die zuckenden, roten Riesenblitze. „Die Anlage hat sich von selbst ausgelöst”, sagte er scheinbar erleichtert. „Das kommt überall mal vor. Warum nicht auch im Giganto? Im Fahrtenschreiber-Lichtballon seht ihr: Wir fahren langsam, womit ich vorsichtig meine, der Erdoberfläche zu. Die Maschine hat bestätigt: Alles in Ordnung. Nach dem Schreck haben wir eine Belohnung verdient...” „Belohnung ... ?” Micha horchte strahlend auf
Sogar der Pudel schien auf etwas Günstiges zu hoffen. Bittend hob er die Vorderpfoten. Professor Charivari strich sich lächelnd den fadendünnen, lackschwarzen Kinnbart. „Ich schlage vor, wir gehen jetzt ins Bordkasino und stellen uns ein leckeres Mittagessen zusammen, eins, wie man's im teuersten Hotel der Welt kaum besser bekommt!” „Mit Eis?” jubelte Micha. „Mit Götterspeise?” „Mit Götterspeise!” bestätigte der Professor freundlich. Durch seine großen Brillengläser starrte Superhirn den langen Mann mit dem gelblichen Kahlschädel an: War Charivari nicht bei Trost? Hatte er denn all das Unheimliche, Unaufgeklärte vergessen? Nach Biggs' Meinung - und nach der rätselhaften Blitzalarm-Auslösung - mußte der Giganto samt Besatzung längst „Höllenspeise” sein! Und da sprach Professor Charivari noch von „Götterspeise!” 4. Die „Teufelsküche” Die Gefährten waren erst eine Nacht an Bord. Sie kannten die Küche des Erdkreuzers nicht. Das Frühstück war ihnen durch eine Wandluke in ihre Wohnkammern „gereicht” worden. Aber sie brauchten sich nicht lange umzugucken. Als sie in der Hauptschleuse standen, sahen sie das leuchtende, gelbe Sichtzeichen „Messer, Gabel, Löffel, Becher, Teller” an einer Tür zur Linken. Und als Tati darauf zuging, schob sich die Tür geräuschlos auf. „B-b-b-blumig ...” stammelte Prosper verblüfft. „Was?” rief Micha - ebenso verständnislos wie neugierig. Doch dann sah er es auch: Das war keine gewöhnliche Küche mit Herd, Kühlschrank, Tiefkühltruhe, Abwaschbecken, Geschirrspülautomat und Borden. Nichts wies auch auf eingebaute Schränke und Geräte hin. Ein langer Tisch mit schimmernder, schwarzer Platte, auf jeder Längsseite zehn, im Boden verankerte Drehsessel, an den Schmalseiten je zwei ... das war alles, was die Einrichtung betraf Im Sitzungsraum meinte Gérard. „Ich zähle vierundzwanzig Plätze. Mir scheint, hier kriegt man nichts zu essen, hier soll man sich wohl nur mit Geistern, die sowieso keinen Hunger haben, über Essen unterhalten.” Prospers verblüfftes „Blumig ... !” bezog sich auf die überwältigend prächtige Musterung in den Wänden, durch die von außen Tageslicht, ja herrliche Mittelmeersonne, zu dringen schien. Tati ließ sich nicht täuschen. Sie kannte sämtliche „Küchentricks” in Charivaris Raumschiffen. Im Erdschiff Giganto, dem neuesten Ding, war bestimmt alles noch viel raffinierter. „Setzen wir uns erst mal auf die Stühle”, meinte sie. „Wenn's einen automatischen Ingenieur in der Maschine gibt, dann gibt's hier bestimmt einen automatischen Koch.” ,.Und automatische Oberkellner”, warf Gérard dazwischen. „Wo bleibt der Professor?” wunderte sich Micha. „Superhirn und Henri fehlen auch noch!” bemerkte Prosper. Prompt kam Antwort aus einem verborgenen Lautsprecher: „Wir bringen Giganto nur auf genauen Kurs zu eurem Ferienort!” Das war die heitergelöste Stimme Charivaris. Er fügte hinzu: „Da haben wir hier zwar noch ein bißchen Kleinarbeit, aber um so genauer fanden wir dann wieder am Startplatz!” Ach, wie hüpft der Magen begeistert, wenn einem soeben erst ein paar Felsbrocken vom Herzen gefallen sind! Endlich hatte auch der Professor keine Sorgen mehr. Und er sprach bereits wieder vom „landen”, also vom „Auftauchen” im Ferienort Monton. Der wüste Traum war eigentlich schon vorüber. Bald würde man wieder im gemütlichen Ferienquartier sein, im Haus, das Superhirns Onkel gehörte. Und die gute Wirtschafterin, Madame Claire, würde zur Begrüßung eine Obsttorte backen - und sie würde nicht im geringsten daran zweifeln, daß ihre Schützlinge einen Motorjacht-Törn mit erwachsenen Freunden gemacht hatten (denn das hatte man vorgetäuscht, um Professor Charivaris wichtige
Friedensziele nicht zu verraten!). Die gute Madame würde höchstens staunen: „Waaas? So schnell seid ihr zurück?” „Ha! Dann kann ich endlich - wieder mal 'n zünftiges Fußballspiel mitmachen!” Gérard rieb sich die Hände. „Und ich fahr mit Sportfischern auf 'nem ollen Kutter raus”, rief Prosper. „Loulou könnte allen möglichen Spuren folgen”, meinte Micha. „Ein Giganto-Labor ersetzt kein Gassi-Gehen.” „Kinder”, seufzte Tati, „ich möchte weiter nichts, als mich an irgendeinem Strand in der Sonne braten lassen!” Nein, es war kaum auszudenken, daß ihnen so bald die „Freiheit” winken sollte. Dabei befanden sie sich doch erst kurze Zeit an Bord. Und hatten sie sich nicht geradezu danach gedrängt, eine kleine, außerplanmäßige Giganto-Fahrt, einen Vorstoß in die Erde zu machen?” „Probieren wir die Küche aus!” drängte Micha. „Sehen wir, was dieses komische Tischleindeckdich' alles hergibt! Stopfen wir uns ordentlich voll mit Eis und Bonbons, Keksen und Schokolade! Es ist die Hauptsache! Wenn wir erst wieder am Strand sind, müssen wir das von unserem Taschengeld bezahlen!” „So, nun setzt euch mal!” wiederholte Tati. „An dem langen Tisch werden wir uns bestimmt nicht verloren fühlen, wenn endlich was draufsteht! Micha, du kommst neben mich! Gérard. und Prosper, ihr nehmt die Plätze gegenüber! Für den Professor, Superhirn und Henri brauchen wir bei so vielen leeren Stühlen nichts zu reservieren.” Kaum „vermerkte” die Sitzfläche des jeweils entsprechenden Sessels das Gewicht des Gastes, als vor ihm in der Tischplatte eine Anweisung aufleuchtete: ..Kontakt unter beiden Seitenlehnen zugleich drücken! Festhalten!” Und nun zeigte es sich, daß Tati richtig vermutet hatte: Im Giganto-Küchen-Restaurant war alles noch raffinierter als in den Weltraumschiffen Charivaris. Schwapp! Jeder Sessel machte erst mal „kehrt”. Mit schafsdämlichen Gesichtern blickten Tati und Micha auf der einen - und Gérard und Prosper auf der anderen Seite gegen die hellgolden durchstrahlte Wand mit dem prächtigen, lustigstimmenden Blumenmuster. Der Pudel saß beunruhigt und knurrend auf dem Fußboden. Abgesehen davon, daß er nicht lesen konnte, er hätte die schriftliche Weisung sowieso nicht befolgen können. Geräuschlos fuhr jeder Sessel mit seinem „Freßpassagier” wie ein Stativ-Lift in die Höhe, Scharniere drehten sich ohne das leiseste Knacken oder Knirschen ... und die Sessel wurden bis dicht an die Wände herangeschoben. „Menschenskinder!” schrie Prosper. „Wir sind doch keine Schiedsrichter b-b-b-beim Tennis!” Er meinte die plötzliche Höhe der Sessel. Aber er hätte auch einen beliebigen Vergleich mit tausenderlei Patenten der Baumaschinenindustrie wählen können. „Sollen wir hier verschaukelt werden?” grollte Gérard. Bevor Micha ein Wort der Enttäuschung fand, wurde allen das Besondere dieser „Liftversetzung” klar: jeder Gast blickte auf eine schwarze Tafel. Eigentlich eine „schwarze Bahn”, die sich annähernd von der Decke bis zum Fußboden erstreckte. Diese Tafeln verdeckten plötzlich die Blumenmusterung, und es stellte sich heraus, daß es riesige Speisekarten waren, Speisekarten ungewöhnlicher Art. „Speisenfolge”, flimmerte es golden und verheißungsvoll, groß und breit ganz oben. Na, und dann kamen die verschiedensten Gerichte zur Auswahl. „Wahrhaftig! Das kann keine Reisegesellschaft bieten!” sagte Tati. Allerdings las man die Mahnung: „Vernünftig wählen!” „Knopf A, B, C, D, E, F...”, studierte Micha ehrfürchtig. „Milchmix, verschiedene Sorten. Aha, das ist was zum Trinken. Und alles unter A mit 1, 2, 3 und so weiter ... Milchsoßen, Milchspeisen, Milch-Halbgefrorenes...” „Suppen”, murmelte Prosper gierig, „Fleischsuppen, Knochen- und Gemüsesuppen, alles unterteilt...
Kinder, da reicht die Wand kaum aus! Gekochter und gedämpfter Fisch, gebackener Fisch, Fisch in Gelee ... Hähäh ... sind wir nun eigentlich in einem Ozean-Tauchboot oder im Erdschiff Giganto?” Tati war ebenfalls sehr beschäftigt, die reichhaltigste „Speisekarte” zu studieren, die sie je gesehen hatte: „Gefüllte Gemüse, rohe Gemüse, gekochte Gemüse. . . Möhren, junge Erbsen, feine grüne Bohnen...” Die Salate erregten ihr besonderes Interesse: „Blattsalate. . .” Hinter einigen Sorten stand: „Frisch aus Giganto-Laborgarten!” Na ja - klar: Raum- und Erdfahrer brauchten auf längeren Reisen auch mal etwas Frisches - nicht nur tiefgekühltes und durch technologische „Hexerei” im Handumdrehen zubereitetes „eingemottetes” Zeug. Es gibt mehrere tausend sogenannter „Nahrungsmittel”, das wußte Tati, und sie hatte schon gelernt, daß diese Fülle meist die gleichen „Nährstoffe” enthält: Fette, Kohlehydrate, Eiweiß, Mineralsalze, Wasser, Wasser und immer wieder Wasser, und die wichtigen „Wirkstoffe”, wie Vitamine, Hormone und Fermente. Beim Konservieren, Sterilisieren, besonders der Milch, gehen Vitamine verloren, manche Materialien (wie Buntmetalle) entziehen der Nahrung im Zusammenhang mit Lufteinflüssen die nützlichsten Wirkstoffe. Wirkstoffausgleiche in Form von Tabletten oder entsprechenden Konservierungsbeigaben sind ein bedeutender Fortschritt, aber die Raumfahrtmedizin hat längst darauf hingewiesen, wie wichtig es für Nerven und körperliches Wohlbefinden der Raumfahrer ist, statt ausgeklügelter Extrakte wenigstens ab und zu ein wirklich natürliches, vollwertiges Essen zu bekommen. Also deshalb hatte der Professor für einen „Garten” an Bord seines Tiefenkreuzers gesorgt ... Alle Achtung! Gérard suchte selbstverständlich „Fleischgerichte”. Man hörte ihn brabbeln: „Rindergulasch, Kalbsgulasch, Hammel, Schweinerippe...“ Eifrig drückten alle auf die Kontaktplatten neben den in Leuchtschrift angegebenen Gerichten auf der schwarzen Tafel. In ihren „Schwebestühlen” lotsten sie sich mit Armlehnen-Steuerung an den Wänden runter und wieder hoch ... Das Angebot - in Vorspeisen, Hauptgänge, Beilagen (nach Geschmack) und zahlreichen Nachspeisen eingeteilt - war verwirrend. Schließlich konnte man nicht alles auf einmal essen. Tati, Prosper und Gérard begriffen die verschiedenen Sparten trotzdem. Zwischen diesen Abschnitten blinkte eine rote Schrift: „Nach Auswählen Grün-Kontakt berühren! Speisen folgen nacheinander am Tisch!” „So, ich hab mich entschlossen”, sagte Tati. Sie tippte auf den Grün-Kontakt - und ssst, schwebte das Gestänge des Sessels in die normale Lage zurück, zog sich selbsttätig ein. Der Sessel machte wiederum „kehrt”, und das Mädchen saß am Tisch. Vor ihr schob sich geräuschlos ein Flächenstück zur Seite, aber innerhalb der Auflage, so daß es den Nachbarn nicht bedrängte. Sofort wurde die Lücke von einem hochkommenden Tablett mit der Vorspeise ausgefüllt. Bei Tati gab es als erstes „Cremesuppe”. Doch das Mädchen hatte noch für den Pudel zu sorgen. Auf dem Stuhl zur Linken, der vorläufig für niemanden vorgesehen war, fuhr sie noch einmal an der zugehörigen Tafel hoch und wählte „Kalte Frankfurter” und „Mürbekekse” für Loulou. Der Hund bekam seine Hauptmahlzeit sofort, und er hatte sie unter dem Tisch zu verknuckeln. Gérard schlürfte „Kraftbrühe”, Prosper verschlang mit Behagen „Sardellenhäppchen”. Nur Micha hockte stumm und mit aufgerissenen Augen auf seinem Platz. Es sah aus, als würden sich ihm gleich die Haare sträuben. „Was ist denn?” fragte Gérard über seiner Kraftbrühe. Tati blickte auf „Nanu, Micha, ich dachte, du hast Hunger?” Sie sah das Gesicht des Bruders. „Ist dir schlecht? Warum steht nichts auf deinem Platz?” „Der ganze Kokolores mit der Freßautomatik ist ihm zu unheimlich”, meinte Prosper Sardelle kauend. Da wurde Micha wütend. „Quatsch!” schrie er. „Der Automat ist verrückt! Dieses ganze Schiff ist verrückt! Ich kriege nichts zu essen, obwohl ich bestimmt mehr auf den dämlichen Plättchen
rumgetippt habe als ihr!” Er starrte wieder die leere Stelle vor sich an. „Ich hab nichts, nich' mal 'ne lumpige Suppe! Statt dessen blinkt 'ne unverschämte Schrift auf ...” Tati reckte den Hals. Auch Gérard und Prosper streckten neugierig die Köpfe vor. „Befehl verweigert ... Befehl verweigert. . .”, blinkte es ununterbrochen vor Micha auf dem Tisch dort, wo eigentlich die gewählte Vorspeise hingehört hätte. „Er muß den automatischen Koch verärgert haben”, grinste Gérard. Jeder Seefahrer weiß das: Köche sind sehr empfindlich! Ein schiefer Blick, eine freche Antwort ... schon kriegt man nichts. Zumindest wird einem in die Suppe gespuckt!” ,Ach, du mit deiner Weisheit”, meinte Tati. „Wir sind weder auf 'ner alten Fregatte noch auf einem Frachtdampfer! Im Giganto gibt's keinen Koch, den man anpusten kann. Die Technik läßt sich nicht beleidigen, soviel weiß ich auch. Technik ist völlig gefühllos. Aber vielleicht will sie Micha sagen, daß er was falsch gemacht hat?” „Wer ... ?” Micha blickte von einem zum anderen. „Ich? Oder der Servier-Automat?” „Haben wir gleich”, amüsierte sich Tati. „Nun sag mal ganz ehrlich, Kleiner, was hast du gewählt? Aber ganz ehrlich!” „Na ja...” maulte Micha. Nur zögernd rückte er mit der Sprache heraus. „Erst mal hab ich mich für Eis entschieden. Himbeer-Eis, Vanille, Schokolade, Erdbeer, dann für Kirschtorte, Eierkuchen. . . „ „Und für Bonbons!” vollendete Tati prompt. „Bonbons .- und immer wieder Bonbons! Stimmt´s? Ich kenne dich doch!” „Ja”, gab Micha kleinlaut zu. „He! Mir dämmert was ...!” rief Prosper aufgeregt. Er warf den Löffel hin und machte ein entgeistertes Gesicht. „Da ist Methode drin! Bei den Hinweisen auf den Tafeln hab ich mir schon so ganz, ganz dunkel was gedacht.” Auch Gérard war perplex. „Du meinst, diese komische Wand-Speisekarte ist uns über? Sie achtet darauf, daß jeder 'ne vernünftige Auswahl trifft?” Tati hatte immer heftiger lachen müssen, ihr standen die Lachtränen in den Augen. „In ge-ge-ge-wisser Weise”, kicherte sie atemlos, „ha-ha-hat Gérard wa-wa-wahrscheinlich recht!” Sie zwang sich zum Ernst. „Ich glaube nicht, daß jede Speise-Wahl so überwacht wird wie von 'ner zickigen und geizigen Tante. Aber wenn einer mehrmals Eis tippt, Torten - und so 'n Zeug - und dann vielleicht noch fünf Kilo Bonbons, geht das der Automatik über die Hutschnur.” ,Aber wieso denn?” jammerte Micha. „Im Giganto-Freßlager sind mindestens tausend Portionen Eis, ach, wer weiß wieviel. Und die Bonbons wird keiner zählen können!” „Begreif doch!” feixte Gérard. „Die Automatik gönnt dir alles. Der Professor hat nur dafür gesorgt, daß sie sich sperrt, wenn jemand so 'ne Irrsinns-Speisefolge wählt wie du.” „Es soll verhindert werden, daß sich die Besatzung einseitig ernährt.” sagte Tati nachdenklich. „Ich glaube, daß die Automatik bei jeder Einseitigkeit stockt. Nehmt an, ich wähle dreimal Kraftbrühe, dreimal Fleisch, warm, und eine Wurstplatte, kalt, fünf Portionen Butter, vier gekochte Eier und einen Geflügelsalat. Kein Obst, kein Gemüse, keinen Blattsalat, noch nicht mal 'ne lumpige, getrocknete Aprikose ... So was würde der Automat auch nicht gestatten.” Sie fügte hinzu: „Einseitige Ernährung führt zu Mangelkrankheiten, das weiß jedes Schulkind, dem der Lehrer mal was von Vitaminen erzählt hat.” „Einer von uns könnte aber einmal keinen Appetit haben und sich nur 'ne kleine Rohkostplatte bestellen”, wandte Prosper ein. „Na, das wird der Automat schon noch durchgehen lassen”, bemerkte Gérard. „Sicher auch eine Portion Eis – und nichts weiter -, aber Micha hat ja für einen ganzen Kindergeburtstag einkaufen wollen, deshalb streikt das Dings.” „Und übrigens”, meinte Tati abschließend, „entscheidet sicher der Professor, was die Automatik annimmt.” Micha mußte nun noch einmal die „Wand hochgehen”, um sich eine vernünftige Speisefolge zusammenzustellen.
Inzwischen fragten Schriften bei den anderen an: „Abservieren?” Und unter der Schrift erschien eine gelbe Kontaktplatte. Gérard tippte darauf, und das Tablett mit der leeren Plastiktasse und dem Löffel verschwand. Nacheinander erschienen die Hauptgerichte, an deren Zusammenstellung die Automatik keinen „Anstoß” genommen hatte. Micha glotzte immer noch auf die Wand. „Ich finde nichts, ich finde nichts!” schrie er wütend. Mit den Fäusten hieb er auf einige „Bestellplättchen”. Und da geschah etwas Unerwartetes: Als Micha heruntergesaust kam und der Stuhl seine Kehrtwendung gemacht hatte, öffnete sich vor ihm der Tisch und ein regelrechter Springbrunnen von Bonbons sauste heraus: Drops in Rollen, Pfefferminzpastillen, verpackte Malzwürfel, Sahnebonbons, Pralinen in Buntpapier, Fruchtbonbons aller Farben in Klarsichtfolie ... Der Springbrunnen wurde zum Regen, der auf die Köpfe und Schultern der anderen niederprasselte. Das wollte überhaupt nicht aufhören. Micha hatte in seiner Wut kräftig auf die Bonbon-Kontakte gehauen, da hatte die Automatik „die Nerven” verloren. Endlich hielt sie erschöpft inne - oder es handelte sich um Ladehemmung. Triumphierend kroch Micha unter dem Tisch herum. „Gewonnen!” schrie er vergnügt. 5. Unterirdischer Geheimstaat? Nichts gewonnen aber hatten die drei, die sich immer noch im Giganto-Kommandoraum befanden: Professor Charivari, Superhirn und Henri. Niemand dachte daran, den anderen in die Bordküche zu folgen. Das fröhliche Geschrei von dort war im Lautsprecher abgeblockt worden, die Schleusentür war nur noch einen Spaltbreit offen. Unentwegt fragte Charivari über Mikrofon Maschinendaten ab, der CPS-Automatik-Ingenieur antwortete (für Superhirn und Henri nicht zu verstehen) jetzt über Kopfhörer. Der Fahrtenschreiber zeigte eine neue Richtung und ein schnelleres Tempo an. Das Erdschiff war wieder auf „Tauchkurs” gegangen und bewegte sich in gleichbleibendem Abstand zur Oberfläche nach Osten. Superhirn blickte rasch auf den Lichtball, der die Erde darstellte. Er sah, daß Charivari den Giganto auf „Hasen-Taktik” programmiert hatte, zickzack ... zickzack ... zickzack ..., als würde er von einer Meute verfolgt. Das Schiff beschrieb sogar Schlaufen, Kreise und Volten in der Erde. Eine Vorsichtsmaßnahme, gewiß. Doch sie zeigte, daß der Professor den Verdacht hegte, Biggs habe trotz allem schlimme „Fremd-Informationen”, die der Giganto mit seinen Einrichtungen nicht besaß. „Der Funk, ob Bild, ob Ton, ist zwischen der Raum-Station und uns noch immer gestört”, fuhr der Professor fort. Er strich sich den lackschwarzen Bart. Seine Augen glänzten fiebrig. „Herr Professor”, sagte Superhirn sehr ruhig, sehr bedeutungsvoll. „Machen wir uns doch nichts vor! Ich glaube, seit wir Captain Biggs allererste Schreckensmeldung bekamen, wußten zumindest Sie selber, Henri und ich, worum es sich handeln könnte!” Und endlich fiel aus Henris Mund das Wort, das selbst Professor Charivari erschütterte, als es ausgesprochen wurde: Der Ragamuffin! jener unbekannte Chef jenes rätselhaften, zerstörerischen innerirdischen Hauptquartiers, das von der Oberfläche her nicht zu orten gewesen war. Der Ragamuffin! Charivari und seine Mitarbeiter hatten ihn so genannt. „Ragamuffin”, eine englische Bezeichnung für Lump, obwohl dieser beinahe harmlose Ausdruck kaum ausreichte, die erahnten Absichten der finsteren Macht auch nur anzudeuten. Der Giganto ist ursprünglich zur Aufspürung des Ragamuffin-Hauptquartiers umkonstruiert worden”, murmelte Professor Charivari - als wolle er sich den ganzen Schrecken noch einmal in Erinnerung rufen. „In meinem Weltraum-Labor, also da, wo Biggs jetzt sitzt, gibt es einen HirnwellenAanalysator. Mit diesem Gerät empfingen wir seit geraumer Zeit Gehirnwellen, die nicht zu entschlüsseln waren, weil offenbar ganz andere Zusammenhänge zwischen der Gehirntätigkeit des ,Absenders' und ihrer Bedeutung bestanden. Zwischen den Gehirnwellen von Tieren und der
Bedeutung solcher Tiergehirnwellen bestehen wiederum andere Zusammenhänge.” Irgendwann hatte Henri dies schon einmal gefragt: ,Aber Sie konnten feststellen, daß die eigenartigen Menschengehirnwellen aus der Erde kamen?” Ja, und zwar als verheerende Unguts- und Unmuts-Gedanken, die eine schauerliche Wirkung auf unsere Testpersonen hatten. Und ich war der Meinung, eine Kraft mit enormer, unvorstellbarer höchstpotenzierter Willensenergie wolle den technischen Fortschritt ungünstig beeinflussen. Ich glaubte, der innerirdische Bandenchef sei ein Magier, also ein direkter Gegenspieler meiner Arbeit als Wissenschaftler. Der Ragamuffin muß mich schon lange beobachtet haben. Aber wahrscheinlich begreift er die Geschehnisse an der Erdoberfläche und im Weltraum trotz seiner mörderischen Geisteskräfte nicht. Er gebraucht keine sichtbare Gewalt, keine Kriegsgeräte. Eins aber weiß dieser unbekannte Ragamuffin: Alle Nerven- und Gehirnimpulse, die ja auch elektrisch sind, laufen durch die Nervenstränge wie eine Wasserwelle durch einen Graben. Kann man in so einem Nervenstrang bestimmte Impulse erzeugen, erhält das Gehirn, ohne es zu merken, eine Falschmeldung. Dauernde Falschmeldungen könnten die Weltbevölkerung verwirren, ja, charakterlich sogar verändern!” „Hm. Das mag die Absicht des Ragamuffin sein”, murmelte Superhirn. „Wir haben's ja erlebt, welche Autobiologischen Fähigkeiten sein Spion hatte - und daß sein Kopf die Energiekapazität eines gewaltigen Kraftwerks besaß ... Haha! Als winzige Schachfigur, als Schach-Bauer, ist der Spion in unserem Haus aufgetaucht! Und dann wuchs er sich zu einem Riesen aus und wollte Professor Charivaris Geheimnisse aus mir herausquetschen!” „Als Schrumpfriese, als Däumling, ist er wieder zurück in die Erde gesaust, als der Professor mit dem Giganto kam”, grinste Henri. „Schrumpfen ... ja!” Charivari rieb sich den Schädel. „Zauberei ist das nicht. Es hat auch nichts mit Hölle und Teufel zu tun. Die Ragamuffin-Leute sind Menschen mit besonderen Fähigkeiten, wie Superhirn eben sagte: Fähigkeiten, die den Aufwand an technischen Hilfsmitteln (wie wir sie brauchen) ersetzen. Alles weist darauf hin, daß sie in der Lage sind, die Abstände zwischen den Molekülen ihrer Körper so zu verringern, daß man sie für Spielzeugmännchen hält. Sie können sich verkapseln ... und mittels ihrer Gehirn-Kraftwerke die Erde durchsausen, wie's nur noch unser Giganto kann. Trotzdem halte ich unser Schiff für absolut unzerstörbar. Selbst wenn der Ragamuffin für seine mörderischen Gedankenstrahlen den Erdkern als Reflektor, als Spiegelverstärker benutzen würde...” „Übrigens...”, erinnerte Henri. „Gleich nach Beginn dieser Reise war man in Ihrer Weltraumstation doch schon der Meinung: Ragamuffin gibt auf, nicht wahr?” „Ja ... Aber ich behielt euch an Bord, um euch vor möglicherweise vorhandenen, weiteren Spionen zu schützen.” Charivari runzelte die Stirn. „Es sind Menschen, wie dem auch sei. Sie müssen in der Erde unter rätselhaften Sauerstoff- und Sonneneinwirkungen sowie in oberflächengleichen Druckverhältnissen leben.” Er unterbrach sich und lachte bitter. „Im Erdkern gibt es solche Verhältnisse jedenfalls nicht!” Superhirn dachte nach. „Eigentlich sonderbar”, meinte er. „Da erforscht man nun jahrelang das Weltall, hat seine Fußstapfen längst auf dem Mond zurückgelassen, die Antarktis wird von unten angebohrt, die Röntgen-Astronomie findet neue Sterne- aber was in der Erde ist, auf deren Eierschale wir leben, interessiert keinen Menschen, wenigstens keinen Wissenschaftler in der Praxis. Jeder abergläubischen Behauptung geht man nach, ob sie nicht vielleicht ein Quentchen Wahrheit enthält ... oben, auf der Erde. Hier drinnen sucht man nur sogenannte Rohstoffe oder Bodenschätze. In den Weltraum schickt man sogar Botschaften an unbekannte Lebewesen - wie's die Amerikaner getan haben -, aber auf den Gedanken, mal eine Art Rohrpost an unterirdische Mächte in unseren Planeten reinzuschießen, ist noch keiner gekommen!” Professor Charivari sah den Jungen aus schrägen Augen an. „Du gehst davon aus, daß der Begriff Erde seit Jahrtausenden in allen Kulturen, sowohl in Religionen, Sagen, Dichtungen auftaucht? Einige Indianerstämme meinen sogar, der allererste Mensch sei aus der Erde gewachsen wie ein Baum. Nun, hier handelt es sich um Gleichnisse - oder, wie im letzten Beispiel, um Wachstums- und Vergänglichkeitsvorstellungen, die ziemlich einfach aus der pflanzlichen Natur abgeleitet wurden.
Außerdem ist das Totenreich, das Reich der Dämonen, Drachen, Erdgeister, Erdgötter, die kultische Ideenwelt von Epochen (oder Völkern), die keine Ahnung davon hatten, daß die Erde rund ist, also keinen unendlich tiefen Abgrund hat.” Er zögerte und fuhr fort: „Der Ragamuffin und seine variablen Vasallen, nennen wir sie Vavas, sind keine Mächte der Finsternis im Sinne von Schwarzen Göttern oder wie auch immer gearteten Erdgeistern. Ich bleibe dabei, es handelt sich hier um eine reale innerirdische Großmacht.” Innerirdische Großmacht! Hatte Captain Biggs die Giganto-Besatzung vielleicht vor einem Anschlag dieser Großmacht warnen wollen? Superhirn starrte auf das Hologramm, den brusthoch schwebenden Lichtball vor dem Kommandotisch, der die Erde darstellte. Seine Nase schien spitz und weiß wie ein Eiszapfen. Der Leuchtpunkt in dem sonderbaren Fahrtenschreiber regte sich nicht mehr! „Giganto steht!” meldete Superhirn rauh. Diesmal ertönte die Alarmsirene nicht. Auch verwandelten keine roten Blitze den Kommandoraum in einen Ort des Grauens. Charivari hatte die Warnanlage Micha und Tati zuliebe stillgelegt. Doch von Superhirns Worten ging ein größerer Schrecken aus. Das Erdschiff stand? Hatte es sich festgerannt? Am Befehlsstand setzte Charivari den Mini-Hörer ans Ohr. Er fragte die Maschinenaufsicht - den künstlichen A-Ingenieur - nach der Funktion aller Aggregate ab, während seine Augen pfeilschnell über die Zeichen und Zahlen auf der Platte glitten. Welche Auskunft der Professor vom Ingenieur in der Maschine erhielt, hörten Superhirn und Henri nicht. Die gräßliche Kunststimme sprach ja jetzt nicht über Bordlautsprecher. Und Tati, Gérard, Prosper und Micha saßen - mitsamt dem Zwergpudel - vergnügt und ahnungslos noch im Eßraum ... Charivari blickte auf: „Kein Schaden! Hülle ist intakt, die Saugdüsen melden nicht die geringste Material-Anfälligkeit, Pumpen sind in bestem Zustand...” „Aber...” In Superhirns Kopf quirlten die Gedanken. „Wieso stehen wir, wenn alles in Ordnung ist?” „Was es auch sein mag, die starke Hülle schützt uns”, brummte der Professor. Kaum hatte er das gesagt, als alle drei aufhorchten. Was war denn das ...? Bugwärts traf den Giganto offenbar ein furchtbarer Hieb. Es war, als sei ihm eine gewaltige Kreissäge kreischend über die Nase gefahren ... Der Kommandoraum wackelte auch jetzt nicht, aber Charivari stand auf Er mußte sich auf die Befehlsplatte stützen. Nein, der Kommandoraum hatte nicht gewackelt, und dennoch hatte irgend etwas mit rasender Wucht das Erdschiff erwischt. Die Hülle war so hervorragend abgeschirmt, daß man während der Fahrt nie auch nur das leiseste Geräusch von berstendem Fels, von brechendem Erz, von polternder, bewegter, verdrängter Erdmaterie gehört hatte ... Und jetzt vernahm man ohrenzerreißendes Sägen! „Das will uns durch die Haut!” verkündete Henri. Charivari sprach hastig ins Mikrofon. Wieder gab ihm die Stimme des künstlichen A-Ingenieurs in der Maschine Auskunft. „Alles in Ordnung!” murmelte er. „Hülle weist keine Schäden auf, nicht einmal einen stecknadelfeinen, oberflächlichen Kratzer. Den würde das Giganto-Hirn im Maschinenraum vermerken wie einen Pistolenschuß! Und die Meldung muß stimmen! Die Kommandoplatte, hier, deutet auch nichts an!” „Aber weshalb bewegt sich der Giganto nicht?” rief Henri. „Und was war das für ein schauderhaftes Geräusch?” „Es ist, als wären wir in ein Vakuum geraten”, erklärte der Professor. „Die Saugdüsen sind hell, aber es scheint nichts da zu sein, was sie ansaugen könnten! Deshalb arbeiten auch die Pumpen nicht! Es gibt keinen treibenden Rückstoß mehr. Das Schiff steht in Wartestellung!” „Der Giganto ist so konstruiert”, überlegte Superhirn, „daß er alles fressen und in Treib-Energie
umsetzen kann: Gestein, Eisen, Gold, Silber, diamanthaltige Schichten, innerirdische Wässer, Gase, alles, einfach alles. Festigkeits- und Hitzegrade spielen dabei keine Rolle ... Hm. Dann bleibt nur eine Erklärung!” Er zögerte, ehe er den Gedanken aussprach: „Es blockt uns jemand unser Düsenfutter ab!” Henris Augen wurden groß. „Du meinst ... es steht eine. .. eine ... undurchstoßbare Wand vor uns? Ein ... ein teuflisches Etwas, das stärker ist als jedes Erdhindernis?” Unwillig rief der Professor: „Von teuflisch kann keine Rede sein. Es ist allenfalls...” Ein scharfer, durch Mark und Bein gehender, wetzender Ton unterbrach seinen Satz. Diesmal klang es, als führe jemand mit einem riesenhaften Kreidestück über eine enorm große Schiefertafel: Eine unbekannte Waffe schien die Seitenwand des Giganto aufritzen zu wollen. Zugleich hörte man die Stimmen der übrigen Besatzungsmitglieder - und das verängstigte Bellen des Pudels. Die Schleusentür glitt zur Seite, Tati, die Jungen - begleitet vom hopsenden Loulou - stürzten in den Kommandoraum. „Was ist denn los?” rief Tati verwirrt. „Was quietscht und schabt denn da so?” „Sind wir schon raus aus der Erde?” fragte Prosper. „Wieder in Monton?” erkundigte sich Gérard. Micha konnte nicht sprechen, er hatte den Mund voller Bonbons. So gurgelte er nur Unverständliches. „Setzt euch hin und seid still” befahl Henri. „Wir sind nicht aus der Erde raus. Im Gegenteil. Wir stecken im dicksten Schlamassel. jetzt wißt ihr's! Es hat keinen Zweck, euch zu belügen!” Der Professor beugte sich über die Kommandoplatte und sprach ins Mikrofon: „TRANSPARENZ!” Was das bedeutete, wußten die Gefährten schon aus Charivaris Raumschiffen: Er löste damit eine Kette von Vorgängen aus, durch die die Schiffshülle durchsichtig wurde, durchsichtig wie Glas, doch reichte die aufzubringende Bord-Energie hierfür nur immer kurze Zeit. Die Giganto-Hülle erschien einen Moment wie Gelee, die Wände lösten sich scheinbar in Schlieren auf. Und plötzlich war es, als seien sie nicht mehr da! Man sah das Erdinnere ... die augenblickliche Umgebung des Schiffes ... Ach, und was man sah ... Oben, unten, an den Seiten. . . stechendes, rotwaberndes Feuer.. . Nein! Der Giganto stand in flüssigbrodelndem Brei ... ! „Das ist schmelzflüssige Gesteinsmasse! Wir sind am Fuß eines Erdschlots, der in einen Vulkan mündet. Vereinfacht gesagt: Dies hier ist das Zeug, das sich mit allerlei anderem als Lava über den Kraterrand an die Oberfläche ergießt”, erklärte Professor Charivari. „Aber diese feurige Schmelzflüssigkeit”, begann Henri, „kann den Giganto nicht aufhalten! Er verarbeitet solches Zeug doch gewöhnlich auch zu Treibstoff!” Das wußte nicht nur der Professor, das war selbst Micha klar. Allmählich hatten er, Tati, Prosper und Gérard begriffen, daß eine unvorhergesehene Gewalt am Werke war. Das Geräusch an der Bordwand setzte wieder ein. Diesmal klang es, als streiche eine Säge - wie prüfend - an der nun unsichtbaren Hülle des Kommandoraums entlang. Aber was da strich ... war ebenfalls unsichtbar. Alle hielten den Atem an. Selbst der Hund saß wieder wie ausgestopft. Nach einer Weile, die endlos dünkte, hob Charivari die Transparenz wieder auf Der rot-brodelnde Brei verschwand. Man sah aufs neue die Wände des Befehlsraums. Etwa fünf Minuten lang geschah nichts ... außer, daß dieses unheimliche Kratzen und Schaben weiterhin ab und zu über den Rumpf des Erdschiffs streifte. Charivari blickte erst auf das Hologramm und dann auf die Teil-Positionsdarstellung an der rechten Seite des Befehlstisches. „Wir sind unterhalb von Neapel”, murmelte er. „Der Schlot, unter dem wir stehen, führt zum Vesuv. Aber die Skalen in den Wänden haben nicht aufgeleuchtet, also ist kein Ausbruch zu verzeichnen. An dieser Stelle in der Erde herrschen stets Magmabewegungen. Das hat für die Erdoberfläche nichts zu besagen.” „Und auch nicht für uns?” forschte Superhirn. „Dieses sägende Geräusch hat doch mit dem Feuerbrei
nichts zu tun?” „Nein”, erwiderte der Professor knapp. Dann erteilte er seine Befehle ins Mikrofon: „Hochstart! Einsatz: alle Batterien!” Diesmal ließ er den künstlichen Ingenieur im Maschinenraum über Lautsprecher antworten. „Hochstart!” brüllte die Maschinenstimme. „Einsatz: Alle Batterien!” Nur Superhirn ahnte, daß das eine Zerreißprobe war. Charivari setzte sämtliche Reserven aufs Spiel, um die Todeshand jener sägenden Strahlenfinger zu durchbrechen ... Wie? Hatte er eben „Strahlenfinger” gedacht? Na klar ... Superhirn patschte sich vor den Kopf, daß ihm die Brille verrutschte. „Wir fahren!” schrie Henri begeistert. Er blickte auf die Wandtafel: Der Glühpunkt bewegte sich. Und nun ging alles wie am Schnürchen. Der Professor sprach Befehl auf Befehl ins Mikrofon. Nach dauernden Versuchen bekam er sogar Bildfunk-Verkehr mit Biggs. „Hatte euch aufgegeben, wie Sie wissen!” schrie der Captain in der fernen Raumstation. „Aus der Erde kommen unerhört starke Gehirnwellen! Unsere Gehirnwellen-Empfänger sind geplatzt, sie mußten ausgewechselt werden! Ein Teil unserer Einrichtung ist zerstört. Daraus habe ich geschlossen, daß Sie in der Erde erst recht in Gefahr waren”' „Ja, aber statt die Nerven zu verlieren, hätten Sie den Peilstrahl von der Raumstation zum Giganto einziehen sollen”, sagte Professor Charivari kalt. „Die Gehirnwellen, die Ihre Geräte da oben zerstörten - hören Sie? - diese Gehirnwellen haben den Peilstrahl von der Weltraumstation bis hinunter zu uns als Blitzableiter benutzt ... haben uns gewissermaßen als Rückschlag getroffen!” Man sah das verblüffte Gesicht Captain Biggs auf der Mattscheibe. „Da staunen Sie”, lachte Charivari bitter. „Der Ragamuffin strahlt wieder mörderische Unmutsgedanken aus, das ist mir jetzt klar! Aber er kann mit seiner Art von Energie den Giganto unmöglich orten! Das ist Zufall gewesen! Zufall, daß die Wellen uns auf dem Umweg über den Peilstrahl trafen. Ich lege die Antenne still!” „Ich verstehe: Die Antenne für den Peilstrahl ist der gesamte Giganto-Rumpf selbst. Er muß also noch einmal besonders abgeschirmt werden”, erwiderte Biggs. „Übrigens noch eins: Unsere Raumfahrt-Nachrichtenstation hat über Normalfunk gemeldet, daß sich in Spanien kleine Männer rumtreiben, winzige Figuren ...” „Waaas ... ?” schrie Superhirn. „Kleine Männer ...? Das können doch nur Leute des Ragamuffin sein?” „Aus!” rief der Professor. „Funkstille! jede Verbindung mit Giganto sofort abbrechen!” „Ich sende verschlüsselt”, meinte Captain Biggs vorwurfsvoll. Charivari besann sich. „Nehme Kurs auf Spanien”, sagte er ruhig. „Gehe mit Giganto auf Erdoberfläche. Verständige mich mit Ihnen über Handgerät außerhalb des Schiffes. Halte das für sicherer. Nehmen Sie als letzte innerirdische Nachricht folgendes auf. Giganto meldet: Über uns ein Vulkan!” 6. Die kleinen Männer in Madrid „Ich verstehe nicht, was das alles bedeuten soll”, sagte Tati. „Da oben, in Spanien, laufen Spione aus der Erde rum? Wozu?” „Das werden wir sehen”, sagte Henri. „Und der Ragamuffel selber ist in seiner Höhle?” fragte Micha. „Wollte er mit seinen Gedanken unser Schiff durchbohren?” „Du hast gehört”, sagte Superhirn geduldig, „es war Zufall, daß uns die Ungutsstrahlen trafen. Sie galten der Weltraumstation, und sie sind von dort aus über den Peilstrahl bis an unseren Giganto gedrungen. Aber so enorm die Ragamuffin-Wellen auch waren – uns konnten sie nichts anhaben! Die Hülle ist zu stark.” Er kicherte. „Wenn der Ragamuffin wüßte, was er uns für einen Schreck eingejagt hat...” Als der Giganto die Erdoberfläche erreicht hatte und am einsamsten Punkt des spanischen
Pyrenäengebirges parkte, rüstete sich die Besatzung zum Aussteigen. „Wir verlassen das Schiff jetzt seitlich”, erklärte Professor Charivari. Ein Befehl ins Mikrofon, eine Seitentür fiel nach außen und „verwandelte” sich in eine Rutschbahn. „So. Da brauchen wir nicht zu klettern.” Das Innenlicht erlosch, als die Freunde unten waren. Der Professor folgte. Sein Fingerring-Scheinwerfer leuchtete die Umgebung ab. Eisige Kälte schlug der Giganto-Besatzung draußen entgegen. Der Mond stand über der kahlen, zerklüfteten Höhe des spanischen Pyrenäengebirges. Es roch nach Schnee - und trotzdem konnte man meinen, auf einem fremden Planeten zu sein. „He!” bemerkte Superhirn. „Warum gibt die Giganto-Hülle keinen Schimmer zurück, auch wenn Sie sie mit Ihrem Ringscheinwerfer anstrahlen?” „Weil ich die Hülle dormiert habe”, erwiderte Professor Charivari. „Sie ist jetzt schwarz und stumpf und schimmert nicht einmal im Mondenschein, wie du siehst. Die tausendfältige Blitz-, Blend- und Funkelkraft der starken Außenhaut ist zur Ruhe gelegt, damit kein Suchlicht - etwa das eines Flugzeugs - etwas von ihr erfassen kann. Ein Wanderer würde umsonst mit der Taschenlampe umherleuchten, Giganto wirft jetzt keinen Strahl zurück.” ,Ach, ich weiß!” mischte sich Micha ein. „Und niemand auf der Erde kann ihn anpeilen!” „Erraten”, sagte Charivari. „Der Körper ist auch entmagnetisiert, das heißt, er zieht keine kleineren Gegenstände an und ist auch gegen Erdmagnetismus immun.” Die Freunde hopsten von einem Bein aufs andere. Es war sehr kalt in dieser Höhe. Über ihnen glitzerten eisig die Sterne. Loulou lief winselnd umher. Das Tier begriff, daß es im Freien war. Aber die kalte Gegend war nicht der Park von Monton mit seinen vielen erregenden Gerüchen. Als großer, hagerer Schatten stand Professor Charivari vor dem fahlen Nachthimmel. Er schüttelte ein Kästchen, flach wie ein Zigarettenetui, und betrachtete es mehrmals. Die eine Seite, das sah Superhirn, zeigte unregelmäßige, festgelegte, grünschimmernde Striche, Bögen, Winkel, Kreise: Ein rätselhaftes, rechteckiges Leuchtzifferblatt. „Ich versuche außerhalb des Giganto Verbindung mit der Weltraumstation zu bekommen”, erklärte Charivari. „Da ich natürlich auch jetzt nicht Klartext funken will, benutze ich diesen Zitter-Code. Die Funkzeichen sind verschlüsselt, aber keine Erdstation kann herausfinden, woher sie kommen. Die Frage an meine Weltstation lautet: Habt ihr neue Gehirnströme, Nachrichten, Gedankenstrahlen, Gedankenwellen vom Ragamuffin empfangen?' Einer meiner Fachleute blickt auf sein seismologisches Gerät, ergänzt im Geist die Lücken, nimmt überflüssige, sogenannte Phantomsignale heraus und übersetzt das Ganze in den Klartext.” „Aber er funkt wohl nicht zurück?” fragte Tati etwas nervös. „Bisher noch nicht”, murmelte Charivari, er schien besorgt. „Ka-ka-kann es nicht sein, daß der Ragamuffin inzwischen die-die Raumstation zer-zerstört hat?” stammelte Prosper. Der Professor stand starr. Die ausgestreckte Hand mit dem Nachrichtenkästchen hing schattenhaft im Mondlicht. Es war plötzlich so still. Nicht einmal der Pudel winselte. Endlich sprach Charivari, es klang wie ein Krächzen: „Ja, verflixt - wenn der und seine Männer uns längst übertölpelt hätten!” Er drehte an seinem Ringscheinwerfer, als suche er einen Platz, auf den er sich einen Moment hinsetzen könnte. Dabei streifte das Licht den Giganto. „Alarm!” schrie Henri. „Die Hülle leuchtet! Der Giganto wirft auf einmal den Schein zurück! Was bedeutet das? Ein Spion ist im Schiff! Vielleicht auch mehrere! Sie wollen mit Giganto abhauen!” Ein Gedanke, unvorstellbar: Hier, auf den eisigen Gipfeln des menschenleeren Gebirges mit seinen Schluchten, Ritzen, Mulden und Gletscherhängen zurückbleiben zu müssen, während das Schiff - von Ragamuffins Bande entführt - auf Nimmerwiedersehen verschwand! „Was machen wir jetzt?” schrie Tati angstvoll. Charivari hatte den Ringscheinwerfer voll aufgeblendet und ausgefächert. Der Anblick des in allen Edelsteinfarben blitzenden Giganto-Kreiselbohrers war entsetzlich schön.
„Die rumoren da drin rum und starten!” gellte Michas Schrei. „Giganto bewegt sich!” „Quatsch!” keuchte Superhirn. „Deine Augen wackeln!” Alle liefen auf das tausendfältig glitzernde Erdschiff zu. Henri trug den verdutzten Pudel. Durch eine Drehung an seinem anderen Fingerring steuerte Charivari das Öffnungsaggregat der Seitentür. Was vorhin eine Rutschbahn war, war nun eine Treppe. Trittleisten klappten aus der Fläche. Der Professor, gefolgt von Superhirn und Henri, kletterte eilig voran. „Sind die Ragamuffels drin?” fragte Micha furchtsam. „Ach, was! Kommt ruhig nach!” rief Superhirn zurück. Er hatte begriffen, daß das Ganze nur eine Panne gewesen war. Charivari schaltete die gesamte Innenbeleuchtung an und wechselte eine defekte Kontaktplatte aus, nämlich die für die Rückstrahlbremse der Außenhaut. Damit war der Schaden behoben. Die Seitentür war wieder in die Wand geglitten, ohne daß man eine einzige Fuge sah. Superhirn ärgerte sich. „So was Tölpelhaftes! Man braucht den Ragamuffin und seine Leute doch nicht überall zu vermuten!” „Ich versuche nun doch, vom Giganto aus Verbindung mit meiner Raumstation aufzunehmen”, sagte der Professor mißmutig, als seine Besatzungsmitglieder wieder im Kommandoraum waren. „Ich will wissen, warum man sich nicht gemeldet hat. Und wenn ich's auch noch so ungern tue - und schalte auf Sprechfunk.” Er fing einen Blick von Superhirn auf „Ja, ja, ich weiß, was dir durch den Kopf geht: Giganto ist strahlen- und ortungssicher. Er sendet und empfängt Außerbereichs-Frequenzen, die sich jedem Abhörversuch entziehen. Giganto ist so konstruiert, daß er sogar eine Erdzertrümmerung überstehen könnte, wie Noahs Arche die Sintflut.” „Aber?” fragte Superhirn. „Sie haben doch auch Gedankenstrahl-Sendeverstärker, wie sie die amerikanische Weltraumfahrt als Verständigungsmittel von Raumschiff zu Raumschiff seit Jahren schon erörtert - aber noch längst nicht konstruieren konnte? Von Ragamuffin wissen wir, daß er wohl seine Ungutsgedanken über die Erde bis ins All verstreut. Trotzdem kann er keine Gedanken an sich ziehen. Oder er versteht sie nicht wegen der verschiedenen Denk-Ebenen.” Der Professor runzelte die Stirn. „Stimmt”, sagte er. „Ist mir alles klar. Aber wenn er uns täuscht? Wenn er gegen jede Erfahrung doch orten kann, wo der Giganto-Hauptsender sitzt, und uns hochfliegen läßt, sobald ich den Außenfunk nur eingeschaltet habe.” „Hm. Vielleicht hat er vorhin bereits das kleine Zittercodegerät blockiert”, murmelte Henri. Trotzdem rief Charivari über Bildfunk seine Weltraumstation. „Hallo, hier Biggs”, meldet sich der Captain auf der Mattscheibe in der Wand. Der Professor gab die Giganto-Position an: Fahrt-Kurswerte 0. Standort Oberfläche Pico de Aneto.” Es stellte sich heraus, daß der Signalchef den Zittercode wegen einer vorübergehenden kosmischen Störung nur schwach und unverständlich empfangen hatte. „Sind neue Gedankenströme des Ragamuffin verzeichnet worden?” fragte der Professor. „Nein”, kam die Antwort aus dem Wandlautsprecher. „Seit Stunden nicht mehr der leiseste Impuls. Von der Mondpol-Station und von unseren Unterwasserstädten kamen verschlüsselt gleichlautende Meldungen. Der Ragamuffin schweigt.” „Der Ragamuffin schweigt! Er sendet nicht mehr! Er hat plötzlich Schluß gemacht mit der Charivari gefiel das nicht. „Das ist eine Finte ... Was meinst du, Superhirn?” Der spindeldürre Junge dachte nach. Man sah ihm an, daß er die Lage ungünstig beurteilte. Funkstille hat nie was Gutes bedeutet, das liest man in Geschichtsbüchern - und noch jeden Tag in der Zeitung. Auf Funk- und Nachrichtensperre folgt meist 'ne unangenehme Überraschung!” Charivari schaltete den Außenfunk nochmals an: „Giganto meldet Position wie gehabt. Etwas Neues über die sogenannten kleinen Männer, die sich in Spanien aufhalten sollen?” Der Signalchef der geheimen Weltraumstation gab zurück: „Ja, es handelt sich tatsächlich um kleine Geschöpfe. Normale amerikanische und europäische Rundfunksender melden sehr kleine Personen,
die sich im Sportstadion von Madrid aus Kanonen in die Luft schießen lassen. Es heißt, es sind Japaner, darunter Kinder. Ihr Trikot ist grau. Sie tragen Masken. Es soll eine hervorragend eingespielte Künstlertruppe sein.” Der Professor stellte noch einige Fragen, befahl absolute Funkstille für die nächsten acht Stunden zwischen seinen Geheimstationen und Weltraumschiffen. Das sollte auch für Erdschiff Giganto gelten. „So, nun essen wir erst mal was”, sagte er dann. Danach entschied er: „Marsch ins Bett! Wir brauchen dringend Schlaf.“ Es war heller Tag, als Henri, Tati, Gérard, Prosper und Micha am Frühstückstisch in der Messe saßen. Superhirn stapfte, von Loulou begleitet, längst mit Professor Charivari draußen umher. Wegen der Gebirgshöhe war es trotz des sonnigen Wetters kalt, so daß die beiden Schutzanzüge trugen. „Also, was die Künstlertruppe der kleinen Männer betrifft, die sich zur Volksbelustigung aus Kanonen schießen lassen...”, begann der Professor. Superhirn lachte. „... ausgerechnet hier in Spanien, im Sportstadion von Madrid! Ja. Das geht mir auch nicht aus dem Kopf Kleine Männer, angeblich auch Kinder ... Und Japaner sollen es sein? Möglicherweise eine raffinierte Tarnung oder Ablenkung. Japaner gelten in der ganzen Welt als klug und geschickt. Die Bande des Ragamuffin würde als japanische Künstlertruppe nicht auffallen. Vorausgesetzt, sie haben sich auf größer getrimmt als auf Schachfigurenformat - und auf kleiner als der eine, der mich in Monton am Arm packte.” Professor Charivari strich sich den Strippenbart. „Es ist durchaus denkbar, daß es sich um eine Tarnung dieser variablen Vasallen, der wandelbaren Untertanen des Ragamuffin, handelt. Diese Vavas könnten für den Fall ihrer Entdeckung Vorsorge geschaffen haben. Das nennt man: Die Flucht nach vorn - oder die Flucht in die Öffentlichkeit antreten. Würden wir also der Polizei der ganzen Welt melden, wir hätten Mini-Figuren beobachtet, die wie Geschosse in das Erdinnere zurücksausen ...” „... würde es gleich heißen, wir hätten nichts anderes als diese Künstlertruppe beim Training gesehen”, grinste Superhirn. „Ich denke, wir machen mit unserem Bord-Auto einen Abstecher nach Madrid und sehen uns die Kerle mal an”, entschied Charivari. „Ich bleibe hier!” sagte Superhirn fest. „Ich gehe in den Giganto und halte Wache. Während wir nämlich allesamt in Madrid wären, könnte sich eine Gruppe der Ragamuffin-Vavas hier zu schaffen machen.” Er fügte hinzu: „Sehen Sie mich nicht so zweifelnd an, Herr Professor! Daß mir die Burschen die Gedanken durcheinanderbringen, soll mir nicht noch mal passieren! Im Kammerschrank habe ich einen Schutzhelm gesehen.” „Ja”, unterbrach Charivari. „Wahrscheinlich den richtigen. Den Einwegspiegel-Strahlenschutzhelm. Wenn du den aufsetzt, prallt jede fremde Gedankenwelle an dir ab. Und wer dich ansieht, sieht sich selber wie in einer riesigen Weihnachtsbaumkugel. Du aber kannst alles sehen. Außerdem wirst du in der Sicherheitskabine über meinem Wohnraum bleiben. Über der Erde habe ich Ausstiegsmöglichkeiten. Sollte dir Gefahr drohen, drückst du auf einen Knopf - und du wirst mit der Sicherheitskabine wie in einem Schleudersitz aus dem Giganto hinauskatapultiert - direkt auf meine Weltraumstation.” Superhirn lächelte. „Ich brauche nur einen Notizblock mit einem Kugelschreiber. Dann wird mir die Zeit nicht zu lang.” Beide kletterten mit Loulou wieder in das Erdschiff. Selbst in der Sonnenhelligkeit glänzte der Giganto nicht. Stumpf und grau, mit ungewissen Umrissen, von den Felsen kaum zu unterscheiden, lag er da. Niemand, auch wenn er sich an seinen Rumpf lehnte, hielt ihn für ein künstliches Gebilde. Dies wurde durch die Dormierungshaltung bewirkt, von der Charivari gestern gesprochen hatte. Der Professor und Superhirn gingen ins Kasino, wo die anderen noch saßen. „Was?” schrie Micha begeistert. „Nach Madrid? Ins Sportstadion? Und im Bordauto? Wo ist denn das Auto? Ich will es sehen! Ich will damit fahren!” „Aber wir müssen uns Decken mitnehmen! Das Auto, mein Gigantomobil, ist ein offenes
Behelfsfahrzeug. Wenn es in Madrid auch noch so heiß ist, auf der Rückfahrt werdet ihr bibbern”, erklärte der Professor. Auch Prosper und Gérard freuten sich über die Abwechslung. Nur Henri und Tati zögerten. „Wenn nun doch so eine Horde - wie nennen sie die Burschen? Ach, ja: Vavas! Wenn so eine VavaGruppe Superhirn inzwischen überfällt? Woran würde er merken, daß sich jemand von denen eingeschlichen hätte?” fragte Tati. „Berechtigte Frage”,. erwiderte Charivari. „Aber ich kann Gigantos künstliche Wachhunde wecken. Die nehmen zur Sicherheit unsere biologischen Einzelheiten noch einmal auf Bemerken sie dann etwa ein anderes Menschenwesen, fangen sie an zu bellen.” „Was, wie Loulou?” rief Micha. Der Professor lachte. „Im übertragenen Sinn, natürlich. Es gibt Alarm, und alle Innenwände färben sich schwefelgelb.” Er ging mit den Freunden in die Hauptschleuse, den Flur, in dem alle Einstiege mündeten. „In diesen Wänden befinden sich die sogenannten automatischen Genehmiger, Geräte, die der verborgenen Alarmschaltung noch einmal eine besondere Erlaubnis für eure Anwesenheit erteilen. Sie nehmen eure Körperstrahlung auf, eure Gehirnwellen, eure Stimmen und - mikrofilmisch - euer Äußeres. Ja, sogar eure Blutgruppen können diese Geräte bestimmen. jeder von euch, den ich unter Voranschaltung einiger Ziffern hier programmiert habe, ist jetzt doppelt genehmigt. Ihr und auch Loulou dürft überall im Giganto umherkrabbeln, ohne daß das Schiff nervös wird. Gleichzeitig bewirkt diese Schaltung eine Empfindlichkeit gegen unregistrierte Eindringlinge.” Superhirn bezog die bequeme Sicherheitskabine. Mit gerollten Decken unter den Armen verließen die anderen das zwischen den Felsen brockenhaft und unauffällig wirkende Erdschiff. Henri, Tati, Prosper, G6rard und Micha sahen sich um, während der Professor die Wandtreppe per Fernsteuerung schloß. Er trug einen Sommeranzug und einen Strohhut, so daß er wie der friedliche Opa der Freunde wirkte. Loulou hopste freudig an ihm hoch. „Wo ist denn das Auto?” fragte Micha. „Hier!” Lächelnd zog der Professor einen roten Lappen aus der Tasche. An ein winziges Ventil hielt er eine Art Feuerzeug. „Ist das ein Kinderluftballon?” „Nein! Aber kolossal dehnbarer Kunststoff...” Flupp! Vor den erstaunten Blicken der Jugendlichen stand ein bereits, wulstiges Luftkissenauto mit drei Vorder- und drei Rücksitzen. Und als Windschutz hatte es sogar eine durchsichtige Folie. „Ich habe das Ding mit Hartgas gefüllt”, erklärte Charivari. „Ganz wenig Hartgas ersetzt eine ungeheure Menge Preßluft, wenn es gelöst wird. Es dient uns auch als Treibstoff. So. Nehmt den Pudel und steigt ein!” Er fügte hinzu: „Wir leben im Zeitalter des Härtens und des Verflüssigens. Zum Beispiel verflüssigen wir Erdgas. Stahl härten wir mit Säure. Eisen kann man aber auch in Säure lösen. Wir lassen größere Mengen durch Hinzufügen entstehen, pressen andere durch Entziehung eines Stoffes und durch Druck zu winzigen Teilen zusammen.” „Ja. Das fängt schon beim Suppenwürfel an!” rief Micha. Der Professor startete, und die ganze Gesellschaft sauste auf Luft- und Gaspolstern im „Gigantomobil” dem sonnigen Madrid entgegen ... Sie waren kaum eine Stunde weg, als alle Wände im zurückgelassenen Erdschiff aufleuchteten ... ! Großalarm, vermerkte Superhirn. Feinde an Bord! Und er befand sich als einziger Verteidiger hier! Professor Charivari und die Freunde (Micha hielt den Pudel an sich geklammert) saßen auf den zusammengefalteten Decken unter der brütenden Nachmittagssonne im Sportstadion von Madrid. Keiner - am wenigsten natürlich Loulou - ahnte, in welcher Not sich Superhirn befand. Die Zuschauer lachten und schrien vor Vergnügen und Bewunderung Über das, was sie sahen. Es herrschte eine Bombenstimmung im Stadion. Unten, auf der Aschenbahn, stand ein hochgebockter Lastwagen mit einer aufmontierten ungefügen Kanone. Daraus wurde ab und zu eine vermummte, menschliche Figur mit lautem Knall etwa 20 Meter in die Luft geschossen. Das lebende Geschoß gab sich auf dem Höhepunkt einen geschickten
Drall und landete schließlich, wieder etwa 20 Meter weiter, in einem aufgestellten Schwimmbassin. Durch den Lautsprecher erklang flotte Musik zwischen den einzelnen Schüssen ... Und dann sang der Ansager in überschwenglicher Begeisterung stets von neuem das Loblied seiner „Todestruppe”. „Die Todestruppe”, rief er, „die japanische Familie Kozo, ist vom achten Lebensjahr an darauf trainiert, aus einer Kanone geschossen zu werden!” „Bravo ... !” schrie Micha. Er hatte ganz und gar vergessen, weshalb sie eigentlich hierhergefahren waren. Professor Charivari ärgerte sich maßlos. „Die Todestruppe”, die angeblich sonderbaren „kleinen Menschen”, hatte überhaupt nichts mit dem Ragamuffin und seinen Vavas zu tun. Es waren echte Japaner, Männer, Frauen und Kinder, die da in grauen Ledertrikots (fast wie Froschmänner anzusehen) ihre artistische Schaustellung darboten . Hervorragende Artisten, großartige Zirkusleute, ja! Aber zwischen ihren Fähigkeiten und denen der unbekannten Ragamuffin-Bande bestand wahrhaftig ein erdweiter Unterschied. „Den Rand des Schwimmbassins hat man meterhoch mit Schaumgummi gepolstert, falls die Menschengeschosse das Wasser verfehlen”, brummte Charivari. „Und neben und hinter dem Becken liegen ganze Schichten dieses Schaumstoffs.” „Die Leute kommen aber wirklich aus dem Kanonenrohr!” rief Tati. „Das ist doch toll, oder?” „Ja, aber sie teilen sich nicht in Geschoßkopf und Patronenhülse”, lachte Henri. „Im Kanonenrohr wird nur ein Kolben gespannt, der den Artisten beim Abzug rausstößt. Siehst du? Der japanische Junge steigt von vorn mit den Füßen zuerst ins Rohr.” „Schuß!” brüllte der Ansager. Es krachte zwar wiederum - und es rauchte auch, doch jetzt bemerkte Tati, daß der „Schütze” gleichzeitig ein Feuerwerkspulver in Brand gesetzt hatte. Der kleine Artist machte vor dem Aufklatschen ins Schwimmbecken sogar noch einen Salto. Die Menschenmenge, die einen Augenblick lang den Atem angehalten hatte, jubelte begeistert auf „Die Todestruppe der japanischen Kozo-Familie...” hörte man die überschnappende Stimme des Ansagers, „... mit verbundenen Augen aus dem Kanonenrohr in die Luft und ins Wasser! Wer hat so etwas schon erlebt?” „Mit verbundenen Augen ist das allerdings sehr schwer”, meinte der Professor. „Der Artist kann seine Bahn nicht beobachten und durch Körperbewegung zusätzlich korrigieren. Ich glaube, mich zu erinnern, daß schon viele durch verfehlten Aufprall getötet oder verletzt worden sind. Nun, es gibt mehrere solcher Truppen in der Welt. Und wenn diese Kozos auch die besten sein mögen ... ich glaube, wir müssen zum Giganto zurück. Das Vergnügen hier könnte uns zu teuer werden.” Micha und Gérard bedauerten es nicht, in die Irre geführt worden zu sein und statt des Ragamuffin und seiner Vavas die herrliche, japanische „Todestruppe” gesehen zu haben. Abseits vom Parkplatz zog Professor Charivari das kleine Plastikbündel aus der Tasche und blies es aus der Hartgastube auf, bis es als großes, wulstiges Luftkissenauto auf der menschenleeren Straße stand. Die Leute aus der Umgebung waren ja alle im Stadion. Vertrackt! Aber ein Polizist war da! „Hallo!” rief er. „Ich habe Sie schon mal gesehen! Sie haben vorhin falsch geparkt! Und jetzt stehen Sie verkehrt in einer Einbahnstraße!” „Schnell! Einsteigen!” befahl Professor Charivari. „Hüllt euch in eure Decken!” „Halt! Halt!” schrie der Polizist. Er blieb stehen und rieb sich die Augen. Das sonderbare Auto war weg ... Mit Hilfe einer Kurszahl auf dem Zifferblatt seines Armbanduhrgeräts fand Charivari ins Pyrenäengebirge zurück. Es war erst achtzehn Uhr, doch die Sonne fällt im südlichen Europa in einem anderen Winkel ein als im Norden. Außerdem ragten zahlreiche Kuppen und Zacken am Horizont empor, so daß man den Eindruck hatte, es dämmere schon. „Wo ist Giganto?” fragte Micha zähneklappernd. Ihn fror unter der umgelegten Decke. Den anderen
ging es nicht besser. Nach Henris Schätzung betrug die Temperatur hier oben jetzt nur wenig über null Grad. „Schnell ins geheizte Schiff rein”, bibberte Tati. Der Pudel winselte kläglich. Auch er sehnte sich nach Wärme. Im Grau der Felsen erkannte keiner den vor jedem Schimmer geschützten Giganto. Professor Charivari ließ den Druckstoff aus dem Ventil des Schwebemobils entweichen und steckte es als „Lappen” wieder in die Tasche. Er drehte an seinem Fernsteuerungs-Ring. Plötzlich gab sich das getarnte Erdschiff zu erkennen, indem es die Seitenklappe heruntergleiten ließ. Aber was war das ... ? Dem Professor und seinen Begleitern traten die Augen aus dem Kopf. Schwefelgelbes Warnlicht war durch den Einstieg zu erkennen! „Superhirn ... !” schrie Prosper. „Su-Su-Superhirn!” Loulou bellte laut. „Superhirn!” durchschnitt die Stimme des Professors die eiskalte Luft. Tati, Henri, Gérard und Micha waren stumm vor Schreck. Schwefelgelbes Warnlicht in den Räumen? Bedeutet das nicht „Feind an Bord”? Waren die Vavas des Ragamuffin während der unnötigen Abwesenheit der anderen in den Giganto eingedrungen, um Superhirn zu überwältigen? Noch einmal rief der Professor. Und endlich wurde der spindeldürre Junge im Einstieg sichtbar. Er nahm seinen Schutzhelm ab. „Ein Glück, da seid ihr ja.” Seine Stimme klang erstaunlich gelassen. „Ich laufe die ganze Zeit in diesem komischen Bestrahlungsinstitut herum, aber ohne Erfolg! Werde mir von meinem Arzt nie wieder eine Bestrahlung verschreiben lassen.” Charivari und die Freunde kletterten eilig in das Erd-Schiff. „Hu ... schaurig”, murmelte Micha. „Wahrhaftig! Alle Wände schimmern gelb! Sogar in der Küche!” „Warst du nicht in der Sicherheitskabine, Superhirn?” fragte der Professor scharf „Warum hast du dich nicht hinauskatapultiert, als das Warnlicht anging?” „Ich wollte nichts übereilen”, gab der junge zurück. „Auch ging's mir darum, den Spion zu erwischen, falls sich einer eingeschlichen hätte. Ich war fest entschlossen, ihn auf den Mond zu schicken.” Er grinste. „Wenn ich auch nicht wußte, wie!” „Und mir scheint”, brummte der Professor, „ich muß meine Mitarbeiter mal allesamt vom Mond herunterholen! Die kleinen Menschen aus den Kanonen waren Artisten. Eine echte japanische Zirkustruppe. Keine Ragamuffin-Leute aus dem Erdinnern.” Er ging in den Kommandoraum und befragte per Mikrofon das Genehmigungsgerät: „Art des Eindringlings auf Sichtbild erscheinen lassen!” In der noch immer schwefelgelben Wand erschien ein weißes Quadrat mit einem schwarzen Schattenriß. „Eine Fliege!” staunte Henri. Er blickte auf die angegebenen Größenmaße. „Ach, so 'n müdes Insekt, wie's sie in Monton zu Tausenden gibt! Das Biest hatten wir sicher schon seit der Abfahrt an Bord.” „Haha, und der Genehmiger hat´s nicht registriert!” sagte lachend Micha. Alle machten sich auf die Suche nach der Fliege. Schließlich erwischte sie Tati in der Küche. Der Professor holte einen luftdurchlässigen Spezialbehälter und brachte das Gefäß in eines seiner Bordlabors. Superhirn folgte ihm gespannt. „Sie haben in diesem Labor noch mehr Insektenbehälter, nicht wahr? Und in den anderen Isolierkammern sah ich sehr merkwürdige Sichtzeichen ... Da scheint allerlei unter Verschluß zu sein.” „Bakterienkulturen, Algen und dergleichen”, sagte Charivari. „Aber ich habe auch Farne, Moos und bestimmte Ranken für Höhlenversuche in Spezialkonservierung an Bord. Der Giganto ist ja nicht zuletzt ein Forschungsschiff. Und dort, wo Loulou immer Gassi geht, im Labor mit der starken
Absaugvorrichtung, sollte eigentlich ein Versuchs-Äffchen hausen. Aber das habe ich besser diesmal zurückgelassen.” „Na ja”, grinste Superhirn, „in den letzten Stunden war ich ja der Versuchsaffe.” 7. Zentrale des Ragamuffin schweigt Das Schwefelgelb an den Wänden war verschwunden. In sämtlichen Funktions- und Wohnräumen liefen lautlos und unsichtbar Entkeimungsanlagen auf Hochtouren, um etwa eingeschleppte MikroOrganismen unschädlich zu machen. Geduscht und in sauberer, schnellgereinigter Kleidung versammelte sich die Giganto-Besatzung zum Abendessen. Professor Charivari, Tati, Micha, Gérard, Henri und Prosper erzählten von ihren Erlebnissen in Madrid, und Superhirn schilderte noch einmal, wie ihm beim Aufleuchten der Alarmanlage zumute gewesen war. „Aber trotzdem hab ich mich mit dem sogenannten Ragamuffin und seinen Vavas beschäftigt”, sagte er. „Und ich habe meine Gedanken aufgeschrieben. Dazu blieb mir ja eine ganze Stunde Zeit.” „Und?” fragte Charivari gespannt. Superhirn zog sein Notizbuch hervor. „Sie vermuten den Ragamuffin in der Erde. Sie nehmen an, er beherrscht einen unter- oder innerirdischen Staat von menschlichen Lebewesen mit besonderen Fähigkeiten.” „Ja”, nickte Charivari. Er strich sich heftig den Strippenbart. „Der als Schach-Bauernfigur getarnte Spion im Hause meines Onkels”, fuhr Superhirn fort, „diese erst so winzige, starre Figur, die dann lebendig wurde und ins Riesenhafte wuchs, sah wie ein Mensch aus. ja, wie ein Mensch - ein Ausländer.” „Warum erzählst du uns das jetzt?” unterbrach Micha unbehaglich. „Weil ich den Professor an etwas erinnern will”, erwiderte Superhirn. „Die Augen des RagamuffinSpions waren unnatürlich groß.” Charivari sprang auf. „Gut, sehr gut! Du gibst mir das Stichwort, Superhirn. Die großen Augen! Ein Geschöpf, das die Helligkeit an der Erdoberfläche nicht gewohnt ist, muß große Augen haben. Deine Beschreibung ruft mir ins Gedächtnis, daß ich von Anfang an unbeirrbar der Meinung war: das Ragamuffin-Volk besteht aus Menschen! Also gibt es irgendwo in der Erde - wenn auch gewiß nicht in tieferen Schichten - menschliche Lebensbedingungen!” Er faßte einen Entschluß. „Wir werden noch einmal in die Erde vorstoßen! Los! Alle Mann in den Kommandoraum!” An der Bogenplatte setzte der Professor den Bildfunk in Betrieb. Wieder meldete sich die geheime Raumstation Monitor: „Keine Ungutsgedanken mehr! Zentrale des Ragamuffin schweigt!” „Dachte ich mir”, sagte Charivari. Jetzt geht's aufs Ganze!” Er bereitete den Start vor, indem er mikrofonisch sämtliche Bordsysteme mehrfach überprüfte. Die letzte Mitteilung an Biggs lautete: „Giganto meldet: Sucht heiße Spuren!” Prosper blickte in das Fahrtenschreiber-Hologramm: Das rote Pünktchen, das eben noch an der Außenseite dieser Erdball-Darstellung geklebt hatte, bewegte sich langsam nach innen. „Wir fahren!” rief Gérard. „Nee, wir schleichen!” „Na, wir müssen ja wohl erst mal wissen, wohin die Reise gehen soll”, meinte lächelnd Superhirn. „Das kann man sich doch an seinen fünf Fingern abzählen” rief Micha. Vor lauter Neugier fühlte er sich gar nicht mehr unbehaglich. Der Professor ernannte Superhirn zum Hilfs-Navigator, Henri zum Bord-Innenkommandanten, Prosper und Gérard zu Assistenten und Micha zum Verbindungsmann. Tati wurde Chef-Stewardeß („Chef”, damit es nicht so deutlich nach „Bedienung” klang!) Der „Verbindungsmann” paßte Micha nicht. „Das heißt ja doch nichts anderes als Läufer”', meinte er. „Jeder an Bord hat ein großes Maß an Eigenverantwortung”, belehrte ihn der Professor. Doch das
hätte er nicht gerade zu Micha sagen sollen. Er sollte sich bald zeigen, wie falsch der jüngste „Mann” das verstanden hatte ... Durch ein Tippen auf die Bogenplatte ließ Charivari Erd-Daten und entsprechende Hinweise in der Wand erscheinen. Henri las murmelnd: „Erdumfang etwa 1083,32 Milliarden hoch 3. .. Gewicht der Erde etwa 3975 Trillionen Tonnen.” „Durchmesser von einem Pol zum anderen”, brummte Superhirn, „11 Millionen 712 Kilometer. Aufbau von außen zum Erdmittelpunkt: Erdrinde, Erdschale, äußerer und innerer Kern. Innerer Kern vermutlich aus Stahlnickel...” Er blickte auf den Lichtballon. Das bewegliche Leuchtpünktchen, das den Giganto markierte, bewegte sich immer noch sehr langsam. „Wenn wir die Ragamuffin-Leute in einem Hohlraum unter menschlichen Lebensbedingungen suchen”, sagte Superhirn, „dürfen wir nicht zu sehr in die Tiefe gehen. in so irrsinnig festem Erdgestein kann ja nichts Lebendes existieren.” „Nein, gewiß nicht”, gab Professor Charivari zurück. „Aber wir wollten uns kurz beraten. Ich bin der Meinung, die Gelegenheit, dem Ragamuffin und seinen Vavas einen Denkzettel zu verpassen, ist gerade jetzt besonders günstig.” „Wieso?” fragte Tati. „Weil es bei eingehendem Nachdenken nichts Schlimmes zu bedeuten braucht, daß dieser innerirdische Bandenchef keine Gehirnwellen mehr ausstrahlt. Er hat sich bei seiner letzten Ungutsstrahlensendung verausgabt. Überanstrengt! Bestimmt braucht er Zeit, um sein Gehirnkraftwerk aufzutanken.” „Ah!” begriff Superhirn. „Und in dieser angenommenen Müden-Mann-Pause wollen wir ihn überraschen?” „Erfaßt!” Charivari lachte. „A-A-A-Aber wie finden wir ihn?” stammelte Prosper aufgeregt. „Wo wir doch bisher erfolglos rumgegurkt sind!” rief Micha. „Der Professor hat ihn ja in Frieden lassen wollen, solange er sich nicht rührte”, erinnerte Gérard. „Eben!” Charivari nickte. „Doch wir haben auf unserer harmlosen Testfahrt erlebt, wie er wieder aufgedreht hat. Und in der Weltraumstation gab's eine Panik. Deshalb will ich dem Burschen nun gezielt ins Hauptquartier brummen.” „Er wird uns mit Musik empfangen”, meinte Tati, der der Plan nicht gefiel. „Mit Sägetönen an der Außenhülle. Sicher durchbohrt sein Vava-Volk den Giganto mit Gedankenwellen so, daß wir uns in einem Sieb wiederfinden.” „Ich habe hundertprozentige Anzeichen dafür, daß der Giganto das aushalten würde”, behauptete Professor Charivari. „Nur über ein Gehirnwellen-Empfangsgerät - wie's eins auf meiner Weltraumstation gibt - könnten die Ungutsstrahlen in unser Erdschiff dringen. Dann allerdings wären wir im Hauptquartier des Ragamuffin verloren.” „Und sicher auch, wenn wir den Giganto auf ,Antenne' schalten würden”, fügte Superhirn hinzu. „Aber wie finden wir dieses Hauptquartier in der Erde?” nahm Henri Prospers Frage auf, „Der Giganto hat Hohlraum-Sensor”, erklärte der Professor, „ein Spürgerät zum Auffinden von Hohlräumen in der Erde. Nun mag es, zumindest in geringeren Tiefen, sehr viele Hohlräume geben. Deshalb reicht dieses Gerät allein nicht aus. Ich muß das Erdschiff also zusätzlich auf BioDetektions-Kurs programmieren. Das heißt”, sagte er zu Micha gewandt, „ich muß dem Giganto eine Schnüffelnase aufsetzen, damit er Menschen, Tiere, Bäume, Gräser, ja sogar Kleidung und Nahrung erschnuppert - und uns selbsttätig in einen bewohnten Hohlraum führt.” „Wo das Ragamuffelvolk haust”, rief Micha begierig. „Prima! Aber ich möchte diese Schnüffelnase sehen!” Alle lachten. „Du wirst enttäuscht sein. Die Nase ist auch nur ein Gerät. So, nun kommt mal alle mit ins Labor”, sagte Charivari. Micha war wirklich enttäuscht.
„Auch nur Wände”, murrte er. Doch der Professor drückte auf die Reihe verschiedenfarbiger Kontaktplatten neben dem Eingang. Sofort zeigten sich Schranktüren, Klappen, Fächer, Meßgeräte, Sichtmarkierungen. Im Boden des Labors X erschien ein lichtblauer Kreis, durch den sich von unten her ein papierkorbgroßer, schimmernder Trichter schob. „Und nun?“ fragte Tati verblüfft. „Der Lichtkreis auf dem Boden ist der Hohlraumspürer, das heißt, er bezeichnet die Stelle, wo er sitzt. Den Trichter müssen wir mit allem füllen, was wir am innerirdischen Wohnort des RagamuffinVolkes vermuten und was es an hierfür Geeignetem an Bord überhaupt gibt!” „Aber dann mü-mü-müßten Sie ja einen Menschen in das Schnüffelgerät schmeißen!” rief Prosper entsetzt. „Und den Hund! Und...” Breit grinsend blickte Gérard auf Micha und Loulou. Aber die anderen lachten bereits so sehr, daß der jüngste sich nicht mehr getroffen fühlen konnte. Er kicherte mit. „Nun, so ist das nicht gemeint”, sagte Charivari zu Prosper. „Dieses Suchgerät arbeitet auf zwei Grundlagen. Es spürt die Struktur von Dingen auf, die wir ihm enorm verstärkt vorschreiben. Sodann geht es auf Geruch. Ich sprach ja von einer Nase, nicht wahr? Wenn wir über Hunderttausende von Kilometern hinweg Menschen, menschliche Kleidung, menschliche Nahrung, menschliche Wohnanlagen - womöglich sogar mit Haustieren - erspüren wollen, brauchen wir Automaten mit allerstärkster Suchkraft. Die Gerüche sämtlicher anderen Erdmaterien müssen ja ,überlagert' werden, wie der Fachmann das nennt.” Superhirn nickte. „Wenn also der Riecher so unerhört stark ist, brauchen wir ihn nur mit kleinen Stücken zu programmieren: Mit rohem Fleisch, Eiern, Kräutern aus dem Küchenlabor, Blutkonserven und Bakterienkulturen, Insekten, Moos und Algen aus den übrigen Isolierkammern. Ja, und mit Menschenhaar, irgendeinem Fell...” „Und mit Spucke!” rief Micha. Zum Vergnügen der anderen spuckte er sogleich in den Trichter des Spürgeräts. „Superhirn”, sagte Charivari, „komm mit ins chemische Labor! Ich habe da einige Sekrete aus Eigenversuchen in verschlossenen Phiolen und Kapseln. Die müssen vorsichtig transportiert werden!” Er wandte sich an Henri: „Ihr anderen bestellt eine Reihe von Lebensmitteln! Die Klappe, dort in der Wand, ist mit der Küchenautomatik verbunden. Der Kreis daneben, der wie ein feinmaschiges Sieb aussieht, ist der Befehlsübermittler. Sprecht ihn ganz nahe und deutlich an. Er reagiert auf Hauchkontakt.” jetzt setzte ein eifriges Hin- und Herlaufen zwischen der Klappe und dem Spürtrichter ein. Micha fütterte das Ding hauptsächlich mit rohen Eiern, weil das den größten Spaß machte. Als er mehr als zwei Dutzend hineingeworfen hatte, bremste ihn Henri. Tati brachte Milch und Früchte, Prosper Fleisch und Gérard eine gebratene Gans, eine Pute, eine Entenportion und zwei Backhähnchen. „Sicher fressen die Ragamuffels auch das”, meinte er. Es war schwierig, den Pudel davon abzuhalten, all den Köstlichkeiten hinterher in den Spürtrichter zu „Vorsicht! Tretet mal alle zurück!” Der Professor und Superhirn kamen mit Tabletts. Die Gegenstände darauf erinnerten unangenehm an Krankenhaus. „So, hinein in den Spürer - samt Gläsern, Kapseln und Schalen!” befahl Charivari. Sowie ein Gegenstand die Verengung des Trichters traf, erweiterte sich dieser, und es gab einen starken Zischton. „Der Trichter schluckt”, grinste Superhirn. „So, und nun holen wir die Farne, das Moos, die Algen...” Wieder verschwand der Professor mit Superhirn im Labor-Teil des Giganto. Während Prosper, Tati, Gérard und Henri überlegten, was sie dem „Spürer” an Gemüse einfüllen sollten, war Micha auf einmal verschwunden. Gerade hatte sich Tati für Radieschen und Rettich entschieden, als der jüngste wieder erschien. Ehe
ihn jemand daran hindern konnte, warf er den Elfenbeinstock und den Strohhut des Professors in den Trichter. „Ein Opfer für die Wissenschaft!” rief er stolz. „Hat dir der Professor das erlaubt?” fragte Henri verblüfft. „Nein, aber ich habe eigene Verantwortung, auch als Verbindungsmann”, erklärte Micha. ..Das hat er extra betont!” „Gute Nacht mit deinem Opfer, das du auf anderer Leute Kosten bringst”, sagte Tati. „Meinst du, der Ragamuffin trägt einen Stock und einen Strohhut?” „Nein, aber der Stock ist aus Elefantenzahn. Zahn!” betonte Micha pfiffig. „Die Muffels sollen doch prächtige Zähne haben, wie du vorhin von Superhirn gehört hast, Schwesterchen. Jetzt sucht unser Spürautomat nach so 'ner Knochenmasse. Und Stroh besitzen die auch.” „Elfenbein”, feixte Prosper. „Du hast eine Phantasie! Hoffentlich landen wir nicht in einem unterirdischen Zoo.” Der Giganto war zwar auf innerirdischen Kurs programmiert, doch Prosper ahnte nicht, auf welch furchtbare Weise sich sein Witz bewahrheiten sollte. Micha schmiß auch gleich noch seinen Homkamm und seine lederne Geldbörse hinterher. „In der war sowieso nichts mehr drin”, erklärte er. Tati seufzte: „Die edle Tat gibt uns Charivaris Elfenbeinstock auch nicht zurück. Und wenn wir schon ein Wertstück von ihm verbraten haben, müssen wir auch selbst ein Opfer bringen.” Sie warf ihren kostbaren, breiten Ziergürtel, der aus echtem Krokodil-Leder bestand, in den Trichter und danach das Schlangenhaut-Etui ihrer Sonnenbrille. Das war sehr gut gemeint, doch etwas Dümmeres hätte sie nicht tun können. Professor Charivari und Superhirn kamen nun mit den Insektenbehältern. Die wurden dem „Spürer” gleich mitsamt den Gefäßen anvertraut. Ebenso die Blutkonserven, die Bakterienkulturen und alle Versuchspflanzen. Zuletzt folgten eine Lamadecke, ein Leinentuch, eine Sauerstoff-Flasche und ein Wasserkanister. Als der Professor mit den Gefährten und Loulou wieder im Kommandoraum war, sagte er: „Ich stelle jetzt mikrofonisch den Spür-Automatismus auf Stärke 01010101 - also viermal null-eins ein. Mit dieser Geruchskraft könnte der Giganto jetzt durch die Erde hindurch einen Parfümtropfen auf dem Mars orten, ja, und ihn sogar von allen dort vorhandenen Einwirkungen unterscheiden.” Professor Charivari brachte das Schiff auf schnellere Fahrt und stellte das Befehlsmikrofon auf Superhirns Stimme um. Dazu brauchte er nichts anderes als eine gesprochene Formel. „So”, sagte er, „ich lege mich mal ein paar Minuten hin. Henri, du teilst bitte die Wachen ein.” Er ging, ohne daß ihm Micha und Tati gesagt hatten, was sie in den Spürtrichter geworfen hatten. Vor lauter Aufregung hatten sie es vergessen ... Prosper und Micha blieben bei Superhirn im Kommandoraum. Tati und Gérard gingen in ihre Kammern, und Henri legte sich auf ein Knautschlacksofa. Nach einiger Zeit kam Charivari zurück und löste Superhirn ab. Prosper weckte Tati und Gérard. Und während er sich mit Superhirn und Micha zurückzog, stand jetzt Henri bei Charivari an der Bogenplatte. Als über den Lautsprecher der Befehl in die Wohnkammern drang: „Aufstehen! Essen!”, glaubte Micha, er hätte kaum geschlafen. Dabei hatte man ihn bei der Ablösung zweimal übergangen. Tati war als erste in der Messe. Prosper und Gérard folgten. Schließlich kamen Henri und Superhirn. „Wir kurven in 2000 Meter Tiefe unter dem Himalaja”, berichtete Henri. Superhirn nickte. „Giganto schleicht wie eine Katze um den heißen Brei um irgend etwas herum. Der Professor meint, er könnte vielleicht eine Höhlung, eine gewaltige, belebte Blase in der Erde erschnüffelt haben. Aber er schaltet nicht auf Außensicht. Alle Antennen sind stillgelegt. Kein Funkimpuls darf hinaus.” Plötzlich erschien der Professor. Seine schwarzen Brauen zuckten. Und seine Worte waren wahrhaft atemberaubend: „Genau 1198,57 Meter unter dem Himalaja!” meldete er. „Das Schiff steht! Die Instrumente zeigen eine Außentemperatur von plus 38 Grad Celsius. Die Luftfeuchtigkeit beträgt...” Der sonst so besonnene Henri unterbrach: „Luftfeuchtigkeit ... ? Dann gibt es draußen Luft? Und nur
38 Grad! Da kann man ja leben! Giganto ist gelandet! Wir sind in der Ragamuffin-Zentrale!” Im gleichen Moment tauchte Micha mit dem Pudel in der Flurschleuse auf Weil der Hund ihn hopsend umkreiste, wollte er ihm ausweichen, um ihn nicht zu treten. Dabei fiel er rücklings gegen die Wand. Dieser Panne folgte eine schlimmere: Die Wand (es war die seitliche, aufklappbare Ausstiegsrutsche) öffnete sich infolge eines unvermuteten Defekts. „Hilfe!” schrie Micha gellend. „Hilfe!” 8. Im Tal des Schreckens Die seitliche Rutschbahntür hatte sich geöffnet, ohne den Mikrofon-Befehl zum Öffnen „abzuwarten”. Micha, der davor gestanden hatte, sauste taumelnd hinunter. Ihm folgte, alle viere von sich gestreckt, der Pudel auf dem Bauch. Micha schrie wie besessen. Man hörte ein kurzes Aufjaulen von Loulou - endlich nur noch sein Husten, das aber rasch in anderen Geräuschen unterging. Eines war klar: Der Giganto parkte nicht in finsterer Erde, wenigstens nicht in Fels oder Lava. Er war - wenn man das so ausdrücken durfte- in einer weiten Lichtung gelandet. Luft drang in das Schiff, feuchte, ein wenig stickige Luft, doch sie benahm den Atem nicht. Ebenso war es draußen eher hell als dunkel. Fern - irgendwo - ertönte ein Gebrüll wie aus Tausenden von mißtönenden Trompeten. „E-E-E-Elefanten ... !” stammelte Prosper. Doch wer jemals Elefanten - und sei es im Zoo oder im Zirkus - hatte „trompeten” hören, wußte, daß das eine geradezu liebliche Musik gegen jenes Höllenkonzert war. Während alle wie angewurzelt standen, hauchte Charivari einen raschen Befehl ins Mikrofon. Der Giganto wurde, wie schon einmal auf dieser Fahrt, transparent, also durchsichtig. Wie aus einem Glashaus heraus, starrten der Professor und die Gefährten in die Runde. Sie trauten ihren Augen nicht. Der Fahrtenschreiber hatte zuletzt über 1000 Meter Tiefe in der Erde angegeben. Dennoch befanden sie sich in einer Umgebung, die unschwer als eine Art Urwaldlichtung zu erkennen war. Das, was Prosper für sonderbare Bäume hielt, waren Riesenfarne. Das Gras ragte höher - viel höher - als Schilf, hatte aber eine unheimlich unfrische, flaschengrüne Farbe. „Weihnachtsbäume”, aber solche aus einem Alptraum, ragten zu einem Himmel empor, den es nicht gab! Ihre Stämme waren unnatürlich braun, als hätte sie ein schlechter Bühnenbildner geschaffen. Tati erkannte etwas Ähnliches wie Zypressen. Und zwischen allem schillerte giftig Wasser und Sumpf ... Es gab aber auch, und wieder wie auf einer schlechten Bühne, groteske Felsen, auf denen - ja, was war das??? - offenbar lebendige Flugzeuge startbereit standen! Doch die Ankunft des Giganto mußte hier alles in Tumult versetzt haben. Die „Sportflugzeuge” regten sich plötzlich und stürzten mit gräßlichen Schreien von ihren Felswarten herab. Einige landeten in schmutzigem Wasser. Die Dreckfontänen spritzten hoch auf Doch zugleich waren andere, viel fürchterlichere Monstren in Bewegung geraten. Eine Echse, deren winziger Kopf auf dem irrsinnig langen Hals die höchsten Zweige der Riesenfichten streifte, schlug mit mächtigem Schwanz um sich, fegte kleinere Bäume wie Streichhölzer hinweg und rutschte schließlich in einen Tümpel. Hätte man das im Film gesehen ... man hätte an den mißglückten Stapellauf eines Schiffes denken können. Nur noch mit den Nasenlöchern ragte das Ungeheuer über die Wasseroberfläche ... Andere Riesenbestien suchten ihr Heil nicht in der Flucht, wie die Flugdrachen von den Felsen und die Schwanzbestie mit dem albern-scheußlichen, winzigen Kopf. Nein, einige Ungeheuer ließen sich nicht abschrecken! In wahren Hüpfsprüngen durchbrachen sie das hohe Gras. Sie mochten das Gewicht von Sattelschleppern haben oder von Großkränen. Ihre zahnbestückten Mäuler trugen sie buchstäblich wie meterlange „Knackmaschinen” vor sich her. Sie brüllten wie Nebelhörner.
Noch lauter aber erklang auf einmal die Stimme des Professors durch AußenlautsprecherÜberverstärker: „Micha ... zurück ins Schiff ... Treppenstufen sind ausgefahren ... !!!” Henri dachte an alles andere, als in diesen Augenblicken Erklärungen abzugeben. Was ihm aber blitzartig durch den Kopf schoß, war dies: Wir haben das Suchgerät mit Dingen gefüttert, die uns in bewohnbare, innerirdische Hohlräume führen sollten. Als Orientierungshilfe für den Spürer nahmen wir Tatis Krokodilleder-Gürtel, ein Etui aus Schlangenhaut, Charivaris Elfenbeinstock, Wasser, Fleisch, Gemüse, sogar Schildkrötensuppe, verschiedene Präparate aus den Bordlabors, Pflanzen für Versuchvegetation... Und die eingefütterten Farne, die Insekten aus den Isolierbehältern, Tatis breiter Gürtel aus echtem Krokodilleder, der „beinerne” Stock, vor allem Michas reichlicher Eiersegen mußten, mit anderen Präparaten zusammen, sozusagen das „Übergewicht” über die „menschlichen” Extrakte aus dem Tiefkühlschrank - wie zum Beispiel die Blutkonserven - bekommen haben. Der Spürkompaß hatte deshalb den Giganto nicht ins Hauptquartier des Ragamuffin geführt, sondern in ein Stück vorzeitlicher Welt, das sich aus unerklärlichen Gründen bis heute im Innern der Erde erhalten hatte...Auch hinter Superhirns Stirn dämmerte eine Ahnung, daß der Professor diesmal nicht überlegt genug vorgegangen war. Draußen verlief alles rasend schnell. „Micha... Zurück ... !!!” donnerte die verstärkte Stimme Charivaris in diese Fabelwelt hinein. „Gib acht auf die Schlangen! Auf die Krokodile ... !!!” Hätte Tatis Verstand nicht einfach ausgesetzt - sie wäre in Ohnmacht gefallen. Schlangen! Ja, das, was um den jetzt durchsichtigen Giganto herumkroch - fässerdick, baumlang, aber beweglich wie züngelnde Flammen ... waren Schlangen ... !!! „Micha...” dröhnte es durch den Außen-Lautsprecher. Der Junge, dem offenbar überhaupt nicht klar war, wo er sich befand, sprang dem völlig übergeschnappten Pudel nach. Ach, wenn er springen konnte! Alle zwei Schritte fiel er hin und verschwand im hohen Gras. „Haooch ... !!!” schauderte Gérard. Eine der langhalsigen Echsen hatte einen Satz gemacht und schnappte sich aus der Luft einen Flugsaurier, dessen Flügelspannweite mehr als doppelt so breit war wie die Zahnreihe der Kiefer des Angreifers. Zwischen den Ungeheuern entspann sich ein grotesker Kampf um die Beute. Was der Professor längst gesehen hatte, und was nun auch die anderen erspähten, waren Krokodile. Sie lugten reglos aus dem Uferschlamm eines Flusses. Die Landung des Giganto mußte sie gelähmt haben. Käme ihnen aber Micha mit dem Pudel vor die zwei bis drei Meter langen Kiefer, so würden sie sich pfeilschnell in Bewegung setzen. In dieser Welt des Grauens hieß es flink zu sein, hier war jedes Lebewesen ein Feind des anderen. Und wer den anderen nicht fraß, weil er kleiner war, in seiner Art dazu nicht imstande oder sich nur von Pflanzen nährte ... der wurde gefressen. „Achtung!!!” rief der Professor durch den Lautsprecher. Seine Stimme lag wie eine Schallglocke über dem unterirdischen Urwelt-Tal. „Achtung, Micha! Giganto bläst Kältestrahlen ab! Das macht die Bestien starr!” Er sprach ein paar Worte ins Befehlsmikrofon. Sekunden später sah man die schaurigen Riesenechsen, die sich eben noch um den Flugsaurier gebalgt hatten, erstarren und lautlos ins knarrend rauschende Gras kippen. Die ungeheuren Krokodile schienen zu schlafen, die Schlangen lagen wie verbogene Kanalisationsröhren. Und vom „Himmel”, der kein Himmel hier drinnen in der Erde sein konnte, hagelten kastaniengroße Körper auf den Giganto und seine Umgebung herab: Insekten! Hochrot im Gesicht, mit geweiteten Augen - aber den Zwergpudel glücklich unter dem Arm - tauchte Micha im Eingang auf. Hinter ihm schloß sich die Rutschbahntür. Diesmal hatte sie Charivaris Anweisung zum Glück „gehorcht”. Bevor Micha etwas fragen oder beantworten konnte, verschwand die vorzeitliche Umwelt, die Wände verloren ihre Transparenz, der Leuchtpunkt im Hologramm geriet in Bewegung. „Wir fahren wieder”, stellte Superhirn fest. „Wenn mich nicht alles täuscht”, sagte Professor Charivari, „sind wir durch Fehlspürung ganz
zufällig in ein Refugium des Erdmittelalters geraten ... in ein Gelände aus jener Zeit, als es noch keine Alpen, keine Rocky Mountains, kein Himalaja-Gebirge gab ... also keine wesentlichen Erdrisse und Erdaufstülpungen. Das Fehlen der Gebirge vor 200 bis 60 Millionen Jahren bewirkte ein ziemlich gleichmäßiges Klima rund um die Erde, ein tropisches, das der enormen Entwicklung dieser Echsen -förderlich war. Der erste Dinosaurier, den wir sahen und der sich ins Wasser rettete, war ein Pflanzenfresser. Ich bemerkte es an den wenigen Zähnen. Die brüllenden Bestien, die sich um den Flugsaurier balgten, waren, wie die mörderischen Zahnreihen bewiesen, Fleischfresser. Und die entfernten Vorfahren unserer heutigen Krokodile habt ihr ja auch gesehen. ..” „Aber diese Viecher sind doch schon seit –zig Millionen Jahren ausgestorben!” rief Henri. „Durch Temperaturveränderungen oder erhöhten Sauerstoffgehalt in der Luft...” „... oder, oder, oder. . .!” Der Professor zwang sich zu einem Lächeln. „Die Wissenschaft führt mehrere Ursachen an. Jedenfalls hat der Giganto-Kältestrahl gewirkt: Die Echsen brauchen tropische Wärme, sie können ihre Eigentemperatur nicht auf Winter oder Sommer umstellen, schon gar nicht in wenigen Sekunden. Mehrere Grade über Null, als Micha und der Pudel munter heraufgeklettert kamen, waren ihnen bereits zuwenig. Sie fielen um und erstarrten.” „Aber wie sind die mitsamt ihrem Saurier-Paradies ins Erdinnere gelangt - und wie haben sie dort überlebt?” fragte Gérard, der sich inzwischen gefaßt hatte. „Wahrscheinlich sind sie zur Zeit der großen Erdveränderungen mit einem Riß-Stück oder einem Grabenbruch abgesackt”, vermutete Superhirn. „Etwa in einem enormen, natürlichen Iglu. Und da mögen manche Dinge zusammengekommen sein: Übergeschobene Gletscher lassen Licht durch, Felsröhren wie wild durcheinandergeworfene Orgelpfeifen - vom Fuß der Gebirge bis weit in die Tiefe - spenden Luft und Wasser. Und die Wärme, die von unten kommt, erhält Pflanzenwuchs und Leben. So, wie es vor zig Millionen Jahren war!” „Wenn ich nur an die Krokodile denke”, schauderte Tati. Henri grinste. „Jedenfalls wirst du dir nie wieder einen Gürtel aus Krokodilleder schenken lassen oder etwa eine Handtasche.” Prosper rieb sich nachdenklich die Nase. „Was die schauderhaften Riesenviecher betrifft”, sagte er zu Professor Charivari, „wenn die da seit Jahrmillionen in ihrer abgesackten Luftblase rumsausen und sich pausenlos gegenseitig anknabbern. . . ich meine, da dürften sie eigentlich längst nicht mehr leben, wie?” Charivari blickte von der Bogenplatte auf Er lächelte. „Da hast du allerdings recht. Na, Superhirn? Was meinst du?” „Vielleicht haben die verschiedenen Arten ihre Reviere, so daß ihr Paradies kein dauerndes Schlachtfeld ist. Und die zufällig in die Tiefe verschobenen Naturbedingungen können den Pflanzenwuchs und die Fortpflanzung der Echsen begünstigen ... Hm, und warum die Saurier an der Erdoberfläche ausgestorben sind? Es gibt da noch eine Vermutung: Die aufkommenden Säugetiere haben ständig ihre Eier aufgefressen. Über einen so langen Zeitraum hindurch mußte das ja tödlich für die ganze Drachengesellschaft sein.” Er grinste. „Aber wenn wir etwas Genaueres wissen wollten, müßten wir noch einmal zurück und eine richtige Expedition ins Tal dieser Wesen starten.” „Lassen wir das fürs erste”, sagte Charivari. „Die Erdoberfläche hat ohnehin nichts von ihnen zu befürchten. Aus ihrer unterirdischen Welt können sie nie heraus.” „Mir reicht der Gedanke”, rief Micha. Henri meinte: „Schade, daß wir kein Foto geschossen haben. Ich hätte die Bilder meinem Biologielehrer gezeigt.” Professor Charivari erklärte: „Ich habe alles mit meinen eingebauten Kameras automatisch gefilmt.” „Ein Streifen, den ich mir niemals ansehen werde”, erwiderte Tati. „Von solchen Paradiesen will ich nichts wissen. Ich möchte endlich wieder an unsere Ferienküste!” „Schon programmiert”, sagte Charivari. Henri, Micha und Tati berichteten nun, was sie alles in das Spürgerät geworfen hatten. Doch die erwarteten Vorwürfe blieben aus. „Meine Schuld”, sagte der Professor ernst. „Bei der Programmierung hätte ich aufpassen müssen wie
ein Schießhund. Zur Strafe verschmerze ich auch gern meinen Elfenbeinstock. Hauptsache, Micha und Loulou ist nichts geschehen.” Charivari richtete es so ein, daß sich das Erdschiff kurz nach Mitternacht am Ende des Badestrandes von Monton ganz, ganz langsam aus dem Boden schob. Schattenlos und wieder völlig abgeschirmt lag es dort zwischen den Klippen und Dünen. Das einzige, was von ihm ausging, waren verschlüsselte Bildfunk-Impulse zur Weltraumstation. Im Kommandoraum standen die Gefährten und der Pudel ausstiegsbereit. Der Professor hatte mit Captain Biggs gesprochen. „Tja, Freunde”, sagte er dann, „erfreuliche Nachrichten. Nach allem komme ich zu dem Schluß, daß der Ragamuffin und seine Leute nach den letzten, enormen Gedanken-Überfällen bewußtlos - oder durch die Überlastung nachhaltig geschwächt sind.” „Aber sie könnten sich erholen”, mahnte Superhirn. „Das bleibt abzuwarten”, sagte Charivari. Er lächelte freundlich. jetzt erholt ihr euch erst einmal. Wenn es dämmert, wandert ihr in euer Ferienquartier und sagt Madame Claire, euer Freund, der Motorjachtbesitzer, habe euch abgesetzt und sei gleich weitergefahren. Und wenn´s ein sonniger Vormittag wird, was ich nicht ausschließe...” „Dann hauen wir uns längelangs auf den Rasen und schnarchen”, feixte Gérard. Die anderen lachten zustimmend. Und der Pudel winselte freudig, als hätte er alles verstanden...
Ende