Peter Dubina
AUS DEM REICH DER TOTEN Wudu - auch in unserer aufgeklärten Zeit ist dieser magisch-religiöse Geheimkult,...
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Peter Dubina
AUS DEM REICH DER TOTEN Wudu - auch in unserer aufgeklärten Zeit ist dieser magisch-religiöse Geheimkult, den die Nachfahren afrikanischer Sklaven auf Haiti schufen, immer noch ein ungelöstes Rätsel. Was ist dran an den Berichten von lebenden Toten, sogenannten Zombies, die den Befehlen der Wudu-Priester gehorchen? Kann Wudu zu einer Bedrohung unserer modernen Welt werden? Peter Dubina nimmt sich in einer perfekten Mischung aus Spannung, Information und Horror des Themas an und führt uns in die Geheimnisse des grausamen Wudu-Kults ein. Nicht alles ist Phantasie, was Sie in diesem Roman lesen werden. Es liegt bei Ihnen, was Sie zu glauben bereit sind . . . Ihr DÄMONEN-LAND-Redakteur
Dieser Roman erschien erstmals 1981 als VAMPIR Horror-Roman Band 418
Scanned March 2005 by Binchen71 Not for sale
Damballa Ashtar Lazarillo, o Samedi, Fürst der Hölle und der Friedhöfe: Aus dem Reich der Toten schickt ihr eure seelenlosen Boten. Aus „Rituale und Beschwörungen des Wudu-Kults".
„Es begann mit einem wimmernden Aufschrei. Er klang wie der Schrei einer toten Seele, die sich gegen die Qualen der Hölle aufbäumt. Ein Eishauch, gleich dem Atem des Todes, schien aus dem Halbdunkel der Gruft zu wehen. Mich fror, wie noch nie zuvor in meinem Leben." Der alte Mann, der in einer Ecke der Friedhofskapelle saß, hüllte sich fröstelnd enger in seinen abgetragenen Mantel. Der Lichtschein der Laterne fiel auf sein bleiches, hohlwangiges, unrasiertes Gesicht. In seinen Augen leuchtete ein Schimmer grenzenloser Angst. „Die Gruft von Schloß Morgan war ein Ort, wo nur wenige Menschen tagsüber gern ihren Fuß hingesetzt hätten - und kein einziger bei Nacht", fuhr er fort. „Ich verfluchte die Neugier, die mich dazu getrieben hat, die Gruft in jener Nacht verbotenerweise aufzusuchen. Denn seit dieser Stunde finde ich nirgendwo mehr Ruhe. Der Geist des Bösen verfolgt mich, wohin ich mich auch wende. Und nirgends bin ich meines Lebens sicher. In jener Nacht hatten vier Menschen die Stille des verfluchten Ortes gebrochen: Lord Richard Morgan, sein Bruder Mordred, dessen Frau Angarath - und Abigail Riordan. Sie, die nach Schloß Morgan gekommen war, um als Mittlerin zwischen unserer Welt und jener der Toten zu dienen. Von dort, wo ich hinter der einen Spaltbreit geöffneten Tür mit den verrosteten Riegeln und Schlössern stand und den Innenraum der Gruft überblicken konnte, sah ich, welch unheilvolle Veränderung mit Abigail Riordans Gesicht geschah. Nie zuvor hatte ich eine so entsetzliche Qual in den Zügen eines Menschen gesehen. Im Inneren der Gruft - die Menschen immer nur dann betreten hatten, wenn ein Mitglied der Morgan-Sippe gestorben war und in einem der steinernen Sarkophage beigesetzt wurde - brannten wohl hundert schwarze Kerzen in siebenarmigen, silbernen Leuchtern. Ihr Licht fiel auf Abigail Riordans Gesicht. Sie befand sich in einem Zustand der Entrückung, daran bestand für mich kein Zweifel. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Blick war starr und leblos. Ihre Pupillen waren unnatürlich geweitet - wie unter dem Einfluß von Rauschgift. Und dann begann sie zu reden. Aber es war eine fremde Stimme, die
über ihre bleichen, unbewegten Lippen kam. Es schien, als ob jemand, der hinter ihr stand, durch ihren halb geöffneten Mund spräche: Mit einer tonlosen Stimme voll Angst und Grauen. ,Hilf mir, Richard! Hilf mir!' flehte jene Stimme. ,Ich bin an einem kalten, dunklen, einsamen Ort. Solange ich lebte, habe ich mir die Hölle nicht so entsetzlich vorgestellt, wie sie in Wirklichkeit ist. Ich leide furchtbare Qualen. Ich büße jetzt für die Sünden und Verfehlungen, die ich während meines Lebens begangen habe. Wenn du mich noch nicht vergessen hast, Richard, wenn du mich noch liebst, dann hilf mir! Rette mich aus der Verdammnis! Ich selbst kann mir nicht mehr helfen. Wenn du mir nicht hilfst, werde ich ewig an diesem Ort der Verfluchten bleiben. Hilf mir, Richard! Hilf mir!' Ich habe in meinem Leben mehr als einen Menschen sterben sehen, habe erlebt, wie sie sich gegen den Tod aufbäumten. Das alles war ein Nichts gegen diesen entsetzlichen, flehentlichen Hilferuf. In diesem Augenblick wurde ich nur von einem einzigen Wunsch beherrscht: Ich wollte fliehen. Fort von diesem Ort des Grauens, nur fort! Aber bevor ich nur eine Bewegung machen konnte, kam ein anderer mir zuvor. Ein dumpfes Poltern, das vom Deckengewölbe der Gruft widerhallte, ertönte. Lord Richard Morgan war so heftig aufgesprungen, daß er seinen Stuhl dabei umgestoßen hatte. Er war leichenblaß im Gesicht, und ich konnte sehen, daß seine Hände blindlings nach einem Halt suchten. .Eleanor!' hörte ich ihn flüstern. Seine Stimme weckte einen unheimlichen Widerhall in den Tiefen der Gruft. ,Eleanor!' Er hatte die Stimme, die über Abigail Riordans blutleere, starre Lippen kam, ebenso erkannt wie ich. Es war die Stimme seiner Frau, Lady Eleanor Morgan. „Aber das war ja unmöglich, denn Lady Eleanor war seit über einem Jahr tot." Der alte Mann verstummte und zog eine Ginflasche aus seiner Manteltasche. Er trank einen Schluck und musterte aufmerksam sein Gegenüber, während er die Flasche sorgfältig wieder verkorkte. „Das war der Augenblick, wo ich den Ort verließ, an dem ich bisher wie gebannt ausgeharrt hatte", murmelte er. „Von blinder Panrk erfaßt rannte ich davon. Aber es war schon zu spät, viel zu spät, Mister Riordan." Glenn Riordan, der dem alten, verängstigten Mann gegenübersaß, war schlank und hochgewachsen. Er trug einen grauen Flanellanzug, einen Staubmantel und einen weichen Filzhut. Seine Aufmachung unterschied
ihn nicht von ein paar hunderttausend anderen Männern. Das einzige Bemerkenswerte an ihm war sein Gesicht. Es hatte die Farbe von sehr hellem Milchkaffee; eine Hautfarbe, die man häufig bei Negern von den Karibischen Inseln antrifft. Indes glich sein scharfgeschnittenes Gesicht mehr dem eines Weißen als den Zügen eines Farbigen. „War das alles, was Sie in jener Nacht in der Gruft mitangesehen und gehört haben, Mister Simpson?" fragte Glenn Riordan. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Vielleicht ist da noch etwas, was Sie mir bisher verschwiegen haben?" „Da waren noch ein paar Wortfetzen, die jene Stimme - die Stimme von Lady Eleanor Morgan - sprach. Aber bisher haben alle, denen ich davon erzählte, nur darüber gelacht. Nachdem die Stimme davon gesprochen hatte, daß sie für ihre eigene Schuld in der Hölle büßen müsse, fügte sie hinzu: ,Schwarze Magie - Dämonen - Satan - das Böse.' Ich weiß, das klingt wie das Gestammel eines Wahnsinnigen, Mister Riordan. Aber ich schwöre, es ist die Wahrheit." „Ich glaube Ihnen, Simpson", antwortete Glenn Riordan dumpf. „Und nun erzählen Sie mir vom Tod meiner Schwester. Sie waren doch dabei, als sie starb? Jedenfalls steht es so im Protokoll, in dem die Mordkommission Ihre Aussage aufgenommen hat." „Was Sie sagen, ist wahr." Der alte Mann namens Simpson nickte. „Ich habe den Tod Ihrer Schwester mitangesehen. Und ich werde nie vergessen, was sich dabei meinen Blicken bot. Etwa eine halbe Stunde nach den Vorgängen, die ich Ihnen eben geschildert habe, Mister Riordan, kam Ihre Schwester eiligen Schrittes aus der Gruft. Fast hatte es den Anschein, als ob sie vor etwas flüchtete. Ohne zu zögern, schritt sie durch das Tor von Schloß Morgan. Und in dem Augenblick, als sie daraus hervortrat, stürzte diese Steinfigur - ein Drache, eine jener mythischen Gestalten - aus der Mauernische, in der sie jahrhundertelang gestanden hatte, herab und zerschmetterte Ihre Schwester. Sie sah furchtbar aus - vergeben Sie mir, wenn ich das so offen ausspreche -, gänzlich unkenntlich, denn die Figur war mehrere Tonnen schwer. Es war ein entsetzlicher Anblick." Wieder brach der alte Mann ab und trank einen Schluck aus der Ginflasche. Während er sie absetzte, nahmen seine Augen plötzlich einen mißtrauischen Blick an. . „Wie ist es Ihnen überhaupt gelungen, mich ausfindig zu machen, Mister Riordan?" wollte er wissen. „Seit ich Schloß Morgan verließ, habe ich versucht, meine Spur unkenntlich zu machen. Bisher glaubte ich, es sei mir
gelungen." „Es ist Ihnen auch weitgehend gelungen, Simpson", entgegnete Glenn Riordan. „Ich habe eine volle Woche gebraucht, um Sie zu finden. Ein anderer hätte es wahrscheinlich nicht vermocht. Aber ich bin Privatdetektiv und habe meine besondere Methode, die Spuren verschwundener Personen aufzunehmen und zu verfolgen. Erzählen Sie weiter, Mister Simpson: Sie waren seit über zwanzig Jahren Gärtner auf Schloß Morgan. Ihnen oblag auch die Pflege der Gruft. Haben Sie früher schon einmal seltsame Vorgänge in oder um die Grabstätte bemerkt?" „Nein", sagte der alte Mann kopfschüttelnd. „Aber seit Lady Eleanors Tod hat sich auf Schloß Morgan vieles verändert. Seit der Nacht, als ich die Geschehnisse in der Gruft mitansah, bin ich auf der Flucht. Ich fliehe von einem Versteck zum anderen, und doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, unaufhörlich von düsteren Schatten verfolgt zu werden. Ich fühle mich nur so lange sicher, wie die Sonne scheint. Dann kann ich auch schlafen. Wenn aber die Dunkelheit hereinbricht, bin ich nirgendwo mehr meines Lebens sicher. Deshalb flüchte ich nach Anbruch der Nacht von einem Versteck zum anderen. Und wenn die Angst mich einzuholen droht, verkrieche ich mich auf finsteren Friedhöfen. Ich habe Furcht, Mister Riordan, schreckliche Furcht." Wieviel Angst muß ein Mensch haben, um an einem so grauenvollen Ort Schutz zu suchen? dachte Glenn Riordan. Er blickte sich in der leeren Friedhofskapelle um. Er konnte die Furcht des alten Mannes beinahe körperlich spüren. Oder war es nur der Alkoholdunst aus der Ginflasche, den er roch? „Schwarze Magie - Dämonen - Satan - das Böse: Das waren doch die Worte, die die Stimme der Toten sprach", murmelte er. „Ich glaube, Sie wissen noch mehr, Simpson. Dinge, die Sie mir bis jetzt verschwiegen haben. Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen. Alles. Ich verlange es nicht umsonst. Ich bezahle Ihnen fünfzig, hundert, zweihundert Pfund dafür. Hier!" Glenn Riordan zog eine Handvoll englischer Pfundnoten aus der Manteltasche und hielt sie dem alten Mann hin. „Das ist eine Menge Gin, Simpson." Der andere fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Niemand wollte mir glauben, was ich in der Gruft von Schloß Morgan gesehen habe und warum ich von dort geflohen bin", flüsterte er heiser. „Törichterweise habe ich mich dazu verleiten lassen, eine Aussage darüber bei der Polizei zu machen. Man hat mich wie einen Verrückten behandelt.
Sie scheinen kein solcher Narr zu sein wie die anderen, Mister Riordan. Aber bevor ich Ihnen noch mehr erzähle, brauche ich etwas zu trinken. Leider ist gerade jetzt meine Flasche leer." Glenn Riordan wußte, daß er dem alten Mann seinen Wunsch nicht abschlagen durfte, wenn er noch mehr von ihm hören wollte. In seinem Beruf als Privatdetektiv hatte er einige Erfahrung mit Alkoholikern gesammelt. Trinker waren immer bereit, alles für eine Flasche Whisky oder Gin zu tun. Andererseits konnte man weder durch Schläge, noch durch Drohungen etwas aus ihnen herausbringen, wenn man ihnen den Schnaps verweigerte. „Also gut", stimmte er widerwillig zu. „Ich hole Ihnen eine volle Flasche, Simpson. Aber es ist schon fast Mitternacht, und die meisten Spirituosenläden sind geschlossen." „Sie brauchen nur ein Stück die Straße hinunterzugehen", entgegnete der weißhaarige Alte. „Dort gibt es einen Laden, der die ganze Nacht hindurch geöffnet hat. Da bekommt man guten Gin, zwei Pfund und Sixpence die Flasche." Er reichte Glenn Riordan die leere Ginflasche. Dabei fiel dessen Blick auf das Handgelenk des anderen. Dort war eine schmutzige, kaum vernarbte Wunde, wie von einem Messerschnitt, zu sehen. ,.Haben Sie sich verletzt?" fragte Riordan. Aber der alte Mann machte nur eine ungeduldige, wegwerfende Handbewegung. „Kurz bevor ich Schloß Morgan verließ", antwortete er, „zerbrach ich ein Glas, weil meine Hände zitterten. An einer der Scherben habe ich mich geschnitten. Aber die Wunde ist schon verheilt. Und nun: Bringen Sie mir eine volle Flasche, dann werde ich alle Ihre Fragen beantworten." Glenn Riordan erhob sich von dem Sägebock, auf dem er bisher gesessen hatte. Es gab ein halbes Dutzend davon in der Friedhofskapelle. Sie waren mit schwarzem Samttuch verhängt und dienten gewöhnlich dazu, Särge zu tragen. „Ich würde Ihnen raten, hier auf mich zu warten, Simpson", sagte er, schon auf dem Weg zur Tür. „Ich finde Sie überall wieder, auch wenn Sie sich in der Hölle vor mir verstecken." Ohne auf eine Antwort des alten Mannes zu warten, verließ er die Kapelle und schritt quer über den Friedhof, zwischen mondbeschienenen Grabsteinen hindurch, zum Tor aus schwarzem Schmiedeeisen. Er fragte sich, ob etwas Wahres an Simpsons Geschwätz sein mochte. Ohne Zweifel litt der Mann unter schrecklicher Angst, sonst würde er sich nicht so sorgfältig verborgen halten. Glenn Riordan befand sich bereits
eine Woche in England, und ebenso lange hatte er gebraucht, um Simpson ausfindig zu machen - den einzigen Mann, der Licht in das unheimliche Dunkel bringen konnte, das den Tod von Riordans Schwester umgab. Die Polizei der kleinen englischen Stadt Worrick, zwanzig Meilen nördlich von Wolverhampton, hielt Abigails Tod für einen Unfall. Damit war die Angelegenheit für sie erledigt. Doch Glenn Riordan hatte diese Darstellung des Sachverhalts von Anfang an bezweifelt. Deshalb hatte er, als er eine Mitteilung der Polizeibehörde von Worrick erhielt, sofort einen Platz im nächsten Flugzeug gebucht, das von Kingston auf Jamaica nach London ging. Er wußte um die Gefährlichkeit und scheinbare Zwielichtigkeit der „Arbeit", die seine Schwester verrichtet hatte. Darum glaubte er auch nicht daran, daß sie das Opfer eines Unglücksfalls geworden war. Und was er von Simpson gehört hatte, ließ seinen Verdacht fast zur Gewißheit werden. Zu einer schrecklichen Gewißheit. Wenn - ja, wenn Simpson die Wahrheit sprach. Ebensogut konnte es sein, daß alles, was er Glenn Riordan erzählt hatte, die Ausgeburt eines von billigem Gin zerrütteten Gemüts war. Einem Trinker durfte man niemals unbesehen glauben. Glenn Riordan verließ den Friedhof, schritt die nächtliche Straße entlang, bis zu dem Schnapsladen, den Simpson ihm beschrieben hatte, kaufte eine Flasche Gin und kehrte auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war. Er hatte gerade wieder das Eingangstor zum Friedhof erreicht, als plötzlich ein Schrei, wie ihn nur ein Mensch in höchster Todesangst auszustoßen vermag, die Stille der Nacht durchschnitt. Hoch, gellend, unerträglich. Er kam aus der Kapelle. Dem Schrei folgte ein dumpfes Geräusch, wie der Aufprall eines schweren Körpers - und die Stimme verstummte jählings. Glenn Riordan ließ die Ginflasche fallen; sie ging auf dem Asphalt in Scherben. Er stieß das Friedhofstor auf. Gleichzeitig fuhr seine rechte Hand unter die Jacke. Als sie wieder zum Vorschein kam, umspannte sie den Griff eines kurzläufigen 38er Smith & Wesson-Revolvers. Glenn Riordan rannte auf die Kapelle zu, so schnell er konnte. Für einen Augenblick glaubte er, in dem fahlen Laternenschein, der durch die geöffnete Tür in die Nacht herausfiel, eine Gestalt auf der Schwelle sehen zu können: eine menschliche Gestalt, von Entsetzen und Grauen umwittert. In der nächsten Sekunde war sie in der Dunkelheit untergetaucht. Glenn Riordan erreichte die Kapelle. Die Tür stand sperrangelweit
offen. Das Schloß und der schwere eiserne Riegel, mit denen sie von innen gesichert werden konnte, waren aus dem Holz gerissen und lagen zerschmettert am Boden. Welche unmenschliche Kraft mußte aufgeboten worden sein, um die Tür zu sprengen, die Simpson in seiner Angst verschlossen und verriegelt hatte? Simpson . . . Er lag mit verrenkten Armen und Beinen, das Gesicht nach unten, auf dem Boden. Blut an der Wand verriet die Stelle, gegen die er mit ungeheurer Gewalt geschleudert worden war. Im gelben Lichtschein der Laterne beugte sich Glenn Riordan über den alten Mann und wälzte ihn auf den Rücken. Simpson war tot, daran konnte kein Zweifel bestehen. Seine Augen waren schon gebrochen. Blut rann ihm aus Mund, Nase und Ohren. Glenn Riordan verlor keine Zeit. Er nahm die Laterne in die linke Hand, verließ die Kapelle und leuchtete überall dort den Boden ab, wo zwischen den Gräberreihen schmale Wege von der kiesbestreuten Straße abzweigten, die geradewegs vom Friedhofstor zur Kapelle führten. Die Seitenwege bestanden nur aus nacktem, feuchtem Erdreich. Nach wenigen Minuten hatte Glenn Riordan gefunden, was er suchte: Abdrücke nackter Füße, die beim Gehen nachgezogen worden waren und Schleifspuren hinterlassen hatten. Sie führten in das vom bleichen Mondlicht zwielichtig erhellte Dunkel hinein. Glenn Riordan folgte ihnen, den Revolver schußbereit in der Hand. Aber nach einer Weile hatte er die Fährte verloren. Er kehrte dorthin zurück, wo er den letzten Fußabtritt im modrigen Boden gesehen hatte. Die Spur endete vor einem Grab. Er hob die Laterne und beleuchtete die Grabinschrift. Der Name auf dem Stein lautete Samuel Tyler, darunter standen die Geburts- und Sterbedaten. Der Mann war noch keine vier Wochen tot. Die Erde des Grabhügels war dunkel und frisch, als sei sie eben erst umgepflügt worden. Nun hatte Glenn Riordan Gewißheit. Er brauchte Simpsons Aussage nicht mehr; er wußte auch so, was geschehen war. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Er schob den Revolver in die Schulterhalfter unter seiner linken Achsel, dann kehrte er in die Kapelle zurück. Dort hingen mehrere Kreuze an den Wänden. Glenn Riordan wählte das kleinste unter ihnen aus. Er war sicher, daß es von einem Priester geweiht worden war. Ungeweihte Kreuze hingen nicht an solchen Orten. Er mußte über Simpson hinwegsteigen, um die Kapelle wieder verlassen
zu können. Dabei fragte er sich unwillkürlich, ob der alte Mann wohl gewußt hatte, welch schrecklichen Feind er sich durch seine unüberlegte Aussage bei der Polizei zum tödlichen Gegner gemacht hatte. War er sich darüber im klaren gewesen, was ihm drohte, oder hatte er nur dunkel geahnt, daß eine furchtbare Macht, der er nicht gewachsen war, seinen Tod beschlossen hatte? Nein, er konnte nicht wirklich etwas gewußt haben, sonst hätte er sich keinen Friedhof als Versteck ausgewählt, denn damit war er dem Tod geradewegs in den Rachen gesprungen. Das Kruzifix in der einen, die Laterne in der anderen Hand, suchte er noch einmal das Grab auf, vor dem die Fußspuren,die er quer über den halben Friedhof verfolgt hatte, endeten. Dort wühlte er die Erde so tief auf, wie er konnte. Er legte das Kreuz in die Grube und verschloß sie wieder. Dann säuberte er seine Hände mit einem Taschentuch vom feuchten schwarzen Erdreich. ,.Von dieser Nacht an sollst du Frieden finden, Samuel Tyler", sagte er. „Das Böse hat keine Macht mehr über dich. Das geweihte Kreuz, das auf deinem Sarg liegt, bannt den Fluch, der auf dir gelastet hat. Werde wieder zu dem Staub, aus dem du gemacht wurdest. Und möge sich Gott deiner armen Seele erbarmen!" Glenn Riordan hob die Laterne auf und schickte sich an, zur Kapelle zurückzukehren. Er war noch etwa zwanzig, fünfundzwanzig Meter davon entfernt und wollte gerade vom Seitenpfad auf den Hauptweg einbiegen, als ihm plötzlich das blendende Licht einer Stablampe ins Gesicht sprang. „Bleiben Sie stehen, und heben Sie die Hände über den Kopf!" befahl eine Männerstimme. „Obwohl es mir lieber wäre, wenn Sie die Flucht ergreifen würden, dann hätten wir nämlich einen Grund, die Hunde auf Sie loszulassen. Denn Leichenräuber und Friedhofsschänder sind uns in Worrick verhaßt." Glenn Riordan blieb stehen und hob seine Hände in Schulterhöhe. Drei dunkle Gestalten kamen auf ihn zu. Durch das blendende Licht hindurch erkannte er, daß zwei von ihnen Polizeiuniformen trugen und Hunde an den Leinen führten. Der dritte Mann war in Zivil gekleidet; er hielt die Stablampe in der einen und einen Revolver in der anderen Hand. „Wer sind Sie, und was haben Sie mitten in der Nacht auf dem Friedhof zu suchen?" fragte er in scharfem Ton. „Mein Ausweis steckt in der Manteltasche", antwortete Glenn Riordan. Der Polizist in Zivil zog den Reisepaß heraus, schlug ihn auf und leuchtete mit der Stablampe hinein. „Privatdetektiv, wie?" murmelte er, Glenn Riordans Gesicht mit dem
Paßfoto vergleichend. „Na, wenn das keine Überraschung ist." „Ich habe noch eine weitere Überraschung für Sie", sagte Riordan. „In der Friedhofskapelle liegt ein Mann mit eingeschlagenem Schädel." „Haben Sie ihn umgebracht?" „Dann wäre ich bestimmt nicht mehr hier", entgegnete Glenn Riordan mit ätzendem Spott. „Wir werden ja sehen. Gehen Sie voran!" Ein Wink mit dem Revolverlauf unterstrich die Aufforderung. Riordan schritt vor den drei Polizisten und den beiden böse knurrenden Wolfshunden zur Kapelle. Als sie in den Raum gelangten, in dem Simpsons Leiche lag, begannen die Hunde zu heulen, zu winseln und an ihren Leinen zu zerren, als wollten sie davonlaufen. „Großer Gott!" sagte der Polizeidetektiv in Zivil. „Was ist das für ein widerwärtiger Gestank, der hier herrscht?" „Verwesung - der Geruch der Vergänglichkeit", antwortete Glenn Riordan. „So riechen Menschen, wenn sie monatelang im Grab gelegen haben." „Wollen Sie damit sagen, daß dieser Mann" - der Polizist deutete auf Simpson - „schon so lange tot ist?" „Nein", erwiderte Glenn Riordan, und sein dunkles Gesicht wurde hart und starr wie eine Maske. „Er nicht - aber sein Mörder." *** „Eine Hexe, die die Geister von Toten beschwört - ein lebender Leichnam, der aus seinem Grab steigt, um einen Menschen umzubringen; das alles ist doch einfach lächerlich", sagte Inspektor Moynihan abfällig. Er saß im Lichtkegel der Schreibtischlampe hinter seinem Tisch und musterte Glenn Riordan mit dem geringschätzigen Gesichtsausdruck, der allen Polizisten auf der Welt gleichermaßen eigen ist, wenn sie einer lächerlichen Aussage keinen Glauben schenken. Inspektor Frank Moynihan - er war der in Zivil gekleidete Polizist, der Riordan auf dem Friedhof festgenommen hatte - war ein untersetzter, breitschultriger, stiernackiger Mann. In seinem Körper wohnte ungeheure Kraft, und da er sich ihrer voll bewußt war, war er der Meinung, alle anderen Menschen mit unverkennbarer Geringschätzung behandeln zu dürfen. Moynihan gehörte nicht zu den beliebtesten Polizisten in Worrick, wohl aber zu den gefürchtetsten. Er hatte kurzgeschnittenes, rotblondes Haar, in das sich schon einzelne graue Strähnen mischten, und hart blik-
kende grüne Augen. Wenn er mit der Faust auf den Tisch schlug, was im Verlauf seiner Unterredung mit Glenn Riordan schon mehr als einmal geschehen war, hatte man den Eindruck, das Haus erbebe in seinen Grundfesten. „Zunächst einmal, Inspektor: Meine Schwester war keine Hexe", entgegnete Glenn Riordan mit erzwungener Ruhe. „Sie besaß zwar übersinnliche Fähigkeiten, hat diese aber niemals in den Dienst des Bösen gestellt. Sie, als rational denkender Europäer, glauben wahrscheinlich nicht an Schwarze Magie, Dämonen und rituelle Beschwörungen. Auf den Karibischen Inseln aber, woher ich komme, denkt man anders darüber." „Unsinn! Geschwätz! Negeraberglaube!" sagte Moynihan scharf. Dann schien ihm bewußt zu werden, daß er mit seinem letzten Wort zu weit gegangen war, denn er wich dem Blick seines Gegenübers aus. „Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, jedesmal in Zorn zu geraten, wenn mich jemand abschätzig als Neger oder Farbigen bezeichnet", erwiderte Glenn Riordan und schlug lässig die Beine übereinander. „Ich weiß, daß meine Haut dunkel ist, schließlich sehe ich mein Gesicht jeden Tag im Rasierspiegel, Inspektor." „Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu beleidigen", murmelte Moynihan, ärgerlich über sich selbst. Er wußte, daß er Riordan dadurch einen Vorteil verschaffte, indem er zugab, einen Fehler begangen zu haben. „Sie haben mich viel mehr durch den Verdacht beleidigt, ich sei ein Leichenräuber oder Friedhofsschänder', sagte Glenn Riordan, der seinen Vorteil sofort erkannte und rasch und geschickt für sich ausnützte. Er hatte nicht die Absicht, diesem rothaarigen, stiernackigen Polizisten etwas zu schenken. Moynihan preßte die Lippen aufeinander, erwiderte aber nichts. „Meine Schwester arbeitete schon seit ihrer Kindheit als Medium", fuhr Glenn Riordan fort. „Sie besaß die Fähigkeit des Hellsehens; sie konnte Ereignisse voraussagen, die manchmal einen Tag, manchmal auch erst ein Jahr danach eintrafen. Und sie hatte die Gabe, die Geister der Toten zu beschwören. Fragen Sie mich nicht nach den Ursachen solcher unheimlichen Fähigkeiten. Ich kenne sie nicht. Ich weiß aber, daß es sie gibt. Eine ganze Anzahl von Menschen auf Jamaica besitzen sie. In der Mehrzahl sind es Frauen. Meine Schwester war nur eine davon. Einmal - als sie noch ein halbes Kind war - machte sie gewisse Erfahrungen mit dem Wudu-Kult, der alle magischen Fähigkeiten in den Dienst des Bösen stellen will. Bei den Ritualen dieses Kults, der auf den
Karibischen Inseln weit verbreitet ist und ungeheure Macht und Einfluß besitzt, sind nicht nur Tier-, sondern auch Menschenopfer gebräuchlich. Meine Schwester mußte solch ein Wudu-Ritual mitansehen. Von diesem Tag an hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, Wudu-Priester und Hexen aufzuspüren und unschädlich zu machen." Glenn Riordan sah Moynihan mit den Mundwinkeln zucken. Jähzorn loderte wie eine Flamme in ihm auf, aber er bezwang sich. „Sie mögen darüber denken, wie Sie wollen, Moynihan", sagte er mit harter Stimme. „Aber der Großteil der farbigen Bevölkerung auf den Karibischen Inseln lebt in Elendsquartieren in unbeschreiblicher Armut und unter Umständen, die ein Europäer sich kaum vorzustellen vermag. Diese armseligen Menschen würden jede Möglichkeit ergreifen, um ihr Schicksal zu ändern - auch wenn sie ihnen vom Satan selbst geboten würde. Diese fürchterlichen Lebensumstände bilden den besten Nährboden für den Wudu-Kult. Aber auch Weiße, die irgendwie in den Besitz jener teuflischen Geheimnisse gelangt sind, bedienen sich ihrer. Mit derselben mörderischen Gewissenlosigkeit wie die Farbigen. Meine Schwester verfolgte die Spur eines dieser Weißen bis nach England. Er soll ein ,Hungan' sein, ein Priester, ein Eingeweihter in die Riten des Wudu, der sich der Hilfe der Dämonen und der Toten bedienen kann. Ich habe meine Schwester davor gewarnt, nach Europa zu fliegen. Auf Jamaica konnte ich sie beschützen, in England nicht. Dort würde sie ganz auf sich selbst gestellt sein. Aber sie hörte nicht auf meinen Rat. Und dann, eines Tages, erhielt ich eine Mitteilung der Polizeibehörde von Worrick, daß meine Schwester bei einem tragischen Unglücksfall ums Leben gekommen sei. Ich bezweifelte sofort die Formulierung, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Ich nahm das nächste Flugzeug nach London, fuhr von dort nach Worrick und nahm Einblick in die Vernehmungsprotokolle der Polizei zu diesem Fall. Dabei stieß ich auf die Aussage eines Mannes namens Simpson. Offenbar hatte niemand dem, was er zu Protokoll gab, irgendwelche Bedeutung beigemessen. Er war alt, er war ein Trinker, man hielt ihn für verrückt. Aber mir war sofort klar, daß ich - wenn überhaupt - nur von diesem alten Mann die Wahrheit über den Tod meiner Schwester erfahren würde. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach ihm. Und schließlich fand ich ihn auch, auf einem Friedhof versteckt. Gepeinigt von Todesangst. Verfolgt vom Geist des Bösen, wie er sich ausdrückte. Er erzählte mir noch einmal, was er schon bei der Polizei ausgesagt
hatte. Aber ich bin sicher, er wußte noch mehr. Doch bevor er es aussprechen konnte, wurde er für immer zum Schweigen gebracht." „Von einem Toten, der aus seinem Grab stieg, um das blutige Werk zu verrichten? Erwarten Sie wirklich von mir, daß ich Ihnen das glaube?" fragte Moynihan. „Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie weit die Macht des Wudu-Kults reicht, Inspektor", antwortete Glenn Riordan. „Sie reicht sogar über jene unheimliche Grenze hinaus, die wir Menschen ,Tod' nennen." „Ich weiß nicht, womit Ihr unsinniges Geschwätz erklärt werden kann, Riordan", sagte Moynihan. „Mit Aberglauben, mit Dummheit oder einfach mit Unverschämtheit? Wie Sie selbst sehr richtig erklärten, war Simpson ein Trinker, dessen Aussage zum Tod Ihrer Schwester nicht den geringsten Wert besitzt. Tatsache ist aber nun einmal, daß Simpson ermordet wurde. Vielleicht haben Sie ihn umgebracht, weil Sie glaubten, ihn träfe irgendwelche Schuld am Tode Ihrer Schwester." „Inspektor, Sie sind wahrscheinlich kräftiger als ich. Aber würden Sie sich zutrauen, einen ausgewachsenen Mann wie eine Puppe hochzuheben und mit solcher Gewalt gegen eine Mauer zu schleudern, daß er tot liegen bleibt?" „Ach, das ist doch alles Geschwätz. Vielleicht haben Sie ihn nur ein paarmal mit dem Kopf gegen die Mauer geschlagen. Bei einem Mann wie Simpson, dessen Gehirn schon vom Alkohol in Mitleidenschaft gezogen war, hätte das bestimmt ausgereicht, um ihn umzubringen." „Und die Fußspuren, die vor dem Grab dieses Samuel Tyler endeten?" erinnerte Glenn Riordan den Inspektor. „Was weiß ich!" Moynihan machte eine zornige Handbewegung. „Sie könnten diese Spuren selbst gemacht haben, weil Sie glaubten, Ihrem Horrormärchen damit einen Anschein von Glaubwürdigkeit zu geben." Er wollte noch etwas hinzufügen, aber im gleichen Augenblick wurde die Tür zu seinem Büro von draußen geöffnet, und ein Polizeisergeant in Uniform trat ein. „Was ist los? Warum, zum Teufel, stören Sie mich gerade jetzt?" fuhr Moynihan ihn an, rot vor Wut im Gesicht. „Sir, ich habe, Ihrer Anweisung folgend, den Namen Samuel Tyler im Bevölkerungsregister der Grafschaft nachgeschlagen", antwortete der Sergeant unbehaglich. „Und?" Moynihans Stimme klang wie eine kleine Explosion. „Tyler war als Aushilfskraft auf Schloß Morgan beschäftigt, Sir. Er kam
vor einem Monat bei einem Unfall mit einer landwirtschaftlichen Maschine ums Leben. Genauer gesagt: Er geriet in einen Mähdrescher. Der Kopf wurde ihm abgerissen." Sekundenlang herrschte Schweigen in dem Büroraum. Dann winkte Moynihan dem Sergeant zu, er könne gehen. Nachdem sich die Tür hinter dem Mann geschlossen hatte, sahen Glenn Riordan und der Inspektor einander an. Zum erstenmal zeigte sich eine gewisse Unsicherheit in Moynihans Blick. „Inspektor, Sie erinnern sich doch bestimmt noch daran, was ich Ihnen zu Anfang meiner Vernehmung über die Gestalt sagte, die ich auf der Schwelle zur Friedhofskapelle sah", brach Glenn Riordan schließlich das Schweigen. „Sie war menschlich und doch auf eine grauenvolle Weise auch wieder unmenschlich. Jetzt weiß ich, was diesen Eindruck hervorrief: Es war ein Körper ohne Kopf." „Nein, Riordan, diese Erklärung lasse ich nicht gelten. Die könnten Sie sich zurechtgelegt haben, nachdem Sie hörten, was mein Sergeant über den Tod Samuel Tylers sagte." „Glauben Sie, ich hätte mir in dem Fall auf dem Friedhof die Mühe gemacht, noch einmal zu Tylers Grab zurückzukehren, um ein geweihtes Kreuz hineinzulegen und so den Wudu-Fluch zu bannen?" „Das ist noch kein Beweis für Ihre Unschuld", sagte Moynihan. „Ich sollte Sie wirklich der Mordkommission in Wolverhampton übergeben." Er griff nach dem Telefon. „Wenn Sie einen Beweis für die Wahrheit oder Unwahrheit meiner Behauptungen suchen, dann finden Sie ihn am raschesten auf Schloß Morgan", entgegnete Glenn Riordan. Zögernd nahm Moynihan die Hand vom Telefonhörer. „Nun gut", sagte er. „Aber wenn ich auch nur den geringsten Beweis gegen Sie in die Hände bekomme, Riordan, dann hänge ich Ihnen den Mord an Simpson an, und Sie verschwinden für den Rest Ihres Lebens in einem Londoner Gefängnis." „Bis dahin könnten Sie mir meinen Revolver zurückgeben", mahnte Glenn Riordan. „Möglicherweise werde ich ihn brauchen." Moynihan warf den 38er Smith & Wesson, der bisher auf dem Schreibtisch gelegen hatte, in eine Schublade. „Ich fühle mich wohler, wenn nur einer von uns beiden eine Waffe hat", sagte er. „Und dieser eine bin ich." ***
Sie fuhren in einem alten schwarzen Austin nach Westen. Es war noch früh am Morgen. Die Sonne leuchtete fahl durch Schwaden grauen Hochnebels. Die nahen Kabrischen Berge waren nur als eine gezackte Linie im Westen zu erkennen. Der Austin rollte durch eine einsame Gegend, nachdem er die Hauptverkehrsstraße verlassen hatte. Heide und Hochmoor wechselten sich ab. An schmalen Wasserläufen und sumpfigen Tümpeln standen Weidenbäume mit trauernd herabhängenden Ästen. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Glenn Riordan dachte unwillkürlich, wie sehr sich dieser Landstrich doch von seiner sonnendurchglühten, heimatlichen Insel Jamaica unterschied. Aber die Menschen und ihre bösen Instinkte glichen einander überall auf der Welt. „Dort liegt Schloß Morgan", sagte Moynihan; er nahm eine Hand vom Steuer und deutete durch die Windschutzscheibe auf einen grauen Umriß im Morgendunst. In diesem Augenblick bemerkte Glenn Riordan, daß die Heideflächen zu beiden Seiten der Straße über und über mit Raben bedeckt waren. Es mußten Tausend und Abertausende sein. Sie saßen auf der Erde oder dicht gedrängt auf den Ästen der Bäume, und alle schienen den Austin, der die staubige Landstraße entlangfuhr, mit ihren Blicken zu verfolgen. „Das sind die berühmt-berüchtigten Morgan-Raben", erwiderte Moynihan, als Glenn Riordan ihn auf die Vögel aufmerksam machte. „In den alten Chroniken dieser Gegend heißt es, daß sie schon seit Jahrhunderten ihre Nistplätze um das Schloß herum haben. Unheimliche Vögel, nicht wahr? Niemand kann sagen, was sie hier suchen." Er zündete sich mit einer Hand eine Zigarette an. „Warum sind Sie eigentlich nicht gleich nach Ihrer Ankunft in England nach Schloß Morgan gefahren, wenn Sie davon überzeugt sind, nur dort die Ursache für den Tod Ihrer Schwester finden zu können?" fragte er unvermittelt. „Weil man mir dort bestimmt nicht wahrheitsgemäß auf meine Fragen geantwortet hätte. Die Wahrheit konnte ich nur von dem alten Simpson erfahren - jedenfalls so viel, wie er davon wußte", antwortete Glenn Riordan. „Ich wollte nicht unvorbereitet nach Schloß Morgan fahren." Sie hatten nun das Schloß erreicht - eine düstere, feindselig wirkende Masse von Mauern, Zinnen und Türmen, teils aus grauem Granit, teils aus rotem Sandstein -, und Moynihan parkte den Austin am Rand der Auffahrt vor dem Torgewölbe. Als Glenn Riordan ausstieg, fiel sein Blick auf zwei tiefe Mauernischen
über dem Tor. In einer davon stand eine mächtige Figur aus rotem Stein: ein Greif mit Löwenkopf, Adlerschnabel und Fledermausflügeln, auf den Hinterbeinen stehend, die Pranken wie zum Angriff erhoben. Die zweite Nische war leer. Genau darunter, am Ausgang des Torgewölbes, mußte Abigail den Tod gefunden haben. Glenn Riordan fühlte einen kalten Schauer über seinen Rücken rinnen, obwohl die Spuren des Unglücks auf der Straße sorgfältig beseitigt worden waren. Als er den Blick wieder nach oben richtete, sah er an der Mauerbrüstung über dem Tor eine Frau mit offenem, im Wind wehenden roten Haar stehen, die unentwegt zu ihm herunter schaute. Als ihre Blicke sich trafen, trat die Unbekannte einen Schritt zurück und war gleich darauf verschwunden. „Wer war das?" fragte Glenn Riordan. „Angarath Morgan", sagte Moynihan, „die Frau von Lord Richards Bruder Mordred. Kommen Sie, gehen wir hinein!" Ein Diener kam ihnen unter dem Tor entgegen und führte sie über den Schloßhof. Im Hauptgebäude stiegen sie eine breite Steintreppe hinauf, deren Geländer mit den Skulpturen antiker Götter geschmückt war. Die Ausstattung des Schlosses verriet unerhörten Reichtum. Aber die ganze Pracht schien auf bedrückende Weise leblos zu sein, so wie die Augen eines Toten den Schimmer des Lebens vermissen lassen. Dieser Eindruck drängte sich Glenn Riordan mit geradezu magischer Gewalt auf. Er sprach aber nicht darüber, denn Moynihan schien nicht so zu empfinden. Der Diener öffnete die beiden Flügel einer großen Tür, und Glenn Riordan blickte in einen großen Saal, der von einem gewaltigen offenen Kamin mit schwerem Steinsims beherrscht wurde. Davor hielten sich - in einer Anordnung wie auf einem Bild aus dem vorigen Jahrhundert - vier Menschen auf. Zwei Frauen saßen in hochlehnigen Stühlen, während zwei Männer hinter ihnen standen. Alle vier blickten Glenn Riordan und Moynihan hochmütig und abweisend entgegen. Eine der Frauen war Angarath Morgan, die Riordan an der Torbrüstung gesehen hatte. Die andere war sehr viel jünger, von anmutiger, schlanker Gestalt, hatte blondes Haar und Augen von jenem Blau, wie man es nur in England findet. Sie hätte schön genannt werden können, wenn nicht eine unbestimmte Traurigkeit ihren Blick verschleiert, ja verdüstert hätte. Von den beiden Männern war der, welcher hinter dem Stuhl des jungen Mädchens stand, hochgewachsen und grauhaarig, mit aristokratischen Gesichtszügen. Der andere war fast einen Kopf kleiner, hager, und seine Mundwinkel wirkten verkniffen, wie man es manchmal bei Menschen
findet, die schwere Schicksalsschläge haben hinnehmen müssen. „Lord Morgan", wandte sich Moynihan an den grauhaarigen Aristokraten, „ich bringe Ihnen hier den Bruder der Frau, die auf so tragische Weise auf Ihrem Besitz ums Leben kam. Das ist Mister Glenn Riordan aus Kingston auf Jamaica. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, die Sie bitte freundlicherweise beantworten wollen. Wir werden Ihre Zeit nicht länger als unbedingt notwendig in Anspruch nehmen." Lord Richard Morgan musterte Glenn Riordan mit unverhüllt feindseligem Blick. „Alle Fragen, die zu beantworten waren, wurden schon von der Polizei gestellt. Mister . . . Wie war noch Ihr Name?" „Riordan", antwortete Glenn Riordan mit unbewegtem Gesicht. „Nun, Mister Riordan, das Ganze war ein sehr bedauerlicher Unfall. Doch die polizeilichen Nachforschungen darüber sind inzwischen abgeschlossen. Ihre Schwester war an dem Tag, als das Unglück geschah, unser Gast. Sie hatte gebeten, Schloß Morgan besichtigen zu dürfen. Offenbar hatte sie großes Interesse an alten englischen Schlössern." Glenn Riordan schaute auf den Hut in seinen Händen, dann richtete er den Blick wieder auf Lord Morgan. „Es würde mir leichter fallen, Ihren Worten Glauben zu schenken, Sir. wenn da nicht die Aussage eines alten Mannes namens Simpson wäre, der etwas ganz anderes behauptet hat", sagte er. „Simpson war ein Trinker. Unzuverlässig und lügenhaft. Die Polizei hat seinem Geschwätz keinen Glauben geschenkt. Und wir haben ihn entlassen", warf Lord Morgans Bruder ein. „Er erklärte aber, er sei in Panik aus diesem Schloß geflohen, weil er hier seines Lebens nicht mehr sicher war." „Das war nur eine weitere seiner Lügen. Warum sollte jemand einem närrischen, alten Mann nach dem Leben trachten?" „Vielleicht deshalb, weil er Dinge mitangesehen und gehört hat, die um jeden Preis geheimgehalten werden sollten." „Ihre Anspielungen sind absurd. Doch ein Mann von Ihrer Hautfarbe neigt vielleicht rascher als ein Weißer dazu, abergläubischem Gerede Glauben zu schenken." Das war eine Beleidigung, kalt und ohne Beschönigung vorgebracht. Glenn Riordan fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Aber er zwang sich, keine Gefühlsregung zu zeigen, während er Mordred Morgans Blick erwiderte. „Ich fürchte, wir erweisen uns als schlechte Gastgeber. Mordred", sagte
Lord Morgan hastig, um die beinah greifbare Spannung, die augenblicklich im Raum herrschte, abzuschwächen. ,,Wir haben unseren Gästen noch nichts angeboten. Whisky oder Sherry, meine Herren?" Als weder Moynihan noch Glenn Riordan antworteten, fuhr er fort: „Also Whisky. Wenn du das übernehmen willst, Mordred . . ." Dann wandte er sich wieder Riordan zu: „Wir bedauern den Unfall, der Ihrer Schwester zugestoßen ist, wirklich außerordentlich. Ein Stein im Mauerwerk muß sich gelöst und die schwere Steinfigur zum Absturz gebracht haben. So etwas kann vorkommen, schließlich wurde Schloß Morgan schon im fünfzehnten Jahrhundert erbaut, und manchmal bröckelt etwas von dem alten Mauerwerk ab. Haben Sie vor, sich längere Zeit in dieser Gegend aufzuhalten?" „So lange, wie ich brauche, um mir Gewißheit über den Tod meiner Schwester zu verschaffen", erwiderte Glenn Riordan. Er fühlte einen fremden Blick auf sich gerichtet, wandte den Kopf und bemerkte, daß das blonde Mädchen, dem er bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, ihn auf merkwürdige Weise ansah. Täuschte er sich, oder versuchten ihre verschleierten blauen Augen ihm - vielleicht ohne, daß es ihr selbst bewußt war - etwas mitzuteilen? Eine Mahnung, eine Warnung? Bevor er es herausfinden konnte, senkte das Mädchen rasch die langen Wimpern, ihre Augen darunter verbergend, denn Angarath Morgan war sofort aufmerksam geworden und hatte sich ihr zugewandt. Es entstand ein kurzes Schweigen, das Glenn Riordan zum Anlaß nahm, sich in der großen Halle umzusehen. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf ein großes Bild in einem Goldrahmen, das über dem Kamin hing. Es zeigte eine hochgewachsene, schöne blonde Frau mit dunklen, unergründlichen Augen. „Das Bild stellt meine zweite Frau Eleanor dar", erklärte Lord Morgan. „Sie war von einer Schönheit, wie man sie auf dieser Welt kein zweites Mal findet. Sie ist vor über einem Jahr gestorben." Er verstummte ganz plötzlich. Eine düstere Erinnerung glitt wie ein Schatten über sein Gesicht. Dann sagte er rasch: „Da kommt Ihr Whisky, meine Herren!" Mordred Morgan reichte das eine Glas Inspektor Moynihan, das andere Riordan. Als Glenn Riordan es entgegennahm, spürte er einen unerwarteten, kurzen, kräftigen Druck von Morgans Hand, die sich, wie unabsichtlich, um die seine geschlossen hatte. Das Whiskyglas zersprang mit scharfem Klirren zwischen Riordans Fingern. Gleichzeitig spürte er einen heftigen Schmerz in der Handfläche. Unwillkürlich ließ er die Überreste des Glases fallen und sah, daß er sich eine blutende
Schnittwunde beigebracht hatte. „Verzeihung! Ich war wohl etwas ungeschickt", murmelte Mordred Morgan. Glenn Riordan schüttelte Blut und Whisky von seiner Hand, zog mit der Linken sein Taschentuch heraus und schlang es um seine verletzte Rechte. „Na, der Whisky wird die Wunde wohl gründlich reinigen", sagte Moynihan, dem der Zwischenfall sehr unangenehm zu sein schien, mit gezwungenem Lächeln. „Ich glaube, wir sollten jetzt gehen. Danke für den Whisky!" Er reichte sein Glas Mordred Morgan und nahm Riordan beim Arm. „Kommen Sie!" Bevor Glenn. Riordan ein Wort hervorbringen konnte, hatte ihn Moynihan schon zur Tür gezogen. Auf der Schwelle drehte sich Riordan noch einmal um. Dabei fing er einen Blick des blonden Mädchens auf, der abermals eine flehentliche, stumme Bitte auszudrücken schien. „Sie haben vorhin einen ganz schönen Wirbel gemacht", sagte Moynihan ärgerlich, als sie zu dem verbeulten schwarzen Austin vor dem Tor zurückkehrten. „Wenn ich gewußt hätte, wie Sie sich aufführen würden, hätte ich Sie schon heute nacht in eine Gefängniszelle gesperrt, anstatt Sie nach Schloß Morgan zu begleiten. Lassen Sie mich Ihre Verletzung sehen!" „Es ist ein glatter Schnitt, vollkommen ungefährlich", gab Glenn Riordan zur Antwort. „Ich habe nur ein wenig Blut verloren, das ist alles." Aber das war nicht alles. Es verhielt sich nur so, daß er Moynihan in diesem Moment die volle Wahrheit weder sagen konnte noch wollte. Der bullige Polizist war wütend und hätte ihm nicht geglaubt. Glenn Riordan hatte aber kein Interesse daran, sich den Inspektor zum Feind zu machen. Er brauchte in dieser Sache wenigstens einen Menschen, auf den er zählen konnte. Und da kam nur Moynihan in Frage. „Warten Sie noch einen Augenblick!" bat er, als der Inspektor den Wagenschlag öffnete und seinen untersetzten Körper hinters Steuer zwängte. „Wissen Sie, wo die Familiengruft der Morgans liegt?" „Verdammt! Fangen Sie nicht schon wieder mit Ihrem Wahnsinnsaberglauben an!" fuhr Moynihan auf ihn los. „Sie haben mir schon genug Ärger für eine Nacht und einen Tag gemacht." Glenn Riordan stützte sich mit einer Hand auf die offene Wagentür und beugte sich so weit vor, daß er dem Inspektor ins Gesicht sehen konnte. Sein Blick wurde zwingend. „Wenn Sie wissen, wo sich die Gruft befindet, müssen Sie es mir sagen, Moynihan. Ich beschwöre Sie, mir zu helfen, oder Sie werden noch viele
ungeklärte Morde in dieser Gegend erleben", sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Der bullige Polizist schlug halb wütend, halb verzweifelt mit beiden Händen auf das Lenkrad des Austin ein. Aber schließlich gab er doch nach, obwohl sein Gesichtsausdruck verriet, daß er deswegen auf sich selbst wütend war. „Sehen Sie die Baumgruppe dort drüben, zwei-, dreihundert Schritte vom Schloß entfernt? Die Gruft liegt zwischen den Bäumen versteckt. Nur im Winter, wenn die Bäume entlaubt sind, kann man sie von der Straße aus sehen." „Warten Sie hier auf mich, ich bin gleich zurück", sagte Glenn Riordan und schritt auf die Baumgruppe zu. Die großen schwarzen Raben, die überall auf der Moorheide saßen, flatterten krächzend vor ihm auf und wirbelten wie eine dunkle, vom Sturm getriebene Wolke über ihm hin und her. Aber sie griffen nicht an, sondern hielten sich von ihm fern. Ungehindert erreichte Glenn Riordan die Bäume - Mooreichen und Trauerweiden mit dunklen, zu bizarren Formen verkrüppelten Stämmen -, bückte sich unter ihren tief herabhängenden Ästen hindurch und stand am Rand einer kleinen Lichtung. In ihrer Mitte erhob sich die Gruft. Obwohl es schon Tag war, wirkte das kleine Bauwerk im fahlen Licht der nebelverhangenen Sonne gespenstisch. Die Familiengruft der Morgans glich einer Kapelle. Ihr Dach wurde an der Vorderfront von vier Säulen getragen, zwischen denen eine Treppe zum halb unter der Erdoberfläche gelegenen Eingang hinabführte. Die Tür erwies sich als verriegelt und verschlossen, als Glenn Riordan an ihr rüttelte. Aber sie besaß ein kleines, mit einem Eisengitter gesichertes Guckloch, durch das er einen Blick ins Innere des Grabgewölbes werfen konnte. Drinnen war es dunkel. Trotzdem glaubte Glenn Riordan, im Hintergrund der Gruft eine schemenhafte Gestalt erkennen zu können, die einen Hut mit einer langen Hahnenfeder trug. Nichts anderes hatte er erwartet. Er kehrte um und schritt, vom mißtönenden Krächzen der Raben begleitend, zur Straße zurück. Jetzt wußte er, was er in Erfahrung hatte bringen wollen. Stumm setzte er sich neben Moynihan, und der Inspektor ließ wortlos den Motor an. Der Austin rollte die Straße entlang und entfernte sich rasch von Schloß Morgan. Glenn Riordan ließ mehrere Minuten verstreichen, ehe er das Schweigen brach. „Ich glaube, auf dem Besitztum der Morgans sind mehr Morde geschehen, als Sie sich vorstellen können, Inspektor", sagte er. „Einige
davon wurden als Unfälle getarnt, andere als normale Todesfälle. Aber ich bin davon überzeugt, daß es Morde waren - und es werden immer mehr werden, wenn nichts dagegen unternommen wird." Moynihan antwortete nicht, sondern starrte verbissen geradeaus. „Erinnern Sie sich noch an das Bild von Lady Eleanor Morgan?" fuhr Glenn Riordan fort. „Ich meine das Bild in dem goldenen Rahmen, das über dem Kamin im großen Saal von Schloß Morgan hängt. Ist Ihnen nichts daran aufgefallen?" „Hätte mir etwas auffallen müssen?" fragte Moynihan streitsüchtig. „Ja, nämlich, daß das Kleid Lady Eleanors mit Wudu-Symbolen bestickt war. Und daß im Hintergrund des Bildes ein schwarzer Hahn, eine weiße Ziege und ein Kind zu sehen waren - die traditionellen Opfergaben für die Wudu-Dämonen. Ich sagte Ihnen ja schon, daß das Wudu-Ritual auch Menschenopfer kennt." „Wenn ich mit Ihren absurden Behauptungen als Beweismaterial zum Staatsanwalt ginge, könnte ich am nächsten Tag wieder als einfacher Verkehrspolizist Dienst tun", sagte der Inspektor mit ätzendem Spott. „Moynihan, in diesem satanischen Spiel geht es um Menschenleben, um viele Menschenleben. Sie machen sich keine Vorstellung von der Macht des Wudu." „Riordan, ich habe es wirklich satt, mir Ihr abergläubisches Geschwätz anzuhören. Ich bin ein Polizist, der es für gewöhnlich mit Mördern, Rauschgifthändlern, Zuhältern und Dieben zu tun hat. Ich kann einen Gewaltverbrecher vierundzwanzig Stunden lang pausenlos verhören, bis er zusammenbricht und ein Geständnis ablegt. Aber was Sie brauchen, ist kein Polizeiinspektor, sondern ein Psychiater, zwei Irrenwärter und eine Zwangsjacke." „Hören Sie, Moynihan", fiel Glenn Riordan dem Inspektor ins Wort, „ich bin Privatdetektiv in einer der verrufensten Großstädte der Welt. In Kingston auf Jamaica. Seit zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit Verbrechen und Verbrechern. Ich habe in diesem Zeitraum etwa fünfzig Mörder zur Strecke gebracht und für mindestens tausend scheidungswillige Eheleute Spitzeldienste geleistet. Ich habe mich im Hafen von Kingston mit Rauschgifthändlern herumgeschossen, und ich kenne jede verdammte Straße in der Stadt, wo eine der zweitausend gewerbsmäßigen Huren auf den Strich geht. Aber ich sage Ihnen, das alles ist ein Nichts gegen die Verbrechen, die von Wudu-Hexen begangen werden. Denn die Mittel, deren sie sich dazu bedienen, sind unmenschlich, dämonisch, satanisch. Ich habe mehr als
einmal Menschen gesehen, die von lebenden Leichnamen, die mit dem Fluch des Wudu belegt worden und aus ihren Gräbern hervorgekrochen waren, erwürgt worden sind. Wudu - das ist die Herrschaft des Teufels. Und jeder Mensch, der sich dieses Kults und seiner Macht bedient, trägt unsichtbar das Zeichen Satans auf der Stirn. Ich glaube, daß der Schatten des Bösen auf Schloß Morgan liegt. Aber ich brauche einen unumstößlichen Beweis für meine Annahme. Und Sie müssen mir helfen, ihn beizubringen." Moynihan zögerte sichtlich. Sein Zorn war verflogen. Er versuchte, den Eindruck, den Glenn Riordans Worte auf ihn gemacht hatten, abzuschütteln. Indes, es gelang ihm nicht. Etwas von der Urangst, die das Dasein der Menschen seit undenklichen Zeiten überschattet und auf unbewußte Ahnungen zurückgeht, die jenseits des rationellen Begriffsvermögens ihre Wurzeln haben, überkam ihn. Außerdem sagte ihm sein Instinkt, daß Riordan nicht log. „Einmal vorausgesetzt, ich würde Ihrem dunklen Gerede Glauben schenken", sagte er. „Wie stellen Sie sich meine Hilfe vor?" „Ich möchte heute nacht in die Familiengruft der Morgans eindringen und mir dort die Beweise verschaffen, die ich brauche." „Sie wollen - was?" Moynihan starrte Glenn Riordan an, als ob er einen Wahnsinnigen vor sich hätte. „Es muß heute nacht sein. Mir bleibt möglicherweise nicht mehr viel Zeit. Ich weiß, daß das Todesurteil schon über mich gesprochen ist. Der Zombie, der verfluchte, lebende Leichnam, der mich töten soll, ist schon für sein blutiges Werk bestimmt worden", sagte Glenn Riordan. Moynihan, in dessen Händen das Lenkrad gefährlich ausgeschlagen hatte, riß den Austin wieder in die gerade Spur. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Wagen wäre über den Straßenrand hinaus in die Moorheide geschossen. „Wenn ich Ihnen bei Ihrem Vorhaben helfe und die Sache geht schief, wird man mich mit einem Fußtritt aus dem Polizeidienst hinausbefördern", brachte er hervor. „Und wenn Sie es nicht tun, wird das Morden weitergehen, immer weiter. Erst war es Tyler, dann meine Schwester, schließlich Simpson. Wer wird der nächste sein?" „Ich weiß nicht, warum ich mich von Ihnen in diese Sache hineinziehen lassen soll. Ich habe schon immer allen Menschen mißtraut, die keinen englischen Reisepaß hatten", fluchte Moynihan. „Ich schwöre Ihnen, Riordan, wenn Sie ein schmutziges Spiel mit mir treiben, dann richte ich
Ihr Gesicht mit meinen Fäusten so her, daß nicht einmal Ihre eigene Mutter Sie wiedererkennen würde." „Werden Sie mir helfen?" „Ich helfe Ihnen nur, weil mir diese Häufung von Todesfällen in der Umgebung von Worrick unheimlich ist. Nicht etwa, weil ich Ihrem abergläubischen Geschwätz Glauben schenke." Glenn Riordan atmete erleichtert auf. Er zog eine zerdrückte Packung aus der Manteltasche hervor und zündete sich eine Zigarette an. „Das blonde Mädchen auf Schloß Morgan - wer ist sie?" fragte er. „Lady Elizabeth", antwortete Moynihan, „die Töchter des Lords aus erster Ehe. Warum fragen Sie nach ihr? Haben Sie sie etwa im Verdacht, in irgendeinem Zusammenhang mit diesem Teufelsspuk zu stehen?" Doch darauf antwortete Glenn Riordan nicht. *** Am Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, hatte es zu regnen begonnen. Es war jener scheußliche englische Regen, der dicht wie Rauch ist, so daß man nachts kaum weiter als zehn Schritte sehen kann, wenn er fällt. „Die einzigen Lebewesen, die außer uns um diese Zeit noch wach sind, scheinen die Raben zu sein", murmelte Inspektor Moynihan, während er sich das Regenwasser aus dem Gesicht wischte. Wie als Antwort ertönte das rauhe Krächzen der Morgan-Raben aus der Finsternis. „Ich wollte, Sie hätten recht", entgegnete Glenn Riordan. „Schalten Sie jetzt Ihre Stablampe ein. Hier kann der Lichtschein vom Schloß aus nicht mehr gesehen werden." Die beiden Männer hatten den Austin weiter unten an der Straße zurückgelassen und waren zu Fuß quer über die nächtliche Moorheide zur Morgan-Gruft gegangen. Nun standen sie unter den tropfnassen Ästen der Bäume. Moynihan schaltete die Lampe ein. Ihr bleicher Strahl hob die Gruft aus dem Dunkel der Nacht, wie der Gegenstand eines Alptraums aus der Schwärze des Schlafs steigt. Die Männer polterten die Treppenstufen hinab zur Tür. Moynihan rüttelte daran, dann reichte er Glenn Riordan die Lampe. „Leuchten Sie mir!" sagte er und holte einen Bund Nachschlüssel aus der Manteltasche hervor. Eine Minute später hatte er die Schlösser geöffnet, und die Tür schwang in kreischenden Angeln nach innen auf. Glenn Riordan ließ den Strahl der Stablampe ins Innere des Grabgewölbes
fallen. Der Lichtkegel huschte über schwere, behauene Steinsarkophage hinweg und hob drei altarähnliche Aufbauten aus der Dunkelheit. „Was ist das?" fragte Moynihan, der hinter Glenn Riordan über die Schwelle trat. „Altäre für die drei Hauptdämonen des Wudu: Damballa, Ashtar und Lazarillo", erwiderte Riordan. „Stätten der Beschwörung des Bösen." Er leuchtete in die Tiefen der Gruft. Dort stand ein seltsames Gebilde, gleich einer menschlichen Gestalt. Es war ein Kreuz, das nach der Art einer Vogelscheuche bekleidet war. Ein zerlumptes Hemd hing vom Querbalken herab. Auf der Spitze des Kreuzes aber saß, wie auf einem Kopf, ein alter Filzhut mit einer langen Hahnenfeder. „Dies ist das Symbol Samedis, des Herrn und Fürsten der Hölle und der Friedhöfe", sagte Glenn Riordan. „Er ist der Haupt- und zugleich der Todesgott des Wudu-Kults. In seinem Namen werden die Geister der Toten beschworen, so daß sie als ruhe- und seelenlose mörderische Zombies aus ihren Gräbern steigen." Er schritt durch den Mittelgang der Gruft und leuchtete einen nach dem anderen der Steinsärge ab, an deren Fußenden jeweils der Name des Toten eingemeißelt war, der hier seine - wie die meisten Menschen glauben mochten - letzte, endgültige Ruhestätte gefunden hatte. „Hier ist es!" sagte Glenn Riordan schließlich und deutete auf einen Sarkophag, um den vier erloschene Grablaternen standen. Er untersuchte sie flüchtig und fand, daß eine von ihnen noch voll Kerosin war. Er hob den Glaszylinder ab, steckte den Docht mit einem Streichholz in Brand und schaltete danach die Stablampe aus. Nun herrschte ein flackerndes Zwielicht in der Gruft. Bizarre Schatten tanzten wie flatternde Fledermäuse über die Wände. „Der Sarg von Lady Eleanor", murmelte Moynihan, den angesichts dieses Ortes ein Schauer überkommen hatte. Glenn Riordan legte die Stablampe auf den Boden, zog ein Brecheisen unter seinem Mantel hervor und schob das scharfe Ende in die Ritze unter dem schweren Steindeckel des Sarkophags. Er mußte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf das Eisen legen und es nach unten drücken, bevor sich der Deckel knirschend aus seinem Widerlager hob. Die beiden Männer packten zu und schoben den Sargdeckel zur Seite, dann leuchtete Glenn Riordan mit der Laterne in den Sarg hinein. Ein Blick genügte für Moynihan, und er drehte sich um und preßte eine Hand vor den Mund. Er war nahe daran, sich zu übergeben.
Der Anblick der Toten, die in dem Sarg lag, war schauerlich. Ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Die gelben Zähne waren gebleckt; schwarz gähnten die leeren Augenhöhlen im Licht der Grablaterne. Die über der Brust gekreuzten Hände glichen denen eines weißen Skeletts. „Sehen Sie her!" verlangte Glenn Riordan von Moynihan. Voll Widerwillen drehte sich der Inspektor um. Das Gewand, in das Lady Eleanor gekleidet und das bisher von der Verwesung des Körpers nur wenig angegriffen worden war, war bestickt mit goldenen und silbernen Symbolen: einer sich ringelnden Schlange mit weit geöffnetem Rachen und stoßbereiten Zähnen; einem Hahn, emporgereckt zu sieghaftem Krähen; einer weißen Ziege; einer Fledermaus im Flug, mit gespreizten Flügeln; einer kriechenden Eidechse; einer Kralle, die ein Kreuz mit einem Auge im Mittelpunkt umklammerte; zickzackförmigen Blitzen und quer über der Brust drei hohläugig grinsenden menschlichen Totenschädeln. Den Symbolen gleichkommende Grabbeigaben - ein mumifizierter menschlicher Kopf, eine vertrocknete Eidechse, die Überreste eines schwarzen Hahns und anderes - waren sorgfältig rund um die Tote verteilt. „Die Leiche trägt das Gewand einer ,Mambu'", sagte Glenn Riordan. „Das ist das weibliche Gegenstück zum ,Hungan', dem Wudu-Hexer. Ich habe mich also nicht getäuscht. Zauberei — Schwarze Magie. Aber ich begreife noch immer nicht die Zusammenhänge." „Ich habe genug gesehen. Lassen Sie uns den Sarg wieder schließen,. Riordan", würgte Moynihan hervor. „Ich ertrage es nicht länger." Was immer er noch hatte sagen wollen, ging in einem Geräusch unter, das von draußen durch die halb geöffnete Tür in die Gruft tönte. Es klang wie der Laut von Schritten. Doch es waren keine menschlichen Schritte. Sie tappten näher und näher, und dann - mit einem in der Stille dieses Ortes unheimlich wirkenden Krachen - flog die Tür nach innen auf und schlug gegen die Wand. „Jesus Christus, was ist das?" keuchte Moynihan entsetzt. Eine Gestalt stand, vom Laternenschein umflackert, auf der Schwelle. Ihre Züge hatten die kalkweiße Farbe eines Toten, die Augen waren blicklos, die Hände wie tastend vorgestreckt./ Beide Männer im Inneren der Gruft erkannten das Gesicht auf den ersten Blick: Es war das Simpsons, des Mannes, der vor vierundzwanzig Stunden in der Friedhofskapelle von Worrick ermordet und ins Leichenschauhaus eingeliefert worden war. Sein Gesicht war noch mit getrocknetem, schwärzlichem Blut befleckt. Er schwankte auf seinen Beinen, wie ein
Blinder, der unsicher ist über die Richtung, die er einschlagen muß. Doch dann bewegte er sich mit unregelmäßigen, schleppenden Schritten auf die beiden Männer zu - langsam, aber unerbittlich wie das Schicksal. Seine wie Krallen gekrümmten Finger machten Greifbewegungen in der leeren Luft. Glenn Riordan packte Moynihan am Arm und zerrte ihn rückwärts aus der Reichweite der unheimlichen Gestalt. „Nehmen Sie sich in acht, Inspektor! Ein Zombie hat die Kraft von zehn Männern. Er könnte Ihnen mit einer Hand das Genick brechen." „Das - das ist Simpson", stieß der bullige Polizist hervor, den das nackte Grauen würgte. „Nein, nicht Simpson. Es ist nur sein toter Körper, von dem die Dämonen des Wudu Besitz ergriffen haben." „Ich weigere mich, das zu glauben. Und ich werde diesem Höllenspuk ein Ende bereiten", sagte Moynihan. Mit einer heftigen Bewegung machte er sich von Glenn Riordan los und zog seinen 38er Polizeirevolver. Er umspannte den Griff der Waffe mit beiden Händen, zielte und schoß, als der lebende Leichnam nur noch fünf Schritte von ihm entfernt war. Einmal, zweimal, wieder und immer wieder, krümmte er den Finger um den Abzugshahn, bis die Waffe leergeschossen war. Das Krachen der dicht aufeinander folgenden Schüsse dröhnte in der engen Gruft so laut, daß es den Männern fast die Trommelfelle sprengte. Durch den grauen Pulverrauch hindurch sahen sie, wie die schweren Bleigeschosse durch den Körper des Zombies fuhren. Jeder Treffer erschütterte den lebenden Leichnam, aber er brachte ihn nicht zum Stehen. Kein Blut rann aus den Kugellöchern in seiner Brust; nur eine schwärzliche Flüssigkeit sickerte daraus hervor. Der Zombie hatte Moynihan fast erreicht und hob beide Arme zu einem Schlag, der tödlich sein mußte. Der breitschultrige, stiernackige Polizist stand wie erstarrt da, den nutzlosen Revolver in den Händen, und sah aus weit aufgerissenen Augen dem dämonischen Wesen entgegen, das sich anschickte, ihn zu töten. Das Grauen hatte ihn gelähmt. In diesem Moment sprang Glenn Riordan zur Seite, packte die flackernde Grablaterne, die neben Lady Eleanor Morgans offenem Steinsarg stand, und schleuderte sie mit aller Kraft gegen den Zombie. Der Glaszylinder der Laterne zerbarst an der Brust der unheimlichen Gestalt, die einmal ein Mann namens Simpson gewesen war. Das brennende Kerosin spritzte umher, und im Nu stand der Zombie in hellen Flammen. Taumelnd wich er zwei, drei Schritte zurück, hob seine vom Feuer
umloderten Arme vor das Gesicht und starrte mit seinen toten, blicklosen Augen auf die Flammen. Ein grauenvoller Laut kam über seine Lippen: ein röchelnder Schrei, aus Angst und Wut gemischt. Dann drehte er sich um und wankte, schon völlig in Flammen gehüllt, durch die offene Tür aus der Gruft in den strömenden Regen und den fauchenden Wind hinaus. „Großer Gott!" hauchte Moynihan. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Revolver kaum noch halten konnte. Sein Gesicht war bleich und mit kaltem Schweiß bedeckt. Doch Glenn Riordan ließ ihm keine Zeit, in dem dumpfen Grauen zu versinken, das ihn gefangen hielt. „Rasch, helfen Sie mir, den Sarg von Lady Eleanor zu schließen!" rief er ihm zu. „Kümmern Sie sich nicht um den Zombie. Er wird irgendwo, draußen in der Nacht, zu Asche verbrennen. Feuer und fließendes Wasser ein Bach oder ein Fluß - sind die einzigen Mächte, die einen Zombie töten können. Für ihn ist es eine Gnade, denn dieser endgültige Tod erlöst ihn von den Dämonen, von denen er bisher besessen war." Sie rückten den Sargdeckel zurecht, hoben die Scherben der zersplitterten Laterne auf, verließen die Gruft und verschlossen die Tür so, wie sie sie bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten. *** „Dieser lebende Leichnam kam nicht ihret-, sondern meinetwegen, Moynihan", sagte Glenn Riordan. „Er hätte Sie zwar bedenkenlos getötet, weil Sie sich ihm in den Weg stellten, aber er war geschickt worden, um mich umzubringen. Ich stelle eine Gefahr für den Wudu-Hexer dar. Er hat das sofort erkannt und deshalb versucht, mich aus dem Weg zu räumen. Dazu bediente er sich des sichersten Mittels, das ihm zur Verfügung stand: Eines Zombiedämons." „Seit wann wußten Sie schon, daß Sie in Lebensgefahr schwebten?" fragte Moynihan, dem seine Stimme noch immer nicht recht gehorchen wollte. Die beiden Männer saßen in dem verbeulten schwarzen Austin, der durch Nacht und Regen ostwärts jagte. Glenn Riordan hatte es übernommen, den Wagen zu lenken, denn Moynihan war nicht in der Lage, das Steuer zu halten. Seine Hände zitterten noch immer so sehr, daß, er nicht einmal dazu imstande war, sich eine Zigarette anzuzünden. „Ich ahnte es von dem Augenblick an, als Lord Morgans Bruder durch seine scheinbare Ungeschicklichkeit mit dem zerbrochenen Whiskyglas etwas von meinem Blut in seine Gewalt brachte", antwortete Glenn
Riordan. „Blut übt eine magische Gewalt über die Wudu-Dämonen aus. Es zwingt sie, Menschen zu dienen. Der Hexer forme gewöhnlich eine nur wenige Zentimeter große menschenähnliche Gestalt aus Wachs oder Tonerde, die er vorher mit ein paar Blutstropfen des vorgesehenen Opfers vermischt hat. Danach beschwört er die Dämonen, einen Toten, der noch nicht lange in seinem Grab liegt, in einen Zombie - einen dieser scheußlichen lebenden Leichname - zu verwandeln. Wenn er seine Beschwörung beendet hat, sticht er eine dem Bösen geweihte Nadel durch das Herz der Wachs- oder Tonpuppe. Von diesem Augenblick an verfolgt der aus seinem Grab steigende Zombiedämon sein Opfer, bis er es getötet hat oder selbst vernichtet wird, was nur durch Feuer oder fließendes Wasser geschehen karin." „Wenn ich nicht selbst erlebt hätte, was in der Morgan-Gruft geschah, würde ich Ihnen kein Wort von all dem glauben", murmelte Moynihan. „Ich weiß, wie schwer es dem rationalen menschlichen Denken fällt, diese Dinge als Tatsachen anzuerkennen", entgegnete Glenn Riordan. ,,Doch die Welt, wie wir sie mit unseren Augen sehen und mit unseren Händen greifen können, umfaßt nicht alle existentiellen Bereiche des Daseins. Es gibt auch noch die sogenannten Grenzbereiche, in die keines Menschen Geist ungestraft eindringen darf, weil sie der Macht der Dämonen unterworfen sind. Aber die Wudu-Hexer bedienen sich ebendieser verborgenen dämonischen Kräfte. Sie verschwören ihre Seelen auf ewig dem Bösen, um - getrieben von Haß. Habgier, Neid und Mordlust - ihre dunklen, unheilvollen Ziele zu erreichen. Sie haben ja die Altäre gesehen, die für einige dieser Dämonen in der Morgan-Gruft errichtet worden sind. Moynihan. Sie sind für Damballa, Ashtar und Lazarillo bestimmt. Scheinbar ist der Wudu-Kult ein wirres, sinnloses Durch- und Nebeneinander verschiedener Religionen. Damballa zum Beispiel ist eine afrikanische Gottheit. Hinter dem Namen Ashtar verbirgt sich nichts anderes als die uralte sumerisch-babylonische Göttin Ischtar. Und Lazarillo ist in Wahrheit der der christlichen Religion entnommene und veränderte Name des vom Tod wiederauferstandenen Lazarus. Die biblische Geschichte des Lazarus ist, teuflisch verzerrt und entstellt, im Wudu-Kult zur Grundlage für die Hexerei mit den Zombiedämonen geworden. Zu diesen höllischen Geistern gesellt sich als der mächtigste und schlimmste auch noch Samedi, der Fürst der Friedhöfe und des ewigen Infernos. In seiner Gestalt verschmelzen der Tod und der Satan zu einer Einheit. Dreien dieser Dämonen bringen die Wudu-Anhänger Blutopfer dar:
Einen schwarzen Hahn für Damballa, eine weiße Ziege für Ashtar und ein noch unberührtes Mädchen, das nicht älter als zwölf Jahre sein darf, für Lazarillo. Dem größten und schrecklichsten Dämon - Samedi - aber opfern sie ihre eigenen Seelen. Sie, Moynihan, werden als rational denkender Weißer glauben, diese scheußliche Dämonenwelt sei eine Ausgeburt des fanatischen, grausamen, blutigen Aberglaubens von Schwarzafrikanern, die Bruchstücke verschiedener Religionen wirr durcheinander gemengt haben. Aber wenn dies das ganze Geheimnis des Wudu-Kults wäre, dann hätten die WuduHexer nicht eine so ungeheure Macht über Leben und Tod. Will man die Wahrheit ergründen, darf man sich nicht von der scheinbar verwirrenden Vielfalt dieser Dämonenwelt täuschen lassen. Sie ist nichts weiter als eine sehr geschickte Tarnung, hinter der sich ein einziger Wille, eine unbeschreiblich schreckliche Macht verbirgt, die sich jeder nur denkbaren arglistigen Täuschung bedient, um die Menschen in Verwirrung zu stürzen, sie blind zu machen für die Wahrheit. Diese Mächt ist das Böse an sich - Satan." Glenn Riordan verstummte. Moynihan sah ihn von der Seite her an. Es war ihm endlich gelungen, sich eine Zigarette anzuzünden. „Nach allem, was ich heute nacht erlebt habe, bin ich bereit, Ihnen auch das zu glauben", murmelte er zwischen zwei Zügen aus der Zigarette. „Aber wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gelangt?" „Überhaupt nicht", antwortete Glenn Riordan. „Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch. Es ist mir nicht gegeben, die Zusammenhänge dieser Dinge zu durchschauen. Aber meine Schwester Abigail verfügte über gewisse rätselhafte Fähigkeiten - ich habe Ihnen schon davon erzählt -, und was ich über Wudu weiß, habe ich von ihr erfahren. Sie war davon überzeugt, daß Satan dabei sei, sein Reich auf dieser Welt zu errichten. Daß das Böse immer mehr überhandnehmen und schließlich fast alle Menschen ergreifen würde, wenn nicht da und dort einzelne sich dagegen erheben, die Wurzeln des Bösen ausfindig machen und sie vernichten würden." „Ich bin kein sehr religiöser Mensch, müssen Sie wissen", sagte Moynihan. „Man kann einfach nicht sechs Tage in der Woche gegen menschliche Niedertracht, Brutalität und Verbrechen kämpfen und am siebenten Tag im Kirchenchor ,Halleluja' singen. Aber allmählich fange ich an, Ihre Geschichte zu glauben, auch wenn sie noch so verrückt klingt. Doch wenn ich damit zu meinem Vorgesetzten gehe, um einen Haftbefehl gegen die Morgan-Sippe zu erwirken, wird er mir kein Wort glauben.
Auch dann nicht, wenn ich ihm die Wudu-Altäre in der Gruft, das Gewand und die Grabbeigaben von Lady Eleanor und die verkohlten Überreste des Zombies - wenn sie im Moor überhaupt noch aufzufinden sind - zeige. Niemand wird mir glauben, daß Tote, von Dämonen besessen, aus ihren Gräbern steigen, um auf Befehl eines Wudu-Hexers zu morden. Wenn ich öffentlich ausspreche, was ich heute nacht erlebt habe, ende ich unweigerlich in einer Irrenanstalt." „Ich weiß", erwiderte Glenn Riordan. „Wahrscheinlich war es nicht recht von mir, Sie in diese Sache mit hineinzuziehen. Aber ohne Ihre Hilfe hätte ich Lady Eleanors Sarg nicht öffnen können und wäre möglicherweise nicht lebend aus der Gruft entkommen. Außerdem möchte ich, daß - sollte ein Zombiedämon mich töten - noch jemand da ist, der um die wahre Natur der Ereignisse auf Schloß Morgan weiß und meine Arbeit fortsetzen kann." Moynihan schwieg lange. Der Wagen näherte sich in rascher Fahrt dem Ortseingang von Worrick. Als er an den ersten Häusern - schmalbrüstigen Gebäuden aus roten Backsteinziegeln, über die die Lichtkegel der Scheinwerfer des Austin wie Gespenster huschten - vorbeifuhr, brach der Inspektor schließlich sein Schweigen. „Wen haben Sie im Verdacht, der Wudu-Hexer zu sein?" fragte er. Glenn Riordan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht", antwortete er wahrheitsgemäß. „Nach der Sache mit dem zerbrochenen Whiskyglas und der blutenden Schnittwunde in meiner Hand war ich eine Zeitlang sicher, daß es Lord Morgans Bruder Mördred sein müßte. Doch es könnte auch jeder andere aus der Familie sein. Um das herauszufinden, müßte man die Hintergründe der Wudu-Morde kennen, die in den letzten Wochen und Monaten in Worrick und auf Schloß Morgan geschehen sind. Ich mache mir noch immer keine Vorstellungen davon, warum meine Schwester Abigail sterben mußte. Sie muß etwas herausgefunden haben, wodurch sie für den Hexer zu einer tödlichen Bedrohung wurde, so daß er keinen anderen Ausweg sah, als sie entweder selbst zu ermorden oder von einem Zombiedämon töten zu lassen. Bisher weiß ich nur, daß Abigail auf Schloß Morgan war, um den Geist der toten Lady Eleanor zu beschwören. Aber warum sie das getan und was sie dabei erfahren hat, vermag ich nicht zu sagen." „Und es gibt keine Möglichkeit mehr, es herauszufinden", stellte Moynihan nachdrücklich fest, „denn Tote reden nicht mehr." „Offensichtlich doch, sonst hätte Lady Eleanor nicht mit ihrer eigenen
Stimme durch den Mund meiner Schwester gesprochen", entgegnete Glenn Riordan, während er den Austin vor der Polizeistation von Worrick zum Halten brachte. „Aber durch wessen Mund soll der Geist meiner Schwester sprechen?" Müde rieb er seine geschlossenen Augen mit den Fingerspitzen. Dann zog er den Zündschlüssel aus dem Schloß und hielt ihn Moynihan hin. „Ich tausche diesen Schlüssel gegen einen anderen, der zum Türschloß einer Ihrer Gefängniszellen paßt", sagte er. Als er den verständnislosen Blick des Inspektors sah, fügte er hinzu: „Der Wudu-Hexer - wer er auch sein mag - weiß zu dieser Stunde bestimmt schon, daß sein Mordanschlag auf mich fehlgeschlagen ist. Doch das wird ihn nur dazu reizen, einen weiteren Zombiedämonen auf mich zu hetzen und danach einen anderen und noch einen - bis es einem von ihnen gelingt, mich zu töten. In einem einsamen, dunklen Hotelzimmer würde ich wahrscheinlich noch in dieser, spätestens aber in der kommenden Nacht ermordet. Es gibt nur einen Ort, an dem ich möglicherweise sicher bin: Eine Gefängniszelle. Ich muß schlafen, Moynihan, denn ich habe seit zweiundsiebzig Stunden kein Auge zugetan." *** Die aufgehende Sonne vertrieb die bleigrauen Schatten der ersten Morgenstunde und hauchte rostrotes Licht über die einsame Hochmoorheide. Aus einem Gestrüpp ertönte der klagende Ruf eines Vogels, und der Wind raschelte im trockenen Gras. Es war kühl. Glenn Riordan, der an seinem am Straßenrand geparkten Mietwagen, einem silberfarbenen Humber-„Sceptre", lehnte, schlug seinen Mantelkragen hoch. Er wartete bereits eine volle Stunde, und die Zigarette, die er rauchte, war seine zwölfte und letzte, denn die Packung war leer. Ihn fror, denn er war den warmen Seewind der Karibischen Inseln gewöhnt. Trotzdem harrte er aus. Wenn es sein mußte, würde er den ganzen Tag an dieser Stelle zubringen. Dann, während er mißmutig den immer kürzer werdenden Zigarettenstummel zwischen seinen Fingern betrachtete, hörte er Hufschlag in einiger Entfernung. Und als er den Blick hob, sah er die Silhouette eines Reiters, der sein Pferd auf einem flachen Hügel, kaum hundert Schritt von der Straße entfernt, zügelte und zu ihm herüberblickte. Die aufgehende Sonne blendete Glenn Riordan, so daß er nur die dunklen Umrisse von Pferd und Reiter wahrnehmen konnte. Er wußte aber auch so,
wer dort drüben im Sattel saß. Er blieb weiter an seinen Wagen gelehnt stehen und tat einen letzten Zug aus der verglimmenden Zigarette. Gerade als er sie wegwarf, setzte der Reiter seinem Tier die Sporen an und trabte auf den geparkten Humber zu. „Haben Sie eine Panne?" fragte Lady Elizabeth Morgan. Dann erkannte sie Glenn Riordan, zügelte ihr Pferd und sagte überrascht: „Sie sind es?" „Ja. Und ich habe keine Panne. Ich warte hier schon seit einer Stunde. Inspektor Moynihan hat mir erzählt, daß Sie jeden Morgen auf Ihrem Ausritt hier vorbeikommen. Ich hielt das für eine gute Gelegenheit, ein Gespräch mit Ihnen zu führen. Allein und unbeobachtet." „Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu reden hätten." Das klang hochmütig und abweisend. Doch die blauen Augen Lady Elizabeths sagten etwas anderes. In ihnen stand der gleiche, stumme Hilferuf, der Glenn Riordan schon am Tag zuvor bei seinem Besuch auf dem Schloß aufgefallen war. „Wollen Sie nicht absitzen?" fragte er, ihren Grauschimmel am Zügel ergreifend. „Es spricht sich leichter, wenn wir beide zu Fuß sind." Sie zögerte, schwang sich dann aber doch aus dem Sattel, lockerte den Bauchgurt des Pferdes und nahm Riordan die Zügel aus der Hand. „Sie müssen Ihre Schwester sehr geliebt haben, weil Sie auf die Nachricht von ihrem Tod von Jamaica bis nach England gekommen sind", sagte sie dabei. „Das ist wahr", bestätigte er. „Wir beide, meine Schwester Abigail und ich, sind in einer Armut aufgewachsen, von der Sie, als englische Adelige, sich keine Vorstellung machen können. In unserer Kindheit und Jugend fanden wir aneinander eine Stütze, die uns davor bewahrt hat, in dem menschlichen Sumpf von Laster und Verbrechen unterzugehen, der uns von allen Seiten umgab. Ihr Tod hat mich schlimmer getroffen als der irgendeines anderen Menschen." „Und um herauszufinden, ob es wirklich nur ein Unglücksfall war, dem Ihre Schwester zum Opfer fiel, kamen Sie nach Worrick. Jetzt aber sind Sie hier, um mir Fragen zu stellen." „Und um mich zu bedanken. Bevor ich hierher fuhr, habe ich in aller Frühe noch einmal das Grab meiner Schwester besucht. Ich fand es mit frischen Blumen geschmückt vor. Vom Friedhofswärter hörte ich, daß Sie die Blumen gebracht haben, Lady Elizabeth. Weiße Blumen. Weiß ist die Farbe der Unschuld. Abigail hat weiße Blumen immer sehr geliebt." Sie verließen die Straße und schritten nebeneinander über die Moorheide, wo die feuchte Torferde unter jedem ihrer Schritte federnd
nachgab. Lady Elizabeth führte ihr Pferd am Zügel. „Ich kann nachfühlen, was Sie bei der Nachricht vom Tod Ihrer Schwester empfanden", sagte sie nach einer Weile. „Auch ich habe einen solchen Verlust erlitten, als meine Mutter starb. Sie war eine wunderschöne Frau, und ich habe sie über alles geliebt. Ich war fast noch ein Kind, als eine rätselhafte Krankheit, gegen die alle Ärzte machtlos waren, sie hinwegraffte. Lange Zeit glaubte ich, diesen Verlust niemals verwinden zu können. Und jetzt habe ich natürlich Angst, auch noch meinen Vater zu verlieren." „Ist er krank?" „Er war krank, sehr krank. Mister Riordan. Sehen Sie, einige Zeit nach dem Tod meiner Mutter traf er Eleanor, die bald darauf meine Stiefmutter wurde. Er geriet vom ersten Augenblick an in den Bann ihrer Schönheit, ihres geheimnisvollen Wesens. Als sie vor einem Jahr starb, war er so verstört, daß - nun ja, mißverstehen Sie mich nicht -, daß die Ärzte von den Anzeichen einer beginnenden Geisteskrankheit bei ihm sprachen. Er hatte Eleanor mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Sogar mehr als mich. Und sie hat seine Liebe erwidert. Das ist für niemanden verwunderlich, der meinen Vater kennt. Er ist ein liebenswürdiger Mann, und - auch das mag eine Rolle bei seiner Verbindung mit Eleanor gespielt haben - er ist sehr, sehr reich. Erst allmählich überwand er den Verlust meiner Stiefmutter. Seitdem schien sich sein Zustand zu bessern. Aber seit sein Bruder Mordred und dessen Frau Angarath in unserem Schloß wohnen, verkehrt sich sein Zustand mehr und mehr ins Schlimme. Und ich fürchte, Mister Riordan, daß Ihr Auftauchen einen ähnlich verderblichen Einfluß auf den körperlichen und geistigen Zustand meines Vaters hat Deshalb möchte ich Sie bitten, ihn in Ruhe zu lassen. Quälen Sie ihn nicht mit Ihren Fragen. Der Tod Ihrer Schwester war ein Unfall, nichts weiter als ein bedauernswerter Unglücksfall. Wollen Sie sich mit dieser Erklärung zufriedengeben?" Echte, ungekünstelte Furcht klang aus Elizabeth Morgans Worten. Glenn Riordan begriff, daß das Mädchen nicht log. Sie hatte Angst um ihren Vater und wollte nicht, daß ihm ein Leid zugefügt wurde. In diesem Augenblick fühlte er sich Elizabeth so nahe, als ob er sie in seinen Armen halten würde. Eine Unausgesprochene Vertrautheit herrschte zwischen ihnen, als würden sie einander seit undenklichen Zeiten kennen. „Wie ist Ihr Vater in Lady Eleanors Bann . . . Ich meine, wie hat er sie kennengelernt?" fragte Glenn Riordan, sich mitten im Satz rasch
verbessernd. Elizabeth Morgan schien den Fehler, den er gemacht hatte, nicht bemerkt zu haben. „Der Bruder meines Vaters besaß vor langer Zeit riesige Zuckerrohrplantagen auf einer der Karibischen Inseln", entgegnete sie. „Damals war er sehr reich. Inzwischen ist er völlig verarmt und auf die Hilfe meines Vaters angewiesen. Etwa ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter flogen mein Vater und ich in die Karibik, um meinen Onkel zu besuchen. Es ist seltsam: Wenn ich daran zurückdenke, will es mir scheinen, daß unser Besuch einen Wendepunkt im Leben meines Onkels Mordred darstellte. Aber das ist vielleicht nur Einbildung. Jedenfalls lernte mein Vater bei dieser Gelegenheit Eleanor kennen. Ich muß gestehen, daß ich verstand, warum er sich in sie verliebte. Ein seltsamer, unwiderstehlicher Zauber schien von ihr auszugehen. Aber ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle", fügte Elizabeth Morgan hinzu. „Es sind Dinge, die ich noch niemals zuvor außerhalb meiner Familie angesprochen habe. Vielleicht", fügte sie hinzu, „habe ich mit dieser Gewohnheit gebrochen, weil ich Sie bitten möchte, Ihre Nachforschungen über den Tod Ihrer Schwester einzustellen und England zu verlassen." Ihre Worte zerrissen die Vertrautheit, die während der letzten Minuten zwischen ihr und Glenn Riordan entstanden war, wie einen dünnen Schleier. Plötzlich begriff er sich als das, was er in Wirklichkeit war: ein gefährlicher Eindringling in die Welt dieses Mädchens, die nicht seine eigene Welt war. Jäh richtete sich eine unüberwindbare Schwelle zwischen ihnen auf. Zwischen ihm - dem erbarmungslosen Jäger - und ihr, der zu jeder Heimtücke fähigen Gejagten. Aber zugleich wurde Glenn Riordan mit bestürzender Eindringlichkeit bewußt, daß er dieses Mädchen liebte. Ihm war, als drehte sich ihm das Herz im Leib herum. Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, er wäre davongelaufen. Aber er war auf seinem unerbittlichen Weg schon zu weit vorangeschritten, um jetzt noch vor der Wahrheit oder seinen eigenen Gefühlen zu fliehen. Wenn es sich herausstellte, daß dieses Mädchen eine Mitschuld trug am Tod seiner Schwester, würde sie es mit ihrem Leben bezahlen müssen. Andernfalls . . . Doch an dieses „andernfalls" wagte er weder zu glauben noch darauf zu hoffen. Er wußte ja, daß das Böse von dieser Familie der Morgans ausging. Durfte er also erwarten, daß gerade dieses Mädchen unschuldig war an den Dingen, die sich ereignet hatten? „Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen, Lady Elizabeth", sagte
er mit gepreßter Stimme. „Ich würde alles - nein, beinahe alles für Sie tun. Aber ich werde England nicht verlassen, bevor ich weiß, wie meine Schwester umkam. Ich kann Ihrer Bitte nicht entsprechen, verstehen Sie? Es wäre genauso, als ob ich meine Seele verkaufen würde." „Sie empfinden also etwas für mich?" fragte sie, als würde sie von dieser Erkenntnis überrascht. Glenn Riordan wandte seinen Blick von ihr ab. „Ich kann dieses Land nicht verlassen, bevor ich meinen Auftrag ausgeführt habe", wich er ihrer Frage aus. „Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich damit sagen will. Ich bete zu Gott, daß Sie es nicht verstehen. Denn wenn das so ist, sind Sie unschuldig an den Greueln, die hier geschehen sind. Dann wissen Sie nichts von Schwarzer Magie, von Teufelsspuk, von Dämonen. Elizabeth, ich - ich . . ." Er brach ab, doch dann fügte er in hilflosem Zorn hinzu: „Wenn Sie aber mitschuldig sind am Tod meiner Schwester, dann erbarme sich Gott Ihrer armen Seele, denn von mir haben Sie keine Gnade zu erwarten." Elizabeth Morgan sah ihn aus weit aufgerissenen Augen mit einem Blick an, als hätte er ihr gerade mit der Hand ins Gesicht geschlagen. Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. In diesem Moment, als ihr Erschrecken so deutlich wurde, wäre Glenn Riordan bereit gewesen, zu beschwören, daß sie eine Mitschuld trug an den Verbrechen, die in der Umgebung von Schloß Morgan geschehen waren. Konnten diese klaren, großen Augen lügen? „Ich liebe und achte meinen Vater", erwiderte Elizabeth Morgan, und ihre Stimme nahm jenen schroffen Klang an, der gewöhnlich den Beginn einer unversöhnlichen Feindschaft ankündigt. „Wenn Sie ihm ein Leid zufügen wollen, werden Sie vorher gegen mich kämpfen müssen. Ich habe auch geglaubt, etwas für Sie empfinden zu können, Glenn Riordan. Aber das war wohl ein Irrtum. Von diesem Augenblick an bringe ich Ihnen nur ein Gefühl entgegen: Haß. Hüten Sie sich davor, Hand an meinen Vater zu legen!" Im nächsten Moment hatte sie sich in den Sattel geschwungen, setzte ihrem Grauschimmel die Sporen an und jagte in halsbrecherischem Galopp über die düstere Moorheide davon. Glenn Riordan sah ihr mit einem Ausdruck des Bedauerns nach. Dann kehrte er zu dem am Straßenrand geparkten Humber zurück. Er öffnete den Wagenschlag und ließ sich in den Fahrersitz fallen. Lange Zeit saß er, in Gedanken versunken, da. Schließlich startete er den Wagen und fuhr nach Worrick zurück. Ihm blieb keine Zeit, vergeblichen Gedanken nachzuhängen. Der Tod
saß auf seiner Spur, und er mußte sich beeilen, wenn er sein Ziel erreichen wollte, bevor die Zombiedämonen ihn einholten. Wenn das Schicksal es wollte, würde er Lady Elizabeth Morgan wieder begegnen: irgendwann, irgendwo. *** „Das Mädchen hat Angst um ihren Vater, so viel habe ich herausgefunden", sagte Glenn Riordan. „Aber eben weil sie Angst hat, schweigt sie, in dem Bestreben, ihren Vater nicht zu gefährden, über alles, was sich auf Schloß Morgan zuträgt. Dabei wäre es das einzig Vernünftige, wenn sie aussagen würde. Denn wenn sie wirklich an dem Höllenspuk beteiligt ist, schwebt sie in allergrößter Lebensgefahr. Der Wudu-Hexer muß annehmen, daß sie eine für ihn bedrohliche Zeugin seiner magischen Untaten ist. Und wir wissen ja, daß er nicht zögert, einen Menschen, der ihm gefährlich werden könnte, von seinen Zombies umbringen zu lassen." „Wenn das Mädchen unschuldig ist an dieser teuflischen Zauberei?" entgegnete Moynihan mit einem Anflug von Ironie. „Ich glaube, Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als daß sich Elizabeth Morgans Unschuld herausstellen möge. Sie haben sich in das Mädchen verliebt, Riordan. Ich möchte Sie nicht verletzen: Aber das ist ja unmöglich - ein farbiger Privatdetektiv aus Jamaica und die Tochter eines englischen Adeligen. Außerdem haben wir jetzt an wichtigere Dinge zu denken." Die beiden Männer saßen einander in Moynihans Büro in der Polizeistation von Worrick gegenüber. Glenn Riordan blickte durch das Fenster in den nebligen englischen Frühherbsttag hinaus. Ihm war klar, daß Moynihan recht hatte. Er und Elizabeth Morgan - was für ein hoffnungsloser Wunschtraum. Außerdem hatte er, abgesehen von seinem in diesem Fall vielleicht trügerischen Gefühl, noch keinerlei Beweis für die Unschuld des Mädchens. Er versuchte, jeden Gedanken an sie gewaltsam zurückzudrängen. „Ich habe noch etwas von ihr erfahren: Nämlich, daß der Bruder ihres Vaters lange Zeit auf den Karibischen Inseln gelebt hat", sagte er. „Und die Inseln sind das Ursprungsgebiet des Wudu-Kults. Es ist möglich, daß Mordred Morgan mit Wudu in Berührung gekommen ist. Das würde auf ihn als den Hexer hindeuten. Wenn er es aber wirklich sein sollte, könnte ich nicht verstehen, warum er so bettelarm geworden ist. Denn die Eingeweihten des Wudu-Kults sind gewöhnlich sehr reich und mächtig."
„Mit anderen Worten, wir sind noch keinen Schritt weiter als in der vergangenen Nacht", meinte Moynihan. „Und wir können keine Hilfe von irgendeiner Seite erwarten, weil wir nicht den Beweis für die tatsächliche Existenz dieses satanischen Spuks erbringen können." „Der Kampf gegen die Schwarze Magie und jene, die sie ausüben, ist immer ein einsamer und manchmal verzweifelter Kampf", sagte Glenn Riordan. „Weil die meisten Menschen nicht an die Existenz von Dämonen glauben - oder weil sie Angst davor haben, gegen das Böse zu kämpfen -, darf man auch nicht auf ihre Hilfe rechnen. Aber für uns kommt es jetzt darauf an, den Hexer seiner Macht über die Zombiedämonen zu berauben. Das wird ihn verwundbar machen. Gibt es in Worrick einen katholischen Geistlichen, Inspektor?" „Einen katholischen, einen presbyterianischen und einen, der der englischen Hochkirche angehört", sagte Moynihan. „Warum fragen Sie danach? Glauben Sie, daß ein Geistlicher uns helfen kann?" „In gewissem Sinn - ja. Ich werde Ihnen unterwegs erklären, was ich vorhabe", entgegnete Glenn Riordan. Er erhob sich. „Aber zunächst möchte ich meinen Revolver zurückhaben; möglicherweise werde ich ihn bald brauchen." „In der vergangenen Nacht, in der Morgan-Gruft, hatte ich nicht den Eindruck, daß eine Waffe irgend etwas gegen die Zombiedämonen auszurichten vermag", sagte Moynihan. Doch er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches, nahm den 38er Smith & Wesson heraus und reichte ihn Glenn Riordan. Dieser schob die Waffe in seine Schulterhalfter und knöpfte die graue Flanelljacke darüber zu. „Die Patronen in den Kammern des Revolvers sind für Menschen bestimmt, nicht für Geister", meinte er sehr ernst. „Gegen die lebenden Toten gibt es ein anderes Mittel, aber dazu brauchen wir einen katholischen Priester, Inspektor. Haben Sie schon einmal vom ,Rituale Romanum' gehört?" *** Der katholische Geistliche von Worrick war ein etwa fünfzigjähriger Mann, der, was sein Äußeres betraf, als ein Zwillingsbruder Moynihans hätte gelten können. Denn auch er war ein rotblonder Waliser mit hart blickenden grünen Augen. Sein Nasenbein war einmal gebrochen worden. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Clayton Connery sah nicht wie ein Mann aus, der für den geistlichen Stand geboren wurde. Er hatte etwas
von einem gewalttätigen Bergarbeiter an sich, der seine Fäuste zu gebrauchen versteht. Seine gebrochene Nase verriet aber, daß er wenigstens einmal in seinem Leben an einen Gegner geraten war, der sich als stärker erwiesen hatte. Glenn Riordan stand neben dem Weihwasserbecken nahe der Eingangstür der katholischen Kirche von Worrick und beobachtete Moynihan und den Priester, die vor einem Seitenaltar standen und sich leise unterhielten. Er wartete bereits seit einer halben Stunde, ohne ungeduldig zu werden. Denn er hatte Moynihan gebeten, dem Priester die ganze Geschichte zu erzählen. Er, Glenn Riordan, war für Connery ein Fremder, dem der Priester in einer solchen Sache wahrscheinlich keinen Glauben geschenkt hätte. Moynihan und Gonnery aber kannten einander seit Jahren. Was der Polizeiinspektor dem katholischen Geistlichen erzählte, würde dieser zumindest als mögliche Wahrheit in Betracht ziehen. Die Stille, die in der Kirche herrschte, wurde nur durch die murmelnden Stimmen der beiden Männer unterbrochen. Helles Sonnenlicht fiel durch die hohen, bunten Glasfenster herein. Die modernen Altäre mit ihren geschliffenen Steinplatten, den Tabernakeln, Kruzifixen und Kerzenständern aus dunkler Bronze vermittelten durch ihre Stärke und Wuchtigkeit einen Eindruck von der ewigen und unwandelbaren Wahrheit des christlichen Glaubens. Die Kirche erschien Glenn Riordan wie ein Bollwerk des Lichts gegen die finsteren, dämonischen Mächte jenes geheimnisvollen teuflischen Kults, den er bekämpfte. Im Sonnenschein, der durch die Fenster drang, schien sich etwas von der Erhabenheit dieses Ortes zu manifestieren. Der Wudu-Kult aber war nichts anderes als geistige und seelische Finsternis, satanische Bösartigkeit und ewige Verdammnis für alle, die sich seiner rätselhaften Macht bedienten. Glenn Riordan schreckte aus seinen Gedanken auf, als Moynihan und der Geistliche durch den Mittelgang des Kirchenschiffs auf ihn zukamen. Clayton Connerys Gesicht wirkte bleich und verkrampft. „Der Inspektor hat mir eine grauenvolle Geschichte erzählt, Mister Riordan", sagte er. „Und er hat Sie als Zeugen für die Ereignisse genannt. Es ist nicht etwa so, daß ich Frank Moynihans Aussage keinen Glauben schenke. Aber die Dinge, von denen er sprach, sind so ungeheuerlich, daß es mehr als des Zeugnisses eines einzigen Menschen bedarf, um mich zu überzeugen." „Ich kann die Aussage von Inspektor Moynihan Wort für Wort bestätigen, Sir", entgegnete Glenn Riordan. „Wenn Sie es verlangen, bin ich bereit, auf die Bibel zu schwören, daß sich die Dinge genauso
verhalten, wie Moynihan es Ihnen geschildert hat. Wir sind gekommen, Sie um einen Beistand zu bitten, den nur Sie geben können. Sie als Priester sind mit dem Übernatürlichen vertrauter als die meisten Menschen. Deshalb werden Sie mein Verlangen richtig verstehen. Sie müssen den Bann brechen, mit dem der Wudu-Hexer die Toten auf dem Friedhof von Worrick entweder schon belegt hat oder noch belegen könnte. Wollen Sie das tun, um die Ruhe der Toten zu sichern?" „Soll ich die Gräber neu weihen?" „Das genügt nicht, Sie müssen über dem Grab jedes Toten, der vor weniger als einem Jahr gestorben ist, das .Rituale Romanum' vollziehen." „Die Teufelsaustreibung, den großen Exorzismus?" Unwillkürlich fuhr Clayton Connery zurück. „Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen, Mister Riordan? Ein katholischer Priester darf das ,Rituale Romanum' in keinem Fall ohne die ausdrückliche Ermächtigung durch seinen Bischof vollziehen. Ich müßte mich dazu erst einmal mit dem bischöflichen Ordinariat in Wolverhampton in Verbindung setzen." „Dazu reicht die Zeit nicht mehr aus, die uns noch zur Verfügung steht", wandte Glenn Riordan ein. „Sie müssen das Exorzismusgebet noch heute, vor Anbruch der Dunkelheit, sprechen - und zwar über jedem Grab, das nicht älter ist als ein Jahr. Ich bitte Sie, nicht zu zögern. Wir müssen die Macht des Bösen brechen, oder sie wird ungehindert anwachsen, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu unternehmen." „Sie lassen mir keine Wahl", murmelte Clayton Connery nach einem kurzen, aber deutlichen Zögern. „Also gut, ich werde tun, was Sie von mir verlangen. Denn ich bin für die Seelen der mir anvertrauten Menschen verantwortlich: Für die der Lebenden - und ebenso für die der Toten. Ich werde den Exorzismus vollziehen. Ich habe mich noch nie vor der Erfüllung einer Pflicht gescheut." „Das glaube ich Ihnen", sagte Glenn Riordan. „Sie sehen aus wie ein Mann, der keine Furcht kennt. Brauchen Sie meine und Inspektor Moynihans Hilfe beim Vollzug des ,Rituale Romanum'?" „Nein. Es ist besser, wenn ich dabei allein zu Werke gehe. Beim Exorzismus kann mich nur Gottes Hilfe schützen." „Gut. Betrachten Sie unser Gespräch, bitte, als eine Art Beichte. Außer uns darf niemand davon erfahren." „Das Beichtgeheimnis ist unverletzlich, Mister Riordan", sagte der Priester. „Meine Lippen sind versiegelt." „Aber ich brauche Ihre Hilfe noch in einer weiteren Angelegenheit. Und sie zu gewähren, wird Ihnen vielleicht noch schwerer fallen als bei meiner
ersten Forderung", fuhr Glenn Riordan fort. „Ich will Sie nach einem Namen fragen, einem bestimmten, ganz besonderen Namen. Aus Erfahrung weiß ich, daß es Menschen gibt, die die Macht haben, die Geister der Toten zu beschwören. Ich weiß auch, daß die Namen dieser Menschen in den meisten Fällen den Priestern in ihrer Umgebung bekannt sind. Denn solche Vorgänge bleiben für gewöhnlich nicht lange verborgen. Ich bin sicher, daß es auch in dieser Gegend eine Person - wahrscheinlich eine Frau - gibt, die über solche Fähigkeiten verfügt. Sie, Sir, mögen das für eine Art Dämonenspuk halten. Aber ich weiß, daß diese Dinge dennoch auf Wahrheit beruhen. Deshalb möchte ich einen Menschen, der über solche Fähigkeiten gebietet, aufsuchen und mit ihm sprechen. Denn ich habe ein paar Fragen zu stellen, die mir niemand sonst beantworten kann." Clayton Connery rieb sich das Kinn. Es war ihm anzusehen, daß es ihm nicht leichtfiel, dieser Bitte Glenn Riordans zu entsprechen. Riordan, der den Schweigezwang kannte, dem katholische Geistliche unterworfen sind, wußte, in welchen Gewissenskonflikt er Connery durch seine Frage stürzte. Da für ihn aber allzu viel von der Antwort des Priesters abhing, hatte er sein Anliegen vorbringen müssen. „Ich weiß sehr wohl, daß auch in der Bibel - im achtundzwanzigsten Kapitel des Buchs der Könige - die Rede von einer Totenbeschwörung ist", sagte Connery endlich. „Aber Saul, der die Hexe von Endor zwang, den Geist eines Verstorbenen herbeizurufen, wurde von Gott für seine Vermessenheit bestraft." „Ich kenne diese Bibelstelle", entgegnete Glenn Riordan. „Aber in unserem Fall geht es nicht darum, einen persönlichen Vorteil durch eine Geisterbeschwörung zu erlangen, wie es in der Bibel geschildert ist. Es handelt sich vielmehr darum, das Böse zu vernichten. Wollen Sie mir also den Namen, den ich von Ihnen wissen will, nennen?" Noch immer zögerte Connery; doch dann schien er plötzlich einen Entschluß zu fassen. „Wenn Sie Worrick in östlicher Richtung verlassen", sagte er, „werden Sie nach einer halbstündigen Autofahrt abseits der Straße ein halb verfallenes Haus - eine Hütte eigentlich - sehen, das von einem alten Weib bewohnt wird. Sie heißt Samantha Putli. Die Leute aus der Umgebung meiden sie, weil sie überall als Hexe gilt. Ich weiß aber, daß sie über echte, übersinnliche Fähigkeiten verfügt. Vielleicht kann sie Ihnen weiterhelfen, Mister Riordan. Ich selbst würde Samantha Putli allerdings nicht aufsuchen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre.
Bei einer Totenbeschwörung sind immer dunkle Mächte im Spiel." Wenige Minuten später jagten Glenn Riordan und Moynihan in dem silberfarbenen Humber über die Straße, die von Worrick nach Osten führte. Währenddessen kniete Clayton Connery vor dem Hauptaltar seiner Kirche und betete, um sich auf das „Rituale Romanum", die Austreibung der Dämonen, vorzubereiten. *** Man konnte das Haus von der Straße aus sehen. Wie Pater Connery gesagt hatte, glich es einer baufälligen Hütte. Ein schmaler Fahrdamm zweigte von der Landstraße ab und führte im Schatten von Moorweiden auf das Haus zu. Das Dach des Gebäudes war nicht mit Ziegeln oder Schieferplatten, wie sonst in dieser Gegend üblich, sondern mit Reet gedeckt. Die Mauern waren feucht und schmutzig, die Fenster klein, mit halb erblindeten Scheiben. Als sich der Wagen mit den beiden Männern der armseligen Behausung näherte, sprang ein großer, zottiger schwarzer Hund knurrend aus seiner Hütte hervor, zerrte an der langen Eisenkette, an die er gelegt war, und brach in ein wütendes Geheul aus. Wäre der Hund nicht gewesen, hätte das Haus einen vollkommen unbewohnten Eindruck gemacht. Glenn Riordan brachte den Humber-„Sceptre" in einiger Entfernung vom Haus zu Stehen, machte aber keine Anstalten auszusteigen, sondern zündete sich eine Zigarette an. „Was ist los? Worauf warten Sie?" fragte Moynihan ungeduldig. „Darauf, daß die Alte von allein aus ihrem Bau hervorkommt", antwortete Glenn Riordan. „Wenn man etwas von Leuten ihrer Art will, darf man sie nicht bedrängen. Sie muß sich erst darüber klar werden, aus welchem Grund wir sie aufsuchen." „Sie glauben, sie wird durch irgendeinen Trick unsere Namen erraten?" „Nicht durch einen Trick, Inspektor. Die geistigen, für andere Menschen unerklärlichen Fähigkeiten solcher Leute reichen meist sehr weit. Ich bin sicher, wenn die Alte erst über die Türschwelle tritt, weiß sie genau, wer wir sind und was wir von ihr wollen." „Und wenn sie sich nicht blicken läßt?" wollte Moynihan wissen. „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als nach Worrick zurückzukehren. Niemand vermag Menschen, die Totengeister beschwören können, gegen ihren Willen zu einer Aussage zu zwingen. Das heißt: Man kann es natürlich versuchen, ist dann aber nicht sicher, ob sie
die Wahrheit gesagt haben." „Woher wußten Sie, daß es diese alte Hexe hier gibt, Riordan? Ich habe mein halbes Leben in Worrick zugebracht und wußte trotzdem nichts von ihr." „Menschen wie Samantha Putli gibt es überall auf der Welt, bei den primitiven Völkern ebenso wie bei den zivilisierten", sagte Glenn Riordan. „Aber sie führen zumeist ein geheimes, verborgenes Leben - denn sie tragen an ihren übersinnlichen Fähigkeiten wie an einer schweren Last, weil diese sie von den übrigen, normalen Menschen unterscheiden -, und es ist manchmal sehr schwer, an sie heranzukommen. Meine Frage an Pater Connery war nur ein Versuch, der Erfolg muß als Glückstreffer bezeichnet werden." „Und was wollen Sie von der Alten?" „Das werden Sie erfahren, wenn es soweit ist, Moynihan. Achtung, ich glaube, sie kommt heraus." Die Tür des baufälligen Hauses hatte sich geöffnet. Vor der Dunkelheit jenseits der Schwelle zeichnete sich eine Gestalt ab. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bevor eine alte, gekrümmt gehende Frau ins Sonnenlicht heraustrat. Augenblicklich verstummte der Hund. Sie näherte sich dem Auto mit schwerfälligen Schritten, aber ohne Zuhilfenahme eines Stocks. Glenn Riordan öffnete den Wagenschlag und stieg aus, Moynihan tat dasselbe auf der anderen Seite des silberfarbenen Humbers. Das Gesicht der Alten glich einem vertrockneten, runzligen Apfel. Doch ihre blaßgrünen Augen, in denen winzige goldene Einsprengsel im Sonnenlicht leuchteten, waren mit festem, forschendem Blick auf Glenn Riordan gerichtet. Trotz ihrer armseligen, abgerissenen Kleidung und ihres strähnigen grauen Haares machte sie keinen gedrückten oder gar gebrochenen Eindruck. „Ich weiß, weshalb du gekommen bist, Glenn Riordan", sagte sie mit greisenhaft zitternder Stimme. Und obwohl er ihr zum erstenmal in seinem Leben begegnete, fühlte der farbige Privatdetektiv aus Jamaica sogleich eine seltsame Vertrautheit gegenüber der Alten. ,,Aber es ist kein Geringes, um das du mich bitten willst", fuhr sie fort. „Die satanischen, dämonischen Kräfte, gegen die du kämpfst, sind stark, mächtig, fast unüberwindlich." „Was verlangst du von mir, wenn du tust, was ich von dir erwarte?" „Kein Geld. Keinen Lohn. Aber ich will, daß du dich durch nichts und niemanden von deinem einmal gewählten Weg abbringen läßt. Denn sonst wäre alles, was ich für dich tun kann, vergebens. Ich weiß von den bösen
Dingen, die in dieser Gegend geschehen sind und noch immer geschehen. Aber meine Kraft reicht nicht aus, um dagegen anzukämpfen. Satans Macht ist noch ungebrochen. Aber die Hilfe des Priesters, um die du gebeten hast, wird dir beim Kampf gegen die Dämonen, deren Gewalt durch Schwarze Magie entfesselt wurde, nichts nützen. Nur du selbst kannst den Samen des Bösen vernichten." „Du weißt also von meinem Gespräch mit Pater Connery? Sag mir: Wird das ,Rituale Romanum' erfolglos bleiben? Wird der Exorzismus die Zombiedämonen nicht bannen?" fragte Glenn Riordan. „Wenn du deinen eigenen Acker vom Unkraut befreien willst, zündest du dann ein Feld an, das meilenweit von dem deinen entfernt ist?" entgegnete die Alte dunkel und sibyllisch. Bevor Glenn Riordan sie fragen konnte, was sie mit diesem Ausspruch sagen wollte, nahm sie ihn beim Arm und führte ihn in das verfallene Haus. Moynihan folgte den beiden in einigem Abstand. Seine rechte Hand befand sich dabei unter seiner Jacke, wo der Revolver in der Schulterhalfter steckte. Er war voll Mißtrauen gegenüber allem, was sich nun ereignen sollte. Sie betraten das Haus. Es war spärlich eingerichtet. Ein Kamin, ein Tisch, mehrere Stühle, ein Schrank und ein Bett waren die einzigen Möbelstücke. In der Mitte des Raumes war ein Loch in den Boden gebrochen, das durch das Fundament, auf dem das Gebäude errichtet war, bis in den Erdboden hinabreichte. „Setz dich, Mann von den Inseln!" sagte das alte Weib. Sie deutete aber nicht auf einen Stuhl, sondern auf einen Platz auf dem Fußboden nahe der Grube in der Mitte des Raumes. Moynihan blieb neben der Tür stehen, da er nicht aufgefordert worden war, sich zu setzen. Glenn Riordan nahm seinen Hut ab und ließ sich auf dem Boden nieder. Da in dem Raum graues Zwielicht herrschte, sah er erst jetzt, daß rund um das Loch im Fußboden mit Kreide ein Kreis gezogen war, der ein Pentagramm, einen fünfzackigen Stern, auch Drudenfuß genannt, umschloß. Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Zacken waren reihum mit geheimnisvollen, an althebräische Schriften erinnernde Zeichen angefüllt, deren Sinn Glenn Riordan nicht zu erraten vermochte. Samantha Putli brachte mehrere Tonkrüge herbei, dazu einen hölzernen Käfig, in den ein lebender Hahn gesperrt war. Daneben legte sie ein scharfgeschliffenes Messer. Dann setzte sie sich, Glenn Riordan gegenüber, auf den Boden und sah den Mann mit ernstem Gesichtsausdruck an.
„Was ich jetzt zu tun im Begriff bin, Fremder von den Inseln", sagte sie, „kann dir zur Hilfe, es kann dir aber auch zum Verderben gereichen. Bist du sicher, daß du das Wagnis eingehen willst?" „Ja", antwortete Glenn Riordan. „Dann mag geschehen, was du willst", entgegnete die Alte. Und sie stellte eine Frage, die Riordan sowohl von seiner Schwester gehört als auch in der Bibel gelesen hatte: „Wen soll ich dir aus dem Reich der Toten rufen? Einen Geist, der sagte: ,Wer ist der Herr?' Oder einen, der gesagt hat: ,Wer ist wie du, o Herr?'" Dieselbe Frage hatte, nach dem Bibeltext, die Hexe von Endor gestellt, ehe sie den Geist eines Toten beschwor. Ihr verborgener Sinn ging dahin, von dem Antwortsuchenden zu erforschen: glaubte er an Gott oder nicht? Glenn Riordan wußte, wenn er geantwortet hätte: Rufe mir den, der gesagt hat: „Wer ist der Herr?", dann hätte Samantha Putli kein Wort mehr mit ihm gewechselt, sondern ihn aus ihrem Haus gewiesen, weil das bedeutet hätte, daß er ein Ungläubiger war, der keinen Gott über sich anerkennen wollte. Deshalb sagte er: „Rufe mir eine herbei, die gesagt hat: ,Wer ist wie du, o Herr?' Rufe meine Schwester Abigail herbei, Weib!" Und als sie zögerte, fügte er hinzu: „Tu, was nur einem Weib, aus eines Weibes Schoß geboren, zu vollbringen gegeben ist!" Da öffnete Samantha Putli einen Tonkrug nach dem anderen, um etwas von ihrem Inhalt in das Loch im Erdreich zu schütten. Zuerst Honig, dann Milch, darauf Wein, schließlich Wasser und endlich gemahlene Gerste. Dann holte sie den Hahn aus seinem Käfig, griff zum Messer und schlug dem Tier mit einem Hieb den Kopf ab. Den zuckenden, flügelschlagenden Körper hielt sie an den Beinen hoch und ließ das schwärzliche Blut in die Grube rinnen. Wie gebannt verfolgte Glenn Riordan jede ihrer Bewegungen. Ein einziger falscher Handgriff hätte sie in seinen Augen als Betrügerin bloßgestellt. Aber sie machte nicht eine verräterische, entlarvende Geste. Nachdem sie den Hahn beiseite geworfen hatte, schloß sie die Augen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann, vor sich hinzumurmeln. Nach einer Weile ließ sie ihre Hände wieder sinken. Doch nun schien es so, als sei nicht sie selbst es, die die folgenden Bewegungen ausführte. Ihre Augen standen offen, aber sie waren blicklos. Ihr Atem ging schnell und flach, wie bei einem Menschen, dem das Fieber die Besinnung geraubt hat. So saß sie minutenlang; dann öffnete sich ihr Mund, weil ihr Unterkiefer ruckartig herabfiel.
„Glenn! Glenn!" sagte eine Stimme aus ihrer Kehle, die nicht ihre Stimme war. Bei ihrem Klang rann ein eisiger Schauer über Riordans Rücken. Denn die Stimme, die jetzt zu ihm sprach, war die seiner Schwester Abigail. Samantha Putlis Lippen bewegten sich nicht; es war, als spräche jemand, der hinter ihr stand, durch ihren Mund. Doch es war kein Trick, kein Betrug, kein Bauchreden. Glenn Riordan kannte die Stimme seiner Schwester zu gut, um auf einen Schwindel hereinzufallen. Und er hatte schon genug Totenbeschwörungen erlebt, um zu wissen, daß er schnell und präzise sprechen mußte, um verstanden zu werden und Antworten auf seine Fragen zu erhalten. „Ja, ich bin es, Abigail", sagte er. „Ich, dein Bruder. Ist dir klar, daß du tot bist und dich im Jenseits befindest? Wenn du das weißt, dann sage mir, wer dich getötet hat und warum." „Glenn", drang die fremde und doch so bekannte und vertraute Stimme über Samantha Putlis Lippen, „hast du mich noch nicht vergessen? Denkst du noch an mich? Liebst du mich noch?" Aus vielen Geisterbeschwörungen wußte Glenn Riordan. daß die Frage nach der andauernden Liebe, den Gedanken, der Erinnerung der Lebenden an einen verstorbenen Menschen für dessen Seele - oder Geist - von einer Wichtigkeit war, die ein Sterblicher kaum ermessen konnte. Wurde diese Frage verneint - mit Worten, oder auch nur mit unausgesprochenen Gedanken -, dann zog sich die Seele des beschworenen Toten augenblicklich zurück. So, wie ein Mensch seine Hand zurückgezogen hätte, nachdem er ein glühendes Eisen berührte. „Du weißt, daß ich noch immer an dich denke, dich noch immer liebe", antwortete er. Seine Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen, wenn er sich seine Schwester als körperlosen Schatten dachte. Abigail, die so schön gewesen war, mit einer Haut wie dunkles Ebenholz, mit großen, unergründlichen Augen . . . „Ich fühle, daß du die Wahrheit sagst", erwiderte die Stimme seiner Schwester durch Samantha Putlis Mund. „Glenn, o Glenn, es ist so dunkel, wo ich bin. Das Licht ist so fern. Zünde eine Kerze in der Kirche an für mich! Vergiß mich nicht! Du darfst mich nicht vergessen! Die Erinnerung der Lebenden gibt den Toten Kraft auf ihrem mühsamen Weg zur Erlösung. Der mich getötet hat, ist - das Böse - das Reich des Bösen auf der Welt." Die Stimme Abigail Riordans wurde undeutlich stockend, wirr. „Er will Satan - Satan den Zutritt zur Welt - ermöglichen. Ich sehe sein Gesicht, sein schreckliches Gesicht. Er - er hat seine Seele dem Bösen
verschworen. Aber - aber er ist nicht allein. Ich kann nicht weitersprechen. Der Dämon des Bösen, er hindert mich - er ist mächtig, so mächtig. Glenn! Glenn! Das Böse, es kommt wie eine Sturzflut über die Welt. Ich habe dagegen angekämpft, aber ich war zu schwach. Vollbringe du, was ich zu tun nicht imstande war. Du mußt ihn aufhalten - aufhalten - aufhalten. Sein Name - sein Name - sein Name . . ." Die Stimme erlosch wie eine Kerzenflamme, die vom Wind ausgeblasen wurde. Dann herrschte Stille. Samantha Putlis Kopf fiel vornüber, so daß ihr Kinn auf der Brust zu liegen kam. Schlaff, mit geöffneten Fingern, sanken ihre Hände zu Boden. Glenn Riordan hatte das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen, als die Stimme verstummt war. Die Verbindung zwischen ihm und Abigails Geist war abgerissen. Ein unsagbares Gefühl der Traurigkeit erfüllte ihn. Tränen traten in seine Augen. Er kam sich einsam und verlassen vor. Nach geraumer Zeit blickte er auf und sah, daß Samantha Putli noch immer regungslos, in sich zusammengesunken dasaß. Da stand er auf, trat zu ihr, ergriff sie mit einer Hand an der Schulter und rüttelte sie sacht. Sie schreckte auf wie ein Mensch, der aus tiefem Schlaf hochfährt. Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Im Augenblick des Erwachens aus ihrem trancehaften Zustand schien sie nicht zu wissen, wo sie sich befand. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie schließlich ihre Umgebung und Glenn Riordan wiedererkannte. „Konnte ich dir helfen?" fragte sie und erhob sich mühsam. „Du mußt wissen, ich habe nur eine verschwommene Erinnerung an das, was geschah, nachdem der Geist deiner toten. Schwester von mir Besitz ergriff. Was hat sie durch meinen Mund gesprochen?" „Es waren meistens nur Bruchstücke von Sätzen, Wortfetzen", antwortete Glenn Riordan. „Sie redete davon, daß ein böser Dämon sie am Sprechen hinderte." „Das ist wahr. Ich habe seine teuflische Macht gespürt", sagte die Alte schaudernd. „Er versuchte mit allen Mitteln, den Geist deiner Schwester zum Schweigen zu bringen, und schließlich gelang es ihm auch. Ich nahm ihn wahr wie einen kalten, finsteren Schatten." „Außerdem hat sie von dem schrecklichen Gesicht des Menschen gesprochen, der mit Hilfe des Wudu-Kults das Reich des Bösen auf der Welt errichten will. Sie wollte mir seinen Namen nennen, verstummte aber ganz plötzlich. Hast du sein Gesicht wahrgenommen, während du dich in Trance befandest?" „Ich habe nur abgrundtiefe Bösartigkeit gespürt, als deine Schwester von
jenem Menschen sprach", antwortete Samantha Putli. „Du mußt wissen, Glenn Riordan, daß die Geister der Toten die Dinge nicht so sehen wie wir Lebenden. Was deine Schwester als das Gesicht jenes verfluchten Menschen bezeichnete, war nicht dasselbe, was wir unter diesem Begriff verstehen. Sie sprach vom Anblick seiner Seele - und dieser Anblick scheint schrecklich für sie gewesen zu sein." Da die alte Frau einen erschöpften Eindruck machte, wollte Glenn Riordan nicht länger in sie dringen. Das war um so weniger notwendig, als ihm die Stimme seiner Schwester alle Befürchtungen bestätigt hatte, die er hegte. Nur den Namen des Menschen, von dem all das Böse ausging, was sich in Worrick und Umgebung ereignet hatte, vermochte sie ihm nicht zu nennen. Doch darüber konnte ihm sicherlich auch Samantha Putli, mochte er sie noch so eindringlich befragen, keinen Aufschluß geben. „Ich danke dir", sagte er darum zu der Alten. „Beantworte mir nur noch eine Frage: Du hast anfangs behauptet, die Hilfe Pater Connerys würde mir nichts nützen. Und ein Mann, der seinen eigenen Acker vom Unkraut befreien wollte,, würde nichts dadurch erreichen, daß er das Feld seines Nachbarn in Brand steckte. Was hast du damit gemeint?" „Ich weiß selbst nicht genau, was dieser Ausspruch zu bedeuten hat", entgegnete das Weib. „Er kam mir einfach in den Sinn. Mir gehen manchmal Gedanken durch den Kopf, deren Bedeutung ich selbst nicht erraten kann. Aber wenn die Zeit gekommen ist, wirst du den Sinn hinter meinen Worten klar erkennen. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät für dich." Unvermittelt nahm sie Glenn Riordan beim Arm und drängte ihn auf die Tür zu. Moynihan, der während der ganzen Zeit, die sie in dem alten, baufälligen Haus zugebracht hatten, kein Wort gesprochen hatte, folgte ihnen über die Schwelle in den Hof. Samantha Putli blieb neben dem Wagen stehen, nachdem die beiden Männer schon eingestiegen waren. Glenn Riordan drehte das Seitenfenster herunter, weil er erkannte, daß die Alte ihm noch etwas sagen wollte. Sie ergriff seine Rechte mit ihren beiden Händen. „Ich ahnte von Anfang an, weshalb du zu mir kamst", sagte sie. „Mir war auch klar, daß ich mich in Gefahr, in schreckliche Gefahr begab, wenn ich dir half. Denn die Macht des Bösen, die Gewalt Satans, ist groß. Sie wird nur durch die Macht Gottes übertroffen. Wir Menschen aber sind schwache Wesen und spielen mit unserem eigenen Verderben, wenn wir die Wege jener Mächte zu ergründen versuchen, die unser Schicksal bestimmen. Doch ich hatte einen guten Grund, dir zu helfen, Glenn Rior-
dan. Dir zu helfen, ungeachtet aller Gefahren. Du sollst wissen, daß Samuel Tyler, den der Hexer zu seinem seelenlosen, dämonischen Werkzeug machte, mein Sohn war. Er hatte einen anderen Namen angenommen, weil er sich meiner schämte. Denn ich gelte in dieser Gegend als Hexe, und die meisten Menschen weichen mir aus, wenn sie mir begegnen. Ich aber hatte nicht aufgehört, ihn zu lieben. Er war ja mein Sohn - Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut. Doch ich konnte ihm nicht helfen, ihn nicht vor dem Verderben bewahren. Er verließ mich, ging seinen eigenen Weg und kam um. Von seinem Geist weiß ich, daß du ihm den Frieden geschenkt hast, indem du ein geweihtes Kreuz in seinem Grab verscharrt hast. Deshalb habe ich dir geholfen. Ich will, daß du seinen Tod und die Qualen, die er danach durch die Schwarze Magie des Hexers erlitten hat, an ihrem Urheber rächst. Das Blut dessen, der meines Sohnes Blut vergossen hat, soll auf die Erde rinnen." Tränen glänzten in den Augen der alten Frau. „Ich habe immer gehofft, daß mein Sohn eines Tages zu mir zurückkehrt", fügte sie hinzu. „Aber ich mußte meine Hoffnung begraben durch die Schuld des Menschen, der das Leben meines Sohnes ausgelöscht hat. Doch du wirst es sein, der das Dasein des Hexers zum Erlöschen bringt." Sie wandte sich rasch ab und humpelte zum Haus zurück. Glenn Riordan ließ den Motor an, fuhr über den schmalen, ungepflasterten Weg zurück auf die Landstraße und lenkte den Wagen in Richtung Worrick. Inspektor Moynihan zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz aus dem Fenster. „Glauben Sie wirklich an das zauberische Gebaren der Alten, Riordan?" fragte er. „Die Stimme, mit der sie in scheinbarer Trance sprach, muß nicht unbedingt die Ihrer toten Schwester gewesen sein. Bauchreden oder Hypnose könnten diesen Eindruck vermittelt haben." Glenn Riordan brachte den Wagen auf Höchstgeschwindigkeit. Die Reifen summten über den glatten Asphalt. Ohne den Blick von der Straße zu wenden, antwortete er: „Ich kenne die Stimme meiner Schwester, nicht nur ihren Tonfall, sondern auch ihre Ausdrucksweise. Ich hege keinen Zweifel daran, daß es Abigail war, mit der ich sprach. Außerdem kenne ich das Ritual, nach dem die Alte verfahren ist. Man benützt es seit Jahrtausenden, um die Geister der Toten anzulocken. Sie brauchen nur den elften Gesang von Homers ,Odyssee' zu lesen, Inspektor. Dort finden Sie diese Riten bis in die kleinste Einzelheit beschrieben." „Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen. Aber mir ist doch klar
geworden, daß Sie im Verlauf der Totenbeschwörung nichts herausgefunden haben, mit dem wir etwas anfangen könnten." „Im Gegenteil, Inspektor. Mit einer einzigen Ausnahme - nämlich dem Namen des Hexers - habe ich alle meine Annahmen und Befürchtungen durch die Stimme meiner Schwester bestätigt gefunden. Ein noch unbekannter Mensch versucht, das Reich des Bösen auf der Welt zu errichten. Und Abigail hat die Spur dieses Mannes - vielleicht ist es auch eine Frau - bis nach England, in das Städtchen Worrick, verfolgt." „Hören Sie, Morgan", warf Moynihan ein, „ich bin zwar bereit, Ihnen zu glauben. Und es gibt auch noch Gesetze gegen Hexerei und Schwarze Magie in England, die aus dem Mittelalter stammen und niemals abgeschafft wurden, also noch heute gültig sind. Aber Sie werden keinen Richter in Großbritannien finden, der bereit wäre, Ihnen Glauben zu schenken und diese alten Gesetze zur Anwendung zu bringen." „Was jetzt noch zu tun ist, Moynihan", entgegnete Glenn Riordan, „müssen wir vier tun: Sie, Pater Connery, Samantha Putli und ich. Wir haben von anderen Menschen wirklich keine Hilfe zu erwarten. Natürlich würde uns jeder, der nicht gesehen und gehört hat, was wir sahen und hörten, für verrückt erklären. Die meisten Menschen haben eine abergläubische Scheu davor, sich mit unerklärlichen, dämonischen Dingen zu beschäftigen. Sie wenden einfach den Blick ab, wenn sie ihnen begegnen. Wir aber, die wir wissen, worum es geht, müssen auf eigene Faust weiterkämpfen. Wir müssen den Samen des Bösen vernichten oder . . ." „ . . . oder den Versuch mit unserem Leben bezahlen", vollendete Moynihan Glenn Riordans Satz. „Ja." „Und wie wollen Sie diesen aussichtslosen Kampf gewinnen?" „Das will ich Ihnen erklären, Inspektor. Wir werden folgendes tun. Hören Sie zu . . ." *** Die Raben krächzten rauh, mißtönend. Sie verhielten sich an diesem Morgen, als wäre ein Rudel Wölfe unter sie gefahren. Unruhig, mit schwerfälligen Flügelschlägen, kreisten sie zu Tausenden und Abertausenden - wie ein riesiger Schwarm von Fledermäusen - über den Tümpeln und Wasserläufen, den Ebenen und Hügeln voll Moos und Heidekraut und über den Wipfeln der dunkelstämmigen Mooreichen und weiden. Ihr Geschrei erfüllte die Luft wie die Klage verdammter Seelen im
Fegefeuer: „Raaab! Raaab! Raaab!" Es war am Morgen des auf die Totenbeschwörung folgenden Tages, kurz nach Sonnenaufgang, und Glenn Riordan wartete an derselben Stelle der Landstraße auf Lady Elizabeth Morgan, an der er vor vierundzwanzig Stunden schon einmal gestanden hatte. Er beobachtete die Vögel. Sie waren ihm unheimlich. Die schwarze, kreischende Masse von Flügeln, Schnäbeln und Klauen, die unter dem dunstverhangenen Himmel, im Licht der fahlgelben Sonne, kreiste, erschien ihm wie ein vielgestaltiger Bote kommenden Unheils. Er lehnte an dem Humber, der am Straßenrand geparkt war, und warf ein Streichholz weg, mit dem er sich eine neue Zigarette angezündet hatte. Er war. sich nicht klar über die Beweggründe, die ihn dazu veranlaßt hatten, abermals diese Stelle auszusuchen. War es nur sein Wunsch gewesen, Lady Elizabeth Morgan wiederzusehen? Oder hatte ihn jene geheimnisvolle, innere Stimme dazu gezwungen, die er schon mehrmals in seinem Leben gehört hatte, wenn es darum ging, eine wichtige Entscheidung zu fällen? Er verfügte nicht über die unerklärlichen, übersinnlichen Fähigkeiten seiner Schwester. Und doch war ihm manchmal, als berührte eine intuitive Erkenntnis, die sich erst viel später als wahr herausstellte, den Saum seines Bewußtseins. Manchmal flüsterte sie ihm eine Warnung, manchmal eine bedrohliche Mahnung zu. Aber nur selten brachte sie ihm eine gute Nachricht. Eine düstere Ahnung hatte ihn überkommen, als er bei Sonnenaufgang die Gefängniszelle verließ, in der er geschlafen hatte. Und da er sich die halbe Nacht über mit Gedanken an Elizabeth Morgan beschäftigt hatte, war er, ohne Inspektor Moynihan Bescheid zu sagen, in den silberfarbenen Humber gestiegen und zu der Stelle gefahren, wo er dem Mädchen beim letztenmal begegnet war. Plötzlich hörte er durch das rauhe Geschrei der Raben den raschen, prasselnden Hufschlag eines galoppierenden Pferdes. Gleich darauf tauchte Elizabeth Morgan unweit der Stelle, an der sie am Tag zuvor erschienen war, auf einem der im Westen gelegenen Hügel auf. Doch diesmal zügelte sie ihren Wallach nicht, als sie Glenn Riordans ansichtig wurde, sondern jagte auf schäumendem Pferd den Abhang herunter, auf die Straße zu, und brachte den Grauschimmel mit einer gewagten Parade, bei der das Tier in die Hinterbeine knickte, vor dem Humber-„Sceptre" zum Stehen. Sie schwang sich aus dem Sattel und gab dem Tier die Zügel frei, ließ es einfach laufen. Da ahnte Glenn Riordan, daß sich etwas von Bedeutung ereignet haben mußte.
„Ich habe so sehr gehofft, daß Sie hier sein würden, wenn ich käme", sagte Elizabeth Morgan. „Ich muß mit Ihnen sprechen, muß unbedingt mit einem Menschen über das reden, was ich erlebt habe. Aber ich will mich nicht an Pater Connery um Hilfe wenden. Lieber spreche ich mit Ihnen, Mister Riordan." Furcht und Entsetzen, wie sie einen Menschen nur angesichts schrecklicher Geschehnisse überkommen, sprachen aus ihren großen blauen Augen. Glenn Riordan warf die eben erst angezündete Zigarette weg. „Wollen wir uns in den Wagen setzen?" fragte er. „Nein. Lassen Sie uns zu Fuß irgendwohin gehen. Es wäre mir unmöglich, jetzt stillzusitzen. Ich bin vollkommen außer mir." „Ich kann mir denken, was Sie mir zu sagen haben", entgegnete Glenn Riordan. „Gut, gehen wir also über die Heide." „Gestern war ich wütend auf Sie, zornig über das, was Sie gesagt haben", begann Elizabeth Morgan unvermittelt, als sie nebeneinander durch das herbstlich blühende Heidekraut schritten. „Aber da wußte ich noch nicht, daß Sie mit allen Ihren Annahmen recht hatten. Ich ahnte es zwar, hatte aber keine Gewißheit. Und deshalb wollte ich die Wahrheit nicht erkennen, sondern schob sie von mir. Ich verschloß meine Augen vor dem, was ich zuvor erlebt und mitangesehen hatte. Jetzt aber", fügte sie düster hinzu, „weiß ich es besser. Mir ist inzwischen klar geworden, daß der Tod Ihrer Schwester kein Unglücksfall war. Aber damit nicht genug: Es geschehen Dinge auf Schloß Morgan, die für wahr zu halten mein Verstand sich bisher gesträubt hat. Und zum erstenmal" - sie zögerte, weiterzusprechen - „zum erstenmal habe ich die Gewißheit erhalten, daß mein Vater in diese Vorgänge verstrickt ist. Ich liebe meinen Vater sehr, und ich habe Angst um ihn. Jetzt mehr als jemals zuvor. Ich fürchte, er fängt unter dem unheilvollen Einfluß seines Bruders und dessen Frau an, den Verstand zu verlieren. In Anbetracht unseres gestrigen Streits werden Sie vielleicht erstaunt sein, daß ich mit meinen Ängsten und Sorgen gerade zu Ihnen komme. Aber ich habe keinen anderen Menschen, mit dem ich über diese Dinge reden könnte. Von dem ich Hilfe zu erwarten hätte. Zu Ihnen aber habe ich merkwürdigerweise Vertrauen. Glenn, ich muß über das, was ich erlebt habe, sprechen, oder ich fange am Ende noch selbst an, den Verstand zu verlieren. Es ist alles so entsetzlich, wie ein böser Traum." „Erzählen Sie! Wenn ich kann, werde ich Ihnen helfen", sagte Glenn Riordan. Noch immer tönten die krächzenden Schreie der Raben in seinen
Ohren. Die schwarzen Vögel kreisten über ihm und Elizabeth Morgan, als ob sie sie auf ihrem Weg begleiten wollten. Von der fahlen Morgensonne ins Übergroße, Groteske verzerrt, torkelten ihre Schatten während des aufgeregten Fliegens über die herbstlich gefärbten Eichen- und Weidenwipfel. „Ich wurde am vergangenen Abend zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen meinem Vater und Mordred", begann das Mädchen. „Als ich an meines Vaters Schlafzimmer vorbeikam, stand die Tür einen Spaltbreit offen. Ich hörte Stimmen und blieb lauschend stehen. Ein Streit schien im Gang zu sein: mein Vater und Mordred sprachen erregt aufeinander ein. Noch niemals zuvor in meinem Leben hatte ich ein solches Gespräch belauscht. Unter anderem war davon die Rede, Ihre Schwester sei keinem Unglücksfall zum Opfer gefallen, sondern sei aus dem Weg geräumt worden, weil sie zuviel wußte. Aber noch grauenvoller als diese Untat selbst erschien mir der Grund für den Mord, den ich aus einzelnen Wort- und Satzfetzen entnehmen konnte, die durch die offene Tür zu mir drangen. Für das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, Glenn, gibt es nur eine Erklärung: Den wiederaufgeflammten Wahnsinn meines Vaters." Die beiden waren auf ihrem Weg über die Moorheide inzwischen in Sichtweite von Schloß Morgan gelangt. Elizabeth ließ sich auf einer Sandsteinklippe nieder, die zwischen dem blühenden Heidekraut und dunklen, windzerzausten Büschen aus dem Erdreich aufragte. „Bevor ich weiterspreche, Glenn", sagte sie, „geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie mich, was ich Ihnen auch immer sagen werde, nicht für verrückt halten werden." „Sie haben mein Wort, Lady Elizabeth." „Zwischen meinem Vater und seinem Bruder war die Rede davon", fuhr Elizabeth Morgan, immer wieder stockend, fort, als wollten die Worte nicht recht über ihre Lippen, „daß Eleanor, meines Vaters zweite Frau, aus dem Grab zu neuem Leben erweckt, und daß - daß - daß zu diesem Zweck ein Menschenopfer dargebracht werden soll - und zwar in der Familiengruft der Morgans." Nachdem sie geendet hatte, starrte sie Glenn an, als erwartete sie, daß er vor ihren Worten zurückschrecken würde. Überrascht und verständnislos sah sie, daß er keine Bestürzung erkennen ließ, sondern sich neben sie setzte und sich eine Zigarette anzündete. „Weiter!" sagte er nur. „Ich weiß, daß mein Vater in einen rätselhaften Bann seiner zweiten Frau geraten ist, solange sie lebte", entgegnete Elizabeth Morgan. „Aber
was er und Mordred vorhaben, ist doch Wahnsinn - Wahnsinn . . ." „Beruhigen Sie sich, Lady Elizabeth!" sagte Glenn Riordan. „Erzählen Sie mir noch mehr von Ihrer Stiefmutter." „Sie kam von den Karibischen Inseln und war die Tochter eines reichen Plantagenbesitzers. Es hieß, sie sei zuvor die Geliebte meines Onkels Mordred gewesen. Aber während unseres Aufenthalts in der Karibik, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, verliebte sie sich in meinen Vater und kehrte mit uns nach England zurück. Kurz darauf begann es mit meinem Onkel abwärts zu gehen, bis zum völligen Ruin. Er heiratete Angarath, deren Familie ebenfalls in der Karibik lebte, kehrte mit seinem letzten Geld nach England zurück und lebt seither auf Kosten meines Vaters in unserem Schloß. Er - und noch mehr seine Frau Angarath - war mir von Anfang an unheimlich. Beide schienen einen schlechten Einfluß auf meinen Vater auszuüben. Aber daß sie es unternehmen würden, ihn mit einem so finsteren Vorhaben geradezu in den Wahnsinn zu treiben, hätte ich noch vor vierundzwanzig Stunden für unmöglich gehalten. Für ebenso ausgeschlossen hätte ich es angesehen, daß mein Vater obwohl er seine zweite Frau abgöttisch liebte - sich auf ein solch wahnwitziges Unterfangen einlassen würde. Er kann nicht mehr bei klarem Verstand sein." „Elizabeth, Sie sind in eine so furchtbare, düstere Sache hineingeraten, daß es mir schwerfällt, Ihnen die volle Wahrheit zu sagen", entgegnete Glenn Riordan. „Dennoch muß ich es tun. Alles, was Sie heute nacht gehört haben, als Sie Ihren Vater und seinen Bruder belauschten, entspricht der Wahrheit - einer scheußlichen, satanischen Wahrheit -, aber eben der Wahrheit." „Das glaube ich nicht. Das kann ich einfach nicht glauben", brachte Elizabeth Morgan, völlig verstört, hervor. „Und doch ist es so. Ich bin jetzt sicher, daß Mordred Morgan der Mörder meiner Schwester ist, auch wenn er die Tat nicht selbst ausgeführt, sondern sich dazu dämonischer Mächte bedient hat. Ich beginne allmählich, die Hintergründe dieses teuflischen Spiels zu durchschauen. Deshalb möchte ich Ihnen die Geschichte der Ereignisse erzählen, die sich in den letzten Wochen in der Umgebung von Schloß Morgan zugetragen haben." Glenn Riordan berichtete Elizabeth Morgan von Abigail, von seinen Überlegungen, die ihn nach dem Tod seiner Schwester dazu bewogen hatten, von Jamaica nach England zu fliegen. Er erzählte von all dem, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte oder nur vermutete.
Als er geendet hatte, saß Elizabeth Morgan leichenblaß da. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Atem ging mühsam. „Ich weiß jetzt, daß der Bruder Ihres Vaters der Wudu-Hexer ist", sagte Glenn Riordan, „der Mann, der sich gewissenlos der Hilfe teuflischer Mächte und lebender Toter bedient." „Aber warum tut er das?" fragte sie mit gepreßt klingender Stimme. „Die Gründe für sein Verhalten sind so alt wie die Menschheit selbst: Leidenschaft, Gier, Haß. Ja, vor allem Haß. Glühender, blinder Haß. So muß es sich verhalten." Glenn Riordan hatte jetzt eine sehr genaue Vorstellung von den Hintergründen, der tragischen Ereignisse, die sich in den letzten Tagen und Wochen ereignet hatten. Doch bevor er seine Annahmen in Worte kleiden konnte, geschah etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte. Lady Elizabeth Morgan hatte ihr Gesicht aus den Händen erhoben, mit denen sie es bisher bedeckt hatte. Sie wollte Glenn Riordan antworten, doch im gleichen Moment schoß einer der Raben, die bisher mit rauhem Krächzen über den beiden Menschen gekreist hatten, wie ein schwarzer Blitz herab und hackte im Vorbeifliegen auf das Gesicht des Mädchens ein. Der unbegreifliche, tollwütige Angriff hinterließ eine kleine, blutende Wunde an Elizabeth Morgans linker Schläfe. Der Rabe aber schwang sich mit schwerfälligen Flügelschlägen wieder empor und tauchte in die kreisende, lärmende Wolke von Vögeln ein. Unwillkürlich hatte Elizabeth Morgan aufgeschrien, als der Schnabelhieb sie traf. Jetzt griff sie nach der Verletzung, sah, daß ihre Finger blutig waren. Doch da schoß abermals ein Rabe auf sie herab, wie ein fallender Stein. Aber diesmal wurde Glenn Riordan rechtzeitig auf den Angreifer aufmerksam. Er riß seinen Hut vom Kopf und schlug damit nach dem Vogel, der krächzend zur Seite auswich. „Was, zum Teufel, ist nur in die Vögel gefahren?" stieß Glenn Riordan hervor. Sein Blick fiel auf den schattenhaften Umriß des nahen Schlosses und dort sah er eine weibliche Gestalt auf einem der Türme stehen, die Arme zum Himmel gereckt, das bleiche Gesicht von Strähnen roten Haares umflossen: Angarath Morgan. Etwas Dämonisch-Beschwörendes lag in der eigenartigen Haltung der Frau, als riefe sie Unheil herab aus den Wolken - oder herauf aus den finsteren Tiefen der Erde. Schwach wehte der Klang ihrer Stimme zu Glenn Riordan herüber; er konnte nicht verstehen, was sie rief. Doch der nach Tausenden zählende Schwarm von Raben kreiste wie auf Befehl tiefer, immer tiefer. Schon konnte Glenn Riordan das Rauschen der
hartgefiederten Flügel hören. Mit einemmal stand ihm die Gefahr, in der er und Elizabeth Morgan sich befanden, klar und deutlich vor Augen: Es bedurfte gar keiner Zombiedämonen, um sie zu töten - die Raben konnten das blutige Werk ebenso gut vollbringen. „Fort von hier!" rief er, packte das Mädchen beim Arm, riß sie von der Felsenklippe hoch, auf der sie saß, und zerrte sie mit sich fort. In derselben Sekunde griff der gesamte Rabenschwarm an. Plötzlich waren die beiden Menschen von einem Gewirr flügelschlagender, mit den langen, kräftigen, eisenharten Schnäbeln zuhackender, sich festkrallender, kreischender Vögel umgeben. Sie schlugen mit den Händen um sich, um die Raben zu vertreiben. Doch der Schwarm ließ in seinen wütenden Angriff nicht nach. Einzelne Vögel stürzten sich selbstmörderisch gegen die Gesichter des Mannes und der Frau, als wollten sie ihnen die Augen aushacken, sie blenden, hilflos machen. Nur ein einziger Trieb schien sie zu beherrschen: die beiden Menschen zu töten. Glenn Riordan stieß Elizabeth Morgan mit einer Hand vor sich her, mit der anderen riß er seinen Mantel herunter und versuchte, mit ihm die angreifenden Raben zu verjagen. Als er merkte, daß ihm das nicht gelang, zog er den 38er Smith & Wesson-Revolver aus der Schulterhalfter und jagte jeden Schuß, den er in den Kammern der Waffe hatte, in den kreisenden, kreischenden, schwarzen, mörderischen Wirbel von Vogelschwingen und -leibern. Er konnte nicht erkennen, ob er einige der Raben getötet hatte, denn die Vögel durchbohrten einander teilweise mit den Schnäbeln - in ihrer mörderischen Hast, als erste bei den zwei Menschen zu sein, sich an ihnen festzukrallen und ihre Gesichter mit ihren grausamen Schnäbeln zu zerhacken - und fielen tot zu Boden. Glenn Riordan erhielt einen Schnabelhieb gegen die Stirn, einen zweiten gegen die linke Wange. Blut rann über sein Gesicht. Eine flatternde Menge von Raben krallte sich an seinem Mantel fest und riß ihm diese letzte Waffe durch das Gewicht Hunderter von Vogelleibern aus der Hand, wie um ihn vollends wehrlos zu machen. Er ließ den Trenchcoat liegen und hetzte hinter Elizabeth Morgan her, sein Gesicht mit beiden Armen schützend. Er stolperte, fiel zu Boden, raffte sich wieder auf und stürmte blindlings weiter, während ihm die Raben wie ein Schwarm von Vampiren - jene großen, blutsaugenden Fledermäuse - im Nacken saßen und sich nicht abschütteln ließen. Die Krallen der schwarzgefiederten Bestien, spitz und hart wie die von Raubvögeln, drangen durch seine Kleidung und gruben sich in seinen Körper.
Er dachte an nichts anderes mehr als daran, auf den Beinen zu bleiben, weil er wußte, daß die toll gewordenen Vögel ihn in Stücke gehackt hätten, wenn er gestürzt und liegen geblieben wäre. Er stolperte vorwärts; weiter, immer weiter - und plötzlich ließen die Raben von ihm ab. Nachdem er die schützenden Arme vom Gesicht genommen hatte, sah er, daß er sich unter Bäumen befand, die die Raben im Augenblick von weiteren, wütenden Angriffen abhielten. Bleich und schimmernd ragte ein kleines Bauwerk vor ihm auf, dessen Dach von Säulen getragen wurde. Er sah Elizabeth Morgan darauf zulaufen und folgte ihr. Als er aus der Deckung der Bäume hervorkam, griffen ihn die Raben sofort wieder an. Doch er war schneller als sie, stolperte eine Treppe hinunter, sprang über eine Schwelle und warf die schwere, mit Eisenriegeln versehene Tür mit donnerndem Krachen hinter sich zu. Lady Elizabeth lehnte ihm gegenüber mit dem Rücken an einer aus Quadersteinen gefügten Wand. Ihr Atem ging schwer und keuchend. Auch sie war von den Angriffen der sich wie wahnsinnig gebärdenden Vögel gezeichnet. Ihr Gesicht war voll Blut, ihre Reitjacke zerrissen. Das blonde Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. „Großer Gott!" sagte Glenn Riordan. „Ich dachte schon, wir würden nicht mit dem Leben davonkommen." Dann erst sah er, wo er sich befand: in der Gruft der Morgan-Sippe. *** „Von den berühmt-berüchtigten Morgan-Raben heißt es in den alten Legenden, sie würden meine Familie gegen jeden Angreifer verteidigen, aber auch jede Schmach rächen, die ihr von den eigenen Angehörigen zugefügt würde", sagte Elizabeth Morgan. Sie rutschte mit dem Rücken an der Wand herab und blieb auf dem Steinboden sitzen. „Vielleicht haben die Vögel in Ihnen einen Feind der Morgan-Sippe gesehen, Glenn. Vielleicht haben sie uns deshalb wie toll angegriffen." Glenn Riordan rief sich Angarath Morgan ins Gedächtnis, wie er sie auf dem Turm des Schlosses gesehen hatte, als sie ihre dämonischen Beschwörungen zu den Rabenschwärmen herüberschrie. „Nein, Elizabeth", sagte er. „Der Feind der Morgans kommt nicht von außen, sondern aus dem eigenen Blut, der eigenen Sippe. Und er ist schlimmer und gefährlicher, als Sie es sich vorstellen können. Sehen Sie sich um! Da haben Sie den Beweis für meine Worte." Er schob den leergeschossenen Revolver in die Schulterhalfter und
machte eine Handbewegung, die das ganze Innere der Gruft umfaßte. Aus dem grauen Zwielicht erhoben sich zwischen den Steinsärgen die drei Wudu-Altäre und der Samedi-Fetisch, die Riordan und Inspektor Moynihan schon vor zwei Nächten in der Gruft vorgefunden hatten. „Vor diesen Altären werden Blutopfer dargebracht", fügte Glenn Riordan hinzu, „um Dämonen zu beschwören. Aber nicht genug damit: Ich habe Angarath Morgan auf einem Turm des Schlosses gesehen, bevor wir von den Vögeln angegriffen wurden. Sie hat die Rabenschwärme auf uns gehetzt. Sie wollte uns beide töten. Fast wäre es ihr gelungen. Ich habe dieses Weib bisher unterschätzt, weil ich immer nur an Mordred als den Wudu-Hexer dachte. Ich vergaß, daß diese Verfluchten meistens paarweise auftreten. Der ,Hungan', der Hexer, und die ,Mambu', die Hexe. Ich muß . . ." Weiter kam Glenn Riordan nicht. Plötzlich sah er, wie Elizabeth Morgans Augen sich auf einen Punkt hinter seinem Rücken richteten und dabei einen vor Entsetzen starren Ausdruck annahmen. Er fuhr herum und sah eine schattenhafte Gestalt vor sich, die zwischen den Steinsärgen aufgetaucht war. Etwas sauste auf ihn nieder, bevor er den Kopf zur Seite wenden oder schützend die Arme hochreißen konnte. Der Schlag traf ihn gegen die Schläfe. Die Welt schien vor seinen Augen in einem grellen Lichtblitz zu explodieren. Er knickte in die Knie, und seine Stirn schlug gegen den kalten Steinboden der Gruft. Wie aus weiter Ferne hörte er Elizabeth Morgan schreien. Er versuchte, sich aufzurichten, um ihr zu helfen, aber da traf ihn ein zweiter Hieb über den Nacken. Lautlos sackte er in sich zusammen, besinnungslos, ehe sein Körper erneut am Boden aufschlug. *** Inspektor Moynihan brachte seinen verbeulten, alten Austin vor der katholischen St. Andrews-Kirche in Worrick zum Stehen, stieg aus, warf den Wagenschlag hinter sich zu und eilte in die Sakristei. Deren Tür stand einen Spaltbreit offen. Dahinter hörte er beim Näherkommen das Gemurmel einer Männer- und einer Frauenstimme. Als er die Tür ganz aufstieß und über die Schwelle trat, wandten sich die beiden Leute, die mitten in der Sakristei standen und miteinander sprachen, unvermittelt ihm zu. Der eine war Pater Clayton Connery - die andere Samantha Putli. „Ich danke Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind, Inspektor", begrüßte Connery den bulligen Polizisten. Moynihan nahm seinen Hut ab
und warf ihn auf den Sakristeitisch. „Nachdem ich Ihren Anruf erhalten hatte, setzte ich mich sofort in mein Auto und fuhr hierher", entgegnete er. „Also, was ist so wichtig, daß die Sache nicht warten kann?" „Haben Sie Riordan inzwischen ausfindig machen können?" „Nein. Er ist wie vom Erdboden verschwunden. Bald wird es Abend, und wir haben noch immer keine Spur von ihm gefunden", gab Moynihan zu. „Allmählich fange ich an, mir Sorgen um ihn zumachen." „Auch ich bin in Sorge - und das mit gutem Grund", sagte Connery. „Samantha Putli - Sie kennen sie wohl schon? - ist zu mir gekommen, um mich zu warnen, daß Riordan sich in großer Gefahr befindet." Moynihan musterte das alte Weib mit einem deutlichen Ausdruck von Widerwillen, in den sich aber gleichzeitig Furcht und Unbehagen mischten. Samantha Putli war ihm unheimlich. Er kam nur ungern mit ihr in Berührung. Da er aber andererseits wußte, daß Glenn Riordan unbedingtes Vertrauen in die Alte setzte, fand er sich widerstrebend dazu bereit, anzuhören, was sie vorzubringen hatte. „Sie hat mir erzählt, daß sie Riordan im Traum gesehen hat, überschattet von einer dunklen Wolke, die sich auf ihn herabsenkte und ihn einzuhüllen begann", erklärte Pater Connery. „Sie glaubt, daß er sich in höchster Lebensgefahr befindet. Um mir zu sagen, daß ich versuchen müßte, Riordan zu helfen, hat sie den weiten Weg hierher gemacht." „Glauben Sie ihr?" fragte Moynihan. „Ich glaube ihr zumindest, daß sie es ehrlich meint und mir keine Lügen erzählt hat. Ob sich hinter ihrem Traumgesicht tatsächlich ein Funke von Wahrheit verbirgt, vermag ich nicht zu beurteilen. Immerhin: Es wäre möglich." „Haben Sie den großen Exorzismus auf dem Friedhof vollzogen, wie Riordan es von Ihnen verlangte, Pater?" „Ja. Aber nach Samantha Putlis Worten scheint er seine Wirkung verfehlt zu haben, obwohl sie nicht imstande ist, zu sagen, warum. Ihre Ausführungen in dieser Sache bestärken mich in der Annahme, daß sie die Wahrheit sagt und Riordan sich wirklich in äußerster Gefahr befindet." Moynihan machte eine halb zornige, halb hoffnungslose Handbewegung. „Wie soll ich Riordan finden, wenn er vielleicht gar nicht mehr am Leben, sondern irgendwo in der Moorheide verscharrt ist?" „Vielleicht gelingt es Samantha Putli, ihn ausfindig zu machen", entgegnete Connery. „Als katholischer Priester bin ich gegen Magie jeder Art. Aber vielleicht müssen wir uns in diesem Fall unerklärlicher,
übersinnlicher Kräfte bedienen, um großes Unheil zu verhüten." „Wer weiß, ob es nicht schon zu spät dafür ist", murmelte Moynihan. Pater Connery sah ihn scharf an. Er hatte Erfahrung mit Menschen gesammelt und wußte ihr Verhalten zu deuten. „Sie verschweigen mir etwas, Inspektor", sagte er sofort. Moynihan tat einen tiefen, schweren Atemzug, als wollte er sich erst auf das vorbereiten, was er Connery nun mitteilen mußte. „Heute sind Zigeuner durch Worrick gezogen", antwortete er dann. „Sie schlugen ihr Lager auf einer Wiese am Absom-Creek auf, um dort die Nacht zu verbringen. Doch vor etwa einer Stunde kamen ein Mann und eine Frau aus dem Lager zu mir auf die Polizeistation, um eine Vermißtenmeldung zu erstatten, Pater. Seit heute wird ein Kind - ein zwölfjähriges Mädchen - aus dem Lager vermißt." „Woran denken Sie?" fragte Clayton Connery. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Aber Moynihan kannte sich in der menschlichen Verhaltensweise nicht weniger gut aus als der Priester. Deshalb wußte er, daß Connery die Wahrheit schon ahnte, bevor er selbst sie aussprach. Er tat es dennoch, und seine Worte fielen wie Hammerschläge in die Stille, die auf die Frage des Priesters gefolgt war und wie ein erdrückendes Gewicht auf den Anwesenden lastete. „Ich denke an die Menschenopfer, von denen Glenn Riordan behauptete, daß sie noch heute den Wudu-Dämonen dargebracht würden. Einem dieser blutgierigen Teufel werden, wenn ich mich recht entsinne, Kinder geopfert. Großer Gott! Connery, wir haben keinen Augenblick mehr zu verlieren!" Der Priester - ein Mann, der in seinem Leben schon vieles erlebt und mitangesehen hatte - bekreuzigte sich schaudernd beim Gedanken an diese satanische Tat: „Wir müssen zum Schloß der Morgans", sagte er. „Eilen wir, Moynihan! Vielleicht kommen wir noch rechtzeitig hin, um wenigstens den unseligsten Teil dieses Teufelsspuks zu verhindern." *** Die Sonne war schon untergegangen, aber ihr bleicher, abendlicher Schein, der noch über den Horizont strahlte, färbte den westlichen Teil des Himmels schwefelgelb. Die vom leise flüsternden Wind bewegten Baumwipfel hoben sich schwarz von dem fahlen Hintergrund ab. Lord Richard Morgan, der unruhig vor einem der bleiverglasten Fenster
in der großen Halle seines Schlosses stand, drehte sich um, als er hörte, wie die Tür hinter seinem Rücken geöffnet wurde. Im flackernden Schein des Kaminfeuers trat Mordred über die Schwelle und verschloß die hohe Eichenholztür sorgfältig wieder. „Es ist alles vorbereitet für die Darbringung der Opfer", sagte er. „Ein schwarzer Hahn für Damballa, eine weiße Ziege für Ashtar - und eine, die ohne Krallen und Hörner ist, für Lazarillo." Der letztere Ausdruck war die im Wudu-Kult gebräuchliche Umschreibung für ein Menschenopfer. „Aber ich halte es für besser, wenn du nicht selbst bei der Opferung anwesend bist, Richard", fuhr Mordred fort. „Der Anblick von rinnendem Blut ist für manche Menschen unerträglich." „Vielleicht hast du recht", stimmte Lord Richard Morgan seinem Bruder zu. „Ich bekenne, daß ich Angst vor dem Moment habe, in dem Eleanor sich aus ihrem Sarg erheben soll. Vielleicht würden meine Furcht und meine Zweifel die den Dämonen dargebrachten Opfer sogar unwirksam machen. Wenn ich Eleanor nicht so unsagbar lieben würde, hätte ich niemals meine Zustimmung dazu gegeben, daß du dich dieser dunklen Riten bedienst, Mordred. Aber schon seit langem ist mir klar, daß ich ohne Eleanor nicht leben kann. Deshalb - nur deshalb - habe ich mich mit dem einverstanden erklärt, was du tun willst. Und das, obwohl ich weiß, daß ich mich damit der ewigen Verdammnis ausliefere." „Natürlich", entgegnete Mordred Morgan mit unbewegtem Gesicht. „Ich kenne ja deine unsterbliche Liebe zu Eleanor, Richard. Und deshalb will ich dir dazu verhelfen, auf immer mit ihr vereint zu sein." „Und du trägst* es mir nicht mehr nach, daß ich sie dir weggenommen habe, damals auf den Karibischen Inseln?" „Wer vermöchte es wohl, sich einer so großen Liebe in den Weg zu stellen? Heute nacht werden sich alle deine Wünsche, Träume und Hoffnungen erfüllen, Richard. Du solltest ein, zwei Glas Whisky, trinken. Sie würden dir helfen, deine Fassung zu bewahren", sagte Mordred, ohne auch nur mit einem Wort auf die Frage seines Bruders einzugehen. Lord Richard Morgan trat auf Mordred zu - ein Funke beginnenden Wahnsinns schien in den Tiefen seiner Augen zu leuchten - und nahm dessen Rechte in seine beiden Hände. „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Bruder", sagte er. „Als du mir zum erstenmal vom Wudu-Kult erzählt hast, war ich nahe daran, dich aus meinem Haus hinauszujagen. Aber jetzt weiß ich, daß du alles, was du beginnst, nur für mich tust, mein Bruder, mein geliebter Bruder. Ich
glaube, jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem wir alles, was uns bisher noch getrennt hat, vergessen sollten. Wenn es dir wirklich gelingt, Eleanor ins Leben zurückzurufen, gebe ich dir die Hälfte von allem, was ich besitze." „Ein geringer Preis", murmelte Mordred. „Ja, es ist nur ein geringer Preis für alles das, was du für mich tust, Bruder", antwortete Lord Richard Morgan, ohne den Sinn, der sich hinter den Worten des anderen verbarg, zu erraten. „Aber nun geh! Geh rasch! Geh und bring mir die Frau zurück, die ich mehr liebe als mein eigenes Leben!" „Natürlich, Richard! Natürlich!" sagte Mordred, und sein Mund verzerrte sich zu einem Lächeln, wie es nur ein Mensch zustande bringen kann, dem der Haß das Herz vergiftet hat. „Ich werde jetzt gehen, um die Opfergaben in deinem Namen darzubringen. Aber wenn du einen Rat von mir annehmen willst, dann warte nicht hier im Schloß, bis Eleanor zu dir kommt. Geh hinaus, suche dir einen Weg durch die Nacht. Die Dunkelheit wird dir Ruhe schenken, ewige Ruhe. Das Moor ist herrlich um diese Abendstunde." *** Ein wüster, pochender Schmerz, der von seiner linken Schläfe ausging und mit jedem Herzschlag seinen ganzen Körper zu durchfluten schien, weckte Glenn Riordan aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit. Denn der Schmerz ist das stärkste Glied in der Kette, die den Menschen ans Leben fesselt. Er wollte nach seinem Kopf greifen, mußte aber erkennen, daß er sich nicht bewegen konnte. Seine Handgelenke waren hinter dem Rücken zusammengeschnürt und seine Beine gefesselt. Da schlug er die Augen auf und sah, daß Elizabeth Morgan, ebenfalls gefesselt, nur zwei Schritte von ihm entfernt am Boden lag. Sie war noch immer ohne Besinnung. Er blickte um sich und sah, daß sie sich in einem kleinen, ganz mit Quadersteinen aus behauenem Granit ausgekleideten Verlies befanden. Eigentlich war es nur eine Kammer, in der ein Mensch nicht aufrecht stehen konnte. Der Eingang war durch eine schwere Eisentür verschlossen. Eine flackernde Laterne stand in einer Ecke und spendete trübes Licht. Glenn Riordan schob sich mühsam näher an Elizabeth Morgan heran und stieß sie mit den Knien seiner zusammengebundenen Beine an. Sie gab einen leisen Klagelaut von sich, öffnete die Augen, ihr Blick klärte sich, und sie erkannte Glenn Riordan.
„Was ist geschehen? Wo sind wir?" fragte sie. „Ich weiß es nicht genau, aber wahrscheinlich befinden wir uns in irgendeinem Nebenraum der Gruft Ihrer Familie", antwortete er. „Konnten Sie sehen, wer uns niedergeschlagen und hierher geschafft hat?" „Ja. Es war der Bruder meines Vaters: Mordred. Ich sah ihn plötzlich hinter Ihrem Rücken aus dem Dunkel der Gruft auftauchen und mit einem Brecheisen zum Schlag gegen Sie ausholen. Aber bevor ich Sie warnen konnte, war es schon zu spät. Er schlug Sie und gleich darauf mich nieder." „Dann hat meine Ahnung also doch nicht getrogen", sagte Glenn Riordan. „Mordred Morgan ist der Wudu-Hexer. Er trägt die Schuld am Tod vieler Menschen, auch an dem meiner Schwester. Wir sind ihm in die Falle gegangen. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Wenn wir uns von unseren Fesseln und aus dieser Zelle befreien können, legen wir ihm möglicherweise doch noch sein verfluchtes Handwerk." „Ich kann mich nicht bewegen", antwortete Elizabeth Morgan. „Meine Fesseln sitzen zu straff. Wie lange sind wir wohl schon hier eingeschlossen?" „Eine Stunde, einen Tag - ich weiß es nicht. Aber es muß schon geraume Zeit vergangen sein, seit wir uns vor den Raben in die Gruft geflüchtet haben, denn mein ganzer Körper ist steif vom langen Liegen." „Was Mordred wohl mit uns vorhat?" fragte sie. Glenn Riordan gab keine Antwort. Er Wollte dem Mädchen nicht noch mehr Angst einjagen, als sie ohnehin schon hatte. Es gab nur eine Möglichkeit für den Bruder von Lord Morgan, sich der beiden gefährlichen Zeugen zu entledigen. Er mußte sie töten. „Wenn es mir gelingt, mich bis zu der Laterne hinzuschieben und ihren Glaszylinder herunterzustoßen, ohne sie dabei umzuwerfen, kann ich vielleicht meine Fesseln so lange über den flammenden Docht halten, bis sie verbrannt sind", sagte er statt dessen. „Versuchen Sie sich so herumzudrehen, Elizabeth, daß ich meine Füße gegen Ihren Rücken stemmen und mich über den Boden schieben kann." In diesem Augenblick - bevor noch Elizabeth Morgan Riordans Anweisung befolgen konnte - ertönten Schritte hinter der Tür. Ein eiserner Riegel wurde kratzend aus seinem Widerlager gehoben, die Tür schwang nach außen auf, und Mordred Morgan trat über die Schwelle in den Lichtkegel der Laterne. Unter der niedrigen Decke konnte er nur gebückt stehen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Kalt, mitleidlos, mit einem dämonischen Lächeln im Gesicht betrachtete er seine beiden Gefan-
genen. Dann beugte er sich wortlos über Glenn Riordan, ergriff ihn unter den Schultern und schleifte ihn aus der engen Kammer hinaus in das Gewölbe der Morgan-Gruft. Zwischen den Steinsärgen ließ er ihn zu Boden gleiten und ging, um Lady Elizabeth zu holen. Das gab Glenn Riordan die Gelegenheit, sich in dem Gewölbe umzuschauen. Die drei Altäre und der Samedi-Fetisch standen noch immer dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Mindestens ein Dutzend silberner Leuchter, in denen schwarze Wachskerzen flackernd brannten, reihten sich neben den Altären aneinander. Aber Glenn Riordan sah noch etwas anderes, bei dessen Anblick ihm kaltes Grauen die Kehle zuschnürte. Vor jedem der Dämonenaltäre war der Steinboden mit einer großen Lache schwärzlichen Blutes bedeckt. Auf den Stufen vor dem Damballa-Altar lag ein geköpfter Hahn, vor dem Ashtars eine enthauptete weiße Ziege. Die Opfergabe für Lazarillo war mit einer alten Decke zugedeckt; der Körper, dessen Umrisse sich darunter abzeichneten, schien aber viel größer zu sein als der eines Hahns oder einer Ziege. „Du Ausgeburt der Hölle, was hast du getan?" kam es heiser über Glenn Riordans Lippen, als Mordred Morgan Lady Elizabeth herbeischleppte und auf den Boden gleiten ließ. „Du hast einen Menschen geopfert, um deine verfluchten, blutgierigen Dämonen zu befriedigen." Mordred lächelte abermals sein bleiches, unheilvolles Lächeln. Dann trat er vor den Lazarillo-Altar und zog mit einem Ruck die Decke von dem Körper, der dort lag. Es war ein großer, zottiger, schwarzer Hund mit durchschnittener Kehle. Unwillkürlich hielt Glenn Riordan den Atem an. Er wußte, daß die Wudu-Hexer stets nur dann einen schwarzen Hund als Opfer darbrachten, wenn sie die ganze Wut der Dämonen auf einen Menschen lenken wollten, den sie haßten und vernichten wollten. Ein schwarzer Hund als Opfergabe galt als die schlimmste Beschimpfung der Wudu-Dämonen. Der Mensch, in dessen Namen das fluchwürdige Opfer dargebracht wurde, wurde nach dem Wudu-Glauben von den Dämonen in den Wahnsinn und schließlich in den Tod getrieben. „Ihr Gesichtsausdruck, Riordan, verrät mir, daß Sie um die Bedeutung dieses Opfers wissen", sagte Mordred Morgan. „Ich habe den Hund im Namen meines Bruders geweiht, bevor ich ihm die Kehle durchschnitt. Mein Bruder Richard, dessen Geist schon von beginnendem Wahnsinn umnachtet ist, glaubt, ich hätte ein Menschenopfer vollzogen, um ihm seine geliebte Eleanor aus dem Grab heraus wiederzugeben. Richtig ist, daß ich ein Kind entführt habe. Aber an seiner Stelle opferte ich einen
schwarzen Hund. Der Fluch der Dämonen wird bewirken, daß sich Eleanor zwar aus ihrem Sarg erhebt, aber nicht so, wie sie einst war, sondern wie sie jetzt ist - eine Gestalt des Grauens. Und sie wird nicht kommen, um Richard zu lieben, sondern um ihn zu töten. Wenn sie ihre Grabstätte verläßt, wird sie ein willenloser, seelenloser Zombie sein, der meine Befehle ausführen muß." Ungläubiges Entsetzen zeichnete sich auf Elizabeth Morgans blassem Gesicht ab. „Warum haßt du meinen Vater so sehr, daß du ihm das antun willst?" fragte sie mit zitternder Stimme. „Was du vorhast, ist doch Wahnsinn, finsterer, satanischer Wahnsinn." „Schauen Sie ihm ins Gesicht! Sehen Sie nicht, wie der Irrsinn aus seinen Augen leuchtet?" warf Glenn Riordan ein. „Er ist ein gefährlicher, geistesgestörter Mörder, der sich für seine Verbrechen der Hilfe von Dämonen bedient." Doch Mordred achtete überhaupt nicht auf das, was Riordan sagte. „Ich will dir erklären, warum ich deinen Vater hasse", antwortete er statt dessen auf Elizabeth Morgans Frage. „Er hat mein Leben zerstört, als er mir Eleanor nahm. Sie war eine .Mambu' - eine Wudu-Hexe, wie dein farbiger Freund hier sagen würde. Sie hat mich in die Geheimnisse des Wudu eingeführt. Doch sie verriet mir nicht alles, so daß ihre Macht über die höllischen Dämonen immer viel größer blieb als meine eigene. Solange Eleanor mich liebte und bei mir blieb, war alles gut. Dann aber kam dein Vater. Sie schenkte ihm ihre Liebe und behexte ihn, so daß er ihre Gefühle erwiderte. Mich aber verließ sie, und damit begann ein Unglück. Nach und nach verlor ich alles, was ich besaß. Denn meine Macht reichte nicht aus, um mir die Dämonen für alle Zeit gefügig zu machen. Da schwor ich deinem Vater und der Frau, die ich einst geliebt hatte, ewige Rache. Von diesem Tag an lebte ich nur noch für ein Ziel: Die beiden zu vernichten. Ich heiratete Angarath. Auch sie ist eine ,Mambu', wenngleich sie nicht über dieselbe Macht verfügt, die Eleanor besaß. Und doch gelang ihr mit Hilfe von Beschwörungen das scheinbar Unmögliche. Sie schickte einen Dämon aus, der Eleanor tötete. Vielleicht gelang die Tat deshalb, weil Eleanors Hexenkräfte durch ihre Liebe zu deinem Vater geschwächt waren. Denn eine .Mambu' darf nur einen Eingeweihten des Wudu, niemals aber einen gewöhnlichen Sterblichen lieben, wenn sie nicht die Dämonen erzürnen und gegen sich aufbringen will. Als ich die Nachricht von Eleanors Tod erhielt, kehrte ich mit Angarath nach England zurück, denn nun war die Stunde meiner Rache nahe. Ich würde Eleanor mit Hilfe der Wudu-Riten in einen Zombie verwandeln und
sie dazu zwingen, mit ihren eigenen Händen den Mann zu töten, um dessentwillen sie mich verlassen hatte. Und heute nacht, bevor noch der Mond untergeht, wird sich meine Rache erfüllen." Das ist also der Grund für alle die unheimlichen Zombiemorde in Worrick und auf Schloß Morgan, dachte Glenn Riordan. Der Haß eines Mannes, der sein Leben zerstört sah und sich dafür rächen wollte, „Morgan", sagte er eindringlich, „wissen Sie denn nicht, daß sich hinter all den Dämonengestalten, die Sie beschwören und denen Sie Blutopfer darbringen, immer nur ein und dieselbe abgrundtief böse Macht verbirgt: Satan? Wudu ist nichts weiter als Teufelsanbetung." „Was kümmert's mich?" Mordred lachte auf. Aber neben Haß und Wut schwangen unüberhörbar auch Angst und Verzweiflung in seinem Gelächter mit. „Ich habe geschworen, dem Bösen - in welcher Gestalt es auch auftreten mag - eine Gemeinde von gläubigen Anhängern zu schaffen, die es anbeten. Dafür werden mir die Dämonen helfen, meine Rache zu vollenden. Hier, auf Schloß Morgan, wird die Wiege des Bösen, die Keimzelle der Verdammnis entstehen, die sich über die ganze Welt ausbreiten soll." „Und weil meine Schwester Abigail Ihr geheimes Vorhaben erriet, mußte sie sterben?" „Ihre Schwester, Riordan", sagte Mordred Morgan, „hat in jener Nacht, als wir auf Richards Wunsch hier in der Gruft Eleanors Geist beschworen, zuviel über meine Absichten in Erfahrung gebracht. Sie hatte mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten meine Spur von den Karibischen Inseln bis nach Großbritannien verfolgt - vielleicht weil sie ahnte, welche große, furchtbare Macht Angarath und ich im Namen der Wudu-Dämonen - oder wie Sie glauben: Im Namen Satans - auszuüben imstande sind. Wir werden Satan Raum schaffen in dieser Welt. Eleanors Geist hatte mein Vorhaben längst durchschaut und versuchte, Richard durch den Mund Ihrer Schwester zu warnen, Riordan. Doch Richard war, als er die Stimme seiner toten Frau hörte, viel zu erschüttert, um recht zu begreifen, was sie sagte, zumal Eleanor von den Dämonen rasch zum Schweigen gebracht wurde. Aber Ihre Schwester wußte, als sie aus dem Trancezustand erwachte, in den sie während der Totenbeschwörung gefallen war, genau um alle diese Dinge. Sie muß wohl geahnt haben, daß ich sie töten würde, denn sie hatte es auf einmal sehr eilig, die Gruft zu verlassen. Doch ich konnte das Risiko nicht eingehen, sie am Leben zu lassen. Und auch ihr beide müßt sterben. Ich und mit mir das Böse sind erst in Sicherheit, wenn ihr euren letzten Atemzug getan
habt. Dann habe ich keinen Feind mehr zu fürchten. Außerdem fällt mir danach als dem letzten Blutsverwandten meines Bruders Richard das ganze Morgan-Vermögen zu." „Deshalb also hast du alles getan, um meinen Vater in den Wahnsinn zu treiben", rief Elizabeth Morgan. „Denn wenn sein Geist nicht schon umnachtet wäre, hätte er niemals seine Zustimmung zu deinem teuflischen Vorhaben gegeben." „Ja, sein Geist und seine Seele sind wirklich krank, sehr krank", bestätigte Mordred. „In einer Beziehung haben wir, er und ich, das gleiche Schicksal: Wir können beide nicht ohne Eleanor leben." „Mein Vater hat sie geliebt, und er liebt sie noch immer. Was er auch getan haben mag, er tat es aus irregeleiteter Liebe. In dir aber ist keine Liebe, nur Haß, Bösartigkeit und abgrundtiefe Verworfenheit." „Du hast vollkommen recht, Elizabeth." Mordred lächelte. „Und deshalb werde ich so handeln, wie ich es mir vorgenommen habe. Weil Eleanor mich verlassen und dadurch mein Leben zerstört hat, werde ich den Menschen vernichten, der ihr auf dieser Welt am meisten bedeutet hat: Richard." Während der letzten Worte hatte sich Mordred Morgans Gesicht zu einer abstoßenden Maske des Hasses verzerrt. Doch plötzlich wandte er den Kopf halb zur Seite, und seine Züge erstarrten in angespanntem Lauschen. Nun hörte auch Glenn Riordan ein Geräusch: ein leises Kratzen, dann ein Schaben, als bewegte sich Stein auf Stein. Die Flammen der schwarzen Kerzen flackerten, als hätte ein kalter Luftzug sie erfaßt. Glenn Riordan hob mühsam den Kopf und sah, wie sich der massive, schwere Sargdeckel auf Lady Eleanors Sarg langsam, sehr langsam zur Seite bewegte. Dann tastete eine Hand, eine schrecklich anzusehende Hand, über den Rand des Sarkophags, als suchte sie nach einem Halt „Es ist soweit! Endlich! Die Dämonen haben meine Opfergaben angenommen. Meine Beschwörungen sind erhört worden", keuchte Mordred. Glenn Riordan warf sich halb über Elizabeth Morgan und drückte ihren Kopf mit seiner rechten Schulter nach unten, so daß ihr Gesicht gegen den kalten Steinboden gepreßt wurde und sie sich nicht rühren konnte. „Nicht hinsehen! Nicht hinsehen!" sagte er beschwörend. Denn die Gestalt, die sich, von flackerndem Kerzenschein umlodert, aus dem Sarg aufrichtete, bot einen so entsetzlichen Anblick, daß ein Mensch, der sich dieser Erscheinung unvorbereitet gegenübergesehen hätte, darüber den Verstand hätte verlieren können.
Glenn Riordan hatte den Leichnam Lady Eleanors schon einmal gesehen, als er, zusammen mit Inspektor Moynihan, auf der Suche nach Anzeichen des Wudu-Kults nachts in die Gruft eingedrungen war. Trotzdem überkam ihn kaltes Grauen, als er die hoch aufgerichtete, in das Wudu-Gewand gehüllte Gestalt mit dem entsetzlichen Gesicht, den leeren Augenhöhlen und den Resten lockigen, blonden Haares im Sarg stehen sah. „Im Namen Samedis, des Fürsten der Hölle und der Friedhöfe, verlaß deinen Ruheplatz! Geh hinaus in die Nacht! Der Mann, den du suchst, befindet sich im Moor. Töte ihn! Töte ihn!" sagte Mordred. Mit ausgestrecktem Arm wies er nach der halb offenstehenden Tür. Und die schreckliche Gestalt schritt, das lange, mit den Symbolen des teuflischen Kults bestickte Gewand hinter sich herziehend, hinaus. „Großer Gott!" flüsterte Glenn Riordan, als ihm seine Stimme wieder gehorchte. „Mordred, für all das Böse, was Sie getan haben - und besonders für die Ereignisse dieser Nacht -, sollen Sie auf ewig verdammt sein." „Das bin ich schon lange, und deshalb kenne ich weder Furcht noch Gnade mit meinen Feinden", erwiderte Mordred Morgan. „Ich habe Richard in die Moorheide hinausgeschickt, um Eleanor dort zu erwarten. Er wird nie mehr von dort zurückkehren." „Dann war es also nicht Richard Morgan, der der Toten das WuduGewand angezogen und ihr die scheußlichen Grabbeigaben in den Sarg gelegt hat?" fragte Glenn Riordan. „Nein", antwortete Mordred, „das tat ich - kurz, nachdem ich auf das Schloß zurückgekehrt war -, damit Eleanors Geist keine Ruhe finden und immer von bösen Erinnerungen gequält werden sollte. Deshalb klagte sie während der nächtlichen Totenbeschwörung in dieser Gruft so bitter durch den Mund Ihrer Schwester, Riordan." Während Glenn Riordan Lady Elizabeth Morgan freigab, drehte sich Mordred um und nahm zwei handgroße Kistchen, die wie kleine Särge aussahen, von einem der Dämonenaltäre. Er stellte sie so auf den Boden, daß Riordan die beiden menschenähnlichen Wachspuppen sehen konnte, die darin lagen. Daneben legte er zwei lange Stahlnadeln. „Sie wissen doch, welche Macht über Leben und Tod die Eingeweihten der Wudu-Mysterien durch solche Puppen ausüben können, Riordan", sagte er. „Gleich werden ein paar Tropfen Ihres Blutes und des Blutes von Elizabeth auf diese Wachsfiguren fallen. Dann werde ich sie Samedi, dem Herrn des Todes, weihen und jeder von ihnen eine Nadel durch das Herz
stoßen. Danach werde ich euch allein hier zurücklassen - und die Zombies werden kommen und euch töten." „Diesmal wird Ihre Hexerei Ihnen nichts nützen", erwiderte Glenn Riordan. „Pater Connery hat inzwischen den großen Exorzismus, das »Rituale Romanum', auf dem Friedhof von Worrick vollzogen. Die Toten, die dort in ihren Gräbern liegen, sind von nun an vor allen satanischen Mächten geschützt." „Das weiß ich", entgegnete Mordred mit unheimlich ruhiger, kalter Stimme. „Unsere Raben - die Morgan-Raben - die über der ganzen Gegend kreisen und deren scharfen Augen so leicht nichts entgeht, haben es Angarath zugeflüstert. Aber, Riordan, es gibt noch einen anderen Friedhof in der Nähe, der sehr versteckt liegt und den kaum jemand kennt. Die Zigeuner begraben dort diejenigen ihrer Toten, von denen sie annehmen, daß sie bei Lebzeiten verrückt oder von bösen Geistern besessen waren. Die Zombies, von denen ich spreche, werden von dort kommen. Sie sind durch keinen Exorzismus gebannt" In diesem schlimmen Augenblick begriff Glenn Riordan plötzlich mit grausamer Klarheit, was die alte Samantha Putli gemeint hatte, als sie zu ihm sagte, die Hilfe des Priesters würde ihm in der Stunde der Not nichts nützen. Nun verstand er auch den Sinn ihres Ausspruchs: „Wer einen Acker vom Unkraut reinigen will, darf nicht das falsche Feld anzünden." Sie hatte ihn davor warnen wollen, eine von einem anderen Ort als dem Friedhof von Worrick drohende Gefahr zu übersehen. Jetzt wußte er es jetzt, da es zu spät war. Mordred ergriff das Opfermesser - eine schwere Machete, wie sie auf den Karibischen Inseln zum Zuckerrohrschneiden verwendet wird -, mit dem er die Opfertiere enthauptet hatte, und beugte sich über Elizabeth Morgan. Glenn Riordan bäumte sich wie ein Rasender in seinen Fesseln auf, doch die Stricke gaben nicht nach. Der Hexer machte einen kleinen Einschnitt in Elizabeths rechtes Handgelenk und ließ ein paar Tropfen ihres Blutes auf eine der Wachspuppen fallen. Dann kam er zu Riordan und tat dasselbe an ihm. Danach stellte er die kleinen Holzsärge mit den Figuren auf den Boden, breitete seine Arme aus und murmelte mit geschlossenen Augen leise Beschwörungen, denen Glenn Riordan immer wieder den Namen „Samedi" entnehmen konnte. Schließlich griff er nach den Stahlnadeln und durchbohrte beide Puppen damit. Riordan war es, als fühlte er den Stich durch sein eigenes Herz gehen, aber das mochte Aberglauben sein. Er wußte aber, daß in diesem Moment die schrecklichen Zombies aus ihren
nächtlichen Gräbern steigen würden, um sich auf die Suche nach ihren Opfern zu machen. „Es wird nicht lange dauern, bis die Zombies die Gruft erreicht haben", sagte Mordred. „Deshalb werde ich jetzt gehen und euch allein hier zurücklassen." Er wollte noch etwas hinzufügen, kam aber nicht mehr dazu. Von Verzweiflung und hilflosem Zorn überwältigt, warf Glenn Riordan seine gefesselten Beine hoch und trat nach dem höhnisch lächelnden Gesicht des Hexers. Der Tritt kam für Mordred so unerwartet, daß er ihm nicht mehr ausweichen konnte. Er wurde getroffen und fiel rücklings zu Boden. Mit einem Fluch kam er wieder auf die Beine. Er hatte sich beim Fallen die Klinge der Machete, die neben den kleinen Holzsärgen gelegen hatte, tief in den rechten Unterarm gestoßen. Rotes Blut rann an seinem Arm und seiner Hand entlang und tropfte von den Fingerspitzen. Der Hexer wurde leichenblaß, als er sah, daß die beiden von Stahlnadeln durchbohrten Wachsfiguren ganz mit seinem eigenen Blut besudelt waren. In einer Geste der Abwehr hob er unwillkürlich den linken Arm vors Gesicht, während er gleichzeitig zwei, drei Schritte zurückwich. Schreckliche Angst funkelte in seinen Augen. „Verdammt sollst du sein!" schrie er Glenn Riordan an. „Ich sollte dir den Kopf abschlagen für das, was du getan hast." Er streckte die Hand nach der Machete aus, zog sie aber gleich darauf wieder zurück, drehte sich um und hetzte, wie von Furien gepeitscht, aus der Gruft. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu. „Was ist geschehen?" hörte Riordan Elizabeth Morgan mit zitternder Stimme fragen. „Auch Mordreds Blut klebt jetzt an den beiden Wachsfiguren; mehr von seinem als von unserem Blut", antwortete er. „Nun trifft der Fluch, den er selbst ausgesprochen hat, auch ihn. Er ist aus Angst vor den Zombiedämonen geflohen, weil sie ihn ebenso töten werden wie uns, wenn sie seiner habhaft werden. Seine Furcht ist so groß, daß er sich nicht einmal die Zeit nahm, mich mit eigener Hand umzubringen, obwohl er es gern getan hätte. Mordred ist in seine eigene teuflische Falle gestolpert. Aber wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren: wir müssen uns irgendwie von unseren Fesseln befreien. Ich werde einen der Leuchter umstoßen. Wenn ich Glück habe, erlischt wenigstens eine der Kerzen nicht, und ich kann über ihrer Flamme die Stricke an meinen Handgelenken durchsengen." Mühsam schob sich Glenn Riordan auf den ihm zunächst stehenden Wudu-Altar zu. Die Fesseln schnitten bei jeder Bewegung tief in sein
Fleisch. Aber er biß die Zähne zusammen und achtete nicht auf den Schmerz, denn jetzt ging es um Minuten. Er hatte fast den ersten Leuchter erreicht, als er draußen Schritte hörte, die sich der Gruft durch die Dunkelheit näherten und die steinernen Treppenstufen heruntertappten. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Zu spät, schoß es ihm durch den Sinn. Er wandte den Kopf und starrte wie gebannt zur Tür hinüber, die sich langsam öffnete und in der nächsten Sekunde den furchtbaren Anblick eines Zombies preisgeben würde. Die Tür schwang auf. Ein Mann stand auf der Schwelle, eine Stablampe in der Linken, einen Polizeirevolver in der rechten Hand. Es war Inspektor Frank Moynihan. *** „Sie hätten keine Minute später kommen dürfen", sagte Glenn Riordan, während Moynihan ihn von seinen Fesseln befreite. „Wie haben Sie uns hier ausfindig gemacht?" „Das ist nicht mein Verdienst, sondern das von Samantha Putli", antwortete der Inspektor. „Sie hat Ihren Wagen, den silberfarbenen Humber, gefunden. Es muß eine ihrer rätselhaften Eingebungen gewesen sein, die sie geradewegs zu der Stelle führte, wo er versteckt worden war. Jemand hatte ihn von der Straße herunter in die Moorheide gefahren und dort in einem großen Tümpel versenkt. Der Wagen war ganz mit schwarzem, schlammigem Wasser bedeckt; man mußte schon genau hinsehen, um ihn zu erkennen. Da wußte ich, daß jemand versucht hatte, alle Spuren zu beseitigen, die Sie, Riordan, hinterlassen hatten. Danach war es nicht mehr schwierig, zu erraten, wo der Täter zu suchen sei." Moynihan erzählte Glenn Riordan mit kurzen Worten, was sich am vorangegangenen Tag und danach seit Anbruch der Nacht ereignet hatte, während Riordan gleichzeitig Elizabeth Morgans Fesseln löste. „Pater Connery und die alte Hexe Samantha Putli warten in meinem Wagen auf der Landstraße", beendete der Inspektor seinen Bericht. „Und was hat sich inzwischen in der Gruft ereignet? Hier stinkt es geradezu nach Schwarzer Magie." „Das erkläre ich Ihnen später, Moynihan", sagte Glenn Riordan rasch. „Mordred Morgan hat dieses Grabgewölbe erst vor wenigen Minuten verlassen. Und auch wir müssen fort. Denn er hat Zombiedämonen beschworen, die jeden Augenblick hier auftauchen können. Außerdem ist der lebende Leichnam Lady Eleanors draußen im Moor und sucht nach
Lord Richard Morgan, der geisteskrank ist, wie ich inzwischen weiß, um ihn zu töten. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir einen weiteren Mord verhindern wollen, Inspektor. Gehen Sie ins Schloß und versuchen Sie, Mordred und seine Frau Angarath festzunehmen. Seien Sie auf der Hut - und machen Sie sofort von der Waffe Gebrauch, wenn die beiden Ihnen mit ihrer verfluchten Schwarzen Magie begegnen wollen. Wenn Sie gezwungen sind, zu schießen, zielen Sie auf das Herz. Das wird Ihnen vielleicht das Leben retten, denn die beiden sind erbarmungslose Mörder, denen ein Menschenleben nichts gilt. Lady Elizabeth und ich werden uns auf die Suche nach Lord Richard Morgan und dem Zombie von Lady Eleanor machen. Wir werden Pater Connery mitnehmen. Sein geweihtes Kreuz vermag mehr gegen einen Zombie als Ihr Revolver, Inspektor." Sie verließen den verdammten Ort. Draußen schien der Mond. Ein kühler Nachtwind strich durch das Moor und blies die üblen Gerüche weg, die in der Gruft geherrscht hatten. Glenn Riordan empfand die ersten Atemzüge unter dem freien Himmel wie eine Erlösung. Die beiden Männer nahmen das Mädchen in die Mitte und eilten auf das Schloß zu. Aber sie waren noch nicht hundert Schritt weit gekommen, als Moynihan die anderen mit einer Handbewegung zum Stehen brachte. Da seine Augen nicht so lange dem flackernden Kerzenlicht in der Gruft ausgesetzt gewesen waren, sah er in der Dunkelheit schärfer als Glenn Riordan und Lady Elizabeth. Etwa fünfzig Schritte vor ihnen spielte sich eine unheimliche, vom fahlen Mondlicht erhellte Szene ab. Ein Kreis dunkler, unbeholfen vorwärts tappender Gestalten bewegte sich, die Arme in blindem Tasten erhoben, langsam über die Moorheide. Die Gesichter der gespenstischen Gestalten waren, soweit man sie im Mondschein erkennen konnte, schrecklich anzusehen. Die meisten Gestalten waren eben noch mit Fetzen bekleidet. In der Mitte ihres Kreises befand sich ein Mensch - ein lebender Mensch, der verzweifelt bald da, bald dort nach einem Ausweg aus der Umzingelung suchte. „Zombies", sagte Glenn Riordan leise, mit gepreßt klingender Stimme. „Und der Mann in ihrer Mitte ist Mordred Morgan. Es ist ihm also nicht gelungen, sich noch rechtzeitig im Schloß in Sicherheit zu bringen. Die lebenden Toten waren schneller. Er muß ihnen auf der Flucht genau in die Hände gelaufen sein. Und da sein Blut an den von ihm selbst mit einem Fluch belegten Wachsfiguren in der Gruft klebt, werden die Zombies ihn töten. Er wird ein Opfer seiner eigenen satanischen Hexerei."
Unwillkürlich hob Moynihan seinen Dienstrevolver, aber Glenn Riordan drückte den Lauf der Waffe herunter. „Sie wissen doch, Inspektor, daß Revolverkugeln nichts gegen Zombies auszurichten vermögen", sagte er. „Mordred ist verloren. Wir können nichts für ihn tun." Der Hexer schrie nur ein einziges Mal auf, als die Zombies ihn packten. Elizabeth Morgan wandte sich schaudernd ab und verbarg ihr Gesicht an Glenn Riordans Schulter. In dem Moment, in dem Morgan starb, ereignete sich etwas Seltsames. Die lebenden Toten hielten in ihrem blutigen Werk inne. Sie standen schwankend da, als sei mit einemmal alle Kraft aus ihren Körpern gewichen. Dann sank einer nach dem anderen um und blieb regungslos auf der Erde liegen. „Was geschieht da?" fragte Moynihan heiser. „Der Hexer ist tot, und mit ihm sterben die Geschöpfe der Nacht, über die ihm von den Dämonen der Hölle Macht verliehen wurde. Ich glaube, der Spuk ist vorbei", antwortete Glenn Riordan. Sie wichen dem grausigen Haufen zusammengebrochener Gestalten aus und nahmen ihren Weg zum Schloß wieder auf. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie fühlten nur eine unsagbare Erleichterung. Dann hörten sie wirre Geräusche aus der Richtung, in der Schloß Morgan lag. Es klang, als krächzten und schrien Hunderte, ja Tausende von Raben wild und angriffslustig durcheinander. Dann ertönte der schrille Aufschrei einer menschlichen Stimme, dem ein dumpfer Aufprall folgte, als sei ein Körper aus großer Höhe herabgestürzt. Sekundenlang herrschte Stille. Gleich darauf ertönte ein Rauschen wie von unsichtbaren Schwingen, das näher und immer näher kam. Ein nicht endenwollender Sturm von Raben tauchte unter dem eisenfarbenen Nachthimmel auf und zog mit schweren Flügelschlägen über die drei Menschen hinweg, hinaus in die Moorheide. Obwohl sie nicht sehr hoch flogen und Glenn Riordan, Lady Elizabeth und Moynihan deutlich im Mondlicht sehen mußten, schickte sich keiner der Vögel zum Angriff an. Die drei näherten sich dem Schloß. Vor dem Torgewölbe lag eine menschliche Gestalt auf der Erde. Während Riordan und Elizabeth Morgan stehenblieben, ging Moynihan weiter und ließ den Lichtkegel seiner Stablampe über die regungslose Gestalt gleiten. „Es ist Angarath Morgan", sagte er, als er zurückkehrte. „Kein Zweifel, sie ist tot. Es sieht so aus. als hätten die Raben sie von der Mauerbrüstung
über dem Torgewölbe herabgestürzt und dann . . . Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der so furchtbar zugerichtet war. Die Raben müssen wie von Sinnen gewesen sein." Moynihan wirkte auf einmal hilflos und müde. Die Anspannung der letzten Tage und Nächte machte sich bemerkbar. „Wir müssen versuchen, meinen Vater zu finden", bat Elizabeth Morgan flehentlich. „Er ist, wenn Mordred die Wahrheit gesagt hat, irgendwo dort draußen im Moor." „Das Moor ist sehr groß", murmelte der Inspektor. „Ich bezweifle, daß wir Ihren Vater in der Dunkelheit finden werden, Lady Elizabeth. Vielleicht wäre es besser, mit der Suche bis zum Morgengrauen zu warten. Dann könnte ich Polizeihunde aus Worrick anfordern, die die Spur des Vermißten im Moor aufnehmen würden." „Bei Tagesanbruch wäre es längst zu spät, nach Lord Morgan zu suchen", warf Glenn Riordan ein. „Wenn wir ihn dann überhaupt noch finden würden, wäre er schon tot. Lady Eleanors Zombie hätte ihn umgebracht. Die lebenden Toten müssen ihre Mordaufträge ausführen, solange die Nacht herrscht." „Ich dachte, mit dem Tod des Hexers wäre der ganze Teufelsspuk erloschen und Lord Richard Morgan drohe keine Gefahr mehr", sagte Moynihan. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Mordred hat durch ein besonderes Opfer den Fluch der Wudu-Dämonen auf Richard Morgan gelenkt. Es heißt, daß dieser Fluch nur durch den Tod ausgelöscht werden kann. Deshalb halte ich es für besser, Lady Elizabeths Vater sofort zu suchen. Aber zuerst wollen wir Pater - Connery holen." „Wenn Sie es für richtig halten, gut", stimmte der Inspektor zu. „Wir sollten uns in zwei Gruppen teilen. Sie und der Priester bilden die eine, Lady Elizabeth und ich die andere", schlug Glenn Riordan vor. „So kommen wir schneller voran." „Aber seien Sie vorsichtig", warnte ihn Moynihan. „Das Moor ist tückisch bei Nacht. Man kann nicht sehen, wo man den Fuß hinsetzt. Und wenn erst der Boden unter einem nachgibt, ist es meistens zu spät, sich noch aus den tückischen Schlammlöchern zu retten." Sie holten Pater Connery aus dem Wagen, und Glenn Riordan erklärte ihm den Sachverhalt in kurzen Zügen. Der Priester erklärte sich ohne Zögern bereit, Moynihan zu begleiten. Aber bevor er sich auf den Weg machte, nahm er das geweihte Kreuz, das er an einer silbernen Kette um den Hals trug, ab und hängte es Elizabeth Morgan um.
„Dieses Kreuz soll Sie vor allem Bösen schützen, das vielleicht noch im Dunkel der Nacht auf Sie lauert", sagte er. Auch Samantha Putli war aus dem verbeulten alten Austin gestiegen. „Wo ist der Mann, der meinen Sohn getötet hat und ihm selbst die ewige Ruhe im Grab noch verwehren wollte?" fragte sie. „Ich will ihn sehen. Ich will mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen, daß Mordred Morgan und sein Weib Angarath, diese Hexe, zur Hölle gefahren sind." Widerstrebend wies Moynihan ihr den Weg. Obwohl er die Alte nicht mochte, weil sie ihm unheimlich war, sah er ein, daß sie ein Recht darauf hatte, daß ihr Verlangen erfüllt wurde. Glenn Riordan und Elizabeth Morgan warteten nicht auf den Inspektor und Pater Connery, sondern drangen gleich in das Moor ein, dessen mit Gras, verfilztem Buschwerk und da und dort mit Bäumen bestandene Oberfläche im bleichen Mondlicht einen trügerisch sicheren Eindruck vermittelte. Man konnte die gefährlichen, schwarzen, grundlosen Schlammtümpel, die schon manchem Menschen zum Verhängnis geworden waren, erst sehen, wenn man dicht davor stand. Doch das Mädchen, das in dieser Umgebung aufgewachsen war, kannte jeden Fußbreit Boden und bewegte sich mit sicheren Schritten über festen Grund. Das nächtliche Moor war eine seltsame, unwirkliche Welt, in der heller Mondschein und tiefschwarze Schatten die Umrisse aller Gegenstände schärfer hervortreten ließen, als es bei Tageslicht der Fall gewesen wäre. Doch die Ferne verschwamm in bläulichem Dunst, so daß Himmel und Erde, ohne Trennungslinie ineinander überzugehen schienen. Da und dort flackerten über den Moorlöchern Irrlichter, winzige, bläuliche, gespenstische Flammen von Sumpfgas, die hin und her tanzten wie verlorene Seelen in der schwarzen Unendlichkeit des Jenseits. Die Nähe des Mädchens - außer ihm wohl das einzige Wesen von Fleisch und Blut in der geisterhaften Welt des nächtlichen Moors - gab Glenn Riordan Halt und Zuversicht. Plötzlich aber blieb Elizabeth Morgan, die bisher zielstrebig, als wüßte sie genau, wo sie ihren Vater zu suchen hätte, vorangeschritten war. stehen und drehte sich nach Riordan um. „Glenn", sagte sie, mit einemmal das vertraute „Du" wählend, was sie bisher noch nie getan hatte, „wenn das alles vorüber ist, dann bring mich von hier fort! Willst du mir das versprechen? Ich kann nicht länger im Schloß leben. Ich würde ersticken unter den Schatten, die die Vergangenheit auf mein ganzes Leben werfen würde. Ich habe Angst, daß
dieser Teufelsspuk vielleicht doch noch nicht zu Ende ist, daß das Böse im Schatten der Morgan-Gruft lauert - und eines Tages die Hand nach mir ausstrecken könnte, weil ich dieser fluchbeladenen Familie angehöre. Bliebe ich hier, würden mich Furcht und böse Erinnerungen eines Tages noch um den Verstand bringen." „Wir leben in zwei verschiedenen Welten, Elizabeth", entgegnete er. „Du bist eine Lady, und du bist reich. Ich aber werde niemals etwas anderes sein als ein farbiger Privatdetektiv, der sich in irgendeiner verdammten Großstadt mit Verbrechern herumschlägt und - schießt und dir nicht viel zu bieten hat." „Das ist mir gleich", sagte sie. Er nahm ihre Hand, und ihm schien, als würde durch die einfache Berührung ihrer Finger, ihrer Handflächen, ihrer Handgelenke ein Bündnis zwischen ihnen geschmiedet, das stärker war als Dämonenmacht und Schwarze Magie, stärker selbst als der Tod. „Und jetzt laß uns weitergehen", bat Elizabeth Morgan. „Wir müssen uns beeilen." „Weißt du denn, wo wir deinen Vater finden können?" „Ich glaube, ja. Am Steilufer über dem Severn-Fluß. Dort ist sein Lieblingsplatz, wo er sich oft mit Eleanor aufgehalten hat. Wahrscheinlich ist er auch jetzt dort." Das Mädchen führte Glenn Riordan noch etwa eine halbe Stunde durch das Moor, dann gelangten sie auf festen Boden, gingen noch zwei-, dreihundert Schritt weit - und standen plötzlich am Rand eines steilen Felsabsturzes, von dessen Kante die Wand mehr als fünfzig Meter senkrecht in die Tiefe abfiel. Unten schäumte, silberweiß und schwarz im Mondlicht, der Severn, der von den düsteren Kambrischen Bergen im Westen herabströmte und gurgelnde, gierige Strudel zwischen den scharfkantigen Granitblöcken auf dem Grund der Schlucht bildete. Oben aber, am Rand des Abgrunds - unwillkürlich griff Elizabeth Morgan haltsuchend nach Glenn Riordans Arm -, stand ein Mann, der unentwegt in die gewaltige Tiefe blickte: Lord Richard Morgan. Hinter ihm, keine zwanzig Schritte entfernt, stand eine andere, schreckliche Gestalt. Morgan schien sie noch nicht gesehen zu haben. „Vater!" schrie Elizabeth auf. Beim Klang ihrer Stimme drehte sich Richard Morgan um - und sah, wem er gegenüberstand. Wie von einem Schlag ins Gesicht getroffen, taumelte er rückwärts bis hart an den Rand des Abgrunds, die Hände wie abwehrend vor das Gesicht gehoben.
Doch das furchtbare Wesen, das einst die schöne, stolze, dämonische Lady Eleanor gewesen war, machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. Regungslos stand es da - und auf einmal begann es zu reden. Die Stimme klang nicht laut, und doch übertönte sie das Rauschen des Wassers. „Was hast du getan, Richard? Warum hast du mir das angetan? Deine verblendete Liebe - und die Hexerei deines Bruders - haben mich selbst im Grab noch um die Ruhe gebracht. Mordred wollte, daß ich dich töte. Er hat dich gehaßt, so sehr gehaßt, weil ich dir schenkte, was ich ihm versagt habe: meine Liebe. Aber jetzt ist er tot und hat keine Macht mehr über mich. Trotzdem kann ich nicht sterben, endgültig sterben, Ruhe finden, denn der Fluch der Dämonen, der Fluch der höllischen Mächte, liegt auf mir." Das ist unmöglich, das kann nicht sein, dachte Glenn Riordan. Dieser lebende Leichnam konnte nicht sprechen. Er mußte über ein Jahr in seinem steinernen Sarkophag in der Morgan-Gruft gelegen haben. Und dennoch hörte er Lady Eleanors Stimme. Auf einmal begriff er, was die schreckliche Gestalt zum Sprechen brachte: Es war die rätselhafte Macht der Liebe, einer Liebe, die über das Grab hinaus währte. „Was habe ich getan? Großer Gott, was habe ich angerichtet?" Der Funke des Wahnsinns in Richard Morgans Augen war erloschen. Ausgelöscht durch Angst, Ekel und Entsetzen, aber auch durch Mitleid und Liebe. „Mordred hat mir geschworen, er könnte dich so ins Leben zurückrufen, wie du einst warst. In all deiner blühenden Schönheit. Und jetzt kommst du so zu mir. Du, die ich mehr geliebt habe als mein eigenes Leben." „Er hat dich belogen, Richard. Er hat so lange versucht, dich mittels seiner Hexerei um den Verstand zu bringen, bis du schließlich sogar dazu bereit warst, den Dämonen der Hölle ein Menschenopfer darzubringen, um mich aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Ich habe nach meinem Tod schwer dafür büßen müssen, daß ich mich in meinem Leben dämonischer Kräfte bedient habe. Aber das, was du mir in dieser Nacht durch deine verblendete Liebe angetan hast, ist schlimmer als alle Qualen der Hölle, Richard, wir haben beide schwere Schuld auf uns geladen. Aber wirkliche Liebe und die Bitte um Vergebung können diese Schuld vielleicht tilgen. Erinnerst du dich noch, was du mir geantwortet hast, als du meinen Geist in der Morgan-Gruft beschworst und ich dich fragte, ob du mich noch liebtest?" „Ich habe in meinem Herzen geantwortet: Bis in alle Ewigkeit", sagte Richard Morgan tonlos.
„Wenn du mich wirklich liebst, Richard, dann hilf mir, zu sterben!" Das klang wie der schluchzende Aufschrei einer gequälten Seele. „Hilf mir, den Fluch abzuschütteln und im zweiten, endgültigen Tod Ruhe zu finden! Ich bitte dich um eine Tat der Liebe!" Elizabeth Morgan wollte sich von Riordan losmachen und auf ihren Vater zulaufen. Doch Glenn Riordan hielt sie fest. „Nein, tu es nicht!" sagte er. „Was immer jetzt auch geschehen mag. du darfst nicht eingreifen. Das ist eine Sache zwischen zwei fluchbeladenen Seelen. Und wenn sie in der Liebe zueinander Erlösung finden, dann darf niemand zwischen sie treten." Noch einmal hallte Lady Eleanors Stimme durch die Nacht: „Hilf mir, zu sterben, Richard! Hilf mir, zu sterben!" „Ja, ich werde dir helfen", antwortete Lord Richard Morgan. Er streckte die Hand aus, und die düstere Gestalt, die einmal Lady Eleanor gewesen war. näherte sich ihm langsam, bis ihre Hände sich berührten. Glenn Riordan und das Mädchen sahen, wie Richard Morgan die schreckliche Gestalt in seine Arme nahm, mit ihr über den Rand des Abgrunds trat - und in die tödliche Tiefe stürzte.
ENDE
Die Reise durch das
DÄMONEN-LAND geht weiter!
Einer der grausamsten Aztekenherrscher war Ende des 15. Jahrhunderts Prinz Montezuma, dessen blutige Opferrituale Zehntausende von Leben forderten. Als schließlich die Spanier unter Cortez mit ebensolcher Grausamkeit ins Land einfielen und den Prinz entmachteten, fiel ihnen ein kleiner goldener Schrein in die Hände, der den wahren Grund für Montezumas Blutdurst enthielt. Denn in ihm ruhte ein Schädel aus Kristall. Ein lebendiger Schädel, besessen von einem schrecklichen Dämon. Das Kästchen wurde Teil einer Schiffsladung nach Spanien. Aber dort kam es nie an. Das Schiff versank unter mysteriösen Umständen. Bis es, über 450 Jahre später, wiedergefunden wurde und das Kästchen erneut auf das Antlitz der Erde gelangte. . .
Der Kristallschädel ist der Titel des nächsten RAVEN-Abenteuers aus der Feder von Star-Autor Wolfgang Hohlbein, das ihr in 14 Tagen lesen könnt.