Dinge auf Reisen
Münchner Beiträge zur Volkskunde herausgegeben vom Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität München Band 38
Die Publikationen der Reihe Münchner Beiträge zur Volkskunde werden von der Münchner Vereinigung für Volkskunde e.V. großzügig gefördert
Dinge auf Reisen
Materielle Kultur und Tourismus herausgegeben von Johannes Moser und Daniella Seidl
Waxmann 2009 Münster / New York / München / Berlin
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Informationen in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8309-2203-2 ISSN 0177-3429 © Waxmann Verlag GmbH, Münster 2009 www.waxmann.com
[email protected] Umschlaggestaltung: Natalie Bayer, München Titelbild: Daniella Seidl Satz: Natalie Bayer, München Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier, DIN 6738 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany
Helge Gerndt zum 70. Geburtstag gewidmet
Inhalt
Dinge auf Reisen Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur in der Tourismusforschung Daniella Seidl/Johannes Moser ................................................................ 11 Reise-Fieber Die Materialität von Bewegung und Emotion Orvar Löfgren ............................................................................................... 25 Prosperitätstourismus und das letzte Hemd, das keine Taschen hat Über materielle Ansprüche und die immaterielle Bedeutung des heutigen Tourismus Dieter Kramer ............................................................................................... 53 Tupperdose mit Heimaterde Die Dingwelt in Reiseimaginationen Chrisiane Cantauw ....................................................................................... 69 Tauromaquia – Eine Kontroverse um Stiere und Identitäten Die Vermittlungsrolle des Tourismus-Raumes bei der Aushandlung von Bedeutung Antonio Miguel Nogués Pedregal ............................................................ 83 Fremde Dinge Moscheen in westeuropäischen Metropolen als touristische Sehenswürdigkeiten Burkhart Lauterbach ................................................................................. 103 Der Urlaub im Wohnzimmer Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen – Reiseandenken und Souvenirs Burkhard Pöttler ......................................................................................... 119
„Made in Berlin“ Souvenirs nach der Jahrtausendwende Anja Früh ..................................................................................................... 137 Westfälische Kulinarik in Reiseberichten und touristischer Vermarktung Sonja Böder ................................................................................................. 153 Lederhose auf Reisen Figurationen über Missverständnisse anhand eines bekannten Kleidungsstücks Martin Jonas ................................................................................................ 167 „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ Die Grauzone zwischen Tourismus und Migration am Beispiel des Gepäcks von Neuseelandauswanderern Tanja Schubert-McArthur ........................................................................ 179 Gabe, Opfer, Ware – Dinge auf Trekking-Reisen Kundri Böhmer-Bauer ............................................................................... 197 Zur Phänomenologie eines Hotelbettes Conny Eiberweiser ..................................................................................... 211 Frühstückspension und Eckbank Eine materielle und materialistische Kultur der Enge Michael Zinganel ....................................................................................... 225 Im Eigenheim um die Welt Zum Umgang von Weltumseglern mit ihren Yachten Martina Kleinert ......................................................................................... 245 „Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße.“ Das Auto im Tourismus der Nachkriegszeit Cord Pagenstecher ..................................................................................... 263 Deutsche Spanienreisen ausgestellt Margarete Meggle-Freund ....................................................................... 281
Die Mittelmäßigkeit des Reisens Ein Plädoyer zur Erforschung der materiellen Kulturen des Tourismus Klara Löffler ................................................................................................ 299 Dank.............................................................................................................. 311 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 312
Dinge auf Reisen Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur in der Tourismusforschung Daniella Seidl/Johannes Moser
Wer kennt nicht das (Kinder-)Spiel „Ich packe meinen Koffer …“, das uns dazu auffordert, eine möglichst große Anzahl von Dingen zu repetieren, die auf Reisen mitgenommen werden können. Ich packe meinen Koffer und nehme mit: die Taucherbrille, das Badezeug, den Regenschirm, das Medikament gegen Reisekrankheit usw. Keiner reist ohne Gepäck. Nicht nur im Imaginären, sondern auch im Realen packen wir unsere Koffer oder Rucksäcke mit nützlichen Dingen: Der Reisepass, der Geldbeutel und die Zahnbürste stehen hier sicherlich an erster Stelle. Aber auch lieb gewordene und vertraute Dinge werden eingepackt, von denen wir glauben, sie auf Reisen nicht missen zu wollen und zu können: das Foto der Daheimgebliebenen, der Talisman oder das LieblingsT-Shirt. Denn die Menschen sind (nicht nur) auf Reisen „an sich unterwegs, sondern sie sind es mit sich“ (Rolshoven 2006: 190), sie reisen immer auch mit ihren Gewohnheiten und mit ihren Dingen. Das Reisen stellt einen Erfahrungs- und Handlungsraum dar, der gerade zwischen dem Wunsch nach Vertrautem und der Neugier nach Fremdem oszilliert. Den Dingen fällt hier eine wichtige Bedeutung als emotionale Verbindungsglieder zwischen Alltag und Urlaub zu, sie dienen als ‚Link‘ und verknüpfen beide Bedeutungssetzungen (vgl. Larsen 2008). Doch die Dingwelt in unseren Koffern umfasst nicht nur die mitgenommen Objekte des alltäglichen Gebrauchs und der vertrauten Gewohnheiten, sondern auch die der zurückgebrachten Souvenirs und Erinnerungsstücke. In meinen Koffer packe ich (auf dem Weg nach Hause): die gefundene Muschel vom Strand, die Schneekugel mit dem Eifelturm und die Chiantiflasche im Bastmantel. Diese zurückgebrachten Dinge erweisen sich, wie schon Konrad Köstlin konstatierte, als „Andenken und Auftrag“ in einem (Köstlin 1991: 140). Sie fungieren als individuelles Erinnerungsobjekt und sind zugleich als symbolkommunikatives Belegstück unserer Reisen für die Anderen anzusehen.
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Reiseandenken repräsentieren unseren ‚Reise-Stil‘ (vgl. Georg 1995) und dienen somit als Distinktionsinstrumente: Der Kulturreisende bringt gerade nicht die Plastik-Reproduktion en miniature der besuchten Sehenswürdigkeit mit nach Hause, sondern das vermeintlich ‚authentische‘ Kunsthandwerk der bereisten Region. Und der Pauschalreisende hat vice versa das RolexImitat vom Strandverkäufer und nicht den handgeknüpften Orientläufer im Gepäck. Auch wenn hier augenscheinliche ökonomische Gründe für die Wahl der mitgebrachten Souvenirs ausschlaggebend scheinen und zugleich das ‚alte Spiel‘ im Tourismus zwischen ‚echt‘ und ‚falsch‘, ‚authentisch‘ und ‚hergestellt‘ (vgl. Cohen 1979; McCannell 1999) bewusst oder unbewusst mitgespielt wird, so sind diese Dinge immer auch Ausdruck des sozialen und kulturellen Kapitals des Reisenden. Doch die Dinge und das Reisen finden nicht nur im Koffer und seinen Inhalten eine allgegenwärtige Verschränkung. Es ist gerade die sinnliche Wirkmächtigkeit der Materialität, die den Erfahrungsraum ‚Urlaub‘ ausmacht. In den Ferien wollen wir durch die „Präsenzeffekte von Orten und Dingen“ (Tschofen 2007: 194) das ‚Andere‘ erfahren. Das Reisen als Erlebnis suchen und finden wir (gerade auch) über und mit den Dingen: Sei es die bunte Hängematte, in der wir am Strand von Kerala liegen, sei es der süffige Sangria, den wir aus Bechern am Ballermann auf Mallorca trinken oder das Campingmobil, das unseren Wunsch nach Beheimatung und zugleich Freiheit im Unterwegssein zu erfüllen vermag. Dennoch sind diese Dinge auf Reisen nicht nur in ihrer konkreten sinnlichen Materialität für die touristischen Akteure von Bedeutung, sie sind immer auch als intersubjektive Ordnungssysteme gesellschaftlicher Konstruktionen zu verstehen und zu deuten. Die Semantik der Dinge und des Umgangs mit ihnen im touristischen Kontext unterliegt nicht nur einer soziokulturellen Bedeutungssetzung, sondern auch dem historischen Wandel. Jede Reiseform heute und gestern umfasst spezifische Gegenstände. Der Italienreisende der Romantik und der ‚Wirtschaftswunder-Tourist‘ im selben Land repräsentieren sich durch unterschiedliche Dingwelten (vgl. u.a. Pagenstecher 2003): So hat der eine Zeichenblock und Goethes Gedichte im Gepäck, der andere Sonnencreme und Caprihose. Sucht der ‚bildungsbürgerliche‘ Reisende des 19. Jahrhunderts nach geistiger Erbauung durch antike Ruinen und Renaissance-Kunst, so erwartet der Pauschaltourist in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Erholung im Liegestuhl und die preiswerte Pizza. Im sich immer weiter ausdifferenzierenden Spektrum moderner Tourismuspraktiken sind es gerade die Dinge, die als Symbole von Ausschluss und Zugehörigkeit fungieren: Kein Backpacker ohne ‚Lonely Planet‘ (vgl. Binder
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2005), kein Sinn suchender Reisender nach Santiago de Compostela ohne Pilgerstab und Jakobsmuschel. Die Dinge in ihrer symbolkommunikativen Zeichenhaftigkeit verweisen so immer auch auf Reisekonzepte und -stile der touristischen Akteure. Dinge und Reisen, das meint aber auch die Ding(-Welten), mit denen der touristische Raum ausgestattet ist und zugleich hergestellt wird: Die Club-Ressorts an den Stränden der Welt sind ohne die sich gleichende Ausgestaltung mit Liegestühlen, Sonnenschirmen, Kinderspielecken und Fitnessgeräten nicht denkbar. Im Wellnesshotel erwarten wir den Plüschbademantel und die Duftkerze, im Abenteuerurlaub das bereitgestellte (Extrem-) Sportgerät und das Survival-Kit. Touristisches Marketing greift dennoch immer auch auf die materielle Kultur der zu bereisenden Orte und Regionen zurück. Nicht nur das ‚cultural heritage‘ (vgl. u.a. Hemme u.a. 2007) ist für die Bewerbung und Inszenierungen im Tourismus von großer Bedeutung. Auch Alltagskultur wird immer mehr zum Werbeträger, bei dem Traditionen re- beziehungsweise neu konstruiert werden. Vor allem regionale Artefakte und Produkte unterliegen einem Prozess der ‚Versehenswürdigkeitung‘, kein Reiseführer, der nicht nur mit der Baukultur, sondern auch mit ‚typischen‘ Handwerkstraditionen oder agrarischen beziehungsweise gastronomischen Kulturtechniken und dessen Produkten wirbt; selbst im innerdeutschen Tourismus spiegelt sich dies wieder: Neben seinen Königsschlössern und Bauernhäusern instrumentalisiert Bayern auch seine Brautradition und Weißwürste zu Werbeträgern. Die materielle Kultur der bereisten Orte wird zur wichtigsten Ressource im Wettbewerb um Einnahmen durch den Tourismus. Die Konstruktion des Tourismusraumes ist zugleich als Produkt von Interaktionen und einem dialogischen Aushandlungsprozess aller beteiligten Akteure zu verstehen, und kann sich hier durchaus als identitätsstiftend für die Bereisten erweisen. Die materielle Ausgestaltung touristischer Räume ergibt sich so aus den Erwartungen der Reisenden und den Re-Traditionalisierungsprozessen der vor Ort bestehenden Materialität durch die Ansprüche der Bereisten (vgl. Römhild 2004). Das Zusammenspiel von Dingen und Reisen, von materieller Kultur und touristischen Räumen zeigt sich aber nicht nur an diesen hier selektiv ausgewählten Beispielen als ein komplexes Gefüge zwischen konkreter Materialität, intersubjektiven Praxen und soziokulturellen Konstruktionsprozessen von Bedeutungen. Die Beschäftigung mit den Dingen des Reisens ist – so kann gefolgert werden – einer tiefer gehenden systematisierenden Analyse wert. Dennoch
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könnte man immer noch gleichsam von einer ‚Dingvergessenheit‘ der (kulturwissenschaftlichen) Tourismusforschung sprechen.1 Die Erforschung des vermeintlich Marginalen erscheint dabei als ein Versuch, aus den Dingen das ‚große gesellschaftliche Ganze‘ zu konstruieren, der aber gleichzeitig die Gefahr birgt, sich allzu leicht zu überheben (vgl. Bachmann 1997): Was verrät uns schon – so zaudert der Forscher – die Taucherbrille im Koffer des Reisenden, außer dass Letzterer im Meer schnorcheln möchte? Was erzählt uns die mitgebrachte Plastikkopie des Eifelturms, außer dass der Reisende in Paris war und zumindest vor ‚Kitsch‘ nicht zurückschreckt? Sind die Dinge wirklich so banal und wenig aussagekräftig, wie sie zunächst erscheinen mögen? Sachen bleiben nur ‚stumm‘, das hat schon Otto Lauffer angemahnt (vgl. Lauffer 1943), wenn wir nicht aus ihrem Kontext zu lesen vermögen, denn über das Handeln mit und über die Dinge können wir die Bedeutungen erkennen, die sie transportieren und zugleich setzen. Die sozialwissenschaftliche Ausrichtung der Volkskunde in den 1980er Jahren sowie die Hinwendung zur Kulturanthropologie haben uns zwar ein interdisziplinäres Instrumentarium theoretischer Konzepte beschert, auf das nicht zu verzichten ist, dennoch scheint die in den angloamerikanischen Sozial- und Kulturwissenschaften vorgenommene Orientierung der letzten Jahrzehnte auf die materielle Kultur des sozialen Lebens noch nicht wirklich mitvollzogen.2 Das dort schon in den späten 1970er Jahren propagierte „to read the persons life and personality, and place in society from the goods“ (Douglas/Isherwood 1979: 59) oder die Frage „why some things matter?“ (Miller 1998) erscheinen in der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung oftmals nur als ein randständiger Aspekt. 3 Die Beschäftigung mit den Dingen ist – so müsste man meinen – für die volkskundliche/kulturwissenschaftliche Sachkulturforschung nicht neu, sieht diese doch spätestens seit dem Regensburger Volkskunde-Kongress 1983 auf den Umgang mit den Dingen und nimmt diese als hochkomplexe Bedeutungs- und Ordnungssysteme ernst (vgl. Korff 2005; Heidrich 2007; 1 Als Ausnahme sind hier wohl die Forschungen zu Souvenirs zu konstatieren; vgl. Köstlin (1991); Gyr (2005; 1997; 1994). 2 Exemplarisch hierzu die Arbeiten von Daniel Miller und Arjun Appadurai; vgl. u.a. Miller (1998; 2008) und Appadurai (1986). 3 Die Dingwelt überlassen wir allzu gerne den Kollegen im Museum, auch wenn hier die Ausstellungsprojekte zur Tourismusgeschichte und ihren materiellen Repräsentationen recht rar gesät sind (vgl. Siebenmorgen 1997; ebd. 2007; Museum für angewandte Kunst 2006). Das einzig größere Tourismusmuseum, das ‚Touriseum‘ in Meran, befindet sich bezeichnenderweise selbst in einem hoch aufgeladenen Raum deutscher Tourismusgeschichte; vgl. http://www.touriseum.it (29.4. 2009).
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Eggmann 2009). Doch haben die hier seit Jahrzehnten erarbeiteten Konzepte noch keinen wirklichen Eingang in die Beschäftigung mit touristischen Phänomenen gefunden. Auch hier mag ein Blick über den disziplinären Tellerrand helfen. Gerade in der angelsächsischen Tourismusforschung beziehungsweise ihrer Umdeutung als Teilaspekt einer Mobilitäts- oder Multilokalitätsforschung (vgl. Urry 2000; 2007; Hall/Müller 2004) stehen die Dinge zusehends im Fokus. Die hier vollzogene Perspektivenverschiebung auf eine „touring culture“ (Rojek/ Urry 1997) bringt eine Beschäftigung mit der Materialität des Unterwegsseins und der Bedeutung der Dinge für die temporären Verortungsprozesse der Akteure mit sich (vgl. Baerenholdt u.a. 2004; Larsen 2008).4 Noch sind jedoch Studien der Europäischen Ethnologie, die sich dem „linking mobility, materiality and belonging“ (Bendix/Löfgren 2007: 15) zuwenden, an einer Hand abzuzählen, was eigentlich verwundern sollte. Denn der kulturwissenschaftlichen Volkskunde – was die kleine Klage der Dingvergessenheit unseres Faches verdeutlichen sollte – stehen durchaus neue und alte, interdisziplinäre und eigenständige Konzepte zur Verfügung, um in der Tourismusforschung der Bedeutung der materiellen Kultur Rechnung zu tragen. Es scheint fast so, dass das mittlerweile negativ konnotierte Bild einer traditionellen Volkskunde vor der Mitte des 20. Jahrhunderts noch immer ein immanentes Unwohlsein im wissenschaftlichen Umgang mit den Dingen bewirkt: Bleiben unsere Analysen nicht verhaftet im rein Phänomenologischen oder bestenfalls in der von Gebrauchsformen? Kann aus der Betrachtung des Rollkoffers, des Autos oder des Hotelbettes wirklich ein erkenntnistheoretischer Mehrgewinn erwachsen? Diese Fragen stellten und stellen sich uns sowie einigen Teilnehmern der Tagung Dinge auf Reisen, deren Ergebnisse in diesem Band versammelt sind. Die Herausgeber dieses Sammelbandes haben sich möglichen Antworten angenommen und versuchen hiermit, die Wissensbestände der Tourismusund der Sachkulturforschung gleichsam in einen Koffer zusammenzupacken. Ausgangspunkt dieser Problemstellung, wie man anhand der Untersuchung von Dingen nutzbringende Konzepte für die Tourismusforschung erarbeiten kann, war die 8. Kommissionstagung für Tourismusforschung in der dgv, die vom 10. bis 12. April 2008 in München am Lehrstuhl für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität abgehalten wurde. Dieses Arbeitstreffen nicht nur kulturwissenschaftlicher 4 Vgl. auch die 2007 vom Centre of Tourism and Cultural Change der Metropolitan University of Leeds abgehaltene Tagung „Things that move. The Material Worlds of Tourism and Travel“; vgl. http://www.tourism-culture.com (29.4.2009).
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Tourismusforscher hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Dinge im Kontext touristischer Erfahrungs- und Handlungswelten in den Blick zu nehmen. Das Thema Dinge auf Reisen richtete sich zum einen auf die Dinge selbst in ihrer „spezifischen Kombination von Materialität, Form und Funktion“ (Korff 2005: 39). Zum anderen auf die symbolkommunikativen Zeichenfunktionen und komplexen Bedeutungsebenen der Objekte für und im Tourismus. Diese Verschiebung der Perspektive auf die Dinge erlaubt es – so argumentierten wir in unserem Call for Papers –, neue Themenfelder zu bearbeiten und damit die ‚alten Fragen‘ nach der Bedeutung des Reisens anders zu stellen: Die Fokussierung auf die Dinge des Reisens – für und der Touristinnen und Touristen – ermöglicht es, den Blick auf die konkrete Erfahrungswelt des Reisens zu schärfen. So sind nicht nur die verbindenden Elemente zwischen Alltag und Urlaub, sondern auch die immanenten Bestandteile des Erlebnis- und Kommunikationsraumes ‚Tourismus‘ zu greifen. Und so kann die Kulturpraxis des Reisens in ihren vielfältigen Dimensionalitäten für die Akteure erfasst werden. Der hier vorliegende Tagungsband packt – um nochmals diese Metapher zu bemühen – einen Arbeitskoffer mit interdisziplinären Beiträgen, in denen die Thematik und immer auch zugleich die Valenz der materiellen Kultur für die Tourismusforschung im Fokus stehen. Nicht nur Volkskundler/Europäische Ethnologen beziehungsweise Kulturwissenschaftler, sondern auch Kulturanthropologen, Geschichtswissenschaftler, klassische Ethnologen und Architekturhistoriker beziehungsweise Künstler entwerfen hier eine thematische Neu-Perspektivierung auf die polyvalente Dimensionalität der materiellen Kultur und versuchen, das soziokulturell geprägte Mensch-Ding-Verhältnis im Kontext der Tourismusforschung auszuloten. Eingeleitet wird der Tagungsband mit einem Beitrag des Europäischen Ethnologen Orvar Löfgren, der sich mit den Beziehungen zwischen Materialität, Mobilität und Emotion auseinandersetzt. Löfgren begreift das Reisen als eine (erst) zu erlernende Kulturtechnik und fragt danach, welche (psychischen) Kompetenzen notwendig sind, um mit der materiellen Welt des Reisens umzugehen. Am Beispiel der Eisenbahnreise im 19. Jahrhundert und der Flugreise im 20. Jahrhundert entwirft er eine emotionale Ethnografie des Wartens, des Umgangs mit dem Gepäck und auch der (bedrohlichen) Gefühlszustände wie Reisefieber und Flugangst während des Reisens. Löfgren plädiert in seinem Beitrag für eine vergleichende historische Perspektive, um so die gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen erkennen zu können, unter denen emotional geformte Reiseerfahrungen und von
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den Dingen geprägte Praxen sich ausbilden. Das Reisen als Kulturtechnik erweist sich so als eine erworbene Fähigkeit, die unter spezifischen Kontexten und deren Materialität entsteht und dabei immer auch einem Prozess des historischen Wandels unterliegt. Der Kulturwissenschaftler Dieter Kramer fragt nach dem Verhältnis zwischen den materiellen Ansprüchen und der immateriellen Bedeutung des Reisens. Er versteht den modernen Tourismus als Phänomen aktueller Wohlstandsgesellschaften, in denen Lebensqualität und Bedürfnisse immer auch mit Konsum gekoppelt sind. Kramer fordert dennoch eine kulturwissenschaftliche Tourismusforschung, die die Ebene der Erfahrung und des Erlebens im Besonderen berücksichtigt, denn gerade die Aspekte des ‚Prosperitätstourismus‘, die man nicht kaufen kann, sind es, die den Erlebniswert Reisen ausmachen. Die Analyse dieser individuellen und gesellschaftlichen Bedeutungen des Tourismus ermöglicht es, soziale Verantwortlichkeiten zu diskutieren und Handlungsanleitungen für eine zukunftsfähige und nachhaltige Tourismusentwicklung unter den Bedingungen der Prosperität zu entwerfen. „Warum tut sich die Tourismusforschung so schwer mit der Dingwelt?“, fragt die Europäische Ethnologin Christiane Cantauw. Sie beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem erkenntnistheoretischen Gewinn einer Analyse der materiellen Kultur des Reisens für die Tourismusforschung. Cantauw fordert, die Dinge auf Reisen als Bedeutungssysteme zu untersuchen; im Sinne Roland Barthes versteht sie diese als komplexe semiotische Mitteilungssysteme. Gerade der Blick auf die Semantik der Dinge erschließt die eng verwobenen Kommunikationsstrukturen und reziproken wie vielschichtigen Bedeutungszuweisungen der materiellen Kultur auf Reisen für die Individuen und sozialen Gruppen. Am Beispiel der so genannten ‚Inselfrage‘ zeigt Cantauw, dass eine Sinnvermittlung über Dinge im Kontext des Reisens jenseits ihrer stofflichen Präsenz möglich ist und sich eine Beschäftigung mit den Dingwelten und damit verknüpften ‚Mythen‘ (im Sinne Barthes) als relevant für die Tourismusforschung erweisen kann. Der Beitrag des spanischen Kulturanthropologen Antonio Miguel Nogués Pedregal befasst sich mit der Produktion und Reproduktion von Bedeutungen in touristischem Raum und untersucht die Dinge auf Reisen in ihrer identitätsstiftenden Funktion (auch) für die Bereisten. Pedregal interessiert sich dafür, wie der Tourismus die Art und Weise, wie die Menschen vor Ort ihre Kultur wahrnehmen, beeinflusst. Am Beispiel der in der spanischen Öffentlichkeit geführten Debatte um die schwarze Silhouette des Osborne-Stiers zeigt er die Vermittlerrolle des Tourismus, wie er sie bei der
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Aushandlung von Bedeutungen innehat. Gerade der Tourismus verknüpfte die ehemalige Werbefigur einer einheimischen Brandy-Marke mit nationaler Identität und beförderte seine heutige Bedeutung als Symbol Spaniens. Pedegral verweist somit auf die vermittelnde Rolle des ‚Tourismus-Raumes‘, denn Kultur in touristischen Räumen entsteht im dialogischen Aushandeln zwischen Besuchern und Einheimischen. Der Kulturwissenschaftler Burkhart Lauterbach beschäftigt sich mit Moscheebauten in westeuropäischen Metropolen und damit, wie mit diesen ‚historical artefacts‘ als Produkten kulturellen Transfers zwischen Einbindung und Exotisierung im touristischen Kontext umgegangen wird. Die Bauwerke mit transnationalem Hintergrund erweisen sich nicht nur als Ausdruck einer gestalterischen Ausdifferenzierung der Institution Moschee in Mitteleuropa, sondern auch als Teil der touristischen Verwertung islamischer Kulturimporte. An Beispielen in England und Frankreich zeigt Lauterbach den Transformationsprozess des zunächst ‚fremden Dinges‘ Moschee zur touristischen Sehenswürdigkeit und geht zugleich der Frage nach, wie durch den (inter-)kulturellen Transfer die europäische Welt beeinflusst wird. Dinge auf Reisen, das meint immer auch mitgebrachte Dinge, die als symbolische Repräsentationen von Urlaub im Alltag fungieren. Das Themenfeld des Souvenirs bearbeitet der österreichische Kulturwissenschaftler Burkhard Pöttler. Er untersuchte die Integration von Reiseandenken in das alltägliche Wohnumfeld. Der ausgestellte ‚Urlaub im Wohnzimmer‘ erweist sich über seine Erinnerungsfunktion hinaus als Teil einer privaten Inszenierung. Der Umgang mit persönlichen Urlaubssouvenirs unterliegt dabei einem individuellen Aneignungsprozess, der auch von Veränderungen gekennzeichnet ist. Pöttler zeichnet daher die „Dingbiografien“ von Souvenirs nach. Diese können zu alltäglichen Gebrauchsgegenständen mit Andenkenfunktion und – als biografische Objekte – gleichsam zu Lieblingsgegenständen werden, aber sie können auch, in Schubladen verstaut, dem Vergessen anheim gegeben werden. Souvenirs dienen nicht nur der symbolischen Aneignung des Urlaubszieles für das eigene Lebensumfeld, sondern sie sind immer auch Ausdruck des Lebensstils der Reisenden. Mit ‚Souvenirs‘ nach der Jahrtausendwende in Berlin beschäftigt sich die Europäische Ethnologin Anja Früh in ihrem Beitrag. So genannte ‚DesignSouvenirs‘ dienen ihr dazu, Wandlungsprozesse der Stadt im 21. Jahrhundert darzustellen. Im Fokus stehen hierbei die Produktionsbedingungen und Bedeutungssetzungen durch die Produzenten dieser spezifischen Souvenirart für den Berliner Städtetourismus. Diese Artefakte sind nicht (nur) für Touristen gemacht, sondern wirken im Besonderen als identitätsstiftende
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Objekte für ein junges ortsfremdes, transnationales Publikum, das sich nach der Wende in Berlin angesiedelt hat. ‚Culturepreneurs‘ und Künstler gestalten durch ihre Um- beziehungsweise Bedeutungsarbeit über emblematische Objekte ‚made in Berlin‘ das Bild der Stadt im 21. Jahrhundert mit. Die Kulturwissenschaftlerin Sonja Böder rückt die kulinarische Dingwelt auf Reisen ins Zentrum des Interesses. Am Beispiel der Region Westfalen fragt sie, wie regionale Stereotypen durch Spezialitäten-Souvenirs vermittelt werden. Über die Auswertung von historischen Reiseberichten und aktueller touristischer Werbung untersucht sie, wie das Bild der Region über kulinarische Produkte im historischen Wandel repräsentiert wird. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass der Image-Transformationsprozess des ländlichen Westfalens von einem negativ konnotierten Heterostereotyp zu einem positiv besetzten Autostereotyp gerade durch die touristische Vermarktung vorangetrieben wurde. Kulinarische Spezialitäten erweisen sich als Hauptträger einer touristischen Selbstinszenierung regionaler Identität. Dinge auf Reisen fungieren als Objekte im Tourismus als symbolkommunikative Zeichen und sind dementsprechend zu deuten. Der Europäische Ethnologe Martin Jonas stellt diese mehrwertige Zeichenhaftigkeit der Dinge auf Reisen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Am Beispiel einer ‚Lederhose auf Reisen‘ zeigt er die komplexen Zuschreibungen von Objekten, mit denen gerade auf Reisen gespielt werden kann. An zwei autobiografischen Fallbeispielen veranschaulicht Jonas, wie Kleidung und deren symbolkommunikative Bedeutungssetzung bei der Inszenierung des ‚Anderen‘ auf Reisen als ein (parodistisch eingesetzter) Dialog angesehen werden kann. Durch den Akt der Kontextualisierung der Lederhose in einem subjektiven Erfahrungshorizont entstehen neue Bedeutungszuschreibungen. Jonas sieht gerade in der Parodie ein Erkenntnisinstrument, um sich der Mehrdeutigkeit von Objekten (auf Reisen) zu nähern. Die deutsch-neuseeländische Kulturanthropologin Tanja SchubertMcArthur beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Gepäck von Neuseelandauswandern. Ihre Perspektive auf die unterschiedlichen Arten und Mengen der mitgebrachten Besitztümer erlaubt es ihr, die unterschiedlichen Abstufungen des Auswanderungsprozesses zwischen Tourismus und Migration zu erfassen. Der Urlaub dient nicht nur als Vorbereitung auf eine Auswanderung, er ist auch verbindendes Element zweier Lebensorte. Ebenso ist der aufbewahrte Koffer im Heimatland Ausdruck einer Migrationsform, die innerhalb der definitorischen Grenzen von Langzeiturlaub und dauerhaftem Aufenthalt in Neuseeland oszilliert, und nicht von Permanenz und Irreversibilität, sondern von der Mobilität zwischen zwei Lebensorten
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gekennzeichnet ist. Anhand der konkreten Analyse der hin- und hergebrachten Dinge können so die Schnittmengen von Urlaub und Auswanderung veranschaulicht werden. Die Ethnologin Kundri Böhmer-Bauer untersucht die Dinge auf Trekkingreisen in ihrer unterschiedlichen Funktion als Gabe, Opfer oder Ware. Teile der Ausrüstung werden von deutschen Trekking-Touristen während und am Ende der Reise als Geschenke an die einheimischen Helfer und die Bevölkerung weitergegeben. Zielsetzung ihres Beitrages ist nicht nur eine Aufschlüsselung der spezifischen Dinge, Situationen und Personengruppen, sondern gerade die Analyse der dahinter liegenden Motivationen vonseiten der Trekking-Touristen und die Botschaften, die diese Dinge transportieren. Dabei zeigen sich die Schenkrituale als polyvalent zwischen dem Bedürfnis nach Annäherung und dem Ausdruck kultureller Hegemonialvorstellungen der Trekking-Touristen. Dinge auf Reisen, das können auch gleichsam paradigmatische Objekte sein, die für den ‚Erfahrungsraum Reisen‘ stehen. Die Europäische Ethnologin Conny Eiberweiser untersucht in ihrer Mikrostudie das Hotelbett, wobei dieses Repräsentationsobjekt von ihr in seiner Phänomenologie genau beschrieben und so in seinen einzelnen Funktionen und Bedeutungsaufladungen aufgeschlüsselt wird. In einem methodischen Dreischritt von innen nach außen blickt Eiberweiser auf die grundlegenden Bestandteile, die konstitutiven Elemente und exzeptionellen Komponenten des Bettes. Ziel ihrer Objektanalyse ist durch die phänomenologische Beschreibung von Einzelteilen die Komplexität der Gegenstände zu erfassen und so Bedeutungsstränge greifbar zu machen. In dieser Fallstudie zeigt Eiberweiser die Bedeutung einer genauen Beschreibung der Objekte (auf Reisen), die als wichtiger methodischer Schritt für das weitere analytische Vorgehen zu gelten hat. Auch der österreichische Architekturhistoriker und Künstler Michael Zinganel blickt auf einen symptomatischen Gegenstand des Tourismus in der Alpenregion. Die Eckbank steht hier für die Erfolgsgeschichte der Frühstückspension. Zinganel zeichnet in Fallbeispielen deren unterschiedliche Ausformungen seit den 1950er Jahren bis heute nach und erweist sich als luzider Beobachter der sozialen Praxen gerade durch seine autobiografische Perspektive. Die Eckbank präsentiert sich als ‚Logenplatz im Dienstleistungstheater‘ Frühstückspension, denn hier wird die vermeintliche Teilhabe am Leben der Gastfamilie inszeniert und die räumliche wie soziale Enge auf der Bank zum positiven Wert ‚Gemütlichkeit‘ umgedeutet. Diese Kultur der Enge ist es auch, die bei allen Prognosen vom vermeintlichen
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Tod der Frühstückpension im Alpintourismus immer noch deren Attraktivität ausmacht. Dinge auf Reisen, das beinhaltet weiter auch die Objekte des Unterwegsseins, die Transportmittel und Medium des Reisens zugleich sind. Diesen Aspekt untersucht die Europäische Ethnologin Martina Kleinert am Beispiel des Umgangs von Weltumseglern mit ihren Yachten. Die Fahrtenyacht ist nicht nur das Gefährt, sondern auch der Gefährte der Reisenden und bestimmt daher die spezifische Art und Weise des Reisens maßgeblich mit. Sie analysiert die Boote und ihr Interieur nicht nur nach ihren Funktionen, sondern auch in ihrer emotionalen Bedeutung für die Weltumsegler. Kleinerts Beitrag verortet sich zwischen Tourismus- und Multilokalitätsforschung, wobei das ‚andere Zuhause Yacht‘ als schwimmendes Eigenheim begriffen wird, das einer ‚Verhäuslichung‘ unterliegt. Das mobile Objekt Fahrtenyacht und seine Dingwelt sind Ausdruck eines gefühlten Zuhauseseins der Segler. Auch der Historiker Cord Pagenstecher untersucht ein Gefährt und sogleich einen emotional besetzten Gefährten; er fragt in seinem Beitrag nach der Bedeutung der Automobilisierung für den bundesdeutschen Tourismus der Nachkriegszeit. Nicht nur für die Reisenden selbst, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs bildete das Kraftfahrzeug das wichtigste ‚Ding auf Reisen‘. Pagenstecher wertet im Sinne einer ‚Visual History‘ des Tourismus Reiseführer, lokale Tourismuswerbung und private Reise-Fotoalben der Zeit aus und zeigt so, dass in den Wirtschaftswunderjahren durch massenhafte Automobilisierung die Urlaubspraxen und die touristischen Wahrnehmungsmuster verändert worden sind. Die materiellen Repräsentationen des deutschen Reiselandes Spanien stellt die Ausstellungsmacherin Margarete Meggle-Freund in ihrem Beitrag dar. Anhand eines Rundgangs durch die von ihr kokuratierte kulturhistorische Ausstellung „¡Viva España! Von der Alhambra zum Ballermann. Deutsche Reisen nach Spanien“ im Badischen Landesmuseum im Jahr 2007 wird nicht nur die Tourismusgeschichte deutscher Spanienreisen dargestellt, ebenso wird veranschaulicht, wie die materielle Kultur des Reisens im Ausstellungskontext (re)präsentiert werden kann. Die Dinge auf Reisen stehen in diesem Beitrag als Museumsobjekte im Mittelpunkt und erzählen zugleich eine Geschichte der deutschen Spanienliebe. Der abschließende Beitrag der österreichischen Kulturwissenschaftlerin Klara Löffler plädiert für eine konsequente und systematische Erforschung der materiellen Kultur auf Reisen und dafür, die kontextbezogene Objektanalyse als Zugang für eine Ethnografie des Reisens weiterzuentwickeln. Löffler fordert, die Perspektive auf die ‚Mittelmäßigkeit des Reisens‘ zu
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lenken, bei der die materiellen Kulturen gerade für die hier entwickelten Routinen von Bedeutung sind. Am Umgang mit dem Gepäck, dem Einpacken und dem Koffer selbst zeigt sie das Angewiesensein auf die Dinge und die Verstrickungen der Akteure in das Alltägliche. Die Dinge in ihrer Mehrdeutigkeit und Potenzialität sind es, welche die immer noch in der Tourismusforschung wirksame Dichotomisierung zwischen dem Alltäglichen und der Außeralltäglichkeit aufzulösen vermögen und die Aufmerksamkeit auf die kultivierten Routinen des Reisens lenken können. Die 8. Tagung der Tourismuskommission in München eröffnete das weite Themenfeld der Dinge auf Reisen. Die in diesem Tagungsband versammelten Beiträge bieten unterschiedliche Konzepte und Antworten auf die Frage, welchen Erkenntnisgewinn die Tourismusforschung durch den Blick auf die materielle Kultur des Reisens erhalten kann. Die so angestoßene Perspektivenverschiebung auf die Materialität des Tourismus erfordert dennoch weitere begriffliche Schärfungen und Theoriebildungsprozesse, bedarf es doch auch in Zukunft eines wissenschaftlichen Kofferpackens mit geeigneten Fragestellungen und theoretisch-methodologischen Zugängen. Die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der materiellen Kultur des Tourismus befindet sich immer noch auf der Reise, seien wir neugierig, wohin uns die Fahrt führen wird. Literatur Appadurai, Arjun (Hg.) (1986): The Social Life of Things. Cambridge. Bachmann, Götz (1997): Der Kaffeelöffel und die Sonne. Über einige Denkfiguren, die das Unbedeutende bedeutend machen. In: Brednich, Rolf-Wilhelm/Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. München, S. 216-226. Baerenholdt, Jorgen/Haldrup, Michael/Larsen, Jonas/Urry, John (2004): Performing Tourist Places. Aldershot/Burlington. Bendix, Regina/Löfgren, Orvar (Hg.) (2007): Double Homes, Doubles Lives? In: Ethnologia Europaea. Journal of European Ethnology. Volume 37 (1-2), S. 7-17. Binder, Jana (2005): Globality. Eine Ethnographie über Backpacker. Münster. Cohen, Eric (1979): A Phenomenology of Tourist Experience. In: Sociology 13, S. 179-201. Douglas, Mary/Isherwood, Baron (1979): The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. New York.
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Daniella Seidl/Johannes Moser
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Reise-Fieber Die Materialität von Bewegung und Emotion Orvar Löfgren
Siderodromophobie Angst vor Zügen, Zugreisen oder Schienen gr. síderos: Eisen, Stahl gr. drómos: Lauf, Wettlauf, Rennbahn „Ängste Ängste haben ihre Moden; auch hier verdrängt die weiter gehende Angst ihre Vorgängerinnen. Solange die Eisenbahn das wichtigste, schnellste und gefährlichste Verkehrsmittel war, gehörte die Siderodromophobie an die Spitze der im Reiseverkehr auftretenden Ängste. Man sah in Wartesälen und Abteilen schwitzende, zitternde, ihre Hand in die Hand Mitreisender krallende Angstkranke, von denen ganz zu schweigen, die lieber zu Hause blieben als eine Eisenbahnfahrt zu riskieren. Heute beschäftigt sich niemand mehr mit der Eisenbahnangst. Wer den Zusammenhang von Verkehrsmittel und Angstreaktionen erforschen will, konzentriert sich auf die Flugangst, während die Flugängstlichen selbst mit erleichtertem Aufatmen den ICE besteigen – hier fühlen sie sich sicher“ (Schmidbauer 2007: 222).
Wolfgang Schmidbauers Buch der Ängste (Schmidbauer 2007) behandelt alle Arten von Beziehungen zwischen Mobilität und Emotion, doch wenn er Zug- und Flugangst vergleicht, erinnert uns das zugleich daran, dass solche Gefühlszustände eine Geschichte haben. In einem noch laufenden Projekt über ganz unterschiedliche Formen von Unterwegssein, die vom Tagtraum bis zum Autofahren reichen, haben mich besonders die Materialitäten solcher Reiseerfahrungen interessiert. Denn obwohl die Zahl der Untersuchungen zur sozialen und kulturellen Organisation von Mobilität seit den 1990er Jahren rasch anstieg, mangelt es auffälligerweise an Studien zu den materiellen Dimensionen (vgl. Cresswell 2006). Mobilität wird, worauf Rebecca Solnit hinweist, in vielen der im vergangenen Jahrzehnt entstandenen Untersuchungen als ein reibungsloser Vorgang betrachtet, der sich eher mental denn physisch abspielt. Der in Bewegung befindliche Körper bleibt im Großen und Ganzen eine im hohen Maß theoretische Angelegenheit,
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statt dass tatsächlich eine Diskussion körperlicher Wahrnehmungen und Praktiken angestoßen wird: „So lesen wir von einem postmodernen Körper, der in Flugzeugen und schnellen Autos hin- und herjettet, ja der sich sogar ohne sichtbare Mittel bewegt – seien sie nun muskulär oder mechanisch, ökonomisch oder ökologisch. Der Körper ist nichts weiter als ein Paket, das unterwegs ist, eine Schachfigur, die aufs nächste Feld gezogen wird: Er bewegt sich nicht, sondern wird bewegt“ (Solnit 2001: 28).
Für die Europäische Ethnologie stellt das, angesichts des wiederkehrenden Interesses an Untersuchungen zur Materialität und angesichts auch der traditionellen Aufmerksamkeit für die Mikroprozesse des „Lebens mit Dingen“, eine Herausforderung dar. Wie werden Reiseerfahrungen durch anscheinend banale und unbedeutende Dinge wie Koffer, Abteilsitze, Kopfhörer, Wartesäle oder Fahrkarten geformt und welcherart Kompetenzen sind notwendig, mit dieser materiellen Welt umzugehen? Ich möchte im Folgenden Materialitäten von Reiseerfahrungen mit der Eisenbahn diskutieren, wobei mir das Fliegen als kulturelles und historisches Gegenmodell dienen soll. Dazu werde ich Raymond Williams‘ etwas vages, doch anregendes Konzept der „Gefühlsstrukturen“ heranziehen (Williams 1980), um zu begreifen, auf welche Art und Weise die Verkehrsinfrastruktur dazu beiträgt, die emotionalen Gemütszustände beim Reisen zu formen. Meine ersten Versuche zu einer Ethnografie derartiger alltäglicher Vorgänge waren nicht sehr erfolgreich. Ich habe versucht, das Verhalten auf Bahnhöfen und in Flughäfen zu beobachten, und oft kam ich mit ein paar trivialen Aufzeichnungen und Fotos zurück, die ich in einem fort erstaunt betrachtete. Es ließ sich schwer fassen, was in diesen Allerweltssituationen des Reisens vor sich ging, und ebenso schwer war es, meine Beobachtungen in Worte zu kleiden. Um das Problem zu denken, wie hier Arten und Stimmungen des Reisens ineinander greifen, bedurfte es einer historischen Perspektive. Ausgehend von zeitgenössischen Reiseerfahrungen in Skandinavien arbeitete ich mich zurück, um zu verstehen wie die Leute lernten, unterschiedliche Verkehrsmittel zu nutzen und Arten des Unterwegsseins zu erleben. Die versteckten Fähigkeiten und ebenso die etablierten kulturellen Praxisformen, deren es bedarf, um mit einem Zug zu reisen, in einer Schlange zu warten oder mit Fremden zu interagieren, zeigen sich dort am besten, wo neue Technologien, Akteure oder Aktivitäten ins Spiel kommen. In solchen
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formbildenden Situationen werden Verhaltensweisen sondiert, diskutiert und erkundet, die später dann als selbstverständlich gelten. Aus der gescheiterten Ethnografie wurde so ein neues und noch laufendes, gemeinsam mit meinem Kollegen Billy Ehn entwickeltes Projekt, eine Untersuchung der sozialen und kulturellen Organisation des Unscheinbaren, also etwa des Wartens, der Tagträume und anderer Nicht-Ereignisse, die einen so großen Teil der Reisezeit einnehmen. Was passiert, wenn die Leute sagen, sie würden nichts tun?1 Im vorliegenden Papier werde ich, von unserem Ansatz ausgehend, Reiseerfahrungen als einen Lernprozess erörtern. Dazu möchte ich meine eigenen lokalen Beobachtungen, aber auch ethnografische Beschreibungen des Zugreisens ebenso wie des Fliegens im 19. und 20. Jahrhundert heranziehen, um so den Blick auf das Leben zu richten, auf das Warten, auf den Umgang mit dem Gepäck, auf Tagträume während des Reisens und andere Dinge.2
Die Materialität von Mobilität und Emotion Die Ausdrücke, die wir verwenden, um Geisteszustände zu beschreiben, sind Ausdrücke der Bewegung. Emotion bedeutet im wörtlichen Sinne, sich hinaus zu bewegen, und das Wort Gefühl leitet sich vom Fühlen, vom Berühren ab: Es geht dabei darum, die Welt zu erkunden, die Hand nach ihr auszustrecken. Zugleich sind es schillernde Ausdrücke. Der Psychologe James Hillman hat darauf hingewiesen, dass Emotionen ein perfekter Gegenstand interdisziplinärer Untersuchungen seien, weil sie auf Zwischenräume verwiesen, auf das Feld und die Beziehungen zwischen verschiedenen Polen: zwischen Subjekt und Objekt ebenso wie zwischen Körper und Geist, Bewusstem und Unterbewusstem, dem menschlichen Inneren und dem Zwischenmenschlichen. „Durch die Emotion existiere ich in einer paradoxen Beziehung. Ich bin nicht nur das Eine, sondern beides.“ (Hillman 1991: 283) In den letzten Jahren vollzogen die Kulturwissenschaften eine Art „emotionale Wende“ und erkundeten das im Konzept der Emotion angelegte Potenzial, das gerade auf dessen Unbestimmtheit und Offenheit
1 Vgl. hierzu die Erörterung in Ehn/Löfgren (2007a). Unsere Arbeit ist Teil des Projekts „Home Made: The Cultural Dynamics of the Inconspicuous“, finanziert vom Schwedischen Forschungsrat Vetenskapsrådet; vgl. www.etn.lu.se/homemade/. 2 Eine Diskussion des Materials aus Skandinavien unternimmt Orvar Löfgren (1992). Zu dem Material gehören frühe Reiseberichte, Belletristik und Sachliteratur über Eisenbahnreisen und eine große Sammlung von „Eisenbahnerinnerungen“, die das Nordische Museum in Stockholm in den 1950er Jahren gesammelt hat.
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beruht, als einen energiegeladenen Prozess, der vermittelt, der fokussiert und der Auswirkungen hat.3 Aber warum Mobilität? Wie bei den Emotionen wird eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Mobilität manche Überraschung zu Tage fördern. Es juckt uns in den Fingern, die Füße werden unruhig, und wir strecken die Hand aus oder ziehen sie zurück. Körperliche Reaktionen wie Gefühle gehen bewusstem Denken oder planvollem Handeln häufig voraus. Der Körper ist in der Lage, Gedanken und Handlungen in Gang zu setzen, mit ganz unerwarteten Folgen. George Downing hat die Notwendigkeit hervorgehoben, solcherart „körperliche Mikropraktiken“ zu erkunden und die Verbindungen zwischen Bewegung und Gemütsbewegung zu verstehen (Downing 2000). Andere wie etwa die Forscherin Giuliana Bruno untersuchten die Verkettung von Bewegung und Emotion in historischer Perspektive (Bruno 2002). Mein Interesse nun gilt der Frage, auf welche Art Materialitäten diese Wechselwirkung vermitteln. Die intensive und beinahe übermächtige Materialität von Zügen, Bahnhöfen und Flughäfen formt Bewegungsarten und Stimmungslagen gleichermaßen, so beispielsweise in Gestalt kulturell neuartiger Zustände von Unruhe, Nervosität, Irritation, Hochstimmung und Begehren, wie sie in der Welt des Reisens im 19. und 20. Jahrhundert auftauchen.
Reisefieber „I’m travelling in some vehicle, I’m sitting in some café … I am porous with travel fever“, singt Joni Mitchell in „Hejira“ 4, doch was für eine Art Fieber meint er? Der einschlägige schwedische Ausdruck resfeber (das deutsche Reisefieber5) gehört seit dem 19. Jahrhundert zum massenhaften Reisen; es ist der Terminus, der die Stimmung der nervösen Reisenden einzufangen versucht. Es handelt sich um eine besondere „Gefühlsstruktur“, deren Erfahrung, in größerem oder geringerem Maße, die meisten Menschen machen, wenn sie reisen: eine Mischung aus Unruhe und Vorfreude, eine Kombination aus Sehnsucht, Furcht und der Faszination des Unbekannten, aus dem Glücksgefühl und dem Schauder des Fort- und Hinausziehens. Reisefieber ist epidemisch – es lässt sich auf Bahnhöfen ebenso beobachten wie in Flughäfen oder bei Verkehrsstaus, es befällt Menschen beim Laufen, Warten oder Fahren. Es ist ein Zustand, bei dem Bewegung, 3 Vgl. hierzu beispielsweise die Diskussion bei Jack Katz (1999), Sianne Ngai (2005), Billy Ehn/Orvar Löfgren (2007a) und Nigel Thrift (2008). 4 Ich danke Burkhardt Lauterbach für seine Hilfe beim Auffinden des Textes. 5 Deutsch im Original. (Anm. d. Übers.).
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Emotionen und Materialität zusammenwirken. Reisende versuchen ihre Unruhe zu beherrschen, indem sie auf und ab gehen, das Gleichgewicht verlagern oder für einen Augenblick Zuflucht auf einer Bank in einer Ecke suchen. Es gibt ein dauerndes nervöses Herumspielen an Gepäckstücken, ein Fingern nach Pässen und passendem Kleingeld. Kleine Dinge erlangen eine magische Wichtigkeit und wirken aufgrund ihrer spröden Materialität in einer Welt, in der alles im Fluss ist. In ihrem ruhelosen Zustand halten sich Menschen an Trost spendenden Dingen wie einer Handtasche oder einem Notizzettel mit einer Adresse fest, und dabei tasten sie alle zwei Minuten nach dem Ticket in der Brusttasche. Die Sinne stehen in ständigem Kontakt zur Umwelt, das Auge sucht blinkende Anzeigetafeln ab, während das Ohr versucht, Lautsprecherdurchsagen zu enträtseln. Darüber hinaus formen alle Arten körperlicher Empfindung die Situation, schmerzende Muskeln, die an zu viel Gepäck herumziehen, ebenso wie nervöse Gliedmaßen. Zugleich trennen sich Körper und Psyche, denn in Gedanken sind die Reisenden möglicherweise bereits am Ziel, oder aber sie sinnen unruhig darüber nach, ob sie die Tür zu Hause abgeschlossen haben. Eine historische Perspektive kann uns helfen, die Entwicklung des „Reisefieber“ genannten Gemütszustands zu verstehen. Das Reisefieber galt als ein neuer und moderner nervöser Zustand, eine Folge neuartiger Strapazen, der mit den Anfängen des Massenreisens Mitte des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit erregte (vgl. Lutz 1991). In Schweden taucht das Wort Nervosität erstmals in den 1850er Jahren auf, ein Import aus dem Französischen, definiert als leichte vorübergehende Unruhe, als unausgeglichene Ruhelosigkeit oder vertrackte Überreizung. Wo machte sich dieses neue Gefühl zuerst bemerkbar und wie sahen seine kulturellen Produktionsbedingungen aus? Eine Bühne waren Eisenbahnreisen. Der nervöse Zustand findet sich in „The Wonders of Modern Travel“, einem Beitrag aus dem Punch von 1864, beschrieben: „Wunder nimmt mich, ob meine Uhr nun richtig geht oder nach oder vor. Und ob der Dienstmann nun verstand, was übers Gepäck gesagt wurde. Und ob mir Zeit für ein Sandwich und ein Glas Sherry bleibt. Und ob beim Umsteigen alles klappt. Und wohin zum Teufel das Ticket geraten ist …“ (zitiert nach Freeman 1999: 83).
In zahlreichen klassischen Beschreibungen metropolitaner Bahnhöfe fallen die Schilderungen überreizter Sinne und emotionaler Stresszustände auf.
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Die Reisepioniere konnten den Kulturschock beim Betreten einer anderen Welt spüren. In einer Untersuchung der 1830 zwischen Liverpool und Manchester eröffneten Eisenbahnstrecke, der ersten, auf der Personen befördert wurden, erörtert Christian Wolmar die Probleme der Eisenbahngesellschaft, ihre Fahrgäste, die bislang nur das Reisen mit der Postkutsche kannten, zu erziehen und ihnen angemessenes Benehmen beim Bahnfahren nahezubringen (Wolmar 2007: 43ff.). Die Passagiere mussten lernen, dass es nicht ratsam war, die Reise auf dem Dach sitzend anzutreten, den Kopf aus dem Fenster zu strecken oder vom fahrenden Zug abzuspringen. Eine umfangreiche Kontrolle von Verhaltensweisen war somit notwendig. Auch wenn man vom Land in die Stadt fuhr, musste man sich auf eine andere Welt einstellen. So beschreibt Charles Dickens in „The Lazy Tour of Two Idle Apprentices“ (1857), wie sich die gesellschaftliche Landschaft veränderte, sobald der Zug städtisches Gebiet erreichte: „Die Temperatur, der Zungenschlag, die Menschen waren andere, die Gesichter wurden spitzer, die Umgangsformen knapper, die Blicke durchdringender und härter …“ (zitiert nach Freeman 1999: 80). Mit dem Verlassen der Beengtheit (oder Sicherheit) des Zugabteils stürzten die Reisenden ins Chaos des Bahnhofs. Alle Sinne waren alarmiert, Körper wurden in der Menge herumgeschoben und angerempelt, und alles war umgeben von zischendem Dampf und austretendem Rauch, den lauten und unverständlichen Rufen der Gepäckleute, seltsamen Gerüchen und allgegenwärtigen kurzen Blicken von Fremden. Schlicht zu viel. Hinzu kam die ungeheure Größe solcher Orte, an denen man sich sehr klein und sehr verloren fühlen konnte. Wie wäre mit einer solchen Hektik beim Reisen fertig zu werden? Bahnhofsarchitekten, Reiseveranstalter und Ärzte erörterten, wie sich Abhilfe schaffen ließe, und neue Leiden wie Agoraphobie oder Klaustrophobie, die mit der Verlorenheit an riesigen öffentlichen Orten wie Bahnhöfen beziehungsweise dem Eingesperrtsein im Eisenbahnwaggon in Verbindung gebracht wurden, tauchten auf.
Ausgestellt oder eingesperrt? „Der Angstzustand wird gewöhnlich begleitet von einer plötzlichen Schwäche in den Beinen, einer Hyperaktivität des Kreislaufs, wiederkehrendem Klingeln in den Ohren, einem Gefühl der Taubheit, von Frösteln, fliegender Hitze, kaltem Schweiß, Zittern, dem Wunsch in Tränen auszubrechen, lächerlichen Vorahnungen, hypochondrischen Befürchtungen und halblautem Jammern …“ (zitiert nach Vidler 2001: 29ff.).
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So beschreibt ein französischer Arzt 1878 die Agoraphobie, eine Krankheit, die erstmals 1865 bestimmt wurde. Auf Deutsch nannte man die Phobie „Platzschwindel“. Sie gehört zu den zahlreichen Angstzuständen, Phobien und Paniken, die im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die moderne Welt der Metropolen und des massenhaften Reisens bevölkerten. Wie alle Panikattacken wird Agoraphobie als ein Zustand extremer Stimmungsschwankungen beschrieben. Tatsächlich setzt sie Körper und Gefühle in turbulente Bewegung. Man ging davon aus, dass Agoraphobie durch eine Angst vor offenen Plätzen verursacht werde, durch die Befürchtung, beobachtet oder ausspioniert zu werden, durch die Furcht vor der anonymen Masse und vor den Fremden, die einem begegneten. Viele Reisende empfanden es als belastend, passiv warten zu müssen und sich dabei ständig beobachtet zu fühlen. Zum Platzschwindel gehörte ein Gefühl, ungebunden und zugleich ausgeliefert zu sein. Die Kehrseite der Agoraphobie freilich war die Spannung zwischen dem Wunsch gesehen zu werden und der Angst, dem stillen Urteil der anderen nicht standhalten zu können. Dieses Gegenstück ging zurück auf ein Verlangen, das eine andere moderne Sinnesart, der Exhibitionismus, zeigte, angefeuert nämlich durch den Nervenkitzel, auf einer Bühne vor einem Massenpublikum zu agieren. Und an der Seite des Agoraphoben schlenderte eine weitere Gestalt der Moderne, der städtische Flaneur, der die Kunst, sich müßig in der Menge zu bewegen, perfektioniert hatte, der es genoss, gesehen zu werden und andere zu beobachten. Doch die Agoraphobie hatte noch einen modernen Begleiter: die Klaustrophobie. Auch sie wurde zu einem Eisenbahnproblem. „Der Blick jedes einzelnen Passagiers folgt einer kleinen, instinktiven Choreographie: mögliche Pause auf dem schwarz gummierten Boden, zwischen den Füßen der Fahrgäste; gern gesehene längere Pause dicht über ihren Gesichtern. Die dazwischen liegenden Blickpositionen müssen flüchtiger sein – dabei sind das die interessantesten. Aber darauf fällt niemand herein: Alle wissen, dass das Auge, wo es schamhaft rasch ist, umso schärfer hinschaut“ (Delerm 1999: 38).
So beschreibt der französische Autor Philippe Delerm in nostalgischer Erinnerung die sozialen Umgangsformen in einem Zugabteil älterer Bauart, doch schildert er damit zugleich ein antrainiertes Verhalten. In Europa übernahm die Eisenbahn als neue Technologie, als es darum ging, Wagenabteile zu organisieren, das Modell der Postkutsche. Die kleinen Abteile der frühen Züge hatten keine Verbindung untereinander. Der Schaffner musste außen am Waggon auf dem Trittbrett fahren. Im Inneren des Abteils war man
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mit den Mitreisenden eingeschlossen. Begrenzten Raum mit vollkommen Fremden zu teilen, zwang einen, auf alles vorbereitet zu sein: „Bei der Fahrt durch einen Tunnel ist es immer gut, die Hände und Arme abwehrbereit zu halten, sodass man, falls es zu einen Angriff kommt, den Reisenden sofort Gegenwehr entgegensetzen oder Einhalt gebieten kann“ (Zitiert nach Smullen 1968: 57). Dieser Ratschlag entstammt dem praktischen Kompendium The Railway Traveller’s Handy Book von 1862, einer der vielen Publikationen, die versuchten, das richtige Verhalten im Umgang mit der Eisenbahn zu lehren. Wie war es möglich, die Reorganisation von Zeit, Raum und sozialen Beziehungen, den dieser neue Rahmen schuf, in den Griff zu bekommen, und wie lernte man den Umgang mit Fremden? In dem neuen Leben im Zug, das sich in einem Abteil abspielte, konnte man sich gleichermaßen abgesondert und ausgestellt fühlen. „Wir werden in einem Abteil zusammengepfercht und dann gewaltsam wieder auseinander gerissen. Wer kann sich mit solcher Behandlung abfinden?“, klagte 1865 ein Autor (zitiert nach Andersen 1984: 155). Der amerikanische Verleger Frank Leslie machte 1878 etwas Ähnliches geltend: „Wer könnte mit einem Lächeln die Gesellschaft von sechs Erwachsenen beim Frisieren und Waschen ertragen? Wer könnte in Gesellschaft und unter den peinlich prüfenden Blicken von neunundzwanzig Mitmenschen aufstehen, sie den ganzen Tag neben ihnen sitzend behelligen, in ihrer Gegenwart essen, unter ihren Augen einnicken, sich mit ihnen zur Ruhe begeben und schließlich schlafen – oder versuchen zu schlafen – und dabei noch das leiseste Schnarchen durchdringend und quälend hören, ohne bereit zu sein, das eigene Gewissen mit neunundzwanzigfachem Mord zu belasten?“ (Zitiert nach Diski 2002: 175).
Die ersten Generationen von Reisenden mussten ganz neue Techniken entwickeln, Distanz zu wahren, sich abzugrenzen oder auch Kontakt aufzunehmen, Techniken, die heute selbstverständlich sind. Wir wissen heute, wie wir uns in einem vollen Bus oder in einem überbuchten Flugzeug ein Stück Privatsphäre schaffen, wie wir Fremde ansprechen oder ein höfliches Gespräch führen. Wir sind geübt darin, andere zu beobachten ohne sie anzustarren, wir wissen, wie man Schutz suchend hinter einer Zeitung verschwindet oder vortäuscht zu schlafen, doch für die Pioniere des Reisens mit dem Zug waren das gesellschaftliche Umgangsformen, die sie erst noch ausprobieren mussten, damit sie mit der Zeit funktionierten.
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Aus der Gründerzeit des Bahnfahrens in Britannien finden sich zahlreiche Berichte von Reisenden, die in Konflikt mit sich „unschicklich“ benehmenden Mitreisenden gerieten, beim nächsten Halt hastig ausstiegen und sich ein neues Abteil suchten. The Railway Traveller’s Handy Book von 1862 stellte fest, dass „eine Person im Eisenbahnwaggon einem Zuchthausinsassen vergleichbar“ sei und empfahl Reisenden Zurückhaltung beim Umgang mit Mitreisenden: „Beteiligen Sie sich nicht an Diskussionen über die Politik oder den Glauben. Man kann nie wissen, welche zarten Saiten man möglicherweise berührt …“ Das Handbuch riet deshalb zu einer bewährten Strategie: Lesen biete ein „ausgezeichnetes Schutzschild gegen Belästigungen“ (zitiert nach Smullen 1968: 44, 65).
Die Materialisierung der Klassenzugehörigkeit Ein weiteres Problem war die gesellschaftliche Klasse der Reisenden. Wie ließen sich Unterschiede machen, wie waren die Wohlhabenden davor zu bewahren, der Gegenwart der „unteren Klassen“ ausgesetzt zu sein? Im 19. Jahrhundert verwendete man viel Geld und Mühe darauf, materielle Formen zu entwickeln, in denen sich die Klassenzugehörigkeit verkörpern sollte. Konstrukteuren, Ingenieuren und Innenausstattern fiel die Aufgabe zu, dem Klassenmerkmal eine klare und einfach wiederzuerkennende Materialität zu geben. In der Folge wurde die Unterscheidung von erster, zweiter und dritter Klasse zum Standard auf Bahn- wie auf Seereisen. An Bord der großen Ozeandampfer findet sich die Ästhetik eines Dreiklassensystems am vollkommensten entfaltet. Konstrukteure und Innenausstatter experimentierten hier, um für die Räume der verschiedenen Klassen die rechte Aura zu finden, von den Kabinen über die Speisesäle bis zu den Decks. Bei den Eisenbahnen stand für Experimente solcher Art weniger Platz zur Verfügung, doch gab es großen Bedarf, Klasse auf eine eindeutige Art zu definieren. Wie ließ sich nun ein Abteil so konstruieren, dass das Klassensystem sich materiell darin verkörperte? War es möglich, jeder Klasse eine augenfällige Struktur zuzuweisen, ein Äußeres, eine besondere Stimmung oder Atmosphäre, von spartanisch bis opulent? Zu einem der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale wurde die Art der Polsterung – es gab keine in der dritten Klasse, in der ersten hingegen hatte man dicke Polster mit Troddeln und Quasten, es war eine Reise in einem Meer von Stoffen. Die Vorstellung, Klassenunterschiede systematisch durch Design auszudrücken, entwickelte sich bei der Zugausstattung. Ein kurzer Blick ins Abteil sollte unmiss-
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verständlich mitteilen, zu welcher Klasse es gehört. Ließ sich Klasse auf ähnliche Art auch mit einer bestimmten Gefühlslage verbinden? Die Menschen lernten, die Materialität der Klassenzugehörigkeit zu interpretieren und sie auch auf die Reisenden zu übertragen. So entstanden etwa Bilder vom „typischen Reisenden dritter Klasse“ oder vom „Erste-KlasseGentleman“. Mit der Ausweitung des Personenverkehrs lernte schließlich die Bevölkerung insgesamt, die Zeichen richtig zu lesen. Das System, die Klassenunterschiede auszudrücken, wurde exportiert und fand überall auf der Welt Verbreitung. Durch vergleichende Geschichtsschreibung ließen sich lokale und nationale Besonderheiten der Art und Weise herausarbeiten, wie das System der Klasseneinteilung im Einzelnen übernommen oder adaptiert wurde. Mit der Eisenbahn zu reisen, war somit auch ein Lehrstück, um die eigene Klasse kennenzulernen und sie in der materiellen Kultur vergegenständlicht und fixiert zu sehen, sodass man sich in einer bestimmten Wagenklasse zu Hause fühlte und ein Auge für all die Details entwickelte, in denen sich die Klassenzugehörigkeit manifestierte. Den Menschen wurde es möglich, die Unterschiede der sinnlichen Ausstrahlung der verschiedenen Wagenklassen zu beschreiben, ihre unterschiedlichen Gerüche, Geräusche und Mikroatmosphären. Während der Ausdruck „Klasse“ im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr tabuisiert wurde, hielten sich die Klassenunterschiede, angezeigt durch große Ziffern, in Zügen und auf Bahnhöfen. Ein Bahnklassenbewusstsein entstand. Wer gehört wohin? Wie konnte der Oberkellner wissen, wem ins Erste-Klasse-Restaurant am Hauptbahnhof Einlass zu gewähren war? Das Problem diskutierte man im 19. Jahrhundert in Britannien (Freeman 1999: 111), doch noch in den 1950er Jahren stand für Statens Järnvägar, die staatliche schwedische Bahn, infrage, ob Passagieren der dritten Klasse der Zugang zum Speisewagen erlaubt sein sollte. Man entschied, dass der Schaffner die Erlaubnis geben könne, wenn er Erscheinung und Auftreten der Reisenden für angemessen erachtete. Größere Probleme bereitete es, die Menschen in den großen städtischen Bahnhöfen einzuordnen. Wie ließen sich hier unerwünschte Personen fernhalten?
In der Menge Mit der Zeit lernten die Menschen pünktlich zu sein, beim Anstehen eine Reihe zu bilden, sich gebührlich zu verabschieden, sich die Zeit beim Warten zu vertreiben und mit Fremden in großer Zahl zurechtzukommen (vgl. Moran 2007). Die neuen Tugenden, Pünktlichkeit beispielsweise, wurden
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auf vielfältige Art vermittelt. Die Eisenbahnen standardisierten die unterschiedlichen Ortszeiten, die in vielen Ländern bis dahin üblich waren, und eine nationale Zeit wurde festgelegt. In den neuen Bahnhöfen begegnete einem die Zeit überall, von den riesigen überdimensionierten Uhren bis zum gerade erfundenen Fahrplan – einem weiteren Produkt der neuen Eisenbahn. Die Fahrtzeiten der Züge wurden exakt in Stunden und Minuten angegeben, während bei Kutschverbindungen häufig nur die Stunde genannt war. Der erste, „Time Table“ genannte Fahrplan erschien 1838 in England. Er sollte zum Vorbild für künftige Zeitpläne aller Art in allen Bereichen des modernen Lebens werden. Dieses Emblem der neuen Zeit war gleichzeitig eine Art Bewährungsprobe für die Bürger des modernen Nationalstaats. Die Generation der Reisepioniere musste Fahrpläne richtig lesen lernen, die Einträge in den vielen Spalten, die Fußnoten und das Kleingedruckte entziffern können (Freeman 1999: 68ff.). Durch die disziplinierte Zeit erlangte das Warten eine neue Bedeutung. Da das Reisen sich in einer exakten Zeitspanne zwischen zwei Orten vollzog, begannen die Menschen, auf ihre Uhr zu sehen. Die Standardisierung der Reise führte, wie die dumpfen Schläge beim Überfahren der Schienenstöße, zur Monotonie. Die Ruhelosigkeit schuf eine neue Art Langeweile. Am Bahnhof fanden sich alle möglichen Leute ein, die zwar allesamt warteten, doch auf unterschiedliche Dinge. Junge „Herumtreiber“ beobachteten das Geschehen, Obdachlose verbrachten ihren Tag, Prostituierte warteten auf Kunden. Eine solche Mischung schuf ein Bewusstsein dafür, wie man sich als tatsächlicher Reisender zu verhalten hatte, wie man richtig wartete. Wie man sich bewegte, konnte einen bereits verraten. Ist man wirklich ein Reisender, dessen Gedanken vom Rhythmus der ankommenden und abfahrenden Züge bestimmt sind, oder ist man nur hier, um die Zeit totzuschlagen? Während der vielen Stunden, die ich damit verbrachte, das Leben auf Bahnhöfen zu beobachten, bekam ich ein extrem feines Gespür für meine eigene Körpersprache. Beim Umhergehen fühlt man die Blicke anderer, die herauszufinden versuchen, was für eine Art Person man ist – wartet man auf etwas oder hängt man nur herum? Beispielsweise ist es einfach, Obdachlose auszumachen, die sich wie gewöhnliche Reisende zu verhalten versuchen und sich doch durch ihre Bewegungen oder durch verstohlene Blicke verraten. Am Flughafen hingegen herrscht eine ganz andere Choreografie.
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Aeropolis Der Architekturhistoriker Anthony Vidler vergleicht den Flughafen mit zwei anderen Orten des Wartens, der Hotellobby und dem Arbeitsamt (Vidler 2001). Ins Zentrum stellt er dabei die Kombination von „demoralisierendem Warten“ und „anonymem Transit“. Am Flughafen machten die Passagiere möglicherweise die gleiche Erfahrung der Machtlosigkeit wie beim Arbeitsamt, so Vidler, der dabei die vielen Mikrotechnologien im Sinn hat, durch die ein Gefühl der Unsicherheit und des Kontrollverlusts produziert wird: Man hat sein Schicksal nicht in der Hand und fühlt sich zudem wie Vieh zusammengepfercht. Das war nicht immer so. Als das Fliegen noch den Reichen vorbehalten war, besaßen die Flughäfen eine sehr viel informellere und gefälligere Atmosphäre. Die neue Art des Reisens imitierte nicht die Eisenbahn, sondern ein Verkehrsmittel, das während der 1920er Jahre als Sinnbild der Moderne und des Luxus galt: den Transatlantik-Liner. Die fliegende Besatzung der „Clipper“ übernahm die Titel und die Uniformen aus der Welt der Passagierschiffe. Die Rituale und die Ästhetik der Reise bildeten maßstabsgerecht eine Atlantiküberquerung ab, einschließlich des Champagners, serviert von den Stewards (und später Stewardessen) in Marineblau. Das änderte sich mit dem Massenreisen. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Flughäfen zu Maschinerien für die Abfertigung einer großen Zahl Körper. „Der Passagier, als mobile Einheit, muss aus Gründen der Sicherheit und Betriebseffizienz kontrolliert und geführt werden, in seinem eigenen Interesse“, wie es in offizieller Sprache heißt (Zukowsky 1996: 51). Die Erfahrung des Flughafens begann, sich deutlich von der an anderen Orten des Transits zu unterscheiden. In den 1970er Jahren führte die aufkommende Angst vor Flugzeugentführungen und Terroranschlägen schließlich zu einer noch radikaleren Restrukturierung. Flughäfen wurden zu Verteidigungsanlagen, zum „perfekten Experimentierfeld intensiver Kontrolle und Hochsicherheit“ (Virilio 1986: 16), und diese Tendenz setzte sich infolge der neuen Bedrohungen im Verlauf der 1990er und der frühen 2000er Jahre noch ausgeprägter fort. Gleichzeitig wurden Flughäfen Teil der neuen Erlebnisökonomie, und mit viel Nachdruck verwandelte man sie in „Ereignisräume“, wo Shopping, Genuss und Unterhaltung sich verbinden (vgl. Löfgren 1999). Die daraus erwachsende Spannung macht den Flughafen zu einem Ort gemischter Gefühle und Stimmungen, wie die folgenden beiden Szenen vom Flughafen Kopenhagen illustrieren.
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Weihnachten 1990: „Überaschen Sie Ihre Lieben mit einem Hummer zum Fest!“ Ein Tank mit lebenden, ein wenig matten Hummern steht am Flughafen Kopenhagen-Kastrup in der Nähe der Parfümerie, eine blonde junge Frau spielt dort Harfe, eine Lautsprecherdurchsage übertönt ihr Spiel: „Dies ist eine Sicherheitswarnung. Unbeaufsichtigtes Gepäck wird von den Ordnungskräften entfernt.“ Der Duft des Parfüms mischt sich mit dem der Reiseangst. Sommer 2008: „Willkommen im Land der Leidenschaft, des Luxus und der Träume …“ Die Einladung flattert über unseren Köpfen auf riesigen bunten Spruchbändern. Es sind zahlreiche Menschen, die darauf warten, in das gelobte Land zu gelangen, doch gerade jetzt halten uns viel prosaischere Beschäftigungen auf Trab. In der Abflughalle des Flughafens Kopenhagen herrscht das totale Chaos, weil das Gepäckabfertigungssystem zusammengebrochen ist und die ordentlichen Schlangen der Wartenden vor den Abfertigungsschaltern sich in einen ungestümen Strudel verwandelt haben. Stress und Unruhe liegen in der Luft, ebenso Irritation und Ärger, Reisende verteidigen ihren Platz in der Warteschlange, während andere eine bessere Ausgangsposition zu ergattern suchen. Wir müssen uns auf langes Warten vorbereiten; die Spruchbänder haben ganz recht, wir sind an einem Ort voller Emotionen – doch gewiss nicht voller paradiesischer Freuden, unsere Träume sind viel irdischer, wir wollen leidenschaftlich gern hier raus. Was ist das für ein Ort, ein Paradies für hedonistisches Shopping, umweht von Parfüm, Malt Whiskies, dunkler Schokolade und reiner Seide? Ein Stresslabor, ein Niemandsland zwischen dem Nationalstaat und dem Rest der Welt, eine Maschinerie der Überwachung, die automatisierte Körper von Kontrollstation zu Kontrollstation lenkt? Und zugleich ist es das Land der großen Verspätung. Der dänische Forscher Søren Nagbøl hat versucht, die Mischung von Machtlosigkeit und Wut zu beschreiben, die mitunter die Passagiere angesichts großer Verspätungen am Flughafen befällt (Nagbøl 1984). Er gibt eine detaillierte Ethnografie, wie der lange erwartete Chartertrip nach Griechenland, den er gemeinsam mit seiner Freundin geplant hatte, am Frankfurter Flughafen immer stärker kafkaeske Züge annahm. Zunächst hat der Zug zum Flughafen Verspätung und beide rennen wie um ihr Leben zum Check-In, wo sie in letzter Minute ankommen. Doch ist das erst der Anfang. Während sie, zusammengepfercht wie Rinder, langsam die verschiedenen Stationen der Abfertigungsprozedur durchlaufen, bemerken sie, dass auf den Anzeigetafeln geänderte Abflugzeiten und Gates aufblinken. Sie irren durch das Labyrinth des Flughafens und verlaufen sich in
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verschiedenen Passagen ohne Ausgang. Unterdessen gibt es unbegreiflicherweise praktisch keine konkreten Informationen darüber, was mit ihrem Flug ist. Werden sie jemals fliegen können? Nach einem ganzen Tag des Wartens, des ständigen Hetzens zu neuen Gates, voller Umbuchungen und Versuche, an Informationen zu kommen, sind sie in Angstschweiß gebadet und fühlen sich durch und durch gedemütigt. Ein lang erwarteter Urlaub beginnt im Chaos. Ein Ort, den ein klares System vorgezeichneter Bahnen durchziehen soll, wird als klaustrophobisches Labyrinth erfahren. Andere Chartertouristen empfinden möglicherweise, sobald sie die Abflughalle betreten, Erleichterung und Vorfreude. Der Körper entspannt sich, die Sinne sammeln sich aufs Neue. Man ist noch auf heimatlichem Boden, doch man fühlt sich, als wäre man bereits im Ausland und das Abenteuer hätte schon begonnen. „Lass uns was trinken und zollfrei einkaufen!“ Doch ist die Gefühlswelt am Flughafen natürlich gleichzeitig abhängig von der Situation. Neben den Chartertouristen warten andere Reisende darauf, in den Westen einreisen zu dürfen. „Ich hasse Flughäfen und ihre falsche Reinlichkeit, ihre Nostalgie, die Abschiede mit feuchten Augen. Aber besonders verachte ich die hängenden Schultern, die angsterfüllten Augen und die nicht zu verbergende Traurigkeit der Menge, die sich in den Wartesälen einfindet, ihre langen Schlangen, die Zahllosen, die über das langsam sich bewegende Transportband laufen, das sie zu weiß Gott welcher Demütigung bringt. Ich hasse es, einer dieser Menschen zu sein, einer der Männer und Frauen mit ihren Bündeln, ihre Welt und Träume in den Taschen und Kisten, die schon lange außer Mode sind. Und noch mehr verabscheue ich die grapschenden Finger des unfreundlichen jungen französischen Beamten am Charles De Gaulle, seine Grobheit und seine mürrische Art, seinen aggressiven Minderwertigkeitskomplex“ (Enwezor 1996: 65f.).
So beschreibt der nigerianische Autor Okwui Enwezor westliche Flughäfen, und er legt Parallelen zu Michel Foucaults klassischer Untersuchung zur Geburt des Gefängnisses nahe, wenn er die minutiöse Kontrolle und die Disziplinierung der Körper anspricht. Hier kann man erleben, wie es sich anfühlt, als unerwünschte Person eingeordnet zu werden, unter ständiger Beobachtung zu stehen, darauf wartend, die Tore der Festung Europa passieren zu dürfen. Für Millionen nichtwestliche Reisende ist „der Flughafen ein Ort dunkler Beklemmung und Furcht“ (ebd.), schließt Enwezor.
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Verlorenes Gepäck Zu Beginn des Romans Reise um die Erde in 80 Tagen von Jules Verne aus dem Jahr 1873 kommt Phileas Fogg nach Hause und eröffnet seinem überraschten Diener, dass sie beide sich auf eine Weltreise begeben werden. „‚Aber die Koffer?‘, sagte Passepartout, mit unwillkürlichem Kopfschütteln. ‚Keine Koffer. Nur eines Reisesackes bedarf ’s, mit zwei wollenen Hemden darin, und drei Paar Strümpfen; ebensoviel für Sie. Weiteres kaufen wir unterwegs‘“ (Verne 1990: 26). Das war für einen britischen Gentleman ein radikaler Entschluss. Reisen bedeutete schließlich, alle möglichen Gepäckstücke mit sich zu führen, wie die folgende Beschreibung aus den 1870er Jahren veranschaulicht: „Dienstmänner rufen: ‚Überprüfen Sie Ihr Gepäck, überprüfen Sie Ihr Gepäck!‘ Ein gepeinigter Familienvater, mit zahlreichen Kindern, einem Hund und einer Reihe von Gepäckstücken unterwegs zu einem Seebad, ist dabei, seine Sachen zu überprüfen. Ist alles korrekt beschriftet?“ (Parsloe 1878: 103ff.).
Die stressige Szene findet sich in dem Buch Our railways von 1878, das alle Probleme mit den ungeheuren Mengen Gepäck erörtert, die im Zug transportiert werden, auch die Probleme, dieses Gepäck im Auge zu behalten, ebenso wie die neumodische Institution des Fundamtes, wo sich eine Unzahl Schirme, Hüte, kleine Bündel und mehr oder weniger merkwürdige Dinge einfinden. Die Reisenervosität ließ die Fahrgäste alle möglichen Habseligkeiten verlieren. Bei einem Besuch des Fundamtes am Bahnhof Euston im Jahr 1849 ist der Beobachter bass erstaunt, was die Leute, insbesondere Frauen, so alles liegen lassen: „Wie viele kleine Duftfläschchen – was eine Menge bestickter Taschentüchlein – wie viele nun übel riechende Häppchen und ansehnliche Schlucke – welch Unzahl Zettelchen, wichtige kleine Notizen und sehr kleine Geheimnisse ein jedes Bündel enthalten könnte, hätten wir nicht um alles in der Welt für möglich gehalten“ (ebd.).
Die Diminutive mit Blick auf die Sachen von Frauen sprechen für sich, ebenso das ironische Nachdenken darüber, warum es, aufgetürmt in einer Ecke, so viele rote Kleidungsstücke, Tücher, Umhänge, Plaids und Schals gibt. Frauen in Rot, so sinniert der Betrachter, geraten eventuell leichter in Stress und
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„(…) sind auf irgendeine mysteriöse Art stärker vom Pfeifen der Druckluft berührt, vom plötzlichen Läuten der Glocke, vom Anblick ihrer Freunde – kurz, von den vielen verschiedenen einander widersprechenden Gefühlslagen, die das Menschenherz verwirren, sobald der Zug in Euston die Endstation erreicht“ (Richards/MacKenzie 1986: 309).
Gegen Ende des Jahrhunderts finden sich freilich dann Berichte, wonach Fahrgäste gelernt haben, besser auf ihre Habe aufzupassen, vielleicht waren sie vom Reisestress weniger „stark berührt“. Die Geschichte des Gepäcks auf Zugfahrten veranschaulicht die Veränderung der Prioritäten beim Reisen. Die ganze Infrastruktur – Dienstboten, Träger und Gepäckdienste – verweist darauf, dass in der Frühzeit des Zugreisens die Fahrgäste aus der Oberklasse Berge von Gepäck mitführen konnten. Rund um die Kofferfertigung entstand eine ganze Branche, die alle Arten von Behältnissen für die Reise produzierte. Der größte Neuerer von allen war Louis Vuitton, der 1854 in Paris seine Geschäftstätigkeit aufnahm und ständig immer neue Arten von Gepäckstücken für wohlhabende Reisende entwickelte (vgl. Pasols 2005). Vuittons Konzentration auf Mode und Frauen verweist zudem, wie Giuliana Bruno herausgearbeitet hat, auf das Reisen als eine Möglichkeit, die sich Frauen eröffnet (Bruno 2002: 373ff.). In Vuittons Werbung werfen sich Frauen mit immer neuen Gepäckstücken in Pose, von der Schuhschachtel bis zum faltbaren Reisebett, oder man sieht eine Reisende am transportablen Schreibtisch, mit Reisepult und Bibliothek. Wer sich keine Hilfe leisten konnte, musste sich auf das beschränken, was er oder sie selbst transportieren konnte. Blasierte metropolitane Reisende machten sich über die seltsamen Gepäckstücke lustig, die Einwanderer mitschleppten. Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete ein Mann in einem amerikanischen Bahnhof eine arme Immigrantin aus Deutschland, die vor ihrer zerborstenen Truhe kniete. Der Inhalt konnte nicht mehr als fünf Dollar wert sein, dachte der Betrachter und hinzufügend: „Offensichtlich war das alles, was sie besaß, es war das Heim, das sie sich aus der Heimat mitgebracht hatte“ (Richards/MacKenzie 1986: 148). Später dann, als kürzere Geschäftsreisen und Wochenendaufenthalte immer größere Verbreitung fanden, ertönte der Ruf nach „Reisen mit leichtem Gepäck“ auch aus den Reihen der Wohlhabenden. Louis Vuitton, der immer ein Gespür für neue Bedürfnisse zeigte, entwickelte die kleine Reisetasche, die Keepall, in den 1920er Jahren und sie wurde zu einem Klassiker. Reiseführer begannen, Ratschläge für kluges Kofferpacken zu geben
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und Notwendiges aufzulisten, während immer mehr miniaturisierte und leichtgewichtige Reiseaccessoires den Markt eroberten. Die „Reisetasche“ gewann an Boden. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftliche Basis des internationalen Tourismus langsam zunahm, führte das zum Aufschwung der Ratgeberbranche. Ein Reisehandbuch aus Schweden zielte auf die neue Mittelklasse, die im Begriff war, den tapferen Schritt zu wagen und ins europäische Ausland zu reisen (Strömberg 1951). Koffer sollten nur so groß sein, dass man sie selbst tragen kann, und außerdem nicht zu schick aussehen, denn das würde Hotelpagen „Appetit auf mehr Trinkgeld“ machen, wie der Autor feststellt. Es folgt ein Plädoyer für leichtes Reisen, doch dann kommen über mehrere Seiten Vorschlagslisten mit Notwendigem, darunter Dinge wie ein Bademantel (um über den Hotelflur zu laufen), eine gut gefüllte Reiseapotheke, Toilettenpapier (das notwendig ist, sobald man Schwedens Grenzen überquert hat), ein Miniaturbügeleisen und eventuell ein kleines zusammenklappbares Bügelbrett, ein halbes Dutzend Passbilder auf Reserve, eine Flasche für heißes Wasser, ein zusätzliches Kissen etc. (ebd.: 49ff.). Angesichts solcher Listen dachten die Leute möglicherweise zweimal nach, bevor sie sich ins Ausland wagten. Das Ziel, mit leichtem Gepäck zu reisen, wurde später von dem Wunsch konterkariert, jede noch so kurze Reise mit einer Vielzahl von Aufgaben zu beladen, wie die Journalistin Linton Weeks entdeckt hat (Weeks 2006). Sie hat Menschen interviewt, die sie Suburban Sherpas nennt; Leute also, die ein mehrere Kilo wiegendes mobiles Minibüro für die verschiedensten Anforderungen in speziell dafür gefertigten Rucksäcken mit sich herumschleppen. Dazu gehören nicht nur MP3-Player und ein Taschenbuch, das man in der S-Bahn liest, sondern auch ein Laptop, eine Flasche Wasser, Snacks, um den Blutzuckerspiegel in der S-Bahn oben zu halten, Kleider zum Wechseln und viele Dinge mehr. Für manche gibt es schlicht keine Grenzen, was sie tagtäglich auf ihren Wegen mit sich herumschleppen, und vielleicht wird es für sie damit enden, dass sie einen Trolley hinter sich herziehen und so immer weniger mobil werden. In einer noch laufenden Studie zu Eisenbahnpendlern hat Tom O’Dell die Wichtigkeit solcher Reiseutensilien untersucht (O’Dell 2006). Er beobachtete, wie die Menschen in überfüllten Zügen private Orte schaffen, indem sie sich mit allen Arten von Dingen umgeben und den öffentlichen Raum wie ein Zuhause einrichten oder aber ihn in ein temporäres Büro verwandeln: mit einer Tasse Kaffee, einem Handy, einem Laptop und ein paar Zeitschriften oder Memos.
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Gefährliche Objekte Der Luftverkehr schuf neue Formen, mit Gepäck umzugehen. Noch bevor Flugreisen für Passagiere möglich wurden, entwarf das Haus Vuitton 1910 den Malle Aéro genannten Reisekoffer, der in den 1920er Jahren ein populäres Gepäckstück für luftreisende Herren werden sollte, als man ihn in Anzeigen mit einer Liste seines vollständigen Inhalts bewarb: zwei Wollanzüge, ein Überzieher, drei Hemden, drei Garnituren Unterwäsche, sechs Socken, zwölf Taschentücher, 18 lose Krägen, ein Paar Schuhe, Handschuhe, Krawatte und Hut. Gesamtgewicht nur 26 Kilogramm. Als das Fliegen in den 1950er und 1960er Jahren schließlich vom Massentourismus entdeckt und damit auch das Freigepäck begrenzt wurde, gab es neue Ratschläge, wie man für den Charterurlaub packen sollte. Schwedischen Charterflugpionieren etwa riet man, den Hut zu Hause zu lassen. Der über die Rollbahn wehende Wind mache eine eng anliegende Sportmütze zu einer viel weiseren Entscheidung. Mit der Bedrohung durch den Terrorismus wurde Gepäck ein problematisches Thema. Die Sicherheitskontrollen wurden zum Nadelöhr, zu einer zone nerveuse, in der die persönliche Habe unter die Lupe genommen wird. Die Liste der verbotenen Objekte wurde immer länger und nach dem 11. September 2001 bekamen auch die vertrautesten und friedvollsten Gegenstände eine neue und bedrohliche Aura. Ein Museum in Schweden fing an, Dinge zu sammeln, die bei Sicherheitskontrollen an einem der großen Flughäfen konfisziert worden waren. So entstand eine erstaunliche Sammlung von Nagelfeilen, Korkenziehern, Scheren, Kämmen und Feuerzeugen (vgl. Boqvist 2002). Später wurden sogar Mineralwasserflaschen mit einem Bann belegt und eine ganz neue Art Miniaturverpackung tauchte auf, die 100-Milliliter-Plastiktasche mit Zippverschluss für Flüssigkeiten. Die Spannung stieg weiter, sodass 2007 Reisende am Flughafen Heathrow auf Schildern gewarnt wurden: „Bitte haben Sie Geduld während der notwendigen Sicherheitskontrollen … Drohungen, verbale Entgleisungen oder Gewalt werden nicht toleriert.“ So durchdacht und organisiert die Kontrollen bei der Abfertigung auch sind, sobald die Reisenden durch die Sicherheitskontrollen sind, zeigt sich die Situation umso behelfsmäßiger und chaotischer. Geschäftsleute versuchen Haltung zu bewahren, während sie ihre Sachen zusammenraffen und dabei ihre ohne den Gürtel nun rutschende Hose mit einer Hand hochhalten. Menschen suchen nach einer Möglichkeit, sich kurz zu setzen, um ihre Schuhe wieder anzuziehen und gleichzeitig ihre Habe wieder zu sortieren, Schlüssel und Münzgeld kommen zurück
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in die Hosentasche, der Computer in den Aktenkoffer. Alles ist nur eine Verlegenheitslösung.
Rastlos oder erholsam? „Genießen Sie die Reise im Kopf. Die leichte Abwesenheit, die Sie manchmal an den Tag legen. Wissen Sie was das ist? Sie reisen. Wir kennen das, denn wir sehen es jeden Tag. Der Zug hat kaum den Bahnsteig verlassen, da geht schon ein tiefes, einhelliges Aufatmen durch das Abteil. Dann sind Sie weg. Nicht an Orten draußen, in Östersund, Stockholm oder Göteborg, sondern in Ihrem Innern. Wir wissen nicht so viel darüber, aber die Menschen scheinen sich besser zu fühlen, wenn sie hin und wieder jene Welt besuchen. Vielleicht gibt es auf unserer Erde nicht mehr so viele Plätze, an denen man sich entspannen und mit offenen Augen träumen kann? Was wir als Kinder liebten, verloren wir als Erwachsene auf der Jagd nach Zeit. Im Zug gibt es das noch. Vielleicht sollten Sie es mal ausprobieren?“
Der Text war Teil einer großen Marketingkampagne von Statens Järnvägar, die 1999 den Zug als den Ort für Tagträume schlechthin präsentierte. Große Plakate zeigten Reisende, die sich im Abteilfenster spiegeln, und im Spiegelbild sah man sie in Traumlandschaften mit im Wind sich wiegenden Palmen und exotischen Frauen versetzt. Die Botschaft war: „Von Stockholm nach Göteborg über Tahiti.“ Doch wie wurde aus dem Zug ein Ort für Tagträume? Für die Pioniere des Zugreisens erforderte die Beschleunigung, die Schnelligkeit in der die Landschaft vorbeizog, eine neue Art der Wahrnehmung. In Handbüchern aus der Frühzeit der Eisenbahn wurde darauf hingewiesen, dass man Schwindel und plötzlichen Unpässlichkeiten vorbeugen könne, indem man tunlichst nicht rückwärts reist und es vermeidet, aus dem Fenster zu sehen. Schaue man doch hinaus, sollte man den Blick auf Dinge in der Ferne richten, den Himmel etwa oder den Horizont. Man sollte zudem darauf verzichten zu lesen, um die Augen und das Nervensystem nicht zu schädigen. Auch vor der Einfahrt in einen Tunnel wurde geraten, die Augen zu schließen, um sie nicht dem starken Kontrast von Hell und Dunkel auszusetzen. In den USA notierte Ralph Waldo Emerson 1834: „Die Festigkeit der Materie selbst scheint kompromittiert und Bäume, Felder und Erhebungen, bisher das hochgeschätzte Sinnbild der Beständigkeit, umtanzen dich in einem fort.“ Doch schon ein paar Jahre später ist für Emerson die Neuartigkeit verflogen: „Die Städte, die ich zwischen Philadelphia und New York durchfahre, hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Sie sind wie Bilder auf einer Wand“ (Zitiert nach Stilgoe 1983: 250).
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Die Erfahrung der Landschaft veränderte sich auf vielfältige Art. Die Geschwindigkeit zersetzte den Vordergrund, die Landschaft rückte dadurch weiter in die Ferne und wurde in gewisser Weise irrealer. Die gleichförmige Fahrt der Eisenbahn erschien als reine Bewegung, losgelöst von der Landschaft, die sie durchfuhr.6 Da das Reisen sich in einer exakten Zeitspanne zwischen zwei Orten vollzog, begann man, auf die Uhr zu sehen. Die Standardisierung der Reise schuf eine neue Zeitökonomie, aber auch, wie die dumpfen Schläge beim Überfahren der Schienenstöße, Monotonie. Die Ruhelosigkeit brachte eine neue Art der Langeweile hervor. In seinem Werk The seven lamps of architecture (1849) beklagte John Ruskin, die Eisenbahn verwandle Menschen in lebende Pakete, um sie lediglich an Bestimmungsorte zu befördern (vgl. Freeman 1999: 79). Mit der Zeit wurde das Zugfahren zu einer Gelegenheit für ausgedehnte Tagträume. In einer empirischen Studie über die beliebtesten Tagtraumsituationen belegten das tägliche Pendeln zur Arbeitsstelle und das Zugfahren die vorderen Plätze (vgl. Ehn/Löfgren 2007b: 159ff.). Für viele waren diese unterwegs verbrachten Minuten und Stunden nicht „verlorene Zeit“, sondern boten ihnen die Möglichkeit für intensive Tagträume. „Es kann alles Mögliche sein, das mich zum Tagträumen bringt“, erklärte eine der Befragten, „eine interessante Person, die mir gegenübersitzt, eine Anzeige, ein großer Koffer, ein Hut oder irgendein Geräusch.“ Andere hoben hervor, wie wichtig es ihnen sei, die vorbeiziehende Landschaft durchs Abteilfenster zu beobachten, eine meditative Stimmung, die Jenny Diski in ihrem Buch Stranger on a Train. Daydreaming and Smoking around America with Interruptions untersucht hat. „Jeder kennt das Vergnügen, auch bei der kürzesten Zugfahrt auf die sich der Kontrolle des Betrachters entziehende Welt hinauszustarren und dabei den Rhythmus der Räder des Zuges und das Schaukeln des Waggons zu spüren. Es ist hypnotisch, wie die Landschaft fortwährend näher kommt und sich entfernt, vorbeigleitet, das Auge klammert sich an ein Detail, bemerkt eine Wolke, ein bizarres Gebäude, einen vom Blitz getroffenen Baum, ein zusammengezucktes Tier, doch ist es unmöglich, das Gesehene festzuhalten, während die Perspektive vorbeizieht. Unsere Denkprozesse arbeiten langsamer als der Zug fährt und das Auge sieht“ (Diski 2002: 98).
„Meine Tagträume im Zug sind anders als die im Flugzeug, ich weiß nicht, woran das liegt, aber ich fühle mich im Zug viel freier“, meinte einmal ein 6 Vgl. hierzu die Untersuchungen von Wolfgang Schivelbusch (1977), Michel de Certeau (1984) und Orvar Löfgren (2000).
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Kollege zu den Unterschieden, was die Fähigkeit zum Tagträumen im Zug, im Flugzeug oder im Auto angeht. Das Gefühl von Sicherheit und Langeweile, der Panoramablick durchs Abteilfenster, die rhythmischen Geräusche, all das machte mit der Zeit den Zug zu einem besonderen Ort für Tagträume, ganz anders als das Auto oder den Flieger.
Angst und Faszination des Fliegens In seinem Buch „L’Air et les songes“ untersucht Gaston Bachelard Träume, in denen es um Schwerelosigkeit, ums Emporschweben und Stürzen geht, Traummotive also, die dem Traum und dem Tagtraum gemeinsam sind (Bachelard 1943). Im Geiste lernten Menschen fliegen lange vor der Erfindung des Heißluftballons im späten 18. Jahrhundert oder der Entwicklung des Flugzeugs zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Bauer/Behringer 1997). Neue Technologien wie die Luftfahrt ermöglichten es allerdings, neue materielle Formen in die Träume zu integrieren. Wie würde es sich anfühlen, in einem Ballon aufzusteigen, oder mit einem Modellflugzeug in der Hand am Strand entlangzulaufen, bereit zum Abheben? Das Flugzeug blieb eine Traummaschine, und das noch bis in die Zeit des sich entfaltenden Massenmarktes für Flugreisen in den 1960er und 1970er Jahren. Der entscheidende Punkt ist, dass mehrere Generationen davon träumen konnten, in der Luft zu sein, lange bevor das Fliegen zu einer Möglichkeit für jedermann wurde.7 Überall auf der Welt strömten Menschen in Scharen auf Flughäfen und zu Flugschauen, um die fliegenden Kisten zu bestaunen, und Kinder bauten Modellflugzeuge. Das Flugfieber existierte in einem imaginären Raum, es war ein Traum, Pilot zu werden, durch die Lüfte zu schweben, frei wie ein Vogel zu sein, über alles die Kontrolle zu haben und dabei die irdischen Sorgen unter sich zu lassen. Vom Boden aus betrachtet, funktionierte das Flugzeug als Vehikel für Tagtraumfantasien von Freiheit, Mobilität und Schwerelosigkeit. Als es schließlich soweit war und gewöhnliche Menschen tatsächlich die Möglichkeit zu fliegen bekamen, als sie, eingezwängt wie Sardinen, in engen Fliegern Langstreckenflüge und schreckliche Landungen erlebten, entwickelte sich eine neue Art Fantasie: die Angst vorm Fliegen. Festgeschnallt im Sitz an Bord eines Flugzeugs lauern im Hinterkopf Katastrophenbilder. Obwohl man schon lange aufgehört hat, der üblichen Präsentation der Sicherheitsvorkehrungen zu folgen, nimmt man bewusst oder unbewusst die materielle Welt voller Hinweise auf mögliche Gefahren 7 In seinem Werk A nation of Fliers (1992) untersucht der Historiker Peter Fritzsche den deutschen Kollektivtraum vom Fliegen im frühen 20. Jahrhundert.
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auf, die einen umgibt. Die Schwimmweste unter dem Sitz, die Sauerstoffmaske, die von der Decke fällt, die Tüte für den Fall der Reisekrankheit. Für den Bruchteil einer Sekunde möglicherweise tauchen Katastrophen- und Todesfantasien auf. In den Kindertagen des Reisens mit der Eisenbahn waren solche Fantasien ebenfalls weit verbreitet, und die moderne Traumaforschung nahm ihren Anfang mit der Untersuchung von Zugunglücken. Alle Arten von „Eisenbahnkrankheiten“ wurden damals erforscht (Höjer 2005). Die Ängste vor dem Reisen mit der Bahn verblassten rasch, doch in der Luft – dem sichersten Verkehrsmittel von allen – leben sie weiter. Die Aviophobie schuf eine ganze Branche mit Therapien, Beratungen und Trainingsangeboten. Es ist eine Phobie, in der sich eine ganze Reihe von Furcht- oder Angstzuständen verbinden, etwa ein Gefühl der Machtlosigkeit als Passagier, Klaustrophobie, Höhenangst sowie die Angst vor einem plötzlichen und unausweichlichen Tod (vgl. Thünnihsen 1997). Der Flugzeugabsturz gehört zu einer der vorherrschenden, wenn auch bisweilen unterdrückten oder verdrängten, Todesfantasien. Die Fluglinien taten ihr Bestes und arbeiteten an einem Gegenbild, dem Glamour vom Fliegen. Als in den 1930er Jahren erstmals Stewardessen eingesetzt wurden, waren die Frauen zunächst wie Krankenschwestern ausgebildet, bereit, sich mütterlich um die Passagiere zu kümmern. Doch schon bald wurde aus der Stewardess ein Sinnbild des Glamours, fast schon ein Filmstar. Nur ein Knopfdruck und diese Göttin segelte auf einen zu und servierte einen Cocktail. Ihr Image fügte dem Fliegen erotische Fantasien hinzu. Ein populärer Slogan aus den 1950er Jahren brachte den Traum von der schönen und immer lächelnden Frau, die bereit ist, den Fluggästen ihre Wünsche zu erfüllen, auf den Punkt: „Kaffee, Tee oder mich?“ (Dienel 1997: 375). Tagträume hoch oben am Himmel werden durch eine besondere materielle Umgebung geformt. Die Klanglandschaft des tiefen, doch gedämpften Brummens der Motoren, der Wind wie auch die leichten Vibrationen machen häufig schläfrig und animieren zum Träumen. Doch unversehens reißen einen rücksichtslos schrille Lautsprecheransagen der Crew aus einer solchen meditativen Stimmung. Die Wolken draußen ziehen gleichmäßig und schläfrig vorüber, alle Bewegungen sind so langsam, dass man meinen könne, man hinge reglos in der Luft. Die merkwürdigen Wolkenformationen und der Sonnenuntergang am Horizont schaffen für Tagträume eine besondere Atmosphäre. Die erste Generation von Flugreisenden fand, die von oben betrachtete Landschaft weise der Vorstellungskraft neue Wege. Bei Nacht vollzogen die Städte
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eine magische Wandlung. Ein deutscher Passagier beschrieb den Anflug bei Nacht auf Berlin in den 1920er Jahren: „Die Stirn am Fenster schwebt man über die Straßen. Sie sind einem bekannt, und doch kann man sie nicht wiedererkennen. Was man sieht ist unwirklich und phantastisch – schimmernde Arabesken, Diamanten auf schwarzer Seide“ (Zitiert nach Fritzsche 1992: 169).
In der Nacht zeigte sich eine ganz neue Stadt, voll unbekannter Schönheit und Abenteuer. Flugzeuge verliehen der modernen Welt neue Romantik. Doch die Tagtraumstimmung in der Hülle des Flugzeugs kann sich drastisch wandeln. Die meditative und entspannte Erfahrung auf einem halbleeren Flug unterscheidet sich gravierend von der angespannten, unruhigen und stressigen Atmosphäre in einer Maschine mit Verspätung voller verärgerter und ungeduldiger Passagiere.
Arten und Stimmungen des Reisens Bahnhöfe seien „von Tragik durchweht“, schreibt Marcel Proust (Proust 1981), und denkt dabei ans Fortgehen und an traurige Abschiede. Dabei sind Bahnhöfe wie Flughäfen Orte voll interessant gemischter Gefühle. Es gibt das permanente Aufeinanderprallen unterschiedlicher Tempi und Rhythmen. Gelangweilte Körper, die zum Warten genötigt sind, hastende wie rastende Körper, die feinen Unterschiede zwischen Warten und Herumlungern. Die wesentliche Erfahrung in der Frühzeit der Eisenbahn war eine Intensivierung der Sinne. In den Pioniertagen spürte man die modernen Energien, Dampf und Elektrizität, körperlich, sie waren im Körper, physisch wie metaphorisch. Körper wurden elektrifiziert, die Menge dampfte (Parissien 1997). Eine neue und moderne nervöse Energie war allgegenwärtig, als gleichermaßen körperlicher wie seelischer Zustand. In der Form des Reisefiebers konnte diese Energie gleichermaßen lähmen und antreiben, sie sorgte für Besorgnis und Rausch, Begehren und Angst. „Reiseangst“ ist eher eine Stimmung als ein Gefühl, sie färbt die Wahrnehmung und das Handeln der Menschen. Sie produziert Körper, die hektisch taumeln, und Geisteszustände, die es nicht erwarten können, dass der Körper endlich in Bewegung gerät. In ihrer Vorstellungswelt sind die Menschen bereits unterwegs, schneller als ihre Beine sie tragen. Die Reiseangst bietet ein gutes Beispiel für eine Gefühlsstruktur, die sich im intensiven Austausch mit der gesellschaftlichen und materiellen Umgebung entwickelt.
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Dinge werden zu wichtigen Orientierungspunkten für eine solche diffuse nervöse Energie, und das Gleiche gilt für eine weitere emotionale und nervöse Reaktionsweise von Reisenden, die Irritation. Es handelt sich dabei, worauf Sianne Ngai hinwies, um ein diffuses Gefühl angesichts eines Gegenstands, eines unangenehmen Mitreisenden, eines arroganten Schaffners oder eines nicht funktionierenden Apparats (Ngai 2005: 195ff.). Eine historische Perspektive hilft, die Bedingungen zu erkennen, unter denen solche emotionalen Gemütszustände beim Reisen entstehen. Neue Fähigkeiten, Technologien und emotionale Reaktionen treten viel deutlicher in der Pionierzeit hervor. Beim Reisen werden neue Dinge und Techniken ausprobiert und eingesetzt, die Menschen versuchen sie zu beherrschen und urteilen über ihre möglichen Gebrauchsweisen. Die Geschichte des Reisens mit der Eisenbahn und dem Flugzeug ermöglicht es, zu erkennen, wie Reisefieber entsteht, wie es kontrollierbar wird und wie es sich mit der Zeit wandelt. Das Anstrengende wird möglicherweise erholsam, die Aufregung wird zur Routine. Die unterschiedlichen Welten von Bahnhöfen und Flughäfen bringen gegensätzliche Gefühlsstrukturen hervor. Mit dem Zug zu fahren, kombiniert Emotion und Mobilität auf andere Weise als ein Flugzeug zu besteigen oder an Bord eines Schiffes zu gehen. Ich habe für eine Perspektive plädiert, die das trivialste und selbstverständlichste Handeln als erworbene kulturelle Fähigkeit begreift, die in einem spezifischen historischen und veränderlichen Kontext entsteht. Zu dieser Fähigkeit gehört, was Michel de Certeau die Taktiken des Reisens nannte (de Certeau 1984). Häufig offenbaren sie sich in körperlicher Bewegung, von der nervtötenden Langeweile des Wartens bis zum Umgang mit Menschenmengen. Wenn wir uns Fähigkeiten dieser Art erst einmal angeeignet haben, werden sie zu Reflexen naturalisiert: das Schlangestehen beim Warten, das Vermeiden von Blickkontakt mit Fremden, das Entziffern von Tickets, Tagträume über unser Ziel. In mancherlei Hinsicht verweisen solche Lernprozesse auf viel weiter gespannte Dimensionen. Die Eisenbahn wurde zu einer mächtigen Metapher gesellschaftlicher Veränderung, doch zugleich ist sie eine ganz konkrete Materialisierung der Moderne. Im Rückblick können wir erkennen, wie das Reisen mit der Eisenbahn eine Form der Bildung war, eine Art Erziehung moderner Staatsbürger, und dabei funktionierte es als eine integrierende und homogenisierende Technologie; im Fliegen fand dieser Bildungsprozess seine Weiterentwicklung und Fortsetzung. Als Passagiere lernten die Menschen, Zeit und Raum auf neue Art zu kalkulieren. Wie lange ist der Aufenthalt in Manchester, ist der Abendzug nach Berlin schneller, was kostet
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eine Rückfahrkarte, ist das dort ein Reisender erster Klasse? So entstand eine neue Nation, Menschen, die die Zeit im Auge behalten, sich in einer Menge orientieren und Klassenzugehörigkeiten einschätzen konnten, und einen guten Teil ihres Wissens eigneten sie sich durch Bewegung an, die ganz verschiedene Materialitäten fand, die Furcht einflößende Eisenbahnkathedrale oder die nervenaufreibende Sicherheitskontrolle ebenso wie die bequeme Polsterung im Abteil. (Travel-Fever. The materiality of motion and emotion. In das Deutsche übersetzt von Thomas Atzert.)
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Prosperitätstourismus und das letzte Hemd, das keine Taschen hat Über materielle Ansprüche und die immaterielle Bedeutung des heutigen Tourismus Dieter Kramer
Tourismus ist in seiner heutigen Form ein Privileg der Menschen in den reichen Staaten. Deswegen steht im Titel „Prosperitätstourismus“. Die materiellen Standards von Transport, Beherbergung sowie der „Möblierung“, Konditionierung und Strukturierung der Landschaft (die materielle Kultur des Reisens) haben ein außerordentliches Niveau erreicht. All dies kann die Tourismusforschung leicht erforschen. Der Titel des Textes ist aus einer gewissen Lust an der Provokation entstanden: Die meisten Aspekte der materiellen Kultur des Reisens werden gern untersucht; sie sind vom Aussichtsturm bis zum Souvenir oder Hotelbett Themen von Studien. Persönlichkeitsbezogene Fragen werden eher vernachlässigt. Wissen wir zum Beispiel, was die Touristen unter „Erlebnis“ verstehen, was bedeutet Tourismus für die Persönlichkeitsentwicklung, wie hängen Lebensweise und Tourismus zusammen? Wenn im Titel von „immaterieller Bedeutung“ des Tourismus die Rede ist, dann soll damit darauf hingewiesen werden, dass zwischen Tourismus und Persönlichkeit Beziehungen bestehen. Es kommt dabei nicht auf das erworbene Prestige an und auch nicht auf die möglichen Genüsse, sondern auf das, was der Tourismus (das keinen unmittelbaren beruflichen oder existenziellen Zwecken untergeordnete Reisen) in der Summe des gelebten Lebens den Individuen bedeutet hat (was bleibt) und was er dem Leben hinzugefügt hat. Zu vermuten ist, so die zu Grunde gelegte Hypothese, dass zwischen den artikulierten materiellen Ansprüchen der Touristen in der Prosperität und dieser immateriellen Bedeutung keine direkte Entsprechung besteht. In folgenden Schritten soll das Thema abgehandelt werden: · Bedeutung und Charakter des heutigen Tourismus · Welche Folgen hat es, wenn wir den heutigen Tourismus als primär der Prosperität geschuldete Erscheinung betrachten?
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· Ein Exkurs zu den Dingen beim Reisen · Die Erlebnisse und das Erleben und die Reise · Schlussfolgerungen Das alles möchte ich unter weitgehender Vermeidung von Kulturkritik, auch ohne allzu viel Philosophie thematisieren, eingedenk der Vorteile und der besonderen Qualität der Europäischen Ethnologie, die darin liegen, dass vor allen Schlüssen und Empfehlungen (geschweige denn Wertungen) zunächst genau hingesehen wird. Dabei ist sich die Europäische Ethnologie aber immer bewusst, dass Analyse (gar Kulturanalyse) nicht ohne ein Raster möglich ist. Und dieses enthält unweigerlich auch wertende Aspekte. Im Zusammenhang mit unserem Thema geht es zunächst um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das erst in späteren Schritten milieuspezifisch aufgefächert werden könnte. Und dabei sind die Milieus, wie leicht am Beispiel des automobilistischen Milieus zu zeigen ist, nicht mit sozialen Schichten in Übereinstimmung zu bringen.
Bedeutung und Charakter des heutigen Tourismus Zunächst: Touristisches Reisen erfreut sich ungebrochener Beliebtheit „Weder die Finanz- und Börsenkrise noch steigende Energie- und Lebenshaltungskosten können die Reiselust der Deutschen bremsen. Pragmatismus statt Panik ist angesagt. Die Reisebranche hat den Jahrhundertschock des ‚11. September 2001‘ endgültig überwunden. Zwei Drittel der Bundesbürger haben im vergangenen Jahr eine Urlaubsreise von mindestens 5 Tagen Dauer unternommen (65,0 % 2006: 64,7 %). (…). Fast drei Viertel der Bevölkerung (71 %) wollen 2008 verreisen.“ Und: „Der dramatische Rückgang der durchschnittlichen Reisedauer von 18,2 Tagen (1980) auf den Tiefststand von 12,8 Tagen im Jahr 2004 ist gestoppt. Die deutschen Urlauber waren im vergangenen Jahr 2007 durchschnittlich 13,2 Tage unterwegs (im Vorjahr 2006: 13,0 Tage“ (Forschung aktuell 2008: 2). „Italien wird erstmals wieder Spitzenreiter in der Gunst der Deutschen und knüpft damit an traditionelle deutsche Italiensehnsüchte an.“ Spanien tritt demgegenüber zurück (ebd.). 1 „Ferienqualität wird neu definiert. Die wachsende Reise-‚Erfahrung‘ hat die Qualitätsansprüche der Urlauber verändert. Qualität wird nicht nur als Geldfrage verstanden. Gemeint ist vielmehr eine subjektiv wahrnehmbare Qualitätsverbesserung für 1 Das ist geschrieben vor der Krise des Herbstes 2008. Wie diese besonders starke Krise sich auswirkt, wird interessant zu beobachten sein.
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alle – frei nach der Devise ‚Höchste Qualität für jede Klasse und Kasse.‘ Qualität im Service, in der Infrastruktur und im Atmosphärischen: Von der schönen Landschaft über den sauberen Strand bis zur gemütlichen Unterkunft. Wer heute Reisen verkauft, muss mehr als Transport, Unterkunft und Service bieten“ (Ebd.: 6).
Tourismus ist in der heutigen Weltwirtschaft ein wichtiger Faktor, vielleicht sogar Leitindustrie für Phasen und Regionen. Noch 1985 konnte der ehemalige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky nicht ohne Berechtigung davon träumen, der Leitindustrie des 19. Jahrhunderts, der Eisen- und Stahlindustrie, durch die Eisenbahn-Erschließung Afrikas neuen Auftrieb zu geben. Sie floriert heute zwar dank des Bedarfs der neuen asiatischen Wachstumsregionen, aber ihre Rolle als Leitindustrie ist ausgespielt. Das Gleiche droht dem fossilistischen Fordismus, der durchgängigen Automobilisierung (mit entsprechender Infrastruktur) dank der allmählich schwindenden Verfügbarkeit billiger fossiler Brennstoffe. Diese Epoche scheint sich dem Ende zuzuneigen, auch wenn die durch sie geschaffenen Strukturen (einschließlich des exorbitanten Flugverkehrs) deswegen genauso wenig obsolet werden wie die Strukturen früherer Leitindustrien. Aktuelle Leitsektoren sind Information und Freizeit, wobei Tourismus unter Letzterer subsumiert ist. Information, die Kultur- und Kreativindustrie eingeschlossen, ist derzeit ein besonders intensiv umkämpfter und gleichzeitig der am stärksten wachsende Sektor der Weltwirtschaft (das UNESCO-Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005 reagierte darauf). Tourismus- und Freizeitindustrie spielen mit kontinuierlichen Wachstumsraten und gigantischen Umsätzen in der gleichen Liga. Tourismus und Freizeit sind gebunden an die Prosperität ökonomisch relevanter Teile der Weltbevölkerung (wobei es bis zu einem gewissen Grad ökonomisch unerheblich ist, ob wenige reiche Konsumenten oder viele aus der Mittelschicht als Nachfrager auftreten – die übrigen Folgen sind freilich unterschiedlich).
Prosperität als Voraussetzung Ich schlage vor, in einem makrotheoretischen kulturhistorischen Ansatz den modernen Tourismus als Phänomen aktueller Wohlstandsgesellschaften zu begreifen. Tourismus ist in seiner heutigen Form und den aktuellen Größenordnungen historisch neu und bis dato ziemlich einmalig. Es handelt sich beim Tourismus als dem keinem unmittelbaren oder „produktiven“ Zweck oder äußeren Zwang geschuldeten Reisen um einen
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eigenständigen Bereich und nicht um eine Restkategorie des Reisens allgemein, auch wenn zahlreiche Grauzonen existieren, bei denen „Zwecke“ verschiedenster Form (beispielsweise Vergnügen, Reputation) gefunden werden können. Tourismus soll als historische Erscheinung und in seiner geschichtlichen Entfaltung ernst genommen werden. Eine vorurteilslose Betrachtung (Scherer 1999), nicht Kulturkritik, soll dabei angestrebt werden. Ohne Prosperität, konkret: ohne freie Kaufkraft und Zeit und ohne die Existenz von prosperierenden Schichten, ohne Frieden und Sicherheit der Wege, ohne Freizügigkeit der Personen ist der freiwillige und genussorientierte Tourismus nicht möglich. All das sind keine Selbstverständlichkeiten. Erst dank ihrer findet die „anthropologische Ausstattung“ des Menschen (das explorative Verhalten) seine kulturelle Ausgestaltung im Tourismus. Die Menschen in saturierten Zuständen legen sich nicht nur auf die faule Haut, sondern richten ihre Suchbewegungen in neuen Möglichkeitsräumen auf neue Formen der Lebensqualität (nicht unbeeinflusst von historischgesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Moden und Marktprozessen). „Wir haben keine rechte Ahnung, was den Menschen in die Welt hinauszieht. Neugierde? Abenteuerlust? Das Bedürfnis, unaufhörlich staunen zu können? Der Mensch, der nicht mehr staunen kann, ist verbraucht, hat ein ausgebranntes Herz. In dem Menschen, der meint, alles sei schon dagewesen, der über nichts mehr zu staunen vermag, ist das Schönste abgestorben – der Reiz des Lebens.“ (Kapuściński 2005: 348)
Wir werden die Prosperitätsdividende einfordern, also danach fragen, was denn die Menschen aus den Chancen machen, die ihnen die Prosperität bietet, und wir werden nicht umhin können, die ökologischen und sozialen Folgen des Tourismus nüchtern zu benennen, und wir fragen danach, wie er unter den Bedingungen einer ausgeprägten Marktdynamik auf die Entwicklung der „Mentalitäten“, der Persönlichkeit und Lebensqualität der Individuen wirkt.
Kulturelle Ausprägungen Das Reisen folgt keinen ewig gültigen Mustern, sondern findet kulturgeprägt seine unterschiedlichen Ausprägungen. Unter den Bedingungen der Gegenwart hat sich der moderne Tourismus entwickelt, der einen anderen Charakter besitzt als das Reisen in der Vergangenheit. Wenn wir den aktuellen Tourismus nüchtern betrachten, dann geht es bei ihm in hohem Maß um den Genuss von Reichtum, über den Menschen in prosperierenden Ländern verfügen. Wir alle, auch die sanftesten Touristen, finden und suchen unser
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Schnäppchen dabei, auch im Alternativtourismus, im Wissenschaftstourismus, im Entwicklungshilfetourismus oder wo immer wir sonst Begründungen für unsere Reisen finden, die notwendig werden, weil sie möglich und billig sind. Tourismus hat keine Funktion, er spielt nur eine Rolle. Er ist nicht nötig, er ist nur möglich geworden und wird deswegen praktiziert. Dies ist in der Geschichte nicht in allen Prosperitätsgesellschaften geschehen – zwar in der römischen Antike mit einer gewissen Parallelität, in der italienischen Renaissance dagegen wird anscheinend nur die Sommerfrische nennenswert weiterentwickelt. Nichteuropäische Prosperitätsgesellschaften scheinen den Tourismus auch nicht so deutlich entwickelt zu haben (allerdings fehlen mir in diesem Zusammenhang genauere Informationen – in Japans klassischer Zeit scheint es dagegen verwandte Formen gegeben zu haben). Wesentlich für die Entstehung des modernen Tourismus waren die imperiale Unterwerfung der Welt und die offenen Grenzen (die vor 1914 für die wohlhabenden Angehörigen der hegemonialen Gesellschaften am ausgeprägtesten offen waren). Später waren es neben der Prosperität und der fordistischen Lebensform als der Kombination von Massenproduktion und Massenkonsum dann die Verkehrsmittel, die parallel zu ihm und mit ihm wuchsen. Heute sind sie in Form des hochsubventionierten Flugverkehrs in vieler Hinsicht sein Motor. All das hat Suchräume geöffnet, die mit einer gleichzeitig und parallel erfolgenden Entgrenzung der Bedürfnisse kulturspezifisch ausgefüllt wurden, und zwar mehr und mehr in Richtung des unverbindlichen Genusses. Das scheint die kennzeichnende aktuelle Dynamik zu sein, die zum Beispiel Gerhard Armanski (1997) kulturkritisch beschreibt. Primäre Motive der Reisenden und sekundäre Motive der Tourismuswirtschaft bilden ein sich wechselseitig aufschaukelndes System, geprägt von Genusswünschen und Reichtum auf der einen Seite, dem Streben nach Kaufkraftumverteilung auf der anderen Seite. Die Tourismusindustrie lenkt die Kaufkraft auf ihre Mühlen. Sie wird dabei unterstützt von dem, was fälschlicherweise Tourismuspolitik genannt wird, in Wirklichkeit aber (in Österreich seit dem Grazer Fremdenverkehrstag von 1884, vgl. Brusatti 1984) in der Regel nichts anderes ist als Fremdenverkehrsförderung.
Die Beliebigkeit des Prosperitätstourismus Was immer der zeitgenössische Tourist aus den Prosperitätsregionen tut, ob er vorgibt, aus dem Alltag zu fliehen, Natur, Kultur, Veränderung oder die Erfahrung der Fremde zu genießen, oder offene Neugier vorgibt, oder ob ihm unterstellt wird, er suche einen ganzheitlichen Lebensraum (RomeißStracke 1997: 64), von dem der Alltagsverstand besser als die Wissenschaft
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weiß, dass er nie existiert: In allererster Linie genießt er die ihm durch seinen Reichtum eröffneten Möglichkeiten. Jenseits von Kulturkritik wollen wir dem Touristen zugestehen, dass er dabei in Maßen auch seinen Reichtum an Beziehungen zur Umwelt, zur Kultur und zu sich selbst entfaltet, aber im Vordergrund steht bei allen zweckfreien Formen des Reisens der Genuss einschließlich seiner sekundären repräsentativen Aspekte als demonstrativer Konsum. Ob in den Formen des touristischen Bewegens das Leitbild des freien und selbstbewussten Menschen, das in aller Regel kulturell (und damit gesellschaftlich) oder individuell gesetzte Selbstbegrenzung als Fähigkeit einschließt, mit der programmatischen Entgrenzung der Bedürfnisse im marktförmig gestalteten Tourismus kompatibel ist oder mit seinen exzesshaften Formen davon konterkariert wird, das muss sich erweisen. In der Praxis ein menschliches Maß zu finden, darin üben sich freilich die Individuen intensiver und häufiger als wir denken – hierzu bedürfte es der sensiblen empirischen Studien. Der „Ausbruch aus dem Gehäuse der Hörigkeit“ gelingt nicht allein mit der Entgrenzung, sondern bedarf auch der selbstgewählten und freiwilligen Selbstbegrenzung: Im Bild von der Systole und Diastole, von den zweierlei Gaben des Atemholens hat Goethe diese anthropologische (wenn man sie denn so nennen will) Dimension benannt (sie ist auch eine der Lebensqualität, vgl. Schulze 2001). Wie viel der moderne Tourismus noch mit Selbstfindung zu tun hat (Hennig 1997: 40), und ob der Tourist „aufgefüllt mit Leben“ (Spode 1997: 7) aus dem Urlaub zurückkehren kann, wenn das ganze Arrangement auf alles andere als auf Erlebnis und Erfahrung im Sinne der Lebensphilosophie ausgerichtet ist, sondern eher auf Genuss ohne Reue und ohne Risiko, wie die Topoi der Reiseindustrie ihn versprechen (sei es für die armen abgearbeiteten neuen Dienstleister und Symbolanalytiker, die sich sonst nichts leisten, weil sie zwar über Geld, aber nicht über Zeit verfügen, sei es für diejenigen, die als Frührentner der Wohlstandsgesellschaft ihre Langeweile ausfüllen wollen). Eine integrale Tourismustheorie, die den Tourismus in universalgeschichtlicher Perspektive sieht, wird allerdings auch überlegen, ob er in seiner Exzessivität Teil einer aus dem Ruder laufenden, sich selbst zerstörenden Gesellschaft sein könnte, oder ob er sich vom übrigen gesellschaftlichen Leben soweit verselbständigt, dass er es wie „hierarchische Pathologien“ (Groh 1992: 72, einen Ausdruck von Kent V. Flannery benutzend) beeinträchtigt. Zu dem was die pessimistische Kulturphilosophie als drückende Last der „objektivierten Kultur“ betrachtet (Konersmann 1996: 53, 57), könnte auch der Tourismus zu rechnen sein.
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Tourismuskritik begleitet wie ein Grundrauschen den historisch belegten Tourismus seit der Antike. Sie kann allerdings nüchterne, vorurteilsfreie Analyse nicht ersetzen.
Sinngebung des Exzesses Vielleicht ermutigt die deregulierte neoliberale Gesellschaft (die mehr und mehr auf die Einbettung des Handelns in das sozialkulturelle Wertsystem der Gesellschaft verzichtet) noch stärker alle ekstatischen Entgrenzungen des exzessiven Genusses, sei es die der „Unterschichten“ am Ballermannn 6 oder in Brighton, sei es die der globalen Jeunesse Dorée in Saint Tropez an der Côte d’Azur oder in Agia Napa auf Zypern oder seien es die Superreichen in der Suite des Ritz. Es mag sein, dass der Exzess eines der Leitattribute des postmodernen Tourismus ist – die hemmungslose, durch immer weniger Restriktionen und sozialkulturelle Einbettungen gebändigte Form der Genusssuche, Distinktionsgewinne eingeschlossen. Exzesse dieser Art mögen als Archaismen interpretiert werden, aber es lässt sich auch einfach sagen: Weil sie möglich sind, finden sie unter entsprechenden Voraussetzungen immer statt, freilich in höchst unterschiedlicher Gestalt – vom Potlatch der Stammeskulturen bis zur wettbewerbsorientierten Verschwendung (largesse) im europäischen Mittelalter oder dem Automobilismus und Tourismus der Gegenwart. Der Exzess des Festes als gemeinschaftlicher lustvoller Konsum gesellschaftlichen und privaten Reichtums (oft genug vorher bewusst angespart, meist kultisch legitimiert) gehört zu den universalen Kulturmustern, mit denen Höhepunkte und Zäsuren in das Leben und den Ablauf der Zeit eingefügt werden. Der Exzess folgt dabei nicht dem Muster „Brot und Spiele“, das funktional als bewusste staatsinterventionistische Strategie der sozialen Beschwichtigung seit der Aufklärung verstanden werden kann (vgl. Tanzer 1992: 177). Ich distanziere mich mit dieser Interpretation von der meines Erachtens überstrapazierten Fluchthypothese Hans Magnus Enzensbergers: Vor was flieht die zu zitierende automobilistische oder aeronautische Welt, die ihr heimisches ökologisches und landschaftliches Chaos in die übrige Welt einschließlich ihrer Zielregionen exportiert und dort die Bequemlichkeit der gleichen Straßen und Flughäfen vorfinden will wie zu Hause? Vor was fliehen zum Beispiel die reichen Russen, die in ihren Ghettos das von ihrer Praxis angerichtete soziale Chaos nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen brauchen? Alle suchen primär Genuss ohne Reue (das ist nicht als Kulturkritik zu verstehen, sondern als Analyse – die verwendeten Vokabeln mögen
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zwar auch als wertend empfunden werden, mit etwas mehr Aufwand ließe sich aber auch ein neutraleres Vokabular finden). Gewiss ließe sich ergänzend zudem das Unbewusste bemühen. Der Rekurs darauf scheint mir aber beliebig, selbstreferentiell und wenig erklärend. Bleiben wir daher bei dem Sichtbaren. Wir brauchen dazu nicht nur auf der Oberfläche zu surfen, sondern können die tieferen Dimensionen der Ökonomie, der individuellen Haushaltswirtschaft (Mikroökonomie) und der viel zu wenig thematisierten und reflektierten Kräfte des Wünschens und Begehrens (der Bedürfnisdynamik) einbeziehen. Wie vorgeschlagen, beim Tourismus den Genuss von individuellem und gesellschaftlichem Reichtum in den Vordergrund zu stellen, eröffnet den Weg zu nüchternem und vorurteilsfreiem Umgang mit den Erscheinungen. Wir können dann auch unbefangener nachdenken über das, was man den Touristen zumuten kann.
Die Dinge Das System der Dinge ist ein System von Bedeutsamkeiten. Ein Ding ohne Namen existiert praktisch nicht. Namen erhalten die Dinge aus der Lebenspraxis: Sie ist kontemplativ, nur aus der Distanz betrachtend, oder sie ist lebenspraktisch und am materiellen Leben, am praktischen Naturstoffwechsel orientiert. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was im Tourismusmarketing die Destinationsprofilierung und das Identitätsmanagement der Objektwelt konstruierend auf den Leib schreiben und dem, was die Touristen selbst den Dingen zuschreiben. Die Erlebnisse sind im Tourismus seit Jahrzehnten intensiv mit den Dingen verknüpft. Am Beispiel der Automobilwerbung lässt sich dies illustrieren. Einige Fotos aus der Betriebszeitschrift der Rüsselsheimer Adam Opel AG zeigen die enge Verbindung von Auto und Tourismus in den 1970er Jahren: Die Nische, die diese Firma vor dem Ersten Weltkrieg mit dem „Doktorwagen“, einem zuverlässigen und immer verfügbaren Auto für den Landarzt, zu erschließen versuchte, war viel zu klein: Erst die „fordistische“ Kombination von Massenproduktion und Massenkonsum brachte dieMotorisierung auf breiterer Basis. Drei Fotos aus der Werkszeitschrift deuten an, wie die Nische Tourismus und Freizeit gefüllt wird: Das Fahrzeug zieht den Wohnwagen für den AutoSommer-Haupturlaub (Abb. 1, Opel-Post 5-1979, Titel), es ist wintertauglich (Abb. 2, Opel-Post 1/2-1979), es vermag in verschiedenen Varianten sämtliche Freizeit-Utensilien zu transportieren (Abb. 3, Opel-Post 8/9-1979, Beil.)
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Abb. 1: Opel-Post 5-1979, Titel.
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Abb. 2: Opel-Post 1/2-1979.
Abb. 3: Opel-Post 8/9-1979, Beil.
Der Slogan „Jeder Popel fährt Opel“ wollte ein soziales Segment der Nutzer von Autos dieser Firma andeuten. Aber ein Besuch in der neuen „BMWWelt“ in München, konstruiert von COOP Himmelb(l)au, belehrt, dass es hier um klassen- und schichtenübergreifende Dimensionen geht. Wir betreten da eine andere Welt: „Wenn Sie BMW mit allen Sinnen erleben wollen, dann ist die BMW Welt Ihre Welt“, zudem heißt es: „Für Automobilabholer ist sicherlich die Übergabe ihres neuen BMW der schönste Moment beim Besuch der BMW Welt“. (Zitate aus dem 2007 verteilten Faltblatt) – Zur Erinnerung: Es handelt sich um ein Unternehmen, das trotz seiner deutlichen Gewinne 2008 ankündigte, mehrere Tausend Beschäftigte zu entlassen.
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Zitate aus Raumtexten belegen den selbstbewussten Anspruch auf Definitionsgewalt, was Lebensqualität und Verantwortung betrifft: „Sie lassen sich nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Freizeit planen. Und das ist auch gut so. Der BMW X 5 sorgt dafür, dass Einschränkungen für Sie ein Fremdwort sind.“ Überall hochsymbolisch totes Gehölz: Rinde vom Zimtbaum, Korkeichenhüllen, trockener Bambus. Im Restaurant: „Bitte warten, Sie werden platziert“. Existenzielle Dimensionen werden zum Enduro bemüht: „Wenn der Weg niemals aufhört“. Unermüdlich wird an Emotionen appelliert: „Design ist die Kunst, Leidenschaft zu wecken. Unsere Leidenschaft ist alles, was sich bewegt.“ Dies alles ist umgeben von Autos, deren Unterschiede, abgesehen von der Farbe, sich in ihrer Symbolbedeutung dem automobilistischen Laien überhaupt nicht erschließen. In der Prosperitätsgesellschaft sind Lebensqualität, Bedürfnisse und Ansprüche mit materiellem Konsum gekoppelt. Fun, Erlebnis, Lebensgenuss, „Ich will Spaß“ – das sind die Leitbilder nicht nur einer parasitären Müßiggängerklasse. Mottos wie „Man gönnt sich ja sonst nichts“ oder „Wer hart arbeitet, soll auch Spaß haben“ sind Teil des Alltagslebens geworden – mit Kulturkritik ist dem nicht beizukommen. Inzwischen werden diese Haltungen von den reichen Nutznießern der zunehmenden Aufspaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ja auch relativiert: Nicht materieller Konsum allein bestimmt die Lebensqualität. Spätestens seit Hans Magnus Enzensberger (1996) darüber nachgedacht hat, was heute Luxus ist und dabei festgestellt hat, dass manches dazu gehört, was man nicht kaufen kann, wird das immer wieder thematisiert. Was die Intellektuellen hier wieder entdeckt haben, ist für diejenigen Menschen, denen es um ein „anständiges Leben“ in ihrer gewohnten Umgebung geht, längst selbstverständlich. Sie aber sind derzeit oft genug mit der Sicherung des alltäglichen Lebens voll beschäftigt. In allen Gemeinschaften gibt es sozialregulative Ideen bezüglich dessen, wie man als Mensch, als Mann, als Frau, in seinem Beruf leben möchte. Ein Amalgam aus Sitte, Sozialisation, Rolle, Gemeinschaft und sozialer Kontrolle, Reputation, Lebensqualität definiert dieses „anständige Leben“. Die Individuen richten ihr Handeln nach solchen Vorstellungen. Und eine vornehme Aufgabe von Kulturwissenschaft wäre es, den Selbstbegrenzungspotenzialen bei den Menschen unserer Gegenwart nachzuspüren und damit das armselige Bild vom „habgierigen Mängelwesen“ zu relativieren. Wahrer menschlicher Reichtum ist für Karl Marx „disposable time“, in der Beziehungsreichtum und Lebensqualität entwickelt werden (Kramer 1999: 968) Marx hat hier
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eine Devise vertreten, die nicht zufällig heute gern von Intellektuellen (der „Kulturfraktion“ der Linken) aufgegriffen wird.
Andere Dimensionen Was macht jenseits der symbolbeladenen materiellen Tourismus-Welt das touristische Geschehen auf der Ebene von Erfahrung und Erleben aus? Gibt es Dimensionen, die sich (vorerst) der Definitionsmacht des Marketings entziehen? Solche Dimensionen könnten unter dem Motto stehen: Interessanter als das, was geschieht, ist beim Tourismus das, was geschehen kann. Es geht um die Dimensionen der prägenden oder nachwirkenden Erlebnisse. Erlebnisintensität ist nicht beliebig reproduzierbar, bleibt aber folgenreich. Wir sollten den Tourismus freilich nicht überfrachten. Prägende Erlebnisse, wie sie in den folgenden Beispielen vorgeführt werden, sind vermutlich die Ausnahme (eine sensible Forschung könnte sich freilich mit diesen Phänomenen ausführlicher beschäftigen). Bezogen auf Erfahren/Erleben ist angesichts des Lebens zum Tode hin die Frage legitim: Was bleibt? Was sind Erlebnisse, von denen man zehrt? Das Ausschöpfen der Möglichkeiten, das Genießen bis zum Exzess ist gewiss eine Komponente, aber Gerhard Schulze (2006; 2001) hat auf andere Dimensionen hingewiesen: Er plädiert, so lässt sich das zusammenfassen, dafür, „bei der Wahl zwischen Exzess und Askese Kompromisse zu finden, die Lust und Vernunft gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lassen.“ (Pfohlmann 2006: o.S.) „Die Formel lautet: Sich nicht immer nur neue Optionen eröffnen, sondern aus ihnen auch endlich etwas zu machen. Lernen, die Möglichkeiten diesseitigen Glücks, die das Leben bietet, auszuschöpfen und zu gestalten“ (ebd.). Mit solchen Überlegungen lässt sich auch beim Tourismus fragen, wie denn der Prosperitätstourismus gestaltet werden kann. Einige Beispiele zur Dimension der prägenden oder nachwirkenden Erlebnisse seien genannt. Da ist zunächst das mit religiösen Konnotationen versehene Erlebnis. Der in den 1860er Jahren im Bettlergewand reisende Orientforscher Hermann Vambery erinnert sich seiner Tage mit den muslimischen Pilgern: „Dieses bunte Lebensbild, in welchem ich mich während des Inkognito bewegte, war daher bei weitem nicht so bar aller Reize, wie es manchem eingefleischten Europäer scheinen würde.“ Und er schreibt: „(...) selbst die Erinnerung an meine Erlebnisse ist unaussprechlich süß, und jetzt, wo schon mehr als drei Jahre seit meiner Rückkunft verflossen sind, finde ich noch alle Einzelheiten so frisch in meinem Angedenken, alles dünkt mir
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so nahe, als wenn ich erst gestern abend mit der Karawane angelangt wäre und mich morgen schon wieder anschicken müsste, mein Eselchen zur Weiterreise aufzupacken. Das innige Verhältnis ungeheuchelter Freundschaft, das mich an meine tatarischen Reisegefährten kettete, erwacht immer aufs Neue, so oft ich an sie denke. Wir scherzten, kosten und lachten auf den langen Tagesmärschen, als wenn wir uns keine bessere Existenz wünschen könnten“ (Vambery 1983: 36). „Beim Abendgebet pflegte die ganze Karawane eine einzige lange Linie zu bilden und, an der Spitze einen Imam, gegen die im Untergehen begriffene Sonne gewandt, das Gebet zu verrichten. Die weit und breit umher herrschende Todesstille erhöht die Feierlichkeit des Moments, und wenn die Strahlen der sinkenden Sonne meinen wild und doch so vergnügt aussehenden Gefährten ins Gesicht leuchteten, dann schien es, daß sie im Besitz aller irdischen Bequemlichkeit schon gar nichts zu wünschen mehr hätten. Da dachte ich mir oft, wie würden diese Leute in einem weichgepolsterten Erster-Klasse-Coupé oder in einem Gasthof ersten Ranges sich ausnehmen? Wie unendlich weit weg sind die Vorzüge der Zivilisation noch von diesen Ländern!“ (Ebd.: 120). „Wie reich war ich, als ich noch arm war“, lautet ein analoger Spruch von Peter Rosegger. Solche Erlebnisintensität ist nicht beschränkt auf das individuelle Reisen vor der Entwicklung des Tourismus der großen Zahl. Auch heute sind einflussreiche Erlebnisse möglich. Konvertiten von heute ebenso wie muslimisch erzogene Mekka-Pilger berichten von ihrer Ergriffenheit beim Besuch der heiligen Stätten des Islam. Von Paolo Coelho bis Hape Kerkeling lassen sich neuchristliche Pilger durch den Pilgerweg nach Santiago de Compostela mehr als durchschnittlich inspirieren. Neuheidnische Pilger mögen ähnliche Erlebnisse an anderen Stätten haben. Im Prosperitätstourismus spielen andere Formen von Erlebnissen, vielleicht auch solche des Wiedererkennens, eine ähnliche Rolle. Starkes Gewicht entwickeln Erfahrungen wie die, dass Menschen in ganz anderen Lebensumständen als denen des Luxus der Prosperitätsgesellschaften glücklich sein können oder konnten (etwa vermittelt durch Ethno-Tourismus oder Ruinentourismus), oder das Erlebnis des kreativen Reichtums künstlerischer und technisch-praktischer Art in anderen Lebensverhältnissen, oder Begegnungen mit beeindruckenden Synthesen von Natur und Kultur im ökologisch inspirierten Tourismus (wie sie seit Jahren unter dem Begriff des sanften Tourismus diskutiert werden). Der Italienreisende Johann Gottfried Seume (1763-1810) schreibt zu dem Anblick einer Hebe-Plastik des Bildhauers Canova in Venedig: „Diese
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einzige Viertelstunde hat mir meine Reise bezahlt“ (Seume 1977: 244). Von ähnlichem Gewicht ist das Mantua-Erlebnis des Kellners Paul Gompitz alias Klaus Müller aus Rostock/DDR, der 1981 beschließt, dem Vorbild von Seume folgend nach Sizilien zu reisen und nach vielen überwundenen Hindernissen schließlich auch dort hinkommt. Auf der Rückreise in Mantua auf dem Platz den Palast bewundernd, den er aus einem Rigoletto-Film kennt, hört er plötzlich tief gerührt die zugehörige Musik von Verdi: Ein Gastwirt hat ihn gesehen und ihm diese Musik präsentiert (Delius 1995: 146). Andere Beispiele lassen sich finden. Der zu dieser Zeit arbeitslose Arbeitersportler Brederek begibt sich 1928 zu Fuß auf die Reise von Norddeutschland zum Arbeitersportfest nach Wien. Nicht nur die Gastfreundschaft der Wiener, die es ihm und seinem Begleiter ermöglicht, sich endlich wieder einmal satt zu essen, bleibt ihm unvergessliches Erlebnis, auch ein anderes schildert er in seinem Bericht: Die Lichtbrechungen in den Wassertropfen, die ihm morgens beim Verlassen des Zeltes sichtbar wurden, ließen ihn nicht mehr los (mdl. Mitteilung; Goethe hat sich bei der Kanonade von Valmy auf ähnliche Weise von Lichterscheinungen in Wasser für seine Farbenlehre inspirieren lassen, aber hier besteht, vermute ich, keine Verbindung). Reise verändert. Existenzielle Dimensionen, ausgeprägt über den Genuss hinausgehend, können damit verbunden sein. Goethe ist mit seinem Egotrip nach Italien 1787 ein bedeutendes Beispiel, bezogen auf die persönlichkeitsverändernde Wirkung des Reisens. Im Brief an Frau von Stein vom 20. Januar 1787 aus Rom schreibt er: „Ich habe nur Eine Existenz, diese habe ich diesmal ganz gespielt und spiele sie noch. Komm ich leiblich und geistlich davon, überwältigt meine Natur, mein Geist, mein Glück diese Krise, so ersetz ich Dir tausendfältig was zu ersetzen ist. – Komm ich um, so komm ich um, ich wäre ohne dies zu nichts mehr nütze“ (Goethe, zit. nach Keller 1962: 313). Goethe lässt uns nachvollziehen, wie sehr ihn diese Reise verändert hat. Er begegnet Ostern 1787 in Palermo einem Malteser, der einige Zeit in Deutschland zugebracht hat und ihn nach Informationen erst über Erfurt, dann nach Weimar fragt. „‚Wie steht es denn‘, sagte er, ‚mit dem Manne der zu meiner Zeit jung und lebhaft, daselbst Regen und schönes Wetter machte? Ich habe seinen Namen vergessen, genug aber, es ist der Verfasser des Werther.‘ Nach einer kleinen Pause, als wenn ich mich bedächte, erwiderte ich: Die Person, nach der ihr euch gefällig erkundigt, bin ich selbst! – Mit dem sichtbarsten Zeichen des Erstaunens fuhr er zurück und rief aus: ‚Da muss sich viel verändert haben!‘ – O ja! versetzte ich, zwischen Weimar und Palermo hab‘ ich manche Veränderung gehabt“ (Goethe 1962: 216).
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Diese Erlebnisse stehen unter dem angedeuteten Motto: Interessanter als das, was geschieht, ist beim Tourismus das, was geschehen kann. Vom unvergesslichen Erlebnis, von dem man zehrt, bis hin zur existenziellen, lebensverändernden Dimension reicht die Skala (dem Lyriker P.G. Hübsch widerfährt in Marokko jene Erfahrung, die ihn zum Muslim und zu Hadayatullah Hübsch macht).
Schlussfolgerungen Zwischen den materiellen Ansprüchen und der (möglichen) immateriellen Bedeutung des Tourismus besteht zweifellos keine direkte Korrespondenz, eher lässt sich von einer Kluft sprechen. Die kulturwissenschaftliche Tourismusforschung in der Europäischen Ethnologie findet hier Themen. Sie sollte der Bedeutung des Tourismus für die Individuen, für die vergesellschafteten Individuen, für die gesellschaftliche Kulturentwicklung erörtern, und dabei auch herausfinden, wie die Triebkräfte und Verantwortlichkeiten diskutiert werden können für eine zukunftsfähige und nachhaltige Tourismusentwicklung unter den Bedingungen der Prosperität. Wir sollten den Tourismus nicht überfrachten. Erlebnisse wie die angedeuteten sind vermutlich die Ausnahme (eine sensible Forschung könnte sich freilich mit diesen Phänomenen ausführlicher beschäftigen). Im alltäglichen Erzählen über die letzten Urlaubsreisen sind ungeplante Zwischenfälle, Unfälle und Ähnliches vermutlich häufiger repräsentiert als kulturelle oder existenzielle Dimensionen (zwar kenne ich keine Studien, die sich mit dem Erzählen von Reisen beschäftigen – sicher gibt es die aber längst). Gönnen wir den Menschen den Genuss ihres Wohlstands in der Prosperität (sie lassen ihn sich ohnehin weder nehmen noch verbieten, und dazu ist auch niemand berechtigt) – freilich mit der einschränkenden Bedingung: Die sozialen Chancen sollen möglichst wenig exkludierende Aspekte beinhalten, die Kluft zwischen Arm und Reich soll nicht wachsen, und solche Formen der Selbsthilfe, wie sie einst im „Sozialtourismus“ der Gebirgs- und Wandervereine und der Naturfreunde enthalten waren, sollen ebenso eine Chance behalten wie der „Schwarztourismus“ von Vereinen, Kirchengemeinden, Erwachsenenbildungseinrichtungen usf. Und vor allem: Das Reisen muss angemessen bezahlt werden. Das gilt bezogen auf die Kompensation beziehungsweise Vermeidung von Umwelt- und Klimaschäden, das gilt bezogen auf die (wieder als Chance zu begreifende, aber nur durch eine komplexe und integrale Tourismus-Politik zu sichernde) Transferleistung von reichen zu armen Regionen innerhalb und außerhalb. Und es bezieht sich auf die Vermeidung von menschrechtswidrigen
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Praktiken (beispielsweise Kinderprostitution) und sozial unverträglichen (die sozialen Rechte der Gastgeber betreffenden) Formen. Aber das ist ein Feld der Politik. Bei einem Aufenthalt auf Zypern im Frühjahr 2008 ist mir wieder deutlich geworden, wie ungebremst das touristische Wachstum ist, eingeschlossen die Ansprüche der „Residents“, die auf Dauer ihren Wohnsitz aus dem kalten Norden in Mittelmeerregionen verlegen. Nüchtern gilt es Konsequenzen zu ziehen: Die Touristen müssen zahlen für das, was sie haben wollen, und vermutlich deutlich mehr als bisher. Das mag, um die soziale Differenz zu vermindern, Formen der gemeinschaftlichen Organisation von preiswertem Sozialtourismus ermutigen. Und es müssen mehr Grenzen für die Regionalund Bauleitplanung sowie für den Natur- und Umweltschutz gesetzt und überwacht werden. Vielleicht vermag der zeitgenössische Tourismus, interpretieren wir in Engführung an den Interessen der reichen Gesellschaften, uns den Umgang mit mehr freier Zeit und Raum zu strukturieren, so wie in der Vergangenheit Rituale und Kulte dies taten. Vielleicht vermag er sogar, blicken wir über den eigenen Tellerrand der Prosperität hinaus, auch den Transfer von Reich zu Arm weltweit erleichtern. Aber in beiden Dimensionen ist dies kein Automatismus, sondern bedarf es der (kulturellen, politischen) Gestaltung. Literatur Armanski, Gerhard (1997): Manna und Moneten. Die Dynamik des modernen Tourismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. H. 108. Jg. 27. Nr. 3, S. 487-508. Brusatti, Alois (1984): 100 Jahre österreichischer Fremdenverkehr: Historische Entwicklung 1884-1984. Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie. Wien. Delius, Friedrich Christian (1995): Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung. Reinbek. Enzensberger, Hans Magnus (1996): Reminiszenzen an den Überfluß. In: Der Spiegel 51/1996, S. 108-118. Forschung aktuell Newsletter (2008): 6. Februar 2008 der BAT Stiftung für Zukunftsfragen. Goethe, Johann Wolfgang (1962): Italienische Reise. Erster und zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Band 25. (Originalausgabe 1786). München. Groh, Dieter (1992): Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt a.M.
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Hennig, Christoph (1997): Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a.M./Leipzig. Kapuściński, Ryszard (2005): Meine Reisen mit Herodot. Frankfurt a.M. Keller, Harald (1962): Nachwort zu: Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. Erster und zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Band 25. München, S. 313-325. Konersmann, Ralf (Hg.) (1996): Kulturphilosophie. Leipzig. Kramer, Dieter (1999): Freizeit. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hg. v. Wolfgang Fritz Haug. Band 4. Berlin, Sp. 967-979. Pfohlmann, Oliver (2006): Rez. zu Gerhard Schulze: Die Sünde. In: Frankfurter Rundschau, 8. August 2006. Romeiß-Stracke, Felizitas (1997): Nomaden sind wir alle. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- & und Tourismusforschung 1/1997, S. 64-66. Scherer, Brigitte (1999): Das Jahrhundert des Tourismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. März 1999, R 1. Schulze, Gerhard (2001): Suggestionen und entgangener Gewinn. Ein Interview mit Gerhard Schulze. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- & und Tourismusforschung 1/2001, S. 29-41. — (2006): Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. München. Seume, Johann Gottfried (1977): Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. In: Seumes Werke in zwei Bänden. 1. Band. (Originalausgabe 1802). Berlin/Weimar, S. 161-362. Spode, Hasso (1997): Zur Einführung: Wohin die Reise geht. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- & und Tourismusforschung 1/1997, S. 7-12. Tanzer, Gerhard (1992): Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert. (Kulturstudien. Band 21). Wien u.a. Vambery, Hermann (1983): Mohammed in Asien. Verbotene Reise nach Buchara und Samarkand 1863-1864. Hrg. v. Peter Simons. Stuttgart.
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Warum tut sich die Tourismusforschung so schwer mit der Dingwelt? Einschlägige Arbeiten über (Reise-)Verkehrsmittel (Schievelbusch 1979; Beyrer 1985; Fuhs 2000), Souvenirs (Mandel 1996; Seim 2001), Reisefotografie (Pagenstecher 2003) oder Reisekoffer (Mihm 2001) oder die Tagung ‚Things that move. The Material Worlds of Tourism and Travel‘ 2007 in Leeds1, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Tourismusforschung anscheinend große Vorbehalte gibt gegen die Beschäftigung mit der konkreten Erfahrungswelt des Reisens. Kulturbeutel, Wanderschuhe, Hawaiihemden, Sonnenbrillen oder Anstecknadeln scheinen im Kosmos der Massenproduktion zu verschwinden wie bereits der Philosoph Jean Baudrillard mutmaßte (Baudrillard 1991: 10)2. Andererseits sind Reisen ohne eine entsprechende Dingwelt nicht durchführbar: Selbst der Wanderer, der vor der eigenen Haustür startet, benötigt Kleidung, Ausrüstung, Unterkunft, er macht Fotos, schreibt Karten oder sammelt Stocknägel (vgl. Bracher/Hertweck/Schröder 2006: 2). Hinzu kommt, dass die Dingwelt nicht zuletzt auch der Erinnerbarkeit von Reisen dient. Verschiedene Sinneseindrücke können (und sollen) unserem Gedächtnis ‚auf die Sprünge‘ helfen. Nicht zuletzt sind es auch bestimmte Dinge, die den Prozess der Erinnerung anstoßen und/oder die wir gezielt – zur Erinnerung – aufbewahren (vgl. Mohrmann 1989: 213)3. Mein gestreifter Schal erinnert mich an den Ameland-Urlaub 1 Diese Tagung wurde vom Centre of Tourism and Cultural Change der Metropolitan University of Leeds veranstaltet. 2 Jean Baudrillard, der sich vor allem dem Phänomen der Vervielfachung der Objekte in der industriellen Welt zuwendet, kommt zu dem Ergebnis, dass eine individuelle Mensch-Ding-Beziehung angesichts der Massenproduktion kaum denkbar ist. 3 Nach Ruth-E. Mohrmann lassen sich Gegenstände hinsichtlich ihrer Erinnerungsfunktion in drei Gruppen einteilen: erstens in Objekte, die direkt Erinnerung transportieren, zweitens in Objekte, die eine verschlüsselte Erinnerungsbotschaft in sich bergen und drittens in „Gegenstände (...), die – völlig unabhängig von ihrer eigentlichen Funktion und Zweckbestimmung – mit Erinnerungspotential gewissermaßen aufgeladen werden“ (Mohrmann 1989: 213).
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2008, die Sangria-Flasche, die in der Kneipe von gegenüber als Kerzenhalter benutzt wird, an einen Urlaub in Lloret de Mar im Jahre 1980, während dieselbe Flasche bei einer anderen Person keinerlei Erinnerungen auslöst und jemand Drittem als Reminiszenz an seine Studentenzeit gilt. Warum also die oben konstatierte Skepsis der Tourismusforschung gegenüber den Dingen? Ist es die stoffliche Präsenz der Dinge oder ist es die Vielschichtigkeit der ihnen anhaftenden Bedeutungen, ihre „Eigendynamik in punkto Symbolbildung“ (Korff 2000a: 25), die sich als eher abschreckend erweisen? Immerhin führen und führten zahlreiche Museumsausstellungen zum Thema „Reisen und Tourismus“4 eindrücklich vor Augen, dass die „Faszinationskraft der Dinge“ (Korff 2000b: 341) auch im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung von Bedeutung ist. Dennoch scheint nicht ganz klar zu sein, welchen Erkenntnisgewinn wir von der Beschäftigung mit „Dingen auf Reisen“ erwarten können und dürfen. Karl-S. Kramer hat bereits 1962 den Terminus „Dingbedeutsamkeit“ (Kramer 1962) eingeführt, mit dem er die Erweiterung des wissenschaftlichen Interesses über die materielle Präsenz einer Sache hinaus einforderte. Kramer geht es um „das lebendige Verhalten der Menschen zu den Dingen“. „Er fragt nach den Interdependenzen von Symbolordnungen und Lebenswelten, betont erstens deren Durchdringung, aber auch – zweitens – deren Differenz“ (Korff 2000a: 24). In der Tat kann den Dingen nicht Gerechtigkeit widerfahren, wenn lediglich ihre stoffliche Präsenz ins Auge gefasst wird. „Dinge und Sachen (...) sind Medien der Verhaltenssteuerung, der Weltaneignung, der institutionellen Regulierung sozialen Lebens“ (Korff 2000a: 27). In der Semiologie wird vor allem auf die Korrelation des „Bedeutenden“, des „Bedeuteten“ und des Zeichens verwiesen. Roland Barthes bedient sich zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts eines Rosenstraußes: Diese „mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in Leidenschaft und Rosen zerlegen. Die einen ebenso wie die anderen existierten, bevor sie sich verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten“ (Barthes 1964: 90).
4 Hingewiesen sei an dieser Stelle beispielsweise auf die Ausstellungen „Der Berg ruft“ (Alpinismus-Ausstellung in Altenmarkt-Zauchensee 2000/2001), „Viva Espana!“ (Badisches Landesmuseum Karlsruhe 1997), „Reisen – Entdecken – Sammeln“ (Wanderausstellung des westfälischen Museumsamtes 2001), „Gute Aussicht. Fremdenverkehr im Sauerland“ (Wanderausstellung im Sauerland 1990), „Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen“ (Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996), „Alle Koffer fliegen hoch“ (Berlin 1993) oder „Saison am Strand“ (Altonaer Museum, Hamburg 1986).
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Der erkenntnistheoretische Gewinn der Kategorie „Bedeutung“ für die Analyse von Dingen auf verschiedenen theoretischen Ebenen steht wohl außer Frage. Fraglich ist indes, wie wir den Dingen ihre Bedeutung entlocken können. Hermann Heidrich weist darauf hin, dass die Bedeutung nicht im Ding selbst oder in seiner Form zu suchen, sondern eine von Menschen gemachte und von Menschen verstandene ist. Insofern ist es folgerichtig, dass er das semiotische Dreieck zu einem Viereck erweitert und, neben dem Interpretanten, der Bedeutung und dem Objekt, die Kategorie des Interpreten hinzufügt, der – so Heidrich – „die übergeordnete Bedeutung eines Objektes – definiert durch Gesellschaft, Ökonomie, Materialität, Funktionalität usw. – subjektiv zu interpretieren in der Lage ist“ (Heidrich 2000: 15).5 Wie aber kann der Interpretant sichergehen, dass die Bedeutungszuweisung, die er vornimmt, seitens des Interpreten auch verstanden wird? Wenn Dingen bestimmte Bedeutungen zukommen, muss dieser Sachverhalt auf irgendeine Weise kommuniziert werden beziehungsweise irgendwann in der Vergangenheit kommuniziert worden sein. Der Zusammenhang von Bedeutung(szuweisungen) und Kommunikation ist jedenfalls augenscheinlich. Dazu Hermann Bausinger: Die Dinge „vermitteln zwischen Partnern, sind Ausdrucksformen und Vehikel der Kommunikation. Es sind Ergänzungen und auch Alternativen zur sprachlichen Äußerung; wie diese bestimmen sie über Distanz und Nähe“ (Bausinger 2003: 10). Kommunikation über Dinge, mit Dingen oder durch Dinge ist nicht nur möglich, sondern gehört zu den Realitäten unseres kulturellen Lebens. Dennoch bleibt fraglich, ob Dinge das gleiche kommunikative Potential haben wie Sprache oder – umgekehrt – ob die „armseligen vier und zwanzig Zeichen“ ausreichen, um die „Schwingungen des Gehirns zu erregen“ wie Georg Forster mit deutlicher Skepsis anmerkte (zit. nach Griep 2006: 56). Zwei grundlegende Probleme erweisen sich als virulent: 1. Die Dinge befinden sich teils ober-, teils unterhalb der semiotischen Schwelle und ihre Position im Verhältnis zu dieser Schwelle ist nicht stabil, sondern veränderlich.
5 Ferdinand de Saussure spricht von Bezeichnendem, Zeichen und Bezeichnetem. Wichtig ist, dass es zwischen diesen drei Komponenten eine Beziehung gibt, die im Bezeichneten, der Bedeutung gipfelt. Dieses eher starre Schema, nach dem ein bestimmtes Objekt zwangsläufig bestimmte Bedeutungen impliziert, ist bereits mehrfach kritisiert worden. Der Vorschlag von Heidrich, den Empfänger/Interpreten in die Betrachtungen mit einzubeziehen, entspricht einer pragmatistischen Auslegung des semiotischen Dreiecks, die vor allem in der Konsumforschung zu neuen Erkenntnissen geführt hat, vgl. Hahn (2005: 119f.).
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2. Die Polysemie der Objektzeichen lässt es fraglich erscheinen, ob die Bedeutungszuweisungen von Interpretanten und Interpreten überindividuell und zeitlich in Deckung gebracht werden können (vgl. Korff 2000b: 142). Roland Barthes schreibt hierzu: „Alle Grade des Wissens, der Kultur und der Situation sind angesichts eines Objekts und einer Sammlung von Objekten möglich“ (Barthes 1988: 195). Ist also die Skepsis der Tourismusforschung den Dingen gegenüber berechtigt? Haben die Dinge uns nichts zu sagen, oder ist das, was sie uns zu sagen haben so flüchtig, dass kein erkenntnistheoretischer Zugewinn von der Beschäftigung mit ihnen zu erwarten ist? Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der Begriff „Mythos“ respektive „Mythologie“ hilfreich, den Roland Barthes operationalisiert. Barthes konzipiert seinen „Mythos“-Begriff als „sekundäres semiologisches (semiotisches) System, eine Metasprache, die auf das primäre semiologische System von Bild und Sprache rekurriert“ (Müller-Funk 2006: 173). Die sekundäre Bedeutung, mit der der Mythos die Dinge auflädt, muss nichts mit ihrer physikalischen Beschaffenheit zu tun haben. Wichtig ist vor allem die Dominanz der Form, die sich gleichsam über den (primären) Sinn stülpt und diesen verarmt/entleert. Die narrative Form, das Mitteilungssystem des Mythos tritt an die Stelle von Sinn/Funktion eines Dings. Ähnlich wie Konsum insgesamt so haben auch Reisen als Konsumobjekte eine sinn-, integrations- und orientierungsstiftende Funktion (vgl. Miklausz 2005). Diese Funktionen können und sollen – so meine Hypothese – auch über Dinge zum Ausdruck gebracht und kommuniziert werden. Das heißt, wenn wir Dingwelten, die bewusst in einen bestimmten Kontext (hier „Reisen“) gestellt werden, als Aussagen, als komplexe Mitteilungssysteme im Sinne des „Mythos“ von Roland Barthes begreifen, können wir teilweise zu tieferliegenden Bedeutungsschichten vordringen. Ich möchte am Beispiel der so genannten ‚Inselfrage‘ (und der Antworten einiger Prominenter auf diese Frage) im Folgenden zeigen, auf welche Weise die In-Bezug-Setzung von Reisen und Dingwelten es den Interpretanten und Interpreten ermöglicht, komplexe Mitteilungssysteme (Mythen) zu generieren und zu verstehen, die über raum- und zeitgebundene spezifische Reiseerfahrungen hinausgehen.6 6 Im Westfalenspiegel, einem regionalen Kulturmagazin, ist die Rubrik „Fragebogen“ seit fünfeinhalb Jahren vertreten. Befragt werden Prominente aus Politik, Sport, aus den Medien sowie aus Wissenschaft und Kunst, die in Westfalen leben und zumindest teilweise über die Grenzen der Region hinaus bekannt sind. Anders als der F.A.Z.-Fragebogen umfasst der Fragebogen des Westfalenspiegels lediglich 13 Fragen, zu denen die klassischen nach Lieblingsgericht, -buch, -film und -musik gehören. Gefragt wird
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Ähnlich wie durch ihre Konsumentscheidungen bringen die Interpretanten – so meine These – vor allem durch das Sprechen über Ding(-Welten) (beziehungsweise ihre textliche Präsenz) „ihre Identität, ihre Stellung im sozialen Gefüge, ihre Beziehung zu anderen, ihre Sicht der Wirklichkeit und ihre Abweichung oder Affirmation gegenüber der herrschenden Klasse“ zum Ausdruck (Miklausz 2005: 51). Die ausschließlich (schrift)sprachliche Präsenz der Dinge ist in diesem Zusammenhang in idealer Weise dazu geeignet, in das vorstellende Denken vorzudringen, welches den Dingen Bedeutung erst zuordnet. Dennoch bleibt die Frage, ob und wie die von den Interpretanten generierten Bedeutungssysteme seitens der Interpreten decodierbar sind. Der Kosmos der Dingwelten ist scheinbar unerschöpflich. Abseits ihrer stofflichen Präsenz sind zahllose Dinge denkbar, können – rein theoretisch – tausende von Dingen als ‚bedeutungsvoll‘ erscheinen. Umso mehr mag es erstaunen, dass die Spannbreite der von den Prominenten auf die Inselfrage hin genannten Dinge nicht allzu groß ist. Zahlungsmittel, Kleidungsstücke oder Lektüre spielen eine absolut untergeordnete Rolle, ebenso wie diejenigen Dinge, die eigens für Reisende produziert werden und häufig mit dem Präfix „Reise“ versehen werden.7 Hinzu kommt, dass viele der Befragten eindeutige Antworten vermeiden, sich eher aufs Unbestimmte, Pauschale zurückziehen.8 Sich dem Dingkosmos, der in den Antworten der Prominenten zu Tage tritt, en detail zu widmen, kann und soll nicht Ziel meiner Ausführungen sein. Ich möchte an dieser Stelle beispielhaft einige der genannten Dinge aufgreifen, die mir besonders ‚sprechend‘ zu sein scheinen. Anhand dieser Dinge soll dargelegt werden, dass eine Sinnvermittlung über Dinge und Dingwelten in Zusammenhang mit Reisen jenseits der stofflichen Präsenz von Dingen möglich ist und dass Sinnzuschreibungen vorgenommen werden, die sich für die Tourismusforschung als relevant erweisen (können).
aber beispielsweise auch danach, wie man einem Außerirdischen erkläre, was Westfalen sei und welche Orte in Westfalen man ihm empfehlen oder nicht empfehlen könne. Die Fragen, was man auf alle Fälle in den Koffer packen würde, wenn man sich auf eine lange Reise rund um die Welt mache, und was man lieber zurücklassen würde, sind die Fragen Nummer 10 und 11 des Fragebogens. 7 Gemeint sind Reisezahnbürsten, Reiseführer, Reisenecessaires, Reisewecker, Reisebügeleisen und ähnliche Dinge. 8 Als Ausnahme darf hier auf den Kabarettisten Doktor Stratmann (Ludger Stratmann) verwiesen werden, der mit einer detaillierten Auflistung unterschiedlichster Medikamententypen aufwartet.
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Selbstverständlich entziehen sich viele der von den Prominenten genannten Dinge einem solchen Dechiffrierungsversuch, weil sie zu unspezifisch sind.9 Dieser Umstand soll aber keinesfalls zum Anlass genommen werden, die verbleibenden Dinge und Dingwelten zu ordnen, zu klassifizieren und zu untersuchen. Ich habe lediglich – zugegebenermaßen willkürlich – einige Beispiele ausgewählt, die mir zur Veranschaulichung allgemeinerer Zusammenhänge dienen sollen. Im Zentrum meiner Ausführungen werden Dinge stehen, die ich als „Westfalia“ bezeichnen möchte. Gemeint sind Objekte, die direkt oder indirekt eine regionale Beziehung zum Ausdruck bringen: Exemplarisch möchte ich Pumpernickel-Brot (eine westfälische Schwarzbrotspezialität), ein kurz- und ein langärmeliges BVB-Trikot und eine Tupperdose mit Heimaterde anführen. Anhand dieser Gegenstände wird vorab bereits deutlich, dass es hier um mehr geht als um die Demonstration ökonomischen Kapitals. Die genannten Dinge sind offensichtlich Teil eines semiotischen Systems, sie sind mit einer sekundären Bedeutung aufgeladen, die nichts mit ihrer stofflichen Präsenz zu tun hat. Roland Barthes verwendet zur Bezeichnung eines derartigen Sachverhalts den Begriff „Mythos“ und meint damit einen „Modus des Bedeutens“, ein „Mitteilungssystem“, eine „Botschaft“ (Barthes 1964: 85), für welche in diesem Fall die mediale Darstellungsform „Fragebogen“ gewählt wurde. 1. Tupperdose mit Heimaterde Die von Till Hoheneder, Mitglied des Comedy-Duos Till & Obel, aufgeführte „Tupperdose mit Heimaterde“ ist offensichtlich eine semiologisch hoch aufgeladene Objektkombination. Hier begegnet uns die Inszenierung eines Gegensatzpaares, die das Spannungsfeld zwischen Heimat und Globalisierung, Natur und Kultur wirkungsvoll in Szene setzt. Roland Barthes bezeichnet „Plastik“ als Versinnbildlichung einer „Entwicklung im Mythos der Imitation“. Plastik „ist die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist. Doch ist sie das, weil diese Alltäglichkeit für sie gerade ein triumphierender Grund zum Existieren ist? Zum ersten Mal hat es das Artifizielle auf das Gewöhnliche und nicht auf das Seltene abgesehen. Gleichzeitig wird die alte Funktion der Natur modifiziert: Sie ist nicht mehr die Idee, die 9 Antworten wie „was zum Anziehen, was zum Ausziehen“, „was zum Schreiben“, „keine Bibel“ oder: „Solche Sachen mache ich nicht, die sind zu gefährlich“, sind – mit Einschränkungen – unverhohlener Ausdruck des Bemühens der Interpretanten ihre Privatsphäre zu wahren und so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Sie machen im Grunde keinerlei Kommunikationsangebot, auf welches die Interpreten reagieren könnten.
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reine Substanz, die wiedergefunden oder imitiert werden muss; ein künstlicher Stoff, ergiebiger als alle Lager der Welt, ersetzt sie“ (ebd.: 81). Indem hier aber nicht irgendein Plastikbehältnis, sondern eine Tupperdose ins Feld geführt wird, geht die Bedeutungszuweisung noch weiter. Tupperware, von der immerhin jährlich 150 Millionen Exemplare in 37 verschiedenen Ländern verkauft werden, ist jenseits ihres praktischen Nutzens ein Markenprodukt, mit dem Standards gesetzt und Werte transportiert werden sollen. Der Gebrauchswert tritt hinter dem Warenwert, dem Mythos des Hygienischen, Praktischen und Unverzichtbaren zurück.10 Dem Inhalt der genannten Tupperdose, der Heimaterde, haftet ein gänzlich anderer Mythos an: Heimat und Heimatverbundenheit. Über eine Handvoll Erde wird eine gefühlsmäßige Verfasstheit transportiert, deren Vielschichtigkeit Generationen von Volkskundlern beschäftigt hat. Um der Bedeutungszuweisung nun die Krone aufzusetzen, wird dieser Gegenstand gewordene Mythos, der auf einem Konglomerat unterschiedlichster Assoziationen, Gefühle, Stimmungen und Gedanken besteht, nun gewissermaßen konserviert in Kunststoff, der zur Alltäglichkeit bereiten magischen Materie. 2. Ein kurz- und ein langärmeliges BVB-Trikot (Nennung des Cartoonisten Holga Rosen) Kleidung gehört zweifellos zu den Dingen, deren Mitnahme auf eine (Welt-) Reise eine Selbstverständlichkeit darstellt. Auf der anderen Seite zählt die Kleidung aber auch zu den privaten, zuweilen intimen, da körpernahen Dingen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Kleidung in hohem Maße veränderbar ist, bietet sie sich als Träger von übergeordneten Bedeutungszuweisungen geradezu an. Die Zeichenhaftigkeit von Kleidung ist eine allgemein anerkannte kulturhistorische Tatsache und die – im weitesten Sinne kulturhistorische – Auseinandersetzung mit diesem Feld reicht von Christian Garve bis hin zu Roland Barthes. (Garve 1987 – im Original 1792; Barthes 1985). Dazu der Kunstpädagoge Gert Selle: „Kaum ein Produkt ist so sensibel kommunikativ wie Kleidung. Sie ist einerseits das kulturelle Kollektivmedium zur Gestaltung des gesellschaftlichen Körpers, andererseits 10 Mit seiner These der entpersonalisierten Wahrnehmung spielt Siegfried Giedeon auf das Phänomen der Beliebigkeit von Dingen im Zeitalter der Massenproduktion an. Die Unmittelbarkeit der Dinge werde durch Markenzeichen und Verpackung substituiert. Produktionsprozess und Gebrauchswert spielten keine (oder eine äußerst untergeordnete) Rolle (Giedeon 1994). Ähnlich argumentiert Wolfgang Fritz Haug, wenn er die zunehmende Warenförmigkeit der Dinge anprangert (Haug 1971).
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eine offene Fläche für die Inschriften des Sozialen und für die ästhetische Interaktion“ (Selle 1997: 144). Gerade im Falle des kurz- und langärmeligen BVB-Trikots wird deutlich, dass hier weniger die physikalischen Eigenschaften der genannten Kleidungsstücke von Belang sind als vielmehr ihre Symbolfunktion. Fan-Trikots sind ein für alle offensichtliches Bekenntnis zu einem bestimmten Verein (einer Popgruppe etc.). Das Fan-Trikot eines Fußballvereins beinhaltet eine deutliche und unmissverständliche Aussage über die Person, die es trägt. Hier sollen Zugehörigkeitsgefühle für jeden ersichtlich dargelegt werden, die unabhängig vom sportlichen Erfolg eines Vereins sind. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Aspekt: Trotz ihres teilweise internationalen Gepräges und Agierens sind Fußballvereine nach wie vor Identifikationsflächen. Unabhängig von der Herkunft der Spieler repräsentiert der Verein Borussia Dortmund das Ruhrgebiet. Über ein Fan-Trikot vom BVB lässt sich also auch regionale Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen. Das Kommunikationsangebot der beiden BVB-Trikots ist überdeutlich. Hier gibt ein Prominenter freiwillig etwas Persönliches von sich preis: Er macht deutlich, dass er sich nach wie vor seiner Heimat und einem bestimmten Fußball-Verein zugehörig fühlt. Damit bietet er sich selbst als regionale Identifikationsfläche an. Hier will jemand als „einer von uns“, also als einer bestimmten Region und ihren Menschen zugehörig, wahrgenommen werden, was gleichzeitig eine Exklusion impliziert, die anscheinend bewusst in Kauf genommen wird. Die Vielschichtigkeit der BVB-Trikots als Symbolträger hat sich damit aber noch nicht erschöpft: Ähnlich wie die Tupperdose mit Heimaterde sind sie ein hoch integratives (und gleichzeitig exkludierendes) Element. Als Bestandteil des (Welt-)Reisegepäcks werden sie buchstäblich in die Welt hinaus getragen, verknüpfen Ferne und Nähe, Heimat und Fremde, Vergangenheit und Gegenwart zu einem nahezu reißfesten Gewebe, das nach belieben an- und ausgezogen, versteckt und zur Schau getragen werden kann. 3. Pumpernickel (Nennung des WDR-(Sport-)Journalisten Manfred Breuckmann) Neben Kleidung ist Nahrung dasjenige Feld, welches sich als Projektionsfläche vor allem auch im Kontext des Reisens in besonderem Maße anbietet. Die meisten Nahrungsmittel sind (in kleinen Mengen) problemlos transportierbar, sie bieten eine große Auswahl und implizieren – ebenso wie Kleidung – ein verhältnismäßig persönliches Bekenntnis. Wenn der Mensch ist, was er isst, so sagt die Präferenz eines bestimmten Nahrungsmittels einiges
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über ihn aus. Im Bewusstsein, dass es sich so verhält, ist auch die Nennung von Pumpernickelbrot, Rahm-Mandel-Schokolade und grünen Oliven von Manfred Breuckmann als Kommunikationsangebot zu verstehen. Wie Sonja Böder in einem anderen Beitrag in diesem Band darstellt, ist Pumpernickel, also eine bestimmte Sorte Schwarzbrot, die zur Nahrung geronnene Repräsentation Westfalens. Das Bekenntnis zu Pumpernickel impliziert ein Bekenntnis zu Westfalen, das sich der nicht immer positiven Fremdwahrnehmungen durchaus bewusst ist; ein „Trotz-alledemWestfalenbewusstsein“, das nicht auf ein bisschen Exzentrik verzichtet. In Kombination mit Rahm-Mandel-Schokolade und grünen Oliven entbehrt dieses Bekenntnis nicht einer gewissen augenzwinkernden Komik, wird die Heimat hier doch konterkariert mit Globalität (grüne Oliven symbolisieren die mediterrane Lebenswelt, während mit Rahm-Mandel-Schokolade auf die Warenwelt eines international tätigen Discounters (Aldi) angespielt wird). Der Journalist Manfred Breuckmann stellt mit der Konzeption dieser Dingwelt unter Beweis, wie durch die Nennung von drei Nahrungsmitteln der Mythos einer Vereinbarkeit von Tradition und Moderne, Heimat und Globalität geschaffen werden kann. Angesichts der Tatsache, dass die Kombination der genannten drei Nahrungsmittel die Geschmacksnerven der meisten Menschen wahrscheinlich überbeanspruchen würde, stellt sich allerdings die Frage, ob der gerade geschaffene Mythos nicht im selben Moment wieder zerstört wird.
Die Decodierung des Mythos Wir haben gesehen, dass Dinge und Dingwelten symbolisch hoch aufgeladene Zeichensysteme sein können. In dem dargestellten Verwendungszusammenhang (Prominentenfragebogen) stellen sie ein – einseitiges – Informations- und Kommunikationsangebot dar. Eine Person (Bezeichnender/ Interpretant) gibt Informationen (Bezeichnetes) über Einstellungen, Werthaltungen und soziokulturelle Bezugssysteme preis, von denen sie annimmt, dass diese von anderen Personen (Interpreten) verstanden werden. Thematisch eingegrenzt wird dieses Feld durch das Thema „Reise“. Können die Interpretanten davon ausgehen, dass der von ihnen generierte Mythos (ganz oder in Teilen) von den Interpreten verstanden wird? Dem Verständnis förderlich ist sicher der – zumindest auf die Leserschaft des Westfalenspiegels bezogene – Bekanntheitsgrad der Prominenten und der eingeschränkte Leserkreis des Westfalenspiegels, der einen ähnlichen soziokulturellen Hintergrund von Interpret und Interpretant nahelegt. Hinzu kommt der räumliche Kontext, in dem die Zeitschrift zu sehen ist:
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Der Westfalenspiegel ist ein Kulturmagazin mit deutlichem Westfalenbezug. Entsprechend handelt es sich bei den Lesern des Magazins um kulturell interessierte Personen, die eine Verbindung zu dieser Region haben. Es ist davon auszugehen, dass die Interpretanten bei der Formulierung ihrer Mitteilung diese grundsätzlichen Bedingungen berücksichtigen, um sicherzustellen, dass sie in dem von ihnen intendierten Sinne verstanden werden. Dennoch bleibt für den einzelnen Interpreten Raum für aktive Interpretationstätigkeit. Die Decodierung des Mythos in dem vom Interpretanten intendierten Sinne ist somit nicht immer gewährleistet, wenn auch – zumindest gegenwärtig – wahrscheinlich. Außerdem ist an dieser Stelle die zeitliche Einschränkung von Bedeutung, weil der Mythos seiner Gestalt nach äußerst ephemer ist. Wie Roland Barthes betont, gibt es „keine Beständigkeit in den mythischen Begriffen (...): sie können sich bilden, können verderben, sich auflösen und gänzlich verschwinden“ (Barthes 1964: 100f.). Es bleibt die Frage, was die Beschäftigung mit Dingen und Dingwelten für die Tourismusforschung bringt? Wenn wir über die stoffliche Präsenz der Dinge hinausgehen und uns auf das Feld der Semiotik wagen, so ist es möglich, den Aspekt der „Bedeutung“ stärker in den Blick zu nehmen. Es können Bedeutungszuweisungen untersucht werden, die von einzelnen Individuen oder sozialen Gruppen vorgenommen werden. Auf diese Weise nähern wir uns allgemeineren Fragen: Welche Funktionen erfüllen Reisen in verschiedenen sozialen Kontexten? Welche Bezugssysteme (zum Beispiel Heimat – Fremde, Nähe – Distanz, Arbeit – Freizeit) erweisen sich als bedeutungsvoll und was sagt das Rekurrieren auf eines dieser Bezugssysteme aus? An welcher Stelle wurden/werden Mythen, die sich an Reisen/Reiseformen/Reisevorstellungen knüpf(t)en gesellschaftlich/kulturhistorisch relevant? Wie wurden/werden diese Mythen ökonomisch (oder auch politisch) nutzbar gemacht? Anhand der gewählten Beispiele habe ich zu zeigen versucht, dass Dinge und Dingwelten sich als Transmissionsriemen erweisen können, sie können übergeordnete Bedeutungszusammenhänge/Mythen transportieren. Darüber hinaus sind sie ein Vermittler zwischen Realpräsenz und Vorstellungswelt, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sie können Erinnerungen anstoßen und kommunizierbar machen und sie können nicht zuletzt verschiedene semiotische Schichten enthalten, die sie für unterschiedliche Interpreten (und Interpretanten) interessant machen. Dinge und Dingwelten – zumal in (schrift)sprachlicher Form – sind, wie gezeigt wurde, nicht zuletzt auch Kommunikationsangebote, die verstanden und genutzt, ebenso gut aber auch missverstanden und fehlinterpretiert werden können.
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Und welcher erkenntnistheoretische Zugewinn kann in diesem Zusammenhang vom Mythos-Begriff erwartet werden? Reisen sind mehr als ihre konkreten Manifestationen in Zeit und Raum: Unsere Vorstellungen vom Reisen erweisen sich oft als wesentlich wirkmächtiger als eine konkrete Reise (zum Beispiel nach Mallorca). Es gilt diesen Vorstellungen auf die Spur zu kommen. Mit Einschränkungen erweist sich an dieser Stelle der „Mythos“-Begriff als hilfreich. Gerade im Forschungsfeld „Reise“ wird mit zahlreichen Zeichensystemen gearbeitet, die es zu dechiffrieren gilt. An welche Bezugsgruppe richten sich die verschiedenen Bedeutungszuweisungen? Wer nimmt diese vor? Beanspruchen sie eine überindividuelle Gültigkeit? Am Ende bleiben also mehr Fragen als Antworten. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass meine Ausführungen nur als ein Plädoyer für eine entschiedene Hinwendung zu den Dingen und Dingwelten und vor allem zu den damit verknüpften Mythen gedacht sind. „Weil wir einen Körper haben, Körper sind, brauchen wir um ihn materielle Festigkeit“ (Selle 1997: 281), dieselbe materielle Festigkeit benötigen wir aber auch für unseren Geist und unsere gedanklichen Reisen, in denen wir uns nur partiell von der Dingwelt lösen können. Wir sollten diese Tatsache nicht ignorieren, sondern uns auf die Spur der Dinge begeben. Sie haben uns viel zu sagen! Literatur Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. — (1985): Die Sprache der Mode. (Originalausgabe 1967). Frankfurt a.M. — (1988): Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. Baudrillard, Jean (1991): Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/New York. Bausinger, Hermann (2003): Die Botschaft der Dinge. In: Kollinich, Joachim/Bretthauer, Bastian (Hg.): Botschaft der Dinge. Berlin, S. 10-12. — (1977): Zur kulturalen Dimension von Identität. In: Zeitschrift für Volkskunde 73, S. 210-215. — (1980): Heimat und Identität. In: Köstlin, Konrad/Bausinger, Hermann (Hg.): Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. Neumünster, S.9-24. Beyrer, Klaus (1985): Die Postkutschenreise. Tübingen. Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan (Hg.) (2006): Dinge in Bewegung. Reiseliteraturforschung und Material Culture Studies. Berlin.
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Tauromaquia – Eine Kontroverse um Stiere und Identitäten Die Vermittlungsrolle des Tourismus-Raumes bei der Aushandlung von Bedeutung Antonio Miguel Nogués Pedregal
Der Begriff „Raum des Tourismus“ wird gewöhnlich in einem tatsächlich räumlichen Sinn verstanden, und unter einer kulturanthropologischen Fragestellung konzentriert man sich entsprechend auf den neokolonialen Zugriff auf ein Territorium sowie auf dessen soziokulturelle Folgen. Im vorliegenden Essay werde ich anhand der in der spanischen Öffentlichkeit geführten Debatte um die berühmte schwarze Stiersilhouette zeigen, dass das komplexe Ganze der Tätigkeiten, das diskursiv mit dem Namen Tourismus belegt ist, gleichzeitig als ein mächtiger Vermittler in der Produktion von Bedeutung zu analysieren ist. Dies gilt vor allem in Kontexten wie dem spanischen, wenn immer wieder hervorgehoben wird, dass die ökonomische Leistungsfähigkeit der Tourismusbranche der Hauptmotor der Entwicklung sei, und zugleich die Konstruktion nationaler Identitäten sich verschiedener zoomorpher Embleme bedient.
Einleitung Die Kulturanthropologie gehört heute längst zu den traditionellen Gesellschaftswissenschaften. Ein wenig mehrdeutig bezeichnet sie ihren Gegenstand als Kultur und verfolgt einen vergleichenden holistischen Ansatz, um soziale Gruppen in ihrem Werden zu verstehen. Seit den Zeiten eines Edward Burnett Tylor gab es freilich hunderte von Definitionen, was Kultur sei, von denen allerdings nur sehr wenige in der Tourismusforschung überzeugen konnten. Allzu häufig taucht Kultur als ein polysemantisches Konzept auf, dessen konkrete Bedeutung im besten Fall von Autor und Leserschaft wechselseitig als selbstverständlich vorausgesetzt wird, und schlimmstenfalls bleibt der Sinn hinter postmodernen Formulierungen verborgen. Will die Kulturanthropologie allerdings das gesellschaftliche Leben wirklich holis-
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tisch begreifen, muss sie sich als Disziplin selbst in der Kultur und in deren dialogischen Produktions- und Reproduktionsprozessen verorten. Was verstehe ich also unter Kultur? Die Kulturanthropologie, so ließe sich vereinfacht sagen, ist eine wissenschaftliche Disziplin, die menschliche Gruppen in ihrer Vielfalt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens untersucht: ihre Ausdrucks- und Denkformen, die Art, wie sie Territorien verändern und sich daran anpassen, die gesellschaftlichen Verkehrsformen und schließlich das, was gesagt und was getan wird. Die Kulturanthropologie untersucht mit anderen Worten die Gesamtheit der sozialen Praxisformen, Zusammenhänge, Realien und Fakten, die dem Lebensprozess in einer Gesellschaft Sinn verleihen. Kultur bezeichnet entsprechend die Gesamtheit von Äußerungen, Erscheinungsformen dessen, was gesagt und was getan wird, Umständen und Zusammenhängen, die innerhalb einer bestimmten Gruppe Bedeutung erlangen und dem gesellschaftlichen Leben Sinn verleihen. Der Name Tourismus nun ist die diskursive Form, die dem komplexen Ganzen symbolischer und technologischer Dispositive zugewiesen wird, die, als Verbindungen zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren (Deleuze 1986), die Möglichkeit schaffen, dass bestimmte Gruppen von Menschen ihre Freizeit außerhalb ihres Alltags verbringen können, ein Zusammenhang, zu dem gleichermaßen gehört, was jene Menschen an solchen Orten tun und zu welchen Folgen das wiederum führt. Für die Kulturanthropologie nun ist es bedeutsam, hier zu differenzieren und verschiedene Wege zu unterscheiden, sich jenem komplexen Ganzen von Dispositiven zu nähern, das auf einen einzigen Ausdruck – eben Tourismus – reduziert ist. Im Grundsatz begriff man Tourismus bisher als „Branche“ oder als „Phänomen“, doch blieb die Frage, was der Ausdruck genau bedeutet, dabei ungelöst (Burns 1999: 23-37). Als charakteristisch gilt die Kapitalkonzentration, daneben gibt es einen allgemeinen Konsens, in der Forschung vier Elemente zu unterscheiden, die das System des Tourismus ausmachen – die Nachfrage nach Reisen, die Vermittlungstätigkeiten, die Besonderheiten der Ziele und die Konsequenzen –, doch lässt sich nicht vermeiden, dass die fehlende Genauigkeit die Potenziale kulturanthropologischer Forschung ebenso gravierend beeinträchtigt wie die Möglichkeiten ihrer Implementierung. Ein brauchbarer Ansatz wäre es daher, so mein Vorschlag, „Tourismus als Kontext“ zu betrachten (Nogués 2003). Ausgehend von einem solchen Verständnis des Tourismus als Kontext wäre es interessant, in der Forschung insbesondere zwei Linien hervorzuheben. Zum einen ginge es darum, wie Jeremy Boissevain in dem von ihm
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herausgegebenen Band ethnografisch vorführte, zu verstehen, was Tourismus ist und wie interkulturelle Prozesse wirken; die Sozialforschung sollte sich dabei auf den einen Pol des touristischen Kontinuums GastgeberGast konzentrieren, nämlich auf „die so genannten Gastgeber, die Menschen also, die die Bedürfnisse der Touristen befriedigen und auf die sich zugleich deren Aufmerksamkeit richtet“ (Boissevain 1996a: 1). Die zweite Forschungslinie hingegen würde die sterile Debatte um Definitionen hinter sich lassen. Forscher sollten ihre wissenschaftlichen Energien darauf verwenden, Praktiken, die Bedeutung (oder Inhalt) generieren, sowie den Signifikationsprozess selbst zu verstehen. Dieser zweiten Forschungslinie nun ist der vorliegende Beitrag verpflichtet. Ausgehend von der oben skizzierten Definition von Kultur wird die zentrale Fragestellung lauten, wie Objekte ihre Bedeutung erlangen und wie – und durch welche Praktiken – sie im touristischen Kontext der sozialen Wirklichkeit Sinn verleihen. Das dabei verfolgte analytische Modell hebt die Vermittlungsleistung und die Dialogizität der Aneignung touristischer Dispositive durch ihren Gebrauch hervor (Martín-Barbero 1987). Der Beitrag skizziert insbesondere, wie die berühmte Silhouette des Osborne-Stiers ihre Bedeutung als Symbol Spaniens erlangte, durch die Art und Weise nämlich, wie sowohl Spanier als auch ausländische Besucher sich darauf bezogen. Und zwar in einem Land, in dem seit den späten 1950er Jahren der Tourismus für eine ausgeglichene Zahlungsbilanz sorgte und somit auch für die Staatskasse zu einer der Haupteinnahmequellen wurde. Die Bedeutung dieses touristischen Bildes für die Konstruktion nationaler Motive findet ihren Widerhall im Auftauchen anderer Tiergestalten als Zeichen der Identität, einer Kuh, eines Esels und eines Schafes.
Wie alles anfing … Die weltberühmte Silhouette des Stiers wurde 1956 als Reklametafel für die Werbung des „Veterano“, eines neuen Brandys der Kellerei Osborne, entworfen. Im Mai 1957 wurde der erste Stier bei Kilometer 52 der von Madrid nach Burgos führenden Nationalstraße N 1 aufgestellt, und schon bald fanden sich solche Standbilder am Straßenrand aller wichtigen spanischen Fernstraßen. Ende 1957 gab es 16 Stiere. Ursprünglich aus Holz gefertigt und sieben Meter hoch, erreichte das Standbild, nun aus Eisen und Stahl, 1962 eine Höhe von 14 Metern. Heute wiegen die Stiere vier Tonnen, haben eine Fläche von annähernd 150 Quadratmetern und sind aus zehn Kilometern Entfernung sichtbar. Im Jahrzehnt bis 1967 stieg gleichzeitig die Zahl der Touristen, die das Land besuchten, auf 18 Millionen, und die Zahl
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der Osborne-Stiere kletterte auf beachtliche 500; augenblicklich gibt es 92. Strategisch auf Hügeln, in Senken und in der Nähe von Straßenkurven postiert, wurde die unverwechselbare Silhouette des Osborne-Stiers schon bald zu einem „festen Bestandteil“ der spanischen Landschaft. Sie wurde zu einem Emblem, welches das orientalistische Bild vom romantischen Spanien aufrechterhielt, wie es europäische Reisende im Verlauf des 18. Jahrhunderts entdeckt hatten (Héran 1983). Und zugleich stellte das Bild des Stiers eine Verbindung zu den antiken mediterranen Kulturen her. So kam es, dass im August 1972 der „Sherry Bull“, wie man ihn damals weithin nannte, das Cover des New York Magazine schmückte, ein Hinweis auf einen Bericht über Spanien im gleichen Heft. Und noch während des Eurovision Song Contests in Belgrad 2008 wurde der Beitrag des Künstlers, der die spanische Rundfunkanstalt RTVE vertrat, durch einen kitschigen, im Gegenlicht durch den Vorhang geheimnisvoll verhüllten Stierkampf-Tanz eingeleitet.
Abb. 1 (Foto: Autor )
Das Allgemeine Fernstraßengesetz aus dem Jahr 1988 verbot Werbung am Straßenrand. Daraufhin entfernte man den Namen des Brandys … doch die Silhouette blieb. Im September 1994 erließ das Ministerium für Bau, Umwelt und Tourismus (Ministerio de Obras Públicas, Medio Ambiente y Turismo) eine neue Verordnung, der zufolge der Stier aus der Landschaft verschwinden sollte. Gegen die Entfernung der Stiere regte sich daraufhin ein beispielloser Protest aus der Bevölkerung wie auch von Intellektuellen. Einen ersten Schritt machte dann die Junta de Andalucía, die Regierung der autonomen Region Andalusien. Sie stufte die Silhouette im Oktober 1994 als Bien de Interés Cultural (BIC – Kulturgut) ein, da „die Stiere bereits als Teil der Landschaft Andalusiens anzusehen sind und daher verdienen, anders behandelt zu werden als andere Werbung“, wie das Kulturministerium der
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autonomen Region ausführte (Huelva Información vom 14. Oktober 1994). Im Oktober 2007 unternahm die Junta de Andalucía im Übrigen den Versuch, den Schutz nochmals zu verstärken und den Stier nicht nur als bewahrenswertes Kulturgut, sondern als Monument einzustufen. In der autonomen Region Navarra, in der das Fernstraßengesetz aufgrund besonderer regionaler Gesetzgebung nicht gilt, verfügte das regionale Bauministerium den Erhalt der Stiere am Straßenrand. Die einmal eröffnete Debatte ging weiter, und im November 1994 setzte der Oberste Gerichtshof die Entfernung der populären Standbilder aus. Der Stier war indultado1, während der Gerichtshof eine Entscheidung darüber traf, ob die Silhouette nun als kommerzielle Werbung oder als „künstlerischer Ausdruck spanischer Kultur“ anzusehen sei. Das Parlament beteiligte sich ebenfalls an der Debatte. Gegen die Stimmen der Izquierda Unida (einer Koalition linker Parteien) und der Convergencia i Uniò (der rechtsgerichteten Partei der katalanischen Nationalisten) verabschiedete die Infrastrukturkommission des Abgeordnetenhauses „einen Entwurf, der die Regierung und die öffentliche Verwaltung aufforderte, die Standbilder des Osborne-Stiers zu erhalten, da sie landschaftliche Wahrzeichen darstellen“ (Diario 16 vom 16. November 1996). Und auch die akademische Welt blieb nicht außen vor. Die Universidad Politécnica de Valencia bat Osborne, im Freilicht-Museum für zeitgenössische Kunst der Universität einen Stier zu installieren, weil „das Standbild angesichts seiner künstlerischen und kulturellen Bedeutung geschützt zu werden verdient“. Endgültig indultado wurde der Stier 1997 durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die den „ästhetischen und kulturellen Wert der Silhouette“ bestätigte. Seither ist der Stier allgegenwärtig: ob auf Stiefeln oder Unterkünften des Militärs im Ausland oder auf Fahnen, Autoaufklebern oder T-Shirts. Er ist zu der Bühne geworden, auf der unterschiedliche nationale Identitäten ausgehandelt werden.
1 >span.< indultar, begnadigen. Der Ausdruck bezieht sich auf das dem Präsidenten beim Stierkampf vorbehaltene Recht, das Leben des Stiers zu verschonen, nachdem er in der Corrida seine Wildheit und sein edles Blut bewiesen hat.
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Abb. 2 und 3 (Fotos: Autor)
Die Auseinandersetzung in der Presse Der eigentliche Ort des Disputs war die Tagespresse; die Positionen waren klarer und formulierten sich hier offen aus. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer anderen Lektüre des Aushandelns von Bedeutung. Hunderte Artikel erschienen in den lokalen und nationalen Zeitungen. Ganz häufig taucht darin eine kitschige Gleichsetzung des Stieres mit einer folkloristischen Bilderwelt und wirtschaftlicher sowie kultureller Unterentwicklung auf. „Der Osborne-Stier mag noch so schön sein, aber er ist das Sinnbild eines ‚Ruralismus‘, des feudalen Spanien der charanga y pandereta 2 und stolzer caballeros auf feurigen Pferden, Söhne einer Gesellschaftsklasse, für die es dazu gehörte, in den weiten Landschaften Iberiens Stiere zu stechen“ (Lanza, Ciudad Real, vom 29. Oktober 1994).
Andere Zeitungen, vor allem Blätter aus Katalonien, dem Baskenland und Galicien, den autonomen Regionen mit starken nationalen Identitäten, sahen im Stier vor allem das Symbol des spanischen Nationalismus: „Als wirklich beeindruckend darf gelten, dass man die Werbetafel für würdig hält, als ein ‚kulturelles und künstlerisches Erbe des spanischen Volkes‘ anerkannt zu werden. (…) Wenn das niemand stoppt, wird der Osborne-Stier noch tatsächlich Bestandteil des kulturellen und künstlerischen Erbes ‚des spanischen Volkes‘. Mit Verlaub gesagt ist es eine unerhörte Zumutung, die Völker alle darauf verpflichten zu wollen, für
2 „La España de charanga y pandereta, / cerrado y sacristía, / devota de Frascuelo y de María...“ [Das Spanien der Blechmusik und des Tamburins, / Der Koppel und der Sakristei, / Voller Andacht für Frascuelo – einenTorero im 19. Jahrhundert – und Maria …] (Machado 2001), schrieb der Dichter Antonio Machado 1913 im Poem El mañana efímero und zeichnete damit das Bild eines sehr traditionellen, ländlichen und im Inneren unterentwickelten Spaniens.
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die Erhaltung der Silhouette einzustehen. (…). Ohne den Markennamen 3 passt das Vorhandensein der Stiere freilich zu einer auf Plattitüden setzenden touristischen Werbekampagne, und die Ausländer, die hierher kommen, werden sie wohl auch genau so verstehen. 4 Den expliziten Bezug auf Osborne durch den auf ein symbolisches Spanien zu ersetzen, erscheint mir als ein Missbrauch der Macht. Im Übrigen wirkt der Stier englisch auf mich, schon der Name 5 verweist darauf“ (Avui, Barcelona, vom 18. November 1994; im Original Katalanisch).
In Galicien schrieb ein Journalist: „Das in diesem Land herrschende chronische Identitätsdefizit führt dazu, den Osborne-Stier in nicht weniger als ein Symbol Spaniens zu verwandeln. (…) Jenes imperiale Spanien, das keine ideologischen Unterschiede kennt 6, wehrt sich dagegen, den Stier zu entfernen, und gibt als Grund an, die nationale Identität sei gefährdet und möglicherweise werde, man denke an die Einkünfte aus dem Tourismus, die Zahlungsbilanz negativ beeinflusst. (…) Es ist einfach so, dass der spanische Nationalismus wie jeder andere auch mehr auf Symbole und Blendwerk achtet, auf denen das eigene Land zu errichten wäre, als dass man an die Bevölkerung, an die Tiere und die Landschaften denken würde, die es doch ausmachen. Es ist ein primitiver Hurrapatriotismus, der uns zurück zum Stamm führt und der konsequenterweise der Embleme, Symbole und Fetische bedarf“ (Faro de Vigo, Vigo, vom 15. November 1994).
Sehr häufig hoben die Kommentare die zentrale Rolle Andalusiens für das Bild Spaniens im Ausland hervor, das alle anderen nationalen Kulturen verdecken würde, wie ein katalanischer Kolumnist betonte:
3 Anfänglich war „Veterano“ zu lesen, der Name des beworbenen Brandy, später war es Osborne. 4 In zahlreichen Blogs finden sich Hinweise auf die Verbindung zwischen Spanien und dem Osborne-Stier; vgl. beispielsweise (Englisch und Niederländisch) http://flanders-inside. s k y n e t b l o g s. b e / p o s t / 4 5 6 9 8 8 9 / o s b o r n e - s h e r r y - s t i e r- - o s b o r n e - s h e r r y - b u l l - e x t , (15.11.2008). 5 Die Familie Osborne kam ursprünglich aus England. 6 Die Rede vom „imperialen Spanien“ bezieht sich auf den nationalistischen Diskurs der Ära Francos. Spanien galt, wie Primo de Rivera, der Gründer der Falange, es formulierte, als „universelle Schicksalsgemeinschaft“ jenseits bestehender regionaler, ideologischer oder Klassenunterschiede im Inneren. Diese Idee besteht in sehr vielen konservativen Vorstellungen fort, die die Einheit Spaniens und den Zusammenbruch der Ideologien behaupten.
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„In den Corridas klingt etwas Fremdartiges an, typisch spanisch 7, so seltsam wie die Riesenstiere von Osborne, die an den Straßen der Stierhaut 8 die vorbeifahrenden Wagen beobachten. Die Junta de Andalucía hat sie gerade in den Katalog der Kulturgüter aufgenommen. Aus diesem Grund verdienten sie gesetzlichen Schutz, als wären sie die Mezquita de Córdoba, die Giralda der Kathedrale von Sevilla oder die Alhambra in Granada, die Brüste der Rocío Jurado 9 oder die Tränen der Pantoja als Witwe während der Cogida 10. (…). Das ist’s! Die Stiere sind Teil der physischen und symbolischen Landschaft Andalusiens“ (Segre, Lérida, vom 30. Oktober 1996; im Original Katalanisch).
Die Stimmen zugunsten der Stiere werden von einem galicischen Kommentator so zusammengefasst: „Um den Stier des Veterano-Brandy zu retten (indultar) behaupten seine Fürsprecher, es handle sich nicht um eine Werbung, sondern um ein nationales Emblem, etwas, das längst Teil unseres Lebens ist“ (La Región, Orense, vom 24. Oktober 1996; im Original Galicisch).
Ständige Anspielungen auf eine glorreiche Vergangenheit und die Verwendung einer quasi-franquistischen Rhetorik entwerfen eine Geschichte der Stierhaut aus ihren Anfängen:
7 „Typisch Spanisch“ und „Spanien ist anders“ waren die zentralen Slogans der Werbekampagnen des Ministerio de Información y Turismo in den Aufbaujahren der Tourismusbranche während der 1960er Jahre. 8 Die Rede von der Haut des Stieres – piel de toro – geht zurück auf den antiken griechischen Geografen Strabo, der schrieb, Iberien „ähnelt denn einer Rinderhaut, die der Länge nach von Westen nach Osten – mit dem Vorderteil im Osten – und in der Breite von Norden nach Süden gespannt ist“ (Strabo o. J.: Geogr. III. 1. 3.). Aufgrund unterschiedlicher Übersetzungen des griechischen βύρσ ηι ist in Spanien immer die Rede von einer Stierhaut, während es in Portugal pele de boi (Ochsen- oder Rinderhaut) heißt. 9 Maria del Rocio Trinidad Mohedano Jurado, genannt „die Größte“, war eine der berühmtesten Sängerinnen spanischer Lieder. In Andalusien geboren, verehrte man sie wegen ihrer wunderbaren Stimme und bewunderte ihren großen Busen. Zunächst war sie mit einem Boxer verheiratet und später, bis zu ihrem Tod im Juni 2006, mit einem Torero. 10 Isabel Pantoja bietet ein perfektes Beispiel eines spanischen Mythos: Romni, Sängerin, in Andalusien geboren, mit einem Stierkämpfer, Francisco Rivera „Paquirri“, verheiratet, der in der Arena starb. Cogida bezieht sich auf den Tod dieses legendären Toreros, der im September 1984 während einer Corrida von einem Stier getötet wurde.
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„Diese Tiergestalt, das Totemtier der Spanier, wurde vorzeiten aus Granit gehauen, sogar, wie die Stiere von Guisando 11, als eine ganze Herde. In unserer Zeit stellt die moderne Ikonografie die Stiere aus anderen Materialien her, die für den Künstler leichter zu handhaben sind. Ein aus Metall gefertigtes Beispiel ist die schwarze Silhouette des Osborne-Stiers, die majestätisch auf Kuppen neben Straßen und Autobahnen thront. Eine imposante Gestalt, das Symbol der Überzeugungen und Traditionen der hispanischen Rasse, die es so gut verstand, sie den Nationen Amerikas mitzugeben. Aus keinem anderen Grund verschont man den Stier, der ein Glas feinen Sherrys besingt“ (El Adelantado, Salamanca, vom 16. Juli 1995).
Tourismus und Signifikationsprozess Welche Beziehungen bestehen zwischen Tourismuswerbung und der Art und Weise, wie die Menschen vor Ort ihre Kultur wahrnehmen? Beeinflusst der Tourismus die Selbstwahrnehmung der Menschen? Diese Fragen haben in gewisser Weise meine kulturanthropologischen Untersuchungen angeleitet, seit ich mit der ethnografischen Erforschung touristischer Kontexte anfing und realisierte, dass die lokale Bevölkerung dazu übergegangen war, ihre dörfliche Umgebung mit den Augen von Besuchern zu betrachten (Nogués 1996). Kulturanthropologen verfolgen nun allerdings keinen dialogischen Forschungsansatz, um der Frage nachzugehen, welche Rolle im Signifikationsprozess jenes komplexe Ganze von Praxisformen spielt, das wir auf die kurze Formel Tourismus bringen. Gerade die „klassische“ Kulturanthropologie und Soziologie hat den Tourismus meist als einen Zusammenstoß von Gesellschaften und Kulturen untersucht.12 Ausgehend von einer Theorie der Akkulturation werden Kulturen ontologisch vor allem in ihren territorialen (also räumlichen) Dimensionen begriffen und konsequenterweise zugleich als bloß rezeptiv; Touristen, so die Überzeugung, kämen an und würden „abgrasen“, während eine von kapitalistischen Kräften vorangetriebene Tourismusbranche die Unterentwicklung fördere und festige sowie „periphere Enklaven“ schaffe (Britton 1982).13 Ein solch reduziertes Verständnis 11 Die so genannten Toros de Guisando sind vier Stierfiguren aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, die sich in der Nähe von El Tiemblo (Provinz Ávila) finden. 12 Vgl. die Beiträge von Theron Nuñez (1963), Valene Smith (1977) und in gewisser Weise auch Mike Robinson (1999) sowie Chris Rojek/John Urry (1997). 13 Zygmunt Bauman aktualisierte Daniel Boorstins klassische Sichtweise, als er den Ausdruck „Touristensyndrom“ prägte; charakteristisch dafür seien, so Bauman, eine nur lose Verbindung zu den besuchten Orten, ein Konsumverhalten, das er Abgrasen nennt, die Suche nach ungetrübten Beziehungen und im Übrigen die Fragilität sämtlicher eingegangener Beziehungen (Franklin 2003).
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kultureller Prozesse führt dazu, dass die Tourismusforschung in ihren theoretischen Annahmen von statischen Modellen ausgeht und Tourismusforscher folglich eher auf Dialektik als auf Dialogizität rekurrieren (Meethan 2003). Es gibt mithin in der Kulturanthropologie nur ein eingeschränktes Verständnis der in touristischen Kontexten ablaufenden soziokulturellen Prozesse. Hingegen zeigen viele ethnografische Darstellungen, wie die aufnehmenden Gesellschaften die Interaktion mit Außenstehenden im Alltag strukturieren und mit dem Tourismus ebenso wie mit den Touristen auf vielfältige Art zu Rande kommen (Boissevain 1996a). Ein solcher Befund bestätigt uns in der Überzeugung, dass eine kulturanthropologische Perspektive auf Tourismus der Produktion und Reproduktion von Bedeutung Beachtung zu schenken hat.
Die Dialogizität des Tourismus-Raumes Das im Folgenden vorgeschlagene Modell dient dem Verständnis soziokultureller Prozesse in touristischen Kontexten. Analysiert werden die existierenden dialogischen Beziehungen zwischen den makro-sozialen Bedingungen zum einen, die diktiert sind durch (a) die physische Präsenz der Tourismusbranche – eine Präsenz in Form von Quartieren (Hotels, Apartments, Siedlungen), Restaurants, Freizeiteinrichtungen und Verkehrsinfrastruktur –, (b) die symbolische Präsenz der Dispositive ideologischer Herrschaft, von denen das Wünschenswerte abhängt, und (c) die Instrumente der institutionellen Macht (von Behörden, Stadträten, Massenmedien, Unternehmerverbänden etc.), die das Machbare bedingen, und zum anderen den Möglichkeiten, die aus mikro-sozialen Praxisformen entstehen, also aus dem, was die Menschen sagen und tun. Der Raum des Tourismus wäre somit das Ergebnis der Beziehung zwischen solcherart restriktiv verstandenen makro-sozialen Strukturen und dem Potenzial mikro-sozialer Praxisformen. Das verweist uns auf die Analyse von Michel Chadefaud (Chadefaud 1987), der zufolge der Raum des Tourismus die Projektion der Ideale und Mythen der Weltgesellschaft in Zeit und Raum repräsentiert und zugleich Güter in touristische Produkte und Territorien verwandelt. Er erscheint daher, angefüllt mit Bildern und Werten, die dem Alltagsleben Sinn verleihen, als ein Referenzrahmen, um soziale Praxisformen zu verstehen. Ein solches dialogisches Modell erfordert eine zumindest teilweise Abkehr von der zentralen Annahme „Kultur gleich Territorium“ (eine Gleichung, die der Perspektive der Akkulturation und einem Funktionalismus des hic et nunc entspringt) und die Unterscheidung der räumlichen – lokativen – Dimension (der „touristischen Umwelt“) einer Gesellschaft von der expressiven
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Dimension der Kultur (Bachtin 1965). Sozialforscher sollten daher beide Dimensionen methodisch gegeneinander abgrenzen (und entsprechend benennen), um die beobachteten und in der Feldphase gesammelten Daten und Fakten (im Hinblick auf Handlungen und Praxisformen) richtig einordnen und analysieren zu können.
Abb. 4: Ein theoretisches Modell der durch den Raum des Tourismus vermittelten Verwandlung eines Ortes.
Die Abbildung (Abb. 4) veranschaulicht das Modell: Man stelle sich einen dynamischen Funktionsverlauf von links nach rechts vor. Besucher kommen an einen Ort und finden eine dort bereits bestehende Gesellschaft vor. Man stelle sich nun vor, dass der Ort kleiner wird und zusammenschrumpft, weil Touristen mehr und mehr „qualitativen Raum“ konsumieren, weil also etwa Dienstleistungen und Quartiere für Besucher geschaffen werden. Mit Blick auf die räumliche Dimension schlage ich daher vor, zwischen (1) einem „touristischen Territorium“, in dem solche infrastrukturellen Voraussetzungen kartografisch zu verorten wären, und (2) einem „Ort“ zu unterscheiden, an dem sich erkennen lässt, wo die Einheimischen leben. Aber der Tourismus konsumiert zugleich lokale Kultur. Mit Blick auf die expressive Dimension im Sinne Michail Bachtins können daher (1) ein „touristisches Setting“, das Touristen anzieht und zum Reisen verleitet,
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und (2) der „Ort“, durch den die lokale Bevölkerung sich als Gruppe Sinn verleiht (das heißt: eine Gemeinschaft bildet), gegeneinander abgegrenzt werden. Im Schnittpunkt ergibt sich in der räumlichen wie in der expressiven Dimension ein „Aushandlungsbereich“, in dem sich das Dialogische und Diachronische des Modells entfalten. Die Folgen der Verwandlung des Ortes – die, vermittelt durch den Raum des Tourismus, weder einfache Transformation noch Okkupation ist – zeigen sich darin, dass der „Ort“ durch die Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen der Welt der Besucher wahrgenommen, erfahren, interpretiert und aufgefasst wird, wie auch darin, dass in der Folge Traditionen zugunsten kultureller Amalgamierungen verschwinden und für die einheimische Bevölkerung wie für die Touristen auf gleiche Art organisiert werden, und schließlich darin, dass die verwandelten „Orte“ – verwandelt durch den Raum des Tourismus und die einträglichen Bedeutungen, welche die Tourismusbranche schafft – im hegemonialen Diskurs auftauchen, und zwar in Verbindung mit allen möglichen alltäglichen kulturellen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Unternehmungen und zudem an den unterschiedlichsten Stellen (Nogués 2006). Ich behaupte nun, dass das Entstehen des Tourismus-Raumes weder irgendeine Art infrastruktureller oder diskursiver Determiniertheit mechanisch widerspiegelt noch sich als dialektische Synthese der inneren Widersprüche des Tourismussystems begreifen lässt, sondern vielmehr als ein dialogischer Prozess zu analysieren ist. Wie bereits festgestellt, ist der Raum des Tourismus meiner Arbeitshypothese zufolge weder etwas, das sich gegen die einheimische Bevölkerung einer bestimmten Gegend richtet, einer Gegend, die eine neokoloniale kapitalistische Ideologie als peripher definiert, noch ist er der Boden, auf dem der Widerstand imaginärer Gemeinschaften wächst, die sich gegen die Invasion ihrer Heimat oder ihrer Kultur wehren, noch handelt es sich um einen Raum, in dem, wie man es in Anlehnung an die Frankfurter Schule denken könnte, die Entfremdung hyperindustrialisierter Gesellschaften durch Freizeitmanagement fortschreitet. Um das transformative (und folglich regenerative) Potenzial der dialogischen Signifikationsprozesse zu verstehen, die den Raum des Tourismus mit Inhalt füllen, müssen sich Kulturanthropologen vielmehr der Rezeptionsseite zuwenden. Um die kulturellen Dynamiken in touristischen Kontexten wirklich zu verstehen, sollten Wissenschaftler, die sich mit der Implementierung touristischer Projekte als Medium gesellschaftlicher Entwicklung befassen, Tourismus nicht einfach als einen Prozess verstehen, der irgendwie von außen kommt (durch Reisebüros, neokoloniales Kapital, Hotelketten oder Experten für Kulturreisen) oder in dem man nur an ein Außen (Touristen oder Einkommen) denken
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müsste. Ganz im Gegenteil sollten Kulturanthropologen ihren Blick darauf richten, wie die einheimische Bevölkerung der so genannten Reiseziele dem gesellschaftlichen Leben – in der „populären Kultur“ – Sinn verleiht, und wie darüber hinaus die Dispositive der Massenbildung (Tourismus, Mobiltelefone, Internet …) verwendet und angeeignet (oder absorbiert) werden, dabei aber die Auflösung jener populären Kultur, wie sie in der Massenbildung angelegt ist, vermieden wird (Martín-Barbero 1987). Das Modell wäre somit sogar in der Lage, Fälle „axiologischer Verwirrung über die Abgrenzung von Kultur und Tourismus“ zu erklären, wie etwa die Benennung balinesischer Behörden, die kebudayaan parawisata (touristische Kultur) im Namen führen (Picard 1995: 57). Die Geschichte des OsborneStiers erinnert an solche Beispiele, insofern es sehr schwierig scheint, zu unterscheiden, was zur traditionellen Stierkultur in Spanien gehört und was aus der Tourismuswerbung stammt. Allerdings besagt meine Arbeitshypothese, dass der Tourismus zugleich die ursprüngliche Bedeutung des Stieres verstärkt und ihn mit der nationalen Identität verknüpft.
Wie wurde Spanien Andalusien? Im Jahr 1956 beauftragte die Kellerei Osborne ihre Madrider Werbeagentur Azor, eine Kampagne für den neuen Brandy „Veterano“ zu entwerfen. Zu jener Zeit war Manolo Prieto (1912-1986), „ein Künstler, Maler und Zeichner“ (Pérez Mulet 2004), Artdirector bei Azor. Nicht allzu sehr überraschen dürfte, dass sowohl Osborne als auch Prieto aus der gleichen andalusischen Stadt stammen, nämlich aus El Puerto de Santa María an der Mündung des Guadalete im Golf von Cádiz. Offenbar musste Prieto nicht lange suchen, um einen Erfolg versprechenden bildlichen Ausdruck zu finden. Die Tauromaquia war schon in der Antike ein Bestandteil der mediterranen Kulturen und gehört auch in der Neuzeit in vielen westeuropäischen Ländern, insbesondere in Spanien, zur Tradition (Romero de Solís 1998; Traimond 1996). 50 Jahre nach seinem erstmaligen Auftreten nun wird in dem schwarzen Standbild mehr wiedererkannt als eine Werbung. Obwohl man sich dessen in der Osborne-Gruppe wohl bewusst ist und die Werbeeffekte wie auch die nicht unerheblichen wirtschaftlichen Vorteile gerne mitnimmt, gehen die kulturellen und politischen Auswirkungen der Silhouette weit über das hinaus, womit man bei Osborne gerechnet hatte.14 Wie kann die Kulturanthropologie das erklären? 14 Der reguläre Gewinn der Osborne-Gruppe belief sich im Jahr 2007 auf 37 Millionen Euro. Zu den Produkten gehören neben Brandys, anderen Spirituosen und Weinen Mineralwasser, Fruchtsäfte, Softdrinks und spanische Schweinefleischspezialitäten.
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Toros und Flamenco waren die beiden wichtigsten Mythen, auf die sich während der 1960er und 1970er Jahre Spaniens Tourismuswerbung stützte. Die kraftvolle Ästhetik der mit diesen Mythen verbundenen kulturellen Ausdrucksformen diente dem Ministerio de Información y Turismo dazu, Spanien als maßgebliches internationales Reiseziel zu vermarkten. Corridas und Tablaos (ursprünglich eine Art Schenke mit einer Flamenco-Show) wurden zu touristischen Settings par excellence, und keiner der ausländischen Besucher jener Jahre – dem Beispiel von Ernest Hemingway, Ava Gardner, Orson Welles oder John Doe folgend – ließ sie sich entgehen. Da Einheimische in den 1960er Jahren die als typisch spanisch geltenden Tablaos nicht frequentierten und es auch heute nicht tun, bieten die Tablaos ein ethnografisches Paradebeispiel für ein touristisches Territorium. Hingegen besuchten 2007 mehr als drei Millionen Menschen Stierkämpfe in Andalusien, und laut einer Umfrage des Gallup-Instituts aus dem Jahr 2002 interessierten sich 31 Prozent der spanischen Bevölkerung für die Corrida.15 Betrachtet man Kultur als das komplexe Ganze der Manifestationen und Zusammenhänge, die innerhalb einer bestimmten Gruppe Bedeutung erlangen und dem gesellschaftlichen Leben Sinn verleihen, wird aus der Kontroverse, ob die Stiersilhouette als Werbebotschaft anzusehen ist und deshalb vom Straßenrand verschwinden soll, ein Gegenstand kulturanthropologischer Fragestellungen. Zugleich begannen die schwarzen Standbilder als Flächen zu dienen, auf die sich die politischen Ansprüche anderer iberischer Nationalismen projizierten, und einige andere neue Tiergestalten tauchten in der symbolischen Arena auf, in der sich kulturelle Identitäten bilden.
Abb. 5 (Foto: Autor) 15 In den 1970er Jahren belief sich die Zahl der Stierkampfinteressierten auf 55 Prozent; vgl. http://www.gallup.es/encu/toros06/intro.asp, (Oktober 2007).
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Der Signifikationsprozess kann dabei, so meine These, nicht in seinem vollen Umfang verstanden werden, ohne die bedeutungstragende Vermittlungsrolle des Tourismus-Raumes sowie die Art und Weise, wie dieser geschaffen wird, einzubeziehen. Es gibt eine vielschichtige dialogische Spannung zwischen den Stiertraditionen in Spanien, der Tourismuswerbung und den Interessen der Wirtschaft sowie den kulturellen und politischen Interessen, die im Signifikationsprozess des Symbols präsent sind. Mit anderen Worten stellt sich einmal mehr die Frage: „Was gehört zur Kultur und was zum Tourismus?“ Die widerstreitenden Diskurse lassen sich beispielsweise durch teilnehmende Beobachtung bei Kundgebungen gegen den Stierkampf im Vorfeld von Corridas entdecken: Es gibt dort Tierschutzargumente, wie sie ökologische Gruppen vorbringen, neben eher direkt politischen Haltungen. An der Spitze des Demonstrationszuges am 17. Juni 2007 vor der Stierkampfarena Monumental in Barcelona – am gleichen Tag sollte es zum lange erwarteten Comeback des gefeierten Torero José Tomás kommen – forderte ein Transparent auf Katalanisch: „Keine Toros in Katalonien oder anderswo!“ Tatsächlich ist hier ein Zwiespalt artikuliert, für den auch die für die Unabhängigkeit eintretende linke Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) steht, die wiederholt versucht hat, Stierkampfveranstaltungen in Barcelona zu verhindern, während sie traditionelle Stierfeste in verschiedenen Bezirken im südlichen Katalonien verteidigt. Die schwarze Silhouette ist im spanischen kollektiven Imaginären das Symbol der Einheit Spaniens. Anlässlich des Pokalfinales 2002 beim Copa del Rey im Fußball, bei dem Real Madrid und Deportivo de la Coruña – „der spanische Stier und die galicische Kuh“ – aufeinandertrafen, schuf ein nationalistischer Künstler eine galicische Kuh auf einer galicischen Flagge, dem Blauen Band auf weißem Grund. Überhaupt ist Sport, und insbesondere Fußball, eine hervorragende Arena für Auseinandersetzungen um Identität und nationalistische Symbole. Tatsächlich hat auf der Nationalflagge der Sportfans die schwarze Silhouette das königliche Wappen ersetzt, wann immer spanische Sportlerinnen und Sportler eine gewisse Rolle spielen, ob beim Wasserball, in der Formel 1 oder in der Leichtathletik. Wenige Wochen nach dem erwähnten Pokalfinale tauchte im Bezirk Banyoles der Burru català auf, der katalanische Esel, als, wie es hieß, eine Antwort auf „den uniformen Zentralismus, wie er sich in Symbolen wie dem Stier oder auf den Autokennzeichen ausdrückt“.16 Vor allem auf Autostickern findet sich ein weiteres Motiv, das 2004 Einzug in die nationalistische Farm der Tiere hielt: 16 Siehe das Portal der Iniciativa del Burro Català; vgl. http://www.burrocatala.com, (15.11.2008).
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Eine Gruppe von Freunden aus dem Baskenland kam mit Ardi latxa heraus, einer autochthonen Schafsrasse. Allerdings geht es dabei um mehr als um das Spiel mit nationalistischer Ästhetik für Kofferraumklappen; die Sticker stehen für die Aneignung eines symbolischen „Wir“, das die Möglichkeit bietet, Identität auszustellen.
Abb. 6, 7, 8 und 9 (Quelle: Autor)
Der Kampf richtete sich paradoxerweise anfänglich gegen ein Bild von Spanien, das Ausländer für Ausländer schufen. Ein solcher Befund erinnert an andere touristische Ziele, wo die Identität der einheimischen Bevölkerung sich in der Auseinandersetzung mit Besuchern herausbildete, dabei zugleich aber das Bild der anderen reflektierte (Bruner 1991: 247). Allerdings formte sich das andalusische Bild Spaniens lange Zeit bevor Touristen im eigentlichen Sinne das Land betraten. François Herán hat analysiert, wie Fremde jegliche Veränderung bedauern, weil sie sich für diejenigen halten, die im Besitz der Wahrheit über Spanien sind, einer Wahrheit, die auf dem gängigen Bild von Andalusien beruht: Flamenco, Gitanos, Bandoleros (Banditen), Corridas de toros (Stierkämpfe), Procesiones (Prozessionen in der Karwoche), weiß gekalkte Häuser und Höfe, überall Rosmarinbüsche, Nelken und Geranien. Herán untersucht, wie diese Vorstellung sich gegen Schilderungen behauptete, wie sie sich beispielsweise bei den Romanciers Azorín oder Vicente Blasco Ibáñez vom unterentwickelten und ländlichen Andalusien finden (Herán 1983: 50-51). Ein solcher orientalistischer Blick funktionierte freilich auch im innerspanischen Kontext und verdeckte so zahlreiche kulturelle Äußerungen aus anderen Regionen. Selbst ein anerkannter Anthropologe wie Julio Caro Baroja wies darauf hin, „ein andalusisches Dorf ist ein lebendiges Museum, mit Exponaten aus dem Neolithikum ebenso wie aus jüngster Zeit“ (Caro Baroja 1985: 301). Ein hervorragendes Beispiel eines andalusisch überformten Spaniens zeigt der Film Bienvenido Mr. Marshall von Luis García Berlanga aus dem Jahr 1952. Es ist ein burleskes, satirisches und gnadenloses Porträt Spaniens, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Ablehnung seiner Verbündeten erfährt. Das European Recovery Programme des US-Außenministeriums, besser bekannt unter dem
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Namen Marshallplan, das zwischen 1948 und 1953 den Wiederaufbau verschiedener westeuropäischer Länder fördern sollte, erreichte Spanien nie. Doch alle Einwohner von Villar del Río, einem imaginären Städtchen irgendwo in der Mitte Spaniens, warten voller Sorgen auf die Amerikaner und setzen all ihre Hoffnungen darauf, während der Gemeindesekretär gewissenhaft ihre Wünsche und Gesuche niederschreibt … Um auch ja nur zu gefallen, inszenieren sie die Art spanischer Kultur, die den erwarteten amerikanischen Diplomaten am besten vertraut sein dürfte. So tragen die Leute von Villar del Río vollkommen unmotiviert eine anachronistische andalusische Tracht, engagieren einen bekannten Cantaor, einen Flamencosänger, und schmücken ihr Städtchen in einem typisch andalusischen Stil. Die grausame Hegemonie des andalusisch überformten Spanien wird schließlich am deutlichsten, als der US-Zug – ganz der historischen Wahrheit entsprechend – nicht anhält. Die Einwohner der kleinen Stadt in Kastilien, in ihren Fantasiekostümen und bedeckt von dem Staub, den die vorbeifahrenden Wagen aufgewirbelt haben, werfen die Theaterrequisiten von sich und bilden, während sie sich wieder ihren alltäglichen Verrichtungen zuwenden, ein letztes surrealistisches Panorama. Hätte Dean MacCannell (MacCannell 1989) sich in seiner Untersuchung ein wenig mehr um nicht-englische Quellen gekümmert, hätte er in diesem Film ein paradigmatisches Beispiel seiner viel zitierten „inszenierten Authentizität“ gefunden. Diese Art der symbolischen Konstruktion eines Produktes Spanien wandelte sich nach Francos Tod radikal. Die verschiedenen nationalen Kulturen, die politisch Spanien bilden, erlebten eine Renaissance. Ironischerweise beeinflusste diese Entwicklung auch die Art, wie Andalusien sich selbst begriff, und die stereotypen Bilder wurden auch dort, wo sie ursprünglich herkamen, als Kitsch bezeichnet und zurückgewiesen. Doch angesichts der Kontroverse um die Stiere würde ich behaupten, dass man die Silhouette in ganz Spanien schon längst kulturell internalisiert und bisweilen inkarniert hatte, und zwar durch die Vermittlung des Tourismus-Raumes im Signifikationsprozess.
Schluss Wie die Kontroverse um die Stiere zeigt, ist es notwendig, den Tourismus in die Untersuchung des Sozialen und des Kulturellen einzubeziehen. Das Für und das Wider in der Debatte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Zum einen heißt es, der Stier müsse vom Straßenrand verschwinden, da es an der Zeit sei, das falsche Bild eines homogenen Spaniens zu zerstören; zum anderen wird dem entgegengehalten, der Stier müsse an seinem Platz bleiben, weil er nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch ein Symbol der kulturellen Identität Spaniens sei.
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Beide Begründungen entspringen derselben Logik. Es ist eine Logik, die sich speist „aus einem folkloristischen und romantischen Bild Spaniens, dem Gemenge also, das Spanier, sobald sie ins Ausland reisen, immer fühlen lässt, was man dort immer noch denkt, dass man nämlich als Spanier Andalusier sei und deshalb Flamenco tanzen könne und Stierkampf mögen müsse. All das besitzt im populären Imaginären international weiterhin eine Menge Rückhalt. Entstanden ist dieses Bild im Großen und Ganzen in der Zeit zwischen 1830 und 1860“ (Calvo Serraller 2004: 101), und es kristallisierte während der 1960er und 1970er Jahre als direkte Konsequenz der Entwicklung des Tourismus. Der Ort wird – das Modell der Verwandlung des Ortes macht dies sichtbar – von den Einheimischen durch die Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen der Welt der Besucher wahrgenommen, erfahren, interpretiert und aufgefasst. Das heißt beispielsweise, dass Spanien als ein riesiger Ring erscheint, der rund um die schwarze Silhouette eines Stieres auftaucht. Und in der Folge verschwindet die Bedeutung jeglicher Tradition zugunsten kultureller Amalgamierungen, die für die einheimische Bevölkerung wie für Besucher auf gleiche Art organisiert werden. Das macht die Verwirrung aus, die nicht mehr zwischen kommerzieller Werbung und einem Symbol kultureller Identität unterscheiden kann. In einem multinationalen Land wie Spanien fand die alltägliche Artikulation nationaler Identität eine mögliche Bühne, um kulturelle Bedeutungen dadurch auszudrücken und auszuhandeln, dass neue Totems geschaffen werden. Würde man die Bandeira galega (die galicische Flagge), die Ikurriña (die baskische Flagge) oder die Senyera (die katalanische Flagge) verwenden, landete die Konfrontation sofort in der offiziellen Sphäre und es käme zu einer Flaggenschlacht, wie es für gewöhnlich in Rathäusern und anderen Amtsgebäuden in Katalonien oder im Baskenland geschieht. Die Verwendung einer Tiergestalt als nationales Symbol, wie es Touristen und das Merchandising vormachen, gibt jedoch dem schwarzen Stier innerhalb der lokalen expressiven Dimension eine andere Bedeutung. „Die Kommodifizierung zerstört nicht“, wie Jeremy Boissevain mit Blick auf maltesische Feste schreibt, „sondern erfüllt sie im Gegenteil mit neuer Bedeutung.“ (Boissevain 1996b: 116) Der Stier erreichte durch seine Popularität, weil er Sticker, Flaggen von Sportfans und T-Shirts ziert, eine mächtige Dimension. Das provozierte die Entwicklung einer Reihe anderer nationalistischer Totems: einer Kuh, eines Esels und eines Schafes. Ehemals im Hinblick auf den Ort und die expressive Dimension der Einheimischen bedeutungslose Objekte werden so (durch Merchandising) zu touristischen Objekten in
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einem touristischen Setting oder erhalten vermittelt durch den Raum des Tourismus eine neue Bedeutung. Kultur in touristischen Kontexten entwickelt sich dialogisch durch ein Aushandeln zwischen Besuchern und Einheimischen sowie gegebenenfalls auch zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppen, aus denen die Bevölkerung vor Ort sich zusammensetzt. Will daher die Anthropologie Kultur sowohl in ihren räumlichen wie in ihren expressiven Dimensionen verstehen, ist es für die Feldforschung in touristischen Kontexten notwendig, der vermittelnden Rolle des touristischen Raumes Aufmerksamkeit zu schenken. (A tauromachian controversy over identities. The mediation of tourism space in the negotion of meanings. In das Deutsche übersetzt von Thomas Atzert.)
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Fremde Dinge Moscheen in westeuropäischen Metropolen als touristische Sehenswürdigkeiten Burkhart Lauterbach
Was sind eigentlich Dinge im Kontext von Reisen und Tourismus? Im Ankündigungstext für eine Tourismus-Tagung in Leeds 2007 heißt es ganz allgemein: „Though tourism and travel are bound to concepts of time and space, they are also rooted in the material world – a tangible world of places, things, edifices, buildings, monuments and ‚stuff‘“ (Robinson 2007). Der Autor des Textes, Tourismuswissenschaftler Mike Robinson, geht damit, anders als so viele seiner Kolleginnen und Kollegen, nicht von einer thematischen Verengung aus, die darauf hinauslaufen würde, unter „Dingen auf Reisen“ lediglich jene Objekte zu verstehen, welche die eigentlichen Reisevorgänge sowie dazugehörige Formen der Erinnerung tangieren. Untersuchungsbeispiele neuerer Forschungen hierzu wären etwa einerseits „Objekte wie (...) Kutsche und Koffer“ als „unverzichtbare Helfer auf der Reise“, andererseits „Ampullen mit Jordanwasser, kostbare Gewürze wie Zimt und Muskatnuß, ostadriatische Trachten und spanische Rüstungen aus Toledostahl“ als Zeugnisse „des Erlebten“ (Bracher 2006: 17). Soviel sei zunächst zum Substantiv „Ding“ gesagt. Befasst man sich nun mit dem Adjektiv „fremd“, gilt es zu differenzieren zwischen intrakulturellen und interkulturellen Aspekten. „Fremde Dinge“ (Frank 2007) müssen ja nicht nur aus anderen, geografisch weit entfernten Gegenden durch Kulturtransfer (Lauterbach 2002) in eine jeweilige Gesellschaft gelangen, wo sie möglicherweise für das sorgen, was wir Kulturschock nennen (Tolksdorf 1990: 110-113). Sie können durchaus in der eigenen Gesellschaft entstehen und dann vergleichbare Wirkungen auslösen. Ein Beispiel: Im ausgehenden vorletzten Jahrhundert wollte man in Paris aus Anlass der dortigen Weltausstellung 1889 und zum Andenken an die Französische Revolution 1789 ein monumentales Turmbauwerk in die Welt setzen. Man entschied sich für einen ganz bestimmten Plan eines ganz bestimmten französischen Ingenieurs und ließ den Turm fristgerecht errichten, was von Anfang an für deutliche Reaktionen sorgte: „Eine Anzahl bekannter Schriftsteller und Künstler (der Architekt
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der Oper, Charles Garnier, der Komponist Charles Gounod, die Schriftsteller Leconte de Lisle, Émile Zola, Guy de Maupassant und Alexandre Dumas d. J.) verfaßte eine Protestschrift: ‚Wir Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Architekten und leidenschaftliche Liebhaber der Schönheit von Paris protestieren im Namen des verkannten französischen Geschmacks mit aller Macht gegen die Erbauung des unnötigen und ungeheuerlichen Eiffelturms im Herzen unserer Stadt‘. Als der Turm fertig war, schlug die Abneigung jedoch schnell in Jubel um: Apollinaire und Cocteau widmeten ihm Gedichte, auf Gemälden von Pissarro, Dufy, Utrillo, Seurat, Marquet und Delaunay erschien er. Als Souvenir wird er in alle Welt getragen“ (Paris 1990: 60). Das vormals „fremde Ding“ hört also auf, ein „fremdes Ding“ zu sein, womit der intrakulturelle Transfervorgang – als Innovationsprozess – abgeschlossen wäre. Etwas ganz anderes stellt das interkulturelle Geschehen dar: Man fühlt sich bei der Diktion der zitierten Protestschrift gegen den Eiffelturm an derzeit tobende so genannte Moscheestreitigkeiten etwa in Köln oder München erinnert und auch daran, dass, während Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörige moscheeartige Mausoleum Taj Mahal im indischen Agra besuchte, Kärntens damaliger Landeshauptmann Jörg Haider ein Gesetz gegen den Moscheebau in seinem Bundesland präsentierte (AP/AFP 2008; dpa 2008). Das heißt, ein in einem entfernten geografischen und soziokulturellen Kontext angesiedeltes Monument kann es leicht haben, von Reisenden bewundert und geschätzt zu werden. Bei John Urry liest sich das so: „Minimally there must be certain aspects of the place to be visited which distinguish it from what is conventionally encountered in everyday life. Tourism results from a basic binary division between the ordinary/everyday and the extraordinary. Tourist experiences involve some aspect or element that induces pleasurable experiences which, by comparison with the everyday, are out of the ordinary“ (Urry 2002: 12). Sobald aber das gleiche, eben noch bewunderte Monument durch grenzüberschreitenden kulturellen Transfer als potentielle Innovation in die Heimat der Reisenden gelangt, kann sich diese positive Reaktion umkehren in Ablehnung und Verweigerung, was im extremsten Fall dazu führt, dass ein „fremdes Ding“ niemals aufhört, ein „fremdes Ding“ zu sein, dass etwa eine Moschee in einer westeuropäischen Metropole als Objekt mit transnationalem Hintergrund stets ein Objekt mit transnationalem Hintergrund bleiben wird. Um diesen Zusammenhang näher untersuchen zu können, entwerfe ich gerade ein Forschungsprojekt über die touristische Verwertung islamischer Kulturimporte in westeuropäischen Metropolen. Im hier gegebenen Rahmen setze ich mich mit frühen Moscheebauten in Paris und London
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auseinander und gehe der Frage nach, wie mit diesen „historical artefacts“ (ebd.: 51) als Produkten von kulturellen Transfervorgängen touristisch umgegangen wird. Unter den westeuropäischen Großstädten beherbergen Paris und London die größten Immigrantengemeinden (White 1987: 184), was in besonderem Maße für den Islam gilt: „Frankreich ist (neben Großbritannien) das Land, in dem der Islam im Westen am frühesten und mächtigsten präsent war (...)“, wenn man einmal vom maurischen Spanien des frühen 8. bis ausgehenden 15. Jahrhunderts absieht (Leggewie 1993: 50). Halten wir fest: Aufgrund der kolonialen Verwicklungen gelangen Menschen aus bestimmten außereuropäischen Besitzungen mit einer für westeuropäische Verhältnisse bis dahin ungewohnten religiösen und damit soziokulturellen Ausrichtung in die kolonialen Mutterländer; nach Großbritannien seit dem 17. und 18. Jahrhundert, nach Frankreich seit dem 19. Jahrhundert. Spätestens durch die Errichtung von Moscheen und/oder funktional äquivalenten Einrichtungen ist ihre Präsenz damit dokumentiert: Die Moscheen sind das allgemein sichtbarste Symbol islamischer Institutionalisierung (Schwab 1997: 214). Sie sind Objekte, welche, als Ideen oder Pläne, nicht als Baumaterialien, gereist sind und, nach ihrer Fertigstellung, ihrerseits zu Objekten reisenden Interesses auf Seiten von Touristen avancieren und die damit zum breiten Spektrum der objects of travel gehören, gleichermaßen als objects-in-motion wie auch als objects-that-stay-still (Lury 1997: 75f.). Das aber bedeutet nicht, dass Moscheen etwa in Westeuropa zum Zweck der touristischen Selbstvermarktung errichtet werden. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die einschlägigen Entwicklungen dreier Moscheen: in Woking, einem Londoner Vorort in der Grafschaft Surrey, ab dem Jahr 1889, in Paris ab dem Jahr 1926, in London selbst ab dem Jahr 1977. Beide hauptstädtischen Moscheegründungen verfügen dabei über jahrzehntelange Vorgeschichten, über durchaus komplexe Objektbiographien (Hahn 2005: 40-45), die en detail auszubreiten im gegebenen Kontext nicht möglich ist, weswegen ich mich hier darauf beschränke, eine Reihe von Aussagen zu treffen, die ich anhand von sechs miteinander verzahnten Thesen zum Umgang mit Moscheen in Westeuropa kommentiere:
These 1: Im Zuge der Ausbreitung des Islam auch nach Westeuropa findet eine funktionale Ausdifferenzierung der Institution Moschee statt. Eine Moschee repräsentiert den Prototyp des islamischen Kultbaues (Finster 2001: 205), der auf den von Mohammed im Jahr 622 n. Chr. in seinem Haus in Medina errichteten Gebetsplatz zurückgeht und vor allem
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der Versammlung zum Gebet oder der Teilnahme an der Freitagspredigt dient: Das täglich fünfmalige Gebet ist obligatorisch für jeden erwachsenen Muslim, ebenso die Teilnahme am gemeinsamen Freitagsgebet. Demgemäß gibt es Freitags- oder Versammlungsmoscheen und kleine Moscheen für das tägliche Gebet (Finster 2001: 205) 1. Sie dienen ebenso der Erziehung und speziell religiösen Unterweisung der Jugend sowie der Beratung in Fragen des privaten und öffentlichen Lebens. Da sich dieses in Westeuropa in säkularen Gesellschaften abspielt, übernimmt die Moschee zahlreiche sozial-, kultur- und religionspolitische Aufgaben, die ihr in islamischen Gesellschaften zunächst nicht zukommen 2, was zu einem gleichermaßen quantitativen wie qualitativen Wandel der Institution Moschee führt (Joly 1995: 75-79; Schwab 1997: 231f.).
These 2: Im Zuge der Ausbreitung des Islam auch nach Westeuropa findet eine gestalterische Ausdifferenzierung der Institution Moschee statt. Eine Moschee ist als ein Objekt zu bezeichnen, welches sich im Zuge der Ausbreitung des Islam von der Konstruktionstechnik und den Baumaterialien her an die jeweils regionalen Bautraditionen anpasst (Hoffmann 1992: 436). Da Westeuropa keine regionalen Moscheebautraditionen aufweist, orientiert man sich am weltweiten Spektrum einschlägiger Baustile, die durchaus miteinander vermischt auftreten. So wird die Moschee in Woking als Gebäude beschrieben, welches verschiedene orientalische – ägyptische ebenso wie indo-islamische – Baustile in sich vereint, die darüber hinaus aus verschiedenen Jahrhunderten stammen (The first mosque 1889: 590). Für die Pariser Moschee wird geltend gemacht, sie sei nach dem Modell der Moscheehochschule Bou Anania im marokkanischen Fes errichtet worden, im hispano-maurischen Stil des 16. Jahrhunderts (Baedeker 1924: 344), wobei das Minarett ein Imitat desjenigen der unvollendeten Hasan-Moschee im ebenfalls marokkanischen Rabat aus dem 12. Jahrhundert darstelle (Paris 1929: 219). Einzig die Londoner Moschee wird hinsichtlich ihres Baustils nicht in Verbindung mit bereits existierenden Vorbildern gebracht (Steele 1996).
1 Zur Vielfalt von Moschee-Typen, die von der umfänglichen Freitagsmoschee bis hin zur Garagenmoschee und der in der Studie „Das Elend der Welt“ diskutierten 15 Quadratmeter großen Fabrikmoschee, einem ehemaligen Abstellraum, reicht; vgl. Schmitt 2003: 38-42 und Sayad 1997: 741. 2 Bibliotheks- und Publikationswesen, Buch- und Videokassettenverkauf, Sprachunterricht u.a.
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These 3: Kulturtransfer bedeutet in den gegebenen Fällen weit mehr als lediglich die Ansiedlung von fremden Dingen. Was hier passiert, ist ein Prozess, den Konrad Bedal mit den Begriffen Umbau, Ausbau, Neubau zusammenfasst, wobei nach der historischen Hausforschung Umbau und Ausbau den Normalfall darstellen, Neubau dagegen an umwälzendere Voraussetzungen gebunden sei (Bedal 1983: 60). In der Tat liegen beiden britischen Projekten sowohl Umbau-, Ausbau- und Neubauaktivitäten zu Grunde, während es in Paris gleich zum Neubau kommt. In Woking wird im späten 19. Jahrhundert eine Moschee als Neubau errichtet. Die Planungen sehen einen umfangreichen Komplex mit Bibliothek, Gästehaus sowie interkulturell tätiger Lehranstalt vor. Indes, es kommt lediglich zum Neubau von Moschee und Herberge; für die Unterbringung des Oriental Institute erfolgt der Umbau eines ehemaligen Gebäudes des Royal Dramatic College (Shah Jahan Mosque 2007). 1926 wird in der französischen Hauptstadt eine Moschee eröffnet – als Bestandteil einer weitläufigen „véritable cité musulmane au coeur de Paris“. Die Anlage umfasst ausschließlich Neubauten, nämlich ein muslimisches Institut, ein türkisches Bad, einen Laden, eine Bibliothek sowie die eigentliche Moschee (Paris 1929: 218f.). Bereits seit Ende des Ersten Weltkrieges gibt es Pläne für den Bau einer zentralen Moschee in London, vor allem, nachdem man Kunde von der Eröffnung der Pariser Moschee erhalten hatte (Nielsen 1995: 20). König Georg VI. überlässt den Organisatoren ein Grundstück; 1954 erfolgt die Grundsteinlegung und 1977 die Eröffnung der Moschee, welche zum Teil aus einem Neubau, zum Teil aus Um- und Ausbauten einer 1824 für einen Parlamentarier errichteten Villa besteht (Geaves 1999: 359; Wischermann 1985: 240). Allein die Bauten in Woking und London verfügen über eine vielseitige – westliche und östliche, weltliche und religiöse – Nutzungsgeschichte. Die Nutzung als islamische Zentren stellt dabei allerdings lediglich eine Nutzung unter vielen dar, welche demonstriert, dass sich die betreffende Gruppe, so „fremd“ sie ursprünglich gewesen sein mag und so binnendifferenziert wie partiell widerständig sie sich auch gibt, kulturelle Äußerungen der britischen Mehrheitsgesellschaft durchaus zu eigen macht und somit darin eingebettet ist. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass sich die Mehrheitsgesellschaft ihrerseits dem Prozess der „Arbeit der Aneignung“ für sie zunächst „fremder Dinge“ unterwirft (Hahn 2005: 99-107).
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These 4: Im Fall der beiden hauptstädtischen Moscheen kommt deren konkrete Verortung in deutlicher Weise gängigen Formen der Versehenswürdigkeitung von Objekten entgegen. Die Moschee in Woking liegt am Rande des Kleinstadtzentrums in einer Nebenstraße, mitten in einem Wohngebiet. Die beiden hauptstädtischen Moscheen jedoch verfügen über gänzlich andere Voraussetzungen für das Entstehen touristischen Interesses. In London gehört die Moschee zur westlichen Randbebauung des innenstadtnahen Regent’s Park, einem ehemaligen königlichen Jagdrevier, welches Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer weitläufigen Grünanlage, unter anderem mit See, Freiluftbühne und Zoologischem Garten, umgebaut wird (Londres 2007: 313-319). In Paris gehört die Moschee ebenfalls zur Randbebauung einer ebenfalls innenstadtnahen Grünanlage, dem Jardin des Plantes, welcher aus dem ehemaligen, im frühen 17. Jahrhundert angelegten königlichen Heilkräutergarten mit Publikumsverkehr ab 1640 hervorgegangen ist. In seiner Eigenschaft als Staatliches Museum für Naturkunde umfasst er verschiedene thematische Galerien, Gartenanlagen, ein Aquarium, ein Vivarium sowie einen Tierpark (Paris 2007: 291-295). Kevin Lynch folgend, lassen sich beide hauptstädtischen Moscheen als Merk- oder Wahrzeichen kategorisieren, also als eine Art von ‚optischen Bezugspunkten‘ (...). Zu solchen Merkzeichen gehören einzelstehende Türme, goldene Kuppeln, ansehnliche Hügel. (...). Räumliches Hervorragen kann ein Element in zweifacher Weise zum Merkzeichen erheben: einmal dadurch, daß es von vielen Orten aus sichtbar ist (...) oder durch Schaffung eines lokal begrenzten Kontrastes, einer Variation in Höhe und Fluchtlinie etwa (Lynch 1965: 62, 98), was in beiden Fällen voll und ganz zutrifft: Die aus Kupfer gefertigte Kuppel der Londoner Moschee leuchtet, wie die Reiseberatungsliteratur stets betont, golden (Fröhlich 2000: 111; Nowel 1995: 279f.); sie ragt aus der Fluchtlinie der Randbebauung hervor und ist vom gesamten Park und den angrenzenden Bereichen aus weithin sichtbar. Darüber hinaus tritt sie, trotz beträchtlicher räumlicher Distanz und daher ohne jegliche optische Verbindung, in symbolische Konkurrenz zur St. Paul’s-Kathedrale, der Kirche des Bistums London, welche eine zentrale Bedeutung für die bisherige christliche Mehrheitsgesellschaft besitzt. Deren Kuppel ragt zwar weit höher in den Himmel, deren Durchmesser ist zwar beträchtlich größer, deren Material Blei leuchtet jedoch nicht golden (Piper 1990: 325-347). Das Minarett der Pariser Moschee ist ebenso weithin sichtbar, nicht nur für die Besucher des Botanischen Gartens, sondern auch für die Passanten angrenzender Bereiche.
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Mehr und mehr findet ein Kampf um die nicht zuletzt von Homi K. Bhabha in die Diskussion gebrachte Verortung der Kultur (Bhabha 2000a), und zwar im buchstäblichen Sinne, statt. Ein Kampf um die physische, soziale und vor allem symbolische Verortung im städtischen Raum, der sich in den immer häufigeren Konflikten um die unerwünschte, die unsichtbare und die unterstützte Moschee zeigt (Leggewie 2001: 53-64). Ein Kampf, der interkulturelle und damit politische Aushandlungsprozesse zum Thema hat und der die Moschee in ein Konkurrenzverhältnis zur herkömmlichen baulich-institutionellen Ausstattung westlicher Metropolen bringt, etwa zur meistbesuchten Sehenswürdigkeit der Welt, der Kathedrale Notre-Dame in Paris (Cohen 2002). Hält man sich die jeweils mehrere Jahrzehnte dauernden Anlaufzeiten zwischen ersten Ideen und tatsächlicher Bauausführung vor Augen (Nielsen 1995: 20f.), lässt sich sagen: Diese Auseinandersetzungen sind in den beiden Hauptstädten zweifellos politisch motiviert gewesen. Gleich wer den Anstoß zur Errichtung der dortigen Moscheen gegeben hat, gleich auch welche islamischen Staaten Unterstützung geleistet haben, letztlich ist es darum gegangen, dass sich die einheimische Administration mit an die Spitze der Bewegung stellt. Im einen Fall ist es das Königshaus, welches das Grundstück zur Verfügung stellt, dies im Gegenzug zur Schenkung eines Grundstücks in Kairo für den Bau einer anglikanischen Kirche und vor dem Hintergrund, dass zur fraglichen Zeit die potentiellen Moschee-Nutzer als Staatsbürger aus britischen Kolonien und aus Commonwealth-Ländern freien Zugang zum Vereinigten Königreich und damit Anspruch auf Versorgung gehabt haben (ebd.: 20). Im anderen Fall sind es die Stadt Paris, die den Geländekauf bestreitet, sowie der französische Staat, für den es, entgegen seiner laizistischen Grundausrichtung – zuletzt festgehalten im Trennungsgesetz aus dem Jahr 1905 – durchaus handfeste Gründe gibt, sich an einem Projekt wie der Errichtung der Pariser Moschee zu beteiligen. Offiziell heißt es zwar, dies geschehe zur Erinnerung und in Würdigung der Opferbereitschaft, mit der die Muslime einen heroischen Beitrag zur Bekämpfung der deutschen Barbarei im Ersten Weltkrieg geleistet haben (Boyer 1992: 21f.), tatsächlich geht es jedoch auch darum, Frankreichs Charakter als muslimische Großmacht anschaulich unter Beweis zu stellen (Rey 1997: 181)3. In beiden Fällen haben wir es mit hochoffiziellen Prestigeobjekten zu tun, welche dafür sorgen, dass die von der Sozialpsychologin 3 Zur Geschichte der Auseinandersetzungen um Bau und Entwicklung der Großen Moschee von Paris siehe Kepel (1987: 64-94), zur gesamten Geschichte dieser Moschee Boyer (1992) und zum französischen Kulturanspruch Lüsebrink (1999).
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Catherine J. Schmidt entwickelte Typologie zur Bestimmung der inhärenten Attraktionsqualitäten verschiedener touristischer Objekte eine Erweiterung erfährt: Eine Moschee unter den skizzierten Bedingungen gehört einerseits zu Schmidts Kategorien der points of sacred symbolic extremes or penetration into the secular world sowie der points of cultural change (Schmidt 1979: 447f.), sie gehört aber nicht minder zu einer nicht in der Typologie enthaltenen Kategorie der points of political change.
These 5: Im Fall der beiden hauptstädtischen Moscheen kommt deren konkrete Gestaltung in deutlicher Weise gängigen Formen der Versehenswürdigkeitung von Objekten entgegen. Nach der Analyse von Claus Leggewie und Kollegen findet in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende „Verkirchlichung“ von Moscheen in der Diaspora statt: Ist einerseits das „westliche Bild (...) geprägt (und verzerrt) vom Vorbild christlicher Sakralbauten und vom imposanten Erscheinungsbild mancher Großgebäude in den islamischen Kernländern, so gibt es andererseits die Tendenz, auch in westlichen Einwanderungsländern Moscheen als polyfunktionale Gemeinde- und Bürgerhäuser immer öfter durch repräsentative Großbauten zu ersetzen. Der Unterschied zwischen Nachbarschafts- und Freitagsmoschee verschwindet damit tendenziell (Leggewie 2001: 22, 24f.)4. Hinzu kommt, dass bei Moscheekonflikten besonders die Ansiedlungsgegner immer wieder ein breites Spektrum an stereotypen Vorstellungen vorführen, welche übersehen, dass trotz der verbreiteten Praxis, eine Moschee aufgrund des islamischen Bilderverbots mit Koranzitaten kalligrafisch auszugestalten oder mit nicht europäisch erscheinenden Gegenständen, Orientteppichen, Koranständern und Kanzeln (Spuler-Stegemann 2007: 74ff.), zu möblieren, diese weder innerhalb noch außerhalb Europas einen einheitlichen Bautyp darstellt (Hoffmann 1992; Barrucand 2007) und sich zudem keinesfalls auf religiöse Funktionen reduzieren lässt. Zu den stereotypen Vorstellungen gehört auch jene Haltung, die wir uns seit einigen Jahrzehnten Orientalismus zu nennen, angewöhnt haben: ein westliches, höfisches und bürgerliches Konzept, a product of certain political forces and activities. (...) a manner of regularized (...) writing, vision, and study, dominated by imperatives, perspectives, and ideological biases 4 Vgl. die Ankündigung von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, „den Bau von repräsentativen Moscheen in Deutschland zu unterstützen und als Schritt zu mehr Integration zu werten: ‚Mit dem Neubau von Moscheen verlassen die muslimischen Gemeinden die Hinterhöfe (...)‘“ (Ramelsberger 2008).
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ostensibly suited to the Orient“ (Said 2003: 202f.). Gleich ob man eher Edward W. Said oder eher seinen zahlreichen Kritikern folgt, welche die Existenz des von ihm konstatierten quasi-monolithischen Orientalismus zum Teil erheblich relativieren (Bhabha 2000b; Lowe 1991; MacKenzie 1995; Warraq 2007), stets haben wir es mit einer Vielfalt von Vorstellungsbildern zu tun, die das Moment der Fremdheit essentialisieren und sich deshalb zur tourismusbezogenen Vermarktung hervorragend eignen (Bilgic 2006; Cometa 2003). Das haben offensichtlich auch die Initiatoren der beiden hauptstädtischen Moscheen erkannt, denn schon bald nach der jeweiligen Eröffnung erscheinen in Reiseführern genaueste Hinweise zu den Öffnungszeiten für Besucher (Paris 1929: 218; London 1982: 141). Einzig die Moschee in Woking gibt sich hermetisch; sie ist, wie es in einem Bericht über ihre Eröffnung 1889 heißt: „not open to the public; but there will be, we expect, no difficulty in persons visiting it who comply with the regulations (…) and who are not mere sightseers“ (The first mosque 1889: 591). Dies hat sich im Wesentlichen bis heute fortgesetzt: Gruppen aus Schulen und Universitäten sind willkommen, Individuen nur im Fall von ausgesprochenem Interesse am Islam5.
These 6: Bisherige theoretische Grundlagen der multidisziplinären Tourismusforschung reichen nicht aus, um Prozesse der Versehenswürdigkeitung von Moscheen in westeuropäischen Metropolen zu beschreiben und einer Analyse zu unterziehen. Ein diesbezüglicher Systematisierungsversuch findet sich in der sozialpsychologischen Tourismusforschung in Form des bereits angesprochenen Entwurfs für eine Typologie touristisch interessanter Objekte, welche sich nach fünf verschiedenen, nämlich geografischen, sozialen, kulturellen, technologischen sowie religiösen, Schwerpunkten klassifizieren lassen. Diese Schwerpunkte erfahren ihrerseits eine Untergliederung, die auf folgende Kategorien hinausläuft: „points of (...) origin“, „points of (...) transitions“, „points of (...) extremes“ sowie „points of (...) change“ (Schmidt 1979: 447f.). Die Typologie stellt einen Versuch dar, unter dem Gesichtspunkt struktureller Merkmale Ordnung in die Welt der touristisch interessanten Objekte, der potentiellen oder bewährten Sehenswürdigkeiten, zu bringen. Um herauszuarbeiten, wie sich Objekte als Sehenswürdigkeiten durchgesetzt haben, präsentiert der Soziologe Dean MacCannell einen zweiten 5 Vgl. diesbezügliche Bestimmungen, einschließlich Voranmeldeformular: http://www. shahjahanmosque.org.uk/05tours.html, (10.03.2008).
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Systematisierungsversuch, dies mittels eines Fünf-Phasen-Modells der „sight sacralization“, der „Versehenswürdigkeitung“ von Objekten. Die einzelnen Phasen dieses Prozesses bezeichnet er als „naming phase“ (Benennung), „framing and elevation phase“ (Einrahmung und Erhöhung), „enshrinement“ (Einschließung, die eigentliche Verehrung), „mechanical reproduction“ (mechanische Nachbildung) sowie „social reproduction“ (sozial-kommunikative Bezugnahme) (MacCannell 1976: 44f.). Anschaulich und konkret lässt sich dieser Prozess anhand der Entstehungsgeschichte aller drei Moscheen rekonstruieren. Die erste Phase („naming phase“) besteht aus der Entscheidung für die Errichtung der Moschee, für einen ganz bestimmten Ort in einer ganz bestimmten Umgebung, für ganz bestimmte Neubau- beziehungsweise Umbaupläne sowie die provisorische oder endgültige Benennung des Bauwerks. Zur zweiten Phase („framing and elevation phase“) gehören die genaue Festlegung des Baugrundstücks, die Aushebung der Baugrube sowie die eigentliche Bautätigkeit (Neu-, Um-, Ausbau) bis zu dem Moment, in dem sich das jeweilige Gebäude in voller Gestalt über seinen Fundamenten erhebt. Phase drei („enshrinement“) umfasst die Einzäunung des Geländes, die Einweihung der Moschee und vor allem die positive Rezeption dieser ganzen Bemühungen durch ein Publikum, das sich allerdings nicht leicht charakterisieren lässt, besteht es doch aus aktiven Nutzern, zielgerichteten Touristen wie auch Spaziergängern, die en passant das jeweilige Bauwerk entdecken. Die vierte Phase („mechanical reproduction“) ist dann erreicht, wenn etwa in Woking eine Postkarte mit dem Bild der Moschee in Umlauf gerät, wenn die Medien von der Eröffnung des neuen Komplexes berichten oder wenn gedruckte Reiseführer Informationen über ihn in ihre Darstellungen aufnehmen. Die fünfte und letzte Phase („social reproduction“) lässt sich feststellen, wenn Bewohner der umliegenden Viertel eventuelle Fragen nach ihrem Wohnort mit dem Hinweis auf die Nähe zur jeweiligen Moschee beantworten. MacCannells Ansatz stellt insgesamt den Versuch dar, einerseits die den Objekten inhärenten Attraktionsqualitäten zu entschlüsseln, andererseits geht es ihm darum, die den Touristen inhärenten Attraktionsbedürfnisse und Attraktionsmotivationen sowie ihr konkretes Handeln vor Ort zu erschließen. Dies erfolgt hauptsächlich durch teilnehmende Beobachtung, durch „following the tourists“ (ebd.: 174). Damit handelt er sich allerdings methodologische Kritik ein: „MacCannell fell directly into the trap of examining the behavior of the tourists rather than the representations given by the tourists themselves“ (Thurot 1983: 175), wobei es offen bleibt, ob diese Forschungsempfehlung nur gegenwärtige oder vielleicht auch, was
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notwendig wäre, historische Prozesse einschließt. Die hier zitierten Kritiker halten es, um Erkenntnisfortschritt zu erlangen, für relevanter und ergiebiger, Touristen hinsichtlich ihrer eigenen Erwartungen, Erfahrungen und Erlebnisse zu befragen, auch Werbestrategien in die Analyse einzubeziehen, um an die Beweggründe für das jeweilige konkrete Handeln heranzukommen (ebd.: 175f.). Die Kritik lässt sich aber auch anders ausdrücken: In gleicher Weise wie Catherine J. Schmidts strukturalistische Studie zur Typologie von Sehenswürdigkeiten argumentiert MacCannells Werk letztendlich formal und bezieht nicht Stellung zu Sinn, Zweck und Wertigkeit des Aufsuchens von Sehenswürdigkeiten wie des touristischen Handelns insgesamt. Diese Reduzierung des Forschungsvorgangs erstaunt insofern, als er sich zwar darum bemüht, eine „ethnomethodology of sightseers“ zu erstellen, deren Untersuchungsgegenstand er als „the touristic consciousness of otherness, and the way tourists negotiate the labyrinth of modernity“ (MacCannell 1976: 135) definiert, Fremdartigkeit und Moderne jedoch Größen darstellen, die auch über eine inhaltliche Dimension verfügen, welche der Autor aber nicht berücksichtigt. Damit entgeht ihm das, was „bei der visuellen Aneignung touristischer Sehenswürdigkeiten im einzelnen passiert“ und was, nach Ueli Gyrs Einschätzung, nur „schwer erfassbar“ ist (Gyr 1992: 233), zumal es durchaus mehrere Möglichkeiten des Umgangs mit touristisch interessanten Objekten gibt: „Am gleichen Objekt und Monument nehmen nicht alle Touristen das Gleiche wahr, und sie memorieren auch nicht alle das Gleiche. Im TopkapiPalast in Istanbul bewundert der eine an einer chinesischen Vase aus der Mingzeit die Handwerksleistung oder das historische Alter, der andere vielleicht den künstlerischen Ausdruck, der dritte ein bekanntes Einzelmotiv, während der vierte von der Farbe ausgeht oder sich ausschliesslich an einem ihm vertrauten Darstellungselement aufhält“ (ebd.: 234). Und dennoch ist ihnen allen gemeinsam, dass sie versuchen, sich im „Umgang mit Sachen“ (Köstlin 1983) durch eigene kreative Handlungen die „fremden Dinge“ anzueignen, ihre Bedeutungen zu entziffern beziehungsweise sie mit Bedeutungen zu versehen. In diesem thematischen Kontext gelangt John Urry, seine Auseinandersetzung mit den Studien von Dean MacCannell und weiteren Autoren zusammenfassend, zu der Schlussfolgerung: „None of the theories (…) are in themselves adequate to grasp the ‚essence‘ of tourism, which is multi-faceted and particularly bound up with many other social and cultural elements. It is inappropriate to think that it is possible to devise ‚the theory of tourist behaviour‘. Instead what is required is a range of concepts and arguments
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which capture both what is specific to tourism and what is common to tourist and non-tourist social practices“ (Urry 2002: 124).
Schärfer als Urry urteilt Orvar Löfgren, der in der Tourismusforschung eine richtiggehende „tradition of flat-footed sociology and unimaginative psychology“ am Wirken sieht (Löfgren 1999: 267). Zu guter Letzt: Anfang der 1950er Jahre liefert Sigurd Erixon zentrale Ideen für eine volkskundliche, europäisch-vergleichende Kulturwissenschaft, als da sind: die gesamteuropäische Perspektive, der Blick in die außereuropäische, aber europäisch beeinflusste Welt, der Einbezug der im geografischen Sinn zu bestimmenden jeweili gen Nachbarn sowie der Einbezug der Partner in historischen Kulturbeziehungen (Erixon 1950/51: 5). Gut ein halbes Jahrhundert später ist dieser Ansatz zum Allgemeingut geworden. So befasst sich etwa Reinhard Johler mit von ihm so benannten europäischen Orten, welche sich, gleich ob als Städte, Plätze oder Häuser, dadurch auszeichnen, dass sie als Schauplätze und Tatorte dienen, an denen das neue Europa gerade ausgehandelt und in symbolisierter und materialisierter Form wahrnehmbar wird (Johler 2005: 42). Zu diesen europäischen Orten gehören zweifellos die Hauptstädte Frankreichs und Großbritanniens; dazu gehören ebenso die dort angesiedelten Moscheen, gleich ob sie einem Euro-Islam anhängen oder nicht, jener ostwestlichen Bricolage- und Bastard-Kultur zwischen Algier und Birmingham, Paris und Berlin (Leggewie 1993: 10). Moscheen in Paris und London, in Köln und München mögen zwar zunächst als „fremde Dinge“ betrachtet werden, gleich wer die konkreten Akteure sind; wenn man jedoch den gesamten Kontinent betrachtet und sich etwa an Al-Andalus erinnert, an das muslimische Spanien zwischen dem 8. und dem 15. Jahrhundert (Krämer 2007: 144-153; Manzano Moreno 1998; Barrucand 2007), dann wird deutlich, „daß sich das moderne Europa einer unter anderem arabisch-islamischen Geburtshilfe verdankt. Der Islam ist dem Westen also ursprünglich und fremd zugleich“ (Leggewie 1993: 9), was uns als Europäische Ethnologen letztendlich dazu auffordert, dieses Europa nicht nur von den Zentren und auch nicht nur von den „Rändern“ her zu denken, wie es Gisela Welz empfiehlt (Welz 2005: 28), sondern just diese Ränder, an Erixon anknüpfend, zu überschreiten, um die von dort kommenden, die europäische Welt beeinflussenden kulturellen Transfers fundiert erkunden zu können. Wenn sich allerdings beim Studium dieser Prozesse, wie in meinem Fall geschehen, der offizielle Informationsfluss ausgesprochen schwerfällig gestaltet, gleich ob es um Moschee-Administrationen, Kulturerbe-Organisationen
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oder Fremdenverkehrsinstitutionen als Kommunikationspartner geht, dann sollten wir nicht vergessen, dass der vermeintliche „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1998; Laqueur 2006), vor allem nach den Ereignissen rund um „9/11“ (Cesari 2005), sämtliche Beteiligte gleichermaßen mit erheblichen Problemen der eigenen Positionierung konfrontiert. Literatur AP/AFP (2008): Sarkozy im Taj Mahal. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Januar 2008. Augé, Marc (1994): Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M. Baedeker, Karl (1924): Paris et ses Environs. Manuel du Voyageur. 18. Aufl. Leipzig/ Paris. Barrucand, Marianne/Bednorz, Achim (2007): Maurische Architektur in Andalusien. Köln u.a. Bedal, Konrad (1983): Umbau, Ausbau, Neubau. Bedürfniswandel und Anpassung im ‚Umgang‘ mit Häusern. In: Köstlin, Konrad/Bausinger, Hermann (Hg.): Umgang mit Sachen. Zur Kulturgeschichte des Dinggebrauchs. (Regensburger Beiträge zur Volkskunde, 1). Regensburg, S. 49-61. Bhabha, Homi K. (2000a): Die Verortung der Kultur. Tübingen. — (2000b): Die Frage des Anderen. Stereotyp, Diskriminierung und der Diskurs des Kolonialismus. In: Ders.: Die Verortung der Kultur. Tübingen, S. 97-124. Bilgic, Leman u.a. (2006): Dresdner Orientalismus. In: Lindner, Rolf/Moser, Johannes (Hg.): Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenzstadt. (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 16). Leipzig, S. 207-236. Boyer, Alain (1992): L’Institut Musulman de la Mosquée de Paris. Paris. Bracher, Philip/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan (2006): Materialität auf Reisen. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge. (Reiseliteratur und Kulturanthropologie, 8). Berlin, S. 9-24. Cesari, Jocelyne (2005): Islam, Secularism and Multiculturalism after 9/11. A Transatlantic Comparison. In: Dies./McLoughlin, Séan (Hg.): European Muslims and the Secular State. Aldershot/Burlington, S. 39-51. Cohen, Evelyne (2002): Visiter Notre-Dame de Paris. In: Ethnologie francaise XXXII, S. 503-513. Cometa, Michele (2003): Moscheen im Okzident. Architektonische Maskerade und Sehnsucht nach dem Orient im 19. Jahrhundert. In: Schlesier, Renate/Zellmann, Ulrike (Hg.): Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster u.a., S. 31-59. dpa (2008): Gesetz gegen Moscheen. In: Süddeutsche Zeitung, 28. Januar 2008.
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Der Urlaub im Wohnzimmer
Dinge als symbolische Repräsentation von Reisen – Reiseandenken und Souvenirs Burkhard Pöttler
Nicht nur in der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung spielen Reiseandenken und Souvenirs eine große Rolle. Sie lassen sich bestens zum Objekt einer Authentizitätsdiskussion machen, bieten die Möglichkeit, geschlechtsspezifische Unterschiede bei ihrem Erwerb zu untersuchen und Souvenirshops bezüglich ihrer Attraktivität für Touristen zu testen. Wenn in Ruth-E. Mohrmanns (Mohrmann 1991: 213) Überlegungen zur Erinnerungskultur im privaten Bereich an erster Stelle „Objekte, die direkt ‚Erinnerung‘ transportieren“, genannt sind, so gehört zu dieser ersten Gruppe das weite Feld der Souvenirs, in dem die Reisesouvenirs inklusive der Wallfahrtsandenken mit der rasanten Entwicklung des Massentourismus eine besondere Rolle als Memorabilia spielen und, wie Nelson H.H. Graburn es ausdrückt, „they have a memorial meaning or, from the manufacturer’s or seller’s point of view, are intended to function by having that kind of meaning for the acquirer or purchaser“ (Graburn 2000: xiii). Bei Sport- und Kulturveranstaltungen – die immer öfter mit Kurztrips verbunden sind – erzielen Veranstalter mit Souvenirs zusätzliche Einkünfte. Zum Beispiel stellen Kino-, Theater-, Konzert- und Ausstellungsplakate als Souvenirs einen beliebten und zumindest temporären Wandschmuck im privaten Ambiente dar. Neben ihrer dekorativen Funktion oder jener als Sammlungsobjekt verweisen sie jedoch – anders als etwa ein Bild oder Poster – stets auf ein bestimmtes Ereignis oder „Event“, sodass meist dieses referenzierte Ereignis wichtiger ist als das Plakat selbst. Auf die Souvenirs bei Themenreisen à la „A schöne Leich“ über den Tod in Wien hat Helge Gerndt hingewiesen (Gerndt 2001: 14f.). Der Begriff „Souvenir“ soll im Folgenden für all diese speziell gefertigten Objekte verwendet werden.1 1 Die Ethnologin Ingrid Thurner stellte 1994 überhaupt fest: „Gegenstände aus dem alltäglichen Leben sind als Souvenir untauglich. Als Objekt ist das Souvenir etwas
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Der Begriff „Reiseandenken“ hingegen soll, selbst wenn die Grenzen nicht eindeutig zu ziehen sind, vorwiegend verwendet werden für Gebrauchsgegenstände wie Tickets und Eintrittskarten sowie für jene von Reisen mitgebrachten „Gegenstände (...), die – völlig unabhängig von ihrer eigentlichen Funktion und Zweckbestimmung – mit Erinnerungspotential gewissermaßen aufgeladen werden“ (Mohrmann 1991: 213), die also nicht als Souvenirs produziert wurden. Diese hier aus terminologischen Gründen verwendete Unterscheidung sieht Günter Oesterle (Oesterle 2006: 14) bei seiner Erklärung des Begriffs bis zu einem gewissen Grad auch für den alltäglichen Sprachgebrauch: „Da das Deutsche im Gegensatz zum Französischen über die separate Bezeichnung des ‚Andenkens‘ für das Intimerinnerungsstück verfügt, überwiegt im deutschen Sprachgebrauch womöglich die zweite Bedeutung von ‚Souvenir‘, die des kommerziell erwerblichen Erinnerungsstücks“ und Nigel Morgan und Annette Pritchard (Morgan/Pritchard 2005: 37) unterscheiden bei den materiellen Gütern im Bereich des Tourismus in ähnlicher Weise „Souvenirs“ und „Memorabilia“. Von unseren Befragten2 wurde – in unterschiedlicher Weise – ebenfalls teilweise zwischen Reiseandenken und Souvenirs unterschieden und in der einschlägigen Literatur differiert die Verwendung der Begriffe erheblich.
Eigennutzung: Integration in den (Wohn-)Alltag Die Verwendung von Souvenirs als Mitbringsel für andere soll im Folgenden weitestgehend ausgespart werden. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Integration von Reiseandenken und Souvenirs in das eigene Lebensumfeld.3 Die Erforschung der „Biografien“ von Souvenirs und Reiseandenken erfordert Zugang zu privaten Bereichen des Zuhauses, verbunden mit persönlichen Interviews und dichter Beschreibung. In besonders intensiver Weise erreichen dies Nigel Morgan und Annette Pritchard (Morgan/Pritchard
Ungewöhnliches“ (Thurner 1994: 3). Wesentlich weiter ist hingegen Konrad Köstlins Begriffsbestimmung (Köstlin 1991: 196). 2 Das empirische Material zu diesem Beitrag stammt zum Großteil aus 50 Interviews, die Studierende unter Verwendung eines gemeinsamen Frageleitfadens im Rahmen meiner Lehrveranstaltung „Reiseandenken und Souvenirs“ im Wintersemester 2007/08 am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz führten. 3 Speziell den Unterschieden beim Erwerb von Souvenirs hinsichtlich ihrer Funktion als Geschenk beziehungsweise für den eigenen Bedarf gehen zum Beispiel Kim/Littrell (2001) und Michalkó/Rátz (2006: 85) nach.
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2005) durch einen autoethnografischen Zugang mit einer Kombination aus Selbstreflexion und Dialog.4 Die Wichtigkeit von Objekten im Rahmen der eigenen Biografie und der Lebensstilisierung ist jedenfalls unbestritten und Nigel Barley (Barley 1990: 44) geht sogar so weit zu sagen, „we need material objects to confirm our social identity“; und sogar westliche Armut ließe sich „as being unable to sustain a proper identity through possessions“ definieren. Gerade der immaterielle Besitz – das kulturelle Kapital im Bourdieu’schen Sinn –, den Reiseerfahrungen darstellen, lässt sich bestens durch den Besitz von materiellen Souvenirs dokumentieren.
Erinnerung Die primäre und namengebende Funktion des Souvenirs, das Erinnern, nimmt gerade bei den Souvenirs im Wohnbereich (im weiteren Sinne) sehr unterschiedliche Gradationen an. Behalten herausragende Reiseandenken wie ein Bild, dessen Erwerb aus finanziellen Gründen die Abkürzung der Hochzeitsreise nach sich zog und nun prominent im Wohnzimmer platziert ist, auch nach 20 Jahren noch ihre Erinnerungsfunktion, die in diesem Fall durch den Anlass der Reise gewissermaßen ritualisiert ist, so verlieren andere diese Funktion mehr oder weniger schnell und stark. Eine 24-jährige, aus Deutschland stammende Grazer Studentin stellt zum Beispiel fest, dass das Tuch, das sie von einer Amsterdamreise mit ihrem Freund mitbrachte, für sie „viel zu sehr ein Gebrauchsgegenstand“ geworden sei, um sie jedes Mal an Amsterdam zu erinnern. Andererseits besitzt sie zwei Porzellankätzchen, die sie sich als Kind im Urlaub in einem kleinen Laden aussuchen durfte und die sie wegen ihres großen Erinnerungswertes trotz diverser Beschädigungen nie wegwerfen würde. Das T-Shirt, von Cullum-Swan und Manning in seiner Vielschichtigkeit decodiert (Cullum-Swan/Manning 1994), stellt für eine vielreisende Akademikerin (55) den Übergang vom Souvenir zum Alltagsgegenstand dar, ihr Standardsouvenir, das jedoch diesen Charakter verliert und zum Alltagsgegenstand mutiert. Gewissermaßen ein vorbestimmtes Ablaufdatum haben Reisemitbringsel aus dem kulinarischen Bereich. Ihre Verweildauer im Wohnumfeld ist von vorneherein begrenzt; sie können höchstens wie die schon fast überstrapazierte „Madeleine“ Marcel Prousts aufgrund ihrer außergewöhnlichen Qualität als „Souvenir“ (in der ursprünglichen Bedeutung) erhalten bleiben. Doch dies ist – so zeigen die Interviews – viel eher bei einem kulinarischen 4 Dieser Zugang erwies sich auch in der Vorbereitungsphase zur vorliegenden Untersuchung als wichtiger Schritt für die Studierenden, um ihre eigene Position abzuklären.
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Genuss während des Urlaubs zu erwarten als bei mitgebrachten Speisen, die von vielen Befragten als eher enttäuschend beschrieben werden, da sie oft nicht dem Original entsprechen und wenn doch, die dazu passende Umgebung fehle. Jedoch können auch Speisen, von denen man es nicht unbedingt annimmt, durchaus erfolgreiche Reisemitbringsel sein und somit Andenkencharakter erlangen. So importierte eine Controlling-Angestellte (24) noch in ihrer Studienzeit Fleisch aus Chile, „weil’s einfach besser schmeckt und viel günstiger ist als in Österreich.“ Diese Steaks wurden dann bei verschiedenen besonderen Anlässen für Festessen verwendet. Ein kulturinteressierter Arbeiter und Individualreisender (38) brachte aus einem kanadischen Souvenirladen (wegen der besseren Qualität!) Lachs in einer speziellen Vakuumverpackung mit und besonders Gewürze samt entsprechenden Behältnissen werden importiert und in den Alltag integriert. Eine spezielle Bedeutung kommt Souvenirs zu, die im Zuge von „Selbstfindungsreisen“ erworben wurden. Egal, ob die Reise als solche geplant war oder sich auf ihr etwas ereignet hat, das wesentlich für das weitere Leben war: Diese Souvenirs stehen nicht nur für die Reise per se, sondern für einen Bruch in der Biografie, der positiv, aber auch negativ konnotiert sein kann und der vielfach durch entsprechende Objekte, die durchaus den Rites-dePassage-Objekten zuzuordnen sind, in der Wohnumwelt dokumentiert wird (vgl. dazu Kuntz 1990: 63f., 74). Im individuellen, mobilen Urlaub mit Wohnwagen oder Wohnmobil wird eine besondere Erinnerungsfunktion durch das Applizieren von Aufklebern erreicht, die den Weg des Fahrzeugs und damit seiner Besitzer dokumentieren. Diese Usance aus früheren Automobilistentagen (vgl. zum Beispiel das „Glockner-G“ der 1950er Jahre, das Bezwinger der GroßglocknerHochalpenstraße gern auf der Windschutzscheibe anbrachten, Tschofen o. J. [2004]) ist teilweise bei – vorwiegend eher alternativ orientierten – Reisenden und bei Buslenkern noch zu finden.
Präsentieren – Sammeln – Verbergen Fotos sind zweifellos eines der beliebtesten Reiseandenken und „ob sie der Erinnerung, der Kommunikation, der Selbstdarstellung, der Legitimation des Reisens oder dem Familienkult dienen, sie sind fester Bestandteil fast jeder Biographie“ (Schwarz 1984: 94). Im Gegensatz zur stärker normierten Ansichtskarte „a photograph contains a subjectively mediated content and composition“ (Albers/James 1988: 139) und ist auf diese Weise individu-
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eller, selbst wenn tausende von Touristen das gleiche Motiv „schießen“ (Schurian-Bremecker 2001).
Abb. 1: Fotos als Reiseandenken sind in Alben eine weniger „öffentliche“ Dokumentation des Reisens als an Wänden oder am Desktop des Arbeitsplatz-PCs, Foto: Helene Silberschneider.
Die private Fotografie ist zum überwiegenden Teil Urlaubsfotografie und macht in den letzten Jahren einen entscheidenden Wandel mit. Das klassische analoge Foto auf Papier – zunächst schwarz-weiß, dann farbig – bot unterschiedliche Möglichkeiten der Aufbewahrung: einerseits die Zusammenstellung von Fotoalben, die – mit mehr oder weniger Text versehen – die Bilder in einen besonderen Kontext stellte und so auch für nicht an der Reise Beteiligte verständlich machen konnte (vgl. dazu Mandel 1996: 165-210), andererseits Kuverts und Schachteln, in denen die Fotos beschriftet oder unbeschriftet, sortiert oder unsortiert aufbewahrt wurden. Die „Adelung“ eines Fotos war und ist es, als (gerahmte) Vergrößerung an der Wand zu landen. Die Qualität der Fotoausrüstung und der Aufwand, der für die Fotos getrieben wird, spielen dabei offensichtlich keine Rolle. Ein 38-jähriger Individualreisender, der mit Spiegelreflexkamera und Stativ fotografiert und die aufgehängten Fotos ständig wechselt, verhält sich in dieser Hinsicht ähnlich wie andere, die sich mit einfachen Kompaktkameras zufrieden geben. Mit der Digitalisierung der Fotografie setzt jedoch ein
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wesentlicher Wandel ein.5 Zwar werden auch digitale Fotos oft ausgearbeitet, in Alben geklebt oder an Wände gehängt, aber der Großteil landet auf der Festplatte. Hier kann er liegen, ohne Platz zu benötigen, ohne dass man sich über Umschläge mit unbeschrifteten Fotos ärgern muss oder, wie es eine 47-Jährige ausdrückt: „Es ist einfach praktischer“. Fotos verschwinden also auf diese Weise aus der Wohnumgebung; digitale Fotos werden in dieser in ihrer Immaterialität zunächst nicht mehr wahrgenommen. Erst am Desktop, der häufig mit einem Bild oder mit Bildern des letzten Urlaubs versehen wird (sogar bei einer 52-Jährigen, die gern Kulturreisen unternimmt, die Entwicklung zur Digitalfotografie sehr bedauert und kaum Souvenirs in ihrer Wohnung hat), werden sie quasi wieder materialisiert und zugleich – am Arbeitsplatz – auch einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht. Eine noch wesentlich stärkere Öffnung erfreut sich – bei unserer Befragung noch ausschließlich unter Studierenden – einer immer größeren Beliebtheit: die Urlaubsfotos auf verschiedenen Internetplattformen einer allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wie sehr diese Angebote außerhalb des Bekanntenkreises, der über das Hochladen informiert wird, genutzt werden, wäre eine eigene Untersuchung wert. Ähnlich wie die Fotos entdinglicht werden, werden es die Urlaubsgrüße. Konnte noch 1993 Christiane Cantauw-Groschek (Cantauw-Groschek 1993) über Ansichtskarten an die Arbeitsstelle schreiben, so wird das Schreiben von Ansichtskarten zunehmend von elektronischen Nachrichten in Form von SMS und MMS verdrängt. Dabei ist dies kein Phänomen, das auf die heutige Studierendengeneration und darunter beschränkt bleibt, sondern eines, das auch bei Senioren zu finden ist, die die komfortable Mitteilung über ihr Wohlbefinden der Mühe des Kaufes von Karte und Marke sowie dem Finden eines Postkastens vorziehen. Umgekehrt schicken sich vereinzelt sogar Studierende selbst Ansichtskarten – von Bjarne Rogan in ihrer Vielfältigkeit zurecht als „entangled Objects“ (Rogan 2005) bezeichnet –, da sie gern welche bekommen und sie zur Dekoration an (Pinn-)Wände hängen; und das, obwohl es keine besonderen sind, sondern nur jene, die beim Schreiben übrig bleiben. Andenken an Urlaube und Reisen, die häufig die positivsten Perioden des Jahres darstellen, sind dazu prädestiniert, im „Lebensmuseum“ (Köstlin 1994) ausgestellt zu werden. Die schon fast als systematisch zu bezeichnende Sammlung von Muscheln eines Hobbytauchers kann dafür ebenso stehen wie eine Vitrine mit verschiedenen persönlichen Objekten, zum Beispiel 5 Auf die Veränderungen im Fotografierverhalten, die Möglichkeit praktisch ohne Mehrkosten wesentlich mehr Fotos zu machen und diese dann zu selektieren (oder auch nicht), kann hier leider nicht eingegangen werden.
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einer Flöte aus Mexiko, die dennoch von der 27-jährigen Besitzerin fallweise gespielt wird. Diese „Botschaften der Dinge im nicht öffentlichen Bereich sind leiser als im öffentlichen Raum, aber genauso eindringlich. Souvenirs, die den ganzen Urlaub in Erinnerung rufen, sagen aus: es war schön“ (Bausinger 2003: 10). Dies bestätigt sich auch bei einer Frau, die viel und gerne reist und Souvenirs von ihren Reisen mitnimmt, so zum Beispiel Sammeltassen, Teller mit dem Bild vom Ferienort oder Löffel mit dem Wappen der jeweiligen Region. Ihre Großmutter, die ebenfalls viel reist, wurde angehalten, aus Platzgründen nur Löffel als Souvenirs mitzubringen, die nun zusammen mit den eigenen in speziellen Löffelhaltern an der Wohnzimmerwand präsentiert werden (Vejda 2005: 166). Hier wird aus dem Sammeln im Rahmen des eigenen „Lebensmuseums“ eine Realiensammlung, die den persönlichen Kontext verlässt und durch die Integration von Mitbringseln anderer eine stärker objektorientierte Ebene erreicht.
Abb. 2: Die Zusammenstellung von Reiseandenken zu einem individuellen Ensemble trifft hier auf den Versuch, durch Kombination mit gewöhnlichen Alltagsdingen den Souvenircharakter zu vermeiden, Foto: Stephanie Stübler.
Sammlungen können jedoch durchaus in freierer Form präsentiert werden, wie etwa Kühlschrankmagnete auf der Dunstabzugshaube zeigen. Diese Sammlung einer 37-jährigen Flughafenangestellten hat zunächst mit einem Verlegenheitsmitbringsel begonnen, wurde dann jedoch sukzessive und immer systematischer erweitert.
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Abb. 3: Magnete erfreuen sich mittlerweile sehr großer Beliebtheit, da sie meist „landestypische“ Motive darstellen, leicht zu transportieren und anzubringen sind, Foto: Helene Silberschneider.
Bei einer pensionierten Lehrerin, die zehn Jahre in der Türkei verbrachte, haben sich so viele Gegenstände aus dieser Zeit angesammelt, dass sie ein umfangreiches Ensemble ergeben, dem sie nichts hinzufügen möchte, da es nur den Gesamteindruck stören würde. Die relative Geschlossenheit dieses Ensembles und der Wunsch nach dessen Ungestörtheit repräsentiert gleichsam die Geschlossenheit der zehn Jahre in der Türkei. Eine Gegenposition zur präsentierten Sammlung ist die bewusste Integration von Souvenirs in das Wohnumfeld, damit diese nicht als solche aus der übrigen Ausstattung hervorstechen. So hat eine 39-jährige selbstständige Hebamme und Anthropologie-Studentin den Wunsch, ihren von den Reisen mitgebrachten Dingen den Souvenircharakter zu nehmen, indem sie sie zusammen mit „einheimischen“ Alltagsgegenständen in die Vitrine stellt beziehungsweise im Alltag verwendet; und eine 27-Jährige findet: „Es ist lustiger, wenn du überall im Raum irgendetwas stehen hast“. Das Bad kann vom Funktionsort für die Körperreinigung bis zum luxuriösen Freizeit-, Genuss- und Wellnessort unterschiedliche Ausprägungen annehmen und so eine gewisse Affinität zu Urlaub und Reisen herstellen, sodass die Verwendung von Reiseandenken zur Ausgestaltung dieses Raumes nahe liegt. Dies beginnt bei der Mitnahme und häuslichen Verwendung von Seifen, Shampoos, Duschhauben und Badeschuhen, die jedoch teilweise, wie zum Beispiel bei einer 56-jährigen Grazer Selbstständigen,
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nur als „Gebrauchsgegenstand, nicht als Erinnerung an das Hotel“ gesehen werden. Das umfasst jedoch auch Handtücher und Bademäntel, von denen der Touristentyp des „Geizigen“ laut Spiegel glaubt, sie „mit dem Zimmerpreis bereits bezahlt zu haben“ (Spiegel Spezial, Urlaub Total, Nr. 2/1997: 141, zit. nach List 1999: 154). 6 Die Ausstattung des Bads kann jedoch auch mithilfe von Reiseandenken erfolgen, die nicht in den Bereich des Halblegalen fallen, sondern mit mehr oder weniger Mühe zusammengetragen wurden. Dies zeigt das Badezimmer der schon erwähnten Hebamme, die von allen Urlauben Steine mitbringt – weit entfernte und nahe Destinationen unterscheiden sich da nur bezüglich der Größe – und sie als Dekoration im Badezimmer (vorwiegend am Boden) verwendet. Diese Anordnung sorgt sowohl optisch als auch funktional dafür, dass man ständig an Urlaube erinnert wird, stellt aber gleichzeitig eine sehr persönliche Form von Erinnerungskultur dar, da das Bad nicht allgemein zugänglich ist und die Steine zumindest für Nicht-Geologen nicht auf den ersten Blick ihre Herkunft und somit die verschiedenen Reiseziele verraten.
Abb. 4: Aus verschiedenen Urlauben mitgebrachte Steine als Gestaltungselement im Bad, Foto: Stephanie Stübler.
6 Die Mitnahme von Gegenständen aus Hotels und die Fragen, wie weit beziehungsweise ab wann es sich dabei um Diebstahl handelt, werden fast jährlich mit Beginn der Reisezeit in den Medien thematisiert.
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Die öffentliche oder verborgene Aufbewahrung von Reiseandenken beschränkt sich nicht immer nur auf das Aufstellen oder Wegräumen. Im Rahmen einer mehr oder weniger engagierten Freizeitkunst werden Mitbringsel teilweise genutzt, um sie zu dekorativen Arrangements zu gruppieren oder aus ihnen eigene „Kunstwerke“ zu gestalten, eine Übung, die – zumindest bei unseren Befragungen – ausschließlich von Frauen gepflegt wurde. Muscheln und Sand sind hier besonders beliebt.
Reiseandenken als Lieblingsgegenstände? Aufgrund ihres besonderen Erwerbs haben Reiseandenken und Souvenirs durchaus das Potenzial in sich, zu „Lieblingsgegenständen“ zu avancieren, wie sie Bernd Oeljeschläger (Oeljeschläger 2000) unter Heranziehung von Villem Flusser beschreibt (vgl. auch Wallendorf/Arnould 1988: 537). Dies kann aus ästhetischen ebenso wie aus praktischen Gründen der Fall sein. So sind für die vielreisende 55-jährige Akademikerin nach ihrer eigenen Aussage Känguru- und Krokodilfiguren sowie verzierte Straußeneier, die im Wohnzimmer aufgestellt sind, Lieblingsgegenstände und Schaustücke, weil sie selbst sie schön findet und nicht, um andere damit zu beeindrucken. Die Bedeutung als Prestigeobjekt, wie sie Hermann Pollig (Pollig 1987: 11) besonders deutlich formuliert hat, wird dennoch nicht ganz außer Acht zu lassen sein.
Abb. 5: Unterschiedlich gestaltete Straußeneier, dazu „passende“ Eierständer und Känguru als Souvenirs von Australienreisen, Foto: Astrid Mönnich.
Die Meinungen über den Stellenwert von Souvenirs differieren durchaus. Für die 24-jährige Studentin sind Souvenirs erst wichtig, wenn sie sich im Alltag bewähren, während „Mitbringsel“ durchaus auch verschwinden
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können. Andere Befragte stellen fest, dass die Wertschätzung für Souvenirs mit der Zeit eher zunimmt, sie oft zu Lieblingsgegenständen werden und der schon erwähnte 38-jährige Arbeiter stellt fest, dass „Leiberl“ (T-Shirts) „sehr beliebt“ sind, „Souvenirs, die man auch trägt“. Bei einer Kanadareise etwa sind Motive wie Ahornblatt oder Elch für ihn auch authentisch und er erinnert sich gut an Einkaufsorte und -umstände.7 Die emotionale Bindung an Souvenirs steigt auch durch den persönlichen Aufwand, den man investiert, um zum Beispiel eine von einer Kubareise mitgebrachte und beim Transport beschädigte Statue wieder zu kleben, die nun dominant in der Küche auf dem Schrank steht. Ebenso kann das Erlebnis des Erwerbs die Bindung an Reiseandenken steigern. Ob es der Einkauf allgemein ist,8 die Mühe (oder das Erlebnis) des Handelns im Bazar, die Gefahr, beim Diebstahl oder Schmuggel entdeckt zu werden, die Stimmung beim Sammeln von Muscheln oder auch das soziale Engagement, das man zum Beispiel durch den Erwerb von Häkeldeckchen bei einer alten Frau gezeigt hat: Alle diese Faktoren können die Bindung an solche Gegenstände und ihren Stellenwert als biografische Objekte stärken.9
Abb. 6: Bei ausgeprägten Urlaubshobbys entstehen oft umfangreiche Sammlungen, von denen hier nur ein kleiner Ausschnitt sichtbar ist, Foto: Stephanie Stübler. 7 Zum Angebot von lokal gebundenen Souvenirs an anderen Orten am Beispiel Kanadas siehe Hashimoto/Telfer (2007). 8 Die Gestaltung des Einkaufserlebnisses stellt auch in der ökonomisch orientierten und angewandten Tourismusforschung eine wichtige Thematik dar. Vgl. zum Beispiel Anderson/Littrell (1995), die das Einkaufsverhalten von Frauen in Abhängigkeit von Lebensform und Alter untersuchen oder Michalkó/Rátz (2006). 9 Speziell zu Reisebiografien und ihrer Auswertung siehe Becker (1998).
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Verpackungen Verpackungen dienen keinesfalls nur praktischen Zwecken, sie sind zunächst wichtig für den Verkauf, indem sie gewisse Vorstellungen transportieren, die denen der potenziellen Käufer angenähert sind. Gerade dadurch können sie im Falle von Reiseandenken einen besonderen Stellenwert erhalten und werden teilweise als solche aufgehoben, wie zum Beispiel eine Zigarrenschachtel und eine Rumflasche aus Kuba. In einem anderen Fall war eine Plastikflasche aus dem Flugzeug zunächst nur Hilfsmittel für den Transport von rotem Sand aus Australien, wurde aber zu einem wesentlichen Teil dieses Reiseandenkens. Besonders bei vergänglichen Mitbringseln wie Speisen, Getränken und Rauchwaren, aber auch bei Produkten zur Körperpflege, stellt die aufbewahrte Verpackung die materielle Verbindung zur Erinnerung dar, egal ob sie nun (wie eine Ansammlung von Flaschen) gut sichtbar oder (wie die Spezialverpackung für den kanadischen Lachs) im Verborgenen aufbewahrt wird.
Fehlkauf, Nichtverwendung und Ende von Souvenirs Die gänzlich andere Situation des Urlaubs oder der Reise im Vergleich zum Berufs- und Privatleben zu Hause und die erhöhte Bereitschaft, aufgrund der besonderen Situation mehr Geld auszugeben, führen auch zu Käufen, die nach dem Ende der Reise mehr oder weniger als unnötig, wenn nicht als Fehlkauf bezeichnet werden oder, wie es die 56-jährige Akademikerin ausdrückte, die zu Hause ihren Charme verlieren. Dazu gehören Ringe, die seit 15 bis 20 Jahren ungenutzt in ihrer Verpackung liegen ebenso wie Weihrauch, der nie verwendet wurde oder Pflanzensamen, die nie eingepflanzt wurden. Das Schicksal dieser Dinge ist, dass sie meist in Kästen oder Laden verschwinden und damit oft auch aus dem Gedächtnis. Es gibt allerdings darunter Objekte, die zwar aus dem alltäglichen Wohnambiente verschwinden, jedoch aufgrund ihrer spezifischen Semantik im Gedächtnis haften bleiben, da sie mehr oder weniger tabuisiert werden: Zum Beispiel ein teures Lederkostüm, das eine heute 47-jährige Angestellte bei einem Rom-Urlaub mit einer Freundin erworben, aber nie getragen hat, da es kurz danach wegen eines Streits zum Bruch mit dieser Freundin kam, wodurch sich die ganze negative Dimension des Urlaubs in diesem Gegenstand kondensierte. Gerade für Vielreisende mit begrenztem Wohnraum stellt die Unterbringung von Reiseandenken früher oder später ein Problem dar. Die Strategien des Umgangs damit sind vielfältig. Das Ersetzen älterer durch neuere Souvenirs stellt wohl die häufigste Strategie zur Reduktion des Platzbedarfs dar und die meisten Befragten stellen auch fest, dass ältere Reiseerinnerungen
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durch neue überlagert werden und so auch die dazugehörigen Objekte an Bedeutung verlieren. Die ausrangierten Dinge wandern entweder gleich in den Müll oder werden verräumt, womit die Möglichkeit einer neuerlichen Heranziehung – zumindest theoretisch – bestehen bleibt. Eine ehemalige Verlagsangestellte (67), entledigte sich fast aller ihrer zahlreichen Souvenirs von unterschiedlichen Reisen durch Wegwerfen oder Verkauf, da sie der Souvenirproduktion und des, wie sie meint, immer aggressiveren Souvenirhandels überdrüssig wurde (Pöttler 2002: 14).
Resümee Wenn man davon ausgeht, dass das Souvenir als speziell für Touristen gefertigtes Objekt „nicht nur kulturelle Elemente des Reiselandes, sondern auch kulturelle Elemente des Herkunftslandes des Touristen“ enthält (Thurner 1994: 2), so ist bereits eine Vorbedingung für die Integration in das eigene Wohnumfeld gegeben. Dabei kann es durchaus zu einer gewissen „Bedeutungsspaltung“ kommen: Die allgemeine gesellschaftliche Bedeutung eines Souvenirs, die auf ein Land oder eine Kultur verweist, aber natürlich ebenso auf das ökonomische Kapital des Reisenden, um sich bestimmte Destinationen leisten zu können, steht der individuellen Bedeutung gegenüber, die sich nur dem Eigentümer erschließt und nur auf dem Weg der direkten Kommunikation anderen vermittelt werden kann. Diese geht beim Verschenken oder Vererben des Objekts in der Regel jedoch verloren. Gerade die individuelle Bedeutung ist konstitutiv für jene Reiseandenken, die nicht als solche produziert und erkennbar sind, sondern aus individuellen Gründen diesen Status erlangen. Reiseandenken im weiteren Sinn stellen immer auch biografische Objekte dar, die, wie Beverly Gordon (Gordon 1986/1987: 139) im Anschluss an Leach formuliert, als „metonymic signs rather than metaphoric symbols“ funktionieren und für prinzipiell positiv konnotierte Zeiten stehen. Sie werden daher gern gut sichtbar platziert und für eine Vielreisende ist es wichtig, Fotos der Urlaubsorte schon beim Frühstück zu sehen. Wie insgesamt der Erwerb von und besonders die Suche nach Reiseandenken bei Frauen wesentlich stärker ausgeprägt ist und von Männern teilweise ganz abgelehnt wird, so sind es mehrheitlich auch die Frauen, die für das Aufstellen im Wohnbereich zuständig sind (vgl. auch Bourdieu 2005: 172f.). Vor allem der Wunsch nach bestimmten Lebens- und Genussmitteln ist jedoch sehr stark vom Ambiente abhängig und wird darüber hinaus oft von der Werbung gefördert (vgl. Rolshoven 2001), sodass sich beim Konsum in den eige-
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nen vier Wänden nach dem Urlaub meist nicht das im Urlaub imaginierte Wohlgefühl einstellt. Gebrauchsgegenstände mit Andenkenfunktion verlieren diese teilweise, können andererseits jedoch die Qualität von „Lieblingsgegenständen“ erreichen und generell beeinflussen Vorlieben und Hobbys (wie Kleidung, Schmuck, Pflanzen) auch im Urlaub Auswahl und Erwerb von Reiseandenken sehr stark. Insgesamt zeigt sich, dass zwischen dem Wohnstil und der Art des Urlaubs eine hohe Affinität besteht, selbst wenn Urlaub teilweise als „Gegenwelt“ gesehen wird. Aber die Parallelen etwa zwischen einem eher alternativen Lebensstil und Individualreisen, zwischen einem einfacheren Lebensstil und zum Beispiel Buspauschalreisen mit einfachen Hotels zeigen sich doch deutlich. Die Aussage, „studies show that the tourist public’s understanding of the people they visit is subject to stereotyping and therefore souvenirs consist of condensed or simplified visions of their lives“ (Graburn 2000: xiii), legt ebenso eine gewisse Korrelation zwischen speziell produzierten Touristensouvenirs und wenig an der regionalen Kultur interessierten Reisegewohnheiten nahe. Dies zeigt sich auch bei der Integration von Reiseandenken und Souvenirs in das Wohnumfeld: Das gut sichtbar aufgestellte Reiseandenken als symbolische Repräsentation von Reise und Urlaub findet sich für die einfache Pauschalreise etwa in Form der bulgarischen „Muscheleule“ eines 66-jährigen pensionierten Bauarbeiters – die außerdem von der Platzierung her gewissermaßen den Herrgottswinkel ersetzt –, ebenso wie sie für die hochpreisige Individualreise in Form von Straußeneiern oder für den Tauchurlaub als Muschelsammlung vorhanden sein kann; und bei einem Ehepaar, das vorwiegend Cluburlaube in Ferndestinationen macht, ist sogar der mitgebrachte Sand nicht selbst gesammelt, sondern in Form eines fertigen Souvenirs vorhanden. Ethnisch interessierte Reisende versuchen hingegen in der Regel, den typischen, speziell für Touristen produzierten Waren zu entkommen und sind so meist auf der Suche nach möglichst großer Authentizität, auch wenn diese recht unterschiedlich definiert wird. Der Aspekt der symbolischen Aneignung eines Landes für das eigene Lebensumfeld ist bei ihnen jedoch deutlich stärker ausgeprägt als bei Erholungsurlaubern.
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„Made in Berlin“ Souvenirs nach der Jahrtausendwende Anja Früh
„Souvenirs aus Designerhand. Gewöhnliche Souvenirs sind out – Designerware begeistert den Markt. Die neuen Artikel werden in kleinen Berliner Künstler-Ateliers produziert. [Nana Yuriko in dem] Team von ‚Berlin Tourist Information International‘ interessiert sich für andere Wahrzeichen. (...) Mit ihrem mobilen Kiosk touren sie durch die Stadt und internationale Messen. Sie präsentieren die Ideen junger Designer. Ihr eigenes Produkt ist das Berlin-Label. (...) ‚Wir (...) haben gesagt: (...) als Hommage an das ‚I love New York‘, wir setzen den Fernsehturm in Verbindung mit Berlin und als neues Symbol für die Stadt‘.“ (Stein 2005)
Abb. 1: Ein von Nana Yuriko gestaltetes Shirt unter dem Label „we love souvenirs“ aus dem Geschäft „ausberlin“ (Berlin/Alexanderplatz), Foto: Anja Früh.
Das oben abgebildete T-Shirt ist ein Schlüsselobjekt meiner Studie, die Prozesse des gegenwärtigen städtischen Wandels in Berlin am Beispiel touristischer Objekte thematisiert. Unter dem Slogan „I love Berlin“ wurde es von
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der Multimedia-Künstlerin Nana Yuriko gestaltet.1 Derartige Erzeugnisse von Kreativschaffenden für den Souvenirmarkt betrachte ich im Hinblick auf ihren Beispielcharakter für eine Vielzahl von Nischenprodukten, die nach der Jahrtausendwende entstanden sind. Welche Merkmale sind charakteristisch für diese Objekte? Worin zeigt sich die Spezifik dieser Entwicklungstendenz in Berlin unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Stadt? Die folgenden Ausführungen zum Thema „Dinge auf Reisen“ basieren auf empirischen Daten, die ich in den Jahren 2005 bis 2007 erhoben habe.2 Im Folgenden möchte ich mich im Speziellen mit der Frage beschäftigen, inwiefern das empirische Material Anregungen bietet, den Begriff „Souvenir“ aus kulturanthropologischer und sachkultureller Perspektive neu zu überdenken. Der Aufbau des Artikels gliedert sich dabei wie folgt: Da bereits die Verwendung der Objektkategorie „Souvenir“ einen ersten Schritt der Bedeutungszuschreibung darstellt, die den Forschungsgegenstand mitstrukturiert, möchte ich zunächst die grundlegende Fragestellung und die Verwendung des Begriffs „Souvenir“ im Forschungsprozess näher erläutern. Unter Punkt 2 werde ich die Fragestellung anhand des empirischen Materials unter drei Aspekten diskutieren: Zunächst im Hinblick auf die Souvenirgestalter und die diskursive Inszenierung der Objekte „made in Berlin“ sowie daran anschließend im Hinblick auf die symbolischen Effekte am Beispiel der Wahrzeichen, die eine Vielzahl jener „Souvenirs“ repräsentieren.
1. Zum kulturanthropologischen Begriff „Souvenir“ Michael Hitchcock begreift Souvenirs als Erinnerungsstücke, die sich auf Ort und Zeit beziehen und mit einem Reiseerlebnis sowie der Idee religiöser 1 Die japanisch-deutsche Filmemacherin und Video-/Multimedia-Künstlerin wurde 1973 in München geboren und hat ihre Jugend in Asien verbracht. Sie lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Berlin. Die Vorlage für Yurikos Entwurf geht auf das Design von Milton Glaser zurück. Der Grafikdesigner entwarf das Logo 1977 als Auftragsarbeit im Rahmen einer Marketingkampagne für die Stadt New York. In Yurikos Entwurf wird das Subjekt des Slogans „I“ durch das Symbol des Berliner Fernsehturms ersetzt. 2 Das verwendete empirische Material bildet die Grundlage meiner Magisterarbeit mit dem Titel „Urbane Wahrzeichen. Zur Materialisierung von Lokalität in Berlin nach 1989. Eine Fallanalyse emblematischer Souvenirs.“ Die Fragestellung wurde inspiriert durch ein Ausstellungsprojekt des Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, Paris/Marseille, in welches ich 2005 involviert war. Die Idee des komparativ angelegten Projektes ist, Prozesse urbanen Wandels an touristischen Objekten zu thematisieren. Mein Beitrag zu dem Ausstellungsprojekt bestand darin, eine Berlin-spezifische und gegenwartsbezogene Fragestellung zum Thema „Souvenirs“ zu entwickeln.
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Pilgerreisen verbunden sind. Sie seien mit einem generalisierten Bild von Kultur verknüpft. Seine Sicht auf Souvenirs als „generalized objects of the developing world“ (Hitchcock/Teague 2000: 4) folgt der verbreiteten Vorstellung von Souvenirs als Reiseerinnerungen des Touristen westlicher Wohlfahrtsstaaten, der in der geografischen und kulturellen Ferne, dem Exotischen, das außeralltägliche Erlebnis und die Erinnerung an dieses sucht. In der ethnologischen Tourismusforschung ist der Konsum von Souvenirs als Ausdruck eines Wunsches nach „authentischem“ Erleben und der Suche nach vermeintlich traditionellen, vormodernen Lebensformen im imaginierten kulturell Anderen ein vielfach diskutierter Gegenstand (MacCannell 1999). Aus dieser Perspektive kann man nach Hitchcock Souvenirs als Objektivationen einer „perceived cultural difference“ deuten, eines Bedürfnisses nach einer definierbaren „Ethnizität“ oder kulturellen Identität (Hitchcock/Teague 2000: 4). Meine Fallanalyse greift diesen Aspekt der kulturellen Differenz auf, verortet ihn jedoch im Kontext der spätmodernen Stadt. Die Soziologin Celia Lury verweist auf neue Formen kultureller Codierungen von Mobilität angesichts einer veränderten Qualität sozialräumlicher Beziehungen von Objekten und Menschen in translokalen Räumen. Diese beschreibt sie aus kulturkonstruktivistischer Perspektive als Teil superorganischer und superterritorialer Kulturen. In diesem fließenden Konzept von Kultur entstehen Räume des Unterwegsseins sowie verschiedene Typen des Reisenden und des Touristen. Lury unterscheidet in diesem Zusammenhang „traveller, tripper“ und „tourist objects“ (Lury 1997).3 Sie untersucht die kulturelle Semantik von Objekten in Bezug auf ein verändertes Verständnis 3 Das „traveller object“ zeichnet sich durch eine indexikalische Referenz zu seinem Ausgangsort aus, beispielhaft sind Formen von Kunsthandwerk und Kunst. Da sich der Status dieser Objekte von einer besonderen historischen, politischen oder religiösen Bedeutung in Beziehung zu National- oder Volkskulturen ableitet, ist der geografische Ortswechsel des Objekts von sekundärer Bedeutung. Während dieses typischerweise (be)stehen bliebe, würden sich die Bilder dieser Objekte bewegen und verändern. Mit der Kategorie „tripper object“ bezieht sich Lury primär auf die massenhaft produzierten Souvenirs und Mementos, aber auch auf gefundene und personalisierte Objekte, wie Fotografien, Postkarten und Konsumgüter, deren Einzelteile an verschiedenen Orten produziert werden. Im Unterschied zu den „traveller objects,“ würde sich die Bedeutung der „Mitbringsel“ vor allem durch den finalen Aufenthaltsort‘ durch ein „Zuhause“ ergeben. „Tripper objects“ seien zudem weniger an spezifische Konventionen und Gesetze von Orten gebunden, als es das Konzept der „traveller objects“ beansprucht. „Tourist objects“ charakterisiert Lury durch ihre selbstreflexive Verortung in der Bewegung. Bild und Objekt würden sich fortwährend gegenseitig authentifizieren, sie seien austauschbar. Lurys Ansatz ist für eine weiterführende Diskussion der Ausgangsfrage zentral. Er kann in diesem Rahmen allerdings leider nur verkürzt angedeutet werden.
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von Tourismus. Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist hingegen die Frage nach der Entstehung spezifischer Formen touristischer Objekte im Kontext der Stadt Berlin nach der Jahrtausendwende. Tourismus und Migration betrachte ich als zusammenzudenkende Faktoren urbaner Transformationsprozesse, die zwei zentrale Referenzpunkte der Fallanalyse bildeten. Das Souvenir im Forschungsprozess Souvenirs sollen zunächst als „hochkomplexe Bedeutungsträger [begriffen werden], die ihren Sinn aus der Platzierung in verschiedenen, miteinander verbundenen Kontexten beziehen“ (Langbein 2002: 52). Diese definitorische Zuschreibung impliziert eine Methodenkombination aus dichter Beschreibung und kontextueller Analyse der Gegenstände in ihren Funktions- und Sinnzusammenhängen, wobei dieser phänomenologische, praxeologische wie biografische Ansatz auch mein methodisches Vorgehen inspiriert hat. Im Unterschied zu Langbein verwende ich allerdings einen stärkeren symbolanalytischen Fokus (Beck 1997) und setzte diesen in Bezug zur Stadtforschung. Es geht also darum, die Entstehung neuer Formen von Objekten für den Souvenirmarkt aus der Perspektive von Gestaltern und Herstellern zu untersuchen. Problemzentrierte und Leitfadeninterviews bilden daher den wesentlichen Teil des Materials. Zu diesem zählen Protokolle teilnehmender Beobachtung sowie ethnografische Skizzen der Orte und Praxen, innerhalb derer die ausgewählten Objekte zu kontextualisieren sind. Der Begriff „Souvenir“ fungiert zunächst als Sammelbezeichnung für ein sehr heterogenes und vielgestaltiges Phänomen sowie als Arbeitsbegriff bei Erhebung und Analyse des Materials. In einem ersten Schritt beleuchtete ich Souvenirs zunächst als Waren in ihren verschiedenen Herstellungs- und Distributionskontexten (Kopytoff 1986). Ergebnis dieser ersten Erhebungsphase ist der Hinweis auf unterschiedliche Bedeutungen von Souvenirs in Abhängigkeit von den jeweiligen Wahrzeichen und ihrem Symbolgehalt. In den Geschäften an Knotenpunkten des Tagestourismus – im Besonderen am Brandenburger Tor und Unter den Linden – orientiert sich das Angebot an der Nachfrage von Touristen und zwar im Sinne nationaler Kategorien.4 Eine klare Tendenz hat sich hier in Bezug auf die Wahrzeichen 4 Die „Amerikaner“ würden Bierkrüge bevorzugen, die das Brandenburger Tor repräsentieren; „Chinesen“ interessierten sich mehr für Souvenirs, die als Überbleibsel der Berliner Mauer angeboten werden; „Mexikaner“ fragten eher nach Andenken, die zugleich einen praktischen Nutzen hätten (zum Beispiel Aschenbecher oder Feuerzeuge) und verschiedene Wahrzeichen der Stadt zeigten, etc. In einem jener Geschäfte ist mir dieser Aspekt sogar ganz konkret an der Anordnung des Warensortiments erläutert worden.
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touristischer Objekte gezeigt: In den Verkaufsstellen der Berlin Tourismus GmbH, die an den Orten des Tagestourismus stark vertreten sind, dominiert die Symbolik des Brandenburger Tors das Warenangebot. Der Hauptanteil dieser Produkte wird vorwiegend in großer Stückzahl in Billiglohnländern produziert. Jene Objekte, die ich im Rahmen der Mikrostudie stark vereinfacht in Abgrenzung zu den nach 2000 entstehenden neuen Souvenirformen als konventionell subsumiere, korrespondieren in erster Linie mit der Nachfrage des Kurzurlaubers oder Tagesausflüglers. Diese Beobachtung schafft eine Verbindung mit dem Begriff des „tripper objects“ (Lury 1997). Sie repräsentieren, so der empirische Befund, den größten Anteil des touristischen Besucherspektrums in Berlin.5 Der Terminus „Design-Souvenir“ ist der Argumentationsweise von Akteuren der Berliner Kreativwirtschaft entlehnt, die Produkte für den Souvenirmarkt herstellen.6 Ich verwende ihn als Arbeitsbegriff für eine Vielzahl eines ganz heterogenen Spektrums von Objekten und Bezeichnungen, die sich grob durch folgende Eigenschaften charakterisieren lassen: Diese Objekte sind Nischenprodukte auf dem Souvenirmarkt. Sie werden sowohl privat, halbprofessionell als auch in Klein- und Kleinstunternehmen hergestellt. Ein Teil der Produktion findet in Zusammenarbeit mit ortsansässigen Firmen statt. Ein sozialräumlicher und zugleich ökonomischer Bezug jener Produkte zeigt sich an Distributionsnetzwerken: Die Manufakturen und Verkaufsorte befinden sich zu einem großen Teil in den Bezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. In diesen Vierteln sind viele der Hersteller angesiedelt und ihre Produkte adressieren sich sowohl an Ortsansässige als auch an Touristen. Für die Gestalter haben Design-Souvenirs in den meisten Fällen auch die Funktion des „self-branding“ (Löfgren/Willim 2005/2006: 6). Das dominierende Marken- und Wahrzeichen ist während des Forschungszeitraums der Ostberliner Fernsehturm. Viele der Herstel5 Quelle: dwif (2001): Wirtschaftsfaktor Tourismus Berlin: 59 Prozent der Besucher sind Tagestouristen. 6 Der Begriff ist in diesem Zusammenhang nicht designtheoretisch zu verstehen. Er markiert primär den Bezug zu den befragten Kleinunternehmern der Berliner Kreativwirtschaft und hat im Zuge der Aufnahme Berlins in das Creative Cities Network und der Verleihung des UNESCO Titels Berlin „City of Design“ 2005 verstärkt Verbreitung gefunden. Bedeutsam in der Argumentationslogik von einem Unternehmer, der seit 2007 explizit „Design-Souvenirs“ anbietet, erscheint seine Distanzierung von einem „Souvenir“, das ein veraltetes Berlinbild repräsentiere. Als Beispiel wird der „Brandenburger-Tor-Ascher (...) ‚made in Taiwan‘“ zitiert; vgl.http://209.85.135.104/ search?q=cache:Aa6crzH9Ny8J:www.boxoffberlin.de/boxoffberlin/downloads_files/ bob_Presse%2520%25231.pdf+Cornelius+Mangold&hl=de&ct=clnk&cd=7&gl=de, (03.08.2007).
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ler werten ihre Produkte „made in Berlin“ durch das symbolische Kapital des Topos Berlin auf. Charakteristisch ist, dass sich diese Objekte jeglicher Kategorisierung im Sinne Lurys entziehen. Sie ähneln jedoch tendenziell den Eigenschaften von „traveller-“ und „tourist objects“ (Lury 1997).
2. Sachkulturelle Logiken von Souvenirs „made in Berlin“ „We are tourists, wherever we are, wherever we go – even at home!“ – Die Macher Der Zusammenhang zwischen dem transnationalen biografischen Hintergrund der Multimedia-Künstlerin Yuriko und der Herstellung von DesignSouvenirs ist exemplarisch für viele der Souvenirgestalter in Berlin.7 Die demografische Struktur der tendenziell schrumpfenden und alternden Stadt ist zugleich durch ein sehr dynamisches Element gekennzeichnet, das sich besonders in den hohen Wanderungsbewegungen der jungen Bevölkerung zwischen 18 und 35 Jahren zeigt. Zwischen 1991 und 2005 verzeichnet die Statistik 1,78 Millionen Zuzüge in diesem Alters-Segment. Ein weiterer demografischer Trend weist Berlin als eine zunehmend internationale Stadt aus.8 Die Produktidee der Design-Souvenirs von Yuriko geht aus einem persönlichen und privaten Zusammenhang hervor: Wie viele Wahlberlinerinnen und Wahlberliner reinterpretiert sie die Symbolik des Fernsehturms als Zeichen für eine neue Wahlheimat, für die sich nach 1989 tiefgreifend wandelnde Stadt. An der materiellen Gestaltung des zunächst persönlichen Objekts zeigt sich eine symbolische Um- beziehungsweise Bedeutungsarbeit, die einen individuellen Bezug zur Stadt markiert. Im Sortiment des Geschäfts „Luxus International“ ist im Untersuchungszeitraum eine Vielzahl von handgefertigten Produkten zu finden, die den Fernsehturm repräsentieren. Von den 120 Ausstellern sind nur 20 ursprünglich aus Berlin. Touristen bilden den Hauptteil der Kundschaft. 9 Bezeichnend erscheinen spezielle Etiketten, die vielen der Produkte zugeordnet sind, denn diese nehmen primär Bezug auf die Aussteller. Die Produktinformationen thematisieren explizit die Aufenthaltsdauer der Gestalter in der 7 Unter dem Motto „We are tourists, wherever we are, wherever we go – even at home!“ präsentiert sich das von der Multimedia-Künstlerin Nana Yuriko initiierte Projekt „Berlin Tourist Information International“, aus dem das oben genannte T-Shirt des Labels „welovesouvenirs“ hervorgegangen ist. Vgl. http://www.touristinformationinternational.com/ home.html, (20.06.2008). 8 http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/demografischer_wandel/downloads/ vortrag_junge_reyer_2007.pdf, (25.07.2007). 9 Interview mit einer Verkäuferin des Geschäfts „Luxus International“, Berlin 05. Juli 2006.
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Stadt: „In Berlin seit ...“. Dem zeitlichen Aspekt wird auf dem Etikett der räumliche nachgeordnet. Es wird nach dem „liebste[n] Platz in der Welt ...“ und in „Berlin“ gefragt. Zudem wird die individuelle Deutung der Objekte durch die Aussteller thematisiert. Hier zeichnet sich somit ein verändertes Gefüge der sachkulturellen Semantik von Souvenirs ab: Ein Bedeutungszusammenhang von Objekt und Symbol, von Souvenir und Fernsehturm kann als eine Form der „Indigenisierung“ gedeutet werden (Appadurai 1994).10 Die emblematischen Objekte haben eine identitätsstiftende Funktion vor allem für ein junges transnationales Publikum sowie für viele Wahlberliner, die sich seit der Wiedervereinigung in Berlin ansiedeln. Souvenirs im klassischen modernen Sinn sind für Ortsfremde gemacht. Die Studie zeigt jedoch, dass die Souvenirs unter den Bedingungen der Stadt im Globalisierungsprozess im umgekehrten Sinn sogar von diesen mitgestaltet werden. Die an Souvenirs geknüpfte Vorstellung von Kultur in einem essentialistischen, „authentischen“ Sinn wird hier hinfällig (Bormann 2001). Der Wert „Authentizität“ wird zunächst durch einen persönlichen Bezug definiert. Er lässt sich weniger an ortsspezifischen Produkteigenschaften festmachen als vielmehr an den Akteuren selbst. Denn das spezifische kulturelle Kapital vieler Produktgestalter, die für den Souvenirmarkt produzieren und aus einem transnationalen Lebensund Arbeitskontext heraus agieren, besteht gerade in der Fähigkeit, kulturelle Bedeutungen in verschiedene Kontexte zu übersetzen (Lury 1997: 80f.). Es ist ein besonderes Merkmal, das an der Entwicklung dieser Nischenprodukte Anteil nimmt. Zur kulturellen Ökonomie von Souvenirs: „Made in Berlin“ Nach der politischen Wende hat sich der Tourismus zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor in Berlin entwickelt. Im europäischen Städtetourismus liegt Berlin hinter London und Paris auf Platz drei. Nach 1989 wird die Förderung des Tourismus zu einem wichtigen Anliegen des Stadtmarketings und zu einem zentralen Instrument der Stadtentwicklungspolitik. Diese Entwicklung hängt mit der Entstehung postindustrieller Städte und der wachsenden
10 Rolf Lindner verweist auf die Notwendigkeit eines „indigenen Symbolismus“, um sich in dem Reichtum von Eindrücken und Erfahrungen in der Stadt zu verorten. Urbane Wahrzeichen als verdichtete Zeichen der Stadt prägen den physischen Eindruck städtischer Realität und verleihen ihr Tiefe. Sie ermöglichen die Einzigartigkeit einer Stadt im Vergleich zu anderen Städten zu beschreiben, sie „hyperrecognisable“ zu machen (Lindner 2006).
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Bedeutung von Stadtimages zusammen (Zukin 1998).11 Die Förderung des Tourismus- und Kultursektors als Teil von Stadtentwicklungsstrategien im Zuge der Deindustrialisierung zeigt sich bereits seit Ende der 1970er Jahre, etwa am Beispiel der Imagekampagne „I love New York“. Der zu Beginn zitierte Rundfunkbeitrag ist ähnlich wie die Reinterpretation des Wahr- und Markenzeichens, die Produktgestaltung und die Inszenierung der Distribution Teil einer Marketingstrategie, die sich selbstreferentiell auf die von Yuriko entworfenen Produkte bezieht. „Souvenirs“ funktionieren unter anderem als „self-branding“ (Löfgren/Willim 2005/2006: 6). In diesem Punkt besteht ein wesentlicher Unterschied zu der Auftragsarbeit von Milton Glaser, der den Slogan „I love New York“ im Rahmen einer Imagekampagne zur Förderung des Tourismus für die Stadt New York entwarf. Inwiefern ist die Entstehung jener „Souvenirs“ nun als Berlin-spezifisch zu verstehen? Yuriko hat das Label „welovesouvenirs“ im Rahmen des Projektes „Berlin Tourist Information International“ gegründet12. Am Beispiel dieses Vorhabens wird der Zusammenhang zwischen der Entstehung von DesignSouvenirs unter postindustriellen Bedingungen und ihrer Verbindung zur Clubkultur (Vogt 2005) des Berlins der 1990er Jahre deutlich. „Berlin Tourist Information International“ ist infolge der von Yuriko kuratierten Ausstellung „represent! Berlin“ entstanden, mit 70 Künstlergruppen der Berliner Kunstund Clubszene auf dem Sonar-Festival 2000, einem Festival für elektronische Musik und multimediale zeitgenössische Kunst, in Barcelona. Im Jahr 2002 präsentiert sich „Berlin Tourist Information International“ während der Love Parade erstmals mit ihrer Verkaufsausstellung in den Berliner Clubs. Die Unternehmerinnen und Unternehmer sind zugleich Gestalterinnen und Gestalter, Produzentinnen und Produzenten und Vermarkterinnen und Ver-
11 „Peoples, cultures and objects migrate”. Mit dieser Perspektive deuten die Soziologen Chris Rojek und John Urry auf die Veränderung des analytischen Zugangs zu den Phänomenen Tourismus und Kultur: Entdifferenzierungstendenzen einer sich zunehmend kulturalisierenden Gesellschaft forcieren die Überschneidung beider Bereiche. Dies zeige sich auch im Wandel der zuvor getrennt betrachteten ökonomischen Sektoren hin zu einer postindustriellen Ökonomie der Zeichen (Rojek/Urry 1997). 12 Vgl. Zitat der Homepage: www.welovesouvenirs.com, (04.01.2007): „Their mission – to spread a message of cultural understanding and to promote the work of local artists, attracting the attention of consumers and professionals from around the world. And so it was, that btii [berlin tourist information international] was born, with their funky mobile kiosk carrying a selected range of products by over fifty berlin creatives, including btii’s very own souvenir collection, we love souvenirs collection. funky and functional must-have souvenirs for people who must have souvenirs.“
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markter ihrer Produkte.13 Die hier betrachteten Nischenprodukte entstehen in Berlin nach der Jahrtausendwende.14 Am Beispiel jener „Souvenirs“ lassen sich veränderte Berlin-spezifische Unternehmensformen zeigen (Lange 2007; Löfgren/Willim 2005/2006: 6): Yuriko zählt sich zu einer „neuen Generation von Souvenirmachern“, deren Motivation, „das Souvenir neu zu erfinden“, sie besonders betont.15 Die Motive „Kreativität und Innovation“ in Bezug auf die Reinterpretation einer Produktkategorie sowie die Gestaltung und Vermarktung sind zentral im Narrativ der Gestalterin. Am Beispiel Yurikos wird, wie etwa am Eingangszitat, die Kommerzialisierung von Kultur deutlich (Lange 2006: 53). Für die Analyse des Falls Nana Yurikos eignet sich das Konzept des „Culturepreneurs“ des Sozialgeografen Bastian Lange, da es ermöglicht, Design-Souvenirs im Zusammenhang mit der ökonomischen Aufwertung von Kultur in der Stadt und den daran beteiligten Akteuren darzustellen. „‚Culturepreneurs‘, das heißt Start-Up-Unternehmer lokaler Kulturindustrien, zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine kulturelle Tätigkeit in Eigenverantwortung mit sozialen Sicherheitsmodi ökonomisch in Wert setzen. Dadurch entstehen unter anderem Clubs, (...) Labels, (...) selbstkuratorisch bespielte Ausstellungsräume, (...) oder (Konzept-)Kunstprojekte“ (Lange 2006: 55). Neben dem Souvenirgeschäft sehen die Künstlerinnen und Künstler die zentrale Aufgabe ihres Projektes darin, eine Plattform für Berliner Designer, Künstler, Modeschöpfer und Musiker zu bieten. Die Entstehung dieser Design-Souvenirs nimmt indirekt Bezug auf das Missverhältnis der Berliner Kulturindustrie. Der Dichte von Kulturschaffenden steht ein begrenztes Maß an öffentlichen Fördergeldern und potenzieller Kaufkraft gegenüber 16 13 Elena Montesinos ist eine Co-Initiatorin von „Berlin Tourist Information International“. Die Besetzung des Projektes verändert sich beständig in Abhängigkeit von konkreten Zielen und Aufträgen. Die spanische Multimedia-Künstlerin wurde 1971 in Genf/Schweiz geboren. Zu ihren zentralen Themen zählen neue kulturelle Ausdrucksformen und Lifestyle. Montesinos hat sich besonders auf Interventionen und Performances im öffentlichen Raum spezialisiert. Ermöglicht wurde ihre Arbeit in Berlin durch ein Stipendium der Schweizer Regierung. Vgl. http://urbandrift.org/projekte/ 2002/nightspace/pro_ud_night_btii.html, (03.06.2008). 14 Interessant wäre, diesen Aspekt in seinen Bezügen zur Krise der New Economy während der Jahrtausendwende weiterzuverfolgen. 15 Interview mit Nana Yuriko, Berlin, 11. Mai 2006. 16 Berlin weist mit 6 Prozent – bezogen auf die Einwohnerzahl – die höchste Dichte an selbstständigen Künstlern in Deutschland auf. Die Anzahl der selbständigen Künstler in Berlin ist seit 2000 um über 40 Prozent angestiegen. Vgl. http://www. berlin.de/sen/waf/register/kulturwirtschaft.html, (08.09.2007). Aus einem Bericht des Kultursenators des Jahres 2004 geht hervor, dass der Senat primär die großen
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und die Struktur- und Haushaltskrise Berlins (Krätke 2004a) macht sich nach der Jahrtausendwende deutlich im Kulturbereich bemerkbar.17 2003 erschien die Publikation „Von der Partei zur Party. 1969-2003. Der Berliner Fernsehturm als grafisches Symbol“ (Berger/Müller/Siewert 2003). Das Buch selbst ist im Forschungszeitraum ein nachgefragtes „Souvenir“. Yuriko ist mit ihrem „Berlinprodukt“ und dem Projekt „Berlin Tourist Information International“ in dem Band neben internationalen Künstlern repräsentiert, die zu diesem Zeitpunkt vor allem im subkulturellen Bereich elektronischer Musik, Grafik, Design und Multimedia-Kunst in Berlin arbeiten. Den Bezug zur subkulturellen Szene des Berlins der 1990er Jahre stellen die Künstlerin und Vermarkter von Design-Souvenirs im neuen Jahrtausend als symbolisches Kapital ihrer Produkte dar.18 Insofern sind diese auch ein „Andenken“ an jene Zeit. In der Beschreibung des Herstellungsverfahrens hebt die Künstlerin besonders hervor, dass es sich um Produkte „made in Berlin“ handelt. Diese Argumentationslogik ist charakteristisch für viele Souvenirgestalter. Sie sind auf das „geographisch-symbolische Kapital des Topos Berlin angewiesen“ (Lange 2006: 11). Der Ort dient ihnen als Ressource für die atmosphärische und symbolische Aufladung ihrer Identität und ihrer Produkte. Weil die Stadt von außen positiv und kreativ bewertet wird, brauchen sie „Berlin“. Sie müssen sich aber zugleich als „Berliner“ oder „Lokalpatrioten“ zu erkennen geben.19 In Yurikos Beschreibung der Herstellungsweise des symbolischen Produktes stellt sich ein Prinzip dar, mit dem Appadurai touristische Kunst charakterisiert, allerdings unter veränderten Bedingungen: „Tourist art constitutes a special commodity traffic, in which the group identities of kommunalen Kulturinstitutionen fördert, zu Lasten der Unterstützung freier Projekte und Künstler. 17 Das Berlin der 1990er Jahre ist gekennzeichnet durch einen massiven Verlust an Arbeitsplätzen im industriellen Sektor. Charakteristisch für das wiedervereinte Berlin sei die wirtschaftliche Entwicklung zur „Medienstadt“, in der sich im Bereich der Kulturindustrie und Medienwirtschaft mehr als 7.000 Unternehmen ansiedeln. Krätke betrachtet darin ein Potenzial, das er zugleich durch die Finanzkrise der hoch verschuldeten Stadt gefährdet sieht. 18 Yurikos Produktpräsentation von 2007 deutet auf die (Neu-)Verwertung der eigenen Arbeit an und in der sich verändernden Stadt: „Once upon a time there were three stewardesses hijacked a bakery van, transformed it into a mobile info and souvenir kiosk and toured the vast and exciting cultural landscape of Berlin“; vgl. www.welovesovenirs. com, (04.01.2007). 19 Vgl. Interview mit Nana Yuriko, Berlin, 11. Mai 2006.; „Unser Erfolg? Wir haben es geschafft, dass Berliner in Berlin Berlin-Souvenirs tragen ...“ E-Mail von Nana Yuriko: Peking, 23. April 2006.
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the producers are tokens for the politics of consumers“ (Appadurai 2001: 47). Ich begreife Konsum als ein relationales, aktives und soziales Konzept (ebd.: 29ff.). Versteht man Angebot und Nachfrage unter dem Aspekt interdependenter Kommunikationsprozesse, so wird deutlich, dass nicht nur Konsum als das Versenden und Empfangen sozialer Botschaften gedeutet werden kann, sondern, dass auch die Anbieter, die Produzenten als Kommunikationspartner integraler Part in diesem Prozess sind. Dieser kann als ökonomischer Ausdruck von Werten aufgefasst werden, die Produzenten und Konsumenten aushandeln. Während Appadurai tendenziell von einem klassischen Begriff touristischer Kunst ausgeht, als Objekte des Anderen, werden hier symbolische, vergemeinschaftende und zugleich ökonomische Effekte der Reinterpretation des Objektes und Symbols „Souvenir“ deutlich. Bezeichnend für eine veränderte Bedeutung des Begriffs „Souvenir“ ist im vorliegenden Fall, dass „die anderen“ die Touristen, aber auch länger ansässige Wahlberliner oder Berliner sein können. Souvenirs des „Neuen Berlin“ und ihre Wahrzeichen Die politische Wende hat den Verlust der jeweils gültigen Stadtimages und in diesem Sinn auch die Umcodierung bedeutungsvoller Symbole und Wahrzeichen bewirkt. Während das Brandenburger Tor mit großem Konsens als das Wahrzeichen der neuen Hauptstadt und als nationales Symbol wahrgenommen wird, entfällt gerade diese Konnotation des Berliner Fernsehturms als ehemaliges Wahrzeichen für Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Nach 1989 ist dessen Bedeutung nicht mehr klar definiert und somit offen für neue Interpretationen. Wie Yuriko begreifen viele der Gestalter von touristischen Objekten die Symbolik des Berliner Fernsehturms als Zeichen für das „Neue Berlin“. Dieser Topos ist mit der Kampagne der 1994 gegründeten Marketinggesellschaft „Partner für Berlin“ verbunden. Unter dem Motto „Neues Berlin“ entwirft die Gesellschaft zwischen 1996 und 2002 ein neues globales zeitgenössisches Konzept mit dem Ziel, ein einheitliches Berlin-Bild zu kreieren und das Image der Stadt als führende wettbewerbsfähige, zukunftsorientierte und internationale Metropole zu entwickeln (Farias 2005; Binder/Niedermüller 2006). Der Kulturanthropologe Ignacio Farias hebt den Anspruch des Stadtmarketings hervor, auf die imaginären Repräsentationen der Stadt einzuwirken (Farias: 2005). 20 Das Beispiel der Souvenirs, wie dem T-Shirt Yurikos oder der 2003 erschienenen 20 Die Berlin Tourismus Marketing GmbH ist seit 1992 mit der weltweiten Bewerbung des touristischen Angebots des Landes Berlin beauftragt. Sie versteht sich als „führende Marketingorganisation des Berlin-Tourismus“. Vgl. http://www.berlin.de/imperia/
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Publikation „Von der Partei zur Party. 1969-2003. Der Fernsehturm als grafisches Symbol“ (Berger/Müller/Siewert 2003), das kurz nach der Jahrtausendwende entsteht, nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf unterschiedliche Lesarten dieses Topos. Für viele der Künstler repräsentiert das Symbol nicht nur eine kulturell heterogene, veränderbare und gestaltbare Stadt, sondern auch explizit das Wahrzeichen für das „Neue Berlin“ 21, während die Berlin Tourismus Marketing GmbH „Das Brandenburger Tor [als] das Wahrzeichen der Stadt“ darstellt.22 Der empirische Befund zeigt, dass in den „‚objects‘ of urban tourism“ die hybriden Wahrnehmungen der Stadt der zugewanderten Hersteller zum Ausdruck kommt (Rath 2007).23 Indem die Akteure in ihren Arbeiten die Symbolik des Fernsehturms mit der Vorstellung von Berlin als eine im Wandel begriffene, veränderbare und gestaltbare Stadt verbinden, haben sie Anteil an einer symbolischen Umbeziehungsweise Bedeutungsarbeit. Neben den bereits oben angedeuteten sozial wie ökonomisch relevanten Effekten dieser Arbeiten, zeigt sich eine repräsentationslogische Wirkung: Durch die materialisierten Entwürfe und die Verwertung eines veränderbaren und gestaltbaren Stadtbildes werden die Hersteller jener Souvenirs selbst zu Akteuren dieses Wandels. Im Unterschied zu den Souvenirgestaltern der „ersten Generation“, deutet der empirische Befund der Jahre 2006 und 2007 auf eine Folge der symbolischen Reinterpretationen zu Beginn des Jahrtausends: So haben sich sowohl Produkte des Kreativsektors als auch industriell gefertigte Produkte der Gattungsmarke Souvenir mit dem Fernsehturmsymbol, als ein Wahrzeichen für das „Neue Berlin“, auf dem Souvenirmarkt etabliert. Sich md/content/senatsverwaltungen/senwaf/publikationen/tourismuskonzept.pdf, 09. 2007).
(03.
21 Vgl. Interview mit Stephan Schmidt, Fotodesigner und Geschäftsführer des DesignSouvenir Geschäfts „Box off Berlin“, Berlin, 23. Juli 2007. Der empirische Befund zeigt, dass „Design-Souvenir“ von Herstellern und Händlern mit dem Bild des „Neuen Berlin“ und nach 2005 auch mit dem Image Berlins als „UNESCO Stadt des Designs“ verknüpft wird. 22 Vgl. Homepage der Berlin Tourismus Marketing (BTM) GmbH. http://www.visitberlin. de/cgi-bin/sehenswertes.pl?id=13340, (23.06.2008). Dieser Aspekt korrespondiert mit meinen Beobachtungen zur Distribution der Wahrzeichen im Kontext des Berliner Souvenirmarktes: In den Filialen der Berlin Tourismus Marketing GmbH dominierte die Symbolik des Brandenburger Tors. 23 Anlässlich der Berliner Design-Messe „Design-Mai“ 2004 entwirft Yuriko mit dem Team „Berlin Tourist Information International“ eine Berlin-Flagge, die das Design „I love Berlin“ für eine Vielzahl weiterer Städte dekliniert: „I love Barcelona“; „I love Tokio“ etc. Vgl. http://www.touristinformationinternational.com/souvenirs.html, (20.06.2008).
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professionalisierende Künstler integrieren das Fernsehturmmotiv mit der Intention, ihre Produkte durch ein daran geknüpftes symbolisches Kapital aufzuwerten. Für Experten aus der Kunst- und Galerienszene hat die Symbolik des Fernsehturms hingegen an Geltung verloren, da es inzwischen als „zu touristisch“ und kommerziell eingeschätzt wird.
Fazit Souvenirs im klassischen modernen Sinn sind für Ortsfremde gemacht. Die Studie zeigt, dass sie unter den Bedingungen der Stadt im Globalisierungsprozess von diesen nicht nur konsumiert, sondern auch selbst gestaltet werden. Im vorliegenden Fall zeichnet sich somit ein verändertes sachkulturelles Verständnis des Begriffes „Souvenir“ ab. Die emblematischen Objekte haben eine identitätsstiftende Funktion vor allem für ein junges internationales Publikum, für viele Wahlberliner, die sich seit der Wiedervereinigung in Berlin ansiedeln. Eine Bedeutsamkeit jener Souvenirs lässt sich folglich mit Appadurais Gedanken der „Indigenisierung“ (Appadurai 1994) erklären. Der Wert „Authentizität“ wird im untersuchten Fall primär durch einen persönlichen Bezug und weniger durch historische als durch gegenwartsbezogene ortsspezifische Produktionsbedingungen definiert. Während Appadurai eher von einem klassischen Begriff touristischer Kunst ausgeht, als „Objekte des Anderen“, wird unter den Bedingungen der postmodernen deindustrialisierten Stadt exemplarisch eine zugleich vergemeinschaftende und ökonomische Wirkung der Reinterpretation von Symbol und Objekt deutlich. Am Beispiel Yurioks wird der Zusammenhang zwischen der Entstehung von Design-Souvenirs unter postindustriellen Bedingungen und der Verbindung zur Clubkultur (Vogt 2005) des Berlins der 1990er Jahre deutlich. Die Argumentationslogik, Produkte „made in Berlin“ herzustellen, ist für viele Souvenirgestalter charakteristisch. Weil die Stadt von außen positiv und kreativ bewertet wird, sind sie auf das geografisch-symbolische Kapital des Topos „Berlin“ angewiesen. Yurikos grafische und materielle Interpretation des Slogans „I love Berlin“ deutet exemplarisch auf eine ökonomische Notwendigkeit für viele Gestalter und „Culturepreneurs“ (Lange 2006: 55), die sich nach 1989 in Berlin angesiedelt haben, sich als „Berliner“ erkennen zu geben. Die Symbolik des Ostberliner Fernsehturms ist in den Arbeiten vieler „Souvenirgestalter“ sehr präsent. Sie wird mit dem Topos des „Neuen Berlin“ und dem Bild einer gestaltbaren, veränderbaren, dynamischen, kreativen und internationalen Stadt verbunden. Ein repräsentationslogischer Effekt dieser Um- beziehungsweise Bedeutungsarbeit zeigt sich darin, dass
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die Gestalter, die diese Vorstellung materiell umsetzen, selbst zu Akteuren des Wandels werden.24 Literatur Appadurai, Arjun (1994): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalisation. Minneapolis. Beck, Stefan (1997): Die Bedeutung der Materialität der Alltagsdinge. In: Brednich, Rolf W. (Hg.): Symbole: Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Münster u.a., S. 175-185. Berger, Dirk/Müller, Ingo/Siewert, Sandra (2003): Von der Partei zur Party. 19692003. Der Berliner Fernsehturm als grafisches Symbol. Berlin. Binder, Beate/Niedermüller, Peter (2006): The „New Berlin“: Reconstituting the Past and Envisioning the Future. In: Lenz, Günther H./Ulfers, Friedrich/Dallmann, Antje (Hg.): Toward a New Metropolitanism. Reconstituting Public Culture, Urban Citizenship and the Multicultural Imaginary in New York and Berlin. Heidelberg, S. 217-234. Bormann, Regina (2001): Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Forschung Soziologie. Opladen. Farias, Ignacio (2005): Bedingungen, Semantik und Verortung des Berliner Stadtmarketing. In: Färber, Alexa (Hg.): Hotel Berlin – Formen urbaner Mobilität und Verortung. (Berliner Blätter: Ethnografische und ethnologische Beiträge, 37/2005). Münster, S. 22-31. Hitchcock, Michael/Teague, Ken (2000): Souvenirs: The Material Culture of Tourism. Adlershot u.a. Kopytoff, Igor (1986): The Cultural Biography of Things: Commodization as a Process. In: Appadurai, Arjun (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge/New York, S. 64-91. Krätke, Stefan (2004a): City of Talents? Berlin’s Regional Economy, Socio-Spatial Fabric and ‚Worst Practice‘ Urban Governance. In: International Journal of Urban and Regional Research. 28 (3), S. 511-529. Langbein, Ulrike (2002): Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens. Köln u.a.
24 Ohne die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Nana Yuriko wäre die empirische Arbeit nicht möglich gewesen. Für die konstruktiven Kommentare bedanke ich mich ebenfalls sehr herzlich bei Professor Wolfgang Kaschuba, ganz besonders bei Dr. Alexa Färber, Dr. Ignacio Farias, Christine Nippe und Anne Schaarschmidt sowie den Teilnehmern der Tagung „Dinge auf Reisen“.
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Lange, Bastian (2006): Culturepreneurs in der kreativen Wissensökonomie Berlins: Raumaneignungen und Vergemeinschaftungsformen. In: Umweltpsychologie. 10. Jahrgang. Heft 2, S. 55. Verfügbar unter: http://www.bastianlange.de/Scans_pdf/ Lange_SP_2006.pdf, (16.8.2007). Lange, Bastian (2007): Die Räume der Kreativszenen – Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin. Bielefeld. Lindner, Rolf (2006): The Imaginary of the City. In: Lenz, Günther H./Ulfers, Friedrich/Dallmann, Antje (Hg.): Toward a New Metropolitanism. Reconstituting Public Culture, Urban Citizenship and the Multicultural Imaginary in New York and Berlin. Heidelberg, S. 209-216. Löfgren, Orvar/Willim, Robert (2005/2006): Introduction. In: Dies. (Hg.): Magic, Culture and the New Economy. Oxford/New York, S. 1-18. Lury, Celia (1997): The Objects of Travel. In: Rojek, Chris/Urry, John (Hg.): Touring Cultures: Transformations of Travel and Theory. London, S. 75-95. MacCannell, Dean (1989 [1976]): The Tourist: A New Theory of the Leisure Class, London. Rath, Jan (Hg.) (2007): Tourism, ethnic diversity, and the city. New York. Rojek, Chris/Urry, John (Hg.) (1997): Touring Cultures: Transformations of Travel and Theory. London. Stein, Susanne: So kommt die verschmähte ‚Goldelse‘ vielleicht doch noch zum Zug. Beitrag vom rbb am 05.06.2005. Verfügbar unter: http://www.rbb-online. de/_/fernsehen/magazine/beitrag_druck_kts_jsp/key=beitrag_bi2667865.html, (02.08.2007). Vogt, Sabine (2005): Die Berliner „Clubkultur“ als Produkt lokaler Kulturprozesse und globaler Wirtschaft. In: Färber, Alexa (Hg.): Hotel Berlin – Formen urbaner Mobilität und Verortung. (Berliner Blätter: Ethnografische und ethnologische Beiträge, 37/2005). Münster, S. 44-52. Zukin, Sharon (1998): Städte und die Ökonomie der Symbole. In: Kirchberg, Volker/ Göschel, Albrecht (Hg.): Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur. Opladen, S. 27-40.
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Unter den Objekten in unserem Umfeld kommt den Nahrungsmitteln eine besondere Bedeutung zu, denn, so Jean Baudrillard: „Der Mensch ist (…) mit den ihn umgebenden Gegenständen auf die gleiche innige und intime Weise verbunden wie mit den Organen seines eigenen Körpers, und das Inbesitznehmen des Gegenstandes zielt virtuell immer auf die Wiedergewinnung dieser Substanz durch orale Einverleibung und durch ‚Assimilation‘“ (Baudrillard 2007: 39). Ähnlich konstatiert Gert Selle: „Im Grunde leben die Dinge, indem wir sie an unserem Leben auf das Innigste beteiligen, ja, es von ihnen abhängig machen“ (Selle 1997: 17). Und welche Dinge verinnerlichen wir im wahrsten Sinne des Wortes mehr als diejenigen, die wir essen und trinken? Wessen bedürfen wir mehr als unserer täglichen Ernährung? Dass Essen und Trinken dabei immer weit mehr beinhalten als die Versorgung des Körpers mit lebenswichtigen Nährstoffen, muss nicht betont werden. Unsere Ernährung ist ein komplexes kulturales System, in dem die Strukturen unserer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Die Kost dient der Distinktion, sie ist ein Konstituens sowohl der eigenen kulturellen Identität als auch der Wahrnehmung des Fremden (Köstlin 1975; Tolksdorf 1978): Pizza und Pasta stehen für Italien wie Spätzle für Schwaben oder Marzipan für Lübeck, um nur einige kulinarische Wahrzeichen zu nennen (Gyr 1994: 53-55). Es verwundert daher nicht, dass Ethnophaulismen häufig auf die Küche einer Kultur zielen. Die Nahrung ist ein besonders schneller und direkter Weg, sich eine fremde Kultur anzueignen (Tolksdorf 1981: 19; Hirschfelder 2001: 257), oder, wortwörtlich, sie sich einzuverleiben. Es gibt wohl kaum eine Stadt oder Landschaft, die dem Touristen nicht wenigstens ein „Spezialitätensouvenir“ anbietet (Gyr 1997: 260). Aktuelle westfälische Beispiele sind etwa Münsterländer Korn, Schwerter Hansetrunk, Soester Pumpernickel oder Westfälischer Schinken – ausnahmslos Produkte, die für ein traditionelles,
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ländliches Westfalen stehen und mit Begriffen wie „regional“ und „ursprünglich“ beworben werden. Souvenirs transportieren die Erinnerung an eine Reise, die sie exemplarisch symbolisieren. Sie sind Dinge, „die dem anderen Land, der anderen Kultur entnommen werden“, die „typisch“, also allgemein erkennbar, sein müssen (Köstlin 1991: 131f.). Anhand der Region Westfalen soll hier die kulinarische Dingwelt auf Reisen unter folgenden Gesichtspunkten analysiert werden: Welche Traditionen liegen den Nahrungsmitteln als Souvenirs zu Grunde? Auf welche Stereotype1 wird hier zurückgegriffen, wie werden sie den Reisenden vermittelt? Auf welche Weise eignen sich die Reisenden die Dinge an? Was wird über diese Dinge kommuniziert? Sind Veränderungen feststellbar, und wenn ja, ab wann? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Reisende des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts in ihren Schilderungen überwiegend negative Urteile über Land und Leute Westfalens fällten. Gerade die Beschreibungen von Speisen und Getränken der Region haben einen deutlich pejorativen Charakter. Der niederländische Jurist Arnold van Buchel schrieb 1587/88: „Hier [in der Grafschaft Diepholz, die zum altwestfälischen Gebiet zählte] kann man Hinter- und Vorderschinken sowie Speckseiten in großer Zahl hängen sehen. Das halten die Leute für Schmuck und Reichtum. Und doch sind sie bei dieser Fülle so unhöflich und barbarisch, dass sie nicht einmal in den Herbergen den reisenden Fremden etwas anderes als Schwarzbrot, sauren Wein und übel riechendes Bier verkaufen wollen“ (Schwarzwälder 1987: 254, 260). Auch Voltaire hat Westfalen bereist und sein Bericht fehlt bis heute in kaum einer Veröffentlichung zur regionalen Küche (Schönau 2008). Der Einladung Friedrichs des Großen folgend hatte Voltaire ab 1750 für rund drei Jahre in Berlin gelebt. In einem Brief an Madame Denis berichtete er von seiner Reise an den preußischen Hof: „Bald darauf habe ich die weiten und trübseligen und unfruchtbaren und abscheulichen westfälischen Landstriche durchquert (...). Ein gewisser harter, schwarzer und klebriger Stein, bestehend, wie man sagt, aus einer Art Roggen, ist die Nahrung der Hausherren“ (Voltaire 1785: 243-250). Die Gründe für die abwertende Beschreibung der westfälischen Gebiete, Wohnverhältnisse und Ernährungsspezifika in den Berichten van Buchels, Voltaires und weiterer ausländischer Reisender sind vielschichtig. Tatsächlich hatten Landwirtschaft, Kultur und soziale Ordnung der Region durch den Dreißigjährigen Krieg und seine Begleiterscheinungen sowie durch den 1 Zu Definitionen und Theorien des Begriffs „Stereotyp“ vgl. unter anderem Roth (1999) und Meyer (2003).
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Niedergang der Hanse im 17. Jahrhundert Schaden genommen (Wolf 1983: 567ff.; 599f.). Im Falle der protestantischen Niederländer kam der religiöse Gegensatz zum überwiegend katholisch geprägten Westfalen hinzu. Zudem entstammten fast alle „schreibenden“ Reisenden dieser Zeit einem akademischen Umfeld, das in einem großen kulturellen Gegensatz zu den von ihnen bereisten Gebieten stand. Reiseberichte, Spottverse und Flugschriften formten und verfestigten das bis ins 18. Jahrhundert verbreitete Heterostereotyp vom ländlichen, rohen und rückständigen Westfalen, wo dem Reisenden in den Gasthöfen fürchterliche Speisen und tumbe Hinterwäldler begegneten. Die Verfasser machten ihre Kritik besonders an den kulinarischen Elementen der (Un-)Kultur fest: Während sich der Schinken noch einiger Wertschätzung erfreute, symbolisierte gerade das Schwarzbrot immer wieder die als „barbarisch“ titulierte Region (Gentner 1991: 48). Auf diesem negativen Image hätte eine touristische Vermarktung ab dem Ende des 19. Jahrhunderts schwerlich aufbauen können. Wie kam es also zum Aufbrechen des Stereotyps? Beginnend im 17. Jahrhundert, vor allem aber ab dem 18. Jahrhundert wandten sich westfälische Schriftsteller vehement gegen Kritik, Spott und Schmähungen (Krug-Richter 1995: 256-260; Gentner 1991: 74-91). An diesem Prozess waren nach der Revolution 1789 auch französische Emigranten beteiligt. Abbé Baston schildert in seinen Memoiren, dass Fürstbischof Max Franz, Sohn von Kaiserin Maria Theresia und der letzte Fürstbischof von Münster, „(...) wenn er nach Wien zurückkehrt, soviel wie möglich davon [Pumpernickel] in seinem Wagen mitnimmt, um länger das Vergnügen an dieser Nahrung zu haben“ (Weber 1980: 48). Hier begegnet das Schwarzbrot als Souvenir, das nicht als Kuriosität, sondern als Genussmittel mit in die Heimat reist. Die zum Teil in einem sehr scharfen Ton geführten Wortgefechte zwischen Gegnern und Befürwortern westfälischer Kulinarik fanden im 19. Jahrhundert keine Fortsetzung. Gefördert durch den Geist der Romantik, in dem alles Ländliche für eine Welt stand, die vom zeitlichen Wandel unberührt zu bleiben schien, wurden Schwarzbrot und Schinken von den Schriftstellern nun zu Inbegriffen von Heimat und Identität stilisiert (Krug-Richter 1995: 257). Die agrarischen Erzeugnisse als Symbole der ländlichen, bodenständigen und ursprünglichen Kultur waren zudem Gegenstand der Genremalerei (Ricke-Immel 1996: 11). Die beliebten bäuerlichen Idyllen, die das ländliche Leben verklärt und ideell überhöht darstellten, fanden nicht zuletzt als Folge der zunehmenden Reisetätigkeit eine weite Verbreitung.
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Demnach war es auch nur eine Frage der Zeit, bis die zum Vorzeigegut avancierten Pumpernickel und Schinken auch Gegenstand der Satire wurden: Heinrich Heine wanderte 1820 durch Westfalen, als er von Bonn an die Göttinger Universität wechselte, und besuchte unterwegs Studienfreunde wie Christian Sethe und Fritz von Beughem. Letzterem widmete er ein Gedicht, in dessen erster Strophe er das westfälische Autostereotyp aufgreift: „Mein Fritz lebt nun im Vaterland der Schinken, Im Zauberland, wo Schweinebohnen blühen, Im dunkeln Ofen Pumpernickel glühen, Wo Dichtergeist erlahmt, und Verse hinken“ (Windfuhr 1973: 520). Dessen ungeachtet setzte sich die Umwandlung des negativen Hetero- in ein positives Autostereotyp auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort, begünstigt durch die nationale Begeisterung und das aufkommende Selbstbild der Deutschen als einer natürlich-redlichen Nation. Bei der Einweihung des Dortmund-EmsKanals in Münster am 15. und 16. Oktober 1899 hieß es in einem Lied etwa: „Nun geht der Münsterländer sogar zum Senegal, man speiset Pumpernickel in Persien und Natal“ (Gentner 1991: 91).
Abb. 1: Chromolithograhie (Anfang 20. Jh.), Foto: Volkskundliche Kommission für Westfalen.
Um die vorletzte Jahrhundertwende hatten die westfälischen Spezialitäten schließlich ihren Einzug in die Welt des modernen Reisens gefunden, in der einen wesentlichen Aspekt auch die uns heute wohlbekannten Postkarten einnehmen. In den Gebieten des Norddeutschen Bundes, Bayerns,
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Württembergs und Badens wurde die Postkarte am 1. Juli 1870 eingeführt; der Berner Weltpostvertrag vom 9. Oktober 1874 regelte, beginnend mit dem 1. Juli 1875, die Zulassung der Ansichtskarten im internationalen Postverkehr (Lebeck/Kaufmann 1985: 402f.). Frühe Exemplare griffen zum Teil Motive der Genremalerei auf, wie zum Beispiel eine Karte, die mit „Westfälisches Bauernfrühstück“ untertitelt ist [Abb. 1]: Im Vordergrund ist unter einem großen Baum ein Tisch zu sehen, an dem zwei Frauen und zwei Männer in Tracht sitzen. Auf dem Tisch steht ein Steinhäger-Tonkrug neben einem großen rohen Schinken. Den Hintergrund bildet ein gepflegtes Gebäudeensemble. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts konnten Reisende in Westfalen Postkarten mit Pumpernickel- und Schinkenabbildungen kaufen, die Verse wie: „Seht ihr von fern Westfalen’s Pforten winken, das Land der Pumpernickel und der Schinken? Seid froh willkommen hier auf eurer Reise, und esst mit uns des schönen Landes Speise!“ (Gentner 1991: 108111), zitierten oder das Westfalenlied Emil Rittershaus‘ (Dossmann 2001). Die Verbreitung der Postkarten trug zur Konstituierung der auf dem Autostereotyp basierenden Fremdwahrnehmung Westfalens ebenso bei wie die Veröffentlichungen der Fremden- und Verkehrsvereine. Exemplarisch sei hier die Zeitschrift „Westfalen im Bild. Illustrierte Verkehrs- und Kulturzeitschrift für Westfalen, Ruhrgebiet, Lippe und Osnabrücker Land“ genannt. Der Landesfremdenverkehrsverband Westfalen als Herausgeber formulierte 1934 in der Januar-Ausgabe den Appell an die Leser: „Erst lerne Deutschland, Dein Vaterland, kennen!“ (Landesfremdenverkehrsverband Westfalen 1934: o.S.) und kam damit einem Aufruf des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Goebbels nach (Meyer 2008: 276). Die neu strukturierte Zeitschrift verfolgte mit hoher Auflagenstärke und verhältnismäßig günstigem Preis (ebd.) das Ziel, den „Namen von Westfalen (…) in das übrige deutsche Vaterland heraus[zu]tragen“ (Landesfremdenverkehrsverband Westfalen 1934: o.S.). Allein der Jahrgang 1935 widmete sich verschiedenen „typisch“ westfälischen Speisen, die in meist mehrseitigen und bebilderten Artikeln vorgestellt wurden: „Schinken, Korn und Pumpernickel“, „Pfefferpotthast. Die Leibspeise der Dortmunder“, „Pickert und Stippmilch. Deftige Schmeckleckereien aus dem Ravensberger Lande“, „... und noch einige andere Westfälische Leibgerichte“ (Bergenthal 1935; ohne Verfasser 1935; Schwagmeyer 1935; Bramkamp 1935). Die begleitenden Fotografien und Zeichnungen zeigen urige hölzerne Tische, deftige Gerichte, rohe Schinken im „Westfälischen Himmel“, Bier in Humpen aus Steinzeug oder meterweise Pumpernickel auf Holzregalen. Texte und Bilder inszenieren in der Tradition
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des 19. Jahrhunderts den ländlichen Charakter Westfalens und betonen mit Blick auf den Reisenden seine bodenständige Gastlichkeit. Das Verkehrsamt der Stadt Münster gab 1937/38 zur Förderung des Tourismus bei der Ufa einen Werbefilm in Auftrag (LWL-Medienzentrum 2006): Das fünfzehnminütige Stadtportrait von Regisseur Eugen York (1912-1991) wurde im Oktober 1938 anlässlich der Jahrestagung des Landesfremdenverkehrsverbandes in Münster uraufgeführt. Es sollte im Kinoprogramm vieler Städte laufen und auch in niederländischer, dänischer und englischer Sprache synchronisiert werden. Der Film, der die Prädikate „volksbildend“ und „künstlerisch wertvoll“ erhielt, beginnt mit einer Einstellung auf eine Bockwindmühle und einem Schwenk über Wälder, Wallhecken und arbeitende Menschen auf wohlbestellten Äckern des Münsterlandes. Anschließend lässt er den Zuschauer sozusagen bei einem Bauern mitfahren, der mit seinem Pferdewagen unterwegs in die Stadt ist. In dieser Art geht es weiter: Aufnahmen des Marktes mit Ständen, an denen Holzschuhe verkauft werden, von Tischen, die sich unter der Fülle von Kartoffeln und Gemüse biegen, und wohlgenährte Bäuerinnen betonen vor allem die „Schollenverbundenheit“ (LWL-Medienzentrum 2006) und Bodenständigkeit der Stadt und ihrer Bewohner. Nach einem Rundgang durch die kulturellen und wirtschaftlichen Sehenswürdigkeiten endet der Film in einer münsterschen Gaststätte: Vor einem Herdfeuer mit Delfter Fliesen sitzen alte Männer mit Hut und Pfeife, die bedächtig schmökend dem singenden Bierbrauer Pinkus Müller zuhören, während die Gäste an den blanken Holztischen zu ihrem Bier einen klaren Korn gereicht bekommen. Am Ende der Szene schneidet eine Frau in Schürze an einem mit Bier, Wurst, Brot und Butter gedeckten Tisch stehend Scheiben von einem großen Schinken und der Ziegenbaron von Renesse – ein Münsteraner Original – trinkt einen letzten „Kurzen“. Nach dem Krieg wurde der Film, gekürzt um Szenen mit nationalsozialistischen Symbolen, wieder gezeigt. Vermutlich ebenfalls zu diesem Zeitpunkt schnitt man die Sequenzen über das Nachtleben der Stadt heraus, die nicht zum Bild des ländlich-sittlichen Münster zu passen schienen. Da ein 1949 geplanter neuer Dokumentarfilm nicht realisiert wurde, warb die Produktion aus dem Jahr 1938 noch lange als offizielles Filmportrait für Münster und pflegte das Klischee der bodenständigen, traditionsbewussten „Kiepenkerlstadt“ nach dem Krieg weiter (LWL-Medienzentrum 2006). Auch die Artikel in den Printmedien waren in ähnlicher Form gestaltet wie diejenigen der Vorkriegs- und Kriegsjahre in der Zeitschrift „Westfalen im Bild“. Der Westfalenspiegel etwa brachte 1952 einen Beitrag über „Westfälische Gastlichkeit“ (Grisar 1952) und verkündete 1960 „Sie essen nicht nur
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Sauerkraut. Ein Streifzug durch die westfälische Gastronomie“ (Reding 1960). Der traditionellen ländlichen Deftigkeit wurde auch in der Werbung der Wirtschaftswunderzeit gehuldigt: 1957 schaltete die Firma Schulte-Rauxel für ihren Doppel-Wacholder sowie die Firma König für ihren Schinkenhäger Anzeigen (Westfälischer Heimatbund 1957), die alte Motive der Genremalerei wieder aufgriffen, 1966 präsentierte die Germania-Brauerei ihr Bier mit Glashumpen und Kiepenkerl (Westfälischer Heimatbund 1966). Kataloge und Broschüren der Fremdenverkehrsämter machten den geneigten Touristen in spe Westfalen mit Fotos von traditionellen Gerichten schmackhaft. Diese Bilder weisen ein festes Repertoire an stereotypen Elementen auf [Abb. 2]:2 Die Speisen sind in metallenem Kochgeschirr oder auf Tellern mit altbekannten Mustern angerichtet, die Portionen reichlich, die Tische meist blank – wenn doch Tischdecken vorkommen, dann karierte – und die Getränke beschränken sich auf Bier und Korn. In den 1950er Jahren war in einem Werbeprospekt eine Karte abgebildet, die Spezialitäten des Münsterlandes und ihre plattdeutschen Namen zeigte (Gentner 1991: 107). Eine ähnliche Karte mit traditionellen Spezialitäten der Region wurde 1964 für eine Veröffentlichung zur regionalen Küche angefertigt (Herbermann 1964: 53).
Abb. 2: Aufnahme des Landesverkehrsverbandes Westfalen-Lippe mit dem Titel „Westfälisches Frühstück“ (ca. 1950), Foto: Volkskundliche Kommission für Westfalen. 2 Vgl. den Bestand des ehemaligen (bis 2001) Landesverkehrsverbandes (LVV) Westfalen-Lippe im Bildarchiv der Volkskundlichen Kommission für Westfalen.
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Soweit zur Vergangenheit – welche Rolle aber spielt die kulinarische Dingwelt in der aktuellen Werbung für und bei Reisen nach und in Westfalen? Auf Internetseiten und in Broschüren der regionalen westfälischen Tourismusverbände finden sich Formulierungen wie „Unaussprechlich gut genießen: Potthast, Panhas und Pumpernickel (...). Lassen Sie sich auf keinen Fall die traditionellen Gerichte entgehen. Wer nicht einmal Töttchen probiert hat, weiß nicht, wie das ursprüngliche Münsterland schmeckt“ (Fremdenverkehrsverband 2004: 16-17) oder „Westfalen sind ‚Gut-Esser‘ (…). Traditionell ist in diesem Landstrich nicht feinsinnige Küche gefragt, vielmehr macht eine gediegene, sprich rustikale Zusammenstellung den Reiz der regionalen Küche aus. Zu den Spezialitäten gehören Eintöpfe, Pfeffer-Potthast, Panhas und der Pumpernickel, das schwarze Brot der Westfalen.“3 Das „Ausflugs-Journal 2007“ zu lesen, lohnt sich nach Aussage der Herausgeber „für Besucher wie Bewohner der Ausflugsregionen gleichermaßen“ (Ausflugs-Journal 2007: 3). Auf 116 Seiten informiert das Heft in Artikeln über mögliche Aktivitäten und Destinationen, werben Gaststätten und Hotels mit „westfälischen Spezialitäten“, „westfälischen Speisen“ oder „westfälischer Küche“. Die Namen der Häuser – „Deutscher Herd“, „Altes Gasthaus“ – sind in historisierenden Schrifttypen geschrieben und oft sind die Gebäude selbst abgebildet (ebd.: 53, 70f.). Einige Inserenten „empfehlen sich“ dem Touristen im Stil älterer Annoncen, die ganz offensichtlich sowohl sprachliche als auch grafische Bezugspunkte bei der Gestaltung waren. Die gehobene Gastronomie wirbt mit ihrer „ausgezeichneten neuzeitlichwestfälischen Küche“, das Design der Anzeigen soll traditionsbewusste, aber moderne Eleganz vermitteln (ebd.: 56). Aus dem Rahmen fällt allein eine Reklame: Der „Heidekrug“ nahe den Rieselfeldern bei Münster wirbt in einer großen bunten Anzeige mit dem Slogan „Über 100 Jahre Westfälische Gemütlichkeit genießen“. In dem ausführlichen Werbetext wird die Idylle der Heidelandschaft beschworen und eine „Speisekarte voll regionaler Spezialitäten“ angepriesen (ebd.: 17). Dennoch kommt die Anzeige in einem modernen, comichaften Stil daher, der Naturnähe, Sportlichkeit und Familienfreundlichkeit nahe legt. Im ganzen Ausflugs-Journal findet sich nicht eine Abbildung des westfälischen Schinkens – mit ihm geworben wird aber trotzdem. Bauernhof-Cafés bieten neben „Schlemmen, wo einst die Kühe kauten“, „echten Bauernschinken“ und im Verkaufsbereich „[e] in Stück westfälischer Lebensqualität auch für zu Hause“. Ein Landgasthof im Tecklenburger Land bezeichnet sich selbst als „Der mit dem berühmten 3 http://www.muensterland-tourismus.de/landerlebnis/muensterlaendische_produkte/ index.html, (05.06.2008).
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Schinken“, ein Café-Restaurant in der Nähe wirbt mit „Hausmacher Spezialitäten und Westfälischem Knochenschinken“ (ebd.: 58, 62f.). Bereits am Anfang des Journals steht unter dem Titel „Schlemmen in der Region“ ein Bericht über die Aktion „Regionale Speisekarte: So schmeckt das Münsterland“, in der Köche der Region vereint sind mit dem Ziel, „die kulinarische Identität des Münsterlandes (neu) zu entdecken.“ (ebd.: 5). Unter den Rezepten, die auf den Internetseiten der Aktion angeboten werden, finden sich für den Hauptgang nur Gerichte, die Fleisch enthalten, wie der Klassiker Westfälischer Pfefferpotthast.4 Im Gegensatz dazu zeigen die grafischen Elemente der Seite ausschließlich Gemüse wie Bohnen, Gurken, Frühlingszwiebeln, Tomaten, Paprika und Zucchini. Auf einem Foto mit der Unterschrift: „In der Region gewachsen, gereift und verarbeitet‘“ finden sich neben Erdbeeren, Pumpernickel und Weizenkorn ebenso zwei Auberginen.5 Auch die in Siegen-Wittgenstein angesiedelte Aktion „Küche unserer Heimat: Zwischen Rubens und Landluft“ verfolgt nach dem Motto „Zurück zur Natur und Besinnung auf Produkte, die im heimischen Boden gedeihen, in Wäldern und auf frischen Wiesen heranwachsen!“ 6 eine ganz ähnliche Philosophie und macht mit einer ganzseitigen Anzeige in der Werbebroschüre des Kreises auf sich aufmerksam (Touristikverband 2007: 62). Die Bildsprache des modernen touristischen Marketings unterscheidet sich in vielen Dingen von der aus vergangenen Jahrzehnten. In Zeiten von BSE und Massentierhaltung verzichtet man darauf, üppige Fleischmengen zu präsentieren. Der berühmte westfälische Schinken wird zwar genannt, aber nicht abgebildet – und wenn doch, dann nur in Form von appetitlich angerichteten, hauchdünnen Scheiben. Aus dem einst verpönten Pumpernickel ist längst eine Delikatesse geworden. Nach und nach wurde das klassische Repertoire westfälischer Kulinarik um lokale Spezialitäten und neue Zutaten wie Spargel und Erdbeeren erweitert. Generell überwiegen auf den Fotos Gemüse und Obst, die für Frische, Leichtigkeit und Wellness stehen – Begriffe, die aus dem heutigen Werbevokabular nicht mehr wegzudenken sind (Kalkhoff 2006). Auch wenn sich die Form verändert hat – der transportierte Inhalt, die Nachricht (an den Touristen) ist dieselbe wie vor hundert Jahren: Wer nach Westfalen kommt, findet unberührte ländliche Natur (Hauff 2007: 16) und 4 http://so-schmeckt-das.muensterland.de/magazin/magazin.php?menuid=67&topmenu =59&keepmenu=inactive, (05.06.2008). 5 http://so-schmeckt-das.muensterland.de/staticsite/staticsite.php?menuid=55&topmenu =55&keepmenu=inactive, (05.06.2008). 6 http://www.siegen-wittgenstein.de/standard/page.sys/372.htm, (05.06.2008).
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eine traditionelle Küche vor, die im Zeitalter von Slow Food für Entschleunigung, Regionalität und Unverfälschtheit steht. Diese Marketingstrategie greift den seit den 1970er Jahren ungebrochenen Trend zur Regionalisierung und Revitalisierung lokaler Küchen auf und nutzt die Tatsache, dass mit „regional“ über die Schritte „natürlich“ und „echt“ schließlich auch „gesundheitlich unbedenklich“ assoziiert wird. Abschließend sei noch die Frage nach der Kongruenz dieser imagebildenden Inszenierung und dem Eigenbild in der Region gestellt. Die Umfragen und Interviews des Projektes „Wie westfälisch isst Westfalen? Regionale Kost und Ernährung“7 der Volkskundlichen Kommission für Westfalen zeigen, dass die regionalen Autostereotype bei den Bewohnern Westfalens einen hohen Bekanntheitsgrad haben. Sie werden bewusst zur Repräsentation genutzt, etwa beim Besuch westfälischer Gasthäuser mit ausländischen Gästen – denn, wie ein Befragter es formuliert: „(…) es gehört zum Kennenlernen von Land und Leuten dazu. Ich würde im Ausland gleiches ebenfalls von anderen erhoffen.“ Als Gastgeschenke werden mitunter selbst zusammengestellte „westfälische Präsentkörbe“ überreicht, die „auch nach Erwartung des Beschenkten typisch westfälisch zu sein scheinen: Pumpernickel, Schmalz, Mettendchen sowie Korn aus einer regionalen Brennerei.“ Die typischen Symbole beweisen eine große Beharrungskraft in der Selbstund Fremdwahrnehmung. Doch dieser Küchenkonservatismus bezieht sich gerade auch im touristischen Kontext ausschließlich auf die Exoküche8: Verreisen Westfalen, nehmen sie selten regionale Lebensmittel zur Selbstverpflegung mit, schließlich gehört „landestypisches Essen (…) zu den schönsten Dingen im Urlaub!“ Dieser kurze und zwangsläufig ausschnitthafte Überblick zeigt den ImageTransformationsprozess des ländlichen Westfalens vom negativ konnotierten Heterostereotyp in ein positiv besetztes Autostereotyp, das gerade in der touristischen Werbung seine deutlichste Ausformung erfuhr und massiv eingesetzt wurde und wird. Die regionale Kost und ihre Spezialitäten waren und sind die Hauptträger dieser Selbstinszenierung und weisen eine große Kontinuität in der Fremdwahrnehmung auf. Dabei folgt das touristische Marketing vor allem in den Bereichen der medialen Aufbereitung und Sprache stets den aktuellen Trends. 7 Die Ergebnisse des Projektes werden von der Verfasserin im Rahmen einer Dissertation ausgewertet. 8 Mit der Exo-Küche bezeichnet Claude Lévi-Strauss die Versorgung mit Nahrung im öffentlichen Bereich sowie das Kochen für Gäste und anlässlich von Feiern (Lévi-Strauss 1965). Vgl. dazu auch Köstlin 2004: 126.
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Lederhose auf Reisen Figurationen über Missverständnisse anhand eines bekannten Kleidungsstücks Martin Jonas
„Welt ist ein imperialer Begriff. Auch wo ich lebe ist inzwischen Welt. Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Bayern ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. (...). Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. (...). Das imperiale Gesetzt dieser Welt ist Verständnis. Jeder Punkt dieser Welt muß von jedem anderen Punkt auf der Welt verstanden werden. Das hat zur Folge, daß jeder Punkt auf der Welt jedem anderen Punkt gleichen muß. So wird ein Verständnis mit Gleichheit verwechselt und Gleichheit mit Gerechtigkeit. Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann?“ (Achternbusch 1982: 11).
Was Herbert Achternbusch, ein Münchner Universalkünstler 1982 in seinem Werk „Der Olympiasieger“ schreibt, kann aus heutiger Sicht als frühes Antiglobalisierungspamphlet gelesen werden. Doch Globalisierungsprozesse sind nicht nur unter dem Aspekt einebnender Vereinheitlichung zu sehen, sie fördern auch – indem sie Distanz verringern – Differenzierung und legen Unterschiede frei, wie sie sich in allenthalben zu beobachtenden Regionalisierungstendenzen manifestieren. Was aber passiert, wenn man – wie Achternbusch geradezu zu fordern scheint – sich nicht verständlich machen kann? Muss es dann zum Konflikt kommen? Oder besteht die Chance, eine Differenz, die unverstanden ist – und das auch bleiben darf –, anzunehmen, sie als etwas Anderes zu akzeptieren? Differenz, die unverstanden ist (und vielleicht auch bleibt) begegnet man am ehesten auf Reisen – wie auch der Möglichkeit der Anerkennung, der Akzeptanz dieser Differenz. Ich möchte in meinem Beitrag einen möglichen Weg zu dieser Akzeptanz aufzeigen – einen Weg, der über die Zeichenhaftigkeit von Dingen führt. Und das Ding, das dabei exemplarisch vorgeführt wird, ist die Lederhose. Der biografische Einstieg, welcher gleichzeitig auf eine praktische Verwendung von Klischees – einer Klischeeübererfüllung – verweist, dient weniger
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dazu, Marginalien des Selbsterlebten zu verwissenschaftlichen, sondern vielmehr dazu, exemplarisch und mikroanalytisch ein Phänomen darzulegen. Diese Lederhose hat mir vor ungefähr zwölf Jahren eine gute Freundin geschenkt – sie hatte sie auf der Auer Dult (ein traditioneller Markt in München) gekauft –, und zunächst habe ich sie nur auf Fahrten mit den Pfadfindern aus mehr oder weniger praktischen Gründen getragen. Wobei diese praktischen Gründe – neben der Unverwüstlichkeit und Pflegeleichtigkeit einer Lederhose – sich auch darauf bezogen, dass Pfadfinder bei internationalen Treffen als Möglichkeit sich kennenzulernen, folkloristische Singspiele und bunte Abende abhalten, bei denen die verschiedenen nationalen Gruppen „ihre“ landes- und regionaltypischen Lieder und Tänze aufführen – also Inszenierung von Regionalismen als Visualisierung von Differenz, als lesbares Zeichen und damit als Mittel zur Verständigung. Die Performance der deutschen Gruppen fiel dabei, in Ermangelung der Kenntnis solcher regionaltypischen Lieder und Tänze, meist bescheiden aus – und als wir uns 1998 vor einer Fahrt im Rahmen eines Austauschprogramms mit einem Partnerbezirk der Pfadfinder in Potosi/Bolivien wieder einmal Gedanken machten, wie wir unseren Bezirk und unsere Heimat jenseits von Klischees präsentieren könnten, nahm ich meine Lederhose als bekanntes folkloristisches Zeichen bewusst mit. Und so war denn an dem von unseren langjährigen bolivianischen Freunden eingeforderten Folkloreabend mit Schweinsbraten, Semmelknödel und Schuhplattler neben anderen Dingen wie kleinen bayerischen Fähnchen, Rautenbändl oder Miniaturbierkrügen dieses Bekleidungsstück Zeichen unserer Herkunft. Die bolivianischen Pfadfinder hatten eben ein bestimmtes Bild von uns als Deutschen, das über verschiedene Medien vermittelt wurde, aber auch durch die Gegenbesuche entstanden ist. Wie auch wir ein bestimmtes Bild von ihnen vor Augen hatten – ein Bild, das durch ihre folkloristischen Einlagen und Tänze bestätigt und auch durch diverse Souvenireinkäufe von uns eingelöst wurde. Die Lust am Klischee wird so zum Ausgangspunkt, um Freundschaft und Nähe aufzubauen. Seit dieser Fahrt wurde die Lederhose zum ständigen Begleiter meiner Reisen. Ich möchte mit zwei kurzen Beispielen veranschaulichen, wie Kleidung und die ihr zugeschriebene Bedeutung bei der Inszenierung eines Anderen – eines Fremden, der über den Wiedererkennungswert von Zeichen als Anderer erkannt wird (dazu noch später) – funktionieren. Das erste Beispiel – Clermont-Ferrand: Clermont-Ferrand ist eine mittelgroße Stadt in der Auvergne im Herzen Frankreichs. Zu Besuch bei einem Freund, der dort ein Jahr lebte, wanderte ich mit einem anderen
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mitreisenden Freund aus der Stadt hinaus, um in einem Dorf Käse zu kaufen. (Klischee: In jedem französischen Dorf in der Auvergne gibt es Käse zu kaufen ...) Den Rückweg – Käseklischee erfüllt – versuchten wir per Autostopp zurückzulegen, was auf einer kleinen Landstraße eigentlich aussichtslos ist. Wir standen am Straßenrand, der eigentlich mehr ein Wegrand war, ich in Lederhose und Jacke, mein Begleiter in Trachtenjoppe und Cordhose. Gleich der erste Wagen hielt. Das Gespräch mit dem Fahrer wurde in Englisch und Französisch geführt. Er fragte uns, ob wir wüssten, warum er uns mitgenommen habe und an welch besonderen Ort wir uns zum Autostoppen hingestellt hätten. Als wir diese Frage mehrmals freundlich verneinten – nebenbei bekamen wir Schokolade angeboten –, lachte der Fahrer auf und meinte, dass dieser Platz eine Art Kontaktstelle für amouröse Abenteuer wäre und er nach der Arbeit immer mal wieder vorbeiführe. Die ganze Fahrt bis in die Stadt versuchte der Fahrer uns herumzukriegen, bis er uns dann schweren Herzens in Clermont-Ferrand aussteigen ließ. Neben seinen diversen Flirtavancen drehte sich das Gespräch aber auch um unsere Kleidung, die er ausgesprochen ansehnlich fand. Er dachte erst, wir seien Franzosen, die sich folkloristisch deutsch angezogen hätten, war aber umso begeisterter, als wir erzählten, wir kämen tatsächlich aus München. Und neben einigen Anekdoten erzählte er uns stolz, dass er sich in München ein „German Styled Jacket“ gekauft hätte. Wie diese Jacke allerdings aussieht, blieb ungeklärt. In dieser Szene wird deutlich, wie durch den Kontext eines bestimmen Ortes die vermeintliche Eindeutigkeit der Lederhose eine andere Zuschreibung erhält. Der Fahrer „missversteht“ unsere Intention, hat folglich seine eigene, ganz individuelle Interpretation der Hose. Die einzige Übereinstimmung ist die – universelle – klischeehafte regionale Verortung der Lederhose bei Träger und Betrachter. Zweites Beispiel: Auf der gleichen Reise wollten wir drei zusammen mit einer französischen Freundin nach Vichy fahren, um zu shoppen und Essen zu gehen. Angesichts der historischen Bedeutung dieser Stadt zögerten wir zwar, dort in Versatzstücken deutscher Tracht aufzukreuzen, aber unsere Begleiterin bestand darauf. Sie meinte nur, wir sollten möglichst schick aussehen, da Vichy eine Kurstadt sei und man dort nicht wie ein „Plouc“, ein Bauernlümmel, herumlaufen könne. Schließlich legte sie noch selbst letzte Hand an uns an und rundete unsere Inszenierung zu Klischeebayern mit einigen vorhandenen Accessoires ab.
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Was die unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen der Lederhose anbelangt, scheint mir bei diesem Beispiel zweierlei wichtig: Zum einen war unserer französischen Freundin, für die Vichy ein bürgerlich mondäner Ort ist, an dem man entsprechend gekleidet zu sein hat, bewusst, dass Tracht bei festlichen beziehungsweise offiziellen Anlässen – neben der Uniform und dem Smoking respektive dem dunklen Anzug – getragen werden kann. Sie sah (wie auch wir) die Lederhose als Versatzstück des Regionalismus beziehungsweise des Folklorismus, das ohne die dazugehörigen Trachtenelemente der bürgerlichen Kleiderordnung nicht entspricht. Zum anderen war ihr Versuch, uns schick zurechtzumachen, ihrer Vorstellung von bayerischer Tracht insgesamt geschuldet, dem Bild, das sie sich von dieser Tracht und den damit verbundenen Kontexten gemacht hat. Ich versuche nun, ausgehend von „Kultur als Oberfläche“, als „Verhüllung, Verschleierung, Verkleidung, Maskierung“, im Sinne Martin Scharfes „in die Tiefe zu gelangen“ (Scharfe 2007: 150) – also von sinnlich wahrnehmbaren kulturellen Zeichen zu ihren unbewussten Bedeutungsebenen und ihren Kontexten. Tracht, in diesem Falle die Lederhose, ist ein kulturelles Zeichen (Burckhardt-Seebass 1981), das mit Bedeutungen geradezu überfrachtet ist, mit Bedeutungen, die unser Fach in nicht geringem Maße mitproduziert hat. Man denke an die Anfänge unserer Disziplin, in der Trachten geografisch festgeschrieben, musealisiert und so großteils auch idealisiert wurden. Konrad Köstlin hat Tracht als „die Inszenierung von Authentizität“, als „bewegliche Ästhetik im Alltag der Moderne“ beschrieben und die unterschiedlichen interpretativen Zugänge nachgezeichnet (Köstlin 2002: 207). So steht die Lederhose – „oberflächlich“ betrachtet (um noch einmal auf Scharfe zu verweisen) – beispielsweise für Deutschland, für Bayern, für das Oktoberfest, für Urtümlichkeit, Authentizität, Identität. Dabei ist sie je nach Gebrauch und Kontextualisierung variabel einsetzbar – von Hans Söllner (als alternative Konnotation) bis zur CSU (als konservative Konnotation), oder von Oskar Maria Graf bis Ludwig Thoma. 1 Der Übersichtlichkeit wegen werden die verschiedenen – einander bedingenden – Bedeutungszuschreibungen der Lederhose im Folgenden einer Innen- und einer Außenansicht zugeordnet. 1 Das Phänomen Tracht wurde hinlänglich innerhalb der volkskundlichen Kulturwissenschaft beschrieben. Obwohl es mir in diesem Beitrag um differenztheoretische Überlegungen geht, die ich exemplarisch an der Lederhose – einem Trachtenteil – darlege, verweise ich dennoch auf den Aufsatz „Phänomen Wiesntracht“ von Simone Egger, in dem konzis das Phänomen Tracht beschrieben wird; vgl. Egger (2008).
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Innenansicht Immer wenn ich die Lederhose trage, fungiert sie als Zeichen meiner Auseinandersetzung mit der Region München, in der ich aufgewachsen bin und mit der ich mich auch identifiziere. Ich habe ein Bild meiner Persönlichkeit kreiert – ein Image aufgebaut. Dieses Bild, besser dieses Abbild, trage ich mit der aus ihrem Gesamttrachtkontext gerissenen Lederhose mit in den Urlaub. Sie wird zur Trägerin meiner Identität im Ausland. Eine zweite Bedeutung ist der Lederhose durch ihren Gebrauch als Abgrenzung zu anderen – vor allem deutschen – Touristen eingeschrieben. Mit diesem klischeehaften Zeichen versuche ich anderen Zuschreibungen und Erkennungsmerkmalen des „typisch“ deutschen Touristen zu entgehen. Weder als Backpacker noch als Studiosusreisender oder gar als Ballermanntourist will ich gesehen werden. Das Spiel mit dem Klischee soll mich mit „meiner“ Herkunft repräsentieren, soll aber zugleich eine gewisse Distanzierung von dieser meiner Herkunft signalisieren.
Außenansicht Wie kann nun der Blick des/der Anderen, wie ich ihn in den obigen Beispielen geschildert habe, interpretiert werden? Bei allen Beispielen wird deutlich, dass der Lederhose als Element einer Tracht bestimmte Bedeutungen eingeschrieben sind, dass sie bestimmte Bilder hervorruft – Bilder von bestimmten Menschen, einer bestimmten Landschaft, einem Lebensgefühl, einer Glaubensrichtung etc. In tausendfach weltweit verbreiteten Bildern, in denen Tracht gezeigt wird – vom Heimatfilm bis zum Tourismusprospekt, von der Papstaudienz bis zum Oktoberfest – wurde eine Vorstellung von Deutschland im Ausland propagiert, in der die Lederhose, dieses „verkannte Emblem“ (Brockhaus 2000), von dem Gudrun Brockhaus spricht, eine dominante Rolle spielt – und vor allem in der Nachkriegszeit wurde die Lederhose zum deutschen Kleidungsstück schlechthin und zum Symbol für ganz Deutschland. Und bis heute zeigen neben den unzähligen privat ins Netz gestellten Bildern die Bilder auf der Homepage des Auswärtigen Amtes oder auch die zu Programmschluss des Bayerischen Fernsehens zur Bayerischen und Deutschen Nationalhymne eingeblendeten Bilder, wie Deutschland von außen gesehen wird beziehungsweise gesehen werden will.2 Diese Bilder sind kulturelle Zeichen, die Bedeutung in sich tragen, die sie von der Gesellschaft, von Institutionen und Individuen zugeschrieben bekommen. Jeder hat Zeit seines Lebens Bilder samt deren verschiedenen 2 In ähnlicher Form verdeutlicht dies Ueli Gyr anhand der touristischen Verwendung der Figur Heidi für die Schweiz; vgl. Gyr (2001).
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Bedeutungsebenen angesammelt, mit denen er neue, unbekannte Bilder und deren Kontexte zu deuten versucht. So ergibt sich beispielsweise für den/die Betrachter/in aus Bolivien oder Frankreich auch ein eigenes Bild, eine eigene Geschichte über die Lederhose. Sie wird so zum eigenständigen Ding; sie ist nicht mehr nur mein Kleidungsstück, sondern auch Träger von Geschichten und Bedeutungen des Anderen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel unserer französischen Freundin, die ihre Vorstellung von Bayern in unserer Bekleidungsinszenierung manifest werden lässt. Die Lederhose verdoppelt sich so gewissermaßen: Sie ist meine Lederhose und sie ist auch die Lederhose der Anderen, die sie sehen. Sie ist immer folkloristisch inszeniert – zusammengetragen aus verschieden Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen, Vorstellungen und Geschichten. Den Fremden zum Anderen zu machen, diesen Prozess – ich habe ihn vorhin schon angedeutet – hält Beat Wyss für die zivilisatorische Aufgabe unseres Jahrhunderts (was aber nicht die Aufgabe der Lederhose ist). Er fordert, „nationale, regionale, ethnische Differenz zu visualisieren und zugleich vorurteilsfrei in den Raum ästhetischer Kommunikation zu stellen.“ 3 Das Fremde beziehungsweise das Befremdliche wird durch die entzifferbare Inszenierung von Regionalismen zum verortbaren Anderen – und damit auch zur eigenen Geschichte: Denn im Fremden wird so etwas erkannt, woran mit eigenen Bildern und Bedeutungen angeknüpft werden kann. Es entsteht ein Dialog4. Dieser Vorgang lässt sich am Autostoppbeispiel verdeutlichen. Der Fahrer wurde von der Lederhose angesprochen. Sie bedeutete für ihn ein modisches Kleidungsstück mit regionalem Touch. Sein Bild von Lederhose beziehungsweise Trachtenteilen in Kombination mit anderen Kleidungsstücken stand als Zeichen für modisches Bewusstsein und für Homosexualität. Der Ort, an dem wir standen, bestätigte ihm diese Annahme, die er nicht gehabt hätte, wären wir in Jeans, Trekkingsandalen, Outdoorjacke und Rucksack dort gestanden. Wir wiederum sahen in der Situation zunächst nur den glücklichen Zufall, von jemandem mitgenommen zu werden. Das Missverständnis musste geklärt werden – seines über die Funktion meiner Lederhose und unseres über den konkreten Ort, an dem wir autostoppten. 3 Wyss, Beat in einem Vortrag „Die Identität des Anderen“, am IFK Wien am 03. März 2008; vgl. http://www.ifk.ac.at/fellowships_fellow_list.php / http://www.ifk.ac.at/ calendar.php?e=305 -, (09.03.2008). 4 Auch in einer Abweisung, einem Missverstehen ist eine Positionierung des Anderen enthalten. Ich kann darauf reagieren. Auch wenn es bei diesem Dialogbeginn bleibt, ist es ein Dialogbeginn.
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So wurden die Geschichten und Erfahrungen abgeglichen und neu verhandelt. Es entstand eine gemeinsame neue Geschichte, die Lederhose und ihre regionalistischen Inskriptionen wurden in ihrer Bedeutung neu ausgehandelt. Und der Fremde wurde so wieder zum Anderen – Verständigung fand statt. Ina-Maria Greverus beschreibt in ihrem Buch „Die Anderen und Ich“ diesen Vorgang am Beispiel der Kava-Zeremonie von Fijianerinnen und Fijianern, bei der dem Fremden in einem gemeinschaftlichen Ritual begegnet wird, das ihn als Anderen bestehen lässt und als ein „Beispiel des Möglichen“ zu begreifen erlaubt (Greverus 1995: 15).
Abb. 1: Illustration: Stefanie Hilgarth – www.stefaniehilgarth.net.
Bevor abschließend diese Form des Missverstehens als mögliche Methode befragt wird, möchte ich an einem simplen Vergleich – und auch ein banaler Vergleich kann erhellend sein – das Besondere des hier thematisierten Stücks Kleidung herausstreichen. Eine Lederhose ist kein Palästinensertuch. Dieses Tuch, das einst für linken antiamerikanischen Widerstand stand und durch seine Verschiedenfarbigkeit diverse Gesinnungen ausdrückte, ist nach seinem Bedeutungswandel hin zur rechten antiisraelischen Szene zum Modeschmuck avanciert. Jüngstes Beispiel sind die „Krocher“ – Wiener Ableger einer JugendSzene, die sich über expressiven Tanz und Style ausdrückt – in Frankreich unter „Tekktoniker“ beziehungsweise in Los Angeles als „Krumper/Clowns“ bekannt. „Krocher“ verwenden laut einer ironischen Styleanweisung das Palästinensertuch folgendermaßen: „Palästinenserschals: sind seit neustem auch ein must-have. Die wenigsten wissen zwar, dass sie so heißen, aber es
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sind diese Tücher in den verschiedensten Farben, in denen alle rumrennen. (...). Du musst nicht genau wissen, was du da eigentlich trägst (Palästinensertücher haben eine politische Bedeutung), Hauptsache du besitzt den Schal in 20 verschiedenen Farben.“ 5 Der SZ-Journalist Andreas Bernard beschreibt in der SZ-Magazinreihe das Prinzip: „Am Schicksal des Palästinensertuchs ließe sich natürlich einmal mehr die Geschichte erzählen, dass Mode wie ein Vampir den rebellischen Gehalt von Kleidungsstücken, Accessoires und Frisuren aussaugt und sie in leere Optionen des Tragbaren verwandelt. Was als aufgeladenes Zeichen des politischen Bekenntnisses oder der abweichenden Biografie an vereinzelten Körpern auftaucht – der Nietengürtel, der Irokesenschnitt, die Tätowierung –, wird nach Jahren oder Jahrzehnten in das alltägliche Erscheinungsbild der Menschen integriert“ (Bernard 2007). Die Lederhose widersetzt sich diesem Vorgang. Sie bleibt, trotz vieler Versuche einen Alpinstil modisch zu verwerten, ein Kleidungsstück mit komplexen Bedeutungsebenen. Sie bleibt im Folkloristischen verhaftet und als regionales/nationales Zeichen lesbar. Sie erinnert immer an ihre Geschichte, an ihre Bedeutung und an die Geschichte ihrer Bedeutung. Damit ruft sie, im Gegensatz zum Modeaccessoire, immer zum Dialog auf, weil sie Geschichten/Bedeutungen in sich trägt und beim Betrachter immer etwas auslöst, sei es Ablehnung, Neugier, Interesse, Wut, Freude oder Ähnliches. Sie bleibt so oberflächlich zwar eindeutig, in der Tiefe aber – zu der zu gelangen laut Scharfe für uns „methodische Not und Notwendigkeit“ ist –, in der Tiefe wird sie uneindeutig. Und mit dieser eindeutigen Uneindeutigkeit kann auf Reisen gespielt (vielleicht auch geforscht) werden. Dieses Spiel mit der Lederhose auf Reisen kann, weil es eben ein Spiel ist, auch als Parodie verstanden werden. Merkmal einer Parodie ist nach Giorgio Agamben die „Abhängigkeit von einem vorher bestehenden Modell, das von einem ernsten in ein komisches verwandelt wird, und die Bewahrung formaler Elmente, in die neue und nicht dazu passende Inhalte eingefügt werden“ (Agamben 2005: 32). Die ernsten Bedeutungszuschreibungen von Tracht – vor allem in ihrem politischen Kontext – werden parodiert und mit neuen „unpassenden“ Bedeutungen belegt. Ihre besondere Zuschreibung – zum Beispiel die einer konservativen Haltung –, die sie als etwas Besonderes absondert und solcherart fixiert und je nachdem musealisiert oder auch idealisiert, wird durch dieses Spiel und seine Aufforderung zum Dialog wieder zu etwas Allgemeinen. Sie wird, im Sinne Agambens, profaniert – also dem gemeinen Gebrauch wieder zurückgegeben, ohne jedoch gleich – wie beim 5 Mail von Anna Stoffregen an mich vom 21. März 2008; vgl. auch Zolles (2008).
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Palästinensertuch – als Konsumartikel neu abgesondert zu werden beziehungsweise seine Geschichte, seine Bedeutungsgeschichte zu verlieren. Durch den Akt der Kontextualisierung der Lederhose in einen subjektiven Erfahrungshorizont und ein dialogisches Aushandeln der jeweiligen Bedeutungen entsteht ein neuer Gebrauch, der sich der Sphäre moralischer oder politischer Macht entzieht.
Figurationen über die Parodie In diesem Ausblick sollen zumindest ansatzweise ein paar Spuren aufgenommen werden, die zu einem Gebrauch der Parodie als Feldforschungsmethode hinführen. Anstatt ein konkretes Methodenkonzept zu entwickeln, wird versucht, sich dem Phänomen Parodie von unterschiedlichen Blickwinkeln anzunähern, um so einen möglichen Rahmen anzuzeigen, der die Parodie handhabbar macht. Diese fünf Figurationen bleiben offen und fragmentarisch, als Gedankenspiel und Aufforderung an den Methodendiskurs in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. 1.) „Aber wieso ist es ungerecht, wenn ich mich einem anderen nicht verständlich machen kann?“ (Achternbusch 1982: 11) Was Herbert Achternbusch als Anspielung auf Machtstrukturen und deren notwendige Verständlichkeit in Form einer Frage formuliert, bedeutet gleichzeitig ein Nicht- oder Missverstehen, beziehungsweise dass er nicht verstanden werden will. Sein unermüdlicher Versuch, sich (nicht) verständlich zu machen, liefert den Stoff für eine neue Interpretation seines Selbst. Die Person und Kunstfigur Achternbusch überschreibt und umschreibt sich selbst prozessual und erzeugt damit immer neue Aspekte und Betrachtungsweisen, die als Parodien bezeichnet werden können. 2.) „Zurechtsingen – das Einfärben des Fremden in den eigenen Horizont – bezeichnet in der Tat recht gut den Nutzen, der aus jenem Traditionsvorgang, dessen Resultat von außen gesehen als Mißverständnis erscheint, entspringen kann“ (Scharfe 2002: 297). Diese Form des Missverstehens beschreibt Martin Scharfe unter anderem am hier genannten Beispiel des Volksliedes als komplexes methodisches Instrumentarium. Ein von der Wissenschaft zu beobachtendes Missverstehen, dass teils unbewusst und als Kreativleistung verstanden wird, kann, so Scharfe, auch dazu genutzt werden, „einen neuen Reim auf die Welt der Wissenschaft“ zu machen (ebd.: 307). So ist eine parodistische Aneignung – wie sie auch am Beispiel der Lederhose gezeigt wurde – eine Form des Missverständnisses, das ironisch-reflexive Neue im „Falschen“.
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3.) „Diesen Fremden jenseits verschwundener Distanz wieder zum Anderen zu machen, wäre die zivilisatorische Aufgabe unseres Jahrhunderts.“ 6 Die im Globalisierungsprozess durch Abbau von räumlicher Distanz freigelegte kulturelle und soziale Differenz eröffnet, so Beat Wyss, die Chance auf eine andere Form der Aneignung des Fremden, die er als „Kreolisierung“ bezeichnet. Diese Einverleibung, die durch das Autostoppbeispiel deutlich wird, zeigt eine kreative Fehl- und damit Neuinterpretation, welche Klischeevorstellungen oder Stereotype verdeutlicht und verhandelbar macht. Ein reflektierter Umgang mit Selbstbildern – im Wyss’schen Sinn eine Autokreolisierung –, eine Parodie des Eigenen kann als performativer Akt verstanden werden, welcher bewusst Interaktion und Dialog herausfordert, um so (inter)kulturelles Verständnis und Wissen zu fördern. 4.) „Mulkay (1985) makes the bold proposal that all (sociological) analysis is a form of parody, and therefore parody is a form of (sociological) analysis“ (Cherry 2008: 9). Parodie, verstanden als grundlegende Methode der Soziologie, wird, so Scott Cherry, dann als Analyseinstrument verständlich, wenn diese etymologisch hergeleitet und interpretiert wird.7 „The etymological root of parody is the greek noun ‚paraodia‘, meaning counter song; the ‚odos‘ part of the word, meaning song, and the prefix ‚para‘, has two meanings. One is counter or against, where parody becomes the contrast between texts; the other is ,para‘, to mean beside, an intimacy. It is this second meaning of the prefix that broadens the pragmatic scope of parody. Thus, ,in its ironic trans-contextualization and inversion, [parody] is repetition with difference. A critical distance is implied between the backgrounded text being parodied and the new incorporating work‘ (HUTCHEON, 1985, p. 32). [24]“ (ebd.).8 Am Beispiel der Textanalyse, welche auf Quellentexten beziehungsweise „Originaltexten“ beruht, zeigt Cherry, dass deren Analyse immer eine Variation, eine Rekonfiguration der „Originale“ ist und sich von diesen unterscheidet. Diese zweiten Texte entstehen durch subjektive Auswahl, Fehlleistungen, Versimplifizierung oder Auslassungen. „The analytical text 6 Beat Wyss in einem Vortrag „Die Identität des Anderen“, am IFK Wien am 03. März 2008; vgl. http://www.ifk.ac.at/calendar.php?e=305, (09.03.2008). 7 In Bezug auf Mulkay, Michael (1985): The Word and the World: Explorations in the Form of Sociological Analysis. London, S. 9; für eine etymologisch philosophische Herleitung vgl. auch Agamben (2005). 8 In Bezug auf: Hutcheon, Linda (1985). A Theory of Parody: The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. Chicago.
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creates an ironic relationship with the original text: although it claims to operate ,beside it‘, to convey its ,meaning‘, it changes it in order to bring about its identity. It claims an interpretive privilege over the original text; it speaks on its behalf, with its own performative criteria. The analytical text is a parody of the original text, a ,repetition with difference‘“ (ebd.). Liest man die Geschichte der Lederhose als Text, entsteht durch den bewusst eingesetzten performativen Akt des Lederhosetragens – im Sinne Cherrys – ein Instrument der Analyse. 5.) „‚Reframing‘ weist also darauf hin, dass Zeit die Aktualisierung des Inaktuellen ist; denn Vergangenheit und Zukunft sind immer nur in der Gegenwart beobachtbar. Wie das Inaktuelle (zum Beispiel die Vergangenheit) aktualisiert wird, ist wie alles andere, was beobachtet wird, davon abhängig, welche Unterscheidungen jetzt und hier getroffen werden“ (Kleve 2003: 212). Abschließend als letzte Figuration, ist die Definition einer Methode aus der Sozialarbeitswissenschaft von Heiko Kleve ein Hinweis auf die Zeit- und Personengebundenheit wissenschaftlicher Arbeiten. „Reframing“ versteht sich als Grundlage für jede psychosoziale Veränderung. Sie (de) konstruiert Kontexte und beinhaltet die Kategorien „Kontingenz“, „Komplexität“ und „Relativität“. Aushandlungs- und Umformungsprozesse (≈ Reframingprozesse) im Rahmen einer Einzelfallanalyse der Sozialarbeit exemplifizieren die Methode des gegenseitigen Missverstehens – im Sinne Scharfes. Die Kunst dieser Methode ist letztlich das gemeinsame Aushandeln der Lebensbereiche, die unverstanden bleiben, um damit den Fokus auf möglicherweise problematisch gewordene Lebensbereiche zu legen. Damit wird aber gleichzeitig der Andere als Anderer akzeptiert, ohne dass er sich verständlich machen muss oder kann. Vielleicht, so scheint es mir, sind diese Figurationen über die Parodie ein Versuch, aus diesem komplexen methodischen Instrument „Missverständnis“, das Martin Scharfe uns in die Hände legt, einen Ton herauszubekommen. Literatur Achternbusch, Herbert (1982): Der Olympiasieger. Frankfurt a.M. Agamben, Giorgio (2005): Profanierungen. Frankfurt a.M. Bernard, Andreas (2007): Das Palästinensertuch. In: SZ-Magazin. Das Prinzip vom 4.10.07. Verfügbar unter: www.sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/3596, (15.10.2008).
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Brockhaus, Gudrun (2000): Die Lederhose – Ein verkanntes Emblem der 50er Jahre. In: Hartmann, Hans A. (Hg.): Von Dingen und Menschen. Funktion und Bedeutung materieller Kultur. Wiesbaden, S. 37-60. Burckardt-Seebass, Christine (1981): Trachten als Embleme. Materialien zum Umgang mit Zeichen. In: Zeitschrift für Volkskunde 77, S. 209-226. Cherry, Scott (2008). Parody as a Performative Analytic: Beyond Performativity as Metadiscourse [50 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 9(2), Art. 25. Verfügbar unter: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0114-fqs0802258, (26.10.2008). Egger, Simone (2008): Phänomen Wiesntracht. Oktoberfestbesucher und ihre Kleider zwischen modischer Orientierung und der Suche nach Identität. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2008, S. 79-95. Greverus, Ina-Maria (1995): Die Anderen und Ich. Vom Sich Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden. Kulturanthropologische Texte. Darmstadt. Gyr, Ueli (2001): Garantieschein Verlängert. Was sich aus Heidi touristisch alles machen läßt. In: Christoph Köck (Hg): Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung. Münster u.a., S. 123-133. Hutcheon, Linda (1985): A Theory of Parody: The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. Chicago. Kleve, Heiko (2003): Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne. Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms. Freiburg im Breisgau. Köstlin, Konrad (2002): Tracht und die Inszenierung von Authentizität. Bewegliche Ästhetik im Alltag der Moderne. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Band 98, S. 207-220. Mulkay, Michael (1985): The World and the World: Explorations in the Form of Sociological Analysis. London. Scharfe, Martin (2002): Menschenwerk. Erkundungen über Kultur. Wien. — (2007): Kultur als Oberfläche. Zur methodischen Not und Notwendigkeit in die Tiefe zu gelangen. In: Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde. Band LXI/110, S. 149-156. Zolles, Martin (2008): Nach dea Schicht ist voa dea Schicht. In: The Gap. Nr. 085. April 2008. Wien, S. 28-33.
„Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ Die Grauzone zwischen Tourismus und Migration am Beispiel des Gepäcks von Neuseelandauswanderern Tanja Schubert-McArthur
Refrain Ich hab noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin. Die Seligkeiten vergangener Zeiten sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin. Ich hab noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn. Auf diese Weise lohnt sich die Reise, denn, wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin. 1 Wunderschön ist’s in Paris auf der Rue Madeleine. Schön ist es, im Mai in Rom durch die Stadt zu geh’n, oder eine Sommernacht still beim Wein in Wien. Doch ich denk, wenn ihr auch lacht, heut‘ noch an Berlin. Text: Ralph Maria Siegel, Melodie: Aldo von Pinelli 1951 9
Dieses durch Marlene Dietrich bekannt gewordene Lied aus den 1950er Jahren ließe sich heute auf erstaunlich viele Deutsche ummünzen, die zwar ihren Lebensmittelpunkt nach Neuseeland verlegt haben, aber immer noch einen ‚Koffer in Berlin‘ oder einer beliebigen anderen Stadt haben. Wenn man Auswanderung als „Fortzug von Personen aus ihrem Heimatland in ein anderes Land mit der Absicht, dort auf Dauer zu bleiben“ (Brockhaus 2001: 419) definiert, und das Mitnehmen beziehungsweise sich Trennen von sämtlichen Besitztümern unterstellt, merkt man, dass dies bei vielen heutigen ‚Auswanderern‘ nicht der Fall ist. Erstens ist der Aufenthalt oft 9 http://german.about.com/library/blmus_hknef_koffer.htm, (16.10.2008).
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nur von kurzer Dauer, weil er immer wieder durch Urlaube in der alten Heimat unterbrochen wird. Zweitens kann in den meisten Fällen beobachtet werden, dass Dinge bewusst in Deutschland zurückgelassen und dort aufbewahrt werden. Es scheint also eine Grauzone zwischen Urlaub und Auswanderung zu geben, die sich besonders auch am – wissenschaftlich bisher kaum beachteten – Gepäck veranschaulichen lässt. Im Folgenden möchte ich diese Grauzone beleuchten, indem ich zuerst auf die Bedeutung von Urlaub für die Auswanderung eingehe und danach den Umgang der Auswanderer mit ihrer Habe analysiere. Zum Schluss werde ich den ‚Heimaturlaub‘ in Bezug auf die Liminalitätsthese1 näher betrachten.
Die Bedeutung des Urlaubs in Neuseeland Urlaub und Auswandern scheinen auf den ersten Blick zwei völlig verschiedene Vorgänge zu sein. Bei genauerer Betrachtung während eines fünfwöchigen Feldforschungsaufenthaltes in Neuseeland2 im Jahr 2005 trat die enge Verquickung von Urlaub und Auswanderung jedoch immer mehr zu Tage. Der Urlaub in Neuseeland kann der Auslöser für die spätere Auswanderung sein oder gezielt als Auswanderungsvorbereitung angetreten werden. Und manchmal dehnt sich, was als Urlaub 3 oder Auszeit beabsichtigt war, zu einem unbegrenzten Aufenthalt aus. Von den 13 Interviewparteien4, die ich für meine multi-sited ethnography (Marcus 1995) in Deutschland beziehungsweise Neuseeland und in drei Fällen in beiden Ländern interviewte, gaben sechs an, durch den Urlaub in Neuseeland zur Auswanderung motiviert worden zu sein. Bei dreien stand der Wunsch nach Neuseeland auszuwandern an erster Stelle, und erst im 1 Vgl. Van Gennep (1960); Turner (1977). 2 Von 8. November bis zum 16. Dezember 2005 bereiste ich die Nord- und Südinsel Neuseelands. Dort führte ich leitfadengestützte Interviews mit 16 ausgewanderten Deutschen für meine Magisterarbeit im Fach Empirische Kulturwissenschaft am Ludwig-Uhland-Institut der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Die Fragestellung der multi-sited ethnography zielte auf unterschiedliche Strategien im Umgang der Auswanderer mit ihrer Habe. Anhand der Analyse des Gepäcks wurden der Wandel in der modernen Auswanderung und das Verhältnis von Materialität und Migration beleuchtet. 3 Urlaub verstehe ich in diesem Kontext als einen temporären Aufenthalt von bis zu zwölf Monaten, der hauptsächlich dem Zweck des Kennenlernens von Land und Kultur dient. Das ständige Weiterreisen ist dabei keine notwendige Bedingung, weil viele der ‚Langzeiturlauber‘ an einem Ort sesshaft werden und von dort aus das Land erkunden. 4 Parteien erscheint mir der geeignete Ausdruck, da es sich bei den Interviewpartnern um Singles, Paare sowie Familien handelt. Eine so zusammengehörige Personengruppe wird im Weiteren als eine Einheit beziehungsweise als ein Interviewpartner behandelt.
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Hinblick auf die Auswanderung wurde die Urlaubsreise als Entscheidungshilfe oder zur Vorbereitung gebucht. Zwei Parteien meines Samples kamen wegen eines Jobangebots nach Neuseeland, ohne jemals im Urlaub dort gewesen zu sein, und bei einem war die Migration Folge eines Auslandsstudiums5, bei dem er sich in eine Neuseeländerin verliebte. Eine Auswanderin zog „der Liebe wegen“ nach Neuseeland, nachdem sie im Internet einen Mann kennengelernt hatte. Auch sie machte jedoch zuerst Ferien in Neuseeland, um herauszufinden, ob ihr Mann und Land zusagten. Abgesehen von zwei Ausnahmen spielte der Urlaub in Neuseeland vor der Auswanderung also bei allen Interviewpartnern eine entscheidende Rolle.
20 kg Reisegepäck – Urlaubsreisen als Motivation zum Auswandern Neuseeland ist als Fernreiseziel sehr beliebt und zieht mit seiner grandiosen Landschaft und den freundlichen Bewohnern die Reisenden in seinen Bann. Der Reiseverkehr nach Australien und Neuseeland hat seit den 1970er Jahren stark zugenommen, was vor allem auf die Senkung der Flugpreise und den steigenden Bekanntheitsgrad durch Diashows und TV-Beiträge zurückzuführen ist. Im Vergleich zum Jahr 1982 hat sich die Zahl der deutschen Touristen, die Neuseeland besuchen, versechsfacht6. Der Urlaub in Neuseeland weckt bei vielen Touristen den Wunsch, dort zu leben. Obwohl es bei den meisten bei dem Gedanken bleibt, war ein wiederkehrendes Motiv in den Interviews, dass man sich im Urlaub „in das Land verliebt“ und daraufhin den Entschluss auszuwandern, gefasst habe. Neuseeland ist für deutsche Auswanderer attraktiv, weil es dort noch scheinbar unberührte Natur gibt, es frei von Atomkraftwerken ist und trotz der Entfernung europäischen Lebensstandard und eine der eigenen ähnliche
5 Im Zuge der Globalisierung und der Internationalisierung der Universitäten zieht es immer mehr Studierende ins Ausland. Die neuseeländischen Universitäten profitieren dabei von ihrem Ruf, gute Betreuung und exzellente Freizeitangebote bei günstigen Studiengebühren anzubieten. Dank eines deutsch-neuseeländischen Abkommens zahlen Postgraduierte sogar nur die „domestic fees“. Oftmals stellen sich Partnerwahl und/oder Auswanderung als Nebeneffekt des Auslandsstudiums ein. Dasselbe gilt für die Schüleraustausche und Auslandsschuljahre von Deutschen an neuseeländischen Highschools, die in den letzten Jahren regen Zuspruch finden. 6 www.stats.govt.nz/tables/tourism-and-migration-2007.htm (29. März 2008); in jüngster Zeit hat Neuseeland vor allem durch die ‚Herr der Ringe‘-Filme weltweite Popularität erlangt, die jährlich etwa 2,4 Millionen Touristen anlockt, darunter im Jahr 2007 fast 60.000 aus Deutschland.
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Kultur bietet, die durch die Kultur der Maori zudem einen Schuss Exotik verspricht. Die von meinen Interviewpartnern genannten Auswanderungsmotive lassen sich in folgende Kategorien einteilen: Jobangebot, Liebe/ Partnerwahl, alternativer Lebensentwurf, persönliche Herausforderung, Verbundenheit zum Land, ‚Flucht‘ aus dem deutschen Alltag. Die komplexen „Bastelbiographien“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 178-187) der Auswanderer und die Verquickung persönlicher Motive mit äußeren Umständen zeigen jedoch, dass diese Vereinfachung dem schwierigen Entscheidungsprozess nicht gerecht wird. Ebenso wenig lassen sich die individuellen Beweggründe mit dem klassischen Modell von Push- und Pullfaktoren beschreiben (vgl. Schubert-McArthur 2007: 58). Bei der Entscheidung zur Auswanderung spielen immer biografische, berufliche und individuelle Aspekte eine Rolle. Der Urlaub in Neuseeland ist meist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und den Auswanderungswilligen in seiner Entscheidung bestärkt. Britta Rösner7 und Ulrich Hendriksen beschlossen, nachdem sie die ‚Herr der Ringe‘-Trilogie im Kino gesehen hatten, drei Wochen Urlaub in Neuseeland zu machen. Sie waren von der Landschaft und der Herzlichkeit der ‚Kiwis‘ so begeistert, dass sie nach Neuseeland auswandern wollten. Aber erst, als Ulrich sich von Arbeitslosigkeit bedroht sah, setzten sie den Wunsch in die Tat um. Helmut Pfefferle hatte die fixe Idee auszuwandern, als er 2004 einen Sprachkurs in Auckland machte und danach Neuseeland bereiste. Wieder zurück im „deutschen Alltagstrott“ und gerade 30 Jahre8 alt geworden, reizte es ihn, „was Neues zu entdecken“, und er beschloss, nach Neuseeland zu ziehen.
15 kg Rucksack – Im Urlaub „hängen bleiben“ Aber nicht immer wird die Entscheidung bewusst getroffen, viele Auswanderer sagen von sich: „Ich bin hier hängen geblieben“. Waren es in den 1970er und 1980er Jahren noch die Weltumsegler und Aussteiger (BönischBrednich 2002: 121-183), die ‚hängen blieben‘, sind es heute zunehmend junge Backpacker. Das Working-Holiday-Visum ermöglicht es jungen Leuten zwischen 18 und 30 Jahren für maximal zwölf Monate in Neuseeland zu bleiben. Während des Aufenthalts verbessern die Langzeitreisenden ihre 7 Die Interviews wurden anonymisiert. Die Pseudonyme sind frei erfunden. 8 Auffällig viele meiner Interviewpartner wanderten kurz vor oder nach ihrem 30. Geburtstag nach Neuseeland aus, was die These bestätigt, dass das Alter 30 nach wie vor eine Altersschwelle markiert, die nach einem Übergang, verbunden mit einem Ritual, verlangt, vgl. Marchetti (2005).
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Sprachkenntnisse, schnuppern in den (Arbeits-)Alltag hinein und erhalten nicht selten ein Jobangebot. So war es auch bei Tina und Andreas Graf, die 1999 eine Radtour durch Neuseeland machten, auf der sie kurz entschlossen vor der Kulisse der Südalpen heirateten. Als sie dann als Managerpaar in einem bayerischen Restaurant angeheuert wurden, blieben sie gleich da: „Und dann sind wir direkt ausgewandert!“ erzählt Andreas. Kurzerhand kann so aus dem geplanten einjährigen Urlaub ein permanenter Zustand werden, der der Auswanderung ähnlich ist. Interessanterweise wird der Begriff ‚Auswandern‘ von vielen Befragten nicht verwendet, sie sprechen von „hängen bleiben“, vom „Urlaub verlängern“ oder sagen, „wir sind nach Neuseeland umgezogen“. In diesen Formulierungen wird deutlich, dass die Auswanderung nicht immer beabsichtigt ist, sondern spontan oder schleichend passieren kann. Das kann so unmerklich geschehen, dass es den Betroffenen gar nicht auffällt. Die Auswanderung ist dann nur „Zufallsprodukt“ (Bönisch-Brednich 2002: 171) der Reise. Die Rucksackreisenden, die sich in Neuseeland eine Auszeit gönnen, sind zum ‚Hängenbleiben‘ prädestiniert, weil sie meist für mehrere Monate kommen und zu Hause kaum Verpflichtungen haben. Sie befinden sich in einer Orientierungsphase ihres Lebens und sind daher für neue Entwicklungen offen, zumal sie ja die Option haben, jederzeit wieder nach Deutschland zurückzukehren. In manchen Fällen wird die potentielle Rückkehr jedoch auch strategisch eingesetzt, um sich selbst und der zurückgelassenen Familie die Trennung zu erleichtern. Britta Rösner verwendet den Begriff ‚Urlaub‘ synonym für ‚Auswandern‘, um die Endgültigkeit und Tragweite ihres Vorhabens zu mildern: „Denn (...) plötzlich fängste an Alpträume zu kriegen. Ja, plötzlich fängt man an so [zu überlegen]: ‚Will ich des wirklich? Bin ich mir ganz sicher, dass ich da unbedingt hin muss?‘ Und ich sag mir jetzt immer: ‚Ich mach des als Urlaub!‘ Ich seh des ganz locker. Ich mach da jetzt einen Urlaub, und fertig! Ich mach mir gar keinen Stress.“
Die Zweifel am Wegzug werden beseitigt, indem ‚Auswandern‘ durch den Euphemismus ‚Urlaub‘ ersetzt wird. Die Familie zu Hause kann mit diesem scheinbar vorübergehenden Zustand offensichtlich besser umgehen, als wenn sie mit einem Abschied ‚für immer‘ konfrontiert wird.
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Aktentasche – Urlaub als Auswanderungsvorbereitung oder Entscheidungshilfe Für einige meiner Interviewpartner stand der Entschluss auszuwandern bereits fest und erst als man sich für Neuseeland entschieden hatte, wurde der Urlaub gebucht, um sich vor Ort zu informieren. Obwohl auch Touristenattraktionen angesteuert werden, stehen hier Umzugsvorbereitung, Festlegung des zukünftigen Wohnorts, Bewerbungsgespräche, Wohnungssuche, Kennenlernen von anderen Auswanderern und Kontakte knüpfen im Vordergrund. Ulrike Neubauer und ihr Mann haben Neuseeland als Auswanderungsziel bereist: „Das aber auch nicht nur auf rein touristische Ziele hin, sondern, schon, ja [dass wir] mal durch Wohngebiete gefahren sind, mal die Zeitung gelesen haben auf Stellenanzeigen hin, den Wohnungsmarkt angeschaut haben, die Shopping Malls nicht nur dahin besucht haben, was wir jetzt abends im Camper kochen, sondern auch, dass man so ein Gefühl hat, welche Shampoos die Leute hier nehmen ... (lacht). Also einfach, um mal so ein Gefühl zu bekommen.“
Herauszufinden „wie es sich dort anfühlt“, bevor man auswandert, scheint den Urlaub als Entscheidungshilfe unersetzlich zu machen. Man kann zwar auch durch Internetforen, Ratgeberliteratur und persönlichen Kontakt zu bereits Ausgewanderten Informationen und Tipps aus erster Hand bekommen, das Gefühl, wie es ist, dort zu leben, können sie indes nicht vermitteln. Und gerade dieses ‚Bauchgefühl‘ ist letztlich ausschlaggebend, ob man tatsächlich auswandert. Sich vorab zu informieren und das Auswanderungsziel im Urlaub kennenzulernen ist obligatorischer Teil moderner Auswanderung. Bei Familien mit Kindern wird meist ein Erwachsener vorausgeschickt, um im Urlaub die Lage zu orten. Ist dann der Arbeitsvertrag unterschrieben und sind die passende Wohnung und Schule gefunden, wird die restliche Familie nachgeholt. Das spart nicht nur Kosten, sondern beschleunigt auch den Auswanderungsprozess und das Einleben. Kindern und Erwachsenen fällt die Integration leichter, wenn die Vorkehrungen im Zielland bereits getroffen sind und man Leute vor Ort kennt. Der Neuseelandurlaub wird deshalb auch oft dazu genutzt, sich ein soziales Netzwerk aufzubauen, wie Lars Seidel beschreibt: „(…) wir wollten nach Neuseeland fahren damals, weil wir uns das Land angucken wollten. Wir haben versucht, es nicht aus den Augen des Touristen zu sehen. Sondern wir wollten mit Leuten in Kontakt treten. Also, wir haben viele Leute getroffen dort,
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wir haben viele Bekanntschaften, das sind also zum Teil Leute, zu denen wir also bis heute noch Kontakt haben. Um halt einfach zu sehen: ‚Wie leben die Leute da?‘“
Das Auswanderungsziel als Tourist zu erleben, kann eine Entscheidungshilfe sein, wenn man bereits im Urlaub den Alltag kritisch beobachtet und sich die Frage ‚will und kann ich hier leben?‘ stellt. Auch den Kulturschock mag ein Urlaub mildern, die Erfahrung, wie es tatsächlich ist, dort zu leben, kann ein Urlaub aber nicht vorwegnehmen. Deshalb meint Daniel Trust, ohne einen längeren Aufenthalt in Neuseeland sei die Enttäuschung der Auswanderungsfreudigen vorprogrammiert: „Und hier hinzukommen und zu sagen: ‚Ich will hier[her] auswandern!‘ Ohne hier mal ’ne Weile gelebt zu haben, wenigstens mal extended holidays gemacht zu haben und nich‘ nur alles durch die Holiday-Brille gesehen zu haben [geht nicht] – Denn hier is auch nich‘, längst nich‘ alles Gold, was glänzt. Längst nicht!“
Bewusst oder unbewusst vergleichen die Deutschen die Produktpalette Neuseelands mit der deutschen. Jeder trägt eine Matrix des für ihn Selbstverständlichen in sich, auf der er alles Ungewohnte als Fremdes positioniert: „Das Eigene erscheint als objektive Konstante, von der aus das Andere beschrieben werden kann.“ (Bönisch-Brednich 2002: 273f.) Das Fehlen und Vermissen von Produkten ist eine Erfahrung, die Touristen und Auswanderer gleichermaßen machen. Während man im Urlaub auch mal ohne die gewohnte Zahnpastamarke oder das geliebte Brot auskommt, muss man sich bei der Auswanderung auf den dauerhaften Verzicht einstellen oder Abhilfe schaffen. Von den aus dem Urlaub gewonnenen Erkenntnissen, was es in Neuseeland gibt und was fehlt, werden die Auswanderer bei der Gepäckauswahl profitieren.
Nur Handgepäck – Dauerurlaub als Notlösung oder Pendeln als Lebensstil Für manche Neuseelandbegeisterte ist es derart schwierig, die Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, dass ihnen nur die Variante des Dauerurlaubs beziehungsweise der Aneinanderreihung von kürzeren Aufenthalten bleibt. Betroffen sind vor allem Rentner, die das von der Einwanderungsbehörde festgelegte Maximum von 54 Jahren bereits überschritten haben. Der „Immigration Amendment Act“ von 1991 revolutionierte zwar das Einwanderungssystem durch objektive Regeln, die für alle Einwanderer unabhängig von ihrer Herkunft gelten, aber er erschwerte die Einreisebedingungen
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erheblich. Der neuseeländische Staat, der sich zunehmend wirtschaftlich ausrichtet, ist nun mehr denn je an jungen und hochqualifizierten Einwanderern interessiert. Die Einwanderungsbestimmungen in Neuseeland sehen drei Kategorien vor: Familienzusammenführung, Investment und berufliche Qualifikation (Skilled Migrant Category). Die meisten deutschen Einwanderer machen von Letzterer Gebrauch. Die „Skilled Migrant Category“ basiert auf einem Punktesystem, das Alter, Ausbildung und Berufserfahrung bewertet. Man muss mindestens 100 Punkte erreichen, um in die Vorauswahl zu kommen, was für Ältere beinahe unmöglich ist. Ihnen bleibt meist nur die Investor-Kategorie, von der auch Torsten und Cornelia Meyer Gebrauch machen wollten. Aber als sie gerade ihr Grundstück erworben hatten und im tropischen Northland sesshaft werden wollten, wurden die Bestimmungen erneut geändert. Wer über 40 Jahre alt war und nicht mindestens eine Million Euro investieren konnte, hatte fortan kaum Chancen, das Aufenthaltsrecht zu erhalten. Das erforderliche Geld konnte das Ehepaar aber nicht aufbringen, weil sich ihre Häuser in Deutschland nicht so einfach verkaufen ließen. Cornelia erinnert sich an diese schwierige Zeit: „Es war im Grunde alles geplatzt (…) und wir waren nur noch mit dem Touristenvisum hier. Und es ging nichts mehr! Wir waren kurz davor, dass wir wieder zurück müssen, das war also alles in der Schwebe.“ So gerne die beiden Endvierziger für immer in Neuseeland bleiben und einen alternativen Lebensstil auf ihrer Farm im Regenwald führen würden, ihr befristetes Visum zwingt sie immer wieder zur Ausreise. Andererseits müssen sie oft nach Deutschland, um den Immobilienverkauf zu organisieren. Der Traum vom Auswandern ist ihnen nur durch eine Abfolge von Urlauben möglich. Die Meyers sind dadurch notgedrungen Pendler im Halbjahresturnus. Neben diesen ‚Dauerurlaubern‘ wider Willen gibt es aber auch die Pendler aus freien Stücken, die sich bewusst für das ‚Dazwischen‘ entscheiden. Es handelt sich meist um eine hoch qualifizierte und gut situierte Elite, die sich ein hohes Maß an Mobilität aufrechterhalten will. Für diese „migrants of choice“ ist der Umzug nach Neuseeland nur eine Wahl unter vielen, um dem Lebenslauf eine außergewöhnliche Note zu verleihen; selbst das Land könnte durch ein anderes ersetzt werden (vgl. Bönisch-Brednich 2007). Für diesen Lebensstil, ob gewählt oder gezwungen, sind hohe finanzielle Mittel nötig, denn neben den Flugkosten muss der Pendler in beiden Ländern für eine Wohnung, ein Auto, Möbel etc. aufkommen. Der Vorteil vom doppelten Hausstand ist jedoch, dass man nur mit Handgepäck reisen kann und trotzdem auf nichts verzichten muss. Aufgrund der entgegengesetzten
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Jahreszeiten kann man zudem von Sommer zu Sommer reisen und sich das Beste aus beiden Welten herauspicken. „Migrants of choice leben ein Leben der potenziellen und ständig ausagierten Liminalität und Mobilität. Die Ansiedlung in Neuseeland bedeutet zwar den Ruhepol im Leben, aber keineswegs Stillstand. Dies würde ein Gefühl des Bodenständigen, Sesshaften und damit eindeutig immobilen Lebens bedeuten, das durchgängig negativ besetzt ist.“ (Bönisch-Brednich 2007: 467; Hervorhebung im Original) Um diese Mobilität oder zumindest die Illusion davon aufrechtzuerhalten, werden von den heutigen Auswanderern bereits vor der Ausreise Vorsorgemaßnahmen getroffen.
Das Gepäck als Indiz für die „Grauzone“ zwischen Urlaub und Auswandern Auswandern ist heutzutage keine Endstation mehr wie zu Zeiten der Dampfschifffahrt, sondern ein dynamischer Prozess, der die Rück- oder Weiterwanderung nicht ausschließt. Dies lässt sich vor allem am Gepäck der Auswanderer ablesen. „Verbunden mit biografischen Informationen, dienen diese ‚persönlichen Objekte‘ als Schlüsselsymbole für verschiedene Migrationssituationen und verschiedene, individuelle Strategien, mit diesen umzugehen“ (Warneken 2003: 7). Es verwundert, dass dieser Zugang in der Migrationsforschung bisher kaum Anwendung fand, denn der Blick auf die Dinge verspricht neue Perspektiven und interessante Aufschlüsse über die komplexen Zusammenhänge der Auswanderung. In „Mit Sack und Pack nach Neuseeland. Zum Gepäck deutscher Auswanderer heute“ habe ich gezeigt, dass die Objekte, die die Migranten begleiten, oft mehr über deren Persönlichkeit, Motivationen, Erwartungen und Bleibeabsichten aussagen, als den Auswanderern selbst bewusst ist (Schubert-McArthur 2007). Die Dinge sprechen nicht selten in einer anderen Sprache als die Auswanderer, was es dem Kulturwissenschaftler ermöglicht, die Aussagen der Interviewpartner durch die Analyse der materiellen Kultur zu überprüfen.
40-Fuß-Container – Das Packen und der Umgang mit der Habe Es versteht sich von selbst, dass die heutigen Emigranten unter völlig anderen Bedingungen auswandern als die Auswanderer vergangener Tage: „Auswandern – (...) der Begriff weckt unweigerlich anachronistische Assoziationen an Zeiten, in denen man noch seine Habe auf den Rücken packen und das Land zu Fuß verlassen konnte“ (Sporrer 1989: 239). Heute kann man seine gesamte Habe mitnehmen oder alles in Neuseeland neu kaufen. Durch Handelsabkommen und die Globalisierung der Märkte unterscheiden sich
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die Produkte kaum noch zwischen den Ländern. Fast alles ist auch im Zielland erhältlich. Dennoch nehmen die Auswanderer etliche Nutzgegenstände aus Deutschland mit. Aufgrund des Gepäckvolumens und der Zollbestimmungen ist die Auswahl der Dinge, die nach Neuseeland eingeführt werden können, jedoch begrenzt und eine Reduzierung des Hab und Guts nötig. In meinem Sample haben sechs von 13 Auswanderern ‚Sack und Pack‘ in einen oder mehrere Container9 verladen, wobei in zwei Fällen die Verschiffung vom zukünftigen Arbeitgeber bezahlt wurde. Die Variante „Liftvan“10 wählten zwei Migranten und ein Ehepaar schickte Paletten 11 nach Neuseeland. Zwei Auswandererpaare verschickten Kisten per Post, und zwei weitere gaben anderen Containerauswanderern einige Kartons mit. Das Containersharing ist nicht nur eine günstige Transportmöglichkeit, sondern hilft auch Kontakte zu anderen Auswanderern zu knüpfen. Nur ein einziger Auswanderer reiste ausschließlich mit Reisegepäck ein. Daniel Trust entschied sich aus Überzeugung dafür, nur mit seinem 20-Kilo-Rucksack auszuwandern. Das strategische Aussortieren der Habseligkeiten ist wichtiger Bestandteil der Auswanderungsvorbereitung und hat oft rituellen Charakter, wobei es mit größerer Rigorosität betrieben wird als das bei einem Umzug innerhalb Deutschlands oder Europas der Fall wäre. Die Dinge, die den Auswanderern besonders am Herzen liegen oder praktischen Nutzen aufweisen, werden eingepackt und nach Neuseeland mitgenommen, der Rest wird ausrangiert. Besonders der Umgang mit dem ‚Rest‘, also den Dingen, die man für entbehrlich hält oder schlichtweg nicht mitnehmen kann, gibt Aufschluss über die Intentionen der Emigranten und den Wandel der Auswanderung.
Übrige Dinge – Der Umgang mit dem ‚Rest’ Ein bedeutendes Kennzeichen der heutigen Migranten ist ihre hohe Mobilität, die der Auswanderung die Permanenz und Irreversibilität nimmt. Heute besteht die Möglichkeit, ins Heimatland zurückzukehren oder Besitztümer in persona oder per Spedition nachzuholen. Folglich treffen die Auswanderer Vorkehrungen für ihre eventuelle Rück- oder Weiterwanderung und sehen die 9 Container gibt es in zwei gängigen Größen: 20-Fuß-Container (33m³) oder 40-FußContainer (67m³). Die Preise liegen je nach Größe, Dauer der Überfahrt, Service und Spedition zwischen 2.500 und 10.000 Euro. Vgl. www.crownrelo.com; www.braunsinternational.de (15.06.2006). 10 Liftvan ist die Bezeichnung für eine 5m³-Box, die als separate Einheit gekauft werden kann und vom Spediteur zusammen mit anderen Liftvans in einem Container verschifft wird. 11 Paletten umfassen dasselbe Volumen wie Liftvans (5m³), werden aber nur mit Folie verpackt und sind deshalb billiger.
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ersten Monate beziehungsweise Jahre in Neuseeland eher als „Auswandern auf Probe“ denn als endgültige Destination, zumal sie fast immer ein Rückflugticket buchen und häufig zwischen den Ländern hin und her reisen. Brigitte Bönisch-Brednich hat in ihrer Untersuchung der „migrants of choice“ auf die Wichtigkeit der Mobilitätserhaltung im Übergangsprozess (vgl. van Gennep 1960) der Migration hingewiesen: „Die Erklärung, die sich hier für die Analyse dieser Lebensform anbietet ist, dass die Phase der Integration gleichzeitig eine Phase der anhaltenden Liminalität ist.“ (Bönisch-Brednich 2007: 467) Diese kulturelle und ökonomische Elite scheint sich im Schwellenzustand wohlzufühlen und sich darin sogar häuslich einzurichten. Der Wandel der Auswanderung manifestiert sich auch in den Dingen, die vorsorglich für die potentielle Rückkehr eingelagert beziehungsweise vorerst zurückgelassen werden, um sie bei Gelegenheit nachzuholen. Neben den Varianten der radikalen Trennung von Besitz durch Verkaufen, Verschenken oder Wegwerfen, traf ich häufig auf die abgemilderten, weil umkehrbaren Stufen des sich Trennens: Verleihen, in Pflege geben oder Einlagern. Die gängigste Praxis zum Reduzieren der Habe ist das Verkaufen. Damit lässt sich nicht nur die Reisekasse aufbessern, sondern gleichzeitig ein glatter Schnitt mit der eigenen deutschen Vergangenheit vollziehen. Für manche ist diese Art des Ablösens von den Habseligkeiten eine schmerzhafte Erfahrung, für andere ein befreiender Akt Ballast abzuwerfen. Und häufig wird das notwenige Übel im Laufe des Separationsprozesses als Katharsis empfunden, wie Jutta Kaiser-McKenzie formuliert: „(...) erst hat’s mir schon weh getan, und dann hab ich irgendwann gedacht: ‚Hey, es erleichtert auch irgendwie.‘ Gut, dann ist es jetzt Zeit, dann muss ich loslassen, das tut ein bisschen weh, aber es macht auch wieder Platz für Neues.“
Der Koffer in Berlin – Warum Dinge in Deutschland aufbewahren? Die Möglichkeit, sich die geliebten Dinge bei Bedarf wiederholen zu können, war dabei der Hauptgrund für die Auswanderer, sie aufzubewahren. Sei es, dass man das Zurückgelassene in der neuen Heimat vermissen wird, sei es, dass man nach Deutschland zurückkehrt und es wieder benötigt12. Sandra und Norbert Buck haben Norberts „alten Daimler“ an einen guten Freund
12 Die Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren und Objekte dort zu lagern, unterscheidet „migrants of choice“ von Spätaussiedlern oder gar Flüchtlingen. Die Aussiedlerin Rosa Nesterova musste beispielsweise aus Platzgründen ihre geliebte Nähmaschine und die meisten ihrer Kleider in Kasachstan zurücklassen, die sie nun schmerzlich vermisst, vgl. Schubert (2003).
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verliehen. Dafür, dass der Freund das Auto in seiner Garage unterstellte, durfte er es benutzen: „Den [Mercedes] ham wir mal behalten als Sicherheit, dass wenn wir zurückkommen, dass wir auf jeden Fall den wieder fahren können, dass wir den haben. Dass wir nich’ gleich ’n neues Auto kaufen müssen, sondern den einfach nur anmelden und dann is’ okay.“
Neben diesem pragmatischen Grund verhinderte Norberts Bindung zu seinem alten Wagen den leichtfertigen Verkauf: „Und da hat er sich auch nich‘ so einfach davon trennen wollen.“ Das Auto wurde erst verkauft, als Familie Buck in Neuseeland Fuß gefasst hatte. Bei diesem Beispiel wird eine Qualität der Dinge deutlich, die man lieber verleiht als verkauft: Es muss ein emotionales Band zwischen Besitzer und Gegenstand bestehen, das zumindest in der sensiblen Übergangsphase der Migration nicht gekappt werden soll. Gleichzeitig stärkt man mit der Übergabe eines ideell oder finanziell wertvollen Gegenstands die persönliche Bindung zum Empfänger. Denn wie das Schenken, knüpft auch das Verleihen oder in Pflege geben ein Netzwerk gegenseitiger sozialer Verpflichtungen (Mauss 1968), das die sozialen Beziehungen in der Gruppe und somit die Gruppe selbst stärkt. Für die Zurückgebliebenen ist das wie ein objektivierter Euphemismus, ein halbes Versprechen auf Wiederkehr. Sobald sich der Auswanderer jedoch im neuen Land eingelebt und eine räumliche und emotionale Distanz zu Deutschland aufgebaut hat, wird die ‚Nabelschnur‘ zum Heimatland über die Dinge, die man dort noch sein Eigen nennt, weniger wichtig. Häufig werden die übrigen Dinge jedoch bei den Eltern deponiert, wobei die Bandbreite vom Wegschließen über das Benutzen bis zum Exponieren reicht. Teilweise hat diese Form der Aufbewahrung eine therapeutische Funktion für die Eltern, wie das Claudia Ballhaus beschreibt: „Ich hab auch die ganzen Bücher, hab ich ja zu meinen Eltern geschleppt (...). Meine Mutter kann dann in das Zimmer gehn, wenn sie da bisken Sehnsucht hat. Und kann sich quasi in ‚meine Ecke‘ setzen.“ Somit werden die Dinge, die eng mit anderen Personen verknüpft sind und symbolisch auf diese verweisen, laut Tillmann Habermas, zu Bindungsobjekten oder Reliquien. Deren Nutzung und Bedeutung wächst im „Verlaufe des Lebens durch die langsam wachsende Anzahl von verstorbenen Bezugspersonen (oder ausgezogenen Kindern)“ (Habermas 1999: 314). Der ‚Koffer in Berlin‘ erfüllt also mehrere Funktionen. Erstens stellt er die praktische Alternative zum ‚sich Trennen‘ dar. Er ist ein Sammelbehältnis
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für Dinge, versehen mit dem Label ‚eventuell später benötigt‘, die zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt oder abgestoßen werden sollen. Der ungewisse Ausgang des Auswanderungsvorhabens animiert die Migranten zum breit gefächerten Sammeln, wie es auch aus der Museumspraxis bekannt ist: „Je komplexer und zukunftsoffener unsere Zukunft desto komplexer und vielseitiger müssen unsere Sammlungen sein“ (Hahn 1991: 87). Zweitens hat der Koffer identitätsstiftende Funktion, denn er markiert den Ort, den man verlassen hat und den man mit dem Begriff Heimat assoziiert. Er wird also zum Instrument der Ortsbindung und stillt die „Sehnsucht nach regionaler Identität“ (Korff 1997: 13). Aus der Distanz wird die Heimat, um mit Bausinger zu sprechen, zum „Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des eigenen Lebens ausgeglichen werden, in dem aber auch die Annehmlichkeiten des eigenen Lebens überhöht erscheinen.“ (Bausinger 1984: 15). In dem Liedvers „deswegen muss ich nächstens wieder hin“ steckt das Versprechen auf eine wie auch immer geartete Rückkehr. Drittens symbolisiert der zurückgelassene Koffer die eigene Biografie. Diese wird im Koffer konserviert, beinhaltet er doch, wie es im Lied heißt, „die Seligkeiten vergangener Zeiten“, materialisiert in Erinnerungsgegenständen. Der Koffer ist der handfeste Beweis für diese emotionale Selbstverortung. Viertens wird über die physische und sinnliche Präsenz des Koffers, der ja meist von einem Familienmitglied verwahrt wird, das Band zwischen dem Ausgewanderten und seiner Familie gestärkt. Die Aufnahme der Habe des ausgewanderten Kindes kann den Eltern eine Hilfe sein, den Verlust zu kompensieren. „Ich hab noch einen Koffer in Berlin. Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn. Auf diese Weise lohnt sich die Reise, denn, wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin“, heißt es im Refrain. Womit auch die fünfte Funktion genannt wäre: Der Koffer, der immer wieder bei Reisen aufgesucht wird und das Wiederkommen rechtfertigt, als Projektionsfläche des Heimwehs. Außerdem verweist der Liedtext mit „Der bleibt auch dort und das hat seinen Sinn“ auf das Nebenmotiv, den Koffer dauerhaft in der Heimat zu belassen. Es handelt sich beim Einlagern keineswegs immer um eine vorübergehende Lösung. Für manchen Auswanderer ist das Deponieren des Koffers durchaus dessen Endbestimmung.
Leerer Koffer, Tasche mit Souvenirs – Der Urlaub in der alten Heimat Gerade während des Heimaturlaubs darf sich der Hüter des Koffers sicher sein, dass der Auswanderer ihm einen Besuch abstatten wird und sei es nur, um sich der Existenz des Koffers zu vergewissern oder einen Teil des
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Inhaltes abzuholen. Von vielen Auswanderern wurde mir berichtet, dass sie für den Deutschlandurlaub so wenig wie möglich mitnehmen und sogar einen leeren Koffer mitführen, um Besitztümer nachholen zu können und genug Platz für ihre Einkäufe zu haben. Die Heimkehr der Auswanderer und die Rückkehr derselben zu ihrem jeweiligen Reliquienschrein oder Koffer kommt einer Wallfahrt gleich, bei der sie nachholen, was sie entbehren mussten und sich zugleich versichern, dass das Auswandern die richtige Wahl war. Im Heimaturlaub stehen Besuche bei Freunden und Verwandten genauso auf dem Programm wie „Currywurst essen“ oder „bei Ikea einkaufen“. Gerade diese im deutschen Alltag ‚normalen‘ Dinge, wurden von den Auswanderern in Neuseeland schmerzlich vermisst und werden deshalb im Heimaturlaub besonders ausgekostet. Die Möglichkeit der temporären Rückkehr ist für die heutigen Migranten von immenser Bedeutung, nicht nur, um den Kontakt zum Herkunftsland und zur Familie zu pflegen, sondern auch um ihr Selbstverständnis vom „flexiblen und mobilen Jetsetter“ zu demonstrieren. Der Schwellenzustand wird durch den Heimaturlaub erneuert, indem er den Migranten aus der Angliederungsphase in Neuseeland herausreißt und eine erneute Trennungsphase auslöst. Somit wird der angestrebte Zustand der permanenten Liminalität, also „betwixt and between“ (Turner 1969) zu sein, ausgedehnt zu einem in sich geschlossenen Kreislauf.
20 kg Reisegepäck und eine Tüte Mitbringsel – Die Besucher in Neuseeland Fast ebenso wichtig wie der Heimaturlaub ist es für die Auswanderer, Durchreisende aus der Heimat in Neuseeland zu empfangen. Die Besucher sind zugleich Botschafter und Boten zwischen den Kontinenten. Botschafter, weil sie vom Alltag in Deutschland berichten, sich persönlich vom guten Leben der Auswanderer überzeugen und Botschaften in Form von Fotos und mündlichen Erzählungen übermitteln sollen. Und Boten, weil sie Geschenke, Vermisstes und Benötigtes von Deutschland nach Neuseeland transportieren und im Gegenzug Souvenirs zurückbringen. Warum aber werden Produkte auf so umständliche Weise übermittelt, wenn man sie viel einfacher via Internet bestellen könnte? Neben dem augenscheinlichen Grund Porto zu sparen, haben die Mitbringsel eine weitaus wichtigere Funktion inne. Der Tausch von Gütern, etwa deutsche Bücher gegen Manukahonig, stabilisiert die emotionale Bindung zwischen den Auswanderern und ihren Besuchern beziehungsweise den Daheimgebliebenen. Dies
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gilt im Übrigen auch für die Care-Pakete13, die per Post nach Neuseeland geschickt werden. Darüber hinaus wird das soziale Netzwerk von Familienmitgliedern, Freunden und den Verreisenden innerhalb Deutschlands gestärkt. Eine beliebte Praxis ist das Mitgeben von Geschenken, das mit einigem Aufwand vor der Abreise in Deutschland organisiert wird. Die dazu nötigen Telefonate, E-Mails, Besuche und Übergabetreffen bringen oft wildfremde Menschen zusammen, deren einzige Gemeinsamkeit es ist, dass sie die Mittlerperson in Neuseeland kennen. Das Gastgeschenk oder Mitbringsel aus Deutschland dient auch häufig als Türöffner, wenn sich Gastgeber und Besucher zum ersten Mal sehen. Auf die Gastfreundschaft der Neuseelandauswanderer folgt zumeist die Gegeneinladung der deutschen Besucher, auf die man gerne im Heimaturlaub zurückkommt.
Von Auswanderung zum Langzeiturlaub? Die Auswanderungsdefinition vom Anfang aufgreifend, wird der Wandel der Auswanderung offensichtlich: Weder die Permanenz noch die vollständige Ablösung vom Heimatland durch Trennung von Besitz sind bei den heutigen „migrants of choice“ gegeben. Stattdessen lässt sich ein sehr hoher Anspruch der Migranten an Mobilität und Flexibilität und teilweise die Umsetzung derselben durch Pendeln oder häufiges Umziehen zwischen verschiedenen Ländern beobachten. Mobilität und Transnationalität sind Kennzeichen postmoderner Migration, die sich im ‚Koffer in Berlin‘ symbolisch und physisch manifestieren. Die Möglichkeit die Destination als Tourist kennenzulernen, von Neuseeland aus immer wieder auf Urlaub nach Deutschland zu kommen, sowie Güter zwischen den Ländern zu transportieren, vereinfacht die Separation und teilweise die Integration, scheint jedoch die Liminalität zu verlängern beziehungsweise zum Dauerzustand zu machen. Das Auswandern schrumpft dadurch zum Langzeiturlaub, zur Lebensabschnittsmigration oder zum Umzug zusammen. Wer noch Besitztümer in Deutschland hat, ist nicht vollständig und endgültig ausgewandert, sondern hält sich die Hintertür für die Rückkehr offen. Dass Urlaub und Auswandern zwei völlig verschiedene Dinge sind, erfahren viele Auswanderer am eigenen Leib und kehren wieder nach Deutschland zurück. ‚Der Koffer in Berlin‘ wartet bereits.
13 In den Care-Paketen befinden sich häufig deutsche Nahrungsmittel, die der Ordnung ‚soul-food‘ angehören, wie zum Beispiel Schokolade, Knödelpulver, Brühwürfel, Gummibärchen und manchmal auch selbstgebackener Weihnachtsstollen. Zur Bedeutung der Nahrung im Heimatkontext vgl. Köstlin (1991); Tolksdorf (1978).
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Turner, Victor (1969): The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, London. — (1977): Variations on a Theme of Liminality. In: Moore, Sally F./Myerhoff, Barbara G. (Hg.): Secular Ritual. Amsterdam 1977. S. 36-52. Van Gennep, Arnold (1960): The Rites of Passage. Chicago. Warneken, Bernd Jürgen (Hg.) (2003): Bewegliche Habe. Zur Ethnografie der Migration. Tübingen.
Gabe, Opfer, Ware – Dinge auf Trekking-Reisen Kundri Böhmer-Bauer
Fragestellung und Methoden Trekking-Reisen weisen im Vergleich zu vielen anderen Tourismusarten im Hinblick auf Dinge eine Besonderheit auf: Unterwegs in nichteuropäischen Ländern verschenken Trekking-Touristen häufig während oder nach einer organisierten Tour Teile ihrer Ausrüstung an die lokale Bevölkerung. Zielsetzung der folgenden Ausführungen ist es, zu beleuchten, welche Dinge wo, an wen, wann und warum verschenkt werden und welche Botschaften sie transportieren. Anders als zum Beispiel bei Marcel Mauss, der hinsichtlich der Gabe traditionelle Gesellschaften untersucht (Mauss 1984), oder David Cheal, der sich in Abgrenzung zu Mauss – wie er sie nennt – modernen Gesellschaften widmet (Cheal 1988), befasst sich der vorliegende Aufsatz mit den Aspekten der Gabe beim Aufeinandertreffen von Deutschen und Angehörigen verschiedener afrikanischer und asiatischer Kulturen. Dabei soll und kann keine Zuordnung in traditionelle beziehungsweise moderne Gesellschaften vorgenommen werden, da gerade im Bereich Tourismus – einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne per se – viele Mischformen entstanden sind, ganz abgesehen davon, dass sich Kulturen14 jeder Art stetig wandeln. Wenn nicht anders erwähnt, stammen die ausgewerteten Daten aus drei Erhebungen, die mittels Fragebogen zwischen November 2007 und Februar 2008 als Studie durchgeführt wurden; teilgenommen haben 56 Trekking-Touristen, 24 deutsche Reiseleiter und 15 Deutsch sprechende nepalesische Reiseleiter.15 14 „Kulturen“ sind für diese Ausführungen als Gruppen mit bestimmten Merkmalen definiert, welche sie nach eigener Ansicht von anderen Gruppen abgrenzen – das betrifft nationale und ethnische Kulturen ebenso wie Berufs- oder Freizeitkulturen. 15 Die Bögen wurden über einen deutschen Trekking-Reiseveranstalter verteilt, der Routen in über 80 Ländern anbietet. Die Fragen waren teils offen, teils geschlossen formuliert, auch bei den geschlossenen wurden die Teilnehmenden zu ergänzenden Bemerkungen ermuntert. Die Auswertung stützt sich auf Bögen von 26 männlichen und 30 weiblichen Trekking-Touristen mit einem Durchschnittsalter von 54 Jahren,
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Trekking, Trekking-Reisende und ihre Motive Der heute im Tourismus verwendetet Begriff Trekking ist abgeleitet vom mittelhochdeutschen und niederländischen „trecken“ mit den Bedeutungen „in einem Treck ausziehen“, „auswandern“, „etwas ziehen“ und lässt sich auf das lateinische „trahere“ – ebenfalls mit der Bedeutung „ziehen“ – zurückführen (Wahrig 1991: 1292). Reiseveranstalter betrachten Trekking als räumliches, körperliches und geistiges Bewegen auf ein Ziel hin. Es geht darum, persönliche Grenzen auszuloten, egal ob zu Fuß, per Fahrrad, Kanu oder Kamel, denn die Fortbewegungsmittel entsprechen den landschaftlichen Anforderungen oder den regionalen kulturellen Gepflogenheiten (Häupl/Schott 2005: 3). Bei Trekking-Touristen handelt es sich überwiegend um finanziell gut situierte Akademiker, höhere Angestellte, Beamte im höheren sowie gehobenen Dienst und Selbstständige, da die Touren trotz Komfortverzicht hinsichtlich Unterbringung und Verpflegung durch die anspruchsvolle Logistik preislich dem gehobenen Bereich zuzuordnen sind. Die Trekking-Touristen möchten körperlich aktiv unterwegs sein, suchen intensive Naturerlebnisse, die Begegnung mit Angehörigen anderer Kulturen, sportliche und mentale Herausforderungen, möchten etwas für ihre Gesundheit tun und Freiheit spüren.1
Verschenkte Dinge Zur Grundausrüstung von Trekking-Reisenden zählen allwettertaugliche Kleidungsstücke, Rucksack, Schlafsack, Taschenlampe, Taschenmesser und andere Dinge, die bei seriösen Trekking-Reiseveranstaltern auf Ausrüstungslisten verzeichnet sind, welche die Teilnehmer nach der Reisebuchung erhalten. Prinzipiell kann alles, was auf der Ausrüstungsliste steht, während der Reise als Geschenk verwendet werden. Am häufigsten wurden jedoch von den Touristen Kleidungsstücke genannt – von den Schuhen bis zur Daunenjacke, gefolgt von technischer Ausrüstung wie Stirnlampe, Kompass, Aluflasche, Rucksack; aber auch Toilettenartikel wie Seife und Zahnbürste, Medikamente, Uhren und Nähseide waren unter den Aufzählungen ebenso wie Musikkassetten, Schulsachen und Spielzeug. Insgesamt brachten mehr als zwei Drittel sowohl der Trekking-Touristen von 15 männlichen nepalesischen Reiseleitern mit einem Durchschnittsalter von 37,4 Jahren und von elf männlichen und 13 weiblichen deutschen Reiseleitern mit einem Durchschnittsalter von 48,5 Jahren. 1 Ergebnis einer Umfrage bei einer Trekking-Großveranstaltung in Garmisch im November 2005. Ausgewertet wurden 50 Bögen von 27 Frauen und 23 Männern im Durchschnittsalter von 48,7 Jahren.
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als auch der deutschen Reiseleiter Kleidung und andere Dinge extra zum Verschenken mit in die Reiseländer. Auffälligerweise wurde nur von zwei befragten Touristen Geld als Geschenk erwähnt, obwohl laut Reiseleiter und nach eigenen Beobachtungen 2 die Reiseteilnehmer nahezu alle Trinkgeld geben. Offensichtlich interpretiert die Mehrheit der befragten Trekking-Touristen Geld nicht als Geschenk, ganz im Gegensatz zu den nepalesischen Reiseleitern.
Geld und Dinge aus nepalesischer Sicht Von den 15 nepalesischen Reiseleitern waren 13 bereits von Touristen mit Stirn- und Taschenlampen, Messern, Rucksäcken und Kleidung beschenkt worden, wobei einer ausdrücklich betonte, dass er „neue“ T-Shirts bekommen hatte. Acht der Befragten führten Geld beziehungsweise Trinkgeld als Geschenk an, einer von ihnen ließ nur Geld als Geschenk gelten und rechnete gebrauchte Dinge nicht dazu. Mehrheitlich (zehn) vertraten sie die Meinung, sie bekämen nur Dinge, die die Reisenden nicht mehr bräuchten, gleichzeitig sahen sie (neun) die Dinge aber als Geschenk. Hätten sie die Wahl, würden sich zwei Drittel der nepalesischen Reiseleiter für bare Münze statt für Dinge entscheiden. Drei der Befragten erhofften sich indirekt Geld: Ihr Anliegen war es, dass die Touristen erneut nach Nepal reisen oder Werbung für das Himalaja-Land machen würden, wodurch ihnen Arbeit und Einkünfte sicher wären; einer wünschte sich Komplimente, vier Befragte begehrten etwas Spezielles beziehungsweise eine Überraschung aus dem Land der Touristen. Aber auch alte Kleidung für die Verteilung an arme Menschen wurde von einigen erbeten. Alle 15 nepalesischen Reiseleiter hatten wiederum selbst schon Touristen beschenkt – meist mit typisch nepalesischem Kunsthandwerk – und zwar am häufigsten (neun) zur Erinnerung. Interessanterweise wurde Erinnerung von keinem der Trekking-Touristen oder deutschen Reiseleiter als Schenkmotiv genannt. Als Gründe für ihre Geschenke an Touristen gaben die nepalesischen Reiseleiter an „Geschenkaustausch“, „Gegengeschenk“, „aus Freundschaft“, „zum Geburtstag“, „zur Freude“ und „weil sie so lieb waren“.
2 In mehr als 15 Jahren Tätigkeit im Bereich Trekking-Tourismus führte ich zahlreiche Gespräche und Interviews mit Touristen, Reiseleitern und Produktmanagern, deren Essenzen ich für meine Betrachtungen heranziehen möchte.
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Schenkmotive der Trekking-Touristen und deutschen Reiseleiter In erster Linie verschenken deutsche Trekking-Touristen und Reiseleiter Dinge, um den Menschen ‚eine Freude zu machen‘. Am zweithäufigsten wurde angegeben, dass man die Dinge zwar noch gebrauchen könne, aber die Menschen vor Ort seien ärmer und bräuchten sie nötiger als der Geber. Viele möchten explizit helfen, andere geben an, dass sie die Dinge nicht mehr bräuchten. Nur vereinzelt waren „Dank“, „Anerkennung“, „Gastgeschenk“ und „Entwicklungshilfe“ als Schenkgrund zu lesen. Fast zwei Drittel der Touristen wünschten sich, dass die Beschenkten die Dinge selbst verwänden oder weiterverschenkten, nur drei hätten nichts dagegen, wenn sie verkauft würden. Interessanterweise genau spiegelverkehrt schätzten die 15 nepalesischen Reiseleiter die Motivationen der Schenkenden ein. Fast alle waren der Meinung und erwähnten an erster Stelle, dass die Dinge nicht mehr gebraucht würden und alt und schmutzig seien; deshalb würden sie verschenkt. Gleichzeitig wurde aber ebenfalls von fast allen anerkannt, dass die Touristen gerne schenkten, ‚Freude machen‘ wollten und ein ‚gutes Herz‘ hätten. Als Begründung wurde auch angebracht, dass aus Dankbarkeit und aus Zufriedenheit mit der Tour und der Mannschaft geschenkt werde, aber auch, dass die meisten zu viel hätten und deshalb die Sachen für sie weniger wert seien. Das deckt sich mit den Antworten der Touristen hinsichtlich der Dinge, die sie nicht weggeben: teure Sachen, Dinge, die sie selbst brauchen, und Dinge, die neu und gut erhalten sind.
Orte und Beschenkte Insgesamt zählten die befragten Trekking-Touristen 35 Länder auf, in denen Dinge verschenkt wurden, von Äthiopien bis Vietnam. Die häufigsten Nennungen entfielen auf die klassischen Trekking-Länder im Himalaja (Nepal und Nordindien), in den Anden (Peru und Ecuador) sowie auf die Kilimanjaro-Region (Tansania und Kenia). Weder Australien noch nordamerikanische oder europäische Länder kamen vor. Deutlich lassen sich bei den TrekkingTouristen wie bei den deutschen Reiseleitern in Bezug auf die Beschenkten zwei Gruppen unterscheiden: einerseits die lokale Begleitmannschaft, wozu der örtliche Reiseleiter, der Bergführer, Träger, Köche oder Lasttiertreiber gezählt wurden, andererseits Fremde, wie Unbekannte am Weg, Hotelpersonal, Kinder, Rikschafahrer und Bettler.
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Geschenke und Gegengeschenke der lokalen Bevölkerung 23 der befragten Touristen waren in insgesamt 27 Situationen während ihrer Reisen auch von der lokalen Bevölkerung beschenkt worden, wobei nur acht Geschenke von Angehörigen der Begleitmannschaft stammten. Geschenkt wurde in recht zufälligen Situationen von einem Dorfbewohner (China), einem Lehrer (Vietnam), einer Lehrerin (Jemen), einem Universitätsprofessor (Vietnam), einer Pastorin (Chile), einem „Maasai-Häuptling“, einem Straßenkind (Pakistan), von Passanten (Tibet, Myanmar, Nepal), Patienten, einem Mönch (Tibet) und von Kindern (Japan). Erwähnt wurden zudem spontane Gegengeschenke als Reaktion auf eigene Geschenke. Beispielsweise wurde im Jemen für ein offenbar dringend benötigtes Fernglas, das ein Tourist der Wüstenpolizei überließ, ein Fest für die gesamte Reisegruppe ausgerichtet. Anderswo schenkte ein Fremder für Turnschuhe Lapislazuli zurück; und als eine Touristengruppe Geld für ein neugeborenes Kind gesammelt hatte, brachte die Mutter der Gruppe wenig später ein kleines Geschenk. Von den 24 deutschen Reiseleiterinnen und Reiseleitern hatten 22 bereits persönliche Gegenstände an Angehörige der lokalen Bevölkerung verteilt. Im Vergleich zu den Reisenden wurden Angehörige der Trekking-Mannschaft deutlich öfter (42) beschenkt als andere (23), wie Kinder, Hotelpersonal, Mitarbeiter einer Missionsstation, Familien, Dorfschullehrer, Fahrer, Übersetzer. 16 deutsche Reiseleiter hatten bereits Geschenke entgegengenommen, zwei verneinten, die restlichen sechs verweigerten die Antwort. Auffälligerweise wurden sie zum überwiegenden Teil (elf) von Angehörigen der Begleitmannschaft beschenkt und von Hotel- beziehungsweise Geschäftsbetreibern (drei), die regelmäßig besucht werden. Nur zwei Reiseleiter hatten Geschenke von Fremden am Weg erhalten.
Aspekte des Geschenks Etliche Autoren verwenden das Wort Gabe gleichbedeutend oder austauschbar mit dem Begriff Geschenk. Dem Geschenk werden verschiedene Erkennungsmerkmale zugeschrieben. So zeichnet es sich angeblich dadurch aus, dass es – zumindest für einen bestimmten Zeitraum – Hierarchien schaffe, zum Gegengeschenk verpflichte und unnütz sein müsse (Mauss 1984; Berking 1996: 10, 22, 27; Hetzel 2006: 282). Hinsichtlich der Hierarchien gilt bereits die Möglichkeit, Dinge aus dem eigenen Besitz verteilen zu können als Zeichen der Überlegenheit (Blau 1964: 108-109, 111, 113; Sahle 1987: 15). Jean-Paul Sartre betrachtet Schenken als Knechten, das Geschenk sei „(…) ein scharfer und kurzer, fast sexueller Genuß: hergeben heißt, sich am
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Besitz des Gegenstandes, den man hergibt, zu erfreuen, eine zerstörerische und zugleich aneignende Beziehung aufzunehmen“ (Sartre 1980: 746). Wer die Gabe annimmt, begibt sich dem Geber gegenüber in eine Schuld und ist ihm verpflichtet, bis er die Gegengabe geleistet und gleichsam den Kredit zurückerstattet hat (vgl. Sahle 1987: 7; Godelier 1999: 22). Die laut Marcel Mauss der Gabe inhärenten Verpflichtungen zu geben, zu empfangen und zu erwidern (Mauss 1984: 27-49) werden durch die vorliegenden Ergebnisse mehrfach untermauert. Die nepalesischen Reiseleiter ebenso wie die jemenitische Wüstenpolizei, die Person, die Lapislazuli zurückgeschenkt hat und die junge Mutter ließen sich durch die Geschenke nicht verpflichten oder „knechten“, sondern negierten durch das sofortige Gegengeschenk ihre Position als Hilfsempfänger, was sie auf gleiche Stufe mit dem Geber hob (vgl. Berking 1996: 22; Sahle 1987: 7). Den Gebern war es somit nicht möglich, sich als wohltätig, großzügig und edelmütig darzustellen (vgl. Berking 1996: 55). Trotzdem kann nicht verallgemeinert werden, da in den meisten Fällen bei Begegnungen im touristischen Umfeld die zeitversetzte Erwiderung der Gabe aus zweierlei Gründen ausscheidet: Erstens kehren Trekking-Touristen meist nicht auf gleicher Route im Land zurück, zweitens reisen sie im nächsten Urlaub in der Regel in ein anderes Land. Anders verhält es sich bei den deutschen Reiseleitern, die von der Begleitmannschaft oder von Geschäftsbesitzern Geschenke erhalten. Hier besteht die Erwartung, dass die Mannschaft bei der lokalen Agentur gut beurteilt wird, beziehungsweise dass die Reiseleiter bei ihrem nächsten Einsatz erneut das jeweilige Geschäft mit Touristen aufsuchen, weshalb hier nach deutscher Sicht bereits Aspekte der Korruption und Bestechung enthalten sind. Nicht umsonst rät Freiherr von Knigge schon im 18. Jahrhundert, so wenig wie möglich von anderen Wohltaten zu fordern und anzunehmen, da dies Freiheit raube und die uneingeschränkte Wahl hindere (Knigge 2006: 43). Problematisch, nicht nur in Bezug auf das hier untersuchte Thema, sondern generell, ist die Behauptung, ein Geschenk dürfe nicht nützlich sein. Obwohl sich die Behauptung durch die Aussagen derjenigen nepalesischen Reiseleiter stützen lässt, die „ein besonderes Geschenk“ aus dem Land der Touristen wünschen, wird hinsichtlich der Begleitmannschaft und Fremden am Weg von den Touristen und deutschen Reiseleitern immer wieder die Freude über Gebrauchtes – im doppelten Wortsinn – betont. Es ist nahe liegend, dass erst wenn das Notwendige vorhanden ist und die Grundbedürf-
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nisse gesichert sind, der Wunsch nach „unnützen“ Geschenken besteht. 3 Die nepalesischen Reiseleiter, die alle einen Universitätsabschluss haben, zählen in ihrer Heimat bereits zu den Besserverdienenden. Bezeichnend ist die Aussage eines nepalesischen Reiseleiters: „Sachen kann ich auch selber kaufen, aber eine besondere Sache freut mich.“ Auch Helmuth Berkings Deutung von Geschenken als Erinnerungen zum Anfassen, weil sie mit Geschichten verknüpft und mit Personen verbunden seien (Berking 1996: 20), wird durch die Aussagen der nepalesischen Reiseleiter bestätigt, da die meisten von ihnen – wie erwähnt – zur Erinnerung schenken. Andererseits sehen die nepalesischen Reiseleiter Geld als Geschenk, was wegen seiner Nützlichkeit nur in Ausnahmefällen als legitimes Geschenk anerkannt wird (vgl. Berking 1996: 27).4
Lächeln als immaterielles Gegengeschenk Wohltätigkeit, Almosen und Hilfe fließen einseitig von oben nach unten, von reich zu arm (Sahle 1987: 6, 11), weshalb Bettler, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation überhaupt nicht zurückgeben können, keine Dankbarkeit zeigen müssen (Blau 1964: 91). Das Almosen ist für den Empfänger notwendiges Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts; der Spender gibt ohne eine Erwiderung zu erwarten, der Empfänger nimmt, ohne die Gegenleistung zu erbringen (Sahle 1987: 12-13). Problematischer steht es um den Begriff „Hilfe“. Die meisten der befragten Touristen und deutschen Reiseleiter wollen eine Freude machen und/oder helfen und betrachten ihre – nützlichen – Gaben eindeutig als Geschenk, obwohl sie keine materielle Gegengabe erwarten. Trotzdem wird unbewusst sehr wohl eine Gegengabe eingefordert und auch erhalten: Freude beziehungsweise Lächeln. Peter M. Blau macht darauf aufmerksam: „Individuals who do favours for others expect a return, at the very least in the form of expressions of gratitude and appreciation, just as merchants expect repayment for economic services“ (Blau 1964: 314). Dankbarkeitspflichten sind wiederum auf das Engste mit einer sozialen Position scheinbarer oder tatsächlicher Unterlegenheit verbunden (Berking 1996: 51), weshalb milde Gaben den, der sie empfängt, aber nicht erwidern kann, verletzen (Mauss 1984: 157). Das Gegengeschenk zu dem laut Marcel Mauss die Gabe verpflichtet, ist in diesem Fall immateriell, was Antworten wie „ein Lächeln genügt mir“ auf den Fragebögen der 3 Hochzeitsgeschenke in der deutschen Kultur bestanden bis vor wenigen Jahrzehnten zum Großteil aus nützlichen Dingen, damit das Paar einen Hausstand gründen konnte. 4 Im Gegensatz dazu vgl. Elwert (1991: 171) und Cheal (1988: 25).
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Trekking-Touristen verdeutlichen. Mehrmals wurde von den Touristen und deutschen Reiseleitern Freude als Reaktion der Beschenkten erwähnt und zwar sowohl bei der Begleitmannschaft als auch bei Fremden. Problematisch dabei ist, dass sich die Menschen trotzdem zu einer materiellen Gegengabe verpflichtet fühlen. Die Beschenkten wissen nicht, dass sie bereits durch ihr Lächeln oder die Geschichte, die zu Hause erzählt wird, vergolten haben und auch nur die wenigsten Geber dürften sich darüber im Klaren sein. Hier trifft die Meinung von Marcel Mauss nicht zu, dass all unsere moralischen Bemühungen darauf abzielen, die unbewusste schimpfliche Gönnerhaftigkeit des reichen Almosengebers zu vermeiden (Mauss 1984: 157). Die Geber möchten nicht nur helfen, sondern ihre Reise mit emotionalen Erlebnissen anreichern, an die sie sich – wie an ein materielles Geschenk – erinnern wollen, sonst könnten sie die Gaben ebenso gut anonym verteilen (lassen) oder in einen Altkleidercontainer werfen (vgl. Godelier 1999: 14f.). Hilfreich ist dabei zu wissen, dass in verschiedenen asiatischen Kulturen Lächeln statt Freude lediglich Höflichkeit ausdrücken oder peinliche Berührtheit überspielen kann. So berichtete eine kasachische Trekking-Köchin, dass sie sich für ein verschwitztes T-Shirt einer Trekking-Touristin bedankt hatte, es dann aber wegwarf, da sie diese Gabe als Beleidigung empfand.
Inszenierung Gabentisch und Tombola Während die Beschenkung von Fremden überall vonstattengehen kann, hat sich bezüglich der Begleitmannschaft vom Himalaja bis Ostafrika je nach Destination seit 20 bis 35 Jahren ein regelrechtes Geschenkritual mit festem Ablauf herausgebildet, das hier exemplarisch am Beispiel einer KilimanjaroBesteigung, die im März 2008 stattfand, beschrieben wird. 5 Kernpunkt der Reise war wie bei vielen Trekking-Reisen die Bergbesteigung. Die Reisegruppe traf am Fuß des Kilimanjaro im tansanischen Nalemoru die afrikanische Begleitmannschaft: Gepäckträger, Koch, Bergführer (chief guide) und Assistenzbergführer (assistant guide). Während der nächsten sechs Tage war die erweiterte Gruppe am Berg unterwegs. Nach der Gipfelbesteigung und dem Abstieg am sechsten Tag hinunter ins kenianische Marangu wurden im Nationalparkbüro am Eingang des Parks für die erfolgreichen Teilnehmer die obligatorischen Gipfelurkunden ausgestellt und vom Bergführer überreicht. Danach breiteten die Trekking-Touristen unter der Regie der deutschen Reiseleiterin am Fuß des Berges eine Decke als „Gabentisch“ auf dem Boden aus und drapierten darauf wohl geordnet Dinge aus ihrem Besitz – zum 5 Die Angaben und für die Analyse herangezogene Fotos stammen von der Reiseleiterin.
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Großteil Kleidungsstücke – die nun der Begleitmannschaft zugutekommen sollten. Die zu Beschenkenden beobachteten scharf, was auf die Decke gelegt wurde. Manche Touristen bauten Stative auf, um die Inszenierung filmisch festzuhalten, es wurde eifrig fotografiert. Der Bergführer nahm nicht an der Verlosung teil, was die Reiseleiterin damit begründete, dass er gut verdiene und sich über die Verlosung eher lustig mache. Um niemanden zu vergessen, las die Reiseleiterin die Namen der wartenden Helfer von einer Liste ab, wer aufgerufen wurde, zog ein nummeriertes Los aus einer Mütze, weshalb der Prozess unter Reiseleitern als „Tombola“ bezeichnet wird. Derjenige mit der Nummer eins durfte zuerst einen der Gegenstände von der Decke nehmen, die anderen wählten entsprechend der Abfolge der Nummern. Im Anschluss an die Verteilung waren die unterschiedlichsten Reaktionen bei der Begleitmannschaft zu beobachten: Kleidung und Gegenstände wurden von den Afrikanern kritisch begutachtet und probiert, manches wurde vor den Augen der Geber untereinander getauscht oder verkauft. Trotz Glückslosverteilung kam es im Einzelfall zum persönlichen Dank.
Dinge als Haut bei touristischen Übergangsriten Die gesamte Trekking-Reise kann als klassischer dreiphasiger Übergangsritus bestehend aus Trennungsriten, Schwellen- beziehungsweise Umwandlungsriten und Angliederungsriten gedeutet werden (vgl. van Gennep 1986: 21; Beuchelt 1984): Die Reisenden treffen eine Auswahl an Dingen, die sie als TrekkingTouristen kenntlich machen, verabschieden sich von den Daheimbleibenden, tragen andere Kleidung, ändern ihre Umgangsformen, zum Beispiel ist sofort das Du üblich, es zählen andere Werte, beispielsweise sind nicht Einkommen und Titel für den Status entscheidend, sondern bereits unternommene Reisen und erfolgreiche Bergbesteigungen; man unterwirft sich anderen Lebensbedingungen durch Komfortverzicht und gliedert sich nach der Rückkehr wieder ein durch Begrüßung, frische und andere Kleidung, Anrufe und Fotoabende. Die mehrtägige Bergbesteigung kann innerhalb der Reise als Kernübergangsritus gedeutet werden – was sich auch daran zeigt, dass Stadtbesichtigungen oder Safaris bei dieser und ähnlichen Reisen von Veranstaltern, Touristen und Reiseleitern als Rahmenprogramm bezeichnet werden – der ebenfalls in die drei genannten Phasen zerlegt werden kann. Zum Trennungsritus zählen zum Beispiel die Verabschiedung vom Fahrer, der die Gruppe zum Berg gebracht hat, und das Zurücklassen des Hauptgepäcks. Der eigentliche Schwellenritus ist die Bergbesteigung, bei der sich die Touristen physisch und psychisch extremen Anforderungen
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aussetzen. Sichtbarer Abschluss des Schwellenritus am Fuß des Berges – also im Grenzbereich von Berg (Wildnis) und bewohnter Ebene (Kultur) – ist im beschriebenen Fall nicht nur die Verleihung der obligatorischen Gipfelurkunde – sie bestätigt den neuen Status in Bergsteigerkreisen –, sondern ebenso das symbolische und tatsächliche Zurücklassen eines Teils von sich am Berg in Form eines Geschenks für die Begleitmannschaft. Die auf der Decke arrangierten und fein säuberlich zusammengelegten verschwitzten und schmutzigen Kleidungsstücke erinnern regelrecht an eine Häutung und dadurch an eine Art Neugeburt der Teilnehmer. Es folgen die Begrüßung des Fahrers, der Einstieg ins Auto, die Fahrt ins Hotel und die Übernahme des Hauptgepäcks. Jetzt erst ist die Besteigungsetappe abgeschlossen.
Freiwilligkeit und Zwang – Gabe und Opfer Maurice Godelier bezeichnet die Gabe als einen individuellen oder kollektiven freiwilligen und persönlichen Akt, der von dem, der sie annimmt oder von denen, die sie annehmen, erbeten sein kann oder auch nicht. Davon unterscheidet er die erzwungene Gabe, wie Steuer oder Erpressung (Godelier 1999: 21, 25). Trekking-Touristen geben zwar, um zu helfen oder eine Freude zu machen, gleichzeitig rechtfertigt es der „Verlust“ aber auch, sich für die nächste Reise wieder mit neuesten High-Tech-Produkten auszustatten. Denn laut Kohl lauert auf die Angehörigen der Bildungselite – zu der viele Trekking-Reisende wie bereits erwähnt zählen – immer die Gefahr, ihre Exklusivität zu verlieren, weshalb sie ständig neue Statusobjekte entdecken müssen, um ihren Rang in der sozialen Hierarchie nicht zu verlieren (Kohl 2003: 130, 132). Mobile Objekte, zu denen ausdrücklich auch Sport- und damit Bergsport- beziehungsweise Trekking-Ausrüstung zählen (vgl. Csikszentmihalyi 1993: 24), besitzen nicht nur Prestigewert, sondern symbolisieren Macht. Allerdings steuert nicht jeder freiwillig zur Tombola bei. Eine junge Touristin, die sich die Reise hart erspart hatte, empfand es als „Gruppendruck und Zwang“, Geschenke auf die Decke legen zu müssen und wies im Interview darauf hin, dass sie an ihrem Pulli emotional gehangen hatte und auch die Gamaschen noch gut hätte verwenden können, worin sich einerseits der von Marcel Mauss propagierte Gefühlswert der Dinge (Mauss 1984: 157) und gleichzeitig eine Art Opfercharakter der Handlung im Sinn von Verzicht offenbart (vgl. Bahr 1994: 51). Dasselbe Verhalten trägt demnach für die Geber unterschiedliche Bedeutung und reicht von der Abstoßung wertloser Dinge über Prestigegewinn innerhalb der Trekking-Gruppe nach dem Motto „wer mehr gibt, ist mehr“ (vgl. Blau
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1964: 92) bis zum mehr oder weniger erzwungenen Opfer oder Ausdruck des symbolischen Todes.
Bedeutung für die Mannschaft – Lohn und Prestige Stellen sich die Touristen als Geber dar, so inszenieren sich die zu Beschenkenden als Nehmer. Die Beschenkung am Ende des Trekkings wird von den Begleitmannschaften erwartet, was auf eine Interpretation der Dinge als Zusatzlohn und nicht als Geschenk oder Prämie6 schließen lässt. Das zeigt sich deutlich darin, dass es nur vereinzelt zu Dank kam und die Gegenstände noch vor den Augen der Touristen getauscht7 oder verkauft wurden. Während bei der Gabe laut Maurice Godelier Nutzungsrechte aber nicht Eigentumsrechte abgetreten werden (Godelier 1999: 64), zeigt der Verkauf im Angesicht der Touristen, dass die Objekte als Eigentum betrachtet werden. Die Mannschaftsangehörigen sehen sich somit weder als Schuldner dem Geber gegenüber noch die Schenkung als solidarischen Akt;8 denn rein ökonomischer Austausch erfordert weder Gefühle, persönliche Verpflichtung noch Dank (Blau 1964: 94). Was die Touristen als Geschenk betrachten, sehen die Begleiter somit eindeutig als Ware. Fand mangels Gegenständen keine Beschenkung statt, reagierten ostafrikanische Mannschaften in der Vergangenheit bereits mehrmals lautstark verärgert, nepalesische still enttäuscht. Auch heute noch besteht in vielen ostafrikanischen Gesellschaften die Tendenz, Reichtum stetig umzuverteilen und so Unterschiede zu nivellieren: Wer hat, der gibt. Wer mehr hat, der gibt mehr. Überfluss wird regelrecht eingefordert und – wie sich gezeigt hat 9 – bei Fremden ebenso wie bei Verwandten. Hinsichtlich Ostafrika und Nepal wurde von Touristen, Touristikern und Reiseleitern in Interviews geschildert, dass sich Mitglieder der Begleitmannschaften am Ende der Bergtour extra schäbig kleiden, um Mitleid zu erregen und dadurch mehr Sachen zu erhalten. Während alte Kleidung den Status der Touristen innerhalb der eigenen Kultur beeinträchtigt, erhöhen europäische Markenzeichen den der Afrikaner oder Nepali innerhalb ihrer Kultur. 6 Eine Prämie vergütet oder belohnt eine Zusatzleistung, vgl. Bahr (1994: 51); vereinzelt schenken Touristen zum Beispiel „ihrem“ Träger bereits während der Bergbesteigung Dinge als besondere Anerkennung. 7 Beim Tausch ist die Entsprechung der Gaben Voraussetzung für die Transaktion, vgl. Elwert (1991: 165). 8 Entgegen der Meinung Godeliers (1999: 22). 9 Ähnliche Forderungen wurden an mich unter anderem in Kenia, Tansania, Simbabwe und in Sambia gestellt.
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Während die Bergsteiger einen Teil von sich ablegen, schlüpfen die Begleiter ein Stück weit in eine andere Kultur hinein. Dass es regional differierende Sichtweisen gibt, erklärte ein deutscher Reiseleiter in Bezug auf Pakistan: Um ihre kulturelle Identität zu bewahren, verweigern dort die Mannschaften die Annahme europäischer Kleidungsstücke.
Fazit Dinge erlauben uns, zu tun, was wir möchten, über sie zu kommunizieren und unsere kulturelle Zugehörigkeit ebenso auszudrücken wie unsere Individualität innerhalb eines Kollektivs (Dant 1999: 149). Neben diesen pragmatischen und sozialen Aspekten tragen Dinge auf Trekking-Reisen zudem symbolisch-rituelle, wirtschaftliche und letztlich auch politische Bedeutung hinsichtlich der Unterscheidbarkeit in Nehmer- und Geberkulturen. Doch inwieweit kann von Geschenken gesprochen werden? „Wirkliches Schenken“ beschreibt Theodor Adorno als Einfühlen in den Anderen und sich Zeit für die Wahl eines für diesen passenden Geschenks zu nehmen (Adorno 1986: 46, zitiert nach Berking 1996: 231). Auf die vorliegende Untersuchung ist dies allerdings nicht anwendbar, da die Geschenke von den Touristen zufällig und willkürlich an Unbekannte verteilt werden. Auch Marcel Mauss kann zur Erklärung nicht herangezogen werden, da in Gaben tauschenden Gesellschaften der Tauschgegenstand dazu verwendet wird, persönliche und permanente Beziehungen zwischen den Tauschgruppen zu stiften. Zwar beschenkt im Zusammenhang mit der Tombola eine Gruppe die andere, die Beschenkten sehen es aber nicht als Geschenk, sondern als Lohn, weshalb es begreiflicherweise nicht zum reziproken Gegengeschenk kommt. Es kann kein Beziehung stiftendes Band entstehen, weil die Touristen wieder abreisen – ganz abgesehen von der Frage, ob eine Beziehung überhaupt gewünscht wird. Bindungen entstehen lediglich zwischen deutschen Reiseleitern und lokalen Geschäftsleuten, also zwischen Personen, die wirtschaftlich auf ähnlicher Ebene stehen und erneut aufeinandertreffen können. Ob es sich um ein Geschenk handelt oder nicht, hängt somit von der Sichtweise des Betrachters ab. Die Touristen tanken durch das Schenken emotional auf und zementieren zugleich ihre Rolle als materiell Überlegene. In neokolonialer Manier wird vorausgesetzt, dass die benutzten Dinge für die Beschenkten erstrebenswert sind. Wie die Angehörigen der involvierten lokalen Kulturen zu den Geschenken stehen und welchen Weg die Dinge in den Ländern nehmen, bleibt durch Feldforschungen zu klären.
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Literatur Bahr, Hans-Dieter (1994): Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik. Leipzig. Berking, Helmuth (1996): Schenken. Zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt a.M./ New York. Beuchelt, Enno (1984): Die Fernreise als Initiation. In: Curare 2, S. 241-256. Blau, Peter M. (1964): Exchange and Power in Social Life. New York u.a. Cheal, David (1988): The Gift Economy. London/New York. Csikszentmihalyi, Mihaly (1993): Why we need things. In: Lubar, Steven/Kingery, David: History from Things. Essays on Material Culture. Washington/London, S. 20-29. Dant, Tim (1999): Material Culture in the Social World. Values, Activities, Lifestyles. Philadelphia. Elwert, Georg (1991): Gabe, Reziprozität und Warentausch. Überlegungen zu einigen Ausdrücken und Begriffen. In: Berg, Eberhard/Lauth, Jutta/Wimmer, Andreas (Hg.): Ethnologie im Widerstreit. Kontroversen über Macht, Geschäft, Geschlecht in fremden Kulturen. Festschrift für Lorenz G. Löffler. München, S. 150-177. Godelier, Maurice (1999): Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte. München. Häupl, Manfred/Schott, Michael (2005): Vorwort. In: Hauser Exkursionen Programmübersicht. München, S. 3. Hetzel, Andreas (2006): Interventionen im Ausgang von Mauss: Derridas Ethik der Gabe und Marions Pänomenologie der Gebung. In: Moebius, Stephan/Papiloud, Christian (Hg.): Gift – Marcel Mauss‘ Kulturtheorie der Gabe. Wiesbaden, S. 269291. Knigge, Adolph Freiherr (2006): Über den Umgang mit Menschen. (Erstauflage der dritten Auflage 1790, erste 1788). Augsburg. Kohl, Karl-Heinz (2003): Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München. Mauss, Marcel (1984): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Zweite Auflage. Frankfurt a.M. Sahle, Rita (1987): Gabe, Almosen, Hilfe. Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung 88. Opladen. Sartre, Jean-Paul (1980): Das Sein und das Nichts. Versuch einer Phänomenologischen Ontologie. (Erstausgabe 1943: L’être et néant. Paris). Hamburg. Van Gennep, Arnold (1986): Übergangsriten. Frankfurt u.a. Wahrig, Gerhard u.a. (Hg.) (1991): Wahrig - Deutsches Wörterbuch. Gütersloh/ München.
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Der Gebrauch von Objekten scheint uns selbstverständlich. Durch jahrelange Gewöhnung sind Dinge geradezu Erweiterungen unseres Körpers und wir haben den Umgang mit ihnen vollständig automatisiert (Kaufmann 1999). Dabei fließen im Umgang mit Dingen konventionelle Ordnungen und individuelle Routinen ineinander. Auf Reisen wollen wir Abenteuer erleben, Exotik genießen und die Andersartigkeit zum Alltag erfahren. Und unsere individuellen Routinen durchbrechen. Obwohl jeder von uns das Möbelensemble eines Hotelzimmers kennt, haben wir beim ersten Betreten „keine wie auch immer geartete persönliche Beziehung“ (ebd.: 48) zu den Gegenständen. Der Raum und seine Ausstattung muss erst angeeignet werden, auch wenn dieses „SichEinrichten [meist] auf wenige Gesten beschränkt“ (Schreiner o.J.: 6) ist: Erblicken, Durchschreiten, Anfassen. Gleichzeitig bleiben konventionelle Ordnungen bestehen, die uns auch in der Fremde Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Objekte stellen in diesem Zusammenhang eine interessante Quelle dar, denn in ihrer Materialität manifestieren sich sowohl solche konventionellen Ordnungen als auch verschiedene Lebensstile, die über Design transportiert werden. Dinge sind zwar stumm, aber dennoch aussagekräftig, „weil sie zeigen, präsent sind, und wir von ihnen etwas lernen können“ (König 2005: 26). Objekte erhalten ihre Bedeutung erst dadurch, dass sie durch Subjekte gedeutet werden: „Deutung heißt, dass dem Ding eine bestimmte Funktion und ein bestimmter Sinn unterstellt werden“ (Bausinger 2004: 204). Sinn und Funktion entstehen aus historischen, kulturellen und sozialen Kontexten. Gerade das Bett ist ein sehr stark mit Konventionen belegtes Objekt. Außerdem ist es das Herzstück eines Hotels. Im Alltag ein intimer Bereich im Privatraum, wird es im Kontext des Reisens, genauer im Hotel, zum Repräsentationsobjekt. Durch eine phänomenologische Analyse eines konkreten Hotelbettes erwarte ich mir Aufschluss über konventionelle Ordnungen und spezifische
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Gestaltungsbedeutungen. Welches Image zeigt das Objekt, wie präsent ist es und was können wir von ihm lernen? Am Anfang meiner Objektanalyse steht die genaue Deskription des Gegenstandes. Durch die Zerlegung des Dinges in seine Einzelteile wird eine Befreiung des Objektes von seiner alltäglichen Sinnhaftigkeit erreicht. In einem systematisch-logischen Prozess wird das Objekt dann in seinen Einzelteilen und in seiner Gesamtheit in Vergleich zu ihrem Vorkommen in anderen Kontexten gesetzt, was das Einnehmen neuer Blickwinkel und Perspektiven ermöglicht und die Komplexität des Gegenstandes verdeutlicht. Als Quelle dient mir ein konkretes Hotelbett, das ich im Feld forschend betrachtet habe. Flankierend nutze ich Fotografien, die den Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Zunächst folgen Überlegungen zum Raum ‚Hotel‘, bevor das Untersuchungsobjekt selbst und seine Umgebung vorgestellt und analysiert werden.
Das Hotel – ein besonderer Raum Das Hotel ist ein besonderer Raum. Es steht als Raum im Dazwischen, im „inbetween“ (Rolshoven 2000: 107): In ihm existieren diverse Gegensätze gleichzeitig nebeneinander. Der Raum ‚Hotel‘ steht zwischen Anonymität und Intimität. Die „Flüchtigkeit des Übergangsraumes“ (ebd.: 112) ist dabei von besonderer Bedeutung: Das schnelle Durchqueren der Hotelhalle, die kurze Begegnung an der Rezeption, eine flüchtige Berührung im Aufzug – diese Anonymität im Hotel wird positiv wie negativ gewertet und findet sich in vielen klassischen Bildern und Erzählungen wieder. Neben der Anonymität, die sich in der Flüchtigkeit der Begegnungen manifestiert, entsteht im Hotelraum gleichzeitig eine besondere Art der Intimität, die sich durch Geräusche, Spuren und Funde auszeichnet: die Gebrauchsspuren der Vorgänger am Frühstückstisch, die Stimmen, die durch die Zimmerwände dringen oder das frisch gereinigte Hotelzimmer, das gerade durch seine penible Aufgeräumtheit an die vergangene Anwesenheit von Personen erinnert. Eine weitere Gleichzeitigkeit, die den Raum ‚Hotel‘ prägt, zeigt sich zwischen temporärem Zuhause und Mobilität. Denn der Raum ‚Hotel‘ ist auch zeitlich gesehen ein Übergangsraum, dem gerade in heutiger Zeit besondere Bedeutung zukommt. Hotels werben damit, einen Ort ähnlich dem eigenen Zuhause zu schaffen. Sie bieten die komfortable Grundlage für eine mobile und flexible Lebensführung. Gleichzeitig kann ein Hotelzimmer kaum „zum ‚eigenen‘ Ort gemacht werden“, es bleibt immer ein temporäres „‚Ersatzzu-
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hause‘“ (Vonderau 2003: 35f.). Die unpersönlichen Räume werden eher als privater und persönlicher Raum vorgestellt. Ein weiterer Spannungsbogen, der den Raum ‚Hotel‘ prägt, zeigt sich zwischen Standardisierungen und Differenzierungen. Das Hotel ist ein strukturierter Raum. Nicht nur die Räumlichkeiten sind streng gegliedert, sondern auch die Abläufe der Handlungen sind standardisiert. Was aber geschieht, wenn diese Ordnungen durchbrochen werden? Das Handlungsfeld zwischen Professionalität und Provisorium macht den Raum ‚Hotel‘ zu einem Spannungsfeld, das sich lohnt, untersucht zu werden. Neben dieser notwendigen Standardisierung, die sich auch in der Grundausstattung des Raumes wiederfindet, versuchen sich Hotels gleichzeitig voneinander zu differenzieren. Sowohl durch die Gestaltung des Hotelraumes, als auch mit eigenen Standards und besonderem Service wird ein Image konstruiert, das das Hotel einmalig und unverwechselbar machen soll. Denn erst durch eine Differenzierung und eine eigene Identitätskonstruktion wird dem Gast die Möglichkeit der Rezeption geboten.
Das untersuchte Hotel Die Wahl eines Hotels ist eine Aussage über das Selbstverständnis des Gastes. Speziell, wenn es sich um einen besonderen Typ von Hotel handelt: das Boutiquenhotel. Der in den 1980er Jahren in den USA geprägte Begriff des Boutiquenhotels bezeichnet eine neue Art von Hotel, die nicht mehr nur Leistungen verkauft, sondern auch abstrakte Qualitäten bietet. „The boutique hotels (…) have traditionally been defined as small-scale hotels emphasizing high quality, lifestyle and design as the core of their business.“ (Christersdotter 2005: 75) Diese Hotels sind eher kleinere Betriebe, die dem Gast durch ihr Angebot, ihr Design und ihren Service ein einzigartiges Erlebnis bieten wollen. Sie erreichen einen Kultstatus, der für sich genommen bereits eine Reise rechtfertigt: „Through innovative architecture, outstanding design and world-class cuisine, HIP HOTELS have become destinations in their own right“ (Ypma 2001: 7). Das von mir untersuchte Bett steht in einem ebensolchen Boutiquenhotel. Gerade bei der materiellen Ausstattung dieser Hotels werden nicht nur die vorgeschriebenen Normen eingehalten, sondern auch eigene Vorstellungen umgesetzt. Das 4-Sterne-Haus ist in einem gutbürgerlichen Innenbezirk von Wien lokalisiert. Es wurde im Mai 2004 eröffnet und verfolgt ein spezielles Konzept: Wein und Design. Jedes der 33 Zimmer wird von einem österreichischen Winzer in Patenschaft betreut, es gibt regelmäßige Weinverkostungen und sogar in kleinen Details wird versucht, die vinophile
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Ausrichtung des Hauses aufzugreifen. Beispielsweise sollen Geruch und Farbe der personalisierten Duschgelproben in den Zimmern an Wein erinnern. Ein besonderer Anspruch an das Design ist die zweite Prämisse des Hotelkonzepts. Mit diesem Konzept hat das Hotel einen Trend aufgegriffen, der international boomt und speziell in Österreich eigene Blüten getrieben hat: die österreichische Weinarchitektur, die „die Kultur des Weines und die Architektur zu einer singulären, gemeinsamen Kulturleistung verdichtet“ (Steiner 2005: 6) und die heute als „österreichisches Weinwunder“ (Seiler 2005: 14) gefeiert wird.
Zum Gegenstand Bett Die Geschichte des Bettes ist so lange wie die Geschichte der Menschheit: Da das Schlafen zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört, gab es schon immer verschiedenste Schlafstätten. Essenzielle Erfahrungen der menschlichen Existenz wie Geburt, Krankheit und Tod sind mit dem Bett verbunden und finden sich bis heute in feststehenden Ausdrücken wie ‚an das Krankenbett gefesselt‘, ‚bettlägrig‘ sein oder ‚sich ins gemachte Bett legen‘ wieder. Eine kurze Anmerkung: Die Problematik des Begriffes „Bett“ liegt in seinem unpräzisen Gebrauch. Der Begriff wird zum einen für die verschiedensten Formen von Schlafstellen verwendet, bezeichnet aber auch oft nur das Bettzeug, also Federbett und Kopfkissen. Ich verwende ihn im Folgenden für das ganze Ding, also Rahmen, Lattenrost, Matratze und Bettzeug. Das Bett gehört heute zu den alltäglich und selbstverständlich genutzten Objekten, was ihm eine enorme Komplexität verleiht. Durch die vielfache und oft unreflektierte Nutzung entsteht eine Vielzahl an Bedeutungssträngen, die eng miteinander verwoben sind. Diesen Strängen einzeln zu folgen, würde den Rahmen des Aufsatzes sprengen, daher nur so viel: Es lässt sich zeigen, „dass die zunehmende Intimisierung und Kontrollierung des Schlafes keine geradlinig verlaufenden Entwicklungsprozesse sind“ (Korff 1981: 4). Durch die historische Entwicklung hin zu einem sehr intimen Ort, unterlag der Gegenstand Bett immer mehr einer gesellschaftlichen Tabuisierung. Die dadurch entstandenen, meist moralischen Konnotationen hängen dem Gegenstand bis heute an und prägen unseren Umgang mit ihm. Die nächtliche Nutzung, die Abgeschlossenheit des Ortes nach außen und das der Allgemeinheit verborgene Handeln prädestinieren das Ding als Bedeutungsträger, lassen es
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mehr emotionale und affektive Assoziationen hervorrufen als viele andere Gegenstände. Im Hotel ist das Bett Bestandteil eines ganzen Ensembles von Gegenständen, das eine ganz bestimmte „Physiognomie“ (Albus 1996: 47) aufweist. Schrank, Stuhl und Tisch sind um das bestimmende Möbel herum angeordnet. Das Hotelbett ist das „eigentliche (…) Herzstück jeden Hotelzimmerintérieurs“ (ebd.: 50). Es ist nicht nur der bedeutendste Teil des Hotelzimmerensembles, sondern es bildet auch ein Ensemble in sich. Es weist mehrere charakteristische Bestandteile auf: Neben dem Bettgestell, den Matratzen und dem Bettzeug gehören auf jeder Bettseite je ein Nachtkästchen und eine Leselampe zum klassischen Doppelbett. Diese charakteristischen Bestandteile des bürgerlich-konventionellen Bettensembles treten zwar in vielen Variationen in Erscheinung – verblendete Lichtröhren am Kopfende, ein hochragendes Fußende, in das Kopfteil integrierte Nachtkästchen – sind aber immer vorhanden (Winter-Raab 1995: 81).
Das untersuchte Hotelbett Das tatsächlich mitten im Raum stehende Bett erscheint leicht, licht und gleichzeitig solide. Bett und Raumteiler scheinen wie aus einem Guss. Dunkles, massives Holz, bei dem die natürliche Maserung erkennbar ist, verspricht eine solide Bauweise, helle und steif anmutende Bettüberzüge
Abb. 1: Foto: Autorin.
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verströmen Frische und Sauberkeit. Um das Bett herum ist der Rest der Möblierung angeordnet: Tisch, Toilette, Sessel und Schrank. Soweit der erste Eindruck beim Betreten des Zimmers. Bei näherem Hinsehen werden Details und Feinheiten erkennbar. Die Matratze des Doppelbettes besteht aus zwei Einzelmatratzen, die aber so eng in dem einen Bettkasten liegen, dass zwischen ihnen kaum eine Ritze erkennbar ist. Auf den Matratzen liegen je ein Kissen und eine Bettdecke, sauber gefaltet. Die hellgelbe Bettwäsche ist so steif gebügelt, dass sie beim Darüberstreichen knistert und rauscht; sie riecht frisch und macht einen sauberen Eindruck. Der rundum geschlossene Bettkasten reicht bis zum Boden und ist aus dem typischen glatt schimmernden, sattbraunen Holz, das beim Anfassen eine fast samtig anmutende Oberfläche aufweist. Der Raumteiler am Kopfende des Bettes, der gleichzeitig als Rückenlehne dient, reicht auf beiden Seiten über den Bettkasten hinaus. Hier sind die schon erwähnten Nachttischchen angebracht. Direkt über diesen befinden sich mehrere Lichtschalter und die, in den Raumteiler eingelassenen, dimmbaren Leselampen. Hoch über dem Bett hängt ein Betthimmel, der ebenso groß ist wie das Bett und nur am Raumteiler befestigt scheint. Es handelt sich um einen mit hellbeigem Stoff bezogenen Kasten, der stufenlos beleuchtbar ist. Wie schon erwähnt, folgt mein analytisches Vorgehen der Phänomenologie des Bettes. Dafür habe ich die einzelnen Elemente des Ensembles Hotelbett in drei Bereiche eingeteilt, deren Bestandteilen unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen zukommen. Dabei werde ich mich in der Analyse sozusagen vom Bettinneren zum Bettäußeren bewegen. Diese Vorgehensweise ist einem ersten Untersuchungsergebnis geschuldet, das ich hier vorwegnehmen will: Je weiter man sich von den Grundelementen eines Bettes wegbewegt, desto gestaltbarer werden die Formen, desto flexibler werden die Funktionen, desto aussagekräftiger werden die einzelnen Details für das Hotelimage selbst. In einem ersten Bereich fasse ich die grundlegenden Elemente eines Bettes zusammen, die zum Schlafen unbedingt nötig sind: Lattenrost, Matratze, Bettdecke und Kopfkissen bilden die funktionale Grundausstattung. Diese Elemente gehören zu den unabänderlichen Konstanten, die das Bett zu dem machen, was es ist. Dies bedeutet, dass diese Elemente in ihrer Funktion unveränderbar sind und wenig Möglichkeit für Design bieten. Im zweiten Bereich, einen Schritt weiter nach außen, siedle ich die konstitutiven Elemente des Bettes an: Nachtkästchen und Leselampen. Diese Bestandteile haben keine primäre Funktion mehr für das Schlafen, zeichnen aber durch ihr Vorhandensein erst das klassische Doppelbettensemble aus.
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Diese Elemente beinhalten Möglichkeiten des Designs. Allein das Vorhandensein dieser klassischen Elemente zeigt die Orientierung an gesellschaftlichen Normierungen und konventionellen Ordnungen (Jung/Müller-Dohm 1995). Der dritte Bereich beinhaltet die exzeptionellen Bestandteile, die nicht zum klassisch-konventionellen Doppelbett gehören: die Rückwand und der Himmel des Bettes. Hier lassen sich Verbindungen zu anderen, ehemals typischen Bettformen nachweisen, deren Zitat in der Analyse besonders berücksichtigt wird. Das Design dieser beiden Elemente trägt entscheidend zum Stimmungsambiente bei.
Die grundlegenden Bestandteile Zunächst zu den grundlegenden Bestandteilen des Bettenensembles. Diese Komponenten müssen ganz bestimmte Funktionen erfüllen und sind daher in ihrem Gestaltungspotenzial beschränkt: Auf dem Lattenrost und der Matratze muss man gerade liegen und sich mit einer Decke zudecken können. Neben diesem Funktionalitätsanspruch besteht eine zweite Anforderung an die Grundelemente: Gebrauchsspuren und Verschleißerscheinungen sind im Hotel besonders unangenehm. Durchhängende Matratzen und verklumpte Bettdecken tragen nicht unbedingt zum Wohlgefühl während des Aufenthalts bei. So fordert Volker Albus: „Also eben und fest sollte sie sein, die Matratze, federkernig!“ (Albus 1996: 50) Auch die optische Sauberkeit und Reinheit spielt dabei eine signifikante Rolle. Lattenrost, Matratzen und Bettzeug verbindet neben ihrer mangelnden Variabilität und dem Reinheitsanspruch noch ein dritter Aspekt: ihre Unsichtbarkeit. Der Lattenrost wird durch das Bettgestell und die Matratze verdeckt, die Matratze wiederum bedeckt ein Laken und das Bettzeug ist mit Bezügen vor fremden Blicken geschützt. Zu den grundlegenden Komponenten gehören also sowohl unsichtbare als auch sichtbare Elemente. Während bei den unsichtbaren Bestandteilen mehr auf funktionelle und gesundheitliche Aspekte geachtet wird – pflegeleichte Matratzen, antiallergisches Bettzeug – bieten die sichtbaren Komponenten Möglichkeiten zur eigenen Positionierung. Bezüge und Verblendungen verweisen einerseits auf kulturelle und gesellschaftliche Werte und Normen, andererseits demonstrieren sie persönliche und individuelle Vorlieben. Das Hotelbett beschränkt sich dabei auf das Elementare: keine luxuriösen Überdecken mit Blumenmustern, keine hindrapierten Zierkissen, keine Überfrachtung des Bettes mit Materialien und Farben. Wie in Designhotels üblich, wird auf eine überladende Ausstattung verzichtet und auf Schlichtheit und Funktion gesetzt (Mitterbauer 2004: 22): auf jeder Betthälfte eine Decke, ordentlich gefaltet, und ein Kissen. Die unifarbene
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Bettwäsche in Hellgelb wirkt unaufdringlich und fügt sich in die Farbgebung des Zimmers ein. Die gesamte Bettausstattung erscheint einfach, schlicht und unprätentiös, jegliches Ornament wurde „aus dem gebrauchsgegenstande“ (Loos 2001: 16) entfernt. Diese Konzentration auf das Elementare vermittelt auch das Bettgestell, ein zum Boden hin abgeschlossener, massiver Kasten aus dunkelbraunem Holz. Das Bett steht mitten im Zimmer – die Rückwand ist gleichzeitig ein Raumteiler, hinter dem der Badbereich liegt – und nimmt damit eine exponierte Stellung ein. Die Matratzen überragen den Bettkasten noch einmal und erhöhen die Liegefläche zusätzlich. Durch seine Form und Position im Raum legt das Bett die Assoziation eines Podestes nahe. Es ist keine wie auch immer geschützte Lagerstatt, sondern eine exponierte Liegestelle. Das Bett zeigt sich selbstbewusst als eigener Raum im Raum. Fasst man die Ergebnisse der Analyse der sichtbaren und unsichtbaren Komponenten zusammen, zeichnen sich zwei wichtige Aspekte ab. Der erste Aspekt, der die grundlegenden Elemente des Bettes prägt, umfasst die Schlichtheit und Einfachheit der Materialien und Formen. In der Unkompliziertheit und Bescheidenheit zeigt sich die Einstellung des Hotels: Dem Gast wird durch reduzierte Ausstattung die Möglichkeit zur Besinnung auf die wesentlichen Dinge des Lebens gegeben. Der zweite Aspekt betrifft die Reinheit vor allem der sichtbaren Elemente. „Das Konzept der Reinheit“ (Kaufmann 1999: 22) des französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann meint dabei mehr als nur hygienische Sauberkeit, es beinhaltet auch eine Vorstellung von Ordnung: Erst dadurch, dass die Matratze im Bettrahmen und Bettdecke und Kopfkissen auf dieser liegen, vermitteln die Elemente wirkliche Reinheit. Die Interdependenz von haptischen Qualitäten, gesellschaftlichen Ordnungen und kulturell geprägten Vorstellungen formen dieses Konzept. Aus der Korrelation der beiden Aspekte ergibt sich eine charakteristische Atmosphäre, die für den Stil des Hotels bezeichnend ist. Die Reinheit und Aufgeräumtheit des Bettes, die Reduktion auf das Wesentliche strahlen Ruhe aus und stellen eine fast kontemplative Atmosphäre her, spiegelbildlich zur lauten und hektischen Stadt. Sensuale und subtile Reize werden minimiert, genauer: optimiert. Die wenigen Materialien, die das Bett und die Zimmer prägen, sind sorgfältig ausgewählt und verarbeitet. Holz beispielsweise verbinden wir mit Beständigkeit: Es verbreitet durch seine Beschaffenheit Wärme und Geborgenheit und durch seine geradlinige und schlichte Verarbeitung Modernität und kühle Klarheit.
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Subtile Reize machen überhaupt den besonderen Anspruch aus: Auf dem Bettkasten liegend, hat man geradezu sprichwörtlich den Boden der Tatsachen verlassen, um in anderen Sphären zu schweben. Wie auf einem Thron residiert der Gast inmitten des Raumes, erhält den Überblick. Dieses diffizile Zusammenspiel von Fakten und Empfindungen kreiert ein besonderes Ambiente der Exklusivität: Die Sorgfalt, die auf die minimierte und reduzierte Einrichtung verwendet wurde, wertet die vorhandene Ausstattung auf und adelt sie. Der Gast kann diese besondere Stimmung rezipieren: „The materiality of the hotel becomes symbolic“ (Christersdotter 2005: 79).
Die konstitutiven Elemente des klassischen Doppelbettes Wenden wir uns nun den Komponenten des zweiten Bereiches zu, die keine primäre Funktion für das Schlafen haben und dennoch erst das klassische Bettenensemble ausmachen. Allein durch ihr Vorhandensein verweisen die konstitutiven Elemente Nachtkästchen und Leselampen darauf, wie tief das Ensemble Bett kulturell in der Gesellschaft verankert ist. An den Nachttischchen wird deutlich, wie die Form die Praxis beziehungsweise die Gewohnheiten bestimmt. Die Nachttischchen erscheinen filigran und leicht. Vor allem im direkten Gegensatz zum massiven Holzbettkasten zeigen sie sich elegant, zierlich und gleichzeitig stabil: Nur am Raumteiler angebracht, fallen sie inmitten der klaren, rechtwinkligen und geraden Formen mit ihrer eigenständigen Rundheit auf. Die Materialien Glas und Metall prägen ihr Erscheinungsbild. Auf den Tischchen sind Vasen platziert, wodurch ihre ursprüngliche Funktion – Stauraum direkt neben dem Bett – erheblich eingeschränkt wird. Dieser Funktion nicht vollends beraubt, wollen sie trotzdem anders sein. Sie sind geradezu eine materialisierte Geste luxuriöser Exklusivität: Wie zwei schwebende Tabletts, die von nimmermüden Dienern stets bereitgehalten werden, sind sie für den Gast verfügbar. Gleichzeitig diszipliniert die Gestaltung die Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Gäste, denn sie bieten nicht wirklich viel Platz und Stauraum. Nicht vorhandene Schubladen erteilen einer anderen gesellschaftlichen Tradition im Hotel eine Absage: Die obligatorische Bibel, die normalerweise in der Schublade der Nachtkästchen auf den Gast wartet, wurde hier gleich ganz weggelassen. Es wird deutlich: Funktion und Konvention sind bleibende Aspekte, aber interpretiert und auf das Minimale reduziert. Ästhetische Funktionen lösen einige konventionelle ab. Die Leselampen bestätigen dies noch einmal. Hinter Milchglasscheiben in die Bettenrückwand eingelassen, erfüllen sie zwar ihre prinzipielle Funktion
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des Lichtspendens, dennoch treten durch die Gestaltung Einschränkungen bei der Handhabung auf: Der Leuchtkegel des Lichtes ist nicht individuell einstellbar. Auch hier beeinflusst die Form die Praxis. Auch hier steht der ästhetische Aspekt im Vordergrund: Kein Kabel durchbricht die vorgegebene Ordnung, kein Schwenkarm zerstört die klaren Linien. Reduktion, Schlichtheit und Ästhetik bestimmen auch diese Komponente, die sich damit nahtlos in das Gesamtdesign einfügt.
Die exzeptionellen Komponenten Als Letztes nun zu den exzeptionellen Elementen des Bettes, die nicht zum klassisch-konventionellen Doppelbett zu zählen sind: Hier sind das die Rückwand und der Himmel des Bettes. Gleichwohl Bestandteile historischer Bettenensembles, werden diese Komponenten gestalterisch wieder aufgegriffen und verfremdet; individuell gestaltet dienen sie im direkten Sinn der Selbstinszenierung. Am Kopfende durch einen raumhohen Wandteiler – der Rückwand des Bettes – vom offen einsehbaren und von beiden Seiten begehbaren Badbereich abgetrennt, steht das Doppelbett buchstäblich mitten im Raum. Hier wird bewusst oder unbewusst zitiert: Denn Himmelbetten – und um ein solches handelt es sich hier – mit durchgehenden Kopfteilen standen meist nicht an Wänden, sondern frei im Raum. Mit dem Raumteiler werden also historische Gebrauchs- und Aufstellungsformen von Betten wieder aufgegriffen. Im Prinzip ist die Rückwand eines Bettes bis Hüfthöhe durchaus als ein Teil des klassischen Ensembles Bett zu betrachten. Sie stellt das Kopfteil dar, das die grundlegenden inneren Elemente wie Rahmen und Matratze mit den konstitutiven Komponenten Nachtkästchen und Leselampen verbindet. In diesem Fall aber reicht das Kopfteil bis knapp unter die Decke und auf der Fläche oberhalb seiner klassischen Funktion findet sich ein interessantes Detail, das verdeutlicht, wie mehrdeutig die Formen und Funktionen werden, je unkonventioneller die Bestandteile werden, je weiter man „nach außen“ geht. Funktionen und Gebrauchsmöglichkeiten sind nicht mehr eindeutig greifbar, sondern werden erst durch mehr Information und Hintergrundwissen verständlich. Inmitten der Rückwand sind horizontal zehn Chromknöpfe in regelmäßigen Abständen angebracht. Allein die mittleren Knöpfe, fünf und sechs, stehen etwas enger. Wie kann diese ‚Verzierung‘ verstanden werden? Welche Funktion haben diese Knöpfe? Wird hier ein klassisches Sujet in Schlafräumen, das Bild über den Köpfen, zitiert? Oder greifen die Knöpfe einen Aspekt von modernem Design, das reine Zitat einer Funktion, ohne dass diese wirklich
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vorhanden ist, auf ? Die Lösung habe ich nur durch Zufall erfahren: Bei den Chromknöpfen handelt es sich tatsächlich um eine Aufhängevorrichtung für zwei große Kissen, die als Polsterung der Holzrückwand dienen. Auch wenn sich also herausgestellt hat, dass die Chromknöpfe tatsächlich eine konkrete Funktion besitzen, so denke ich dennoch, dass auch die anderen Assoziationen nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Die Macht kultureller Tradierungen darf hier nicht unterschätzt werden und das Aufgreifen solcher Traditionen darf als bewusste Positionierung und Selbstaussage gesehen werden. Das ganze Bettensemble orientiert sich an der traditionellen Form des Himmel- oder Baldachinbettes. Ein Himmelbett war ursprünglich gekennzeichnet durch eine durchgehende Rückwand, zwei Fußpfosten und eine hölzerne Decke – den Himmel eben. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich unzählige Mischformen entwickelt, denen allerdings immer eine Art von Abgrenzung nach außen zu Eigen war. Ob hochgezogene Seiten- und Fußteile, opulente Samtstoffbahnen oder auch nur transparente Seidenvorhänge, es galt immer, den direkten Einblick zu verschleiern. Gleichzeitig wurde das Bett an gut einsehbaren Orten aufgestellt, denn mit seinen reichen Verzierungen galt es als Prestigeobjekt. Das klassische Himmelbett stellte folglich einen eigenen kleinen Intimraum dar, der gleichzeitig als Rückzugsort und als Repräsentationsobjekt fungierte. Diese beiden Funktionen – Repräsentation und Rückzugsort – haben sich im Himmelbett des Hotels erhalten – wenn auch individuell interpretiert. Der repräsentative Aspekt zeigt sich in der Positionierung des Bettes mitten im Raum. Die wuchtige Schlichtheit des Bettkastens und die geradlinige Konstruktion des Bettes betonen die Einmaligkeit des Objektes. Die Funktion des Rückzugsortes wurde modifiziert. Es geht nicht mehr darum, die Blicke fernzuhalten oder zu verschleiern, sondern um das genaue Gegenteil: Die Blicke einzulassen und durchzulassen. Denn das Himmelbett des Hotels zeichnet sich gerade durch seine Offenheit aus. Der hoch über dem Bett liegende Himmel, der nur am hölzernen Raumteiler angebracht scheint, besitzt eine optische Leichtigkeit. Der Himmel schwebt förmlich über dem Bett. Das wirklich Außergewöhnliche an dem Bettenhimmel ist allerdings seine Funktion als Lampe: Der gesamte Kasten kann stufenlos illuminiert werden. Die Beleuchtung schafft dadurch einen Rückzugsraum der anderen Art: Der Lichtkegel fungiert als eine Art Vorhang, der Eindruck eines Raumes im Raum verstärkt sich. Das beleuchtete Bett erscheint als eine lichtdurchflutete Insel im Zimmer, auf die sich der Gast zurückziehen und regelrecht sonnen kann.
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Der strahlende Himmel verleiht dem Ensemble – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Ausstrahlung, die das Bett nochmals als Repräsentationsobjekt bestätigt. Die Liegefläche des Bettes wird sowohl durch den podestartigen Bettrahmen als auch durch die Beleuchtung von oben zu einer Präsentationsfläche, auf der sich der Gast selbstbewusst postieren und positionieren kann.
Ausblicke Wenn ich Herrmann Bausinger zustimme, dass Dinge in ihrem Wesen konstant bleiben (Bausinger 2004), auch wenn sie sich in ihrer Materialität, Form und Funktion verändern – ein Auto ist auch nach einem Unfall immer noch ein Auto – so denke ich doch, dass eben diese Veränderungen spannend zu verfolgen sind. Die Abnutzung von Gebrauchsgegenständen besitzt für ein Designhotel besondere Brisanz. Abgestoßene Möbelecken, zerkratzte Fußböden und verschlissene Vorhänge passen kaum ins Konzept. Der Umgang mit und der Gebrauch von Gegenständen lässt aber Abnutzungsspuren entstehen. Gerade Objekte in Hotels, die viel ge- und benutzt werden, strömen schnell einen „Geruch vergangener Zeiten“ (Nooteboom 2000: 487) aus. Während viele traditionsreiche Häuser gerade daraus ihren Charme gewinnen und als Element ihrer Identitätskonstruktion pflegen, stehen Hotels mit einen Anspruch an das Design vor einem Problem. Design hängt immer auch mit Begrifflichkeiten wie Innovation, Neuheit und Modernität zusammen. Was aber passiert, wenn diese Begriffe nicht mehr greifen? Mit der Abnützung der Einrichtung verliert ein Designhotel auch einen Gutteil seiner exklusiven Atmosphäre. Hier und an vielen weiteren Stellen eignet sich die phänomenologische Analyse, denn sie lässt uns die Dinge genau betrachten. Mit der Untersuchung der Einzelteile eines Objektes lässt sich die Komplexität von Gegenständen zumindest teilweise auflösen, einzelne Bedeutungsstränge treten deutlicher hervor und werden greifbar. Die Phänomenologie ermöglicht uns einen reflektierten Umgang mit Dingen. Literatur Albus, Volker (1996): Bettwurst oder Federkissen? Streifzüge durch die Physiognomie des Hotelzimmers. In: Haussmann, Robert/Schulte, Karin (Hg.): Gemütlichkeit. München, S. 47-56. Bausinger, Hermann (2004): Ding und Bedeutung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 107, S. 193-210.
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Christersdotter, Maria (2005): Hip Hotels and the Cultural Economics of Auraproduction. In: Löfgren, Orvar/William, Robert (Hg.): Magic, Culture and the new economy. New York, S. 73-85. Jung, Thomas/Müller-Doohm, Stefan (1995): Kultur und Natur im Schlafraum. In: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hg.): Kulturinszenierungen. Frankfurt a.M., S. 239-262. Kaufmann, Jean-Claude (1999): Mit Leib und Seele. Theorie der Haushaltstätigkeit. Konstanz. König, Gudrun M. (2005): Dinge zeigen. In: Dies. (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Tübingen, S. 9-28. Korff, Gottfried (1981): Einige Bemerkungen zum Wandel des Bettes. In: Zeitschrift für Volkskunde 77, S. 1-16. Loos, Adolf (2001): Ornament und Verbrechen. In: Conrads, Ulrich/Neitzke, Peter (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Basel, S. 15-21. Mitterbauer, Susanne (2004): Strenge Kammern. In: Der Standard vom 11./12.09.2004, S. 22. Nooteboom, Cees (2000): Notebooms Hotel. Frankfurt a.M. Rolshoven, Johanna (2000): Übergänge und Zwischenräume. Eine Phänomenologie von Stadtraum und ‚sozialer Bewegung‘. In: Kokot, Waldtraud/Hengartner, Thomas/Wildner, Katrin (Hg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandsaufnahme. Berlin, S. 107-122. Schreiner, Michael (o. J.): Hotelzimmer. Verschwiegener Ort der Geschichten. (Archive des Alltags, 5). Dortmund. Seiler, Christian (2005): Luftschlösser auf den Weinbergen. Die atemberaubende Karriere des österreichischen Weines und seines Zuhauses. Oder: Wie man aus dem Baustoff Psychologie Optimismus baut. Ein Panorama. In: Architekturzentrum Wien (Hg.): WeinArchitektur. Vom Keller zum Kult. Ostfildern-Ruit, S. 12-18. Steiner, Dietmar (2005): Vorwort. In: Architekturzentrum Wien (Hg.): WeinArchitektur. Vom Keller zum Kult. Ostfildern-Ruit, S. 6-8. Vonderau, Asta (2003): Geographie sozialer Beziehungen. Ortserfahrungen in der mobilen Welt. Münster. Winter-Raab, Cornelia (1995): Das Bett im Wandel der Zeit. (Dipl.). Linz. Ypma, Herbert (2001): Hip Hotels. Escape. London.
Frühstückspension und Eckbank Eine materielle und materialistische Kultur der Enge Michael Zinganel
Gedächtnismanuskript einer frei gehaltenen Rede an der Tagung Dinge auf Reisen, LudwigMaximilians-Universität München, 10. bis 12. April 2008, aufgezeichnet im Speisewagen München-Wien, überarbeitet im Januar 2009. „An einem Sommertag Ende der 1960er Jahre hielt ein junges deutsches Ehepaar mit seinem gebrauchten VW-Käfer nach der Ortsdurchfahrt von Kirchberg in Tirol am Straßenrand an, um nach der genauen Lage der von ihnen gebuchten Pension zu suchen. An der benachbarten Baustelle, wo drei Männer in Nachbarschaftshilfe die erste Ziegelschar auf die Kellerdecke aufsetzten, erhielten sie Hilfe. Sie bedanken sich und erkundigen sich, ob aus dem Häuschen denn auch eine neue Pension werden würde. Aus der Baustelle sollte tatsächlich eine kleine Pension werden und aus dem deutschen Ehepaar ihre treuesten Stammgäste, die jahre- und jahrzehntelang wiederkommen sollten: Zuerst ohne Kinder, dann mit eigenen Kindern, schlussendlich mit den Enkelkindern.“ 1
Die bescheidene „Fremdenpension“ mit Familienanschluss in den nahe gelegenen österreichischen Alpen repräsentierte nach dem Zweiten Weltkrieg eines der ersten und beliebtesten Urlaubsdomizile des deutschen Mittelstandes.2 Dabei zeigten sich viele von diesen Beherbergungsbetrieben zu Beginn lediglich als bloße Adaptionen von einfachen Einfamilien- oder Bauernhäusern. Je kleiner diese Pensionen und je enger deren räumliche Verhältnisse, desto weniger Platz blieb für Raumfolgen unterschiedlicher Intimität, für unterschiedliche Qualitäten von Privat und Öffentlichkeit oder für eine Differenz zwischen Bühnen und Hinterbühnen, an deren Schwellen 1 Diese Erzählung wurde dem Autor von einer Pensionswirtin in einer eigenartigen Mischung aus Stolz und ironisch gebrochener Schicksalsergebenheit zugetragen (Interview des Autors mit Pensionswirtin K. in Kirchberg in Tirol, geführt im Frühjahr 1998). 2 Natürlich stammen die Gäste der alpinen Frühstückspensionen auch aus anderen Märkten. Die deutschen Reisenden stellen aber von der Nachkriegszeit bis heute die signifikant größte Gruppe dar und verwandeln manche Dörfer der Alpen in Freizeitperipherien deutscher Großstädte.
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Reisende und Bereiste ritualisierte Interaktionen inszenieren konnten. Stattdessen fanden sich die Reisenden aus den wenigen winzigen Zimmern rund um die zentrale Eckbank der Stube zusammen, wo die soziale wie räumliche Enge in den positiv besetzten Wert der „Gemütlichkeit“ übersetzen konnte und die Teilhabe am Leben der Gastgeberfamilie zur vermeintlichen „Authentizität“ erhoben wurde. Parallel zum Strukturwandel im Tourismus, der veränderten Konsumerwartungen der Reisenden und der sich verringernden Selbstausbeutungsbereitschaft der Bereisten vor Ort wurden viele der kleinen „Fremdenpensionen“ baulichen, betriebswirtschaftlichen und funktionalen Transformationen unterzogen: In den euphorischen Wachstumsphasen wurden sie ergänzt, erweitert und überbaut. Sie wuchsen bis zu den Dimensionen kleiner Hotels an, sodass sich die soziale Enge auflöste. Später wurden viele, um den Dienstleistungsaufwand zu reduzieren, als Ferien-Appartements adaptiert und schlussendlich auch in privaten Wohnraum rückverwandelt. Aber die Pensionen sind deshalb keineswegs wegen ökonomischer Irrelevanz aus der touristischen Kulturlandschaft verschwunden, wie das von Professionellen der Tourismusindustrie prophezeit wurde und wird.1 In vielen der einstigen Alpendörfer, die sich mittlerweile zu riesigen wuchernden Agglomerationen aus Hotels, Parkplätzen und Terminals ausgewachsen haben, fungieren die verbliebenen kleinen und mittleren Pensionen als baulicher und emotionaler Kitt, der die Erinnerung an den einstigen Dorfcharakter erhält. Die Pensionen waren für die Sinnstiftung und Wertschöpfung in der jeweiligen Betreiberfamilie von Bedeutung – und sie sind es in vielen Fällen auch heute noch. Sie werden nach wie vor über die lokalen Kurverwaltungen und Tourismusbüros als Unterkünfte angeboten – und sie werden von den Reisenden nach wie vor gesucht und gebucht. Worauf beruht der Erfolg der Fremdenpension? Ist es tatsächlich ausschließlich die ökonomische Knappheit auf beiden Seiten: die bescheidene Zahlungsfähigkeit der Touristen und die mangelnde Investitionskraft der Anbieter, die in den 1960er und 1970er Jahren ihre Kinderzimmer an Gäste und ihre Wohnzimmer als deren Frühstücks- und Fernsehzimmer vermieten mussten, um das karge Familieneinkommen zu erhöhen? Diese materialistische Argumentation mag für die lokalen Anbieter aus dem unteren sozialen 1 Interview des Autors mit Tucek, Rudolf, geführt in Wien im Sommer 2003. Rudolf Tucek war bis 2003 CEO des Österreichischen Verkehrsbüros, des mit Abstand größten Unternehmens in Österreichs Tourismus-Industrie. Seit 2004 ist er Chef der Vienna International Hotels, einer Kette mit 40 Hotels, und konzipierte unter anderem mit der Marke „Cube“ ein designorientiertes Budget-Hotel für alpine Destinationen.
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Milieu zutreffen – und auch für die jeweiligen Urlaubsanfänger: Jugendliche oder beispielsweise der weniger wohlhabende reisewillige Mittelstand aus den postsozialistischen Ländern, der nach der Wende mit seinen neu angeschafften Privat-Pkws mit Begeisterung die Alpen erkundetet wie der deutsche Mittelstand in der Nachkriegszeit. Pensionen wurden und werden aber auch von Gästeschichten besucht, die sich auch teurere Unterkünfte durchaus leisten können – das aber partout nicht wollen. Es stellt sich demnach auch die Frage nach Argumenten jenseits der ökonomischen Vernunft, nach ästhetischen und sozialen Codes, die sich in den Emotionshaushalt der Gäste so tief eingeklinkt haben, dass sie als Stammgäste jahre- oder sogar jahrzehntelang wiederkommen wollten – oder die jene Pensionen, die sie bereits mit ihren Eltern aufgesucht hatten, nach einer adoleszenten Auszeit mit den eigenen Kindern wieder bereisen. Sollte inmitten des sich etablierenden Massentourismus gerade in den Frühstückspensionen tatsächlich eine „besondere Atmosphäre“ existieren? Wenn ja, inwieweit trägt dann auch der materielle Aspekt – in Form der Erscheinung der Gebäude, der Raumfolgen, des Mobiliars, der Materialen und der Ausgestaltung – maßgeblich dazu bei? Und sind es nicht vor allem die Varianten sozialräumlicher Nähe, die das Handeln der Akteure entscheidend strukturieren?
Der entwurzelte Intellektuelle in der Frühstückspension Der Autor ist weder Volkskundler noch Ethnologe! Ich spreche und schreibe über die Pension aus dem Blickwinkel eines kulturkritisch geschulten Architektur- und Kulturhistorikers, der allerdings auf ein reichhaltiges Erfahrungswissen über Pensionen verweisen kann – und zwar nicht aus der Erfahrung des ‚Reisens‘, sondern der des ‚Bereist-Werdens‘: Ich bin in Zell am See, einer Top-Tourismus-Destination in den österreichischen Alpen, aufgewachsen, habe Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre in den Weihnachts-, Semester- und Osterferien als Skilehrer gearbeitet und mich aus ‚liederlichen‘ Gründen auch viel um Pensionen – und mitunter auch in Pensionen – herumgetrieben. Denn wie bei vielen anderen (männlichen) einheimischen Jugendlichen in Tourismusdestinationen verlief die sexuelle Initiation (auch) über Affären mit annähernd gleichaltrigen Touristinnen – die vorrangig in kleineren und mittleren Frühstückspensionen abgestiegen sind. Ich wuchs also inmitten eines Feldes intensiver touristischer Dienstleistungen auf, deren außeralltägliche transnationale Sozialkontakte ihre emotionalen Höhe- oder Tiefpunkte in so manchen Fällen in der sozialräumlichen Enge einer Frühstückspension fanden. Rückwirkend betrachtet waren das peinliche Erfahrungen, in denen man(n) zudem auch
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mit den moralisch strengen Vorstellungen so mancher Pensionswirtin in Konflikt geraten konnte.2 Typisch für meine adoleszente oder post-adoleszente Phase wollte ich damals aber nicht nur an den offensichtlichen sozialen Benefits einer Tourismusdestination teilhaben, sondern mich gleichzeitig auch als rebellischer Jugendlicher beziehungsweise als kulturkritischer urbaner Intellektueller inszenieren. Ich versuchte mich genau von der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, abzugrenzen. Ich war dem entsprechend offen für Kapitalismus- und Tourismuskritik – und begann, die angelesenen Argumente vom Ausverkauf der Heimat, der Ausbeutung der Arbeitskräfte, dem Unauthentischen der Inszenierungen, vom Urlaub als Alltagsflucht zum Zwecke der politischen Selbst-Betäubung der Reisenden usf. zu reproduzieren und den Akteuren vor Ort auch unter die Nase zu reiben. Das stieß – wie beabsichtigt – auf heftigen Widerstand und festigte meinen Status als Rebell im Tourismusort. Gleichzeitig unterstützten der angelernte Habitus und die kommunizierten Ideologien meine angestrebte Assimilierung an das kulturbetriebslinke soziale Umfeld am Studienort. Dort dominierte damals (wie heute) eine spezifische distinktive bildungsbürgerliche Praxis. Sie changiert zwischen einer pauschalen Diffamierung des Kleinbürgertums und einem Faschismusverdacht, dem alle unterworfen werden, die sich nicht lauthals distanzieren: Demzufolge entwickeln sich gerade die alpinen Tourismusregionen in der Nachkriegszeit zum Refugium ferngesteuerter Kleinbürgerfamilien, die statt Entfremdung und politischem Engagement die vermeintliche Authentizität völkischer Kultur in den alpinen bäuerlichen Familienbetrieben oder ihren Surrogaten suchen.3 Diese radikale Kritik hat – in verschiedenen Differenzierungsgraden und mit unterschiedlichen sprachlichen Qualitätsansprüchen – mittlerweile Eingang in die arrivierte österreichische Literatur gefunden (Gstrein 1988; ebd. 1995; Mitterer 1991; Jelinek 2002; vgl. auch: Straub 2001). Ein zweiter Abgrenzungsreflex stammt aus dem akademischen Architekturbetrieb, in dem ich ab 1979 als ehrgeiziger Student meine Karriere begann. Die Lehre war nach wie vor an den Dogmen der Klassischen Moderne, die den Bruch mit den Traditionen zu ihrem Programm machte, und an den rationalen und funktionalen Prinzipien des Bauhauses ausgerichtet. Der aus 2 Berüchtigt sind die Erzählungen über Wirtinnen, die keine Doppelzimmer an Paare vergaben, wenn diese nicht nachweisen konnten, auch tatsächlich miteinander verheiratet zu sein. 3 Verdrängt wird dabei allerdings, dass sich die alpine bäuerliche Haustypologie, die gute Stube und ihre Eckbank, schon lange zuvor in den höheren und höchsten sozialen Klassen etabliert hatten.
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traditionellen landwirtschaftlichen Gehöften der Region und der an ihnen orientierten Villentypologie des Schweizerhauses gewachsene Formenkanon der alpinen Frühstückspensionen und Hotels (wie all der anderen kleineren Wohngebäude auch) repräsentierte dabei genau das Gegenteil dessen, was im akademischen Betrieb für „gute“ Architektur gehalten wurde.4 Und an Projekten einer visionären internationalen Moderne hatte Österreichs Architekturszene in der Nachkriegszeit einen enormen Nachholbedarf, der – aus dem Blickwinkel ihrer Eliten – bis heute nicht ausreichend abgedeckt werden konnte. Daraus entwickelte sich eine ausgesprochene Aversion gegen alles „Regionalistische“, wie sie federführend in „Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite“ von Friedrich Achleitner, dem Doyen der österreichischen Architekturgeschichte und -kritik formuliert wurde (Achleitner 1997). In meiner sozialen Befangenheit 5 dürfte auch einer der Gründe zu suchen sein, warum die Selbstermächtigung, von der narzistischen in die wissenschaftliche Reflexivität überzutreten – in Bezug auf das Thema „Tourismus“ – geradezu jahrzehntelang auf sich warten ließ. Im Gegensatz zur Unerbittlichkeit, mit der andere entwurzelte Intellektuelle einer älteren Generation – wie Friedrich Achleitner oder Elfriede Jelinek – dem kleinbürgerlichen Milieu ihrer Heimat begegneten, reagierte ich zunehmend versöhnlich gegenüber den Entwicklungen der Region, in der ich meine Jugend verbracht habe. Im (späten) Erwachsenwerden hat sich mein rebellischer Habitus gelegt. Ich begann mich geradezu brennend dafür zu interessieren, zu erfahren, wie meine Schulfreunde und Freundinnen – von denen viele als Kinder in kleineren und größeren Frühstücks-Pensionen aufgewachsen sind – ihren Arbeits- und Lebensalltag im oder am Rande der Tourismusindustrie heute eingerichtet haben. Dazu haben mich nicht zuletzt auch meine beruflichen Abwege aus dem distinktiven akademischen Kunstund Architekturbetrieb zu wirtschaftshistorischen und kulturwissenschaftlichen Studien und Projekten ermutigt. In dem urbanen Kunstbetriebs-Milieu, 4 Die Moderne-Kritik konnte selbst in den 1980er und 1990er Jahren, als der Autor Architektur studierte, im akademischen Architekturbetrieb Österreichs noch kaum Fuß fassen. Einer der Gründe dafür dürfte sehr wahrscheinlich darin zu suchen sein, dass das Bauhaus – das symbolische Zentrum der „internationalen“ Moderne – von der „Blut-und-Boden“-Ideologie des Nationalsozialismus zerschlagen wurde und die Moderne daher als visionärer und antifaschistischer Gegenpol mystifiziert werden konnte. 5 Meine Rebellion gegen den Tourismus stellte demnach ein – durchaus erfolgreiches – Loslösungsritual vom Heimatort und ein Angliederungsritual an den Studienort Graz dar (das ich in den ersten Semestern übrigens auch durch eine Kleiderkombination aus Trachtenjacke, Palästinenser-Schal und Doc-Martens-Stiefeln zu unterstützen versuchte).
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indem ich heute lebe, sowie in der Disziplin der Architekturgeschichte und -theorie oder auch in der Lehre der Bautypologien, in der ich meinen Lebensunterhalt verdiene, repräsentiert eine nicht diffamierende wissenschaftliche Annäherung an den Massentourismus, vor allem aber die Untersuchung der kleinbürgerlichen Frühstückspension, allerdings wiederum einen Distinktionsversuch: gewissermaßen eine Meta-Distinktion ...
Wege in die Frühstückspension Das Interesse, die Frühstückspension von der Alltagspraxis in die wissenschaftliche Praxis zu überführen, setzte keineswegs direkt, sondern indirekt ein, beispielsweise anlässlich von Recherchen zur Geschichte des anonymen Einfamilienhauses in Österreich für das Architektur Zentrum Wien (Steiner/Zinganel 1998). Die Erkenntnis, wie viele Eigenheime in Tourismusregionen für die Beherbergung von Gästen adaptiert wurden, wurde für die Ausstellung und den Katalog in Form eines Portraits einer „typischen“ Häuselbauer-Familie in Tirol in den 1960er Jahren übersetzt. Für ein Projekt über die sich zu riesigen Agglomerationen auswuchernden alpinen Tourismus-Destinationen (Zinganel 2005) und den Kulturtransfer durch Arbeitsmigration (Zinganel 2006a) begann ich, die Erlebnislandschaft Alpen mit einem wissenschaftlichen Blick zu bereisen, und ließ mich dabei – von einer Mischung aus ökonomischer Vernunft und Melancholie getrieben – von den örtlichen Tourismusbüros an bescheidene Frühstückspensionen vermitteln.6 Als ich schließlich von einer Künstlerin angefragt wurde, einen Katalogtext über ein Portrait ihrer betagten Großmutter, einer ehemaligen Pensionswirtin in Seefeld in Tirol, zu verfassen, wurde ich gewissermaßen emotional vom Forschungsthema erfasst (Zinganel 2006b). Dank dieser Tagung habe ich nun endlich einen Anlass gefunden, die ungeordnet vorliegenden Materialen zusammenzuführen, zu ergänzen und neu zu bewerten – oder zumindest einen ersten Versuch dazu zu starten.
Rahmenbedingungen einer Erfolgsgeschichte Die wichtigste Vorraussetzung für den enormen Erfolg der alpinen Frühstückspension in der Nachkriegszeit war die Mobilisierung des Mittelstandes, die mit dem Wirtschaftwunder in Deutschland und Österreich einherging. 6 In einem Fall, in Lech am Arlberg, wurde ich von einem Hotelier eingeladen, in der ehemaligen Pension seiner Tante abzusteigen, die in der Hauptsaison als Personalhaus für das Fünfsternhotel dient, in der Nebensaison aber von der Hoteliers-Familie selbst als Wohnhaus genutzt wird (Interview des Autors mit S.C.: Hotelier in Lech am Arlberg, geführt ebd. im Sommer 2005).
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Österreich war aus der Sicht der Deutschen das nächstgelegene befreundete Ausland, in dem erstens ebenfalls deutsch gesprochen wurde, in dem zweitens aber auch ein niedrigeres Lohnniveau herrschte. Die reisewilligen Nachbarn konnten sich demnach sprachlich einfach zurechtfinden und sich das bescheidene Dienstleistungsanbot tatsächlich auch leisten. So entstand mit vergleichsweise geringem Werbeaufwand eine intensive Nachfrage seitens der Reisenden, die sich mit Zug, Bus und vor allem mit ihren neuen privaten Pkws in die Alpen aufmachten (bevor sie mehr Reisebudget und Zeit zu Verfügung hatten und sich daher auch weiter – über die Alpen hinweg – zu fahren getrauten). Zum anderen reagierten die Bereisten und die öffentliche Hand in Österreich sehr schnell auf die ansteigende Nachfrage: Einfamilienhäuser und Bauernhäuser wurden als Pensionen adaptiert. Allen Ortens begannen neue Pensionen und kleine Hotels gewissermaßen aus dem Alpenboden zu sprießen. Ermutigt wurde diese Entwicklung durch die Ausweitung der Wohnbauförderung auf Einfamilienhäuser mit sieben Schlafzimmern sowie durch gezielte Infrastrukturförderungen, gestützte Darlehen aus Mitteln des ERP-Fonds (Marschallplan): Diese Förderung betraf zuallererst den Ausbau von Straßen und Liftanlagen, aber auch einzelne Beherbergungsbetriebe, wenn sie beispielsweise 50 zusätzliche Betten und einen Speisesaal für die Unterbringung von Reisebusgruppen errichteten oder wenn sie den „Komfort“ steigern wollten, indem die Zimmer eigene Bäder und WCs erhielten. Später folgten Förderungen zur Errichtung von Hallenbädern, Saunen und zuletzt auch von Wellnessanlagen, die aber nur mehr von jenen Pensionen beansprucht wurden, die sich inzwischen zu kleinen Hotels ausgewachsen haben. Ziel des Förderprogramms war es dezidiert nicht – wie heute – große ortsfremde Investoren oder Betreiber anzulocken, sondern lokal ansässige mittelständische Unternehmen zu fördern, von denen viele aus bäuerlichem Betriebs- oder Familienhintergrund stammten. Dieses Förderprogramm eröffnete der von Verarmung bedrohten Landwirtschaft Chancen zur sukzessiven Um- und Neuorientierung und verhinderte dadurch die Abwanderung aus den hochgelegenen Alpentälern. Doch der Markt veränderte sich sukzessive. Die alpinen Betriebe wurden in zunehmendem Maße nicht mehr wie selbstverständlich von ihren Stammgästen selbsttätig angefragt, sie mussten ihre Attraktionen nun aktiv auf einem „global“ umkämpften Markt anbieten: Denn seit den 1980er Jahren gerieten die alpinen Destinationen mit anderen Mitbewerbern in Konkurrenz, an denen sich die Dienstleistungen bei Weitem besser rationalisieren ließen: Neue große Hotelanlagen außerhalb kleinteiliger Familienstrukturen
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in Niedriglohn-Regionen, die – zumindest zur Reisezeit – kein Schlechtwetter kennen, und billige Charterflüge etablierten andernorts viel großmaßstäblichere Marketing-, Betriebs- und Verwertungszusammenhänge, mit denen die alpinen Anbieter zuerst in den Sommersaisonen nicht mehr mithalten konnten und in zunehmendem Maße auch in den Wintersaisonen unter Druck gerieten. Auch die vielfältigeren internationalen Erfahrungen in den Reisebiografien der Gäste verlangten nun nach einer Verbesserung sowohl der Vielfalt als auch der Qualität der angebotenen Dienstleistungen. Für die erforderlichen Nachrüstungen fehlt(e) aber vielen der fast ausschließlich von Familien geführten Betriebe das Kapital und den meisten der kleineren Destinationen die Vermarktungsstruktur.
Tod den Pensionen! Das Betriebsmodell der Frühstückspension wird daher seit Jahren von Projektentwicklern, Betreibern von Ketten und Großhotels, von Trendforschern und Konsulenten der Tourismusindustrie zu einem Auslaufmodell erklärt, das zum Aussterben verdammt sei. 7 Ihnen zufolge wären Frühstückspensionen völlig inkompatibel mit a) den betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskriterien.8 Der imaginierte ökonomische Erfolg der Pensionsbetreiber würde vorrangig nur auf Selbsttäuschung, vor allem aber auf Selbstausbeutung beruhen; b) zeitgemäßer Marketing-, Buchungs- und Verteilungslogistik;9
7 Vgl. Fußnote 3. 8 Aus betriebswirtschaftlicher Argumentation beginnt die sinnvolle Größe von Beherbergungsbetrieben bei 120 Zimmern, so die Experten. Von den Gästen angefragt würden auch vorrangig nur mehr Betriebe mit hoher Dienstleistungs-Qualität ab vier Sternen aufwärts oder – für die preisbewussten Zielgruppen – gut geführte Budget-Hotels. Die Errichtung großer marktwirtschaftlich optimierter Budget-Hotels als Alternative zu den vielen kleinen Pensionen scheint in den Alpen allerdings noch in den Kinderschuhen zu stecken. Zudem produzieren diese Betriebsgrößen riesige bauliche Kubaturen, die sich formal schwer bewältigen lassen, und eine soziale Dichte an Gästen, die mit der Erwartungshaltung an eine typische alpine Gemütlichkeit kaum vereinbar scheinen. 9 Für die Riesenkontingente, die auf Tourismusbörsen gehandelt werden, sind große Bettenanzahlen mit gleichwertigem Angebot erforderlich. Die kleinteiligen verstreuten Einzelunternehmen lassen sich schwer in Pakete packen. Frühstückspensionen verfügen auch über kein Marketingbudget, in der Regel gibt es nicht einmal einen eigenen Prospekt, bestenfalls einen Sammelprospekt der regionalen Kurverwaltung, in dem alle Unterkünfte mit briefmarkenkleinen Abbildungen aufgelistet sind, auf denen sich kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Objekten ausmachen lassen. Sie sind fast ausschließlich auf Mundpropaganda und soziale Kompetenz angewiesen.
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c) der Veränderung der Erschließungstechniken durch neue Verkehrsmittel;10 d) den erhöhten Komfort- und Flexibilitätsansprüchen der Reisenden und e) nicht zuletzt auch mit dem zunehmenden Selbstinszenierungsbedarf der Reisenden, der nach vielschichtigen Bühnenlandschaften verlangen würde. Ob diese Diagnose im Realen auch wirklich zutrifft oder bloß eine Wunschprojektion der Hoteliers darstellt, ist aus meinem aktuellen Wissenstand nicht eindeutig zu klären. Jedenfalls hat diese Todsagung der Frühstückspension erst recht meine Neugierde und meinen Eifer geweckt, an einer ‚Entgegnung‘ zu arbeiten: In Österreich betrug im Jahr 2003 die durchschnittliche Bettenanzahl je Beherbergungsbetrieb bescheidene 34 Betten. Bei Belegung mit Doppelbetten würde diese Zählung nur 17 Zimmer je Betrieb ergeben – und dabei sind die Großhotels international operierender Konzerne in den urbanen Ballungsräumen bereits mit eingerechnet (Smeral 2004). Der Anteil der so genannten „Parahotelerie“, wie die vielen kleinen Betriebe mit eingeschränktem Dienstleistungsangebot genannt werden, zu denen auch die Pensionen zählen, muss demnach gerade in den alpinen Regionen heute noch extrem hoch sein.11 Auch wenn viele davon erst bei Nachfrage aktiviert werden oder gar nicht mehr in Betrieb sein sollten (und daher die Statistik verfälschen), so stehen den betriebswirtschaftlich rentablen Leitbetrieben als „Wirte“ verhältnismäßig viele winzige „Parasiten“ gegenüber, die bei Weitem mehr zur Wertschöpfung beitragen, als den Betreibern und Befürwortern selbsternannter Leitbetriebe und großer Ketten lieb ist!12 Tatsächlich geht der Anteil an Gästen, die in Pensionen absteigen, sukzessive zurück, aber nicht in dem Ausmaß wie die Manager der großen Ketten prophezeien. Denn viele der Anbieterfamilien haben die ökonomische Knappheit überwunden beziehungsweise keine Lust mehr, die räumliche Knappheit mit „Fremden“ zu teilen. Wobei der Terminus „fremd“ insofern zu relativieren ist, als dass ein Großteil Stammgäste waren, die an den klassischen Familienfeiertagen Weihnachten und Ostern die kleinen Häuschen und ihre Eckbänke besetzten. Erst mit dem Ausbleiben der Stammgäste, mit der Überalterung der Gäste und 10 Mit dem aufkommenden Flugverkehr wurden so manche Destinationen an den Rand der ausgetretenen Pfade des Massentourismus gerückt, die sich in der Phase der Automobilisierung noch in ihrem Zentrum befanden. 11 Die Basiszahlen des österreichischen Fremdenverkehrs weisen im Jahr 2005 für alle österreichischen Fremdenverkehrsgemeinden einen Anteil von 64 Prozent der Gästebetten in gewerblichen Unterkünften (Hotels, Gasthöfe) auf – und circa 36 Prozent in sonstigen Unterkünften (Privatquartiere, Ferienwohnungen, Jugendheime, Schutzhütten usf.). 12 Vgl. Fußnote 3.
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der Betreiberinnen und Betreiber oder mit der Übergabe an nachfolgende Generationen setzte dann vielfach ein sukzessiver Rückbau ein: zunächst die Reduzierung des Dienstleistungsaufwandes durch Zusammenlegung von Zimmern zu Appartements mit Kochnischen für Selbstversorger. Zu den Selbstversorgern zählen dabei heute aber nicht mehr nur Touristen, sondern auch die vielen Saisoniers wie beispielsweise Reiseleiter, Skilehrer, das Personal von Liftgesellschaften beziehungsweise der anderen Gastgewerbe- und Beherbergungs-Betriebe, die allesamt preisgünstig untergebracht werden wollen. Schlussendlich kommt es natürlich auch immer wieder zu Rückführungen zugunsten eines großzügigeren Wohnraumes für die jüngeren Generationen, die nun – im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern – in vielen Fällen von der Subsistenzwirtschaft in der Frühstückspension nicht mehr abhängig sind.
Fallbeispiele In der Folge werde ich in vier Fallbeispielen kurz die Entstehungsgeschichte und die Transformationen skizzieren, mit denen ihre Betreiber sowohl das Objekt als auch das Dienstleistungsangebot an die sich ändernden Bedingungen anzupassen versuchten. Die Materialen beruhen vorrangig auf Interviews mit Familienangehörigen unterschiedlich kleiner und großer Beherbergungsbetriebe und den von ihnen zu Verfügung gestellten Fotos und Plänen. Der Stolz der Betreiberfamilien erleichterte die Akkumulierung von Informationen beträchtlich.13 Pension E., Kirchberg (erbaut/eröffnet 1969, drei Zimmer, zusätzliche Appartements seit 2005): Der Lebensweg des Hausherrn, des dritt geborenen Sohnes eines Berg-Bauern, wäre gemäß der herrschenden Erbfolge als Knecht am Hof seines Bruders vorgezeichnet. Im Winter hingegen fand er auf einer Skihütte als Hausmeister Arbeit. Dort lernte er auch seine zukünftige Frau kennen, eine Industriearbeitertochter aus einer Primärindustrieregion in der Steiermark. Sie pendelte als Kellnerin saisonal nach Tirol und versprach ihm, zu bleiben und ihn zu heiraten, wenn er ihr hier eine Zukunft und ein eigenes Haus bieten könne. Er begann also auf einem Grundstück der familieneigenen Landwirtschaft ein winziges Einfamilienhaus zu bauen. Einen Kredit konnte und wollte er sich nicht leisten. Durch immense Eigenleistungen, Nachbarschaftshilfe und 13 Und in einem sozialen Feld, in dem soziale Interaktion – richtiger: die Inszenierung von „Geselligkeit“ – das konstituierende Prinzip des Erlebnisses darstellt, würde es auch leicht fallen, deren Gäste zu befragen. Solche Befragungen konnten aber leider noch nicht in systematischer Form durchgeführt werden.
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die Hilfe seiner Brüder wuchs das Häuschen langsam aber stetig. Das BauHolz stammte aus dem Wald der Familie. Und auch wenn der Keller und das Erdgeschoss gemauert und das Obergeschoss nur mit Holz verschalt wurde, so zeigt sich der bäuerliche Waldbesitz noch heute in den vielen Stapeln an Brennholz, die um das Häuschen aufgeschichtet sind. Obwohl das Gebäude mit 120 Quadratmetern selbst für ein Einfamilienhaus räumlich sehr knapp dimensioniert erschien, veranlasste die Nachfrage von Urlaubsgästen zur Hauptsaison die einkommensschwache Familie dazu, Zimmer anzubieten: die zwei Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer im Obergeschoss wurden bei Bedarf vermietet, das Wohnzimmer im Erdgeschoß den Gästen als Frühstücks- und Aufenthaltsraum überlassen. Die Familie rückte dann noch enger zusammen, schlief im ursprünglichen Hauswirtschaftszimmer im Erdgeschoss und wohnte in der eigenen Küche. Im Jahr 2005 errichtete die Familie in unmittelbarer Nachbarschaft, wiederum auf familieneigenem Grund, ein zweites Häuschen, das seitdem als Appartementhaus geführt wird. Eigentlich aber war und ist es als Erbe für die Rückkehr einer der beiden Töchter gedacht. Diese zogen Mitte der 1980er Jahre zum Studium nach Wien und denken beide zum Leidwesen ihrer Eltern nicht daran zurückzukehren – außer zu kurzen Besuchen in den Ferien ihrer Kinder.14 Pension D., Seefeld (erbaut 1949, eröffnet 1956, geschlossen 1993, sieben Zimmer): Ein Apotheker und seine Ehefrau errichteten 1949 ein Einfamilienhaus in einem sachlich gehaltenen alpinen Stil in Grünlage am Rande Seefelds. Die Ehe hielt leider nicht lange, bald nach dem Krieg kam es zur Scheidung. Trotz gutbürgerlichem Familienhintergrund suchte die Frau als Alleinerziehende mit zwei Kindern nun nach einem eigenen Zusatzeinkommen und zusätzlicher Sinnstiftung. Mitte der 1950er Jahre wurde das Gebäude von Gabriele D. daher als Frühstückspension adaptiert, was nichts mehr bedeutete, als dass der Dachboden zu drei Gästezimmern ausgebaut wurde und sie selbst und ihre Kinder aus den ihnen zugedachten Schlafund Kinderzimmern im Obergeschoss auszogen, um diese bei Bedarf den Gästen zur Verfügung stellen zu können. Auch Wohnzimmer und Küche musste die Familie anfangs mit ihren Gästen teilen. Es dauerte bis in die 1970er Jahre, dass ein Zubau als Frühstücks- und Aufenthaltsraum errichtet wurde und die „gute Stube“ tatsächlich wieder zum privaten Rückzugsraum – zur Hinterbühne des Dienstleistungsalltags – werden konnte. Bis 1993 wurde das kleine Häuschen von der mittlerweile 83-jährigen Frau als Pension 14 Interview des Autors mit K.E., Pensionswirtin in Kirchberg in Tirol, geführt ebd. im Frühjahr 1998, telefonische Rückfragen im Juni 2008.
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geführt – ganz alleine. Dann war die Wirtin für die Hospitalisierungstätigkeit an Anderen zu betagt – ebenso wie ihre Stammgäste für die jährliche Individualreise nach Tirol. Nach dem Tod der Wirtin wurde das Gebäude in seine ursprünglich zugedachte Funktion zurückgeführt: als Einfamilienhaus für den männlichen Erben, der an touristischen Dienstleistungen keinerlei Interesse mehr zeigt.15 Hotel Garni F., Bad Gleichenberg (erbaut/eröffnet 1965, rückgebaut 2008, 29 Betten): Das Gebäude wurde 1965 mit einem geförderten Kredit aus dem ERP-Fond errichtet, mit dem Anreize zur Unterbringung von Reise-Gruppen des boomenden Bustourismus geschaffen werden sollten. Es beherbergte demnach ein kleines Hotel mit knapp über 50 Zimmern und eine Gastwirtschaft, die entsprechend große Gruppen bewirten konnte. Bis 2005 wurde der Betrieb von drei Frauen der Familie gemeinsam geführt. Die Erbin renovierte und modernisierte ihn 2008 mit Hilfe eines jungen Architektenteams. Dabei wurde auch das Raum- und Dienstleistungsangebot soweit zurückgebaut, dass das Haus von einer Einzelperson – mit Hilfe einer migrantischen Hilfskraft – geführt werden kann. Die kleinen Zimmer wurden zusammengelegt und mit neuen Bädern und Balkonen ausgestattet. Das ehemalige Frühstückszimmer wurde zu einem Appartement, aus dem ehemaligen Speisesaal ein großzügiger Frühstücks- und Aufenthaltsraum. Gekocht wird seitdem nur mehr gelegentlich auf Anfrage – oder für sehr betagte Stammgäste, von denen einige wenige bereits seit 30 Jahren regelmäßig zu Gast sind.16 Obwohl die mit jetzt 29 Betten ausgestatte Pension mit konventionellen Mitteln kaum beworben wurde und wird, konnte sie sich – trotz baubedingter Schließzeit – in kürzester Zeit als Unterkunft für urbane Jungfamilien etablieren. Die Tochter einer der Gasthofbetreiberinnen und des ehemaligen Kurhausleiters war und ist im Ort sozial hervorragend vernetzt; zusätzlich wird die ohnehin gut funktionierende Mundpropaganda nun von den jungen Architekten in deren Adressantenkreisen weitergetrieben: Die Kombination einer absichtlich versachlichten, von rustikalem Kitsch befreiten Sechziger- und Siebziger-Jahre-Ästhetik von originalen Einrichtungsgegenständen aus dem Familienerbe, einheitlich umlackiertem Mobiliar und modernen Gestaltungselementen – zum Beispiel einer skulpturalen Bar mit italophiler Espressomaschine im Zentrum des Eingangsbereichs – trifft die Sehnsucht der urbanen 15 Interview des Autors mit D.K.: Enkeltochter einer Pensionswirtin aus Seefeld in Tirol, geführt in Wien im Sommer 2006. 16 Interview des Autors mit F.G., Pensionswirtin zweiter Generation in Bad Gleichenberg, geführt ebd. im Sommer 2008.
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Gäste nach Retro-Chic und Kunstambition. Aber auch die Heterogenität der Besucher kann eine Attraktion für sich darstellen: Von den betagten Stammgästen, die an die eigenen Großeltern erinnern, bis hin zu Bikern aus dem Bekanntenkreis des Ehemannes – ein Schlosser, der am Parkplatz der Pension seine Motorräder repariert. Dazu kommt die vereinnahmende Zutraulichkeit der Chefin, ihres vierjährigen Sohnes und des Hauskaters, die im Frühstücksraum und auf der Terrasse eine formidable Bühne finden. Hotel A., Lech am Arlberg (eröffnet 1929, kontinuierlich erweitert, heute 140 Betten): Das Hotel erwuchs wie viele alpine Beherbergungsbetriebe aus einem Bauernhof mit einer Gastwirtschaft in der erweiterten Stube. Seit 1929 wurden Zimmer im Wohnhaus des Paarhofes vermietet. Sukzessive folgten Zu- und Ausbauten, für mehr Zimmertrakte und größere Gasträume. Die Betreiberfamilie hatte allerdings von Anfang an einen Wettbewerbsvorteil: weil Skilifte und Abfahrten über Weideflächen der Familie geführt werden mussten, waren allein durch die Nutzungsrechte regelmäßige Einnahmen garantiert. Das Wirtschaftsgebäude blieb von diesen Umbauten lange ausgespart; solange bis es völlig von Zimmertrakten umbaut war. Der Vater des heutigen Betreibers heiratete einen Hotelgast, eine Frau aus gutbürgerlichem Milieu. Er selbst gab erst in den frühen 1980er Jahren die Landwirtschaft endgültig auf, übertrug die Bewirtschaftung der familieneigenen Gründe einem seiner Brüder und baute das Stammhaus zu einem Großhotel mit fünf Sternen und Wellnessbereich im Ganzjahresbetrieb aus. Als sein Sohn 2005 den riesigen Betrieb übernahm, schloss er aus Rentabilitätsgründen, und um mehr Zeit für die kontinuierlichen baulichen Modernisierungen zu gewinnen, im Sommer den Betrieb.17 Auch wenn in diesem Fall von einer Frühstückspension natürlich keine Rede mehr sein kann, können Pensionen aber auch für den Betrieb eines Großhotels eine wichtige Rolle spielen, nämlich dann, wenn – wie von den Betreibern des Hotels A. – Personalzimmer in nicht mehr bewirtschaftete Pensionen ausgelagert werden.18 In ihrem Fall wohnen in der ehemaligen 17 Interview des Autors S.C., Hotelier in Lech am Arlberg, geführt ebd. im Sommer 2005. 18 Vorausschauend als Erbteil und Abfindung für jene Familienmitglieder, die nicht in den Familienstammbetrieb einsteigen konnten, wuchs über die Jahrzehnte ein Netzwerk an Gebäuden im Dorf heran, die alle derselben Großfamilie zuzuzählen sind. Kaum eines davon blieb ein Einfamilienhaus. Fast alle wurden kleine Frühstückspensionen, manche haben sich zu Hotels mittlerer Größe ausgewachsen. Diese Netzwerke sind typisch für touristische Entwicklungen in vormals landwirtschaftlich dominierten Strukturen, die nicht fremd kolonisiert, sondern von der lokalen Bevölkerung getragen wurden: Dabei können im familiären Kreis freigewordene beziehungsweise zusätzlich erworbene Einfamilienhäuser – deren Kinder in die Stadt gezogen sind – auch zu Apartmenthäusern
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Frühstückspension einer betagten Tante nicht nur im Winter die Saisoniers, sondern auch im Sommer, wenn das Hotel geschlossen und umgebaut wird, die Hoteliersfamilie selbst. Hier bewirten und beherbergen sie dann unentgeltlich private Gäste, um ihre Kontakte aus Studienzeit und Wanderjahren zu kultivieren. Von hier aus koordinieren sie die Modernisierung des FünfSterne-Hotels. Mit jeder Umbauphase wird dort auch abgewohntes Mobiliar frei, das dann zur Einrichtung der Zimmer ins Personalhaus transportiert wird. So begeben sich tatsächlich Betten, Nachtkästchen und Schränke auf Reisen – wenn auch nur innerhalb ein und desselben Ortes. So wie die Familie des Hotels A. den Pensionen durch Umnutzung eine neue Existenzberechtigung zuweist, so haben auch in anderen Fällen Großhoteliers oder Seilbahnbetreiber alte Pensionen aufgekauft, die sie als identitätsstiftend für den Ort betrachten und daher als Erinnerungsorte an den früheren „Dorfcharakter“ und die „Kultur-Geschichte“ seiner Touristifizierung zu erhalten.
Eine Kultur der Nähe Die spezifischen atmosphärischen Qualitäten der Frühstückspension können nicht bewertet werden, wenn sie als vereinzeltes Objekt untersucht wird: Sie repräsentiert nur ein Element in der erweiterten Bühnenlandschaft alpiner Erlebniswelten. Inmitten von Parkhäusern, Berg-, Tal- und Mittelstationen, Almhütten, Schirmbars, Diskotheken, Sportevents und den riesigen Hotelagglomerationen mit Wellnessangebot bieten sie einen Rückzugsraum für jene Reisenden, die sich nicht nur distinktiv als vernünftige, weil sparsame Reisende verorten, sondern die darüber hinaus auch die Inszenierung als Familie mit Familienanschluss suchen, zumindest aber jene Intimität, die angesichts der räumlichen Enge geradezu unausweichlich garantiert wird. Denn während in den baulichen Wucherungen großer Hotelbetriebe als Nebenprodukt der kontinuierlichen Erweiterung und Überbauung immer weitere Wege und auch unterschiedliche Raumqualitäten entstehen, reduzieren sich in der Pension die Distanzen; mitunter entfallen die Rückzugsräume. Durch die räumliche Nähe erscheint die Pension vielmehr wie ein einziger Rückzugsraum, den Betreiberfamilie und Gäste teilen.
umgebaut und von einem zentralen Standort aus mithilfe von Dienstleisterinnen und Dienstleistern parallel betrieben werden. Dezentrale Bewirtschaftungsformen werden zunehmend auch professionell – in Italien beispielsweise als „Alberghi Diffusi“ – vermarktet.
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Es gibt keine Auswahl an unterschiedlichen Aufenthaltsbereichen, mit verschiedenen Intimitätsgraden, Raumqualitäten und -stimmungen wie in einem Hotel. In den allerkleinsten Betrieben gab es bis in die 1970er Jahre nur einen Terrassentisch, eine Eckbank, einen Fernseher und bis zur Einführung von Komfortzimmern in vielen Fällen nur ein Badezimmer pro Etage. Wer beispielsweise in der Pension E. in Kirchberg sein Zimmer im Obergeschoss verlässt, hat nur ganz wenige Meter zur engen halb gewendelten Treppe. Wer sie hinabschreitet, passiert die dort hängenden, von der Wirtin selbst gemalten Aquarelle und fällt beinahe direkt in die Wohnküche der Familie, deren Türe immer nur angelehnt bleibt. In dieser Kultur der räumlichen Knappheit muss jeder Winkel tunlichst ausgenutzt werden. In einer solchen Stube wird die Eckbank daher zu einem Pendant der Einbauküche. Die Sitzflächen lassen sich oft aufklappen, um darunter während der Saison das Spielzeug der Kinder zu verbergen, das in den vermieteten Zimmern keinen Platz mehr hat. Weist die Sitzfläche keine Klappen auf, wird sie trotzdem gerne von vorne als Notlager genutzt. Der obere Abschluss der Lehne oder der einfassenden Holzverschalung bildet gleichzeitig ein schmales Sideboard, auf dem sich Sammlungen kleiner Artefakte, Souvenirs, Kunsthandwerk aber auch Bilder ablegen oder abstellen lassen. Im Eck wird die Bank vielfach um 45 Grad abgeschrägt – sodass sich dort eine größere Ablagefläche über der Lehne ergibt, wo emotional wertvollerer Familienbesitz Platz findet, über dem im Herrgottswinkel ein gekreuzigter Jesus wacht. Küchentisch und Eckbank bilden gleichzeitig das Büro des kleinen Beherbergungsbetriebes und den Ort im Haus, an dem die Kinder ihre Schulaufgaben machen. Neben Gästebuch und Buchhaltungsunterlagen liegen vormittags die Post und nachmittags die Schulutensilien der Kinder am Tisch. Die multifunktionale Eckbank ist daher vielfach ein Einbaumöbel, vom Tischler gefertigt und angepasst, dessen Polsterung – so sie denn eine hat – alle zehn bis 20 Jahre vom Tapezierer gewechselt wird. Wird man nicht hier schon in ein Gespräch mit der Pensionswirtin verwickelt, sind es nur mehr ein paar Schritte mehr zum Frühstückszimmer. Dort ist der bevorzugte Platz der Gäste möglichst weit im Eck der Eckbank. Nur die Wirtin nimmt am Rand der Bank Platz oder am Sessel, weil sie ja immer wieder aufstehen und in die Küche eilen muss. Vielfach wechselt sie dazwischen von Tisch zu Tisch. Dabei nimmt sie den leeren Platz in der Mitte des Raumes ein. Auch die kleineren Kinder der Gäste bleiben tendenziell am Rand, damit sie, wenn sie unruhig werden, schneller zur Spielkiste am
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Boden, zu anderen Kindern und/oder zu den Kindern der Pensionsfamilie gelangen. Das Frühstückszimmer wird so zu einer winzigen intimen Bühne, an dessen Rand die Gäste an ihren Eckbänken wie in Logen sitzen, deren Blicke sich auf die wechselnden Auf- und Abtritte anderer Gäste, der Wirtin und der Kinder richten können. Die Eckbank der guten Stube blieb demnach kein solitäres Einzelelement: Sie wurde ein erstes Mal dupliziert, um im Frühstückszimmer den Gästen zu dienen, wie beispielsweise in der kleinen Pension E. in Kirchberg. Vielfach wurde sie nicht dupliziert, sondern multipliziert, wie in der Pension D. in Seefeld, dessen Frühstückszimmer ausschließlich aus einzelnen voneinander getrennten Eckbänken besteht. Und in einigen Fällen, wie dem Hotel Garni F. in Bad Gleichenberg wird das Frühstückszimmer gar zur Gänze von einer einzigen riesigen Eckbank eingefasst. Mit mehr als acht Metern an der Längsseite und mehr als sechs Metern an der Querseite und mehreren jeweils daran aufgereihten Tischchen stellt diese Bank geradezu eine künstlerische Überhöhung einer Eckbank dar – eine „Metaeckbank“, auf der sich nun sowohl tradierte Verhaltenszuschreibungen als auch neue Optionen nach Offenheit und Unverbindlichkeit imaginieren und praktizieren lassen: Die Eckbänke des Frühstückszimmers sind nicht nur die Logenplätze in einem kleinen Dienstleistungstheater, sondern die spezifische materielle Ausformung ihrer Sitzflächen übt auch einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Gestaltung der sozialen Interaktion der Akteure aus. Während einzelne freistehende Stühle den Sitzenden eine zumindest bedingt wählbare Flexibilität und Unabhängigkeit bezüglich der Distanz zum jeweiligen Nachbarn garantieren, schränkt die fix eingebaute Eckbank diese Freiheit ein. Stattdessen ermöglicht ihre durchgehende Sitzfläche die Distanz zu unterschreiten – ja sie animiert geradezu dazu, näher zueinander zu rücken, um Gemeinschaftsgefühle zu imaginieren oder körperliche Annäherungsversuche in Gang zu setzen. Während auf den kleinen vereinzelten Eckbänken der betrachteten Pensionen Nähe und Annährung unausweichlich scheinen, können in der großen, Raum einfassenden Eckbank die Akteure beträchtlich weit voneinander abrücken, ohne die gemeinsame, Gemeinschaft suggerierende Sitzfläche zu verlassen. Für den Autor stellte das Frühstück auf dieser „Metaeckbank“ – in ‚sicherer‘ Entfernung von den anderen Gästen – eine ausgesprochen entspannende Erfahrung dar. Hier ließen sich wissenschaftliche und narzistische Reflexivität auf angenehmste Weise überlagern – eine Erfahrung, die ich selbst beim Schreiben dieses Textes wiederholt machen durfte. Gewiss, das mag als unzulässiges Verfahren im Wissenschaftsbetrieb gelten, aber
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es war tatsächlich die Ankündigung vom vermeintlichen Verschwinden der Frühstückspension und jener Kultur der Enge, die meine Adoleszenz mit geprägt hat, die beim entwurzelten Intellektuellen einen Schub an Trotz und Melancholie ausgelöst hat, der mich zu diesem neuen Forschungsstrang antrieb. Die systematische Befragung der Gäste steht freilich noch aus – dazu dürften auch vieler der Leserinnen und Leser dieses Textes zählen.
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Kleinste Betriebsgröße / Einfamilienhaus: Zimmeraufteilung EG Küche (in der Saison Wohnzimmer für alle Familienmitglieder), WC, Bad, 1 Zimmer (in der Saison Schlafzimmer für alle Familienmitglieder), Wohnzimmer (in der Saison Frühstückszimmer für Gäste), OG 3 Schlafzimmer 1 Bad und WC (Gästezimmer)
Frühstückszimmer
Küche
Abb. 1: Illustration: Michael Hieslmair/Michael Zinganel.
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Mittlere Betriebsgröße: wie oben aber gemäß Wohnbauförderung 7 Gästezimmer und ein Frühstücksraum zusätzlich (wobei in vielen Fällen die Räume für die Familie sehr klein gehalten wurden).
Frühstückszimmer
Küche
Abb. 2: Illustration: Michael Hieslmair/Michael Zinganel.
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Große Betriebsgröße: mit ERP Kredit auf Autobuskontingente (50 Betten) ausgebaut. Entspricht in der Vorstellung der Gäste noch einem kleinen intimen Familienbetrieb, lässt sich zudem auch tatsächlich mit wenig Dienstleistungsaufwand und daher mit Personal aus der eigenen Familie führen.
Große Betriebsgröße: mit ERP Kredit auf Autobuskontingente (50 Betten) ausgebaut. Entspricht in der Vorstellung der Gäste noch einem kleinen intimen Familienbetrieb, lässt sich zudem auch tatsächlich mit wenig Dienstleistungsaufwand und daher mit Personal aus der eigenen Familie führen.
Grossküche
Frühstückszimmer
Stüberl
Abb. 3: Illustration: Michael Hieslmair/Michael Zinganel.
Literatur Achleitner, Friedrich (1997): Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Basel/Boston/Berlin. Gstrein, Norbert (1988): Einer. Erzählung. Frankfurt a.M. — (1995): Der Kommerzialrat. Bericht. Frankfurt a.M. Jelinek, Elfriede (2002): In den Alpen. Drei Dramen. Berlin. Mitterer, Felix (1991): Die Piefke-Saga. Komödie einer vergeblichen Zuneigung. Drehbuch. Innsbruck.
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Smeral, Egon u.a. (2004): Strukturanalyse des Arbeitsmarktes im Beherbergungs- und Gaststättenwesen. WIFO-Monographien 2/2004. Wien. Steiner, Dietmar/Zinganel, Michael (Hg.) (1998): Wir Häuslbauer – Bauen in Österreich. Wien. Straub, Wolfgang (2001): Willkommen. Literatur und Fremdenverkehr in Österreich. Wien. Zinganel, Michael (2005): Alpine Erlebnislandschaften. Von der Tourismustheorie in den Tiroler Dienstleistungsalltag. In: Az W (Hg.): hintergrund 28. Architekturen der Freizeit. Wien. Zinganel, Michael/Albers, Hans/Sagadin, Marusa/Hieslmair, Michael (2006a): Saison Opening. Kulturtransfer über ostdeutsch-tirolerische Migrationsrouten. Wien. Zinganel, Michael (2006b): Frühstückspension Dertnig. Performanzstrategien in alpinen Bühnenlandschaften. In: Silvia Eiblmayr (Hg.): Carola Dertnig. Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart. Innsbruck. Dank an Michael Hieslmair und Judith Laister
Im Eigenheim um die Welt Zum Umgang von Weltumseglern mit ihren Yachten Martina Kleinert
„Mi fascinación fue total. No sólo descubrí lo que era un barco a vela, también descubrí que podía ser mi casa, mi medio de transporte, mi herramienta de trabajo, mi compañera de aventura.“ 19 Nicolás Paura (vagabundo des mar)
Eine Segelyacht kann, wie es der argentinische Einhandsegler Nicolàs Paura in seinen „Notizen vom Meer“ beschreibt, zugleich Haus, Transportmittel, Arbeitswerkzeug und „Gefährtin in Abenteuern“ sein. Seine Charakterisierung eines Segelbootes trifft im Falle einer Weltumsegelung in besonderem Maße zu und gibt einerseits Aufschluss über die vielfältigen Funktionen einer Fahrtenyacht, anderseits lässt sie auch die emotionale Dimension der Verbundenheit von Weltumseglern zu ihren Booten erkennen. Die Fahrtenyacht stellt dabei ein Objekt an sich und somit ein „Ding auf Reisen“ dar, mit dem Weltumsegler in spezifischer Weise umgehen, zu dem eine besondere Beziehung besteht und durch das ihre Art zu Reisen und zu Leben maßgeblich bestimmt wird.20 Im Folgenden möchte ich zunächst auf diese Aspekte einer Weltumsegleryacht näher eingehen. Wenn hierbei trotz der enormen Heterogenität des Feldes von „den“ Weltumseglern und ihren Yachten die Rede ist, so handelt es sich um eine verkürzte, doch zulässige Darstellung allgemeiner Merkmale. In einem ersten Schritt möchte ich ganz allgemein die Yacht als „schwimmendes Eigenheim“ diskutieren, 19 „Ich war restlos begeistert. Ich fand nicht nur heraus, was ein Segelboot war, ich erkannte auch, dass sie mein Haus sein könnte, mein Transportmittel, mein Werkzeug, meine Gefährtin in Abenteuern.“ – Übersetzung des Originaltextes: Martina Kleinert. 20 Bei der Untersuchung von Weltumsegleryachten handelt sich um einen Teilaspekt meiner im Entstehen begriffenen Dissertation zum Thema „Deutsche Weltumsegler zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung“. Dort wird vor allem die historische Entwicklung des Phänomens „Weltumsegelung“ und die Heterogenität des Feldes ausdifferenziert behandelt. Quellengrundlage bilden in erster Linie narrative Interviews mit ehemaligen und „aktiven“ deutschsprachigen Weltumseglern, die in Deutschland sowie im Rahmen eines vom DAAD geförderten viermonatigen Feldforschungsaufenthaltes in Neuseeland (2006/2007) durchgeführt werden konnten.
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um anschließend der Frage nach einer sichtbaren „Verhäuslichung“ auch anhand konkreter Einzelfälle nachzugehen. Die nähere Betrachtung der an Bord befindlichen Dingwelt gibt darüber Aufschluss, inwieweit diese dazu beiträgt, dass eine Fahrtenyacht zu einem wirklichen Zuhause wird. Das empirische Material für meine Untersuchung der Weltumsegleryachten bilden Fotografien, die im Zuge der Feldforschung an Bord meiner Interviewpartner in Neuseeland entstanden. Es handelt sich dabei um „typische“ Fahrtenyachten, das heißt Segelyachten zwischen 35 und 45 Fuß Länge, umgerechnet entspricht das zehn beziehungsweise 15 Metern, mit denen ganz „gewöhnliche“ Weltumsegler1, mehrheitlich Ehepaare, vorwiegend im Rentenalter, unterwegs sind. Während im Gespräch mit den Seglern etwa deren abstrakte Konzepte von Zuhause erörtert werden konnten, bediente ich mich bei der Annäherung an ihre konkrete Wohn- und Lebenswelt der Fotografie als Methode der visuellen Beobachtung (vgl. Collier 1986). Angesichts des überaus flüchtigen Feldes konnten so zumindest dokumentierende Momentaufnahmen der mobilen Heime entstehen. Die fotografische Erfassung der Yachten verfolgt das Ziel eines „yacht inventory“, beruhend auf John Colliers Konzept eines fotografischen „cultural inventory“. Neben einem Inventar im eigentlichen Sinne, der systematischen Dokumentation von Gegenständen, soll die Analyse solcher Fotografien Fragen nach der Nutzung, der Gestaltung und Einrichtung von Räumen, nach Stil, Dekoration oder Ordnungsprinzipien beantworten (vgl. Collier 1986: 45-65). Darüber hinaus konnten über die Reaktionen der Weltumsegler auf meine Bitte, sie selbst und ihren Lebensraum fotografisch festzuhalten zu dürfen, Erkenntnisse über den Umgang mit ihrem Zuhause, durch den sich insbesondere die Offenheit ihres Lebensstils ausdrückt, gewonnen werden, worauf ich an späterer Stelle zurückkommen werde.2
Die Fahrtenyacht (I): ein Eigenheim auf Reisen? In den meisten Fällen „gewöhnlicher“ Weltumsegelungen ist es weniger sportlicher Ehrgeiz als vielmehr der Traum von der großen Freiheit und eine gewisse Abenteuerlust, die jemanden veranlassen, die Welt auf eigenem Kiel zu umrunden. Die Mehrdeutigkeit dieser unter Seglern üblichen Formulierung ist hierbei bemerkenswert: Einerseits wird durch den „eigenen 1 Mit den „gewöhnlichen“ Weltumseglern zitiere ich die Selbstcharakterisierung eine Ehepaares, die im Ruhestand in sieben Jahren auf der gängigen Route mit dem Wind um die Welt gesegelt sind, und die sich selbst damit etwa von leistungsorientierten Regatta- oder Extremseglern abgrenzen. 2 Sämtliche Abbildungen wurden im Januar/Februar 2007 von der Verfasserin aufgenommen.
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Kiel“ ausgedrückt, dass die Weltumsegelung selbstständig und eigenverantwortlich durchgeführt wird, andererseits spiegeln sich darin auch die Besitzverhältnisse wider: Ein Weltumsegler ist in der Regel auch Eigner seiner Yacht. Obgleich es sich bei einer Fahrtenyacht nur in mancher Hinsicht um das exakte Gegenstück einer an Land befindlichen Immobilie handelt, kann auch sie aufgrund der Besitzverhältnisse als Eigenheim bezeichnet werden. Weitere Parallelen zum Ideal des klassischen Eigenheims, dem Einfamilienhaus, bieten sich an. Der Besitz einer Fahrtenyacht wird ebenfalls als „Ergebnis und Ausdruck der eigenen Leistungsfähigkeit“ gesehen, gleich dessen, womit in der „Soziologie des Wohnens“ das Wohneigentum an Land charakterisiert wird (Häußermann 1996: 229). Der materielle Wert einer Fahrtenyacht spielt für den Erwerb eine geringere Rolle als für den Hausbesitzer. Im Gegensatz zu diesen sehen Weltumsegler ihr „schwimmendes Eigenheim“ seltener als Kapitalanlage, da gegen den Wertverlust infolge der intensiven Nutzung einer Fahrtenyacht als Reisemittel und Lebensraum kaum anzukommen ist. In Hinblick auf den symbolischen Wert sind die Übereinstimmungen wiederum groß, ob es sich beim Eigenheim um „die Erfüllbarkeit von (…) Freiheits- und Identitätsbestrebungen“ (Tränkle 1972: 78) oder um „ein Symbol für individuelle Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit“ (Häußermann 1996: 229) handelt. Die Fahrtenyacht wird primär als Instrument des Reisens angeschafft und weniger um des Besitzes willen, doch kann es sich dennoch um ein Statussymbol handeln. Die Entscheidung, um die Welt zu segeln, kann auch in dem einer solchen Reiseform zugeschriebenen kulturellen Kapital im Sinne Bourdieus und dem damit verbundenen Statusgewinn begründet sein; in diesem Zusammenhang gilt es besonders, die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Segler zu unterscheiden.3 Nur unter Berücksichtigung der individuellen Segler- und Reisebiografie eines Weltumseglers können außerdem Rückschlüsse gezogen werden, ob „der Bootsbesitz (…) für sie ein bedeutungsvolles Moment des sozialen Aufstiegs [markiert]“, wie es für Schweizer Binnenyachteigner und vormalige Caravan-Besitzer festgestellt wurde (Rolshoven 2007: 164). Generell lässt sich festhalten, dass eine Weltumsegelung, als spezifische Form der Reise ebenso wie als Ausdruck eines Lebensstils, mit Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortlichkeit in Verbindung 3 Im Bemühen, sich selbst von Mitgliedern der aktuellen Weltumsegler-Generation abzugrenzen, kam gerade von „frühen“ Weltumseglern der 1970er und 1980er unter anderem das Argument, dass heutzutage eine Weltumsegelung im Sinne einer besonders prestigeträchtigen (und modischen) Reise und nicht mehr aus Abenteuerlust oder Überzeugung, als Ausdruck einer Lebenseinstellung angetreten wird.
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gesetzt wird. Die Fahrtenyacht, im Kontext der Weltumsegelung als Reisemittel und Lebensraum verstanden, führt durch den Ausstieg aus Alltag und gesellschaftlichen Strukturen immer auch das Ideal des Eigenheims fort, das eine „positive Gegenwelt zu Abhängigkeiten und Zwängen (…) der Arbeitswelt“ schaffen soll (Häußermann 1996: 229). Die Yacht bietet sowohl die große Freiheit als auch Geborgenheit, sowohl Unabhängigkeit als auch ganz konkrete Sicherheit als verlässliches und schützendes Zuhause. Eine Segelyacht ermöglicht, sich für einige Jahre oder auch dauerhaft „häuslich“ einzurichten, wobei die individuellen Bedürfnisse (und finanziellen Mittel) über die dazu nötige Mindestgröße entscheiden – ob etwa 27 oder 47 Fuß (neun bzw. 16 Meter) als ausreichend empfunden werden. Hierzu sei angemerkt, dass zum Beispiel in Neuseeland oder den USA ein Leben und Wohnen an Bord, im Grunde stationär und ohne den Aspekt des fortwährenden Weiter-Reisens, als Alternative zum Leben in einer Wohnung oder einem Haus an Land gesehen und praktiziert wird. Anders als in Deutschland stellt der Wohn- und Lebensstil als „Yachtie“ 4 keineswegs etwas völlig Außergewöhnliches dar. Johanna Rolshoven weist zwar daraufhin, dass (Binnen-)Yachten als Zweiwohnsitz fungieren, in dieser Form jedoch von den Nutzern selbst nicht als Ferienwohnsitz, sondern als Hobby und Aktivität gesehen werden. Dessen ungeachtet werden diese Yachten an Wochenenden und in den Ferien freilich bewohnt, jedoch kaum bewegt, das heißt, die Möglichkeit der mobilen Freiheit wird hochgeschätzt, aber nicht genutzt (Rolshoven 2007: 163ff.). Ob und in welcher Weise sich permanente „Liveaboard-Yachten“ oder Yachten als Freizeitwohnsitz von der Fahrtenyacht eines Weltumseglers unterscheiden, soll im Rahmen dieser Ausführungen nicht weiter erörtert werden. Ich möchte mich darauf beschränken, einige Beobachtungen zur Verhäuslichung und Wohnlichkeit explizit solcher Yachten aufzuzeigen, die im Rahmen einer Weltumsegelung gesegelt und bewohnt werden. Eine unterschiedliche Nutzung dieser Yachten als ausschließliches, einziges Zuhause und Dauerwohnsitz oder als Variante eines mobilen „alternate home“ und saisonalen Zweitwohnsitzes lässt sich bemerkenswerter Weise weder an der Größe noch an Ausstattung und Einrichtung der Schiffe festmachen. Vielmehr spiegeln sich auch
4 Die Bezeichnung „Yachtie“ für Segler, die nicht nur segeln, sondern auch auf ihren Booten wohnen und leben, dient im Englischen der Unterscheidung vom „Yachtsman“, der das Segeln als Sport betreibt. Zumindest unter Seglern wird „Yachtie“ – mit gleicher Bedeutung – auch im Deutschen verwendet, und wird in diesem Sinne auch von der Verfasserin verwendet.
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darin die individuellen Bedürfnisse und finanziellen Möglichkeiten sowie die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Eigner wider.
Die Fahrtenyacht (II): Freiheiten und Abhängigkeiten im Alltag einer Weltumsegelung Ob auf einige Jahre beschränkt oder open end, auf einer Weltumsegelung wird die Reise selbst in ihrer Außergewöhnlichkeit ganz alltäglich und das Leben mit und auf dem Boot zum Alltag, in dem der Segler sich einrichtet. Wobei dieses Einrichten ebenso die Dingwelt der Fahrtenyachten wie auch die Routinen einer Weltumsegelung umfasst. Grundsätzlich gilt, dass während einer Weltumsegelung und insbesondere dann, wenn es sich bei der Yacht um das ausschließliche Zuhause der Segler handelt, eine gewissermaßen symbiotische Beziehung zwischen Segler und Boot herrscht. Die Yacht wird längst nicht nur als Mittel zum Zweck, als Fortbewegungsmittel und Gebrauchsgegenstand gesehen, sondern erhält den Rang einer eigenständigen Persönlichkeit. Konsequenterweise schlägt sich dies auch im Reden über die Beziehung zur eigenen Yacht nieder: „Ein Freund von uns hat mal gesagt: das Boot hat eine Seele. Das ist so bisschen das Extrem davon. Aber da ist ein bisschen was dran. In dem Moment, wo du rausgehst, vertraust du dich deinem Boot an. Und hier muss man natürlich alles dazu tun, damit das Boot in Ordnung ist. Und dann kann man sagen: Also, ich sorg hier für dich, und wenn wir draußen sind, dann sorgst du für uns beide“. (C., 67, seit 1994 auf Weltumsegelung mit Ehefrau C., 42)
Auf offener See hängen die Sicherheit und potentiell das Überleben des Seglers von der Seetüchtigkeit seines Schiffes ab, weshalb im Gegenzug erheblicher Aufwand betrieben wird, um selbiges zu pflegen und in Stand zu halten. Und auch in den Monaten der Segelsaison vergeht für Yachties kaum ein Tag, an dem nicht etwas am Schiff zu reparieren oder zu „basteln“ ist. Einerseits ist dies notwendig, da insbesondere unter dem Einfluss von tropischer Sonne und Salzwasser nur wenigen Dingen eine lange Lebensdauer beschert ist. Anderseits kann das Arbeiten am Schiff als kreative Tätigkeit zur Neu-Gestaltung der „eignen kleinen Welt“ und der Aneignung des persönlichen Raumes gedeutet werden. In den Monaten der „cyclone season“, in denen nicht gesegelt werden kann, das heißt, wenn etwa die Segler im Südpazifik aus der Zone der Wirbelstürme in die sicheren Häfen Neuseelands oder Australiens ausweichen, werden routinemäßige Überholungsarbeiten und größere anfallende
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Reparaturen durchgeführt. Dies beinhaltet unter anderem, dass das Boot in einer Werft aus dem Wasser genommen wird, um etwa den Unterwasseranstrich zu erneuern. Auch wenn die Yacht dann für einige Tage oder Wochen an Land steht und das Leben an Bord erheblich beeinträchtigt wird,5 bleibt das Boot doch die Heimstatt und wird weiterhin – unabhängig von Sachzwängen – bewohnt. 6 Die emotionale Verbundenheit mit dem gewählten Zuhause, die Wertschätzung des Weltumseglers gegenüber seinem Gefährt(en), lässt dies als selbstverständlich erscheinen. „(…) das ist eben dieses Umfeld, was wir gewohnt sind. Und mit dem wir sehr vertraut sind. Und ein Haus wäre für mich vergleichbar mit ’nem Auto. Na gut, ich brauch ein Dach überm Kopf, und das haben, und das, und das. Aber das war’s dann. An dem Boot hängt viel mehr. Und auch wenn es auf dem Hardstand 7 ist, und du lebst auf dem Boot. Das ist das, mit dem wir über den Atlantik, über den Pazifik gegangen sind. Das ist unser Leben.“ (C., 67, seit 1994 auf Weltumsegelung mit Ehefrau C., 42)
Die enge Beziehung zu und die elementare Abhängigkeit von dem Schiff prägen das Gesamterlebnis Weltumsegelung. Die höchste Priorität liegt immer auf dem Boot und dies wirkt sich unter anderem auf den Ablauf der Reise aus. Zum einen beispielsweise durch die bereits erwähnten Werftaufenthalte, die nicht überall auf der Welt erfolgen können und entsprechend Einfluss auf die Reiseroute nehmen, zum anderen auch dadurch, dass Weltumsegler immer das Risiko von Schäden oder gar das des Total-Verlustes fürchten (müssen), wenn sie ihre Yacht für mehr als ein paar Stunden alleine zurücklassen. In der Regel geschieht dies überhaupt nur, wenn zum Beispiel die Sicherheit einer Marina gewährleistet ist. Einerseits bietet das Segelschiff zwar die Freiheit, die ganze Welt zu entdecken, andererseits wird aber das Erleben von „Land und Leuten“ – die erklärte Motivation der meisten von mir befragten Weltumsegler für die Wahl dieser Reiseform – damit auf Häfen und Ankerplätze beschränkt. Die meisten Segler empfinden die 5 Steht die Yacht aufgebockt an Land, gelangt man zum Beispiel nur über Leitern an Bord. Die Nutzung von Bad und Küche ist nicht m öglich, da Abwässer nicht abgeleitet werden können. 6 Wobei hier von Fall zu Fall zu differenzieren wäre, ob Alternativen überhaupt vorhanden wären und die Segler es sich leisten könnten, zum Beispiel für die Dauer der Arbeiten in ein Hotel zu ziehen, eine Wohnung an Land zu mieten, sich bei Freunden einzuquartieren etc. 7 Die Yacht steht zu Überholungs- und Reparaturarbeiten auf dem Trockenen, auf einem Werftgelände.
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räumliche Gebundenheit jedoch nicht als Einschränkung ihres touristischen Reiseerlebens. Im Vordergrund der Charakterisierung durch die Segler selbst steht bei einer Weltumsegelung, als Reise oder als Lebensstil interpretiert, das Moment der Mobilität und der Selbstbestimmung. Gleichzeitig kann es nicht ausbleiben, dass auch eine Weltumsegelung gewissen Sachzwängen unterworfen ist und auch ihrer Freiheit, sei es durch Wetter oder Bürokratie, Grenzen gesetzt sind. Dessen ungeachtet wird die Entscheidung für eine Weltumsegelung dennoch häufig damit begründet, dass eine Segelyacht in sich die Freiheit des weitestgehend unabhängigen Reisens mit der Funktion des eigenen Zuhauses vereint. „Und es ist halt die Form von Reisen, die mir gut gefällt. Weil wir unser Schneckenhaus immer bei uns haben, unser Bett, unsere Küche, und – ja, und nix Fremdes benutzen müssen. Das gefällt mir gut. Und du kannst wählen, wann du gehst. Also gut, das Wetter, aber wenn dir was nicht passt.“ (C.,42, seit 1994 auf Weltumsegelung mit Ehemann C., 67)
Das eigene Schiff gewährleistet, dass auch in der Fremde die nächste Umgebung vertraut ist und diese in der Flüchtigkeit der fortwährenden Weiterziehens unbewegt und beständig bleibt; es bietet Geborgenheit und Verlässlichkeit im Unbekannten. Yachties betonen überdies immer wieder neben Freiheit und Unabhängigkeit als Merkmale ihres Lebensstils auch die Autarkie dieser Lebensweise, die ebenfalls durch die Fahrtenyacht bedingt wird. Eng damit verknüpft ist auch die Einfachheit des Bordlebens, das wiederum häufig als besonders reizvolles und positives Element einer Weltumsegelung dargestellt wird.
An Bord einer Fahrtenyacht (I): Raumnutzung und Ausstattung Die Assoziationen des Fahrtensegelns mit Freiheit, Selbstbestimmtheit und einem naturnahen Leben unter einfachen Umständen weisen Parallelen zur Reise- und Lebensform des (Dauer-)Camping auf. Ob Segelyacht oder Caravan, die Einteilung und Nutzung des in beiden Fällen beschränkten Raumes, Strategien der Trennung von öffentlichen und privaten (Wohn-)Bereichen sowie die ganz konkrete Einrichtung, multifunktional und stauraumbetont, sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar (vgl. Özkan 1994). Suzan Özkan stellt für die von ihr untersuchten Dauercamper fest, dass zwischen der Halböffentlichkeit des im Camping-Alltag intensiv genutzten Vorzeltes und dem vorwiegend privaten Raum des Caravans unterschieden werden kann. In ähnlicher Weise gestaltet sich die Raumaufteilung einer
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Segelyacht, auf der das Cockpit, gerade im tropischen Klima und wenn nicht gesegelt wird, den Wohnraum der Yacht wesentlich erweitert. Dabei handelt es sich, je nach Standort der Yacht – in einer einsamen Ankerbucht oder auf einem Liegeplatz in einer Marina – um einen noch privaten oder schon sehr öffentlichen Raum (vgl. Abb. 1). Die Halböffentlichkeit des von außen einsehbaren Cockpits ist in Zusammenhang mit der Offenheit der Yachties, einer generell größeren Aufgeschlossenheit gegenüber sozialen Kontakten und intensivierter Kommunikationsbereitschaft im Vergleich zu eigenen, früheren Verhaltensweisen an Land zu sehen. Der Niedergang, der vom Cockpit unter Deck führt, stellt eindeutig eine Grenze zwischen Halböffentlichkeit und Privatheit dar.
Abb. 1: Fahrtenyacht in der Town Basin Marina in Whangarei/Neuseeland (Januar 2007).
Allerdings erstreckt sich der offene Umgang von Yachties durchaus auch auf den eigentlich privaten, doch nicht minder repräsentativen Bereich. Meine eigene Feldforschungssituation kann dies veranschaulichen: Bis auf eine einzige Ausnahme wurden alle Interviews mit Seglern, die sich aktuell auf Weltumsegelung befanden, bei ihnen zu Hause, im Cockpit des jeweiligen Schiffes geführt. Lediglich an Bord von zwei der insgesamt 16 von mir besuchten Yachten erschien es mir – aus einem Gefühl für das angemessene Verhalten bei Besuch einer fremden Yacht heraus – unangebracht, überhaupt zu fragen, ob ich mich unter Deck umschauen dürfe. In allen anderen Fällen wurde mir jedoch ganz selbstverständlich Zugang zu sämtlichen Räumen im Inneren der Schiffe, inklusive Schlafkojen und Bordtoiletten,
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gewährt und auch meine Bitte, fotografieren zu dürfen, wurde in keinem einzigen Fall abgeschlagen. In diesem Zusammenhang wird allerdings noch zu untersuchen sein, wer als Besuch unter welchen Umständen in welche Bereiche des Schiffes gelassen wird – Beamten von Zoll und Immigration etwa kann der Zutritt nicht verwehrt werden, aber wie sieht es bei anderen Weltumseglern, bei Touristen, mit denen Bekanntschaft geschlossen wurde, bei interessierten Einheimischen aus? Die Grenzen zwischen (Halb-) Öffentlichkeit und Privatheit werden von den Seglern in vielen Fällen ganz unterschiedlich gesetzt.
Abb. 2: Das Zuhause des Ehepaares C. u. C., seit 1994 auf Weltumsegelung – Salon mit Blick zu den Schlafkojen.
Wenn hier von einem fließenden Übergang zwischen öffentlichen und privaten Räumen gesprochen werden kann, so trifft dies auch auf die Raumnutzung unter Deck zu. Die eingeschränkten Platzverhältnisse einer durchschnittlichen Fahrtenyacht lassen keine wirkliche Trennung von Funktionen in spezialisierte Räume zu. Mehr oder weniger in einem Raum befinden sich die verschiedenen Wohn- und Arbeitsbereiche: Eine Sitzgruppe mit Tisch nimmt im Salon den meisten Platz ein. Die Sitzbänke dienen häufig als Seekojen, wenn gesegelt wird oder als zusätzlich verfügbare Schlafplätze, etwa für Besuch. Außerdem ist dort die Pantry, das heißt die Bordküche, eingerichtet sowie die Navigations-Ecke mit Kartentisch und heutzutage einer Vielzahl technischer Geräte. Die Schlafkojen sind je nach Design der Yacht mehr oder weniger unmittelbar vom Salon aus zugänglich und einsichtig.
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Nur selten sind sie durch eine Tür abgetrennt; lediglich die Bordtoilette ist nach heutigen Standards tatsächlich in einem abgeschlossenen, eigenen Raum untergebracht (vgl. Abb. 2 und 3). Optimale Raumausnutzung spielt an Bord eine wichtige Rolle und schlägt sich in der Multifunktionalität der Einrichtung nieder. Fahrtenyachten sind darauf ausgelegt, auf minimalem Platz ein Maximum an Stauraum zu bieten, um alles, was man braucht, mit sich führen zu können: neben Ausrüstung, Ersatzteilen, Werkzeugen und Treibstoff vor allem Proviant, wozu auch Trinkwasser gehört. Eine monatelange Versorgung allein aus Bordmitteln stellt bei entsprechender Vorbereitung überhaupt kein Problem dar. All dies umfasst gewissermaßen die nicht sichtbare, weil gut verstaute, Dingwelt einer Fahrtenyacht.
Abb. 3: Das Zuhause des Ehepaares K. u. M, seit 1994 auf Weltumsegelung – Salon mit Blick zu den Schlafkojen.
Bei meiner fotografischen Bestandsaufnahme habe ich mich auf die sichtbare, repräsentative Ausstattung des zentralen Wohn- und Lebensraumes der Fahrtenyachten konzentriert. Wie andere Wohnungen auch, werden sie mit Gegenständen eingerichtet, bei denen es sich um „Symbole für Werte bzw. Wertschätzungen“ handelt, die der Abstützung der eigenen Identität dienen (vgl. Tränkle 1972: 106ff.). Gerade weil es sich bei einer Weltumsegelung mit ihrem Freiheits- und Unabhängigkeitsanspruch auch um eine höchst individualistische Unternehmung handelt, stellt sich die Frage, inwieweit sich dieser Individualismus im Wohnen widerspiegelt. Einerseits ist eine auf sich selbst bezogene Realisierung individueller Vorstellungen
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zu erkennen, andererseits kann die Repräsentation nach außen – besonders innerhalb des sozialen Raumes der „Cruising Community“ – auch auf einer Fahrtenyacht eine wichtige Rolle spielen. Im Kontext einer Studie zu Wohnund Lebensstilen im städtischen Raum wird festgehalten, dass das Wohnen „nicht mehr Bühne einer distinktiven Selbstdarstellung, sondern Ort der Selbstverwirklichung“ ist (Katschnig-Fasch 1998: 18). Auf den Yachten von Weltumseglern finden sich alle der hier angesprochenen Aspekte wieder, Selbstdarstellung wie Selbstverwirklichung. Die von mir gefertigten Fotografien geben einen Einblick in die Bandbreite von Weltumsegleryachten und verdeutlichen zudem, dass an Bord ganz unterschiedliche Auffassungen von Ordnung herrschen können. Es sei allerdings angemerkt, dass sämtliche Aufnahmen während längerer Liegezeiten in einer Marina entstanden, das heißt, die hier abgebildete Ordnung unterscheidet sich teilweise erheblich von der, die herrscht, wenn gesegelt wird und unverstaute oder ungesicherte Gegenstände Schaden anrichten und/oder nehmen könnten. Zudem spielt die Größe einer Yacht für ein aufgeräumtes respektive unaufgeräumtes Innenleben eine nicht unerhebliche Rolle. Je mehr Stauraum vorhanden ist, desto leichter lassen sich freie Flächen schaffen. Die Eigner der Yachten auf Abbildung 2 und 3 unterscheiden sich zwar auch in ihrem persönlichen Umgang mit Ordnung, vor allem liegt zwischen den beiden Schiffen aber ein Größenunterschied von über drei Metern Länge (34 Fuß vs. 45 Fuß), der mit einem unproportional vielfach höherem Raumvolumen einhergeht.
An Bord einer Fahrtenyacht (II): Die Dingwelt von Weltumseglern Die eingangs aufgeworfene Frage nach der Verhäuslichung und Wohnlichkeit von Fahrtenyachten, die vor allem in Zeiten, in denen nicht gesegelt wird, besonders deutlich in Erscheinung tritt, führt abschließend zu einigen Aspekten der konkreten Dingwelt, die Weltumsegler auf ihrer Reise umgibt. Das Ausmaß dieser Dingwelt ist enorm, und dies wiederum ist gerade in Hinblick auf die von den Seglern häufig als Merkmal einer Weltumsegelung beschriebene Einfachheit des Bordlebens interessant. In den letzten Jahrzehnten hat sich hierin ein beträchtlicher Wandel vollzogen, der an dieser Stelle nur ansatzweise aufgezeigt werden soll. Heutige Einschränkungen im Bordalltag erscheinen im Vergleich zu Bedingungen auf Schiffen etwa der frühen 1970er Jahre als komfortabel, ja teilweise geradezu als luxuriös. Dies liegt in erster Linie daran, dass Fahrtenyachten größer geworden sind – das heißt, auch mit 45 Fuß bietet eine Yacht nur begrenzt Platz, aber eben doch erheblich mehr als die damals
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üblichen 29 Fuß. Früher waren ausschließlich Petroleumlampen und -kocher verfügbar, ein Funkgerät oder ein Radio galten meist schon als Luxus. Heute wird zwar auf manchen Schiffen immer noch ein Petroleumkocher dem Gasherd vorgezogen, aber längst ermöglichen Dieselmotoren und -generatoren, Solarpaneele und Windgeneratoren, dass ausreichend Strom für elektrisches Licht, elektrische Wasserpumpen, Radios, Funkgeräte, Notebook, GPS, Kühlschrank und Gefriertruhe, Wassermacher, Ventilatoren, aber auch für elektronische Selbststeueranlagen, Reffanlagen, Winschen und sogar Waschmaschinen etc. erzeugt werden kann. Technisch ist vieles möglich, der Gebrauch hängt vom finanziellen Budget ebenso wie von der Einstellung der Segler gegenüber diesen Dingen – Notwendigkeit oder Luxus – ab. Die Verhäuslichung heutiger Fahrtenyachten lässt sich als veränderte Einstellung zu Komfort und Bequemlichkeit interpretieren, die sich vor allem durch die immense Zunahme an technischen Geräten auch in der Einrichtung der Yachten niederschlägt. Besonders gut lassen dies die Navigations-Ecken heutiger Segler erkennen (Abb. 4). Der für die traditionelle Navigation notwendige Kartentisch, an dem Position und Kurs berechnet und in Seekarten übertragen wurden, wird häufig mit einer Vielzahl elektronischer Geräte, darunter dem für die Satellitennavigation benötigten GPS und einem Notebook mit elektronischen Seekarten, das auf manchen Schiffen die herkömmlichen Seekarten bereits ersetzt, zu einer „Technik-Ecke“ umfunktioniert.
Abb. 4: Navigations-Ecke an Bord einer Fahrtenyacht.
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Gleichzeitig tragen die weit verbreiteten „nautischen“ Messinglampen und Messinstrumente in Messinggehäusen zu einem traditionelleren Erscheinungsbild bei und betonen ähnlich wie Bullaugen den Schiffscharakter einer Fahrtenyacht. Mit Einschränkungen lässt sich auch die Verwendung „maritimer“ Farben, Muster oder Motive auf Polstern, Kissen oder Geschirr in diese Richtung deuten, wobei es sich hier in erster Linie um eine Frage des persönlichen Geschmacks handelt, freilich aber auch um einen Ausdruck der expliziten Selbstverortung als Segler, womit diese Dinge als Repräsentation damit verbundener Werte – wie „gute Seemannschaft“ – gesehen werden können (Abb. 5). Nicht zuletzt handelt es sich dabei gleichzeitig um praktische Gebrauchsgegenstände.
Abb. 5: Sitzecke im Salon des Ehepaares W. u. U., seit 1992 auf Weltumsegelung, mit (2.) Zuhause in Deutschland.
Doch tragen gerade auch eine Reihe von Ziergegenständen und Dekorationsstücken zur Wohnlichkeit der Yacht bei. Mit den zahlreichen Fotografien von Familie und Freunden in ihrem Salon betont etwa das Ehepaar C. und C. ihre engen sozialen Verbindungen in die Heimat, die es trotz der großen Distanz aufrechterhält, und bestärkt so die eigene Identität und Herkunft. Die beiden schaffen sich ihr „home away from home“ (siehe Abb. 2). Abgesehen von Fotografien dieser Art, denen auch ein sentimentaler Wert anhaftet, wurden mir gegenüber keine Gegenstände an Bord als Erinnerungsstücke an die Heimat hervorgehoben. Konkrete Dinge als „Brückenobjekte“, die als „Bindeglied zwischen Vertrautem und Fremden“ fungieren (Bretz 2003),
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scheinen bei einer Weltumsegelung von geringer(er) Bedeutung zu sein, da die Yacht selbst als vertrautes Zuhause diese Rolle übernimmt. Dagegen wird die Reise selbst, die Weltumsegelung, in Form von typischen Souvenirs ein auffallender Bestandteil der Dingwelt dieses Zuhauses. Zum einen handelt es sich dabei um – bevorzugt im Tausch – erworbene Souvenirs spezifischer Stationen einer Weltumsegelung: „Molas“8 der Cuna-Indianer der San-Blas-Inseln bei Panama, „Tapa“ 9 aus Tonga oder Fidschi, Flechtarbeiten, Körbe oder Schnitzereien der pazifischen Inseln. Auch für Yachties steigert das Erlebnis des Erwerbs den biografischen Wert eines Souvenirs und im Gegensatz zu anderen Reisenden haben sie den Vorteil, Tauschwaren in großen Mengen mit sich zu führen. Tauschhandel ist aber beispielsweise auf pazifischen Inseln jenseits gängiger touristischer Routen nicht nur für den Erwerb „authentischer“ Souvenirs von Bedeutung, sondern dient auch der Versorgung mit frischen Lebensmitteln.
Abb. 6: Ebd. – Salon mit Blick zur Pantry.
Zum anderen sind es „natürliche“ Andenken, in Form von Muscheln, Seeschnecken und Korallen, einem Nautilus und eventuell sogar einem Schneckenhorn, die auf Weltumsegleryachten zu finden sind. Viele Yachties sind begeisterte Taucher oder Schnorchler, und das Sammeln von Muscheln zählt zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen auf einer Weltumsegelung. 8 Handgearbeitete Textilien in der Technik der umgekehrten Applikation (reverse applique). 9 Rindenbaststoff.
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Diese fragilen Erinnerungsstücke werden – unterm Segeln sicher verstaut – in erster Linie während längerer Liegezeiten hervorgeholt und im Wohnbereich präsentiert (Abb. 5 und 6). Souvenirs sind Bestandteil des persönlichen Raumes. Sie tragen dabei nicht nur zu Einrichtung und Wohnlichkeit der Yacht bei, sondern durch die mit ihrem Erwerb verbunden Geschichten auch zur Gestaltung des Reiseerlebnisses. Das Souvenir wird einerseits als „Erinnerung an einen bestimmten Ort“ definiert (Csikszentmihalyi 1981 in Stanley 2000), andererseits als „Belegstück für erfolgreich gemachte Reisen“ (Köstlin 1991). In beiden Funktionen kann die auffallende Präsenz von Souvenirs auf Fahrtenschiffen als Versuch interpretiert werden, das umfassende Reiseerlebnis „Weltumsegelung“ in erfolgreich gemachte ReiseEtappen zu unterteilen, damit zu ordnen und die Erinnerung an einzelne Stationen zu betonen, bevor die Reise in ihrer Gesamtheit, mit Erreichen des Heimathafens, abgeschlossen ist. Nicht zuletzt sind im Salon einer jeden Fahrtenyacht, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, Bücher vorhanden. Darunter die immer gleichen Seehandbücher, Reiseführer, Klassiker der (Weltum-)Seglerliteratur und allgemeine Lektüre. Neben der praktischen Notwendigkeit des Mitführens einiger der Bücher verweist diese Tatsache auf eine weitere favorisierte Freizeitbeschäftigung während einer Weltumsegelung, auf der laut vielen Seglern „endlich einmal Zeit zum Lesen“ ist. Außerdem tragen gerade eigene Bücher, die jederzeit zur Verfügung stehen, dazu bei, dass sich der Reisende, der sich durch sie einen beständigen, persönlichen Raum schafft, auf der Yacht zu Hause fühlt. „[S.] Wir hatten immer schon überlegt, wir gehen auf Reisen, vielleicht mit dem Fahrrad. Aber mit dem Fahrrad, und alles Rumschleppen. (…). Na ja, haben wir gesagt, warum nicht mit dem Schiff. [B.] Du hast alles dabei auf dem Schiff. Du hast dein Zuhause. Du reist zwar um die Welt, aber trotzdem hast du dein Zuhause. Und das ist irgendwo (…) Für uns war das schon relativ wichtig. Dadurch dass man irgendwie einfach (…) Du hast Deine Bücher, Musik, Du hast alles dabei. Das Schiff war immer Zuhause. Auch wenn wir, wir haben viel Landausflüge gemacht, wenn wir zurückkamen aufs Schiff, das war wie Nach-Hause-Kommen.“ (Ehepaar S. (sie, 43) und B. (er, 46); 1996 Aufbruch zur Weltumsegelung; 1999 „Hängengeblieben“ in Neuseeland)
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Unterwegs und doch daheim Unterwegs und doch zu Hause zu sein, ist für den Weltumsegler kein Widerspruch. Seine Yacht ist Transportmittel und Wohnung zugleich, das eigene Heim egal an welchem Ort der Welt. Die Yacht erfüllt die Funktion eines Fortbewegungsmittels, das individuelles und unabhängiges Reisen ermöglicht, und ist zugleich Wohnraum, der trotz Fortbewegung und Weiterziehen beständig und vertraut bleibt. Sicher und anheimelnd im unbekannten Hafen wie mitten auf dem Ozean. Der Fahrtenyacht haftet aber eine gewisse Ambivalenz an. Die Unabhängigkeit einer Weltumsegelung geht mit der Abhängigkeit vom Schiff einher. Darauf angewiesen zu sein, stets zuerst für die Yacht zu sorgen, auch in Form der im Grunde permanenten, zeit- und häufig auch kostenintensiven Instandhaltungsarbeiten. Die Freiheit, alle Meere der Welt zu bereisen, verlangt darüber hinaus vom Segler selbst, sich in den mitunter extrem eingeschränkten räumlichen Verhältnissen einer Segelyacht einzurichten. Design und Raumeinteilung einer Segelyacht werden durch ihre eigentliche Bestimmung – das Segeln – vorgegeben, auf einer Weltumsegelung jedoch spielt das Leben und Wohnen an Bord eine ebenso große Rolle. Das auf Dauer angelegte Einrichten in diesen Lebensraum führt zu einer Verhäuslichung der Fahrtenyachten. Ihre Dingwelt umfasst neben zum Segeln Notwendigem eine Vielzahl von Gegenständen, durch die eine Fahrtenyacht zum persönlichen Heim und gefühlten Zuhause der Segler wird. Das Schiff eines Weltumseglers ist sein Gefährt, aber viel mehr noch sein Gefährte. Literatur Bretz, Ulrike u.a. (2003): Bewegliche Habe – Zur Ethnographie der Migration. Tübingen. Collier, John Jr./Collier, Malcolm (1986): Visual Anthropology. Photography as a Research Method. Albuquerque. Häußermann, Hartmut /Siebel, Walter (1996): Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. Weinheim/München. Katschnig-Fasch, Elisabeth (1998): Möblierter Sinn. Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien/Köln/Weimar. Köstlin, Konrad (1991): Souvenir. Das kleine Geschenk als Gedächtnisstütze. In: Alber, Wolfgang u.a. (Hg.): Übriges. Kopflose Beiträge zu einer volkskundlichen Anatomie. Utz Jeggle zum 22. Juni 1991. Tübingen, S. 131-142.
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Özkan, Suzan (1994): Platz ist in der kleinsten Hütte – oder: Wie richte ich mich ein? In: Hofmann, Gabriele (Hg.): Über den Zaun geguckt. (KulturanthropologieNotizen, 45). Frankfurt a.M., S. 21-46. Paura, Nicolás (o. J.): Las notas del mar. Sobremesa des una historia de aventura. Buenos Aires. Rolshoven, Johanna (2007): Multilokalität als Lebensweise in der Spätmoderne. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 103, S. 157-179. Stanley, Nick (2000): Souvenirs, Ethics and Aesthetics: Some Contemporary Dilemmas in the South Pacific. In: Hitchcock, Michael/Teague, Ken (Hg.): Souvenirs. The Material Culture of Tourism. Aldershot u.a., S. 238-245. Tränkle, Margret (1972): Wohnkultur und Wohnweisen, Tübingen.
„Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße.“ Das Auto im Tourismus der Nachkriegszeit Cord Pagenstecher
„Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße“ – so beschreibt ein Berliner Ehepaar in seinem privaten Urlaubsalbum 1963 das Fahrverhalten ihres Autos. Für die Reisenden der bundesdeutschen Nachkriegszeit war das Kraftfahrzeug zweifellos eines der wichtigsten ‚Dinge auf Reisen‘. Auch im gesellschaftlichen Diskurs über das Reisen spielte das Kraftfahrzeug eine zentrale Rolle. Im ‚Wirtschaftswunder‘ setzte sich das Auto als Massenverkehrsmittel durch, gerade auch durch den Aufstieg des Massentourismus. Mitte der 1950er Jahre fuhr nur ein Fünftel der Westdeutschen mit dem Wagen in den Urlaub. Um 1960 stieg der Anteil des Autos als Verkehrsmittel der Haupturlaubsreise innerhalb weniger Jahre rapide an – von 29 Prozent (1958) über 53 Prozent (1964) auf 61 Prozent (1970), um dann weitgehend zu stagnieren (Pagenstecher 2003: 136ff.). Die klassenübergreifende Motorisierung hatte freilich Grenzen: Noch 1973 hatten 45 Prozent der privaten Haushalte kein Auto (Ruppert 1993: 133; zum Forschungsbedarf: Merki 2006). Die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts noch verbreitete Automobilkritik war nun überwunden (vgl. Fraunholz 2002; Merki 2002), die in den 1930er Jahren mit den berühmten Autorennen auf der AVUS und mit dem Versprechen des KdF-Wagens sozialisierten Deutschen konnten sich endlich ihre individuellen Träume erfüllen. Die Automobilwerbung inszenierte das Auto erfolgreich als „magisches Objekt“ der Moderne (Barthes 1964: 76). Aber auch die allgemeine Produktwerbung (Mandel 1996: 139ff., 229), Filme und andere Medien verbanden den Pkw mit Mythen von Freiheit, Macht, Individualität und Status. Mehr noch als in anderen Ländern standen raubkatzenähnliche Kühlergrills, PS-Zahlen und Geschwindigkeit im Mittelpunkt der bundesdeutschen Autowerbung. Differenzierte, schnell wechselnde Produktpaletten bauten zudem auf das Distinktionsbedürfnis der Autokäufer.
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Im Verlauf der Nachkriegszeit veränderte die massenhafte Automobilisierung nicht nur Städte und Landschaften, sondern auch Urlaubspraxis und touristische Wahrnehmungsmuster. Das Auto bedeutete zeitliche und räumliche Bewegungsfreiheit, die flächendeckende Erschließung des touristischen Raumes und die jedenfalls theoretisch unbegrenzte Vielfalt möglicher Routen und Sehenswürdigkeiten. Die Wahrnehmung dieser Vielfalt zu organisieren, wurde zu einer neuen Herausforderung für touristische Medien und Reisende. Der vorliegende Beitrag untersucht diese Veränderungen im bundesdeutschen Tourismus anhand von Reiseführern, der lokalen Tourismuswerbung und privaten Urlaubsalben. An einem medialen, einem lokalen und einem biografischen Beispiel frage ich nach der Bedeutung der Automobilisierung für die Visual History des Tourismus (vgl. Pagenstecher 2003; 2006). Mit diesem historischen Ansatz beschränke ich mich auf die mit den Schlagworten ‚Wirtschaftswunder‘ und ‚Erlebnisgesellschaft‘ periodisierbare Zeit der 1950er bis 1980er Jahre, in der die Automobilisierung ihren deutlichsten Ausdruck fand.
Reiseführer: Baedekers Autoreiseführer Reiseführer sind gute Quellen für eine Untersuchung von touristischen Praktiken. Unter den verschiedenen, vom sozialen Milieu bis zur Werbung reichenden Determinanten des touristischen Blicks sind die Empfehlungen und Wertungen in Reiseführern die konkretesten, während der Reise wirksamen Wahrnehmungs- und Verhaltens-Vorgaben. Dabei reflektieren sie gesellschaftlich vorherrschende Nor men und ihren historischen Wandel. Für die Reiseführer der Zeit des Massentourismus nach 1945 liegen allerdings nur wenige Studien vor (vgl. Pagenstecher 2009). Welche Titel zu einer bestimmten Zeit auf dem Markt waren, lässt sich anhand von Bestellkatalogen des Buchhandels oder – beim Baedeker – eines Sammler-Katalogs annäherungsweise rekapitulieren (Börsenverein 1960; ebd. 1972; Hinrichsen 1991). Gute Quellenbestände birgt das Historische Archiv zum Tourismus an der FU Berlin (HAT). Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Reiseführermarkt gekennzeichnet von einer immer strengeren, vermeintlich objektiven Auswahl der Sehenswürdigkeiten. Diese Entwicklung, die schon mit dem Aufkommen der modernen Reisehandbücher im 19. Jahrhundert begonnen hatte, war verbunden mit einer Reduktion und Versachlichung der Beschreibungen. Perfektioniert hatte sie der Baedeker-Verlag mit seinen zum Markenzeichen gewordenen Sternchen. Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkte sich diese
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Tendenz nochmals: 1937 plädierte der spätere Verlagsleiter Karl F. Baedeker in einem internen Grundsatzpapier für einen anderen Aufbau der Bücher: „Los vom Führungsgedanken!“ Entsprechend der „Psychologie des Kraftfahrers“ sollten weniger strenge Routen vorgegeben werden (nach Hinrichsen 1991: 61). Das Wissen wurde in den 1938 erstmals herausgegebenen Autoreiseführern nicht mehr anhand von persönlich zusammengestellten Routenvorschlägen, sondern nach dem Verlauf der Bundesstraßen gegliedert. Ausführliche, mit Kilometerleiste versehene Streckenbeschreibungen hangelten sich an Autobahnen und Fernstraßen entlang und orientierten über Sehenswürdigkeiten, kleinere Orte, Ausblicke und mögliche Abstecher. In einem zweiten Teil wurden die größeren Orte gesondert alphabetisch aufgeführt und beschrieben. Die Sehenswürdigkeiten wurden noch strenger ausgewählt und bloß mit nackten Daten beschrieben. Der Baedeker-Verlag verstärkte sein erfolgreiches Modell und machte aus dem ohnehin gerafften Reise-Handbuch ein nur noch stichpunktartiges Straßenkursbuch.
Abb. 1: Der Reiseführer als Straßenkursbuch. Seite aus Baedeker’s Autoreiseführer Mittel- und Unteritalien, 1964.
Baedeker hatte 1938 mit dem „Autoführer Deutsches Reich“ nicht nur im Aufbau, sondern auch im Vertrieb der Bücher Neuland betreten: Der stets mit seiner Unabhängigkeit werbende Verlag veröffentlichte erstmals ein Buch in Zusammenarbeit mit einer anderen Institution, nämlich dem Deutschen Automobilclub. 1953 erschien die dritte Auflage dieses „altbewährten Autoführers“ als „Baedeker’s Shell-Autoreiseführer Deutschland“, gemeinsam herausgebracht von Karl Friedrich Baedeker, dem ADAC und dem durch Shellatlas und Varta-Hotelführer bekannt gewordenen Verleger Kurt Mair. Die Synergie-Effekte dieser Kooperation waren erheblich: Die günstigen Vertriebsmöglichkeiten über den ADAC und das Shell-Tankstellennetz verbanden sich mit dem kartografischen Hintergrund des Mair-Verlags und
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dem traditionsreichen Namen Baedeker. Bis 1980 erreichte der „Autoreiseführer Deutschland“ 17 Auflagen; Bände zu anderen Ländern folgten bald. Andere Verlage kopierten die Idee der Autoführer, wenn auch mit Zeitverzögerung. Der Süddeutsche Verlag etwa brachte eine 17-bändige Serie „Mit dem Auto wandern“ heraus. Gesonderte Führer widmeten sich den bekannten Alpenstraßen. Die in den 1950er Jahren noch häufigen Bücher mit einem persönlichen Erzählstil in Art eines Cicerones wurden langsam verdrängt, verschwanden aber nie ganz vom Markt. Der traditionsreiche Grieben-Verlag hatte zunächst nur einen „Anhang für Automobilisten“ angeboten. Erst 1969 kam Grieben mit einem „Informator Bundesautobahnen“ auf den Markt. Die Redaktion war sich offenbar über ihr Konzept nicht sicher; auf dem Umschlag hieß es, der Band sei „zwangsläufig mehr ein Informationslexikon geworden als ein Reiseführer im herkömmlichen Sinne. Gefällt Ihnen diese Art? Bitte schreiben Sie.“ Wie die neue automobile Wahrnehmung genau aussah und strukturiert werden sollte, war dem Grieben-Verlag noch unklar. Zwar waren die Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten in Reiseführern schon immer primär auf eine visuelle Aneignung der Fremde ausgerichtet, doch ließen die Autoführer alle nichtvisuellen Erlebnistipps weg und reduzierten die Aneignungsmöglichkeiten vielfach auf den Blick durch die Windschutzscheibe. Die von Enzensberger (Enzensberger 1962) analysierte Normierung der „sights“ wurde forciert, die Reiseroute führte wie ein Fließband entlang der Straße durch einen kulturell entleerten Raum ohne Sinnzusammenhänge. Einheitliche Aufmachung und nüchterner Textstil suggerierten dabei zunehmend eine allgemeingültige Bewertung durch die ‚objektive‘ Redaktion statt der persönlichen Auswahl durch einen Autor, vor allem in Folge der Markteinführung von Polyglott 1959. Die inhaltliche Auswahl der Sehenswürdigkeiten änderte sich jedoch über Jahrzehnte und Systemwechsel hinweg nur geringfügig. Ganze Textpassagen wurden von Auflage zu Auflage fast gleich lautend übernommen.
Tourismuswerbung: Die Großglocknerstraße In der kommerziellen Tourismuswerbung änderten sich die touristischen Leitbilder dagegen schneller als in den stets konservativeren Reiseführern. Die Automobilisierung wirkte sich in den verschiedenen Broschüren inund ausländischer Reiseveranstalter und Destinationen sehr unterschiedlich aus. Viele deutsche Verkehrsvereine machten moderne Straßenbauwerke zu Sehenswürdigkeiten; in Berlin etwa zeigten alle Tourismusprospekte zwischen 1963 und 1974 ein Bild der Stadtautobahn (Pagenstecher 2003: 352f.).
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Besonders die Alpenreise – in den 1950er Jahren noch die dominierende Tourismusform – veränderte sich durch die Massenmotorisierung. Überall wurden Bergstraßen, Autobahnbrücken und Parkplätze gebaut. Die intensive touristische und verkehrstechnische Erschließung veränderte nicht nur das Erscheinungsbild der „verreisten Berge“ (Luger/Inmann 1995), sondern auch ihre Darstellung in der Tourismuswerbung und ihre Wahrnehmung durch die Reisenden. Ein markantes Beispiel der Automobilisierung des Bergtourismus ist die Großglocknerstraße, die mit Hilfe eines systematischen Marketings zu einer der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Österreichs aufstieg (Rigele 1993; 1998; Jülg 1976; Pagenstecher 2004). Schon 1924 plante Oberbaurat Franz Wallack eine Überquerung der Hohen Tauern, um den nach dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochenen Tourismusmarkt wieder zu beleben: Die „interessant geführte und bilderreiche“ Großglocknerstraße, so die Tourismusfunktionäre, bilde eine „Sensation, die selbst verwöhnte Weltreisende anzuziehen vermöchte“ (nach Rigele 1993: 116, 121). Im Konflikt zwischen den autofahrenden, „fashionablen Touristen“ aus dem Ausland und den „gewöhnlichen Touristen“, also den Bergsteigern (Wallack nach Rigele 1993: 126) propagierten die Straßenbefürworter den Ge danken der „Autotouristik“. Damit trugen sie bei zur Bedeutungsverschiebung des Wortes ‚Tourist‘ vom Wanderer zum Urlaubsreisenden, die sich in den Lexika ab etwa 1960 wieder findet (Pagenstecher 2003: 90ff.). Gebaut wurde die Glocknerstraße ab 1930 als hoch subventionierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Wirtschaftskrise. 1935 war die Eröffnung dieses austrofaschistischen Prestigeprojekts ein nationaler Triumph. Das von der Großglockner-Hochalpenstraßen AG (Grohag) effizient vermarktete Reiseziel stand nach dem Krieg für den Massentourismus zur Verfügung: Bis 1975 befuhren sieben Millionen Kraftfahrzeuge und damit 26 Millionen Menschen die Glocknerstraße, 60 Prozent davon aus der Bundesrepublik. Der Besucherhöhepunkt mit 360.000 Fahrzeugen war bereits 1962 erreicht; seither liegt die Zahl der Fahrzeuge bei gut 300.000 pro Saison (Jülg 1976: 23ff., 43ff.). Konzentriert auf die wenigen schneefreien Wochen im Jahr, genossen bis zu 20.000 Gäste die Mittagsstunden auf der Franz-Josephs-Höhe. In den anliegenden Gemeinden verbreitete sich ein großstädtischer Verkehr. Während der langen Wintersperrung der Straße dagegen lag die Tourismuswirtschaft brach – trotz des allmählichen Ausbaus von Skiliften. Im Zentrum der lokalen Bildwerbung in Prospekten und Postkartenserien stand einerseits der erhabene Gipfel, andererseits die Straße selbst. Die auf
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den Bildern meist in Richtung Bergspitze führende Straße erlaubte gewöhnlichen Reisenden, was vorher nur den sportlichen Alpinisten vorbehalten gewesen war: die Eroberung der Berge. Zahlreiche Bilder zeigten außerdem die gut frequentierten Parkplätze entlang der Straße; die Menge von Autos belegte die Sehenswürdigkeit der Destination. Das bunte Gewimmel inszenierte als Bildkontrast zugleich umso stärker den erhabenen Gipfel.
Abb. 2: Die Großglocknerstraße in einem privaten Fotoalbum mit Werbematerialien der Grohag, Profi- und Knipserfotos und einem peniblen Urlaubsprotokoll, 1967.
Die mythische Heroisierung der Alpen verlor sich aber angesichts der zunehmenden Erschließung. Omnipräsente Höhenangaben und die exakte Nummerierung der Spitzkehren quantifizierten die Erhabenheit der Berge. Ab 1961 wurde im Landschaftsschutzgebiet auf 2.369 Metern Höhe das erste Großparkhaus Österreichs errichtet. Ein zeitgenössischer Autoreiseführer (Denzel 1957: 159f.) begrüßte das seit 1938 geplante Projekt: „Der ‚Parkturm am Gletscherrand‘ löste in Fachkreisen ein sensationelles Echo aus. Dieser Etagenparkplatz wird nach seiner Fertigstellung ca. 900 Pkw und 300 Motorräder aufnehmen können. Die Auffahrt in die fünf Geschosse erfolgt am Platzeingang durch eine Spiralstraße in einem Turmbau ähnlich der Agip-Garage in Mestre-Venedig.“ Mit Verweis auf Venedig, ein anderes Highlight des romantischen touristischen Blicks, wurde ein modernes Funktionsgebäude gefeiert, das genau über dem ewigen Eis einen Kontrapunkt zur unberührten Bergwelt setzte. Der Turmbau mit spiralförmiger Auffahrt griff zugleich den alpinistischen Aufstiegstopos auf. Ein zweiter Abzweig führte von der Pass-Straße zur Edelweißspitze. Auf diesem 2.571 Meter hohen Aussichtsgipfel wurde 1934 ein Parkplatz
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angelegt. Acht Jahre nach Kurt Tucholskys ironischer Bemerkung über seinen Ausflug „zum noch unasphaltierten Gipfel“ der Zugspitze (Seitz 1987: 200) hatte die automobile Erschließung die Gipfel tatsächlich erreicht. Die Edelweißspitze gab anders als der eigentliche Großglockner auch den völlig Gehunfähigen die Möglichkeit des emotionalen Gipfelerlebnisses. Die von Straßeningenieur Franz Wallack initiierte Umbenennung des männlichklobigen Leitenkopfs in die weiblich-seltene Edelweißspitze regte die unterwerfende Erobererlust der männ lichen Autofahrer zusätzlich an. Wichtigstes Werbemittel der Grohag war ein vom Innsbrucker Grafiker Heinrich C. Berann gestalteter Faltprospekt. Auf dem Titel seiner ersten Auflage 1935 sauste noch eine Limousine durch die Bergwelt; seit dem ‚Anschluss‘ an Nazi-Deutschland 1938 wehte dagegen eine große Hakenkreuzfahne über dem Parkplatz vor dem nun höchsten Gipfel Deutschlands. Außer dem Hakenkreuz blieb dieser Prospekttitel in der gesamten Nachkriegszeit unverändert erhalten.
Abb. 3: Titel des Grohag-Prospekts, 1967 (HAT).
Der Betrachter wurde in ein parkendes Auto hineinversetzt, das ihm damit symbolisch übereignet wurde; das Cabrio signalisierte dabei besonderen Luxus. Dank des – elegant-futuristisch designten – Reisebusses im Mittelgrund konnten sich auch Nicht-Autobesitzer in dem Bild wiederfinden. Zwischen der wie ein Theater-Vorhang geschlungenen österreichischen Fahne rechts und dem erhabenen Gipfel links sitzen wir in dem Cabrio
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wie auf einem Logenplatz im Theater und genießen – privilegierter als die Busreisenden auf den billigen Plätzen – das Naturschauspiel. Die Großglockner-Hochalpenstraße war generell keine Zufahrt zu einem Wandergebiet, sondern mit ihren Gipfel- und Gletscherparkplätzen dazu angelegt worden, die Berge durch die Frontscheibe des Pkw zu betrachten. Viele Reisende nahmen sich nur wenige Stunden Zeit für die Überquerung des Glocknerpasses, sodass sie nur zu einigen kurzen Fotopausen aussteigen konnten. Die Automobilisierung trug so – zusammen mit den Seilbahnen – zu einer fernsehähnlichen „Medialisierung des Alpenerlebnisses“ bei (Tschofen 1994: 126). Zu Beginn der Massenmotorisierung in den 1950er Jahren machten schmale Straßen, anfällige Fahrzeuge und fehlende Erfahrung eine Passfahrt durchaus noch zum Abenteuer. Die Grohag verteilte in Gedichtform gefasste Ratschläge zur Fahrtechnik. Illustriertenartikel und Reiseführer betonten die Herausforderung von Pass-Straßen an das fahrerische Können und übertrugen so den sportlichen Bergsteiger-Mythos auf den automobilen Alpentourismus. Damit einher ging aber auch die den Alpinismus stets begleitende, vergebliche Suche nach ‚jungfräulichen‘ Routen. Die ADAC„Motorwelt“ etwa schrieb 1962: „Für den sportlichen Autofahrer ist es ein wenig bedauerlich, dass heute die spannenden und aufregenden, kurvenreichen und steilen Gebirgsstraßen immer seltener werden.“ Millionen deutscher Urlauber durften nun stolz Pässe und Gipfel im Automobil bezwingen und ihren Triumph fotografisch oder mit der Mautvignette dokumentieren (vgl. Peters 1996: 56). Das Ritual der Mautgebühr bekräftigte die Herausgehobenheit der bekannten Hochalpenstraße. Die portalartige Mautstelle wurde in Prospekten und Reiseführern oft abgebildet. Die Glocknerstraße war ein bekanntes, aber kein ungewöhnliches Beispiel. Ganz ähnlich wurde die in den 1960er Jahren gebaute Autobahn über den Brennerpass inszeniert. Zwar wurde schon im 18. Jahrhundert etwa die Gotthardstraße als Beleg menschlicher Naturbezwin gung bewundert; besonders erfolgreich war die Straßenwerbung aber in den vom Automobil begeisterten 1960er Jahren.
Knipserbilder: Das Auto im Fotoalbum Folgten die individuellen Reisenden nun aber diesem von der Werbung vorgegebenen Blick? Zur Beantwortung dieser Frage sind Knipserbilder in privaten Urlaubsalben eine mögliche, weit verbreitete, scheinbar vertraute Quelle, die in ihrer unprofessionellen Ästhetik und ihrer privaten Bestimmung allerdings nicht leicht zu interpretieren ist (Starl 1995). Die
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Knipserfotos dienen einerseits der persönlichen Erinnerung, andererseits der Selbstvergewisserung und dem familiären Zusammenhalt. Fotoalben sind individuell- oder familienbiografische Erzählungen, die gerade in den 1950er und 1960er Jahren private Schnappschüsse äußerst kreativ mit Collagen aus Ansichtskarten, Zeichnungen und launigen Kommentaren verbinden. Als autobiografische Quellen haben sie wie Tagebücher, Memoiren und lebensgeschichtliche Interviews eine eigene Erzählstruktur, die häufig folgende Bildsorten aufweist: ‚symbolische Resümees‘, ‚kanonisierte Wahrnehmungsmuster‘, ‚alltägliche Abläufe‘ und ‚besondere Ereignisse‘ (Pagenstecher 2005). Zugleich sind sie ein wichtiges Mittel innerfamiliärer Sinnstiftung, vielleicht auch Machtverteilung. Welche Rolle das Automobil in diesen Erzählungen spielte, lässt sich anhand einer exemplarischen Albenserie im Historischen Archiv zum Tourismus der FU Berlin (HAT, REPR/S) zeigen: Ein Berliner Bäckermeister und seine Frau haben in 45 Fotoalben alle ihre Reisen zwischen 1942 und 1982 festgehalten. Die Reisenden, die der Anonymität halber Schmidt genannt werden, besaßen keinen großen fotografischen Ehrgeiz, gestalteten ihre Alben aber liebevoll: Ansichtskarten, Pro spekte, Essensrechnungen und getrocknete Blumen ergänzen die selbst geknipsten Fotos. Getippte Urlaubschroniken halten pedantisch Reiserouten, Erlebnisse, Tageskilometer und Übernachtungspreise fest. Die in diesen peniblen Protokollen steckende symbolische Arbeit erleichtert die Analyse der Bilder und reflektiert zugleich das im Urlaub fortwirkende Arbeitsethos des kleinbürgerlichen, kinderlosen Ehepaares. Die Urheberschaft einzelner Knipserfotos ist ungewiss, da beide Eheleute fotografierten. Die Reisebiografie der Schmidts begann – nach ersten Wanderurlauben im Nationalsozialismus – gegen Ende der 1950er Jahre mit Kurzurlauben in den deutschen Mittelgebirgen. Es folgten weite Autofahrten durch die Alpen und ganz Mittel- und Südeuropa. Der generelle, von Automobilisierung und Auslandsreise gekennzeichnete, touristische TakeOff um 1960 findet sich in dieser individuellen Reisebiografie exakt wieder. In den 1970er Jahren etablierte sich im Ruhestand ein fester Rhythmus aus einem Strandurlaub im Sommer und einem Alpenurlaub im Herbst. Die fotografischen Urlaubserzählungen der Schmidts beginnen zunächst mit symbolischen Resümees: Jeder Urlaub wird in den Alben durch eine besonders gestaltete Seite eingeleitet, die dem neuen Kapitel der fotografischen Reise- und Lebenserzählung einen besonderen Rahmen gibt und zugleich ein bestimmtes Thema, eine dominierende Stimmung vorgibt. Bei ihren großen Rundreisen klebten die Schmidts hier Landkarten mit der eingezeichneten Reiseroute ein. Die späteren, eher stationären Urlaube wurden
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dagegen durch getrocknete Blumen oder selbst gemalte Landschafts-Skizzen eingeläutet. Viele Fotos zeigen Übergangsrituale, die das Eintreten in die Welt des Urlaubs und die Rückkehr in den Alltag begleiten und interpretieren (Hennig 1997: 78ff.). Dabei spielte das Auto eine so zentrale Rolle, dass es fast schon den Status eines kultischen Objekts einnahm.
Abb. 4: „alles noch mal ‚gewienert‘“. Die Schmidts mit ihrem Auto „Pixi“ vor der Abreise, Berlin 1962.
Vor der Abreise erfolgte – wie bei jedem Ritual – eine zeremonielle Waschung des Kultobjekts: Das Auto wurde noch einmal „gewienert“; beide Eheleute fotografierten sich 1962 dabei gegenseitig. Stets vermerkte das Protokoll den Kilometerstand bei Abreise und Rückkehr und dokumentierte ausführlich die Grenzkontrolle auf der DDR-Transitstrecke, einer Schwelle, deren Passieren den beiden West-Berlinern den Beginn der neuen Lebensphase Urlaub besonders deutlich fühlbar machte. Während der Reise erfüllten die Schmidts die kanonisierten touristischen Wahrnehmungsmuster, etwa durch die häufig eingeklebten Ansichtskarten und Prospektbilder sowie deren geknipste Nachahmungen. 1967 klebten die Schmidts zahlreiche Fotos einer gekauften Bildserie vom Grossglockner in ihr Album. Die nur drei Stunden dauernde Tauernüberquerung war ein eindeutiger Höhepunkt in der Urlaubserzählung. Ein Foto des eigenen Autos zwischen den hohen Schneewänden auf der Passhöhe dokumentierte den Triumph der automobilen Bergbezwingung und wiederholte zugleich ein häufiges Motiv der Prospektwerbung. Stolz legten die Reisenden 1962 einen Artikel aus der ADAC-Zeitschrift „Motorwelt“ in ihr
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Album, der eine von ihnen befahrene österreichische Talstraße als sportliche Herausforderung beschrieb: „Wer das Lesachtal autofahrerisch beherrscht, der kann wirklich fahren!“ Auf dem im Lesachtal geknipsten Foto von Heinz Schmidt im Gespräch mit einem anderen Berliner Touristen stemmen beide Männer vor ihren Autos eindruckheischend die Hände in die Hüften. Viele Fotos zeigen aber täglich wiederkehrende Situationen, die auch dem als Nicht-Alltag definierten Urlaub einen alltäglichen Ablauf geben. Das Auto ist dabei immer wieder zu sehen, so auch auf dem ersten selbst geknipsten Foto nach dem Krieg: Unter der Überschrift „‚Morgenwäsche‘ a/der Weser“ hantiert Elfriede Schmidt zu Pfingsten 1959 im Nachthemd in der geöffneten Seitentür des Bäckerei-Lieferwagens, mit dem die Schmidts ihre ersten Kurzurlaube unternahmen.
Abb. 5: „‚Morgenwäsche‘ a/der Weser“, 1959.
Mit diesen Bildern stellten sich die Reisenden selbst dar und manifestierten auch nach außen hin einen bestimmten Habitus: Eine improvisierte Morgenwäsche demonstrierte individuelle Unabhängigkeit vom organisierten Luxus-Tourismus. Das gewienerte Auto bewies demgegenüber Ordnung und Wohlstand. Viele Bilder hielten fest, wo und wie die Reisenden gewohnt, gesessen oder gegessen hatten. 1960 knipsten die Schmidts ihre Picknickdecke am Straßenrand – Bildunterschrift: „Auf ‚unserem‘ Rastplatz ‚Sieben Berge‘ gibt’s Frühstück“. Mit der Reisedokumentation eigneten sie sich zugleich
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die Fremde symbolisch an: Der unbekannte Straßenrand im Weserbergland war nun zu ‚unserem‘ Rastplatz geworden.
Abb. 6: „Auf ‚unserem‘ Rastplatz ‚Sieben Berge‘ gibt’s Frühstück“, Weserbergland 1960.
Die Häufigkeit dieser Fotos des Urlaubsalltags zeigt, wie wichtig den Knipsern die Dokumentation der Reiseroute und das Festhalten ihrer eigenen Erfahrungen sind – unabhängig von vorgegebenen Sehenswürdigkeiten. Urlaub bedeutet nicht nur Wahrnehmung der Fremde, sondern auch eine als Familie oder Ehepaar gemeinsam gelebte und gestaltete Urlaubspraxis. Die Automobilisierung verbilligte den Familienurlaub und verstärkte das Gemeinsamkeitsgefühl während der Fahrt. Das Festhalten und wiederholte Nacherleben des gemeinsamen Urlaubs anhand der Alben befestigt den – im Arbeitsalltag oft verschwindenden – familiären Zusammenhalt immer wieder von Neuem. Bilder und Protokoll verraten eine enge persönliche Bindung zum Automobil, das längst zu einem Familienmitglied geworden ist. Nachdem der in den 1950er Jahren gefahrene Lieferwagen in den Alben mit „Emma“ bezeichnet wurde, gaben die Schmidts auch ihrem Anfang der 1960er Jahre gekauften Kombi einen – wiederum weiblichen – Kosenamen. Wegen der Buchstaben P und X im Kennzeichen „B-PX 980“ nannten sie ihn „Pixi.“ Einige Zitate aus dem Urlaubsprotokoll von 1963 belegen die extreme Vermenschlichung des Autos: „22. Juni (...) Pixi innen und außen gründlich gereinigt! Es tat not, (...) 26. Juni, 7.00 Pixi steht startbereit da und es geht
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weiter (...) 27. Juni: (...) gefrühstückt, zur Pixi auf dem Parkplatz (...) 1. Juli (...) Pixi gründlich gewaschen und gereinigt! Nun strahlt sie wieder!!!“ In geradezu lyrischer Form rühmten die Schmidts auf einer weiteren Jugoslawien-Reise 1963 den gediegenen Komfort ihres Autos: „Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstrasse.“ Die auffällige Analogie zum heimischen Sofa deutet auf einen Grund hin, warum das Auto bei der Reise in die Ferne so oft und mit fortschreitender Urlaubszeit immer häufiger abgebildet wurde. Es bot ein mitnehmbares Zuhause, gewährte emotionale Sicherheit und Geborgenheit. Doch der enge Innenraum des Autos birgt freilich auch Konfliktpotential; die Familienlimousine kann zum klaustrophobischen Gehäuse für Langeweile und Streit werden (Löfgren 1999: 64). Aus Zeitmangel knipsten die Schmidts oft während der Fahrt aus dem Auto heraus. Das entsprach zugleich der Medialisierung des touristischen Blicks, die von Autoreiseführern und Panoramastraßen gefördert wurde. Manchmal entstanden dadurch technisch misslungene Bilder, die gleichwohl ins Album geklebt wurden.
Abb. 7: „auf zum Viehmarkt nach Karlovac ...“, Jugoslawien 1962.
Die Interpretation eines solchen Bildes ist schwierig, selbst wenn man das Nachbarbild einer offenbar armen, ihr Vieh die Straße entlang treibenden Familie und die Bildunterschrift „auf zum Viehmarkt nach Karlovac ...“ kennt. Mehr erschließt sich aus dem biografischen Gesamtkontext der Urlaubserzählung: Dieses Bild entstand 1962 bei einer der ersten Auslandsreisen in das damals noch exotische Jugoslawien. Im Kontrast zu Armut und
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Altmodischem, etwa zu Viehtreibern oder barfüßigen Kindern, zeigt das Auto den eigenen Wohlstand. Zugleich trauten sich die Reisenden anfangs in der Fremde öfters nicht, auszusteigen, sodass die ‚Schutzhülle‘ Auto als Instrument einer vorsichtig zwischen Distanz und Annäherung verharrenden Wahrnehmung diente. Die Knipserfotos der Schmidts erzählen neben den touristischen Höhepunkten und dem Urlaubsalltag immer wieder auch von einzelnen, unerwarteten Ereignissen, etwa einem Sturm an der Adria, einer Überschwemmung oder auch einem Parkwächter, der mit einem Tretroller auf dem Parkplatz herumfuhr. Wiederholt knipsten die Reisenden Staus und – mit zunehmendem Alter immer öfter – Verkehrsunfälle.
Abb. 8: „Bruch a/d. Tankstelle ...“, Italien 1977.
Die häufigen Bilder von demolierten Unfallautos am Straßenrand reflektieren wohl die Erleichterung, selbst von solchen Katastrophen verschont geblieben zu sein. Vielleicht sollten sie auch die Gefahren des Autofahrens, das die Schmidts so liebten, auf Zelluloid bannen und damit wie ein Talisman von ihnen fernhalten. Nach einem Auffahrunfall knipsten sie nicht nur die Beule im Kotflügel, sondern klebten als ‚Reliquie‘ auch einige Lackteile des gegnerischen Fahrzeugs ins Album. Wie die Abreise wurde regelmäßig auch die Rückkehr inszeniert. Meistens markierte ein Bild des Autos den Abschluss des Albums. 1965 fotografierten sich die Reisenden auf dem letzten westdeutschen Autobahnparkplatz gegenseitig vor ihrem Auto: „Helmstedt u. wieder in Richtung Heimat!!!!“
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Die mit vier Ausrufezeichen markierte Erleichterung und Freude über die Heimkehr verrät, dass die Schmidts das Reisen neben aller Neugier und Freude auch mit Unsicherheit und Heimweh erlebten. Das Protokoll schildert stets die genaue Uhrzeit der Rückkehr. Die Schmidts befürchten den Neid der daheim Gebliebenen, auch wenn dies nur in ironischer Form anklingt, etwa 1968 bei einem Foto des daheim gelassenen Hundes mit der Unterschrift: „und das alles ohne mich!“ Zur Rechtfertigung betonen die Rückkehrer 1967 daher ihre – in Kilometern gemessene – Leistung und ihre geistige Bereicherung: „Um 18.45 ist alles nach 6440 klm wieder zu Ende. Es war wieder sehr schön und aufschlussreich.“
Abb. 9: Pixi „wieder zu Hause!!“ Blick vom Balkon und der zurückgelassene Hund, Berlin 1963.
Schluss In den 1970er Jahren verlor die Automobilisierung des Tourismus an Dynamik. Verstopfte Autobahnen und lärmgeplagte Stadtzentren, steigende Benzinpreise und ein langsam wachsendes Umweltbewusstsein weckten Zweifel an den Segnungen des Automobils. Sein Anteil an den touristischen Verkehrsmitteln stagnierte, wenngleich auf hohem Niveau. Ursache dafür waren freilich nicht Umweltsorgen, sondern der Anstieg der Flugreisen, der einige Jahre später zudem einen starken Anstieg des Mietwagen-Urlaubs mit sich brachte. Das Auto blieb das wichtigste Urlaubs-Verkehrsmittel, verlor aber die starke Faszination der Nachkriegszeit. Die Autoführer wurden Ende der 1970er Jahre von Kultur- und Wanderführern sowie ‚alternativen‘ Angeboten abgelöst. Die neuen „Baedeker-Allianz-Führer“ waren nicht mehr
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nach Straßenverlauf, sondern alphabetisch gegliedert. Die Autoreiseführer blieben eine typische Erscheinung des mit dem Auto noch unerfahrenen ‚Wirtschaftswunders‘. Immer wichtiger wurde aber die in die Reiseführer zunehmend integrierte Straßenkarte. Aus der Tourismuswerbung verschwanden Stadtauto bahnen und Parktürme. Die Besucherzahlen der Glocknerstraße stagnierten, neue Alpentunnels dienten nun dem möglichst schnellen Transit. Erst in den 1990er Jahren versuchte die Großglockner-Hochalpenstraßen AG, durch eine Symbiose mit dem Tauern-Nationalpark das Image einer technokratischen Straßenbaugesellschaft hinter sich zu lassen (Jülg 1993: 43). Die Glocknerstraße blieb aber eine der wichtigsten Sehens würdigkeiten Österreichs. Auch in der hier dargestellten privaten Reisebiografie traten stationäre Bade-, Wander- und Kururlaube allmählich an die Stelle der weiten Autorundreisen der 1960er Jahre. Die Schmidts bezeichneten ihr drittes und viertes Auto in den Alben neutraler mit dem Modellnamen oder nur mit ‚Wagen‘; nie mehr stellte sich eine so starke emotionale Beziehung her wie zu „Emma“ und „Pixi“. Ob diese individuellen, gewiss auch altersbedingten Veränderungen eine allgemein verbreitete Tendenz sind, müssten weitere Analysen von Albenserien anderer, auch jüngerer Reisender zeigen. Generell trat der von jeglicher Alltagsrationalität befreite Automobilismus des ‚Wirtschaftswunders‘ langsam zurück; das 1956 von Erich Kästner so bezeichnete ‚motorisierte Biedermeier‘ ging zu Ende. Noch immer aber dienen Autos als Freiheits-, Macht- und Statussymbole. Die Touristisierung des Alltags führt dazu, dass massige Geländewagen für die tägliche Fahrt zum Bäcker genutzt werden. Die Automobilisierung ist Teil des modernen Alltags geworden – mit allen negativen Folgen für Klima, Umwelt und Lebensqualität. Literatur Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.) (1960): Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Sondernummern Reisen und Wandern. Frankfurt. — (Hg.) (1972): Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Sondernummern Reisen und Wandern. Frankfurt. Denzel, Eduard (1957): Alpenstraßen. Ein illustrierter Reiseführer der Touristenstraßen aller Alpenländer. Innsbruck. Enzensberger, Hans Magnus (1962): Eine Theorie des Tourismus. In: Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Einzelheiten. Frankfurt, S. 147-168.
„Pixi geht wie ein Sofa über die Prachtstraße.“
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Deutsche Spanienreisen ausgestellt Margarete Meggle-Freund
Unter dem Titel „¡Viva España! Von der Alhambra zum Ballermann. Deutsche Reisen nach Spanien“ (Becker/Meggle-Freund 2007) machte das Badische Landesmuseum im Jahr 2007 erstmals die Tourismusgeschichte deutscher Spanienreisen zum Thema einer kulturhistorischen Ausstellung. Der Ausstellungstitel deutet die inhaltliche Spannweite der Ausstellung an. Die Alhambra auf der einen Seite war das Hauptsehnsuchtsziel der romantischen Reisenden des 19. Jahrhunderts, die im maurischen Spanien den Vorposten des Orients suchten. Sie entdeckten das Land als Ziel europäischer Bildungsreisender, das es bis heute geblieben ist. Das Stichwort „Ballermann“ auf der anderen Seite steht für die modernen Pauschaltouristen, die seit den sechziger Jahren zu Tausenden in Spanien beim Badeurlaub Erholung suchen. Dabei ist die Strandbar „Ballermann“ auf der Insel Mallorca zum Inbegriff für den Exzess als Teil der modernen Reise geworden. Wie es der populäre Schlagertitel „¡Viva España!“ – „Es lebe Spanien!“ besingt, erfreut sich das Reiseland Spanien größter Beliebtheit bei den Deutschen. So war die iberische Halbinsel in den letzten Jahren zahlenmäßig das meist besuchteste Urlaubsziel der Deutschen. Trotzdem ist im allgemeinen Bewusstsein Italien deutlich präsenter. Spanien erscheint als das pragmatische Sonnenland, von Italien dagegen schwärmen die Deutschen als Sehnsuchtsziel der Antike und des Südens. „Ein spezifischer Gebrauchswert der Reise ist ihr Ausstellungswert“, stellten Elisabeth Fendl und Klara Löffler (Fendl/Löffler 1995: 68) bei ihren Betrachtungen zum Diaabend fest. Dabei bezogen sie sich auf die Ausstellung und Vorführung von Reisen beim häuslichen Diaabend oder bei der Präsentation von Reiseandenken im Wohnzimmer. Wie es sich mit dem Ausstellungswert solcher Gegenstände und des Themas der deutschen Spanienreisen im musealen Rahmen verhält, reflektiert dieser Aufsatz. Bei einem fiktiven Rundgang durch die Ausstellung, welche die Geschichte des Reisens nach Spanien in sechs Stationen vom mittelalterlichen Pilgern bis zum Pauschaltourismus erzählte, soll jeweils das Konzept auf den drei Ebenen Inhalt, Inszenierung und Ding vorgestellt werden:
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1. Auf der Inhalts-Ebene: Wie wurde Spanien als Reiseland jeweils wahrgenommen? 2. Auf der Darstellungs-Ebene: Welche Kontexte inszenieren die Ausstellungsräume? 3. Auf der Sach-Ebene am Beispiel exemplarischer Ausstellungsobjekte: Wie verweisen die Dinge auf das Reisen? Zahlen, Daten und Fakten der Ausstellung Ort: Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Museum am Markt; Größe: rund 300 m² Ausstellungsfläche, rund 400 Objekte; Vorbereitungszeit: 1,5 bis 2 Jahre, zwei Personen mit insgesamt durchschnittlich 1 ¼ Deputat; Sammlungsvoraussetzungen: keine hauseigenen oder fremden Sammlungen zum Thema, geringe Ankaufsmittel; Kuratoren: Anne-Katrin Becker M.A. (Projektleitung), Dr. Margarete Meggle-Freund M.A.; Ausstellungsarchitektur und Grafik: gestaltergruppe raum[einsichten, Karlsruhe (Peter Kammerer und Götz Lieber); Laufzeit: 26. Mai bis 28. September 2007; Besucher: 15.457.
Deutsch-spanische Tourismusgeschichte in sechs Stationen Schon im Straßenbereich vor dem Ausstellungsgebäude waren Geräusche einer Flughafenhalle mit den Ansagen der Starts und Landungen von Spanienflügen zu hören. Betraten die Besucher das Ausstellungsgebäude, fanden sie sich im Kassenbereich einer inszenierten Flughafenhalle mit einer Abflugtafel und Wartebank wieder. 0. „Was kommt uns spanisch vor?“
Abb. 1: Einstiegssequenz in die Ausstellung: Gegenständliche Assoziationen zur Frage „Was kommt uns spanisch vor?“; Produkte, die mit Spanischem werben oder „spanische“ Modemotive holten die Besucher bei ihren Alltagserfahrungen ab, Foto: Margarete Meggle-Freund.
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Abb. 2: Produkte, die mit dem Label „Spanien“ werben, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Abb. 3: Eine Flamencotänzerin steht in einer Werbung für Pfeffermühlen für die Qualität „feurig“. Das spanische Motiv hat sich verselbstständigt. Auch losgelöst von jedem „spanischen“ Kontext transportiert das Bild der spanischen Tänzerin einen übertragbaren Stimmungswert.
Den Einstieg in die eigentliche Ausstellung bildete eine Sequenz mit der Überschrift „Was kommt uns spanisch vor?“. Bewusst plakativ gestaltet in den Primärfarben der Flagge Rot und Gelb, mit dem Osborne-Stier als Silhouette im Hintergrund, fanden die Besucher auf sechs Sockeln gegenständliche Assoziationen zu Spanien. Das waren verschiedene Spaniensouvenirs wie Fächer, Süßweinflaschen mit Stierköpfen; Produkte, die mit einer Anspielung auf „Spanisches“ werben, zum Beispiel „Spanische Orangenmarmelade“, Tomatensuppe „Madeira“ oder Tee „Flamenco“; „spanische“ Modemotive oder DVD und Trinkhelm als Ausstattung für die heimatliche Ballermannparty.
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Bei genauerer Betrachtung dieser Dinge ergab sich, wie eng begrenzt das damit verbundene Bild von Spanien ist. Wenige stereotype Motive wie die feurige Tänzerin und der stolze Stierkämpfer ergeben schon den spanischen Touch. In der Mode genügen schwarze Spitze und Glockenvolants und schon wird spanisches Gefühl signalisiert. In vielen Führungen bewährte sich ein Einstieg über Alltagsgegenstände, die immer wieder Besucher dazu animierten, über eigene Spanienerfahrungen zu erzählen. Davon ausgehend konnten dann tiefer gehende Fragen entwickelt werden. In den weiteren Stationen erzählte die Ausstellung chronologisch, wie die Deutschen Spanien als Reiseland entdeckten: 1. Pilgern nach Santiago de Compostela
Abb. 4: Inszenierung einer Station am Jakobsweg mit einem historischen Steinkreuz aus Spanien, Foto: Thomas Goldschmidt (Badisches Landesmuseum).
Abb. 5: Verkleidestation, an der die Ausstellungsbesucher die Ausstattung eines mittelalterlichen Pilgers mit Pilgermantel, -hut, -tasche, -stab, -kalebasse und Jakobsmuschel Probe tragen konnten, Foto: Anne-Katrin Becker.
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Abb. 6: Moderner „Pilgersegen“, den ein Jakobspilger 2002 auf seiner Pilgerschaft am Rucksack trug und immer weiter ergänzte. Traditionelle Amulette wie ein Marienmedaillon oder ein Figürchen des hl. Jakobus‘ hängen gleichwertig neben einem Amulett gegen den „bösen Blick“ aus dem islamischen Kulturkreis, Foto: Roland Halbritter.
Ein Großfoto einer spanischen Landschaft mit einem in die Ferne führenden Weg und einer Karte der europäischen Jakobswege sollte die Besucher beim Eintreten mit ins Bild nehmen und dadurch ins Thema ziehen; davor inszeniert: ein Stück Jakobsweg, auf dem die Besucher selbst ein Stück des Weges gehen konnten. Die Wallfahrt zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago gehörte neben der nach Rom und Jerusalem zu den drei großen Fernwallfahrten des Mittelalters. Auch aus Deutschland machten sich Pilger auf dem gut ausgebauten Wegenetz nach Santiago auf, dem westlichsten Punkt Europas, dem Ende der damals bekannten Welt. Seit den 1980er Jahren führte die Ausweisung des Jakobswegs als Europäische Kulturstraße zu einer Renaissance des Jakobspilgerns. Da weder die inneren Beweggründe für eine Wallfahrt noch das körperliche Erleben des Gehens oder die Beschwernis und Gefahren der langen Reise in Objekten darstellbar waren, konfrontierte die Ausstellung das Bild des mittelalterlichen Pilgers mit dem der modernen Pilgerschaft. Prototypisch verkörpert die Darstellung des Hl. Apostels Jakobus als Pilger das Bild des historischen Pilgers. Seine Ausstattungsstücke hatten eine praktische Funktion und waren gleichzeitig symbolisch bedeutsame Attribute. In der Ausstellung konnten die Besucher sich dies erschließen, indem sie Grafiken und Skulpturen des Heiligen betrachteten, zusammen mit Erklärungen und Quellentexten wie einem Segen des Pilgerstabes und der Pilgertasche, der
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Legende zur Muschel und einem mittelalterlichen Lied an einer Hörstation, das die Ausstattung des Pilgers auf der gefahrvollen Reise auf Leben und Tod besingt. Schließlich konnten die Besucher sich selbst wie mittelalterliche Pilger einkleiden. Moderne Pilger adaptieren für sich die historischen Attribute der Jakobspilgerschaft. So tragen die meisten modernen Pilger etwa Jakobsmuscheln an ihren Rucksäcken. Während die früheren Pilger die Muschel erst am Ziel in Santiago erwarben und als Zeichen ihrer geglückten Pilgerschaft vor allem auf dem ebenso beschwerlichen Rückweg trugen, tragen heutige Pilger meist schon vom Start weg ihre Muschel und nehmen den einfachen Rückweg mit dem Flugzeug. An einem charivariartigen Objekt, das der Besitzer seinen „Pilgersegen“ nannte, lässt sich im Gegenstand und seiner Gebrauchsgeschichte eine veränderte Haltung ablesen: Auf seiner Pilgerreise trug Roland Halbritter seinen Pilgersegen am Rucksack. An einer Jakobsmuschel sammelte er sowohl christliche Zeichen wie ein Marienamulett oder eine Figur des hl. Jakobus‘, aber daneben auch ein Glasauge, ein traditionell im islamischen Kulturkreis verwendetes Amulett gegen den „bösen Blick“. Sein multikultureller Pilgersegen diente immer wieder als Aufhänger, um mit Mitpilgern in Kontakt zu kommen; auch berichtete er davon in seinem Weblog. Am stärksten scheint im Themenbereich des Jakobspilgerns die Verkleidungsstation gewirkt zu haben, da die Objekte entsprechend groß und optisch plakativ waren; zudem war die Station auch noch mit einer Handlung zu verbinden. Gruppen waren regelmäßig erheitert, wenn einer von ihnen sich als Pilger präsentierte. Das bot einen willkommenen Anlass für ein Handyfoto. 2. Die Entdeckung Spaniens als Reiseland im 19. Jahrhundert
Abb. 7: Modul spanische Geschlechterklischees, Foto: Margarete Meggle-Freund.
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Abb. 8a und b: Gucklöcher in der Peepshow-Inszenierung zu Geschlechterklischees: „Viele Tänzerinnen und ein Mann“, „Säfte“: Souvenirporron aus Peniscula, Parfüm, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Abb. 9: Maurisches Kabinett mit Reisegrafik, Spanienmalerei und Einrichtungsstücken der maurischen Innendekoration des Ebehardsbades in Bad Wildbad, Foto: Thomas Goldschmidt (Badisches Landesmuseum).
Die moderne Tourismusgeschichte Spaniens beginnt im 19. Jahrhundert, als die Romantiker die iberische Halbinsel als Reiseland entdeckten. Ausgehend von der Beschäftigung mit der spanischen Literatur der klassischen Zeit suchten sie ihr „Zauberland der Romantik“ im scheinbar unberührten Spanien. Besonders Südspanien mit den Überresten der maurischen Epoche übte auf die Reisenden des 19. Jahrhunderts eine exotische Faszination aus. Das aus der historischen Literatur gewonnene Bild von Spanien übertrugen die Entdecker direkt auf das Spanien ihrer Zeit und fanden dort die Absurdität des Lebens in der Gestalt Don Quijotes, den Orientzauber im maurischen Spanien, die Leidenschaft Carmens und den Stolz Don Juans.
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Nach einer Buchvitrine zum literaturgeprägten Überbau stellte die Karlsruher Spanienausstellung deshalb vor allem die wichtigsten deutschen Spanienklischees dar und leitete die aktuelle Ausprägung jeweils in Objektreihen aus dem 19. Jahrhundert ab. In einem Modul zu den Geschlechterklischees waren die vielen Darstellungen zu Frauen- und Männerbildern vom Kitsch bis zur Kunst gebündelt. Verschwimmend beleuchtete Silhouettenfiguren mit der Betextung „Die Frau unserer Sehnsüchte …“ und „Der Mann unserer Träume …“ versuchten eine Rückkopplung zum Betrachter, die zeigt, wie sehr ein Klischee mit den Wünschen dessen zu tun hat, der es gebraucht. Auch das Mittel der so genannten Peepshow, Inhalte hinter kleinen Gucklöchern zu verstecken, um die voyeuristische Neugierde zu wecken, passte dazu. Die Vermittlung des exotischen Spaniens in Reisegrafiken und in der Spanienmalerei und seine Adaption in einem historistisch-maurischen Baustil waren in einem im Stil des 19. Jahrhunderts dunkelrot gehaltenen KunstKabinett inszeniert. Besonders bei der Darstellung der Klischees zeigte sich an den Reaktionen der Besucher, dass viele das im Museum Gezeigte von vornherein als „schöne Kunst“ rein ästhetisch wahrzunehmen versuchten und sich nicht auf eine kritisch distanzierende Betrachtungsweise einließen. 3. Die Beteiligung Deutscher im Spanischen Bürgerkrieg
Abb. 10: Modul zur Beteiligung Deutscher im Spanischen Bürgerkrieg: Gegenüberstellung des linken und rechten Lagers mit der linken gewählten Regierung und den franquistischen Putschisten, Foto: Margarete Meggle-Freund.
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Abb. 11: Republikanische Fahne aus dem Spanischen Bürgerkrieg, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Im Jahr 1936 putschte das spanische Militär unter Führung des faschistischen Generals Franco gegen die gewählte linke Regierung. Verlauf und Ausgang des darauf folgenden Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) – ursprünglich ein innerspanischer Konflikt – wurden durch die Intervention ausländischer Mächte, insbesondere auch Deutschlands, wesentlich bestimmt. Ihre Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg verarbeiteten viele Beteiligte einerseits wie eine touristische Reise. Andererseits gibt es in vorher nicht da gewesenem Umfang propagandistische Berichte über diesen Krieg. Die Ausstellung zeigte den Krieg im Spiegel der noch vorhandenen Quellen als einen Krieg der Propaganda. Zugespitzt waren linke und rechte Seite gegenübergestellt. Als stimmungsprägendes Großfoto schwebte darüber das Bild einer deutschen Flugstaffel beim Bombenangriff. Das Flugzeug wurde damit auch hervorgehoben als Leitvehikel deutscher Spanienreisen. War der Spanische Bürgerkrieg zuerst Testfeld für die deutsche Luftwaffe, nutzte die damals aufgebaute Luftfahrtsinfrastruktur auch die ersten Urlaubsflieger nach Spanien. Mit einem auratisch aufgeladenen Originalobjekt aus der Zeit des Bürgerkriegs konnte verdichtet deutsch-spanische Geschichte gezeigt werden: Im Winter 1936 soll die in der Ausstellung gezeigte republikanische Fahne im vielfach dargestellten Kampf um Madrid von einem Anhänger der Republik verwendet worden sein. Der Sohn des Fahnenträgers, der während der Diktatur Francos ins Exil ging, hatte sie nach Deutschland mitgebracht. Bei Maidemonstrationen auf dem Münchner Königsplatz, wie die Pressefotos von 1971 und 1972 zeigen, demonstrierten die Exilspanier gegen die Diktatur in ihrem Heimatland. Dabei kam die ausgestellte Fahne wieder zum Einsatz.
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Derart dichte historische Originalobjekte, die als solche zeichenhaft sind, und bei denen die Geschichte ihres Gebrauchs auch noch durch weitere Quellen, wie hier Pressefotos, dargestellt werden kann, als Ausstellungsobjekte zu finden, ist ein besonderer Glücksfall. 4. Spanien und die Erfindung des Massentourismus
Abb. 12: Düsenflugzeug-Inszenierung, in der Schüler gerade ein Rollenspiel durchführen, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Abb. 13: Souvenirkabinett mit Hulatänzerin: gekauft in Sevilla als Flamencotänzerin, made in China, Foto: Margarete Meggle-Freund.
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Abb. 14: Inszenierung Deutsches Wohnzimmer der 1960er Jahre mit Spaniensouvenirs, Foto: Margarete Meggle-Freund.
„Mit dem Urlaubsflieger in den sonnigen Süden.“ – Anfang der 1960er Jahre beginnt der „boom touristico“ in Spanien. Als sonnensicheres und günstiges Urlaubsland überzeugt Spanien gerade die Nord- und Westeuropäer. Häufig wurde der Badeurlaub an der Mittelmeerküste als Pauschalreise im Reisebüro gebucht. Auf dem streng regulierten Luftverkehrsmarkt waren die günstigen Preise der Charterflüge nur als Teil des Pakets „Hotel-TransferFlug“ möglich. So steht das Flugzeug, wie die Vespa in den fünfziger Jahren für den Italienurlaub, für den Badeurlaub in Spanien, der nun für breite Schichten erschwinglich wurde; der Massentourismus war erfunden. Die Ausstellung inszenierte die wichtigsten Stationen eines Pauschalurlaubs: Buchung im Reisebüro, Transfer mit dem Düsenflugzeug, Strandkaffee, Souvenirstraße und schließlich das heimische Wohnzimmer mit zahlreichen Spaniensouvenirs, in dem gerade der Urlaubsbilder-Diaabend stattfindet. Als Souvenirs wurden den modernen Touristen in Spanien bevorzugt traditionelle Handwerksprodukte wie Keramiken und Korbflechtereien angeboten, aber auch die im 19. Jahrhundert geprägten Klischees wurden bruchlos weitergeführt. In einem in der gleichen Farbigkeit wie das KunstKabinett des 19. Jahrhunderts gehaltenen Souvenirkabinett „Best of Souvenirs“ waren einige Souvenirs besonders hervorgehoben. So etwa eine Souvenirpuppe aus Kunststoff im Stil der amerikanischen Barbiepuppen, die als spanische Flamencotänzerin anmutet, jedoch eine in China produzierte Hula-Tänzerin darstellt. Sie wurde von einer deutschen Familie als Souvenir im Jahr 2000 in Sevilla bei der „Semana Santa“ erworben, im Glauben eine feurige spanische Tänzerin mit nach Hause zu bringen. Auch die Produktion der ortsspezifischen Erinnerungsstücke ist globalisiert. Wenige stereotype
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Merkmale wie das rote Tänzerinnenkleid und die dunklen Haare genügen, um die Lokalspezifik und damit den Souvenirwert sicherzustellen. Die sehr realitätsnah nachinszenierten Räume wie etwa das deutsche Wohnzimmer kamen bei den Ausstellungsbesuchern besonders gut an. Hier konnten sie direkt ins Thema eintauchen. Nostalgie für viele. In einem Programm „Spanischlernen in der Ausstellung“ nutzten Schüler gerade diese Räume als inspirierendes Ambiente für Rollenspiele. 5. Spanische Migration nach Deutschland
Abb. 15: Verfremdend gestrichene „Gastarbeiterkoffer“, in denen jeweils ein Einzelschicksal dargestellt war, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Abb. 16: Personalisierte Darstellung: originaler Koffer mit selbst gestricktem Pulli „für’s kalte Deutschland“, Foto und Interviewtext, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Als viele Deutsche auf den Geschmack gekommen waren, ihren Urlaub unter der Sonne Spaniens zu verbringen, setzte eine „Reise“-Bewegung ganz anderer Art ein: 1960 begann die Zuwanderung von spanischen Arbeitnehmern in die Bundesrepublik. Der boomenden Wirtschaft fehlten Arbeitskräfte;
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deshalb schloss Deutschland mit verschiedenen Ländern Anwerbeabkommen. Ab 1961 kamen wöchentlich rund 800 bis 1.000 Menschen mit Sonderzügen aus Spanien an. Für viele war es eine Reise ins Ungewisse, gespeist aus Not oder auch Abenteuerlust. Die Mehrzahl wollte ein paar Jahre im Ausland arbeiten, Geld sparen und dann in die Heimat zurückkehren. 1966 bildeten die Spanier nach den Italienern und neben den Griechen die zweitgrößte Migranten-Gruppe in der Bundesrepublik. Zwei Jahre vor dem Anwerbestopp 1973 lag die Zahl der hier lebenden Spanier bei 270.350. Die Ausstellung stellte zum Thema der spanischen Arbeitsmigration der Seite der deutschen Verwaltung die Seite der nach Deutschland gekommenen Spanier gegenüber. Mit der Darstellung von Einzelschicksalen versuchte sie das in den Überblickstexten erläuterte Phänomen auch emotional greifbar zu machen. In Koffern, die in kühl-sachlichem Grau verfremdend gestrichen waren, wurde jeweils ein spanischer „Gastarbeiter“ mit einem Originalobjekt, einem Foto und einem Interviewausschnitt vorgestellt. Einzig der Koffer von Herrn Fernández blieb unverfremdet, weil er der originale, bei der Reise aus Spanien benutzte war. Darin war ein selbstgestrickter Pullunder zu sehen, den Frau Ramírez Fernández ihrem Ehemann Juan in den 1960er Jahren mit den Worten „In Deutschland ist es kalt“ mitgegeben hatte. 6. Mehr als eine Reise: Zweite Heimat Spanien
Abb. 17: Bautafel Urbanisation: Für die Ansiedlung von Ausländern hat sich eine eigene Siedlungsform entwickelt: Residenzen, die nicht um ein gewachsenes Ortszentrum, sondern rund um einen Golfplatz angeordnet sind, Foto: Margarete Meggle-Freund.
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Abb. 18: Koffer mit deutschem Filterkaffee und Vollkornbrot – Sehnsuchtsobjekte Deutscher in Spanien, Foto: Margarete Meggle-Freund.
Am Mittelmeer für immer die spanische Sonne genießen, diese Idee entwickeln viele Spanienreisende. Den Traum von einem Leben im Süden in ewiger Sonne und dauerhafter Urlaubsbräune erfüllen sie sich mit einem Hauserwerb. Seit Beginn der 1970er Jahre entstehen entlang der Küste in der Nähe touristischer Zentren ganze Siedlungen für Nordeuropäer. Ein darauf spezialisierter Bau- und Immobiliensektor bedient dieses Interesse. In den letzten zehn Jahren haben sich die Firmen darauf eingestellt, ihre europäische Klientel in ihrer Muttersprache zu bedienen; Immobilienhändler arbeiten mit mehrsprachigem Personal, deutsche Schreiner bieten ihre Dienste an und auch auf deutsche Wurstwaren muss man nicht mehr verzichten. Auch in diesem Bereich arbeitete die Ausstellung mit den verfremdeten Koffern, in denen jeweils ein für das Leben in Spanien besonders relevantes Thema, zum Beispiel das Fehlen gewohnter Lebensmittel wie deutschem Filterkaffee und Vollkornbrot oder Probleme mit dem Erlernen der spanischen Sprache, anhand von exemplarischen Objekten und Interviewaussagen dargestellt war. Den Blick weg vom Traumbild eines Lebens im ewigen Sommer schließlich hin auf die realen Probleme des Alltags deutscher Altersmigranten in Spanien zu lenken, löste bei den Besuchern immer wieder Erstaunen aus.
Zusammenfassung Zum Konzept Das Ausstellungskonzept greift aus der Rezeptions- und Reisegeschichte der Deutschen nach Spanien sechs Stationen heraus. So zeigte es verschiedene Reiseformen, angefangen bei der mittelalterlichen Pilgerfahrt, die heute wieder belebt wird, über die romantische Spanienfahrt, in der zunächst
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Forscher und Künstler Ende 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die iberische Halbinsel als „Zauberland der Romantik“ für sich entdecken, bis hin zum Erholungsurlaub am Strand, der seit den 1960ern als Massenbewegung dazukam. Daneben zeigte die Ausstellung die Teilnahme Deutscher am Spanischen Bürgerkrieg als eine besondere Form der Reise und die Migration spanischer „Gastarbeiter“ in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland wie umgekehrt in jüngster Zeit die Arbeitsund Altersemigration Deutscher ins ewige Sonnenland Spanien. Die Ausstellung zeigt Linien und Brüche, wie etwa das im 19. Jahrhundert geprägte Reiseprogramm, das bis heute den Kanon der klassischen Bildungsreise nach Spanien bildet, oder die Neuentdeckung des Badelandes Spanien in den 1960er Jahren. Die Fakten der Rezeptionsgeschichte lieferten vor allem die Ausstellungstexte. Als überwiegend optisch und über andere Sinne erlebtes Medium zielte die Ausstellung darüber hinaus auf drei weitergehende Zugänge: Den ersten Zugang durch Bilder: Christoph Hennig sieht Tourismus als das Unterfangen, „fiktive Räume physisch aufzusuchen“. So wies die Ausstellung auf die Bilder, die unsere „imaginären Geographien“ (Hennig 2001: 36) prägen, hin. Sie stellte etwa die Entstehung der wichtigsten Spanienklischees und ihrer Verfestigung durch die Zeit dar und versuchte auf ihren Rückbezug zum Betrachter hinzuweisen. Als zweiten Zugang – eng mit den Bildern verwandt – thematisierte „¡Viva España!“ ritualisierte Stationen und Abläufe von Spanienreisen, wie etwa das Sich-auf-den-Weg-machen, welches das Bild des Pilgers bestimmt, oder die Standardstationen eines Pauschalurlaubs von der Buchung im Reisebüro, über den Flug, den Aufenthalt am Strand, den Einkauf von Souvenirs bis zu deren Präsentation im heimatlichen Wohnzimmer. Damit argumentiert die Ausstellung stark typisierend. Dem entgegen und gleichzeitig den Typus bestätigend argumentierte die Ausstellung zum dritten auch immer wieder mit Personalisierung. In Interviewzitaten, mit persönlichen Gegenständen und ihren Geschichten versuchten sie die historische Erfahrung des Reisens in der subjektiven Erfahrung Einzelner zu konkretisieren, wie zum Beispiel in einem überdimensionierten Album mit persönlichen Reiseerinnerungen oder verfremdeten „Migrantenkoffern“, in denen jeweils in einer Mischung aus Interviewzitaten und illustrierenden persönlichen Gegenständen auf einen Migranten und sein Leben verwiesen wurde.
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Zur inszenatorischen Darstellung Ausgangspunkt und Bezugspunkt der Darstellung waren möglichst authentische Originalobjekte. Die Inszenierungen ordneten sie in Kontexte ein. Dem Stil des Badischen Landesmuseums folgend, waren diese stark kulturhistorisch ausgerichtet. In begehbaren Bühnenbildern konnten sich die Ausstellungsbesucher selbst auf die Reise begeben und eintauchen in die ReiseBildwelten. In einem äußerst erfolgreichen Programm zum Spanischlernen innerhalb der Ausstellung nutzten zahlreiche Schulklassen die Ausstellungsbühnen für Rollenspiele. Die Spannweite der Inszenierung reichte dabei von dem nahe am Eins-zu-Eins-Nachbau liegenden nostalgisch anheimelnden Sechziger-Jahre-Wohnzimmer, über die verfremdend distanzierende Installation der „Migrantenkoffer“ bis zur künstlerisch freieren Darstellung des Prinzips „Ballermann“. Zum Schluss noch einmal der Blick auf die Reisedinge Der Fokus im Museum mit kulturhistorischem Anspruch liegt auf kleineren und zum Ausstellen wirkungsvolleren dreidimensionalen Realien: Die originalen Orte der Reisen sind kaum in Museumsräume transferierbar. Architekturen, Landschaften und Reiseinfrastruktur sind nur indirekt abbildbar oder nicht erhalten. Deshalb stachen einige wenige originale Überreste von Logistikinfrastruktur wie zum Beispiel die TriSTar-Flugzeugsitze oder eine Flughafentafel hervor. Hier liegt ein Sammlungsdefizit: Die wirtschaftliche Seite der Produktion unserer Urlaubssehnsüchte und deren konkrete Bedienung durch das Tourismusgewerbe ist bisher nicht museal gesammelt. Überliefert sind eher kollektive Bilder, wenn sie künstlerisch gestaltet sind und deshalb als Kunstwerke gesammelt wurden (erstmals seit Entstehungszeit zeigte die Ausstellung wieder spanische Reisegrafik aus der Karlsruher Kunsthalle) oder wegen ihres symbolischen Wertes (wie zum Beispiel die Bürgerkriegsfahne) aufbewahrt wurden. Die meisten zugänglichen Reisedinge aber stammten aus der Überlieferung von Privatpersonen. Es sind die Dinge, die zur Erinnerung als Souvenirs bereitgestellt werden oder von den Einzelnen zu Erinnerungsgegenständen gemacht werden und deshalb gesammelt und aufbewahrt werden. Auch hier liegt ein deutliches Sammlungsdefizit. Weitere Souvenirs zu sammeln ist uninteressant, solange sie nicht dokumentiert werden und damit auch auf der Ebene der Objekte eine soziale Einordnung des Massenphänomens der touristischen Reise ermöglichen. So ergab sich schon aus der Objektlage der Blick vom Einzelnen ausgehend auf die kollektiven Bilder, die er sammelt und als Tourist immer wieder neu erschafft.
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Die Mittelmäßigkeit des Reisens Ein Plädoyer zur Erforschung der materiellen Kulturen des Tourismus Klara Löffler
In der Einleitung zu seinen Gedanken darüber „Was die Sachen mit uns machen“, legt sich Roger-Pol Droit ein Modell zurecht, wie er als Philosoph mit den Dingen umgehen kann: „Zunächst einmal sage ich mir, dass die Dinge zusammengefaltete Diskurse sind. Oder die Falten verklungener Äußerungen. Oder die konkreten Rückstände verblasster Wortketten (...)“ (Droit 2006: 24). Als Kulturwissenschaftler haben wir diese Perspektive zu ergänzen: Nicht nur Diskurse sind in und durch die Dinge repräsentiert, das Wechselspiel, die Mehrdeutigkeiten, auch die Widersprüchlichkeiten zwischen Diskursen und Handeln werden in den Dingen1 manifest. Trotzdem scheint mir das Bild vom Auseinanderfalten hilfreich. Was dies anbelangt, so ist mit der Tagung in München ein wichtiger Anfang gemacht. Mit den folgenden Überlegungen, wie sie aus dem Resümee über die Tagung entwickelt wurden, möchte ich dazu ermuntern, konsequenter und systematischer die materielle Kultur auf Reisen in den Blick zu nehmen, ja die Objektanalyse und deren Kontextualisierungen als besonders facetten- und aufschlussreichen Zugang grundsätzlich in die Ethnografie des Reisens zu integrieren. Zwar verweist Burkhart Lauterbach in seinem Abriss zur volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung auf die Notwendigkeit, Sachen, Dinge, Objekte und Artefakte in die Reiseanalyse einzubeziehen, konzentriert sich aber im entsprechenden Kapitel vor allem auf jene Objekte, die in der Erinnerung an die Reise eine zentrale Rolle spielen, auf Souvenirs also (Lauterbach 2006: 101-116). „Es gibt Kultur“, so Martin Scharfe, „nicht ohne Materialität; mithin ist alle Kultur materiell“ (Scharfe 2002: 93). Zumal in einer am Alltag und dessen Selbstverständlichkeiten interessierten Kulturwissenschaft wie der Volkskunde und Europäischen Ethnologie kommt dem Leiblichen und 1 Im Folgenden variiere ich die Begriffe „Ding“ und „Objekt“ im Sinne von „Gegenständen“, die und wie sie im Alltag funktional immer aber auch dysfunktional sein können; vgl. die Begriffsdiskussion bei Korff (2002: 35-37) und Hahn (2005: 18-20).
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Dinglichen, der Korrespondenz zwischen Körper und Körperwelt ein besonders hoher Stellenwert zu. Eine Fokussierung auf die materielle Kultur des (modernen) Reisens – für Touristen und der Touristen – erlaubt es, über die Dinge, deren Handhabung und Ordnung, den Blick auf die konkrete Erfahrungswelt des Reisens zu schärfen. Dringend geboten scheint mir eine derartige Ergänzung der Perspektive in einer Diskursform wie der Tourismusforschung, die von vielfachen Routinen, allen voran die Tourismuskritik und die Gegenwelt-These, geprägt ist. In ihrer „Brückenbedeutung“ (ebd.: 96), Scharfe referiert hier auf Jakob von Uexkülls Befund zum MenschDing-Verhältnis, ermöglichen und erleichtern die Dinge das Reisen, sie trennen und verbinden zwischen dem Banalen und dem Besonderen, sie unterstützen und durchkreuzen Vorstellungen und Ideale, Motivationen und Intentionen hinter dem Reisen. Die Dinge sind es, die uns auf die Mittelmäßigkeit des Reisens verweisen; das meint das Angewiesensein auf die materielle Kultur auf Reisen ebenso wie die Verstrickungen der Einzelnen und der Gruppen über die Dinge in die alltäglichen Mittelmäßigkeiten auch auf Reisen. Ich greife damit einen Gedanken Paul Veynes auf, den er entlang der Frage nach dem Alltäglichen und dem Interessanten entwickelte: Die Alltäglichkeit ist unüberwindlich. Der Auftrag, den er der Geschichtswissenschaft erteilt und der auch für unser Fach gilt, ist die Erforschung und die Darstellung „diese[r] Atmosphäre der Zersplitterung und der Mittelmäßigkeit“ (Veyne 1996: 10). Infrage steht damit das Reisen als Praxis zwischen Alltäglichem und Außergewöhnlichem und die Bedeutung, die materielle Kulturen für diese Praxis haben. Es geht also um die Ebene des Konkreten – im Folgenden schlaglichtartig am Umgang mit dem Gepäck, am Einpacken und am Koffer skizziert –, um jene Ebene des Konkreten wie sie Henri Bergson im Zusammenhang seiner Gedanken zur Mittelmäßigkeit der Zeit anspricht. In welcher Situation auch immer wir uns bewegen und handeln: „Wir müssen warten, dass der Zucker sich auflöst“ (Zit. nach Veyne ebd.).
Auf Reisen: der Umgang mit dem Gepäck Wer sich für die Kulturtechnik des Reisens in zeitgenössischen Gesellschaften und in seiner demokratisierten und industrialisierten Version interessiert, der sollte nach dem Stand der Dinge fragen und sich dazu in Bahnhöfen und auf Bahnsteigen umsehen. Am Gepäck, an dessen Formen, an der Zahl und an der Position der Personen zu ihrem Gepäck lassen sich alle zeitgenössischen Varianten des freiwilligen oder unfreiwilligen Unterwegsseins, aber auch allgemein der Konsumkultur ablesen. Dabei kommt der Reiseform
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„Eisenbahn“ in der Geschichte des Mitnehmens und des Gepäcks eine besondere Bedeutung zu: „In der Ablösung der Kutsche durch die Eisenbahn läßt sich die deutlichste Zäsur erkennen, die insgesamt den Koffer sehr viel enger an das Subjekt bindet“ (Ecker 2006: 224). Zwar verlangt „die Sprache, der literarische Gebrauch“, so Peter Bichsel, „zu der Formel ‚Reisen‘ die Formel ‚Koffer‘, Reisende haben Koffer, Wanderer haben Rucksäcke, Einkaufende haben Taschen“ (Bichsel 2003: 131), doch sind die Ordnungen in der aktuellen Praxis des Reisens keineswegs so eindeutig. Der Umgang mit dem Gepäck lässt Idiosynkrasien ebenso erkennen wie kollektive und kulturelle Muster; das Gepäck ist Medium von Identitätspolitiken, von Geschlechterkonstruktionen, von Distinktionsstrategien. Nicht wenige geben sich da als Routiniers. Nicht das Neue und das Andere, wie in Selbsterklärungen zur Motivation einer Urlaubsreise immer wieder hervorgehoben wird, stehen in dieser Phase der Inszenierung der Reise im Vordergrund, sondern das Überspielen des Neuen und Unbekannten. Es sind Performanzen der Routinen in der Kulturtechnik „Reisen“, die dann vorgeführt werden. Mit provokanter Lässigkeit fahren die Besitzerinnen und Besitzer von Rollkoffern, Trolleys und ähnlichen fahrbaren Untersätzen Teleskopgestänge aus, setzen sich gemächlich in Bewegung, sobald der Zug einfährt, und ziehen an den Unglücklichen vorüber, die sich mit weniger komfortablen Formen von Koffern und Taschen mühen (vgl. Bernard 2007). Freilich verliert die Geste zusehends an Exklusivität. Auch die Kleinsten verfügen mittlerweile oft zusätzlich zu ihrem Rucksack über einen Trolley im Miniformat. Trotz allen Bemühens um die Darstellung von (Selbst-)Sicherheit zeigt sich im Stehen und Warten Nervosität, wird die „Sorge um das Gepäck“ (Frers 2007: 202) spürbar. In seiner Phänomenologie des Geschehens in Bahnhöfen und Fährterminals widmet Lars Frers ein kurzes Kapitel diesem spezifischen Umgang mit den Dingen, mit dem Gepäck und beobachtet, wie eng Gepäck am Körper gehalten und gestellt wird. Mit Erving Goffman argumentiert wird das Gepäck als Teil des „possessional territory“ (zit. nach Frers 2007: 203) abgeschirmt und verteidigt. Gleichzeitig ist das Gepäck Last und bedeutet das Tragen von Gepäckstücken eine Mühe, die für jene Probleme schafft, die älter und gebrechlicher sind oder auch für jene, die mit Kindern verreisen. Sie alle sind auf Hilfe von anderen angewiesen, sind also gezwungen, mit Fremden Blickkontakt aufzunehmen und in Kommunikation zu treten. Die Darstellung von Selbständigkeit und Autonomie lässt sich in diesen Momenten nicht aufrechterhalten. Man ist auf eine spezifische Form von Interaktion verwiesen. Auch
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wenn oftmals zu beobachten ist, wie sich aus solchen Bitten um Hilfe und Hilfestellung angeregte Gespräche entwickeln, so ist dies immer auch eine Situation der Verunsicherung und bedeutet die Erfahrung von Differenz: Man ist unterschieden von den anderen. Gerade auch jenes Gepäck, das nicht uns gehört und von dem wir nicht wissen (können), wem es gehört, kann zum Gegenstand von Verunsicherung werden. Das Bild vom vereinzelt stehenden Koffer oder Rucksack ist längst ikonisch, spätestens seit im Jahr 2006 der Versuch von Sprengstoffanschlägen auf Züge der Deutschen Bundesbahn publik wurde und es Fahndungsfotos des deutschen Bundeskriminalamtes gibt, die Rollkoffer zeigen. Wenn die Schriftstellerin Julie Zeh über die Gegenwart und die Krise nach den „Goldenen Zeiten“ der 1990er Jahre räsoniert, dann bemüht sie eben dieses Bild: „Die neue, gefühlte Friedlosigkeit hatte begonnen. Und so schaut sie aus: in den 20-Uhr-Nachrichten lernen wir langsam, aber sicher die Landkarten des Nahen Ostens kennen. Herumstehende Koffer flössen uns Unbehagen ein. Unsere Nagelscheren und Taschenmesser sind in den Besitz der Lufthansa übergegangen (...)“ (Zeh 2008: 9). Wie mit derartigen Verunsicherungen im konkreten Fall eines von ihr im Großraumwagen der Deutschen Bundesbahn zurückgelassenen Rucksacks umgegangen wurde, dies macht Katharina Eisch-Angus in einer ethnografischen Beschreibung und Analyse zum Ausgangspunkt programmatischer Überlegungen zu Psychoanalyse und Semiotik. Sie beschäftigt sich darin mit dem Tabubruch des Durchsuchens dieses ihres Rucksacks durch die Mitreisenden und mit ihrer Reaktion darauf (Eisch-Angus 2007: 231-234).
Vor der Reise: das Einpacken Auch wenn wir mittlerweile Routinen entwickelt haben angesichts der Bilder, Erzählungen, aber auch Erfahrungen mit Durchsuchungsaktionen auf Flughäfen, mit dem Auspacken und Aussortieren gerade auch der persönlichsten Dinge vor den Augen der Sicherheitsbeamten, so macht sich doch immer wieder Unbehagen breit. Und dies nicht nur, weil uns damit die Risiken des Reisens unausweichlich vergegenwärtigt werden, sondern auch deswegen, weil das, was wir da vor aller Augen ausgepackt sehen oder auch selbst auspacken müssen, normalerweise verborgen bleibt. Wir – aus der Perspektive einer Frau behauptet, worauf ich im Folgenden zu sprechen kommen werde – packen zwar oft für andere ein, seltener jedoch vor anderen. Grundsätzlich passt das Einpacken nicht so recht in das Bild vom versiert entspannten Reisen – vielleicht weil es zu sehr Alltag, Alltag des Reisens ist. Dass dieser oftmals und vielen lästige Teil der Vorbereitungen für eine
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Reise im Erzählen von der Reise keinen allzu hohen Stellenwert hat, kann nicht verwundern, geht es doch in diesem Erzählen um das Abrunden der Reiseerfahrung in amüsanten, merkwürdigen, jedenfalls bunten Geschichten. Doch auch in wissenschaftlichen Studien und Darstellungen wird das Packen bislang noch selten thematisiert (Vgl. Barten 1994; Mihm 2001; Simon 2005). Das Einpacken aber, die Frage danach, wer da – für sich oder auch für andere – einpackt, welchen individuellen Ordnungen und kulturellen Konventionen dieses Handeln folgt und schließlich, was da zu einem spezifischen Kosmos von Dingen zusammengestellt wird, dies kann weitreichende Aufschlüsse darüber geben, welche Idealvorstellungen jemand von seiner Reise hat und wie weit gleichzeitig der Alltag der oder des Einzelnen deren Reisen begleitet. Insbesondere die Kulturtechniken des Wohnens und des Reisens, hier folge ich den Überlegungen von James Clifford in seinem Klassiker „Kulturen auf der Reise“ (Clifford 1999: 476-513), sind in enger Relation und Wechselbeziehung zu denken. Alfred Polgar brachte dies in ein stimmiges Bild: „Das über den Wohnraum ausgestreckte Leben löst sich von ihm, zieht die Glieder ein, schrumpft zusammen und schlüpft in eine kleine lederne Tasche“ (zit. nach Hülsenbeck 2000: 98). Das Einpacken markiert zeitlich und räumlich eine Nahtstelle, zwischen (Arbeits-)Alltag und Reise, verweist in die eine wie in die andere Richtung. Das eben macht dieses Handeln mit seinen sozialen und kulturellen Implikationen, insbesondere denen von Geschlechterkonstruktionen so bemerkenswert. Legendär ist der Auftritt von Marilyn Monroe in der Komödie „Manche mögen’s heiß“: Das elegante aber unpraktische Täschchen unter den Arm geklemmt, wandelt sie den Bahnsteig wie auf einem Catwalk entlang, während sich andere, Männer natürlich, mit ihren diversen Gepäckstücken abschleppen. Das Bild von der Diva auf Reisen ist im kollektiven Bildgedächtnis fest verankert und lässt sich beliebig vervielfältigen; die Porträts von Sarah Bernhardt und Marlene Dietrich inmitten ihres Gepäcks (Mihm 2001: 65-78) sind Ikonen, die in den Werbelinien für Reisegepäck des oberen Preissegments gerne zitiert werden. Was hier prominent ins Bild gesetzt wurde und wird, ist das Stereotyp der Frau, die sich auf Reisen mit vielen Dingen umgibt, mit – und das wird mit derartigen Inszenierungen zugleich ironisiert – zu vielen Dingen. Diese Bilder vom weiblichen Luxus auf Reisen sind nicht immer eindeutig und können changieren: Hier verbinden sich nicht selten Geschlechterstereotyp und Konsumkritik an der hier von Theodor W. Adorno diagnostizierten „Übergewalt der Dinge“ (zit. nach Werner 1998: 67).
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Dem steht das Bild vom männlichen Reisenden gegenüber, der nur das Notwendigste, genauer: das Wesentliche mit sich führt, der (fast) alles, was er braucht, am Leib trägt. Taschen sind in die Kleidung weitgehend integriert. Diese „Bestimmtheit des männlichen Körperbildes“ (Hülsenbeck 2000: 188), wie sie Annette Hülsenbeck in ihrem Vergleich von Zuschnitten und Accessoires männlicher und weiblicher Kleidung herausarbeitet, unterstreicht die Typisierung, hat diese wohl letztlich mitbedingt. Frauen dagegen, dies lässt sich wiederum entlang der Geschichte der Handtasche als einer Externalisierung des Mitgenommenen zeigen, tragen die „Signatur des Hauses“ (ebd.) mit sich. Entsprechungen dieses Bildes finden sich in Erinnerungen an Familienurlaube.1 Befragt, wie denn in der Kindheit das Reisen mit der Familie erlebt wurde, erzählen Männer wie Frauen unterschiedlicher Generationen immer auch Episoden von den Aufregungen des Aufbruchs von zu Hause und von Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, in denen nicht selten das Gepäck, das Zuviel an Gepäck im Mittelpunkt stand. Nachgefragt, wer denn gepackt habe, erinnern sich die meisten daran, dass zwar alle in der Familie ihre konkreten Vorstellungen davon hatten, was mit sollte, dass die Regie über das Packen, die letzte Entscheidung über die Dinge und deren Ordnung, aber immer die Mütter übernommen hätten. Diese Regie über die Dinge – auch auf Reisen – variiert in den konkreten Konstellationen von Paaren und Familien je nach sozialen Kontexten und biografischen Hintergründen, doch steht oftmals dahinter auch eine verallgemeinerbare Geschichte. In seiner „Theorie der Haushaltstätigkeit“ legt Jean-Claude Kaufmann dar, wie sich die Beziehung zwischen Paaren über die Dinge, wie sich aber auch die Beziehung zu den Dingen selbst im Verlauf des Zusammenseins verändert (Kaufmann 1999). Zieht ein Paar in eine gemeinsame Wohnung, so werden die zunächst noch persönlichen Dinge sukzessive zu kollektivem Besitz. Kaufmann spricht hier von der „Objektivierung des Paares“ (ebd.: 72). Dieser Prozess der zunächst reinen Akkumulation von Dingen, dann aber der zunehmenden Vergemeinschaftung ist mit Komplikationen und Konflikten verbunden. Die Entwicklung erfährt eine neue Dynamik, wenn ein oder mehrere Kinder hinzukommen. Dies ist oftmals auch der Zeitpunkt, zu dem Frauen die Organisation des Haushalts 1 Derartige Erinnerungen wurden von mir in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen zum Thema „Reise“ nachgefragt und notiert; ähnlich wie die im Folgenden von mir angesprochenen Beobachtungen stehen auch diese Nachfragen nicht im Kontext eines systematischen Forschungsdesigns, sondern waren oftmals Ergebnis zufälliger Kontakte und Gespräche.
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zur Gänze – und das meint vor allem auch der Gegenstände im Haushalt – übernehmen und ihre Vorstellung vom ‚richtigen‘ Zuhause und von Familie durchsetzen. „Die Dinge markieren eines nach dem anderen verschiedene Etappen der Produktion des Familialen“ (ebd.: 71). So unterschiedlich sich auch die konkreten Stile des Haushaltens in den qualitativen Befragungen Kaufmanns darstellten, so fiel dennoch auf, dass auch von berufstätigen Frauen relativ selten und nur bestimmte Bereiche an Haushalts- und Familienarbeit delegiert wurden. Viele der befragten Frauen, ob berufstätig oder nicht, reflektierten den hohen Anspruch, den Haushalt möglichst perfekt zu organisieren und dessen Konsequenzen – ohne sich gänzlich davon zu distanzieren. Gestützt und permanent erweitert werden derartige Vorstellungen von unterschiedlichsten Medien; denselben Medien, die auch das Ideal von der perfekten Reise – insbesondere die perfekt ausgestattete und ausgestaltete Reise – alljährlich vor der Reisesaison in Text und Bild propagieren. Da geht es keineswegs nur um die richtige Kleidung für unterschiedlichste Gelegenheiten. Die in großer Zahl und unterschiedlichsten Varianten vorgestellten Checklisten und Inventare versuchen, alle Eventualitäten zeitgenössischen Reisens zu erfassen, sie lassen sich somit auch als Fantasien der Abenteuer und Gefahren auf Reisen lesen. Schon für die Frühmoderne und mit der einsetzenden „Methodisierung des Reisens“ (Stagl 2002: 100) finden sich derartige „Praktische Reiseratschläge“ und damit Aufzählungen der für die Reise notwendigen Dinge. Doch haben sich demgegenüber die Gegenstandsbereiche dessen, was wir heute unbedingt auf Reisen dabei haben wollen, was wir ja auch auf unseren täglichen Wegen mit uns tragen und was wir somit als Necessaire verstehen, zunehmend vervielfältigt und differenziert. Dass mit den neuen HightechMaterialien das Gepäck immer leichter wird, scheint eher dazu zu verführen, immer mehr mitzunehmen. Auch mit der Miniaturisierung von Gegenständen wie dem Handy oder dem MP3-Player hat sich das Volumen dessen, was wir auf Reisen mitnehmen, nicht unbedingt verkleinert. Im genaueren Blick auf das Einpacken aller dieser Dinge, in der Perspektive von Erinnerungen etwa oder auch in der Beobachtung der Reisevorbereitungen in Familien zeichnet sich eine spezifische Arbeitsteilung ab: Während die Kinder Spielzeug, Unterhaltungselektronik und Sportgeräte einsammeln, sind viele Väter mit der Zusammenstellung der Fotoausrüstung beschäftigt oder mit letzten Wartungsarbeiten am Familienauto. Die Mütter, aber auch viele der von mir befragten Frauen in kinderlosen Paarbeziehungen packen die Kleidung für die gesamte Familie, kümmern sich vor
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allem aber auch darum, dass alles möglichst komplett ist: die Reiseapotheke, das Badezeug ebenso wie der Imbiss für die Fahrt. Gepackt wird dann in weithin eingespielten Abläufen und Ordnungen. Für das Verstauen im Kofferraum kann der Mann, kann aber auch die Frau zuständig sein. Heikel wird die Situation, wenn es keine klare Trennung gibt. Arbeit und Zeitdruck im Vorfeld der Reise kann sich dann in Diskussionen und Streitereien um das Bestücken des Kofferraums entladen. In der Folklore von Familien gibt es dazu nicht wenige Geschichten mit dramatischen Höhepunkten, die erst im Rückblick ihren Ernst verlieren. Der Konflikt liegt im Grundsätzlichen. Die Selbstverständlichkeiten des Alltags, die Formen der Organisation des Haushalts unter der mehr oder weniger weiblichen Regie müssen mit jeder Reise in gewisser Weise neu verhandelt werden, weil sich die Koordinaten des Handelns je nach Dauer der Reise und Ziel, je nach Gruppengröße und Altersstruktur etc. verändern und gleichzeitig der Erwartungsdruck bei allen Beteiligten relativ groß ist. Der Haushalt, in allen seinen Notwendigkeiten und Routinen ein nicht unwichtiges Motiv, „einmal wieder aus dem Trott herauszukommen“, ist im veränderten Maßstab mit dabei auf der Reise. Die Mikromechanismen der alltäglichen Arbeitsteilung und damit eng verknüpft die der Geschlechterkonstruktion sind gleichermaßen Basis wie Konfliktpunkt des Reisens, das gerahmt ist von den idealen Konstruktionen wie Individualität und Perfektion.
Über die Reise: der Koffer Die Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten, durch die das moderne Reisen geprägt ist, spiegeln sich in dem, was von wem eingepackt wird und wie über diesen Vorgang kommuniziert wird. Da ist das zeitgenössische Ideal der Mobilität, wonach das Reisen als positive Bewegung und Abenteuer der Veränderung besonders hoch zu bewerten ist. Damit aber kollidieren Vorstellungen von Sicherheit, Stabilität und Komfort – nicht nur auf der Ebene politischer und gesellschaftlicher Diskurse, sondern auch auf der Ebene individuellen Handelns und nicht nur zu Zeiten von Terrorgefahr und Terrorverdacht. Die Offenheit für Neues und Unbekanntes, das einem auf Reisen begegnet, braucht Sicherheiten und Stabilität. An Dingen und an unserem Umgang mit den Dingen werden diese Gleichzeitigkeiten manifest. Der Koffer etwa lässt sich als ein „vernünftiger Gegenstand“ (Droit 2006: 184) charakterisieren; er sollte in Format und Ausstattung praktisch und komfortabel sein und eine kluge Ordnung und Rationalität des Mitnehmens
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unterstützen. Mit der Kategorie „Komfort“ sind freilich mehr als nur Zweckdienlichkeit und Gebrauchswert des Koffers und allgemein eines Gegenstandes angesprochen. In seiner Analyse der Dynamiken zeitgenössischer Konsumkultur führt Wolfgang Ullrich unter anderem an Toastern und tragbaren Radiogeräten das Zusammenspiel von Funktionalität, Gestaltung und Stimmungswert im Qualitätsmerkmal Komfort vor: „Je besser das Gehäuse die Funktionalität verbirgt oder gar dementiert, desto größer kann das Erlebnis des Komforts sein. (...). Komfort erzeugt eine Atmosphäre der Geborgenheit“ (Ullrich 2008: 78). Eine derartige Grammatik der Überhöhung ließe sich auch am Beispiel des Koffers erarbeiten. Als mythologisches Objekt ist dieser Gegenstand vielfach symbolisch aufgeladen und spielt in der individuellen ebenso wie der kollektiven und politischen Erinnerungskultur eine wichtige Rolle. Aspekte der Gegenständlichkeit prägen gerade auch die Erzähl- und Erinnerungskultur unserer Zeit und können auch für ein allgemeines Interesse stehen: Mit der so nachhaltig behaupteten Herrschaft des Virtuellen in den zeitgenössischen Alltagen scheint eine zunehmende Hinwendung zum Konkreten, Dinglichen verbunden zu sein, eine, wenn man so will, neue Variante der Sehnsucht nach Unmittelbarkeit. Das Packen, das „Einpackenmüssen“ ebenso wie das „Auspackenkönnen“, im übertragenen und gleichzeitig konkreten Sinn, ist ein Gesprächsstoff, dem, wie Elisabeth Fendl in ihrer Studie „Aufbaugeschichten. Eine Biographie der Vertriebenengemeinde Neutraubling“ hervorhebt, in den Erzählungen und Erinnerungen ehemaliger Flüchtlinge große Bedeutung zukommt. Im Bild, aber auch am Objekt Koffer sind diese erzählbar, der Koffer fungiert gleichzeitig als Rahmen und als Behältnis auch prekärer Identitätskonstruktionen (Fendl 2006: 191-214). Auch in medialen, speziell in musealen Inszenierungen wird mit der Präsentation des einzelnen Koffers, aber auch der Berge von Koffern, Taschen und Behältnissen aller Art das Schicksal von Verfolgten, Flüchtlingen, Migranten dramaturgisch verdichtet. Damit korrespondiert die Bedeutung des Gegenstandes Koffer in literarischen Texten, in denen das Erzählen über den Koffer, den einzigen Koffer zum Dreh- und Angelpunkt der Darstellung existentieller Veränderungen und Umbrüche wird (Ecker 2006: 228230). Dazu lassen sich Korrespondenzen in der Alltagssprache feststellen, sprich genauer: Droht jemand, „seinen Koffer zu packen“, so kann damit der Höhepunkt eines Beziehungskonflikts markiert sein. Es ist das Handfeste und Konkrete des Bildes, das Emotionen provoziert.
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Der Lauf der Dinge als Forschungsprogramm Ein Koffer kann vieles beinhalten und bedeuten. Grundsätzlich sind es zwei Richtungen, in die zu fragen ist. Zum einen interessieren die Dinge selbst in ihrer „spezifischen Kombination von Materialität, Form und Funktion“ (Korff 2002: 39): die Wanderstiefel zum Beispiel, die uns über den eigentlichen Gebrauchswert hinaus die Disziplin des richtigen Umgangs lehren, der Globus, der als Konstruktion von Wissen unseren Blick auf die Welt prägt, der Autositz, dessen Komfort unsere Wahrnehmung beeinflusst. Zum anderen geht es um unser Erleben und Handeln mit den Dingen, mit einem individuell variierenden Kosmos von schönen und geliebten, praktischen und notwendigen Dingen, die wir beim Reisen mit uns führen, aber auch mit einem, durch kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Instanzen definierten Inventar, das wir unbedingt dabei haben sollten (Ausweispapiere, Reiseapotheke). Ganz gewöhnliche Produkte können einen spezifischen Eigenwert für uns entwickeln; nur die Forschungen zu Andenken und Souvenirs, die von der Reise mitgebracht werden, beschäftigen sich bislang mit diesen Transformationen der Dinge. Kleinigkeiten (in Hotelzimmern beispielsweise), die Ideale oder auch nur Standards der potentiellen Gäste zitieren, können dazu führen, dass wir uns an fremden Orten wohl und aufgehoben fühlen – oder auch nicht. Eindeutigkeiten, etwa was den Gebrauch von Dingen anbelangt, werden im genauen Blick auf Dinge fragwürdig. Dass und wie Dinge, deren Nutzung und Aneignung zwischen gut und böse, richtig und falsch variieren und changieren können, dies führen Fischli und Weiss in ihrem preisgekrönten Video „Der Lauf der Dinge“ aus dem Jahr 1987 (Fischli/Weiss 1987) vor. Notwendigkeiten und Zufälle sind es gleichermaßen, die den Lauf der Dinge beeinflussen – die Dinge stehen immer wieder auf der Kippe. Dinge erlauben nicht nur, sie fordern die Erforschung in Relationen. Deren Mehrdeutigkeit (Heidrich 2007: 234) und Potenzialität (Bausinger 2004: 207) ist es, die es notwendig macht, jene in der Reise- und Tourismusforschung nach wie vor so wirksame Dichotomisierung zwischen Alltag und Reisen aufzulösen. Das Reisen lässt sich nicht nur in seiner Nähe oder Ferne zum Alltag verhandeln. Das Reisen selbst ist Alltag nicht nur derjenigen, die ihr Auskommen im Tourismus finden; auf Reisen entwickeln und kultivieren wir Routinen, gerade auch wenn wir diese hinter uns lassen wollen. Orvar Löfgrens und Richard Wilks Mahnung, über dem Blick auf Mobilität, Fragmentierung und Flexibilisierung nicht die mindestens ebenso wichtigen Einflüsse und Prozesse der Stabilisierung, der Kohäsion und insbesondere Routinisierung zu vernachlässigen (Löfgren/Wilk 2005: 9), ist zumal für
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die Tourismusforschung zu unterstreichen. Die Mittelmäßigkeit des Reisens wie des Alltags sollte für uns als volkskundliche Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler im Zentrum stehen. „Gehört nicht“, so lässt sich mit Novalis fragen, „zur beharrlichen Mittelmäßigkeit die meiste Kraft?“ (Novalis 1797/98: Nr. 46) Zumal in einer Lebenswelt, in der Mittelmäßigkeit als Skandal gilt. Literatur Barten, Sigrid (1994): Packende Koffer – Von Maria de Medici bis Marlene Dietrich. Ausstellung im Museum Bellerive, 1. Juni bis 4. September 1994. Zürich. Bausinger, Hermann (2004): Ding und Bedeutung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 107, S. 193-210. Bernard, Andreas (2007): Der Rollkoffer. In: Ders./Kniebe, Thomas: Das Prinzip. 100 Phänomene der Gegenwart. München, S. 205-207. Bichsel, Peter (2003): Grammatik einer Abreise. In: Bahnhöfe. Geschichten von Ankunft und Abschied. Ausgew. v. Mario Leis. Frankfurt a.M., S. 129-135. Clifford, James (1999): Kulturen auf der Reise. In: Hörning, Karl H. (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M., S. 476-513. Droit, Roger-Pol (2006): Was Sachen mit uns machen. Philosophische Erfahrungen mit Alltagsdingen. Hamburg. Ecker, Gisela (2006): Geschichten von Koffern. In: Bracher, Philipp/Hertweck, Florian/Schröder, Stefan (Hg.): Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge. (Reiseliteratur und Kulturanthropologie, 8). Berlin, S. 215-232. Eisch-Angus, Katharina (2007): Psychoanalyse und Semiotik im Sicherheits-Netz: Eine ethnografische Verwirrung und methodische Verknüpfung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 110, S. 231-247. Fendl, Elisabeth (2006): Aufbaugeschichten. Eine Biographie der Vertriebenengemeinde Neutraubling. (Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 91). Marburg. Fischli/Weiss: Der Lauf der Dinge. 1987. Verfügbar unter: www.medienkunstnetz.de/ werke/the-way-of-things, (4.12.2008). Frers, Lars (2007): Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Bielefeld. Hahn, Hans Peter (2005): Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin. Heidrich, Hermann (2007): Dinge verstehen. Materielle Kultur aus Sicht der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 103, S. 223-236. Hülsenbeck, Annette (2000): [Kultur] Taschen. Übergangsobjekte und Gehäusereste. Accessoires in Zwischen-Räumen. In: Mentges, Gabriele/Mohrmann, Ruth E./
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Dank
Die Tagung „Dinge auf Reisen“ wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen und Institutionen, denen es hier unseren Dank zu entrichten gilt: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat diese Konferenz und vor allem die internationale Beteiligung daran durch ihre finanzielle Förderung ermöglicht. Die Münchner Vereinigung für Volkskunde unter ihrem Vorsitzenden Prof. Dr. Helge Gerndt hat sowohl die Tagung unterstützt wie auch die Druckkosten des Tagungsbandes in großzügiger Weise übernommen. Das Internationale Begegnungszentrum der Wissenschaft (IBZ) hat nicht nur die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, sondern insgesamt für eine perfekte Tagungsatmosphäre gesorgt. Unsere Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians Universität München haben diese Tagung zu jeder Zeit ideell mitgetragen und organisatorisch begleitet. Die Institutsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter und zahlreiche Studierende haben durch ihre organisatorischen und tagungsbegleitenden Tätigkeiten für einen reibungslosen Ablauf dieser Veranstaltung gesorgt. Zu nennen sind hier insbesondere: Natalie Bayer M.A., Claudia Bendl, Silvia Bozky, Carolin Breul, Franziska Dürmeier, Simone Egger M.A., Sebastian Gfäller, Andreas Habersetzer, Daniel Habit M.A., Elisabeth Kellner, Jan Krcek, Barbara Lemberger M.A., Theresa Lerch, Maximiliane Lindner, Franziska Nimz, Nelia Sapoznikowa, Andreas Schmidt M.A., Christiane Schwab M.A, Maria Schwertl M.A., Christoph Wittman M.A. Thomas Atzert verdanken wir die kenntnisreiche Übersetzung der englischsprachigen Beiträge. Anja Kittlitz zeichnete für das Lektorat verantwortlich und Natalie Bayer M.A. für die graphische Gestaltung aller Drucksachen sowie den Satz der Publikation. Schließlich gebührt unser herzlicher Dank Prof. Dr. Klara Löffler für ihre tatkräftige Mitarbeit bei der Konzeption der Tagung sowie Christiane Cantauw M.A. für ihre stets begleitende Unterstützung.
Autorinnen und Autoren
Sonja Böder, Studium der Volkskunde/Europäischen Ethnologie, Ur- und Frühgeschichte und Mittleren Geschichte in Münster und Tübingen. 2004 Magister Artium, 2007 bis 2009 wissenschaftliches Volontariat, seitdem Mitarbeit am DFG-Projekt „Digitalisierung des Archivs für westfälische Volkskunde“ und laufende Promotion. Forschungsschwerpunkte: Nahrungsforschung, Alltagskulturen, Tourismus, Adel. Kundri Böhmer-Bauer, promovierte Ethnologin. Langjährige Berufspraxis im Abenteuer- und Trekkingtourismus. Zurzeit Lehraufträge an der Universität München sowie an der Universität der Bundeswehr Neubiberg. Freiberufliche Tätigkeit als interkulturelle Trainerin für Afrika, Zentralasien und Arabien. Forschungsschwerpunkte: Tourismus und Reisen mit regionalem Schwerpunkt Afrika. Christiane Cantauw, Studium der Neueren Geschichte, Volkskunde und Ethnologie in Münster, Volontariat und anschließende Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe; seit 2005 Geschäftsführerin der Volkskundlichen Kommission für Westfalen. 1995 bis 2006 Sprecherin der Kommission Tourismusforschung in der dgv. Conny Marie Luise Eiberweiser, Studium der Europäischen Ethnologie, Geschichte und Germanistik an den Universitäten Wien und Basel. Zurzeit freiberuflich tätig als Coach und Trainerin für Kommunikation, Selbstund Konfliktmanagement. Forschungsschwerpunkte: Stadtforschung, Körperbilder und -wahrnehmung, Freizeit- und Tourismusforschung. Anja Früh, Studium der Europäischen Ethnologie, Neueren und Neuesten Geschichte und germanistischen Linguistik in Jena und Berlin. 2003 Referentin am Deutschen Historischen Museum Berlin. 2005 bis 2007 freie Mitarbeit am Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée. Zurzeit Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte der Europäischen Integration an der Universität Freiburg (Schweiz) mit laufender Promotion.
Dinge auf Reisen
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Forschungsschwerpunkte: Stadtethnologie, Migration in Europa, Materielle Kultur, Europäische Kulturgeschichte. Martin Jonas, 1998 bis 2004 Studium der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München und Benediktbeuern, von 2004 bis 2008 Studium der volkskundlichen Kulturwissenschaft in München und Wien. Seit 2008 Promotionsstudium an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: materielle Kultur, Erinnerungskultur, visuelle Kultur und Theorieentwicklung. Martina Kleinert, Studium der Ethnologie und Volkskunde in München und Göttingen. Seit 2001 Mitarbeit in der Filmproduktion, Konzeption und Realisierung kulturwissenschaftlicher TV-Dokumentationen. Zurzeit Promotion am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: Visuelle Anthropologie, Reise- und Tourismusforschung sowie Migration und Mobilität(en) als Lebensstilphänomen. Dieter Kramer, ao. Professor an der Universität Wien. Kulturwissenschaftler/Europäischer Ethnologe, Studium in Mainz und Marburg, 1987 Habilitation an der Universität Wien. 1977 bis 1990 im Dezernat Kultur und Freizeit der Stadt Frankfurt am Main, bis Juni 2005 Oberkustos im Museum für Völkerkunde (jetzt Museum der Weltkulturen) Frankfurt am Main; zeitweise wissenschaftlicher Referent des Präsidenten des Goethe-Instituts München. Gastprofessuren in Salzburg und Innsbruck. 2006/07 Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages. Burkhart Lauterbach, Professor für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Kulturtransfer-, Tourismus-, Migrations-, Stadt- und Arbeitsforschung, Museologie. Klara Löffler, Ausbildung und Arbeit als Tischlerin. Ab 1981 Studium der Volkskunde, Soziologie und Kunstgeschichte in Würzburg und Regensburg. 1987 Magister Artium. 1995 bis 2001 Univ.-Assistentin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. 1996 Dr. rer. soc. Universität Tübingen. 2001 Habilitation in Wien; seit 2001 ao. Professorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Fakultätsbeauftragte für Gleichbehandlung. Zusammen mit Michaela Haibl und Elisabeth Timm Geschäftsführung der Kommission für Frauen- und Geschlechterforschung in der dgv.
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Autorinnen und Autoren
Orvar Löfgren, Professor emeritus für Europäische Ethnologie an der Universität Lund, Schweden. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Kulturanalyse des Alltagslebens, er arbeitet außerdem zu häuslichem Konsum, Tourismus und Reisen sowie zu nationalen Identitäten und Transnationalisierungsprozessen. Margarete Meggle-Freund, Studium der Volkskunde, Kunstgeschichte und Landesgeschichte in München. Seit November 2008 Leiterin des Neuen Stadtmuseums Landsberg am Lech, Lehrtätigkeit am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität München; außerdem freiberufliche Ausstellungskuratorin. Forschungsschwerpunkte: Wohnforschung, Sachkulturforschung, Oral History, alltägliches Erzählen, Kleidungsforschung, historische Fest- und Bewegungskultur, Alltagskultur der DDR, Tourismusforschung, Museologie. Johannes Moser, nach akademischen Positionen in Graz (Dr. phil. 1993), Wien, Frankfurt am Main (PD für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie 2002) und Dresden seit 2006 Lehrstuhlinhaber für Volkskunde/ Europäische Ethnologie an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Stadtanthropologie, Transformationsprozesse, Alltagskultur, Arbeit, Wirtschaftsanthropologie. Antonio Miguel Nogués Pedregal, ao. Professor der Sozialanthropologie an der Universität Miguel Hernández in Elche, Spanien. Er studierte Philosophie, Geschichte und Geografie und promovierte in Sozialanthropologie an der Universität von Sevilla. Mitarbeit an zahlreichen EU-Forschungsprojekten. Umfangreiche ethnografische Feldforschungen in Spanien und Zentralamerika. Forschungsschwerpunkte: Tourismus, ‚cultural heritage‘, Entwicklung sowie Produktion von Bedeutungen. Burkhard Pöttler, Studium der Volkskunde und Geschichte, Assistenzprofessor am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Haus- und Wohnforschung, materielle Kultur, Alltagskultur, Wallfahrt, historische Volkskunde und Fachinformatik. Tanja Schubert-McArthur, 2006 Magister in Empirischer Kulturwissenschaft, Rhetorik und Neuere Deutsche Literatur in Tübingen. Seit 2006 lebt sie in Neuseeland und promoviert an der Victoria University of Wellington. Forschungsschwerpunkte: Migration, Museum und Maorikultur.
Dinge auf Reisen
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Daniella Seidl, Studium der Europäischen Ethnologie, Bayerischen Geschichte und Kunstgeschichte in München. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Universität München. 2009 Promotion. Seit 2007 Sprecherin der Tourismus-Kommission in der dgv. Forschungsschwerpunkte: Multilokalitäts- und Tourismusforschung, Sachkulturforschung. Michael Zinganel, Architekturstudium an der Technischen Universität Graz, Dissertation in Geschichte an der Universität Wien. Seit 2001 Univ.-Assistent am Institut für Gebäudelehre an der Technischen Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: u.a. anonyme Architekturen, die Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung sowie Tourismus als Motor des transnationalen Kulturtransfers.
Münchner Beiträge zur Volkskunde hrsg. vom Institut für Volkskunde/ Europäische Ethnologie der Universität München
■ Band 39
Daniella Seidl
„Wir machen hier unser Italien ...“ Multilokalität deutscher Ferienhausbesitzer 2009, 370 Seiten, br., 29,90 €, ISBN 978-3-8309-2211-7
Ein Haus in Italien bildet für Viele den Sehnsuchtsort schlechthin: Hier verbinden sich tradierte touristische Bilder von Italien mit soziokulturellen Praxen vom temporären Aufenthalt auf dem Land. Diese idealisierenden Vorstellungen vom ‚authentischen Leben im Süden‘ lassen sich im eigenen Ferienhaus aktiv umsetzen, sind jedoch immer auch der Auseinandersetzung mit der konkreten Lebenswirklichkeit vor Ort unterworfen. Diese ethnographische Studie steht an der Schnittstelle zwischen Tourismus- und Multilokalitätsforschung: Im Fokus stehen die spezifischen Bedingungen und lebensweltlichen Konstruktionsprozesse sowie die Bedeutungssetzungen und Verortungsstrategien der Akteure zwischen und an mehreren Lebensorten. Das Ferienhaus erweist sich als Konstruktion eines lebensweltlich bedeutsamen Raumes unter den Bedingungen von Multilokalität, in dem das ‚Konkrete‘ und das ‚Imaginierte‘ aktiv verknüpft und gestaltet werden.
■ Band 37
Thomas Raff
Die Sprache der Materialien Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe 2008, 2. aktualisierte Auflage, 222 Seiten, br., 19,90 €, ISBN 978-3-8309-1881-3
Können die Materialien, aus denen Kunstwerke bestehen, etwas zur inhaltlichen Aussage der Kunstwerke beitragen? Für die moderne Kunst, vor allem seit 1945, ist das unbestritten; hier dominiert gelegentlich sogar die Bedeutung des Materials über die der formalen Gestaltung. Für die ältere Kunst – von der Antike bis bald nach 1900 – lässt sich das nicht so eindeutig sagen, – die Frage wurde von Kunsthistorikern auch nur selten gestellt. Dieses Buch belegt anhand von charakteristischen Beispielen, dass auch bei älterer Kunst die verwendeten Materialien auf verschiedene Weise zu den ikonographischen oder ikonologischen Deutungen von Kunstwerken beitragen können. In aller Regel wird man hierzu auf schriftliche Quellen zurückgreifen müssen, die unter diesen Aspekten zum Teil neu zu lesen oder jedenfalls neu zu bewerten sind.
■ Band 36
Georg R. Schroubek
Studien zur böhmischen Volkskunde Herausgegeben und eingeleitet von Petr Lozoviuk 2008, 238 Seiten, br., 19,90 €, ISBN 978-3-8309-1879-0
Georg R. Schroubek hat sich jahrzehntelang mit den kulturellen Wechselbeziehungen und der Verständigung zwischen den Ethnien im östlichen Mitteleuropa befasst. Dieser Band führt zwölf seiner eindringlichen Studien zusammen: über deutschböhmische Kulturthemen, über die Geschichte der volkskundlichen Forschung in Deutschböhmen und über die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen. In der Einleitung skizziert Petr Lozoviuk die einzigartige Stellung Georg Schroubeks in der Böhmischen Volkskunde, einer Fachtradition, „die es niemals gab“. ... aus dem Band spricht jenseits alles Böhmischen auch ein Volkskundler [...], umfassend gebildet, kritisch, bescheiden und engagiert, dessen Themen und Interessen nicht von wissenschaftlichen Moden geleitet waren, für den Wissenschaft Aufklärerin und Mittlerin sein sollte. kulturen, (3) 2009
■ Band 35
Christoph Maria Leder
Die Grenzgänge des Marcus Herz Beruf, Haltung und Identität eines jüdischen Arztes gegen Ende des 18. Jahrhunderts 2007, 334 Seiten, br., 24,90 €, ISBN 978-3-8309-1857-8
Der Berliner Arzt Marcus Herz (1747–1803), der am Ende des 18. Jahrhunderts zusammen mit seiner Frau Henriette einen berühmten Salon führte, ist bisher vor allem als bedeutender Vertreter der jüdischen Aufklärung wahrgenommen worden. In diesem Buch steht nun seine ärztliche Tätigkeit im Mittelpunkt. Auf der Grundlage seiner Schriften und Briefe werden seine „Berufsgeschäfte“ und berufsethischen Prinzipien behandelt und insbesondere der Zusammenhang zwischen Berufsalltag, Berufsverständnis und persönlicher Identität. Diese Arbeit verbindet einen speziellen Ausschnitt historischer Alltagsanalyse mit Aspekten der Medizin- und Philosophiegeschichte. Sie untersucht die subtilen akademischen, religiösen und politischen „Grenzgänge“ des Marcus Herz, seine Mittlerrolle zwischen Medizin und Philosophie, Empirie und Theorie, Judentum und Christentum, Armen und Reichen, bildungsbürgerlichen und republikanischen Ideen. Am Ende hat der Leser nicht nur einen stoffgesättigten Einblick in die Vielfalt der praktischen und ethischen Probleme eines Stadtarztes um 1800 gewonnen, sondern auch Facetten des jüdischen Lebensalltags mit all seinen Restriktionen in der „aufgeklärten“ Bürgergesellschaft des preußischen Staats kennen gelernt.