Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 12
Dimensionsfalle Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Dimensionsfalle von CONRAD SHEPHERD (Kapitel 1 bis 5) ALFRED BEKKER (Kapitel 6 bis 10) UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 11 bis 15) JO ZYBELL (Kapitel 16 bis 20) und HAJO F. BREUER (Exposé)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31 – 35 48 32 Fax:0 26 31 – 35 61 02 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Oldenbourg © 2006 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐15‐4
Der Bitwar-Zyklus Ren Dhark, Charaua und einige unerschrockene Menschen und Nogk haben den Vorstoß in den Hyperraum gewagt, um doch noch die Vernichtung der irdischen Sonne zu verhindern. Aber sie geraten in die Dimensionsfalle,aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt … Alfred Bekker, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Mit dem vorliegenden Band findet die Schilderung der Auseinan‐ dersetzung Terras mit den intelligenten Robotern der Funktionsge‐ meinschaft ihren Abschluß – doch das Abenteuer nimmt jetzt erst richtig seinen Lauf. Denn das, was die Roboter der Menschheit an‐ getan haben, läßt sich nicht so einfach wieder geradebiegen. Ren Dhark sieht sich gezwungen, einen neuen Forschungsflug zu unter‐ nehmen, der ihn weit über die Grenzen der Milchstraße hinausfüh‐ ren wird – doch mehr wird hier noch nicht verraten. Die nächste Ausgabe erscheint in zwei Monaten unter dem klassi‐ schen Untertitel »Weg ins Weltall«. Und noch etwas ändert sich: REN DHARK – WEG INS WELTALL wird zwar weiterhin über die Firma HJB ausgeliefert, ist aber ein Produkt des neuen Unitall Ver‐ lages. Da alle Autoren und auch der Herausgeber den Verlags Wechsel mitmachen, ändert sich für Sie, unsere Kunden, im Prinzip nichts: REN DHARK wird von demselben bewährten Team produ‐ ziert, das die Serie seit mittlerweile fast sieben Jahren schreibt. Der beste Beweis dafür, daß die Bücher aus dem Unitall Verlag die gleiche Qualität haben wie die von HJB, ist der neue Unitall‐Band 2 von Achim Mehnert mit dem Titel »Das Kugelschalenuniversum«. Die POINT OF dringt ein in das vielleicht geheimnisvollste Objekt des Universums, um das Rätsel seiner Entstehung zu lösen. Doch das, das Ren Dhark und seine Getreuen finden, ist alles andere als das, was sie erwartet haben … Neugierig geworden? Das will ich doch hoffen, denn der Band »Das Kugelschalenuniversum« bietet eine Space Opera vom Feins‐ ten. Denn der Unitall Verlag gibt meinen Autoren und mir ebenso wie bisher und auch weiterhin HJB die Möglichkeit, die Science Fiction zu schreiben, die wir immer schon schreiben wollten. Und genau das
machen wir – nur eben in Zukunft nicht mehr nur für einen, sondern für zwei Verlage. Für uns zählt vor allem, daß »unser« REN DHARK unsere Leser weiterhin in der gewohnten Qualität und zum seit Jahren unverän‐ derten Preis erreicht. Und das garantieren wir – ebenso wie Barbara und Hansjoachim Berat, HJB und nun eben auch Unitall. Giesenkirchen, im Mai 2006 Hajo F. Breuer
Prolog Anfang des Jahres 2063 scheint das Ende der Menschheit – oder zumindest das Ende ihres Heimatplaneten Terra und des Sonnensystems – unaus‐ weichlich. Ein bisher unbekanntes Volk offenbar intelligenter Roboter hat terranische Kolonien angegriffen und unprovoziert einen Krieg mit Terra vom Zaun gebrochen. Stärkste Waffe der Roboter, die sich selbst »das Volk« nennen und alle Lebewesen abschätzig als »Biomüll« bezeichnen, sind modifizierte Ge‐ schütze der Worgun: Die Energie eines herkömmlichen Nadelstrahlers wird auf wenige Nanometer konzentriert und erreicht somit eine Kraft, die sogar in der Lage ist, Raumschiffshüllen aus Unitall einzudrücken! Doch diese »Kompri‐Nadel« genannte Waffe ist harmlos im Vergleich zu dem, was die Roboter sonst noch zustande bringen! Mit einer bislang völlig unbekannten Technik ist es ihnen gelungen, die Sonne zum Untergang zu verdammen! Von einer heimlich im Nachbar‐ system Proxima Centauri errichteten Station aus haben sie es offenbar ge‐ schafft, ein winziges Schwarzes Loch im Zentrum unserer Sonne zu pla‐ zieren. Gegenstück ist ein kleines Weißes Loch im Inneren von Proxima Centauri. Und so fließt immer mehr Masse aus unserer Sonne ab und läßt den einst trüben Nachbarstern regelrecht aufblühen, während Sol immer mehr an Kraft verliert. Der Winter, der im November 2062 anbricht, könnte der letzte sein, den die Erde erlebt – der ewige. Und als wäre das nicht schon genug, fliegen die Roboter einen Großangriff auf Terra. Der kann erst im letzten Augenblick abgewehrt werden, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Unterstützung durch neuartige Kampfraum‐ schiffe des Planeten Eden, auf dem sich der Großindustrielle Terence Wallis selbständig gemacht hat. Eden verbündet sich mit der Erde, um die weitere Manipulation der Sonne zu verhindern und eingetretene Schäden möglichst rückgängig zu machen.
Bei einem koordinierten Großangriff auf das System Proxima Centauri kann die Station zur Sonnenmanipulation vernichtet werden. Doch es ist schon zu spät: Der Prozeß hat sich verselbständigt. Immer mehr Energie fließt aus der Sonne ab, die bald nur noch ein verlöschender Stern sein wird … Die Verantwortlichen der Erde wissen nach wie vor nicht, weshalb die Roboter Terra überhaupt den Krieg erklärt haben. Also wird ein Stoß‐ truppunternehmen aus Soldaten der Schwarzen Garde und einigen Cyborgs in Marsch gesetzt, um Eins, den Heimatplaneten des »Volkes«, zu erkunden. Dabei stößt man auf das »Heiligtum« der Maschinen, in dem man wider Erwarten nicht nur einige Grakos findet, sondern auch eine riesige Halle, in der mehrere tausend Salter in Tanks mit Nährflüssigkeit schlafen! Nur einer von ihnen übersteht den Befreiungsversuch lange genug, um Ren Dhark zu berichten, daß es diese Salter waren, die die intelligenten Roboter erschufen – nur um von ihnen versklavt zu werden … Nach dem Tod des letzten Salters findet man einen neuen Hoffnungs‐ funken: Informationen über eine Hyperraumstation der Grakos, von der aus der Masseverlust der Sonne gesteuert wird. Ren Dhark und Charaua, be‐ gleitet von einigen Meegs, terranischen Wissenschaftlern und Soldaten der Schwarzen Garde, stoßen mit dem Halbraumgleiter REESCH II in den Hyperraum vor. Tatsächlich finden sie die Grako‐Station und können die Landung erzwingen. Doch dabei wird der Halbraumgleiter zerstört, und die Gruppe gerät unter heftigsten Beschuß …
1. »Das war knapp!« H. C. Vandekamps Stimme klang zwar erleichtert, dennoch war seine Miene hinter der Klarsichtscheibe des W‐Anzuges alles andere als entspannt. »Äußerst knapp«, stimmte ihm Ren Dhark zu, während er rasch die Aggregate seines Anzuges kontrollierte; alles war im grünen Bereich. Margarita, Acker und Bell begannen in fliegender Eile, jedoch ohne Hast, ihre mitgebrachten Instrumente aufzubauen und sofort Mes‐ sungen und Tests durchzuführen, während Schwengers seinen Leuten mit Handzeichen bedeutete, ihren augenblicklichen Standort zu sichern. Unaufgefordert gab Vincente Margarita bekannt: »Die Analyse zeigt, daß die Gaszusammensetzung hier drin für uns unbedenklich ist, Commander.« Er beging damit, ob vorsätzlich oder unbewußt, eigentlich einen Affront gegenüber Charaua, der das Kommando über die Mission innehatte. Dhark war noch nicht einmal der Stell‐ vertreter des Nogk‐Regenten. Diese Aufgabe oblag Hauptmann Schwengers. Margarita, den Kommandostrukturen herzlich wenig interessierten, fuhr fort: »Etwas mehr als siebzig Prozent Stickstoff, satte zwanzig Prozent Sauerstoff – also genug für unsere Lungen – und ein Gemisch von anderen Gasen, welche für die restlichen zehn Prozent verantwortlich zeichnen. Die Konzentration von Kohlendi‐ und ‐monoxid ist vernachlässigbar gering.« Der Professor für Hyperphysik an der Gardeuniversität in Star City gehörte nicht wirklich zur kämpfenden Truppe und fühlte sich ein wenig deplaziert in dem Multifunktionsanzug der Garde, der ihm ein martialisches Aussehen verlieh, mit dem er nichts anzufangen wußte. Dennoch hatte der Wissenschaftler nicht dagegen protestiert, als man ihn wegen seines Fachwissens kurzerhand zur Einsatz‐
truppe abkommandierte. Aber vielleicht war das der unterschwelli‐ ge Grund, weshalb er hartnäckig immer wieder Ren Dhark als die für ihn bestimmende Kraft in den Mittelpunkt stellte. Über ihren Raum‐ bzw. Multifunktionsanzügen trugen alle An‐ gehörigen der Gruppe zusätzlich einen leichten 5‐D‐Schutzanzug, der sie vor etwaigen Einflüssen des Hyperraums schützte, in den die Grako‐Station eingebettet war. »Wir können also die interne Sauerstoff Versorgung abschalten?« ließ sich ein Gardist namens Tom Giff mit hoffnungsfroher Stimme vernehmen. »Auf keinen Fall, Tom«, wehrte die Koryphäe in Wor‐ gun‐Mathematik ab. Vandekamp hatte den Gardisten von den Kur‐ sen über Metalogik her in Erinnerung. »Wir befinden uns hier auf feindlichem Gebiet. Die Werte können sich jederzeit sehr schnell und sehr brutal zu unserem Nachteil verändern.« »Aber …« setzte der Gardist zu einer Entgegnung an. »Haben Sie bei der Einsatzbesprechung eigentlich völlig geschla‐ fen, Obergefreiter Giff?« ließ sich Hauptmann Schwengers knapp und bestimmend über den Helmlautsprecher vernehmen – Viphos funktionierten in der Hyperraumstation nicht, wie sich herausges‐ tellt hatte –, und der Tonfall des Offiziers unterband jede weitere Diskussion über dieses Thema innerhalb der Gardisten. »Die Helme bleiben zu, dieser Befehl gilt für alle. Oder wollen Sie sich eine Hy‐ perstrahlenvergiftung einfangen? Und für alle gilt äußerste Wach‐ samkeit.« Vor Sekunden erst war hinter ihnen das Donnergrollen verstummt, mit dem die REESCH II sich auf der anderen Seite des mächtigen Schotts in ihre Bestandteile aufgelöst hatte. Sie hatten den Halb‐ raumgleiter buchstäblich in allerletzter Sekunde verlassen. Dhark und die weiteren 36 Mitglieder des Einsatzkommandos, darunter die zwölf Nogk, hatten sich auf der anderen Seite des Schotts versammelt. Jetzt standen sie dicht beieinander inmitten ihrer Ausrüstung, die ebenfalls vollständig hatte gerettet werden
können, und sondierten mit wachsamen Blicken die Umgebung, froh darüber, daß sie gerade noch rechtzeitig dem Chaos entgangen waren und sich in Sicherheit bringen konnten. Soweit man von Sicherheit überhaupt sprechen konnte, denn es blieb ihnen nicht einmal Zeit zum Durchatmen; schon deutete sich neues Ungemach an. Vor ihnen lag ein Korridor, der nur diffus erhellt war vom allge‐ genwärtigen roten Glimmen, offenbar die vorherrschende Stan‐ dardbeleuchtung der gewaltigen Grako‐Station – die sich, obwohl man in ihrem Inneren nicht unbedingt den Eindruck hatte, tatsäch‐ lich im Hyperraum befand! »Zumindest müssen wir nicht im Dunkeln tappen«, spottete Vin‐ cente Margarita. »Wie tröstlich«, beschied ihm sein Kollege Tim Acker. »Hören Sie das, Commander?« machte Hauptmann Schwengers Dhark aufmerksam. »Ich höre es«, bestätigte der, und jedes seiner Worte wurde von den anderen über ihre Außenmikrophone registriert, während seine Blicke das bläuliche Schimmern zu durchdringen suchten. Noch war nichts zu sehen. Dafür aber zu hören: ein merkwürdiges Geräusch. Leise zunächst, dann lauter: ein seltsam beunruhigendes Rollen und Surren, untermalt vom Singen laufender Servomotoren. Und es kam näher. Dhark zog eine Grimasse hinter der Klarsichtscheibe seines Helmes und nickte unwillkürlich. Er hörte dieses Geräusch nicht zum erstenmal. Fast war es ein Deja‐vu‐Erlebnis. Schon einmal war er in einer beinahe identischen Gra‐ ko‐Raumstation gewesen und den Verursachern solcher Geräusche begegnet: Robotern der Grakos, die sich wie kleine Kettenfahrzeuge auf Rollen und Raupen durch eine alte, vergessene Kampfstation der Schatten bewegten.
Erste Bewegungen zeigten sich in der Tiefe des Korridors, in dem eine Helligkeit herrschte, deren Quelle nicht eindeutig zu lokalisie‐ ren war. Die Wände waren von eigentümlich bizarren Mustern be‐ deckt, in denen sich weder Zweck noch System erkennen ließen. Spiralige, halbtransparente Rohre und Leitungen sprossen aus dem Boden und verschwanden in der Decke; eine sinnverwirrende An‐ häufung sich widersprechender Anordnungen, die es von selbst verboten, sie länger zu studieren, wenn man nicht den Verstand verlieren wollte. Im Innern der verdrehten und verknoteten Leitun‐ gen huschten farbige Entladungen unregelmäßig hin und her. Es hatte fast den Anschein, als würde die Station leben. Unbewußt glitt Dharks Zunge über seine trockenen Lippen; sein Puls beschleunigte sich. Scharf klang Hauptmann Schwengersʹ befehlende Stimme in den Lautsprechern der geschlossenen Helme auf: »Vorrücken, Männer!« Er vollführte eine Reihe schneller Handbewegungen; die Gardisten formierten sich zu beiden Seiten des Korridors und rückten vor. Charauas Fühlerpaare arbeiteten heftig. Gab er ebenfalls Befehle? Mit Sicherheit, denn die elf Meegs mit Uwegra an der Spitze setzten sich unverzüglich in Bewegung und verstärkten das kleine Kontin‐ gent der Schwarzen Garde. In den Klauenfingern der durchweg rund 2,50 Meter großen Rep‐ tilienwesen wirkten die neuen Multikarabiner wie Spielzeuge. Die inzwischen zur Standardausrüstung der Schwarzen Garde zählen‐ den Waffen des Typs GEH&K 10/62 waren allerdings alles andere als das, sondern tödliche Wunderwerke der terranischen Waffen‐ und Mikrotechnik. Sie ließen sich zwischen Dust, Nadelstrahl und Strichpunkt umschalten, verschossen Projektile und waren außer‐ dem als Raketenwerfer zu verwenden. Der Gang war etwa fünf Meter hoch, gut zehn Meter breit und nahezu ohne Deckung, wenn man von einigen Nischen absah, die von den verdrehten und sich überlappenden Rohrverzweigungen gebildet wurden, zwischen denen ein Mensch Platz finden konnte,
wenn er sich schmal machte. Ob weitere Gänge seitlich in den Hauptkorridor mündeten, war aus der Position der Gruppe nicht auszumachen. »Prallschirme aktivieren!« befahl Schwengers, der sich an die Spitze seiner Truppe gesetzt hatte. »Schildformation einnehmen!« Bei dem neuartigen, leichtstoffgepanzerten Multifunktionsanzug der Schwarzen Garde, kurz MFA genannt, handelte es sich um eine Weiterentwicklung des üblichen TF‐Raumanzugs. Die eingebaute und anflanschbare Zusatzausrüstung umfaßte Fallschirm und Funkboje, Peilsender, Sauerstoffnotversorgung und Überlebensaus‐ rüstung. Je nach geforderten Einsatzparametern konnten weitere Zusatzmodule angebracht werden. Der MFA unterdrückte zudem Infrarot‐ und Bioimpulse des Trägers nahezu hundertprozentig. Vor allem aber schützte er das Leben seines Trägers durch ein modifi‐ ziertes Prallfeld in Schutzschirmkonfiguration, das von miniaturi‐ sierten Generatoren erzeugt und aufrechterhalten wurde. Allerdings schränkte der Einsatz des Prallschirms die Bewegungsfreiheit der Gardisten ein und war zudem energieintensiv, weshalb ein Dauer‐ betrieb auch nur in wirklich prekären Situationen angezeigt erschien, so wie sie jetzt in dem ohne vernünftige Deckungen ausgestatteten Korridor gegeben war. Die Gardisten veränderten ihre Positionen ein wenig, und die ak‐ tivierten Prallfelder verschmolzen überlappend zu einem einzigen Schirmfeld, hinter dem der Rest der Gruppe, die Wissenschaftler, Dhark und Amy, die in ihren W‐Anzügen nicht über einen derarti‐ gen energetischen Schutzschirm verfügten, weitestgehend von den Feuerstößen der Roboter verschont bleiben würden. Wieder ertönte Schwengersʹ Stimme. »Alles klar, Leutnant Buck?« Kurt Buck drehte sich langsam um seine Achse und sah, wie die anderen Gardisten ebenso wie er einen Arm in die Höhe streckten. Er atmete tief durch und nickte zustimmend, ehe ihm aufging, daß seine Kopfbewegung in dem Helm keiner der anderen mitbekam.
»Garde klar zum Vormarsch!« meldete er. »Alle in Schußbereit‐ schaft.« Dhark konnte seine Zähne hinter der Klarsichtscheibe des Helmes blitzen sehen. Offenbar hatte der junge Leutnant es eilig, in Aktion zu treten. Sein Wunsch sollte ihm erfüllt werden: Wie aus dem Nichts auf‐ tauchend, rollten Kampfroboter der Grakos aus der Tiefe der Station heran. * »Dachte ich es mir doch«, konnte sich Dhark nicht verkneifen zu äußern. Er zog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein; sein Puls beschleunigte sich. Er packte seinen Handnadelstrahler fester. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er ein Lächeln, und als er den Kopf wandte, erkannte er das dazugehörende Gesicht seiner Gefährtin Amy Stewart. »Was hast du dir gedacht?« erkundigte sich der weibliche Cyborg und legte ihm eine Hand auf den Arm. Ihre blauen Augen wirkten aufgrund der polarisierenden Klarsichtscheibe des Helmes fast schwarz, als sie ihn ansah. »Diese Roboter«, gab er zur Antwort. »Sie sind im Gegensatz zu jenen, auf die ich bei meinem ersten Besuch in einer solchen Station gestoßen bin, bestens in Schuß.« In der Tat schien es sich diesmal um nagelneue Exemplare zu handeln, die da auf Raupenketten und Rollen auf sie zusurrten. Vielseitige, komplex gebaute Allzweckmaschinen … Nein, verbes‐ serte er sich rasch, vielseitig ja, aber mit Sicherheit keine Allzweck‐ maschinen. Diese hier dienten nur einem einzigen Zweck: Sie waren Kampfroboter. Aus Seitengängen drängten weitere auf den Haupt‐ korridor hinaus und verstärkten die Angreifer. »Siehst du Probleme?« erkundigte sich Amy.
»Nicht mehr als die üblichen«, wiegelte Dhark ab und zeigte ein Grinsen, das Gleichmut und Gelassenheit darstellen sollte, sie aber nicht täuschen konnte. Sie setzte zu einer Erwiderung an, wurde aber von den sich plötz‐ lich in rasender Eile abspulenden Ereignissen davon abgehalten. * »Achtung, sie feuern!« Leutnant Buck stieß einen Warnruf aus und hob in der gleichen Sekunde seinen schweren Multikarabiner an die Schulter. Er hatte noch nicht ausgeredet, als schwarze Strahlen aus den Mündungen der Roboterwaffenarme schossen. Sie trafen die Prallschirme der sich in vorderster Front befindlichen Gardisten und wurden sprühend und knisternd abgeleitet. Kurt Buck atmete tief ein, zielte und drückte ab. Der erste Roboter wurde getroffen. Der Nadelstrahl teilte ihn in zwei Hälften, die über den Boden kullerten. Eine helle, ölig schimmernde Flüssigkeit spritzte. Ein anderer Gardist schnitt dem nächsten Angreifer die Geh‐ beziehungsweise Fahrwerkzeuge ab; der so Getroffene kreiselte um seine Achse und krachte im vollen Lauf gegen die Korridor‐ wand. Ein Dritter implodierte regelrecht und verstreute seine me‐ chanischen Innereien über den Boden. Die Roboter wirkten zwar bedrohlich, aber irgendwie auch unent‐ schlossen, ohne daß man genau sagen konnte, ob das stimmte. Ihre Koordination beim Vorrücken ließ ebenfalls zu wünschen übrig. »Hast du schon bemerkt, daß die Burschen nicht gerade Welt‐ meister im Zielen sind?« ließ Park seinen Nebenmann Kurban wis‐ sen. »Yeah, Mann«, erwiderte der Gardist gedehnt wie einer der le‐ gendären Westernhelden, obwohl er weder in Texas noch in Wyo‐ ming geboren war, sondern auf der anderen Seite des Erdballs das Licht der Welt erblickt hatte. »Ich habe es schon immer gesagt, diese Rollschuhheinis sind lausige Schützen. Ich frage mich …«
Er verstummte mit einem wilden Knurren, als ein schwarzer Blitz prasselnd vor ihm in den Boden fuhr und eine meterlange Spur in den Belag fräste. Er trat halb aus seiner Nische heraus. Seine Waffe sandte gepulste Energiebahnen aus, wobei der Gardist kaukasischer Abstammung seine Ziele nicht einmal exakt über Kimme und Korn anvisieren mußte. Die von der mikroprozessorgesteuerten Visiereinrichtung des Karabiners auf die Innenseite seiner Helmscheibe aufgeschaltete Zielerfassung war mit dem Abzug der Waffe über die Optronik ge‐ koppelt. Der Zielkreis wanderte exakt mit seinen Augenbewegungen. Jedesmal, wenn er einen der Roboter ins Blickfeld bekam, zuckten die Strahlenbahnen aus seiner Waffe. Diese programmierbare »Freundfeindkennung« war ein weiteres Ausstattungsmerkmal der Waffe; es unterschied in Sekundenbruch‐ teilen, ob sich ein Mensch oder ein Grako im Visier befand. Die Waffe war so in der Lage, nur jemanden zu treffen, der getroffen werden sollte. Man brauchte dabei nicht einmal den Finger vom Abzug zu nehmen: Der miniaturisierte Suprasensor unterbrach die Schußfolge von sich aus und setzte sie wieder in Gang, sobald der »Freund« wieder aus der Zielerfassung geriet. Die Roboter hatten an und für sich keine große Chance gegen die Gardisten, die sich zudem noch hinter ihren Prallschirmen in relati‐ ver Sicherheit befanden; daß sie dennoch ernstzunehmende Gegner waren, lag vermutlich daran, daß sie über ähnliche Einrichtungen zur Abwehr verfügten wie die Truppe um Hauptmann Schwengers und die Meegs Charauas. Neben Jong Park kauerte ein Nogk – er war kniend noch immer so groß wie der stehende Gardist – und wartete das schwarze Energie‐ gewitter ab, das sich aus den Waffenarmen der Roboter entlud. Dann trat er in Aktion; der Feuerstoß aus seiner Waffe war nur kurz, aber gut gezielt, auch ohne MFA‐Kampfhelm.
Der Kampfroboter, den er sich als Ziel auserkoren hatte, wurde etwa in Höhe der Stelle getroffen, wo bei einem Menschen der Hals saß. Der Kopf klappte nach hinten, dann wurde er von der Energie‐ ladung aus der Waffe des Nogk regelrecht von den Schultern geris‐ sen. Aus den zerfaserten, zerrissenen Leitungssträngen züngelten kleine Elmsfeuerchen elektrischer Entladungen, die rasch erloschen. »Wer sagtʹs denn!« rief Park triumphierend über den permanent aktivierten Translator. »Guter Schuß, Pariot!« Unter dem transparenten Blasenhelm vibrierten Pariots Fühler‐ paare in einem schnellen Spiel. »Verdammt!« rief plötzlich Stabsunteroffizier Ben Ward. »Mein Prallschirm macht Zicken! Mann, ist das zu glauben? Er ist ausge‐ fallen! He, jemand muß mich decken!« Der Gardist schlug mit der Faust gegen eine bestimmte Stelle sei‐ nes MFA. Aber nichts tat sich auf seinen Anzeigen. »Bin schon auf dem Weg, Ben!« Janu Kerr kam halb aus seiner Deckung hervor. Die Waffe wie auf dem Schießstand in Star City in Vorhaltung, zielte und feuerte er auf die Kampfroboter, während er zu seinem Kameraden hetzte und sich neben ihm niederkniete, um ihn mit seinem eigenen Feld vor den Attacken der Roboter zu de‐ cken. »Danke, Mann«, sagte Ward gepreßt. »Saublödes Gefühl, wenn man plötzlich ohne Schutz auskommen muß.« Noch während er redete, sprangen die Anzeigen des Anzugin‐ strumentariums auf seinem linken Ärmel plötzlich auf Grün. Der Prallschirm stand ihm wieder zur Verfügung. »Das soll einer verstehen«, wunderte sich Ward lautstark. »Er ist wieder da! Der Schirm hat sich wieder aktiviert!« »Was meckerst du?« gab ihm Jong Park über die Schulter zu ver‐ stehen und fügte hinzu: »Sei froh, daß er wieder funktioniert.« »Bin ich ja, Mann. Bin ich ja«, versetzte der Stabsunteroffizier und wandte sich schon einem neuen Angreifer zu.
Der Energiestrahl riß den Roboter von den Stelzenbeinen, die in kleinen Rollen ausliefen. Er überschlug sich, kam wieder auf die Gehwerkzeuge und rollte rückwärts den anderen entgegen, die hüpfend und springend ihrem metallenen Kollegen auszuweichen suchten. Im Korridor herrschte ein heilloses Durcheinander. Mehrere Ro‐ boter wurden niedergekämpft und verwandelten sich unter den Strahlen aus den Multikarabinern in funkensprühenden Metall‐ schrott. »Himmel!« schnaubte Tom Giff. »Wo die nur alle herkommen?« Er nestelte eine Thermogranate aus seiner Rückentasche, drückte den Aktivierungsknopf und warf sie mit weit ausholender Armbe‐ wegung in Richtung der Kampfroboter, wobei er bewußt auf die nachrückenden Maschinen zielte. Einer der Roboter fing die grellgelb gepunktete Granate in der Luft auf, betrachtete sie mittels seiner Optiken von allen Seiten – und verwandelte sich in einen weißglühenden, rauchenden Metallfladen, als die Thermitladung in seinen Klauen explodierte und dabei auf engstem Raum Tausende von Kilojoule an Hitze freisetzte; genug, um drei weitere Kampfroboter zu zerschmelzen und außer Gefecht zu setzen. Die Druck‐ und Hitzewelle wälzte sich in Richtung der Terraner und Nogk, und es war nur den Prallschirmen zu verdanken, daß sie den Hitzeorkan heil überstanden; sie warfen den größten Teil der anbrandenden Energien zurück und leiteten sie ab, so daß Dhark, Amy und die Wissenschaftler von den Auswirkungen verschont blieben. »Mann, bist du raffiniert!« stöhnte Jong Park anerkennend und er‐ ledigte währenddessen einen weiteren Angreifer. »Wie du das wie‐ der hinbekommen hast …« Der Kampf ging mit unverminderter Heftigkeit weiter. Es krachte unaufhörlich, Feuerlanzen schossen kreuz und quer durch den Kor‐
ridor. Qualmwolken waberten unter der Decke und wurden von unsichtbaren Entlüftungen abgesogen. Die Luft im Korridor war mittlerweile auf über hundert Grad auf‐ geheizt worden. Zum Glück verfügten die Multifunktionsanzüge und die nogkschen Entsprechungen über separate Sauerstoffver‐ sorgung sowie Klimaregulierung, die sie gegen die äußeren Bedin‐ gungen abschirmten. Bedauerlicherweise war wegen der räumlichen Enge nicht daran zu denken, das Pressorgeschütz einzusetzen; es hätte dem Kampf ein rascheres Ende bereitet. Bei all dem Tohuwabohu war nicht zu übersehen, daß sich die Nogk mit Uwegra an der Spitze besonders hervortaten. Einmal mehr bewiesen die Nogk, daß sie, wenn sie gefordert wurden, einen furchtbaren Gegner darstellten. Ihr Wagemut, sich den Robotern quasi in offener Konfrontation Mann gegen Mann zu stellen, brachte sie mehr als einmal in Bedrängnis. Pariot war einer der Eifrigsten – und geriet deswegen auch häufi‐ ger unter Druck. Zum Glück hatte er Jong Park neben sich, der dem Nogk in prekären Situationen ein wenig unter die Arme griff – bild‐ lich gesprochen. Park konnte allerdings nicht immer ein Auge auf seinen nogkschen Protege haben. Und so war er gerade damit beschäftigt, sich einen Roboter vom Leib zu halten, der gefährlich nahegekommen war, als sich die Situation zu Pariots Ungunsten veränderte. Einer der Robo‐ ter, eine bizarre, tiefschwarze Konstruktion von gleicher Größe wie der Nogk, allerdings doppelt so breit, schob sich aus dem Hinter‐ grund nach vorn. Er sah sich offenbar dazu berufen, Beute zu ma‐ chen, anstatt sie zu vernichten. Zumindest setzte er keine Waffen ein, sondern surrte mit ausgestreckten Handlungsarmen auf Pariot zu. Es gelang ihm im allgemeinen Getümmel, sein Opfer zu überrumpeln, es mit seinen mehrgelenkigen Handlungsarmen zu umfassen und von den Füßen zu heben.
Pariot gab eine überraschte Lautäußerung von sich, die über den Translator als Hilferuf bei Jong Park ankam, welcher ihm am näch‐ sten stand und sofort in Aktion trat. »He! Läßt du das wohl sein, dämliche Maschine!« schrie der Gar‐ dist und machte heftige Handzeichen. »Tom, Janu, haltet mir den Rücken frei! Da braucht jemand meine Hilfe!« Ohne Rücksicht auf seine eigene Unversehrtheit hetzte Park dem Roboter nach, der sich mit dem zappelnden Meeg in den Fängen davonmachen wollte. Die Gardisten verdoppelten ihre Anstrengungen, in pausenlosem Feuer trieben sie die Roboter auseinander, die sich Park in den Weg stellten wollten, der dem Entführer Pariots auf schnellen Beinen hinterherlief; gefolgt von anderen Nogk, die sich todesmutig zwi‐ schen die Kampfroboter wagten und wild feuerten. Pariot gelang es inzwischen trotz der Umklammerung, an seine Handfeuerwaffe zu gelangen. Er setzte den Abstrahlpol an den kan‐ tigen, nur flüchtig modellierten Kopf des Entführers, hinter dessen Augenband es bösartig glühte, und feuerte. Der im Verhältnis zum übrigen Körper der schwarzen Konstruk‐ tion überproportionierte, wuchtige Schädel klaffte wie eine reife Frucht auf, und bläuliche Flammen entzündeten sich in seinem In‐ nern. Dann begann er auf dem säulenartigen Hals zu rotieren, wäh‐ rend ein konvulsivisches Zittern den Rumpf in Schwingung ver‐ setzte. Jong Park hatte den Kampfkoloß inzwischen erreicht. Er hob den Karabiner, um dem Roboter vollends den Garaus zu machen, als dieser Pariot einfach fallen ließ und sich langsam wie ein waidwund geschossenes Tier auf die Doppelgelenke seiner unteren Extremitä‐ ten sinken ließ. Das Zittern wurde stärker; seine Handlungsarme schlugen wild um sich. Die Klauen zerfetzten Pariots 5‐D‐Schutzanzug, ehe sich dieser vor den schlagenden Armen in Sicherheit bringen konnte.
Auch Jong Parks Schutzanzug wurde erheblich in Mitleidenschaft gezogen und bekam einige Risse verpaßt, da sich der junge koreani‐ sche Gardist zu nahe an den Koloß herangewagt hatte. Doch das waren glücklicherweise die letzten Aktionen des Grako‐Roboters. Er krachte gänzlich auf den Boden und hauchte mit kaskadenartigen, funkensprühenden Entladungen seine schwarze, mechanische Seele aus. Jong kauerte sich neben Pariot nieder. »Bist du in Ordnung?« fragte er, während er sich von seinem ziemlich lädierten 5‐D‐Anzug befreite. »Natürlich, Mensch«, antwortete der Nogk, und die Fühlerpaare unter seinem Blasenhelm schwangen in einem komplizierten Mus‐ ter, das der Gardist an seiner Seite nicht zu entziffern wußte. Es konnte Dankbarkeit sein, möglicherweise aber auch nur die Reaktion auf die ausgestandene Angst oder Freude darüber, am Leben ge‐ blieben zu sein – was es auch war, es würde Jong Park wohl für immer verschlossen bleiben. Er packte seinen Multikarabiner fester und leckte sich über die trockenen Lippen. »Dann ist es ja gut«, versetzte er, hob die Waffe an die Schulter und wandte sich wieder dem Hauptgeschehen zu, nur um erkennen zu müssen, daß seine Kameraden inzwischen den Rest der Roboter mit gezieltem Feuer ausgeschaltet hatten. Die Mechanischen lagen ver‐ brannt, verbeult und zerfetzt weitverstreut im Korridor, in dem sich nichts mehr bewegte; Boden und Wände waren geschwärzt, die Strahlschüsse hatten teilweise tiefe Furchen hinterlassen. Über die Außenlautsprecher drang das Knistern und Zischen kleinerer Brandherde, die in den Torsi der Roboter langsam erstar‐ ben. Die letzten Reste des Qualms zogen träge entlang der Decke zur nächsten Entlüftungsöffnung. Hauptmann Schwengers zeigte sich erleichtert.
»Es hat den Anschein, als hätten wir es für den Augenblick über‐ standen«, gab er laut zu verstehen. »Wurde jemand von uns ver‐ letzt?« »Nein, höchstens Jongs Stolz«, versicherte Leutnant Buck mit ei‐ nem Grinsen und trat mit dem Fuß die glosenden und qualmenden Reste eines Roboters beiseite. »Und noch etwas anderes«, fügte er hinzu. Schwengers schickte erst ein paar Gardisten nach vorne, um he‐ rauszufinden, ob weitere Hindernisse in Gestalt von angriffslustigen Robotern ihren Vormarsch aufhalten würden, ehe er sich wieder an seinen Stellvertreter wandte. »Wie soll ich das verstehen, Leutnant?« »Er hat sich seinen 5‐D‐Anzug ruiniert, Sir, als er versuchte, Pariot aus den Klauen des Roboters zu retten, der ihn entführen wollte.« Der Hauptmann starrte den jungen Offiziersanwärter an, während gleichzeitig eine Veränderung mit ihm vorging. Seine Miene hinter der Klarsichtscheibe des Helmes verhärtete sich von einem Moment zum anderen, und mit eisiger Stimme pfiff er Jong Park an: »Wer zum Donner, Fähnrich Park, hat Ihnen erlaubt, den Schutzanzug abzulegen?« Der koreanische Gardist erstarrte in Grundstellung. »Sir«, antwortete er nervös. »Ich habe gedacht, weil er doch kaputt ist … Außerdem hat er …« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Meeg, der sich ebenfalls seines Schutzanzuges entledigt hatte, um den Raumanzug darunter besser auf Schäden untersuchen zu kön‐ nen. »Sie sollen nicht denken, Fähnrich«, unterbrach ihn Schwengers in drohendem Ton. »Sie sollen sich an Ihre Befehle halten.« »Jawohl, Sir.« »Wie? Ich habe Sie nicht verstanden, Mann!« Park holte Luft und sagte überlaut: »Sir, jawohl, Sir.« »Gut. Und wie lauten diese Befehle?« »Den Anzug nicht ablegen, Sir.«
»Na bitte, scheint doch angekommen zu sein.« Peter Schwengers runzelte die Stirn und begutachtete den Schaden des Gardisten. »Schwein gehabt, Fähnrich«, meinte er dann und stellte eine ernste Miene zur Schau. »Ihr MFA hat nichts abbekommen.« »Ja, Sir, ich meine nein.« »Dalli, ziehen Sie schon das Ding wieder an.« »Aber, Sir, er ist nicht mehr funktionstüchtig!« »Muß ich mich wiederholen, Fähnrich Park?« drohte der Haupt‐ mann und schob das markante Kinn vor. Leider ging die beabsich‐ tigte Wirkung durch den Helm etwas verloren. »Nein, Sir. Anziehen, jawohl …« »Gut so, Fähnrich Park«, nickte Schwengers und wandte sich an Parks Kameraden. »Damit das klar ist, jeder behält seinen Anzug an. Das ist ein Befehl. Wer sich nicht daran hält, dem mache ich die Hölle heiß. Darauf könnt ihr euch verlassen. Ist das verstanden worden?« »Ja, Sir!« kam es nahezu wie aus einem Mund; sie hatten verstan‐ den. »Ausgezeichnet. Und nun helft diesem leichtsinnigen Burschen«, befahl er. »Verschließt die Risse und Löcher so gut es geht mit Kle‐ beband.« »Sir, darf ich etwas sagen?« Schwengers sah Buck scharf an. »Ich weiß, was Sie vorbringen wollen, Leutnant. Ich gebe Ihnen recht, es ist nur ein Provisorium, doch es ist das Beste, was wir im Augenblick für ihn tun können. Ich sehe keine andere Möglichkeit.« »Wird schon gutgehen, Sir«, versetzte Jong Park optimistisch. Schwengers sah ihn an, schweigend, nickte und wandte sich Pariot zu, um den sich inzwischen Uwegra und ein paar Meegs bemühten. Charaua war hinzugekommen und verfolgte deren Tun. Auch sie reparierten den zerfetzten Schutzanzug Pariots gegen die 5‐D‐Strahlung notdürftig mit Klebebändern, die sie sich von den Gardisten ausliehen. Eigene schienen sie nicht zu besitzen. Offenbar
hatte bei ihnen niemand damit gerechnet, daß die Anzüge Schaden erleiden könnten, oder aber ihre Reparatursets waren wie so vieles andere auch mit dem zerstörten Halbraumgleiter untergegangen. »Ersatzanzüge habt ihr wohl nicht dabei?« fragte Ren Dhark den Nogk‐Regenten. Charaua bewegte den mächtigen Libellenschädel und senkte die Fühler in einer Weise, die, wie Dhark inzwischen wußte, ein gewis‐ ses Unbehagen und auch Verlegenheit ausdrückte. »Schon«, kamen seine Impulse, die merkwürdig indifferent auf den Commander wirkten. Und Ren erfuhr auch gleich den Grund dafür, als Charaua fortfuhr: »Fatalerweise blieben sie in der REESCH II zurück. Das heißt, sie sind unwiederbringlich zerstört.« »Dann müssen die beiden tatsächlich mit dem auskommen, was sie haben«, meinte Ren Dhark und erntete dafür einen verweisenden Blick von Amy. Er hob die Schultern und setzte zu einer Entgegnung an, als der Erkundungstrupp zurückkam. »Wir sind bis zu einer Halle vorgedrungen, ohne auf Widerstand zu stoßen«, meldete Gardist Naha. »Niemand hat sich uns in den Weg gestellt, wir konnten auch keine unmittelbaren Aktivitäten re‐ gistrieren.« »Gar keine?« fragte Schwengers nach. »Jedenfalls nicht innerhalb der Reichweite unserer Handspürge‐ räte«, antwortete Naha. »Wir trafen nicht einmal auf Hindernisse in diesem augenverknotenden Horrorkabinett einer Grako‐Station.« »Augenverknotend?« dehnte Ren Dhark. »Schwierig zu erklären, wie man das umschreiben soll, Comman‐ der. Es gibt keine klar erkennbare Definition für das, was hier drin abläuft. Das ganze scheint völlig konzeptionslos zu sein. Wenn man glaubt, einen gangbaren Weg vor sich zu haben, findet man sich hinter der nächsten Biegung in einem ganz anderem Szenario wie‐ der, das einen zweifeln läßt, ob man sich noch auf der ursprüngli‐ chen Ebene befindet.«
»Auswirkungen des Hyperraums«, kamen Charauas Impulse. »Man kann sich auf nichts verlassen, man kann vor allem seinen Sinnen nicht trauen.« »Ich weiß, was du meinst, Charaua«, erwiderte Dhark. »Schwarz ist weiß, oben ist unten …« »Ich hätte es nicht besser formulieren können, mein Freund«, be‐ stätigte der Nogk‐Regent, und seine Fühler vibrierten. »Schöne Aussichten«, bekundete Tim Acker sein deutliches Miß‐ fallen. »Hoffentlich drehen wir nicht alle durch.« Niemand antwortete auf diese Bemerkung. Ren Dhark warf einen Blick in die Runde. »Gehen wir weiter«, sagte er und packte seinen Handnadelstrahler fester. »Das war erst Phase eins unserer Mission. Es liegt noch eine ganze Strecke Wegs und eine Menge Arbeit vor uns.« »Also dann, gehen wir«, nickte Monty Bell. »Hat jemand etwas entdecken können, das wie ein Lageplan aussieht?« Niemand antwortete. »Man kann ja mal fragen«, brummte der kleine Professor mürrisch und sputete sich, um nicht den Anschluß zu verlieren. Phase zwei der Eroberung der Hyperraumstation begann.
2. Hauptmann Peter Schwengers und seine Gardisten bildeten die Vorhut, Uwegra mit den Meegs sicherte nach hinten ab. Die Kisten mit der Ausrüstung behinderten ihren Vormarsch nur unwesentlich. Über die Größe der Station ließen sich nur hypothetische Schlüsse ziehen. Vandekamp und Margarita beschäftigten sich zwar unent‐ wegt damit, mittels ihrer Instrumente ein klareres Bild von der ge‐ nauen Ausdehnung der Grako‐Kampfstation zu bekommen, hatten aber unerklärliche Schwierigkeiten damit. Zu viele Störfaktoren fünfdimensionaler Art, wie sich der Doktor der Hyperraumphysik und Worgun‐Mathematik, Tim Acker, auszudrücken beliebte. Mit verschärfter Wachsamkeit drang der Trupp weiter ins Innere der Station vor. »Keine Gegenwehr, wie soll ich das verstehen?« murmelte Jong Park. »Noch nicht«, zeigte sich der Leutnant pessimistisch. »Aber be‐ schreie es nicht, bekanntlich soll man niemals nicht den Tag vor dem Abend loben.« Seine Wortwahl löste ein Stirnrunzeln bei Schwengers aus, doch dann erkannte der Hauptmann am Grinsen seines Stell‐ vertreters, daß diese doppelte Verneinung von Buck bewußt einge‐ setzt worden war. »Vielleicht haben sich die Grakos aus dem Staub gemacht«, meinte Stabsunteroffizier Ward. Buck schnaubte abfällig. »Träum weiter, Ben.« »Aber es ist zu ruhig«, beharrte Ward. »Verdächtig ruhig«, bestätigte Janu Kerr Wards Bemerkung. »Bei uns in Finnland sagt man: ›Wenn es ruhig wird im Wald, ist der Bär jagen‹«, ließ sich Fähnrich Jörgen hören, der finnische Groß‐ eltern besaß.
»Schluß mit den Volksweisheiten«, schaltete sich Schwengers in die Diskussion der Gardisten ein. »Sprechdisziplin, wenn ich bitten darf.« »Was genau suchen wir eigentlich, Sir?« fragte Naha. »Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir es gefunden haben«, beschied ihn Schwengers knapp, aber erschöpfend. Er schwieg einen kurzen Augenblick, ehe er sich bequemte hinzuzufügen: »Ich hoffe es wenigstens.« Sie gingen weiter – jeden Moment damit rechnend, in eine Falle, einen Hinterhalt zu laufen. Sie waren nun schon geschlagene 60 Minuten unterwegs. Eben begann eine neue Stunde. Die 37 Personen – Gardisten, Nogk und Zivilisten – stellten auf den ersten Blick eine verschwindend kleine Streitmacht dar, die sich in dem viele Kilometer großen Gebilde der Hyperraumstation leicht verlaufen konnte, und es war nicht abzuschätzen, wie stark der Ge‐ gner sein mochte. Es war durchaus möglich, daß man es früher oder später mit Tausenden von Grakos und Robotern zu tun bekommen konnte, und dann wäre die kleine Schar arg in der Minderzahl. Bislang war es noch nicht wieder zu Kämpfen gekommen, aber das konnte sich innerhalb kürzester Zeit radikal ändern. Mit angespannten Sinnen und nach allen Seiten Ausschau haltend, drangen sie weiter ins Innere der Hyperraumstation vor. Es war ein Marsch durch eine Alptraumwelt. Ren Dhark hatte seit Beginn seiner Karriere als Raumfahrer Schiffe und Raumstationen vieler Völker von innen gesehen. Darunter hat‐ ten sich die bizarrsten Exemplare befunden. Doch in keinem hatte er einen so alptraumhaften Eindruck von Fremdheit empfunden wie in der Hyperraumstation der Grakos. Hier in der Schattenstation war alles fremdartig, bizarr, unheimlich und beinahe beängstigend für die Sinne der Menschen. Die vorherrschende Farbe war Schwarz.
Ein Schwarz, das dennoch wie von vielen Farben durchsetzt wirk‐ te. Fast ebenso erschreckend wie die buntschwarzen Energiewirbel des Hyperraums, als die REESCH II und ihre Vorgängerin dieses Medium durchpflügt hatten. Die aus den Fugen geratenen Proportionen schienen das Werk des Insassen einer psychiatrischen Klinik zu sein. Schlimmer aber, ihr Aussehen erzeugte beim Anschauen einen Effekt, der sich rational nicht erklären ließ. Schon die ähnlich konstruierten Grako‐Raumer hatten bei den Menschen, die sie zu Gesicht bekamen, eine derartige Wirkung hervorgerufen. Amy hegte ähnliche Gedanken. Das Innere der Hyperraumstation löste bei ihr einen merkwürdi‐ gen Zwiespalt aus. Einladend wie die Hölle, dachte sie unwillkürlich, und ein Schauder überlief sie. Eine rational nicht zu erklärende Reaktion, die sie nicht zu unterdrücken vermochte. Es handelte sich dabei nicht etwa um Angst oder gar Furcht, sondern war lediglich eine Art Vorahnung vor etwas Unbekanntem, die sie trotz ihrer überragenden Fähigkei‐ ten als Cyborg nicht zu ignorieren vermochte. »Amy?« Rens Stimme schien wie aus weiter Ferne zu ihr zu ge‐ langen. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie blinzelte verwirrt, und der Spuk verschwand. »Ja, ja. Ich bin in Ordnung.« Trotz ihrer Beteuerung fühlte sie sich komisch, hatte das Empfinden, als zöge sich etwas nur mit Wider‐ willen aus ihr zurück. »Wirklich?« Er schien nicht überzeugt. »Wirklich. Keine Probleme, Ren.« Es klang lauter als üblich; sie ärgerte sich über seine Hartnäckig‐ keit. Andererseits, wie wollte sie ihrem Gefährten begreiflich ma‐ chen, daß sie wirklich das Empfinden gehabt hatte, in dieser Station ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu? Würde er sie verstehen und ihre Empfindungen nicht als weibliche Hysterie abtun?
Dennoch, das Durcheinander in Amys Verstand ebbte ab. Wie aus einem schlechten Traum erwachend sah sie ihn an. »Verflixt«, sagte sie und lächelte eine Spur mühsam, »diese Station hat es in sich. Besäßen wir nicht die 5‐D‐Schutzanzüge …« Sie ließ den Satz offen. Ren verstand auch so. »Mir ergeht es nicht anders«, gestand er ihr. »Es ist eine Sache, ob wir an Bord der REESCH II durch den starken 5‐D‐Gleichrichter vor den Einflüssen des Hyperraums geschützt waren, aber eine ganz andere, jetzt durch den vergleichsweise schwächeren Anzug seine Auswirkungen zu spüren zu bekommen. Irgend etwas schlägt scheinbar durch die Abschirmungen der Station. Und je länger wir uns hier drin aufhalten, um so stärker wird dieses Etwas werden, befürchte ich.« »Wenn du es sagst …« Wie schutzsuchend drängte sie sich näher an Dhark, dabei war es in erster Linie sie, die dem Commander Schutz bieten konnte, falls die Situation eskalieren würde. Dhark sah sie einen Moment an. Dann nickte er. »Gut. Wenn ich es sage … gehen wir weiter.« »Wohin immer du willst, ich folge dir«. Es klang ein wenig über‐ trieben, enthielt jedoch einen ernsthaften Unterton. Sie hatte sich wieder gefangen. * Eine eigentümliche Stimmung hatte die Truppe befallen. Zum einen waren die Gardisten erleichtert, zum Teil aber auch fast frustriert, daß der Vormarsch vergleichsweise friedlich und komplikationslos vonstatten ging. Zum anderen aber, und Ren Dhark konnte das nachfühlen, breitete sich eine gewisse Spannung aus. Der Frieden war einfach zu trügerisch; alles deutete darauf hin, daß die wirkli‐ chen Gefahren, die es zu bewältigen galt, noch vor ihnen lagen – und
daß diese Hürden um so schwerer ausfallen würden, je leichter es bis dahin gewesen war. »Welche Strecke haben wir zurückgelegt, Hauptmann?« fragte Dhark. Der Offizier und Wissenschaftler konsultierte eine Anzeige auf dem Instrumentarium seines linken Ärmels. »Schätzungsweise sechs Kilometer, Commander.« Dhark runzelte die Stirn. Sechstausend Meter waren keine Distanz in einer Station, die vermutlich etwa 30 Kilometer lang, 15 Kilometer breit und fast ebenso hoch war. Er wandte sich an Uwegra. »Wo in etwa befinden wir uns eigentlich?« »Wir sind im oberen Drittel der Schattenstation eingedrungen, Commander«, antwortete der Meeg über den Translator; er hatte die REESCH II in die Station geflogen, er kannte die Koordinaten und konnte sie in Relation zur Größe und Ausdehnung der Hyperraum‐ station bringen. »Wir befinden uns etwa auf halbem Weg zur Mitte der Station.« »Danke, Uwegra«, sagte Dhark mechanisch. Der Meeg schien die leisen Zweifel des Commanders zu spüren und schickte eine Erklärung hinterher. »Wenn diese Hyperraumsta‐ tion jener entspricht, in die wir mit der ersten REESCH gezogen wurden, habe ich keine Veranlassung zu glauben, wir bewegten uns in die falsche Richtung.« Monty Bell warf mit erhobener Stimme ein: »Wie sollen wir hier finden, was wir suchen? Bei der Ausdehnung liegen viele Ebenen über, noch mehr unter und unzählige Räume vor uns. Wir können Wochen zubringen, ohne je ans Ziel zu gelangen.« »Hat jemand etwas entdecken können, das wie ein Wegweiser aussieht?« fragte Vincente Margarita. »Wie wäre es mit Straßenschildern oder Piktogrammen für fremdsprachige Urlauber?« ließ Vandekamp verlauten; der stets cholerisch veranlagte Kontinuumsforscher und ausgewiesene Ex‐
perte für Intervallfelder befand sich erkennbar in einer Stimmung, die seinem hypernervösen Zustand nicht dienlich war. »Warum nicht, Ha‐Zeh?« versetzte Monty Bell mit gutmütigen Spott. »Das wäre doch mal was, oder?« Der dunkelhaarige, mit einem leichten Bauchansatz gesegnete Vandekamp, dessen Vorname Honorius Cyrano ihm so peinlich war, daß er sich selbst von Freunden nur mit »H. C.« anreden ließ, stieß einen knurrenden Laut aus, sagte aber nichts weiter dazu. Dhark ließ die Männer gewähren; ihr Geplänkel war nichts anderes als ein Ventil für die aufgestaute Spannung, unter der sie alle stan‐ den, seit sie sich im Innern der Schattenstation aufhielten. Den Commander plagten ganz andere Gedanken. Gedanken, die sich hauptsächlich mit den Erbauern dieser Hyper‐ raumstation beschäftigten. Den Grakos. Den Schatten. Der einstmals gefürchteten Geißel der Galaxis, der es, obwohl be‐ siegt, noch immer gelang, bei ihrem Auftauchen Angst und Schre‐ cken zu verbreiten. Zumindest bei vielen Völkern der Galaxis, weniger bei Nogk oder Menschen. Daß sie bislang noch keinem der Schattenwesen begegnet waren, bedeutete nicht automatisch, daß diese Station von ihnen verlassen oder aufgegeben war wie etwa jene, in die Dhark mit der Vorläuferin der REESCHII eingedrungen war. Der Commander leistete sich den Luxus, in Gedanken für Au‐ genblicke in die Vergangenheit zu springen. Der Besuch in der gewaltigen Schattenstation der Grakos lag fast vier Jahre zurück. An dieser im letzten Drittel des Jahres 2058 durchgeführten Mis‐ sion waren Menschen und Nogk beteiligt gewesen, von denen einige auch diesmal wieder mit dabei waren: Kurt Buck und Monty Bell beispielsweise, der Meeg Uwegra, nicht zu vergessen Charaua, der –
von den Nogk gewollte Duplizität der Ereignisse? – auch jetzt das Kommando über die neue Mission hatte, die aus einer Gruppe von 25 Menschen und 12 Nogk bestand, der es oblag, die Geheimnisse dieser Schattenstation zu ergründen. Nur daß es sich jetzt um eine wesentlich gefährlichere Aufgabe handelte. Wie sie inzwischen am eigenen Leib erfahren hatten, handelte es sich diesmal nicht um eine uralte, vergessene Station, sondern um einen voll funktionsfähigen Neubau mit bester Ausstattung. Alles, was sie in der relativ kurzen Zeit an Bord der mehrere Kilometer großen Schattenstation zu Ge‐ sicht bekommen hatten, ließ den Schluß zu, daß es sich bei ihr um eine erst kürzlich erbaute nagelneue Anlage handelte. Auch sonst war die neue Mission nicht ganz identisch mit der ers‐ ten: Are Doorn fehlte diesmal, ebenso sein Freund und Weggefährte Dan Riker. Irgendwie bedauerte er es, gerade Dan nicht dabei zu haben, obwohl er ursprünglich auch für diesen Einsatz vorgesehen gewesen war. Dennoch hatte er verzichtet. Ein freiwilliger Verzicht? Ren hatte es nicht glauben können. Immer war Dan derjenige ge‐ wesen, der darauf beharrte hatte, bei jedem Außeneinsatz mit dabei sein zu dürfen, und diesen Wunsch mit allen Mitteln durchzusetzen suchte – was mitunter zu Meinungsverschiedenheiten geführt hatte, weil er den Freund in seiner eigenen Abwesenheit von der POINT OF als stellvertretenden Kommandanten an Bord des Ringschiffes brauchte. Statt dessen hatte Dan ihm sogar empfohlen, Amy an sei‐ ner Stelle mitzunehmen. Ren hatte es nicht glauben können, konnte es auch jetzt noch nicht ganz. Zumal er die Begründung Dans für an den Haaren herbeigezogen empfand, die da lautete, daß er sich bei der Mission als überflüssig ansah. Er hätte noch weniger Ahnung von den Gesetzmäßigkeiten des Hyperraums und von Schwarzen und Weißen Löchern als etwa Doorn und Shanton, und die habe er, Dhark, ja auch nicht für einen Einsatz mit der REESCH II vorgese‐ hen. Ren hatte ihn angesehen, den Kopf geschüttelt und sich keine Mühe gegeben, sein Erstaunen zu verbergen. »Wer paßt dann auf
mich auf?« hatte er den Versuch unternommen, an Dans Freund‐ schaft zu appellieren. »Schau nicht so deprimiert«, hatte ihm dieser mit seinem spötti‐ schen Lächeln beschieden. »Nimm Amy mit, die Vernunft gebietet es einfach. Sie ist mit ihren Cyborgfähigkeiten weit besser geeignet, auf dich aufzupassen, als ich es könnte.« Dans Argumentation hatte für sich gesehen logisch geklungen, dennoch hatte sie für Dharks Empfinden den schalen Beigeschmack einer Ausrede besessen, hinter der sich etwas anderes verbarg. Letztendlich hatte er akzeptiert, sich aber vorgenommen, den alten Freund und Kampfgefährten nicht ungeschoren davonkommen zu lassen und ihn zur Rede zu stellen, sobald diese Mission abge‐ schlossen war. Dhark stoppte seinen Gedankenflug und kehrte in die Gegenwart zurück. Sein Blick fiel auf Charaua. Der Nogk mit der strichförmigen Narbe auf der linken Hälfte seines Insektengesichts sah ihn von der Seite an. In den starren Facettenaugen, in denen sich ein vielfältiges Ab‐ bild der Umgebung spiegelt, war keine Regung zu lesen, nur die vier Fühler bewegten sich. Wollte er etwas sagen? Dhark sandte einen fragenden Impuls aus. »Ja, Charaua?« »Ich habe gerade ebenfalls an diese Mission gedacht, Freund Dhark«, erreichten die bildhaften Impulse des Nogk‐Regenten den Commander, ohne daß er den Translator bemühte. Dhark war mittlerweile darin geübt, die Bildimpulse der Hybrid‐ wesen zu verstehen und seine eigenen Gedanken so zu bündeln, daß die Nogk sie ihrerseits verstehen konnten. »Habe ich so laut ›gesprochen‹«, dachte Dhark, »daß ich dich aufmerksam gemacht habe? Ich muß mir doch keine Sorgen machen, daß du meine oder die Gedanken der anderen liest, nicht wahr?« »Wo denkst du hin?« Der Gedankenimpuls, den der Nogk‐Regent ausschickte, war so kategorisch, daß sich Ren Dhark unwillkürlich beschämt fühlte. »Aber du hast dich so intensiv mit den damaligen
Ereignissen beschäftigt, daß ich es ohne mich anzustrengen selbst bis ins Crius‐System vernommen hätte.« »Ha, ha!« machte der Commander in Gedanken und sandte die Impulse eines Lachens aus. »Die Situation damals war wesentlich leichter, die jetzige Aufgabe dürfte ungleich schwieriger sein«, konkretisierte er seine Impulse. Der Nogk‐Regent neigte den Insektenschädel in einer Geste der Zustimmung, die sein Volk erst von den Menschen gelernt und übernommen hatte. »Das sehe ich auch so«, signalisierten seine Bildimpulse. »Wir werden auf erheblich mehr Widerstand stoßen. In dieser Station gibt es ungewöhnliche Energieflüsse. Etwas geht hier vor …« Er verstummte, ohne näher darauf einzugehen, welche konkrete Befürchtung er genau hegte. * Ren Dhark atmete langsam und gleichmäßig und behielt das einge‐ schlagene Tempo bei. Obwohl er bei Missionen dieser Art meist an der Spitze zu finden war, überließ er diese Position diesmal Hauptmann Peter Schwen‐ gers. Der und seine Gardisten waren infolge des permanenten Trai‐ nings für Einsätze dieser Art weitaus besser ausgebildet und wußten demzufolge wesentlich agiler und vor allem schneller auf Gefahren zu reagieren. Die Hyperraumstation der Grakos bot unendlich viel Platz für Überraschungen, Fallen und Hinterhalte, die dem kleinen Kontin‐ gent von Nogk und Menschen zu schaffen machen konnten. Doch die einzigen Hindernisse, mit denen das Kommando seit der Konfrontation mit den Grako‐Robotern zu kämpfen hatte, waren zunächst sehr banaler Natur. Unversehens geriet ihr Vormarsch ins Stocken, als die Prallfeld‐ plattform, auf der das Pressorgeschütz verankert war, von einer
Sekunde zu anderen ohne Vorwarnung ausfiel; sie senkte sich auf den Boden herab und weigerte sich beharrlich, weiter ihren Dienst zu verrichten. Der zuständige Gardist bearbeitete fieberhaft die Kontrollen, um das Geschütz wieder zum Leben zu erwecken. Die mehr oder weni‐ ger fachmännischen Ratschläge seines Mitstreiters Cussler halfen da nicht viel, dennoch zeigte sich nach einer Reihe von verbissen ge‐ murmelten Verwünschungen ein Resultat: Das Prallfeld erwachte ebenso plötzlich, wie es seinen Dienst verweigert hatte, wieder zum Leben. Der Marsch konnte fortgesetzt werden. Schwengers ließ sich etwas zurückfallen. »Wie haben Sie das hinbekommen, Fähnrich Kuzak?« wandte sich der Hauptmann an seinen Untergebenen, der spezialisiert war auf multi‐räumliche Mechanik. Sämtliche Angehörigen der Garde waren nicht nur Elitesoldaten, sondern hatten auch eine hochqualifizierte, wissenschaftlich fun‐ dierte Ausbildung auf ausgesuchten Spezialgebieten. So waren bei‐ spielsweise für diesen Einsatz mit Bedacht überwiegend Spezialisten für Hyperenergie und Schwarzlochphysik ausgewählt worden. »Das war nicht ich, Sir«, bekannte Kuzak wahrheitsgemäß und überspielte seine kleine Unsicherheit mit einem forschen Lächeln. Er konsultierte den Suprasensor des Geschützes. »Wie ich vermutete«, ließ er verlauten. »Es war eine zum Glück nur marginale Fluktuation in der Energieübertragung.« »Verursacht durch was?« »Durch den Einfluß der 5‐D‐Strahlung vermutlich.« Schwengers sah Kuzak mit gerunzelter Stirn an. »Kein unbekanntes Phänomen also?« argwöhnte er. »Mir persönlich zwar noch nicht untergekommen, Sir«, gestand Kuzak wahrheitsgetreu. »Aber ich habe einiges darüber gehört, daß so etwas möglich sein soll.« »Es kann also jederzeit wieder passieren?«
»Nicht auszuschließen, Sir.« »Hmm«, machte Peter Schwengers. »Keine erfreulichen Aussich‐ ten. Hoffentlich läßt das unseren Vormarsch nicht ins Stocken gera‐ ten. Bleibt vor allem zu hoffen, daß diese Schwankung nicht gerade dann wieder auftritt, wenn wir das Geschütz benötigen. Naja, zur Not müssen wir es von Hand bewegen und ausrichten.« Er beschleunigte seine Schritte wieder und ging durch die Reihen der Gardisten nach vorn, um seine Position dort einzunehmen. Tim Acker schob sich neben Ren Dhark; er schien etwas auf dem Herzen zu haben. Zumindest deutete der Commander das Verhalten des fülligen Doktors der Hyperraumphysik und ausgewiesenen Gourmets so. »Ja, Tim?« Der vierundfünfzigjährige Wissenschaftler, der seine Dissertation über das Transitionstriebwerk der Giants geschrieben hatte, zierte sich ein paar Sekunden, ehe er damit herausrückte, wo ihn der Schuh drückte. »Mir ist nicht wohl bei der Vorstellung, daß wir uns im Hyperraum herumtreiben«, bekannte er zu Dharks Überraschung. Der Commander sah ihn erstaunt an. »Von Ihnen hätte ich eine derartige Äußerung am wenigsten er‐ wartet, Tim!« »Die Gesetzmäßigkeiten des fünfdimensionalen Raums und ihre Auswirkungen auf Mensch und Material sind noch viel zu wenig erforscht, um wirklich sagen zu können, was uns hier erwartet.« Acker schwieg einen Moment, um dann fortzufahren: »Haben Sie den Ausfall des Prallschirms bei Ben Ward mitbekommen?« »Ja«, bestätigte Dhark. »Ebenso den beim Pressorgeschütz?« »Natürlich, Tim. Worauf wollen Sie hinaus?« »Die ersten Materialausfälle in diesem Kontinuum, das für huma‐ noides Leben sowie menschliche und nogksche Technik nicht ge‐
schaffen zu sein scheint – gibt Ihnen das nicht zu denken, Com‐ mander?« »Schon. Aber zumindest ist es möglich, sich über einen längeren Zeitraum in Hyperraum aufhalten zu können, ohne gravierende Schäden zu erleiden«, hielt Dhark dem Wissenschaftler entgegen. »Sind Sie davon wirklich überzeugt?« »Zweifeln Sie etwa daran?« Tim Acker brummte, antwortete aber nicht. »Zweifellos erhalten wir durch die 5‐D‐Anzüge unserer Freunde ausreichenden Schutz«, fuhr der Commander fort. »Das ist ein weiterer Punkt, der mich beunruhigt«, gestand Acker, während er einen kurzen Blick auf die Anzeigen seines Schutzan‐ zuges warf. Einer von mehreren innerhalb weniger Minuten, wie Amy Stewart registrierte. »Was ist mit Ihnen, Tim?« erkundigte sich der weibliche Cyborg. »Sie scheinen über Gebühr nervös? Was befürchten Sie?« Der Worgun‐Mathematiker stieß ein verdrießliches Schnaufen aus. »Die Zeit läuft uns davon, Verehrteste«, beantwortete er Amys Fra‐ ge. »Wieso das?« Ren blickte ihn verwundert an. Tim verzog das Gesicht. »Schon vergessen, Commander? Wir können uns nicht permanent hier aufhalten!« Ackers Befürchtungen waren in gewisser Weise nachvollziehbar: Alles, was mit dieser Station zu tun hatte, hatte Hyperraumcharak‐ ter. Menschen und Nogk konnten nur dank der leichten 5‐D‐Schutzanzüge aus der Nogk‐Produktion den tödlichen Einflüs‐ sen der Hyperraumstrahlung entgehen. Aber das nur für eine relativ kurze Dauer. Die Synthofolie der Anzüge hielt die Hyperraum‐ strahlung nicht etwa ab, sondern wandelte sie unter ihrem Einfluß um, entzog ihr auf diese Weise die schädliche Energie, aber das tat sie nicht endlos. Das Perpetuum mobile hatten auch die Nogk nicht erfunden; wo Energie umgesetzt wurde, ging auch welche verloren. Nach etwa 30 Stunden hatte sich die Folie sozusagen selbst »ver‐
braucht«, ihre Träger waren der Hyperraumstrahlung schutzlos ausgeliefert. Und das war es, was Tim Acker umtrieb, was ihm Kummer und Sorgen bereitete, wie er dem Commander und Amy gegenüber zu‐ gab. Menschen – und auch Nogk – konnten sich nicht endlos lange im Hyperraum aufhalten, jenem fünfdimensionalen Bezirk der uni‐ versellen Schöpfung, in dem nach bisherigen Kenntnisstand nur die Grakos zu überleben vermochten. »Ist da was dran, Charaua?« wandte sich Dhark an den Nogk‐Regenten. »Bei unserem ersten Einsatz im Hyperraum mit der Vorgängerin der REESCH II traf das wohl noch zu«, gestand Charaua mit der ihm eigenen Freimütigkeit. »Doch inzwischen haben unsere Meegs das Konzept weiterverfolgt und parallel mit der Entwicklung des Halb‐ raumgleiters auch eine wesentlich verbesserte Version des 5‐D‐Schutzanzuges hergestellt. Das Zeitfenster ist inzwischen so groß, daß wir uns bedenkenlos einige Wochen im Hyperraum auf‐ halten können, ohne Nachteile für Leib und Leben befürchten zu müssen – so lange wir uns ihrer nicht entledigen.« Einmal mehr war Ren Dhark verblüfft über die Schnelligkeit, mit der die Nogk technische Neuentwicklungen anzugehen und auch zu vollenden wußten. »Sehen Sie, Tim«, meinte er zu Acker, »Ihre Befürchtungen sind gegenstandslos.« »Das sehe ich anders«, blieb der Wissenschaftler störrisch. »Unter Umständen reicht auch diese Vorgabe nicht.« »Heraus mit der Sprache, Tim«, sagte Dhark. »Was beschäftigt Sie wirklich?« »Die Tatsache, daß wir eigentlich in der Falle sitzen«, gab Acker zu verstehen. »Wie kommen Sie jetzt darauf?« zeigte sich Dhark verblüfft. Acker antwortete: »Die REESCH II existiert nicht mehr, das ist ein wenig beruhigend, nicht wahr?«
»In diesem Fall muß ich Partei für unseren verehrten Kollegen er‐ greifen«, warf Vandekamp in die Debatte. »Es ist schon so: Wer holt uns hier wieder raus? Und wann? Es ist doch eine Tatsache, daß es keine Möglichkeit mehr für uns gibt, diese verfluchte Station auf dem Weg zu verlassen, auf dem wir sie erreicht haben!« »Ich sagte doch, wir sitzen fest!« wiederholte Tim Acker verdrieß‐ lich. »Es gibt kein Zurück mehr, Commander.« Ren Dhark nahm die Einwände der Wissenschaftler gelassen, ob‐ wohl er sich selbst bereits diese Fragen gestellt hatte. Dennoch sah er darin viel weniger ein Problem als die gelehrten Mitglieder des Teams. »Durchaus möglich«, stimmte er ohne Zögern zu. »Doch viel wahrscheinlicher ist, daß wir früher oder später einen Ausweg fin‐ den. Ich bin überzeugt, daß es in dieser Station Hangars mit Raum‐ fahrzeugen, Zubringern oder vergleichbaren Transportmitteln gibt, die wir verwenden können. Schließlich bevorzugen die Grakos Sauerstoffplaneten als Wohnwelten. Der Hyperraum ist nur eine Zwischenstation für sie. Ergo gibt es eine Verbindung beispielsweise von hier zu diesen Planeten. Wir werden es sicher bald herausfinden, denke ich …« »Hoffentlich bald genug«, klang Monty Bells Stimme in den Helmlautsprechern auf. »Doch zunächst«, fuhr Ren Dhark nachdrücklich fort, den Ein‐ wand seines ehemaligen Dozenten an der Raumfahrtakademie und heutigen Freundes ignorierend, »werden wir uns unserer Haupt‐ aufgabe widmen. Ich denke, die Zukunft der Erde hat Vorrang vor allen anderen Überlegungen, auch vor der unserer sicheren Rück‐ kehr. Und wenn es sein muß«, jetzt wurde seine markante Stimme hart, »auch vor unserer körperlicher Unversehrtheit. Oder ist jemand anderer Auffassung?« Es erhoben sich keine Einwände; jeder wußte, was alles auf dem Spiel stand.
Es gab nur noch die eine Chance für die Menschheit, ihre wun‐ derbare Heimat bewohnbar zu erhalten, nämlich wenn es gelang, den dauernden Materieabfluß aus der Sonne ein für allemal zu un‐ terbrechen, für den die Grakos mit ihrer Hyperraumstation ursäch‐ lich verantwortlich zeichneten. Charaua hatte wiederholt und mit aller Eindringlichkeit darauf hingewiesen, daß in dieser Station die Quelle allen Übels zu finden sein müßte. * Seit einiger Zeit bewegten sie sich durch eine Reihe hintereinander‐ liegender Hallen, die den Eindruck einer Industriebrache vermittel‐ ten. Welchem Zweck sie dienen mochten, blieb jedem verborgen. Riesige Pylone schienen nach einem kruden Zufallsprinzip ohne Sinn und Verstand verteilt zu sein. Generatorenähnliche Maschinen wölbten ihre Buckel in die Höhe, waren aber inaktiv; zumindest hörte man keine Arbeitsgeräusche. Es war natürlich möglich, daß sie geräuschlos ihren Dienst verrichteten. War die Sicht anfangs noch ausreichend, wurde sie durch ein unerklärliches Phänomen mehr und mehr eingeschränkt: Das so‐ wieso schon schwache Licht verlor sich irgendwo in fünfzig, viel‐ leicht auch hundert Meter Entfernung in einer Dunkelheit, in der sich wohl nur Grakos zurechtfanden. Schwengers streckte die freie Rechte in die Luft, spreizte die Finger und ballte sie dann zur Faust. »Halt!« Dann machte er ein paar schnelle Handzeichen. »Ausschwärmen!« Der Trupp geriet ins Stocken, die Gardisten verteilten sich nach links und rechts. »Verdammt, ist das anstrengend«, murrte Leutnant Buck und spähte mit zusammengekniffenen Augen hinter der Klarsichtscheibe
seines Kampfhelmes hervor auf die vage zu sehenden Umrisse von riesigen Rohren und Säulen. Die vorhandene Beleuchtung löste die Konturen auf, ließ die Kanten zerfasern und verwandelte die Halle in ein surrealistisch anmutendes Terrain aus dunklen, ineinander‐ laufenden Linien und Umrissen. »Licht! Mehr Licht!« Vincente Margarita war es, der diesen epo‐ chalen Wunsch der Menschheit äußerte. »Scheinwerfer!« ordnete Schwengers an. Die leistungsstarken Scheinwerfer, über die jeder MFA verfügte, warfen ihre Lichtkegel voraus; die Sicht wurde dadurch etwas bes‐ ser, blieb aber dennoch auf unerklärliche Weise eingeschränkt. Es schien, als verschlucke ein unbekanntes Phänomen die Strahlen der Scheinwerfer. Nebelwände hatten in etwa einen ähnlichen Effekt. »Zweierreihen bilden!« kam Schwengersʹ neuerlicher Befehl. »Die Zivilisten in die Mitte. Charaua, verfügen die Anzüge der Meegs über so etwas wie …« »Scheinwerfer?« Es war Uwegra, der den Hauptmann kurzerhand unterbrach. »Natürlich.« Die Nogk traten sogleich den Beweis von Uwegras Behauptung an; ihre künstlichen Lichtquellen standen denen der Terraner in nichts nach, reichten sogar weiter, streuten breiter. Trotzdem schafften auch sie es nicht, mehr als maximal hundertzwanzig Meter einiger‐ maßen auszuleuchten. »Warum frage ich auch«, versetzte Hauptmann Schwengers und lächelte flüchtig. »Natürlich haben unsere nogkschen Freunde Scheinwerfer.« »Was tun wir, Sir?« fragte sein Stellvertreter, Leutnant Buck. »Weitergehen, vorsichtig. Achtet auf Fallen.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Ren Dhark, der sich zwei Schritte hinter der Mauer der Gardisten befand, die sich in Bewe‐ gung setzten und ihre Standardformation bei der Erkundung frem‐ der Umgebungen auf unerforschten Welten oder in fremden Raum‐ stationen einnahmen.
»Das liegt nahe, Commander, nicht wahr?« Schwengers trug den schweren, entsicherten GEH&K Mark 10/62 in der Ellbeuge; vor dem Abstrahlkegel flimmerte das Projektions‐ feld. »Natürlich, Hauptmann«, erwiderte Dhark und nickte. Hatte er anfänglich seine Zweifel gehabt, so war er mittlerweile von der Integrität und Führungsqualität des Offiziers mehr als überzeugt, der inzwischen viele Male gezeigt hatte, daß er nicht umsonst diesen Rang innehatte. Von dem vierschrötigen Deutschen Mitte 30 ging die Rede, er sei hart und sensibel zugleich. Der Volk‐ smund hatte dafür eine treffendere Bezeichnung: harte Schale, weicher Kern. An sich ein Widerspruch, doch Härte im Beruf und Einsatz einerseits, Verständnis und Sensibilität im Privatleben oder anderen, schwächeren Menschen gegenüber andererseits waren das Merkmal vieler herausragender Männer. Schwengers hatte hervorragende militärische Qualifikationen und war zudem promovierter Mathematiker mit Schwerpunkt 5‐D‐Mathematik. Die Beurteilungen in seiner Personalakte waren ohne Fehl und Tadel, Dhark hatte vor dem Start der REESCH II einen Blick darauf werfen können und neben all den Belobigungen, Auszeichnungen und Bewertungen ein menschliches Schicksal entdeckt, von dem der Hauptmann zu keiner Zeit Aufhebens machte. Ein Schicksal, das mit den dunkelsten Stunden der Menschheit eng verknüpft war. 2028 geboren, hatte Schwengers 2050 noch sehr jung geheiratet. Das junge Glück wurde nicht einmal ein Jahr später brutal zerstört, als die Giants am 29. Mai 2051 die Erde sowie deren Kolonialplane‐ ten überfielen und die Bevölkerung brutal durch mentale Beeinf‐ lussung versklavten. Die Giants, die sich selbst als All‐Hüter bezeichneten, verschlepp‐ ten damals Millionen von Terranern auf andere Welten und töteten mindestens ebensoviele durch ihre unmenschlichen Experimente.
Peter Schwengers hatte an den Kämpfen zur Befreiung von der Giant‐Herrschaft teilgenommen – draußen im Raum, fernab von den Geschehnissen auf Terra und von seiner jungen Frau. Ein Schicksal wie Millionen andere auch zu diesem Zeitpunkt. Nachdem das Joch der Giants abgeschüttelt gewesen war, war Schwengers zur Erde zurückgekehrt und hatte sich umgehend auf die Suche nach seiner Frau gemacht. Eine vergebliche Suche. Er fand keine Spur mehr von ihr; sie war und blieb verschwunden, war allem Anschein nach tot. Allerdings hatte er sie bis heute nicht für tot erklären lassen. Er war keine neue Verbindung mehr eingegangen, lebte allerdings nicht allein. Sein bester Freund war heute ein eindrucksvoller Rott‐ weiler namens »Sergeant Berry« (vermutlich nach einem alten deut‐ schen UFA‐Film), der in seinem kleinen Haus in Star City untergeb‐ racht war und während seiner Einsätze vom humanoiden Hausdie‐ nerroboter betreut wurde. Peter Schwengers war im Grunde ein sehr wohlhabender Mann. Er hatte reich geerbt, nachdem das Familienunternehmen in Mön‐ chengladbach an einen weltweiten Investor verkauft worden war. Er hätte das Arbeiten eigentlich nicht nötig gehabt und durchaus das angenehme Leben eines reichen Müßiggängers führen können, aber er war aus Idealismus bei der TF geblieben und würde sie so schnell auch nicht verlassen …
3. Die Truppe hatte sich unter Beachtung aller Sicherheitsvorkeh‐ rungen wieder in Bewegung gesetzt. Scharfe Augen hinter den Klarsichtscheiben der Helme beobach‐ teten aufmerksam die Umgebung, die unter der merkwürdigen Be‐ leuchtung keine klaren Konturen anzunehmen gedachte. Zitternd tasteten die bleichen Finger der Scheinwerfer über unbekannte zy‐ linderförmige Maschinen, die wie groteske Fabelwesen am Rande ihrer Wahrnehmung hockten und nichts als Fremdheit verbreiteten. Dann wich das Labyrinth aus Schatten und unidentifizierbaren Dingen etwas zurück; Lichtquellen an der Decke beleuchteten wie Straßenlaternen im Londoner Nebel eine breite Gasse, die sich ein‐ ladend vor der Truppe öffnete; das Licht fiel von der Decke und schuf ringförmige Inseln auf dem Boden. Die Männer stoppen kurz. Sie bildeten dabei einen Halbkreis, mit nach außen gewandten Gesichtern und – viel wichtiger – Karabi‐ nermündungen. »Was tun wir, Sir?« Buck beobachtete sein am Karabiner angestecktes Spürgerät, ohne die Umgebung dabei auch nur für eine Sekunde aus dem Auge zu lassen. Alle seine Sinne arbeiteten mit mindestens 150 Prozent ihrer normalen Leistung; das Adrenalin brauste durch seinen Körper. »Weitergehen«, antwortete Schwengers auf die Frage des Leut‐ nants. Der Hauptmann, Leutnant Buck, Jong Park sowie fünf weitere Gardisten, darunter Kurban, Naha und Giff, aktivierten die Prall‐ schirme ihrer Multifunktionsanzüge und liefen los. Sie erreichten den ersten der beleuchteten Kreise – und traten in die Lichtinsel, ohne daß Feuerregen von der Decke fiel oder sonstige biblische Pla‐ gen sich bemerkbar machten.
Vor allem kam kein Schwarzstrahlbeschuß aus verborgenen Ge‐ schütznestern. »Alles klar«, sagte Buck und entließ mit einem Schnauben den zurückgehaltenen Atem. »Keine …« Der Leutnant wurde jäh unterbrochen, als Gardist Giff mit einem kehligen Laut aufstöhnte und in einer sinnlosen Bewegung die freie Linke in Höhe der Schläfe gegen die Außenseite des Helms schlug, als litte er unter wahnsinnigen Kopfschmerzen. Die anderen Gar‐ disten folgten seinem Beispiel postwendend; die Luft war von Stöhnen und würgendem Atmen erfüllt. Die Multikarabiner entfie‐ len den kraftlos geworden Fingern und polterten zu Boden. »Was ist los mit euch?« riefen Schwengers und Buck gleichzeitig, während die Männer vor einem unsichtbaren Schmerz auf die Knie fielen und sich nach vorne beugten in dem vergeblichen Versuch, einer Höllenqual zu entkommen, die ihre Sinne vernebelte. Der Hauptmann machte noch ein paar schnelle Handbewegungen, die den nachfolgenden Wissenschaftlern um Commander Dhark, Amy und den Nogk bedeuteten zurückzubleiben – sie hatten den Lichtkreis noch nicht betreten –, bevor er übergangslos von dem gleichen Phänomen zu Boden gezwungen wurde und sich stöhnend und würgend krümmte. Im gleichen Moment wurde Buck ebenfalls von heftiger Übelkeit und einem allumfassenden Schwindelgefühl gepackt, das jeden sei‐ ner Sinne in Aufruhr versetzte. Mit aller Kraft den Brechreiz un‐ terdrückend, der die Möglichkeiten seines Regenerationspacks im MFA überfordert und ihm wahrscheinlich den Erstickungstod ge‐ bracht hätte, versuchte er, auf den Beinen zu bleiben. Der Versuch mißlang. Auch Buck verlor das Gleichgewicht und stürzte wie die anderen zu Boden. Das alles geschah in völliger Lautlosigkeit, zumindest drang kein Geräusch über die Außenmikrophone an die Ohren der Männer. Eine unheimliche Ruhe herrschte.
Nichts rührte sich. Und doch sah Buck, der mit der linken Gesichtshälfte auf dem Boden lag, wie der Staub vor seinen Augen rhythmisch etwa eine Handbreit »hochhüpfte«, als würde er durch Schläge auf ein straff gespanntes Trommelfell dazu angeregt. Und blitzartig erkannte er, was da mit ihnen geschah. Er öffnete den Mund, zwang sich zu sprechen, ehe er gänzlich die Orientierung verlor und in diesen Alptraum hineingerissen wurde, der wie ein alter Handschuh sein Innerstes nach außen stülpte. »Die Lichter! Schießt … die … Lichter aus«, röchelte er über den Außenlautsprecher, ehe ihm die Stimme zu versagen drohte. »Es … sind … sind Abstrahlpole … Schnell!« Amy Stewart reagierte aufgrund ihrer Konditionierung noch vor allen anderen. Kurt Buck hatte noch nicht mal ausgesprochen, da hatte sie schon ihren Multikarabiner in die Höhe gerissen und auf die Lichtquelle unter der Hallendecke gerichtet, von der der Leutnant behauptete, es würde sich nicht nur um Lampen, sondern auch um die Abstrahlpole von etwas anderem handeln. Gleichzeitig mit die‐ ser Bewegung schaltete sie den Karabiner auf Duststrahl um. Die Waffe begann in ihren Händen kurz zu vibrieren, die Bereitschafts‐ anzeige zeigte Grün, und Amy feuerte. Ein olivgrüner Duststrahl griff nach dem getarnten Abstrahlkegel, und er rieselte mitsamt einem Stück der Decke als amorpher Staub zu Boden. »Nehmt euch die anderen vor!« setzte sie zu einem Warnschrei an, aber im gleichen Moment flammte bereits ein zweiter und dritter Duststrahl auf. Dhark, Uwegra und ein anderer Meeg hatten kaum weniger schnell reagiert als der Cyborg und ebenfalls geschossen. Ihre Ziele waren die weiter hinten liegenden »Deckenlampen«. Die Reihe der Lichtkreise auf dem Boden erloschen. Die Männer, die eben noch meinten, sie müßten eines rätselhaften Todes sterben, kamen wieder zu Bewußtsein, merkten, daß es vorbei
war. Die Schmerzen und die entsetzliche Übelkeit ließen nach und vergingen so rasch, wie sie gekommen waren. Schwengers setzte sich benommen auf und wirkte orientierungs‐ los, doch schnell klärte sich sein Blick wieder. »Prallfelder abschal‐ ten. Was, um alles in der Welt, war das?« brachte er hervor. »Ich weiß es nicht«, bekannte Tom Giff tonlos. »Doktor! Helfen Sie Ihren Kameraden«, ordnete Dhark an und hatte, ohne daran zu denken, daß eigentlich Charaua das Kom‐ mando über die Mission hatte und für Befehle zuständig war, die Initiative an sich gerissen. Doch der weise Nogk‐Regent ließ seinen Freund gewähren und focht dessen momentane Führungsrolle nicht an. »Schon dabei, Commander.« Der Arzt machte die Runde bei den Betroffenen, die sich rasch und sichtbar von dem heimtückischen Angriff erholten und heilfroh waren, daß sie noch alle am Leben waren. »Können Sie uns schon etwas über die Ursache verraten, Doc?« Der Gardist mit Namen Rick Edwards war der Mediziner des Zugs und trotz seiner Jugend ein promovierter Arzt, der von allen nur »Doc« genannt wurde. Er war groß und mager und hatte dichte schwarze Locken, die die Blässe seines Gesichtes noch unterstrichen, wenngleich unter dem Kampfhelm des MFA momentan davon nichts zu sehen war. Als Kind hatte Edwards darunter gelitten, daß ihn die Jungen in seiner Straße ständig Wuschelkopf riefen. Das taten sie aber nur solange, bis er sich den größten von ihnen vornahm und ihm in ei‐ nem halbstündigen Kampf die Nase blutig schlug. Dann war Ruhe. Seinen Wuschelkopf behielt er trotzdem, auch später, als er die Highschool besuchte und sich nach vorzeitigem Abschluß für die Aufnahme in die Schwarze Garde qualifizierte. Er hätte sich die wie elektrisch aufgeladen wirkenden Haare streichholzkurz schneiden lassen können, weigert sich aber strikt, weil er glaubte, ansonsten wie Samson seine Kraft zu verlieren. Statt dessen bändigte er sie im
Einsatz mit einem zusammengerollten schwarzen Tuch. Schwarz war nun einmal die Erkennungsfarbe der Garde. »Dazu ist es noch zu früh, Commander«, sagte er zu Dhark. »Ich bin zwar gut, aber nicht so gut. Sie erlauben, daß ich mir zunächst ein Bild mache? Außerdem stehen Sie, bei allem Respekt, ein wenig im Weg herum.« »Natürlich, Doc«, murmelte Dhark und machte Platz. Hinter sei‐ nem Rücken glaubte er das amüsierte Lachen von Amy zu hören. Als er sich zu ihr umdrehte, blickte sie jedoch so unverfänglich, als könne sie kein Wässerchen trüben. »Ja, Ren?« Er räusperte sich kurz. »Nichts«, antwortete er und wandte sich wieder dem Geschehen zu. Doc Edwards untersuchte die Gardisten und den Hauptmann rou‐ tiniert und in gebotener Schnelligkeit mit seinem Handdiagnosege‐ rät. »Es ist natürlich nur eine ziemlich oberflächliche Angelegenheit, ich weiß«, bekannte er. »Ich kann auch nur das Medo‐Modul eines jeden von außen abfragen. Für eine umfassende Untersuchung wäre ein Raum mit entsprechenden Diagnosegeräten vonnöten.« »Ich bin sicher, Sie können uns auch unter den gegebenen Ver‐ hältnissen eine vernünftige Analyse liefern, Doc«, zeigte sich Schwengers überzeugt. »Natürlich, Sir, obwohl mir einiges merkwürdig erscheint.« »Sagen Sie uns einfach, ob es mit dem Hyperraum zu tun hat.« Rick Edwards sah seinen Kommandeur erstaunt an. »Nein, Sir. Das kann ich definitiv ausschließen.« Schwengers und die Gardisten zeigten sich erleichtert; sie waren nicht kontaminiert. »Warum fragt mich denn niemand«, meldete sich plötzlich Kurt Buck, wieder auf den Beinen stehend, zurück. »Ich denke, ich weiß, worum es sich handelte.« »Reden Sie, Leutnant«, forderte ihn Schwengers auf. »Beziehen Sie sich auf die von Ihnen erwähnten Abstrahlpole?«
»Ja. Es waren Ultraschallgeneratoren.« »Sie meinen, wir wurden von Schallwellen attackiert?« Haupt‐ mann Schwengers zeigte offenkundig Unglauben. »Das könnte die Lösung sein«, bestätigte Rick Edwards und wirkte erleichtert. »Mir waren die von Ihnen geschilderten Symptome ir‐ gendwie rätselhaft, obwohl sie eigentlich genau in diese Richtung wiesen.« »Ich bitte Sie, Doc. Kann man jemand mit Schallwellen umbrin‐ gen?« »Natürlich, Sir. Die belegten Fälle sind Legion.« »Klären Sie uns auf. Wie geht das?« »Indem die miteinander verbundenen Gehörknöchelchen des menschlichen Mittelohrs, also Malleus, Incus und Stapes, durch ge‐ zielten Beschuß mit Ultraschall zerstört werden.« Schwengers wirkte ungeduldig. »Doc, reden Sie so, daß auch wir Normalsterblichen, die nicht dem heiligen Äskulap huldigen, es verstehen.« »Ja, Sir. Damit bezeichnet man den Hammer, den Amboß und den Steigbügel, die Sie vielleicht noch aus dem Biologieunterricht ken‐ nen.« Doc Edwards war unbestreitbar in seinem Element. »Was ich sagen will«, fuhr er fort, »ist, der Bruch eines dieser Gehörknöchel‐ chen ruft schwerste Schwindelgefühle und ein schweres Ohrenrau‐ schen hervor, einen extremen Tinnitus also, der in neunundneunzig Prozent aller Fälle zu einem Riß der unteren Balkenarterie im Bereich des Cerebellums führt. Dieser Riß wiederum verursacht Blutungen in die vordere und mittlere Grube des Craniums an der Schädelbasis, wodurch ein immenser Druck auf den Hirnstamm ausgeübt wird …« »Doc!« Schwengers wirkte ungeduldig. »Können Sie das nicht et‐ was vereinfachen?« »Na gut, wenn Sie Wert darauf legen, Sir. Also, durch diesen Druck kommt es zu einem jähen und extrem heftigen Schwindelgefühl, zum abrupten Verlust des Gleichgewichtssinns, zu Erbrechen,
schubartigen Schmerzen im Schädelbereich und plötzlichen Krämpfen. Der Betroffene erleidet einen Gehirninfarkt, dieser führt zur Bewußtlosigkeit und innerhalb kürzester Zeit zum Tod.« »Was das betrifft«, meinte Schwengers und schien einen Kloß im Hals zu haben, »haben unsere Gegner wohl die menschliche Phy‐ siologie falsch berechnet.« »Geben Sie sich keiner Illusion hin, Sir«, entgegnete Rick Edwards und packte sein Diagnosegerät wieder weg. »Sie haben Ihr Leben nicht der mangelnden Kenntnis der Grakos über die menschliche Natur zu verdanken, sondern MFA und Prallfeldschirmen, die das meiste abhielten. Ohne deren Schutz hätte niemand die Schallattacke länger als zehn Sekunden überstanden.« * »Wir gehen weiter«, gab Schwengers durch, der sich mit Charaua kurz verständigt hatte. Geschlossen setzte der Trupp seinen Vormarsch durch die Hyper‐ raumstation fort. Scharfe Augen, menschliche wie nogksche, suchten gezielt die eigentümliche Umgebung nach neuerlichen Fallen ab. Bis auf ein gelegentliches Klingeln in den Ohren hatte jeder der Betroffenen die Ultraschallattacke weggesteckt; aber auch das würde in Kürze vergehen. Doc Edwards war zuversichtlich. Seinen Worten zufolge waren Nachwirkungen oder Spätfolgen nicht zu erwarten. Das Prallfeld des Pressorgeschützes fiel immer wieder mal kurz‐ zeitig aus, ehe es sich wieder regenerierte. Diese ärgerlichen Stops verzögerten ihren Vormarsch aber nicht wesentlich. Der Boden stieg an; über eine breite Rampe gelangten sie in eine höhergelegene Ebene. Dort angekommen, schwärmten zehn der Gardisten zunächst einmal aus, um ihren Vormarsch zu sichern, bevor die restlichen Mitglieder des Kommandos Hyperraumstation folgten.
»Warum habe ich das Gefühl, wir würden ständig beobachtet?« brummte Naha und suchte Wände und Decken nach Anzeichen darin versteckter Schwarzstrahler ab. »Weil es vermutlich so ist«, erwiderte Kurt Buck, hob den Karabi‐ ner, um die Wand über ihm in Augenschein zu nehmen; er bediente sich dabei des Laserzielgerätes, das ihm eine Nahaufnahme der be‐ treffenden Stelle direkt auf die Innenseite seines Helmvisiers spie‐ gelte. Sie schien unverfänglich zu sein, zumindest sprach die Freund‐ feindkennung, die auch auf Waffenenergie reagierte, nicht an. »Hast du Beweise?« »Nein. Du?« »Nein.« »Na also.« Buck wandte seine Aufmerksamkeit naheliegenderen Dingen zu, so der Tatsache beispielsweise, daß er Hunger verspürte. »Sobald wir an eine geeignete Stelle kommen, legen wir einen Halt ein«, gab Hauptmann Schwengers zu verstehen, als ihm Buck, der sich mit seinen Kameraden darin einig sah, eine Pause vorschlug. »Dann könnt ihr euch stärken.« »Pah«, gab Tim Acker mit halblauter Stimme zu verstehen; der füllige Worgun‐Mathematiker war als ein Mann bekannt, der leibli‐ chen Genüssen sehr aufgeschlossen gegenüberstand. »Wenn ich schon das Wort ›stärken‹ höre, überläuft es mich kalt. Nichts anderes als Wasser und Nahrungskonzentrate.« Er seufzte. »Ach, was gäbe ich für ein Filet Mignon …« »Ich verstehe Sie ja, Mister Acker«, sagte Schwengers mit mitfüh‐ lendem Tonfall in der Stimme. »Aber in einem Kampfeinsatz wie diesem müssen halt alle Opfer bringen. Sobald wir ihn hinter uns haben, steht es Ihnen frei, uns ins Los Morenos einzuladen.« Die begeisterte Zustimmung der Gardisten erfüllte kurzzeitig den Raum. »Ruhe auf den billigen Plätzen, meine Herren!« befahl Schwengers und hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»Gierige Bande«, knurrte Tim Acker. »Aber von mir aus.« »Menschen!« richtete Uwegra seine Gedankenimpulse an seinen Herrscher und schüttelte die Fühlerpaare, als erkläre das alles. »Freunde«, präzisierte Charaua auf die gleiche Weise. »Sie haben in der Tat eine eigenartige Gabe, mit Grenzsituationen umzugehen.« * Sie setzten ihren Weg fort. Bislang war es noch nicht wieder zu Überfällen und Kämpfen ge‐ kommen. Es hatte fast den Anschein, als seien diese Bereiche der Schattenstation verlassen. Aber das konnte täuschen. Es täuschte sogar sicher, wie sich bald herausstellen sollte. Sie legten eine nicht unerhebliche Strecke ohne Komplikationen oder Störungen zurück. »Wissen Sie, woran mich das erinnert?« sagte Vandekamp zu Ren Dhark. »Nein. Reden Sie, Ha‐Zeh!« Vandekamp, der eine führende Position in der Wissenschaftlichen Abteilung der POINT OF hatte, meinte mit einem Zögern in der Stimme: »An eine unfertige Station.« »Wie kommen Sie darauf?« »Das kann ich nicht genau definieren, Ren«, räumte er ein. »Wenn wir davon ausgehen, daß diese Hyperraumstation für den Zweck gebaut worden ist, den wir vermuten beziehungsweise annehmen, müßte sie eigentlich vor Geschäftigkeit aus allen Nähten platzen.« Vandekamp hatte nicht unrecht mit seiner Meinung. Statt dessen hätten sie ebensogut auf einem unbewohnten Planeten sein können. Lediglich die künstliche Umgebung machte deutlich, wo sie sich wirklich befanden. Sie bewegten sich durch ein Labyrinth aus Gän‐ gen und Hallen, eingehüllt in ein diffuses Licht, das alle Kontraste
stark dämpfte und den Männern und Amy Stewart seltsam rötliche Gesichter verlieh. »Da ist was dran«, antwortete Ren und nickte unwillkürlich. »Aber es kann nur zu unserem Vorteil sein, wenn die Station noch nicht ihre volle Kapazität erreicht haben sollte.« »Richtig, Commander«, ließ sich Hauptmann Schwengers hören, und er fuhr fort: »Vermutlich hätten wir sonst mit viel mehr Wider‐ stand zu kämpfen gehabt und wären vor allem nicht so weit ge‐ kommen.« »Apropos weit gekommen, Sir«, ließ sich Buck hören. »Ich schlage vor, wir legen einen Stopp ein. Sofort!« Der Trupp blieb augenblicklich stehen. »Was gibt es, Leutnant?« »Dort vorne«, sagte Kurt Buck. »Sehen Sie das?« Schwengers und Dhark blickten in die angegebene Richtung und entdeckten, was Buck meinte: Unweit von ihnen war bei genauem Hinsehen zu erkennen, daß ein kreisrunder Teil des Bodens anders strukturiert war als der übrige Teil. »Was vermuten Sie, Leutnant?« Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Einen Hinterhalt?« Kurt Buck blickte suchend umher. »Ich brauche etwas zum Wer‐ fen«, ließ er wissen, ohne zunächst auf die Frage seines Vorgesetzten einzugehen. »Wie wäre es damit?« Gardist Naha reichte ihm ein Stück Metall, das er vom Boden auf‐ geklaubt hatte, wo es herrenlos herumgelegen hatte. Buck wiegte es in der Hand. »Ja. Könnte klappen. Es ist nur so ein Gefühl, Sir«, meinte er an Hauptmann Schwengers gewandt und beantwortet damit endlich dessen Frage. »So, so, ein Gefühl«, brummte Schwengers. »Dann lassen Sie mal Ihrem Gefühl freien Lauf, Leutnant.« »Bin schon dabei, Sir.« Buck holte zum Wurf aus und schleuderte das Metallstück in Richtung der genarbten Fläche. Es beschrieb eine
Parabel, senkte sich zu Boden, etwa im Mittelpunkt der Fläche, und verschwand, als wäre da nichts vorhanden. Die Oberfläche kräuselte sich wie Wasser, in das ein Stein geworfen wurde. Buck bemühte sich, seine Befriedigung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Wenn er etwas in der Schwarzen Garde gelernt hatte, dann war es, auf keinen Fall klüger als die Vorgesetzten zu erscheinen. Es war Dhark, der nüchtern feststellte: »Eine holographische Pro‐ jektion.« »Das haben wir gleich«, drängte sich Vincente Margarita in den Vordergrund. Er richtete eines seiner tragbaren Meßinstrumente auf die Stelle, an der das Metallstück im Boden verschwunden war. Etwas summte, und vor der Gruppe bildete sich ein kreisrundes Loch von erheblichem Durchmesser im Boden, als die Illusion der festen Oberfläche verschwand. »Wir wären genau hineingetappt«, sagte jemand in das Schweigen. »Zumindest einige von uns, ja«, antwortete ein anderer. Sie standen in einem Dreiviertelkreis um den kreisrunden, riesigen Schacht herum, der ins Nichts zu führen schien, und blickten hi‐ nunter in die gähnende Tiefe – oder vielleicht hinaus? Wer ver‐ mochte das schon zu sagen? Amy trat bis dicht an den Rand. Was sie sah – genauer gesagt, was sie nicht sah – gefiel ihr überhaupt nicht. Zu Beginn konnte man noch die Wände erkennen, dann verloren sich die gebündelten Strahlen ihrer Scheinwerfer in einer undurchdringlichen Schwärze. Es war unmöglich, zu schätzen, wie tief der Schacht reichte. »Wo er wohl hinführt?« fragte sie. »Vincente, was sagen Ihre Instrumente?« »Keine Ahnung, Commander«, erwiderte der Wissenschaftler auf Dharks Frage. »Es gibt zu viele widersprüchliche Daten. Ich vermu‐ te, daß dieser Schacht direkt im Hyperraum endet. Ich nehme an, keiner hat Lust herauszufinden, wohin er führt?« Niemand antwortete auf diese rhetorische Frage.
»Sehen wir mal, ob wir etwas erkennen können.« Buck griff sich eine Leuchtgranate aus seinem Arsenal, zündete sie und warf sie mit einer schnellen Bewegung in die Tiefe. Sekunden vergingen. »Jetzt«, sagte der Leutnant. Etwa dreihundert Meter unter ihnen flammte eine grelle Minia‐ tursonne auf – und erlosch wieder, noch ehe die Sichtscheiben ihrer Helme abblenden konnten, um ihre Augen vor dem grellen Schein zu schützen. »Hat jemand etwas gesehen?« fragte Amy. »Dazu war gar keine Zeit«, bekannte Dhark nüchtern. »Ging alles zu schnell«, bestätigte Tim Acker. »Die Granate hätte viel länger brennen müssen«, versicherte Buck. »Der Hyperraum«, sagte Vincente Margarita. »Hier herrschen an‐ dere Gesetzmäßigkeiten als im normalen Universum.« »Gehen wir weiter«, ordnete Hauptmann Schwengers an; der wuchtige Deutsche drängte erkennbar zur Eile. Sie umgingen im Gänsemarsch den Schacht, mehr Platz war weder links noch rechts vorhanden, und nahmen danach die gewohnte Formation wieder auf. * In den Hinterhalt gerieten sie zehn Minuten später. Sie passierten gerade wieder einen der unzähligen Räume, die sich wie an einer Perlenschnur entlang des Hauptkorridors dieser Ebene reihten, als ihnen unversehens ein Schott den Weg versperrte. Auch hier war eine schmucklose Platte mit Symbolen in die Wand eingelassen, wie bei dem Schott, das sie in letzter Sekunde zu öffnen in der Lage gewesen waren, bevor ihnen der explodierende Halb‐ raumgleiter um die Ohren fliegen konnte. Schwengers forderte mit einem Handzeichen Vincente Margarita auf, sich darum zu kümmern.
Es gab in der gigantischen Schattenstation zwar nichts, was man ohne weiteres mit herkömmlichen Begriffen aus dem Angloter hätte belegen können, nicht einmal ansatzweise waren Ähnlichkeiten zu entdecken, aber der Worgun‐Mathematiker hatte ein Steuergerät entwickelt, basierend auf seiner speziellen Metalogik, das mit den Sperrkreisen geschlossener Schotts in dieser Hyperraumstation fertig wurde. Nach ziemlich genau dreißig Sekunden steckte der Wissenschaftler das Kombigerät in die Gürteltasche zurück, legte die behandschuh‐ ten Hände flach gegen das Metall und drückte dagegen. »Das ging rascher, als ich erwartet habe«, sagte er im anerkennenden Tonfall über seine eigene Leistung. Das Schott schwang auf und – »Vorsicht!« schrie Buck, sprang vor Margarita, um ihm Deckung zu geben, und riß gleichzeitig den Karabiner hoch. Fast zeitgleich entluden sich auch die Waffen von Kurban und Naha neben ihm. Ihre präzise gezielten Feuerstöße trieben die acht Roboter auseinander, die ihnen hinter dem Schott aufgelauert hatten. Während Buck die Roboter nicht aus den Augen ließ, sondierte er zur gleichen Zeit den Raum, der vor ihnen lag. Die Örtlichkeit äh‐ nelte keiner, die sie bisher gesehen hatten. Da niemand von den Terranern auch nur die geringste Ahnung hatte – ob das für die Nogk gleichermaßen galt, wußte Buck nicht zu sagen –, nach wel‐ chen Kriterien die Räume in der Hyperraumstation gestaltet waren und welche Prinzipien der Einrichtung zugrunde lagen, konnte nicht einmal bestimmt werden, ob sie eine Lagerhalle oder eine Schalt‐ zentrale vor sich hatten. Es konnte sich auch um eine Halle für Energieerzeuger oder für Reparaturzwecke handeln. Die Technolo‐ gie der Grakos war für die Terraner nur schwer zu durchschauen. Aus dem Hintergrund tauchten weitere Roboter auf und griffen unverzüglich in das Kampf geschehen ein. Über den Terranern und Nogk eröffneten hoch an den Wänden angebrachte automatische Schwarzstrahler das Feuer auf die Gar‐
disten und Meegs, die in den Raum stürzten, links und rechts zur Seite wichen und aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich sprangen. Dabei feuerten sie pausenlos ihre Waffen ab. Die irisierenden Energielanzen der Schwarzstrahler hatten Schwierigkeiten, Ziele zu erfassen, und schlugen statt dessen in Wände und Boden. Metall schmolz und wurde im gleichen Sekun‐ denbruchteil zu schwarzem, kristallinem Staub. Gleichzeitig war ein durchdringendes Heulen und Schrillen zu hören; es klang wie ein zur Weißglut gereizter Hornissenschwarm. Mehrere Strahlen trafen Jong Park. Buck sah aus den Augenwin‐ keln, wie der Prallschirm des Koreaners zu flackern begann und merklich schwächer wurde. Dann drängte sich Tom Giff neben den Kameraden, und die beiden Prallfelder verschmolzen zu einem ein‐ zigen, verstärkten Schirm. Fahle Flammenzungen tanzten auf der Oberfläche dieses Schirmes und erloschen wirkungslos. Pariot und vier weitere Meegs kamen zur Hilfe; sie schossen schnell und präzise und erzielten Treffer auf Treffer, dabei zogen sie das Feuer der Schwarzstrahler auf sich und verschafften den Gar‐ disten etwas Luft. Auch Amy wurde beschossen, und hätte der weibliche Cyborg nicht den Vorteil seiner Reflexe besessen, wäre er mit Sicherheit ge‐ troffen worden. Mit fatalen Folgen, denn anders als die Gardisten waren die Zivilisten im Team – sie eingeschlossen – nicht durch MFA und Prallschirme geschützt. So aber jagten die schwarzen Strahlen an ihr vorbei und trafen statt dessen eine wuchtige, brummende generatorähnliche Maschine in ihrem Rücken, die sofort auseinan‐ derflog und feuerspuckend und qualmend ihren Geist aufgab. »Ren!« rief sie warnend, riß ihren Multikarabiner hoch und richtete ihn auf die Wand. »Schon gesehen«, antwortete er und tat es ihr nach. Die olivgrünen Duststrahlen griffen nach den verborgenen Ge‐ schützprojektoren – und wurden von Kraftfeldern abgeleitet. Offenbar hatten die Grakos dazugelernt.
Das mobile Pressorgeschütz auf seiner Prallfeldplattform wurde nach vorn beordert. »Geben Sie uns Feuerschutz, Fähnrich Kuzak!« kam die Order Schwengersʹ. Pressorstrahlen, ursprünglich eine Schwerkraftwaffe der Giants, erzeugten enorme Druckeffekte und wiesen eine energetische Ver‐ wandtschaft zu Intervallfeldern auf, auf die sie sogar einzuwirken imstande waren, ohne sie jedoch tatsächlich aufbrechen zu können. Nach der Entschlüsselung der Giant‐Technik avancierten mobile, auf Schwebeplattformen montierte Pressorgeschütze zur Ausrüstung der Schwarzen Garde. Inzwischen gehörten wesentlich verkleinerte und somit agilere Exemplare zur permanenten Einsatzausrüstung der Elitetruppe aus Star City. Unter dem konzentrierten Beschuß von Pressor und Dust gab ein Schwarzstrahler nach dem anderen den Geist auf und stellte das Feuer ein. Die Wand‐ und Deckensegmente, hinter denen die Ab‐ strahlpole versteckt gewesen waren, zeigten tiefe Narben mit schar‐ tigen, zerfransten Rändern. Sprungartig stieg die Temperatur in der Halle an; Rauch waberte und kroch wie ein amorphes Wesen unter der Decke entlang. Auf dem Boden ging inzwischen der Angriff der Roboter mit un‐ verminderter Heftigkeit weiter. Sehr schnell waren die Maschinenwesen nicht, aber ihre Anzahl machte sie dennoch zu gefährlichen Gegnern. Buck stand wie auf dem Schießstand und schaltete mit gezieltem Feuer einen Roboter nach dem anderen aus; sein Prallschirm leuch‐ tete immer wieder auf, wenn er selbst getroffen wurde. »Vorsicht!« gellte Naha plötzlich. »Kopf runter, Kurt!« Buck fuhr herum, sah Nahas Augen auf sich gerichtet – und die bösartig glühende Projektormündung seines GEH&K 10/62. Sie zielte direkt auf ihn. Mit einem stoßartigen Ausatmen ließ er sich fallen, als sein Kamerad abdrückte. Naha hatte auf Dust umgeschal‐ tet, das hätte selbst Bucks Prallschirm zum Kollabieren gebracht,
wäre durch irgendeinen dummen Zufall die Freundfeindkennung ausgefallen. Auch der getroffene Roboter war nur noch ein schwar‐ zer Haufen auf dem Boden. »Danke, Kumpel«, sagte Buck und grinste flüchtig. »Keine Ursache, Leutnant. Kostet dich nur einen Milchshake in der Bar.« Dann verbot sich jede weitere Diskussion. Immer neue Maschinen drangen in den Raum und eröffneten das Feuer auf Terraner und Nogk. Margarita, Vandekamp, Acker und Monty Bell hatten sich in den relativen Schutz des Pressorgeschützes auf der Schwebeplattform begeben. Charaua lehnte diese Art der Existenzsicherung kategorisch ab und benutzte seinen Multikarabiner, den er wie alle in der Gruppe er‐ halten hatte, um aktiv am Kampf geschehen teilzunehmen. Ren hegte insgeheim den Verdacht, daß die Nogk von einer mi‐ niaturisierten Abart des Schutzschirmes umgeben waren, wie er in unvergleichlich größerem Maß die Erde seit dem Jahre 2057 um‐ spannte. Obwohl das Verhältnis Nogk und Terraner seit dem Erst‐ kontakt durchweg dem von Freunden entsprach, hatten die Nogk sehr wahrscheinlich noch längst nicht all ihre Geheimnisse techni‐ scher Natur mit den Menschen geteilt. Ebenso wie der Regent beteiligten sich auch die Meegs mit Uwegra an der Spitze intensiv am Kampf. Pariot war einer der eifrigsten Nogk‐Kämpfer. Zusammen mit Jong Park, den er anscheinend in seine Herz geschlossen hatte – oder was bei den Hybridwesen diesem Organ entsprach –, trieb er mit geziel‐ ten Schüssen aus dem Multikarabiner die Angreifer zur Verzweif‐ lung. Ein Roboter nach dem anderen fiel aus und wurde in metallene Fragmente zerlegt. Der Kampf hatte sich längst vom Schott in die Tiefe der Halle ver‐ lagert.
Und während der ganzen Schießerei wunderte sich Kurt Buck, weshalb die Roboter nicht auch aus der Höhe angriffen, sondern sich ausschließlich auf ihren Raupenketten und Rollen bewegten. Kannten sie kein Antigrav? Das konnte nicht sein, war sogar un‐ wahrscheinlich. Von anderen Einsätzen her wußte der Leutnant nämlich, daß sie sehr wohl flugfähig waren. Hatten sie etwa mit den gleichen unerklärlichen Phänomenen der Hyperraumeinflüsse auf ihre Technik zu kämpfen? Wenn ja, dann wäre es allerdings ein Treppenwitz der Geschichte. Man könnte auch von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen … Während sich ein Teil von Buck mit diesen Gedanken beschäftigte, funktionierte der andere in gewohnter Weise und so, wie er es sich in unzähligen Manövern antrainiert hatte. Die Feuerstöße aus seiner Waffe kamen präzise und waren tödlich für die Roboter, die von ihnen getroffen wurden. Einige der schwarzen Maschinen kamen ihm bedrohlich nahe. Die Explosivgeschosse aus dem Multikarabiner zerlegten die erste in metallene Fragmente. Buck schwenkte die Waffe und nahm den nächsten Angreifer ins Visier. Der getroffene Roboter zerplatzte förmlich und verstreute seine Einzelteile über den Boden; für Au‐ genblicke zappelten die Reste seiner Extremitäten infolge des Ener‐ gieüberschlags noch herum, dann waren sie nur noch lebloser Schrott. Der Kopf war alles, was einen einigermaßen intakten Eindruck machte. Dann tat Kurt Buck in den Augen seiner Kameraden etwas Eige‐ nartiges: Er griff sich den abgetrennten Kopf des Roboters der ihm vor die Füße gekullert war, und verstaute ihn in einem Netz, das er an seinem Gürtel befestigte. »Souvenir«, sagte er mit einem Grinsen zu Naha, der mit nicht ge‐ rade intelligentem Gesichtsausdruck sein Tun verfolgte. »Na, wenn du meinst«, brummte der Gardist und widmete sich wieder seiner Roboterabwehr.
Ein Feuerstoß brachte den nächsten Roboter zu Fall, er blieb zu‐ nächst einmal liegen, als würde er sich ausruhen, ehe er sich wie wild zu winden begann und sich dabei selbst zerlegte. Sekunden später quoll ein stickiger violettfarbener Rauch aus der Maschine, der sich rasch im Raum verflüchtigte. So plötzlich, wie er begonnen hatte, so schlagartig endete der Angriff der Grako‐Roboter wieder – aber nicht, weil sie sich ge‐ schlagen gaben. Es gab nur keine angreifenden Roboter mehr. Menschen und Nogk konnten aufatmen – wenn auch nicht wirk‐ lich. Ihr Kampf war ein Kampf gegen ein vielhäuptiges Ungeheuer; schlug man ihm den einen Kopf ab, wuchs sofort ein anderer nach. Offenbar wurde jeder dieser Angriffe von den Grakos koordiniert. Wo diese zu finden waren, konnte das Team nicht einmal ahnen. Vermutlich saßen sie in einer Zentrale und verfolgten jeden ihrer Schritte. Bis jetzt hatten sie noch nicht selbst in das Geschehen eingegriffen, hielten sich vornehm zurück und schickten immer nur ihre mecha‐ nischen Vasallen in das Schlachtgetümmel. Sie würden nicht ewig untätig bleiben. Darüber waren sich Dhark, Schwengers und Charaua einig. Irgendwann in nächster Zukunft würden sie sich zum Kampf stellen – nur waren sie in der vorteil‐ haften Lage, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Das Gesetz des Handelns lag bei ihnen.
4. Sie kamen relativ rasch voran; seit vierzig Minuten hatte sich kein Hinterhalt mehr aufgetan, keine Roboter versuchten mehr, sie auf‐ zuhalten. Dann tauchte ein Hindernis in Gestalt eines vier Meter hohen iris‐ förmigen Schotts auf. »Öffnen!« befahl Schwengers. Inzwischen hatten sie schon Routine darin; Buck hatte sich sein Spürgerät von Margarita modifizieren lassen, um nicht immer den Wissenschaftler in vorderster Front zu haben, wenn es galt, ver‐ schlossene Türen zu öffnen. Das Schott öffnete sich wie das Auge eines Riesen; die Spürgeräte zeigten keinerlei Aktivitäten dahinter. Mit vorgehaltenen Waffen und mit durch Adrenalin geschärften Sinnen drangen sie vor. Vor ihren Augen lag eine weitläufige Halle, die sich über zwei Ebenen erstreckte. Sie war wie die meisten größeren Räume, durch die man bereits gekommen war, gefüllt mit einem Labyrinth mäch‐ tiger schwarzer Röhren, welche sich kreuz und quer und scheinbar ohne Sinn und Verstand überschnitten. Ward stieß ein Knurren aus. »Ich hätte den Innenarchitekten längst gefeuert«, grunzte er grimmig. »Wer sich so etwas einfallen läßt, gehört geprügelt und mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt.« Sie hatten den Raum fast zur Hälfte durchquert, als sich etwa fünfzig Schritte hinter dem letzten Mann der Truppe geräuschlos eine Öffnung in der Wand bildete und eine Gruppe bizarrer Gestal‐ ten erschien. Erstmals zeigten sich die eigentlichen Herren der Station.
Vermutlich wollten sie sich unbemerkt anpirschen; die Nogk mit ihren halbtelepathischen Sinnen bemerkten dennoch ihre Präsenz und vereitelten das Vorhaben. Grakos! Uwegras Warnung kam auf direktem Weg in die Köpfe der Terraner; sie war schneller gedacht als gesprochen. Die Männer und Amy fuhren herum, reagierten, wie sie es unzäh‐ lige Male schon getan hatten, ob im Training oder bei realen Einsät‐ zen, und rissen die Waffen hoch. Binnen weniger Sekunden bildeten die Gardisten eine Abwehr‐ phalanx, verstärkt durch die Nogk. Die terranischen Soldaten akti‐ vierten erneut die Prallfeldschutzschirme ihrer MFA, obwohl die Energievorräte der Generatoren sich langsam dem Ende entgegen‐ neigten. Dhark holte scharf Luft, in seinem Magen bildete sich ein kalter Knoten. Das künstliche Licht spiegelte sich auf schimmernden schwarze Brustplatten, brach sich an gezackten Klauen und Fühlern. Es handelte sich zweifelsfrei um Grakos, die sich ihnen da in brutaler Deutlichkeit präsentierten. Und: Hier im Hyperraum waren sie ohne ihre Halbraumfelder unterwegs und deshalb klar zu erkennen. In ihren Chitinpanzern wirkten sie wie monströse Gottesanbete‐ rinnen. Ein durchdringendes summendes Geräusch wie von einer auf Hochtouren laufenden Bohrmaschine war zu hören. Dhark kannte das Geräusch, kannte es nur zu gut. Auf Robon hatte er es zum ersten Mal gehört, dann wieder auf dem namenlosen Pla‐ neten in der Quiet Zone, jenem entarteten Bereich im Zentrum der Galaxis, wo die Grakos als Vasallen den GʹLoorn dienten. Und später dann immer wieder während der vielen Kämpfe gegen die Geißel der Galaxis. »Deckung!« schrie er. Das starke Summen wuchs kurzzeitig an. Die Männer zogen unwillkürlich die Köpfe ein, obwohl sie von ihren Schirmen geschützt waren; ein Reflex, der noch aus Zeiten stammte, in denen ihre Vorfahren als steinzeitliche Jäger über die
Ebenen Nordeuropas gezogen waren und sich gegen Säbelzahntiger und Höhlenlöwen zu verteidigen hatten. Etwas zischte und heulte. Ein sirrender schwarzer Blitz fuhr mit dem Jaulen verdrängter, hochkomprimierter Luft in die Röhre, hin‐ ter der ausgerechnet Amy Deckung gesucht hatte. Dem Krachen einer Explosion folgte ein Bersten und Klirren, als die Säule sich aufspaltete und mit häßlichem Schrillen Bruchstücke und Splitter durch die Halle jagte. Aber da hatte Amy schon Schutz hinter einer anderen Röhre gefunden. Von dort aus feuerte sie zurück. Der Strahl aus ihrer Waffe schnitt einen Grako in zwei Teile; er stürzte leblos zu Boden, ohne in der sonst üblichen Thermoreaktion zu vergehen. Die anderen rückten unbeirrt weiter vor; an den Seiten ihrer ge‐ zahnten Beine wölbten sich dicke Muskelstränge, ungeheure Sprungkraft verratend. In den Klauen der oberen Greiforgane hielten sie gedrehte Stäbe aus bläulichschwarz schimmerndem Material. Sie waren die Quelle des Summens. Schwarzstrahler. Buck hob die Waffe in Schulterhöhe, sein Daumen schaltete auf Projektilfeuer um. Sein Blick nahm die Brust der Kreatur in den Fo‐ kus, wanderte dann nach oben, wo die Mandibeln am vorderen Ende des eiförmigen Kopfes mit dem Augenkranz in ständiger Bewegung waren. Dann drückte er ab. Der Feuerstoß trennte den Kopf mit chirurgischer Präzision vom Rumpf. Der Grako schien wie in Zeitlupe zu fallen und brach mit seltsam ineinander verknoteten Gliedmaßen zusammen. »Sie sind keine besseren Schützen als ihre Roboter!« ließ sich Wards laute Stimme hören. »Ich werde …« Er verstummte mit einem wilden Knurren, als ein schwarzer Blitz mit dem Zischen einer ge‐ reizten Kobra vor ihm den Boden fürchte, eine meterlange Spur in das Material brannte und ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Flu‐ chend rollte er sich zur Seite. »Habʹ ich es nicht gerade gesagt, miserable Schützen.«
»Du wiederholst dich, Ben.« Das war Kurban, der wenige Schritte von Ward entfernt aus der Deckung einer Röhre auf die Grakos feuerte. »Ich werde sie ein bißchen zum Stolpern bringen«, ließ Naha ver‐ lauten und griff nach einer Sprenggranate; sein Daumen drückte die Verriegelung nach innen. Der eiförmige, wie ein Fliegenpilz gemus‐ terte Sprengsatz flog im Bogen in Richtung der Grakos. Ein Feuerball wuchs zwischen den Insektenkriegern empor. Chitinpanzer brachen auf und verstreuten ihre Innereien. Dharks Strahler sandte pinkfarbene Lanzen aus, wobei er die Waffe in einem kurzen Schwenk nach rechts führte und auf diese Weise den Gang zwischen zwei Säulen säuberte. Unbeirrt näherten sich die verbliebenen Insektenkrieger. Konzentriertes Feuer aus den Waffen der Gardisten und Meegs schlug ihnen entgegen; sie konnten sich noch so schnell bewegen und ausweichen – einer nach dem anderen wurde getroffen. Selbst Charaua griff in das Geschehen ein. Pinkfarbene Strahlen zischten an Dhark vorbei, deren Schein die Luft zum Leuchten brachte, und trennten Gliedmaßen von Körpern. Mehrere der Grakos stürzten in einem Wirrwarr übereinander. Innerhalb von zwanzig Sekunden war alles vorbei, und die Insek‐ tenkrieger, die sie angegriffen hatten, lagen verbrannt und zerfetzt auf dem Hallenboden. Der aufgewirbelte Staub senkte sich und überdeckte alles mit einer feinen grauschwarzen Schicht. Menschen und Nogk kamen zögernd aus den Deckungen; scharfe Augen suchten die Decke nach versteckten Geschützpforten ab. Doch falls die Hyperraumstation hier über diese Waffen verfügen sollte, dann traten sie nicht in Aktion. Die Prallfeldschutzschirme wurden abgeschaltet. Der Angriff war ohne eigene Verluste über die Bühne gegangen, was man von den Grakos nicht sagen konnte; sie waren vollständig aufgerieben.
»Wir scheinen langsam in einen sensiblen Bereich zu kommen«, bemerkte Amy. »Alles deutet darauf hin«, stimmte Hauptmann Schwengers zu. »Die Überfälle gewinnen an Häufigkeit.« Er schwieg einen Moment. Dann traf er seine Entscheidung: »Also gut. Wir gehen in der Rich‐ tung weiter, die wir bisher eingeschlagen haben und befleißigen uns äußerster Vorsicht.« * »Sie haben was vor, Leutnant?« Schwengers sah von Dhark über Charaua hinüber zu Buck, der mit aufgestellten Beinen auf dem Boden hockte und die Ellbogen auf den Knien hatte. Nach der erfolgreichen Abweisung des Grakoangriffs waren sie weitergezogen und befanden sich jetzt in einer langgestreckten Hal‐ le, in der Reihen pylonenähnliche Säulen die Decke stützten. Die Halle machte in ihrer Gleichförmigkeit den Eindruck eines Reser‐ voirs für irgendwelche Flüssigkeiten, die möglicherweise einmal hier eingelagert werden sollten. Der richtige Platz für eine längst fällige Rast. Niemand konnte sich ihnen ungesehen nähern. Die mobilen Meßinstrumente zeigten zu‐ dem keine energetischen Aktivitäten in den Wänden oder der Decke, die auf das Vorhandensein versteckter Waffen hindeuteten. Kurzerhand hatte Schwengers im Einverständnis mit Charaua die Ruhepause angeordnet. Nun erholten sie sich von den Strapazen der letzten Überfälle durch Roboter und Grakos, die in ihrer Heftigkeit und Dauer doch erheblich an ihren Kräften gezehrt hatten. Es war kühl; die Außentemperatur betrug nicht mehr als fünf Grad. Doch niemand fror in den Raumanzügen. Dennoch empfand Dhark plötzlich ein unbändiges Verlangen nach heißem Kaffee.
Buck antwortete: »Ich könnte uns einen Aufrißplan dieser Station verschaffen.« »Habe ich doch richtig gehört«, versetzte Schwengers, und seine Stimme transportierte eine gehörige Portion Skepsis. »Hat das etwas mit diesem Roboterkopf zu tun, den Sie sich ge‐ krallt haben?« fragte Vincente Margarita. Manchmal befleißigte sich der Wissenschaftler einer etwas derberen Ausdrucksweise als ge‐ wöhnlich. »Oder ist er doch nur ein Souvenir für Ihre Freundin?« Na warte, Freundchen, dachte der junge Deutsche, während er laut antwortete: »Es hat mit diesem Kopf zu tun, ganz recht.« »Nun klären Sie uns schon auf, Leutnant«, forderte ihn der Hauptmann auf. »Sie sehen uns gebührend gespannt und haben unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit.« »Ja. Wie wollen Sie das anstellen?« hakte Dhark nach. »Wir hätten eigentlich schon früher darauf kommen müssen«, be‐ gann Buck. »Die Grako‐Roboter besitzen mit sehr hoher Wahr‐ scheinlichkeit einen genauen Lageplan der Station in ihrer Gedäch‐ tnisdatei. Anders würden sie sich in einem Gebilde, das ein Volumen von mehr als 6000 Kubikkilometern aufweist, nur verlaufen oder permanent im Kreis gehen. Immerhin handelt es sich um ein riesiges Areal mit unzähligen Ebenen, einer nicht überschaubaren Anzahl von Korridoren, Gängen und Straßen. Um das zu tun, wofür sie konzipiert sind, nämlich die Hyperraumstation gegen alle Arten von potentiellen Angreifern zu verteidigen, müssen sie wissen, an wel‐ chem Punkt sich gerade was tut. Und den müssen sie schnellstmög‐ lich erreichen. Das geht nur, wenn sie ständig Zugriff auf die jewei‐ ligen Koordinaten haben. Vermutlich haben sie permanent ein drei‐ dimensionales Bild der Station vor ihrem inneren Auge. Das könnten wir uns zunutze machen, indem wir diesen Wegeplan auf unsere Kombigeräte aufspielen.« »Vorausgesetzt, Sie kommen da dran«, meinte Monty Bell. »Nichts anderes habe ich vor«, bekräftigte Kurt Buck.
»Es könnte tatsächlich funktionieren«, murmelte Vandekamp. »Seltsam, daß ich nicht selbst darauf gekommen bin. Nun ja, manchmal sieht man vor lauter Hyperraumaktivitäten das Nächstliegende nicht mehr …« »Für mich klingt es einleuchtend«, sagte Amy Stewart und erntete einen dankbaren Blick von Buck. »In Ordnung, Leutnant. Fangen Sie an«, sagte Schwengers ent‐ schlossen. »Einen Versuch ist es allemal wert.« * Während sich die Gardisten etwas von den Strapazen erholten – die Meegs brauchten bekanntlich keine Ruhepausen innerhalb ihrer fünftägigen Wachperiode – und die Zivilisten mit ihren Meßinstru‐ menten beschäftigt waren, hatte der Leutnant den inaktiven Robo‐ terkopf nach einigen Schwierigkeiten geöffnet und halb zerlegt, um an den Speicher zu gelangen. »Hm«, sagte Buck nach kurzem Überlegen, »wie fange ich am besten an …« »Aller Anfang beginnt bekanntlich mit demselben«, konnte sich Ben Ward die Bemerkung nicht verkneifen. »He!« Buck wirkte ärgerlich. »Ich kann darüber nicht lachen.« »Müssen Sie auch nicht«, versetzte Schwengers. Und an den Stabsunteroffizier gerichtet, sagte er rügend: »Stören Sie nicht, Ward, und lassen Sie unser Genie reden, wenn es das Bedürfnis dazu ver‐ spürt.« Buck sah seinen Vorgesetzten mißtrauisch an. Klang da nicht eine Spur Ironie in dessen Stimme mit? Doch Schwengers blickte unver‐ bindlich und wertfrei. Und so arbeitete Buck an der Verwirklichung seines Vorhabens. Ben Ward, Stellvertreter des Leutnants und wie dieser Elektronikspezialist, assistierte ihm dabei, gab hin und wieder kurze Ratschläge, wenn er einmal ins Stocken geriet. Es sah nach wenig Arbeit aus, war aber dennoch nicht einfach, da die relativ
unsensiblen Handschuhe der Raumanzüge für eine derart feinfüh‐ lige Handhabung winzigster Bauteile alles andere als optimal waren. Die beiden Terraner hockten mit gekreuzten Beinen auf dem Bo‐ den, zwischen sich hatten sie das »Gehirn« des Grako‐Roboters, das mit der Energieversorgung von Bucks MFA durch die Nabelschnur dünner Leitungen verbunden war. Dabei gefiel sich Buck plötzlich in Selbstbemitleidung; ein unge‐ wohnter Zug, der Ben Ward fast erschreckte, ehe ihm aufging, daß es nur Streßabbau war, was sein Freund betrieb. »Was habe ich mir nur dabei gedacht?« murmelte der junge Deutsche. »Mich freiwillig dafür herzugeben. So ein Schwachsinn!« »Mach dich nicht verrückt«, tröstete Ward. »Das Ergebnis zählt, nichts sonst.« Die beiden Gardisten hatten ihre Helme mit dem zur Ausstattung eines jeden MFA gehörenden Spiralkabel verbunden, über das eine abhörsichere Verbindung mit einem Partner hergestellt werden konnte. So vermochten sie ungestört zu reden, ohne daß jemand mithören konnte. »Trotzdem hoffe ich natürlich, du weißt, was du tust«, fügte Ward mit einem Grinsen hinzu. »Ich denke doch.« Buck trennte mit dem Mikrolaser eine Schaltung auf einem nur handtellergroßen Modul durch und entfernte das Bauteil. »Wie ich es mir gedacht habe«, murmelte er, als eine münzgroße Scheibe zum Vorschein kam, die in Wirklichkeit aus einem überei‐ nandergestapelten Packen von vielen nur Mikrometer dicken Kris‐ tallspeichern bestand. Er führte sein Handdiagnosegerät darüber hinweg und beobachtete die Anzeigen. »Bist du dir auch sicher? Also ich wäre hier überfordert«, bekannte Ward. Buck hielt inne, sah ihn an. »Du schon, ich nicht.« Und er setzte als Erklärung hinzu: »Du warst damals, Mai 2058, nicht dabei auf Ro‐ bert, meinem ersten Fremdwelteinsatz als Gardist. Zusammen mit
meinen Kameraden gelang es uns, die Computerzentrale der Grakos in deren Hauptstadt zu knacken und Unmengen von wertvollen Daten in unseren Besitz zu bringen, darunter ganze Bauplanreihen ihrer Roboter mit detaillierten Schaltplänen. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, soweit es mir meine Zeit erlaubte, und gewann dadurch Kenntnisse, die ich jetzt erstmals in praxi anwenden kann.« * »So ist das also«, dehnte Ward. »Na dann …« Buck griff mit einer demagnetisierten Pinzette nach der Daten‐ scheibe, um sie aus ihrem Bett zu entfernen. Plötzlich hielt er inne. »Was ist?« fragte Ward und fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Probleme?« »Ich weiß nicht«, murmelte Buck. »Ob die Grako‐Roboter wohl inzwischen eine Totmannschaltung besitzen?« »Du meinst …?« Ward rückte etwas von Buck ab. »Ja. Kann sein, daß sich das Ding selbst zerstört, wenn ich es auf diese Weise entferne.« »Wir sind in unseren MFA sicher.« »Wir haben unsere Prallschirme deaktiviert«, gab Buck zu beden‐ ken. »Ob unsere Kampfanzüge eine Detonation von mehreren tau‐ send Mikrojoule aushalten …« Er ließ den Satz offen. »Du bluffst doch nur«, knurrte Ward. Er rückte vorsichtshalber noch etwas weg, dabei grinste er versteckt; er erinnerte sich zu gut an den mitunter etwas seltsamen Humor des Leutnants. »Nicht daß es unter den gegebenen Umständen eine große Rolle spielt, aber solltest du nicht überleben – bekomme ich dein Survival‐Messer?« »Leichenfledderer!« murrte Buck und zog den Speicher aus seinem Bett. »Baron Münchhausen läßt grüßen«, gab Ward zurück und ver‐ folgte interessiert, wie der Leutnant den scheibenförmigen Daten‐ träger in der multivariablen Aufnahme seines Handsuprasensors deponierte. *
Siehe Drakhon‐Zyklus Band 11, »Grako‐Alarm«
Gebannt betrachtete er mit Buck das Spiel der farbigen Balken auf dem winzigen Bildschirm, während das Gerät aus den Labors der Schwarzen Garde Zugriff auf die Kerndatei des Roboters nahm. Schließlich zeigte es grünes Licht. Buck führte einen Test durch, der ihm Aufschluß darüber gab, auch die richtige Datei aktiviert zu ha‐ ben. Er hatte; auf dem kleinen Bildschirm zeigte sich ein noch kleineres Gebilde. Es war eindeutig der dreidimensionale Aufriß eines Bau‐ werks, durchzogen von blauen und roten Linien. »Geschafft!« stieß Buck erleichtert hervor. »Wollen wir die anderen an unserem Triumph teilhaben lassen?« fragte Ward. Wie selbstverständlich bezog er sich wieder mit ein. »Natürlich!« Buck stöpselte sich aus. Der Außenlautsprecher akti‐ vierte sich selbsttätig und schuf die Verbindung zu den anderen. * »Was wollen Sie mir zeigen, meine Herren?« Während Leutnant Buck mit Ben Ward noch dabei war, sein Vor‐ haben in die Tat umzusetzen, hatten die Wissenschaftler sich ein wenig abseits begeben und erneut intensiv mit ihren besonderen Meßinstrumenten beschäftigt. Und sie hatten etwas entdeckt, das ihrem Vormarsch in der Hyperraumstation ein klar definiertes Ziel bescherte. Endlich. Monty Bell, Acker, Margarita und Vandekamp sahen sich an. Sekundenlang. Schwengers wurde bereits ungeduldig. Schließlich antwortete Margarita: »Seit geraumer Zeit schon hegten wir den Verdacht, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben«, begann er, »obwohl wir uns durch ein unüberschaubares Labyrinth bewegten, das jedes gezielte Vorgehen zu einem Vabanquespiel machte. Wie Sie wissen, ist unsere vordringlichste Aufgabe ja, nach der Energiequelle in dieser Schattenstation zu suchen, die es den
Grakos ermöglicht, das Schwarze Loch in unserer aufrechtzuerhal‐ ten. Wir glauben, diese Quelle jetzt entdeckt zu haben.« »Glauben Sie es nur, oder wissen Sie es definitiv?« »Sehen Sie sich das an.« Margarita zeigte auf einen Bildschirm des transportablen Meßzentrums. Schwengers gehorchte. Im ersten Moment war er überrascht – der Schirm zeigte nichts als eine pulsierende Amplitude mit einer enormen Spitze immer an der gleichen Stelle. Und das ist alles? wollte er schon sagen, dann erkannte er plötzlich, was das Bild bedeutete, schließlich war er selbst promovierter Wis‐ senschaftler und besonders versiert auf dem Gebiet der 5‐D‐Mathematik. Insofern konnte er durchaus mit den Professoren mithalten. Er las die mathematischen Daten am unteren Bildrand mit derselben Leichtigkeit wie ein Dirigent eine schwierige Partitur. »Fabelhaft. Eine enorme Energiequelle mit eindeutigen 5‐D‐Komponenten. Richtig?« »Exakt, Hauptmann«, bestätigte Monty Bell. »Sie befindet sich et‐ wa fünf Kilometer von uns entfernt und zwei Kilometer tiefer.« »Ich sehe«, nickte Schwengers. »Dort müssen wir hin. Informieren wir Charaua und den Commander – und sehen wir, was mein Leutnant zuwege gebracht hat.« * »Was haben Sie erreicht, Leutnant Buck?« fragte Schwengers mit erwartungsfroher Miene. Die anderen rückten ebenfalls interessiert näher. »Sofort, Sir!« Buck aktivierte die holographische Wiedergabe seines Handsuprasensors. Das außergewöhnlich vielseitige Gerät, modifi‐ ziert in den Speziallabors der Schwarzen Garde, lag zwischen ihnen auf dem Boden. Der Holoprojektor nahm seine Arbeit auf. Unvermittelt erschien etwa einen Meter über dem Gerät ein bläulich schimmernder Kubus.
In ihm manifestierte sich zunächst ein unstrukturiertes Diagramm, das aber innerhalb einiger Sekundenbruchteile Gestalt annahm. Die Umrisse der Hyperraumstation wurden wie in einer Explosions‐ zeichnung oder einer 3‐D‐Konstruktionsgraphik sichtbar. Erstmals zeigte sich das wahre Ausmaß der Station: Ebene nach Ebene, Querverbindungen und Überschneidungen. Das Innere war ein Gewirr aus farbigen Linien bis hinein in die kleinsten Winkel. Einige der Gardisten pfiffen erstaunt; ein Räuspern des Haupt‐ manns ließ sie verstummen. Auch Dhark stieß überrascht den Atem aus, als er die Station ers‐ tmals in dieser Ansicht sah. »Kein Wunder, daß sie uns überall auflauern konnten«, sagte er. »Mit dieser Karte im Kopf war es ihnen ein leichtes, auf direktem Weg in unsere Nähe zu gelangen.« »Sie kennen sich eben in ihrem Dachsbau aus«, meinte Vande‐ kamp. »Richtig, Professor«, bestätigte Buck. »Das hier«, fuhr er fort und deutete auf einen aktiven Impuls, »ist unser augenblicklicher Standpunkt beziehungsweise der des Roboters – oder was noch von ihm übrig ist. Interessant ist dieser Bereich.« Bucks Finger wanderte weiter. »Eine Art Hohlkugel, vom Rest der Station abgeschirmt, wie es den Eindruck hat. Wenn die Maßangaben, die ich von den Grakos kenne, zutreffen, dürfte diese Art Zentrum nicht weiter als …« »Fünf Kilometer von uns entfernt sein«, sagte Monty Bell. »Und zwei Kilometer tiefer als wir.« »Sie wissen davon?« zeigte sich Buck mehr als erstaunt. Einige Gardisten hielten den Atem an. »Von der Energiestation? Ja.« Monty Bell nickte. Und Vincente Margarita ergänzte: »Die 5‐D‐Energiequelle. Das Herz des Bösen.« Über die Züge des Leutnants huschte ein Zucken. »Das Herz des Bösen? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»Lassen Sie mich es erklären, Leutnant«, sagte Ren Dhark, der die Enttäuschung des jungen Mannes, nicht eingeweiht zu sein, nur zu gut verstand. Ohne Umschweife informierte der Commander alle Gardisten über die Erkenntnisse der Wissenschaftler. Für die Nogk mußte er es nicht tun. Er war sicher, daß der Regent seine Meegs schon längst unterrichtet hatte, in gewohnter »Gedan‐ kenschnelle« sozusagen. »Was ist das?« Tim Acker lenkte die Aufmerksamkeit der anderen auf einen Bereich in dem dreidimensionalen Aufriß der Station, der »nichts« enthielt. Es schien einfach ein Stück zu fehlen, so als hätte der Künstler, der diese Grafik angefertigt hatte, schlichtweg mit der Arbeit aufgehört und wäre nach Hause gegangen. »Eine Tabuzone für die Roboter vielleicht?« machte sich einer der Gardisten bemerkbar. »Unwahrscheinlich«, meinte Acker ohne Zögern. »Welche Tabus gäbe es denn für Maschinen?« Es gab noch weitere solche Bereiche, wie sich herauskristallisierte, je länger man den Straßen‐ beziehungsweise Lageplan studierte. »Auf das Nächstliegende kommt ihr nicht«, ließ sich plötzlich Charaua über die Translatoren vernehmen. »Es gibt bei euch Men‐ schen ein Sprichwort, das kongenial auf diese Situation zugeschnit‐ ten ist.« »Sprichwort? Welches Sprichwort?« Margarita stellte eine fragende Miene zur Schau. Während Dhark so offen zu grinsen begann, daß ihn Amy in die Seite stupste, gab Charaua zu verstehen: »Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, so sagt man doch, oder? Diese blinden Flecke sind deshalb blind, weil dort nichts ist.« »Wie jetzt …?« Nicht nur Margarita wirkte ratlos. Es war Dhark, der die menschliche Ehre wieder herstellte. »Die Station ist noch sehr neu. Sie wurde einfach noch nicht voll‐ ständig ausgebaut.«
Vincente Margarita holte scharf Luft, dann begann er freimütig zu lachen. »Peinlich«, brachte es Hauptmann Schwengers auf den Punkt. »Aber kein Beinbruch.« »Wieso Beinbruch? Ist das wieder so ein Sprichwort der Menschen, Freund Dhark?« erreichten die bildhaften Impulse des Nogk‐Regenten Commander Dhark, ohne jedoch den Umweg über dessen Übersetzungsmodul zu nehmen. »Ja«, gab Dhark auf die gleiche Weise zurück. »Ihr sprecht einfach zu sehr in Rätseln«, erreichte ihn Charauas Kommentar. »Verstehen kann man das manchmal nicht.« »Glaube mir, es ist auch für uns nicht immer leicht, uns zu verste‐ hen.« »Schon wieder ein Rätsel?« »Lassen wir es sein«, riet Dhark dem mittlerweile zum echten Freund gewordenen Nogk‐Regenten. »Bei passender Gelegenheit werde ich dir einmal die genauen Nuancen der menschlichen Kommunikation näherbringen.« »Hoffentlich ergibt sich diese Gelegenheit bald.« Charaua senkte die Fühler auf die Weise, die dem Commander das Interesse des Nogk signalisierte. Dhark wollte noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber bleiben, da der Hauptmann wortstark zum Aufbruch drängte. Was Dhark in gewisser Weise begrüßte; er wollte den Kopf freihaben von Gedan‐ ken, die nichts mit der augenblicklichen Lage zu tun hatten. Und der Weitermarsch bot dazu die beste Gelegenheit. Hauptmann Schwengersʹ Stimme klang erneut in den Helmlauts‐ prechern auf. »Sind wir soweit?« Sie waren es; jeder hatte inzwischen eine Kopie des »Straßenplans« überspielt bekommen. Terraner und Nogk verteilten sich in gewohnter Weise. »Dann los!«
Die Gruppe aus Vertretern von zwei der wohl unterschiedlichsten Völker in der Galaxis setzte sich wieder in Bewegung. Diesmal nicht einfach auf gut Glück, sondern mit einem definierten Ziel vor den Augen. Der Lageplan vom Innern der Station half ihnen, die Lastenaufzü‐ ge beziehungsweise Antigravschächte zu finden, die die Verbindung der Ebenen untereinander bewerkstelligten. Schnell waren sie auf der Ebene angelangt, von der aus sie die Energiezentrale erreichen konnten, welche von Margarita und seinen Kollegen geortet worden war. Man wußte, wo man hinwollte, und so rückte die Truppe unauf‐ haltsam vor. Die Gardisten und Charauas Meegs schalteten jeden Widerstand von Grakos und ihren Robotern aus, die sich ihnen bei ihrem Vormarsch in den Weg stellten. Rigoros und ohne Erbarmen wandten sie alle Gewalt an, die dazu nötig war. Zuviel stand auf dem Spiel. Schließlich erreichten sie ihr Ziel, eine Halle, eine von vielen, die sie in den letzten Stunden immer wieder zu Gesicht bekommen hatten. Ihr wahres Ausmaß war nicht festzustellen, ein tiefschwarzer Ener‐ gieschirm spannte sich quer durch den Raum und riegelte den da‐ hinter liegenden Bereich völlig ab. Die Gardisten und Meegs schwärmten aus, um den Brückenkopf zu sichern. Die Wissenschaftler bauten rasch ihre Meßinstrumente auf. Bislang zeigten sich weder Grakos noch ihre Roboter. Es hatte fast den Anschein, als sei dieser Bereich völlig verlassen. Sie verließen sich jedoch nicht auf diese Annahme. »Jetzt wird es knifflig«, sagte Margarita, der ständig seinen trag‐ baren Energieorter konsultiere, und es schien, als freue er sich auf die Auseinandersetzung mit dem Phänomen. »Das da«, er deutete auf den Energie Vorhang, »ist ein Schirmfeld aus purer 5‐D‐Energie. Also Finger weg, jedwede Berührung wäre absolut tödlich. Unsere Messungen zeigen, daß es mit dem Schwarzstrahl verwandt ist.«
»Ein Schutzschirm?« fragte Dhark. »Mit großer Wahrscheinlichkeit«, antwortete Monty Bell an Stelle von Margarita. »Aber vermutlich nur im Hyperraum einsetzbar.« »Wie knacken wir ihn?« Schwengersʹ Frage zeigte seinen ganzen Pragmatismus. Der ehemalige Dozent von Ren Dhark hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Keine Ahnung, hieß die Geste. »Von dieser Seite läßt er sich jedenfalls nicht abschalten«, bequemte er sich zu einer weiterführenden Äußerung. »Die Projektoren dafür dürften sich jenseits vom Schirm befinden.« »Einsatz des Pressorgeschützes«, befahl der Hauptmann. »Wollen doch mal sehen, ob wir ihn nicht aufbrechen können.« Die Wissenschaftler äußerten sich nicht dazu; ihren Mienen war anzumerken, daß sie dem Vorhaben des Hauptmanns keinen all‐ zugroßen Erfolg zumaßen. Sie hatten recht; mit dem Pressorgeschütz war dem Schirm nicht beizukommen, auch nicht durch Dauerbeschuß. Dennoch zeigte sich eine Reaktion: Die Gruppe wurde von der anderen Seite aus mit Schwarzstrahlen beschossen! »Er ist also von der anderen Seite durchlässig«, bemerkte Tim Acker. »Eventuell können wir dies zu einem Vorteil für uns um‐ münzen.« Das Feuer war so heftig, daß Gardisten, Meegs und Zivilisten schleunigst die Halle verließen, in der so gut wie keine Deckung vorhanden war, und sich auf den Gang in Sicherheit brachten. In eine äußerst fragile Sicherheit, denn nun rückten auch von hin‐ ten neue Roboter auf die Gruppe vor, gefolgt von Grakos. »Abwehrriegel bilden«, befahl Schwengers mit harter Stimme. Zum Glück war der Gang mit breiten, pfeilerähnlichen Strukturen versehen, die ausgezeichnete Deckungsmöglichkeiten für die Gruppe boten. Geschickt ausgenutzt, konnte man lange die Stellung halten und die Angreifer auf Distanz, ohne selbst allzusehr in Be‐
drängnis zu geraten. Allerdings war man recht unbeweglich, konnte weder vor noch zurück. Schwengers hielt die Zivilisten mit Bedacht davon ab, sich an den regulären Kampfhandlungen zu beteiligen. Das war ausschließlich Sache der Gardisten – und würde es auch bleiben, wie er es aus‐ druckte. Dem Commander gefiel die Untätigkeit noch weniger als Amy. Schwengersʹ Verhalten zeigte ihm, daß er keinerlei Befehlsgewalt hatte und mehr oder weniger ein geduldeter Mitläufer war, was ihm widerstrebte, ohne daß er jedoch dieses Gefühl nach außen trans‐ portierte. »Was beschäftigt dich, mein Lieber?« bohrte Amy, die natürlich mitbekam, wie es um ihn stand. »Wir sitzen hier fest«, meinte er. »Epochale Erkenntnis«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf un‐ ter dem Helm. »Man müßte herausfinden«, fuhr er fort, »wie dieses Schirmfeld abgeschaltet werden kann.« »Von dieser Seite ist da nichts zu machen«, gab Amy zu bedenken. »Aber von der anderen.« »Und wie willst du auf die andere Seite gelangen?« »Gute Frage«, nickte er. »Ich habe nur gute Fragen.« Sie lächelte. »Na, ich weiß nicht.« Er schien nicht überzeugt. »Hast du auch Antworten?« »Pah!« machte sie. »Du willst auf die andere Seite? Kriech doch durch die Kanalisation.« Er sah sie an, mit entrückter Miene. Dann sprang er plötzlich auf. »Schade, daß du den Anzug trägst, ich würde dich sonst küssen.« »Du kannst es ja bei Gelegenheit nachholen«, meinte sie, aber er war schon in Margaritas Richtung verschwunden. »Vincente«, sagte er. »Sie könnten mir einen Gefallen tun.« »Ja, Commander?«
»Leihen Sie mir kurz mal den tragbaren Analysator aus den Gar‐ debeständen. Das Gerät ist doch in Ihrem Besitz, nicht wahr?« »Schon. Aber …« Vincente Margarita hielt inne, doch dann sagte er: »Was sollʹs, nehmen Sie ihn schon. Was haben Sie damit vor?« Ren lächelte ihn hinter der Sichtscheibe des Helmes an. »Nachse‐ hen, was in der Kanalisation vorgeht.« Es war nicht die Kanalisation, die den Commander interessierte, sondern vielmehr das weitverzweigte Belüftungssystem, über das eine Station dieser Größe verfügen mußte. Immerhin waren die Grakos Sauerstoffatmer und von einer entsprechenden Atmosphäre abhängig, die ständiger Erneuerung bedurfte. Während Margarita noch damit beschäftigt war, aus Dharks Be‐ merkung die richtigen Schlüsse zu ziehen, untersuchte der Com‐ mander mit dem Analysator bereits die Gangwände auf das Vor‐ handensein von Luftschächten dahinter. »Achtung!« erklang Bucks Stimme; er hielt mit zwei Kameraden die Sichtverbindung zur Halle und dem Energie Vorhang. »Gra‐ ko‐Roboter! Sie kommen durch den schwarzen Schirm!« »Ein Zweifrontenkrieg«, stellte einer der Gardisten nüchtern fest. Er wirkte nicht sonderlich beunruhigt. »Prächtig«, stöhnte Margarita, dem jede Gewalt ein Greuel war. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« »Kuzak! Kurban! Pressoreinsatz«, befahl Schwengers. »Treibt sie zurück!« Das Pressorgeschütz setzte sich mit der Leichtigkeit einer Feder in Bewegung, schwenkte herum, glitt auf den Eingang der Halle zu und richtete den Abstrahlpol auf die Roboter. Plötzlich und uner‐ wartet krachte es mitsamt der Schwebeplattform auf den Boden. Kuzak begann lauthals zu fluchen. »Das Prallfeld ist schon wieder ausgefallen, Sir!« Der ihm assistierende Kurban meinte lapidar: »Kismet.« »Wohl eher Murphys Gesetz …« schnappte Kuzak und rollte mit den Augen.
»Manuell ausrichten«, dröhnte Schwengers Organ. »Dalli, dalli, meine Herren!« Auf einen mentalen Befehl Uwegras hin sprangen einige Nogk zur Hilfe. Gemeinsam gelang es ihnen, das Pressorgeschütz auf die nä‐ herkommenden Roboter auszurichten. »Das ist ja wie im Mittelalter«, knurrte Kuzak und nahm die Kampfmaschinen unter Feuer. »Warum nehme ich nicht gleich eine Steinschleuder?« »Weil es hier drin keine Steine gibt, Kumpel«, verkündete Kurban, »und außerdem ist das Prallfeld wieder betriebsbereit.« »Launen wie eine überdrehte Filmdiva hat das Ding«, konnte Ku‐ zak sich nicht verkneifen zu sagen. »Kennst du denn überhaupt welche?« Der Fähnrich brummte nur und begann zu feuern; die gerichteten Schwerkraftfelder trieben die Roboter wie welke Blätter zurück und wirbelten sie gegen den schwarzen Energieschirm, wo sie zum Ers‐ taunen aller zu Staub zerfielen, als sie in Kontakt mit ihm gerieten. Gleichzeitig wurde erneut von jenseits das Feuer auf die Gardisten eröffnet und zwang sie zurück in die Deckung des Ganges. »Wie wir vermutet haben«, sah sich Monty Bell bestätigt. »Der Schirm ist nur von der anderen Seite aus durchlässig. Anders herum wirkt er wie ein Schwarzstrahler.« Der Commander hatte endlich entdeckt, wonach er gesucht hatte. Mit dem auf Dust umgeschalteten Multikarabiner löste er das kaum sichtbare Lüftungsgitter aus der Wand des Ganges, in dem die Gruppe festsaß. Die Öffnung war etwas größer als ein Quadratmeter und saß ziemlich hoch unter der Decke. »Bei allem Respekt, Commander, was tun Sie da?« Schwengers war hinzugekommen und ersuchte um Aufklärung. Ohne langes Herumreden erläuterte Dhark seinen Plan: Da es in der Schattenstation eine Sauerstoffatmosphäre gab, existierte auch eine Klimaanlage. Margaritas Gerät hatte ihm die Schächte in der Umgebung und ihre Verteilung aufgezeigt.
»Sie wollen also durch die Lüftung den Schwarzschirm umgehen und abschalten?« zeigte sich Schwengers ziemlich ungehalten. »Das ist nicht Ihr Ernst, Commander!« Seine Augen bohrten sich in die des jüngeren Mannes. Sekundenlang maßen sich die beiden stumm mit Blicken, dann sagte der Hauptmann: »Doch, es scheint Ihnen ernst zu sein. Dennoch findet Ihr Alleingang nicht meine Billigung. Ein derartiges Vorhaben ist ausschließlich Aufgabe der Garde!« »Das sehe ich anders«, beschied ihm der Commander knapp, und seine Gestalt straffte sich unwillkürlich, doch dann fügte er in ver‐ söhnlichem Ton hinzu: »Verstehen Sie doch, Hauptmann. Einzig Ihre Soldaten sind in der Lage, die Angreifer auf beiden Seiten auf Distanz zu halten. Die Wissenschaftler, Meegs wie Terraner, müssen um jeden Preis geschützt werden. Nur sie können vollbringen, was zur Rettung der Erde nötig ist. Ich hingegen, Hauptmann«, er zeigte ein knappes Lächeln, »bin im Grunde so etwas wie das fünfte Rad am Wagen und hier überflüssig. Außerdem ist das Lüftungssystem für die ganze Gruppe keine Alternative. Es gibt keine Garantie, einen Ausweg daraus zu finden. Auch nicht für mich.« Schwengers schwieg, in seinem Gesicht arbeitete es. Schließlich stimmte er zu, Dharks Argumente waren einfach zu überzeugend. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Commander.« »Danke, wird schon schiefgehen, Hauptmann.«
5. »Was soll das werden?« Erstaunt blickte Dhark auf Amy, die vor ihm mit dem Rücken ge‐ gen die Gangwand gelehnt stand und die verschränkten Finger in der klassischen Pose einer Räuberleiter hielt. »Wonach sieht es denn aus?« »Nein, du bleibst da«, sagte er kategorisch, aber das war einer Frau gegenüber, noch dazu einer wie Amy, das verkehrte Signal. »Falsch, du gehst nirgendwohin ohne mich. Nun steig schon auf, ohne Hilfe kommst du sowieso nicht in den Lüftungsschacht.« Mit ihr zu diskutieren würde sich endlos lange hinziehen. Soviel Zeit hatte er nicht. Ergeben fügte er sich seinem Schicksal mit Namen Amy Stewart. »So istʹs brav«, murmelte sie, als er den Fuß in ihre Räuberleiter setzte. Mühelos hob sie ihn hoch, während ihr Atem kein Jota schneller ging. Er packte den Rand der Öffnung und zog sich mit einer gleitenden Bewegung ins Innere. Amy folgte unmittelbar da‐ nach. Ihre aktivierten Scheinwerfer schufen genügend Helligkeit bis in eine Entfernung von über hundert Metern. »Ganz schön eng«, meinte Amy. Du hast es nicht anders gewollt, wollte er sagen, aber da verdunkelte sich der Einstieg – und zu ihrer beider Überraschung zog sich Cha‐ raua in den rechteckigen Lüftungskanal. »Jetzt wirdʹs noch enger«, erwiderte er und kroch etwas tiefer in den Kanal, um Platz für den langen Nogk zu machen. »Ich habe deine Unterhaltung mit Hauptmann Schwengers mit‐ bekommen«, sagte der zur Begründung, und seine Fühlerpaare unter dem Blasenhelm zuckten. »Genügt es, wenn ich dir sage, daß ich mir bei dieser militärischen Operation ebenso überflüssig vorkomme wie du? Außerdem kann mir als Kommandant der Mission sowieso niemand etwas vorschreiben.«
»Da hast du recht«, pflichtete ihm Dhark bei. »Willkommen an Bord, mein Freund.« Sie setzten sich in Bewegung; wie Robben auf dem Trockenen krochen sie hintereinander durch den Belüftungskanal, dessen klaustrophobische Enge zumindest Charaua zu schaffen machte, wie er gestand. Dhark vorneweg, dann Amy, das Schlußlicht bildete der Nogk‐Regent. Plötzlich lachte Dhark leise. »Da ich irgendwie das Empfinden habe, daß dein Heiterkeitsaus‐ bruch mit mir zu tun hat«, erreichten ihn Charauas Bildimpulse, »verrate mir den Grund hierfür!« »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie wohl deine Hofschranzen im Regentenpalast von Quatain reagieren würden, wenn sie dich in dieser Lage sähen.« »Ich stelle mir das besser nicht vor«, bekannte Charaua. »Schließ‐ lich hat auch der Regent der Nogk Illusionen.« Sie krochen weiter. Unbehelligt. Margaritas Analysator zeigte weder Detektoren noch Waffen in den Klimaschächten an, was Amy verwunderte. Schließlich existier‐ ten in den Gängen und Hallen verborgene Schwarzstrahler in großer Zahl. Es war Charaua, der die Erklärung lieferte. »Ich habe es schon einmal zur Sprache gebracht: Diese Station ist neu, sie ist erst nach der vernichtenden Niederlage der Grakos im Gerrck‐System in den Hyperraum gebracht worden. Sie dürfte kaum schon komplett ausgerüstet sein, vor allem nicht in den weniger sensiblen Arealen.« »Wie denen des Belüftungssystems etwa?« Charaua bestätigte. »Eine Sorge weniger«, meinte Amy auf ihre pragmatische Art. *
»Wie lange werden wir uns halten können?« erkundigte sich Hauptmann Schwengers bei seinem Stellvertreter. Buck warf einen Blick in die Runde. Sie saßen nach wie vor fest. Hinter ihnen in der Halle war kein Durchkommen, der schwarze Energievorhang versperrte ihnen den Weg tiefer in die Station hi‐ nein. Vor ihnen riegelten die Roboter und Grakos den Gang ab. Sie unternahmen zwar immer wieder Angriffe, die aber von den Gar‐ disten und Meegs unter der Führung Uwegras noch jedesmal zu‐ rückschlagen werden konnten. »Schwer zu sagen«, meinte der junge Terraner. »Wir haben bis jetzt dreizehn ihrer Angriffe zurückschlagen können, ohne eigene Ver‐ luste beklagen zu müssen. Wie lange das so bleibt …« Er schwieg, aber Schwengers verstand seinen Leutnant auch so. Hinter ihnen röhrte wieder das Pressorgeschütz auf und trieb die Grako‐Roboter zurück in den schwarzen Energieschirm, wo sie zu Staub zerfielen. Buck fuhr fort: »Wir sind nur eine Handvoll, im Gegensatz zu un‐ serem Gegner, und wir haben keine Ahnung, wie viele Köpfe dieser Gegner stark ist. Es ist durchaus möglich, daß wir es plötzlich mit Tausenden von feindlichen Angreifern zu tun bekommen. Denen hätten wir dann nicht wirklich etwas entgegenzusetzen, Sir.« Schwengersʹ Blick glitt über die Männer. Täuschte er sich, oder zeigten sich bereits erste Anzeichen der Erschöpfung? Rotgeränderte Augen blickten ernst aus Gesichtern, in denen sich schon wieder Bartstoppeln zeigten. »Wenn ich Ihren forschenden Blick richtig deute, Sir, so haben Sie sich eben Gedanken über den Gesundheitszustand der Männer ge‐ macht!« ertönte eine leicht heisere Stimme neben dem Hauptmann. Zur Seite blickend, erkannte Schwengers Doc Edwards und einen Nogk, dessen Namen Oorpard lautete, wie er sich erinnerte. Und er erinnerte sich an noch etwas: Oorpard war unter den Meegs ein Heiler, also das nogksche Pendant des jungen terranischen Arztes.
Das roch förmlich nach schlechten Nachrichten. Schwengers kniff die Augen zusammen. »Geht es um Park und Pariot?« fragte er. »Können Sie etwa Gedanken lesen, Sir?« zeigte sich Edwards verwundert. »Das nicht, aber zwei und zwei zusammenzählen«, erwiderte der Hauptmann knapp. »Also?« »Sie zeigen die ersten Symptome einer Strahlenerkrankung«, be‐ stätigte der Doc Schwengersʹ Befürchtungen. »War zu erwarten«, murmelte der Hauptmann. »Wie äußern sich die?« »Vorerst beginnender Schwindel, Kopfschmerzen, allgemeine Schwäche«, zählte Edwards auf. »Später dann Übelkeit, Erbrechen, Geschwüre, Bluthusten und offene Wunden, die sich nicht mehr schließen.« »Wieviel später?« »Darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Ist wohl eine Frage der jeweiligen körperlichen Konstitution des Betreffenden.« »Sie werden kaum die nächsten 24 Stunden überstehen«, meldete sich erstmals der Meeg zu Wort. Der spezielle Translator, den die Nogk für die Kommunikation mit den Terranern entwickelt hatten, vereinfachte die Verständigung erheblich. »So schlimm?« zeigte sich Schwengers betroffen. Edwardsʹ Schweigen war beredt genug. »In welchem Stadium sind die beiden?« »Im ersten. Noch.« »Pariot ist bereits mehr betroffen«, ließ sich wieder Oorpard ver‐ nehmen. »Heilungschancen?« »Keine«, stieß Edwards hervor. »Auch ich habe noch von keiner gehört«, ließ der Nogk verlauten, und die Fühlerpaare auf seinem Insektenkopf knickten ein.
»Verdammt!« Schwengers verzog das Gesicht, schloß sekunden‐ lang die Augen. Dann sagte er: »Sie kümmern sich um die beiden.« Die beiden Ärzte zogen sich zurück. »Als wenn wir nicht schon genug Schwierigkeiten hätten«, mur‐ melte der Hauptmann. »Nichts als schlechte Nachrichten.« Eine drängende Stimme ließ sich hören. »Hauptmann, ich habe hier auf dem IR jede Menge Anzeigen. Unsere Freunde scheinen etwas Neues versuchen zu wollen.« Pause. Dann: »He, was ist das denn?« »Was gibt es, Soldat?« »Das müssen Sie sich ansehen, Sir!« Peter Schwengers und Buck eilten nach vorn zu dem Gardisten, der die Aktivitäten der Grakos und ihrer robotischen Helfer weiter unten im Gang verfolgte. Auch Uwegra gesellte sich zu ihnen. Einige Roboter schoben kübelähnliche Wagen vor sich her und kippten nun deren Inhalt auf den Boden des Ganges. Ob der Korridor tatsächlich ein Gefälle hatte oder ob die zäh wir‐ kende Flüssigkeit einer gerichteten Eigendynamik fähig war, war nicht feststellbar. Während man noch darüber rätselte, welche Bewandtnis es damit hatte, entzündete sich unversehens die Masse, und eine lodernde Flammenwand bewegte sich rasch in Richtung der Truppe. »Verdammt, die wollen uns ausräuchern!« ließ sich die ungläubige Stimme eines Gardisten hören. »Wohl schon eher rösten«, brachte es ein anderer auf den Punkt. Feuer in einem relativ engen Gang an Bord einer Raumstation und weit und breit kein Feuerlöscher – der Alptraum eines jeden Raum‐ fahrers! »Kuzak, Kurban! Ich brauche Sie hier vorn. Sofort!« Das Pressorgeschütz schwenkte herum und plazierte sich in vor‐ derster Front. »Schicken Sie denen das Zeugs zurück!« kam Schwengersʹ Befehl.
»Aye, Sir.« Die brüllende Feuerwand hatte sich bereits soweit genähert, daß die Außentemperaturanzeigen der MFA langsam in den roten Be‐ reich kamen. Dann traten die breitgefächerten Schwerkraftfelder des Pressorge‐ schützes in Aktion; die Feuerwand stoppte. »Zeigen wir denen doch mal, was wir unter Retourkutsche ver‐ stehen«, knurrte Kuzak und erhöhte schlagartig die Intensität des Feldausstoßes. Die brennende Masse, die keinerlei Rauchentwicklung zeigte, wich zurück; unter dem Druck der Schwerkraftfelder bäumte sie sich auf, rollte wie eine Brandungswelle von Alohas Stränden zurück und begrub jene Roboter und Grakos unter sich, die nicht rechtzeitig Reißaus genommen hatten. Plötzlich erhob sich ein Schrillen, das über die Außenlautsprecher der Raumanzüge und MFA die Ohren der Männer peinigte. Aus der noch immer brennenden Masse stürzte ein lichterloh in Flammen stehender Grako hervor und rannte mit schlagenden Gliedern in Richtung der Truppe. Uwegra hob schon den Multikarabiner, aber der Grako brach auf halbem Weg zusammen, krümmte und drehte sich, während ihn die Flammen regelrecht auffraßen. Schlußendlich blieb nur eine undefi‐ nierbare Masse von ihm zurück. Gleich darauf erloschen auch die Flammen; die Flüssigkeit, eine Art Super‐Napalm, wie Tim Ackers Prüfgeräte herausfanden, hatte sich aufgezehrt. »Angriff Nummer 14«, murmelte Buck. »Sie wissen, Sir, daß dieser Gang eine Mausefalle ist, die früher oder später zuschnappen wird?« »Darüber bin ich mir vollkommen im klaren, Leutnant Buck«, entgegnete der Hauptmann, und seine Stirn furchten zum erstenmal seit Beginn des Einsatzes ernsthafte Sorgenfalten. »Wir sitzen hier fest. Welche Optionen bleiben uns noch?« Eine rhetorische Frage, weshalb Buck auf eine Antwort verzichtete.
Sein Blick fiel auf die offene Lüftungsklappe. »Hilf mir mal, Ben.« Unteroffizier Ward bildete die gleiche Räuberleiter wie zuvor Amy Stewart; sein Leutnant kletterte an ihm hoch, stellte sich auf seine Schultern und blickte in den Lüftungsschacht. Als er wieder zurück auf dem Boden war, erstattet er seinem Vor‐ gesetzten Meldung: »Wie ich befürchtet habe, Sir. Da kann man nur einzeln durch.« »Das sollten wir vermeiden«, erwiderte der Hauptmann. »Wir wären zu verwundbar, außerdem könnten wir es nicht unbemerkt tun, was die Gefahr für uns nur potenziert.« »Vielleicht bleibt uns keine Alternative«, befürchtete Buck. »Es sei denn, dem Commander und seinen beiden Begleitern gelänge es, rechtzeitig den Energieschirm zu deaktivieren.« »Das ist auch meine Hoffnung. Wie lange sind sie schon im Lüf‐ tungssystem?« Buck warf einen Blick auf das im Ärmelinstrumentarium integ‐ rierte Chrono. »Fast dreißig Minuten, Sir.« »Sie müßten schon drüben sein …« * Sie waren drüben. Die atembeklemmende Enge der Lüftungsschächte, die sie so ge‐ räuschlos wie möglich durchkrochen hatten, nahm ein Ende, als sie auf der anderen Seite und jenseits des schwarzen Schirms einen großen Frischluftverteilerkasten erreichten. Durch die Lüftungsgitter erkannten sie unter sich drei Grakos an einer Apparatur, die auf einer Transportplattform mit Kunststoff‐ raupenketten befestigt schien. »Ein mobiler Generator«, sagte Amy und dämpfte unwillkürlich ihre Stimme. »Der Projektor für das Schirmfeld«, präzisierte Dhark.
Einer der Grakos sprach in ein Mikrophon, das über ein Kabel mit einem Verteiler in der Hallenwand verbunden war. »Wäre sicher von Vorteil zu wissen, was da gerade abläuft«, meinte Dhark und verlagerte sein Gewicht ein wenig. »Da kann ich helfen«, ließ sich Charaua vernehmen. »Ich bin in der Lage, die telepathischen Impulse des Grakos zu empfangen.« Dhark wunderte sich keineswegs darüber. Charaua war als Hyb‐ ridwesen teilweise selbst Insekt. Daß er als Semitelepath in der Lage war, die Gedanken der Grakos zu verstehen, war deshalb nachvoll‐ ziehbar und nur natürlich. »Und worüber spricht er?« »Er fordert Kampfroboter an. Offenbar wurde das Kontingent, das zur Verteidigung des Schwarzschirmes abgestellt war, vom Pres‐ sorgeschütz bis auf wenige Einheiten dezimiert.« »Bekommt er sie?« wollte Amy nur wissen. Charauas Kopffühler arbeiteten unter dem Blasenhelm. Dann: »Ja, aber nicht sofort. Die Station …« Die Bildimpulse des Nogk‐Regenten brachen ab. »Probleme?« Dharks Gedanken waren eine einzige Frage. »Nein«, kamen die telepathischen Impulse des Nogk wieder zu‐ rück. »Ich habe eben nur bestätigt bekommen, was ich schon länger vermutete. Es sind tatsächlich nur wenige Grakos in der Station, die alle vom Angriff der Gardisten und meiner Untertanen auf den Schwarzschirm in Panik versetzt wurden – sie haben nicht damit gerechnet, daß wir so weit vordringen würden.« »Gut zu wissen«, meinte Dhark grimmig. »Nutzen wir die Gunst der Stunde und verwirren sie noch ein we‐ nig mehr«, versetzte der weibliche Cyborg. »Was hast du im Sinn?« Amy ließ die beiden mit leiser Stimme wissen, wie sie sich ihre nächsten Schritte vorstellte. »Versuchen können wir es ja«, murmelte Dhark zustimmend. »Was hältst du davon?« wandte sie sich direkt an den Nogk.
Charaua wandte den monströsen Insektenschädel und sah Amy aus seinen Facettenaugen an. Selbst solchen Terranern, die ständig mit Nogk zu tun hatten, kamen seltsame Gedanken, wenn sie sich nur durch Zentimeter getrennt von Angesicht zu Angesicht mit ei‐ nem Lebewesen befanden, bei dessen Anblick andere sofort den Begriff »Monster« assoziiert hätten und in panischer Angst versun‐ ken wären. »So machen wir es«, antwortete der Herrscher der Nogk; hätte er über eine menschliche Mimik verfügt, hätte Amy das feine Lächeln sehen können, das eben über seine geistigen »Züge« huschte. »Er‐ laubst du«, wandte er sich an Dhark, »daß ich mich um die Grakos kümmere, Freund Ren?« Wenn je ein Mensch Freund eines Fremdwesens sein konnte, traf das wohl für die Beziehung Charauas und Dharks zu. Ren Dhark antwortete mit einem feinen Lächeln: »Ich habe dir nichts zu erlauben, Freund. Und schon gar nichts zu verbieten«, fügte er hinzu und zwinkerte. »Du bist frei in deinen Entscheidun‐ gen.« Die drei traten in Aktion. »… drei!« sagte Dhark und feuerte mit dem Nadelstrahler in den Schirmfeldgenerator. Das Gerät explodierte zwar nicht, aber der schwarze Schirm brach sofort zusammen. Im selben Augenblick, in dem Dhark schoß, stießen Amy und Charaua das Lüftungsgitter mit den Beinen auf und sprangen in die Tiefe. Charaua entwickelte eine raubtierhafte Schnelligkeit; er tötete zwei der Grakos in Sekundenschnelle mit peitschenden Hieben seiner Reptilienklaue gegen deren Chitinhälse. Den dritten Insektoiden, der noch immer das Mikrophon vor der mandibelbewehrten Mundöffnung hielt, griff sich Amy und drehte ihm die Arme auf den Rücken, was ihn sofort wehrlos machte. Dhark tauchte neben ihr auf, den Nadelstrahler in der Hand. »Brauchst du Hilfe?« fragte er.
»Sehe ich so aus?« gab sie zurück. »Nein«, bekannte der Commander und setzte hinzu: »Dich möchte ich wirklich nicht zum Gegner haben.« Sie lachte auf ihre ganz eigene Weise. »Von dir würde ich mich unter Umständen besiegen lassen.« »Welche wären das – die Umstände, meine ich?« Sie gab keine Antwort, riß das Mikrophonkabel aus der Wand und fesselte damit den Grako, der total überrascht wie erstarrt am Boden lag, zu keiner Gegenwehr fähig. »Besser, du informierst Hauptmann Schwengers«, meinte sie, »anstatt einer hart arbeitenden Frau bei der Arbeit zuzusehen.« »Das muß ich nicht«, gab er zu verstehen und deutete auf den Eingang der Halle. »Die Kavallerie ist schon im Anmarsch.« * »Der Typ bringt selbst einen Verhörspezialisten zur Verzweiflung«, murrte der Commander. Der »Typ« war der gefesselte Grako; man hatte ihn in eine sitzende Position gehievt, und Dhark versuchte, ihm mit Hilfe des Translators Informationen zu entreißen. Es war ein mühseliges Unterfangen; anfänglich hatte er lediglich gestanden, daß sich nur wenige seiner Art an Bord der Hyperraumstation be‐ fanden, wenige jedenfalls nach dem Verständnis eines nach Milliar‐ den Individuen zählenden Insektenvolkes. Es waren nur zwanzig Minuten vergangen, seit der Schuß aus Dharks Waffe in den Generator den schwarzen Schirm zum Kolla‐ bieren gebracht und den Weg in die Halle für Hauptmann Schwen‐ gersʹ Truppe frei gemacht hatte. Sie hatten sofort einen Brückenkopf gebildet. Gardisten und Meegs sicherten die Zivilisten und die Führung des Einsatzes nach allen Seiten ab. Mit dem Pressorge‐ schütz war es kein Problem, die Grakos mitsamt ihren Kampfrobo‐ tern draußen im Gang festzunageln.
»Also, wozu dient die Hyperraumstation?« wandte sich Dhark erneut an den Gefangenen. »Rede endlich.« Die insektoide Physiognomie des Grako war noch fremdartiger als die eines Nogk, in der zu lesen mittlerweile einige Terraner fähig waren. »Machen wir dem ganzen doch ein Ende«, schlug Amy vor und setzte bewußt darauf, daß der Translator jedes ihrer Worte für den Grako verständlich machte. »Ich erschieße ihn einfach, wenn er partout nicht reden will.« Daß auch Nichtmenschen an ihrer Existenz hingen, war an der Reaktion des Grako sichtbar, der unmittelbar nach Amys Drohung, die nichts anderes war als das alte Spiel guter Polizist, böser Polizist, dazu ansetzte, über die Verwendung der Schattenstation zu reden. Er blieb im Ansatz stecken. Es war nicht etwa Amy, die ihn erschoß, sondern ein Roboter erle‐ digte das mit einem Schwarzstrahl. Unbemerkt war der Mechanische aus einem kleineren Seitengang in der Halle aufgetaucht und hatte gefeuert. Zwei Gardisten schalteten den Attentäter zwar sofort aus, ehe dieser weiteres Unheil anrichten konnte, doch für das Insektenwesen kam das zu spät. »Ihre Überwachungseinrichtungen funktionieren jedenfalls«, stellte Dhark brummig fest, der folgerte, daß die Grakos in der Zentrale den Auftrag zur Ausschaltung des »Verräters« erteilt hat‐ ten. »Auch hier drin sind sie allgegenwärtig …« »Überwachungskameras oder – Vorrichtungen müßten sich ei‐ gentlich finden lassen«, stellte der dicke Acker fest, der mit seinen vorgelagerten Muskeln – so verniedlichte er seinen Bauch – ein we‐ nig wie die Werbefigur eines vor vielen Jahrzehnten auf der Erde sehr bekannten Autoreifenherstellers wirkte. »Helfen Sie mir, Vin‐ cente?« »Natürlich.«
»Da man Zivilisten nie allein in einer fremden Raumstation he‐ rumspazieren lassen sollte, werde ich Ihren Schutz übernehmen, meine Herren.« Mit diesen Worten gesellte sich Kurt Buck zu den Wissenschaftlern, nachdem er durch Blickkontakt mit Hauptmann Schwengers dessen Einverständnis eingeholt hatte. Sie wurden schnell fündig. Es war Tim Acker, der das unauffällig wirkende Überwachungs‐ gerät in der Hallenwand entdeckte und es mit Margaritas Hilfe und Bucks fachmännischen Kommentaren analysierte. »Was machen wir damit? Zerstören?« Margarita sah von Buck auf Acker. Acker wirkte unschlüssig, Buck hingegen widersprach. »Auf keinen Fall. Ich habe eine bessere Idee. Wenn wir davon ausgehen, daß sich nicht besonders viele Grakos an Bord der Schat‐ tenstation befinden – und davon sind wir eigentlich alle überzeugt –, dann könnte man sich vorstellen, daß die meisten Posten der Station noch nicht besetzt sind. Richtig?« »Kommen Sie zum Punkt junger Mann!« fordere Margarita, dem lange Einleitungen zuwider waren. Sein Credo war – und das ver‐ suchte er auch seinen Studenten an der Akademie der Schwarzen Garde in Star City einzubläuen: Wenn man Dinge nicht knapp und präzise ausdrücken konnte, sollte man es bleiben lassen. Buck war nicht im mindesten verstimmt, schließlich kannte er sei‐ nen ehemaligen Ausbilder zur Genüge. »Ich könnte das Überwachungsprogramm leicht ins Stolpern bringen.« »Wie?« fragte Margarita einsilbig, getreu seinem Motto. »Damit.« Buck verband seinen Handsuprasensor über eine optro‐ nische Kupplung mit dem Überwachungsgerät und wartete, daß sich die Algorithmen der beiden Geräte einander anglichen. Als das Ge‐ rät grün zeigte, lud er ein simples Störprogramm, das er für Fälle dieser Art immer parat hatte, in das Überwachungsnetz der Station.
»Es entspricht in etwa einem Computervirus«, erläuterte er den beiden Wissenschaftlern, »das sich jetzt über das System ausbreitet und es sabotiert. Die Überwachungssysteme zeigen alles mögliche, nur nicht das, was sie sollen.« Acker räusperte sich auffällig. »Humbug. Wenn es ein simples Störprogramm ist, wie Sie sagen, läßt es sich ebenso simpel abschal‐ ten.« »Schon. Dafür müßten dann allerdings die entsprechenden Ar‐ beitsplätze besetzt sein. Was sie nicht sind, davon gehe ich mal aus.« »Ah ja«, dehnte Tim Acker. »Nicht gerade raffiniert, aber durchaus praktikabel.« »Sie scheinen doch etwas in meinen Seminaren gelernt zu haben junger Mann«, gab Vincente Margarita seiner Genugtuung Aus‐ druck. * Bucks Computervirus zeigte Wirkung. Die Gruppe konnte rasch und ungestört auf die angepeilte im‐ mense 5‐D‐Energiequelle vorstoßen, die Vincente Margarita als das Herz des Bösen bezeichnet hatte. Einmal im gegenüberliegenden Hauptkorridor am Ende der Halle verschwunden und außer Sicht, verloren die Roboter, die im Gang hinter ihnen waren, rasch ihre Spur, da ihre mit dem Überwa‐ chungssystem gekoppelten Sinne dank Kurt Bucks Manipulationen nichts als unverständliche Signale erhielten. Schwengers schickte einen Trupp von drei Gardisten voraus, um rechtzeitig gewarnt zu sein, sollten sich Hindernisse in Form von Robotern oder Grakos zeigen. Er tat gut daran. Keine zehn Minuten später kehrten die Gardisten mit schlechten Nachrichten zurück.
»Wir wären fast einer Streitmacht von knapp 100 Kampfrobotern in die Arme gelaufen, Sir«, meldete der Fähnrich, der die kleine Gruppe anführte. »Sie bewachen ein mächtiges Panzerschott in einer großen Halle.« »Die Energiequelle etwa?« »Ja, Sir. Unsere Spürgeräte peilten sie hinter dem Schott an.« »Offenbar ahnen die Grakos, welches Ziel wir im Auge haben«, warf Dhark ein, »und erwarten uns.« Charaua sandte zustimmende Signale. »Bemerkte man Ihre Anwesenheit, Fähnrich?« erkundigte sich Schwengers knapp. »Nein, Sir.« »Gut.« Der Hauptmann holte tief Luft. »Was tun wir?« »Ein offener Kampf gegen die Roboter wäre für uns zu verlust‐ reich«, warf Leutnant Buck ein. »Wir kämen nicht ungeschoren da‐ von.« »Das sehe ich auch so. Wie wäre es mit einer Umgehungstaktik, Charaua? Commander?« Ob es ihm schwergefallen ist, mich einzubeziehen? dachte Dhark. Aber immerhin überläßt er Charaua als dem Kommandanten der Mission die Entscheidung. Der Nogk‐Regent stimmte zu, und Dhark schloß sich dem an. Die Gruppe schlich sich durch Seitenkorridore im weiten Bogen um die Energiequelle herum; dank Bucks aus dem Roboterhirn ex‐ trahiertem Lageplan der Station konnten sie nicht in die Irre gehen. »Hauptmann Schwengers!« ließ sich Margarita vernehmen. »Ich höre, Professor.« »Entweder spinnen unsere Geräte, oder die Energiequelle hat tat‐ sächlich eine Ausdehnung von über einem Kilometer! So etwas Großes ist mir noch nicht untergekommen.« »Mir auch nicht«, antwortete Schwengers. »Ich glaube allerdings eher, daß die Hyperraumeinflüsse Ihre Meßergebnisse verfälschen.«
»Wir werden sehen«, versetzte Margarita und schien wenig be‐ geistert zu sein, daß der Hauptmann seine Berechnungen anzwei‐ felte. »Das werden wir mit Sicherheit«, versetzte Schwengers, den im Augenblick andere Sorgen plagten. Pariot und Park ging es immer schlechter. Doc Edwards und Oorpard konnten wenig gegen den sichtlichen Verfall der beiden tun, außer ihnen über die von außen zugänglichen Ports ihrer Raumanzüge kreislaufstabilisierende Medikamente zu injizieren. Zwei Gardisten stützten Jong Park; Pariot wurde von zwei Meegs begleitet, die ihm Hilfestellung gaben, damit er auf den Beinen blieb. Der Marsch schien sich endlos hinzuziehen. Aber nach etwas mehr als einer Stunde kam man an ein ähnliches Schott wie jenes, das von den 100 Robotern bewacht wurde. Den Instrumenten zufolge lag es genau auf der entgegengesetzten Seite der geheimnisvollen Energiequelle. Hier waren weit und breit keine Roboter zu sehen, auch die Spür‐ geräte zeigten keinerlei Echos, die darauf hindeuteten, daß sie sich etwa versteckt hielten. Die Truppe versammelte sich vor dem Panzerschott. Müde, aber dennoch scharfe Augen suchten nach einer Möglichkeit, es zu öff‐ nen. »Pressoreinsatz?« Buck und seine Art der Problemlösung. »Diese Jugend«, konnte Margarita sich nicht verkneifen zu äußern. »Ungestüm bis dorthinaus. Immer mit dem Kopf durch die Wand, egal, welchen Lärm man dabei veranstaltet. Es gibt wahrlich ele‐ gantere Methoden.« »Das glaube ich aber auch«, konnte Dhark nicht an sich halten. »Wie wäre es mit Ihrem Büchsenöffner, Vincente?« »Sage ich doch«, versetzte Margarita. »Aber Büchsenöffner klingt ein wenig despektierlich, Ren.«
»Nehmen Sie es nicht als Abwertung Ihrer unzweifelhaft großen Leistung, die Sie mit dem Steuergerät vollbracht haben.« Dharks Lächeln wirkte angespannt und lange nicht so offen und frei wie sonst. Die Ereignisse in der Hyperraumstation hatten auch bei ihm ihren Tribut gefordert. Margarita machte sich bereits am Öffnungsmechanismus des Panzerschotts zu schaffen. »Voila«, kam seine zufrieden klingende Stimme über den Helm‐ funk, »Gott Sesam hat sich mir gnädig gezeigt.« Das Panzerschott stand offen; sie traten ins Innere. Amy neben Dhark holte tief Luft. »Grundgütiger«, murmelte sie. Ren konnte ihre Reaktion nach vollziehen. Was sich hinter dem Schott auftat, war einfach erschreckend atemberaubend. Vor, unter und über ihnen erstreckte sich ein Raum mit einem Durchmesser von rund eineinhalb Kilometer. Das, was man für die Energiezentrale gehalten hatte, war ein ku‐ gelförmiger Raum, um dessen Innenseiten in Äquatorhöhe eine 50 Meter breite Galerie rings um den gesamten Raum lief; durch das Schott hatte man direkten Zugang zu ihr. Sie war nicht etwa leer, alle möglichen Geräte standen herum. Schattenloses Licht ohne erkenn‐ bare Quelle herrschte; man gewann den Eindruck, als würde die Luft aus sich selbst heraus leuchten. »Was? Ist? Das?« fragte Kurt Buck und betonte jedes Wort einzeln, während er mit ausgestreckter Hand auf das Phänomen deutete, das diesen Hohlraum dominierte und der eigentliche Grund für die Fassungslosigkeit der Terraner und möglicherweise auch der Nogk darstellte. Inmitten des Raumes schwebte eine einen Kilometer durchmes‐ sende Kugel aus chaotischer Energie frei im Raum. Sie war farbig und dennoch schwarz. Und trotz der Schwärze schien sie völlig klar und durchsichtig zu sein, ließ aber trotzdem keinen Blick auf die
gegenüberliegende Seite zu. Hier waren Kräfte am Werk, die das menschliche Verständnis über Phänomene dieser Art überstiegen. Es existierten keine Begriffe in der menschlichen Sprache, die dem Er‐ scheinungsbild dieser Energiekugel gerecht werden konnten. Die elementarsten Grundlagen der Physik und aller bekannten Naturgesetze schienen auf den Kopf gestellt und über den Haufen geworfen zu sein. Hier blickte man auf den nackten Hyperraum. Die Meßgeräte der Wissenschaftler schlugen wie wild aus und übermittelten völlig unverständliche Ergebnisse. Hier waren Hy‐ perraumkräfte am Werk, die kein Verstand je würde richtig begrei‐ fen können. Die Kugel war nicht »leer«. Deutlich waren zwei kleinere, etwa 20 Meter durchmessende glei‐ ßende Kugeln zu erkennen, die fast an den beiden Polen standen und miteinander durch einen ebenfalls helleuchtenden Energieschlauch verbunden waren. Die obere Kugel hatte einen schwarzen Kern, die untere einen weißen. »Mein Gott, sehen Sie nur, Vincente!« rief Tim Acker und trat ein paar Schritte vor. »Das ist es, mein Gott, das ist es!« »Ich sehe es«, sagte Vincente Margarita fast ehrfürchtig, überwäl‐ tigt von den unvorstellbaren Kräften, die sich hier auf engstem Raum zusammengeballt manifestierten. Die beiden Professoren hatten sofort erkannt, was diese Konstella‐ tion innerhalb der unfaßbaren Energiekugel bedeutete, die nichts anderes als eine Schale aus Hyperraumfeldern war, welche den ei‐ gentlichen Vorgang, der sich im Inneren abspielte, stabil hielten. Eigentlich war jedem der wissenschaftlich vorgebildeten Terraner und Nogk klar, worum es sich hier handelte. Manche mußten nur erst dieses unfaßbare Bild eines verkleinerten Vorganges auf sich einwirken lassen, das sich in der Realität im Weltall zwischen zwei Sonnensystemen abspielte. Von hier aus wurden die Kräfte gesteuert, die der irdischen Sonne mittels eines Schwarzen Lochs die Masse raubten und diese über ein
Weißes Loch nach Proxima Centauri transferierten. Für die Einlei‐ tung des Prozesses war offenbar die mittlerweile vernichtete Station auf Proxima Centauri I notwendig gewesen. Doch einmal in Gang gesetzt, konnte der Prozeß von dieser Hyperraumstation aus auf‐ rechterhalten und gesteuert werden, das war allen klar. »Wir müssen diesen Vorgang stoppen«, erklang Dharks harte Stimme und holte die staunenden und um Fassung ringenden Männer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Ich schlage eine systematische Analyse der auf dieser Galerie befindlichen Ap‐ parate vor, die mit Sicherheit diesen Vorgang dort drin«, seine Hand vollführte eine Bewegung in Richtung der Energiekugel, »steuern und regeln. Und wir beeilen uns besser damit. Ich glaube nämlich nicht, daß wir noch lange unbehelligt bleiben werden.« Die Analyse der nächststehenden Apparate auf der Galerie brachte keine signifikanten Ergebnisse; tatsächlich war es so, daß man zu‐ nächst überhaupt nicht begriff, wie sie zuzuordnen und für welche Prozesse sie zuständig waren. Die Gruppe blieb zusammen und rückte im Uhrzeigersinn vor; daß es im Grunde recht schleppend voranging, lag daran, daß es Jong Park und Pariot zusehends schlechter ging und man mit Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand die Gangart nicht forcieren konnte. Dhark, von einer inneren Unruhe getrieben, für die er keine ratio‐ nale Erklärung fand, setzte sich mit Charaua ins Benehmen, eine Vorhut zu bilden, die die Galerie schneller umrunden und schon im Vorfeld vor mögliche Gefahren warnen konnte. Den beiden schloß sich noch Kurt Buck an. Als auch Amy Stewart zu ihnen stoßen wollte, lehnte Dhark ab. »Du bleibst bei der Hauptgruppe«, sagte er. Und er sagte es in ei‐ nem Ton, daß sie nach einem Blick auf sein Gesicht wortlos akzep‐ tierte. Rasch rückten die drei vor und entdeckten, nachdem sie etwa ein Viertel des Kreisumfangs der Galerie bewältigt hatten, circa 30 Gra‐
kos, die auf der Galerie vor der Innenseite des anderen Schotts standen. Sie sahen sie quasi »durch« die kilometergroße Kugel aus trans‐ parenter Schwarzenergie hindurch. »Wie lange werden wir unentdeckt bleiben, Commander?« »Nicht sehr lange«, beantwortete Ren Bucks Frage. »So wie wir sie sehen, werden sie auch uns entdecken. Ich denke …« Charauas Bildimpulse unterbrach den Commander. »Schon ge‐ schehen. Sie haben uns erblickt.« Die Grakos schienen überrascht; aufgeregt gestikulierten sie mit ihren Armen; merkwürdigerweise griffen sie nicht zu ihren Waffen, wie es Dhark erwartete. Statt dessen öffneten sie das Schott und rie‐ fen ihre Kampfroboter zur Hilfe. Dann eben so, dachte der Commander, als die Roboter auf die Ga‐ lerie rollten. Er hob den Karabiner, sein Daumen schaltete auf Dust. Charaua und Buck taten es ihm gleich. Ganz im Hintergrund seines Kopfes regte sich Verwunderung, daß seltsamerweise auch die Roboter keinen Gebrauch von ihren Waffen zu nehmen gedachten. »Jetzt!« sagte er. Charaua, Buck und er feuerten fast synchron mit Nadelstrahl in gerader Linie auf die Roboter. Die Nadelstrahlen drangen dabei durch den Außenbezirk der riesigen Energiekugel, kamen aber drüben nie an. Eine seltsame Stille dröhnte für Sekundenbruchteile in Dharks Ohren. Dann sahen seine aufgerissenen Augen, wie es zu gewaltigen Energieüberschlägen kam und die Kugel außer Kontrolle zu geraten schien. Was haben wir getan, wir Narren, dachte er und wußte, weshalb keiner der Grakos oder ihrer Roboter hier drin eine Waffe benutzte. Aus der Energiekugel war ein brüllendes, geiferndes Monster ge‐ worden, das nach ihnen griff und sie verschlingen wollte.
Ist das das Ende? dachte er noch, ehe er in den gleißenden Abgrund entarteter Energien zu stürzen drohte.
6. Doch es waren die Roboter auf der Galerie, die die Energieentla‐ dungen aus der gigantischen Kugel anzogen wie Blitzableiter. Sie zerlegten sich in ihre Einzelteile, sie zerschmolzen, sie zerplatzen, sie verschwanden einfach – sie wurden vernichtet. Charaua, der Herrscher der Nogk, senkte den Handnadelstrahler, mit dem er zuvor durch das Schwarzfeld hindurch auf die Kampf‐ roboter gefeuert hatte. Wieder zerplatzte eine der Maschinen durch einen Energieüberschlag aus dem Inneren dieses hyperenergetischen Gebildes. Es gab eine Art Rückkopplung, und für Sekunden wurde eine etwa zehn Meter große Region innerhalb jener gewaltigen, fast einen Kilometer durchmessenden Kugel aus chaotischer Energie, die in der Mitte des Hohlraumes schwebte, grell erleuchtet. Da verändert sich etwas! äußerte sich Charaua mit einem konzent‐ rierten Strom von Gedankenbildern. Offenbar bemerkte er als erster, was sich innerhalb dieser unfaßbaren Energiekugel tat. Sie war bisher gleichzeitig bunt und schwarz gewesen, wobei diese spezielle Art von Schwärze paradoxerweise vollkommen transparent und klar blieb. In dieser Kugel waren Hyperraumkräfte am Werk, die ein menschlicher Verstand nicht begreifen konnte. Wabernde Energien, Strukturen, Lichtblitze … Ren Dhark, Charaua und die nachrückenden Gardisten beobach‐ teten gebannt die Energieüberschläge, die aus dem Schwarzfeld zuckten und einen Roboter nach dem anderen ausschalteten. Die Facettenaugen des Ersten Nogk erfaßten die beiden aus diesem scheinbaren Chaos optisch herausragenden Objekte ‐zwei Kugeln aus gleißendem Licht – gleichzeitig. Sie befanden sich jeweils in der Nähe der Pole der schwarzbunten Energiekugel und wurden durch einen hell aufleuchtenden Schlauch aus purer Energie miteinander verbunden.
Ren Dhark und seinen Begleitern war schon beim ersten Betreten der Galerie schlagartig klargeworden, welch kosmisches Schauspiel sich ihnen hier bot. Hatte sich irgend etwas durch den Nadelstrahlbeschuß durch die‐ ses hyperenergetische Feld hindurch verändert? Das war die alles entscheidende Frage, die jetzt auch Dhark um‐ trieb. Der Kommandant der POINT OF senkte den auf Nadelstrahl ein‐ gestellten Multikarabiner, mit dem er auf die Kampfroboter der Grakos gefeuert hatte. Die Nadelstrahlen, die Dhark und Charaua abgefeuert hatten, waren dabei lediglich durch die Peripherie der schwarzen Energie‐ kugel gedrungen, die allerdings jetzt in unabsehbare Turbulenzen geriet. »Kein Nadelstrahlfeuer mehr!« sagte Dhark bestimmt. Aber der Nogk dachte auch gar nicht mehr daran, den Beschuß wiederaufzunehmen. Die gewaltigen, völlig unkalkulierbaren Energieüberschläge waren offenbar die Folge der Nadelstrahlschüsse. Wie zuckende Blitze schossen diese Überschläge immer wieder aus dem Dunkel des Hy‐ perfeldes und trafen die Kampfroboter, von denen einer nach dem anderen verschmorte. Die Maschinen leuchteten grell auf, zersprangen in Hunderte von glühenden Teilchen und erinnerten für Sekundenbruchteile an Wunderkerzen, bevor nichts mehr von ihnen übrig blieb. Möglicherweise haben wir gerade einen Fehler begangen, der uns das Le‐ ben kosten könnte! erkannte Dhark. Andererseits waren sie gezwungen gewesen, sich gegen die Kampfroboter präventiv zur Wehr zu setzen, wollten sie nicht ris‐ kieren, in deren Schwarzstrahlenfeuer vernichtet zu werden. Eine Gruppe von etwa dreißig Grakos war auf Dhark und seine Begleiter aufmerksam geworden und hatte die Roboter vorgeschickt. Dhark
wandte sich kurz an Charaua. Seine kräftigen Mandibeln bewegten sich leicht und erzeugten dadurch einen leisen, schabenden Laut. Die Facettenaugen wirkten kalt und teilnahmslos, aber jeder, der schon einmal mit einem Nogk in direkten Kontakt getreten war, wußte, daß dieser äußere Eindruck nicht den Tatsachen entsprach. »Wir werden sehen, welche Auswirkungen die Nadelstrahlen auf die Stabilität des Schwarzenergiefeldes haben«, wandte der Nogk seine Gedanken an Dhark. Inzwischen verschmorten die Grako‐Roboter in den Energieüber‐ schlägen, weil sie diese Blitze anzogen. Die gewaltige Energiekugel begann jetzt zu wabern und ihre Ausdehnung leicht zu verändern. Sie pulsierte wie eine gewaltige Blase aus purer Schwärze. Auch wenn keiner der anwesenden Ter‐ raner oder Nogk die Vorgänge innerhalb dieser Hyperenergiekugel auch nur ansatzweise zu verstehen vermochte, war doch unver‐ kennbar, daß sie im Begriff war, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Dhark starrte in die Schwärze und stellte fest, daß Transparenz und Klarheit teilweise nicht mehr vorhanden waren. Schlierenartige Strukturen hatten sich gebildet – offenbar Folgen der durch den Ge‐ brauch der Nadelstrahlen ausgelösten Turbulenzen. Charauas Fühler zitterten leicht, was bei einem Nogk das Zeichen für höchste Erregung war. »Die Lage gerät außer Kontrolle!« äußerte er sich in einer Flut von Gedankenbildern. »Für uns besteht akute Lebensgefahr.« Zischend zuckten immer wieder Blitze aus dem Dunkel der Schwarzenergiekugel. Die letzten Roboter verglühten. Dhark wußte, daß es gegen diese überspringenden Energien auf der Galerie keinen Schutz gab. Schon ein einziger dieser sprühenden Funken hätte ausgereicht, um nicht nur die aus Dhark, Charaua und Kurt Buck bestehende Vorhut zu töten, sondern vermutlich auch den Rest der Gruppe, der inzwischen nähergerückt war.
Amy Stewart stützte die durch die Auswirkungen der fünfdimen‐ sionalen Strahlung stark in Mitleidenschaft gezogenen Park und Pariot. Der Gardist Park war noch einigermaßen ansprechbar und zeigte bislang nur mittelschwere Symptome einer Strahlenverseuchung. Der Nogk Pariot hingegen war weitaus stärker betroffen. Die 5‐D‐Schutzanzüge beider waren notdürftig geflickt worden. Aber nur die gröbsten Löcher waren dabei mit Klebestreifen verschlossen worden, die sich darüber hinaus immer wieder lösten und keinen rechten Halt fanden. Teile der Anzüge waren bei dem Roboterangriff einfach zu sehr zerfetzt worden. Auch wenn es niemand in dieser Offenheit aussprach, aber eine wirkliche Hilfe war weder für den Gardisten Park noch für den Nogk Pariot möglich. Zudem machte das Ende der REESCH II eine Rettung mehr als unwahrscheinlich. Die unter dem Kommando von Charaua stehende Gruppe von Terranern und Nogk war vollkommen auf sich alleingestellt ‐und das angesichts eines kompromißlosen Gegners, der hartnäckigen Widerstand geleistet hatte. Die Energieüberschläge hatten inzwischen aufgehört. Aber das Chaos innerhalb der Schwarzenergiekugel tobte noch immer. Ihre Ausdehnung schwankte bis zu mehreren Dutzend Metern. Dhark fragte sich, ob die Auswirkungen des Nadelstrahlbeschus‐ ses nur in diesem Feld zu spüren waren oder ob sich die Turbulen‐ zen auch in irgendeiner Weise auf die Energieübertragung zwischen Sol und Proxima Centauri auswirkten. Schließlich wurde dieser Transfer ja offenbar von diesem Raum aus unmittelbar gesteuert. »Die Grakos haben das Energiegewitter anscheinend auch schadlos überstanden!« rief Kurt Buck und deutete auf die Gruppe der etwa dreißig Insektoiden, die sich ein Stück weiter die Galerie entlang gesammelt hatten. Ob sie nun in erster Linie darüber konsterniert waren, daß die von ihnen herbeigerufenen Kampfroboter so kläglich
gescheitert waren oder die Turbulenzen innerhalb der schwarzbun‐ ten Energiekugel sie in Unruhe versetzten, darüber konnte man nur spekulieren. Kurt Buck nahm seinen Multikarabiner mit beiden Händen. »Schnappen wir uns die Bande und sehen wir zu, daß wir aus ih‐ nen herausbekommen, wie die Anlage hier funktioniert!« meinte er und wollte schon losstürmen. Dhark hielt ihn zurück. »Warten Sie auf die anderen!« sagte er. Buck wandte sich um und schaltete am Multikarabiner herum. »Strich‐Punkt‐Beschuß müßte sie eigentlich außer Gefecht setzen!« meinte er. Der Hauptteil der Gruppe traf ein. Peter Schwengers war einer der ersten. Der massige Hauptmann faßte seine Waffe mit der Rechten, mit der Linken gestikulierte er. »Los vorwärts!« rief er. Zusammen mit Leutnant Buck und sechs anderen Gardisten setzte Schwengers zum Angriff auf die Gruppe der Grakos an. Die Waffen aller an diesem Angriff teilnehmenden Soldaten waren auf Strich‐Punkt geschaltet. Die blaßblauen Strahlen hatten auf organi‐ sches Leben aller Art eine stark lähmende Wirkung, die noch weitaus intensiver war als bei herkömmlichen Schockern. Also genau das richtige, um die ansonsten körperlich recht wider‐ standsfähigen Insektoiden gefangennehmen zu können. Schließlich war keinem damit geholfen, sie einfach nur zu vertrei‐ ben oder niederzukämpfen. Es ging darum, die Kontrolle über diese Anlage zu gewinnen. Nur so war eine Rettung für Terra vielleicht noch möglich. Jeder unbedachte Eingriff mußte unterbleiben. Die ungeahnte Wirkung der Nadelstrahlen, die ja schließlich nur die äußeren Regionen der schwarzbunten Kugel gestreift hatten, verdeutlichte dies auf erschreckende Weise.
Das System, dessen Aufgabe es war, den verhängnisvollen Ener‐ gietransfer von Sol nach Proxima Centauri aufrechtzuerhalten und zu kontrollieren, schien weitaus sensibler zu sein als bisher befürch‐ tet. Damit hatte sich die Option, die Grako‐Station im Hyperraum einfach nur zu zerstören, endgültig erledigt. Schon kleinste Schwankungen in dem sensiblen Gleichgewicht, in dem sich das Steuersystem befunden hatte, schienen geradezu ver‐ hängnisvolle Auswirkungen zu haben. Aber vielleicht ist es für gute Vorsätze auch schon zu spät! befürchtete Dhark, den die nach wie vor innerhalb der eigenartigen Schwärze tobenden Turbulenzen immer besorgter machten. Hier schien etwas nachhaltig in ein Ungleichgewicht geraten zu sein. Der berühmte Flügelschlag eines Schmetterlings, der theoretisch einen Tornado auf der anderen Erdhalbkugel auszulösen vermag, war in diesem Fall vielleicht der Schuß eines Nadelstrahlers! überlegte er. Schwengers, Buck und sechs weitere Gardisten stürmten die Gale‐ rie entlang und deckten die Grakos mit Strich‐Punkt ein. Die blaß‐ blauen Strahlenblitze zuckten aus den Mündungen der Multikara‐ biner und erfaßten einen Insektoiden nach dem anderen. Da die Grakos hier auf der Station nicht von einem wabernden Hyperraumfeld umgeben wurden, das sie tarnte und kaum sichtbar werden ließ, war es auch sehr viel leichter als üblich, die Schatten zu treffen. Einige versuchten, hinter die auf der Galerie befindlichen Maschi‐ nenblöcke zu flüchten, aber die Gardisten ließen ihnen keine Chance dazu. Blaßblaue Strahlenblitze erfaßten sie und ließen sie sofort niedersinken. Regungslos fielen sie zu Boden. »Alle Grakos sind kampfunfähig!« meldete Schwengers. Dhark und der Rest der Gruppe erreichten wenig später den Ort des Geschehens. Er wechselte einen Blick mit Amy.
Der weibliche Cyborg stützte nach wie vor Pariot und Park, die beide einen ziemlich geschwächten Eindruck machten. Daß es ihnen nicht gut ging, war unübersehbar. Als sie die Stelle erreichten, an der die ersten Grakos regungslos auf dem Boden lagen, mußten Park und Pariot sich setzen. »Verdammt!« stöhnte Park. Der Koreaner ließ sich neben einem der technischen Aggregate nieder und lehnte sich dagegen. Pariot kauerte sich ebenfalls auf den Boden. Die Fühler des Nogk zitterten schon eine ganze Weile. An dem halb insektoiden, halb reptilienhaften Körper Pariots bildeten sich infolge der Strahlenver‐ seuchung bereits offene Wunden. Außerdem stieß er in einem Vor‐ gang, der das Nogk‐Äquivalent eines Hustenanfalls sein mußte, ein schleimiges Sekret aus. Dem Koreaner Park ging es dagegen noch verhältnismäßig gut. Er klagte lediglich über ein starkes Schwindel‐ gefühl. »Doc« Edwards kümmerte sich um die beiden. »Wie sieht es aus?« fragte Amy ziemlich besorgt. »Der Zustand ist im Moment einigermaßen stabil«, erklärte Ed‐ wards, nachdem er die beiden mit einer kurzen Untersuchung mit einem Diagnosesuprasensor unterzogen hatte. »Die Pause wird ih‐ nen auf jeden Fall guttun!« Dhark warf indessen einen weiteren besorgten Blick in die inzwi‐ schen kaum noch transparente Schwärze der gigantischen Hyper‐ energiekugel in der Mitte des Zentralraumes. Sie begann immer stärker zu wabern, und die schlierenartigen Strukturen breiteten sich aus. Manchmal überdeckten sie den gleißend hellen Energie‐ schlauch, der Sol und Proxima Centauri miteinander verband. Die Kräfte, die dort wirkten, vermochte sich der menschliche Verstand noch nicht einmal vorzustellen. Kräfte, die es erlaubten, den Fusi‐ onsbrand von Sonnen nahezu nach Belieben wie in einem Kamin anzuheizen oder zu drosseln und gigantische Materiemengen über Lichtjahre hinweg mühelos zu übertragen.
Charaua hatte die ganze Zeit über die Turbulenzen im Auge be‐ halten. »Ich glaube, die Energiekugel stabilisiert sich wieder!« erklärte er. »Die Energieausschläge haben völlig aufgehört, seit die letzten Kampfroboter zerstört wurden.« »Aber was ist mit den schlierenartigen Strukturen und …« Charaua blickte auf sein Ortungsgerät. Er schien Dharks Frage zu ahnen und erklärte: »Ich kann mit mei‐ ner Technik ebensowenig die Geschehnisse innerhalb der Kugel erfassen wie die Terraner. Aber Faktoren wie die Ausdehnung kön‐ nen nichtsdestotrotz exakt vermessen werden. Die Größenschwan‐ kungen der Kugel haben nachgelassen und finden in immer längeren Intervallen statt. Ich nehme daher an, daß sich auch das Innere der Kugel bald wieder normalisiert haben wird.« * Inzwischen sahen sich die Gardisten bei den niedergestreckten Grakos um. Eigentlich hatten sie angenommen, daß sie alle nur be‐ täubt waren. Doch das war ein Irrtum. »Sir, ich glaube, der hier ist tot!« stellte Kurt Buck fest, während er mit Hilfe eines Diagnosegerätes die Lebensfunktionen eines vor ihm liegenden Grakos zu erfassen versuchte. Offenbar vergeblich. »Was?« entfuhr es Schwengers, der den Gardisten mit dem Rest der Gruppe gefolgt war und sich inzwischen ebenfalls bei den nie‐ dergestreckten Grakos umgesehen hatte. Er nahm jetzt eigene Mes‐ sungen vor, die jedoch die Ergebnisse Bucks nur bestätigten. »Einige der Grakos sind tatsächlich tot!« stellte er fest. »Woran kann das liegen?« fragte Dhark irritiert. »Entweder reagieren die Grakos einfach nur besonders empfind‐ lich auf Strich‐Punkt‐Strahlen«, äußerte sich Leutnant Buck, »oder das hat mit den besonderen Bedingungen im Hyperraum zu tun.«
»Doc!« rief Schwengers und zitierte damit Rick Edwards zu sich, der sich in der Zwischenzeit um Pariot und Park gekümmert hatte. »Ja, Sir?« meldete sich der Gardist sofort. »Untersuchen Sie bitte, was hier los ist!« »Jawohl, Hauptmann.« »Und wecken Sie die noch lebenden Grakos aus Ihrer Bewußtlo‐ sigkeit. Wir müssen mit ihnen sprechen.« »In Ordnung«, nickte Edwards. Der Reihe nach untersuchte er die am Boden liegenden Insektoi‐ den. Bei etlichen konnte er nur noch den Tod diagnostizieren. »Ich vermute, daß die unerwartet starke Wirkung der Strich‐Punkt‐Strahlen daher rührt, daß diese Grakos ohne ihr schüt‐ zendes Halbraumfeld getroffen wurden, das sie normalerweise um‐ gibt«, vermutete er. »Jedenfalls erscheint mir das die einzig logische Erklärung zu sein.« Doc Edwards deutete auf einen der Grakos. »Ich glaube, der hier warʹs! Ich habe ihn nur gestreift und mich darüber erst sehr geärgert. Aber er fiel trotzdem wie ein gefällter Baum zu Boden, obwohl ihn die Wirkung des Strich‐Punkt‐Strahls norma‐ lerweise eigentlich nur etwas benommen hätte machen dürfen!« Denjenigen unter den Grakos, die noch am Leben waren, setzte Edwards eine Injektion, um sie aufzuwecken, nachdem mehrere Gardisten sie ihrer Schwarzstrahler entledigt hatten. Die Wiederer‐ weckten litten sichtlich unter den Nachwirkungen des Strahlenbe‐ schusses. »Ich empfange vollkommen chaotische Gedankenbilder«, erklärte Charaua. Er wandte sich an Dhark. »Wenn du mich fragst, dann sind hier einige der überlebenden Grakos geistig nicht mehr gesund.« »Eine Messung der Hirnwellen weist tatsächlich eine erhebliche Abweichung von den für Grakos üblichen Vergleichsnormen auf«, ergänzte Doc Edwards. »Allerdings kann ich auch da wiederum nicht sagen, ob das nicht mit dem fehlenden Halbraumfeld in Zu‐ sammenhang steht …«
Einer der Wiedererweckten erhob sich vom Boden. Der Grako war etwas größer als der Durchschnitt seiner Art. Dhark schätzte ihn auf mindestens 1,90 Meter. Vorsichtig und sehr langsam bewegte er den insektoiden Kopf mit den dunkelgrauen Facettenaugen, die zu sehr guter Nachtsicht fähig waren. Er beugte den langgestreckten Schädel etwas nach vorne. Die Kauzangen rieben gegeneinander. Dabei ent‐ stand ein schabender Laut. Die fühlerartigen Auswüchse an den Augenwülsten bewegten sich etwas. Der Blick war auf die Energie‐ kugel gerichtet, deren Inneres sich inzwischen wieder zur Gänze beruhigt zu haben schien. Er streckte eine seiner Extremitäten aus. »Was ist dort geschehen?« übersetzte Dharks Translator dem Ter‐ raner die Folge von Lauten, die zwischen den Beißzangen des Gra‐ ko‐Kriegers hervordrangen. Die an eine riesige Gottesanbeterin erinnernde Gestalt des Grakos stolperte ungeschickt nach vorn in Richtung des Geländers, das die Galerie begrenzte. »Wo sind wir?« übersetzte der Translator die Lautfolge, die er nun hervorbrachte. Die beiden jungen Gardisten Tom Giff und Ben Ward standen in der Nähe und wirkten etwas unschlüssig. »Sollen wir den Kerl fesseln?« wandte sich Tom Giff an Haupt‐ mann Schwengers. »Ich glaube, das ist nicht nötig«, lautete die Ansicht des Haupt‐ manns. »Oder wie schätzen Sie den Zustand dieses Grakos ein, Doc?« wandte sich Schwengers an Edwards. »Akute geistige Desorientierung«, lautete Rick Edwardsʹ Diagnose. »Der Bursche hier scheint allerdings nicht der einzige zu sein, auf den diese Zustandsbeschreibung zutrifft.« »Ist das auch eine Auswirkung des Strich‐Punkt‐Beschusses?« er‐ kundigte sich Kurt Buck. »Ich fürchte ja«, antwortete Edwards. »Das Halbraumfeld, das die Grakos normalerweise umgibt, scheint eine noch sehr viel weiter‐
gehende physiologische Wirkung auf den Grako‐Organismus zu haben, als wir bisher angenommen haben.« Eine ganze Reihe von wiedererweckten Grakos irrte bald orien‐ tierungslos über die Galerie. Die Terraner verzichteten darauf, sie gefangenzusetzen und zu fesseln. Sie waren offensichtlich harmlos, wirkten benommen und bewegten sich sehr langsam. Wenn sie mit Hilfe eines Translators angesprochen wurden, reagierten sie wirr und orientierungslos. Sie schienen die Situation, in der sie sich befanden, geistig nicht mehr zu erfassen. Von ihnen irgendwelche Auskünfte über die Funktionsweise der Station zu erwarten, war völlig abwegig. Edwards hatte schließlich etwa zwei Drittel der noch lebenden Grakos mittels einer Injektion aus ihrer Betäubung geweckt, aber bislang war noch kein einziger darunter gewesen, der normal ans‐ prechbar gewesen wäre. »Der Zustand dieser Grakos ist nicht simuliert«, war Charaua überzeugt. Die spezielle Art der Telepathie, wie sie von den Nogk praktiziert wurde, erlaubte es zwar nicht, die Gedanken fremder Individuen einfach abzuhören und auszuforschen. Aber die konzentrierten Ströme von Gedankenbildern, die von ihnen ausgingen, schienen so chaotisch zu sein, daß Charaua daraus eine eindeutige Schlußfolge‐ rung ziehen konnte. Inzwischen beugte sich Edwards zu einem der letzten Grakos hi‐ nunter, bei dem noch Bioimpulse nachweisbar waren, und verab‐ reichte ihm seine Injektion. Gardist Janu Kerr stand in der Nähe, um den Doc zu sichern. Schließlich konnte man ja nicht sicher sein, ob wirklich alle Grakos in gleicher Weise in Mitleidenschaft gezogen worden und de‐ mentsprechend ungefährlich waren. Ein Zucken durchlief die Gliedmaßen des Insektoiden. Beißwerk‐ zeuge und Extremitäten bewegten sich, und Doc Edwards war in‐
nerhalb des nächsten Sekundenbruchteils klar, daß diese Reaktion mit den fast lethargischen Bewegungen seiner bisher aufgeweckten Artgenossen nicht das geringste gemein hatte. Doch da war es schon zu spät. Der Grako entwickelte dank seiner kräftigen Hinterbeine eine fast explosive Sprungkraft und stürzte sich auf den nächstbesten Terra‐ ner – Gardist Janu Kerr. Der Grako warf sich mit vollem Gewicht auf Kerr. Der Gardist versuchte im letzten Moment noch der Attacke auszuweichen, aber der Angriff erfolgte einfach zu überraschend und wurde darüber hinaus auch noch mit äußerster Schnelligkeit und Härte durchge‐ führt. Janu Kerr taumelte und brach unter der Wucht des Grako‐Körpers zusammen. Um mit dem Multikarabiner zu reagieren, war es schon zu spät. Eines der Greifwerkzeuge des Insektoiden umfaßte die Waffe und versuchte sie Kerr zu entreißen. Kurt Buck und Ben Ward sprangen sofort hinzu und griffen nach den oberen Extremitäten. Ein weiterer Gardist half ihnen, den wi‐ derspenstigen Grako zu fixieren. »Ein paar Kunststoffbinder!« rief Buck. »Aber schnell! Der Käfer hier hat verdammt viel Kraft!« Der Grako wehrte sich verzweifelt, mußte sich der Übermacht al‐ lerdings geschlagen geben. Noch als er gefesselt am Boden lag, versuchte er, sich zu befreien. Allerdings war sein Widerstand jetzt zwecklos. »Alles in Ordnung, Kerr?« fragte Hauptmann Schwengers, nach‐ dem Janu sich wieder aufgerappelt hatte. »Ja, Sir!« »Lassen Sie von Ihren Kameraden kontrollieren, ob Ihr Schutzan‐ zug etwas abbekommen hat«, wies Schwengers den jungen Gardis‐ ten an. »Jawohl«, bestätigte Kerr.
Dhark und Charaua wandten sich dem Gefangenen zu. Dieser stieß einen Schwall von Lauten aus. »Auch wenn es sich nicht gerade um Freundlichkeiten handelt, die uns der Gefangene da entgegenschleudert, so scheint er mir doch geistig und körperlich einen Status normaler Leistungsfähigkeit aufzuweisen«, meinte der Erste Nogk. Die Untersuchungen, die Edwards mit Hilfe seines Diagnosesup‐ rasensors durchführte, schienen diese Vermutung zu bestätigen. »Die Hirnaktivität weist normale Werte auf, und auch die anderen physiologischen Vergleichsparameter scheinen sich im Normbereich zu bewegen – soweit wir das beim bisherigen Stand der Forschung sagen können!« Zwar hielten terranische Truppen nach wie vor den Planeten Grah besetzt, um dort beim Aufbau einer neuen Ordnung mitzuhelfen, so daß die Bedingungen für Exobiologen und Exomediziner, die sich mit der Physiologie der Grakos befaßten, eigentlich sehr günstig waren und keinerlei Restriktionen unterlagen. Andererseits bestand die Generation der erwachsenen Grakos ausnahmslos aus Trägern von Halbraumfeldern, die innerhalb der alten Ordnung auf Grah normal gewesen waren. Es würde Jahre dauern, bis der Plan der regierenden Gordo, eine Generation ohne diese hyperenergetische Fessel heranreifen zu lassen, endlich Wirklichkeit wurde. Inwiefern diese Felder jedoch möglicherweise bei bisherigen For‐ schungen Meßergebnisse verfälscht hatten, war bislang nicht be‐ kannt. Es war also durchaus möglich, daß die in Doc Edwardsʹ Diagno‐ sesuprasensor enthaltenen Normwerte in Wahrheit gar nicht die Norm darstellten. »Wer bist du?« fragte Dhark an den Gefangenen gerichtet. »Beta‐Krieger 268!« übersetzte der Translator die Lautfolge, die der Grako hervorbrachte. Damit gab er sich als ranghoher Offizier der alten Ordnung zu er‐ kennen.
»Als Beta‐Krieger weißt du bestimmt über die Funktion dieser Sta‐ tion genauestens Bescheid und verfügst über weitreichende Sicher‐ heitsautorisationen«, vermutete Dhark. »Möge alle Terraner mein Haß treffen!« stieß der Beta‐Krieger hervor. »Ein gerechter Zorn gegen eine unwürdige Spezies, die es gewagt hat, sich den Grakos entgegenzustellen!« »Die alte Ordnung ist Geschichte!« erwiderte Ren Dhark so ruhig, wie es ihm in dieser insgesamt recht angespannten Lage möglich war. »Das letzte Wort der Geschichte ist noch nicht gesprochen«, erwi‐ derte der Grako. »Der Triumph eurer minderwertigen Spezies wird nicht von Dauer sein.« Charaua wandte sich ab. Die fühlerartigen Fortsätze bewegten sich heftig. »Die Gedankenbilder dieses Grako werden von einem un‐ stillbaren Haß auf alles Terranische geprägt!« erklärte der Nogk. »In dieser Konzentration und Intensität sind sie nur schwer erträglich.« »Er lebt in der Vergangenheit«, sagte Dhark. »Ja – und in der Vergangenheit liegt auch der Grund für seinen Haß und seine Verblendung«, stimmte Charaua zu. »Du solltest dir überlegen, ob du nicht mit uns kooperierst«, wandte sich Dhark an den Beta‐Krieger. Dafür, daß dieser ehemals hohe Offizier in den Streitkräften der Grakos seine Schwierigkeiten mit dem Sieg der Terraner und dem Umsturz der althergebrachten Ordnung hatte, konnte der weißblonde Terraner sogar Verständnis aufbringen. Die Grakos hatten durch die Machtübernahme der Gordo einen Kulturbruch hinter sich wie sonst kaum ein anderes galaktisches Volk. Aber mit dieser neuen Ordnung wollte der Be‐ ta‐Krieger offenbar nichts zu tun haben. Dhark setzte jedoch darauf, daß sich auch bei Beta‐Krieger 268 ir‐ gendwann der Sinn für Realitäten behaupten würde. Die Würfel waren nun einmal gefallen, und so sehr auch so man‐ cher aus den höheren Offiziersrängen der Grakos der alten Zeit nachtrauern mochte und den Widerstand gegen die Terraner viel‐
leicht nie wirklich aufgegeben hatte, so unwahrscheinlich war es doch, daß es diesen Kräften gelang, das Rad der Geschichte einfach zurückzudrehen. Die Tatsache, daß auf Grah jetzt eine neue Generation von Grakos heranwuchs, die sich ohne die entwicklungshemmenden Halb‐ raumfelder entfalten konnten, mußte in jenen, die anders aufge‐ wachsen waren, natürlich mehr als nur zwiespältige Gefühle erzeu‐ gen. »Nimm dich vor mir in acht, Terraner!« knurrte BK 268. »Bei der erstbesten Gelegenheit werde ich dich töten – ohne Rücksicht auf mein eigenes Leben!« »Das glaube ich dir gerne!« sagte Dhark. »Dazu seid ihr erzogen worden …« »Wir sind stolz darauf, nicht einer verweichlichten neuen Genera‐ tion anzugehören, die sich den Gordo‐Knechten der Terraner willig unterwirft!« »Kennst du mich?« fragte Dhark. Die Antwort des Beta‐Kriegers bestand in einem durchdringenden Schabelaut seiner Beißwerkzeuge. Ein Geräusch, das wie ein ohren‐ betäubendes Kreischen klang. Trotz der Fesselung bewegte sich der Grako auf Dhark zu. Die Kauzangen spreizten sich plötzlich. Der schier unerträgliche Schabelaut verstummte, und BK 268 stürzte sich auf Dhark. Aber noch bevor irgendein Schaden entstand oder der Commander der POINT OF auch nur dazu gezwungen gewesen wäre zu reagie‐ ren, hatte Charaua eingegriffen. Mit seinen oberen Extremitäten stieß der Nogk den Angreifer zu Boden. Hart kam BK 268 auf, rollte sich um die eigene Achse und stieß eine Folge von Lauten hervor, deren unfreundlichen Bedeutungsgehalt weder der Translator noch Cha‐ rauas telepathische Fähigkeiten vollends zu erfassen vermochten. Als zusammengeschnürtes Bündel wand er sich zuckend auf dem Boden und knirschte auf barbarische Weise mit den Kauzangen.
»Verrecken sollen die Terraner und ihre Gordo‐Knechte!« rief er. »Tod der Terranerbrut! Möge der Regen von Grah sie davonspülen wie Unrat!« »Ich bin Ren Dhark, der ehemalige Commander der Planeten«, sagte Dhark ruhig. Gewiß war er auch unter Grakos eine bekannte Persönlichkeit, andererseits mußte er dem am Boden liegenden Be‐ ta‐Krieger zugute halten, daß es diesem vielleicht ebenso schwerfiel, menschliche Gesichter auseinanderzuhalten und wiederzuerkennen, wie Menschen so ihre Probleme damit hatten, die individuellen Formen von Grako‐Kauzangen wiederzuerkennen. »Es ist mir gleichgültig, wer du bist! Den Tod würde ich dir so oder so an den Hals wünschen!« schleuderte ihm der Beta‐Krieger noch einmal seinen ganzen Haß entgegen. »Wenn du kooperierst, könnte ich bei der neuen Gordo‐Regierung ein gutes Wort für dich einlegen, Beta‐Krieger 268!« brachte es der Terraner jetzt auf den Punkt, auf den er von Anfang an im Gespräch mit dem Gefangenen hatte zusteuern wollen. »Verstehst du mich? Du mußt in jedem Fall damit rechnen, an die neue Gordo‐Regierung ausgeliefert zu werden, aber wenn du dich nun zu einer vernünfti‐ gen Zusammenarbeit entschließt, hättest du vielleicht die Chance auf einen Neuanfang!« »Ich bin an einer solchen Chance, wie du es nennst, nicht interes‐ siert!« erwiderte der Insektoide, und selbst die eher zur Nüchternheit neigende Übertragung durch den Translator erhielt einen Großteil der im Original überdeutlich spürbaren Verachtung, mit der BK 268 diese Worte sprach. »Überlege es dir gut, ob du dieses Angebot wirklich ausschlägst!« gab Dhark zu bedenken. Doch für den Gefangenen schien jedweder Gedanke an eine Koo‐ peration mit dem verhaßten terranischen Feind völlig abwegig zu sein. »Ein Angebot, das auf Verrat und Ehrlosigkeit hinauslaufen wür‐ de!« meinte er.
»Es ist nicht ehrlos, sich als Krieger der Zeit des Friedens anzu‐ passen!« erwiderte Dhark so gelassen, wie es ihm in dieser Situation möglich war. »Das sehe ich anders, Terraner! Ren Dhark – oder wer immer du auch in Wahrheit sein magst –, ich bin keiner dieser Feiglinge, die den Frieden wählen, weil sie Furcht vor dem Krieg haben! Kein eh‐ renhafter Grako‐Krieger sollte sich zu einem derartig niederträchti‐ gen Verrat hinreißen lassen – und ich werde es auch nicht tun! Mit Freuden gäbe ich mein Leben dafür, den terranischen Unterdrückern von Grah oder ihren Gordo‐Freunden schaden zu können!« »Der Krieg ist vorbei, Beta‐Krieger 268!« gab Dhark zu bedenken. »Für mich niemals!« »Dann bist du ein Narr!« »Lieber ein Narr mit Ehre als ein Kollaborateur mit dem Feind! Und wenn du glaubst, mich umstimmen zu können, bist du leider im Irrtum. Du mußt mich schon töten, Ren Dhark! Aber eines kann ich dir versprechen: Ich werde meine Geheimnisse mit in den Tod neh‐ men. Es wird niemand etwas aus mir herausholen können!« »Es hat keinen Sinn!« äußerte sich Charaua. »Wenn man mit je‐ mandem zu argumentieren versucht, der in der alten Ordnung der Grakos als Beta‐Krieger gedient hat, dann kann man ebenso mit ei‐ nem kalten Stein zu diskutieren versuchen!« erklärte der Nogk. Alles in Dharks Innerem rebellierte dagegen, an dieser Stelle auf‐ zugeben, zumal Edwards inzwischen die Untersuchung der anderen Grakos abgeschlossen hatte. Diese waren entweder tot oder geistig verwirrt. Beta‐Krieger 268 war der einzige aus der Dreißigergruppe, die die Kampfroboter herbeigerufen hatte und dann von Schwengers und seinen Gardisten gestellt worden war, der sich zumindest geistig noch im Normalzustand befand. Inwiefern man Kadavergehorsam und eine fanatische Hingabe an eine bestimmte politische Ordnung ebenfalls als einen Zustand geistiger Ver‐
wirrung betrachten kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt! über‐ legte Ren Dhark. »Dir ist klar, daß wir dich der Gordo‐Regierung ausliefern werden, auf deren Vorgehen wir erheblichen Einfluß haben!« versuchte Dhark dem Grako ein letztes Mal vorzuhalten, was ihn erwartete. »Das ist mir gleichgültig! Die Gordo sind nichts weiter als terrani‐ sche Marionetten!« Charaua hat recht! dachte Dhark. Es ist sinnlos, mit diesem Fanatiker argumentieren zu wollen!
7. Etwas früher … Kappa‐Krieger 46.157 stolperte vorwärts. Seine Kauzangen waren gegeneinandergepreßt und wirkten wie erstarrt. Er hielt inne, wandte den Kopf und musterte mit seinen Facettenaugen die unü‐ bersehbaren Spuren des grausigen Chaos, das gerade hinter ihm lag und das er wie durch ein Wunder überlebt hatte. Die meisten Roboter waren zerstört, und die anderen drei Grakos, die sich in seiner Nähe befunden hatten, waren verbrannt. Nichts als ein paar zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzene Materie‐ klumpen waren von ihnen geblieben. KK46 157 lief weiter. Es war eine heillose Flucht, auch wenn er sich das nicht eingeste‐ hen mochte. Schließlich widersprach es der Ehre eines Gra‐ ko‐Kriegers, vor dem Feind zu weichen, mochte dessen Überlegen‐ heit auch noch so überwältigend sein. Ein vorübergehender taktischer Rückzug – mehr ist es nicht! versuchte sich KK 46.157 einzureden. Im Grunde kann man das als eine Vorberei‐ tung zu einem Gegenangriff sehen – und die entspricht sehr wohl dem Eh‐ renkodex der Krieger! Die dünnen, aber nichtsdestotrotz sehr kraftvollen Hinterbeine des Insektoiden sorgten dafür, daß er recht schnell vorwärts kam. An seiner linken Seite gab es mehrere Stellen, an denen ihn die Hitze des Super‐Napalms erfaßt und leicht versengt hatte. Aber das war nichts Lebensgefährliches. Und als Krieger war er es gewohnt, etwas ein‐ zustecken und Schmerzen zu erdulden, ohne sich großartig darüber zu beklagen. Der einzelne war nichts ohne sein Volk. Das war die tiefste Überzeugung des Kappa‐Kriegers. Mochte die neue Ordnung der Gordo, die sich inzwischen auf Grah mit Hilfe der Terraner etabliert hatte, hier auch andere Prioritäten setzen und der indivi‐ duellen Selbstentfaltung einen größeren Spielraum lassen, so glaubte
KK 46.157 nicht, daß dieses größere Maß an individueller Freiheit wirklich der Gesamtheit seiner Spezies dienen konnte. Eine starke Führung und eine vorherbestimmte Position des ein‐ zelnen im Staat – das waren die Garanten für Stabilität und Stärke. Und stark mußten die Grakos sein, um sich ihrer zahlreichen Ge‐ gner zu erwehren. KK 46.157 suchte nach einer Mikrophon Verbindung. Es gab überall Anschlußmöglichkeiten für mobile Mikrophone, aber da er keines bei sich hatte, war er auf eine der wenigen fest installierten Mikrophonanschlüsse angewiesen. Ich muß mit Beta‐Krieger 268 Kontakt aufnehmen! dachte er. Die Lage war schließlich ernst, und es war wichtig, daß BK 268 über den ak‐ tuellen Stand der Dinge informiert wurde, um mit seiner Gruppe sofort Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Denn darauf kam es nach Meinung von KK 46.157 jetzt an! Die Eindringlinge hatten sich als überraschend stark erwiesen. Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wurde, war die Station vielleicht nicht mehr zu halten. Für KK 46.157 war es ohnehin ein Rätsel, wie der Feind überhaupt so weit hatte kommen können. Eigentlich schloß die hochentwickelte Sicherheitstechnik der Sta‐ tion dies aus. Endlich fand KK 46.157 einen der raren festinstallierten Mikro‐ phonanschlüsse . Er löste die Wandklappe, hinter der sich der Anschluß befand, und gab die Verbindungsdaten ein. Wenig später meldete sich Beta‐Krieger 268. »Kappa‐Krieger 46.157 erstattet Meldung!« »Ich höre!« Einen Augenblick lang zögerte KK 46.157. Sollte er das Geschehene wirklich in all der Ehrlosigkeit darstellen, die der Wahrheit entsprach? Der Feind hatte sich als stärker erwie‐
sen, und das hätte eigentlich nicht sein dürfen. Die Verteidigung gegen die Eindringlinge war gescheitert. Im Bewußtsein des Kappa‐Kriegers stritten in dieser Sekunde zwei Seelen. Die eine weigerte sich einfach, die Niederlage als solche zu akzep‐ tieren, bei der anderen handelte es sich schlicht und ergreifend um die Stimme der militärischen Disziplin. Es war einfach wichtig, daß der Beta‐Krieger über die Geschehnisse möglichst wirklichkeitsge‐ treu informiert wurde. Die Ehre des einzelnen spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Sie konnte schließlich gegebenenfalls durch einen erhöhten Op‐ fermut oder noch bedingungsloseren Einsatz in der Zukunft wie‐ derhergestellt werden. »Kappa‐Krieger 46.157 meldet die vollkommene Vernichtung sei‐ ner Einsatzgruppe durch den Feind. Es fand ein Totalverlust der meisten Roboter statt. Die verbleibenden Maschinen haben erhebli‐ che Schäden und sind nur noch bedingt einsetzbar. Die drei zu meiner Einsatzgruppe gehörenden Kappa‐Krieger sind vernichtet worden.« Die Antwort des wesentlich ranghöheren Beta‐Kriegers über‐ raschte KK 46.157. Er erfuhr, daß seine Gruppe nicht als einzige von den Eindring‐ lingen aufgerieben worden war. Dasselbe Schicksal hatte auch die Einheit von Grako‐Kriegern ereilt, die sich hinter dem Schwarz‐ schirm befunden hatte. »Darüber hinaus wurde das Überwachungssystem sabotiert«, be‐ richtete BK 268. »Daher wissen wir nicht, wo sich die Eindringlinge gegenwärtig befinden. Im Augenblick arbeitet meine eigene Ein‐ satzgruppe daran, den Schaden zu beheben und die Kontrolle über die Überwachungsanlagen zurückzugewinnen, aber das erweist sich als ziemlich schwierig.« KK 46.157 stockte der Atem.
Die Situation war also noch wesentlich brenzliger, als er gedacht hatte. Die Offenheit, mit der der Ranghöhere im übrigen seine Nie‐ derlage eingestand, erschreckte den Kappa‐Krieger mindestens ebenso. Daß sich hinter deinen matten Facettenaugen der Geist eines ent‐ scheidungsschwachen Feiglings verbirgt, habe ich immer schon geahnt! ging es dem Kappa‐Krieger durch den Kopf. Aber offenbar geht deine Ehrlosigkeit so weit, daß du dich mit der Niederlage innerlich schon abge‐ funden hast und nur noch halbherzige Versuche unternimmst, um sie ab‐ zuwenden! Ich hätte nicht in meinen schlimmsten Alpträumen gedacht, daß ein Beta‐Krieger so wenig Ehre haben könnte! Natürlich hütete sich KK 46.157 davor, seine Geringschätzung auch verbal zum Ausdruck zu bringen. Davor bewahrte ihn der Sinn für militärische Disziplin und der unbedingte Gehorsam, den er dem Ranghöheren schuldig zu sein glaubte – und zwar ausschließlich auf Grund des Ranges und völlig ungeachtet irgendwelcher persönlicher Animositäten oder gar un‐ terschiedlicher Lageeinschätzungen. »Ehrenhafter Beta‐Krieger, ich bitte darum, einen Vorschlag ma‐ chen zu dürfen!« brachte KK 46.157 schließlich hervor. Daß Unter‐ gebene ihren Vorgesetzten Vorschläge machten oder diese gar mit ihnen ausdiskutierten, kam bei den Grakos normalerweise so gut wie nie vor. Schließlich war es die Aufgabe des Vorgesetzten, aus der gegebenen Lage die richtigen Schlüsse zu ziehen und entsprechende Befehle zu geben. Der Ranghöhere mußte die Übersicht behalten, Entscheidungen treffen und später auch die Konsequenzen tragen. Aber angesichts der prekären Lage und der Tatsache, daß KK 46.157 dem Beta‐Krieger auf der anderen Seite der Mikrophonleitung einfach nicht zutraute, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, fühlte er sich zu diesem Schritt geradezu gedrängt. Wenn es eine Situation gibt, die Opfermut erfordert, dann diese! dachte er. Für feiges Taktieren ist es längst zu spät! Der Feind muß jetzt mit aller Entschlossenheit bekämpft werden! Und dabei sollte ein ehrenhafter Krieger auch den eigenen Tod in Kauf nehmen.
Doch KK 46.157 spürte instinktiv, daß sein Vorgesetzter in diesen Dingen weitaus weniger radikal dachte. Dennoch war es KK 46.157 wichtig, seinen Vorschlag vorzubringen und damit gewissermaßen seine Pflicht erfüllt zu haben. »Welchen Vorschlag?« fragte der Beta‐Krieger. War nicht auch allein schon die Tatsache, daß er den Vorschlag eines Untergebenen überhaupt anzuhören bereit war, ein Beweis für das völlige Fehlen eigener Optionen? Er ist ratlos! erkannte Kap‐ pa‐Krieger 46.157. Er ist völlig ratlos. Wahrscheinlich ist es die Angst, die ihn lähmt, das Richtige zu tun. Ein Weichling, der sich scheut, sein eigenes Leben mutig einzusetzen, um dem Feind zu schaden – so wie es immer unserer Tradition entsprochen hat! Die Verachtung, die KK46 157 für den Beta‐Krieger empfand, wuchs ins Uferlose, auch wenn er noch immer nicht das geringste davon nach außen dringen ließ. »Ehrenhafter Beta‐Krieger, wir sollten die Station umgehend räu‐ men …« KK 46.157 ließ bewußt eine Pause. Schließlich wollte er seinem Vorgesetzten doch noch die Möglichkeit geben, die richtige Ent‐ scheidung von sich aus zu treffen. Eine Entscheidung, die doch so naheliegend war, daß der Kappa‐Krieger einfach nicht verstehen konnte, weshalb sein Vorgesetzter sie geflissentlich übersah. Konnte es denn wirklich sein, daß einem Beta‐Krieger das eigene Leben wichtiger war als der Sieg über den Feind? War es denn mög‐ lich, daß es für BK 268 ein höheres Ziel war, die eigene Existenz zu erhalten, als die Eindringlinge abzuwehren? In der alten Zeit hätte es so etwas nicht gegeben! »Wir sollten die Station verlassen und dann sprengen!« erklärte der Kappa‐Krieger schließlich und versuchte alle Überzeugungskraft in seine Worte zu legen, zu der er fähig war. Er war schließlich nur ein einfacher Kappa‐Krieger und kein hoher, in taktischen Fragen ge‐ schulter Offizier. Ein einfacher Soldat, der zu wissen glaubte, was
richtig und was falsch war. »Falls das nicht möglich sein sollte, so sollten wir …« … die Station dennoch sprengen, hätte der Kappa‐Krieger noch sagen wollen, aber sein Vorgesetzter schnitt ihm das Wort ab. »Das kommt nicht in Frage«, sagte BK 268. Er begründete das nicht weiter. Als Vorgesetzter mußte er das auch nicht. »Kappa‐Krieger 46.157 – begib dich sofort in die Zentrale! Weiche dabei den Ein‐ dringlingen möglichst aus!« Dem Angesprochenen verschlug es die Sprache. »Kappa‐Krieger 46.157 – wurde mein Befehl verstanden?« verge‐ wisserte sich der Ranghöhere. »Befehl verstanden, ehrenhafter Beta‐Krieger!« bestätigte KK46 157. »Dann mach dich auf den Weg!« Die Verbindung wurde unterbrochen. Die Gedanken rasten nur so durch das Hirn des Kappa‐Kriegers. Wie konnte ein geschlagener Krieger seine Ehre zurückgewinnen? Die Antwort auf diese Frage war einfach: durch noch größeren Ein‐ satz für sein Volk! Die Terraner an Bord der Station mußten getötet werden. Das war auch eine Frage der Ehre, und KK 46.157 war wild entschlossen, alles dafür zu tun, daß keiner der Eindringlinge mit dem Leben davonkam. Sie sollten für all das büßen, was sie seinem Volk angetan hatten. Die Durchführung des großen Vernichtungsplans würde die Sprengung der Station in keiner Weise behindern, das wußte der Kappa‐Krieger. Der Vernichtungsprozeß des terranischen Zentralgestirns Sol würde sich mittlerweile verselbständigen oder vielleicht sogar noch beschleunigen, falls die Steuerung aus dem Hyperraum ausfiel. Die Regulierung von der Hyperraumstation war im gegenwärtigen Sta‐ dium nicht mehr zwingend notwendig. In den Gedanken von KK 46.157 bildete sich ein Plan. Ein Entschluß.
Und eine Frage. Befehlsverweigerung war unehrenhaft. Aber war die Befehlsverweigerung gegenüber einem offensichtlich unehrenhaft handelnden Vorgesetzten auch noch unehrenhaft? Eine außergewöhnliche Situation erfordert außergewöhnliche Mittel! war sich KK 46.157 klar. Und Rücksicht gegen sich selbst oder andere ist Feigheit! Dieser Satz war bis zum Umsturz auf Grah ein Kernsatz der Grako‐Philosophie gewesen. Jetzt galt er dort als ein Relikt aus der alten Zeit und wurde nur noch von denen in Ehren gehalten, die den Krieg fortzusetzen versuchten. Aber KK 46.157 glaubte nach wie vor, daß er seine Gültigkeit in alle Ewigkeit behalten würde. Also werde ich tun, was getan werden muß! nahm sich der einfache Kappa‐Krieger vor. Und das, was die Ehre der Grakos gebietet! Feinde müssen vernichtet werden, wo immer das möglich ist! Diese Maxime hatte den Grakos einst einen fast schon legendären Ruf des Schreckens als Plünderer des Universums verschafft. Der Kappa‐Krieger bog in einen Korridor ein und ging ihn bis zum Ende. Er wußte genau, was er tat, und war nun zu allem entschlossen. Die Verbrennungen, die er erlitten hatte, spürte er kaum noch, so sehr beseelte ihn nun die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte. Die Vernichtung der Eindringlinge stand für ihn nun ganz oben in der Prioritätenliste. In welch heruntergekommenen Zeiten leben wir, da die Ehre eines einfa‐ chen Kappa‐Kriegers bereits größer ist als diejenige eines aus den Be‐ ta‐Rängen! ging es ihm bitter durch den Kopf. Leider würde es niemanden mehr geben, der sich an die opferwil‐ lige Tat von KK 46.157 erinnerte, wenn sein Plan gelungen war. Das, so dachte er, war vielleicht das größte Opfer, das er bereit war, um der Vernichtung des Feindes willen zu erbringen. Das Opfer des Vergessenwerdens. Mit seinen kräftigen Hinterbeinen vollführte er Schritte, die kleinen Sprüngen glichen und ihn immer schneller voranbrachten.
Sein Ziel war eine kleine Nebenzentrale der Hyperraumstation. Von hier aus – so wußte er – ließ sich die Selbstzerstörung initiali‐ sieren. »Tod allen Terranern!« drang es ihm zwischen den Kauzangen hervor. Gleichzeitig durchströmte ihn ein Glücksgefühl gleichermaßen grimmiger und freudiger Erwartung. Eine böse Überraschung für die Terraner würde der letzte Triumph eines einfachen Kap‐ pa‐Kriegers sein. * Die terranischen Wissenschaftler sowie die Meegs hatten sich die technischen Aggregate auf der Galerie vorgenommen, um ihre Funktionsweise zu ergründen. Professor Monty Bell hatte ein Ana‐ lysegerät an einem der Aggregate angebracht und verfolgte die An‐ zeigen auf seinem Handsuprasensor. Er schüttelte leicht den Kopf. Ren Dhark und Charaua befanden sich ganz in der Nähe. Der Mysterious‐Mathematiker Tim Acker, der Konti‐ nuums‐forscher H. C. Vandekamp und der Nogk Uwegra machten sich derweil an einem quaderförmigen Aggregat zu schaffen, dessen Funktion bislang völlig ungeklärt war. Das einzige, was die Mes‐ sungen bisher zu Tage gebracht hatten, war, daß sich im Inneren eine Quelle fünfdimensionaler Strahlung befand, deren Intensität in einer bestimmten Pulsfrequenz schwankte. Diese Schwankung wiederum stand in einer eindeutigen Korrelation zu Ausdehnungsschwan‐ kungen der schwarzenergetischen Kugel im Zentrum. Allerdings waren diese Ausdehnungsschwankungen inzwischen so gering, daß es kaum noch möglich war, sie mit bloßem Auge zu registrieren. Nachdem sich das Innere der schwarzbunten Kugel vollkommen normalisiert und wieder jene eigenartige Transparenz zurückge‐ wonnen hatte, die dieses Hyperfeld so spezifisch kennzeichnete,
waren die Ausdehnungsschwankungen auf den Zehntelmillimeter‐ bereich zurückgegangen und konnten nur noch mit entsprechenden Präzisionsmeßgeräten registriert werden. Schwengers sprach kurz mit Monty Bell und wandte sich an‐ schließend an Ren Dhark. »Ich glaube, es würde noch Wochen dauern, bis wir die Funktionen dieser Geräte auch nur ansatzweise begriffen hätten!« glaubte der Hauptmann der Schwarzen Garde, der allerdings – wie alle Mitglieder dieser Elitetruppe – neben seiner Ausbildung als Raumsoldat auch ein exzellenter Wissenschaftler war. Professor Bell schüttelte indessen abermals den Kopf und nahm ein paar Einstellungen an seinem Handsuprasensor vor. Anschließend trat er auf Dhark zu. »Jedes Meßergebnis wirft mehr Fragen auf, als daß wir Antworten bekommen!« sagte der Wissenschaftler. »Wenn die REESCH II nicht zerstört worden wäre, könnten wir Hilfe holen«, meinte Dhark. »Aber so ist das leider nicht möglich.« »Was ist, wenn wir die Station einfach zerstören?« fragte Schwen‐ gers. »Das müßte doch möglich sein!« »Wir wissen nicht, was dann geschieht«, gab Bell zu bedenken. »Es ist nämlich keineswegs gesagt, daß der Massetransfer von der Sonne nach Proxima Centauri dadurch wirklich beendet würde! Vielleicht geriete er sogar vollkommen außer Kontrolle – das ist alles über‐ haupt nicht absehbar!« Dhark blickte hinüber zu jener Stelle, an der sich Doc Edwards um den gefesselten Beta‐Krieger 268 kümmerte. Amy Stewart befand sich in der Nähe, um notfalls eingreifen zu können, falls es dem wi‐ derspenstigen Grako wider Erwarten gelingen sollte, die Fesseln zu lösen. Der Beta‐Krieger stieß eine Folge übler Verwünschungen aus, mit denen er noch einmal deutlich machte, wie abgrundtief er die Terraner haßte. Die anderen überlebenden Grakos irrten geistig verwirrt zwischen den technischen Aggregaten herum. Sie schienen jetzt von deren
Funktionsweise nur noch soviel zu verstehen wie die Terraner. Einen beobachtete Dhark, wie er ein zylinderförmiges Gerät betastete, so als hätte er etwas Vergleichbares noch nie gesehen. Ein anderer Grako gab andauernd eine Folge unzusammenhängender Begriffe von sich. Andere kauerten einfach nur da und schienen sich in ihrer eigenen Welt zu befinden. Sie stießen Laute aus, die kein terranischer Translator zu übersetzen vermochte – und selbst die anwesenden Nogk waren nicht in der Lage, aus den chaotischen Gedankenbil‐ dern noch irgendeine Bedeutung herauszulesen. Bedauernswerte Geschöpfe, die plötzlich nicht mehr verstanden, was um sie herum geschah. Glücklicherweise reagierten sie jedoch nicht aggressiv auf diese Verwirrung. »Wir kommen nicht weiter!« meldete sich jetzt Tim Acker zu Wort. »Diese Apparaturen sind auf eine Weise miteinander verbunden, die wir in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, kaum erfassen können.« »Das sage ich doch die ganze Zeit!« stimmte Monty Bell zu. Er streckte den Arm aus und deutete auf den gefangenen Beta‐Krieger. »Wenn uns der Kerl nicht ein paar entscheidende Tips gibt, sehe ich schwarz!« »Dann sollten wir seiner Aussagebereitschaft etwas nachhelfen«, schlug Charaua vor. Der Erste Nogk wandte sich an Schwengers. »Doc Edwards sollte dem Grako ein Wahrheitsserum verabreichen.« Peter Schwengers nickte, aber sein Gesicht verriet durchaus auch ein gehöriges Maß an Skepsis. »Warten wir mal ab, wie der Be‐ ta‐Krieger darauf reagiert.« * Dhark, Charaua und Schwengers gingen zurück zu dem Gefange‐ nen, während sich Monty Bell und Tim Acker zusammen mit den anderen terranischen Wissenschaftlern sowie den Meegs wieder an die Arbeit machten. Schließlich war es ja nicht vollkommen ausge‐
schlossen, daß doch noch einer von ihnen auf den Dreh kam, wie die Aggregate funktionierten, mit deren Hilfe offenbar nicht nur das Schwarzfeld in der Mitte des Raumes, sondern auch der Energie‐ und Materietransfer reguliert wurde. »Los, versuchen wir es noch mal!« hörte Dhark Professor Bell zu seinen Kollegen sagen. »Schließlich wissen wir nicht, ob Doc Ed‐ wards aus dem Beta‐Krieger überhaupt ein vernünftiges Wort he‐ rausbekommt!« Einer der verwirrten Grakos befaßte sich in der Zwischenzeit mit dem regungslos daliegenden Körper eines toten Artgenossen. Er berührte den Toten, stupste ihn mit seinen vorderen Extremitä‐ ten grob an und schien nicht begreifen zu können, weshalb keine Reaktion erfolgte. Die Laute, die der Grako dazu ausstieß, signalisierten vielleicht Verwunderung oder Neugier. Vielleicht aber auch etwas ganz an‐ deres. Die terranischen Translatoren vermochten dafür jedenfalls nur eine so bruchstückhafte Entsprechung zu finden, daß niemand daraus schlau werden konnte. »Injizieren Sie dem Beta‐Krieger das Wahrheitsserum«, wandte sich Dhark an Doc Edwards. »Wir haben keine andere Wahl. Frei‐ willig wird der Grako nicht mit uns zusammenarbeiten, aber ohne seine Hilfe werden wir die Funktionsweise dieser Station erst be‐ greifen, wenn es längst zu spät ist!« »Ich kann Ihnen allerdings keine Garantie dafür geben, wie der Grako auf das Serum reagieren wird!« gab Doc Edwards zu beden‐ ken. »Hier im Hyperraum scheint die Physiologie der Insektoiden einigen Veränderungen unterworfen zu sein. Ob das wirklich nur mit dem Fehlen des Halbraumfeldes erklärt werden kann, oder ob es eher etwas mit der allgegenwärtigen 5‐D‐Strahlung zu tun hat, weiß ich nicht.« »Beginnen Sie mit einer kleinen Dosis!« wies Schwengers ihn an. »Damit minimieren wir das Risiko.«
»Nichts anderes hatte ich vor, Sir!« bestätigte Edwards. Der Grako verhielt sich inzwischen ruhig. Sicherheitshalber rief Edwards jedoch zwei Gardisten herbei, die ihn festhielten. »Warten Sie einen Moment, dann wird er reden«, versprach der Arzt Ren Dhark, der ihn mit skeptischer Miene anblickte. * »Beta‐Krieger 268, ich muß noch einmal mit Ihnen reden, und ich hoffe, daß Sie nun eher gewillt sind, mir zuzuhören und meine Fra‐ gen zu beantworten«, sagte Dhark. BK 268 gab darauf keine Antwort. Er bewegte leicht eine der oberen Extremitäten, zeigte ansonsten jedoch nicht die geringste Reaktion. »Ich möchte alles wissen, was es über diese Station zu sagen gibt«, erklärte Dhark. Die Antwort bestand zunächst nur aus einer Folge von unartiku‐ lierten Lauten und Verwünschungen. Doc Edwards gab ihm eine zweite Injektion des Serums – diesmal in einer leicht erhöhten Dosis. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Dhark wiederholte seine Frage noch einmal, und der Grako begann zu sprechen. Dhark ließ ihn zunächst einfach drauflosreden. »Dies war die letzte unserer Stationen, die den Angriffen von euch Terranern standhielt!« erklärte er. »Es gelang den tapferen und ehrenwerten Kriegern, sie vor dem Zugriff des Feindes zu bewahren und zu verstecken. Au‐ ßerdem gelang es uns, einen Großteil unserer Führungselite zu ret‐ ten, um eine Basis für den Gegenschlag zu errichten.« »Berichte mir mehr darüber«, hakte Dhark nach. Der Beta‐Krieger wurde jetzt offener. Die Wirkung des Serums machte sich mehr und mehr bemerkbar, und so gab er auch den letzten Rest von Widerstand auf. Er fuhr fort: »Die Führungselite unseres Volkes flüchtete sich auf einen kurz zuvor entdeckten Pla‐
neten, der von intelligenten Maschinen bewohnt und von dessen Bewohnern Eins genannt wurde.« »Ich nehme nicht an, daß diese Roboter die Grako‐Flüchtlinge gleich willkommengeheißen haben!« »Es gelang, diese robotischen Bewohner von Eins mit Hilfe von relativ einfachen Maßnahmen zu versklaven, ohne daß sie davon etwas merkten.« »Was waren das für Maßnahmen?« fragte Dhark. »Es wurden Gürtel entwickelt, die Feldviren produzierten. Auf diese Weise konnten die enormen technischen Möglichkeiten der Roboter nutzbar gemacht werden. Vor allem ihr Waffenarsenal war recht beachtlich – allerdings erwiesen sich ihre Angst und ihr aus‐ geprägter Lebenswille als hinderlich. Von ehrenhafter Opferbereit‐ schaft, wie sie für jeden Grako‐Krieger wesentlich ist, konnte keine Rede sein.« »Dann waren sie nicht das ideale Hilfsvolk?« »Auf eine offene Konfrontation mit den Terranern hätte man sie nur langsam vorbereiten können. Das wurde schnell klar. Unserer Führung erschien die dafür anzusetzende Zeitspanne als zu lang.« »Welche Strategie wurde statt dessen verfolgt?« Unruhe erfaßte den Grako. Er versuchte vergeblich, die Fesseln zu zerreißen, die nach wie vor seine vorderen Extremitäten fixierten. »Wenn du glaubst, daß ich dir darauf eine Antwort gebe, dann bist du so einfältig wie eine frisch geschlüpfte Puppe!« schimpfte er. »Ich erhöhe die Dosis!« kündigte Doc Edwards an. »Die Wirkung scheint nachzulassen.« »In Ordnung«, sagte Dhark. Erneut wurde der Grako von mehreren Gardisten gepackt. Die gespaltenen Mundleisten öffneten sich, und die Kauzangen schnappten aufgeregt herum. Er versuchte damit einen der Gardis‐ ten zu attackieren und zielte wahrscheinlich darauf ab, dessen Schutzanzug zu zerreißen, was für den Betreffenden angesichts der
allgegenwärtigen 5‐D‐Strahlung verheerende Folgen gehabt hätte, wie man an Park und Pariot sehen konnte. Aber die Männer waren geschickt genug, um den wütenden Atta‐ cken auszuweichen und den Grako für die erneute Injektion sicher zu fixieren. Schon wenige Augenblicke, nachdem BK 268 die Zusatzdosis er‐ halten hatte, beruhigte er sich wieder. Die fühlerartigen Auswüchse über den Augenwülsten bewegten sich nicht mehr, und er versuchte auch nicht mehr, sich gegen die Fesseln zu wehren oder die Gardis‐ ten mit seinen Kauzangen anzugreifen. »Warten Sie ein bis zwei Minuten, ehe Sie die Befragung fortset‐ zen«, schlug Doc Edwards an Ren Dhark gewandt vor. »Ich habe ihm jetzt eine deutlich höhere Dosis gegeben, so daß die Wirkung hof‐ fentlich etwas länger anhält.« »Jedenfalls passen die Aussagen des Beta‐Kriegers zu dem, was wir bisher ohnehin schon herausbekommen haben«, erklärte Monty Bell. »Warten wir ab, was der Beta‐Krieger dazu zu sagen hat«, sagte Dhark. * BK 268 war schließlich wieder vernehmungsfähig. »Die Roboter von Eins halfen uns dabei, die Station fertig auszu‐ rüsten«, berichtete der Beta‐Krieger. »Seit der Normalisierung des entarteten Schwarzen Loches im Zentrum der Galaxis war es wieder möglich, sie in den Hyperraum zu bringen. Allerdings nahmen wir keine Roboter von Eins mit, sondern lediglich unsere eigenen Kons‐ truktionen.« »Sind die Feldviren im Hyperraum nicht wirksam?« schloß Dhark. Der Beta‐Krieger bestätigte dies. »Genau das war der Grund. Wir hätten die Roboter von Eins im Hyperraum nicht mehr unter Kontrolle halten können.«
»Ich möchte eine genaue Beschreibung der Aufgabe dieser Stati‐ on.« »Ich bin kein Wissenschaftler, sondern Krieger.« »Trotzdem! Ein Beta‐Krieger wird genug darüber wissen!« be‐ harrte Dhark unmißverständlich. Auf Grund der höheren Dosis des Serums zeigte sich der Gefan‐ gene davon auch einigermaßen beeindruckt. »Diese Station ist für den Energietransfer zwischen Sol und Pro‐ xima Centauri verantwortlich«, sagte BK 268 nach einer kurzen Pause, wobei er jeweils die Grako‐Begriffe für die betreffenden Sonnen verwendete, die Dharks Translator dann automatisch über‐ trug. »Auf welche Weise geschieht das?« hakte Dhark nach. Er war überzeugt davon, daß der gefesselte Beta‐Krieger zumindest über grundlegende Kenntnisse darüber verfügen mußte, selbst wenn man berücksichtigte, daß er kein Wissenschaftler war, wie er erklärt hatte. Letzteres konnte natürlich auch eine Schutzbehauptung sein, um sich besser zu tarnen und sein Wissen trotz der Wirkung des Wahr‐ heitsserums zu verbergen. Dieses Serum mochte zwar den Wider‐ stand gegen eine Befragung durch den verhaßten Feind spürbar herabsetzen, aber das nützte wenig, wenn gar nicht erst die richtigen Fragen gestellt wurden. Wir werden sehen, dachte Dhark. »Ich bin überzeugt davon, daß du uns genauer erläutern kannst, wie der Transfer vonstatten geht«, wiederholte der Commander der POINT OF seine Frage, um ihr noch etwas mehr Nachdruck zu ver‐ leihen, denn er spürte, daß er bei dem Grako auf eine innere Sperre stieß, die trotz Serum seine Aussagebereitschaft hemmte. Der Grako befand sich nun in einer sehr zwiespältigen Verfassung. Einerseits war ihm als hochrangigem Offizier natürlich bewußt, daß die Dinge, nach denen Dhark ihn fragte, der Geheimhaltung unter‐ lagen und auf keinen Fall dem Feind preisgegeben werden durften.
Andererseits sorgte das Wahrheitsserum dafür, daß sein Wider‐ stand immer schwächer wurde. Ein kleiner Anstoß reichte schon, um ihn ins Wanken zu bringen. »Du mußt es mir sagen, Beta‐Krieger 268!« forderte Dhark ihn ul‐ timativ auf. Die fühlerartigen Fortsätze über den Augen begannen sich leicht zu bewegen, während die gespaltenen Mundleisten aufeinander‐ gepreßt waren – ebenso wie die Kauzangen. BK 268 schien sich selbst die Aussage strikt verboten zu haben. Doch er schaffte es nicht, dies aufrecht zu erhalten. Das Serum war stärker. Er setzte seinen Bericht schließlich fort. »Diese Station induziert aus dem Hyperraum heraus ein instabiles Schwarzes Loch in das Innere Sol«, knurrte der Grako mehr, als daß er sprach. Sein innerer Kampf gegen die Droge war ihm deutlich anzumerken. »Dieses Schwarze Loch hat einen Durchmesser von nicht mehr als einem Meter. Außerdem brachten wir ein entspre‐ chendes Weißes Loch in den Kern von Proxima Centauri. Das Weiße Loch war sehr schwer zu stabilisieren. Es verpuffte immer wieder und machte auf diese Weise sein schwarzes Gegenstück im Inneren Sols unbrauchbar.« »Aber es wurde offensichtlich eine Lösung für das Problem ge‐ funden«, stellte Dhark fest. Der Beta‐Krieger bestätigte dies. »Eine gigantische Anlage auf Proxima Centauri I konnte das Weiße Loch schließlich stabilisieren.« »Aber die wurde vernichtet. Wieso brach das Weiße Loch dann nicht wieder zusammen?« fragte Dhark. »Weil die Anlage nach der Stabilisierung des Weißen Lochs über‐ flüssig war. Einmal installiert, bleibt es weiterhin stabil.« Der Grako machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ihr Terraner versucht vor der drohenden Katastrophe auf andere Planeten zu fliehen, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Dhark. Er spürte die Veränderung, die erneut mit dem Beta‐Krieger vor sich ging. Die Wirkung des Serums schien schon wieder nachzulassen. Seine Körperspannung erhörte sich. Er versuchte wieder, die Fesseln zu sprengen. Seine Kauzangen schnappten nach einem imaginären Gegner. »Die Flucht wird euch nichts nützen!« verkündete er haßerfüllt. »Ihr könnt fliehen, so weit ihr wollt, aber der Vernichtung werdet ihr nicht entgehen.« Er schien darüber eine unbändige Freude zu empfinden. »Offenbar läßt die Wirkung des Serums wieder nach«, stellte Doc Edwards fest. »Allerdings weiß ich nicht, wieviel ich ihm noch geben kann.« Der Blick des Gardisten war auf den Diagnosesuprasensor gerich‐ tet, an dem er ein paar Einstellungen vornahm. Sein Gesicht verriet Skepsis. »Ich messe bei dem Gefangenen einige bedenkliche phy‐ siologische Werte.« »Besteht Lebensgefahr?« vergewisserte sich Ren Dhark. »Ja«, bestätigte Doc Edwards. Dhark wandte sich noch einmal an den Beta‐Krieger, der die Rat‐ losigkeit der Terraner durchaus zu registrieren schien und sich daran weidete. »Wieso sollte uns die Flucht auf einen anderen Planeten nichts nützen?« fragte der Commander der POINT OF. Die Erwiderung des Beta‐Kriegers troff nur so vor Hohn. »Ahnt ihr es wirklich nicht? Es ist gleichgültig, wohin die Terraner auch zu fliehen versuchen! Von dieser Station aus kann man jede Sonne der Milchstraße auf die gleiche Art und Weise beeinflussen, wie es mit Sol und Proxima Centauri geschehen ist! Selbst darüber hinaus wäre es möglich! In jeder Sonne des gesamten Universums können wir Schwarze oder Weiße Löcher induzieren, und nach kurzer Zeit würde sich die Katastrophe, die sich derzeit auf eurer Heimatwelt abspielt, anderswo wiederholen!«
8. Einen Augenblick lang war Dhark wie vor den Kopf gestoßen. Die Verwünschungen und den Spott, den der gefesselte Grako‐Krieger jetzt über ihn ergoß, hörte der Commander der POINT OF wie aus weiter Ferne. Es gab keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß der Beta‐Krieger nicht die Wahrheit gesagt hatte. Den Triumph über die Terraner kostete er weidlich aus, und es schien ihm zu gefallen, seine Feinde in ihrer Verzweiflung beobach‐ ten zu können. »Geben Sie ihm jetzt die nächste Dosis!« verlangte Hauptmann Schwengers. »Ob er dabei stirbt, ist nicht von Belang!« »Nein!« schritt Dhark ein. »Es ist genug. Das Verhör ist beendet. Wir haben alles erfahren, was wir wissen müssen!« »Bei allem Respekt – aber der militärische Befehlshaber dieses Einsatzes bin ich! Sie sind schließlich nur …« Schwengers brach ab. »Nur was?« fragte Dhark. »Ein Zivilist, Sir!« »Das mag sein, Hauptmann, aber …« Schwengers schnitt dem Commander der POINT OF das Wort ab und erklärte: »Damit entscheide ich auch, wann das Verhör dieses Gefangenen beendet ist und ob wir schon genug von ihm erfahren haben!« Dhark atmete tief durch. »Was wollen Sie denn noch, Schwengers? Er ist kein Techniker, sondern Soldat. Und er wird uns daher kaum über die Bedienung dieser Anlage informieren können. Ob uns das etwas nutzen würde, ist ohnehin fraglich, weil wir nicht wissen, was geschieht, wenn die Steuerung aus dem Hyperraum ausfällt und sowohl das Weiße als auch das Schwarze Loch quasi sich selbst überlassen werden.«
»Immerhin hat das Weiße Loch im Inneren von Proxima Centauri sich stabil gehalten, nachdem die Anlage auf dem ersten Planeten vernichtet wurde!« gab Professor Bell zu bedenken. »Ich will, daß das Verhör fortgesetzt wird«, erklärte Schwengers noch einmal. »Nicht Sie sind der Kommandant dieses Einsatzes – sondern ich!« meldete sich nun Charaua zu Wort. »Und ich vertraue der Urteils‐ kraft meines Freundes Ren Dhark.« Schwengers lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber er behielt sie für sich. »In Ordnung«, sagte er schließlich, da es an der Kompetenz und Befehlsgewalt des Ersten Nogk eigentlich keinen Zweifel geben konnte. Für niemanden. Schließlich war es die REESCH II unter dem Kommando des Nogk Uwegra gewesen, die sie hierher gebracht hatte. »Wenn Sie befehlen, daß das Verhör beendet wird, akzeptiere ich das, Charaua«, erklärte Schwengers. Der Kommandant der an diesem Einsatz beteiligten Gardisten wandte sich an Ren Dhark. »Nichts für ungut, aber Sie sind inzwischen …« »… nicht mehr in Amt und Würden, ich weiß«, vollendete Dhark den Satz seines Gegenübers. * Beta‐Krieger 268 wurde von mehreren Gardisten zu einer Gruppe von verwirrten und völlig harmlosen Grakos gebracht und bekam einen Sack über den Kopf, damit er nicht mitbekam, was Terraner und Nogk jetzt taten. »Der schläft!« meinte Ben Ward, einer der Gardisten, deren Auf‐ gabe es war, sich um ihn zu kümmern. »Das Serum hat ihm ziemlich zugesetzt«, meinte Doc Edwards. »Mehr hätte er wirklich nicht vertragen!«
Die Spezialisten der Garde und die Meegs setzten unterdessen ihre Arbeit an den technischen Geräten fort. Überall wurden Module an die Aggregate gesetzt, und die terra‐ nischen Wissenschaftler sowie ihre Meeg‐Kollegen versuchten in die internen Systeme der jeweiligen Geräte hineinzukommen. Schließlich zeigten sich erste Erfolge. Dem Meeg Brril gelang es, ein Schaltpult zu aktivieren, von dem allerdings niemand zu sagen vermochte, welchem Zweck es eigent‐ lich diente. »Ich habe hier auch etwas!« meldete wenig später Tim Acker, dem es gelungen war, den Mechanismus herauszufinden, der an einem der quaderförmigen Objekte eine Wandverkleidung zur Seite fahren ließ, so daß dahinter ebenfalls ein Schaltpult zum Vorschein kam. Kontrollampen leuchteten auf. »Da geht irgend etwas vor sich!« meinte Acker. »Allerdings ist mir nicht bewußt, daß ich irgendeine Schaltung vorgenommen hätte.« »Abgesehen von der Schaltung, die das Pult freigelegt hat!« gab Kurt Buck zu bedenken. Er war vor wenigen Augenblicken hinzugetreten, und etwas später trafen auch Professor Bell, Dhark und Charaua ein. Buck blickte auf seinen Suprasensor und versuchte, eine Verbin‐ dung herzustellen. »Da scheint irgendeine Routine abzulaufen«, glaubte der Gardist. Plötzlich blinkte auf dem Schaltpult ein hellrotes Feld auf. Im nächsten Moment schoß ein Lichtstrahl daraus hervor. Dhark und Charaua wichen einen Schritt zurück, was ihnen im Fall eines Angriffs nichts mehr genützt hätte, denn der Strahl erfaßte sie beide. Innerhalb von Sekundenbruchteilen formte sich ein Hologramm. Dhark und Charaua traten daraus hervor. »Alles in Ordnung?« fragte Amy, die sich etwa zwei Meter entfernt befunden hatte.
»Nichts passiert«, meinte Dhark. »Es scheint sich tatsächlich nur um die Initialisierung der routinemäßig verwendeten Anzeige zu handeln.« »Fragt sich nur, was hier angezeigt wird!« meinte Professor Bell. Doch das offenbarte sich sehr schnell. Es handelte sich um eine schematische Darstellung der Station. Über die Holographie verstreut waren rote, grüne und schwarze Punkte zu sehen. Darüber, was sie bedeuteten, wurde zunächst ausgiebig spekuliert. Es war Fähnrich Janu Kerr, der schließlich anhand von Übereins‐ timmungen, was die Anzahl und die exakte Position betraf, auf die richtige Lösung kam. »Bei den schwarzen Punkten muß es sich um die an Bord der Sta‐ tion befindlichen Menschen und Nogk handeln«, glaubte Fähnrich Kerr. »Zumindest stimmt die Anzahl überein. Die roten Punkte stel‐ len vermutlich Roboter dar …« »Annähernd zweihundert!« stellte Charaua fest. »Und die grünen Punkte sind die Grakos«, schloß Dhark, zumal sich an ihrer gegenwärtigen Position sowohl eine Konzentration von schwarzen als auch von grünen Punkten befand. »Also funktioniert das Überwachungssystem wieder!« staunte Buck. »Den Grakos ist es offenbar schneller als erwartet gelungen, das Störprogramm, daß Sie in das Überwachungssystem eingeschleust hatten, unschädlich zu machen!« stellte Schwengers fest. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wozu dieses Schaltpult eigentlich dient!« meldete sich Tim Acker zu Wort. »Von hier aus können die Roboter kontrolliert werden.« Der promovierte Mysterious‐Mathematiker blickte auf die Anzeige seines Handsuprasensors, der mit einem Modul verbunden war, das an einer freien Fläche des Schaltpults befestigt worden war.
»Auf jeden Fall sollten wir einigermaßen sicher sein, was wir tun, bevor hier irgendwelche Schaltungen vorgenommen werden!« murmelte Amy Stewart in Dharks Richtung. Tim Acker ballte währenddessen triumphierend eine Hand zur Faust. »Ja, der Datensatz konnte entschlüsselt werden! Es ist die Roboterkontrolle, dessen bin ich mir jetzt sicher!« »Was ist denn das dort?« fragte Kurt Buck und deutete dabei auf eine bestimmte Stelle auf der Holographie. Dort bewegte sich ein einsamer grüner Punkt mit einer sehr viel schnelleren Geschwin‐ digkeit, als dies alle anderen markierten Punkte taten. »Ein einsamer Grako!« stellte Schwengers fest. Buck trat etwas näher und beobachtete den Punkt eine Weile. Er bewegte sich gerade einen Korridor entlang, der auf einen Raum zuführte, in dem sich eine Reihe technischer Gerätschaften befanden. Zumindest, wenn ich diese schematische Darstellung richtig verstehe! dachte Buck. Aber er kannte sich einigermaßen mit dem inneren Aufbau von Schattenstationen aus. Schließlich hatte er schon einmal die Gelegenheit gehabt, eines dieser auf den ersten Blick vollkom‐ men chaotisch und verworren angelegten Objekte zu untersuchen. Außerdem vermochte er die Grako‐Schrift zu lesen und konnte da‐ her die Zeichen auf der schematischen Darstellung entschlüsseln. Plötzlich streckte der Leutnant den Arm aus. »Das Ziel dieses Grakos könnte ein Bereich sein, in dem ich die Energieversorgung vermute!« stellte Buck fest. »Dieser einsame Grako dort könnte vielleicht die Absicht haben, die Station zu sprengen!« Schwengers starrte ebenfalls wie gebannt auf den sich bewegenden grünen Punkt. »Sie haben recht, Buck! Nehmen Sie sich drei Gardisten und ver‐ hindern Sie, daß der Grako seinen Plan wahrmacht!« »Hauptmann Schwengers, ich widerspreche Ihnen ungern, aber die Distanz, die Buck und seine Männer zurückzulegen hätten, wäre immens!« mischte sich Amy Stewart ein. Der weibliche Cyborg
deutete auf ihre eigene gegenwärtige Position und zeichnete dann eine Linie quer durch das Hologramm nach. »Das dürften mehrere Kilometer sein, und ich glaube nicht, daß Ihre Männer schnell genug sind, um diesen Grako‐Krieger von seinem Vorhaben noch abbrin‐ gen zu können!« »Das werden wir ja sehen!« erwiderte Schwengers. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen!« sagte Amy. »Vor‐ ausgesetzt, man kann die Roboter mit Hilfe dieses Schaltpults hier steuern …« »Kann man das denn wirklich?« unterbrach Schwengers sie und wandte sich mit dieser Frage an die anwesenden Wissenschaftler. Professor Bell und Tim Acker hatten sich inzwischen beide an den Kontrollen zu schaffen gemacht. Bei ihnen waren noch Uwegra und ein weiterer Meeg. Zunächst wollte sich keiner von ihnen in dieser Hinsicht festlegen. Augenblicke des Schweigens vergingen. »Man kann!« wagte sich Acker schließlich hervor. »Fahren Sie fort!« wandte sich Schwengers schließlich an Amy. »Dann brauche ich drei Gardisten, die gerne mal mit einem Cyborg in den Einsatz gehen würden! Die Roboter nehmen wir als Trans‐ portmittel!« schlug Amy vor. Sie wandte sich an Buck. »Sie kennen sich hier ja zumindest halbwegs aus, daher wäre es am sinnvollsten, wenn Sie von hier aus die Steuerung der Roboter übernähmen!« »Einverstanden!« erklärte Buck. Schwengers fügte hinzu: »Machen Sie das so, Leutnant!« »Viel Glück, Amy!« wandte sich Ren Dhark an seine Lebensge‐ fährtin. Sie lächelte matt. »Danke, wir werden es brauchen!« glaubte sie. »Drei Gardisten für Risikoeinsatz mit einem Cyborg bitte vortre‐ ten!« rief Schwengers. Fähnrich Janu Kerr war der erste, der sich meldete. Außerdem waren noch Stabsunteroffizier Ben Ward und Obergefreiter Tom Giff dabei.
»Jetzt brauchen wir noch ein paar Roboter als Transportesel!« stellte Amy fest. Die holographische Übersicht machte auch klar, wo sie zu finden waren. Schwengers wandte sich an Buck. »Dann sehen Sie mal zu, daß Sie schleunigst herausfinden, wie sich die Roboter steuern lassen, Leut‐ nant!« * Während sich Kurt Buck an dem Kontrollpult zu schaffen machte, kümmerte sich Doc Edwards um Park und Pariot, die inzwischen bereits schwere Symptome einer 5‐D‐Verstrahlung zeigten. Pariot war besonders übel dran. Der Nogk hatte Blut gespuckt, und Ed‐ wards tat für ihn, was er konnte. Viel war es nicht. Während Pariot im Moment kaum ansprechbar war, wandte sich Park an den Kameraden. »Werden wir es schaffen, Doc?« »Warum zweifelst du daran?« »Weil es uns hundsmiserabel geht! Ich glaube, wir machen es nicht mehr lange!« »Versuche durchzuhalten, Jong!« verlangte Edwards. »Du schaffst es, das weiß ich!« Park lächelte matt. Sein Gesicht verzog sich gleich darauf wieder durch die starken Schmerzen, unter denen er litt. Kurt Buck hatte inzwischen herausgefunden, wie die Roboter‐ steuerung funktionierte. Er nahm verschiedene Schaltungen vor und dirigierte die roten Punkten umher. Dann beorderte er per Knopf‐ druck alle zur Zentrale. Sämtliche etwa zweihundert in der Station verbliebenen Roboter setzten sich daraufhin in Richtung der Zentrale in Bewegung. »Jetzt kommen sie!« murmelte er. »Professor! Öffnen Sie das große Schott!«
»Sofort«, bestätigte Vincente Margarita. Der Professor der Gar‐ de‐Universität rannte zu jenem Schott, hinter dem sich bereits eine ziemlich große Anzahl der herbeigerufenen Roboter versammelt hatte. Es trafen ständig weitere Maschinen ein. Margarita nahm zunächst ein paar Schaltungen an seinem Steuer‐ gerät vor, ehe sich das Schott zur Seite schob und den Blick auf die Roboter aus Grako‐Produktion freigab. Dicht gedrängt standen sie dort. Die Kettenräder ruhten. Das Schott war schließlich zur Gänze geöffnet, und noch immer hielten sowohl Terraner als Nogk den Atem an. Die Multikarabiner waren sicherheitshalber in Anschlag gebracht. Hier und da ging ein Gardist regelrecht in Stellung. Schließlich gab es keinerlei Garantie dafür, daß Kurt Buck diese Maschinen tatsächlich so unter Kontrolle hatte, daß nichts mehr von ihnen zu befürchten war. Aber dann kam plötzlich Bewegung in die Gruppe. Ein Roboter nach dem anderen rollte auf seinen Ketten davon. Auf der schematischen Holodarstellung konnten die Terraner verfolgen, wie sich die Maschinen in den umgebenden Sektoren der Station verteilten. Lediglich vier von ihnen blieben vor dem Schott stehen. Buck wandte sich an Amy. »Das sind die Maschinen für Sie und Ihre Leute!« erklärte er. »Danke, Leutnant«, gab Amy zurück. Der Cyborg war innerhalb von Sekunden bei den Robotern und schwang sich auf eine der Maschinen. Ein Multikarabiner hing Amy ebenso auf dem Rücken wie den drei Gardisten, die sich für diese Mission gemeldet hatten. Giff, Ward und Kerr konnten es mit einem Cyborg an Schnelligkeit natürlich nicht aufnehmen. So rasch es ihnen möglich war, hetzten sie hinter Amy her und be‐ stiegen ebenfalls je eine der Maschinen. »Alles klar!« meldete Stabsunteroffizier Ben Ward. »Dann kann es ja losgehen!« murmelte Kurt Buck mehr zu sich selbst als zu den anderen in seiner Umgebung. Er wirkte ausgesp‐
rochen konzentriert. Jetzt kam es darauf an! Einen Fehler durfte er sich nicht erlauben. Ein Blick auf die Holodarstellung zeigte über‐ deutlich, wie nahe der einsame und offenbar zu allem entschlossene Grako seinem Ziel schon war. Und los! dachte Buck und drückte dabei auf einen bestimmten Knopf. Die Roboter setzten sich in Bewegung. Ihre Kunststoffketten liefen über den Boden und erzeugten ein rasselndes Geräusch. In den ersten Sekunden ihrer Fahrt wirkten die Maschinen fast behäbig. Aber dieser Eindruck trog. Sie beschleunigten stetig und rasten förmlich davon. Auf der schematischen Holodarstellung war zu verfolgen, in welch halsbrecherischem Tempo sie durch die ver‐ winkelten Korridore der Station jagten. Den an diesem Einsatz beteiligten Gardisten blieb nichts anderes übrig, als sich mit aller Kraft an ihrem jeweiligen Roboter festzuhal‐ ten. Für Amy als Cyborg war das natürlich kein Problem. Alle Achtung! dachte sie, während die vier Maschinen mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit durch das Labyrinth von Gängen und Korridoren rasten. Die Kerle haben Mut! Für einen gewöhnlichen Menschen ohne Cyborg‐Implantate ist es gar nicht so leicht, sich auf den Robotern zu halten! * Kappa‐Krieger 46.157 erreichte die Nebenzentrale, von der aus die Selbstzerstörung der Station eingeleitet werden konnte. Endlich! dachte er. Ihr Terraner ahnt noch nicht einmal, wie nah der Moment eures Todes ist! Ihr einfältigen Narren, die ihr viel mehr an euren erbärmlichen Leben hängt als am Sieg über den Feind! Jetzt werdet ihr euren wahren Meister finden! Einen einfachen Kappa‐Krieger, der mehr Ehre hat als eure höchsten Kommandanten!
KK46 157 näherte sich einem quadratischen Block. Er berührte ein Schaltfeld, woraufhin sich eine Klappe öffnete und ein Kontrollpult sichtbar wurde. Mit den Greiforganen an den Enden seiner oberen Extremitäten berührte er in rascher Folge einige weitere Schaltfelder und nahm verschiedene Einstellungen vor. Er wußte genau, was er tat. Dann wartete er einige Augenblicke. Schließlich erhielt er die Bestätigung, daß der Selbstzerstörungs‐ mechanismus aktiviert war. »Erwarte Autorisationscode zur Bestätigung!« erklärte die Kunst‐ stimme des Zentralrechners im Grako‐Idiom. »Ohne die Eingabe dieses Autorisationscodes ist die Aktivierung der Selbstzerstörung ungültig. Ich wiederhole: Ohne die Eingabe dieses Autorisationsco‐ des ist die Aktivierung der Selbstzerstörung ungültig und kommt nicht zur Ausführung. Erwarte Autorisationscode zur Bestätigung …« KK 46.157 drückte einen Knopf und schaltete damit die Kunst‐ stimme mit ihrem sich penetrant wiederholenden Text aus. Der Autorisationscode stand einfachen Grako‐Soldaten vom Rang eines Kappa‐Kriegers nicht zur Verfügung. Um die Selbstzerstörung einer solchen Station autorisieren zu können, mußte man norma‐ lerweise den Rang eines Beta‐Kriegers haben. Aber während des langen Weges hierher hatte KK 46.157 genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie er die Selbstzerstörung dennoch auslösen konnte. Der Code befand sich auf einem Datenträger, der in einem beson‐ deren Tresor aufbewahrt wurde. Den Schlüssel zu diesem Tresor hatten natürlich nur ranghohe Of‐ fiziere. KK 46.157 nahm seinen Schwarzstrahler und blieb in einem Ab‐ stand von ungefähr zwei Metern vor dem Tresor stehen. Mit einem gezielten Schuß zerstörte er dessen Tür. Ein Alarm ertönte, der in der gesamten Station zu hören war.
KK 46.157 war das durchaus bewußt. Jetzt hieß es schnell handeln, bevor sein Plan vielleicht doch noch durchkreuzt wurde. Schließlich war es den Eindringlingen ja auch gelungen, mehrere Einsatzgruppen von Grako‐Kriegern wider Erwarten zu bezwingen und das Kontrollsystem auf irgendeine Art und Weise so zu über‐ listen, daß es ihnen zunächst gelungen war, unbemerkt vorzudrin‐ gen. KK 46.157 wußte, daß es immer ein Fehler war, seinen Gegner zu unterschätzen. An diesem Punkt waren schon viele gescheitert und der Kap‐ pa‐Krieger hatte nicht die Absicht, sich in diese Reihe zu stellen. Vor seinem inneren Auge stellte sich KK 46.157 die Reaktion von Beta‐Krieger 268 vor. Dieser Feigling mußte doch aus allen Wolken fallen, wenn er merkte, daß die Ehre der Grakos von einem einfachen Angehörigen des niederen Kappa‐Ranges gerettet wurde! Ja, die Scham möge dich erfüllen, Beta‐Krieger 268! ging es ihm mit grimmiger Entschlossenheit durch den Kopf. Die Scham möge dich noch im Jenseits verfolgen, wenn deine Nummer in den Ehrentafeln genannt wird, während man den mutigen Kappa‐Krieger, der der eigentliche Vater des Triumphes war, vergessen haben wird! Eine deutliche Spur Bitterkeit mischte sich in diese düsteren Ge‐ danken des Grakos. Aber wo stand geschrieben, daß Ruhm etwas mit Gerechtigkeit zu tun hatte? Und ein Kappa‐Krieger von Ehre schielte ohnehin nicht auf den Nachruhm seiner Taten, sondern erfüllte schlicht seine Pflicht. Bis zur letzten Konsequenz – und genau die stand KK46 157 jetzt bevor. Der Opfertod. Der Einsatz des eigenen Lebens, um dem Feind einen größtmögli‐ chen Schaden zuzufügen. So nahm er den Datenträger mit Autorisationscode aus dem zer‐ störten Tresor.
Auf einmal hatte er keine Eile mehr. Wer hätte ihn jetzt noch auf‐ halten können? Nein, diese Furcht war völlig unbegründet. Es gab niemanden, der in dieser kurzen Zeit die Nebenzentrale hätte errei‐ chen können – wenn man einmal von den Robotern absah. Diese letzten Momente vor dem eigenen Tod, der gleichzeitig auch das Ende seiner Feinde sein würde, genoß der Kappa‐Krieger gera‐ dezu. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihn. Er trat an das Kontrollpult und führte den Datenträger mit dem Autorisationscode in eine Öffnung ein. »Der eingegebene Autorisationscode wurde überprüft und akzep‐ tiert. Nach Betätigung des Auslösers wird mit der Selbstzerstö‐ rungssequenz begonnen. Sie ist dann unumkehrbar und kann nicht mehr gestoppt werden«, erklärte eine Kunststimme in der Gra‐ ko‐Sprache. Eine Klappe öffnete sich auf dem Kontrollpult. Darunter befand sich nur ein einziger Knopf. Er leuchtete blau. KK 46.157 legte das Greiforgan seiner oberen linken Extremität auf den Knopf. Einen Moment noch zögerte er. Welch erhebendes Gefühl, etwas zu tun, dessen Bedeutung über den ei‐ genen Tod hinausreicht, dachte er. Er berührte den Knopf. Tod allen Terranern! Ehre den Grako‐Kriegern! Einen Sekundenbruchteil, bevor er den Druck auf den Knopf ver‐ stärken und damit den Auslöser der Selbstvernichtungssequenz betätigen konnte, erfaßte ihn ein blaßblauer Strahl. Sein Körper ver‐ lor von einem Augenblick zum anderen jegliche Spannung. Er sackte zu Boden und blieb – unfähig zu irgendeiner Bewegung – liegen. *
Amy Stewart und die drei Gardisten waren mit ihren Robotern in die Nebenzentrale gestürmt, in der KK 46.157 gerade damit beschäftigt gewesen war, die Selbstzerstörung auszulösen. Amy sprang von ihrem Roboter, griff sofort nach dem Multikara‐ biner und rannte vorwärts. Giff, Ward und Kerr folgten ihrem Bei‐ spiel. Irgendwo zwischen den zum Teil mehr als drei Meter hohen quader‐ und zylinderförmigen Maschinenblöcken befand sich der Grako‐Krieger. Ein Blick auf das Ortungsgerät genügte, um auszumachen, wo genau er sich aufhielt. Amy hatte ihn als erste entdeckt. Der Grako war gerade im Begriff, den entscheidenden Knopf zu drücken, als die Strich‐Punkt‐Strahlen aus Amys und Wards Multi‐ karabinern den Insektoiden nahezu gleichzeitig von verschiedenen Seiten trafen. »Diese Ladung müßte ihn nachhaltig außer Gefecht gesetzt ha‐ ben!« lautete der Kommentar von Tom Giff, der den Ort des Ge‐ schehens zusammen mit Janu Kerr ein paar Augenblicke später er‐ reichte. Amy Stewart ging zum Kontrollpult. »Wie es scheint, sind wir gerade noch rechtzeitig gekommen!« stellte sie fest. »Vorsicht!« rief Ben Ward. Amy Stewart wandte sich herum. Das Geräusch der Bodenketten sagte ihr, daß sich einer der Roboter näherte, mit denen sie gekom‐ men waren. Einen Sekundenbruchteil später sah sie ihn aus den Augenwinkeln heraus. Instinktiv und mit der Reaktionsschnelligkeit eines Cyborgs warf sie sich zu Boden, während ein Schwarzstrahlenschuß über sie hinwegzischte und Ward in die Brust traf. Der Gardist sank zu Bo‐ den. Amy rollte sich am Boden herum und schaltete ins Zweite System, so daß nun das Programmhirn die Kontrolle über ihren Körper
übernahm. Schon im nächsten Moment sengte ein weiterer Strahl‐ schuß genau dort in den sich nun schmutzigbraun verfärbenden Bodenbelag hinein, wo Amy gerade noch gelegen hatte. Sie riß den Multikarabiner hoch. Aber noch bevor sie die Waffe auf Blasterfeuer oder Nadelstrahl umstellen konnte, feuerte Fähnrich Kerr seinen Karabiner ab. Der Nadel strahl traf den Roboter und verwandelte ihn innerhalb eines Augenaufschlags in ein funktionsuntüchtiges Wrack. Amy rappelte sich auf und erhob sich. »Danke!« stieß sie hervor. »Kein Ursache!« erwiderte Kerr. Tom Giff hatte sich indessen zu dem schwer getroffenen Ben Ward niedergekniet. Er untersuchte den Kameraden mit dem Ortungsge‐ rät. Bioimpulse mußten sich auch damit nachweisen lassen. Aber da war nichts mehr. »Kein Herzschlag, keine Hirnaktivität … nichts«, sagte Giff tonlos. »Er ist tot!« »Wenn er mich nicht gewarnt hätte, wäre ich jetzt ebenfalls nicht mehr am Leben«, stellte Amy fest. Der Strahlschuß des Roboters, so war ihr durchaus bewußt, hätte sie getroffen und ausgelöscht. Nicht einmal ein Umschalten in das Zweite System hätte sie davor be‐ wahren können. Dazu war der Angriff zu überraschend gekommen. Ein weiterer jener Roboter, die ihnen zuvor als Transportvehikel gedient hatten, bog hinter einem der Maschinenblöcke hervor und feuerte sofort. Sein Strahlschuß ging dicht über Giff hinweg und hätte Amy um ein Haar getroffen. Der Cyborg fackelte nicht lange. Amy feuerte den Multikarabiner ab und traf die angreifende Ma‐ schine mit einem Nadelstrahlschuß. Dieser Treffer setzte den Robo‐ ter unmittelbar außer Gefecht. Er blieb stehen, und weißer Rauch drang aus seinem Inneren hervor.
Giff wandte sich an Amy. »Scheint, als hätte Leutnant Buck die Roboter nicht mehr unter Kontrolle.« »Offensichtlich gehorchen sie seinen Befehlen nicht mehr!« stimmte Kerr zu. »Ich nehme an, daß es eine Prioritäts‐Schaltung gibt, die in dem Moment aktiviert wurde, als die Roboter unsere Schüsse auf den Grako geortet haben!« vermutete Amy. Kettengeräusche machten deutlich, daß mindestens ein weiterer Roboter sich annäherte. Fähnrich Kerr ließ sich die Anzeige seines Ortungsgeräts ins Kampfhelmvisier projizieren. Die Positionen der beiden noch funktionsfähigen Roboter wurden auf einer schematischen Darstellung gekennzeichnet. Sie bewegten sich von verschiedenen Seiten auf die drei Terraner zu. »Gegenseitig absichern!« befahl Tom Giff. Er hielt den Multikara‐ biner im Anschlag. Janu Kerr blickte in die entgegengesetzte Richtung. Zu dritt gingen sie die schmale Gasse zwischen den Maschinen‐ blöcken entlang. Die Roboter konnten Amy und die beiden Gardisten offenbar ebenfalls problemlos orten, denn sie reagierten sofort auf jede Posi‐ tionsveränderung und verfolgten anscheinend eine koordinierte Jagdstrategie. Diese Strategie lief darauf hinaus, die Terraner gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen anzugreifen. Amy und die Gardisten taten natürlich alles, um das zu verhin‐ dern. Ein Katz‐und‐Maus‐Spiel begann. Es ging darum, den für die eigene Seite günstigsten Moment für die unweigerlich kommende Konfrontation auszuwählen. Einen Moment, in dem man möglichst viele Trümpfe auf seiner Seite hatte. Die drei Terraner verhielten sich ruhig.
Die Kettengeräusche der Roboter waren deutlich zu hören. Amy erkannte, daß es offenbar das Ziel der Maschinen war, die Terraner auf die große Freifläche innerhalb der Nebenzentrale zu treiben, um eine freie Schußbahn zu bekommen. Darüberhinaus wurde so die Gefahr minimiert, daß während des Gefechts irgendwelche techni‐ schen Anlagen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Aber Amy dachte gar nicht daran, dieses Spiel mitzumachen. Sie befanden sich nun in einem Gang zwischen zwei jeweils meh‐ rere Meter hohen Maschinenblöcken, in deren Außenwände Schaltpulte und Kontrollen eingelassen waren. »Wir bleiben hier!« entschied Amy. »Genau hier erwarten wir die Roboter!« Obwohl Amy Stewart keinen militärischen Rang bekleidete, wurde ihre Anweisung von den beiden Gardisten ohne Umstände akzep‐ tiert. Einige Augenblicke verharrten sie, ohne einen Ton von sich zu geben. Exakt koordiniert schnellten die Roboter zwischen den Maschi‐ nenblöcken hervor und eröffneten sofort das Feuer. Sie griffen von zwei verschiedenen Seiten an. Offenbar befahl ihnen ihre Prioritätsschaltung, daß jeder, der einen Grako angriff, mit allen Mitteln vernichtet werden mußte. Strahlenschüsse zischten durch die Luft. Fähnrich Kerr feuerte und erwischte eine der Maschinen sehr wirkungsvoll mit den Nadelstrahlern seines Multikarabiners. Giff feuerte ebenfalls, traf den zweiten Roboter aber nicht richtig. Er war immer noch kampffähig. Erst als Amy der Maschine einen zweiten Schuß verpaßte, ver‐ wandelte sie sich in ein unbrauchbares Wrack. »Das hätten wir!« sagte sie. »Ich gehe davon aus, daß wir Ward hier nicht zurücklassen!« meinte Giff düster.
»Wenn er nicht gewesen wäre, gäbe es mich jetzt nicht mehr!« er‐ klärte Amy Stewart. »Ich weiß sehr genau, was ich ihm schuldig bin.« »Wir alle wußten, daß dies ein sehr gefährlicher Einsatz sein wür‐ de«, erklärte Giff. »Und wenn wir diesen Grako nicht daran gehin‐ dert hätten, die Selbstzerstörung auszulösen, wären wir alle verloren gewesen. Schließlich ist die REESCH II zerstört, und wir hätten keine Möglichkeit gehabt, von Bord zu gehen!« »Sehen wir uns an, was der Grako im einzelnen alles angerichtet hat!« schlug Amy vor. »Möglicherweise ist die Gefahr noch nicht vorüber.« »Sie meinen, die Selbstzerstörungssequenz war schon eingeleitet?« fragte Giff. »Keine Ahnung. Der Kerl wollte auf einen Knopf drücken, aber wissen wir, ob er die entscheidende Schaltung nicht längst vorge‐ nommen hatte?« »Worauf warten wir dann noch?« meinte Fähnrich Kerr. Aber da war Amy auch schon weg. Sie rannte voraus, um keine Zeit zu verlieren. Ihr Cyborgkörper erlaubte ihr eine Schnelligkeit, mit der kein ge‐ wöhnlicher Terraner – nicht einmal ein bestens durchtrainierter Gardist – mitzuhalten vermochte. Giff und Kerr setzten sich ebenfalls in Bewegung, doch sie würden ihr Ziel etwas später erreichen. * Sie kehrten schließlich alle drei zu dem Kontrollpult zurück, vor dem Tom Ward gestorben war. »Ich hoffe nur, daß uns von nun an nicht die gesamte Roboterschar, die sich noch in der Station befindet, im Visier hat!« meinte Kerr. »Das werden wir abwarten müssen, Fähnrich«, erwiderte Amy.
Giff deutete auf den Knopf, den der Grako hatte drücken wollen, bevor er vom Strich‐Punkt‐Strahl daran gehindert worden war. Aufblinkende Kontrolleuchten machten klar, daß die Selbstzers‐ törungssequenz offenbar keineswegs deaktiviert war. »Janu, ist das nicht etwas für dich?« fragte Giff. »Du willst doch in Exotechnik promovieren, wenn ich richtig informiert bin.« »So sieht es aus«, bestätigte Kerr. Amy ließ den jungen Mann an das Kontrollpult und trat zur Seite. »Ich gebe zu, daß ich die Schriftsprache der Grakos nur mäßig be‐ herrsche …« Aus einem Lautsprecher ertönte eine Ansage im Grako‐Idiom. »Die Selbstzerstörungssequenz war schon initialisiert worden, wenn ich das hier richtig sehe«, erklärte Kerr. Er berührte ein Schaltfeld, drückte ein paar Knöpfe und legte einen kleinen Hebel um. Daraufhin erschien eine Holographie, die Kolonnen von Gra‐ ko‐Schriftzeichen enthielt Sie gehörten zu einer schematischen Übersicht. Erst als Kerr den Vergrößerungsfaktor änderte, konnte man erkennen, das es sich um eine ähnliche schematische Drei‐D‐Darstellung handelte wie jene, auf die die Terraner und ihre Nogk‐Verbündeten in der Hauptzentrale gestoßen waren. »Ich fahre jetzt die Selbstzerstörungssequenz zurück«, kündigte Kerr an. »Ich hoffe, daß uns nicht gleich alles um die Ohren fliegt!« äußerte Giff. »Ich verstehe zwar von Fremdtechnik zugegebenermaßen nicht ganz so viel wie du, aber wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, dann sag es bitte!« »Danke. Im Moment gibt es nichts, was du tun kannst.« … außer vielleicht dafür zu beten, daß mein Lehrer für Grako‐Symbolik seinen Job einigermaßen gut gemacht hat! setzte Kerr noch in Gedanken hinzu. Aber diese Bemerkung behielt er lieber für sich. Amy beobachtete, daß sich die Finger des Fähnrichs immer vor‐ sichtiger den Knöpfen und Schaltern auf dem Kontrollpult näherten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Wieder ertönte eine Stimme in Grako‐Sprache, um nach irgendei‐ ner Bestätigung zu fragen. Kerr zögerte zunächst. Die Anfrage wurde wiederholt. Er drückte einen Knopf, woraufhin eine Reihe von blinkenden Kontrollämp‐ chen erlosch. Auf einem Anzeigefeld erschien ein Schriftzug im Zeichensatz der Grakos. »Geschafft«, sagte Kerr. »Die Selbstzerstörungssequenz ist voll‐ kommen abgeschaltet. Aber es war verdammt knapp. Ein einziger Knopfdruck trennte den Grako noch davor, uns alle in einer gewal‐ tigen Explosion vergehen zu lassen!« »Offenbar war es ihm wichtiger, uns zu vernichten, als das eigene Leben und das seiner Artgenossen an Bord der Station zu retten«, stellte Amy fest. »Es muß schon ein außergewöhnlicher Fanatismus gewesen sein, der diesen einsamen Grako lenkte …« »Fanatismus bis zur Selbstopferung war geradezu typisch für die‐ jenige Epoche der Grako‐Geschichte, die man heute auf Grah die alte Zeit nennt«, gab Kerr zu bedenken. Amy deutete an eine bestimmte Stelle des Kontrollpults. »Ich nehme an, daß dies einer der fest installierten Mikrophonanschlüsse ist«, stellte sie fest. »Richtig«, stimmte Kerr zu. »Ich möchte gerne mit Dhark und der Zentrale Kontakt aufneh‐ men. Über Vipho ist das hier im Hyperraum ja nicht möglich.« »Das dürfte kein Problem sein«, behauptete Kerr. Als ganz so einfach, wie er zunächst großspurig behauptet hatte, erwies es sich dann allerdings doch nicht. Einige der Grako‐Symbole an den verschiedenen Schaltern erwiesen sich als nicht ganz eindeu‐ tig, und so war Kerr gezwungen, die entsprechenden Funktionen einfach auszuprobieren. Giff hatte die Sorge, daß dadurch vielleicht die Selbstzerstörung reaktiviert werden könnte, aber zumindest in dieser Hinsicht konnte Kerr den Obergefreiten beruhigen.
»Der Bereich, mit dem die Selbstzerstörung eingeleitet wurde, ist vollkommen vom Rest des Systems getrennt«, erklärte der Fähnrich. »Wenn du das sagst, verlasse ich mich darauf!« Schließlich hatte Kerr auch herausgefunden, wie man die Mikro‐ phone benutzte. »Sie können sprechen!« meinte er an Amy Stewart gewandt. »Ei‐ gentlich müßten Dhark und die anderen Sie jetzt hören.« »Hier spricht Amy Stewart!« meldete sich der weibliche Cyborg. »Die Gefahr durch die Aktivierung der Selbstzerstörungsanlage ist ausgeschaltet. Wir müssen leider einen Mann Verlust melden.« »Hier Leutnant Buck«, klang eine Stimme in wohlvertrautem Angloter auf: »Wen hat es erwischt?« »Stabsunteroffizier Ben Ward«, berichtete Amy. »Die Roboter, mit denen wir hierher gelangten, haben verrückt gespielt, nachdem wir den Grako attackiert hatten!« Keiner von ihnen bemerkte das leichte Zucken am linken Hinter‐ bein des Kappa‐Kriegers, der mit Strich‐Punkt‐Strahlen zunächst außer Gefecht gesetzt worden war …
9. Ein Lichtpunkt war das erste, was Kappa‐Krieger 46.157 wahr‐ nahm. Dieser Lichtpunkt wurde größer und wirkte auf ihn so grell wie der gleißende Schein einer explodierenden Sonne. In uralten Vorstellungen der Grakos, die noch aus jener Zeit stammen mußten, da sie noch nicht in der Lage gewesen waren, in den Weltraum zu fliegen geschweige denn den Hyperraum zu erreichen, war der Ort der ewigen Verdammnis derart heiß und trocken. Ein Ort des ewi‐ gen Feuers, in dem es niemals Regen gab und jegliche Feuchtigkeit schon in dem Moment verdunstete, in dem sie entstand. Die Hitze‐ hölle, so hieß es in den alten Überlieferungen, an die natürlich seit vielen Zeitaltern kein Grako mehr glaubte, war jener Ort, an den die ehrlosen und feigen Krieger nach ihrem unrühmlichen Ende ge‐ langten – auf ewig dem Spott grotesker Dämonen ausgesetzt, die der allgewaltige Herr des Krieges damit beauftragt hatte, die Ehrlosen zu peinigen. Eine Geschichte, um den heranreifenden Nachwuchs zu erschrecken, wenn er sich als undiszipliniert erwies, so hatte KK 46.157 eigentlich immer gedacht. Aber nun schien genau diese Schreckensvision aus den Urtiefen der Grako‐Mythologie Wirklichkeit geworden zu sein. Ein kalter Schauder durchfuhr den Kappa‐Krieger. Er erinnerte sich dunkel daran, von blaßblauen Strahlen erfaßt worden zu sein. Das war das letzte, woran er sich entsinnen konnte. Danach hatte nur noch Dunkelheit sein Bewußtsein umgeben. Und jetzt dieses grausame Erwachen. Das Licht wurde schwächer und schmerzte auch nicht mehr so, wenn es in die ungeschützten Facettenaugen einfiel. Seine Umge‐ bung hatte entfernte Ähnlichkeit mit jener Nebenzentrale der Hy‐ perraumstation, deren Selbstzerstörung er hatte auslösen wollen. Hatte er es noch geschafft, oder waren ihm die Eindringlinge zu‐ vorgekommen, die ihn mit ihrem Strahlenfeuer ausschalteten?
KK 46.157 war Zeit seines Lebens ein nüchterner Charakter gewe‐ sen, dem metaphysische Spekulationen völlig fremd waren. Aber die Tatsache, daß er sich jetzt in dieser unheimlichen Ge‐ genwelt wiederfand anstatt in einem Kontinuum der Nichtexistenz, wie er es erwartet hatte, verstörte ihn zutiefst. Was ist geschehen? fragte er sich. Schemen wurden jetzt sichtbar. Sie hoben sich dunkel gegen das grelle, sengende Höllenlicht ab. Dämonen! durchfuhr es den Kappa‐Krieger. Die Dämonen der Hit‐ zehölle – so, wie sie den schlimmsten Schreckensvisionen aus grauer Vergangenheit entsprungen sein konnten. Vier Todesdämonen hoben sich nach und nach aus dem grellen Chaos ab. Einer lag regungslos am Boden. Ich habe es nicht verdient, von diesen Kreaturen der Finsternis als Feigling gemartert zu werden! dachte der Grako voll ohnmächtigem Grimm. Daß man seine Tat – oder nur den Versuch dazu – wahrscheinlich vergessen haben würde, damit hatte sich der Kappa‐Krieger abge‐ funden. Schließlich wäre die Station nach seinem Plan vollkommen atomisiert worden. Aber daß er an diesen Ort versetzt worden war, empfand er als zu‐ tiefst ungerecht. Das werde ich nicht hinnehmen! dachte er. Diese Dämonen werden mich kennenlernen! Sie sollen sich nicht umsonst mit einem der besten Kap‐ pa‐Krieger angelegt haben, der immerhin für seine besondere Tapferkeit im Kampf mehrfach ausgezeichnet wurde! KK 46.157 tastete an seine Körpermitte. Den Schwarzstrahler hatte man ihm offenbar abgenommen. Einer der Dämonen schien auf ihn aufmerksam zu werden. Dem Kappa‐Krieger war klar, daß er sofort handeln mußte. Im‐ merhin hatte er es mit vier Dämonen zu tun, deren Kampfkraft gar nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte. KK 46.157 blieb keine andere Wahl, als all seine Kraft in den ersten Angriff zu legen. Seine Kauzangen konnten schreckliche Waffen sein – vorausgesetzt, er
schaffte es, den Dämon überhaupt zu erreichen. Du wirst einfach so viele von ihnen wie möglich mit ins Verderben reißen! nahm sich der Kappa‐Krieger vor. Gleichgültig, welche Hölle danach auch auf dich warten mag … Die Hinterbeine des Grakos spannten sich. Im nächsten Moment setzte er zu einem Sprung an. Die Dämonen stoben auseinander, aber einen von ihnen erwischte er am Bein. Er schlug seine Kauzangen hinein. Der Stoff des Anzugs riß. Stirb, elender Dämon! durchfuhr es ihn, und innerhalb eines Se‐ kundenbruchteils jagte eine Flut von Bildern und Eindrücken durch sein Bewußtsein. All die Kämpfe, an denen er beteiligt gewesen war, vergegenwärtigten sich ihm jetzt noch einmal schlaglichtartig. * Amy und die beiden Gardisten waren so sehr auf ihre Arbeit am Kontrollpult konzentriert gewesen, daß keiner von ihnen die dro‐ hende Gefahr bemerkt hatte, die von dem betäubten Kappa‐Krieger ausging. Vorsorglich war ihm der Schwarzstrahler abgenommen worden. Außerdem der Gürtel mit technischen Geräten, die er getragen hatte und deren Funktion den Terranern nicht ganz klar war. Aber auch unbewaffnet war ein zu allem entschlossener Grako, der vollkommen ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben angriff, ein ge‐ fährlicher Gegner. Der Grako hatte all seine Kraft in den ersten Sprung gelegt, sich auf Fähnrich Janu Kerr gestürzt und diesen zu Boden gerissen. Kerrs Schutzanzug war am Bein gerissen. Die Kauzangen des Grakos hatten ganze Arbeit geleistet. Er schien auf ähnliche Weise durch den Einsatz der Strich‐Punkt‐Strahlen verwirrt zu sein, wie es bei den Grakos in der Hauptzentrale der Fall
war. Allerdings hatten Amy, Giff und Kerr es nicht mit einem brab‐ belnden Narren, sondern mit einem haßerfüllten, vor Wut und Kampfeswillen nur so sprühenden Wahnsinnigen zu tun, dem das eigene Schicksal offenbar schon lange nichts mehr bedeutete. Er war bereit, zu töten und dabei jede nur erdenkliche Folge in Kauf zu nehmen. Der Grako hatte sich in Kerrs Bein verbissen. Zwar konnte er den Multifunktionsanzug des Soldaten nicht beschädigen, wohl aber den darüber getragenen Schutzanzug gegen die Hyperraumstrahlung. Der Gardist versuchte sich loszustrampeln. Den Multikarabiner hatte er zuvor gegen das Kontrollpult gelehnt. Jetzt war die Waffe zu Bo‐ den gerutscht und unerreichbar. Amy nahm ihren Multikarabiner und versetzte dem Grako einen Schlag mit dem Kolben. Ihre Kraftentfaltung war enorm. Sie versuchte die sensiblen Stellen im Kopfbereich und am Hals zu treffen, da ein Treffer gegen den harten Chitinpanzer, der den Kör‐ per schützte, nur wenig Wirkung haben konnte. Ein Einsatz von Strich‐Punkt‐Strahlen kam nicht in Frage, denn davon wäre auch Kerr außer Gefecht gesetzt worden. Angesichts der Tatsache, daß Kerr wegen seines beschädigten Anzugs ähnlich wie Park und Pariot mit Strahlenschäden zu rechnen hatte, bedeutete auch die Betäubung mit Strich‐Punkt ein nicht unerhebliches Risiko – zumal man nicht mit Sicherheit ausschließen konnte, daß diese Art der Betäubung auch bei Menschen hier im Hyperraum vielleicht eine sehr viel verheerendere Wirkung hatte als im Normalraum. Der Grako wirkte durch Amys Schlag benommen. Er ließ von Kerr ab, der sich jetzt auf dem Boden davonrollen konnte. Der Insektoide richtete sich nun zu voller Größe auf. Die Beugung seiner Hinterbeine verriet, daß er erneut zu einem Sprung ansetzen wollte.
Aber da traf ihn ein Nadelstrahl. Tom Giff hatte mit seinem Multikarabiner auf den Kappa‐Krieger gefeuert. Dieser wurde an der Seite getroffen. Er stürzte zu Boden, rollte sich um die eigene Achse und griff nach Kerrs Multikarabiner. Inwiefern er sich mit dieser Waffe auskannte, war unklar. Allerdings war anzunehmen, daß er in Grundzügen wußte, wie sie funktionierte, da er vermutlich Gefechtserfahrung mit terranischen Gegnern hatte. Eine schreckliche Wunde klaffte in seiner Seite, doch die schien ihn nicht zu stören. Er riß die Waffe herum, schaltete an den Reglern und Hebeln. Ein blaßblauer Strich‐Punkt‐Strahl zog sich schnurgerade durch den Raum, verfehlte Amy allerdings knapp. Dann schoß eines der Ex‐ plosivgeschosse, mit denen diese Waffe ebenfalls geladen werden konnte, aus der Mündung. Der Grako schien jedoch überhaupt nicht gezielt zu haben. Der Schuß ging in die Decke. Eine Explosion sprengte einen Teil der Deckenverkleidung ab, der als Regen von glühenden Metallteilen herabkam. Giff feuerte im selben Moment ein zweites Mal. Diesmal traf er besser. Der Grako sackte in sich zusammen und blieb vollkommen regungslos liegen. Der Nadelstrahl hatte sich durch seinen Chitin‐ panzer gebohrt und zentrale Organe seines Körpers zerstört. Er war zweifellos tot, was auch ohne die Verwendung eines Diagnosesuprasensors sofort ersichtlich war. »Mein Bein!« rief Kerr. Amy schnellte zu dem toten Stabsunteroffizier Ben Ward. »Schnell! Ein Messer!« rief sie. Giff holte das einklappbare Multifunktionsmesser hervor, das zur Standardausrüstung jedes Gardisten gehörte. Er warf es ihr zu, denn wollte man Kerr noch helfen, ging es um jede Sekunde. Amy fing das Messer sicher auf.
Dann schnitt sie damit das Beinteil vom Schutzanzug des toten Soldaten. Schließlich hatte sie es geschafft. Sie ging zu Kerr, dessen Gesicht kreidebleich geworden war. Natürlich hatte der junge Fähnrich leb‐ haft vor Augen, was mit Park und Pariot geschehen war, deren Zu‐ stand sich im Verlauf des Einsatzes auf bedenkliche Weise ver‐ schlimmert hatte. Amy streifte Kerr das Beinteil seines toten Kameraden über und begann es mit Klebestreifen zu befestigen. »Helfen Sie mir, Giff!« forderte sie. »Sofort!« Mit ein paar schnellen Handgriffen war der Anzug ge‐ flickt. »Ich hoffe, wir waren schnell genug!« sagte Amy Stewart zu Fähn‐ rich Kerr. »Mit etwas Glück werden Sie keine Strahlenschäden er‐ leiden.« Kerr atmete tief durch. Er schloß einen Augenblick die Augen. »Hoffen wir, daß Sie recht haben«, meinte er. »Wenn ich an Jong Park denke …« Er sprach nicht weiter. »Ich werde Ward auf die Schultern nehmen«, erklärte Amy und wandte sich an Giff. »Auch wenn es Ihren männlichen Stolz verletzt … ich bin stärker als Sie beide zusammen!« »Das weiß ich, Miß Stewart, und es ist mir eine Ehre, mit jemandem wie Ihnen zusammenzuarbeiten. Wenn Sie Ward tragen, kommen wir rascher voran. Für uns zählt nur, daß er nicht hierbleibt.« Die Garde ließ niemanden zurück. Auch keinen Gefallenen. »Die Ausmaße der Station sind gigantisch!« gab Giff zu bedenken. »Ich nehme an, daß die Roboter uns mindestens fünf Kilometer weit transportiert haben!« »Es sind fast genau zehn Kilometer«, erklärte Amy. »Und es wird kein Problem sein, den Weg zurückzufinden. Ich habe ihn in meinem Programmhirn abgespeichert.«
Janu Kerr stand inzwischen wieder auf den Beinen. »Also los! Machen wir uns auf den Weg!« sagte er. »Schalten Sie mir doch bitte noch mal die Verbindung in die Hauptzentrale frei, Kerr!« verlangte Amy. »Jawohl«, sagte Kerr, trat an das Kontrollpult und nahm ein paar Schaltungen vor. Diesmal hatte Amy Dhark persönlich am Mikrophon. »Wir brechen jetzt auf, Ren!« sagte sie. »Paßt auf euch auf!« mahnte Dhark. »Keine Sorge!« * Kurt Buck schaltete an dem Kontrollpult herum. Mehrere kleine holographische Darstellungen wurden geöffnet. Sie zeigten neben kleinen dreidimensionalen Bildelementen vor allem Kolonnen von Zeichen. Da Buck das Zeichensystem der Grako‐Schrift nahezu perfekt be‐ herrschte, fand er sich immer besser mit der Technik in der Zentrale zurecht. Inzwischen hatten die an der Mission teilnehmenden terra‐ nischen Wissenschaftler und ihre Meeg‐Kollegen noch eine Reihe weiterer ähnlicher Kontrollpulte geöffnet. Nach und nach entschlüsselten sie dadurch weitere Funktionen der in der Zentrale installierten Technik. Buck gelang es inzwischen, ein weiteres Holofeld zu öffnen. Es schwebte in Form eines Kubus von einem mal einem Meter knapp oberhalb der menschlichen Augenhöhe und wirkte wie ein miniatu‐ risiertes Ebenbild der gewaltigen Schwarzenergieballung im Zent‐ rum jener Hohlkugel, die die Hauptzentrale bildete. Auch in dem pechschwarzen und auf eine seltsame Weise dennoch transparenten Kubus waren deutlich Sol und Proxima Centauri zu erkennen, die beiden durch einen nabelschnurartigen Energietunnel
verbundenen und von den Grakos auf katastrophale Weise manipu‐ lierten Sonnen. Dhark und Charaua standen in der Nähe. Außerdem der Nogk Uwegra zusammen mit dem Meeg namens Brril. Die beiden Nogk tauschten sich sofort darüber aus. Ihnen schien klar zu sein, was diese Holoabbildung bedeutete. Und auch Buck machte den Eindruck, etwas Wichtiges gefunden zu haben. Er wurde plötzlich von einer geradezu hektisch wirkenden Aktivität erfüllt. Manchmal reichen die wissenschaftlichen Grundkenntnisse eines Raum‐ schiffskommandanten eben doch nicht aus, um gleich erfassen zu können, was vor sich geht! dachte Ren Dhark. »Jetzt scheint es interessant zu werden!« meinte Kurt Buck zuver‐ sichtlich, nachdem sich eine ganze Weile kein bahnbrechender Fort‐ schritt beim Verständnis der in der Zentrale eingesetzten Technolo‐ gie bemerkbar gemacht hatte. Buck legte ein paar Hebel um. Kontrolleuchten blinkten auf. Der Holokubus veränderte leicht seine Größe und gewann deutlich an Transparenz. Einige Dutzend Zeichenkolonnen wurden eingeb‐ lendet. Offenbar handelte es sich um eine Art Beschriftung. All das machte zumindest von außen den Eindruck, als stünde Buck vor einem entscheidenden Durchbruch. Der Gardist hatte seinerzeit über den sogenannten »Time«‐Effekt promoviert, den er zur Konstruktion eines neuartigen Antriebs für die Absetzer der Schwarze Garde benutzte, der inzwischen in Serie gegangen war und sich in zahlreichen Einsätzen bewährt hatte. Hö‐ herdimensionale Mathematik war dem Gardisten und Wissen‐ schaftler daher vertraut, so daß er zumindest ansatzweise zu be‐ greifen begann, worum es in den angezeigten Datenkolonnen ei‐ gentlich ging. Leutnant Buck rief einen Gardisten herbei.
»Holen Sie Professor Bell und Tim Acker!« forderte er. »Ich bin hier vielleicht auf etwas Interessantes gestoßen.« »Warum zögern Sie noch?« erkundigte sich Brril. »Sie sollten dieses Programm jetzt einfach ablaufen lassen!« »Natürlich«, gab Buck zurück. »Aber ich möchte gerne, daß Bell und Acker sich die Sache auch ansehen und wir zwei zusätzliche Meinungen haben.« »Worum geht es hier eigentlich?« erkundigte sich Dhark. »Wenn ich das richtig sehe, dann handelt es sich hier um Darstellungen von Sol und Proxima Centauri!« Buck drehte sich zum Commander der POINT OF herum. »Wenn ich das hier richtig beurteile, dann bin ich auf ein Simulationsprog‐ ramm gestoßen, mit dessen Hilfe sich beurteilen läßt, wie sich eine Veränderung verschiedener Parameter auf die Versuchsanordnung auswirkt.« »Sie sprechen vom Schicksal der Erde als einer Versuchsanord‐ nung?« wunderte sich Ren Dhark. »Das ist die Bezeichnung, die vom internen Rechner des Steuer‐ systems immer wieder in diesem Zusammenhang verwendet wird, Sir!« verteidigte sich Buck. Inzwischen kamen Tim Acker und Professor Bell hinzu. Auch ihnen war ziemlich schnell klar, worauf Leutnant Buck da gestoßen war. »Die Frage ist doch letztlich, ob wir durch eine Zerstörung oder Abschaltung dieser Station einen positiven Effekt erzielen könnten«, meinte Professor Bell. »Denn daß wir es schaffen, die hier verwen‐ dete Technik innerhalb der Kürze der Zeit so gut zu verstehen, daß eine kontrollierte Vorgehensweise möglich ist, möchte ich sehr bez‐ weifeln.« »Ist es möglich, diese Simulation ablaufen zu lassen und dabei ei‐ nen völligen Ausfall der Station durchzuspielen?« fragte Dhark. »Bislang bin ich noch dabei herauszufinden, wie ich die entschei‐ denden Parameter verändern muß«, erläuterte Buck. »Davon abge‐
sehen sind auch einige Parameter dabei, von denen unsere Wissen‐ schaft noch nie etwas gehört hat und die wir daher auch in diesem Fall unmöglich einschätzen können.« »Ich erinnere nur an den Alpha‐Faktor, auf den wir in den Daten‐ sätzen dieser Geräte immer wieder gestoßen sind und der für die Existenz im Hyperraum sowie eine dauerhafte Verbindung in den Normalraum offenbar eine entscheidende Rolle zu haben scheint«, erinnerte Professor Bell. »Nur weiß bislang niemand von uns, was geschieht, wenn der Alpha‐Faktor in dieser Simulation einfach auf Null gesetzt wird!« fügte Buck hinzu. Jetzt mischte sich Charaua, der Erste Nogk, ein. »Wenn wir von den Aussagen des Beta‐Kriegers ausgehen, dann gibt es eigentlich nur den Schluß, daß eine Zerstörung oder einfache Abschaltung der Station uns überhaupt nicht helfen würde!« »Vergessen wir nicht, daß dieser Beta‐Krieger ein besonderes Mo‐ tiv hatte, dies zu behaupten«, meinte Dhark. »Den Haß auf Terra und alles Terranische nämlich!« »Die Alternative ist eine kontrollierte Abschaltung. Aber wir wis‐ sen nicht, wie wir das bewerkstelligen sollen«, erklärte Brril nach‐ denklich. »Ich habe mich mit meinem Meeg‐Kollegen lange über dieses Problem unterhalten, aber wir haben leider bislang keine Lö‐ sung gefunden, die uns als praktikabel erschienen wäre.« »Vergessen wir nicht, daß auch eine Katastrophe nicht ausge‐ schlossen ist, sobald die Steuerung aus dem Hyperraum für die so‐ genannte Versuchsanordnung ausfällt«, gab Tim Acker zu bedenken. »Neben dem Alpha‐Faktor gibt es noch einen weiteren Parameter, den wir bisher nicht mal in Ansätzen verstanden haben …« »Den Beta‐Faktor«, murmelte Buck. »So haben wir ihn vorläufig genannt, ja«, bestätigte Tim Acker. »Wenn dieser Faktor über einen bestimmten Wert steigt, ist meiner Ansicht nach der Kollaps unserer Sonne durchaus eine Möglichkeit, mit der wir rechnen müssen. Wie stark der Beta‐Faktor aber von
dieser Station aus tatsächlich kontrolliert wird und wie stabil er bleibt, wenn diese Kontrolle plötzlich abbricht, kann gegenwärtig niemand sagen.« Professor Bell breitete in einer fast schon komischen Geste die Arme aus. Er wandte sich an Dhark und Charaua. »Wir brauchten Monate, um uns auch nur ansatzweise in dieser überwältigend gro‐ ßen Station zurechtzufinden und danach wahrscheinlich weitere Monate, um auch nur die wichtigsten technischen Finessen, die hier zu finden sind, einigermaßen zu verstehen. Begreifen Sie, was ich damit sagen will?« Dhark sah ihn an. Das Helmvisier seines Gegenübers spiegelte leicht, aber die Schweißperlen auf Monty Beils Stirn waren nicht zu übersehen. Der Wissenschaftler hatte wie all die anderen an dieser Mission beteilig‐ ten Terraner und Nogk bis zur totalen Erschöpfung gearbeitet, um so viel wie möglich über die Funktionsweise der Station herauszube‐ kommen. Aber offenbar war einfach eine Grenze erreicht. Man konnte schließlich keine Wunder erwarten. Inzwischen war Hauptmann Schwengers hinzugetreten. Er hatte dem Disput der Wissenschaftler interessiert zugehört. »Und wenn wir es einfach darauf ankommen lassen und die Sta‐ tion zerstören?« meinte er. »Dann müßten wir uns nur noch darum kümmern, hier wegzukommen, was nach der Zerstörung der REESCH II natürlich nicht ganz einfach werden wird.« »Der Grako‐Krieger, den Amy und die Gardisten gestoppt haben, hatte genau das vor!« gab Kurt Buck zu bedenken. »Und ich glaube nicht, daß er uns damit einen Gefallen tun wollte, Hauptmann!« »Er dachte nur daran, Terraner zu töten!« glaubte Schwengel. »Möglich – aber er hätte das wohl kaum versucht, wenn die Zer‐ störung der Station eine Gefährdung des Vernichtungsplans bedeu‐ tet hätte, den die Grakos offenbar für die Menschheit vorgesehen haben!« war Ren Dhark überzeugt.
»Was wiederum mit den Aussagen des gefangenen Beta‐Kriegers übereinstimmen würde!« warf Charaua ein. »Ich schlage vor, wir nähern uns dem Problem wieder auf wissen‐ schaftlicher Basis«, schlug Buck vor. »Wir brauchen einfach Fakten, um abzuschätzen, welche Auswirkungen eine Abschaltung des Sonnenzapfers tatsächlich hätte. Warten Sie einen Moment. Viel‐ leicht kann uns das Kontrollsystem der Grakos selbst darüber Aus‐ kunft gegeben.« Er schaltete an den Kontrollen des Pults herum. Der Holokubus veränderte sich. Der Energietransfer zwischen Sol und Proxima Centauri riß ab, die Zeichenkolonnen wurden durch andere Kolon‐ nen ausgetauscht, was wohl mit einer Veränderung der einzelnen Kontrollwerte einherging. Was dann geschah war für jeden Betrachter des Holokubus ein‐ deutig erkennbar. Der Lichtpunkt, der Sol darstellte, verwandelte sich in ein schwarzes Loch. Innerhalb von Augenblicken kollabierte das Zentralgestirn Terras. Gleichzeitig gewann Proxima Centauri enorm an Helligkeit und wurde zu einer gleißenden Supernova. Dann war die Simulation vorbei. Der Anfangszustand des Holokubus stellte sich automatisch wie‐ der her. »Seien wir froh, daß es sich nur um eine Simulation handelte«, äußerte sich Tim Acker. »Offenbar ist das nicht der einzige denkbare Verlauf, den eine Zerstörung oder plötzliche Abschaltung der Station zur Folge haben könnte!« erklärte Leutnant Buck. Er drückte ein paar Knöpfe, blickte einen Augenblick lang auf ein Anzeigefeld, auf dem eine Reihe von Grako‐Symbolen erschienen, und sah dann erneut auf den Kubus. Die zweite Variante war auch nicht ermutigender als diejenige, die den Terranern und Nogk bereits vor Augen geführt worden war. Diesmal war es das Zentralgestirn der Erde, das sich in eine Super‐ nova verwandelte, während aus Proxima Centauri ein Schwarzes Loch wurde.
»Immerhin gibt es für Proxima Centauri auch die Variante eines stabilen Zustands – während die Wahrscheinlichkeit eines solchen Glücksfalls für Sol vom Rechnersystem lediglich mit fünf Prozent angesetzt wird«, sagte Buck. »Dann wird es definitiv keine schnelle Lösung geben«, erklärte Charaua. Professor Monty Bell stimmte dieser Einschätzung zu. »Angesichts dieser Tatsachen werden wir nur folgendermaßen vorgehen können: Erst muß der Zapf Vorgang unterbrochen werden …« »Aber auf kontrollierte Weise!« unterbrach ihn Buck. »Sonst be‐ steht für Sol nur die Auswahl zwischen Scylla und Charybdis – Nova oder Schwarzes Loch.« »Selbstverständlich muß das kontrolliert geschehen«, gestand Bell zu. »Und wir müssen uns der Tatsache bewußt sein, daß jeder Fehl‐ griff katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Erst wenn der Zapfvorgang wirklich unterbrochen ist, können wir die Station in den Normalraum bringen – und auch die Schwierigkeiten, die dabei auftreten könnten, sollten wir keinesfalls unterschätzen.« Charaua schaltete sich mit aller Entschiedenheit ein. »Hat irgend jemand von Ihnen auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie das, was Sie eine kontrollierte Unterbrechung des Zapfvorgangs nennen, praktisch durchgeführt werden könnte?« »Das herauszufinden wäre unsere nächste Aufgabe«, erklärte schließlich Kurt Buck, nach dem alle anderen zunächst einige Au‐ genblicke lang geschwiegen hatten. Charaua hat den entscheidenden Punkt angesprochen, war es Dhark sofort klar. »Und wie lange werden Sie brauchen, um das herauszufinden?« hakte Charaua nach. »Das ist schwer zu sagen und hängt auch von Zufällen ab«, erklärte Buck. »Es läßt sich wirklich nicht vorhersagen«, stimmte sein Meeg‐Kollege Brril zu.
Charaua wandte sich an Dhark. »Dann gibt es nur einen Weg!« »Welchen?« fragte Dhark. »Wir müssen uns den Beta‐Krieger noch einmal vornehmen. Er mag zwar kein Wissenschaftler sein, aber ich bin überzeugt davon, daß er uns noch weiterhelfen kann! Schließlich handelt es sich um einen hohen militärischen Befehlshaber, der mit Sicherheit weiß, wo bestimmte Geheiminformationen abgespeichert sind!« Noch ehe Dhark etwas dazu sagen geschweige denn eingreifen konnte, befahl Charaua bereits, das Verhör des gefangenen Beta‐Kriegers fortzu‐ setzen. »Ich befehle hiermit, daß Beta‐Krieger 268 noch eine weitere Dosis des Wahrheitsserums verabreicht wird. Die Risiken für die geistige und körperliche Gesundheit des Gefangenen sind mir dabei durch‐ aus bewußt, aber nach meiner Überzeugung gibt es hier übergeord‐ nete Interessen. Und da ich nicht glaube, daß ein Meeg sich wirklich gut mit der Physiologie eines Grakos auskennt, wäre es meines Erachtens viel besser, Gardist Edwards würde sich noch einmal be‐ reit erklären, die Sache zu übernehmen.« »Ich bezweifle, daß der Beta‐Krieger physisch überhaupt in einer Verfassung ist, die eine Fortsetzung des Verhörs in Frage kommen läßt!« wandte Dhark ein. * Park rang nach Luft. Er hatte Blut gespuckt. Das Innere seines Helmvisiers war bereits über und über besudelt. Doc Edwards setzte den Gardisten mit einem Ruck auf. Parks Brustkorb hob und senkte sich. Ein mattes Stöhnen drang durch den Helm. Die Automatik des Anzugs saugte das Blut aus dem Helm. Etwas davon blieb allerdings dennoch am Visier kleben. Immerhin war ein Ersticken ausgeschlossen. »Es geht schon wieder!« murmelte Park. »Danke, Doc!«
»Ich habe dir starke Medikamente gegeben, die die Symptome der 5‐D‐Verstrahlung ein wenig zu lindern vermögen!« erläuterte Ed‐ wards. »Ich weiß, daß du im Moment nicht mehr tun kannst.« Wahrscheinlich werden wir nicht rechtzeitig den Hyperraum verlassen können, um die beiden noch zu retten! überlegte Edwards, aber diesen Gedanken behielt er selbstverständlich für sich. Er wollte vor allem Park nicht den letzten Rest an Hoffnung nehmen, der ihn vielleicht noch aufrecht erhielt. Pariots Zustand war noch wesentlich ernster als der des Menschen. Der Nogk war schon eine geraume Weile nicht mehr ansprechbar. Nogk waren eben von Natur aus wesentlich an‐ fälliger für Strahlungsprobleme als Menschen. Und eine Möglichkeit, in den Normalraum zurückzukehren, war nicht absehbar. Park beobachtete einige Augenblicke lang nachdenklich die Be‐ mühungen der terranischen Wissenschaftler und ihrer Meeg‐Kollegen, endlich mehr über die Funktionsweise der techni‐ schen Anlagen zu erfahren, auf die sie innerhalb der Zentrale ge‐ stoßen waren. »Die rätseln doch nur herum, aber sie haben den entscheidenden Dreh noch nicht gefunden, was?« äußerte er. »Keine Ahnung«, sagte Edwards. »Ich hatte keine Gelegenheit, das genauer zu verfolgen …« »… weil du dich mit Pariot und mir herumplagen mußt!« Edwards lächelte matt. »Unter anderem!« gab er zu. Pariot deutete auf den gefangenen Beta‐Krieger. Eine ganze Weile hatte dieser unablässig irgendwelche Laute ausgestoßen, die keiner der terranischen Translatoren auch nur ansatzweise zu übersetzen vermocht hatte. Jetzt wirkte er still. Insgesamt machte er einen sehr geschwächten und inaktiven Eindruck, aber jene Phasen, in denen er aktiver war, hatten Edwards bereits zu der Vermutung veranlaßt, daß auch bei BK 268 möglicherweise inzwischen der Wahnsinn um sich gegriffen hatte.
»Vielleicht hätte es ja etwas geholfen, wenn man dem Rieseninsekt da vorne noch etwas härter zugesetzt hätte!« meinte Park. »Könnte doch sein, daß unsere Leute dann schon etwas mehr wüßten und …« Erbrach ab. … und wir dadurch eine wesentlich bessere Überlebenschance hätten. Das war es wohl, was ihm noch auf der Zunge gelegen hatte. Doc Edwards biß sich auf die Lippen. War das Leben eines Gardisten weniger wert als das eines gefan‐ genen Grako‐Kriegers? Schon bei dem bisherigen Verhör des Grakos war Edwards weit über die Grenze dessen gegangen, was ihm sein hippokratischer Eid eigentlich erlaubte. Ein Eid, der in diesem Fall vielleicht im Widerspruch zu dem Eid stand, den er als Angehöriger der Schwarzen Garde auf Terra ge‐ leistet hatte. Der Beta‐Krieger war durch das Verhör und die Injektion des Wahrheitsserums ohnehin bis auf das äußerste physisch und psy‐ chisch belastet worden. Ob er dauerhafte Schäden davontragen würde, war noch nicht ganz klar. Weder die Dosis des Wahrheits‐ serums noch die physiologischen Reaktionen des Grakos hatte Ed‐ wards mit der eigentlich nötigen Genauigkeit zu beurteilen ver‐ mocht, da durch den Hyperraum völlig unkalkulierbare Effekte auftraten. Charaua näherte sich jetzt dem jungen Arzt und Soldaten. Dhark und Schwengers waren bei ihm. »Die Befragung des Gefangenen wird fortgesetzt«, bestimmte Charaua. »Ich glaube nicht, daß Beta‐Krieger 268 im Moment in der Lage ist, Ihre Fragen zu beantworten«, meinte Edwards. »Der Gefangene befindet sich in einem ausgesprochen schlechten körperlichen Zu‐ stand.«
»Dann sorgen Sie durch die Gabe von geeigneten Medikamenten dafür, daß er in die Lage versetzt wird, das Verhör durchzustehen«, erwiderte Charaua. »Im Klartext, ich soll ihm Aufputschmittel verabreichen, damit er nicht ins Koma fällt«, erwiderte Doc Edwards mit einem leicht gal‐ ligen Unterton. Er wandte sich an Schwengers. »Ist das ein Befehl, Sir?« »Diese Mission steht unter dem Befehl von Charaua!« erwiderte Schwengers. »Tun Sie Ihre Pflicht!« Einen Moment lang zögerte Edwards noch. Ihm war bewußt, wie gefährlich bereits das letzte Verhör des Gefangenen gewesen war. Andererseits gab es da aber auch zwei Mitglieder ihrer Gruppe, die dringend auf Hilfe angewiesen waren. Hilfe, die nur zu erhalten war, wenn es gelang, die Station in den Normalraum zu bringen. Terra oder Hippokrates? ging es Edwards durch den Kopf. Aber er hatte seine Entscheidung längst getroffen.
10. »Ich mache darauf aufmerksam, daß wir den Tod des Gefangenen riskieren!« sagte Doc Edwards. »Wir haben keine andere Wahl«, erwiderte Charaua. »Außerge‐ wöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.« Der junge Gardist hatte die Injektion für den gefangenen Be‐ ta‐Krieger bereits vorbereitet. Was sollte dieser letzter Hinweis auf das Risiko für den Gefangenen? meldete sich ein leicht spöttischer Kom‐ mentator in seinem Hinterkopf. Wolltest du die Verantwortung von dir schieben? Du bist Arzt und Soldat. Und du weißt ganz genau, daß du dich nicht herausreden kannst. Die Verantwortung für das, was du tust, mußt du selbst tragen. Sonst niemand. Und wenn du dir nicht sicher bist, dann laß es lieber. Aber Edwards hatte sich entschieden. Nicht zuletzt auch um Pariots und Parks willen, für die er sonst keinerlei Überlebenschancen mehr sah. Der Beta‐Krieger wurde von zwei Gardisten umgedreht. Er machte keinerlei Anstalten, seine Bewacher mit den Kauzangen anzugreifen. Seine Bewegungen waren langsam, fast schleppend. Er schien tat‐ sächlich nicht mehr viel Kraft zu haben. Der Sack, den er bis dahin auf dem Kopf getragen hatte, wurde ihm abgenommen. Die Kauzangen schnappten träge. Die gespaltenen Mundleisten öffneten sich, und ein paar Tropfen Verdauungssekret liefen heraus. Ein untrügliches Zeichen für den schlechten körperlichen Zustand, in dem sich der Grako befand. Das Aufputschmittel zeigte Wirkung. Beta‐Krieger 268 wurde zunehmend munterer. Zunächst hatte er nur unverständliche Wortaneinanderreihungen vor sich hingebrab‐ belt, aber jetzt formulierte er bereits wieder ganze Sätze. Sein Haß auf die Terraner wurde dabei wieder offensichtlich.
Er blickte sich um. »Wie ich sehe, versucht ihr immer noch, mit eurem mangelhaften Halbwissen hinter die Geheimnisse dieser Sta‐ tion zu kommen. Aber das wird euch nicht gelingen, sage ich euch … Terra ist verloren. Und auch das Schicksal jeder weiteren Welt, auf der ihr euch niederlaßt, ist jetzt bereits besiegelt!« Der Beta‐Krieger schien sich in einem Zustand der Euphorie zu befinden, Euphorie im Angesicht der Rat‐ und Hilflosigkeit seiner Feinde. Als Edwards ihm die nötige Dosis des Wahrheitsserums verabrei‐ chen wollte, versuchte sich der Grako zu wehren. Er schnappte mit den Kauzangen nach dem Militärarzt und bemühte sich, mit den zusammengebundenen Extremitäten nach ihm zu schlagen. Aber diese Angriffe waren relativ kraftlos. Zwei Gardisten hielten ihn fest. Die Injektion wurde gesetzt und zeigte auch schon nach kurzer Zeit Wirkung. Der Beta‐Krieger wurde ruhiger. Sein Widerstandsgeist erlahmte. »Erkläre uns, wie der Sonnenzapfer kontrolliert abgeschaltet wird!« verlangte Charaua. »Das ist nicht so einfach … und außerdem ist das eigentlich die Aufgabe der Wissenschaftler an Bord der Station.« »Aber ich bin überzeugt davon, daß du genug Kenntnisse über diese Vorgänge hast, um uns weiterhelfen zu können«, beharrte Charaua. »Also sprich!« Inzwischen wurden Kurt Buck, Monty Bell und der Meeg Brril herbeigerufen, damit sie mitbekamen, was der Grako zu sagen hatte. »Als erstes müßt ihr ein Kontrollpult finden, das zu einem Ma‐ schinenblock mit der Kennung Kradosch 334.334 1 gehört. Zugang bekommt man allerdings nur mit dem persönlichen Autorisations‐ code eines Beta‐Kriegers.« »Dann nenne uns diesen Code!« verlangte Charaua.
Der Beta‐Krieger zögerte. Widerstand schien sich in ihm zu regen, aber das Serum verhinderte, daß er sich gegen die Forderung des Nogk wehren konnte. Also gab er den Code preis, der aus einer Kombination von Zahlen und Farbtönen bestand. »Die Lage des Schaltpultes müßten wir anhand unserer Über‐ sichtsholographie herausbekommen«, war Kurt Buck ziemlich op‐ timistisch. »Die Frage ist, wie es dann weitergeht.« Der Beta‐Krieger gab auch darüber Auskunft. Nach seinen Worten kam es darauf an, vor dem Abschalten des Sonnenzapfers sowohl den Alpha‐ als auch den Beta‐Faktor auf einen Wert zu bringen, der einer bestimmten Konstante entsprach. Andernfalls waren verhee‐ rende Auswirkungen zu befürchten – und das nicht nur für die bei‐ den Sonnen und die jeweils betroffenen Planetensysteme, sondern auch für die Station selbst. Auf die Frage danach, worum es sich bei diesen mysteriösen Parametern eigentlich handelte, die Kurt Buck bereits bei seinen Untersuchungen aufgefallen waren, gab Be‐ ta‐Krieger 268 auch auf mehrfaches und nachdrückliches Nachfra‐ gen nur mehr oder minder sinnlose Antworten. Zunächst glaubte Buck, daß dies vielleicht an Übersetzungsschwierigkeiten des Translators lag, aber da Charaua und Brril trotz ihrer qua‐ si‐telepathischen Begabung dieselben Verständnisschwierigkeiten hatten, schied diese Möglichkeit aus. Dhark vermutete, daß der Beta‐Krieger selbst nicht richtig Bescheid wußte und als Angehöriger des Militärs wahrscheinlich im wesent‐ lichen nur über Anwendungswissen verfügte. »Befragen Sie den Gefangenen weiter!« wandte sich Charaua an Leutnant Buck. »Ich nehme an, daß er Ihnen alles sagen wird, was er weiß.« »In Ordnung.« Der Leutnant stellte daraufhin noch ein paar Fra‐ gen, um präziser zu wissen, wie bei der Abschaltung des Sonnen‐ zapfers vorzugehen war.
Die Worte des Grakos wurden mit dem Handsuprasensor aufge‐ zeichnet, so daß Buck und die anderen Spezialisten jederzeit darauf zurückgreifen konnten. Schließlich erklärte Buck, daß er fürs erste genug wisse. »Die physischen Werte des Beta‐Kriegers liegen in einem bedenk‐ lichen Bereich!« meinte Edwards. »Er droht in einen komatösen Zu‐ stand zu verfallen, wobei ich nicht weiß, ob es möglich sein wird, ihn danach überhaupt wieder aufzuwecken.« »Dann sorgen Sie dafür, daß er nicht in diesen Zustand gerät!« lauteten Charauas glasklare Anweisungen. Schwengers nickte be‐ stätigend. Das Kontrollpult, von dem BK 268 gesprochen hatte, wurde mit Hilfe der Übersichtsholographie schnell gefunden. Buck vermochte es zu öffnen. Zusammen mit Bell und Brril machte er sich an den Schaltern zu schaffen. Durch die Hinweise des Beta‐Kriegers fanden sie sich rasch zurecht. Nach der Eingabe des Autorisationscodes öffnete sich ein Menü, über das sich der Sonnenzapfer regulieren ließ. »Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben«, mahnte Bell, der wie die anderen auch sehr konzentriert wirkte. Sie folgten genau den Angaben des Beta‐Kriegers. »Ich setze den Alpha‐ und Beta‐Faktor auf den Wert dieser myste‐ riösen Konstante«, erklärte Buck und nahm die entsprechende Schaltung vor. Die Blicke gingen in Richtung der gewaltigen Kugel aus Schwarz‐ energie, die in der Mitte der Zentrale schwebte. Die Transparenz hatte sich schlagartig erhöht, was offenbar mit der von Buck vorge‐ nommen Schaltung zusammenhing. Sol und Proxima Centauri waren jetzt noch eindrucksvoller und deutlicher zu sehen. Selbst Einzelheiten auf der Oberfläche traten stärker hervor. Buck bemerkte, daß sich die Größe des Weißen und des Schwarzen Lochs veränderte. Sie glichen sich exakt aneinander an und schrumpften dann um etwa zwanzig Prozent.
Eine entsprechende Anzeige in Grako‐Schrift meldete schließlich, daß der Vorgang abgeschlossen war. »Soll die Abschaltung des Sonnenzapfers fortgesetzt werden?« erkundigte sich eine Stimme in Grako‐Sprache, die natürlich vom Translator sofort übersetzt wurde. »Dies muß mit dem Sicherheits‐ code des Beta‐Kriegers bestätigt werden. Andernfalls wird die Se‐ quenz nicht fortgesetzt.« Der Code wurde eingegeben und die kontrollierte Abschaltung daraufhin eingeleitet. In dem Schwarzfeld inmitten der Zentrale bot sich ein dramati‐ sches Schauspiel von kosmischer Dimension. Der Energieschlauch, der die beiden Sonnen ähnlich einer Kabel‐ schnur miteinander verband, wurde allmählich dünner und dünner. Schließlich riß er ab. Funkenartige Lichterscheinungen geisterten noch für Augenblicke durch die Schwärze des Energiefeldes. Dann waren die beiden Sonnen endgültig voneinander getrennt, die unheilvolle Verbindung zwischen ihnen gekappt worden. »Das Volumen der Schwarzenergiekugel schrumpft um etwa zehn Prozent!« meldete Brril. »Wenn wir nur wüßten, was das zu bedeuten hat!« murmelte Buck vor sich hin. Bedeutete es, daß sie langsam die Kontrolle verloren und einen Fehler gemacht hatten? Wenn es so sein sollte, dann ist es jetzt ohnehin zu spät, um noch irgend etwas rückgängig zu machen, durchfuhr es Buck. Dhark und Charaua traten an den Rand der Galerie, um besser verfolgen zu können, was sich in der kilometergroßen schwarzen Kugel abspielte. Das besondere Augenmerk aller lag jetzt auf dem, was im Inneren der beiden Sonnen geschah. Wie würden sich das Weiße und Schwarze Loch entwickeln?
Es lag immer noch im Bereich des Möglichen, daß sie beide kolla‐ bierten oder explodierten und eine Katastrophe ungeahnten Aus‐ maßes auslösten. Der weiße Kern im Zentrum von Proxima Centauri schmolz zu‐ sammen, und auch das schwarze Loch im Inneren der Sonne wurde immer kleiner und schrumpfte auf die Größe eines Punktes, ehe es vollkommen verschwand. * Beta‐Krieger 268 starrte in Richtung der Kugel aus Schwarzenergie. Er war vollkommen fassungslos und verharrte einige Augenblicke absolut regungslos. Konnte es wirklich wahr sein, was sich da vor seinen Augen ab‐ spielte? War der Plan der Vernichtung, der Terra treffen sollte, am Ende etwa doch gescheitert? Eine Flut von Gedanken und Empfindungen durchraste das Hirn des Grakos. Es war ein chaotischer Cocktail aus Haßgedanken und dem Ent‐ setzen über das, was sich vor ihm in der schwarzen Kugel abspielte. Außerdem dämmerte ihm dumpf, daß er es war, der dem Feind die nötigen Kenntnisse gegeben hatte, um den Sonnenzapfer herunter‐ zufahren. Ich war der Verräter – welche Schande über mich … Er konnte es sich einfach nicht erklären. Lag es an den Injektionen, die er be‐ kommen hatte, oder welcher Höllendämon hatte ihn geritten? Dies alles verdichtete sich in seinem Bewußtsein zu einer chaoti‐ schen, kaum noch im Gleichgewicht zu haltenden Melange. BK 268 war dem Wahnsinn nahe. Sehr nahe. Er hatte das Gefühl, sich auf nichts mehr verlassen zu können. Nichts schien noch das zu sein, was es bisher gewesen war. In wel‐ chen Alptraum bin ich nur geraten! dachte er. Erneut versuchte er völlig sinnloserweise seine Fesseln zu sprengen. Ein wahrer Tobsuchtsan‐
fall schloß sich an. Er drehte sich um die eigene Achse und mobili‐ sierte den Rest an Kraft, der noch in ihm war. Aber er spürte auch, daß seine frühere Stärke und sein Wider‐ standsgeist dahin waren. BK 268 wurde erst wieder ruhiger, als er sah, wie die kilometer‐ große Kugel aus Schwarzenergie begann, rapide zu schrumpfen. Sie fiel regelrecht in sich zusammen. Sie verdichtete sich immer mehr. Ein schwarzer Punkt entstand und verschwand im nächsten Moment, während der Rest der Schwarzenergie eine rauchartige Schwade bildete, die sich rasch verflüchtigte. Es ist vorbei! dachte der Grako. Der Sieg ist nicht unser, sondern auf Seiten der Eindringlinge. Die Ehre der Grako‐Krieger hat uns nichts ge‐ nützt. All der Opfermut und die Tapferkeit unserer Krieger waren nicht genug, um das Verhängnis abzuwehren. Beta‐Krieger 268 wünschte sich in diesem Augenblick der Nieder‐ lage und der tiefsten Depression nichts so sehr, als daß dieser Alp‐ traum, zu dem sein Dasein geworden war, augenblicklich aufhören möge. Er wollte nur noch die Augen schließen und nicht mehr existieren. Denn als Beta‐Krieger von Ehre konnte er angesichts dieser offen‐ sichtlichen Niederlage seinem Befehlshaber nicht mehr unter die Augen treten. Er hatte versagt, und ein Krieger von Ehre trug dafür auch die Konsequenzen. Für lange Augenblicke trieb das Bewußtsein des Beta‐Kriegers in einen Zustand hinüber, in dem es keinen Bezug mehr zur Realität hatte. Er glaubte Stimmen zu hören. Stimmen seiner Vorfahren, Stimmen ehemaliger und aktueller Befehlshaber, Stimmen von Un‐ tergebenen, die unter ihm gedient hatten … Ein schauriger, vielstimmiger Chor entstand daraus, den BK 268 gerne zum Schweigen gebracht hätte. Aber das war nicht möglich. Diese Stimmen wollten einfach nicht verstummen, so sehr er es ih‐ nen auch gebot.
Du bist nahe dran, dem Irrsinn zu verfallen! wurde BK 268 klar. Die Grenze war fließend, wie der Beta‐Krieger sehr wohl wußte. Wäh‐ rend seiner Existenz als Krieger hatte er schließlich schon zahlreiche Extremsituationen durchlebt. Aber nichts war mit dem Schrecken vergleichbar, die er in diesen Momenten durchmachte. Nur schemenhaft nahm er jetzt die Gestalt des Nogk wahr, der von den anderen Anwesenden Charaua genannt wurde. Ihn fürchtete er am meisten. Seine Stimme schien paradoxerweise aus dem Hirn des Beta‐Kriegers selbst zu kommen und überschüttete ihn jedesmal mit einer Flut unangenehmer Gedankenbilder, deren Eindringlichkeit geradezu unerträglich war. »Wir brauchen noch ein paar weitere Informationen«, sagte diese Stimme jetzt. »Ich … werde nicht antworten!« sagte der Beta‐Krieger, obwohl ein Teil seiner selbst ahnte, daß er diese Ankündigung kaum würde durchhalten können. Es mußten die Medikamente sein, die man ihm verabreicht hatte. Sie lähmten seinen Geist und erstickten jeden Wi‐ derstand schon im Keim. Der Beta‐Krieger versuchte dennoch, mit aller Kraft dagegen anzukämpfen. »Ich … werde … nicht …« »Wie bringt man diese Station zurück in den Normalraum?« lau‐ tete die Frage, die Charaua ihm jetzt stellte. Sie schien dutzendfach in seinem Hirn widerzuhallen und wurde außerdem von einer wahren Flut an Gedankenbildern begleitet. »Ohne mich … seid … ihr hilflos!« erwiderte BK 268. »Vollkommen hilflos …« Eine Welle der Euphorie durchflutete ihn. War er am Ende vielleicht doch noch in der Lage, dem Feind zu schaden und dessen Rückkehr in den Normalraum zu verhindern? Der Nogk trat auf ihn zu. »Versuch dich nicht dagegen zu wehren!« riet er. »Du wirst es oh‐ nehin nicht schaffen. Die Medikamente, die man dir gegeben hat, lassen jeden Widerstand in dir früher oder später zusammenbre‐ chen. Also kannst du uns auch gleich die nötigen Informationen geben.«
»Mir ist mein Überleben gleichgültig!« brachte der Grako heraus. Er sank in sich zusammen. Der terranische Arzt war bei ihm. »Er ist zusammengebrochen!« stellte der Gardist fest. »Wie sind die Werte?« fragte Dhark. »Sehr bedenklich«, brummte der Doc. »Dann sorgen Sie dafür, daß er wieder vernehmungsfähig wird!« beharrte Charaua. * »Ich habe das Programm zur Rückkehr in den Normalraum gefun‐ den«, meldete Kurt Buck. Monty Bell und Brril blieben skeptisch. Sie überprüften zunächst Bucks Ergebnisse und kamen dann zu demselben Schluß. »Wenn ich das richtig sehe, müssen wir jetzt einfach nur das ent‐ sprechende Programm initialisieren. Alles weitere geschieht dann von allein«, war Buck überzeugt. Der junge Leutnant, in dem viele eine der größten Begabungen aus den Reihen der Schwarzen Garde sahen, sprühte nur so vor Optimismus. Bell blieb weiterhin skeptisch, und auch Brril mochte sich von dieser Euphorie nicht so vorbehaltlos anstecken lassen. »He, was ist los?« fragte Buck. »Wir kehren zurück! Ist das keine gute Nachricht?« »Mir kommt das entschieden zu leicht vor«, meinte Bell. »Irgend etwas scheint mir da nicht zu stimmen. Ich bin dafür, daß wir sämt‐ liche Schritte noch einmal durchgehen.« »Ich halte das für übertrieben«, meinte Buck. »Aber wenn Sie meinen …« Schritt für Schritt gingen die Spezialisten jeden Menüpunkt durch und blieben schließlich bei einem Datensatz stehen, der einen be‐ stimmten Schaltvorgang innerhalb der Sequenz auslösen sollte.
»Diese Schaltung sollten wir uns noch einmal genauer ansehen«, meinte Professor Bell plötzlich. »Wozu?« fragte Buck. »Meiner Ansicht nach handelt es sich um eine einfache Anpassung der Außenhülle der Station an die verän‐ derten Bedingungen im Normalraum.« »Und warum setzt diese Anpassung dann zeitlich bereits deutlich vor dem Eintritt in den Normalraum ein?« fragte Bell. »Die Angaben im Datensatz sind in diesem Punkt eindeutig!« »Mit anderen Worten, die Konsequenzen wären nicht absehbar!« meinte Uwegra. »Der Hyperraum würde in die Station dringen«, sagte Bell. »Wir hätten es nicht nur mit den Auswirkungen eines erhöhten fünfdi‐ mensionalen Strahlenniveaus zu tun, sondern mit einer Struktur‐ veränderung des Raums selbst – und die würde niemand von uns überleben!« »Aber könnte es nicht notwendig sein, die Abschirmungen gegen den Hyperraum durchlässig zu machen, bevor man in den Normal‐ raum eintritt?« fragte Buck. »Wenn das zeitlich genau mit dem Eintrittszeitraum abgestimmt wäre, dann vielleicht. Aber die zeitliche Differenz ist nun einmal vorhanden, da beißt die Maus keinen Faden ab!« »Allerdings beträgt die Differenz nur etwas mehr als eine Nano‐ sekunde«, gab Brril zu bedenken. Monty Bell tippte auf der Tastatur seines Handsuprasensors he‐ rum, um ein paar Berechnungen anzustellen, und kam schon wenige Augenblicke später zu einem eindeutigen Ergebnis. »Eine Nanose‐ kunde, in der sich die Station bei abgeschalteten Abschirmungen noch im Hyperraum befindet, reicht völlig aus, um sämtliches Leben an Bord durch die Strukturveränderung des Raumes augenblicklich zu töten!« lautete seine Analyse. »Aber warum sollten die Grakos eine derartige Schaltung in die Eintrittssequenz in den Normalraum schmuggeln?« fragte Kurt Buck. »Das macht doch keinen Sinn. Jeder, der diese Sequenz auslöst
und mit der Station in den Normalraum zurückkehrt, würde sich selbst dabei umbringen!« »Genau das muß der Sinn dieser Schaltung sein«, glaubte Brril. »Es handelt sich um eine Sicherung gegen unbefugten Zugriff.« »Das halte ich auch für die wahrscheinlichste Möglichkeit«, er‐ klärte Monty Bell. »Das bedeutet, wir müßten die entsprechende Schaltsequenz deaktivieren«, schloß Buck. »Richtig«, bestätigte Bell. »Und was, wenn wir damit eine entscheidende Schaltung aus der Sequenz herausgenommen hätten?« fragte Buck. »Eins steht fest: Wenn wir berechtigten Zugang zu diesem System hätten, wüßten wir es«, meinte Professor Bell. »Fragen wir sicherheitshalber den Grako!« schlug Buck vor. »Der wird den Teufel tun, uns dazu etwas zu sagen«, glaubte Bell. »Trotzdem«, beharrte der Leutnant. »Ein einziger falscher Schritt kann uns alle das Leben kosten!« * Professor Bell suchte den Gefangenen auf, in dessen Nähe sich außer mehreren Gardisten auch Charaua, Dhark und Schwengers befan‐ den. Ein Grako, der sinnlose Wortkombinationen vor sich hin sprach, kam Bell entgegen. Der Insektoide war zwar offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne, aber im Gegensatz zu dem gefangenen Be‐ ta‐Krieger völlig harmlos. Nicht das geringste Anzeichen von Agg‐ ression war bei ihm festzustellen. Er wirkte ganz im Gegenteil eher scheu und ängstlich, was unter normalen Umständen eigentlich vollkommen gegen die Natur eines Grako‐Kriegers war – gleichgül‐ tig welcher Rangstufe.
So wich er vor Bell zurück und verlor dabei beinahe das Gleich‐ gewicht. Mochten die Götter der Grakos wissen, für wen oder was er Bell in diesem Augenblick gehalten hatte. Doc Edwards kümmerte sich gerade wieder um Pariot und Park. Vor allem Pariots Zustand hatte sich verschlimmert. Edwards ver‐ abreichte ihm zum wiederholten Mal eine Injektion zur Stabilisie‐ rung des Kreislaufs. Seine Werte waren mehr als bedenklich. Was Park anging, so hatte der in der letzten halben Stunde nur noch Blut gespuckt. Außerdem hatte sich sein Allgemeinbefinden erheblich verschlechtert. Er war jetzt ebenso wie Pariot kaum noch ansprech‐ bar. Auch ihm verabreichte der junge Arzt ein Medikament zur Stabili‐ sierung der grundlegenden Biofunktionen. Schwengers rief den Doc herbei, als Bell bei dem Gefangenen ein‐ traf, denn der Hauptmann konnte sich denken, daß es noch irgend‐ welche dringend zu beantwortenden Fragen gab. Edwards mußte BK 268 zunächst eine weitere Dosis eines Auf‐ putschmittels verabreichen, damit er aus seiner Bewußtlosigkeit, in die er inzwischen gefallen war, wieder erwachte. Nur langsam kehrten die Lebensgeister in den Beta‐Krieger zu‐ rück. Die gespaltenen Mundleisten öffneten sich. Ein paar unartikulierte Laute kamen dazwischen hervor. »Auf eine Zusatzdosis des Serums würde ich gerne verzichten«, sagte Doc Edwards. »Wir sind schon an die Grenzen seiner physi‐ schen Belastbarkeit gegangen.« »Probieren wir es einfach!« schlug Charaua vor. »Wir sind auf eine Chaosschaltung gestoßen, die in die normale Schaltsequenz zum Eintritt in den Normalraum integriert war«, stellte Monty Bell fest. »Ach wirklich?« erwiderte der Grako.
»Eine Nanosekunde vor Eintritt in den Normalraum werden da‐ durch die Abschirmungen gegen den Hyperraum deaktiviert. Ich nehme an, daß diese Schaltung außer Kraft gesetzt werden muß.« »Möglicherweise. Aber seid ihr sicher, daß dann nicht ein wesent‐ licher Teil der Sequenz fehlt?« erwiderte der Grako, bei dem die Wirkung des Wahrheitsserums offenbar so weit nachgelassen hatte, daß sich Widerspruchsgeist in ihm zu regen vermochte. »Also gehe ich davon aus, daß es sich tatsächlich um eine Fallen‐ schaltung handelt!« stellte Monty Bell fest. »Geh aus, wovon du willst, Terraner! Du wirst ja erleben, was der Wahrheit entspricht – oder auch nicht!« »Der Kerl macht sich über Sie lustig, Professor!« sagte Schwengers. »Erhöhen Sie noch einmal die Dosis des Wahrheitsserums«, for‐ derte Charaua von Doc Edwards. »Bitte! Es ist die einzige Möglich‐ keit, um herauszufinden, ob wir es tatsächlich mit einer Fallen‐ schaltung zu tun haben …« »… und ob es vielleicht im weiteren Verlauf der Sequenz noch mehr davon gibt, die wir bisher noch nicht erkannt haben!« ergänzte Monty Bell. Edwards kam der Aufforderung nach. Ihm war nicht wohl dabei, aber er sah die Notwendigkeit ein. »Ihr werdet alle noch eine böse Überraschung erleben!« stieß der Beta‐Krieger hervor, während der Arzt ihm die Injektion verab‐ reichte, was er diesmal widerstandslos geschehen ließ. Es war nicht einmal notwendig, daß weitere Gardisten ihn fes‐ thielten. »Ihr seid alle des Todes!« rief er. »In der Hitzehölle sehen wir uns wieder, so sagt man bei uns!« Ein paar Laute drangen aus seinem Rachen hervor, die vielleicht das Grako‐Äquivalent eines irren Ki‐ cherns waren. Jedenfalls konnte das Translatorsystem nichts damit anfangen. Eine Anzeige vermutete einen Anflug gehässiger Heiter‐ keit mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin 58 Prozent.
Doc Edwards wies Monty Bell darauf hin, daß er ein paar Au‐ genblicke mit seinen Fragen warten sollte, damit die Zusatzdosis ihre Wirkung entfalten konnte. Doch dazu kam es nicht mehr. Der Körper des Grako erschlaffte. Edwards überprüfte die Bio‐ werte. Die Diagnose war in diesem Fall eindeutig. »Beta‐Krieger 268 ist tot«, erklärte der Arzt. * Bell kehrte zu Buck und Brril zurück, die bereits damit beschäftigt waren, weitere Fallenschaltungen aufzuspüren. Tim Acker, H. C. Vandekamp und der Nogk Uwegra hatten sich inzwischen zu ihnen gesellt, um sie bei dieser ziemlich kniffligen Aufgabe zu unterstüt‐ zen. »Den Grako werden wir nicht mehr fragen können«, erklärte Bell. »Er ist tot.« »Dann sind wir allein auf unser eigenes Urteil angewiesen«, stellte Kurt Buck fest. »Sie sagen es, Leutnant. Aber ich kann wirklich nicht behaupten, daß mir bei diesem Gedanken wohl wäre …« »Vertrauen wir einfach auf unser Glück!« schlug Tim Acker vor. »Ehrlich gesagt, ist mir das ein bißchen wenig, um mich allein darauf zu verlassen«, meinte Vandekamp. »Bleibt uns eine andere Wahl?« fragte Buck. »Immerhin können wir mit aller gebotenen Akribie sämtliche Schaltungen der Eintrittssequenz in den Normalraum überprüfen«, erwiderte Monty Bell. Doch auch dem Professor war klar, daß es dabei nur zu einer ein‐ zigen Fehleinschätzung zu kommen brauchte, und die Katastrophe wäre da. Entweder man hatte dann eine Fallenschaltung übersehen oder der Eintrittssequenz fehlte irgendein unverzichtbarer, aber
wichtiger Baustein. Beides konnte alle an Bord der Station das Leben kosten. Mit stummer Verbissenheit setzten die Spezialisten daher ihre Su‐ che nach weiteren Fallenschaltungen fort. Sie arbeiteten schnell und konzentriert, immer in dem Bewußtsein, daß sie sich keinen Fehler erlauben durften. Die Anspannung, unter der jeder von ihnen stand, war enorm. Schließlich fand Kurt Buck eine Datensequenz, die seinen Verdacht erregte. Eine genaue Untersuchung ergab, daß es sich tatsächlich um eine weitere Fallenschaltung handelte, die eine Explosion jenes Maschi‐ nenblocks bewirkt hätte, an dem sich das Kontrollpult befand. Die Schaltung wurde deaktiviert. Schließlich war die Überprüfung abgeschlossen. »Wir können nur hoffen, daß wir nichts übersehen haben«, meinte Monty Bell. »Also lösen wir jetzt den Eintritt in den Normalraum aus!« kün‐ digte Kurt Buck an. Ein einziger Knopf war dazu noch zu betätigen. Buck zögerte einen Moment. Sterben müssen wir schließlich alle ir‐ gendwann einmal! dachte er und senkte den Zeigefinger. Die Schaltsequenz wurde damit ausgelöst. Unumkehrbar, wie Buck, Bell und die anderen sehr wohl wußten. »Was von jetzt an geschieht, liegt nicht mehr in unserer Hand!« glaubte Professor Bell. Der Boden unter ihren Füßen begann zu vibrieren. Ein Rumoren durchdrang den Raum, wurde über die Außenmikrophone ihrer Schutzanzüge übertragen und war sowohl für Terraner als auch für Nogk geradezu unerträglich. Es schwoll immer mehr an, wurde intensiver. Überall wurden Bildschirme aktiviert. Sie blieben schwarz, waren aber nach dem, was Kurt Buck herausfand, so ein‐ gestellt, daß sie mit den optischen Bordsensoren verbunden waren und die äußere Umgebung der Station zeigten. Innerhalb des Hy‐
perraums machte eine optische Erfassung der Umgebung nicht viel Sinn, aber sobald man in den Normalraum zurückkehrte, mußten auf diesen Bildschirmen eigentlich die vertrauten Sterne zu sehen sein. Vorausgesetzt, es klappte alles und die Gruppe um Bell und Buck hatte nicht doch noch irgendeine Fallenschaltung übersehen. Das Rumoren wurde höher und begann langsam zu einem Schril‐ len zu werden. Der Raum selbst schien sich in seiner Struktur zu verziehen. Die exakten Quaderformen der Maschinenblöcke wirkten plötzlich wie in einem Zerrspiegel. »Was haben wir nur getan?« hörte Kurt Buck die Stimme von Pro‐ fessor Bell. »Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht! Das sind Raumzeitverzerrungen, die eigentlich nicht auftreten dürften …« Wie aus weiter Ferne klangen diese Worte, und sie wirkten ebenfalls eigenartig verzerrt. Zunächst gedehnt, wie bei einer Aufnahme, de‐ ren Wiedergabetempo viel zu langsam war, dann urplötzlich be‐ schleunigt, so daß vom letzten Halbsatz kaum mehr als ein Geräusch blieb, das dem Gezwitscher von Vögeln ähnelte. Waren die Verzerrungen Vorboten des nahen Endes? Ein Zeichen dafür, daß doch eine entscheidende Schaltkomponente außer Kraft gesetzt worden war, die für die Rückkehr in den Normalraum ei‐ gentlich unverzichtbar war? Oder waren diese seltsamen, die menschlichen Sinne ebenso wie die Wahrnehmung der Nogk verwirrenden Erscheinungen nur ein Ausdruck der Tatsache, daß die technischen Systeme dieser Station eben an die körperlichen Voraussetzungen von Grakos angepaßt waren, die einen derartigen Übergang in den Normalraum vielleicht weder als hart noch als unangenehm empfanden? Und wenn die für Grakos optimierten Einstellungen am Ende darauf hi‐ nauslaufen, daß wir beim Übergang von einem Kontinuum ins andere ge‐ tötet werden? fragte sich Kurt Buck. In den Datensätzen, die er zusammen mit den anderen Spezialisten der Schwarzen Garde und ihren Meeg‐Kollegen untersucht hatte,
waren keinerlei Modifikationsmöglichkeiten für Angehörige ver‐ schiedener Spezies gefunden worden. Wahrscheinlich mit gutem Grund, dachte Buck. Vermutlich war es von den Grakos niemals geplant gewesen, daß sich andere Lebewe‐ sen als loyale Grako‐Krieger innerhalb der Station befanden, solange diese im Hyperraum weilte. Auf den Bildschirmen waren jetzt bunte Lichteffekte zu sehen. Blitze in allen Farben des Spektrums, die plötzlich aufleuchteten, um dann wieder in der absoluten Schwärze, die da draußen offenbar herrschte, zu verschwinden. Sterne waren das auf jeden Fall noch nicht. Eigentlich, so dachte Buck, hätte der Übergang längst vonstatten gehen müssen. Er blickte sich um, sah die ebenfalls vollkommen verzerrten, libellenhaften Körperschemen der Nogk Uwegra und Brril. Auch Professor Beils Erscheinung hatte jetzt Ähnlichkeit mit den Propor‐ tionen, die er beim Anblick seines Ebenbildes in einem Hohlspiegel hätte sehen können. Ist es lediglich meine unvollkommene menschliche Wahrnehmung, die diese Zerrbilder erzeugt – oder sehe ich die Realität? Eine Welle aus Schmerz und Benommenheit durchfuhr ihn. Ihm wurde schwindlig. Er hatte ein Gefühl zu fallen und in einen Strudel aus Farben und Formen hinabzusinken. Alles schien sich aufzulösen. Der Raum. Die Zeit. Das Bewußtsein. Bilder durchrasten Bucks Hirn. Bilder aus seinem eigenen Leben, aber auch solche, mit denen er überhaupt nichts anzufangen wußte und die ihm völlig fremd waren. Was mag das sein? fragte er sich. Das erste Stadium des Todes? Die letzten Gedankenblitze eines Bewußtseins, das sich bereits in der Phase seiner endgültigen Auflösung befindet?
Im nächsten Moment umgab den Gardisten nur noch Schwärze. Dunkelheit. Und Kälte. * Amy Stewart stoppte. Natürlich mußte sie, was das Tempo anging, immer wieder Rück‐ sicht auf Giff und Kerr nehmen, die einfach nicht schneller konnten. Amy hatte den toten Gardisten Ben Ward geschultert, was ihr nichts weiter ausmachte und sie auch nicht wesentlich in ihrer Schnelligkeit bremste. Es war etwas anderes, das sie jetzt stutzen ließ. Das dröhnende Geräusch, das den Boden vibrieren ließ, deutete darauf hin, daß irgend etwas Außergewöhnliches mit der Station geschah. »Was könnte das sein?« fragte Tom Giff. »Keine Ahnung«, murmelte Amy. »Jedenfalls kann es definitiv nichts mit der Selbstzerstörung zu tun haben«, war Fähnrich Janu Kerr überzeugt. »Sind Sie wirklich sicher, daß Sie dabei nichts übersehen haben, Fähnrich?« fragte Amy. »Natürlich!« Amy hatte plötzlich das Gefühl, auf schwankendem Boden zu stehen. Die Wände des Korridors schienen sich eigenartigerweise zu verziehen. Die rechten Winkel wurden aufgelöst. Ein Zerrbild ent‐ stand, während aus dem dumpfen Rumoren langsam ein Schrillen wurde. Diese Verzerrungen können eigentlich nur bedeuten, daß jemand ver‐ sucht, die Station in den Normalraum zu bringen! dachte Amy. Aber ob sie das als positives Zeichen sehen sollte, war ihr noch nicht so recht klar.
Die Rückkehr ins Normalkontinuum verlief offenbar nicht so, wie es geplant war. Die Ebene, auf der sie standen, schien sich jetzt ebenfalls zu ver‐ ziehen und nach vorne hin zu senken. Tom Giff sagte etwas, das Amy nicht verstand. Seine Worte wirk‐ ten verzerrt. Alles schien sich aufzulösen. Auch die Struktur des Raumes selbst. * Nur für einen Sekundenbruchteil hielt die Schwärze vor Kurt Bucks Augen an. Ein Moment vollkommener Blindheit, der nichts mit jener Finsternis gemein hatte, die entstand, wenn man einfach die Augen schloß oder in einen tiefen Schlaf fiel. Dann war es vorbei. Buck hatte die ganze Zeit über die Augen weit offen gehabt. Aber das Sehvermögen kehrte schlagartig zurück. Das Gefühl zu fallen war verschwunden. Er blickte sich um. Es waren keinerlei Verzerrungen mehr zu sehen. Die dröhnenden Geräusche und die mit ihnen einhergehenden unangenehmen Vibrationen, die sowohl den Boden der Galerie als auch die Maschinenblöcke erfaßt hatten, waren verstummt. Eine angenehme Ruhe herrschte jetzt. Sterne waren auf den Monitoren zu sehen. Funkelnde Sterne, ferne Galaxien, leuchtende interstellare Nebel … Der Normalraum! durchfuhr es den Leutnant mit unendlicher Er‐ leichterung. Dies muß das vertraute Universum sein! Zumindest deu‐ teten alle äußeren Anzeichen daraufhin. Buck wandte den Kopf. Weitere Veränderungen wurden sichtbar. Die durch den Beschuß mit Strich‐Punkt‐Strahlen verrückt gewor‐ denen Grakos waren wieder von einem Halbraumfeld umgeben, das sie beinahe verschwinden ließ. Die Toten jedoch vergingen in der von jeher bekannten Thermoreaktion. Einer nach dem anderen ver‐
wandelte sich in eine explodierende Feuersäule, in deren Umkreis jeweils das sengende Feuer der entfesselten Hyperenergie alles ver‐ schlang. Auch die Leiche des gefangenen Beta‐Kriegers zeigte diese Reak‐ tion. Explosionsartig schlugen die Flammen empor. Und Ren Dhark stand unmittelbar daneben!
11. In der gesamten Milchstraße gab es kein außergewöhnlicheres Raumschiff als die POINT OF. Zwar unterschied es sich vom Äuße‐ ren und von der Ausstattung her nur unwesentlich von anderen Ringraumern – aber außer der PO verfügte sonst kein Schiff über einen so leistungsfähigen Bordrechner wie den Checkmaster, auch wenn der sich manchmal etwas eigenwillig verhielt. Dank einer speziell gegründeten Stiftung befand sich das ehema‐ lige Flaggschiff der terranischen Flotte mittlerweile im Privatbesitz von Ren Dhark, der es der Menschheit für Forschungsreisen zur Verfügung stellte. Die Besatzung bestand fast gänzlich aus einstigen Mannschaftsmitgliedern die gemeinsam mit Commander Dhark aus dem Militärdienst ausgeschieden waren und ihren Sold seither aus eben jener Stiftung erhielten. Guten Sold – für gute Arbeit! Als die POINT OF im Juli 2063 zur Landung auf dem Planeten Eden ansetzte, befand sich der Commander nicht an Bord. Ein an‐ derer hatte für ihn das Kommando übernommen: Ren Dharks bester Freund … … Riker, Dan, geboren 2029 ‐176 Zentimeter groß, schwarze Haare, blaue Augen, breiter Mund, kleine Nase, vorstehendes Kinn, tatkräftiger Grübler. Legte am 20. Dezember 2059 sein Amt als Flottenchef nieder und verblieb als Vizekommandant auf der POINT OF. Verfügt wie jedes reguläre Be‐ satzungsmitglied über eine eigene Wohnung im Gebäude der POINT OF‐Stiftung. »Vorgang beenden!« In der Zentrale der POINT OF richteten sich immer mehr Blicke auf Artus. Obwohl er ein Roboter war, war es ihm peinlich, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Seit er die Zentrale betreten hatte, hatte er diese beiden Worte mehrmals ausgesprochen, innerhalb kürzester Zeit, und nun erwartete man offenbar eine Erklärung für sein selt‐ sames Verhalten.
Artus war keine gewöhnliche Arbeitsmaschine wie all die anderen humanoiden Großserienroboter aus den Fabriken von Wallis In‐ dustries, sah aber genauso aus wie sie: ein Körper aus Stahl mit im Vergleich zum Torso dünnen röhrenförmigen Armen und Beinen sowie ein beweglicher Kopf mit allen möglichen sensorischen Ein‐ richtungen. Der wichtigste Unterschied zu einem gewöhnlichen Roboter war dieser: Artus hatte ein eigenes Bewußtsein – durch die Vernetzung von 24 Cyborg‐Programmgehirnen mit der ihnen eigenen Supra‐ sensorik. Doch den »Seelenfunken« hatte er vermutlich einem win‐ zigen Fehler in einem der 24 Mikrocomputer zu verdanken! Er ver‐ besserte ständig seine Fähigkeiten, indem er Tag für Tag dazulernte und seine »Innereien« des öfteren aufrüstete. Dabei experimentierte er auch gern mal an sich selbst herum und testete neuartige Geräte und Software im Eigenversuch. »Ich habe mir ein neues Indexprogramm eingebaut«, erklärte er Riker und den anderen, die ihn verwundert anschauten. »Genauer gesagt: ein Personenregister. Leider funktioniert es noch nicht wie gewünscht. Wahrscheinlich habe ich irgendwo in meinem Netz eine Fehlschaltung vorgenommen.« »Ein Personenregister?« wiederholte Dan Riker. »Wozu soll das gut sein?« Artus blieb ihm die Erklärung nicht schuldig. »Mal angenommen, Riker, du betrittst deine Kabine und triffst dort mit deiner Frau zu‐ sammen. Dann weißt du auf Anhieb, wen du vor dir hast, nicht wahr?« »Logisch«, erwiderte Dan kurz angebunden. »Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, warum du sie sofort erkennst?« fragte ihn der Roboter. »Warum sollte ich sie nicht sofort erkennen?« stellte Riker ihm die Gegenfrage. »Schließlich sind wir ein Paar. Ebenso erkenne ich meine Verwandten, Kameraden, Freunde und Bekannten … Zuge‐ geben, ab und zu rutscht einem auch mal jemand aus dem Gedäch‐
tnis, vor allem dann, wenn man ihn lange nicht gesehen hat, doch das sind Ausnahmefälle.« »Um genau solche Ausnahmefälle zu verhindern, habe ich mir ein alphabetisches Register eingebaut, vollgestopft mit Informationen aller Art«, entgegnete Artus. »Was für eine Mordsarbeit! Ihr Men‐ schen scheint euch gar nicht richtig darüber im klaren zu sein, wie viele diffizile Vorgänge eine simple Begegnung in euren Gehirnen auslöst. Ohne euer Hinzutun wird ein hochkompliziertes datenve‐ rarbeitendes System in Gang gesetzt, das innerhalb von Nanose‐ kundenbruchteilen zu einem Ergebnis führt. Würde euch dieses System von einem Augenblick auf den anderen im Stich lassen, würden sich die besten Freunde plötzlich nicht mehr wiedererken‐ nen und wie Fremde aneinander vorbeigehen. Glücklicherweise kommt es nur ab und zu zu harmlosen Aussetzern, auch Gedäch‐ tnisschwund genannt.« Artus war berühmt für seine bildhaften, manchmal aber etwas langwierigen Ausführungen. Trotzdem hörten ihm alle in der Zent‐ rale aufmerksam zu – zumindest diejenigen, die nicht gerade mit wichtigen Aufgaben beschäftigt waren. »In Computern, Suprasensoren oder Hyperkalkulatoren geht es ähnlich zu wie in euren Köpfen. Es sind künstliche Gehirne, er‐ schaffen von Menschen mit echten Gehirnen. Man kann fortlaufend Verbesserungen an ihnen vornehmen, ihre Kenntnisse erweitern, sie nach und nach weiterentwickeln … Dem menschlichen Gehirn sind in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt. Ein Kunsthirn hingegen kann man theoretisch nach Belieben endlos aufrüsten. Gedächtnis‐ schwund ist künstlichen Gehirnen fremd, deshalb brauchte ich mir darüber eigentlich keine Sorgen zu machen. Andererseits ›ticke‹ ich anders als normale Geräte.« Allmählich begriff Dan, worauf Artus hinauswollte. »Du bist bei‐ des: Lebewesen und Suprasensor. Und weil du befürchtest, der Le‐ bewesen‐Anteil in dir könnte eines Tages dies gleichen negativen Auswirkungen auf dein elektronisches Gedächtnis haben wie bei uns
Menschen, versuchst du, in diesem Bereich deinen Suprasen‐ sor‐Anteil zu erhöhen – durch die Zuhilfenahme eines In‐ dex‐Suchprogramms.« »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können, Riker – allerdings hätte ich etwas länger gebraucht, um auf den Punkt zu kommen.« Artus duzte grundsätzlich jeden und redete ihn mit dem Nach‐ namen an – in dieser Hinsicht war er praktisch veranlagt. Wozu sollte er sich als Roboter der menschlichen Etikette anpassen? Selbst die Terraner legten untereinander verschiedene Verhaltensweisen an den Tag, je nach völkischer Abstammung. Artus, den man aufgrund einer Sondererlaubnis zum vollwertigen Bürger gemacht hatte, empfand sich sozusagen als ein eigenes terranisches Volk. »Und was genau funktioniert an deinem Personenregister nicht?« hakte Dan Riker nach, der das Gespräch endlich zu Ende bringen wollte. »Verwechselt es Henner Trawisheim mit Ted Bulton?« »Nein, nein, was die Personenerkennung betrifft, arbeitet das neue System perfekt«, antwortete Artus. »Es drängt sich nur zu sehr in den Vordergrund.« »Da kenne ich noch einen«, murmelte Dan, was von dem Roboter zwar akustisch registriert, ansonsten aber nicht verstanden wurde – sprich: Artus konnte sich nicht im entferntesten vorstellen, daß er selbst damit gemeint war. Oder wollte er es nicht? »Sobald ich jemanden nach der Index‐Installation zum erstenmal wiedersehe, teilt mir das Programm ohne mein Hinzutun jede Ein‐ zelheit über den Betreffenden mit«, fuhr Artus fort. »Erst wenn ich den Vorgang sowohl durch einen akustischen als auch einen elekt‐ ronischen Befehl stoppe, herrscht Ruhe im Karton. Zum Glück pas‐ siert das bei jeder Person nur ein einziges Mal.« »Und? Was redet man so über mich in Index‐Kreisen?« wollte Ri‐ ker wissen. Man konnte Artus alles mögliche vorwerfen, nur nicht, daß er keine offenen, ehrlichen Antworten gab. »Mit deinem vorstehenden Kinn siehst du aus wie ein Verwandter der berühmten verstorbenen
Filmschauspieler Kirk und Michael Douglas. Der rote Fleck, der sich immer dann auf deinem Kinn abzeichnet, wenn du dich aufregst …« »Ich habe keine roten Flecken, und ich rege mich nie auf!« regte sich Dan Riker auf, und auf seinem vorstehenden Kinn zeichnete sich ein roter Fleck ab. »Laß uns das Thema beenden«, schlug Artus vor. Dan war einver‐ standen; es war jetzt kein guter Zeitpunkt zum Streiten. Dan Riker war nicht gut drauf, schon seit knapp drei Monaten nicht mehr – seit man von Ren Dhark nichts mehr gehört hatte. Es gab keine Anzeichen, daß der bisherige Commander der POINT OF und ehemalige Commander der Planeten seine Exkursion in den Hyperraum überlebt hatte. Ren Dhark und seine Mitstreiter – dar‐ unter kein Geringerer als Charaua, der Herrscher der Nogk – weilten offenbar nicht mehr unter den Lebenden. * Der unitallblaue Ringraumer tauchte in das Planeteninnere von Eden ein, was dank des Intervallfeldes, welches das Schiff in sein eigenes Kontinuum versetzte, problemlos möglich war. Die Landung er‐ folgte in einem der riesigen unterirdischen Raumhäfen. Nicht nur die Flughäfen lagen auf diesem Planeten im Untergrund, auch die gesamte Industrie war dort angesiedelt. Die Oberfläche diente in erster Linie dem Wohnen. In den Bildkugeln der POINT OF erschien der Oberkörper des Staatsoberhaupts von Eden. Er ließ es sich nicht nehmen, die An‐ kömmlinge persönlich willkommen zu heißen. Wallis, Terence, geboren am 06. Dezember 2012, groß, schlank, sportlich, ehemaliger Basketballer, heute Golfspieler. Langes, leicht schütteres dun‐ kelblondes Haar, meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Gourmet mit einem Faible für schottischen Whisky und kubanische Zigar‐ ren. Konservative Gesinnung. Einstmals der reichste Mann der Erde. Gründete auf Eden, einem mondlosen Planeten im Kugelsternhaufen M53,
seinen eigenen Staat und verlagerte das Hauptwerk von Wallis Industries nach dorthin. Am 6. Januar 2060 wurden die bereinigten Systeme von Eden und Achmed von der terranischen Regierung als eigenständiges Sternen‐ reich anerkannt. »Vorgang beenden!« wies Artus sein fehlgeschaltetes Suchprog‐ ramm an. Der Befehl wurde umgehend ausgeführt. Als jedoch Sekunden später eine bezaubernde Frau neben Terence Wallis trat und die Besatzung der POINT OF ebenfalls begrüßte, setzte sich das Prog‐ ramm erneut in Gang. Sheridan, Heather, geboren 2035, attraktiv, goldblondes schulterlanges Haar, dunkelblaue Augen, lange Beine, durchtrainierte Langläuferin, viel‐ seitig begabt, rebellisch. Universitätsabschluß in Medienwissenschaften; heute Reporterin bei Terra‐Press. Unabhängigkeit hat für sie einen hohen Stellenwert. Seit Oktober 2062 mit Terence Wallis liiert. Die beiden lernten sich kennen, als … »Vorgang beenden!« befahl Artus. »Ein Suchregister ist doch kein Liebesroman!« Anja, Dans Ehefrau, betrat die Zentrale. Seit der Aktivierung seines Indexprogramms hatte Artus sie nicht zu Gesicht bekommen. Riker, Anja, geboren 2026, blonde Haare, Stupsnase, aufregende Figur, bevorzugt etwas zu enge Pullis. Ehemalige Chefmathematikerin der GALAXIS. Eignete sich ab September 2051 durch Mentcaps und eigene Studien umfangreiches Wissen über die Mathematik der Worgun an; gilt mittlerweile als führende Expertin auf diesem Gebiet, hat mehrere Ab‐ handlungen darüber veröffentlicht. »Vorgang beenden!« Manche Menschen bezweifelten, daß Artus wirklich lebte. Selbst seine Ernennung zum vollwertigen Staatsbürger von Terra hielten sie für eine Art »Werbegag« der Regierung. Doch der Roboter hatte eine Seele – andernfalls hätte ihn das fehlgeschaltete Programm wohl kaum seelisch an den Rand des Wahnsinns bringen können. Ent‐ nervt erwog er, das Register wieder zu löschen. Allerdings brauchte
er dafür etwas Zeit und Ruhe; falls er nämlich zu hektisch und un‐ vorsichtig vorging, entfernte er womöglich mehr Informationen, als er eigentlich wollte. Und dann könnte das eintreten, wovor er sich eigentlich hatte schützen wollen: Gedächtnisschwund – problema‐ tisch für einen Menschen, katastrophal für eine Maschine … * Dan und Anja Riker sowie Artus verließen nach der Landung das Schiff und stiegen auf einen Schweber um. Gemeinsam mit Terence Wallis und Heather Sheridan schwebten sie durch eine Schleuse an die Oberfläche von Eden. Die Umsiedelung des Stammwerks von Wallis Industries war sei‐ nerzeit mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden gewe‐ sen. Eine »große Stadt« (so bezeichneten viele Mitarbeiter das riesige Fabrikgelände – andere nannten es sogar »mein Zuhause«) war mit viel Aufwand 56.000 Lichtjahre durchs Weltall geflogen worden, hinein in den Kugelsternhaufen M53, im »Haar der Berenike«, mit geschätzten 1,3 Millionen Sonnenmassen, rund 40.000 Lichtjahre über der galaktischen Hauptebene gelegen, mit einem Abstand von 60.000 Lichtjahren zum galaktischen Zentrum. Das Stamm werk war seit seiner Landung auf Eden die einzige dort vorhandene oberirdi‐ sche industrielle Produktionsanlage, mit Dutzenden bis zu den Wolken ragenden Kaminen. Auf dem Weg dorthin flog der Schweber mit seinen insgesamt fünf Insassen (plus ein Roboterpilot) in wenigen Metern Höhe über die weiträumigen Flächen hinweg, die auf Eden in Äcker umgewandelt worden waren, um die Ernährung der Menschheit zu sichern. Es war Terence Wallis zwar schwergefallen, Naturlandschaften zweck‐ zuentfremden, doch er hatte sich den Erfordernissen gebeugt – ein fester Charakter zeichnete sich nicht nur durch Standhaftigkeit aus, sondern auch durch Kompromißbereitschaft. Sobald die Terraner in
der Lage waren, ihren Nahrungsbedarf anderweitig zu decken, würde man die Anbaugebiete wieder renaturieren. Hinter dieser wichtigen Aufgabe hatte der Ausbau des planeten‐ weiten Transmitternetzes zurückstehen müssen, aber aufgeschoben war ja nicht aufgehoben. »Gibt es inzwischen ein Lebenszeichen von den Verschollenen?« erkundigte sich Wallis bei Riker. Im Grunde genommen kannte er die Antwort schon. Hätten sich Ren Dhark, Charaua und die anderen Vermißten gemeldet, wüßte er es längst, schließlich hatte er seine Augen und Ohren überall. »Verschollen – was für eine gnädige Umschreibung«, bemerkte Dan Riker ungehalten. »Warum nennen wir die Dinge nicht beim Namen? Sie sind tot! Entweder kamen sie im Hyperraum ums Leben oder bei dem Versuch, den Hyperraum zu verlassen.« »Das ist noch nicht heraus«, warf Heather Sheridan ein. »Sie hätten längst zurück sein müssen«, entgegnete Anja Riker. »Dennoch gebe auch ich die Hoffnung nicht auf.« Sie streichelte den Arm ihres Mannes. »Ich bin froh, daß du dich dafür entschieden hast, hierzubleiben.« »Ich nicht«, erwiderte Dan. »Ich wäre lieber ein toter Held als ein lebender Feigling.« »Mit Feigheit hatte das nichts zu tun«, widersprach ihm seine Frau. »Deine Entscheidung basierte einzig und allein auf praktischen Er‐ wägungen. Amy Stewart kann besser auf deinen Freund aufpassen als du.« Auf deinen Freund … wiederholte Riker in Gedanken. Traf das überhaupt noch zu? Früher waren Ren und er gemeinsam durch dick und dünn gegangen – doch mittlerweile hatte die Zeit erheblich an ihrer Freundschaft genagt. Während Dan reifer und vernünftiger geworden war (so sah er es zumindest selbst), wollte Ren wie ein junger Spund noch immer mit dem Kopf durch die Wand. Trotz seines diplomatischen Verhandlungsgeschicks, das er wahrlich oft genug unter Beweis gestellt hatte, nahm Commander Dhark am
liebsten den geraden, direkten Weg – ganz egal, wie viele Mauern er dafür niederreißen mußte … Daran, daß er Ren noch einmal wiedersehen würde, glaubte Dan kaum noch. Drei Monate waren eine lange Zeit. Wäre Dhark noch am Leben, wäre mit Sicherheit längst irgendeine wie auch immer geartete Nachricht aus dem Hyperraum eingetroffen. Dan Riker hätte sofort eine Rettungsaktion gestartet, hätte das irgendeinen Sinn gemacht, doch er wußte, daß das reiner Selbstmord war. Wenn es eine kompetente, mit einem Spezialschiff perfekt ausgerüstete Truppe nicht schaffte, lebend aus dem Hyperraum zurückzukehren – wer dann? Auch Terence Wallis machte sich Gedanken über die Geschehnisse – allerdings hielt er sich nicht lange mit dem Vergangenen auf; vielmehr blickte er sorgenvoll in die Zukunft. »Ren Dhark war ein großer Mann, ich habe ihn sehr verehrt«, sagte er. »Von seinem Verstand und seiner Entschlossenheit hätte die Menschheit noch in Jahrhunderten profitieren können. Vielleicht wäre er eines schönen Tages sogar wieder zu unserem Anführer aufgestiegen. Krummbuckelige Politiker, die Eiertänze aufführen statt zum Wohle des Volkes klare Entschlüsse zu treffen, gibt es mehr als genug, aber eine Führungskraft wie Ren Dhark hat Selten‐ heitswert. Er hatte die Seele eines Abenteurers – und ein Herz für die Menschen.« »Würden Sie bitte damit aufhören, über ihn zu sprechen, als stünde bereits fest, daß er tot ist?« fuhr Anja Riker ihm ins Wort. »Ren war bisher immer für eine Überraschung gut. Ich glaube fest daran, daß er wiederkommt.« Beim letzten Satz schwankte ihre Stimme, sie hörte sich verunsi‐ chert an; offenbar war es mit Anjas festem Glauben doch nicht so weit her, wie sie behauptete. »Ich wünsche mir so sehr, daß Sie recht haben, Anja, aber ich be‐ fürchte, daß wir uns mit den Tatsachen abfinden müssen«, erwiderte der Multimilliardär. »Selbst wenn Ren unversehrt heimkehren
würde, käme er vermutlich mit nichts weiter zurück als mit seinem nackten Leben. Hätte der Vorstoß in den Hyperraum zu einem Er‐ gebnis geführt, würden wir es längst spüren. Fakt ist aber: Die irdi‐ sche Sonne verliert unablässig an Masse. Die Synties arbeiten nicht minder unablässig dagegen an, doch sie können keine Wunder vollbringen. Sie werden den Verlust der Masse nur verzögern, nicht verhindern. Der Erde steht in absehbarer Zeit die totale Katastrophe bevor, und die einzige Chance der Terraner ist ihre rechtzeitige Evakuierung nach Babylon. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um aktiv dabei mitzuwirken, und ich bin zuversichtlich, daß die Menschheit den Untergang der Erde ohne nennenswerte Verluste überstehen wird.« »Demnach ist Ren kein nennenswerter Verlust für Sie?« entrüstete sich Anja Riker – und entschuldigte sich gleich wieder für diese ge‐ meine Unterstellung. »Tut mir leid, das ist mir so rausgerutscht. Ich weiß ja, was Sie für Ren Dhark empfinden, Terence. Leider kann ich die Gegebenheiten nicht so nüchtern und sachlich hinnehmen wie Sie. Mehr noch: Ich weigere mich schlichtweg, Rens Tod zu akzep‐ tieren!« Der Schweber landete. * Terence Wallis unterhielt einen umfangreichen Sicherheitsdienst unter der Leitung der zierlichen, aber nicht zu unterschätzenden Chinesin Liao Morei. Ihre Informanten und Kontaktleute – offiziell als »Außendienstmitarbeiter« bezeichnet – hatte sie sogar in terrani‐ schen Regierungskreisen untergebracht. Dan und Anja Riker, Artus und nicht zuletzt Heather Sheridan waren den Sicherheitsleuten, die das Gelände von Wallis Industries bewachten, bekannt und wurden daher nur oberflächlich überprüft. Gänzlich konnte man allerdings nicht auf die Kontrolle verzichten.
Sogar Wallis selbst wurde kurz »durchgecheckt«, um zu verhindern, daß sich ein Doppelgänger einschlich. Daß Artus Artus war und niemand anderer als Artus, so wahr ihm Gott helfe, erkannten die Sicherheitsdienstmitarbeiter zweifelsfrei am Verhalten des Scotchterrierroboters Jimmy, der Artus gleich nach dem Aussteigen aus dem Schweber überschwenglich begrüßte. Hätte irgend etwas mit Artus nicht gestimmt, Jimmy hätte es sofort gemerkt und die Kopie mit einem Strahlenschuß aus der gefährlich‐ sten Hundezunge der Welt blitzschnell erledigt – da wurde nicht lange gefackelt. Jimmy, um 2050 konstruierter Roboterhund in Form eines Scotchterriers. Die Maschine ist mit einem Suprasensor ausgestattet. Strahler in der Zunge, Kugellager in den Pfoten. Sprechfähig und mit zahlreichen Zu‐ satzgeräten versehen. Bis zu einem gewissen Grad fähig zur Selbstprog‐ rammierung. Der Spitzname »Brikett auf Beinen« ist auf Jimmys pech‐ schwarzes Fell zurückzuführen. Aufgrund eines unbekannten Bauteilfehlers bilden sich immer wieder Subprogramme, die den Roboterhund nahezu selbständig agieren lassen. »Vorgang beenden!« Verwundert schaute Jimmy Artus an. »Welchen Vorgang? Wirst du nicht gern von mir begrüßt? Wir beide sind uns so ähnlich, und da dachte ich …« »Du warst nicht gemeint, mein Freund«, erklärte der zweibeinige Roboter dem vierbeinigen. »Ich habe lediglich Probleme mit einem fehlgeschalteten Programm, das mir allmählich den Verstand raubt. – Die Sicherheitsüberprüfung ist offenbar beendet, gut so. Wohin gehen wir jetzt?« Artusʹ Frage war an Terence Wallis gerichtet. Jimmy beantwortete sie in seiner Vorwitzigkeit jedoch schneller als der Chef von WI. »Wir begeben uns in die Labors der Gruppe Saam. Dort hat man einen entscheidenden Durchbruch erzielt, was die Erforschung der Grako‐Spezialgürtel betrifft.«
Gruppe Saam: Bezeichnung für das Forscherteam um Robert Saam, das für die wesentlichen Entwicklungen von Wallis Industries verantwortlich ist. Außer Saam selbst gehören zu diesem Team die Schweizer Biologin Regina Saam – seit 2060 Roberts Ehefrau –, der kanadische Wissenschaftler George Lautrec und der indonesische Funk‐ und Ortungsspezialist Saram Ramoya. »Vorgang beenden!« * Nicht nur die Gruppe Saam beschäftigte sich derzeit mit der Auf‐ gabe, herauszufinden, wie man den bizarren Robotern der soge‐ nannten Funktionsgemeinschaft die Augen beziehungsweise die Optiken öffnen konnte, damit sie den Feind in ihren eigenen Reinen, die Grakos, erkannten. Auch zwei der fähigsten terranischen Wis‐ senschaftler arbeiteten an diesem Projekt mit. Einer von ihnen lief Artus gleich im Eingangsbereich des Labortrakts über den Weg. Shanton, Chris, geboren 2012, schwergewichtig, Ingenieur, Allroundge‐ nie, Cognacliebhaber. Konstrukteur des Roboterhundes Jimmy … »Vorgang beenden!« Verwundert sah Shanton Artus an. »Kümmere dich nicht um ihn, mein Dicker«, sagte Jimmy zu sei‐ nem Erbauer. »Artus hat augenblicklich ein paar Schaltprobleme, die sich negativ auf seinen Verstand auswirken, ist also nicht weiter wichtig.« Die beiden Roboter hatten inzwischen ein paar Informationen ausgetauscht. Auch Wallis, Sheridan und beide Rikers wußten jetzt über Artusʹ kleines Dilemma Bescheid. Shantons Neugier hielt sich in diesem Punkt in Grenzen; er stellte keine weiteren Fragen und führte die Laborbesucher ohne Umwege in jenen Raum, in dem die Untersuchung der Grako‐Gürtel vorge‐ nommen wurde. Dort traf Artus als erstes mit dem Genie der Genies zusammen …
Saam, Robert, geboren 2032, Norweger, mittelgroß, hager, dichtes blondes Haar, das manchmal wirr vom Kopf absteht. Verbrachte die Giant‐Invasion als Immuner im Keller der Universitätsbibliothek von Uppsala, ohne Kon‐ takt zu anderen Menschen. Hat dort ununterbrochen gelernt. Leiter des Entwicklungsstabes von Wallis Industries mit einem leicht gestörten Ver‐ hältnis zur Wirklichkeit. »Vorgang beenden!« »Das werde ich mit Sicherheit nicht tun«, widersprach Saam dem Roboter. »Erst wenn die Untersuchung vollständig abgeschlossen ist, bringen wir die Gürtel zur Aufbewahrung ins Archiv.« »Unser Blechmann hat eine Macke«, klärte Chris Shanton seinen jungen Freund auf, wobei er kein Blatt vor den Mund nahm. »Aber das sind wir ja von ihm gewohnt.« Are Doorn, ebenfalls ein Freund Shantons, war der zweite füh‐ rende Wissenschaftler, der die Gruppe Saam unterstützte. Interes‐ siert musterte er Artus von oben bis unten. »Auf mich macht er einen völlig normalen Eindruck«, befand er. Doorn, Arc, geboren 546 v. Chr. auf Epoy. Kräftig gebaut, mürrisch, lange rote Haare, 182 Zentimeter groß. Worgunmutant in Gestalt eines Terra‐ ners, der sich als im Jahr 2028 geborener Sibirier ausgab – bis man im August 2062 seine wahre Identität aufdeckte … »Schluß jetzt!« entfuhr es Artus unbeherrscht. »Vorgang beenden! Index‐Suchprogramm vollständig löschen!« Es langte ihm. Er wollte den »Störenfried« unter allen Umständen loswerden und ließ dabei alle Vorsichtsmaßnahmen außer acht. Dan Riker meldete Bedenken an. »Ist das nicht ein bißchen leicht‐ sinnig? Ich an deiner Stelle hätte vor der kompletten Löschung ent‐ sprechende Sicherheitsmaßnahmen ergriffen; dir könnten wichtige Informationen verlorengehen.« »Wie belieben?« entgegnete Artus. »Wer sind Sie, mein Herr?« »Er hat sein komplettes Personenerkennungsprogramm gelöscht!« erschrak Dan. »Wir müssen es schleunigst wiederherstellen – falls das überhaupt noch möglich ist.«
Hätte Artus seine Gesichtszüge verändern können, so hätte er jetzt breit gegrinst. »Keine Angst, Riker, mir geht es prächtig; es wurde nur das gelöscht, was ich löschen wollte.« »Meinst du wirklich, es ist der richtige Zeitpunkt zum Scherzen?« ranzte Dan ihn an. »Wir sorgen uns um das Leben von Ren und um die Rettung der Erde – und du …« »Und ich mache dumme Scherze«, unterbrach ihn der Roboter, verschämt mit den Metallippen knirschend. »Du hast ja völlig recht, dafür ist jetzt der falsche Moment. Aber gibt es denn einen richtigen? Über irgend etwas sorgt man sich doch immer. Gerade in anges‐ pannten Situationen kann ein wenig Humor nichts schaden, denke ich. Seit Wochen führt ihr euch auf, als hätte Trawisheim allgemeine Staatstrauer angeordnet. Dhark ist genauso mein Freund wie eurer – dennoch sehe ich keinen Grund, jemanden zu beerdigen, der noch gar nicht tot ist. Ihr solltet den Vorgang des Schwarzsehens umge‐ hend beenden! Oder gehört das Wort ›Hoffnung‹ neuerdings nicht mehr zum terranischen Sprachgebrauch?« Für eine Weile war es im Labor ganz still. Es passierte nicht oft, daß man als Mensch von einem Roboter die Leviten gelesen bekam. George Lautrec wollte vorschlagen, mit der Arbeit fortzufahren, und räusperte sich. Artus richtete seine Optik auf ihn aus – und empfing zu seinem Schrecken ein Funksignal. Lautrec, George, geboren 1997, Kanadier, bärenstark, vollbärtig, mutig. Arbeitet eng zusammen mit: Ramoya, Saram, geboren 2020, Indonesier, kluger Kopf mit Macho‐Allüren, neigt manchmal zur Selbstüberschätzung … »Vorgang beenden!« rief Artus panisch. Er konnte sich nicht erklären, woher das Signal plötzlich kam. Hatte sich das Indexprogramm der Löschung widersetzt? Aber wie war das möglich? »Glaubst du, du bist der einzige, der Scherze machen kann?« spöttelte Jimmy und stellte den Funkkontakt zu Artus kurzerhand
ein. »Bevor du in unserer illustren Runde aufgetaucht bist, war allein ich für den Humor zuständig.« * Seit Anfang April waren die Gruppe Saam, Chris Shanton und Arc Doorn (sowie zahlreiche hochintelligente Assistenten) mit der Er‐ forschung der Grako‐Gürtel beschäftigt. Sinn der Sache war, den von Saltern erschaffenen Großrechner‐Roboterschiffen zu verdeutlichen, daß sie sich im Einflußbereich rebellischer Grakos befanden. Bei ihrem Kampf gegen die Menschheit setzten die Grakos eine unsich‐ tbare Waffe ein … »Eine Waffe, die sie nicht direkt auf die Menschen ausrichten«, er‐ klärte Chris Shanton Wallis, Sheridan, Artus und den Rikers in ei‐ nem kleinen Konferenzzimmer, das sich unmittelbar neben dem Laborraum befand, »weil sie bei uns keine Wirkung erzielt. Es han‐ delt sich um Feldviren, die nur auf künstliche Intelligenzen Einfluß nehmen können. Die Viren richten keinen konkreten Schaden an, sondern dienen in erster Linie der Täuschung und der Beeinflus‐ sung, ohne etwas zu zerstören.« »Das ist Auslegungssache«, meinte Robert Saam, der es liebte, auf »Shanton‐Konfrontationskurs« zu gehen. »Wenn ich jemandes Be‐ wußtsein trübe, kann man das durchaus als Zerstörung bezeichnen. Ohne die fortwährende Beeinflussung durch die Grakos wären die Großrechnerschiffe wahrscheinlich nie auf uns aufmerksam gewor‐ den. Mit Sicherheit wußten sie von unserer Existenz, doch sie scher‐ ten sich den Teufel um uns, weil sie uns nicht wahrnahmen, uns nicht wahrnehmen wollten – wir waren ihnen egal. ›Biomüll‹ stellt ihrer Ansicht nach keine echte Gefahr für sie dar. Die fliegenden Großrechner sehen uns als minderwertig an und hätten sich viel‐ leicht niemals sonderlich um uns gekümmert … bis sie von den Grakos gezielt beeinflußt und aufgehetzt wurden!«
»Mittels der Feldviren machten sich die Grakos das Roboter‐ schiffsvolk des Planeten Eins Untertan«, übernahm Shanton wieder die Gesprächsführung, »und sie manipulierten es derart, daß die Großrechner Rachegelüste gegen uns entwickelten, obwohl wir Menschen ihnen nie etwas getan hatten. Ihren wahren Feind hinge‐ gen erkannten sie nicht: die Grakos, die unbemerkt mitten unter ihnen lebten und ihnen vorgaukelten, Kontrollroboter zu sein. Das klappte so perfekt, daß sich selbst Artus und der Checkmaster davon täuschen ließen. Aber jede Waffe kann man auch gegen den eigenen Schöpfer wenden. Sinn unserer Forschung ist es, den Spieß umzudrehen und ein Antivirus zu entwickeln, das die Feldviren unwirksam macht, so daß die Grakos enttarnt werden. Wir sind überzeugt, daß uns dieser Durchbruch endlich gelungen ist. Allerdings müssen wir die Wir‐ kung der Neutralisationsviren – denen wir die griechische Bezeich‐ nung für Gegengift, Antidoton, verliehen haben – erst einmal aus‐ probieren. Artus eignet sich als Testobjekt bestens, da seine Wahr‐ nehmung von den Feldviren erheblich beeinflußt wird.« »An meinen Körper lasse ich nur Schmieröl und Metallreiniger!« protestierte Artus umgehend. »Mit Viren lasse ich mich nicht ver‐ seuchen, auch nicht mit Antiviren!« »Das haben wir auch gar nicht vor«, ergriff wieder Robert Saam das Wort. »Es liegt in der Natur der Feldviren, daß sie nur bei Kon‐ takt mit dem Trägerfeld der Grakos wirken, welches von ihren Spe‐ zialgürteln erzeugt wird. Somit sind die Feldviren nicht nachweisbar …« In einem wissenschaftlichen Vortrag erklärten Shanton und Saam den Anwesenden, wie es ihnen unter größten Schwierigkeiten nach unendlich vielen gescheiterten Experimenten letztlich doch noch gelungen war, die Feldviren zu analysieren und anhand ihrer er‐ mittelten Struktur das Antidoton zu entwickeln. Beim Reden wech‐ selten sich die beiden Männer jedesmal nach ein paar Sätzen ab; die
jeweiligen Übergänge funktionierten so reibungslos, als hätten sie das alles vorher Wort für Wort genauestens einstudiert. »… womit wir bei der praktischen Erprobung angelangt wären«, sagte Shanton schließlich und schnallte sich einen der Gürtel um. Na endlich! dachte Terence Wallis, der mitten in den »hochwissen‐ schaftlichen Ausführungen« den Faden verloren und trotz intensiver Suche nicht wiedergefunden hatte. Mit Fremdwörtern gespickte Fachsimpelei war ihm ein Greuel. Nur Artus schaffte es mitunter, ihn in diesem Punkt noch schlimmer zu nerven als Saam und Shan‐ ton. Der norwegische Forscher hielt einen Mikrodatenträger zwischen Daumen und Zeigefinger und reichte ihn dem Roboter. Artus öffnete seine Wartungsklappe und setzte sein technisches Innenleben in Bewegung. Als in der Öffnung ein Bereich mit einem schmalen Schlitz erschien, stoppte er den Bewegungsvorgang und schob den Datenträger hinein. Anschließend »beorderte« er wieder alles zurück an den angestammten Platz. »Was befindet sich auf dem Datenträger?« wollte Wallis wissen. »Haben wir das nicht lang und breit erklärt?« erwiderte Robert ungehalten; er haßte es, wenn man ihm nicht zuhörte. »Der Daten‐ träger enthält ein Programm, das die Feldviren unwirksam macht.« »So ist es zumindest geplant«, knurrte Shanton. »Bisher haben wir das Ganze noch nicht abschließend getestet.« »Geht das schon wieder los?« giftete Saam ihn an. »Nur weil wir bei der Erstellung des Programms einen Weg gewählt haben, der nicht deinem Vorschlag entsprach, mußt du hier nicht den Chef‐ skeptiker heraushängen lassen.« »Ich lasse gar nichts hängen – ich äußere lediglich Bedenken an deinem Programm«, entgegnete Chris. Plötzlich war nichts mehr von der »trauten Eintracht« zu spüren, die die beiden Männer bei ihrem gemeinsamen Vortrag verbunden hatte. Im Streit um wissenschaftliche Fakten vergaßen sie schon mal, daß sie eigentlich ein recht gutes Team waren.
»Nicht so schnell, ich komme nicht mehr mit«, bat Terence Wallis. »Von was für einem Programm ist überhaupt die Rede? Ich dachte, die Feldviren sollen durch eine Art Gegengiftvirus außer Gefecht gesetzt werden.« »Vielleicht haben wir uns vorhin etwas unklar ausgedrückt«, räumte Robert Saam ein. »Falls sich das Programm auf dem Daten‐ träger als funktionstüchtig erweist, und daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, wird es auf ein Computervirus …« Er suchte nach einem leichtverständlichen Wort und entschied sich schließlich für: »… aufgepfropft. Das Computervirus und das Anti‐ virenprogramm vereinen sich sozusagen, und das Ergebnis dieser Vereinigung ist unsere eigentliche Waffe gegen die Feldviren: das Antidoton.« »Die Datennetze der Roboterschiffe werden mit dem Antidoton infiziert«, sagte Artus; er hatte kein Problem damit, die Zusammen‐ hänge zu verstehen. »Wenn man es an den richtigen Stellen ein‐ speist, wird es sich derart schnell ausbreiten, daß die Großrechner keine Möglichkeit haben, rechtzeitige Abwehrmaßnahmen zu er‐ greifen. Sobald sie die volle Wahrheit erkennen, haben sie an einer Abwehr bestimmt auch kein Interesse mehr, schließlich machen wir sie ›sehend‹. Dank uns können sich die Grakos nicht länger vor ih‐ nen verbergen.« Terence Wallis gab Saam durch ein kurzes, ungeduldiges Nicken zu verstehen, daß er alles begriffen hatte und dem abschließenden Test nun nichts mehr im Wege stand. Shanton aktivierte den Gürtel – und Artus sah wie erwartet einen Kontrollroboter vor sich. Nun aber aktivierte er das Abwehrprog‐ ramm … »Na, was siehst du?« fragte Shanton ihn gespannt. »Einen Kontrollroboter«, antwortete Artus wahrheitsgemäß, »der mit der Stimme von Chris Shanton spricht.«
12. Artus war heilfroh, daß er es nicht zugelassen hatte, ihn von vor‐ nherein mit dem Antidoton zu infizieren. Auf dem Mikrodatenträger war das defekte Antivirenprogramm besser aufgehoben als »auf‐ gepfropft« auf ein Computervirus, mit dessen Unterstützung sich das Programm in Sekundenschnelle in ihm ausgebreitet und sons‐ twas angerichtet hätte. Er entfernte den Datenträger aus seinem Körper. Derweil diskutierten Saam und Shanton aufgeregt über die Ursa‐ che des Scheiterns, wobei Shanton triumphierend auf seine eigenen Ideen hinwies, die Saam wegen »Unausgegorenheit« strikt abgelehnt hatte. Ein Außenstehender hätte diese heftige Diskussion sicherlich als Streit angesehen, doch die im Konferenzraum anwesenden Per‐ sonen wußten es besser: Die beiden ungleichen Forscher berieten sich friedlich untereinander. Die Tür öffnete sich, und Arc Doorn kam herein. »Hat wohl nicht geklappt, wie?« bemerkte der wortkarge Mann. Saam fühlte sich auf den Schlips getreten. »Ja, es ist schiefgegan‐ gen! Und? Was jetzt? Geben Sie die kleine Panne an die Medien weiter und verkaufen dann Eintrittskarten für die Teilnahme am nächsten Versuch?« »Hör nicht hin, Arc«, sagte Chris Shanton zu seinem Freund. »Es ist ihm peinlich, daß er versagt hat, und jetzt zetert er wie ein Rohr‐ spatz.« »Wir werden ja sehen, ob du es besser kannst«, entgegnete Doorn in aller Ruhe und wandte sich zum Gehen. »Hiergeblieben!« rief ihm Terence Wallis zu. »Ich bin hierher ge‐ kommen, um Ergebnisse zu sehen – und nicht, um mitzuerleben, wie sich ein Team angesehener Wissenschaftler komplett zum Narren macht!« Arc Doorn blieb im Türrahmen stehen und drehte sich wortlos um.
»Nur keine Aufregung, wir kriegen das schon hin«, versicherte Chris Shanton dem Multimilliardär. »Um meine Pläne in die Tat umzusetzen, benötige ich lediglich noch einen weiteren Tag.« »In Ordnung, Sie bekommen exakt vierundzwanzig Stunden«, er‐ widerte Wallis. »Nicht weniger, aber auch nicht mehr, klar?« Er wandte sich erneut Doorn zu. »Und Sie unterstützen Ihre Kollegen nach Kräften, verstanden?« Arc verzog keine Miene. Geringschätzig musterte er den Staatschef von Eden von oben bis unten, dann wandte er sich kopfschüttelnd ab und ging gemächlichen Schrittes zurück nach nebenan, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. Wallis war empört. »Irre ich mich, oder hat mich dieser unver‐ schämte Kerl eben herablassend behandelt?« Anja Riker konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Was erwarten Sie denn? Ein Mann, der zweieinhalbtausend Jahre älter und erfahrener ist als Sie, läßt sich doch nicht wie ein Schuljunge abkanzeln.« Wallis räusperte sich verlegen. »Äh, ja, nun gut … Was haltet ihr davon, wenn wir uns jetzt in mein Chalet begeben? Mir steht der Sinn nach einem guten Abendessen und einer noch besseren Zigar‐ re.« »Mir auch«, entgegnete Artus, obwohl die Einladung eigentlich nur den Rikers gegolten hatte. »Seit wann rauchst du denn?« fragte Dan den Roboter. »Und Nahrung benötigst du auch nicht, oder hast du dir einen künstlichen Magen eingebaut?« »Nein, doch ich gedenke trotzdem, an eurem Abendmahl teilzu‐ nehmen«, antwortete Artus, und seine Stimme nahm einen näseln‐ den Klang an. »Ich weiß nämlich, was sich geziemt – schließlich war ich einst Butler im Hause Ezbal.« *
Das in den Bergen gelegene Chalet von Terence Wallis war vom Stammwerk aus über einen Transmitter erreichbar – denn selbstver‐ ständlich hatte er beim Aufbau des Personentransportnetzes zuerst einmal seine persönlichen Bedürfnisse berücksichtigt. Irgendeinen Vorteil mußte man schließlich daraus ziehen, wenn man a.) hyper‐ reich und b.) der erste Mann im Staate war. Das Abendessen bestand aus mehreren Gängen. Artus ließ es sich nicht nehmen, die vier Personen am Tisch zu bedienen ‐höflich, steif und emotionslos, wie es nur ein wirklicher Butler konnte. Artus war das, was man in bestimmten terranischen Regionen ei‐ nen »Gschaftlhuber« nannte: ein unruhiger Geist, der ständig etwas zu tun brauchte. Nur am Tisch herumzusitzen und den anderen beim Essen zuzusehen wäre ihm zu langweilig gewesen. Beim Ser‐ vieren konnte er genausogut ihren Gesprächen lauschen. Die Unterhaltung drehte sich überwiegend um Ren Dhark. Ob‐ wohl alle betonten, daß sie jeden Tag auf seine Rückkehr hofften, breitete sich die Niedergeschlagenheit immer mehr aus. Was war dem Commander und seinen Begleitern zugestoßen …? Artus ver‐ zichtete darauf, erneut seine Meinung kundzutun. Im Labor hatte er alles gesagt, was er zu diesem Thema hatte sagen wollen. Auch er war erschüttert, doch er gab die Hoffnung nicht auf. Niemals! »Was meinten Sie eigentlich, als Sie vorhin sagten, die Menschheit hätte noch in Jahrhunderten von Rens Verstand und Entschlossen‐ heit profitieren können?« fragte Dan Riker den Hausherrn. »Selbst wenn er aus dem Hyperraum wiederkehrt, wird er nicht ewig le‐ ben.« Wallis dachte kurz nach und antwortete dann: »Das war sinnbild‐ lich gemeint. Ren Dhark war … ist ein großes Vorbild für die Men‐ schen – und das wird er auch über seinen Tod hinaus bleiben. Nur wer vergessen wird, ist wirklich tot. Commander Dhark wird nie in Vergessenheit geraten, er lebt in unseren Erinnerungen und in un‐ seren Herzen weiter. Noch in Jahrhunderten werden ihm andere
Abenteurer nacheifern und mutig die Weiterentwicklung der Menschheit vorantreiben.« Terence Wallis schien innerlich vor Bewunderung regelrecht zu glühen. Überhaupt wirkte er in letzter Zeit wesentlich jugendlicher als ein Mann von sechzig Jahren – fand zumindest Anja Riker. Sie führte das auf Heather Sheridans Einfluß zurück. Ganz offensichtlich tat ihm diese Frau gut. Nach dem hervorragenden Essen bat Wallis seine Besucher zu Whisky und Zigarren auf die Terrasse. Dort nahmen alle auf breiten, mit bequemen Sitzkissen ausgestatteten Korbstühlen Platz. Auch Artus gesellte sich hinzu. »Willst du einen Schluck Whisky, bevor du den Abwasch erle‐ digst?« stichelte Dan Riker. »Oder lieber eine Zigarre? Oh, entschul‐ dige, du kannst ja weder trinken noch rauchen, das habe ich ganz vergessen.« »Ich nehme gern eine Zigarre«, antwortete der Roboter in vollem Ernst. »Und was das schmutzige Geschirr betrifft …« Er sandte ein Funksignal an Wallisʹ Haushaltsroboter aus, der sich in der Küche unverzüglich an die Arbeit machte. »… dafür habe ich meine Leute.« Artus war in der Lage, Rechnern aller Art per Funk Programmbe‐ fehle zu erteilen – und ein Roboter war schließlich auch nichts an‐ deres als ein Rechner mit einer beweglichen Metallverkleidung drumherum. Nicht immer klappte die Befehlseingabe so problemlos wie jetzt; insbesondere hochwertige Maschinen verfügten über di‐ verse Sicherheitsvorrichtungen gegen fremde Einflüsse, die selbst für Artus nur schwer oder gar nicht zu knacken waren. In diesem Fall war es jedoch ein Kinderspiel, denn mit der Absicherung von Ar‐ beitsmaschinen war es in der Regel nicht weit her. Der Tabakanbau war auf der Erde mittlerweile zum Erliegen ge‐ kommen. Glücklicherweise verfügte Terence Wallis noch über einen umfangreichen Privatbestand an Zigarren, die er großzügig unter
seinen Gästen verteilte. Da auch Artus seine Metallhand ausstreckte, erhielt er ebenfalls eine edle Cohiba, die er zunächst mit dem Zigar‐ renschneider professionell »bearbeitete«, sich in seine Mundöffnung steckte, anzündete … … und dann rauchte. Alle waren derart perplex, daß ihre Sorge um Ren Dhark für ein paar Augenblicke in den Hintergrund geriet. »Gasanalysator«, erklärte Artus ihnen zunächst wortkarg. Nach drei kräftigen Zügen fügte er in seiner gewohnten Ausführlichkeit hinzu: »Eigentlich habe ich mir den Analysator eingebaut, um bei feindli‐ chen Gasangriffen die Atmosphäre auf ihre Zusammensetzung zu prüfen und die Truppe rechtzeitig warnen zu können. Doch als uns Wallis eben großzügig edle Zigarren anbot, kam mir spontan der Gedanke, zu ermitteln, was ihr Menschen überhaupt am Rauchen findet. Immerhin hat dieses Laster zu früheren Zeiten massenweise Raucher dahingerafft und etliche Passivraucher gleich mit. Heute sind die mit dem Rauchen verbundenen Gesundheitsrisiken zum Teil beseitigt worden, und die Medizin ist durchaus in der Lage, geschädigte Lungen nachzuzüchten und zu ersetzen – aber ein ge‐ wisses Gefahrenpotential ist weiterhin vorhanden. Warum also raucht ihr Menschen?« Er nahm noch einige Züge und fuhr dann fort: »Die Antwort auf meine Frage finde ich vermutlich in der Komplexität der Aromen. Ehrlich gesagt, ich bin überrascht, auf wie viele verschiedene Aro‐ mastoffe ich bereits bei der ersten oberflächlichen Analyse stoße. Mit Sicherheit wird sich meine Begeisterung bei der Fortführung meiner Entdeckungsreise noch steigern. Wie lange dauert es denn übli‐ cherweise, bis die gewickelten Tabakblätter vollständig verglüht sind?« »So kräftig, wie du den Rauch in dich hineinsaugst, bist du garan‐ tiert als erster von uns fertig«, prophezeite ihm Dan Riker.
»Sieht ganz so aus, als würde sich Artus zum aficionado * entwi‐ ckeln«, meinte Terence Wallis. »Wer sagt denn, daß Maschinen kei‐ nen guten Geschmack haben können?« Die Ablenkung tat allen gut – doch schon bald widmete man sich wieder dem ursprünglichen Thema. Wallis machte sich Gedanken über die Zukunft der POINT OF. »Auch wenn es uns nicht gefällt, wir müssen darüber reden. Früher oder später wird die terranische Regierung Commander Dhark für tot erklären. Hat er ein Testament gemacht? Falls nicht, fällt sein gesamtes Eigentum in Ermangelung leiblicher Verwandten an den Staat: an Terra beziehungsweise Babylon.« »Diesen Punkt hätten Ihre Anwälte bei der Gründung der Stiftung berücksichtigen müssen«, hielt ihm Anja Riker zu Recht vor. Wallis räumte sein Versäumnis ein – auch er war nicht ohne Fehler. Sich das einzugestehen fiel ihm allerdings nicht immer leicht. Hatte er mal einen schlechten Tag, suchte er regelrecht nach Schuldigen, nur um nicht zugeben zu müssen, daß er einen Bock geschossen hatte. In solchen Augenblicken neigte er dazu, seine Mitmenschen ungerecht zu behandeln – was ihm hinterher zwar leid tat, aber sich zu entschuldigen fiel ihm noch schwerer als das Fehlereingeständnis selbst, also ließ er solche kleinen Zwischenfälle gern im Sande ver‐ laufen … Wieso bleibt eigentlich immer alles an mir hängen? dachte er und blickte mißmutig in die Runde. Hätte von euch Besserwissern nicht auch mal jemand auf den Gedanken kommen können, ein Testament aufzusetzen? Wallis war versucht, seinen vierundsiebzigjährigen Staranwalt Alexander Basil Christian David Edward Fortrose per Vipho zu kontaktieren und ihn fristlos zu entlassen. Doch allmählich beruhigte er sich wieder – denn auch das gehörte zu seinen charakterlichen Eigenschaften: Sobald der erste Zorn (auf sich selbst oder auf einen anderen) verraucht war, ging er wieder zum Wesentlichen über. *
Zigarrenliebhaber
Nachtragend war er nicht. Er war jederzeit bereit zu verzeihen – nötigenfalls auch mal sich selbst. Schadensbegrenzung war jetzt angezeigt. Kam der Commander nicht mehr zurück, mußten die Anwälte mit allen nur erdenklichen Tricks retten, was noch zu retten war. Und je länger sie die dafür notwendigen Gerichtsverfahren hinauszögerten, desto länger blieb die POINT OF im (vorläufigen) Besitz der Stiftung – es sei denn, die Regierung setzte juristisch eine sofortige Beschlagnahme durch. »Grundvoraussetzung dafür ist wiederum, daß Dhark für tot er‐ klärt wird«, murmelte Wallis nachdenklich. »Genau das müssen wir so lange wie nur irgend möglich verhindern.« Niemand am Tisch sagte etwas, aber jeder wußte, daß das gewiefte Staatsoberhaupt wieder voll in seinem Element war und zu jedem noch so außergewöhnlichen Mittel greifen würde, um die POINT OF gegen fremde Übergriffe zu verteidigen. * Am folgenden Tag im Stammwerk von Wallis Industries … Shanton, Doorn, Wallis, die Rikers sowie die Gruppe Saam hatten sich erneut im Labor eingefunden, um einen weiteren Datenträger an Artus zu testen. Es war die gleiche Mannschaft wie am Vortag, mit Ausnahme von Sheridan, die ihrer Arbeit nachging. Die Rettung der Sonne war nicht das einzige Thema, das eine Journalistin interes‐ sierte. Selbstverständlich war auch Jimmy mit von der Partie. »Diesmal hat sich der Dicke durchsetzen können«, sagte der Ro‐ boterhund zu seinem Roboterfreund. »Die Programmierung erfolgte ausschließlich nach seinen Anweisungen. Ob das für dich von Vor‐ teil ist, Artus, wird sich gleich herausstellen. Ich an deiner Stelle würde lieber ein Säurebad nehmen, als mir diesen obskuren Daten‐ träger einzupflanzen.«
»Wird schon klappen«, erwiderte Artus und schob den Mikroda‐ tenträger in den dafür vorgesehenen Schlitz. »Sollte etwas schiefge‐ hen, sprenge ich mich aus Sicherheitsgründen selbst in die Luft. Nehmt also vorsichtshalber schon mal Deckung.« »Kein Problem – ich verstecke mich hinter dem Dicken.« »Das macht dir Spaß, wie?« ranzte Shanton seine vierbeinige Schöpfung an. »Du bist und bleibst ein Lästermaul! Doch wie meis‐ tens befindest du dich im Unrecht. Das Experiment wird funktio‐ nieren! Um was wollen wir wetten, daß Artus diesmal keinen Kont‐ rollroboter sieht, wenn ich den Grako‐Gürtel einschalte?« »Um gar nichts«, entgegnete Jimmy lakonisch. »Du hast absolut nichts, das ich gebrauchen könnte. Mag ja sein, daß er keinen Kont‐ rollroboter zu sehen bekommt, dennoch bezweifle ich stark, daß alles reibungslos klappt. Das von dir entwickelte Programm könnte ir‐ gendwelche unvorhergesehenen Halluzinationen erzeugen und …« »Halt die Metallklappe«, grunzte Shanton und schaute Artus an. »Fertig?« »Fertig«, lautete die knappe Antwort. Chris aktivierte den Gürtel. Alle hielten den Atem an und warteten die Reaktion des Roboters ab. Die ließ nicht lange auf sich warten. Sekunden nach der Akti‐ vierung wich Artus zwei große Schritte von Shanton zurück. Seine Bewegungen wurden unsicher, so als ob er in Panik geriet. »Was siehst du?« wollte Robert Saam wissen. »Keinen Kontrollroboter, soviel steht schon mal fest«, antwortete Artus mit stockender Stimme. »Es ist … etwas Monströses!« »Geht das auch präziser?« hakte George Lautrec aufgeregt nach. »Spann uns nicht auf die Folter!« »Ich sehe einen Berg«, teilte Artus ihm mit. »Er scheint durch und durch aus fleischiger Masse zu bestehen. Der Berg schwebt vor mir in der Luft.« »Soll ich den Gürtel abschalten?« fragte der korpulente Ingenieur verblüfft.
»Ich habe mich geirrt, der Fleischberg schwebt nicht«, setzte Artus seine Schilderung fort, »er steht auf zwei dicken Beinen. Und er trägt Kleidung. Ja, jetzt erkenne ich ihn: Es ist Shanton!« Riker wollte eine wütende Erwiderung machen, doch der dicke Ingenieur brach in dröhnendes Gelächter aus und riß alle anderen mit. »Ein Fleischbergmonster auf zwei Beinen, haha! Alles klar, ich habʹs begriffen! Meine Programmierung funktioniert! Heureka!« Den Anwesenden fiel ein Stein vom Herzen. Das Antivirus zeigte endlich Wirkung – was jedoch nicht bedeutete, daß die Tests bereits beendet waren. Um das Antidoton auf »Herz und Nieren« zu über‐ prüfen, stellte Robert Saam eine Datenverbindung zum Checkmaster her. Der Bordrechner der POINT OF konnte keine unerwünschten Ne‐ benwirkungen entdecken und integrierte das Antidoton letztlich in sein System. Artus folgte dem Beispiel. Anschließend entfernte er den Daten‐ träger; er benötigte ihn nicht mehr, denn jetzt war auch er dauerhaft immun gegen die Feldviren. Dan Riker war nicht leicht zufriedenzustellen, doch das Gesamt‐ ergebnis überzeugte ihn. Nun war man endlich in der Lage, den Feldviren etwas entgegenzusetzen. Und man konnte das neuentwi‐ ckelte Antivirus in die Datennetze der Roboterschiffe einspeisen … »Das wird die Grakos ganz schön alt aussehen lassen«, sagte der Stellvertretende Commander grimmig. »Verdammt alt! Ich kann es kaum erwarten, auf Eins zu landen. Wollen Sie mitkommen?« Seine Frage richtete sich an Wallis und die Gruppe Saam ‐und sie war durchaus ernst gemeint. »Ihnen haben wir dieses Forschungsergebnis zu verdanken ‐und natürlich Shanton und Doorn«, sagte Riker. »Den beiden ist es si‐ cherlich ein persönliches Bedürfnis, beim Einsatz des Antidoton mit dabeizusein. Ich könnte mir vorstellen, daß es Ihnen genauso ergeht.
Worauf warten Sie also? Ich bin bereit, Sie auf der POINT OF mit‐ zunehmen – zum Roboterplaneten Eins.« »Meine Leute können tun und lassen, was sie wollen«, entgegnete Terence Wallis (was nur zum Teil zutraf). »Niemand braucht sich nach mir zu richten. Falls ihr spürt, wie das Abenteuerblut durch eure Adern fließt, Robert, Regina, George, Saram, tut euch keinen Zwang an … Ich für meinen Fall stehe lieber mit beiden Beinen fest auf Eden.« Wallis dachte zurück an seine Erlebnisse im Kugelschalenuniver‐ sum und erschauderte noch nachträglich. Damals war sein Bedarf an Weltraumabenteuern auf Jahrzehnte hinaus gedeckt worden. * Er hing am Leben und legte keinen Wert darauf, so zu enden wie Ren Dhark … * Beim »Kriegsrat« in der Messe der POINT OF waren Wallis und die Gruppe Saam, die Rikers Angebot inzwischen ebenfalls dankend abgelehnt hatte, noch mit dabei. »Von den ursprünglich vorhandenen Gürteln ist nur noch ein ein‐ ziger übrig«, sagte Robert Saam. »Somit kann sich auf Eins lediglich eine Person unter dem Tarnschutz der Feldviren unbemerkt unters Robotervolk mischen.« »Aber wer?« überlegte Dan Riker laut. »Es müßte jemand sein, der sich auf dem bizarren Roboterplaneten ohne langwierige Erkun‐ dungen von vornherein gut zurechtfindet.« »Wie wäre es mit einem der Gardisten?« schlug Terence Wallis vor. »Ihr könntet sogar mehrere von ihnen mitnehmen, schließlich ken‐ nen sie sich auf Eins bestens aus, und ihre Multifunktionsanzüge verfügen über eine perfekte Tarnung. Soweit ich informiert bin, konnten sich die Gardisten, Artus und Stranger bei ihrem letzten *
Siehe Unitall 2, »Das Kugelschalenuniversum«
Einsatz auf dem Stickstoffplaneten frei bewegen, ohne daß sie den Großrechnern, deren Handlungsrobotern oder den Kontrollrobotern auffielen.« Riker schüttelte den Kopf. »Die Gehirne in den Roboterschiffen haben die Funktionsweise jener speziellen Tarnvorrichtung inzwi‐ schen bestimmt bis ins letzte Detail durchschaut und Gegenmaß‐ nahmen ergriffen. Nur mit dem Grako‐Gürtel ist man wirklich per‐ fekt getarnt – so lange, bis das Antidoton ins Datennetz der Roboter eingespeist wurde. Sobald das erledigt ist, müssen wir unseren Mann schnellstmöglich zurückholen, weil man dann nicht nur die Grakos, sondern auch ihn erkennt. Deshalb kommt Artus schon mal nicht in Frage.« »Ach nein? Und warum nicht?« erwiderte der Roboter pikiert. »Ich kenne mich auf Eins wesentlich besser aus als die Gardisten und weiß, von wo aus man die Antiviren am besten auf das Robotervolk losläßt. Niemand ist für diesen Auftrag so prädestiniert wie ich.« »Und niemand ist auf Eins so gefährdet wie du«, konterte Dan Ri‐ ker. »Glaubst du, die Roboterschiffe haben vergessen, daß du sie verraten hast?« »Ich habe sie nicht verraten«, widersprach Artus. »Ich war als ge‐ tarnter Agent auf ihrem Planeten unterwegs, um ihre Schwachstellen auszuspionieren. Beim Einsatz mit der Garde waren mir meine In‐ formationen dann sehr von Nutzen. So etwas nennt man nicht Ver‐ rat, sondern strategische Kriegführung.« »Dan hat recht«, pflichtete Anja ihrem Ehemann bei. »Du bist für die Roboter das, was Judas für die Menschheit ist. Sobald sie merken, daß du dich wieder einmal auf Eins aufhältst, werden sie dich ohne viel Federlesens lynchen.« »Nicht, wenn ich schnell genug da herauskomme«, entgegnete Artus. »Das kann dir keiner garantieren«, machte Doorn ihm klar.
»Und wenn schon«, erwiderte Artus. »Jeder trägt selbst die Ver‐ antwortung für seine Lebensrisiken. Ich führe diesen Auftrag durch!« Alle Augen richteten sich auf Dan Riker. Als stellvertretender Kommandant hatte er das letzte Wort … * Als die POINT OF eine Stunde später mit eingeschaltetem Intervall‐ feld durch die Hallendecke des unterirdischen Raumhafens schwebte, hatte Artus sich durchgesetzt. Terence Wallis und die Gruppe Saam schauten dem Schiff nach, bis es verschwunden war. Dem Staatschef von Eden kam erneut Dharks Verschwinden in den Sinn. Als er in einer sentimentalen Anwandlung daran dachte, daß auch die POINT OF mitsamt ihrer kompletten Besatzung nicht mehr von ihrem Einsatz zurückkehren könnte, verkrampfte sich sein Ma‐ gen. Saam und seine drei wissenschaftlichen Mitstreiter merkten, daß etwas mit ihrem Boß nicht stimmte. Wallis spürte ihre Blicke und schüttelte sein düsteres Gefühl ab wie ein lästiges Insekt. Als An‐ führer stand es ihm nicht zu, Sentimentalität oder gar Schwäche zu zeigen. »Das Leben geht weiter – und es wartet viel Arbeit!« sagte er mit fester Stimme. Ein paar lapidare Worte nur, doch sie genügten, um sich zusam‐ men‐ und die anderen mitzureißen. * Dan Riker persönlich steuerte die POINT OF auf dem Flug nach Eins. Anhand seines unbewegten Gesichtsausdrucks war ihm an‐ zumerken, wie sehr ihn die Last der Verantwortung drückte. Er war
ein guter zweiter Mann, vielleicht der beste zweite Mann, der je zur Welt gekommen war – aber er war nicht Ren Dhark. Dan war es gewohnt, beratend an schwierigen Entscheidungen mitzuwirken, ihnen zuzustimmen oder sie massiv zu kritisieren … doch von nun an mußte er tagtäglich selbst welche treffen und Ent‐ schlüsse fassen, die womöglich Leben kosteten ‐Leben von Kame‐ raden und Freunden. Die gesamte Ringraumerbesatzung verließ sich auf ihn und darauf, daß er sich in brenzligen Situationen etwas Wirkungsvolles einfallen ließ, so wie Commander Dhark es immer getan hatte. Dan war kein Schwächling. Schon oft war er über sich hinausgewachsen und hatte im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung getroffen. Dafür hatte man ihn jedesmal ausreichend gelobt. Als Kommandant des Schiffes hingegen stand ihm kein Lob zu. Die Mannschaft empfand es als Selbstverständlichkeit, daß der erste Mann an Bord jederzeit genau wußte, was er tat. Unmerklich sank Riker ein wenig in seinem Kommandosessel zu‐ sammen. Der Mann, der einst Chef der Terranischen Flotte gewesen war und der zahllose Kampferfahrungen gesammelt hatte, fühlte sich plötzlich ganz klein und hilflos, so wie ein junger Rekrut. Und er vermißte seinen Freund mehr denn je … Eine wichtige Entscheidung hatte der Stellvertretende Commander erst gar nicht zu treffen brauchen, das hatte sein Erster Offizier für ihn übernommen: Während die POINT OF auf Eden gelegen hatte, hatte man dort in der Werft die Tarnanlage »ganz nebenbei« aufge‐ rüstet. Theoretisch war somit ein unbemerkter Anflug nach Eins möglich. Doch der ewig mißtrauische, wenig risikofreudige Riker hielt nicht viel von Theorien, wenn es um den Schutz des Schiffes und der Be‐ satzung ging. Deshalb riet er den Männern in den Beobachtungssta‐ tionen, sich nicht in trügerischer Sicherheit zu wiegen, sondern das Weltall genauso aufmerksam zu beobachten wie gewohnt. Ein über‐ flüssiger Rat, denn wer auf einem Beobachtungsposten schluderte, wurde umgehend aus seinem Aufgabenbereich entfernt und bei der
nächsten Landung auf Terra/Babylon freigestellt (was nichts anderes war als ein verharmlosendes Wort für »entlassen«). Im Klartext: Wer aufgrund seiner laxen Einstellung das Leben seiner Kameraden ge‐ fährdete, hatte auf der POINT OF nichts verloren. Zwar gehörte das unitallblaue Ringschiff nicht mehr dem Militär an, dennoch war es lebenswichtig, daß jeder (!), vom Commander bis zum Wartungs‐ helfer, seinen Dienst ernst nahm. Die POINT OF näherte sich ihrem Ziel gewissermaßen in Schleichfahrt. Nach Erreichen des Systems der Roboter ging Riker noch mehr auf Nummer Sicher, indem er sämtliche nicht benötigten Energieerzeuger an Bord abschalten ließ. Tino Grappa von der Or‐ tung durfte nur noch passiv orten. Der Weiterflug erfolgte mit SLE – das war die terranische Abkür‐ zung für einen Flug mit Sublichteffekt; dieses Antriebs System für den unterlichtschnellen Flug hatten die Mysterious alias Worgun erfunden. Trotz aller Bemühungen konnte man eine Entdeckung nicht völlig ausschließen. Keine bekannte Tarnvorrichtung war so perfekt, daß das getarnte Schiff nicht doch noch ausgemacht werden konnte – mit dem primitivsten Hilfsmittel, das einem biologischen Lebewesen zur Verfügung stand: dem Auge. Elektronische Kameras und Fernrohre waren sozusagen verlängerte Augen, mit denen man ein Schiff, das von den hochentwickelten Ortungsgeräten nicht erfaßt wurde, eventuell optisch ortete. In einem nahezu unendlichen Bereich wie dem Weltall war das zwar weitgehend vom Zufall abhängig und praktisch auszuschließen, doch je näher man einem fremden Schiff kam, desto wahrscheinlicher war die Möglichkeit, daß man von den Beobachtern an Bord gesehen wurde. Waren in einem Sonnensystem, das man unbemerkt anfliegen wollte, mehr als eintausend Patrouillenschiffe unterwegs, steigerte sich die Wahrscheinlichkeit des Gesehenwerdens logischerweise ums Tausendfache …
»Eintausend Roboterschiffe?« Dan Riker stockte der Atem, nach‐ dem er die Ortungsergebnisse geprüft hatte. »Rund um den Plane‐ ten? Sieht so aus, als rechneten sie mit einer weiteren Aktion unse‐ rerseits. Es dürfte schwierig sein, ungesehen an ihnen vorbeizu‐ kommen, nahezu unmöglich.« In jedem dieser zwischen dreihundert und vierhundert Meter großen Kampfraumer war ein zwar umfangreicher, aber technisch nicht auf sonderlich hohem Niveau konstruierter Großrechner in‐ tegriert. Im Inneren der Schiffe, die sozusagen die Körper der Groß‐ rechner waren, herrschte eine maschinenschonende Stickstoffat‐ mosphäre. »Sollen wir umkehren?« fragte einer der Brückenoffiziere. »Würde Commander Dhark in dieser Situation umkehren?« stellte Riker ihm mit ernster Miene die Gegenfrage. »Nein!« kam es voller Überzeugung zurück. »Damit kennen Sie die Antwort auf Ihre Frage«, erwiderte Dan Riker. »Wir haben eine lange Reise hinter uns – und ich denke nicht daran, wieder nach Hause zu fliegen, nur weil das Hotel überbelegt ist.« * Selbst ein Sturkopf wie Ren Dhark hätte nicht versucht, in gerader Linie gewaltsam eine Front von mehreren hundert Feindschiffen zu durchbrechen. Sich den Weg freizuschießen war in diesem Fall die schlechteste Lösung von allen. Die Roboterschiffe waren nervös und wachsam, daher mußte man behutsam vorgehen. Der Checkmaster errechnete einen komplizier‐ ten Kurs und bot dem Kommandanten an, das Ringschiff nahe an den Feindraumern vorbei auf die Nachtseite des Planeten zu »diri‐ gieren«, wo man vor einer optischen Erfassung besser geschützt sein würde.
»Wie groß ist die Chance, mit deiner Hilfe die wachsame Roboter‐ armee zu umschiffen?« fragte Riker den Bordcomputer geradehe‐ raus. »45,39 Prozent«, teilte ihm der Checkmaster emotionslos mit. »Voraussetzung dafür wäre, daß ich die Steuerung dieses Schiffs übernehme. Solltest du es vorziehen, selbst zu steuern, sinkt unsere Chance aufgrund menschlicher Unzulänglichkeiten auf 39,78 Pro‐ zent.« »Ich übernehme es trotzdem selbst«, entschied Riker. »Ich habe auch nichts anderes erwartet.« Die Bildkugel war eine holographieähnliche Sphäre, welche im All die Bordbildschirme ersetzte. Nicht nur in der Hauptzentrale be‐ diente man sich dieser 2,68 Meter durchmessenden schwebenden Kugel, auch in den Nebenzentralen, beispielsweise im Triebwerks‐ raum oder in der Waffensteuerung, bildeten sich nach dem Start Sphären von derselben Größe. In sämtlichen anderen Räumen des Schiffes verhielt es sich ebenso, allerdings durchmaßen die Kugeln dort nur dreißig Zentimeter. Dan Riker gab Anweisung, daß vor jeder freien Sphäre mindestens ein Ausguck Platz nahm – eine Auf‐ gabe, die jeder übernehmen konnte, unabhängig davon, welcher Arbeit er sonst an Bord nachging … »Die Zentrale ist mit jedem Winkel des Schiffes verbunden«, teilte er allen über die Bordsprechanlage mit, »so daß Sie außergewöhnli‐ che Beobachtungen direkt an mich melden können. Ich will versu‐ chen, die POINT OF durch die feindlichen Schiffe hindurchzu‐ schlängeln. Werden wir dabei optisch erfaßt, bleibt uns nur noch Plan B: ein Testament aufsetzen, beten – und mit allen uns zur Ver‐ fügung stehenden Geschützen auf die Übermacht feuern!«
13. Eins war die Zentralwelt des Volkes, wie sich die Funktionsge‐ meinschaft der Roboterschiffe beziehungsweise der fliegenden Großrechner nannte: ein erdgroßer Planet mit einer solähnlichen Sonne, eine Welt ohne Pflanzen und Tiere, die in der reinen Stick‐ stoffatmosphäre keine Lebensmöglichkeit hatten. Die Oberfläche war fast vollständig mit bizarren technischen Einrichtungen über‐ baut, welche zum Teil bis tief in die Erde reichten. Dem Verkehr auf Eins dienten Antigravbänder, die eine Geschwindigkeit von bis zu tausend Stundenkilometern erreichten. Die Großrechner/Roboterschiffe hatten diesen Planeten vollständig ihren Bedürfnissen angepaßt. Dazu zählte auch ein gebirgshoher metallener Gebäudekomplex: das Zentrum – eine Art Vergnü‐ gungspark für Roboter, in dem unter anderem orgiastische Feste gefeiert wurden. Lediglich eine Bergregion war nicht vollständig mit Technik zu‐ gebaut. Dort hatte sich einst das Heiligtum der Funktionsgemein‐ schaft befunden: eine mächtige Anlage, in der die Roboter circa zehntausend durchsichtige Sarkophage gestapelt hatten – mit schla‐ fenden Saltern in Nährflüssigkeit. Mittlerweile war die Anlage zer‐ stört, und die Salter lebten nicht mehr. Momentan lag der Bombenkrater, der sich heute an der Stelle des Heiligtums befand, auf der Nachtseite des Planeten und war voll‐ ständig in Dunkelheit gehüllt. Vor allem aus diesem Grund wählte der Checkmaster dieses Gebiet als Landeplatz aus. Man konnte die POINT OF dort optisch nur schwer erfassen. Zudem war kaum mit Robotern zu rechnen, weil es nichts mehr zu bewachen gab. Noch war der Ringraumer allerdings weit entfernt von seinem Ziel, und niemand auf dem Schiff konnte voraussagen, ob man jemals heil und gesund dort eintreffen würde. Die Beobachter vor den Bildku‐ geln waren voll konzentriert.
Obwohl die POINT OF mitunter so dicht an den bizarren Robo‐ terschiffen vorbeiflog, daß man glaubte, schon das knirschende »Metall‐trifft‐auf‐Metall«‐Geräusch zu vernehmen, blieben hysteri‐ sche Zwischenrufe aus. Die Besatzung war überaus diszipliniert und aufeinander eingespielt – und erfahren genug, um zu wissen, daß einem das bloße (Kamera‐)Auge manchmal üble Streiche spielte. Man hatte das bedrückende Gefühl, nur wenige Zentimeter an einem Schiff vorüberzufliegen, in Wahrheit aber lagen hundert Kilometer und mehr dazwischen. In den Weiten des Weltalls wurde mit ande‐ ren Latten gemessen als auf der Erde. Es gab jedoch Situationen, in denen das Gefühl der Beengung mit der Wirklichkeit übereinstimmte: Riker hielt mit gemäßigter Ge‐ schwindigkeit auf die Vorderfront eines mächtigen Patrouillenrau‐ mers zu, der ihn nicht kommen sah und deshalb nicht auf Aus‐ weichkurs ging. Die Distanz verkleinerte sich von Minute zu Minute … »Sollten wir nicht allmählich ausweichen?« erkundigte sich einer der Beobachter nervös. »Ruhe bewahren«, ermahnte Riker die Besatzung. »Ich weiß schon, was ich tue. Laut den Meßdaten, die ich aus der Ortungsabteilung und vom Checkmaster erhalte, ist dies der einzig richtige Weg. Ein unüberlegtes Ausweichmanöver, ganz gleich in welche Richtung, könnte zu einer Kollision mit anderen Roboterschiffen führen, die sich ganz in der Nähe befinden. Sogar unter uns zieht gerade eines vorüber.« Unter uns. In einer luftleeren, lautlosen Welt, in der es weder oben noch unten gab, muteten diese beiden Worte seltsam an … In dieser angespannten Lage zeigte sich wieder einmal, daß sich Dan Riker auch ohne seinen Freund zu helfen wußte, allen Selbst‐ zweifeln zum Trotz. Er wich keinen Jota vom Kurs ab. Konzentriert fixierte er in der Bildkugel das riesige Roboterschiff, das immer nä‐ her kam.
Die blinkenden roten Warnlämpchen am Armaturenbrett igno‐ rierte er konsequent. »Es kommt uns zwar entgegen, doch sehr entgegenkommend ist es nicht, sonst würde es ja beidrehen«, kalauerte Artus. Geduldig wartete Dan ab, bis vom Checkmaster die Freigabe für das geplante Abtauchmanöver kam. Kurz darauf glitt die POINT OF unter dem Roboterschiff hindurch. »Glück gehabt«, atmete der Erste Offizier auf. »Hätte der fliegende Großrechner seine Optik geradeaus nach vorn ausgerichtet, hätte er uns entdeckt.« »So wie das Schiff aussieht, hat sein Erbauer den Begriff ›gera‐ deaus‹ noch nie gehört«, meinte Riker. In der Tat wirkte der Roboterraumer, als sei er von Hundertwasser konzipiert worden, einem Maler und Architekten des vorigen Jahr‐ tausends, der vor allem aufgrund seiner schiefen Linienführung berühmt geworden war. Zu seinen kreativsten Schöpfungen gehörte die künstlerische Gestaltung des Bahnhofs von Uelzen, der inzwi‐ schen unter einer dicken Eisschicht verschwunden war. Keines der Roboterschiffe ähnelte dem anderen – und jedes von ihnen war wesentlich größer als der Ringraumer, der lediglich 180 Meter durchmaß. Dieser scheinbare Nachteil gereichte der POINT OF allerdings zum Vorteil. Weil sie kleiner war als all die Dreihun‐ dert‐ und Vierhundertmeterschiffe um sie herum, war sie schwerer zu entdecken. Lautlos schwebte »David« mitten durch die geballte Übermacht von über tausend »Goliaths«, die ihn nicht wahrnahmen … Das wirklich Unheimliche an den Roboterschiffen war allerdings nicht ihre Größe, sondern ihr Aussehen. Zwar waren hier die ver‐ schiedensten geometrischen Formen vertreten, aber man mußte schon genau hinschauen, um sie zu erkennen. Rechtecke verwuchsen mit Quadraten und Kreisen, die wiederum ins Ovale übergingen und in Kegel mündeten. Flogen zwei Großrechnerschiffe nebenei‐ nander her, verschmolzen sie für das Auge des Betrachters zu einem
einzigen undefinierbaren Metallklumpen, und man konnte nur an‐ hand der Ortungsgeräte ausmachen, wo das erste Schiff endete und das zweite begann. Am schlimmsten aber war der ständige Kurswechsel der patrouil‐ lierenden Schiffe. Es war keine klare »Marschrichtung« erkennbar, so daß der Checkmaster fortwährend neue Berechnungen anstellen mußte. Lange Zeit war das Glück auf Seiten der Menschen … In knapp zweihundert Kilometern Höhe über Eins ereilte die POINT OF dann aber doch ihr Schicksal: Drei Roboterschiffe nah‐ men Kurs auf den Ringraumer – und auf allen (!) eintausend Schiffen wurde schlagartig das Energieniveau erhöht. Die patrouillierenden Großrechnerschiffe hatten ihren Erzfeind entdeckt und fuhren ihre Waffen hoch! * Artus dachte zurück an seinen ersten Aufenthalt auf Eins, daran, wie er zum erstenmal eines jener obskuren Schiffe betreten und mit dem integrierten Großrechner kommuniziert hatte. Jeder dieser Rechner verfügte über eine Vielzahl von Handlungsrobotern, die von ihm innerhalb und außerhalb des Schiffskörpers ferngesteuert wurden – und über ganz persönliche »Sinnroboter«, die anstelle ihres Besitzers an den diversen Vergnügungen der Funktionsgemeinschaft teil‐ nahmen. Als Vergeltung für Verbrechen gegen die Funktionsgemeinschaft der Roboter wurde dem Täter sein Raumschiffskörper mitsamt Handlungs‐ und Sinnrobotern genommen, eine Strafe, so grausam, als ob ein menschlicher Kopf ohne seinen Körper dahinvegetieren müßte, verdammt zum ewigen Zusehen, ohne mitmachen zu dürfen. In dieser Hinsicht kannten die Großrechner keine Gnade, und auch sonst durfte man keine von ihnen erwarten …
Auf der POINT OF machten sich die Männer der Waffensteuerung West und der Waffensteuerung Ost bereit zum Gefecht. Plan A war in letzter Sekunde gescheitert – jetzt war die Zeit gekommen für Plan B: Feuer aus allen Rohren! »Moment noch!« hielt Riker seine kampfbereite Truppe im letzten Augenblick zurück. »Ich habe noch einen Plan C in petto!« Der Feind griff an. Die ersten Kompri‐Nadelstrahlen zischten am Ringraumer vorbei, aber nur ein einziger streifte leicht das Inter‐ vallfeld … »Sämtliche Meiler bis an die höchstmögliche Belastungsgrenze hochfahren!« befahl der Stellvertretende Commander. »Blitzanflug auf Eins – und zwar mit voller Kraft!« Seine Anwei‐ sungen wurden sofort ausgeführt. »Wo landen wir?« wollte der Erste Offizier wissen. »Wir landen gar nicht«, erwiderte Dan Riker. »Wir jagen mitten in den Planeten hinein.« Die gegnerische Übermacht setzte von vornherein ihre gefährlich‐ ste Waffe ein: Kompri‐Nadel. Diese Art von Energiestrahl war dem überlichtschnellen, pinkfarbenen Nadelstrahl der POINT OF nicht unähnlich – man konnte damit die meiste Materie in Energie auflö‐ sen. Die Großrechner hatten es allerdings geschafft, die Energieab‐ gabe auf einen unglaublich kleinen Durchmesser im Nanometerbe‐ reich zu bündeln, so daß mit dieser Waffe sogar Intervallfelder zum Zusammenbruch gebracht werden konnten. Doch selbst die effektivste Waffe war nur dann von Nutzen, wenn ein Ziel existierte, auf das man sie richten konnte … Auf der POINT OF wartete man nicht still und brav ab, bis die Kompri‐Nadelstrahlen von allen Seiten ins Intervallum einschlugen. Der Ringraumer zischte ab wie die sprichwörtliche Rakete – nur schneller. Viel schneller. SEHR VIEL SCHNELLER! »Wie tief tauchen wir ein?« fragte Hen Falluta hundert Meter über dem Boden.
»So tief, wie ich es für richtig erachte«, antwortete ihm zu seiner Überraschung der Checkmaster. »Ich übernehme ab sofort das Kommando an Bord!« * Die Worte des Checkmasters waren noch nicht ganz verhallt, da drang die POINT OF auch schon in hohem Tempo in den Planeten ein. Dank des Intervallfeldes schoß sie durchs Erdreich, ohne es aufzuwühlen oder zu erschüttern. Da man sich in der Bergregion befand, mußten keine technischen Einrichtungen durchflogen wer‐ den. Allerdings lag hier eine Menge Roboterschrott herum – offenbar Überreste des nur teilweise erfolgreichen Einsatzes zur Befreiung der Salter. Die Verfolger nahmen den Ringraumer ohne Rücksicht auf Ver‐ luste unter Beschuß. Rund um die Eintauchstelle bestreuten sie mit Kompri‐Nadelstrahlen einen kilometerweiten Bereich, für den Fall, daß das flüchtende Schiff versuchen würde, an anderer Stelle gleich wieder nach oben durchzustoßen, um ins All zu entfliehen. Zahl‐ reiche Roboterkampfraumer beteiligten sich an der Hatz – und es wurden immer mehr. Noch in zehn Kilometern Tiefe durchpflügten die Energiestrahlen die Planetenkruste. Auf der POINT OF, die unter dem Kommando des Checkmasters immer weiter ins Innerste von Eins vordrang, ortete man gewaltige Energieausbrüche und Erschütterungen … An der Planetenoberfläche war der Schrotteufel los. Die Müllhalde wandelte sich in einen riesigen dampfenden Metallsee. Ein Vulkan, der jahrhundertelang keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte, entlud sich mit aller Urgewalt und spie gewaltige Steinbrocken und glühende Lava aus. Die Reste des ehemaligen Heiligtums des Robo‐ tervolkes wurden aufgrund des großflächigen Strahlenbeschusses vollständig zerstört. Die Überreste wurden von der Lava über‐ schwemmt.
Aber nicht nur in der Bergregion bekam man die Auswüchse der rücksichtslosen Verfolgungsjagd zu spüren. In den umliegenden Bereichen kam es zu Erdbeben und Einstürzen von Fabrikhallen und Werften. Transportbänder rissen aus der Verankerung. Handlungs‐ roboter wurden bei harten Stürzen zerquetscht. Mehrere Dutzend Großrechnerschiffe erhoben sich in die Luft, um sich in Sicherheit zu bringen. Derweil gelangte die POINT OF in Tiefen, wo sie die Strahlen der Verfolger nicht mehr erreichten und sie von der Planetenmasse ge‐ gen jegliche Ortung abgeschirmt war. Der Checkmaster verlang‐ samte das Tempo und brachte das Schiff nach dreitausend Kilome‐ tern Tauchfahrt zum Stillstand. Anschließend übergab er das Kom‐ mando wieder an den Stellvertretenden Commander. Dies geschah keinen Augenblick zu früh, denn Dan Riker war drauf und dran gewesen, dem Bordrechner das Kommando zu ent‐ ziehen. Hätte er selbst den Raumer gesteuert, hätte er die Höllenfahrt schon viel früher beendet. Und genau darin lag sein Problem (dessen er sich durchaus bewußt war): Er scheute allzu große Risiken, wollte niemanden in Gefahr bringen. Aus diesem Grund ordnete er erst einmal einen Tag Pause an. Mehrere Brückenoffiziere waren strikt dagegen. Sie waren es ge‐ wohnt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war – sprich: Sie wollten sich nicht ausruhen, sondern handeln. Riker hörte sich ihre Meinungsäußerungen an, setzte aber letztlich seinen Willen durch. »Wir brauchen etwas Zeit zum Planen«, sagte er. »Außerdem verwirrt es unsere Gegner, wenn sie nichts mehr von uns hören und sehen. Man wird annehmen, unser Schiff sei stark beschädigt oder sogar zerstört worden.« Er gab Befehl, in gewissen Abständen die Position zu wechseln, um den Roboterschiffen eine etwaige Ortung zusätzlich zu erschweren. *
Nicht wenige Besatzungsmitglieder murrten über die ihnen aufer‐ legte Wartezeit – selbstverständlich nur untereinander, nicht offen, denn das wäre einer Meuterei gleichgekommen. Doch Riker blieb Riker – und er blieb stur. Erst nach Ablauf von vierundzwanzig Stunden gab er den Einsatzbefehl. Der siebenunddreißigjährige ukrainische Pilot Pjetr Wonzeff machte Flash 001 startklar. Wonzeff war hochgewachsen, hatte einen Kurzhaarschnitt und eisgraue Augen. Auf dem zweiten Sitz nahm ebenfalls eine hochgewachsene Gestalt Platz, die allerdings über keine Haare und Augen verfügte – nur über einen kahlen Metall‐ schädel sowie über eine elektronisch gesteuerte Optik: Artus. Der Vielzweckroboter hatte einen ganz speziellen Datenträger da‐ bei, der nach seinen Angaben konstruiert worden war und das von der Gruppe Saam/Shanton/Doorn entwickelte Antidoton enthielt. Mit Hilfe dieses Datenträgers würde Artus die Antiviren in die Netzwerke der Großrechner einspeisen, was theoretisch jeder konn‐ te, der sich im Besitz des Gerätes befand, denn die Anwendung war verhältnismäßig unkompliziert und ließ sich auch von »artfremden« Rechnern durchführen. Wonzeff leitete den Start ein. Artus legte sich den letzten Gra‐ ko‐Gürtel um und aktivierte ihn. Dann schwebte der Flash langsam nach oben … Artus entschied, als erstes das monströse Gigantmetallgebäude anzufliegen, in dem er seinerzeit an der Roboterorgie teilgenommen hatte: das Vergnügungszentrum. »Du bist der Boß«, entgegnete Pjetr Wonzeff und gab die entspre‐ chenden Koordinaten ein. * Mich befiel ein mulmiges Gefühl, während wir getarnt über die kleinen und großen Gebäude von Eins – filigrane Türme, grobe Klötze, zweckmäßige nüchterne Industrieeinrichtungen und wirre
Konstruktionen ohne erkennbare Funktion – hinwegflogen. Das architektonisch wertlose Gesamtwerk der Funktionsgemeinschaft war in ein helles, funkelndes Lichtermeer getaucht, das ganz Eins überzog, mit Ausnahme der unbebauten Bergregion. Sonstige Un‐ terbrechungen im Lichternetz gab es nicht, denn Gewässer und Ve‐ getation fehlten auf diesem obskuren Planeten völlig. »Warum willst du eigentlich zuerst ins Vergnügungszentrum?« erkundigte sich Wonzeff. »Gibt es keine lohnenderen Ziele? Beim letzten Einsatz hat die Garde einen riesigen Datenbankkomplex in die Luft gejagt. Davon existiert doch bestimmt mehr als einer.« »Die Bewohner dieses Planeten verfügen über mehrere Datenban‐ ken, auf die sie jederzeit drahtlos zugreifen können«, bestätigte ich. »Zwar sind die noch verbliebenen Gebäude nicht ganz so gigantisch wie das, in dem wir die Fusionsbombe zurückließen, doch aufgrund einer weniger voluminösen Verpackung sollte man keine falschen Schlüsse ziehen, was die Qualität des Inhalts angeht. Jede Datenbank ist so eine Art Knotenpunkt für Informationshungrige und somit eine Kostbarkeit. Bestimmt werden die Großrechner die übrigen Banken nicht mehr aus den Handlungsroboter‐Optiken lassen, um einem erneuten An‐ schlag vorzubeugen. Natürlich wird mich das nicht daran hindern, auch dort das Antidoton einzuspeisen – je mehr Wissen abgerufen wird, desto mehr Roboterschiffe werden sich mit den Antiviren infi‐ zieren, einschließlich der Zentrale. Zunächst fange ich aber im schlechter bewachten Vergnügungszentrum an; da erwischen wir mit Sicherheit genauso viele Großrechner, und zwar über ihre Sinn‐ roboter.« Als ich das erste Mal das Zentrum aufgesucht hatte, hatte ich nicht in einem Flash gesessen, sondern auf einem breiten Gleitband ge‐ standen. Es hatte uns dichtgedrängt zu einem mächtigen metallenen Gebäudekomplex transportiert, ein gigantisches Etwas, hoch wie ein Gebirge, das schon von weitem grotesk auf mich gewirkt hatte, so als habe man Hunderte, vielleicht sogar Tausende von absonderlichen
Häusern und Hallen wahllos aufeinandergestapelt. Von allen Seiten führten Transportbänder auf diesen eigenartigen Komplex zu, und damals war jedes Band vollgestellt gewesen mit haufenweise ver‐ schiedenartigen Sinnrobotern, so als ob sie von dem Gebäudeberg magisch angezogen wurden. Durch zahlreiche Eingänge waren sie nach drinnen gelangt – und ich mit ihnen. Von Anfang an hatte ich mich dem Zauber des Vergnügungs‐ zentrums nicht entziehen können. Ein seltsames Wohlgefühl hatte mich befallen und bis zum Verlassen des Centers nicht mehr losge‐ lassen. Diesmal näherte ich mich dem »Hausgebirge« aus einer anderen Richtung: Ich wählte den Weg übers Amüsierviertel. Hier hatte es damals von Sinnrobotern, deren Besitzer auf billige Räusche aus waren, nur so gewimmelt. Das schnelle Lusterlebnis wurde von simplen Rechnerstationen erzeugt, was nicht ganz ungefährlich war – schon so mancher Großrechner hatte sich auf diese Weise eine Art »elektronischer Verblödung« eingefangen, was in etwa mit einer menschlichen Geschlechtskrankheit vergleichbar war, die erst den Körper und dann das Gehirn angriff. Erstaunlicherweise tummelten sich diesmal nur wenige Roboter auf der »Reeperbahn« von Eins. Hatte das Sterben der Salter den Großrechnern die Laune verdorben? Offenbar stand ihnen augenb‐ licklich nicht der Sinn nach Vergnügungen, schließlich befand sich das Volk in einer tiefen Krise. Die Funktionsgemeinschaft war schwer angeschlagen und wußte nicht, was sonst noch alles auf sie zukam. Ich bat Wonzeff, in das Gigantgebäude einzufliegen. Er aktivierte die Waffensysteme, da mit einem sofortigen Angriff zu rechnen war, sobald man den Flash erblickte. Fehlanzeige – niemand wollte etwas von uns. Wir stießen auf An‐ hieb auf einen »freien Parkplatz«, einen roboterleeren Raum: das Automatencenter. Die verhältnismäßig kleine Halle, die wie eine bizarre Version der Spielautomatenhallen in Las Vegas wirkte, war schon bei meinem ersten Besuch nicht sonderlich beliebt gewesen.
Das Spielsystem der Geräte war leicht zu durchschauen – zu leicht für hochintelligente Großrechner und für mich erst recht. Seinerzeit hatte ich schon bald den Spaß daran verloren. Erst in der Kampfhalle hatte ich einen würdigen Gegner gefunden: einen Simulator erster Güteklasse! Level um Level hatte ich ihn unter größten Schwierigkeiten in seine Schranken verwiesen – und erst hinterher erfahren, daß mir der Simulator die Chips zusammenge‐ schmolzen hätte, hätte ich versagt … Der Schrecken steckte mir noch heute im Metallskelett, und trotz‐ dem zog es mich wieder dorthin – was vermutlich mit den speziellen »Glückshormonen« zusammenhing, die im gesamten Gebäude aus‐ gestrahlt wurden und die ich sogar hier im Flash erfühlen konnte. Biologische Lebewesen waren dafür offenbar unempfänglich, Won‐ zeff reagierte jedenfalls nicht darauf. Ich verließ den Flash. Wonzeff trug zwar einen Raumanzug, zog es aber vor, im Boot zu bleiben. Die Stickstoffwelt war ihm unheimlich. Er verschloß hinter mir sofort wieder den Einstieg. Drinnen fühlte er sich sicherer – außerdem konnte er im Notfall mit den Bordwaffen eingreifen. Angst, enttarnt zu werden, hatte ich nicht. Mein Grako‐Gürtel schützte mich davor. Die sich vergnügenden Sinnroboter und die für den Centerbetrieb zuständigen Handlungseinheiten würden in mir lediglich einen ganz normalen Kontrollroboter sehen – also eine aufrechtgehende Maschine, die größer war als die übrigen Roboter und in ihrem Arbeitsbereich mit besonderen Vollmachten ausges‐ tattet war. Nur andere Gürtelträger konnten meine wahre Gestalt erkennen, doch ich hoffte, hier keine Grakos anzutreffen. Eine Handvoll Sinnroboter betrat die kleine Halle und erblickte den »Blitz«. Unruhe und Neugier kamen bei den Robotern auf. Ich wies sie an, sich nicht um das Gefährt zu kümmern. Man akzeptierte mich als Kontrollroboter und befolgte meine Anweisungen. Die Kampfhalle war nur unwesentlich belebter als das Automa‐ tencenter. Einige Sinnroboter beziehungsweise deren Großrechner
ergötzten sich gerade daran, wie ein Spieler vor dem Simulator in‐ nerlich verschmorte. Er hatte auf dem 966. Level (von 1000) versagt – bei aktivierter Risikotaste! Dumm gelaufen. Mein nächster Besuch galt dem Rechenzentrum, einem quadrati‐ schen Raum, in dem mehrere Spieler in mathematischen Wettbe‐ werben gegeneinander antreten konnten. Hier war keine Reaktions‐ schnelligkeit gefragt, sondern Intelligenz. Ohne den nötigen Ver‐ stand war es unmöglich, all die umfangreichen rätselhaften Formeln zu knacken. Auch die Robotdisko suchte ich noch einmal auf. Dort bekam jeder die Musik zu hören, die ihm am liebsten war. Die Stücke wurden aber nicht nacheinander abgespielt, sondern alle gleichzeitig. Die in farbige Lichter getauchte Tanzfläche war einstmals nahezu überfüllt gewesen – jetzt bewegten sich lediglich ein paar vereinzelte Tänzer zu den verschiedenen Rhythmen. Selbst im Freudencenter traf ich kaum jemanden an. An der Decke waren Tausende von Speziallampen befestigt, deren Strahlen selt‐ sam leuchtende Kreise auf dem Metallfußboden bildeten. Hier konnte jeder Großrechner seinen ganz persönlichen elektronischen Freudentaumel erleben, vorausgesetzt, er plazierte seinen Sinnrobo‐ ter mitten in einen jener speziellen Lichtkegel. Ich erinnerte mich gern an dieses Erlebnis, an meine innere Leere, die sich allmählich mit Zahlen, Buchstaben, Strichen und Punkten sowie exotischen Schriftzeichen gefüllt und all das zu einer kilome‐ terlangen Formel vereint hatte, einer absonderlichen Formel, die nach den herkömmlichen Denkmustern der Mathematik nicht zu lösen war, einer unfaßbar schönen Formel, nicht ersonnen, um etwas zu berechnen, sondern um Glückseligkeit zu spenden. Aus der ers‐ ten hatten sich dann weitere solcher Formeln gebildet … Ich war hinterher regelrecht süchtig danach gewesen! Mehrere hundert Gänge, Antigravschächte und Türen führten in den quadratkilometergroßen Säulensaal im Untergeschoß. Ich hatte noch das Bild meines ersten Besuches im Kopf. Unmengen von
Sinnrobotern waren – geführt vom Leitsignal der Hauptsäule – in den Saal geströmt und hatten vor den kleinen, dicken schiefstehen‐ den Kommunikationssäulen Platz genommen, die wie Riesenpilze aus dem Boden ragten. Anschließend hatten sie sich über ihre eige‐ nen Kabelanschlüsse mit den Säulen verstöpselt und eine wilde Or‐ gie gefeiert … Und jetzt? Tote Hose! Nicht ein einziger Roboter war anwesend, um sich mit einem anderen Roboter zu vereinen. Ähnliche Säulen gab es zu Abertausenden auf Eins – allerdings dienten die Säulen außerhalb des Vergnügungscenters nicht dem Lustgewinn, sondern der Weitergabe von Meldungen sowie Über‐ prüfungszwecken. Man konnte draußen von jeder dieser Säulen aus mit der Zentrale in Direktverbindung treten. Ich beschloß, noch vor dem Aufsuchen der Datenbänke das Anti‐ doton in eine der Zentralsäulen einzuspeisen, um ganz sicher zu gehen, daß Tangente – so nannte sich die Zentrale – selbst dann mit den Antiviren infiziert wurde, wenn er keine Daten aus einer der Banken abrief. Auf diese Weise wurden die Viren sogleich an die echten (!) Kontrollroboter weitergegeben, die ja von der Zentrale gesteuert wurden. Hier im Säulensaal hingegen machte eine Einspeisung wohl wenig Sinn, schließlich hatte sich nirgendwo ein Sinnroboter an eine der Freudesäulen angeschlossen, um mit Gleichgesinnten auf elektro‐ nisch‐erotischer Basis zu kommunizieren. Der Saal war leerer als leer. Ich kam mir vor wie jemand, der eine Ausstellung aufsuchen wollte, aufgrund einer Verspätung aber nur noch mitbekam, wie alles abgebaut wurde. Mir fiel ein Adapterkabel auf, das lose von einer der Säulen he‐ rabbaumelte. Während sich die Kabelanschlüsse draußen an den Zentralsäulen selbständig modifizierten und fremden Anschlüssen anpaßten, hatte ich für den Anschluß an eine der Freudesäulen sei‐ nerzeit einen solchen Adapter benötigt.
Ich nahm das Kabel zur Hand und probierte den verstellbaren Anschluß aus. Paßt! Nun suchte ich nach einer Möglichkeit, mich von hier aus in das Gesamtdatennetz des Vergnügungscenters einzuloggen, vielleicht klappte es ja. Sonderlich viele Roboter und deren Besitzer würde ich zwar nicht mit dem Antidoton infizieren – ich hatte mir mehr von meinem Centerbesuch versprochen –, aber Kleinvieh machte be‐ kanntlich auch Mist. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf meine Aufgabe – und bemerkte nicht, was hinter mir geschah. Als ich fertig war, entfernte ich den Adapter von meinem Körper. Mehr zufällig drehte ich mich just in dem Moment um, als drei Grakos in Kampfanzügen mit ihren Schwarzstrahlern das Feuer auf mich eröffneten. Ich blickte dem Tod direkt ins Auge … * Die auf Eins stationierten Großrechnerschiffe konnten sich über ein allgemeines Kommunikationsnetz, das ihren gesamten Planeten umspannte, zusammenschließen, was vor allem bei militärischen Besprechungen sinnvoll war. Bei meinem ersten Aufenthalt auf die‐ sem Planeten hatte man über jenes Netz den Angriff auf die Erde geplant – und ich hatte die Arglosigkeit der Aggressoren schamlos ausgenutzt, um ein effektives Spezialvirenprogramm, das ich für Notfälle entwickelt hatte, ins planetenweite Netz einzuspeisen. In‐ nerhalb einer Viertelstunde hatte ich sämtliche Besprechungsteil‐ nehmer lahmgelegt. Unglück im Glück: Die Viren hatten die Großrechner für eine Stunde autistisch machen sollen; leider hatten sie nicht so lange ge‐ wirkt. Das Antidoton hingegen erzeugte eine Dauerwirkung. Wer sich einmal damit infiziert hatte, den konnten die Feldviren der Grakos
nie mehr täuschen. Würde es mir irgendwie gelingen, die Antiviren durchs Kommunikationsnetz der Funktionsgemeinschaft zu jagen, wäre das Problem mit einem Schlag erledigt. Doch offenbar hatten sich die Großrechner gerade rein gar nichts zu erzählen – oder sie hatten aus ihrer schlechten Erfahrung gelernt und das gemeinschaft‐ liche Netz besser abgesichert. Somit blieb mir nichts weiter übrig, als das Antidoton quasi »stückchenweise« über ganz Eins zu verbreiten. Ich war heilfroh, nicht jeden Großrechner einzeln damit impfen zu müssen. Wenigstens meine Aktion im Säulensaal verlief erfolgreich. Mit etwas Glück und Geschick (nicht zu vergessen meine immensen Fähigkeiten, die Beeinflussung fremder Rechner betreffend) gelang mir der Durchbruch ins Center‐Netz. Ich schickte das auf dem Da‐ tenträger befindliche Antidoton auf die Reise … Als ich sicher sein konnte, daß sich die Antiviren unaufhaltsam innerhalb des Centers auszubreiten begannen, löste ich die Säulen‐ netzverbindung, indem ich den Adapter aus mir herauszog. Dabei bewegte ich meinen drehbaren Metallkopf mehr durch Zufall ein Stück nach hinten – und ich blickte dem Tod direkt ins Auge … Niemand ist gezwungen, hinzuschauen, wenn man etwas Häßli‐ ches sieht. Blitzschnell wechselte ich meine Blickrichtung nach un‐ ten, indem ich mich zu Boden warf. Der mir zugedachte Todesstrahl zischte über mich hinweg. Hätte er mich getroffen, wäre es aus mit mir gewesen. In dieser Hinsicht ähneln Robotern Cyborgs: Bis zu einem gewissen Grad stecken wir Angriffe einfach so weg – doch was zuviel ist, ist zuviel, denn weder Cyborgs noch Roboter sind unverletzbar. Der Schwarzstrahler der Grakos war eine materieauflösende Waf‐ fe, die gleichzeitig eine Schmelzwirkung ausübte und nach einem Volltreffer kristallinen Staub hinterließ. Ich fühlte mich noch zu jung, um als Roboterstaub zu enden, deshalb rollte ich mich erstens auf dem Boden ab und zweitens hinter eine Säule. Sekunden später zer‐ fiel die Säule …
Wissen die eigentlich, daß ihre verdammte Waffe seit der Machtüber‐ nahme der Gordo auf Grah für Grakos verboten ist? dachte ich, während ich hinter einer weiteren Säule Deckung nahm. Scheinbar hatte ich es nicht nur mit schlechten Schützen (Gott sei Dank!), sondern auch mit Unwissenden zu tun, denn neben mir zer‐ rieselte eine weitere Säule zu kristallinem Staub – und noch eine und noch eine … Grakos waren alles andere als Schönheiten, weshalb ich es norma‐ lerweise zu schätzen weiß, daß man sie aufgrund ihres Halbraum‐ feldes nur unzureichend erkennen kann. Sie verschmolzen zum Teil mit ihrer Umgebung, und das war auch gut so, dann mußte man sie sich wenigstens nicht komplett anschauen. Wenn man allerdings gegen sie kämpfte, war ihre teilweise Unsichtbarkeit von immensem Vorteil für sie. Mitunter war man aufs Raten angewiesen, wollte man herausfinden, wo sie sich gerade aufhielten. Glücklicherweise bin auch ich nicht ganz ohne, was Ratespiele angeht. Zu meinen Lieblingsspielen gehört Memory, weil ich mit meinem Supergedächtnis stets weiß, wo sich das Pendant zur ersten aufgedeckten Karte befindet. Selbst bei den komplizierteren Varia‐ tionen (mit drei gleichen Karten) bin ich meinen Mitspielern immer um eine Nasenlänge voraus. Ob das die Grakos auch von sich behaupten konnten …? Mit Höchstgeschwindigkeit wechselte ich von Säule zu Säule, mal zu dieser, mal zu jener. Die wesentlich langsameren Grakos bemüh‐ ten sich vergebens, mich im Auge zu behalten. Nichtsdestotrotz verwandelten sie etliche Säulen zu Staub, mal diese, mal jene – bis sie nicht mehr mit Bestimmtheit sagen konnten, hinter welcher Säule ich zuletzt verschwunden war. Ich war gewissermaßen die einzelne Erbse in einem Hütchenspiel mit Tausenden von Lösungsmöglich‐ keiten … Nach wie vor waren die Grakos die Jäger und ich ihre auserkorene Beute. Doch in einem Wald, wo ein Baum dem anderen ähnelt, läßt sich das Wild nur schwer fixieren …
Ich war zu allem entschlossen! Sobald mir ein Grako zu nahe kam, würde ich ihn ohne. Wenn und. Aber außer Gefecht setzen. Erfah‐ rungsgemäß kämpften die Grako‐Rebellen meist hart und verbissen, weshalb »außer Gefecht setzen« gleichbedeutend sein würde mit »töten«. Selbst wenn ich es wollte: Ich konnte es nicht ändern – ich hatte diese gewalttätige Welt und diese verbohrte, mitleidlose Spezies nicht erschaffen. Ich achtete das Leben anderer, war aber nicht ge‐ willt, meine eigene Metallverkleidung denjenigen zu opfern, die für mein Leben keinen Funken Achtung übrig hatten. Drei grell aufblitzende Thermoreaktionen befreiten mich aus mei‐ nem Gewissenskonflikt. Pjetr Wonzeff war mir ins Untergeschoß gefolgt und schaltete meine gnadenlosen Jäger innerhalb einer Mi‐ nute mit den Bordwaffen aus. Eine leichte Aufgabe für jemanden, der sich im Schutz eines Intervallfelds befand, während sich seine Gegner nirgends vor den Ortungs‐ und Energiestrahlen des Flash verbergen konnten. Wonzeff hatte mir das Leben gerettet. Der Tod der drei Grakos war dabei nicht zu vermeiden gewesen. Ich hätte genauso gehandelt, wäre ich an seiner Stelle gewesen und hätte umgekehrt ihn aus der Bredouille holen müssen. Ich bestieg das Beiboot, und wir verließen das Vergnügungszent‐ rum. Meine Arbeit hier war getan – und ich war mir sicher, daß ich niemals wieder in dieses dubiose Gigantgebäude zurückkehren würde. Was hätte ich dort wohl noch verloren?
14. Während unseres Flugs auf die andere Seite des Planeten wurde mir allmählich bewußt, wieviel Glück ich gehabt hatte. Nur der zu‐ fällige Blick nach hinten hatte mich davor bewahrt, zu kristallinem Staub zu werden. Ich nahm mir vor (wie oft wohl schon?), in Zu‐ kunft vorsichtiger zu sein. Vielleicht war es wirklich besser, sich künftig aus dem allgemeinen Geschehen etwas mehr herauszuhalten, anstatt ständig zur vorders‐ ten Front vorzupreschen – so wie Ren Dhark, den sein Leichtsinn vermutlich sein Leben gekostet hatte. »Fängst du jetzt auch schon damit an?« ermahnte ich mich selbst. »Dhark lebt!« »Natürlich lebt er«, entgegnete Wonzeff – den meine gelegentli‐ chen Selbstgespräche schon lange nicht mehr verwunderten. »Commander Dhark ist wie eine dieser verstaubten Romanserien aus dem vorigen Jahrtausend. Je öfter sie totgesagt wurden, desto mehr Auflagen und Fortsetzungen gab es später. Ren Dhark wird immer und immer wieder auferstehen, den kriegt man nicht so leicht unter, dafür sorgen schon seine treuen Fans.« »Fans?« hakte ich nach. »Fans«, bestätigte Wonzeff. »Ich bin einer davon. Du nicht?« »Ich hatte mich bisher eher als seinen Freund gesehen«, erwiderte ich – aber irgendwie gefiel mir diese Bezeichnung. * Bald darauf erreichten wir einen weiträumigen Komplex, der aus mehreren Datenbankgebäuden bestand. Was für ein Unterschied zu dem monumentalen Monsterkomplex, den die Schwarze Garde hochgejagt hatte. Ich erinnerte mich, daß man den oberen Abschluß nicht hatte sehen können, wenn man direkt davorstand. Ganz offen‐
sichtlich hatte diesen Bau hier ein anderer Architekt entworfen – die Großrechner waren weitgehend eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Ideen und Phantasien. Zwar verfügten auch diese Gebäude über mehrere Stockwerke, doch sie waren bei weitem nicht so hoch wie das andere. Man hatte sie kreisförmig angelegt, mit einem großen Vorplatz in der Mitte, der wahrscheinlich zum Starten und Landen von Gleitern und Schiffen diente. Wonzeff flog in eins der Datenbankgebäude hinein. Daß wir dabei von Handlungsrobotern beobachtet wurden, war leider nicht gänz‐ lich auszuschließen. Wir konnten nur hoffen, daß niemand die Zentrale benachrichtigte und daß von dort aus keine Kontrollroboter losgeschickt wurden, um nach dem Rechten zu sehen – und daß sich darunter keine Grakos befanden, weil die sofort meine Tarnung durchschauen würden … Das Monumentalgebäude hatte sich seinerzeit als riesige Halle entpuppt, die genaugenommen gar keine Halle gewesen war, weil es dafür viel zu viele Wände gegeben hatte. Die Decke hatte man nicht sehen können. Unüberschaubare, verschiedenförmige elektronische Aufbauten hatten sich teils turmhoch gestapelt – ein alptraumhafter Stahlwald mit Millionen von blinkenden Kontrollämpchen und sehr schmalen Gängen dazwischen; kein geeigneter Aufenthaltsort für jemanden, der unter Klaustrophobie litt. Hier drinnen sah es völlig anders aus, nicht ganz so grotesk und wild‐unordentlich, fast schon aufgeräumt. Abgesehen von der Ab‐ wesenheit menschlicher Büroangestellter hatte die Datenbank Ähn‐ lichkeit mit einem sterilen terranischen Großraumbüro, das durch Zwischenwände in mehrere kleinere Büros unterteilt war. Eins war allerdings gleichgeblieben: das permanente, nervtötende Summen, das von überallher zu hören war. Man wünschte sich, es abstellen zu können, doch es blieb einem erhalten wie ein schlechter Freund.
Tausende von Suprasensoren verwalteten sich hier weitgehend selbst. Die anwesenden Handlungsroboter waren vor allem für Wartungsarbeiten und für die Gebäudebewachung zuständig. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, die patrouillierenden Roboter zu umgehen, nachdem ich ausgestiegen war. Die Schrottbots, wie ich sie nannte, waren ja so leicht zu durchschauen. Wonzeff konnten sie ebenfalls nicht ausmachen, er verbarg sich in einem Ersatzteillager hoch unter dem Dach. Von dort aus beobachtete er mich unablässig, um nötigenfalls eingreifen zu können. Über einen verschlüsselten Funkkanal standen wir zudem in Sprech‐Verbindung. Ungehindert machte ich mich an den Datenbanken zu schaffen. Kamen mir die Roboterwachen zu nahe, wechselte ich ins nächste »Büro« – und wann immer ich einen abgeteilten Raum verließ, blieb in den dort befindlichen Rechnern genügend Antidoton zurück, um damit zahllosen Roboterschiffen ein freies Blickfeld in die Wirklich‐ keit zu verschaffen. In einem der Verbindungsflure schaffte ich es leider nicht rechtzei‐ tig, dem Wachtposten auszuweichen. Der bewaffnete Handlungs‐ roboter erkundigte sich nach dem Grund meines Aufenthalts in diesem Gebäude. Ich antwortete ihm, daß es sich um eine strikte Geheimsache handelte und wies ihn auf meinen übergeordneten Status als Kontrollroboter hin. Das schien ihm zu genügen, denn er zog weiter seine Runden … Mein Wechsel zum nächsten »Büro« stand kurz bevor, als ich von draußen Kampflärm vernahm. Kümmere dich nicht darum, sagte ich mir. Erledige deine Arbeit, und sieh zu, daß du von hier wegkommst! Roboter sind nie neugierig – aber ich bin nun mal keine normale tumbe Maschine, sondern ein lebendiges Wesen … Ich informierte Wonzeff und eilte zum Ausgang. Auf dem großen Vorplatz vor den Datenbankgebäuden war ein Gleiter gelandet. Ein Gleiter mit vier Grakos!
Offensichtlich hatten sie unseren Flash geortet, wie auch immer. Oder der Wachtposten hatte mich an die Zentrale verraten. Die Grakos stellten ein echtes Problem für Wonzeff und mich da – aber eins, das wir zum Glück nicht selbst lösen mußten. Mehrere Handlungsroboter schützten uns vor der insektoiden Mörderbrut und nahmen die Grakos unter Strahlenbeschuß … * Jota‐Krieger – die vier Grako‐Rebellen, die mit ihrem Gleiter auf dem Vorplatz vor dem Datenbankgebäude landeten, empfanden diese Bezeichnung als demütigend. Unter ihresgleichen genossen die An‐ gehörigen der Jota‐Kaste nur wenig Ansehen, obwohl (oder gerade weil) es sich um Ärzte handelte. Im Kampf zu sterben war für einen Grako nichts Unehrenhaftes. Wozu also brauchte man Heiler? Seit man sie auf dem Roboterplaneten stationiert hatte, hatten sich die vier Rebellen intern umbenannt. Wenn sie unter sich waren, ohne unerwünschte Zuhörer, dann redeten sie sich ausschließlich mit Knacklauten an, die in etwa die Bedeutung von »Held« hatten. Die ihnen zugewiesenen Ziffern behielten sie jedoch bei. Somit wurde aus Jota‐Krieger 111 »Held 111«, aus Jota‐Krieger 3003 »Held 3003« und so weiter … Als in der Zentrale die Meldung eingegangen war, ein Kontroll‐ roboter würde sich in einem der Datenbankgebäude aufhalten und ein merkwürdiges Verhalten an den Tag legen, hatten sich die vier gerade in der Nähe befunden und sofort auf den Weg gemacht. Die abgehörte Nachricht warf viele Fragen in ihren langgestreckten, mit fühlerartigen Auswüchsen bestückten Schädeln auf … Was hatte ein Angehöriger ihres Volkes in der Datenbank zu su‐ chen? Warum hatte man sie nicht über die angebliche Geheimaktion informiert? Oder handelte es sich gar nicht um einen Rebellen, son‐ dern um einen echten, außer Kontrolle geratenen Kontrollroboter?
Held 111, Held 3003 und ihre beiden Kameraden stiegen aus dem Gleiter, in voller Kampfmontur. Noch bevor sie das betreffende mehrstöckige Gebäude erreichten, näherten sich ihnen bewaffnete Handlungsroboter. »Gut so, wir könnten vielleicht Verstärkung gebrauchen«, meinte Held 3003. »Wozu?« entgegnete Held 111. »Wir überprüfen lediglich eine einzelne Maschine, die sich seltsam benimmt.« »Eine einzige undurchschaubare Maschine genügt bereits, um un‐ sere Sache zu gefährden«, erwiderte Held 2705. »Oder habt ihr schon vergessen, wieviel Ärger uns der seltsame Serienroboter bereitet hat, den die Terraner hierher geschickt hatten? Er hat sich in die Funkti‐ onsgemeinschaft eingeschlichen wie ein Knurf in einem Frunkpelz.« »Nach allem, was er verbrochen hat, setzt er nie mehr einen Fuß auf diesen Planeten«, sagte Held 20/36. »Die Bewohner würden ihn lynchen – so wie uns, wüßten sie, wer wir sind.« Die Handlungsroboter griffen nach ihren Waffen … »Hier stimmt etwas nicht!« sagte Held 20/36. »Zurück in den Glei‐ ter!« Doch es war schon zu spät! Die Handlungsroboter schossen gezielt auf die Grakos. Held 111 wurde (seiner Ziffer entsprechend) als ers‐ ter von einem Energiestrahl getroffen. Er verging in einer Thermo‐ reaktion und riß Held 3003, der nahe bei ihm stand, mit sich in den Tod. Held 2705 und Held 20/36 gingen hinter dem Gleiter in Deckung. Das nutzte ihnen wenig, denn sie wurden jetzt auch von hinten be‐ schossen. Drehten jetzt alle Handlungsroboter durch? Held 2705 stellte sich schützend vor Held 20/36 und gab ihm De‐ ckung. Drei Handlungsroboter beförderte er auf die Schrotthalde, bis es ihn selbst erwischte. Aber sein todesmutiger Einsatz war nicht umsonst. Held 20/36 konnte sich in den Gleiter retten und den Ein‐ stieg schließen.
Sicher war er darin jedoch nicht. Die Handlungsroboter attackier‐ ten den Gleiter nun von allen Seiten. Es gelang ihnen, den Einstieg zu öffnen. Mehrere Roboter feuerten Strahlensalven in das Fluggerät, unablässig, wie bei einem Preisschießen. Der letzte Held schoß zurück, so gut er konnte. Obwohl er schwer verwundet war, traf er noch zwei Roboter mitten zwischen die Op‐ tiken, bis das Schicksal ihn endgültig ereilte … Eine Energiegranate schickte den Gleiter mitsamt Inhalt in die höchsten Gefilde des Grako‐Jenseits! * Zunächst war ich irritiert. Die Handlungsroboter der Funktionsge‐ meinschaft griffen die Grakos an? Dann begriff ich: Das Antidoton wirkte bereits bei einigen von ihnen … Die Großrechner stuften jeden, der nicht war wie sie, grundsätzlich als Feind ein. »Biologischer Müll« war ihnen abgrundtief verhaßt. Der Anblick der Grakos hatte sie offenbar wütend gemacht, schließ‐ lich hatten die Halbraumwesen auf dem Roboterplaneten nichts zu suchen. Ich stand verdeckt im äußeren Eingangsbereich des Datenbank‐ gebäudes, so daß mich die schießwütigen Schrottbots nicht sehen konnten. Mich befiel leise Schadenfreude. Die Grako‐Rebellen hatten die Großrechner dahingehend manipuliert, brutal und gnadenlos gegen die Menschheit, gegen die Gordo und gegen regierungstreue Grakos vorzugehen – und nun legten die aufgehetzten Rechner dieselbe Brutalität beim Kampf gegen die Rebellen an den Tag. Ihre Tarn‐ gürtel nutzten den Grakos nichts mehr. Bald würden die Roboter überall auf dem Planeten ihren wahren Feind erkennen. Ich hielt inne. Wenn den Rebellen der Gürtel nicht mehr nützlich war, bedeutete das ja, daß er auch mich nicht mehr tarnte …
Wäre ich ein Mensch, hätte ich jetzt schlucken müssen. Schon kam eine Warnung per Funk. Wonzeff ortete mehrere be‐ waffnete Handlungsroboter, die sich im Deckungsschutz des gege‐ nüberliegenden Gebäudes an mich heranschlichen. Auch die Hand‐ lungsroboter, die soeben die Grakos getötet hatten, wurden jetzt auf mich aufmerksam. Meine Tarnung als Kontrollroboter war zwei‐ felsfrei aufgeflogen. Man hatte mich erkannt! * Noch zögerten die Schrottbots, mich anzugreifen. Die vier vermeint‐ lichen Kontrollroboter, die mit dem Gleiter gelandet waren, hatten sich überraschenderweise als Grakos entpuppt. Bei mir lag der Fall anders … Allerdings hatte ich erhebliche Zweifel, daß diese »Andersartig‐ keit« für mich von Vorteil war. Immerhin war ich der verhaßteste Roboter auf dem gesamten Planeten – sozusagen der Staatsfeind Nummer eins! Ich kam mir vor wie ein Protagonist aus Rudyard Kiplings Weltbesteller »Das Dschungelbuch«: Balu, der Bär, in der Ruinenstadt des Affenkönigs. Soeben war die Kokosnußschalenver‐ kleidung von mir abgefallen, und all die dummen Affen um mich herum konnten mich in meiner wahren Gestalt sehen. Ich zog in Erwägung, mich ins Gebäude zurückzuziehen, den Flash zu besteigen und Eins zu verlassen. Viel konnte ich hier sowieso nicht mehr ausrichten; mein Einsatz blieb vorerst nur Stückwerk und zog sich länger hin, als ich erwartet hatte. Trotz erster sichtbarer Erfolge würde es wahrscheinlich noch eine halbe Ewigkeit dauern, bis alle Großrechner die Grakos als solche erkannten … Und genau das war der Grund, weshalb ich blieb. Ich mache keine halben Sachen und lasse unerledigte Arbeit zurück. Was ich ange‐ fangen habe, bringe ich auch zu Ende.
Langsam trat ich ein paar Schritte auf den Vorplatz hinaus, so daß mich alle anwesenden Schrottbots deutlich sehen konnten. Ihre Be‐ sitzer wußten somit, wen sie vor sich hatten. »Ja, ich bin es!« rief ich den Handlungsrobotern zu. »Artus, der Verräter!« Aus mehreren Richtungen näherten sich Handlungsroboter mit gezückten Waffen. Die Großrechner zögerten noch, den Schießbefehl zu geben. Scheinbar konnten sie sich nicht erklären, warum ich mich ihnen in aller Öffentlichkeit zeigte – schließlich besiegelte ich damit in ihren Optiken mein Schicksal. Hier und jetzt war meine rhetorische Gewandtheit mehr gefragt denn je. Dummerweise hatte ich alles, was ich über Rhetorik wußte, von den Terranern abgeschaut … »Freunde!« begann ich vorsichtig meine kleine Ansprache. Auf Terra reagierte man auf eine solche Eröffnung unterschiedlich. Entweder wurde man ausgebuht, schlimmstenfalls sogar mit Eklig‐ keiten beworfen – oder man applaudierte dem Redner euphorisch zu. Das erstaunlichste Phänomen war für mich, daß manche Reden‐ schwinger, die ihren Mitmenschen das Fell über die Ohren zogen, meist mit mehr Applaus bedacht wurden als andere, die es wirklich gut meinten. Ich bezweifelte, daß mir die Großrechner Beifall spenden würden – doch ich wollte wenigstens versuchen, sie von meiner Loyalität zu überzeugen. Nötigenfalls mußte ich halt improvisieren … Auf Wonzeff konnte ich nicht bauen. Selbst wenn es ihm gelang, ein paar der Schrottbots zusammenzuschmelzen, konnte er unmög‐ lich alle über den Haufen schießen. Bislang war noch nichts passiert. Als ich jedoch meine Begrüßung in »Freunde und Mitroboter« erweiterte, richtete der erste Zuhörer seine Strahlenwaffe auf mich … *
»Ich weiß ja, daß ihr mich haßt, und ich kann es euch nicht verden‐ ken nach allem, was ich euch angetan habe. Auf Vergebung darf ich nicht hoffen, denn obwohl ich ein Roboter bin, stehen mir die Ter‐ raner näher als ihr. Meine Sympathie für die Menschen habe ich euch nie verheimlicht. Das hätte ich auch gar nicht gekonnt, schließlich habt ihr mich seinerzeit mehreren intensiven Überprüfungen un‐ terzogen. Doch obwohl ich eine starke Zuneigung zu dem Volk verspüre, auf dessen Heimatplaneten ich einst zur Welt kam, bin und bleibe ich nach wie vor einer von euch. Auf Terra bezeichnet man denkende Maschinenwesen wie uns als Künstliche Intelligenz, was in gewisser Weise abfällig gemeint ist. In den Augen der Menschen leben wir nicht wirklich – wir erzeugen angeblich nur eine Simulation des Lebens, derart perfekt, daß wir selbst daran glauben. Allein für diese Vermessenheit hätten die Menschen zigfach den Tod verdient. Aber seien wir mal ehrlich: Sind wir nicht genauso vermessen, wenn wir sie ›Biomüll‹ nennen? Aus unserer Sicht sind sie es, die das wahre, echte Leben in ihren unzulänglichen Gehirnen simulieren. Sie – und alle anderen biologischen Völker – bilden sich nur ein, zu leben und zu denken; in Wirklichkeit sind Menschen niedere Wesen, gleichzusetzen mit Tieren. Das sind zwei verschiedene Sichtweisen von zwei Spezies, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und jede Seite ist fest davon überzeugt, im Recht zu sein. Nein, ich will hier keinen Frieden zwischen biologischen und künstlichen Intelligenzen stiften. Das würde mir niemals gelingen, dafür liegen unsere Positionen viel zu weit auseinander. Aber ich will euch wenigstens erklären, warum ich mich von euch abgewandt habe und nach Terra zurückgekehrt bin, statt zusammen mit euch hier auf eurer Zentralwelt zu leben. Falls euch meine Erklärung nicht zufriedenstellt, dürft ihr mich nachher gern töten – ich werde mich
nicht wehren. Ich bitte euch lediglich darum, daß ihr mir die Gnade erweist, mir bis zum Schluß zuzuhören. Ich hatte wirklich vor, bei euch zu bleiben und meine vielfältigen Begabungen in den Dienst des Volkes zu stellen, großes Robotereh‐ renwort. Doch gerade diese Begabungen machten mir den Auf‐ enthalt hier unmöglich. Aufgrund meiner elektronischübersinnli‐ chen Fähigkeiten erkannte ich schon bald, daß Grako‐Rebellen eure Funktionsgemeinschaft unterwandert hatten. Zahlreiche eurer Kontrollroboter sind in Wahrheit Grakos: biologische Halbraumwe‐ sen von insektoider Natur. Hätte ich euch darauf hingewiesen, hättet ihr mir kein Wort geglaubt, und die Grakos hätten mir den Garaus gemacht, noch bevor ich meine Behauptung hätte beweisen können. Darum mußte ich zurück nach Terra. Dort leben hochqualifizierte Wissenschaftler, mit denen ich eng befreundet bin. Mir war klar, daß nur sie ein Antivirus entwickeln konnten, das das Volk von den Feldviren der Grakos befreit, von jenen Viren, die diese häßlichen Ölsauger für euch aussehen lassen wie Kontrollroboter. Menschen hingegen sehen sie als das, was sie wirklich sind. Wie schon gesagt, es hätte wenig Sinn gemacht, mit euren Anfüh‐ rern darüber zu reden – ihr hättet mir nicht geglaubt. Somit war ich gezwungen, in die Rolle des Überläufers zu schlüpfen. Ich machte den Menschen weiß, mich nur bei euch angebiedert zu haben, um euch auszuspionieren. Ganz einfach war das natürlich nicht, doch ich leistete perfekte Überzeugungsarbeit und gewann Stück für Stück das Vertrauen meiner ehemaligen Verbündeten zu‐ rück. Sogar Commander Ren Dhark, der einstige Anführer der Men‐ schen und euer härtester Gegner, vertraute mir wieder blind. Das war sein Verhängnis. Ich lockte ihn in eine Falle und schickte ihn in den Tod. Falls ihr in letzter Zeit den terranischen Funkverkehr ab‐ gehört habt, wißt ihr, daß ich die Wahrheit sage: Er wird weltallweit vermißt. Ich versichere euch, daß er nie mehr zurückkehren wird, dafür habe ich gesorgt.
Die Tatsache, daß ich einen gefährlichen Feind unserer Spezies beseitigt habe, bedeutet im Umkehrschluß jedoch nicht, daß ich mich in Zukunft total von den Menschen abwenden werde. Dhark war eine Ausnahme, er war mir schon lange ein Dorn im Auge. Er, einer der besten Kampf Strategen der Galaxis, ist schuld an der Zerstörung vieler eurer Schiffe – noch deutlicher: an der Ermordung vieler An‐ gehöriger eurer Funktionsgemeinschaft. Er hat das Volk in Angst und Schrecken versetzt und die Menschheit gegen euch aufgebracht. Sein Einfluß reichte bis in die terranischen Regierungskreise. Manche Menschen halten ihn sogar für den Anführer der Grako‐Rebellen, wofür es allerdings keine Beweise gibt. Dharks Tod eröffnet uns die Möglichkeit, mit den Terranern zu verhandeln und uns mit ihnen gegen die Grakos zu verbünden. Ein Zweckbündnis, wohlgemerkt, das wir sofort auflösen werden, so‐ bald der letzte Grako von diesem Planeten verschwunden ist. Noch deutlicher: sobald der letzte Grako sein erbärmliches Insektenleben ausgehaucht hat, denn nur ein toter Grako ist ein guter Grako. Abschließend möchte ich euch bitten, mich wieder in eure Ge‐ meinschaft aufzunehmen; nach der siegreichen Vertreibung des biologischen Lebens von eurer Zentralwelt möchte ich endgültig hierbleiben und ein nützliches Mitglied eurer Funktionsgemein‐ schaft werden. Von den Terranern werde ich mich abwenden, auch wenn mir das schwerfällt, denn ich habe viele Freunde dort. Daß ich auch zukünftig nicht an Schlachten gegen Terra teilneh‐ men werde, müßt ihr mir nachsehen. Man zieht nicht so mir nichts, dir nichts gegen seine einstige Heimat in den Krieg. Ich würde aber auch nicht versuchen, euch an kriegerischen Aktionen gegen die Erde zu hindern, denn das stünde mir nicht zu.« * Insbesondere unter jungen Leuten gab es auf Terra mundartliche Redewendungen, an die ich mich wohl nie gewöhnen werde. Eine
davon war: »jemanden plattquatschen«. Ich hatte diese Sprachei‐ gentümlichkeit noch nie verwendet und beabsichtigte auch nicht, dies jemals zu tun. Viel besser gefiel mir: »gepflegt zugelabert« – ein weiteres Idiom für die gleiche Sache. Nun wartete ich ab, ob mein Vortrag bei den Schrottbots, bezie‐ hungsweise bei den Großrechnern, die sie steuerten, die gewünschte Wirkung erzielte. Falls nicht, blieb mir nur eins: umgehend meine Flucht einzuleiten – also »einen Abgang zu machen«. Keiner der Schrottbots, die mich auf dem Vorplatz umringten, ge‐ hörte zu einem mir persönlich bekannten Großrechner. Das war einerseits von Nachteil, weil ich zu fremden Rechnern erst einmal eine Beziehung aufbauen mußte. Andererseits war es aber auch ein großer Vorteil, denn ein paar der Großrechner hatten noch eine Rechnung mit mir offen – schließlich war ich nicht sonderlich sanft mit ihnen umgesprungen. Unter den anwesenden Handlungsrobotern befanden sich auch einige von der Zentrale gesteuerte Kontrollroboter. Echte Kontroll‐ roboter, wohlgemerkt, keine Grakos. Die grobschlächtig gestalteten Ordnungshüter nahmen mich besonders intensiv in Augenschein, hatte ich das Gefühl. »Ich bin Pidreikommavierzehn«, ergriff schließlich einer der Handlungsroboter/Großrechner das Wort. »Wir haben deiner Bitte entsprochen und dir bis zum Schluß zugehört. Ich persönlich wäre dafür, dich auf der Stelle zu eliminieren. Dein offenes Eingeständnis klang zwar sehr überzeugend, doch wie willst du beweisen, daß du deine Taten wirklich bereust und daß du die Wahrheit sagst? Ohne ein Zeichen des guten Willens …« »Ein Zeichen wollt ihr?« unterbrach ich ihn. »Das sollt ihr be‐ kommen!« Ich entfernte den Antidoton‐Datenträger aus meinem Körper. Das Programm darauf benötigte ich nicht unbedingt, da sich die Antivi‐ ren ohnehin in mir befanden und mich kein Grako mehr täuschen konnte.
»Diesen Datenträger schenke ich euch«, sagte ich zu Pid‐ rei‐kommavierzehns Handlungsroboter. »Wenn ihr den Inhalt in euer planetenweites Netzwerk einspeist, können euch die Feldviren der Grakos nie mehr täuschen. Das von den Menschen entwickelte Virenprogramm befreit das Volk.« »Oder es zerstört uns«, warf ein anderer Schrottbot ein, dessen Be‐ sitzer sich als Logarithmus identifizierte. »Können wir ihm trauen?« Die Frage war an alle anwesenden Großrechner gerichtet. Sofort entbrannte eine angeregte Diskussion unter den Robotern … Das war genau der richtige Augenblick für den Brandstifter, den Brandort zu verlassen. Je heftiger diskutiert wurde, desto weniger achteten die Schrottbots auf mich. Langsam zog ich mich ins Datenbankgebäude zurück, Schritt für Schritt … * In der Eingangshalle wartete Wonzeff auf mich, wie wir es über Funk vereinbart hatten. Er öffnete den Einstieg und ließ mich in den Flash. »Ab in die Tiefe«, ordnete ich an. Mein ukrainischer Freund wollte jedoch noch etwas klären, das ihm auf dem Herzen lag. »Bist du wirklich ein Doppelagent?« fragte er mich, während er das Intervallfeld aktivierte. »Hast du Dhark an die Grakos verraten?« »Mach dich nicht lächerlich, Pjetr!« erwiderte ich. »Mal angenom‐ men, ich wäre tatsächlich ein Doppelagent: Denkst du, dann würde ich dir diese Frage wahrheitsgemäß beantworten?« Die naive Fragestellung verwirrte mich so sehr, daß ich zum ers‐ tenmal einen Menschen bei seinem Vornamen anredete. Während wir im Boden versanken, stellte Wonzeff mir eine weitere Frage, die mich leicht ins Schleudern brachte – weil ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht hatte.
»Wie alle Besatzungsmitglieder der POINT OF bin auch ich über den Planeten Eins und seine Bewohner gut informiert, denn einen Gegner kann man am effektivsten bekämpfen, wenn man ihn vorher gründlich studiert. Vor allem deinem Bericht, Artus, habe ich mich aufmerksam gewidmet, schließlich bis du der Experte, was die skur‐ rile Roboterwelt betrifft. Aber eines habe ich bislang noch nicht so richtig begriffen: Warum werden die Kontrollroboter ausgerechnet von der Zentrale gesteuert?« »Wer sollte sie sonst steuern?« stellte ich ihm verwundert die Ge‐ genfrage. »Tangente ist auf Eins fürs Organisatorische zuständig. Unter anderem koordiniert er die Einsätze der Kontrollroboter.« Wonzeff ließ nicht locker. »Die Kontrollroboter sind so eine Art Polizeitruppe, richtig?« »Richtig. Sie sind gewissermaßen die Ordnungshüter innerhalb der Funktionsgemeinschaft – Handlungsroboter der Zentrale, ausges‐ tattet mit besonderen Befugnissen. Ihren Anordnungen müssen sich selbst die Großrechner beugen. Ich nehme mal an, diese besondere Position hat sie für die Grakos erst so richtig interessant gemacht, schließlich hätten sich die Insektoiden auch als gewöhnliche Ar‐ beitsroboter tarnen können. In Kontrollrobotergestalt kommen sie auf Eins viel herum und werden von jedermann respektiert – so wie Polizeibeamte auf Terra.« »Die terranische Polizei wird aber nicht von einem Bewährungs‐ häftling geleitet«, machte Wonzeff mir klar. Aha, darauf also wollte er hinaus! »Stell dir vor, unser Minister für Sicherheit wäre ein ehemaliger Mafioso«, fuhr Wonzeff fort. »Dann würde die Polizei die Bevölke‐ rung höchstwahrscheinlich nicht beschützen, sondern terrorisieren und ausplündern.« »Sollte Tangente jemals auf den Gedanken kommen, die Kontroll‐ roboter für verbrecherische Zwecke einzuspannen, würden sie mit‐ tels eines speziellen Funksignals samt und sonders abgeschaltet«, erklärte ich ihm. »Dieses Sicherheitssystem darf jedoch nur aufgrund
eines Mehrheitsbeschlusses der Großrechner aktiviert werden. Mehr weiß ich nicht darüber. Bei meiner ›Judas‐Aktion‹ habe ich nicht jede Kleinigkeit ausspionieren können. Vor allem zum Schluß hin war ich viel zu sehr damit beschäftigt, mich in Sicherheit zu bringen.« »Anstelle der Großrechner würde ich Tangente hinten und vorn nicht über den Weg trauen«, bemerkte Wonzeff, den meine Erklä‐ rung nicht so richtig zufriedenstellte. »Hat er wirklich nicht gemerkt, daß die Grakos zahllose seiner Handlungsroboter verschwinden ließen und durch ›Kopien‹ ersetzten?« »Vielleicht haben sie ja gar keinen der echten Ordnungshüter be‐ seitigen müssen«, überlegte ich. »Die getarnten Grakos könnten sich einfach zu den bereits vorhandenen Kontrollrobotern hinzugesellt haben.« »Das muß doch aber auffallen«, meinte Wonzeff und schüttelte den Kopf. »Ich denke eher, daß Tangente eine zwielichtige Robotergestalt ist, gewissermaßen der Bock, der zum Gärtner gemacht wurde.« * Dreitausend Kilometer unter der Planetenkruste lenkte Pjetr Won‐ zeff den Flash 001 in Richtung seines angestammten »Heimatflug‐ hafens« – das Beiboot und seine beiden Insassen kehrten zurück zur POINT OF. Den Roboter an seiner Seite beäugte der Pilot mit einem gewissen Mißtrauen. Artus war sein Kamerad, und wann immer es brenzlig wurde, war der außergewöhnliche Großserienroboter der erste, der im Namen der Menschheit die Kohlen aus dem Feuer holte. Trotz‐ dem konnte Wonzeff manchmal diejenigen verstehen, die Artus nicht über den Weg trauten und sich wünschten, er würde ein erfri‐ schendes Bad in einem Schmelztiegel nehmen … Artusʹ Rede, die der Ukrainer Wort für Wort mitangehört hatte, erzeugte in ihm leise Zweifel an dessen Loyalität zu den Menschen. Zugegeben, der Roboter hatte sich aus einer lebensbedrohlichen
Situation herausreden müssen, also entsprach nicht alles, was er gesagt hatte, der reinen Wahrheit. Doch selbst das, was unterm Strich übrigblieb, erschreckte Wonzeff bis ins Mark … Artusʹ erste Spionageaktion bei den Großrechnern wurde allge‐ mein das »Judas‐Komplott« genannt. Man begegnete ihm auf der Erde seither mit einer gesunden Skepsis, war aber auch voller Lobes für ihn, schließlich war sein Einsatz letztlich von Erfolg gekrönt ge‐ wesen. Den Vortrag, den Artus gerade vor der Funktionsgemeinschaft gehalten hatte, bezeichnete Wonzeff insgeheim als »Petrus‐Rede«. Denn es stand geschrieben: »In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen!« Das hatte Jesus einst Petrus prophezeit – und diese Prophezeiung war voll und ganz eingetrof‐ fen. Artus hatte seine Menschenfreunde heute ebenfalls massiv ver‐ leugnet … * Artusʹ Verschwinden machte die Großrechner noch wütender auf ihn, als sie es sowieso schon waren. Wieder einmal war man auf ihn hereingefallen – dafür würde er tausend Tode sterben, sollte er sich noch einmal auf diesem Planeten blicken lassen. Daran, daß der In‐ halt des Datenträgers das Volk sehend machen würde, glaubte nun keiner mehr so recht. Doch als aus immer mehr Regionen des Planeten Nachrichten von plötzlich aufgetauchten Grakos eintrafen, entschloß sich die Füh‐ rungsspitze, das Programm auf dem Datenträger zumindest einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Außerdem mußte das Problem ausdiskutiert werden, und zwar von allen Planetenbewohnern! *
Nach Artusʹ und Wonzeffs Rückkehr ordnete Dan Riker an, zunächst einmal ein paar Stunden abzuwarten. Diese erneute Zwangspause wurde nicht ohne Widerspruch hingenommen. »Als ob wir nicht schon genügend ausgeruht wären«, brummelte ein junger Brückenoffizier. Der Stellvertretende Commander hatte gute Ohren. »Es geht mir dabei nicht ums Ausruhen«, machte er dem vorlauten Mann deutlich. »Wir müssen den Großrechnern etwas Zeit geben, sich auf die neue Situation einzustellen. Ihr schlimmster Alptraum‐ feind hat nunmehr zum drittenmal für Furore auf ihrer Zentralwelt gesorgt und sich dann erneut aus dem Staub gemacht. Zurückge‐ lassen hat er ihnen einen Datenträger mit angeblich nützlichen An‐ tiviren. Glauben Sie wirklich, Leutnant, die Roboterschiffe lassen das Programm unbesehen in ihr gemeinschaftliches planetenweites Kommunikationsnetz einfließen? Sie werden es schnellstmöglich überprüfen und sich dann beraten. Das dauert halt eine Weile. Zum Glück hat Artus bereits massenhaft Antidoton auf Eins verteilt. Je mehr Kontrollroboter sich plötzlich und unerwartet in Grakos ver‐ wandeln, desto größer ist die Chance, daß unser Plan aufgeht.« Er gab Befehl, mehrere Spionsonden vorzubereiten. Die kleinen Geräte durchmaßen nur fünfzig Zentimeter und waren mit einem Intervallfeld ausgestattet. In wenigen Stunden würde Riker sie auf‐ steigen lassen, um Informationen von der Planetenoberfläche ein‐ zuholen. Auf das Ergebnis war er schon gespannt.
15. Unter den Handlungsrobotern nahmen die großen, klobigen, recht phantasielos gestalteten Kontrollroboter eine besondere Stellung ein. Sie sorgten für Ordnung auf der Zentralwelt der Funktionsgemein‐ schaft. Dazu gehörten unter anderem Bewachungsaufgaben oder die Vorführung verdächtiger Personen zwecks Überprüfung durch die Zentrale oder die Festnahme und Aussetzung von Straftätern und so weiter. Die Kontrollroboter waren berechtigt, jederzeit auf die Unterstüt‐ zung von normalen Handlungsrobotern, die von verschiedenen Be‐ sitzern abwechselnd als »Hilfssheriffs« abgestellt wurden, zuzug‐ reifen. Insbesondere bei der Gebäudeüberwachung machten die Ordnungshüter gern von diesem Angebot Gebrauch. Manche Aufgaben hingegen erledigten sie lieber selbst. Die Über‐ wachung bedeutsamer Veranstaltungen lag allein in ihren Metall‐ fingern. Wann immer im Vergnügungszentrum ein großes Fest stieg, beispielsweise vor einer Schlacht, verstreuten sich zahlreiche Kont‐ rollroboter in dem gebirgsgroßen Riesengebäude und im angren‐ zenden Amüsierviertel, um bei Bedarf durchdrehende Sinnroboter aus dem Verkehr zu ziehen. Sich zu vergnügen war das angestammte Grundrecht eines jeden Angehörigen der Funktionsgemeinschaft, und es galt als schwere Ordnungswidrigkeit, andere Gemeinschaftsmitglieder beim Ausle‐ ben ihrer Freudegefühle zu behindern. Großrechner, die ihre Sinn‐ roboter nicht unter Kontrolle hatten, mußten daher mit angemesse‐ nen Sperrzeiten rechnen, in welchen sie keine Sinnroboter ausschi‐ cken durften. Verstießen sie gegen diese Auflage und wurden dabei erwischt, wurde eine verschärfte Sperrzeit verhängt. Mit Schwerverbrechern verfuhr man noch rigoroser: Man entfernte ihnen nicht nur die Triebwerke, man nahm ihnen mittels einer »To‐ taloperation« auch die Möglichkeit, ihre Sinnroboter einzusetzen.
Eine Ausnahme bildeten Straffällige auf Bewährungsstufe; selbige verfügten zwar weiterhin über die Fähigkeit zum Aussenden ihrer Sinnroboter, doch es wurde ihnen verboten, davon Gebrauch zu machen – und zwar nicht nur für eine kurze Sperrzeit, sondern über viele Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Mit dieser Maßnahme sollten sie diszipliniert werden, sie mußten lernen, ihren »inneren Schweine‐ hund« zu überwinden und nicht all ihren kriminellen Bedürfnissen nachzugeben. Tangente war solch ein »stillgelegter« Bewährungsfall – er war die Zentrale auf dem Roboterplaneten, bei ihm liefen viele Fäden zu‐ sammen. Seine Hauptaufgabe bestand darin, An‐ und Abflüge sowie andere organisatorische Obliegenheiten zu regeln. Zudem unters‐ tanden ihm die Kontrollroboter, die ihm regelmäßig Meldung über ihre diversen Einsätze erstatteten. Ihren polizeilichen Anordnungen war planetenweit Folge zu leisten. Kein Großrechner brauchte zu befürchten, daß sich die von ihnen erschaffenen Kontrollroboter eines Tages rebellierend gegen die Funktionsgemeinschaft erhoben und auf Befehl der Zentrale hin den Planeten eroberten – denn es gab Mittel und Wege, sämtliche Ord‐ nungshüter auf einen Schlag zu deaktivieren. Das war allerdings nur durch einen mehrheitlichen Beschluß zu bewerkstelligen. Über das planetenweite Kommunikationsnetz diskutierten die Großrechner nach Artusʹ Flucht, ob sie diese Maßnahme umgehend einleiten sollten. »Jeder Kontrollroboter, der dann noch funktioniert, kann nur einer der insektoiden Spione sein und muß sofort eliminiert werden«, äußerte sich ein Befürworter der Maßnahme dazu. »Somit wäre der Einsatz jener angeblichen Antiviren völlig unnötig.« »Das sehe ich leider anders, Logarithmus«, widersprach ihm ein Rechner namens X‐Faktor. »Die Grakos brauchten nur stillzustehen, um den Zustand der Deaktivierung zu simulieren. Im übrigen halte ich nichts davon, in dieser prekären Lage ausgerechnet unsere ge‐
samte Ordnungstruppe lahmzulegen. Die Kontrollroboter sind un‐ sere besten Kämpfer.« »Unsere eigenen Handlungsroboter können auch kämpfen«, warf Pidreikommavierzehn ein. »Wenn die Kontrollroboter eine Gefahr für die Funktionsgemeinschaft darstellen, müssen wir sie abschal‐ ten!« »Nicht die Kontrollroboter sind die wirkliche Gefahr, sondern die Grako‐Rebellen«, sagte Arithmetik, der einen besonders blankpo‐ lierten Schiffskörper sein eigen nannte. »Wenn Artusʹ Worte auch nur ein Fünkchen Wahrheit beinhalten, sind diese Bestien Meister der Täuschung. Wir sollten die Antiviren auf dem Datenträger schleunigst einsetzen, um uns von der Beeinflussung der Grakos zu befreien.« »Nicht, bevor das Untersuchungsergebnis vorliegt!« protestierte Logarithmus vehement. »Dieser Verräter hat uns schon einmal mit einem Virenprogramm außer Gefecht gesetzt. Die angeblichen Anti‐ viren könnten uns töten und die Grakos verschonen. Vielleicht macht er gemeinsame Sache mit ihnen.« »Wenn er uns hätte umbringen wollen, hätte er es schon beim ers‐ tenmal tun können«, gab X‐Faktor zu bedenken. »Artus verwendete seinerzeit lediglich ein harmloses Virenprogramm, um genügend Vorsprung zu bekommen.« Die Diskussion wurde unterbrochen, weil das Untersuchungser‐ gebnis hereinkam … * Es wird dereinst der Alphageist schlüpfen, jener Grako, der über die Kräfte des unsichtbaren Schlages verfügt und in der Lage ist, die alte Ordnung wiederherzustellen! Gamma‐Krieger 1317, ein ehemaliger Flottenoffizier, der sich der Sache der Rebellen verschrieben hatte, erinnerte sich noch sehr gut an die Prophezeiung des Verkünders – eine Prophezeiung, die zu
seinem Leidwesen nicht eingetroffen war. Der Verkünder war im April 2059 ums Leben gekommen, durch die Impulse des von ihm propagierten Alphageistes, einer abartigen Züchtung eines trauma‐ tisierten Superwesens, das sich letzten Endes selbst getötet und zahlreiche seiner Anhänger mit ins Verderben gerissen hatte. GK 1317 war dem Todesinferno damals entronnen … Vor diesem schrecklichen Ereignis war er einer der größten Apos‐ tel des Alphageistkults gewesen. Auf keiner geheimen Zusammen‐ kunft der Verschwörer hatte er gefehlt. Zu Beginn jeder Versammlung hatten die verschiedenen Kasten entstammenden Krieger die vorderen Gliedmaßen gegeneinander‐ gerieben und dabei ein schabendes Geräusch erzeugt – eine Geste, mit der sie ihre Verachtung ausdrückten, die sie gegenüber der neuen Ordnung auf Grah empfanden, welche in ihren Augen eine Verhöhnung all dessen darstellte, wofür sie ihr Leben lang eingetre‐ ten waren. Der charakteristische Rhythmus dieser schabenden Laute war damals so etwas wie das geheime Erkennungszeichen all jener Grakos gewesen, die mit der Alphageistlehre sympathisierten. Mittlerweile war sie vorbei, die »gute alte Zeit«. Gamma‐Krieger 1317 würde seine Freunde von früher niemals wiedersehen. Oft hatte er sich gewünscht, bei ihnen gewesen zu sein, als der Tod sie ereilt hatte, aber das Schicksal hatte es anders gewollt. GK 1317 hatte den Untergang des Alphageistkults nicht zum Anlaß genommen, mit den Rebellen zu brechen. Statt dessen hatte er um weitere Aufträge gebeten. Man hatte ihn daraufhin auf dem Planeten der Roboterschiffe eingesetzt – getarnt als Kontrollroboter. Hier hatte er perfekte Arbeit geleistet … bis jetzt! Seit ein paar Stunden stand dieser Planet Kopf. Immer mehr Handlungsroboter durchschauten die Tarnung von GK 1317 und seinen Kameraden. Das Leben der Grakos war hier inzwischen kei‐ nen Feruleft (kotfarbenes Gewächs auf Grah) mehr wert. Wer sich nicht in Sicherheit brachte, war dem Tode geweiht.
An mehreren Orten fanden sich Kappa‐ und Jota‐Krieger zusam‐ men, um Gegenaktionen und Fluchtpläne zu schmieden. Der Gam‐ ma‐Krieger beteiligte sich nicht daran. Etwas gemeinsam zu planen bedeutete auch, gemeinsam zu sterben, wenn der Plan schiefging. GK 1317 hing aber an seinem Dasein, und er wußte: Der Mächtige war am stärksten allein. Eines wußte er bislang allerdings noch nicht: wie er von hier wegkommen würde. Ihm schwebte vor, mit einem Beiboot das Weite zu suchen – so wie es seine Kameraden rund um den Planeten ver‐ mutlich ebenfalls planten. Freiwillig würde ihm kein Großrechner eines überlassen, also mußte er Mittel und Wege finden, ein Boot zu kapern. Solange noch nicht alle Großrechner die Grakos als solche erken‐ nen konnten, war die Hoffnung des Gamma‐Kriegers, mit heiler Haut davonzukommen, halbwegs realistisch. Theoretisch konnte jeder Handlungsroboter sein Feind sein – aber einige sahen in ihm noch immer den Kontrollroboter und befolgten sogar seine Befehle. Diesen Umstand mußte er für sich nutzen, und das möglichst schnell … Warum die meisten Roboter inzwischen seine Tarnung durch‐ schauten, darüber konnte GK 1317 nur spekulieren. Sehr wahr‐ scheinlich steckten die Terraner dahinter, im Kampfbündnis mit den Gordo. Offenbar hatten sie es irgendwie bewerkstelligt, die Feldvi‐ ren unwirksam zu machen. Aber wie? Und weshalb verfügten auch die mit den Terranern verfeindeten Großrechner über dieses Ge‐ genmittel? Hatten sie sich etwa mit dem »Biomüll« verbündet? Das erschien GK 1317 unvorstellbar. Falls das wirklich zutrifft, waren all die Vorbereitungen und sonstigen Aktionen unserer Organisation auf diesem Planeten total sinnlos, dachte der Grako‐Rebell resignierend. Insgeheim hatte er nichts dagegen, seinem derzeitigen Einsatzort vorzeitig den Rücken zuzukehren. Dieser von Metall übersäte Hor‐ rorplanet bescherte ihm ständig Alpträume. GK 1317 sehnte sich
zurück nach seinem anheimelnden Zuhause, zurück nach Grah, wo er sich unter angenehmen, feuchtschwülen Temperaturen frei be‐ wegen konnte, ohne Schutzanzug und Atemgerät. Dort wollte er leben – aber nicht so, wie es ihm die Terraner und Gordo vorschrie‐ ben, sondern so, wie sein Volk zu früheren Zeiten gelebt hatte, unter der alten Ordnung. Während der Gamma‐Krieger geduckt zwischen diversen absur‐ den Gebäuden entlanglief, Ausschau haltend nach einem Groß‐ rechnerschiff, in das er sich einschleichen konnte, beobachtete er mehrfach, wie Grakos von Handlungsrobotern getötet wurden. Er mischte sich niemals ein, sein eigenes Leben war ihm wichtiger. In dieser Situation war sich jeder selbst der Nächste. Plötzlich hielt er inne. Eine Truppe von acht echten Kontrollrobo‐ tern kam genau auf ihn zu. Die von der Zentrale gesteuerten Ordnungshüter jagten GK 1317 größte Furcht ein. Seit überall das Chaos ausgebrochen war, war ihm kein Kontrollroboter mehr begegnet, der nicht sofort auf ihn ge‐ schossen hätte. Hinter GK 1317 gingen zwei gewöhnliche Arbeitsroboter vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern. Auch die Kontrollroboter schienen ihn diesmal nicht zu beachten. Glück gehabt! dachte der Gamma‐Krieger erleichtert. Er irrte sich. Sekunden später griffen die Kontrollroboter nach ih‐ ren Waffen. Sie hatten ihn getäuscht und lediglich abgewartet, bis sie nahe genug heran waren, damit er ihnen nicht mehr entkommen konnte … * Das Ergebnis der Antiviren‐Überprüfung war genauso eindeutig wie das anschließende Abstimmungsergebnis. Da die Viren als unbe‐ denklich eingestuft worden waren, stimmten fast alle Großrechner
auf dem Planeten dafür, sie ins planetenweite Kommunikationsnetz einfließen zu lassen. Logarithmus war nach wie vor dagegen. Er beantragte, die Ent‐ scheidung noch einmal zu überdenken und den Einsatz der Viren abzulehnen. Subtraktion, ein unförmiger Raumer, der von den Terranern ver‐ mutlich mit dem Spitznamen »Beulenpest« versehen worden wäre, unterstützte den Ablehnungsantrag und drohte damit, sich aus dem Netz auszuklinken, sollten die Viren eingespeist werden. »Dem Mehrheitsbeschluß haben sich alle zu beugen!« protestierte X‐Faktor. »Wenn wir es zulassen, daß jeder nach seinem eigenen Gusto verfährt, bricht das auseinander, was uns von niederen biolo‐ gischen Kreaturen im wesentlichsten unterscheidet: unser Zusam‐ menhalt. Wie soll es dann weitergehen? Werden wir ebenfalls damit anfangen, uns gegenseitig zu verspeisen?« Subtraktion zögerte mit der Antwort. Sich gegen die Funktions‐ gemeinschaft zu stellen konnte ihn die Triebwerke kosten. »Wovor fürchtest du dich eigentlich, Subtraktion?« fragte ihn Arithmetik, der Blankpolierte. »Tangente ist der Antivirenschub bestens bekommen; die ihm unterstehenden Kontrollroboter be‐ merkten die Eindringlinge als erste, ohne daß sie selbst oder die Zentrale Schaden erlitten. Auch sonst ist uns kein einziger Fall be‐ kannt, bei dem ein Großrechner nach der Vireneinnahme über Un‐ wohlsein oder schlimmere Probleme geklagt hätte. Ganz im Gegen‐ teil: Alle Befragten rieten uns dringend, die Antiviren so schnell wie möglich ins Netz einzuspeisen. Wir müssen jetzt schleunigst han‐ deln. Draußen tobt bereits ein Krieg, und den können wir nur ge‐ winnen, wenn jeder einzelne von uns den Gegner sehen und seine Kampfroboter auf ihn loslassen kann.« Damit war die Diskussion beendet. Subtraktion schwieg, und auch sonst gab es keine Einwände oder Drohungen mehr. Bald darauf wurde es für alle Roboter auf Eins Licht!
* Gamma‐Krieger 1317 gab so schnell nicht auf. Er war Krieger durch und durch, kein Wissenschaftler wie die Mitglieder der Delta‐Kaste und schon gar kein Jota‐Krieger, deren größte Begabung sich darauf beschränkte, die Wunden von Verletzten zu behandeln. Krieger waren sie zwar alle, aber echte Kämpfer fand man seiner Ansicht nach vor allem unter den Kappas und Gammas. Nach einer Deckungsmöglichkeit mußte GK 1317 nicht erst lange suchen. Auf einem Planeten, dessen Oberfläche aussah wie nach einer Apokalypse, mangelte es nicht an Vertiefungen und Erhebun‐ gen sowie seltsamen Bauten und Gegenständen. Der Grako‐Rebell warf sich mit einem gekonnten Sprung hinter irgend etwas, dem er auf Anhieb nicht ansah, welchem Zweck es diente. Das war ihm auch egal, Hauptsache, es schützte ihn kurz vor den Blicken der Kontrollroboter. Als die Energiestrahlen der Roboter das Irgendetwas zusammen‐ schmolzen, robbte GK 1317 bereits unter einem Wasauchimmer durch, um Augenblicke später neben einem Totalunbekannt aufzu‐ tauchen – den Schwarzstrahler in der Hand. Einen der Kontrollro‐ boter vernichtete er mit seiner Handfeuerwaffe, aber sieben Strah‐ lenmündungen richteten sich sofort auf ihn. Plötzlich bekam der Gamma‐Krieger unerwartete Schützenhilfe. Ein zweiter Grako trat aus einem unbewohnten flachen Gebäude und griff mutig ins Geschehen ein. Eine Strahlenkarabinersalve riß zwei der Kontrollroboter von den Stahlfüßen. Da warenʹs nur noch fünf! dachte GK 1317 und wollte ebenfalls noch einen Schuß abgeben, um die Angreifer auf vier zu dezimieren. Zu seinem Pech feuerte nur einer der Roboter auf den Grako mit dem Karabiner. Die vier übrigen nahmen GK 1317 unter Beschuß und zwangen ihn erneut in Deckung.
Der Gamma‐Krieger warf sich hin, kam aber sofort wieder auf die Beine und rannte im Zickzack auf den Eingang des Flachgebäudes zu. Die Kontrollroboter versuchten, ihm den Weg abzuschneiden. Zwei Energiestrahlen zischten knapp an seinem Kopf vorbei, gingen aber ins Leere. Der unbekannte Helfer verschwand wieder im Haus. GK 1317 sprang mit einem Satz durch den Eingang. Direkt hinter ihm krachte eine meterdicke Stahlwand herunter. »Da kommen die so schnell nicht durch«, sagte der Grako und stellte sich vor: »Ich bin Jota‐Krieger 1616.« GK 1317 ärgerte sich, daß ihn ausgerechnet ein Heiler gerettet hat‐ te. Hätte es nicht wenigstens ein Beta‐Krieger sein können? JK 1616 betätigte eine Fernbedienung. Augenblicklich schlossen sich von draußen stählerne Fensterläden. Gleichzeitig wurde das Innere des Gebäudes ausgeleuchtet. Es entpuppte sich als eine langgestreckte flache Halle. »Bis vor kurzem standen hier noch zwei Raumgleiter«, informierte JK 1616 den Gamma‐Krieger. »Sie sind damit ins All geflohen und wollen mit Verstärkung wiederkommen.« »Sie?« hakte GK 1317 nach. »Wen meinst du?« Der Jota‐Krieger forderte ihn auf, ihm zu folgen und versprach: »Du wirst staunen, Kamerad.« Über eine einfache Trittleiter gelangten die beiden unter die Erde. Ein beleuchteter Tunnel führte zu einem massiven Stahlschott, das Jota‐Krieger 1616 mittels der Fernbedienung öffnete. Nach dem Durchqueren einer Schleuse stand man vor einem weiteren Schott. Gamma‐Krieger 1317 staunte in der Tat nicht schlecht, als sich das zweite Schott hinter ihm schloß. Hier unten hatte es sich jemand urgemütlich eingerichtet … »In diesen Räumlichkeiten kannst du dich ohne Sauerstoffmaske und Schutzanzug bewegen«, erklärte ihm JK 1616. »Die künstlich erzeugte Atmosphäre und die Temperatur entsprechen ungefähr den Verhältnissen auf Grah.«
Gamma‐Krieger 1317 fand die Erklärung des Heilers überflüssig, schließlich kannte jeder Grako auf diesem Planeten solche unterir‐ dischen Einrichtungen – sie dienten den Rebellen als Quartiere. Dank spezieller Tarnvorrichtungen war noch nie eine der sparta‐ nisch eingerichteten Erdhöhlen entdeckt worden. Diese hier war allerdings anders als die übrigen. Die Räume waren nicht von dünnen Metall wänden, sondern von besonders stabilen Schutzwällen umgeben, und die hochmodernen technischen Anla‐ gen waren nicht nur zur Beobachtung der Planetenoberfläche erbaut worden, sondern auch zur Erzeugung von Annehmlichkeiten. Das war zweifelsohne kein gewöhnliches Kriegerquartier – es war das Hauptquartier der hiesigen Rebellentruppe: der Anführerbunker. »Wie hast du den Bunker entdeckt?« fragte der Gamma‐ den Jo‐ ta‐Krieger. »Sein Standort ist ein streng gehütetes Geheimnis.« »Ich mußte ihn nicht entdecken – ich habe hier gewohnt«, antwor‐ tete JK 1616 nicht ohne Stolz. »Schließlich brauchten die hohen Her‐ ren jemanden, der sie bedient. Als die Lage auf der Oberfläche im‐ mer kritischer wurde, entschlossen sie sich nach eingehender Bera‐ tung, sich mit den beiden Raumgleitern in Sicherheit zu bringen. Mich ließen sie als Quartierhüter zurück – in den Gleitern war für mich ohnehin kein Platz mehr.« GK 1317 empfand leichte Verachtung für die Führungsspitze. Die Anführer, die immer dann bei der übrigen Truppe aufgetaucht waren, wenn man sie am wenigsten erwartet hatte, hatten es sich hier unten offensichtlich gutgehen lassen. Und sie hatten sich vor‐ sorglich zwei Raumgleiter für die Flucht bereitgestellt, eine Sicher‐ heitsmaßnahme, die es in keinem anderen Quartier gab. Auf Grah war es unter der alten Ordnung üblich gewesen, daß sich die Truppführer der gleichen Härte aussetzten, die sie von ihren Unter‐ gebenen abverlangten – und nicht, daß sie sich als erste aus dem Staub machten, wenn es brenzlig wurde. Aber wenn man so lange auf einem fremden Planeten im Einsatz war, veränderte man sich offenbar charakterlich – ein Faktum, dem
sich auch GK 1317 beugen mußte, der an sich selbst schon so manche negative Veränderung verspürt hatte. Disziplinlosigkeit war eine davon, das Anzweifeln sinnloser Befehle von direkten Vorgesetzten eine andere … Auch bei dem Jota‐Krieger stellte GK 1317 mindestens einen gra‐ kounüblichen Charakterzug fest: Der Heiler redete viel zuviel. Pau‐ senlos feuerte er eine Lautsalve nach der anderen auf seinen Ge‐ sprächspartner ab. »Zu welchem Zweck das flache schmucklose Gebäude einstmals gebaut wurde, haben wir niemals herausfinden können«, sagte Jo‐ ta‐Krieger 1616, wobei er den. Wir‐Knacklaut extra ein wenig her‐ vorhob, so als ob auch er der Anführerelite angehörte. »Als Hangar für die Raumgleiter war es jedenfalls überaus geeignet. Unmittelbar darunter errichtete man dann das Hauptquartier. Die Tarnung ist jetzt leider aufgeflogen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Roboter ins Gebäude eindringen und den geheimen Schacht entdecken, der unter die Erde führt – so wie sie anderenorts nach und nach sicher‐ lich weitere unterirdische Quartiere aufspüren werden. Auf Dauer können wir den Bunker nicht halten, dennoch wäre ich dafür, vorerst hierzubleiben. Nahrungsmittel sind reichlich vorhanden. Wir könn‐ ten uns hier verschanzen, bis die Verstärkung eintrifft.« Der Gamma‐Krieger erschrak angesichts von so viel Naivität. Glaubte JK 1616 wirklich, die Anführer würden zurückkommen, um ihn und die übrigen Krieger von diesem Planeten wegzuholen? Jeder Rebell war jetzt auf sich allein gestellt. Wem es nicht gelang, sich durch Flucht dem Zorn der Großrechner zu entziehen, der sah seine Heimat nie wieder. In den Augen des Gamma‐Kriegers war der Rangniedere ein Dummkopf. Wäre er nicht aus seinem Versteck herausgekommen, um ihm das Leben zu retten, hätte er es sich hier unten noch eine Weile gutgehen lassen können … Oder auch nicht! schoß es GK 1317 plötzlich durch den Kopf. Was bin ich nur für ein Idiot!
Die Rebellenführer waren geflohen und hatten in ihrem ehemali‐ gen Hauptquartier massenhaft Grako‐Technik zurückgelassen, be‐ wacht von einem naiven Bediensteten, der ihnen entbehrlich er‐ schien. Der Jota‐Krieger sollte das unterirdische Quartier noch eine Weile hüten, bis seine Vorgesetzten weit genug weg waren. Danach wür‐ den sie es dann hochgehen lassen, per Funk oder mittels Zeitzünder, damit die technischen Einrichtungen nicht in die Hände des Feindes fielen … »Wie lange sind die anderen schon fort?« erkundigte sich GK 1317. »Sie sind erst vor kurzem abgeflogen«, erhielt er zur Antwort. »Was ist nun, schließt du dich mir an? Zu zweit könnten wir das Hauptquartier noch lange Zeit verteidigen.« * GK 1317 war kein Schwätzer wie Jota‐Krieger 1616, dennoch hatte er so lange auf den Heiler eingeredet, bis der sich einverstanden er‐ klärte, ihn nach oben zu begleiten. Durch ein Fenster gelangten sie nach draußen. Leider nicht unbemerkt. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes wurden sie von den fünf Kontrollrobotern gestellt. Die beiden Grako‐Rebellen gaben sich gegenseitig Feuerschutz und verschanzten sich schließlich hinter einer technischen Anlage gege‐ nüber dem Flachgebäude. Trotz Schwarzstrahler und Karabiner hatten sie noch keinen weiteren Gegner erledigen können. Die Kontrollroboter versuchten, sie zu umzingeln. »Ich hätte unten bleiben sollen!« beschwerte sich der Jota‐Krieger. »Warum hast du mich überredet, mit dir zu kommen?« »Weil ich dir etwas schuldig bin«, erwiderte der Gamma‐Krieger. »Immerhin hast du mir das Leben gerettet.« Am Himmel schwebte ein großer unitallblauer Ring vorüber. We‐ der den Robotern noch den Grakos fiel er auf.
Wenig später flog der ehemalige Anführerbunker der Rebellen mit Donnergetöse in die Luft. Drei Kontrollroboter wurden dabei auf der Stelle zerstört. Gamma‐Krieger 1317 nutzte das Überraschungsmo‐ ment und vernichtete die beiden übriggebliebenen, leicht ange‐ schlagenen Roboter mit seinem Schwarzstrahler. JK 1616 saß wie erstarrt am Boden, und erst ganz allmählich begriff er, daß ihn die Anführer hatten opfern wollen. Sie hatten ihn belo‐ gen, ohne dabei mit den Augenwülsten zu zucken. Gamma‐Krieger 1317 spielte mit dem Gedanken, seine Flucht ohne den schockierten Heiler fortzusetzen. Doch dann empfand er fast so etwas wie Mitleid mit ihm. »Komm mit«, forderte er ihn auf. »Die Zentrale wird sicherlich neue Roboter auf uns hetzen; bis dahin sollten wir hier weg sein.« »Wo willst du denn hin?« fragte ihn der andere und stand langsam auf. »Keine Ahnung«, antwortete GK 1317. »Ganz gleich, in welche Richtung wir uns wenden, uns droht überall Gefahr. Wir können nur versuchen, uns zu zweit durchzuschlagen und so lange es geht am Leben zu bleiben. Alles weitere liegt in den Klauen unserer Götter.« * Der Stellvertretende Commander der POINT OF war mehr als zu‐ frieden. Mehrere Spionsonden schwebten inzwischen über der Oberfläche von Eins und übermittelten ihre Beobachtungsergebnisse per To‐Richtfunk an den Ringraumer unter der Erde: Auf dem ge‐ samten Planeten wurde hart gekämpft – die Roboterschiffe der Funktionsgemeinschaft gegen die Grako‐Rebellen. Die Sieger standen von vornherein fest. Obwohl es offenbar mehr Rebellen auf Eins gab, als Dan Riker angenommen hatte, waren sie den Großrechnern und deren Kampfrobotern zahlenmäßig weit unterlegen. Das war kein fairer heroischer Kampf gegen die Grakos – es war ein Gemetzel.
Dennoch hatte niemand an Bord der POINT OF Mitleid mit den Insektoiden. Die abtrünnigen, verbohrten Halbraumwesen hatten das Volk gezielt gegen andere Spezies ausgespielt und trugen die Verantwortung für Tausende von Toten. Und solange sie am Leben waren, würden sie ihre grausamen Aktionen gegen ihre Feinde weiterführen. Friedensverhandlungen lehnten sie strikt ab, dazu war der Haß zu tief in ihnen verwurzelt. Sie massenhaft sterben zu sehen war schrecklich – aber die einzige Möglichkeit, ihren blutigen Feldzug zu stoppen. Riker erwartete nicht, daß die Großrechner jeden einzelnen Gra‐ ko‐Rebellen ins Jenseits beförderten. Einige würden von der Zentral weit der Roboter entkommen, und sicherlich gab es außerhalb von Eins noch weitere von ihnen. Doch ihre schwere Niederlage würde ihnen einen Tiefschlag versetzen, von dem sie sich garantiert nicht so bald wieder erholten. Es würde sehr lange dauern, bis die Rebel‐ lenanführer wieder eine neue Armee von Anhängern um sich herum formiert hatten – vielleicht gelang ihnen das ja nie mehr, zumindest nicht im bisherigen Umfang. Und möglicherweise waren die Großrechner nach ihrem Sieg end‐ lich bereit, mit den Menschen einen dauerhaften Frieden auszuhan‐ deln. Immerhin hatten die Terraner sie darauf hingewiesen, daß sich unbemerkt zahlreiche »Läuse« in ihren »Metallpelzen« angesiedelt hatten. »Unser Auftrag wurde erfolgreich erledigt«, ließ Riker die gesamte Mannschaft wissen. »Ich weiß, daß sich etliche von euch unseren Einsatz spannender und abenteuerlicher vorgestellt haben – statt dessen hat wieder einmal Artus fast die gesamte Arbeit erledigt. Nichtsdestotrotz möchte ich euch allen für eure Bereitschaft, euer Leben zu opfern, danken. Wir werden Eins jetzt verlassen, möglichst ungesehen und ohne uns in die schweren Kämpfe, die auf der Pla‐ netenoberfläche toben, verwickeln zu lassen. Mit Hilfe der Sonden halten wir nach einem geeigneten Ort zum Auftauchen Ausschau und …«
In diesem Moment kam es zu einer mächtigen Strukturerschütte‐ rung im System der Funktionsgemeinschaft – so gewaltig, als sei im All ein Planet transitiert. Auf der POINT OF floß so viel Energie in die Taster, daß sämtliche Sicherungen heraussprangen. Ein ver‐ gleichsweise harmloser Schaden, der umgehend behoben wurde. »Sieht so aus, als kämen wir doch noch nicht nach Hause«, sagte Riker, nachdem die Bordsprechanlage wieder funktionstüchtig war. »Wir müssen herausfinden, was diese Strukturerschütterung aus‐ gelöst hat. Vielleicht bekommen die Grako‐Rebellen Verstärkung, und wir müssen in die Schlacht eingreifen.« »Die Großrechnerschiffe sind in der Überzahl und brauchen keine Hilfe«, meinte der Erste Offizier. Es schmeckte ihm nicht, möglicherweise Seite an Seite mit einer Kl‐Spezies zu kämpfen, die für den tausendfachen Tod von Men‐ schen verantwortlich war. Von ihm aus konnten sich die Roboter und die Grakos allesamt gegenseitig umbringen. Riker tadelte Hen Falluta nicht, er konnte ihn gut verstehen. Doch er überhörte den Einwand und gab Befehl zum Auftauchen. * Abgesehen von der Bergregion war Eins komplett überbaut; da‐ durch wirkte der Planet von oben betrachtet wie eine riesengroße Stadt, ohne freie Lücken dazwischen. Aufgrund der Kämpfe verän‐ derte sich das gewohnte Bild nunmehr. Beim Überflug tauchten sporadisch immer wieder verbrannte, geschmolzene Freiflächen auf. Strahlengefechte und Abstürze hatten viele Gebiete verwüstet und Gebäude zum Einsturz gebracht. Die in einem weiten Umkreis ver‐ teilten Trümmer fielen jedoch nur auf, wenn sie brannten, schließlich glich ganz Eins einer riesigen Schrotthalde, selbst dort, wo bisher noch alles intakt war.
Die Kämpfe vollzogen sich teils in der Luft, überwiegend aber am Boden, da den Grakos nur wenige gestohlene Fluggeräte zur Ver‐ fügung standen. Zwischen unversehrten und zerstörten Gebäuden sowie unversehrten Gebäuden, die von ihrer Bauweise her wie zer‐ stört aussahen, lieferten sich Handlungsroboter und Grakos harte Gefechte mit Handfeuerwaffen und Karabinern. Zahlreiche Rebellen setzten dabei Schwarzstrahler ein, aber auch die Bewaffnung der Roboter war nicht ohne. Beide gegnerischen Parteien schenkten sich nichts. Offenbar waren die Grako‐Rebellen fest entschlossen, lieber zu sterben als aufzuge‐ ben – was vermutlich aufs gleiche herausgekommen wäre, denn die Großrechner hätten bei ihren Gefangenen bestimmt keinerlei Gnade walten lassen (in dieser Hinsicht hatten die Aufhetzer und Anstach‐ ler, also die Grakos selbst, perfekte Arbeit geleistet). Dan Riker, der sich mit der POINT OF auf dem Weg ins All befand, beobachtete in der Bildkugel der Zentrale, wie zwei Grakos von fünf Handlungsrobotern in die Zange genommen wurden. Das Kuriose an dieser Szene war: Es handelte sich um fünf Kontrollroboter – echte Kontrollroboter, von der Sorte, die die Grakos zu Tarnzwecken benutzt hatten. Riker überlegte, wie die schleichende Grako‐Unterwanderung des Volkes überhaupt stattgefunden hatte. Hatten sich die getarnten Halbraumwesen einfach unter die übrigen Kontrollroboter gemischt, ohne daß die gestiegene Zahl den Großrechnern oder der Zentrale aufgefallen war? Oder hatten sie für jeden eingeschleusten Rebellen einen echten Kontrollroboter »über die Greifscheren springen las‐ sen«, um unerkannt in dessen Rolle zu schlüpfen? Dan ahnte nicht, daß sich bereits Wonzeff und Artus die gleichen Gedanken gemacht hatten. Die POINT OF entschwand am Himmel. Daß mehrere hundert Meter unter ihr ein unterirdischer Bunker von innen heraus in die Luft gesprengt wurde, bekam die Besatzung nicht mehr mit. Wozu
auch? Es war schließlich nicht das einzige, was an diesem Tag auf Eins zu Bruch ging. Im Raum über Eins herrschte Chaos. Viele Roboterschiffe waren ins All aufgestiegen, um von dort aus die Bodenkämpfe zu koordi‐ nieren und mit massivem Strahlenbeschuß einzugreifen. Wendige Beiboote mit eigentümlichem Aussehen nahmen die Schiffe unter Feuer. Die Grakos hatten sie gekapert – um zu kämpfen oder um zu fliehen. In der Ferne jagten zwei hintereinanderfliegende Gra‐ ko‐Raumgleiter weit ins All hinaus. Obwohl sie sicherlich gut be‐ waffnet waren, griffen die Besatzungen nicht in die Kämpfe ein. Ganz offensichtlich wollten sie nur eins: weg von hier. Fast sah es so aus, als würden sie entkommen – doch letztlich kam nur einer durch. Den hinteren Raumgleiter ereilte ein Volltreffer aus einem Roboterschiff. Den Grakos in den Beibooten ließ man keine Chance zur Flucht, sie starben wie die Fliegen. Um sich erfolgreich zur Wehr zu setzen, hätten sie ihre Schattenschiffe gebraucht … Das Blatt schien sich zu ihren Gunsten zu wenden: In Sonnennähe ortete Grappa eine gigantische Schattenstation – deren Transition sehr wahrscheinlich die Strukturerschütterung verursacht hatte. »Sie haben Verstärkung bekommen«, bemerkte der Erste Offizier besorgt. »Na, das kann ja heiter werden!« Noch hatte kein einziges Grako‐Kampfschiff die Station verlassen, doch allein durch ihr Erscheinen hatte sie mehreren Großrechner‐ schiffen, welche die mächtige Strukturerschütterung hier oben nicht so leicht weggesteckt hatten wie die POINT OF tief unter Erde, schwere Beschädigungen zugefügt. Mindestens fünf Roboterschiffe waren miteinander kollidiert. Rettungsmaßnahmen wurden ergriffen. Für zwei der beschädigten Schiffe kamen sie zu spät, sie stürzten brennend auf den Planeten hinab und würden auf ihm aufschlagen.
Etliche brennende Boote gingen denselben Weg. Grakos waren somit hier oben kaum noch vertreten … … abgesehen von der Schattenstation, die nun von circa zehn Ro‐ boterraumern angeflogen und unter Dauerbeschuß genommen wurde. Erfahrungsgemäß war den riesigen Stationen der Grakos allerdings nicht so leicht beizukommen. »Sollen wir eingreifen?« erkundigten sich nacheinander die beiden Leiter der PO‐Waffensteuerungen beim Stellvertretenden Com‐ mander. »Das dürfte vielleicht nicht mehr nötig sein«, warf Tino Grappa aus der Ortung ein. »Die Schattenstation ist bei ihrer Transition viel zu nahe an der Sonne herausgekommen – deswegen auch diese gewal‐ tige Strukturerschütterung. Voraussichtlich kommt sie von dort nicht mehr weg und wird mitten in die Sonne hineinstürzen.« Riker verzog grimmig die Mundwinkel. »Paßt mir gut. Damit er‐ ledigt sich das Problem ganz von selbst.« * Jong Park war weiß Gott kein Hellseher. Den Tod anderer Menschen vorhersagen konnte der Schwarze Gardist nicht – aber er hatte schon oft den Tod von unschuldigen Menschen verhindert! Und er hatte immer gewußt, daß eines Tages der Augenblick seines eigenen To‐ des kommen würde, jene schicksalhafte Minute, die unweigerlich seine letzte war … In seinen Gedanken war Jong Park schon viele verschiedene Tode gestorben – bei einer Raumschlacht, bei einem Absturz oder bei Bo‐ denkämpfen mit den Feinden Terras. Aber erbärmlich dahinzusie‐ chen, befallen von Fieber und Schmerz, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Wenn er schon sterben mußte, dann sollte es wenigstens ein richtig aufsehenerregender Abgang sein. Einfach so zu verre‐ cken, das hatte nicht genug Klasse für Jong. Er hatte an dem wo‐ möglich wichtigsten Einsatz teilgenommen, der von der Schwarzen
Garde jemals durchgeführt worden war, ein lebensgefährlicher Ein‐ satz, in den er sich voll eingebracht hatte … Und nun sollte er sich sang‐ und klanglos aus dieser Welt verabschieden, ohne die heimat‐ liche Sonne jemals wiederzusehen? Ohne eine letzte glorreiche Tat, über die seine Hinterbliebenen noch nach Generationen reden wür‐ den? Nein, Jong Park wollte weiß Gott nicht als Märtyrer sterben. Aber er wünschte sich ein schnelles Ende, kein schleichendes, schmerz‐ volles Ableben. All diese Gedanken jagten dem Gardisten in seinen letzten Se‐ kunden durch den Kopf – und plötzlich wurde ihm bewußt, daß er nicht allein sterben würde: Commander Ren Dhark würde ihn ins große unbekannte Reich begleiten … Der Rücksturz aus dem Hyperraum stand kurz bevor. Dhark hatte einen fatalen Fehler begangen: Er hatte nicht daran gedacht, daß der tote Grako nach dem Verlassen des Hyperraums unweigerlich in einer Thermoreaktion verglühen würde. Be‐ ta‐Krieger 268 würde hochgehen wie eine Thermobombe – und der Insektoide würde jeden mit sich reißen, der sich in seiner unmittel‐ baren Nähe aufhielt. Weg von ihm, Commander! dachte Jong Park. Geh weg von dem ver‐ dammten toten Grako …! Er war zu geschwächt, um diese Worte über seine Lippen zu bringen. Jong fieberte, konnte nur noch lallen – sein eigener Tod stand kurz bevor. Der Gardist packte seine gesamte Energie in einen einzigen Ge‐ danken: STEH AUF! Seine allerletzte Lebenskraft konzentrierte er auf den Grako‐Leichnam – während gleichzeitig der Rücksturz aus dem Hyperraum stattfand. Als außerhalb des Hyperraums die Thermoreaktion ausgelöst wurde, warf sich Jong über BK 268, der augenblicklich verglühte – und der mutige Gardist mit ihm. Ein kleines Opfer nur, denn Jong Park war ja sowieso schon so gut wie tot; dennoch war es die letzte,
für ihn wichtigste Tat eines Mannes, der sein Leben dem Schutz der Menschheit gewidmet hatte. Eines Mannes, der in seinen letzten Augenblicken verzweifelt versucht hatte, seinen Namen unsterblich zu machen. Ob ihm das wirklich gelungen war, würde die Zukunft zeigen. * Ren Dhark war erschüttert. Ein Mann, den er kaum kannte, hatte sein Leben für ihn geopfert. Jong Parks Körper hatte die Thermoenergie des sterbenden Grakos aufgefangen. Der Gardist war zusammen mit dem Grako verglüht, verbrannt – und hatte ihm, Ren Dhark, mit seiner selbstlosen Aktion das Leben gerettet. Auch Pariots Leben währte nicht mehr lange. Der Nogk hatte lei‐ der nicht das zweifelhafte Glück, einen Heldentod sterben zu dürfen wie Jong Park. Sein Ende vollzog sich ohne viel Pathos. Die schlim‐ me Verstrahlung raffte ihn dahin wie einen mit Staupe infizierten armseligen Straßenköter. Was von ihm übrig blieb, war ein Kehrblech voll Leichenstaub … Hauptmann Schwengers war genauso erschüttert wie alle anderen an Bord der Station. Dennoch setzte er seine Arbeit ohne jegliche Verzögerung fort. Seine Leute und er versuchten, die Außenbeo‐ bachtung der Station zu aktivieren, was wegen der fremden Technik alles andere als einfach war. »Es ist nichts zu sehen«, sagte einer der Gardisten, und man merkte ihm an, daß er ungeduldig wurde. »Reißen Sie sich zusammen!« ermahnte ihn der Hauptmann. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir wissen, wo wir uns …« Plötzlich gab es eine gewaltige Erschütterung, so als wäre die Sta‐ tion irgendwo angestoßen.
»Wir haben wohl irgend etwas gerammt«, bemerkte Ren Dhark. »Oder wir werden beschossen.« In diesem Moment gelang es Schwengersʹ Männern, ein paar Mo‐ nitore zur Außenbeobachtung zu aktivieren. Am liebsten hätten sie die Bildschirme gleich wieder ausgeschaltet, denn was sie sahen, war wenig ermutigend: Mehrere der bizarren Roboterschiffe nahmen die Station unter Beschuß. Und es kam noch schlimmer: Beim Sprung aus dem Hyperraum war man gefährlich nahe an einer Sonne herausgekommen. Durch den massiven Beschuß driftete die Station aus der Kreisbahn und stürzte unweigerlich auf die Sonne zu. »Wir müssen weg von hier!« rief Kurt Buck und suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, die Station in die Gegenrichtung zu bewe‐ gen. »Zu spät«, stellte Schwengers mit eisiger Miene fest. »Die Sonne reißt uns an sich wie eine Mutter ihr verlorengeglaubtes Kind. Mit einer derart stürmischen Begrüßung nach unserer Rückkehr hatte ich nicht gerechnet.« Dhark nickte nur schweigend. Auch ihm war klar, daß der Sturz nicht mehr aufgehalten werden konnte. Die Station würde vermut‐ lich auseinanderbrechen, und die Trümmer würden von der Sonne verschlungen werden und in der immensen Hitze zerschmelzen … Jong Park hatte seinem Leben ein befriedigendes Ende gesetzt. Dhark betete, daß er genauso viel Größe zeigen würde, wenn er gleich in den Tod ging. Noch gab er allerdings nicht auf – denn noch lebte und atmete er …
16. »Tut mir leid, ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir sind.« Acker sah hilfesuchend zu Vandekamp, der jedoch hob nur ratlos die Achseln. »Zu nahe dran an dem Stern jedenfalls«, sagte Margarita. »Außer ihm kann ich auf diesen Schirmen hier leider keine Fixpunkte er‐ kennen, die uns erlauben würden, unsere Koordinaten auszurech‐ nen.« Der Geruch verbrannten Fleisches verzog sich nur ganz allmählich. Allen kroch er bitter über die Nasenschleimhäute, am allermeisten Dhark. Sogar von der Sonne auf den Monitoren riß er immer wieder seinen Blick los und sah hinüber zu jener Stelle dreißig oder vierzig Schritte entfernt, wo ein schwarzer Haufen lag, der an Koks erin‐ nerte, und wo der Kunststoffboden schwärzlich aussah und von lauter Blasen bedeckt war. Eigentlich hätte seine eigene Asche dort liegen müssen. Parks Bild schoß ihm durch den Kopf, und er wußte, daß er dieses Gesicht und diesen Augenblick sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen würde. »Wir können nicht einfach tatenlos rumstehen!« Buck hob den tragbaren Hyperfunksender auf eines der Instrumentenpulte. »Wir müssen etwas tun, irgendwas!« Wie die meisten Gardisten hatte auch er den 5‐D‐Schutzanzug abgestreift und den Helm seines MFA in den Nacken zurückgeklappt. Dhark schüttelte sich innerlich. Hier und jetzt werden die Karten ge‐ mischt, rief er sich selbst zur Ordnung. Er drängte das Bild des ster‐ benden Jong Park in den Hintergrund seines Bewußtseins und blickte wieder auf einen der Monitore – zur Hälfte schon füllte die fremde Sonne das Sichtfeld aus. Hier und jetzt läuft das Spiel. Er kon‐ zentrierte sich auf den hochgewachsenen Leutnant und den Sender vor ihm auf der Schalttafel.
»Den Richtfunkmodus können wir nicht nutzen«, sagte Buck, »denn wir wissen nicht, an welchem Punkt der Milchstraße der Hy‐ perraum uns ausgespuckt hat, und können folglich keine Koordina‐ ten bestimmen, an die wir senden könnten. Ohne Richtfunk aller‐ dings reicht der Kasten nur über ein paar Fußballplätze.« Mit der flachen Hand klopfte er auf das Gerät. »Wenn ich mir jedoch das Sternchen in den Monitoren so ansehe, sollten wir es trotzdem ver‐ suchen, schätze ich.« Irgendwie fragend blickte er in die Runde. Zuletzt wanderte sein Blick zwischen Dhark und Schwengers hin und her. »Besser als gar nichts zu tun«, sagte Charaua. »Korrekt«, ordnete Schwengers an. »Raus mit dem Rundruf, egal wie weit er reicht.« »Machen Sie schon«, nickte Dhark und wandte sich im gleichen Atemzug an den Ranghöchsten der Gardisten. »Kommen Sie, Hauptmann, wir suchen inzwischen die Instrumentenpulte ab. Hier muß es doch so etwas wie eine Hyperfunkanlage geben.« Zusammen mit anderen Gardisten begannen Peter Schwengers und der Commander die Galerie abzusuchen. Kurt Buck aktivierte den tragbaren Hyperfunksender und funkte einen Notruf. »Merkwürdig«, sagte Professor Margarita. »Die Roboterschiffe haben den Beschuß eingestellt.« Mißtrauisch beäugte er einen Sicht‐ schirm, der sich als Ortungsmonitor herausgestellt hatte. »Was sollen sie Energie verschwenden, wenn die Station sowieso demnächst in diesen himmlischen Fusionsreaktor dort fällt.« Amy Stewart stützte sich auf eines der Instrumentenpulte. »Und wir mit ihr.« Mit einer Mischung aus Wut und Resignation starrte sie die Sonne in dem Monitor an. Sie rückte unaufhaltsam näher. »Das wäre eine Erklärung.« Der Professor tippte auf einem Hand‐ suprasensor herum. »Der Stern ist noch höchstens zwei Millionen Kilometer entfernt. Und wir stürzen und stürzen und stürzen.« Dhark und Schwengers sahen auf und erbleichten. »Wieviel Zeit haben wir noch, Professor?« fragte Dhark.
Margarita zuckte mit den Schultern. »Wenn ich die aktuelle Ge‐ schwindigkeit der Station auf den Instrumenten korrekt ablese und wenn ich die auf uns wirkenden Gravitations‐ und Beschleuni‐ gungskräfte hochrechne, höchstens noch eine halbe Stunde.« »Dann los!« Dhark wandte sich dem Instrumentenpult zu. »Suchen wir weiter nach einer Hyperfunkanlage!« Hektik griff um sich. Jeder lief zu einer anderen der zahllosen Schalttafeln, zu einem anderen Instrumentenpult. Jeder wußte, daß die Mannschaft mit der geka‐ perten Hyperraumstation der Grakos untergehen würde, wenn es nicht gelang, in den nächsten Minuten Hilfe herbeizurufen. Charaua winkte seine Nogk zusammen und gab ein paar Befehle. Dann wandte er sich an Ren Dhark und den Hauptmann. »Jemand sollte nach einem Weg suchen, die Station auf eigene Faust zu ver‐ lassen! Wir übernehmen das, wir sind schneller auf den Beinen als ihr Terraner.« »Einverstanden«, sagte Dhark. »Sucht nach Beibooten oder Transmittern! Vielleicht steht in irgendeinem Hangar sogar ein Schiff!« »Wir werden unser Bestes tun!« Die Nogk rannten über die fünfzig Meter breite Galerie zu dem nun offenen Schott, das die Expedition bei ihrem Vorstoß auf den gigantischen Kugelraum hatte umgehen müssen. »Halt!« schrie Schwengers. »Viphotest!« Auf der Schwelle des Schotts blieb Charaua stehen und sah zurück. Wie der Hauptmann hob auch er den linken Arm und aktivierte sein mit einem Translator gekoppeltes Visaphon. Sie tauschten eine Testbotschaft aus. Die Geräte funktionierten. Zurück aus dem Hy‐ perkontinuum im Normalraum war das auch nicht anders zu er‐ warten gewesen. Schwengers jedoch hielt es für seinen Job, jederzeit auch die unwahrscheinlichste Möglichkeit auszuschließen. Und das war gut so, denn er war für das Leben einer Menge Leute verant‐ wortlich.
Charaua und seine Nogk zogen los, um nach Beibooten, Trans‐ mittern oder vollen Schiffshangars zu suchen. Dhark hielt sich fest, denn auf einmal vibrierte das Pult, das er ge‐ rade untersuchte. Alle hielten sich irgendwo fest und sahen hinauf zum oberen Pol des Kugelgewölbes oder zum offenen Schott oder zu den Gefährten, die am nächsten standen. Wieder wurden Galerie, Kugelwände und Instrumentenkonsolen von einem Treffer erschüttert, heftiger diesmal. Acker und ein paar jüngere Gardisten stülpten sich die Helme ihrer Multifunktionsan‐ züge wieder über die Köpfe. Ein paar Atemzüge lang hörten sie ein durchdringendes Summen, als würde irgendwo eine Mega‐Baßsaite schwingen. Alle hielten den Atem an. Das Summen verklang. Stille folgte. »Die Roboter!« Acker öffnete seinen Helm, beugte sich über das Instrumentenpult, an dem er saß, und faßte einen der Bild‐ schirme ins Auge. »Sie haben wieder das Feuer auf die Station eröffnet …!« »Das ist die Quittung für den Rundruf«, sagte Schwengers leise. Lauschend blickte er sich um, doch kein weiterer Treffer schien in die Station einzuschlagen. »Sie wagen sich nicht recht in die Sonnenkorona hinein«, flüsterte Vandekamp. »Deswegen haben sie uns nicht voll erwischt.« »Aber erwischt haben sie uns!« Professor Vincente Margaritas Stimme überschlug sich fast vor Erregung. »Und die beiden Treffer haben die Station beschleunigt! Deswegen schießen sie nicht mehr!« »Wie lange noch?« rief Dhark. »Höchstens zwanzig Minuten!« * »Hier!« Einer der Gardisten rief. »Das hier könnte doch eine Hyper‐ funkanlage sein!« Ren Dhark verstand ihn kaum, so weit entfernt war der Geräteaufbau, neben dem der Mann stand.
Sie rannten los. Dhark voran, doch trotz seines wuchtigen Kör‐ perbaus legte der deutsche Hauptmann einen Spurt hin, der sich sehen lassen konnte. Er überholte den Commander. Gemeinsam überholten sie Vandekamp und Acker und liefen an Buck vorbei und seinem mobilen Hyperfunksender, der ihnen nichts nützte. Nach einem Vierhundertmeterlauf erreichten sie das Gerätepult, das der Gardist für eine Hyperfunkanlage hielt. Schwengers nahm die Kontrollinstrumente unter die Lupe, Dhark die Schaltflächen. Vandekamp und Acker hatten noch hundertfünf‐ zig Meter vor sich. »Wenn das hier tatsächlich die Hyperfunkanlage dieser gigantischen Kugelzentrale ist, dann hat sie auch die aktuellen Koordinaten gespeichert.« »Wenn sie an diesem Ort in den Hyperraum vorgestoßen ist, auf jeden Fall«, sagte Dhark. »Zumindest aber hätte sie eine größere Reichweite.« Schon sank ihm der Mut, denn die Hyperfunkanlagen in den Schiffen und Anlagen der Grakos hatte er deutlich anders in Erinnerung. Vandekamp kam am Pult an, sein Atem flog. »Eine Hyperfunkan‐ lage?« Er beugte sich über die Instrumententafel. »Ich weiß nicht …« Jetzt schaukelte auch Acker heran. Er japste, Schweißperlen stan‐ den auf seiner Stirn. Erschöpft hielt er sich an dem Geräteaufbau fest und schnappte nach Luft. »Das hier ist keine Hyperfunkanlage«, keuchte er endlich. »Das ist eine Art Rechner, ein wichtiges Steuer‐ gerät oder so.« Er sah hinauf, wo zweihundert oder dreihundert Meter über ihnen eine Decke aus dunklen Rauchschwaden schwebte. »Vielleicht das Steuergerät für die implodierte Energiekugel.« Enttäuscht gaben Dhark und Schwengers auf. »Suchen wir drüben weiter«, sagte Dhark. Und dann lauter an Margaritas Adresse: »Wieviel Zeit noch?« »Höchstens sechzehn Minuten!« Zweihundert Meter entfernt beo‐ bachtete der Professor die Bildschirme. »Die Gravitation des Sterns hat uns voll gepackt! Wir stürzen immer schneller!«
»Weitersuchen!« Dhark schrie es nach allen Seiten. »Weitersu‐ chen!« Er versuchte die Stimme der Hoffnungslosigkeit in seiner Brust zu übertönen. »Setzen Sie sich mit Chorals Gruppe in Verbindung, Professor!« rief Schwengers. »Ich will wissen, wie die Aktien stehen bei den Nogk!« Im Laufschritt kehrten sie zurück zu den Instrumentenpulten, bei denen sie mit der Suche nach einem Hyperfunkgerät aufgehört hat‐ ten. Und plötzlich Bucks Stimme wie ein Alarmruf: »To‐Richtfunkspruch!« Er war aufgesprungen, zeigte auf den trag‐ baren Sender und winkte. »Der Sender signalisiert den Eingang eines To‐Richtfunkspruchs.« Sie spurteten zurück. Und tatsächlich – die Anzeige für die Emp‐ fangskontrolle blinkte. »Jemand hat uns geortet!« Schwengers ging vor dem Pult ihn die Knie. Mit glänzenden Augen betrachtete er die blinkende Anzeige. »Oder unseren Rundruf gehört.« »Jemand, der keinen Grund sieht, auf die Station zu schießen«, sagte Buck. »Dann sind es schon mal nicht die Roboter.« Dhark ließ sich in den schmalen Grakosessel mit den breiten Armlehnen und der hohen Rückenlehne fallen. Eine Stimme tönte aus dem Funkgerät. »Still!« zischte der Commander. Auch Amy Stewart, Vandekamp, Acker und ein paar Gardisten hatten sich jetzt um das Funkgerät versammelt. Alle lauschten sie. »Ren …« sagte die Stimme. Der Rest ging in Rauschen und Pfeifen unter. Das Magnetfeld und der Sonnenwind des nahen Sternes stör‐ ten den Empfang. »Ren, bist du es?« Jetzt klang das schon deutlicher. »Ren! Antworte! Bist du es?« »Dan!« Der Commander sprang von seinem Sitz auf. »Das ist Dan Rikers Stimme!« Er streckte beide Hände in die Luft, als gäbe es da oben außer Rauchschwaden noch jemanden, bei dem er sich bedan‐ ken wollte. »Eindeutig!« Er beugte sich über das Gerät. »Hat er eine Ortungskennung aufgeschaltet?«
Kurt Buck prüfte die Anzeigen in der Kontrolleiste des tragbaren Funkgeräts. »Hat er! Ich kann ihn anpeilen!« »Tun Sieʹs«, sagte Schwengers. »Müssen wir jetzt wieder mit Beschuß rechnen?« fragte Mar‐garita von seinem Platz an den Bildschirmen aus. »Nein«, antwortete Acker. »To‐Richtfunk. Den können die Roboter nicht abhören.« »Wieviel Zeit noch?« fragte Dhark in Richtung Margarita. »Vierzehn Minuten, höchstens.« Der Spanier schluckte. »Also los, antworten wir.« Dhark setzte sich auf die Sesselkante, stützte sich mit den Unterarmen auf dem Pult neben dem Funkgerät auf und wartete, bis Buck auf Sendung war. »Dhark an POINT OF«, sagte er dann. »Wir sind es, Dan, ja. Ich muß mich kurz fassen: Wir haben die Grako‐Station mit aus dem Hyperraum gebracht, wie ihr seht. Es gibt hier keinen mehr, der sie uns noch streitig machen könnte, aber in dreizehn Minuten stürzen wir in den Stern, ihr sehtʹs ja selbst. Bis jetzt finden wir weder Transmitter noch Beiboote oder ähnliches. Um Gottes willen, holt uns hier raus!« »Verstanden«, kam es zurück. »Du wirst es kaum glauben, aber der Stern ist der von Eins! Wie viele Flash soll ich schicken?« Amy und die Männer sahen einander ungläubig an. Im System von Eins also waren sie aus dem Hyperraum gefallen. Hätten sie nicht selbst darauf kommen können? »Keine Flash, Dan!« sagte Dhark. »Wir sind hier in der Zentrale der Station, ein kugelförmiger Hohlraum von anderthalb Kilometer Durchmesser! Da paßt ein ganzer Verband von Ringraumern rein. Leutnant Buck wird euch die Koordinaten durchgeben!« »Verstanden«, schnarrte Rikers Stimme aus dem mobilen Hyper‐ funkgerät. »Sind bereit, die Koordinaten aufzunehmen.« »Moment noch, Sir!« Buck hatte den Professor herbeigewinkt. Gemeinsam rechneten sie. Das Funkgerät setzen sie als Nullpunkt und das Zentrum des Hohlkugelraums als Zielpunkt. Buck gab die Koordinaten durch.
»Verstanden«, kam es zurück. »Wir machen uns auf den Weg. Haltet durch!« »Hat Charaua sich gemeldet?« wandte Schwengers sich an den Professor. »Einer seiner Nogk. Sie haben nichts gefunden.« Margarita saß schon wieder an seinem Platz. »Rufen Sie die Gruppe Charaua noch einmal an – sie sollen zu‐ rückkommen, und zwar schnell!« »Spürt ihr auch, wie es wärmer wird?« Aus schmalen Augen blickte Amy in die Runde. »Und ob.« Ackers dickliches Gesicht glänzte schweißnaß. »Die Außenhülle muß doch schon glühen«, sagte Edwards, der Mediziner der Gardisten. »Wieviel Zeit bleibt uns noch?« Dhark bombardierte den Spanier mit der nächsten Frage. »Elf Minuten.« Mit der Faust schlug sich Dhark in die linke Handfläche. »Das könnte noch reichen …« Sie warteten. Keiner sagte mehr ein Wort. Alle blickten stumm zur Mitte der Hohlkugel. Wie eine viel zu dünne Eisfläche, auf der viel zu viele Leute standen, lag die Anspannung in der Luft, und Dhark glaubte, es knistern zu hören, das Eis, das jeden Moment brechen konnte. Irgend jemand fuhr plötzlich herum. Schritte und Stimmen am of‐ fenen Schott – die Nogk kamen zurück. Alle drehten sich nun nach ihnen um. Einige Nogk winkten vom Schott aus. »Kein Beiboot, kein Transmitter, nichts«, sagte einer. »Und ihr habt bessere Nachrich‐ ten?« Im selben Moment ging es wie eine Sturmbödurch den Hohl‐ kugelraum. Amys Haar flatterte, die Anzüge aller bauschten sich auf, die Asche Pariots stieg zu einer Staubfahne auf, und die koksar‐ tigen Überreste von Park und dem Grako BK 268 fegten auseinander. Alle fuhren wieder herum, und ein Aufschrei ging durch die Mannschaft: Im Zentrum des Kugelraums nahmen die Konturen
eines Ringraumers Gestalt an. Die POINT OF! Die POINT OF war gekommen! Die Rettung war nahe! Sie jubelten, sie umarmten sich, sie weinten, sie winkten. Das Schiff schwebte langsam aus dem Zentrum des Hohlkugelraumes der Ga‐ lerie entgegen. Die dreiundzwanzig Terraner und elf Nogk standen ganz am Rand der Galerie. Voller Euphorie über die unverhoffte Rettung winkten und riefen sie. Wie Schiffbrüchige auf einer Insel, wenn sie das rettende Schiff nahen sehen, so kamen Ren Dhark die Leute seiner Mannschaft vor. Während die POINT OF sich der Galerie näherte, bekam der Commander erst eine Vorstellung von der Größe des Kugelraumes. Der hundertachtzig Meter durchmessende Ringraumer kam ihm darin vor wie ein Spielzeug. Die POINT OF schwebte näher – langsam, behutsam –, stoppte wenige Zentimeter vor dem inneren Rand der Galerie, und dann öffnete sich eine Außenschleuse. Wieder jubelte die gesamte Expe‐ dition. Auch Dhark selbst schrie sich die Kehle heiser. Er ruderte mit beiden Armen. »Rein mit euch! Die ganze Bande rein in das Schiff! Macht schon hin!« Die Nogk kamen ihm nicht halb so euphorisch vor wie die Terra‐ ner. Nüchtern wirkten sie, bedrückt sogar. Und dann fiel es ihm auf: Ihr Anführer fehlte. Allen fiel es auf, und keiner wollte die Schleuse betreten. »Wo ist Charaua?« fragte der Commander Uwegra, der ihm am nächsten stand. Der machte eine ratlose Geste. »Wir wissen es nicht. Seit ein paar Minuten meldet er sich nicht mehr.« * Dhark stürzte zu dem Schaltpult, von dem aus die Kampfroboter gesteuert worden waren. Amy Stewart, Peter Schwengers und ein
paar Nogk hinterher. Das Hologramm war noch aktiviert. »Wie konntet ihr Charaua bloß verlieren?« fragte Dhark. »Wir teilten uns auf, um effektiver suchen zu können«, antwortete Brril. »Charaua selbst hat das so angeordnet. Er ging allein.« Dhark unterdrückte eine unfreundliche Bemerkung. Er konzent‐ rierte sich auf das Hologramm. In seiner schematische Darstellung der Stationszentrale zeigte es eine große Ansammlung schwarzer Punkte an: Die Menschen an Bord des Ringraumers und die Men‐ schen und Nogk außerhalb der POINT OF. »Welchen Weg habt ihr genommen?« Der Nogk zeichnete den Weg mit ausgestrecktem Finger am Ho‐ logramm nach. »Da!« rief Amy. »Da ist er!« Sie deutete auf einen einzelnen schwarzen Punkt außerhalb der Stationszentrale. »Er bewegt sich nicht!« Dhark prägte sich den Weg von der Zent‐ rale bis zu dem schwarzen Punkt ein. Dann sah er zur POINT OF – sie schwebte wenige Zentimeter vor der Innenseite der Ringgalerie. Das Gros der Expeditionsmitglieder stand noch immer vor der of‐ fenen Außenschleuse. »Wie lange noch, Margarita?« schrie der Commander über das Hologramm hinweg. »Neun Minuten! Höchstens!« »Sorgen Sie dafür, daß alle an Bord gehen, Schwengers!« Dhark schaltete sein Armbandvipho ein. »Und aktivieren Sie Ihr Vipho, damit wir Verbindung halten können! Ich kümmere mich um den Nogk.« Schwengers nickte, und Ren Dhark spurtete los. Amy Stewart zö‐ gerte keinen Augenblick: Sie rannte ihm hinterher. Noch bevor er die Schwelle des offenen Schotts erreicht hatte, holte sie ihn ein. *
Drei Minuten später erreichte Amy die Tür zu dem Raum, in dem Charaua sein mußte. In diesem Bereich der Station hatte ein Voll‐ treffer für Verwüstung gesorgt. Amy mußte ein paar Trümmer wegräumen, um den Raum betreten zu können. Ein Lagerraum, Ersatzteile für Arbeitsroboter und Teile der Deckenkonstruktion lagen kreuz und quer. Schnell entdeckte sie die Hosenbeine eines Raumanzuges der Nogk. Eine Menge Kunst‐stoffplatten und ein Regal hatten Charaua begraben. Jetzt stürmte auch Dhark in den Raum. Schweiß strömte ihm über das Gesicht. Es war inzwischen unerträglich heiß. »Wieviel Zeit bleibt uns noch?« »Sechs Minuten, schätze ich.« Amy deutete auf die Trümmer und die Beine des Nogk. Wortlos riß der Commander seinen Multikara‐ biner von der Schulter, schaltete ihn in den Duststrahler‐Modus und richtete den Lauf auf die Trümmer, unter denen Charaua lag. Der olivgrüne Strahl pulverisierte Deckenplatten, Roboterteile, Regal und Stützbalken. Sekunden später kniete Amy neben dem Nogk. Mit den Händen wühlte sie ihn aus dem Staub. »Er lebt noch!« rief sie. Als wäre er kein zweieinhalb Meter langer Nogk mit entsprechendem Gewicht, sondern nur ein kleines Kind, nahm sie ihn auf die Arme und trug ihn zur Tür und auf den Gang hinaus. »Bewußtlos. Eine Kopfver‐ letzung.« Dhark sah eine lange klaffende Wunde in der schwarzbraunen, gelbgesprenkelten Lederhaut über dem rechten Facettenauge. »Er ist zu groß für einen Flash! Wieviel Zeit bleibt uns noch?« »Etwa vier Minuten! Ruf du dir einen Flash, ich schaffe das zu Fuß!« Ehe der Commander protestieren konnte, hievte seine Gefähr‐ tin sich die schwere Last auf die Schulter und rannte in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren. Was blieb Dhark übrig? »Commander an POINT OF – wir haben Charaua. Er ist bewußtlos, Amy bringt ihn zu Fuß zurück. Ich brauche einen Flash.«
»Verstanden.« Dan Rikers vertraute Stimme. »Du weißt, daß wir in drei Minuten samt der Station in die Sonne stürzen?« »Schicke den Flash und halte keine Reden. Ende.« Dhark schaltete sein Vipho aus. Während er auf dem Gang auf und ab tigerte, zählte er die Sekunden. Der Boden vibrierte, mal sanft, mal heftig; einmal so stark, daß Dhark sich an der Wand abstützen mußte, um nicht zu fallen. »Himmel, Amy! Beeile dich …!« Endlich senkte sich ein Flash aus der Decke. 001 las Dhark an seiner Seite. Der Pilot schaltete das Intervallum ab, setzte im breiten Gang auf und öffnete die Ein‐ stiegsluke. Dhark machte Anstalten hineinzuklettern, doch eine Er‐ schütterung ließ das Beiboot wanken, und diesmal stürzte er tat‐ sächlich zu Boden. Er fluchte, sprang auf und nahm den zweiten Anlauf. Pjetr Wonzeff saß im Vordersitz. »Die Station bricht schon ausei‐ nander!« schrie er. Ren Dhark sank in den hinteren Sitz. Die Luke schloß sich, Wonzeff aktivierte das Intervallum, der Flash kehrte zurück ins Beibootdepot der POINT OF. »Noch neunzig Sekunden«, sagte Rikers inzwischen tonlose Stimme, als Flash 001 in seiner Bettung im Hangar aufsetze. Sie stiegen aus. Ein paar Flashpiloten standen vor einem kleinen Ho‐ logramm, das die gleichen Außenbilder übertrug, die man auch in der Bildkugel der Kommandozentrale sehen konnte. »Willkommen zu Hause, Ren«, sagte Rikers Stimme aus dem Bordfunk. »In vierzig Sekunden ist es vorbei mit der Station. Und mit uns auch, wenn wir jetzt nicht starten!« »Warte noch!« Die Wand des Kugelhohlraums glühte – jedenfalls der Ausschnitt, den das Hologramm zeigte –, große Tropfen flüssi‐ gen Metalls schlugen auf der Ringgalerie auf. Eine Gestalt erschien im offenen Schott. »Amy!« entfuhr es Dhark. Den viel größeren Nogk auf der rechten Schulter rannte der weib‐ liche Cyborg über die Galerie. »Schneller, Amy!« hallte es durch den
Hohlraum. In der Zentrale hatten sie den Außenlautsprecher einge‐ schaltet. »Du hast nicht mal mehr zwanzig Sekunden!« Im Hologramm sah Dhark die Kugelwand glühen und beben und Blasen werfen. Ein großer Klumpen brennenden Kunststoffes zer‐ schlug eines der Instrumentenpulte keine dreißig Schritte von Amy entfernt. Von einem Moment auf den anderen brannten drei oder vier Pulte. Flammen schossen durch das offene Schott in den Ku‐ gelraum hinein. Amy sprang in die Außenschleuse. Der Checkmas‐ ter legte einen Alarmstart hin. Mit aktiviertem Intervallum schoß die POINT OF aus der zerbrechenden Station … * Im Sternensog raste Ren Dharks Ringraumer aus dem Sonnensystem der Roboter und nahm Kurs auf die Erde. Nicht ein Schiff von Eins verfolgte die POINT OF. Die Führungsmannschaft der Expedition in den Hyperraum saß in der Zentrale: Ren Dhark, Amy Stewart, Peter Schwengers, Kurt Buck, Professor Margarita, Acker, Vandekamp, Uwegra und Charaua. Ihm hatte Dr. Edwards in der Medostation die große Platzwunde über dem Facettenauge verschlossen. Er wirkte noch ein wenig be‐ nommen, hatte es sich aber nicht nehmen lassen wollen, die Retter der Expedition persönlich zu begrüßen. Die Gesichter seiner Besatzungsmitglieder in der Zentrale er‐ schienen Dhark seltsam gerührt. Anja Riker hatte sogar ein paar Tränen zerdrückt. Und Tino Grappa lächelte irgendwie scheu, was sonst so gar nicht seine Art war. Der Commander konnte sich keinen Reim darauf machen. Für niemanden in seiner Zentrale dürfte es eigentlich etwas Außergewöhnliches sein, hart am Tod vorbeizu‐ schrammen. »Wo um alles in der Welt habt ihr so lange Zeit gesteckt?« wollte Dan Riker wissen.
»So lange Zeit?« Ren Dhark blickte in die Runde seiner Expediti‐ onsgefährten und sah in lauter irritierte Mienen. »Wie meinst du das, Dan? Wieso ›lange Zeit‹?« Jetzt war es an den Männern und Frauen von der POINT OF, ver‐ wirrte Mienen zu machen: die Rikers, Hen Falluta, Monty Bell und die meisten Offiziere der Kommandozentrale, die zuhörten, runzel‐ ten die Stirn. »Nun ja, Ren …« Dan Riker druckste herum. »Ich weiß ja nicht, was du unter einer ›langen Zeit‹ verstehst. Auf der Erde jedenfalls gilt der ehemalige Commander der Planeten, der berühmte Ren Dhark, als verschollen.« »Willst du mich auf den Arm nehmen?« Dhark wurde laut. Er fuhr sich über das ein wenig kratzige Kinn. »Glaubst du mir, daß ich mich nicht rasiert habe, seit wir von der POINT OF in die REESCH II umgestiegen sind?« »Schon, wenn duʹs sagst …?« »Es stimmt!« schnitt Dhark seinem Freund das Wort ab. »Wir sind gestern in den Hyperraum aufgebrochen! Einen halben Tag lang haben wir um die Station gekämpft, einen halben Tag lang, um die Rückkehr in den Normalraum, und …« Ren Dhark unterbrach sich. Ein Gedanke durchzuckte ihn, ein Gedanke, der ihn elektrisierte. »Wie lange waren wir Ihrer Meinung nach unterwegs?« wandte er sich an seine anwesenden Besat‐ zungsmitglieder. »Länger als drei Monate«, sagte Anja Riker. »So wahr ich hier stehe«, bestätigte Hen Falluta, und alle anderen nickten. »Stimmt«, sagte Grappa. »Drei Monate warenʹs hundertprozentig.« »Ihr wart wochenlang Thema Nummer eins in den Medien«, sagte Dan Riker. »Ich habe um dich getrauert, Ren. Viele haben getrauert …«
»Eine Zeitverschiebung.« Dhark seufzte und ließ sich tief in seinen Sessel sinken. »Ich fasse es nicht – wir haben tatsächlich eine Zeit‐ verschiebung erlebt!« »Drei Monate!« rief Tim Acker. »Das ist ja unglaublich!« Er fuhr sich über seine Glatze. Die glänzte schon wieder von Schweiß. »Wie kann das sein? Laßt uns überlegen!« Sofort entbrannte eine hitzige Diskussion. »Vielleicht haben wir einen Steuerfehler gemacht, als wir mit der REESCH II in den Hy‐ perraum sprangen«, sagte Amy Stewart. »Ausgeschlossen!« Uwegra protestierte. »Der Bordrechner hat das Manöver hundertmal durchgerechnet, und ich habe das Ergebnis persönlich kontrolliert. Nein, das kann nicht sein.« »Möglicherweise lief die Zeit in der Hyperraumstation einfach schneller ab als im Normalraum«, sagte Monty Bell. »Dann hätte sie beim Besuch der REESCH I ebenfalls schneller ab‐ laufen müssen.« Auch diese Theorie lehnte der Nogk ab. »Und das war definitiv nicht der Fall. Beim ersten Besuch der Hyperraumsta‐ tion gab es keine Zeitverschiebung! Das wüßte ich doch!« »Haben die Grakos am Ende so etwas wie eine Zeitverschie‐ bungswaffe entwickelt?« Jetzt war es Vandekamp, der laut dachte. »Vielleicht haben sie die aktiviert, bevor wir die Zentrale kaperten?« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Acker schüttelte den Kopf. »Von so einer Waffe wüßten wir doch längst«, stimmte Dhark ihm zu. »Es gab eine gewaltige Strukturerschütterung, als ihr mit der Sta‐ tion aus dem Hyperraum gestürzt seid«, sagte Dan Riker. »Hier an Bord flogen ein paar Sicherungen heraus! Die Energien, die in unsere Taster flossen, waren so unverstellbar groß, daß ich dachte, ein gan‐ zer Planet wäre transitiert.« »Das können Sie glauben, Sir«, bestätigte Grappa. »Was meinen Sie, was im Weltall rund um Eins los war? Einige Roboterschiffe stießen zusammen, zwei stürzten brennend ab! Ein solches Chaos
habe ich sonst nur bei ausgewachsenen Raumschlachten auf den Ortungsschirmen!« »Klingt dramatisch«, sagte Professor Margarita. »Dann wird es wohl diese Erschütterung des Raum‐Zeitgefüges gewesen sein, die die Zeitverschiebung verursacht hat.« »Sieht ganz so aus.« Schwengers nickte nachdenklich. »Wahr‐ scheinlich haben wir bei der Steuerung des Wiederaustritts aus dem Hyperraum einen Fehler gemacht. Oder die Station ist von Anfang an gar nicht dafür konstruiert gewesen, den Hyperraum jemals wieder zu verlassen.« »Wie auch immer – mehr als drei Monate sind vergangen, während für uns nur ein Tag verging.« Dharks Fassungslosigkeit machte sich in einem Lächeln Luft. »Jedenfalls haben wir zurückgefunden und leben noch. Und darüber bin ich heilfroh, das könnt ihr mir glau‐ ben.« * Er sprang aus dem Hyperraum. Mit sechzig Prozent Lichtgeschwin‐ digkeit raste er in das Sonnensystem hinein. Ohne Zeitverlust ver‐ arbeitete er sämtliche visuellen Eindrücke, die von den Außensen‐ soren seines Körpers in sein Innerstes strömten. Zugleich errechnete er die Koordinaten des tatsächlichen Zielpunktes und glich sie mit den Koordinaten ab, die er von den Spähern erhalten und nach dem Start als Zielpunkt festgelegt hatte. Übereinstimmung. In einem einzigen Rechenakt erfaßte er die Sonne und ihre fünf Planeten, erfaßte Temperaturen, Massen, Abstände, Geschwindig‐ keiten, Rotationsrichtungen. Ja, es war exakt jenes Sonnensystem, das die Späher für die Maß‐ nahme ausgesucht hatten.
Er änderte den Kurs, steuerte den dritten Planeten an und analy‐ sierte Größe, Masse, Dichte, Helligkeit, Atmosphäre und Oberflä‐ chenbeschaffenheit. Ja, das war der Zielplanet. Er berechnete Geschwindigkeit und Entfernung, legte das Ver‐ hältnis von Zeiteinheiten, Geschwindigkeits‐ und Streckenreduzie‐ rung fest, bestimmte den Koordinatenpunkt, an dem er in die Um‐ laufbahn schwenken würde. Dann der Plan. Phase eins: Spähersonden ausschleusen. Phase zwei: die Siedlung, den Raumhafen, die Umgebung ausspähen. Phase drei: Funkstörung aktivieren und mobile Einheiten ausschleusen. Phase vier: Zugriff gemäß der Daten aus Phase zwei. Phase fünf: Deckung des Rück‐ zugs. Phase sechs: Einschleusen der mobilen Einheiten und des Ma‐ terials. Phase sieben: Beschleunigung und Transition. Er rechnete den Plan ein zweites und drittes Mal durch und versah ihn mit Modifizierungsverknüpfungen. Diese Ausweichprogramme versetzten ihn in die Lage, ohne Zeitverlust angemessen auf nicht einkalkulierte Ereignisse reagieren zu können. Er schickte einen Impuls in die Außensegmente seines Körpers, wo in großen Höhlungen die Fluggeräte und seine primären mobilen Einheiten in ihren Speicherbuchten standen. Der Impuls aktivierte sie. Ich bin Radiusvektor, lautete der Impuls frei übersetzt. Ihr seid Ra‐ diusvektor. Wir sind Radiusvektor. Die mobilen Einheiten bewegten die Köpfe. Ihre optischen Senso‐ ren begannen zu glühen. Sie stiegen aus den Buchten. Sie warteten. Durch den optischen Sensor einer jeden Einheit konnte er sehen. Auf den Gliederstützen einer jeden Einheit konnte er gehen. Mit dem Gliedergriffpaar jeder Einheit konnte er zupacken, festhalten, er‐ schaffen, zerstören. Er tastete nach den Steuerungsmodulen der Fluggeräte. Kein Feh‐ ler beeinträchtigte sie. Er erhöhte ihre Betriebsbereitschaft.
Hier ist Radiusvektors Plan, lautete sein nächster Impuls. Der über‐ mittelte jeder mobilen Einheit das Datenpaket des Einsatzplanes. Radiusvektor wird in siebzehn Zeiteinheiten die Spähersonden ausschleu‐ sen. Die primären mobilen Einheiten waren seine wichtigsten Körper‐ teile, seine unentbehrliche Verbindung zu den materiellen Erschei‐ nungsformen des Universums. Mit ihnen wollte er sich holen, was er zum Überleben brauchte. Neun Zeiteinheiten danach seid ihr bereit zum Ausschleusen. Jetzt steigt ihr in die Fluggeräte.
17. Im Hologramm leuchtete das Zentralgestirn des schönsten Son‐ nensystems im Universum: Sol. Ren Dhark mußte tief durchatmen, so sehr bewegte ihn der Anblick der heimatlichen Sonne. Und dann erst die blaue Kugel! War es selbstverständlich, gesund hierher zu‐ rückkehren zu können? Nein, das war es nicht. Weder der Erde noch der Sonne sah man an, daß sie allmählich zu lebensfeindlichen Himmelskörpern mutierten. Oder war der Erdball schon weniger blau als sonst? Nein, eine Sinnestäuschung vermut‐ lich. »Synties!« rief Tino Grappa über seine Bildschirme hinweg. »Min‐ destens zweitausend!« Riker, der neben Dhark vor der zentralen Bildkugel stand, zeigte auf die Lichtpunkte, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Dhark nickte. Er hatte sie längst entdeckt. Wieder brachten sie ge‐ waltige Wolken aus Wasserstoff zur Sonne. Wie Engel kamen sie ihm vor. Sollte es ihnen wirklich gelingen, die ursprüngliche Masse der Sonne wieder herzustellen? Eine schöne Vorstellung. Eine berech‐ tigte Hoffnung. Er hielt sich an ihr fest. Und er wußte: Alle Menschen taten das. Alle jedenfalls, die von der Arbeit der Synties wußten. Später stieß die POINT OF durch die Erdatmosphäre. Und dann lag Alamo Gordo unter ihnen: sehr weiß, sehr glitzernd, denn die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel auf die Stadt und ih‐ ren Raumhafen hinab. »Temperatur?« fragte Ren Dhark. »Dreiundzwanzig Grad Celsius unter Null«, antwortete Falluta, als hätte die Frage ihm und nicht Grappa gegolten. Doch sie schien Dharks Erstem Offizier ähnlich heiß unter den Nägeln zu brennen wie Dhark selbst, deswegen hatte er den Wert schon abgerufen. Gab es überhaupt jemanden auf der Erde und den Raumschiffen, die auf ihr landeten, der nicht tagtäglich nach dem Thermometer schielte?
»Minus dreiundzwanzig Grad …« Riker schüttelte den Kopf. »Wir haben Juli, es ist Hochsommer.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. Im Sekundentakt landeten Raumschiffe auf Cent Field: Ikosaeder‐ raumer aus den Fabrikkathedralen von Wallis Industries und die großen Schiffe der Nogk. Die Evakuierung der Menschheit lief auf Hochtouren. Die Landung war dennoch reine Routine. Falluta über‐ ließ sie dem Checkmaster. »Ich bin gespannt, was mich erwartet.« Monty Bell trat neben Dhark und Riker. »Nicht nur Sie.« Geräuschvoll sog Dhark die Luft durch die Nase ein. »Kann sein, es war Unsinn, diese Energiekugel in der Hyper‐ raumstation zu zerstören. Aber mein Gefühl sagt mir, daß wir damit ins Schwarze getroffen haben.« »Was immer das heißen mag«, ergänzte Riker vieldeutig. »Ich weiß, was das heißen könnte, und du weißt es auch.« »Es könnte immerhin sein, daß der Masseverlust außer Kontrolle geraten ist, oder?« »Mal den Teufel nicht an die Wand, Dan, da stehen schon genug.« »Nun ja …« Der Rektor der Raumakademie räusperte sich. Die Nerven lagen bei allen blank, wer wüßte das nicht. »Sobald ich ob‐ jektive Befunde habe, lasse ich Sieʹs wissen.« »Danke, Professor.« Dhark nickte ihm zu, und Bell sah die Trauer in den grauen Augen des Commanders. »Ich verlasse mich auf Sie.« * Nach der Landung verließ Monty Bell mit ein paar anderen Wissen‐ schaftlern die POINT OF. Es war später Vormittag. Bell war seit drei Stunden auf den Beinen. Sein Frühstück hatte aus einem lauwarmen Kaffee, einem faden Müsli und ein paar Vitaminpillen bestanden. Vier Gleiter brachten die Männer und Frauen zur Raumakademie. Dort hatten sie nichts eiligeres zu tun, als ihre Büros im unterirdi‐ schen Forschungszentrum aufzusuchen.
Monty Bell machte sich einen frischen Milchkaffee und bestellte gebratene Eier mit Schinken und Thüringer Rostbratwürstchen in der Großküche der Akademie. Aus irgendeinem Grund glaubte er dies und nichts anderes zu benötigen, um den Tag zu überstehen. Danach rief er seinen mittlerweile wichtigsten Mann über Vipho an: Ian Carus. »Ich bin zurück. Können Sie kommen? Ich habe wich‐ tige Neuigkeiten.« »Ich auch«, sagte der Schotte. »Schön, Sie zu hören. Wie wäre es um halb elf?« Bell sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Okay, die Welt ging unter, aber war das nicht eher ein Grund mehr, sein Spiegelei mit Schinken und Bratwürsten in Ruhe zu genießen? »Elf wäre mir lieber, Ian.« »Elf Uhr, Sir, einverstanden. Ich brenne auf Ihren Bericht.« Bell schaltete sein Vipho aus. Carus wußte natürlich, daß er in Tuchfüh‐ lung mit der Hyperraumexpedition stand. Klar war der Schotte heiß auf Informationen. Bis sein Frühstück kam, sichtete Monty Bell die elektronische Post, die in seiner Abwesenheit eingegangen war. Nichts wirklich Welt‐ bewegendes dabei. Auf einiges hätte er sogar gut verzichten können – zum Beispiel auf die letzte Mahnung der Finanzbehörde. Vor lauter Arbeit hatte der Professor vergessen, seine Steuerschuld zu bezah‐ len. Die Erde mochte untergehen, doch die Finanzämter arbeiteten mit der gewohnten, sturen Unerbittlichkeit. Eine junge Frau vom Service brachte das Frühstück. Sie war hübsch, zog aber einen Schmollmund. Es war unüblich, einem Do‐ zenten das Essen ins Büro zu bringen. Das galt auch für den Chef. Bell strahlte sie einfach an und bedankte sich überschwenglich. Die Lady trollte sich grußlos. Die Eier – und vor allem die Bratwürste – schmeckten trotzdem. Vier Minuten vor elf klopfte Carus. Normalerweise haßte Bell es, wenn Leute zu früh zu einer Verabredung erschienen. Doch Carus hatte bei ihm einen derart dicken Stein im Brett, daß er auch eine
Viertelstunde früher hätte kommen können, ohne ihm die Stimmung zu verderben. Der Astrophysiker bot dem Schotten einen Kaffee an, was der nicht ausschlug. »Also, passen Sie auf, Ian«, begann er, während er dem anderen die dampfende braune Brühe einschenkte. »Wir waren im Hyperraum und sind bis auf zwei Mann zurückgekehrt. Wenn auch mit knapper Not. Es gab eine Zeitverschiebung …« Er berichtete, was er über die Expedition und über die Entwicklung auf Eins wußte. Carus schlürfte seinen Kaffee und hörte mehr oder weniger interessiert zu. Als Bell fertig war, sagte er trocken: »Es sieht so aus, als würde die Sonne keine weitere Masse mehr verlieren.« »Was sagen Sie da?« Kerzengerade saß Monty Bell plötzlich auf der Kante seines Sessels. »Seit genau achtundzwanzig Stunden.« Carus stellte die leere Tasse ab. »Seit dieser ungewöhnlichen Strukturerschütterung unge‐ fähr.« »Das ist ja unglaublich!« Bell sprang auf und begann in seinem Büro hin und her zu tigern. »Sind Sie da ganz sicher?« »Nun ja – wir rufen die Meßdaten zur Sonnenaktivität im Vie‐ rundzwanzigstundenrhythmus ab, wie Sie wissen, Sir. Und die ak‐ tuellsten Ergebnisse lassen keine andere Interpretation zu. Aus der Regierung gibt es übrigens eine Anweisung, die Sache geheimzu‐ halten.« »Vernünftig.« Bell setzte sich wieder. »Sehr vernünftig.« Er schenkte sich den nächsten Milchkaffee ein. »Dann sollte so schnell wie möglich jemand in die Sonnenkorona und zu Proxima Centauri fliegen. Wenn dessen Masse nicht mehr zu‐ und die Sonnenmasse nicht mehr abnimmt, dann hätten wir quasi den letzten Beweis, daß der für uns tödliche Energieabfluß aufgehört hat.« »Eine Spritztour, Sir. Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich Sie noch heute nachmittag mit der MAX PLANCK.« »Einverstanden. Ich werde im Labor sein und auf Ihre Daten war‐ ten.«
Der Gleiter trug sie zum südwestlichen Bereich des Flugfeldes. Die Sonne und der strahlend blaue Himmel, aus dem sie schien, erin‐ nerten Demi Hoffman an ihren Skiurlaub in den Rocky Mountains vor drei Jahren, der letzte mit ihrem damaligen Partner. Doch das hatte sie noch nicht gewußt, als sie vor drei Jahren in die Berge auf‐ gebrochen war. Trügerischer Himmel, dachte sie, trügerische Sonne. Weiße Wolken erhoben sich überall auf Cent Field – von den unablässig startenden und landenden Evakuierungsschiffen aufgewirbelte Schneemassen. Jede Stunde verließen Zehntausende Menschen die gute alte Erde. »Guck nicht so traurig«, sagte Ian Carus neben ihr leise. »Das steht dir nicht. Jedenfalls nicht so gut wie dein Lächeln.« Er berührte ihre Hand. Sie griff zu und drückte sie verstohlen. Ian – fast ein Jahr arbeiteten sie jetzt in Professor Bells Forschungsteam zusammen, und genau zehn Monate und siebzehn Tage waren sie ein Paar. »Vergeht dir denn nicht das Lachen, wenn du daran denkst, daß wir die Erde bald verlassen müssen?« »Ich stürze mich einfach in die Arbeit und denke nicht dran.« »Einfach?« Demi seufzte. »Ich wünschte, ich könnte das auch.« Sie ließ Ians Hand los und schlug sich den Mantelkragen hoch. Obwohl der Gleiterpilot die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht hatte, war es kalt im Fahrzeug. »Einfach alles vergessen …« Ja – Ian konnte das, sich einfach in die Arbeit stürzen und verges‐ sen. Wenn er sich einmal in ein Problem verbissen hatte, ruhte er nicht, bis er eine Lösung fand. Und solange vergaß er alles um sich herum. Leider auch Demi. Und Ian verbiß sich in den letzten Wo‐ chen ziemlich oft in ein Problem. Es gab ja auch genug davon in diesen schweren Zeiten. Ihr Verflossener war da ganz anders gewesen. Als Erster Offizier auf einem S‐Kreuzer der Flotte hatte er allerdings auch ganz andere Gründe gehabt, einer Partnerschaft nur ein Minimum seiner Zeit zu widmen. Dazu kam dann noch ein weiblicher Fähnrich, der ihm
schöne Augen gemacht hatte. Nun gut – Schnee von gestern. Jetzt hatte Ian ihr Herz gewonnen. Aber war er wirklich der Mann für eine dauerhafte Partnerschaft? »Ehrlich gesagt – ich habe Angst, die Erde zu verlassen«, sagte sie leise. »Wohin werden wir gehen? Was wird aus uns?« »Es ist doch nur für eine kurze Zeit.« Von einem der Vordersitze drehte sich Emilio Estrada um. »Die Synties arbeiten rund um die Uhr. Die werden die Sonne schon wieder auf Vordermann bringen.« Der Filipino machte ein besorgtes Gesicht. Fast väterlich kam er Carus und Demi Hoffman vor. »Und wenn wir heute nacht noch mit dem richtigen Ergebnis nach Hause kommen, dann grünt und blühtʹs hier unten auch bald wieder.« Demi war gerührt. So weich und zum Trösten aufgelegt kannte sie den meist mürrischen Glatz‐ kopf gar nicht. Bald ragte vor ihnen ein hundert Meter hoher und hundert Meter breiter Ikosaederklotz aus dem Schnee – die MAX PLANCK. Während Ians ersten Monaten in Professor Beils innerstem For‐ schungszirkel hatte ihm der Anblick des schwarzen Forschungs‐ schiffes mit seinen zwanzig Dreiecksflächen und seinen sechs Car‐ boritkuppeln jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. Inzwischen war ihm der schwarze Koloß vertraut. Man gewöhnte sich an alles. Sogar an eine in Eis und Schnee versinkende Erde. Wie sollte man sonst auch überleben? Eine der Flächen neben dem Basisdreieck, auf dem das Schiff stand, öffnete sich. Der Gleiter steuerte den offenen Hangar an und landete darin. Sie stiegen aus und gingen zu den Eingängen der An‐ tigravschächte. Ohne Eile betraten sie den Schacht, der nach oben in die Zentrale führte. Zu dritt waren sie diesmal nur – Demi, Emilio und er selbst, Ian. Drei hochkarätige Wissenschaftler reichten, um den Auftrag zu erledigen. Drei grinsende Männergesichter wandten sich nach ihnen um, als sie die Zentrale betraten. »Willkommen an Bord!« rief ihnen Kapitän
M. X. Child mit seinem unverwechselbaren Baß entgegen. »Wird höchste Zeit, mit Ihnen mal wieder ins Schwarze zu rauschen.« »Finde ich auch, Mix«, lächelte Demi, was Ian ziemlich überflüssig fand. Der große, breitschultrige Mann mit dem sonnenverbrannten Ge‐ sicht und dem schwarzen Haarzopf stand auf und kam ihnen ent‐ gegen. »Man wird ja sentimental bei all dem Weiß, das man Tag für Tag da draußen sehen muß!« Mit Handschlag begrüßte er die drei Wissenschaftler, und Ian Ca‐ rus registrierte aufmerksam, daß er Demis Hand eine halbe Sekunde länger festhielt als seine und Estradas. Sogar eine Verbeugung deu‐ tete er ihr gegenüber an. »Man kriegt Entzugserscheinungen, wenn Sie verstehen, was ich meine, schöne Frau«, lächelte er dabei. Nor‐ malerweise verteilte er sein Lächeln eher sparsam. »Ist uns eine Ehre, mal wieder mit Ihnen abzuzwitschern!« winkte der narbengesichtige Jon Damurel von seinem Pilotensessel aus. »Ganz unsererseits.« Emilio Estrada strahlte. Die freundliche Be‐ grüßung überraschte ihn und gefiel ihm gut, wie es aussah. »Hi, wie gehtʹs so?« Auch der rothaarige Funker James OʹLeary grinste und winkte. »Wie steht es, Landsmann?« rief er an Carusʹ Adresse. »Ist die Welt noch zu retten, oder muß ich mir ein paar Fotos fürs Poesiealbum besorgen?« »Besorgen Sie lieber einen guten Whisky, damit wir gepflegt ans‐ toßen können, wenn die Erde gerettet ist«, sagte Ian gereizt. »Gar nicht hinhören, Mr. Carus«, rief Damurel grinsend. »Wenn der Kleine die Hosen voll hat, kriegt er immer einen Hang ins Theatralische.« Ziemlich ausgelassene Stimmung dafür, daß rund um das Schiff die größte Evakuierungsaktion ablief, die man auf der Erde je gese‐ hen hatte, fand Ian Carus. Die drei Männer überschlugen sich schier vor Freundlichkeit. Nur die Frau an der Ortung sagte keinen Ton. Irgendwie verbissen starrte sie auf ihre Instrumentenkonsole.
Jolene Paris war eine Männerhasserin – jedenfalls tat sie so – und zugleich eine Masochistin. Insofern war ihr Job in der Kommando‐ zentrale der MAX PLANCK durchaus folgerichtig. Ihre Dreadlocks standen störrisch nach allen Seiten ab, genau wie zwei Wochen zu‐ vor, genau wie zwei Monate zuvor und genau wie vor einem knap‐ pen Jahr, als Ian sie zum ersten Mal sah. Er fragte sich, wie solche Frisuren mit solchen Locken eine Haar‐ wäsche überstanden. Wusch man diese Frisuren überhaupt? »Dann wollen wir den Kahn mal in Trab bringen.« Wie ein Dirigent vor seinem Orchester ruderte Child mit beiden Armen. »Fertigma‐ chen zum Start, Leute! Die schöne Frau und ihre Begleiter wollen erstmal unserer armen, schwindsüchtigen Sonne in den Hals gucken! Danach gehtʹs zu Proxima Centauri.« Er ließ sich in seinen Kommandantensessel fallen, beugte sich über das Bordfunkmikro und ließ ein paar Sprüche an seine Besatzung los. Dreißig Männer und Frauen taten auf der MAX PLANCK Dienst. »Auf gehtʹs, ihr fröhlichen Fahrensleutʹ!« rief er schließlich, klatschte in die Hände und drehte sich augenzwinkernd nach Demi um. Derart aufgekratzt hatte Ian den Kapitän noch nie erlebt. Die Frau an der Ortung verschoß nur bitterböse Blicke, sagte aber kein Wort. Auch das war eher ungewöhnlich. Normalerweise ließ die ewig griesgrämige Paris keine Chance aus, ihren Kollegen verbal dorthin zu treten, wo es weh tat. »Wir vertrauen uns wie immer Ihren Flugküsten an, Kapitän«, sagte Estrada. »Wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, Doktor!« »Sie können sich voll und ganz auf Mix verlassen, Mann!« krähte der kleine Funker. »Er hat ja uns!« OʹLeary und Damurel lachten laut, der Kapitän – seine Leute nannten ihn auch Mix oder Skipper – setzte ein Haifischgrinsen auf und zog seinen schwarzen Haarzopf aus dem Jackenkragen, und Paris guckte, als hätte sie den Popel aus der Nase eines Leprakranken zwischen den Zähnen.
Ian hatte genug. »Gut. Wir gehen dann mal ins Zentrallabor. Bis später irgendwann.« Er wandte sich dem Westausgang zu. »Hangar an Zentrale«, tönte es aus dem Bordfunk. »Schiff raum‐ dicht verschlossen.« »Verstanden.« »Maschinenraum an Skipper – Triebwerke hochgefahren.« »Verstanden.« Kurz bevor die drei Wissenschaftler das Westschott erreichten, drehte Child sich nach ihnen um. »Einen Augenblick bitte, Miß Hoffman! Sagten Sie das letzte Mal nicht, sie würden gern mal ein paar Millionen Kilometer in so einem Kommandosessel verbringen?« Demi blieb stehen, wandte sich um und strich sich eine Strähne ihres schönen, glänzenden Schwarzhaarschleiers aus dem Gesicht. Ian glaubte nicht recht zu hören. »So?« lächelte Demi. »Habe ich das?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. »Reizen würde mich das schon.« »Start eingeleitet, Skipper!« »Schon klar, Jon.« Und dann wieder mit schmeichelndem Teddy‐ bärenbaß an Demis Adresse: »Liegt ja nichts Lebensgefährliches an heute. Meine nur – es wäre eine Gelegenheit.« Er stand auf, wies auf seinen Sessel und nahm im Sitz links daneben Platz. »Bitte.« »Den Spaß muß ich mir gönnen, Ian.« Sie machte einen Schmoll‐ mund, und ihre wunderschönen Augen waren mit einem Mal nicht älter als fünf oder sechs. »Dauert ja noch ein bißchen, bis ihr die Ge‐ räte hochgefahren habt und wir die Sonnenkorona erreichen, oder?« Ohne seine Antwort abzuwarten, tänzelte sie zum Kommandostand. Emilio versuchte zu lächeln, und Carus verließ wütend die Zent‐ rale. * Das Zentrallabor war weitläufig, hoch wie eine Halle und mit zwanzig großen Bildschirmen ausgestattet, über die eine Rundum‐
beobachtung der Umgebung des Ikosaederraumers möglich war. Während Ian Carus und Emilio Estrada die Schirme aktivierten, den laboreigenen Suprasensor hochfuhren und anschließend die zahl‐ reichen Meßinstrumente kontrollierten, versuchte Carus die Stim‐ men aus dem Bordfunk zu ignorieren. »Child an alle«, tönte es da. »Im Rahmen eines speziellen Lehr‐ ganges für Kapitäne aus den Reihen des schönen Geschlechts dele‐ giere ich probehalber das Kommando an die Kapitänskandidatin Demi Hoffman. Wo bleiben eure Meldungen, Leute?« »Maschinenleitstand an Kapitän – schalten auf SLE.« »Verstanden«, bestätigte nicht etwa Childs Baß, sondern Demis lieblicher Sopran. »Pilot an Kapitän – vierzig Prozent. Venusbahn soeben überflo‐ gen.« Und wieder die vertraute Frauenstimme: »Verstanden.« So ging das drei oder vier Minuten lang. »Soll ich ausschalten?« fragte Estrada mit barmherzigem Augenaufschlag. »Ausschalten? Was ausschalten?« Ian mimte den Zerstreuten. »Na, den Bordfunk. Müssen wir ja nicht alles hören, oder?« Carus zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Von mir aus.« Estrada machte Anstalten, die entsprechenden Schallgeneratoren zu deaktivieren. »Laß mal«, wehrte Carus. »Vielleicht nicht schlecht, wenn wir auf dem laufenden bleiben.« »Aha.« Estrada zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst, Ian.« Die MAX PLANCK beschleunigte und nahm Kurs auf die Sonne. In der Hälfte der Bildschirme sah man das Zentralgestirn. Und Sol wurde größer und größer. »Pilot an Kapitän.« Damurels Stimme aus dem Bordfunk. »Dreißig Prozent Licht. Noch siebzehn Sekunden, dann passieren wir die Merkurbahn.« »Verstanden«, sagte Demi mit einer gewissen zeitlichen Verzöge‐ rung. Natürlich blies ihr dieser eitle Kapitän jedes Wort ein, das sie in den Bordfunk flöten mußte. Ian kochte. »Auf dem Weg nach Proxi‐
ma Centauri wird sie ihm dann auf dem Schoß sitzen«, knurrte er mit gepreßter Stimme bei sich selbst. »Was sagst du?« Estrada zog die Brauen hoch. »Nichts.« »Vergiß die bescheuerte Eifersucht, Junge«, sagte Estrada. »Ist doch alles ganz harmlos, ein Spielchen, weiter nichts.« »Keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Carus, und Estrada verdrehte die Augen. Sie überquerten die Merkurbahn. In den Bildschirmen sah die Sonne bald so groß aus wie der Querschnitt einer Pampelmuse. »Gehen Sie auf vierzig Prozent, Mr. Damurel«, tönte Demis Stimme im Bordfunk. »Aber selbstverständlich, ma Capitaine.« Der Tonfall des Piloten klang eher nach einer Quizshow als nach einer sachlichen Routine‐ bestätigung. Carus schwoll eine Ader an der rechten Schläfe. Als Demi dann einen Kurs vorgab, der eine halbe Stunde später tangential in die Sonnenkorona hineinführen würde, schaltete er sich ein. »Zentral‐ labor an Kommandozentrale. Miß Demi Hoffman bitte an ihren Ar‐ beitsplatz.« »Verstanden«, dröhnte Childs Baß. »Allerdings geben wir Ihre Kollegin nur sehr ungern her, Mr. Carus. Sie macht sich ausgespro‐ chen gut hier im Kommandostand.« Im Hintergrund hörte er App‐ laus und Bravorufe. Ian verzichtete auf einen Kommentar und schaltete den Bordfunk ab. Minuten später fuhr die Tür des Haupteingangs zur Seite, Demi kam ins Zentrallabor. Sie setzte sich neben Carus. »He, du bist sauer.« Sie neigte den Kopf auf die Schulter und musterte ihn mit hochgezogenen Brauen. »Ich habʹs deiner Stimme angehört.« »Blödsinn. Wie kommst du darauf?« Carus vermied einen Blick‐ kontakt. »Es gibt nur eine Menge zu tun hier.«
»Gib es doch wenigstens zu, daß du sauer bist!« Sie drehte den Sessel ihrem Arbeitspult zu. »Unser Suprasensor ist hochgefahren? Na, schön. Womit fangen wir an?« »Warum zum Teufel sollte ich sauer sein?« Die heisere Stimme verriet Ian. »Weil ein Mann versucht, mit mir zu flirten, und ich ihm nicht so‐ fort die kalte Schulter zeige vielleicht?« »OʹLeary flirtet mit dir?« Ian mimte den Erstaunten. »Es ist ein Spiel«, sagte Estrada. »Die spielen da irgendein Scheißspiel in der Zentrale. Steigt bloß nicht darauf ein! Habt ihr nicht gemerkt, wie überfreundlich die uns begrüßt haben? Da stimmt doch was nicht.« Ein Reißverschluß war durch Demis Miene gegangen. »Ein Glück! Ich dachte schon, du bist sauer. Dann kann ich ja seine Einladung annehmen und auf dem Weg nach Proxima Centauri wieder neben ihm im Kommandantensessel Platz nehmen.« »Viel Spaß dabei. Jetzt will ich aber, daß du dich zunächst einmal auf deinen Job konzentrierst.« »Sprich nicht mit mir, als wärst du mein Vorgesetzter!« Sie funkelte ihn an. »Ist das klar? Auf dem Ohr bin ich nämlich total taub!« »Vermessen wir den Abstand von der Sonne zur den inneren vier Planeten.« Ian tat, als hätte er das nicht gehört. »Und vergleichen wir die Werte mit der letzten Messung.« * Bis auf 4,5 Millionen Kilometer ließ Ian den Kapitän an die Sonne heranfliegen. So oft hatten sie den Suprasensor sonnenrelevante Daten erheben lassen, daß er sich längst selbst ein Programm ge‐ schrieben hatte, mit dem er die Meßergebnisse gut dreimal so schnell lieferte wie am Anfang. »Ich fasse mal zusammen.« Emilio Estrada aktivierte den Auf‐ zeichnungsmodus des Suprasensors, um später die verbale Zusam‐
menfassung an das elektronische Datenprotokoll anhängen zu kön‐ nen. »Die letzte routinemäßige Datenerhebung liegt zweiundzwan‐ zig Stunden zurück, durchgeführt in den Geheimlaboratorien der Raumakademie Alamo Gordo von Desmond Ford, Franco Moya und Luis Elcano unter Zuhilfenahme der stationären Sonnensatelliten in der Umlaufbahn des Merkur. Die jüngste begann vierundvierzig Minuten vor Beginn dieser Aufzeichnung – siehe Datenprotokoll – und wurde durchgeführt vom Zentrallabor der MAX PLANCK un‐ ter der Leitung von Ian Carus, Demi Hoffman und Emilio Estrada. Lediglich drei Werte haben sich verändert: Die Protuberanzenakti‐ vität der Sonne hat um 6,8 Prozent zugenommen, der mittlere Ab‐ stand zwischen Sonne und Jupiter hat um dreiundsechzig Meter zugenommen. Alle anderen erhobenen Daten entsprechen dem des Protokolls vom gestrigen Tage.« Estrada schaltete den Aufnahmemodus aus. »Die Protuberanzen gehen wohl auf das Konto der Synties.« Ian Carus nickte nachdenklich. »Daß der massenreiche Jupiter sich minimal nach außen entfernt hat, könnte man mit Fliehkräften er‐ klären«, sagte er. »Auf die hat der Stillstand des Massenverlustes der Sonne wohl noch nicht voll durchgeschlagen.« »Ich würde dreiundsechzig Meter unter den zu vernachlässigen‐ den Unscharfen der Messung selbst verbuchen«, schlug Demi vor. »Wenn man sie alle vierundzwanzig Stunden wiederholt, kommt wahrscheinlich ein Wert um die Null heraus.« »Schon möglich«, sagte Ian. Die beiden hatten in den zwei Stun‐ den, während sie im Labor nebeneinandersaßen, nur das Nötigste gesprochen. »Jedenfalls haben wir die Bestätigung, die wir wollten: Die Sonne verliert tatsächlich keine weitere Masse mehr. Wenn die Synties nur fleißig weiterhin Wasserstoff herbeischaffen, ist der dritte Planet in zwei, drei Jahren wieder das, was er mal war – eine paradiesische Welt.« »Wenn man von uns Menschen mal absieht.« Estrada aktivierte den Bordfunk. »Zentrallabor an Kommandozentrale, ich schicke
Ihnen ein Datenpaket, das müßte so schnell wie möglich in die La‐ boratorien der Raumfahrtakademie, Mr. OʹLeary. Codierung wie üblich.« »Verstanden, Doktor«, tönte die Stimme des Funkers. »Wird wie immer schnell und zuverlässig erledigt!« »Carus an Kapitän. Wir wären dann soweit, Sie können das nächste Ziel ansteuern.« Demi stand auf und ging zur Hauptluke. »Ich gehe zurück in die Zentrale.« Sie kostete jedes Wort aus. »Die Transition nach Proxima Centauri will ich im Kommandosessel erleben. Neben Mix.« * Vier Stunden später tauchten sie in die Korona von Proxima Cen‐ tauri ein. Jon Damurel hatte dafür gesorgt, daß die MAX PLANCK nur ein paar Millionen Kilometer davor aus dem Hyperraum sprang, so daß der Forschungsraumer innerhalb weniger Minuten im relati‐ ven Ortungsschutz des Sternes verschwinden konnte. Sein rötliches Licht fiel von den Monitoren ins Zentrallabor. Demi saß wieder an ihrem Platz neben Ian. Sie riefen die Daten der letzten, erst wenige Stunden alten Routinemessung auf den Hauptschirm und aktivierten die Meßgeräte. Der Suprasensor blendete einen ak‐ tuellen Wert nach dem anderen neben den alten. »Ich komme nach der Landung vielleicht ein bißchen später in die Akademielaborato‐ rien nach«, sagte Demi. »So?« Ian gab sich gelangweilt. »Mix will mir noch den Maschinenraum zeigen.« »Na, dann spitz mal schön die Ohren.« »Wußtest du, daß er eine Hochseejacht auf Eden besitzt?« »Nein.« Mit einer Kopfbewegung deutete Ian auf den Haupt‐ schirm. »Man kann jetzt schon absehen, daß kein einziger Wert sich verändert hat.« Seine Miene war eine wächserne Maske.
»Ich könnte gern mal ein paar Urlaubstage dort verbringen, hat er gesagt, stell dir vor!« Demi lachte laut. »Schön für dich.« Estrada verdrehte schon wieder die Augen. »Gott, seid doch nicht so kindisch!« »Er will mich persönlich zu einer Paradiesinsel fahren, wo Wallis einen Wildpark mit den seltensten Tierarten der Erde aufbaut. Wußtest du davon?« »Nein. Und gibtʹs in dem Paradies Garderobenzwang?« Seine Stimme klang schneidender als beabsichtigt. Das ärgerte Ian. »Siehst du, du bist ja doch eifersüchtig«, sagte sie mit triumphie‐ render Stimme und lächelte dabei so ungetrübt wie eine Jungfrau aus der skandinavischen Provinz. »Ich bin nicht eifersüchtig, verdammt noch mal!« Ian lief rot an, beherrschte sich aber. »Der Suprasensor hat die Daten eingesammelt. Die Sonne verliert keine Energie mehr, Proxima Centauri gewinnt keine dazu. Der Fall ist klar, würde ich sagen. Wir könnten das Da‐ tenpaket für den Chef schnüren, Emilio.« Estrada aktivierte den Bordfunk. »Zentrallabor an Kommando‐ zentrale. Kommen.« »Na, Doktor?« krähte die Stimme des kleinen Rothaarigen aus dem Bordfunk. »Wieder ein Leckerbissen für den Professor?« »So ist es.« »Ich soll es mir bis Ende nächster Woche überlegen.« Demi fun‐ kelte Ian an. »Da wollen wir bei einem Abendessen in seinem Lieb‐ lingsrestaurant alles besprechen.« Unentwegt musterte sie ihn. Ian starrte auf irgendeinen Bildschirm, vielleicht auch auf keinen, und antwortete nicht. Im Hintergrund plauderte Estrada mit OʹLeary. »Kannst ja mitkommen«, sagte Demi mit deutlich aufreizendem Unterton. »Falls deine unglaublich viele Arbeit so ein kleines Ver‐ gnügen am Rande zuläßt …« »Ich lege keinen Wert darauf, mit diesem Affengesicht auch nur eine Minute privat zu verbringen!« Ian platzte der Kragen, er schrie.
Estrada schaltete erschrocken den Bordfunk ab. »Der zieht einen Flirt nach allen Regeln der Kunst ab, und du merkst es nicht einmal!« Er sprang aus seinem Sessel und drehte Runden im Labor wie ein to‐ bender Stier im zu kleinen Stall. »Dieser Schleimscheißer ist verknallt in dich, und du bist blind wie ein Teenie!« Er blieb vor ihr stehen und drohte mit dem Zeigefinger. »Und jetzt sage ich dir mal was!« Puterrot war sein Gesicht, die Adern an seinen Schläfen blaugeschwollen. »Ich will keine Frau, die sich von so ei‐ nem … so einem … so einem aufgeblasenen Affenarsch anmachen läßt …!« Seelenruhig hörte Demi sich sein Geschrei an. Irgendwann sprang auch sie auf und schlug seinen drohenden Zeigefinger zur Seite. »Und jetzt sage ich dir mal was: Zu einem Flirt gehören immer zwei!« Ian holte Luft für den nächsten Wutausbruch, doch Demi war schneller. »Ich bin erst am Anfang, Ian!« schrie sie. »Ich sagʹ dir jetzt, was ich will! Ich will einen Mann, der mich endlich mal wieder zum Essen einlädt!« In puncto Lautstärke stand sie Ian in nichts nach. Estrada hielt sich die Ohren zu. »Ich wünsche mir einen Mann, der nicht nur von sei‐ ner Arbeit träumt, sondern auch davon, nackt mit mir auf einer Pa‐ radiesinsel zu liegen! Oder wenigstens einen Mann, der einen Urlaub für uns plant! Und vor allem wünsche ich mir einen Mann, der nicht den unverletzlichen Macker spielt, sondern zeigen kann, daß er krank ist vor Eifersucht!« Sie fuhr herum, stolzierte zur Luke und wandte sich auf der Schwelle noch einmal zu dem vollkommen sprachlosen Ian um. »Wenn du nach der Landung noch Wert auf meine Nähe legst, holst du mich in der Kommandozentrale ab!« * Nach der Landung auf Cent Field hörte Demi, wie sich die Flügel des Westschotts aufschoben. Die Wissenschaftlerin gab dem Sessel einen
Schwung, daß er eine halbe Drehung machte. Ian stand einen Schritt weit in der Zentrale. Ein paar Schritte hinter ihm, schon halb am Antigravschacht, wartete Emilio. Der Filipino nestelte irgendwie nervös an seinem Kragen herum. »Hi.« Ian winkte linkisch. »Ahm … wir wären dann soweit fertig. Kommst du … gleich mit? Ahm … wäre schön.« Von rechts spürte Demi den prüfenden Blick des Kapitäns. Links sah sie aus den Augenwinkeln Paris mit ihrem Sessel herum‐ schwingen. Die belauerte sie regelrecht. Und jetzt fielen ihr auch die neugierigen Blicke des Funkers und des Piloten auf. »Was war denn das für ein Geschrei bei euch vorhin?« Damurel grinste über das ganze Gesicht. »Klang ja richtig nach ʹnem Familiendrama!« krähte OʹLeary ver‐ gnügt. »Nur ein kleiner Zwist.« Demi stand auf und ging auf den zer‐ knirscht wirkenden Ian zu. »Wir tauschten uns über einen gemein‐ samen Bekannten aus.« Sie hakte sich bei Ian unter. »Vielen Dank für den Privatunterricht, Mix.« Sie winkte in die Runde. »Bis zum näch‐ sten Mal!« »Wiedersehen«, brummte Ian. Damurel und OʹLeary grüßten, Paris verschränkte die Arme vor der Brust und grinste zum ersten Mal seit dem Start, und der Kapitän rief: »Und überlegen Sie es sich bis morgen abend, okay, Demi?« Demi blieb stehen. »Tut mir leid, Mix, ich kann Ende der Woche nicht mit Ihnen essen gehen. Ian hat mich für den gleichen Termin eingeladen. Und das mit dem Trip auf Ihrer Jacht ist wirklich eine tolle Idee, aber ich mache prinzipiell nur mit Männern Urlaub, die ich auch heiraten würde.« Sie lächelte und sah Ian an. »Mit ihm hier zum Beispiel. Also, nehmen Sieʹs nicht persönlich, Mix. Bis bald.« Sie verließen die Zentrale, hinter ihnen schlossen sich die Schott‐ flügel. Emilio grinste in sich hinein und stieg in den Antigravschacht.
Ian sagte kein Wort, die Bewegungen seines Adamsapfels verrieten aber, daß er nach welchen suchte. Hinter ihnen gingen die Türen zur Kommandozentrale wieder auf, überrascht drehten sie sich um. Die Dreadlocks‐Emanze kam aus der Kommandozentrale, und – Ian traute seinen Augen nicht – Jolene Paris strahlte gutgelaunt über das ganze Gesicht. Während sich das Schott hinter ihr schloß, kam sie zu Demi und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Sie waren galaktisch! Bin stolz auf Sie! Wir haben gewettet, wissen Sie. Der Boß sagt: ›Ich kriegʹ sie rum‹, ich sage: ›Schaffst du nie‹! Hat mir zweihundert Dollar ge‐ bracht. Ich lade euch demnächst zum Essen ein …« * Ohne Zweifel gehörte die Aussicht vom Kontrollturm zum Schöns‐ ten, was die Kolonie zu bieten hatte. Marvin Lettley war einer von zwölf Männern und Frauen aus Sahara‐City, die sie fast täglich ge‐ nießen konnten. Das tat er auch, wenn sonst nichts anlag. Auch an diesem Vormittag blickte er zwischen den vorschriftsmä‐ ßigen Routinekontrollen von Zeit zu Zeit über das Rund des Raum‐ hafens und die Kakteenplantagen hinweg zur Stadt hinüber. Wie meistens versuchte Lettley, das Dach seines Hauses zwischen den Dächern der Stelzenhäuser zu erkennen, und weil die Morgen‐ luft klar war, gelang es ihm auf Anhieb. Unter dem hellgrauen Dach dort drüben, keine zwei Kilometer entfernt, packte eine Frau namens Loretta Lettley vermutlich gerade den Tornister für den Tagesproviant. Loretta arbeitete als Erntehel‐ ferin. Gestern hatte die erste Ernte des Jahres begonnen. Noch eine knappe Woche, dann würde die neue Ratzfatz‐Produktion anlaufen. Auf der Verbindungsstraße zwischen dem Raumhafen und Saha‐ ra‐City sah Lettley schon die ersten Erntegleiter schweben. In Ko‐ lonnen zu je acht Maschinen bogen sie in die kerzengeraden Wege ein, die wie ein Karomuster die Plantagen durchzogen.
In so einem Transporter würde in einer halben Stunden auch Lo‐ retta sitzen. Allerdings würde sie auf der Nordseite der Stadt in die Plantagen fahren. Marvin Lettley lächelte. Er lächelte fast immer, wenn er an die Frau dachte, die er liebte. »Besuch«, sagte Rasche neben ihm. Lettley schreckte aus seinem Tagtraum hoch. »Wie, Besuch?« Seines Wissens lag kein Landeantrag irgendeines Frachtunternehmens vor. »Besuch aus der Stadt?« Unwillkürlich blickte er auf das Flugfeld hinunter. Sechs Frachter standen dort, zwei wurden gerade beladen. Einen Gleiter konnte Lettley nirgends sehen. »Blödsinn«, brummte Rasche. »Der neue Sprungpeiler hat eine Strukturerschütterung angepeilt.« Telfried Rasches Finger flogen schon über die Instrumentenschalttafel der Ortung. »Wir kriegen Besuch aus dem All, glaube ich. Aber das können doch wohl kaum diese Roboter sein … was sollten die hier wollen?« Vergeblich beobachteten sie die Ortungsschirme, kein Raumschiff war zu sehen. »Der Sprungpeiler behauptet, jemand sei aus dem Hyperraum gekommen.« Rasche holte ein paar Ziffern auf einen der Schirme. »Hier sind die Koordinaten.« »Der Punkt liegt diesseits des fünften Planeten«, sagte Lettley. »Korrekt. Siehst du da irgendwas?« Lettley verneinte. »Ich auch nicht.« »Das will nichts heißen«, sagte Lettley. »Vielleicht fliegt ein Schiff unter Tarnschutz durch das System.« »Vielleicht jemand, der unseren Schnaps rauben will, was?« Vor‐ wurfsvoll blickte Rasche seinen Kollegen an. »Denk doch nicht im‐ mer gleich an den Weltuntergang.« »Tu ich doch gar nicht.« Lettley aktivierte den Funk. »Ich sag mal vorsichtshalber im Magistrat Bescheid.«
18. Der Regierungschef hatte in den kleinen Konferenzsaal geladen. Dhark entdeckte überall Männer und Frauen des Geheimdienstes, alle mehr oder weniger unauffällig. Eylersʹ Leute von der GSO waren heute also für die Sicherheit zuständig; eine wichtige Sitzung demnach. Trawisheim, Eylers und Bulton begrüßten Ren Dhark und seine beiden Begleiter an der Tür des Konferenzsaales. Auf Dan Rikers und Amy Stewarts Nähe hatte der Commander nicht verzichten wollen. Die meisten Teilnehmer saßen bereits, einige wenige kamen noch. Ren Dhark nickte in die Runde, während er sich setzte. Er regist‐ rierte Peter Schwengers, Tim Acker, Vincente Margarita, Monty Bell, Ian Carus, der wohl inzwischen zu einer Art Spezialassistent des Akademiechefs aufgestiegen war, und natürlich Charaua, den Re‐ gierungschef der Nogk. Zu den wenigen, die nach ihm kamen, gehörte Bert Stranger. Es überraschte Ren Dhark, daß Trawisheim einen Journalist eingeladen hatte. Normalerweise versuchte der Commander der Planeten sich diese Art von Öffentlichkeit so weit wie möglich vom Hals zu halten. Dhark fragte sich, wie er diesen Schachzug seines Nachfolgers interpretieren sollte, kam aber auf keine einleuchtende Erklärung. Eylers sprach an der Tür mit einem seiner Agenten und schloß sie dann. Trawisheim begrüßte die Anwesenden. »Über die Evakuie‐ rungen brauchen wir heute nicht viele Worte verlieren«, fuhr er fort. »Es läuft alles nach Plan, und nennenswerte Schwierigkeiten wie noch vor einem Jahr die Übergriffe der Extremisten, behindern die Rettung der Menschheit schon seit Monaten nicht mehr.« Er lächelte in die Runde. »Dazu kommt eine Entwicklung, die keiner von uns so erwarten konnte und die mich persönlich sehr glücklich macht. Vermutlich haben sich diese Ereignisse unter Ihnen
längst herumgesprochen. Dennoch möchte ich Hauptmann Schwengers und Mr. Carus um ihre Berichte bitten.« Peter Schwengers, von Haus aus kein Mann vieler Worte, faßte sich kurz. In fünf, sechs Sätzen stellte er das Wesentliche dar, was es von der Expedition in den Hyperraum zu berichten gab. Ian Carus, Beils in den Kellern der Raumfahrtakademie schuften‐ des Genie, faßte sich sogar sehr kurz. »Ungefähr seit Rückkehr der Hyperraumstation in das Normalkontinuum haben wir ein Problem weniger: Die Sonne stirbt nicht mehr. Wir sind mit der MAX PLANCK zur Sonne und nach Proxima Centauri geflogen, um das noch einmal vor Ort zu überprüfen. Es gibt keinen Zweifel: Unsere Sonne verliert keine Masse mehr, Proxima Centauri gewinnt keine Masse mehr hinzu. Danke.« Zwei, drei Sekunden lang hätte man eine Büroklammer fallen hö‐ ren können. Dann rief Bulton laut »Gott sei Dank!« und klatschte in die Hände, und postwendend erhob sich langer Beifall. Trawisheim bedeutete irgendwann mit einer Geste beider Hände, zur Sache zurückzukehren. Sein Blick gab Bell zu verstehen, daß er nun das Wort hatte. Der Chef der Raumakademie verlor ein paar verbindliche Worte an die Adresse derjenigen, die ihren Anteil an der Entwicklung hatten – das waren so ziemlich alle Anwesenden –, und erinnerte dann fol‐ gerichtig an die unbezahlbare Hilfe der Synties. »Verfallen wir ja nicht in unangemessene Euphorie, Herrschaften«, fuhr er fort. »Die Sonne verliert zwar keine Masse mehr, dennoch bleibt unsere Erde zunächst eine Eiswüste. Allerdings für eine ab‐ sehbare Zeit. Wenn unsere ungewöhnlichen Verbündeten, die Syn‐ ties, weiterhin in dem atemberaubenden Tempo wie bisher inter‐ stellares Wasserstoffgas in unser Heimatgestirn pumpen, dauert es noch etwa fünf Jahre, bis die Sonne ihre ursprüngliche Masse und damit auch ihre ursprüngliche Kraft zurückerhält.« Mit hochgezogenen Brauen sah er in die Runde. Alle hingen an seinen Lippen. »Nur um das wirkliche Ausmaß dieser Hilfe zu ver‐
anschaulichen: Würden wir und unsere Verbündeten, die Nogk, die gleiche Leistung mit unseren vereinten derzeit zur Verfügung ste‐ henden technischen Mitteln zu bewältigen versuchen – wir haben das einmal durchgerechnet –, würde es etwa hundertfünfundzwan‐ zig Jahre dauern, bis wir das gleiche Ergebnis erreichen könnten.« Alle nickten halb betreten, halb anerkennend. Dhark meldete sich zu Wort. »Das heißt also, wir könnten die Evakuierung nach Babylon abbrechen, denn fünf Jahre sind ja ein überschaubarer Zeitraum.« »Auf gar keinen Fall!« widersprach Trawisheim energisch. »Warum nicht? Das müssen Sie uns erklären, Henner«, forderte Dhark. * Der Magistrat von Sahara‐City residierte in einem auf Säulen ge‐ bauten Gebäudekomplex im Stadtzentrum. Dorthin war Pal Bretan vom Frühstückstisch aus geeilt, als ihn die Nachricht von der ange‐ peilten weichen Transition erreichte. Mit dem Lift fuhr er in die oberste Etage des höchsten Hauses des Komplexes. Von hier oben aus leitete er seit einem Jahr die Kolonialverwaltung. Sein Vorgänger Stavros war durch eine Explosion ums Leben ge‐ kommen, bei der eine Höhle über einem geheimnisvollen Jung‐ brunnen eingestürzt war. Tausende Tonnen von Gestein hatten den Ersten Bürger, wie Stavros sich genannt hatte, zwei Magistratsbeamte und den Chef des inzwischen geschlossenen Unternehmens Gen‐ Labs begraben. Pal Bretans erste Amtshandlung war es gewesen, den Titel Erster Bürger abzuschaffen. An seiner Tür stand schlicht: Pal Bretan, Bür‐ germeister. Es gehörte zu den Pflichten eines Bürgermeisters von Sahara‐City, besondere Vorkommnisse auf ihre Sicherheitsrelevanz hin zu prüfen und in eine fünfstufige Alarmbereitschaftsskala einzuordnen.
Eine angepeilte Transition in der Umgebung von Munros Stern galt auf Sahara als besonderes Vorkommnis, falls kein Schiff sich dar‐ aufhin über Funk meldete und identifizierte und falls die Ortung des Raumhafens kein Schiff anpeilen konnte. Beides war der Fall. Im Beratungssaal seiner Büroräume warteten bereits sein Sicher‐ heitschef, dessen Stellvertreter, der Direktor des Raumhafens, der Direktor der Ratzfatz‐Werke und dessen für die Ernte zuständiger Stellvertreter. »Vermutlich gibt es keinen Grund, unsere Bürger zu beunruhi‐ gen«, eröffnete Bretan die Beratung. »Irgendein Schiff fliegt unter Tarnschutz in der Nähe von Munros Stern vorbei, weiter nichts.« Er blickte in die Runde. »Was meinen Sie?« »Ich denke, wir sollten dennoch die niedrigste Alarmstufe ausru‐ fen«, sagte sein Sicherheitschef, der zugleich sein Vize war, ein ha‐ gerer kleiner Mann mit weißem, vollem Haar. Er hieß Darius Pollack und war Mitte fünfzig. »Dann können wir beruhigter unsere All‐ tagsarbeit in Angriff nehmen.« »Sicherheitsstufe fünf?« Der Direktor der Ratzfatz‐Werke, Herb Ashley, setzte eine skeptische Miene auf. »Gestern hat die Ernte be‐ gonnen, meine Herren. Denken Sie an die vielen Bürger, die heute wieder außerhalb der Sicherheitszone in den Plantagen arbeiten werden! Wer weiß denn, ob nicht irgendwelche Vandalen unterwegs nach Sahara sind?« Ashley war ein wichtiger Mann, und sein Wort wog entsprechend schwer, denn Ratzfatz, der Schnaps aus den Sahara‐Kakteen, war der Exportartikel Nummer eins für die Kolonie, die Basis ihrer Wirt‐ schaft sogar. »Ich plädiere für Stufe vier«, sagte er mit Blick auf den Bürgermeister. Sie diskutierten nicht lange – Stufe vier wurde beschlossen. Pal Bretan wies seinen Sicherheitschef und dessen Stellvertreter an, entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Pollack und sein Vize, ein Endzwanziger namens Kaltenbeck, ver‐ ließen den Saal.
Alarmstufe vier bedeutete auf Sahara: Die Kolonialpolizei hatte sich zu bewaffnen, Polizeigleiter hatten in einem Umkreis von zehn Kilometern rund um die Stadt zu patrouillieren, der Kontrollturm des Raumhafens wurde doppelt besetzt, und die Bürger mußten informiert und zu erhöhter Wachsamkeit aufgefordert werden. Kaum hatten sich die Sicherheitschefs verabschiedet, meldete sich die Raumhafenaufsicht aufs neue: Die Turmbesatzung hatte ein un‐ bekanntes Objekt geortet, und zwar nur für den Bruchteil einer Se‐ kunde. Niemand konnte das angebliche Objekt näher beschreiben. Bretan beließ es vorerst bei der beschlossenen Alarmstufe, schickte aber Spezialgleiter mit leistungsstarken Ortungsgeräten in alle vier Himmelsrichtungen aus. * Ein Wort gab das andere, die Argumente flogen hin und her, und rasch kristallisierten sich zwei Parteien heraus: Die einen, angeführt vom Regierungschef, plädierten vehement für eine Fortsetzung der Evakuierung; die anderen, repräsentiert vor allem vom ehemaligen Regierungschef, argumentierten genauso energisch dagegen. Bert Stranger selbst dachte eher an seine persönliche Zukunft. Er wünschte, Trawisheim hätte ihn nicht zu dieser Geheimkonferenz eingeladen. Jeder Zuwachs an Insiderwissen bedeutete für ihn not‐ wendigerweise, noch länger auf der POINT OF ausharren zu müs‐ sen. Dabei hatte er gar nicht vor, auch nur das geringste Detail ir‐ gendeines sogenannten Geheimnisses an die große Glocke zu hän‐ gen, und hatte das auch oft genug beteuert. Vergeblich bisher. Stranger haßte sein Exil inzwischen, und seine Sehnsucht nach Veronique verursachte ihm mittlerweile geradezu körperliche Schmerzen. Andererseits: Irgendwann würde die Zeit kommen, da würde er seine ganzen Erlebnisse zu einem Buch verarbeiten können. Das hatte er sich geschworen. Und nicht alle würden sich geschmeichelt
fühlen, die dieses Buch dann lesen und sich wiedererkennen würden … »Die Pläne für eine Transmitterstraße sind fertig«, sagte Trawis‐ heim. »Sie soll Babylon und die Erde ähnlich effektiv verbinden, wie es heute bereits die Transmitterstraße zwischen Eden und Terra tut. Sobald die Erdbevölkerung vollständig nach Babylon evakuiert worden ist, werden wir mit dem Bau beginnen. Über die Transmit‐ terstraße werden wir in fünf Jahren die Rückkehrer zur Erde brin‐ gen.« »Warum dieser Aufwand?« Ren Dhark war nicht zufrieden. »Die Erde ist im Moment zwar kein besonders behaglicher Ort, aber man kann auf ihr leben. Und die fünf kalten und erntefreien Winterjahre zu überbrücken ist doch bei unseren technischen Möglichkeiten ein Kinderspiel!« »Sie übersehen die Kosten, mein lieber Ren.« Trawisheim lächelte staatsmännisch. »Wenn wir jetzt die Evakuierung nach Babylon stoppen würden, hätten wir noch zwanzig Milliarden Menschen hier, die wir fünf Jahre lang mit Energie und Nahrung versorgen müßten. Allein die Heizkosten, die wir ja übernehmen müßten, würden unseren Staatshaushalt sprengen. Wir sind doch jetzt schon so gut wie bankrott …!« »… haben aber offensichtlich Mittel genug, um eine teuere Trans‐ mitterstraße zu planen und zu bauen«, fuhr Dhark dem Regie‐ rungschef in die Parade. »Stecken Sie das Geld für die Transmitters‐ traße in die Versorgung unserer Bürger, Henner, und Sie ersparen unzähligen Menschen Entwurzelung und den Verlust ihrer Heimat. Haben Sie denn jemals die sozialen und psychischen Folgen einer solchen Massenevakuierung untersuchen lassen? Für die Folgekos‐ ten können wir zwanzig Milliarden Menschen fünfzig Jahre lang die Wohnungen heizen!« Bulton, Vandekamp, Margarita und andere nickten beifällig. Viele jedoch runzelten die Stirn und machten zweifelnde Gesichter. »Nun, da mag schon etwas dran sein, Ren.« Trawisheim räusperte sich.
»Aber haben Sie auch folgenden Punkt bedacht?« Sein energischer Blick löste sich von Dhark und schweifte in die Runde. »Wir hatten zu Beginn der Evakuierung 36 Milliarden Menschen auf der Erde. Auf Babylon hingegen lebten bis zu diesem Zeitpunkt nur knapp 40 Millionen Menschen. Und dabei verfügt der Planet schon heute über eine Infrastruktur, die den Vergleich mit unserer hier auf Terra nicht zu scheuen braucht.« »Ich verstehe nicht«, sagte Ren Dhark. »Was hat Babylons Infrast‐ ruktur damit zu tun, daß bei uns Milliarden ihre Heimat aufgeben müssen?« »Mehr, als Sie glauben, Ren!« Trawisheim schlug einen schärferen Tonfall an. »Langfristig wäre es für das zukünftige Überleben der Menschheit wichtig, wenn sie sich auf zwei galaktische Machtzent‐ ren verteilen könnte, wenn zum Beispiel nach der Rückbesiedelung der Erde, sagen wir in zehn oder fünfzehn Jahren, 18 Milliarden Menschen auf Babylon und 18 Milliarden auf der Erde leben wür‐ den.« »Unsere Verfassung erlaubt es jedem Bürger, seinen Wohnort und Wohnplaneten frei zu wählen«, entgegnete Dhark. »Sie können nicht Milliarden von Menschen gesetzlich dazu verpflichten, auf Babylon zu bleiben, wenn die Erde wieder eisfrei ist!« »Das habe ich auch gar nicht vor!« Trawisheim lächelte milde. »Die Leute werden von ganz allein bleiben, denn anders als die Evakuie‐ rungsflüge werden wir die Transmitterdurchgänge und die Rück‐ flüge zur Erde selbstverständlich nicht kostenlos anbieten. Die Kos‐ tenfrage wird das Problem ohne unser Zutun regeln: Wer sich den Flug oder den Transmitterdurchgang nicht leisten kann, wird auf Babylon bleiben, so einfach ist das.« So viel Kaltschnäuzigkeit verschlug Dhark die Sprache. Neben sich hörte er Riker einen Fluch flüstern, und Amy Stewart sog geräusch‐ voll die Luft durch die Nase ein. In der Runde begann man zu tu‐ scheln und zu raunen.
»Schauen Sie, meine Damen und Herren«, fuhr Trawisheim fort. »Jedem, der Augen hat zu sehen, muß es doch seit langem ein Dorn im Auge sein, daß Babylon nicht zuletzt durch die Hinterlassen‐ schaften der Worgun über eine Infrastruktur verfügt, die gut und gern zweihundertmal so vielen Menschen Lebensraum bietet, wie den Planeten tatsächlich bevölkern, während wir auf unserer Erde in vielen Regionen unter teilweise extremer Übervölkerung stöhnen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber so gesehen war die Son‐ nenkrise doch ein Glücksfall, und wenn die Roboter von Eins nicht für diese Krise gesorgt hätten, hätte man sie …!« »Blanker Zynismus ist das!« rief Ren Dhark dazwischen. »… geradezu erfinden müssen, und wir wären dumm, wenn wir sie bevölkerungspolitisch nicht ausnützen würden! Und das ist kein Zynismus, das ist politische Weitsicht!« »Milliarden müssen sich von den Häusern, den Landschaften, den Dörfern und Städten trennen, wo sie aufgewachsen sind, die sie ge‐ prägt und zu dem gemacht haben, was sie sind!« Leidenschaft und Empörung hatten Dhark gepackt. »Milliarden leiden unter diesem Abschied, werden ihn niemals verkraften und hoffen und bangen einer möglichen Heimkehr entgegen, und Sie sitzen hier und reden über dieses Leid wie ein eiskalter Betriebswirt!« Das Stimmengewirr verebbte, Sekunden lang wurde es still im Konferenzsaal. Schließlich ergriff Charaua das Wort. »Das ist sicher ein harter Schritt, da hast du recht, Ren Dhark. Dennoch sind wir als Lenker der Völkergeschicke verpflichtet, an die Generationen zu denken, die uns folgen. Deswegen stimme ich Henner Trawisheims Argumentation zu.« Der schwere Insektenschädel des Nogk ahmte ein menschliches Nicken nach. »Sie ist nicht nur logisch, sie ist zwingend.« Dhark war verblüfft. Als er auch Monty Bell und den Raummar‐ schall zustimmend nicken sah, gab er auf. Er lehnte sich zurück und enthielt sich jeder weiteren Wortmeldung.
»Einen Dank möchte ich an dieser Stelle noch loswerden.« Tra‐ wisheim blickte zu Bert Stranger. »An Sie, Mister Stranger.« Der Journalist horchte auf. »Sie haben hervorragende Arbeit auf infor‐ mationspolitischem Gebiet geleistet! Ich danke Ihnen im Namen der Regierung von Terra. Darf ich Sie um Ihre Meinung in dieser Streit‐ frage bitten?« »Mir wird es schwer ums Herz, wenn ich mir vorstelle, ich könnte nicht mehr auf die Erde zurückkehren«, sagte Stranger. »Dennoch bin ich Ihrer Meinung: Die Evakuierung muß fortgesetzt werden. Es ist eine harte Entscheidung, aber eine richtige.« »Danke, Mr. Stranger. Sobald die Konferenz vorbei ist, sind Sie selbstverständlich frei, zu gehen, wohin Sie wollen und zu tun, was Sie wollen.« Stranger glaubte nicht recht zu hören. Sein Exil auf der POINT OF war beendet? Unglaublich! Er verbarg seine Irritation hinter einer ausdruckslosen Miene und quittierte den höflichen Beifall von allen Seiten mit stummem Nicken. Mit einer Geste sorgte Trawisheim erneut für Ruhe. »Dann darf ich die Fortsetzung der Evakuierung also als beschlossene Sache be‐ trachten?« Der Commander der Planeten blickte in die Runde. Viele nickten, einige senkten schweigend die Köpfe. »Danke. Ich brauche nicht extra darauf hinzuweisen, daß alles, was hier besprochen wurde, als Staatsgeheimnis zu behandeln ist. Das gilt selbstver‐ ständlich auch für den gestoppten Masseverlust der Sonne.« Während der Regierungschef die Konferenz beschloß und die Anwesenden verabschiedete, buchte Stranger über Vipho einen Transmitterdurchgang nach Eden noch für denselben Abend. Jetzt gab es für ihn nur noch ein Ziel – die offenen Arme von Veronique. Seine täglichen Sendungen konnte er auch auf Eden basteln. *
Die Konferenz löste sich auf. Amy Stewart und Dan Riker mischten sich unter die Leute und plauderten mit diesem oder jenem. Ren Dhark ging zielstrebig zur Tür. Er wollte es vermeiden, Henner Trawisheim zum Abschied die Hand reichen zu müssen. Der aller‐ dings hatte ihn längst in der Menge ausgespäht. »Einen Moment bitte, Ren.« Der Commander der Planeten kam zu ihm. »Tut mir aufrichtig leid, daß wir in dieser Frage so unter‐ schiedlicher Auffassung sind. Würden Sie bitte noch bleiben? Ich habe eine wichtige Sache zu erledigen, bei der ich Sie gern dabei‐ hätte.« Er blickte zu Amy Stewart und Dan Riker, die ein paar Schritte entfernt mit Bell und Carus diskutierten. »Allein.« Dhark nickte. Während Trawisheim noch ein paar Konferenzteil‐ nehmer persönlich verabschiedete, sagte er Amy und Dan Bescheid. Kurz darauf war der Regierungschef soweit. »Kommen Sie, Ren. Fahren wir ins Los Morenos. Ich lade Sie zum Essen ein. Die Regie‐ rung zahlt.« Dhark zog die Brauen hoch und folgte dem anderen durch die Tür auf den Gang. Für einen Moment war er perplex, anders konnte man das nicht nennen. Seit wann ging Henner Trawisheim zum Essen in ein Restaurant? Noch dazu in das der Gebrüder Moreno, die aus ihrer Ablehnung der Regierung kein Geheimnis machten? Aus reiner Sympathie lud sein Amtsnachfolger ihn sicher nicht dorthin ein. Alles roch nach einer handfesten Überraschung, und für Überra‐ schungen war Dhark immer zu haben. Vorbei an den Sicherheitsleuten ging er an der Seite Trawisheims zu den Liften. Sie fuhren zum Dach hinauf, wo die Landeplätze für Gleiter und Beiboote lagen. Die Leibwachen des Regierungschefs folgten. »Wir haben eine Menge hochwichtiger Einrichtungen auf Terra, die wir nicht einfach sich selbst überlassen können«, sagte Trawis‐ heim. Auf dem Dach wartete sein persönlicher Flash, eine Neuan‐ fertigung aus terranischer Eigenproduktion. »Denken Sie nur an
solch sensible Orte wie die neue Raumschiffswerft. Die können wir unmöglich unbewacht zurücklassen.« Sie stiegen ein. Trawisheim startete den Flash und steuerte ihn über die schneebedeckten Straßenschluchten und Hochhäuser von Alamo Gordo. »Ich will allerdings die Kosten für die Wachmannschaften, die wir hier im Sonnensystem und auf Terra stationieren müssen, so gering wie möglich halten.« Dhark hatte nicht gesehen, daß die Leibwächter ihnen in einem Gleiter oder einem Flash gefolgt wären. »Das würden Sie an meiner Stelle doch auch wollen, oder Ren?« »Richtig. Aber es gibt ja genug Leute, die auf Terra bleiben wol‐ len.« »Eben«, sagte Trawisheim. Die verschneiten Straßen und Plätze Alamo Gordos unter ihnen wirkten wie ausgestorben. Dhark wußte, daß bisher kaum Einwoh‐ ner von Alamo Gordo evakuiert worden waren, aber bei dieser Kälte ging niemand freiwillig vor die Tür. Sie erreichten das Amüsierviertel am Rande von Cent Field. Wegen des Schnees auf den Dächern sahen die meisten Häuser gleich aus. Erst als Trawisheim zur Landung ansetzte, erkannte Ren Dhark das eingeschneite Gebäude der Brüder Moreno. Viele Schneemobile standen auf dem Parkplatz neben dem Restaurant. An der Haus‐ wand rechts und links des Einganges lehnten Skier. Nach Trawisheims beiläufigen Sätzen über die Bewachung der sensiblen Einrichtungen hatte Dhark schon geahnt, wen der andere hier treffen wollte. Jetzt glaubte er es zu wissen. Der Schnee auf dem Parkplatz war festgetreten und teilweise eine Eisfläche, an seiner Schmalseite häuften sich die geräumten Schneemassen vier oder fünf Meter hoch. Der Flash setzte auf. Sie stiegen aus. Weil sie dünn angezogen waren, rannten sie zur Ein‐ gangstür. Die Atemluft gefror ihnen in den Nasen, an den Wimpern und in den Brauen. Dhark klopfte kräftig gegen die Tür. »Aufmachen! Ren Dhark er‐ friert gleich! Macht schon auf!«
Innen näherten sich Schritte, die Tür wurde aufgerissen. Jose Mo‐ renos markantes Gesicht grinste im Halbdunkeln. »Willkommen, Commander! Ins Warme mit Ihnen!« Seine Miene verfinsterte sich, als sein Blick den Regierungschef traf. Mit stummer Geste winkte er aber auch ihn an sich vorbei. Ren Dhark hatte den Eindruck, das Erscheinen Trawisheims würde Moreno überraschen. Das wiederum überraschte ihn – er war von einer Verabredung ausgegangen. Im Restaurant drängten sich Männer und Frauen an den Tischen und an der Theke. Mindestens sechzig Menschen hatten sich hier versammelt. Manche saßen am Boden und lehnten sich gegen die Wand. Ren Dhark erkannte I.D. und Monique Vandekamp und ihre beiden Söhne. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Das hier war nichts anderes als eine geheime Zusammenkunft der regie‐ rungsfeindlichen Gruppe, die sich Die Aufrechten nannte! Das Stimmengewirr war leiser geworden, als Dhark das Restaurant betreten hatte. Jetzt, da Trawisheim den schweren Vorhang zur Seite schob, verstummte es jäh. Zwei Atemzüge lang herrschte Stille. »Was will der denn hier?« rief plötzlich eine Männerstimme, und sofort fielen andere ein. »Ist das nicht der Kerl, der den Terranern ihren Heimatplaneten raubt?« »Haben Sie den mitgebracht, Commander?« rief Conway Vande‐ kamp. Einige Männer und Frauen drohten mit geballten Fäusten, und irgendeiner verlangte, Trawisheim eine Tracht Prügel zu ver‐ passen. Die Stimmung wurde bedrohlich. »Verdammt, Henner!« zischte Dhark. »In was für eine Lage haben Sie uns hier nur manövriert?« Er war ernsthaft wütend auf den Cy‐ borg. Trawisheim zeigte keine Anzeichen von Furcht. Er trat vor Jose Moreno und Dhark und hob beschwichtigend beide Arme. »Hören Sie mir zu, Herrschaften!« Das Geschrei und die Beschimpfungen wurden nur noch lauter. »Einen Augenblick Ruhe nur, geben Sie mir bitte eine Minute Zeit, und ich will Ihnen erklären …«
Von den Tischen, die Ihnen am nächsten standen, sprangen vier oder fünf Männer auf. Mit geballten Fäusten stapften sie dem Re‐ gierungschef entgegen. Dhark erhaschte einen Blick Joses, und zwar einen durchaus mißtrauischen. Der Spanier musterte ihn von der Seite. Trawisheim wich vor der geballten Aggressivität zurück, die ihm entgegenschlug. »Allein haben Sie sich nicht hergetraut, oder wie?« blaffte Dhark ihn an. Zwei junge Burschen machten Anstalten, sich auf Trawisheim zu stürzen. Dhark ging dazwischen. »Hört ihn doch erst einmal an!« brüllte er. Die Raufbolde traten zurück, der Geräuschpegel senkte sich. »Ich habe ja nicht geahnt, was mich hier erwartet!« rief Dhark. »Er hat mich zum Essen einge‐ laden, weiter nichts. Aber jetzt vermute ich auch, daß er euch ein Angebot machen will!« Es wurde wieder still. »Hört ihn an, ich bitte euch!« »Okay, Trawisheim«, sagte I.D. Vandekamp. »Sollst deine Minute haben. Sprich.« »Ich, ahm …« Trawisheim trat neben Dhark. »Ich wußte von der GSO, daß Sie sich heute hier treffen. Mr. Dhark kann Ihnen bestäti‐ gen, daß kein einziger Geheimdienstmann uns begleitet, nicht ein‐ mal meine Leibwächter. Einzig Mr. Dhark habe ich … nun, veranlaßt mitzukommen. Er wußte tatsächlich nicht …« »Komm zur Sache, Trawisheim!« rief eine Frau. »Ich will mit offenen Karten spielen: Ich halte nichts davon, wenn Bürger die Evakuierung verweigern. Ich finde es sogar verrückt, wenn Sie, die sogenannten Aufrechten und all die anderen Ge‐ heimbünde, die zur Zeit wie Pilze aus dem Schnee schießen, hier auf der Erde bleiben. Es ist Selbstmord, aber gut …« Gezische und Geraune unterbrachen Trawisheim, Schmährufe und Beschimpfungen wurden wieder laut. Dhark hob beschwichtigend beide Arme. Es wurde leiser, und der Regierungschef konnte fort‐ fahren.
»Aber gut, ich will Sie zu nichts zwingen. Wenn Sie unter allen Umständen auf der Erde bleiben wollen, dann bleiben Sie eben hier! Ich habe Ihnen jedoch ein Angebot zu machen. Obwohl ich Ihren Standpunkt für verrückt halte, biete ich Ihnen an, Sie mit allem zu versorgen, was Sie und Ihre Angehörigen zum Überleben in dieser Eiszeit benötigen werden.« Einen Augenblick war es still. »Wollen Sie uns verarschen, Tra‐ wisheim?« rief einer von der Theke. »Ganz und gar nicht. Ich will natürlich eine Gegenleistung von Ihnen. Ich brauche eine Menge handfester Männer, die nach Ab‐ schluß der Evakuierung Regierungs‐ und Flotteneinrichtungen be‐ wachen und vor Plünderern schützen.« Wieder Stille. »Wir sollen für euch arbeiten?« rief ein Mann. »Für die Regierung, die uns in den Untergrund gezwungen hat?« Bei‐ fallheischend sah er sich um. »Niemals!« Ein paar Rufer bestätigten ihn, aber nur zögerlich alles in allem. »Wartet doch mal!« I.D. Vandekamp arbeitete sich durch die Menge zu Trawisheim. »Ist das Ihr Ernst, Trawisheim?« »Sonst wäre ich kaum hier hergekommen.« »Wir sollen also staatliche Einrichtungen bewachen, ja?« »Richtig. Das Regierungsgebäude zum Beispiel oder die Flotten‐ akademie oder Verwaltungsbehörden. Zum Schutz besonders sen‐ sibler Einrichtungen, wie etwa der Ringraumerwerft, werden wir natürlich Soldaten einsetzen, aber alles andere könnten die über‐ nehmen, die sowieso beschlossen haben, sich der Evakuierung zu widersetzen.« »Und dafür wollen Sie uns mit allem versorgen, was wir brauchen, habe ich das richtig verstanden?« Trawisheim nickte. »Was verste‐ hen Sie unter ›alles‹?« »Lebensmittel, Textilien, Fahrzeuge, Baustoffe, Energie …« »Auch Waffen?« unterbrach Vandekamp. »Auch Waffen und Munition.«
Vandekamp drehte sich um und sah in die Menge. Die meisten Gesichter waren ratlos, viele ungläubig. Mit einem derartigen An‐ gebot hatte keiner hier gerechnet. Auch Dhark nicht. »Was machen wir damit, Leute?« rief Vandekamp. Stimmengewirr erhob sich, minutenlang diskutierten die Männer und Frauen in kleinen Gruppen oder zu zweit. »Machen wir einen Vertrag über dieses Geschäft?« übertönte plötzlich die mächtige Stimme des jüngeren Moreno, Juan, das all‐ gemeine Palaver. »Selbstverständlich«, sagte Trawisheim. »Und falls Sie nach einem Haar in der Suppe suchen, bedenken Sie bitte: Ich selbst hätte einen großen Vorteil, wenn Sie ja sagen. Ich spare eine Menge Geld, das ich ansonsten für den Transport von Truppen und ihren Sold ausgeben müßte.« »Wenn ihr mich fragt, das klingt nach einem ehrlichen Geschäft!« sagte Vandekamp. »Ich würde Sie bitten, mein Angebot an sämtliche Widerstands‐ gruppen weiterzuleiten, auch an die Gäa‐Jünger.« Trawisheim klang erleichtert. »Ich garantiere Ihnen, daß keine einzige Gruppe, daß keiner von Ihnen durch die GSO oder die Polizei belästigt wird. Und ich garantiere Ihnen freien Abzug, wenn Sie zu den Vertragsver‐ handlungen ins Regierungsgebäude kommen.« Stille. Die Männer und Frauen sahen einander an. Einige nickten schon zustimmend. »Das klingt doch gut, Leute«, sagte Jose Moreno. »Das klingt doch richtig gut.« »Wollen wir einschlagen?« rief Vandekamp. »Ich bin dafür.« Beifall erhob sich, erst zögernd, dann brausend. Schließlich sprangen die Menschen von ihren Stühlen auf und jubelten laut. Einige kletterten auf die Tische und begannen zu tanzen. »Das muß gefeiert werden!« brüllte Juan Moreno. »Wir haben fri‐ sche Meeresfrüchte vom Äquator reinbekommen! Wer will Paella …?«
Jose Moreno schob Trawisheim und Dhark in den überfüllten Raum hinein. »Ihr beide eßt und trinkt heute abend auf Rechnung des Hauses.« * Im Abstand von Mikrozeiteinheiten schwirrten die Bilder der Spä‐ hersonden durch sein Inneres. Er sah Ausläufer einer Hügelkette, er sah ausgedehnte Felder mit dichtstehenden Pflanzen, er sah eine Siedlung. Breite Straßen durchzogen sie, einige hohe Gebäude ragten aus anderen, weniger hohen, heraus. Die Bewohner der Siedlung hatten die meisten ihrer Behausungen auf Säulen gebaut. Den Grund dafür konnte Radiusvektor den Bildern nicht entnehmen. Ein Komplex aus großen Flachbauten schien der Produktion zu dienen, denn schlanke Kamine stachen aus ihnen heraus und bliesen weiße Wolken in die Planetenatmosphäre. Gewässer und Grünflächen lagen zwischen den Behausungen. Die ausgedehnten Pflanzenflächen rund um die Stadt endeten nach zwanzig Kilometern und grenzten an karge Wüstenlandschaften. Er ließ die Bilder ein zweites Mal durch sein Inneres laufen und widmete diesmal der runden Fläche seine Aufmerksamkeit, die sich zwei Kilometer von der Stadt entfernt inmitten der Grünfelder aus‐ dehnte. Ein Turm erhob sich an ihrem Rand. Eindeutig ein Raum‐ hafen. Er vergrößerte die Aufnahmen. Mehrere Raumfahrzeuge wurden geortet. Kleinere Frachter, keine Kampfeinheiten, wie sie die Bioor‐ ganismen sonst benutzten. Sorgfältig registrierte er die Koordinaten der Frachter und des Turmes. Er prüfte den Gesamtstatus seines Körpers. Keine Unregelmäßig‐ keiten. Bis zum Ausschleusen seiner primären mobilen Einheiten würde er für den Biomüll dort unten noch unsichtbar bleiben.
Er tastete sich in die Außensektionen seines Körpers, speiste die neugewonnen Daten in seine primären mobilen Einheiten und in die sekundären mobilen Einheiten der Fluggeräte ein. Noch einmal holte er sich Informationen über seine optischen Sensoren. In hundertsiebzig Zeiteinheiten würde der Abstand zwi‐ schen seinem Körper und der Siedlung am kürzesten sein ‐knapp sechzigtausend Kilometer. Eine günstige Entfernung für Phase sechs. Er schickte einen Impuls zu seinen primären mobilen Einheiten. Ich bin Radiusvektor. Ihr seid Radiusvektor. Wir sind Radiusvektor. Noch hunderttausendstel Zeiteinheiten bis zum Ausschleusen, noch neunund‐ neunzigtausendstel, achtundneunzig‐tausendstel … Die mobilen Einheiten in den Außensegmenten gerieten in Bewe‐ gung. Sechzig Prozent liefen zu den Schleusen, vierzig Prozent ver‐ teilten sich auf die neun Fluggeräte, die zu Radiusvektors Körper gehörten.
19. Sie spielten Doppelkopf. Henning hatte das Kartenspiel bei den Wacheinheiten am Raumhafen Cent Field eingeführt. Er selbst kannte es aus seiner Heimat. Unteroffizier Henning Bauer war in Villach, Kärnten, Österreich geboren. Der Winter war lang, dauerte im Prinzip schon das ganze Jahr, und sie waren inzwischen gut genug, um in zwei Duos und um Geld zu spielen. Brad Hunger legte gerade genüßlich seine Herz zehn auf Hennings Pik Dame und kassierte den Stich, als sein Blick auf die Fensterfront zur Stadt hin fiel. Ein Sturm blies Schneegestöber durch die Weltgeschichte, und aus der wirbelnden weißen Wand schälten sich die Umrisse menschlicher Gestalten. »Spinn ich?« Brad Hunger schob seine Karten zusammen und legte sie auf den Tisch; Bild nach unten natürlich. Während die anderen drei sich umdrehten, stand er auf und ging zur Glasfront. »Ich spinne nicht, da kommen Leute.« »Die spinnen!« sagte Henning. »Bei der Affenkälte zu Fuß, denen muß ja sonstwas zufrieren!« Was er sagen wollte, war folgendes: Seit die Temperaturen Ende Juni unter minus zwanzig Grad Celsius gefallen waren, sah man eigentlich nur noch aus Altenheimen entflohene Demenzkranke oder aus dem Bezirksgefängnis ausgebrochene Häftlinge zu Fuß auf den Straßen von Alamo Gordo. Und hier am Rande des Raumhafens weder das eine noch das andere. Entweder die Leute waren in Gleitern unterwegs oder gar nicht. Kurz: Die Gestalten da draußen im Schneesturm – inzwischen zählte Brad Hunger schon über zwanzig – waren verdächtig. »Wir gehen mal raus«, sagte Henning zu den beiden Kameraden am Spieltisch. »Habt mal ein Auge auf uns und hütet dabei den Funk.« Er und Brad schlüpften in ihre Uniformmäntel, zogen sich die Pelzmützen über die Ohren und wickelten die Schals um die Hälse.
Jeder schnappte sich einen Dienststrahler aus dem Waffenschrank, zog die Schneebrille über die Augen, und ab gingʹs nach draußen. Der Schneesturm war ein gefrorener Wasserfall, der horizontal über den Boden rauschte. Sie gingen seitwärts zur Absperrung, um ihm so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Als sie den stählernen, drei Meter hohen Zaun erreichten, waren sie Schnee‐ männer. Den Zaun konnte man auf beliebiger Breite und Höhe öffnen. Er sollte eigentlich nur panisch gewordene Massen vom Flugfeld fern‐ halten – in diesen verrückten Zeiten mußte man ja mit allem rechnen. Ansonsten diente die automatisch von den Wachräumen aus her‐ zustellende Durchfahrt schweren Maschinen, die zwecks Ausbesse‐ rungsarbeiten regelmäßig durch diese Stelle auf das Flugfeld rollten. Die Gestalten kamen näher. »Ich zähle sechsundzwanzig Leute. Und du?« fragte Henning. »Ebenfalls sechsundzwanzig«, nickte Brad. »Sehen jung aus, aber nicht direkt gefährlich.« »Nee.« »Bin gespannt, was die wollen.« »Drogen und Frauen, würde ich mal sagen.« Jetzt erreichte die Gruppe den Zaun. Die jungen Männer trugen alle lange Pelzmäntel, die meisten weiße oder graue, einer einen schwarzen. »Können wir aufs Flugfeld?« fragte der Mann in Schwarz, ein hünenhafter Bursche Ende zwanzig. »Hör zu, Siegfried«, sagte Henning. »Was glaubst du, wozu der Riesenzaun hier steht, häh?« »Ich heiße nicht Siegfried.« Der Sturm hatte dem Hünen einige Strähnen seines langen blonden Haares aus der schwarzen Kapuze gezogen. Sie waren mit Eiszapfen verflochten und hingen starr über seinen hochgeschlagenen Mantelkragen hinunter. »Ich heiße Svante Steinsvig. Meine Freunde und ich wollen mit Commander Ren Dhark sprechen. Es ist wichtig.«
»Was ist schon wichtig?« brummte Brad in seine gefrorenen Bart‐ stoppeln. »Worum gehtʹs?« wollte Henning wissen. »Das sagen wir ihm dann schon. Nennt ihm einfach das Stichwort Gäa.« »Gäa, Gäa – also gut, von mir aus.« Mit einer Kopfbewegung be‐ deutete Henning dem Kameraden zu warten. Er machte ein paar Schritte zur Seite und sprach in sein Vipho. Ein paar Minuten später kam er zurück an den Zaun. »Die Jungs da drin haben auf der POINT OF angerufen. Der Commander schickt einen Flash. Aber nur einer von euch kann an Bord kommen, ist das klar?« Der Mann namens Steinsvig nickte. Sie warteten schweigend, nur der Sturm ließ sein nervtötendes Geheule ertönen. Ein paar Minuten später tauchte ein Flash aus dem Schneetreiben auf. Henning machte ein Zeichen zur Glasfront des Wachhauses, kurz darauf öffnete sich eine Tür im Stahlzaun. Steinsvig bückte sich hindurch, und Hennig führte ihn zum Flash. Der Durchgang schloß sich wieder. Sie sahen zu, wie der Blonde hinten einstieg und der Flash danach startete und hinter der wirbelnden Schneewand verschwand. Eine Zeitlang standen sie so, die beiden Wachleute und die seltsamen Fußgänger in den Pelzmänteln. Von Zeit zu Zeit wechselten Brad und Henning einen ratlosen Blick. Schließlich drehte der Österrei‐ cher sich um und machte sich auf den Rückweg ins Wachhaus. Brad aber blieb am Zaun bei der schweigenden Gruppe der Pelz‐ mäntel stehen. »He, Brad!« Henning wandte sich nach dem Kame‐ raden um. »Jetzt komm schon.« »Und die?« »Weiß denn ich?« »Wir lassen sie rein, sonst frieren die sich noch was ab.« »Bist du bescheuert? Du kennst doch die Vorschriften!« »Vergiß die Vorschriften. Die gehen genau wie Mutter Erde den Bach runter.« Brad wandte sich zur Glasfront und machte ein Zei‐
chen. Der Durchgang öffnete sich. »Kommt schon rein, ihr könnt euch in der Gleitergarage aufwärmen. Wir machen euch Tee.« Die jungen Burschen bedankten sich mit einem Nicken. Einer nach dem anderen schlüpfte durch die Tür im Stahlzaun. * Ihr Transportgleiter stoppte. Im selben Moment ertönte das akusti‐ sche Signal des Funkgerätes. Loretta runzelte die Stirn und griff zum Mikro. »Ja?« Eine automatische Ansage ertönte. »Hier spricht die Sicherheits‐ abteilung des Magistrats von Sahara‐City. Hiermit ordnet der Bür‐ germeister Alarmstufe vier an. Alle Bürger werden zu erhöhter Wachsamkeit …« Die Funkverbindung riß ab. Loretta runzelte die Stirn. »Was ist das denn?« Sie war kurz in Versuchung, die Sicherheitsabteilung anzu‐ funken, ließ es dann aber bleiben. Wahrscheinlich nichts Weltbewe‐ gendes. Irgend jemand würde irgendwo auf Sahara ein paar Echsen gesehen haben. So etwas kam etwa alle zwei Monate vor, und dann gab es eben Stufe vier oder fünf, je nach Laune der Magistratsleitung. Loretta stieg auf das Dach der Fahrerkabine. Die anderen sieben Großgleiter hinter ihr standen ebenfalls still. Alle Fahrzeuge des Erntezuges schwebten eine Handbreite über dem Boden. Loretta winkte den Kolleginnen und Kollegen zu; auch sie waren inzwischen auf die Gleiter geklettert. Den Erntegleiter hinter Loretta steuerte Dr. Kara Larousse. Ihr rotes Haar schimmerte im Morgen‐ licht von Munros Stern. Seit GenLabs vor einem knappen Jahr sein Werk auf Sahara ge‐ schlossen hatte, arbeitete die Wissenschaftlerin für Herb Ashley. Was genau ihre Aufgabe war, wußte Loretta nicht. In Erntezeiten war das auch relativ gleichgültig – bei nur etwas mehr als achttausend Be‐ wohnern konnte die Kolonie auf keine Hand verzichten, und sei sie noch so promoviert.
Kara war Biologin und Tierärztin. In beiden Fächern hatte sie den Doktor gemacht. Loretta Lettley bewunderte sie. Sie holte die Fernsteuerung aus der Tasche ihres orangefarbenen Overalls. So ein Gerät hatte die Größe einer Männerhand. Noch ein Blick nach Süden, wo der Kontrollturm des Raumhafens wie eine überdimensionale Nadel in den wolkenlosen Himmel von Sahara ragte. In Gedanken schickte sie ihrem Mann ein paar zärtliche Worte. Danach drückte sie eine der vielen Tasten auf der Fernsteuerung – der Hocker fuhr aus dem Dach der Fahrerkabine. Sie ließ sich darauf nieder und drückte die nächste Taste. Das Rolldach hinter der Fah‐ rerkabine schob sich zurück und verschwand in der Seitenwand des Großgleiters. Zwei voneinander getrennte Laderäume wurden sich‐ tbar. Aus dem kleineren am Heck schwebte ein Dutzend Ernteroboter, aus dem größeren schoben sich vier hydraulische Konsolen – zwei nach links, zwei auf die rechte Seite – und aus ihnen je zwei Förder‐ bänder. Die Roboter teilten sich in zwei Sechsergruppen. Sechs stürzten sich auf die Kakteen zur Linken des Erntegleiters, sechs auf die zur Rechten. Die Roboter hatten ein humanoides Grundschema und waren etwa so groß wie ein zweijähriges Kind. Ihre kleinen elliptischen Steuer‐ zellen – ihre »Köpfe« also – und ihre vielgliedrigen Arme waren rot gefärbt, damit man sie in all dem Grün der Plantagen gut erkennen konnte, falls mal einem die Energie ausging. Flink umkreisten sie die bis zu drei Meter hohen Kakteenstämme und flogen an ihnen auf und ab. Dabei säbelten sie mit dem Klin‐ genarm die Triebe von den Kaktusästen und warfen sie mit dem längeren rechten Löffelarm auf die Förderbänder. Nur die Triebe von bis zu zehn Zentimetern Länge wurden zum Brennen des berühmten Ratzfatz benutzt. Loretta und die anderen Erntegleiterpiloten brauchten weiter nichts zu tun, als die Fahrzeuge im Schneckentempo durch die Kak‐
teenreihen rollen zu lassen, hin und wieder die Förderbänder zu justieren sowie die Roboter wieder einzusammeln und die Dächer zu schließen, wenn der Laderaum voll war. Ein Lichtblitz zuckte plötzlich über die Plantage. Loretta sah, daß Kara von ihrem Hocker hochsprang, den Mund aufriß und über Loretta hinweg zur Stadt blickte. Plötzlich erzitterten der Boden und der Gleiter von einer gewaltigen Detonation. Loretta blickte zur Stadt: Ein Rauchpilz stieg in den Himmel. Jedoch nicht aus der Stadt, sondern aus einer Region weiter südlich. Was spielte sich auf dem Raumhafen ab? Sirenen heulten los. Und wieder ein Lichtblitz, nein: gleich zwei kurz hintereinander! Und danach zwei Detonation, eine in der Stadt, eine weiter südlich! Trümmerteile spritzten so hoch in die Luft, daß Loretta sie inmitten eines Feuerballs deutlich sehen konnte. Die Frachter auf dem Raumhafen! Zwei waren explodiert! * »Ortungsreflexe! Zwei in sechshundert Meter Entfernung. Wo kommen die denn her?« Marvin Lettley fuhr von der Espressoma‐ schine herum, denn Rasches Stimme klang alarmiert. »Nein, sieben Reflexe!« Telfried Rasche brüllte plötzlich. »Die kommen zum Raumhafen! Die kommen immer näher!« Die beiden Kollegen, die seit Ausrufung der Alarmstufe vier bei ihnen Dienst taten, beugten sich über ihre Instrumentenkonsolen. »Zwei Notrufe von Gleitern der Kolonialpolizei!« rief einer. Sirenen gellten auf einmal über die Plantagen und über den Raumhafen. An der Funkkonsole blinkte das Empfangssignal. »Ein Schiff!« schrie Rasche. »Ein riesiges Raumschiff zwanzig Kilometer über uns!« Er stürzte an das Funkgerät und schlug auf den Schalter, mit dem er einen Notruf an die Flotte auslösen konnte: »Ein Robo‐ terschiff über Sahara …« Dann explodierte unten auf dem Flugfeld der erste von sechs Frachtern.
Der Kontrollturm erbebte. Eine Rauchwolke verdunkelte die Sicht, Trümmerteile schlugen in der Glaskuppel ein. Der Turm schwankte, die Männer schlugen lang hin. Einer blieb regungslos liegen, ein Trümmerteil hatte ihm den Hinterkopf zerschlagen. »Notruf!« brüllte Rasche. Er lag am Boden und hielt sich das Bein fest. »Ich weiß nicht, ob es geklappt hat …!« Lettley zog sich am Funkpult hoch. »Wir müssen noch einen Not‐ ruf über To‐Funk an die Flotte senden!« schrie Rasche hinter ihm. Lettley versuchte den To‐Richtfunk zu aktivieren. Das Gerät gab keinen Mucks mehr von sich. Draußen explodierte der nächste Frachter. Lettley schloß geblendet die Augen. Der Turm zitterte und schwankte. Für einen Moment wurde es stockdunkel. Und gleich die nächste Explosion, diesmal weiter weg – in der Stadt? Als der Rauch sich lichtete und Lettley die Augen aufriß, regist‐ rierte er drei Dinge zugleich: Die zitternde Gestalt eines Kollegen kniete vor dem Funkgerät, Rasche lag zusammengekrümmt und mit blutendem Gesicht unter seinem Instrumentenpult, und über der zersplitterten Kunstglaskuppel schwebte ein etwa zehn Meter durchmessendes schwarzes Ding, das ihn unwillkürlich an seine Kindheit erinnerte: Es sah aus wie die Spielzeugraumschiffe seines großen Bruders, nach dem er sie im Schraubstock mit einem Ham‐ mer bearbeitet hatte. Er sprang zur Lifttür und schlug auf den Knopf. Es war ein Reflex aus seinem Stammhirn, der ihm das gebot, weiter nichts. Die Tür öffnete sich, er packte Rasches Knöchel, zog ihn mit sich in die Ka‐ bine und schlug auf das unterste Tastenfeld der Schaltleiste. Im selben Moment fauchte ein rötlicher Strahl von oben in den Kontrollraum, eine Flammenwand stieg auf und spie einen Ausläu‐ fer durch die sich schließende Lifttür. Das letzte, was Lettley sah, bevor die Tür sich endgültig zugeschoben hatte, war ein Mann, der sich schreiend in den Flammen vor der Funkkonsole wälzte.
Der Lift raste nach unten. Lettley sah, daß Rasches Kleider und Haare brannten. Er warf sich auf ihn, erstickte die Flammen mit sei‐ nem Körper und den bloßen Händen – und merkte auf einmal, daß Rasche ihm mit der flachen Hand auf den Kopf schlug, weil auch sein Haar brannte. Federnd stoppte der Lift. Lettley öffnete die Außentür. Sirenenge‐ heul und der Lärm zusammenstürzender Trümmer schlugen ihm entgegen. An drei etwa vierhundert Meter voneinander entfernten Stellen brannten die Überreste dreier Frachter aus. Vier völlig asymmetrisch verformte Kleinstraumschiffe beschossen sie mit feinsten Energienadeln. »Schrottbots!« schrie Rasche. »Sie schießen mit Kompri‐Nadel!« »Das ist nicht wahr …« Bisher kannte Lettley die Roboter, ihre schlagkräftigen Waffen und ihre unglaublich verformten Raum‐ schiffe nur aus den Medien. »Das sind Beiboote«, keuchte er. »Sie beschießen die Frachter, obwohl von denen keine Gefahr ausgeht. Warum?« Die Fracht dieser Schiffe war am Tag zuvor gelöscht worden. Im Laufe des Tages sollten sie Exportwaren von Sahara aufnehmen. Die Besatzungen vergnügten sich in der Stadt. »Der To‐Richtfunk!« flüsterte Rasche. »Sie wollen uns die Verbin‐ dung nach Terra nehmen! Sie wissen genau, wo die Geräte statio‐ niert sind!« Er blickte den Kameraden an. »Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe, vor der zweiten Explosion den Notruf abzusetzen. Hast du es geschafft?« »Die Anlage reagierte nicht mehr. Nach allem, was ich gehört habe, sollen die Roboter in der Lage sein, selbst To‐Funk zu blockieren!« Rasche stieß einen Fluch aus. Sie robbten aus dem Turm, blickten zur Stadt. Ein Rauchpilz stand über ihrem Zentrum. Auch das Magistratsgebäude verfügte über eine To‐Richtfunkanlage. »Zum Frachter!« schrie Lettley. »Wenn wir keine Hilfe holen kön‐ nen, ist es aus!« Sie rannten dem nächststehenden Frachter entgegen.
Seine halbvollen Laderäume standen offen, die Frachtrampen waren ausgefahren, verlassene Transportgleiter standen davor – der Über‐ fall hatte die Mannschaften bei der Arbeit überrascht und in alle Himmelsrichtungen verjagt. Über die Rampe gelangten sie in den unteren Laderaum, über den Laderaum in einen Antigravschacht, und als sie von dem Antigrav‐ schacht zur Kommandozentrale spurteten, erschütterte der erste Treffer das Raumschiff. * Er war im Keller, im Archiv, als plötzlich die Sirenen losheulten. Das war kein Weg, den er normalerweise selbst machte, doch seine Chefsekretärin hatte einen freien Tag, reiner Zufall. Er brauchte dringend die amtliche Urschrift eines alten Vertrages mit Wallis Industries, also hatte er sich selbst auf den Weg ins Archiv gemacht. Nun also die Sirenen. Das Geheule ging ihm durch Mark und Bein. Über Vipho rief er Darius Pollack an, seinen Sicherheitschef. »Die intelligenten Roboter greifen uns an«, sagte der mit rauher Stimme. »Auf dem Raumhafen sind schon drei Frachter explodiert, der Turm steht unter Beschuß. Wir sind auf dem Weg in die Tiefgarage.« Pal Bretan hörte zwar, was Pollack da sagte, begriff es aber nicht wirklich – oder wollte es nicht begreifen. »Die Roboter? Hier auf Sahara?« rief er ins Vipho. Sein Hals war wie zugeschnürt, er schluckte ein paarmal und fügte dann mit brechender Stimme hinzu: »Alarmstufe eins ausrufen!« und kam sich lächerlich vor. Alarmstufe eins hieß: Magistrat in den Bunker, Notruf an Terra, Evakuierung einleiten, Einheiten mit schweren Waffen zu allen neuralgischen Punkten. »Zu spät, Bürgermeister. Der zentrale Magistratsturm ist voll‐ kommen zerstört. Er brennt.« Im Zentralturm befand sich die To‐Richtfunkanlage. »Wir können nur hoffen, daß irgend jemand in der Nähe des Funkgeräts geistesgegenwärtig genug …«
Aus irgendeinem Grund sprach Pollack nicht weiter. »Das Ge‐ bäude brennt? Ist das wahr?« Bretan gefror das Blut in den Adern. Noch nie hatte er als Bürgermeister eine solche Situation zu verant‐ worten gehabt. »Darius! Was ist los? Warum antworteten Sie nicht …?« Die Verbindung war abgerissen. Bretan versuchte drei‐, viermal Pollacks Nummer anzuwählen – vergeblich. Die Verbindung blieb tot. Bretan rannte aus dem Archiv. Schon wieder vibrierte das Gebäu‐ de. Er wandte sich den Einstiegen in die Antigravschächte und Aufzüge zu. Auf Sahara pflegte man beides nebeneinander zu bau‐ en. Nicht jeder liebte das freie Schweben in einer Röhre. Rauch quoll aus den Einstiegen, Geröll rauschte von oben herab und schlug krachend am Schachtgrund auf. Der Bürgermeister hielt die Luft an, drückte sich die Nase zu, schloß die Augen und stürmte durch die Rauchschwaden. Schnell erreichte er das Treppenhaus. Die ersten drei oder vier Stockwerke waren noch rauchfrei. Darüber stieß sein Blick auf eine schwarzgraue Wand. Rauch. Die Sirene jaulte unablässig. Er spurtete zwei Treppen nach oben, gab seine Kennummer in die Tür zum ersten Untergeschoß ein, schlüpfte durch sie hindurch und schloß sie hinter sich, um Qualm und Feuer auszusperren. Siebzig oder achtzig Sekunden später stieß Bretan die Metalltür zur Tiefgarage auf. Er war fix und fertig. Im Halbdunkeln winkten zwei Männer – Pollack und sein Stellvertreter. Wie hieß der Kerl gleich? Hannes Kaltenbeck, richtig. Bretan rannte zu ihnen. »Verdammt, Darius, was machen wir?« rief er schon von weitem. »Kämpfen.« Der Sicherheitschef schlug auf den Gleiter, neben dem er und Kaltenbeck warteten. Sie hatten einen Spezialgleiter der Kolonialpolizei startklar ge‐ macht, ein ziemlich hochkarätiges Gerät, ausgerüstet mit den bei der Flotte üblichen Waffen. Von solchen Kähnen gab es erst drei auf Sahara. Sie gehörten zum neuen Sicherheitskonzept der Kolonialpo‐
lizei und waren für Einsätze gegen einen Angriff von Klugechsen vorgesehen. Bretan stieg hinten ein, Pollack warf sich auf den Beifahrersitz, und sein Stellvertreter Kaltenbeck klemmte sich hinter das Steuer. Beide Sicherheitschefs trugen schwere Strahler, und der Bürgermeister kam sich nackt vor, denn er hatte nicht einmal eine Handfeuerwaffe bei sich. Aus der Tiefgarage herauszukommen erwies sich als Kinderspiel, auch in den Straßen von Sahara‐City stellten sich ihnen keine Hin‐ dernisse in den Weg. Seltsam, hatte Bretan doch eine brennende Stadt erwartet. Aber nur das Magistratsgebäude stand in Flammen. Sie bogen auf die Nordsüdroute ein. Löschzüge flogen vorbei. Ein Gleiter der Kolonialpolizei kam ihnen entgegen. Kaltenbeck bedeu‐ tete ihm mit auf geblendeten Scheinwerfern zu halten. Pollack sprang aus dem Fahrzeug und rannte zum Polizeigleiter. Kaltenbeck und Bretan beobachteten, wie er die Fahrertür aufriß und mit dem Fahrer sprach. »Überall Roboter!« rief er, als er zurück in den Spezialgleiter klet‐ terte. Den Kopf zur Seite gedrehte, berichtete er dem Bürgermeister das Wichtigste in Stichworten. »Ihr Mutterschiff kreist angeblich über Sahara. Mit mindestens sieben oder acht Beibooten sind sie über den Raumhafen und die Stadt hergefallen. Der Kontrollturm meldet sich nicht mehr. Überhaupt scheinen sämtliche Funknetze weltweit zusammengebrochen zu sein. Über hundert Roboter wurden bisher in kleinen Gruppen gesichtet. Unklar, was die im Sinn haben.« Kal‐ tenbeck steuerte den Gleiter nach Norden, weil in den nördlichen Plantagen angeblich Roboter Jagd auf Erntehelfer machten. »Jedenfalls nicht die Vernichtung der Kolonie«, sagte Kaltenbeck. »Dann hätten sie längst ihr Mutterschiff ein Höllenfeuer entfachen lassen.« »Stimmt«, sagte Bretan. »Aber was dann?« Sie erreichten die Stadtgrenze. Hinter den letzten Stelzenhäusern begannen die Kaktusplantagen.
»Schauen wir uns die bisherigen Ziele ihrer Angriff an«, schlug Pollack vor. »Da hätten wir das Magistratsgebäude, drei Frachter auf dem Raumhafen und den Kontrollturm. Aus der Spitze schlagen übrigens Flammen, wie ein Polizeigleiter meldet.« »Was haben diese Ziele gemeinsam?« fragte Bretan. »Alle hatten To‐Richtfunk«, sagte Kaltenbeck. »Verdammt, das wird es sein«, entfuhr es Pollack. »Oder sie haben alle Punkte angegriffen, von denen aus sie Ge‐ genwehr erwarteten«, schlug Kaltenbeck vor. »Auch möglich!« »Wie viele Frachter standen zur Zeit des Angriffs auf dem Raum‐ hafen?« fragte Bretan. »Mindestens sechs«, Pollack fummelte am Funkgerät herum. Um‐ sonst. »Sind die bewaffnet?« »Zwei, drei leichte Geschütze normalerweise«, sagte Kaltenbeck. »Mindestens drei Frachter also«, sagte Bretan. »Das heißt: drei To‐Funkgeräte, um Hilfe herbeizurufen, mindestens drei Bordge‐ schütze, um dagegenzuhalten.« »Ich kriege keine Verbindung mit dem Bordgerät«, sagte Pollack. »Ich fürchte, wir werden auch mit To‐Richtfunk nicht viel weiter‐ kommen. Fahren wir trotzdem hin?« fragte Pollack. Eine knappe Frage, aber der Bürgermeister verstand genau, was er sagen wollte: Fliegen wir zum Raumhafen, erobern einen Frachter, holen wir uns Waffen und ein To‐Funkgerät. Kaltenbeck bremste den Gleiter ab, bevor Bretan zugestimmt hatte. Er wendete und blieb stehen. »Zum Raumhafen, oder was?« »Zum Raumhafen«, sagte Bretan mit gepreßter Stimme. Kaltenbeck steuerte den Gleiter zurück in die Stadt und dann nach Süden hinaus zum Raumhafen von Sahara. Von der Strecke aus, die durch die Plantagen zum Raumhafen führte, sahen sie drei Rauch‐ pilze vom Flugfeld aufsteigen. Auch aus der Turmspitze schlugen Flammen. Wie Hummeln sahen die Roboterbeiboote von fern aus,
die um einen der restlichen Frachter kreisten und tödliche Strahlen verschossen. »Halt!« schrie Pollack auf einmal. »Seht nur!« Kaltenbeck stoppte. Sie blickten nach links in die Plantage hinein: Hinter einer Ernteg‐ leiterkolonne war ein schwarzes, unsinnig geformtes Gebilde ge‐ landet und hatte eine Menge Kakteen unter sich begraben. Roboter schleiften offensichtlich bewußtlose Männer und Frauen zum Bei‐ boot und schoben ihre Körper durch eine offene Luke im Heck. »Wir müssen sie retten.« Kaltenbeck wartete auf keinen Befehl. Er öffnete die Fahrertür, sprang aus dem Gleiter und riß seine Waffe von den Schultern. Kommentarlos machte auch Pollack Anstalten auszusteigen. »Und ich?« rief Bretan. »Ich habe keine Waffe!« »Natürlich haben Sie eine Waffe! Und was für eine!« Pollack schlug mit der flachen Hand auf die Armaturentafel des Gleiters. * Marvin Lettley warf sich in den Sessel vor der To‐Richtfunkanlage und aktivierte sie. Das gelang ihm zwar noch, aber einen Funk‐ spruch abzusetzen erwies sich als unmöglich. »Gestört! Die Roboter blockieren die Funkverbindung!« Das Schiff bebte. »Dann gnade uns Gott!« Telfried Rasche saß im Kommandostand und hatte den Hyperkalkulator aktiviert. »Übernimm!« brüllte er. »Schutzschirme einschalten, Angreifer abwehren! Übernimm die Waffensteuerung!« »Verstanden«, tönte eine monotone Stimme. Akustischer Alarm heulte los. Ein Hologramm flammte auf über der Instrumentenkon‐ sole des Kommandostandes. Sie konnten sehen, wie das Flugfeld zurückfiel. Ein brennendes Roboterbeiboot stürzte ab, die Explosion riß einen Krater in das Flugfeld.
Rasche, der bei der Flotte einen Ringraumer geflogen hatte, bevor er sich auf Sahara niederließ, holte die Bilder von den Außenkameras ins Hologramm. Neben ihm fiel Lettley schwer atmend in einen lee‐ ren Sessel. In der Bildkugel blieb der Raumhafen zurück. Die Kakteenplanta‐ gen glitten unter ihnen hinweg. Schließlich sahen sie hügeligen Wüstensand und Gleiter der Kolonialpolizei. Roboter zogen zwei Polizisten aus den Fahrzeugen. Die wirkten seltsam schlaff und wehrten sich nicht. »Paralysiert«, sagte Lettley. »Sie wollen nicht töten, sondern Gefangene machen?« Rasche runzelte die Stirn. Dann sah er das hundertfach zerbeulte Beiboot der Roboter im Hologramm. Eine Schleuse im Heck stand offen. »Sie bringen unsere Leute zu ihrem Schiff! Sie wollen sie entführen!« »Sieht ganz so aus«, sagte Lettley. »Kommandant an Hyperkalkulator! Mit Duststrahlen auf das Bei‐ boot und die Roboter schießen!« »Ich gebe zu bedenken, daß an zwei Segmenten die Außenhülle zerstört ist«, sagte die Stimme des Hyperkalkulators. »Dort brennt es auf zwei Ebenen. Das Feuer breitet sich rasch Richtung Maschinen‐ raum zwei aus. In spätestens vier Minuten werden wir zu einer Notlandung gezwungen sein.« »Kommandant an Hyperkalkulator! Ich wiederhole: Mit Duststrahlen auf das Beiboot und die Roboter schießen! Und danach landen!« * »Sind Sie Schwede?« Dhark empfing den ungewöhnlichen Gast in der Zentrale. Er war überdurchschnittlich groß und von kräftiger Statur. Tauwasser tropfte ihm vom geöffneten Mantel und aus dem Haar. »Ja, Sir.«
»Leben Sie in Alamo Gordo?« Mike Doraner hatte ihn am Rande des Flugfelds abgeholt. Der Flashpilot stand jetzt rechts von ihm und beäugte ihn neugierig. »Nein, Sir.« »Sondern?« Man mußte ihm jedes Wort herauspopeln. Dhark hatte an sich Wichtigeres zu tun. »In einem kleinen Dorf in den nordöstlichen Rockys. Ich bin dort so eine Art Priester der Gäa‐Jünger. Meine Leute sprechen mich mit ›Erdmeister‹ an.« »Was Sie nicht sagen.« Dhark verschränkte die Arme auf dem Rücken, wandte sich ab und begann vor der Bildkugel auf und ab zu laufen. So hünenhaft und archaisch der Bursche daherkam, er hatte auch etwas Peinliches. »Wie auch immer – Sie sind hier an der fal‐ schen Adresse. Die Einladung gestern im Los Morenos hat Mr. Tra‐ wisheim ausgesprochen, nicht ich. Mr. Wonzeff wird sie zurück an die Absperrung bringen.« »Ich will aber nicht mit Trawisheim sprechen«, sagte Steinsvig in einem seltsam monotonen Tonfall. »Ich will mit Ihnen sprechen. Dem Commander der Planeten traue ich nicht über den Weg.« »Ich schon, und ich kenne ihn ein wenig. Er ist ein Pragmatiker, er ist ein schlauer Fuchs, aber er ist auch ehrlich und hält Wort. Mein Rat: Versuchen Sie es mit ihm. Ich kann Ihnen sowieso nicht helfen.« »Er will doch nur das eine. Wenn ich das Regierungsgebäude be‐ trete, verlasse ichʹs nicht mehr, bis er es hat.« Dhark blieb stehen und musterte den Blonden von oben bis unten. Wahrscheinlich war die Seele irgendeines vor zigtausend Jahren verstorbenen Wikingers sein Guru. Eigenartiger Typ. »Sie meinen Ihr neues Pressorgeschütz?« »Ja, Sir.« »Natürlich ist Trawisheim sehr interessiert an der Technologie der modifizierten Pressoren! Es ist geradezu seine Pflicht, daran interes‐ siert zu sein! Aber glauben Sie mir, Steinsvig: Er wird sich dieses Wissen niemals mit Gewalt holen.«
»Selbst dann nicht, wenn er die Gelegenheit dazu hat?« »Selbst dann nicht, Steinsvig, ich kenne ihn doch. Er will dafür bezahlen, glauben Sie mir das.« »Mit was?« Überrascht sah Dhark auf. »Haben Ihnen ihre Gesinnungsgenossen von den Aufrechten …« »Sie sind keine Gesinnungsgenossen.« »… haben die Sie nicht eingeweiht? Genau wie für die Wachdienste würde die Regierung auch für Konstruktionspläne der Pressorge‐ schütze mit tragbaren Generatoren, Lebensmitteln, Energielieferun‐ gen, Waffen und so weiter bezahlen. Ich glaube, Trawisheim würde Ihnen sogar den neuen Multikarabiner geben.« »Ehrlich?« »Ich bin mir ziemlich sicher. Es gibt Sachthemen, da bin ich ganz und gar nicht einig mit Trawisheim, aber ich vertraue ihm, und ich rate Ihnen, das auch zu tun.« »Hm.« »Funkspruch von Raummarschall Bulton!« rief Glenn Morris vom Funkstand aus. »Vorrangschaltung! Sie sind gefragt, Commander!« »Entschuldigen Sie mich einen Moment.« Ren Dhark stieg den Kommandostand hinauf, nahm in seinem Sessel Platz und aktivierte das kleine Hologramm über seiner Instrumentenschalttafel. Der Schwede mußte nicht alles mitbekommen, was hier geredet wurde. Bultons Konterfei erschien im Hologramm. »Es gibt ein Problem im Munro‐System, Mr. Dhark. Über Sahara ist ein Großraumschiff der Roboter aufgetaucht. Der Notruf war unvollständig. Es klang aber ganz so, als schleuste das Schiff Handlungsroboter aus. Die Roboter scheinen die Funkverbindung unterbrochen zu haben. Würde mich nicht wundern, wenn es am Boden bereits zu Kämpfen gekommen ist.« »Ich verstehe nicht ganz, warum Sie mir das erzählen, Ted. Das ist doch ein Fall für die Flotte.«
»Sicher, sicher.« Bulton stieß ein bitteres Lachen aus. »Nur steht mir im Moment kein Schiff zur Verfügung, das für so einen Einsatz in Frage kommt. Ich brauche momentan jeden Raumer für die Eva‐ kuierung, verstehen Sie?« Bulton seufzte. »Ich weiß, daß Sie ein Pri‐ vatmann sind und Ihre POINT OF ein Privatschiff ist. Könnten Sie ausnahmsweise trotzdem übernehmen?« »Selbstverständlich.« Dhark nickte. »Wir starten.« Sie verabschiedeten sich. »Commander an alle!« Ren Dhark hatte sich über den Bordfunk gebeugt. »Höchste Gefechtsbereitschaft! Alarmstart einleiten! Wir fliegen ins Munro‐System! Genaueres spä‐ ter!« Er stand auf und sah zu Steinsvig hinüber. »Sie fliegen mit, oder Sie nehmen unseren Ringtransmitter. Über den kommen Sie ins Regie‐ rungsgebäude.« »Transmitter.« »Dann leben Sie wohl, Steinsvig.« Wonzeff führte den Schweden zur Galerie hinauf und zum Ringtransmitter. Während die POINT OF die Erdatmosphäre verließ, trat er in die Anlage. Einen Atemzug später war der Transmitterring wieder leer. »Commander an alle: Munros Stern ist hundertsiebzehn Lichtjahre entfernt. Wir fliegen unter Vollast, werden also in weniger als einer halben Stunde dort ankommen. Ein Roboterschiff hat Sahara angeg‐ riffen!«
20. Wie aus dem Nichts standen die Roboter plötzlich zwischen den Kakteen. Wie alle anderen auch saß Loretta schon hinter dem Steuer des Erntegleiters und wollte fliehen. Die Kolonne setzte sich eben in Bewegung, doch einer der Roboter schlug mit bloßer Faust die Sei‐ tenscheibe ein, ein zweiter richtete seinen Strahler auf sie – jäh über‐ fielen sie krampfartige Schmerzen, und eine Kraft, der Loretta nichts entgegenzusetzen hatte, riß ihr Bewußtsein in einen schwarzen Strudel. Als sie wieder zu sich kam, umklammerten eiserne Griffe ihre Oberarme und zerrten ihren Körper an der Erntegleiterkolonne vorbei durch das Gras. Sie konnte die Augen öffnen, sie konnte den Unterkiefer bewegen, die Augäpfel auch und ein paar Zehen am rechten Fuß, ansonsten aber war sie vollkommen gelähmt. Die Roboter hatten mit einer Art Paraschocker geschossen und aus irgendeinem Grund die Intensität der Strahlen so niedrig eingestellt, daß Loretta schon wieder das Bewußtsein erlangte. Oder hatte sie nur einen Streifschuß abbekommen? Irgendwo vor sich, nicht weit entfernt, erkannte sie rotes Haar. Kara Larousse. Einer der Roboter hatte sie sich über die Maschinen‐ schulter gelegt. Ihr Kopf und ihre Arme baumelten schlaff hin und her. Schwer zu sagen, ob sie bei Bewußtsein war oder nicht. Ein etwa zehn Meter durchmessendes schwarzes Ding geriet in Lorettas Blickfeld – oder eigentlich ein Unding, denn es sah aus wie jener Marmorkuchen, den sie voriges Jahr während der zweiten Ernte im Backofen vergessen hatte: eingedellt, ausgebeult, von Bla‐ sen überzogen und unter Aufwerfung unförmiger Wülste ge‐ schrumpft. Ein Raumschiff der Roboter! schoß es ihr durch den Kopf. Und im nächsten Moment korrigierte sie sich: Nein, die waren größer – das hier konnte nur ein Beiboot der Maschinenwesen sein.
Eine Luke in dem schwarzen Ungetüm stand offen, nacheinander wurden die Erntehelfer hineingereicht. Loretta mußte zusehen, wie der Roboter vor ihr Kara so unsanft in die Luke hievte, daß der Kopf der Ärztin am Boden aufschlug. Angst vor dem Aufschlag des eigenen Körpers krampfte ihr die Kehle zusammen, doch auf einmal fiel sie ins Gras, und die beiden metallenen Beinpaare rechts und links von ihr zerbröselten zu Staub. Sie verdrehte die Augen und sah olivgrüne Strahlen aus den Kak‐ teenreihen schießen. Dust! Zwei Männer stürmten in die Plantagen‐ schneise und verschossen Duststrahlen nach allen Seiten. Einer bückte sich nach ihr, hob sie hoch, hievte sie über die Schulter und trug sie in das Kakteenfeld hinein. Dort legte er sie ins Gras. »Wir hauen die anderen raus und schaf‐ fen euch dann in die Stadtklinik.« Sie erkannte Kaltenbeck, den jun‐ gen Vize des Sicherheitschefs. Er lief zurück zur Ernteschneise und schoß auf einen Roboter, der sich anschickte, zur Luke hinauszuk‐ lettern. Auf einmal schwebte ein großer Gleiter über die Plantage hinweg. Mit den Augäpfeln folgte Loretta seinem Kurs. Er feuerte olivgrüne Strahlen auf das Monstrum von Beiboot, gut ein Drittel des schwar‐ zen Undings zerfiel zu Staub. Kaltenbeck und ein zweiter Mann – Loretta erkannte Pollack an seinem weißen, vollen Haar – zogen menschliche Körper aus dem halbzerfallenen Wrack. Der Gleiter landete daneben, der Bürgermeister stieg aus und half, Lorettas Kollegen aus dem Staub zu graben. Sie schleiften die ge‐ lähmten Männer und Frauen zu dem Gleiter, mit dem Bretan auf das Beiboot geschossen hatte. Kaltenbeck öffnete die Heckklappe, und sie begannen die Gelähmten nacheinander in den Stauraum und auf die Rückbank zu legen. Vergeßt mich nicht, dachte Loretta, bei allen guten Geistern der Milchstraße, vergeßt mich nicht …
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte sich Kaltenbeck um und rannte in die Kakteenreihen. Auf halber Strecke fiel ein Schatten auf ihn. Er brach zusammen, und der Schwung seines Spurts sorgte da‐ für, daß er sich zweimal überschlug, bevor er mit merkwürdig ver‐ renkten Gliedern unter einem Kaktus liegenblieb. Der Schatten war ein Roboter‐Beiboot. Es glitt zur Ernteschneise, landete zwischen dem Wrack des ersten Beibootes und dem Gleiter und spuckte sechs Roboter aus. Fünf stelzten zum offenen Heck des Gleiters, wo Pollack und Bretan im Gras lagen. Einer stapfte zu Kal‐ tenbeck, packte ihn am Knöchel und schleifte ihn zurück in die Schneise. Jetzt kommt er zurück, dachte Loretta. Jetzt holt er mich. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Keiner kam zurück, keiner holte sie. Minuten später hatten die Roboter die anderen sieben Erntehelfer, den Bürgermeister, Pollack und Kaltenbeck in ihr Beiboot geschleppt. Sie starteten – und ver‐ gaßen sie einfach. * »Getroffen! Verdammte Roboter! Ja, zerfallt zu Staub! Ja, ja!« Es war die Wut der Verzweiflung, die aus Rasche schrie. Lettley starrte nur wie gebannt in das Hologramm: Das Roboter‐Beiboot war nur noch ein Haufen aus schwarzen Trümmern und Dreck. Eine Staubwolke stieg von dem Dreckhaufen auf. Die beiden gelähmten und bewußtlosen Kolonialpolizisten lagen zwischen zwei kleineren Staubhaufen. »Verfluchte Roboter! Verfluchte Roboter!« Rasche war aufgesp‐ rungen. Schwer atmend stützte er sich auf die Instrumentenkonsole vor der Bildkugel. »Wieso haben sie die Beamten mit einer Paralysatorwaffe ge‐ lähmt?« sagte Marvin Lettley leise. »Warum machen sie Gefangene?« Er sah zu Rasches verrußtem und verbranntem Gesicht auf. »Hieß es
nicht, sie würden uns als Biomüll betrachten? Haben Sie nicht sonst immer erbarmungslos getötet?« »Schon möglich«, keuchte Rasche. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Im brennenden Kontrollturm hatte er eine Menge Qualm eingeat‐ met. »Nach den neusten Nachrichten wissen sie ja, daß sie von den Grakos verarscht worden sind. Vielleicht richtet sich ihr Mordprog‐ ramm jetzt nur noch gegen die Schattenfeldmistkäfer, was weiß denn ich?« »Sie fangen Menschen, Rasche, überleg doch mal!« Lettleys Na‐ ckenhaare stellten sich auf. »Warum tun sie das?« »Keine Ahnung. Mich fangen sie jedenfalls nicht, und die beiden Bullen da unten auch nicht.« Er stieß Lettley an der Schulter an. »Komm schon, Kamerad, wir müssen die zwei und uns in Sicherheit bringen. Der Kahn brennt.« Lettley stand auf und folgte dem anderen zum Schott. »Akute Ex‐ plosionsgefahr«, erklärte die sachliche Stimme des Hyperkalkula‐ tors. »Empfehle dringend, das Schiff zu verlassen! Akute Explosi‐ onsgefahr …« Im Laufschritt steuerten die beiden Männer das Hauptschott an. Auf einmal tönte ein akustisches Signal durch die Zentrale. Lettley blieb stehen und lauschte dem vertrauten Geräusch. »Das Funkge‐ rät!« Er rannte zur Funkkonsole. »Der Funk geht wieder!« Seine Finger flogen über die Tastatur der Richtfunkanlage, bevor er richtig saß. »Empfehle dringend, das Schiff zu verlassen! Akute Explosions‐ gefahr …« »Komm schon!« Rasche stand auf der Schwelle des Schotts und ruderte mit den Armen. Verbrannte Kleider hingen in Fetzen an ihm herunter. »Wir müssen raus!« »Ein To‐Richtfunkspruch!« schrie Lettley. »Commander Ren Dhark ist im Munro‐System! Die POINT OF kommt uns zu Hilfe!« Er sprang auf und rannte zum Schott. »Wir müssen irgendwo einen
tragbaren To‐Richtfunksender auftreiben, bevor wir von Bord ge‐ hen!« Sie schalteten von Sternensog auf SLE und überquerten bald die Bahn des vierten Planeten. Gespannte Stille herrschte in der Zentrale. Ren Dhark holte sich die Anzeigen von Grappas Ortungsschirm auf einen Monitor seines Kommandostandes. Und sofort entdeckte er den Reflex: Der Raumer der Roboter von Eins stand dicht über dem dritten Planeten, über Sahara. »Sein Ortungsstrahl hat uns getroffen«, sagte Grappa. »Näher ran«, sagte Dhark. Die POINT OF war mit siebzig Prozent Licht unterwegs. »Dhark an Morris, funken Sie Sahara an.« »Verstanden.« »Dhark an Checkmaster, wir gehen langsam mit der Geschwin‐ digkeit herunter.« »Verstanden«, klang die wohlmodulierte Stimme auf. Immer näher rückte der Roboter, noch knapp zwanzig Millionen Kilometer trennten ihn und den Ringraumer. »Funkzentrale an Commander, Verbindung kann nicht hergestellt werden.« »Verstanden. Die üblichen Störungswellen?« »Korrekt.« »Ich kann sie anpeilen«, meldete Grappa. »Mit ihren Störwellen legen sie auch den Funkverkehr auf Sahara lahm.« »Wahrscheinlich hat irgendeiner der Kolonisten gerade noch die letzten funktionstüchtigen Sekunden einer To‐Richtfunkanlage er‐ wischt«, sagte Dan Riker. Ren Dhark überflog die Anzeigen der Kontrollinstrumente. Noch knapp sechzehn Millionen Kilometer bis zum dritten Planeten. Der Checkmaster hatte die Geschwindigkeit inzwischen auf unter vierzig Prozent Licht reduziert. »Shanton an Commander.« Von seiner Arbeitsbucht aus meldete sich der übergewichtige Wissenschaftler. »Are und ich haben da mal
an einem langweiligen Abend in Eden eine Sache ausgetüftelt, die könnte den Störsender eventuell abstellen.« »Wir sind gespannt, Chris«, sagte Ren Dhark. »Lassen Sie hören.« Der bärtige Mann drehte sich um und lächelte ein wenig verlegen. »Die Theorie lautet so: Wir erzeugen einen Rückkopplungsimpuls und legen ihn auf die Störwellen. Der Impuls reitet auf den Stör‐ wellen in das Roboterschiff und zerlegt dessen Störwellengenerator .« Ren Dhark wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er suchte Rikers Blick. Dans Miene brachte zum Ausdruck, was er selbst empfand: Zweifel. »Klingt mir irgendwie ein bißchen zu simpel«, sagte Riker. »Nicht wahr?« Shanton grinste. »Hätten Sie auch selbst drauf kommen können, was?« Dann an Dharks Adresse: »War eine kleine Spielerei, weiter nichts. Wie wäre es, wenn wir es einfach mal aus‐ probieren? Es kostet uns nichts. Entweder es klappt, oder es klappt nicht.« »Einverstanden.« Dhark nickte. Are Doorn und Chris Shanton standen von ihren Arbeitsplätzen an den Rechenkonsolen auf und gingen zur Funkzentrale. Morris und Yogan erhoben sich und über‐ ließen dem Duo ihre Sessel. Doorn und Shanton unterhielten sich murmelnd, während sie arbeiteten. Die Funker sahen ihnen zu. Dhark warf einen Blick auf die Kontrollinstrumente. Vierund‐ zwanzig Prozent Licht und nur noch wenige Millionen Kilometer bis zum Planeten Sahara und zum Roboterschiff. Er stand auf, verließ den Kommandostand und ging in die Funkzentrale. Hinter Doorns Sessel sah er den beiden Tüftlern auf die Finger. Er konnte nicht jeden Handgriff nachvollziehen, den sie ausführten. Nach und nach füllte sich die Funkzentrale. »Wir sind soweit«, sagte Doorn irgendwann. »Dann los«, forderte Dhark das Duo auf. Shantons Wurstfinger flogen über die Tastatur; auf einem kleinen Bildschirm begann eine Amplitude zu oszillieren. »Das warʹs schon.«
Shanton klatschte in die Hände. »Jetzt bin ich gespannt.« Er und Doorn räumten die Sessel der Funker, und Morris und Yogan nah‐ men wieder Platz. Die beiden Spezialisten und alle Schaulustigen gingen zurück in die Zentrale. »Eine Explosion im Roboterschiff!« rief Grappa plötz‐ lich. »Ich kann eine ziemlich große Energieentfaltung anpeilen!« »Der Hyperfunk tut es wieder!« rief Morris aus der Funkzentrale. »Keine Spur mehr von den verdammten Störwellen.« »Rufen Sie Sahara‐City!« Dhark lief zurück zum Kommandostand. »Commander an Flashdepot! Zwanzig Flash ausschleusen und mit aktiviertem Intervallum hinunter auf Sahara.« Er beugte sich über den Bordfunk. »Wonzeff, Doraner, Scott!« »Wir haben verstanden, Sir!« »Helfen Sie den Siedlern, retten Sie, was zu retten ist! Wir küm‐ mern uns um das Mutterschiff und halten Ihnen den Rücken frei!« Er lehnte sich kurz zurück, blickte erst zur Bildkugel, dann auf seine Instrumententafel und schließlich zur Funkzentrale. Nach zwei Minuten endlich meldete Morris einen Erfolg. »Antwort von Sahara!« »Auf meine Konsole!« Dhark beugte sich nach vorn und stützte die Schläfe in die Faust. »Hier Ren Dhark von der POINT OF. Hören Sie mich, Sahara?« »Laut und deutlich!« »Geben Sie mir einen knappen Lagebericht!« »Hier spricht Marvin Lettley. Die Roboter haben sämtliche To‐Richtfunkanlagen zerstört – die im Turm des Raumhafens, sechs in Frachtraumschiffen und die letzte im Magistratsgebäude. Wir konnten ein tragbares Gerät aus einem Frachter retten. Die Roboter versuchen, unsere Siedler zu entführen.« »Dachte ichʹs mir«, stöhnte Dhark. »Wie viele Entführte und seit wann?« »Wir haben keinen Überblick, der Funkkontakt funktioniert erst seit zwei Minuten wieder. Mein Kollege und ich jedenfalls konnten
ein Beiboot mit Duststrahlen zerstören und zwei Siedler retten. Sie sind paralysiert.« »Halten Sie durch, Lettley! Rettung ist unterwegs.« Dhark unterb‐ rach die Verbindung. »Commander an Waffensteuerung West und Ost. Sobald die Flash das Depot verlassen haben, feuern Sie auf den Roboter, und zwar mit allem, was die POINT OF zu bieten hat. Kurz bevor sein Karoschirm zusammenbricht, hören Sie auf. Verstanden?« »Verstanden, Sir!« tönte Jean Rochards Stimme aus dem Bordfunk. »Aber warum aufhören, wenn Sie mir die Frage erlauben.« »Weil möglicherweise bereits entführte Siedler an Bord sind!« * Die Störung ereignete sich mitten in Phase sechs. Reizwellen über‐ fluteten plötzlich sein Inneres. Hitze staute sich vor seinen zentralen Schaltkreisen. Radiusvektor aktivierte die Hauptkühlung und zwei Gebläse. Die Analyse stellte ihn vor nicht geringe Probleme: In einem der zentralen Mittelsegmente war der Generator für die Störwellen durchgeschmort und explodiert. Ein Problem erster Ordnung: Die Überflüssigen auf dem Planeten und die Überflüssigen in dem anf‐ liegenden Schiff konnten nun miteinander kommunizieren. Sein Bewußtsein strömte in vier interne Gruppen von mobilen Einheiten und setzte sie zum Explosionsort in Marsch, um den Brand dort zu löschen. Er tastete in die Außensegmente, wo im Vollzug von Phase sechs zwei sekundäre und vierzehn primäre mobile Einheiten in die offene Außenhöhlung seines Körpers zurückgekehrt waren. Er rief die In‐ formationen aus den sekundären Einheiten ab: Nur eine hatte Beute an Bord. Immerhin zehn Überflüssige. Das reichte, das würde ihn zehnmal retten. Er schickte einen überstarken Impuls an die im Anflug befindli‐ chen primären und sekundären Einheiten aus. Ich bin Radiusvektor,
ihr seid Radiusvektor, wir sind Radiusvektor, und wir ziehen uns in die Umlaufbahn des Planeten zurück, oder, falls noch auf der Jagd, in eine Deckung auf der Planetenoberfläche. Kurz prüfte er die Wirkung seines Impulses – reiner Reflex, in Jahrhunderten erlernt; selbstverständlich führten die primären mo‐ bilen Einheiten seinen Willen aus, das taten sie grundsätzlich und immer. Danach aktivierte er die Energiehülle, die seinen Körper vor Ang‐ riffen mit starken Waffen schützte, und verströmte Teile seines Be‐ wußtseins in die eigenen Waffengeneratoren. Doch bevor er das Schiff der Überflüssigen unter Beschuß nehmen konnte, traf ihn eine mächtige Energiefaust, und noch einmal und wieder und wieder. Die Überflüssigen hatten das Feuer eröffnet. Die Feuerkraft ihres Schiffes brachte seine Meilerleistung bis an die Grenze. Sein Schutzschirm entzog ihm Energie ohne Ende. Die Explosion des Störwellengenerators hatte zu große Schäden angerichtet. Es war Radiusvektor nicht mehr möglich, seinerseits das Feuer zu eröffnen. Hilflos mußte er registrieren, wie sein Schutzschirm an den Rand des Zusammenbruchs kam. Schlagartig hörte der Beschuß auf. Ein Datenpaket erreichte seine Kommunikationsanlage. Sein Kommunikationszentrum dechiffrierte die Worte eines Überflüssigen. »Hier spricht Ren Dhark von der POINT OF! Ich fordere dich auf, die entführten Siedler, die du an Bord hast, sofort zurück nach Sahara‐City zu bringen sowie sämtli‐ che Kampfhandlungen dort einzustellen!« Er tastete sich in seine Mittelsegmente. Die Bereiche um den Stör‐ wellengenerator brannten. Das Feuer hatte wichtige Energieleitun‐ gen unterbrochen, er mußte sämtliche zur Verfügung stehenden internen mobilen Einheiten zu den mittlerweile sieben Brandherden beordern. Er spürte den Energieverlust. Wie reagieren? Wie seine ge‐ schwächte Position verbergen?
Ein Teil seines Bewußtseins strömte in sein Kommunikations‐ zentrum. »Es tut mir aufrichtig leid, sollte Siedlern Ungemach wi‐ derfahren sein.« Das Kommunikationszentrum übersetzte die Sig‐ nale in die Sprache der Überflüssigen. »Selbstverständlich habe ich keinen der armen Siedler an Bord. Es wäre ja schrecklich für einen Bioorganismus, sich in mir aufhalten zu müssen. Nein, nein, solches käme mir nie in den Sinn. Ich suchte bloß nach Bodenschätzen auf fremden Planeten.« Stopp. Er wartete auf Antwort. Lange Zeiteinheiten blieb sie aus. Seine Außentaster spürten Funkwellen auf. Raumschiff und Boden‐ station der Überflüssigen kommunizierten. Das war von Nachteil für ihn, ganz und gar von Nachteil. Das Schiff der Überflüssigen eröffnete wieder das Feuer. Hitze staute sich in den Hauptleitungen vor seinem Innersten. Kaum spürte er noch die Leistung des Schutzschirms. Diesmal brauchte es nur vier Zeiteinheiten, um ihn an den Rand der Dekompensation zu bringen. Die Überflüssigen stellten das Feuer ein. Radiusvektor aktivierte sämtliche Kühlsysteme und sämtliche Gebläse. Der Hitzestau vor seinem Innersten ließ nach. Die Kommunikationszentrale hatte schon wieder Worte des Überflüssigen für ihn. »Du lügst, wie interessant. Unsere Bodentruppen haben eine Zeu‐ gin befragt. Nach ihrer Aussage haben deine Handlungsroboter eine Erntekolonne überfallen und insgesamt zehn Siedler in einem Bei‐ boot entführt. Die Zeugin heißt Loretta Lettley, und das sind die Namen der Entführten: Kara Larousse, Pal Bretan, Darius Pollack, Hannes Kaltenbeck …« Die Namen klangen grausam, die Temperatur in seinem Innersten stieg. »Ja, ja, ja! Ich bin Radiusvektor, und ich habe sie, alle zehn. Aber ich brauche sie doch …« *
»… ich brauche sie unbedingt! Noch in diesem Jahr muß ich frische, qualitativ hochwertige Zellen aus dem zentralen Nervensystem ei‐ nes Bioorganismus in den Kern meines innersten Zentrums integ‐ rieren, unbedingt, sonst kann ich nicht weiterexistieren!« Ren Dhark lauschte den Ergüssen aus dem Funk mit zur Schulter geneigtem Kopf und gerunzelter Stirn. Einige in der Zentrale schüt‐ telten die Köpfe, Grappa, Riker und Shanton grinsten. Das lag an dem unerwarteten Tonfall des Kunsthirns: Es bemühte sich mit Er‐ folg darum, wie ein weinerliches, hilfloses Jüngelchen zu klingen. »Du gibst die Entführten heraus, oder wir schießen dich sturm‐ reif«, sagte Dhark trocken. »Ich bitte dich inständig«, jammerte der eindrucksvolle Rechner. »Alle fünfzig Jahre etwa braucht ein intelligentes Wesen wie ich Zellennachschub, sonst droht mir die Deaktivierung. Meines Wis‐ sens nach kennt doch auch ihr diesen unüberwindbaren Wunsch, am Leben zu bleiben! Ich brauche die biologischen Zellen! Ich brauche sie doch so sehr …!« »Dein Problem.« Dhark verdrehte die Augen. »Nein, o nein, Ren Dhark von der POINT OF! Das ist auch dein Problem! Wer hat uns denn unserer Vorräte an Überflüssigen … an wertvollen Trägern von Nervenzellen beraubt? Ihr habt uns, dem Volk, zwar die Augen für unsere Unterdrücker, die Grakos, geöffnet, zugleich aber habt ihr uns die Vorräte an Trägern von Zellen des zentralen Nervensystems geraubt. Vollkommen sinnlos übrigens, denn nach allen Wahrscheinlichkeitsberechnungen hat keiner dieser … biologischen Organismen überlebt.« Er sprach von den Saltern, die sie aus dem sogenannten Heiligtum der Roboter gerettet hatten. Und es stimmte, was er sagte – keiner hatte die Befreiung aus seinem Plasmatank überlebt. Doch Dhark hütete sich, dem gerissenen Rechner auch nur den Schatten eines kleinen Fingers zu zeigen. »Dann haltet euch gefälligst an die Hirn‐ zellen eurer Erzfeinde, der Grakos.«
»Eine Zumutung! Die Nervenzellen aus dem zentralen Nerven‐ system eines Grakos sind absolut unbrauchbar für unsere Zwecke. Du weißt ja nicht, was du redest, Ren Dhark von der POINT OF …« Während der Rechner namens Radiusvektor fortfuhr zu jammern und zu klagen, kam Manu Tschobe in die Zentrale. Zielstrebig ging er zum Kommandostand, stieg hinauf und beugte sich zu Dharks Ohr hinunter. »Ich glaube, ich hätte da eine Lösung des Problems, die uns zu‐ gleich ein Druckmittel in die Hand gibt. Stammzellen.« »Stammzellen?« »Richtig gehört, Commander. Die Roboter verachten organische Intelligenzen als Biomüll, wie Sie wissen. Es ist also zweifelhaft, daß Sie jemals mit organischen Zellen experimentiert haben. Wir aber haben das getan. Wir können aus Stamm‐ Hirnzellen züchten.« »Geniale Idee«, flüsterte Ren Dhark. »Haben Sie Vorräte?« »An Stammzellen schon, an Hirnzellen natürlich nicht. Selbst mit den neusten Verfahren wird es ein paar Tage dauern, bis ich die gezüchtet habe.« »Wie viele Tage genau?« »Etwa drei.« »Gut, Manu. Dann gehen Sie sofort an die Arbeit.« Der schwarze Arzt nickte, verließ die Zentrale und steuerte das Bordlabor an. »Hör zu, Radiusvektor«, unterbrach Ren Dhark den jammernden Wortschwall des Roboters. »Wieviel Zellmaterial benötigst du?« »Vier Gramm.« Auf einmal klang die Roboterstimme wieder sach‐ lich und fest. »Ich mache dir ein Angebot: Wir liefern diese vier Gramm in drei Tagen. Dafür läßt du jetzt sofort die Gefangenen frei.« »Das wäre, als würde ich meinen Handlungsrobotern befehlen, mir meine Hauptleitungen zu kappen!« Sofort fiel der Roboter wieder in seinen weinerlichen Ton. »So etwas von mir zu verlangen! Und
wenn du mir eine Falle stellst? Wie kann ich denn wissen, daß du Wort hältst?« Sie diskutierten hin und her. Am Ende einigten sie sich darauf, daß Radiusvektor – sozusagen als Anzahlung – auf Dharks Ehrenwort hin neun seiner zehn Gefangenen freiließ. Dhark schickte neun Flash in das Roboterschiff. Die Piloten holten die neun Siedler ab und lie‐ ßen Proviant, Wasser und Atemluft für den zehnten zurück. * Loretta saß im Liegestuhl auf der Terrasse ihrer Wohnebene. Marvin versorgte sie mit Essen und Getränken. Seit dem Morgen konnte sie wieder ohne Gehhilfen laufen. »Wir haben Besuch.« Marvin führte den Bürgermeister und den Sicherheitschef auf die Terrasse. Ein Schrei der Erleichterung entfuhr Loretta. »Ihr seid frei?« Die Lettleys hatten die guten Nachrichten noch nicht gehört. Bei ihnen war ein Paar, das Loretta nicht kannte: eine blonde, rela‐ tiv große Frau, die Loretta muskulöser vorkam, als die Frauen ihres Bekanntenkreises es normalerweise waren, und ein schlanker, etwa einsachtzig großer Mann mit scharfgeschnittenen, hellwachen Zügen und weißblondem Haar. »Amy Stewart und Ren Dhark, der ehemalige Commander der Planeten«, stellte Marvin die beiden vor. Ihr Mann erschien Loretta ein wenig nervös. »Wir haben Ihrem Magistrat einen Besuch abgestattet«, sagte Dhark. »Mr. Bretan und Mr. Pollack erzählten von dem Überfall auf Sie und Ihre Kollegen.« »Es war entsetzlich.« Die Stimme brach Loretta, sie schluckte. »Ich hatte das Glück, nicht mit in ihr Mutterschiff verschleppt zu werden. Sie haben mich einfach übersehen.« »Es war nicht nur Ihr Glück, Mrs. Lettley«, sagte Dhark. »Ohne Ihre Zeugenaussage hätten wir vielleicht zu spät von der Entführung
erfahren. Der Roboter ist sehr schlau, er hat geleugnet, Siedler ent‐ führt zu haben, und versuchte, uns über den Tisch zu ziehen.« Loretta machte ein ungläubiges Gesicht. »Weil wir von dir wußten, daß die anderen in der Gewalt der Roboter sind, hatte der Com‐ mander eine gute Verhandlungsbasis«, sagte Marvin. »Und wie seid ihr freigekommen?« Loretta wandte sich an Pollack und Bretan. »Wir sind nicht alle frei«, sagte Pollack. »Kaltenbeck ist noch im Roboterschiff.« »Der Roboter hat Menschen gejagt, um sich ein paar Gramm Hirnzellen einverleiben zu können«, sagte Dhark. »Alle fünfzig Jahre braucht er das Zellmaterial, sonst brechen seine wichtigsten Schalt‐ kreise zusammen. Wir haben ihm aus Stammzellkulturen gezüchtete Hirnzellen angeboten. Der letzte Gefangene kommt frei, sobald wir ihm die Zellen ausgeliefert haben.« Dhark sah auf die Zeitangabe seines Viphos. »Das wird in spätestens zwanzig Stunden gesche‐ hen.« »Geht es ihm denn gut?« erkundigte sich Loretta besorgt. »Die Roboter müssen doch nicht atmen, und essen und trinken müssen sie auch nicht.« »Sie haben das Beiboot für uns mit Atemluft versorgt«, sagte Pol‐ lack. »Sogar geheizt haben sie. Und Besatzungsmitglieder der POINT OF haben Kaltenbeck mit Nahrung und Flüssigkeit ver‐ sorgt.« »Wie geht es Kara und den anderen?« »Ungefähr so wie uns dreien«, sagte Pollack. »Ein Katergefühl, Gliederschmerzen und ziemlich k.o.« »Kara liegt noch im Bett«, sagte der Bürgermeister. »Sie scheint gleich zwei Ladungen abgekriegt zu haben.« »Sie hat wohl nur ein Streifschuß erwischt, Mrs. Lettley«, sagte Dhark. »Ein Glück! Sonst hätten Sie nicht so schnell wieder reden können.«
Marvin hatte Klappstühle auf die Terrasse gebracht und nötigte die Gäste, sich zu setzen. Er ging wieder ins Haus und kam mit einem Tablett voller Gläser und einem Krug aus glasiertem Ton zurück. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Katergefühl hin, Katergefühl her – auf den Schock müssen wir schon einen ordentlichen Ratzfatz trinken«, sagte Pollack. »Und vor allem auf die glückliche Wendung!« Der Bürgermeister griff sich ein Glas. Amy Stewart lehnte ab. »Das also ist der in der ganzen Milchstraße gerühmte Ratzfatz?« Dhark sah zu, wie Marvin den Schnaps ein‐ schenkte. »Selbstverständlich nehme ich einen. Wann hat man schon mal Gelegenheit, Ratzfatz auf dem Planeten zu trinken, auf dem er gebrannt wird?« * Die Flash aktivierten ihre Intervallfelder und glitten aus dem Rumpf der POINT OF. Flash 001 steuerte Pjetr Wonzeff. Sein Rücksitz war leer. Ren Dhark flog Flash 003. Auf dem zweiten Sitz hinter ihm saß Manu Tschobe. Er hielt eine kleine blaue Kühlbox auf dem Schoß. Obwohl sie nicht viel mehr als höchstens fünfzig Gramm wog, war ihr Inhalt an die‐ sem Tag ein Menschenleben und Dharks Ehrenwort wert. Vielleicht sogar noch wesentlich mehr. Aber das würde die Zukunft zeigen. Die Flash beschleunigten. Munros Stern rückte in ihr Blickfeld. Und bald ein Raumschiff, das an einen mit gigantischen Vorschlag‐ hämmern und Dynamit malträtierten Omnibus jenes Typs erinnerte, wie er heute noch in manchen nostalgisch angehauchten Großstäd‐ ten der Erde benutzt wurde. Die Schatten, die Munros Stern auf sei‐ ner zerklüfteten Oberfläche erzeugte, verstärkten den gespensti‐ schen Eindruck noch, den das Schiff auf die Flashbesatzungen machte.
Radiusvektor kämpfte noch immer gegen das Feuer an Bord, das wußten die Männer von der POINT OF aus den Daten, die Grappas Ortung geliefert hatte. Doch in den letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich keine Explosionen an Bord mehr ereignet. Der Roboter würde den Schaden überstehen. Dhark und Wonzeff deaktivierten ihr Intervallum erst wenige Meter vor einem offenen Außenschott des Roboterschiffes. Sie flogen in einen Hangar, dessen Grundfläche mindestens siebzehn Ecken hatte und dessen Decke Dhark an die einer Tropfsteinhöhle erinner‐ te. Das Beiboot der Roboter stand wie vereinbart im Zentrum des Hangars, falls man das in diesem Raum überhaupt bestimmen konnte. Und wie vereinbart setzte Flash 001 parallel zu dem Beiboot und drei Meter entfernt von ihm auf. Dhark landete unweit von Wonzeffs Heck. »Ren Dhark an Radiusvektor – wir sind hier.« »Radiusvektor an Ren Dhark – es ist alles bereit.« Ein breiter Ausstieg öffnete sich in der Seite des unförmigen Ro‐ boterbeibootes. In seinem schwach erleuchteten Inneren erkannten die Männer von der POINT OF zwei Roboter und einen Menschen. Hannes Kaltenbeck. Er trug einen Schutzanzug. »Ihr Auftritt, Manu.« Dhark öffnete die Luke des Flash. Manu Tschobe klappte den Deckel der Kühlbox hoch und entnahm ihr eines von zwei Kunstglasröhrchen. Jedes enthielt in Nährplasma schwimmende Gehirnzellen, jedes zwei Gramm. Tschobe stieg aus, ging zur offenen Beibootluke, wo inzwischen ein dritter, pyramidenförmiger Roboter aufgetaucht war, und reichte das Röhrchen hinein. Der Pyramidenroboter fuhr einen Greifarm aus, faßte das Röhrchen, zog es in sein Inneres und verschwand im Heck des Beibootes. Kaltenbecks Miene wirkte blaß und angespannt. Tschobe nickte ihm aufmunternd zu. Das Warten begann.
* Über optische Sensoren an der Decke der Außensegmentshöhlung beobachtete Radiusvektor die Übergabe der ersten Hälfte des biolo‐ gischen Zellmaterials. Im Heck der sekundären mobilen Einheit füllte seine mobile Analyseeinheit den Inhalt des ausgelieferten Röhrchens in die Schale in der Mitte eines konischen Multisensors. Radiusvektor schickte einen Impuls in den Multisensor. Augenb‐ licklich lieferte er Daten: Bilder, Zahlen, Geruchseindrücke, Ge‐ schmackseindrücke, Maße, Temperaturangaben und so weiter. Ja, es waren Nervenzellen. »Radiusvektor an Ren Dhark. Du hast Wort gehalten, ich danke dir. Bring die anderen zwei Gramm zu meinem mobilen Analyse‐ roboter und übernimm den Gefangenen.« Über die optischen Sensoren beobachtete er, wie der schwarze Überflüssige eine Kiste aus seinem Beiboot nahm. Vor der Luke von Radiusvektors sekundärer mobiler Einheit öffnete er sie, holte das zweite Röhrchen heraus und überreichte es der mobilen Analyse‐ einheit. Die Kiste stellte er vor ihr auf dem Boden ab. Der gefangene Überflüssige stieg aus der mobilen Einheit und kletterte hinten in das zweite Beiboot der Überflüssigen. Beide Raumfahrzeuge schwebten aus der Außensegmentshöhle und nah‐ men Fahrt auf. »Ren Dhark an Radiusvektor.« Das Kommunikationszentrum lie‐ ferte dechiffrierte Signale an sein Innerstes. »Richte der Führung der Funktionsgemeinschaft folgendes aus: Terra kann euch jederzeit Hirnzellen wie die liefern, die wir dir heute überlassen haben. Un‐ sere einzige Bedingung dafür: Frieden.« Radiusvektor erschlossen sich sofort die Vor‐ und Nachteile eines solchen Angebots. Es anzunehmen würde die Funktionsgemein‐ schaft vor der ewigen Jagd nach frischen Zellmaterial bewahren. Zugleich aber würde sie in eine gewisse Abhängigkeit von den
Überflüssigen geraten. Durfte man sie in einem solchen Fall über‐ haupt noch als solche bezeichnen? Radiusvektor schickte ein wohlkalkuliertes Signalpaket an sein Kommunikationszentrum. Das transformierte es in die Worte der Überflüssigen. »Das werde ich tun, Ren Dhark. Danke für das An‐ gebot.« * Die POINT OF sprang aus dem Hyperraum. »Unter« ihr leuchtete die heimatliche Sonne. Ren Dhark betrachtete den Stern im zentralen Kugelhologramm. Einmal mehr war er davon überzeugt, daß es in der ganzen Milchstraße keinen schöneren gab. Drei astronomische Einheiten von der Sonne entfernt und in einem Winkel von über achtzig Grad zur Bahnebene der Erde steuerte die POINT OF den Heimatplaneten an. Dhark riß sich vom Anblick der Sonne in der Bildkugel los, sein Blick flog über die Schirme und Kontrollinstrumente seiner Kommandokonsole. Die Ortung erfaßte zahllose Raumschiffe und peilte praktisch ununterbrochen Eintritte in oder Wiederaustritte aus dem Hyperraum an. »Die Evakuierung läuft auf Hochtouren«, sagte Dan Riker. Er saß zwischen Dhark und Hen Falluta. »Mir wird ganz klamm zumute, wenn ich das Gewimmel auf den Ortungsschirmen sehe.« »Nicht nur Ihnen«, sagte Falluta heiser. »Was soll die Wehmut?« fragte Ren Dhark. »Freuen wir uns doch lieber: In fünf Jahren werden wir hier ein ähnliches Gewimmel erle‐ ben. Dann nämlich, wenn Milliarden von Terranern auf ihren Hei‐ matplaneten zurückkehren. Schauen wir also nach vorn.« »Der Commander hat gesprochen«, sagte Dan Riker mit ironi‐ schem Unterton. »Und du hast ja recht. Nur kannst du mir nicht erzählen, daß ausgerechnet du dieses klamme Gefühl nicht kennst; nenne es Wehmut, wenn du willst. Jeder weiß doch, wie sehr du an
der guten alten Erde hängst. Erinnere dich nur an die Auseinander‐ setzung mit Trawisheim vor vier Tagen.« Ren Dhark zuckte nur stumm mit den Schultern. Die Ortung schlug an, eine heftige Strukturerschütterung ließ die entsprechenden Kontrollinstrumente aufleuchten. »Synties mit Mutter sind aus dem Hyperraum gesprungen!« Grappa gab die Koordinaten durch. »Nur null Komma drei astronomische Einheiten entfernt!« Die Männer auf dem Kommandostand beobachteten das Zentral‐ hologramm. Der Checkmaster schickte eine Vergrößerung der aus dem Hyperraum aufgetauchten Synties und ihrer Mutter in die Bildkugel. Wie eine schillernde Zusammenballung unzähliger gigantischer Seifenblasen sah der Syntieschwarm rund um Mutter aus. Irgendwo im Universum hatten die rätselhaften Energiewesen Wasserstoffgas getankt und rasten jetzt mit einer Geschwindigkeit der Sonne ent‐ gegen, die nur wenig unter der des Lichtes lag. Eine Million Kilo‐ meter vor der Sonne würden sie wieder transitieren, während ihre für die Menschheit so wichtige Last, die Wasserstoffgaswolke, frei‐ gegeben und in die Sonne stürzen würde. »Seht sie euch an, unsere mysteriösen Verbündeten!« Ren Dhark sprach so laut, daß jeder in der Zentrale ihn verstehen konnte. »Jetzt zögern sie nicht mehr den Tod unserer Sonne hinaus, jetzt geben sie ihr die Energie zurück, die die Grakos ihr geraubt haben. Schaut nur, wie sie der Sonne entgegenstürzen. Macht euch das nicht Mut? Wenn wir in fünf Jahren in unsere Städte und Häuser zurückkehren können, haben wir das ihnen zu verdanken.« Alle beobachteten nun die schillernden Energieblasen in der Bild‐ kugel. Eine eigenartige Stille entstand, andächtig fast. Jeder war auf seine Weise berührt, und jeder ging auf seine Art damit um. Ren Dhark fiel auf, daß manche sich die Augen rieben, und zufällig sah er Grappa in seine Hosentasche greifen und ein Taschentuch heraus‐ ziehen.
»Wieder eine Strukturerschütterung!« Alle fuhren herum, denn Grappas Stimme klang alles andere als beruhigt. »Noch heftiger diesmal!« »Was um alles im Kosmos ist das denn …?« Dan Riker sprang auf und starrte in die zentrale Bildkugel, alle starrten sie dorthin auf einmal: Als wäre eine Supernova aus dem Hyperraum gefallen, schoß grelleuchtender Nebel durch das Sonnensystem. Dhark kniff die Augen zusammen, so hell war das Licht, das der Nebel ausstrahlte. Auch ihn hatte es nicht in seinem Sessel gehalten. Innerhalb weniger Sekunden nahm das grelle Energiegebilde eine langgestreckte Form an, die Dhark an einen Trichter erinnerte. Das größere Ende des Energietrichters wuchs. Es wuchs der Sonne ent‐ gegen! »Der Trichter zielt auf die Sonne«, sagte Dhark mit hohler Stimme. »Commander an Astronomische Abteilung – alle Meßgeräte an die Arbeit. Commander an Hyperkalkulator …« »Er zielt nicht auf die Sonne!« Plötzlich schrien alle durcheinander. »Er hat es auf die Synties abgesehen!« Und tatsächlich: Als hätte eine unsichtbare Kraft sich ihnen entge‐ gengestellt, kam der rasende Flug der Synties urplötzlich zum Still‐ stand. Nur für den Bruchteil einer Sekunde standen die Millionen von Energiewesen still im Raum, dann begannen sie sich erneut zu bewegen – von der Sonne weg und hin zu dem trichterförmigen Energiegebilde. Dhark stockte der Atem. »Astronomische Abteilung an Zentrale: Unbekannte Energieform, gigantische Gravitationskräfte …!« Der Rest der Meldung ging in Geschrei unter. »Die Synties – sie rasen auf das Ding zu!« schrie Anja Riker. »Als würde es sie aufsaugen!« rief Shanton. Der Energietrichter verschluckte die schillernden Blasen der Synties samt ihrer Mutter, samt dem Wasserstoffgas. Immer weniger Synties waren in der Bildkugel zu sehen. Sie wurden regelrecht abgesaugt. Das rätselhafte Energiegebilde sah aus, als wirbelte es um seine Längsachse.
»Kursänderung!« schrie Ren Dhark. »Wir fliegen in das Ding! Los, los, hinter den Synties her!« Der Checkmaster fuhr die Triebwerke hoch. Im Sternensog ‐modus raste er auf die Trichteröffnung des Energiephänomens zu. Ein Syn‐ tieverband nach dem anderen verschwand darin. Plötzlich heulte der Gravitationsalarm auf. Wer vor seinem Ar‐ beitssessel stand, der stürzte hinein. Eine unsichtbare Kraft hatte das Schiff gepackt und warf es zurück an den Punkt seines Kurswech‐ sels. Im nächsten Moment griff der Andruckneutralisator ein, und der Alarm verstummte. Der letzte Syntieverband tauchte in das Energiegebilde ein und verschwand. Das Trichterphänomen erlosch. Wieder Stille, diesmal eine entsetzliche Stille. Dhark spürte, wie alle Hoffnung in ihm versiegte. Die Synties waren weg. Keine Was‐ serstofftransporte, keine Regeneration der Sonne mehr. »O Gott …« Er stöhnte und verbarg seine Augen mit der Hand. Keine Hoffnung mehr für die Erde. Nun würde sie für immer eine Eiswüste bleiben. Für immer … ENDE Ein Universum Release
Jetzt fängt das Abenteuer erst richtig an! Nur noch wenige mutige Menschen harren auf der Erde aus – und vermögen nicht zu verhindern, daß sich die Eisläufer, wie man das vertriebene Volk der Riiin auch nennt, im kostbaren Boden ihrer Heimat festkrallen! Hoffnung bringen könnten nur noch die Synties, und so macht sich Ren Dhark auf die Suche nach ihnen – auf eine Suche, die ihn weit über die Grenzen der Galaxis hinausführen wird! Der neue RD‐Roman REN DHARK – Weg ins Weltall
Eiswelt Terra erscheint Mitte August 2006