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Ren Dhark Drakhon Band 16 – Die Verdammten Schleichfahrt war angesagt. So zumindest bezeichnete es Leon Bebir, Zweiter Offizier der POINT OF, die ebenso wie die EPOY mit »nur« 2,5facher Lichtgeschwindigkeit in die kosmische Gas wölke einflog, die sich in einem eher unbedeutenden Seitenarm der Galaxis Orn befand. Om, die Heimatgalaxis der Worgun! Der Mysterious, wie die Menschen sie damals genannt hatten, als sie zum ersten Mal auf deren technische Hinterlassenschaften stießen! Die Mysterious -ein Volk, das über eine unglaubliche Supertechnik verfügte, vor tausend Jahren spurlos aus der Milchstraße verschwand und nur technische Artefakte zurückließ, aber nicht einen einzigen Hinweis auf die Erbauer dieser Artefakte selbst. Die Hinterlassenschaften der Mysterious waren für die Terraner wie ein Geschenk der Götter. Ohne sie hätte es vielleicht weniger Bedrohungen aus interstellaren Räumen gegeben - aber auch keine Rettung vor den Giants, die Terra überfallen und unterjocht hatten. Und es hätte keine Chance gegeben, die galaktische Katastrophe zu verhindern, die durch Drakhon aus dem anderen Kontinuum gedroht hatte. Und jetzt hatte eine terranische Expedition die Galaxis Orn erreicht, einen Spiralnebel mit einem Durchmesser von 270 000 Lichtjahren, mithin wesentlich größer als die heimatliche Milchstraße, die von den Worgun Nal genannt wurde. Orn durchmaß im Querschnitt etwa 9 000 Lichtjahre; im Zentrum waren es sogar maximal 32 000. Auf dem Planeten Golden hatten die Terraner die Koordinaten dieser sehr aktiven Gas wölke in einem Seitenarm Orns erhalten, die einen Durchmesser von 370 Lichtjahren aufwies. Die POINT OF hatte starke energetische Aktivitäten im Inneren der Wolke gemessen. Daraufhin hatten Ren Dhark und Gisol beschlossen, sich nicht mit der gesamten Expeditionsflotte, sondern nur mit ihren beiden Flaggschiffen in den Risikobereich zu begeben. Der Worgun-Re-bell Gisol, bei den Terranern vorwiegend unter dem Namen Jim Smith bekannt, flog seine EPOY und verfügte über weitere neun Ringraumschiffe, so wie Ren Dhark, der Commander der Planeten, das Kommando über seine POINT OF und neun weitere S-Kreuzer hatte. Die Raumschiffe waren jeweils zu Zehnerringen zusammengekoppelt worden, um dadurch einen besonderen Beschleunigungseffekt des Antriebs zu nutzen und die enorme Entfernung von rund zehn Millionen Lichtjahren zwischen der Milchstraße und der im Sculptor-Haufen gelegenen Galaxis Orn schneller und gleichzeitig energiesparender zurückzulegen. Es hatte Commander Dhark eine Menge Überredungskunst und schließlich das Pochen auf seine Autorität gekostet, diese Expedition durchzusetzen. Die kostete Geld, das Terra nicht besaß nach dem geradezu verheerenden Krieg gegen die Grakos. Und es standen Wahlen bevor - aber wer würde einen Ren Dhark wählen, der während des Wahlkampfs irgendwo in Weltraumtiefen unterwegs war und Steuergelder verpulverte, statt vor Ort den Menschen begreiflich zu machen, daß er der richtige Mann für das höchste politische Amt der Menschheit war? Politgeschwätz, um das Dhark sich nie gekümmert hatte. Sein verstorbener Vater hatte in die Politik gehen wollen; Ren war diese Rolle ufgezwungen worden. Er selbst war eher der Weltraumzigeuner, dem die Erde längst viel zu klein war und der die Sterne zum Greifen nahe haben wollte, statt sich in ein Büro einsperren zu lassen. Oft, wenn er in der Zentrale der POINT OF die exzellente Wiedergabe der Bildkugel sah und darin die Pracht der Sterne, entsann er sich jener Zeit, in er als Kind spätabends vor dem Haus seiner Eltern gestanden und zum Himmel hinauf geschaut hatte, zu diesem Sternendschungel
mit all seiner Schönheit. Damals hatte er von sich selbst verlangt: Ich muß dorthin, ich MUSS diese Sterne aus der Nähe sehen! Zumindest dieses Lebensziel hatte er längst erreicht. Er war weiter gelangt als jeder andere Mensch zuvor, er hatte die Grenzen des Universums gesprengt und war nicht nur in einer anderen Galaxis, sondern auch in anderen Welträumen gewesen. Das Nor-Ex-Kontinuum, das blaßblaue Universum mit Erron-3, und vielleicht würde er eines Tages auch das Universum bereisen, aus dem Dra-khon gekommen war, um dorthin wieder zu verschwinden. /H'^ Einem anderen Lebensziel war er zum Greifen nah. Seit er auf Hope die POINT OF entdeckt hatte, war er auf der Suche nach deren Erbauern und hatte immer wieder Enttäuschungen erlebt. Bis er auf Gisol stieß. Und zusammen mit Gisol war er jetzt endlich in der Heimat der Erbauer der POINT OF... Jetzt, siebendrei viertel Jahre nach der Entdeckung des Ringrau-mers... Und im Januar, siebeneinhalb Jahre nach dessen Entdeckung, hatte Ren Gisol getroffen... Sieben... war das ein Omen? Sieben war doch die Zahl der Mysterious, auf der nicht nur ihre Supermathematik beruhte. Immer wieder war Dhark bei seiner Suche nach den Spuren der Mysterious auf diese Zahl gestoßen. Die Häuser der längst zerstörten Stadt vor dem Höhleneingang des Industriedoms auf Hope waren siebeneckig gewesen, Schalteinheiten wurden in Siebenergruppen zusammengefaßt, Schraubenköpfe waren siebeneckig, die Sieben war das Symbol der Mysterious. Und jetzt, nach gerade mal etwas über sieben Jahren der Erstkontakt... War das noch Zufall? Ganz objektiv und logisch betrachtet: ja! Aber rein subjektiv kam Ren bei diesen Gedanken immer wieder ins Träumen. Und er, der schon als Kind von den Sternen geträumt hatte, mußte einfach deshalb nach Orn fliegen. Jetzt war er hier, trotz aller Bedenken und Warnungen. Wie gefährlich diese Expedition war, hatte ihr Aufenthalt auf Planeten Golden gezeigt. Aber dieser Aufenthalt hatte ihnen auch die Möglichkeit verschafft, die bislang verbrauchten Energiereserven der Raumer zu erneuern, und er hatte ihnen die Koordinaten dieser kosmischen Gas wölke gebracht. Was genau sie hier erwartete, wußte noch keiner von ihnen, nicht einmal Gisol, der sich in Orn kaum besser auskannte als Ren Dhark in der heimatlichen Milchstraße. Wie denn auch? Bei Milliarden von Sternen, Milliarden von Planetensystemen und Millionen bewohnter Welten? Hinzu kam natürlich, daß Gisol ein Rebell war, der von den jetzigen Herrschern Orns gejagt und selbst von seinem eigenen Volk verachtet wurde. Gisol hatte nie Zeit genug gehabt, all das in Erfahrung zu bringen oder zu erforschen, was ihm vorschwebte. Und jetzt, im April 2059, flogen die POINT OF und die EPOY in die kosmische Gas wölke ein! Für Ren Dhark war das nicht das erste riskante Unternehmen dieser Art. Oft genug hatte es bei seinen früheren Aktionen auf der Suche nach Spuren der Mysterious ähnliche Situationen gegeben. Er war neugierig, aber auch vorsichtig. Und deshalb hatten sich die beiden Ringraumer POINT OF und EPOY von den anderen Schiffen getrennt und stießen nur mit »Schleichfahrt« in die Gaswolke vor, die sich ihnen in einer schier unglaublichen Farbenpracht zeigte... »Dhark, Funkspruch von der EPOY«, rief Glenn Morris aus der Funk-Z durch. »Da stimmt was nicht!« Der Commander zuckte zusammen. »Durchstellen, Glenn!« ordnete er an. Was konnte an Bord der EPOY nicht stimmen? Es hätte seiner Anweisung nicht bedurft; der Cheffunker hatte den eingehenden Funkruf ohnehin sofort nach seiner Ansage auf das Kommandopult der Zentrale gelegt. Dort wurde
ein Holomoni-tor aktiv und zeigte im nächsten Moment die elfjährige Juanita Gonzales in der Zentrale der EPOY, aber auch Gisol, der sich of10 fenbar in heftigen Schmerzen krümmte und nicht ansprechbar schien. Immerhin hielt er seine Jim-Smith-Gestalt noch unter Kontrolle. Die Mysterious waren Gestaltwandler, die jedes beliebige Aussehen annehmen konnten, solange der darzustellende Körper etwa eine Masse von 100 Kilo aufwies. Kleinere oder größere Körper nachzubilden war mit Schwierigkeiten verbunden; sie mußten ihre Körpersubstanz entweder komprimieren oder »aufblasen«, was beides aber nur bis zu einem bestimmten Grenzwert möglich war. Ihre Originalgestalt erinnerte an eine Amöbe - was täuschte, weil sie beileibe keine Einzeller waren. Bei Kontakten mit den Menschen pflegte Gisol stets sein Jim-Smith-Aussehen zu zeigen; seine letzte »Maske«, in welcher er vor der Manipulation des Schwarzen Superlochs im Zentrum der Milchstraße auf Terra aufgetreten war. »Juanita? Was ist passiert?« Dhark beugte sich unwillkürlich leicht vor, als könne er so besser sehen, was sich in der Zentrale des anderen Ringraumers abspielte. »Wir... wir... Jim...« Die Elfjährige rang nach Worten, streckte hilflos die Hand aus und wies auf den Mysterious. »Ganz ruhig«, sagte Ren Dhark. »Ganz ruhig bleiben. Wir sind hier. Erzähl uns einfach, was passiert ist.« »Aber ihr müßt Jim helfen«, rief sie verzweifelt. »Er stirbt vielleicht! Er hat so furchtbare Schmerzen! Und ich kann das Raumschiff doch nicht allein fliegen!« Dhark schluckte. »Natürlich werden wir ihm helfen«, sagte er beruhigend. »Aber du mußt uns erzählen, was geschehen ist, damit wir gleich das richtige tun können und nicht lange herumrätseln müssen, okay?« Seine Stimme hatte einen beschwörenden Klang. Bebir und Dan Riker, die neben Dhark am Kommandopult saßen, blickten den Commander erstaunt an. So hatten sie den breitschultrigen, weißblonden Sportlertyp mit dem energischem Kinn noch nie reden gehört. Allerdings waren sie alle bisher auch noch nie in der 11 Zwangslage gewesen, ein Kind zu beruhigen, das drauf und dran war, in Panik zu verfallen. Gisol-Smith hatte Juanita gebeten, die EPOY zu verlassen und an Bord eines der terranischen Schiffe zu gehen, ehe die beiden Ringraumer in die Gas wölke vordrangen. Er hatte sie in Sicherheit wissen wollen, aber sie hatte dermaßen vehement protestiert, daß er schließlich nachgegeben hatte. Kennengelernt hatte er sie bei seiner Aktion auf Terra in Rio de Janeiro. Sie war ein Waisenkind, das sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen mußte. Aber sie besaß eine geradezu fantastische Fähigkeit: Sie konnte sich »unsichtbar« machen! Es handelte sich zwar nicht um eine physikalische Unsichtbarkeit, wie die Terraner sie von den Mimikry-Schirmen der Nogk kannten oder von den beiden entarteten Cyborgs Mildan und Dor-dig, die vor zwei Jahren eine Menge Unheil angerichtet hatten. Aber irgendwie brachte etwas in Juanita Gonzales andere Menschen dazu, sie nicht zu sehen, wenn sie nicht gesehen werden wollte. Und - sie konnte andere ebenfalls »unsichtbar« machen, wenn diese sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden! Damals hatte Smith das Mädchen gezielt ausgesucht, um sich seiner zu bedienen. Offenbar war er mit seiner technischen Ausrüstung in der Lage gewesen, Juanitas Begabung zu erkennen und sie gezielt zu suchen. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, sie nach dem Ende seiner Mission auf Terra zu beseitigen, damit sie ihn nicht verraten konnte. Aber irgendwie war sie ihm in jenen Tagen und Wochen ans Herz gewachsen, und er nahm sie mit in den
Weltraum. Sie hatte ein gewinnendes Wesen, ein großes Herz, und sie zeigte ihm eine Jugend
voller Träume und Hoffnungen, die ihm selbst verwehrt geblieben war.
Von einem Teil seiner Jugend hatte er Ren Dhark und seinen Freunden erzählt, während die
aus zweimal zehn Schiffen beste-
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hende Flotte Orn anflog.* Aber seine ursprünglichen Absichten Juanita gegenüber würden für
immer sein Geheimnis bleiben.
Er hatte sie längst ins Herz geschlossen, und es schien, als sehe sie ihn als eine Art Ersatzvater
an. Sie verehrte ihn - und jetzt mußte sie sehen, wie er hilflos litt.
»Erzähl«, bat Dhark ein weiteres Mal.
Jetzt endlich schaffte sie es, zu berichten, was sich in den letzten Minuten an Bord der EPOY
abgespielt hatte. Zunächst der Ausfall der Kommunikation mit den anderen Ringraumern, die
am Rand der Wolke zurückgeblieben waren. Das war nichts Neues, und damit hatten sowohl
der Commander als auch Gisol gerechnet. Aber dann - Ausfall wichtiger Systeme an Bord der
EPOY!
Gisol hatte versucht, etwas dagegen zu tun. Aber es war ihm nicht gelungen. Statt dessen litt
er plötzlich unter Schmerzen, deren Ursprung rätselhaft war, und reagierte schließlich nicht
einmal mehr auf Juanitas Versuche, ihn aus seinem Zustand zu reißen und wenigstens einen
Teil seiner Aufmerksamkeit zu erheischen.
In der Zentrale der POINT OF sahen die Menschen sich überrascht an.
Der Ausfall der Kommunikation mit den außerhalb der Wolke befindlichen Raumern war
registriert. Aber einen Systemausfall, wie Juanita ihn schilderte, gab es im Flaggschiff der
Terranischen Flotte nicht.
Was war der Grund?
Die EPOY war das neuere Raumschiff. Aber es sah so aus, als verfüge die tausend Jahre alte
POINT OF über technische Möglichkeiten, von denen Jim Smith in seinem modernen Raumer
allenfalls träumen konnte!
Was hatten Margun und Sola, die geheimnisvollen Konstrukteure der POINT OF, alles in
ihren Prototypen eingebaut?
Die Bildfunkverbindung zeigte Dhark den hilflosen Gisol, aber
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er wußte nicht, was er für den Mysterious effektiv tun konnte. , »Juanita«, bat er. »Versuche,
die EPOY zu stoppen.« »Aber wie?«, stöhnte das Mädchen. »Wie soll ich das tun?« »Ich
helfe dir dabei«, sagte Dhark. »Du brauchst nur zu tun, was ich dir sage.«
Nach dem, was Juanita ihm erzählt hatte, verschlimmerte sich Gisols Zustand um so mehr, je
weiter die beiden Raumer in die Wolke eindrangen. Ein Stop würde Dharks Vermutung
zufolge also die Verschlimmerung aufhalten. Eine Umkehr würde ihn »heilen«. Das war typisch für Absicherungsmaßnahmen der Mysterious. Es war sogar humaner als jene
Aktionen, die Dhark selbst erlebt hatte. Mehr als einmal war die POINT OF beim
»unautorisierten« Anflug auf Planeten oder Anlagen der Mysterious angegriffen worden - im
freundlichsten Fall mit Tele-Hypnose... und der erzwungene Anflug auf Planet Cutout hätte
seinerzeit beinahe zur Vernichtung der POINT OF geführt.
Um so eigenartiger fand Dhark es jetzt, daß die EPOY größere Probleme hatte als die POINT
OF - beziehungsweise, daß Gisol diese Probleme hatte und nicht die Terraner. Oder war diese
Wolke eine Falle der Zyzzkt? Dan Riker, Rens bester und ältester Freund, äußerte diesen
Verdacht, nur konnte er ihn nicht untermauern, weil der Planet Golden, auf dem sie die
Koordinaten dieser Wolke erhalten hatten, garantiert nicht unter der Kontrolle der größten
Feinde der Worgun stand.
Warum also unterlag ausgerechnet Gisol einem Negativeinfluß und nicht die Terraner?
Dhark sprach weiter mit Juanita. Sie hatte Angst, in die Steuerung des Ringraumers
einzugreifen, solange Jim Smith nicht in der Lage war, ihre Aktion zu überwachen und
notfalls zu korrigieren, falls sie etwas falsch machte. Aber Dhark konnte sie überzeugen, daß
er sich damit ebensogut auskannte wie Jim. Ein wenig hatte sie selbst von Jim auch schon
gelernt. Dhark
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leitete sie an und rief ihr in Erinnerung, was Gisol ihr beigebracht hatte.
Sie stoppte den Flug der EPOY.
Im gleichen Moment betätigte auch Leon Bebir in der POINT OF die entsprechenden
Steuerschalter, um auch die POINT OF abzubremsen und ihre Fluggeschwindigkeit wie die
der EPOY auf den Wert Null zu bringen. »Und jetzt schalte das Intervall ab«, bat Dhark.
»Aber - aber dann sind wir ja völlig schutzlos!« entfuhr es Juanita.
»Nein«, widersprach der Commander. »Vertraue mir. Die energetischen Prozesse in der
kosmischen Gaswolke können dem Unitall nichts anhaben. Ihr seid sicher.«
»Aber warum soll ich es abschalten?« wollte sie wissen.
»Damit wir einfacher an Bord kommen können«, sagte er. »Ich möchte per Flash einfliegen.
Ich bin aber nicht sicher, ob sich die Intervallfelder untereinander wirklich vertragen.
Immerhin liegen tausend Jahre Entwicklungszeit zwischen den beiden Raumern.«
»Es gibt doch die Transmitter«, erinnerte Juanita.
»Weißt du, wie man sie bedient?«
»Nein«, sagte sie kleinlaut. Wieder sah sie zu Gisol hinüber, der sich in Krämpfen wand und
seltsame Stöhnlaute von sich gab. »Er braucht doch Hilfe«, sagte sie leise.
»Deshalb wollen wir ja zu euch an Bord kommen«, sagte Dhark.
Plötzlich erwachte Mißtrauen in der Elfjährigen. »Was heißt zu uns?“
»Nun, ich schicke mit einigen Flash ein paar Leute, die sich...«
»Nein!« protestierte Juanita energisch. »Das kommt gar nicht in Frage, Mister Dhark!«
»Aber wie sollen wir Jim dann helfen?«
»Lassen Sie sich etwas einfallen!« verlangte sie. »Doch Fremde dürfen nicht an Bord. Jim
will das nicht. Das hat er oft genug gesagt. Ich weiß, daß er es auch jetzt nicht will.«
»Aber dann können wir ihm nicht helfen!«
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»Es muß eine Möglichkeit geben«, drängte Juanita. »Und das möglichst schnell! Er leidet!
Ihnen fällt doch sonst immer etwas ein, Mister Dhark!«
Nach ein paar Sekunden fügte sie hinzu: »Sie allein dürfen kommen. Ihnen vertraue ich, und
auch Jim vertraut Ihnen. Er hat Sie ja schon einmal in die EPOY gelassen. Aber nur Sie,
niemand sonst! Wenn noch ein anderer Sie begleitet, aktiviere ich die Sicherheitsschaltung.«
»Was soll das heißen?« stieß Dhark bestürzt hervor.
»Das werden Sie dann schon sehen«, sagte das Mädchen.
»Ich bin einverstanden«, sagte Dhark nach kurzem Zögern. »Ich komme allein an Bord. Mit
einem Flash.«
»Ich schalte das Intervallfeld ab. Bitte kommen Sie schnell!«
Die Bildsprech Verbindung erlosch. Juanita hatte abgeschaltet. Augenblicke später meldete
Tino Grappa von der Ortung: »EPOY hat beide Intervallfelder deaktiviert.«
Dhark erhob sich. »Dann will ich mal...«, murmelte er.
»Stop, alter Freund!« warnte Dan Riker, der sich ebenfalls aus seinem Sessel erhob. »Warte
mal. Ich kann's nicht glauben, daß du in einer kritischen Situation den närrischen Wünschen
eines kleinen Mädchens nachgibst!«
»Dieses kleine Mädchen«, erinnerte Dhark, »hat eine ziemlich lange Zeit mit Gisol
zugebracht. Sie kennt ihn, und wir haben ja selbst schon oft genug erlebt, wie eigensinnig er
ist, wenn es um sein Schiff geht.«
»Klar«, knurrte Dan, und der kleine rote Fleck auf seinem Kinn erschien wieder einmal und zeigte, wie sehr er sich erregte. »Der Raumschiffdieb hat Angst, daß ihm selbst sein Schiff geklaut wird.« »Ich denke eher, daß er verhindern will, daß andere etwas von den technischen Raffinessen mitbekommt, die er wahrscheinlich 16 an Bord hat und die er als Trumpf im Ärmel behalten will. Wir würden es doch nicht anders machen.« »Kein Grund, den Launen dieses Mädchens nachzugeben«, kritisierte Dan. »Wir haben jetzt die Möglichkeit, ihn zu zwingen...« »Dan!« protestierte der Commander scharf. »Wir sind Terraner, keine Erpresser!« »Wenn du das als Erpressung siehst, hm... nur möchte ich dich daran erinnern, daß es auch unter Terranern Erpresser gab und gibt, und zwar in Hülle und Fülle!« »Aber nicht an Bord der POINT OF!« »Verdammt, Ren, es ist eine kritische Situation! Gisol fällt praktisch aus, und wir bekommen hier in der POINT OF von dem Drama an Bord der EPOY erst etwas mit, als die Kleine uns anfunkt! Gibt dir das nicht zu denken? Du wirst da drüben Hilfe brauchen!« »Ich fliege hinüber, du hältst dich hier in Bereitschaft, damit deine Seele Ruhe hat und ich notfalls Rückendeckung bekomme, und Sie, Leon, haben während meiner Abwesenheit das Kommando.« »Aye«, brummte Leon Bebir nur. Riker sah seinen Freund an. »Willst du noch etwas dazu sagen?« fragte Dhark knapp. In seinen braunen Augen funkelte es. Riker schüttelte den Kopf. Erst als der Commander die Zentrale verlassen hatte, sagte er leise: »Im Alter wird der Knabe doch recht wunderlich.« /Bebir, der Zweite Offizier und derzeitige Kommandant der POINT OF, grinste schwach. Im Alter? Der Commander war gerade erst 30 geworden... »Vielleicht liegt's daran, daß er neuerdings Vater ist. Da wird man sensibler im Umgang mit Kindern.« Riker ließ sich wieder in seinem Kontursessel nieder. »Was brabbeln Sie denn da schon wieder, Mann?« »Ich kann ihn verstehen«, sagte Bebir, »seit meine Freundin und ^h ein Kind haben. Drei Jahre ist es inzwischen alt und so verdämmt süß, daß man dem verflixten Bengel keinen Wunsch abschlagen kann...« »He, davon weiß ich ja noch gar nichts!« stieß Riker verblüfft hervor. »Sie sind Vater? Sie haben«, er grinste breit, »also endlich mal was zustandegebracht, das Hand und Fuß hat?« »Sogar zwei Hände und zwei Füße«, grinste Bebir, »weil doppelt besser hält, und mit halben Sachen gibt sich ein Mitglied der POINT OF-Besatzung doch erst gar nicht ab, oder wie sehen Sie das?« »Warum heiraten Sie Ihre Freundin nicht?« »Ich will ja, schon allein, damit der Junge und sie versorgt sind, falls ich bei einem unserer Einsätze drauf gehe.« Das Grinsen war längst erloschen, und er klang etwas bitter. »Aber sie will nicht. >Wer nicht ständig zu Hause erreichbar ist, den muß ich nicht heiratenLecker, lecker! < rufen?« »Du bist ein noch dümmerer Hund als Bebir«, grinste Dhark, wurde aber schnell wieder ernst. »Ich will die EPOY von der POINT OF abkoppeln und mit der Gedankensteuerung so viele ihrer Systeme aktivieren, wie das noch möglich ist. Vielleicht können wir so die fremden Schiffe wieder herbeiführen.«
»Und wie soll das funktionieren?« Riker schüttelte den Kopf. »Sobald Gisol wieder an Bord geht, ist er erledigt. Dagegen hilft auch das Intervallfeld nicht, wie der tragische Opfertod der hilflosen Kakerläkchen zeigte.« Ren verdrehte die Augen. »Hört mir hier eigentlich auch mal jemand zu? Ich sagte laut und deutlich: Ich will das machen. Von Gisol habe nichts erwähnt.« »Ich schätze mal, er wird einiges erwähnen, wenn du fröhlich in sein Schiff marschierst. Dann ist es mit der Freundschaft garantiert aus. Wollen wir wetten?« »Meine Mutter sagte immer: >Wetten tun die Kötten, wenn sie kein Geld habenBabylon-Plansas wäre Selbstmord.«
Ich weiß, aber ich gehe auch davon aus, daß der Zentrale Con-
llo seine eigene Existenz zu schützen hat. Deshalb habe ich das Hy-Kon tatsächlich
initialisiert. Er muß es in der Energieortung erkennen.«
Es war wohl die furchtbarste Waffe, die die Mysterious jemals entwickelt hatten, kaum
weniger entsetzlich als die nogkschen Antisphären. Die vom Hy-Kon erfaßten Objekte
wurden unweigerlich in den Hyperraum geschleudert und verblieben dort wohl bis ans Ende
der Zeit - oder sie verflüchtigten sich einfach in dem übergeordneten Medium. Wirkliche
Erkenntnisse hatte man nicht.
Das Problem war, daß in diesem Fall die beiden Ringraumer sich selbst innerhalb des
auszuschleudernden Objekts befanden und sich nicht ausschließen konnten. Was das anging,
hatte der Controllo recht...
Erstmals hatte Dhark diese unheimliche Superwaffe auf Zwitt erlebt und einsetzen müssen,
als die Tel diesen hinter einer künstlichen Sonnenkorona versteckten Planeten mit ihrer
Robotflotte angriffen. Später stellte sich heraus, daß auch die POINT OF über diese Waffe
verfügte.
»Irgendwie kann ich es nicht glauben, daß die POINT OF diese Waffe besitzt«, sagte Gisol
leise. »Das Schiff ist dafür zu klein. Wenn ich nicht gesehen hätte, wie du schaltest, würde ich
es für ein Täuschungsmanöver halten.«
»Und damit der Controllo es nicht auch für ein Täuschungsmanöver hält, habe ich es aktiviert,
daß er es anmessen muß. Jetzt hat er wohl was zum Nachdenken.«
Nach ein paar Sekunden rief er dem Offizier zu, der den Checkmaster bediente: »Feststellen,
wo der Zentrale Controllo seinen Sitz hat!«
Doch der Checkmaster reagierte nicht auf die Anordnung, auch nicht, als Dhark über die
Gedankensteuerung versuchte, ihn zu einer Antwort zu zwingen. »Commander, der
Checkmaster befindet sich offenbar in einem regen Datenaustausch mit eben dem Zentralen
Controllo!« vermutete der Offizier.
Der Controllo schwieg ebenso wie der Checkmaster.
»Okay, das war's«, stieß Dhark hervor. Er schaltete die Bordsprechanlage auf Rundruf.
»Doorn, Artus, Sass, Oshuta, Alsop, Burton, Cindar, Yello, Carrell - Flasheinsatz in der
Station! Ziel: den Zentralen Controllo aufspüren und möglichst blockieren oder
gegebenenfalls zerstören. Wir treffen uns im Flashdepot. Gisol, du darfst zwar die POINT OF
wegen der Strahlung nicht verlassen, aber du kennst Stationen wie diese vom Grundriß her
besser als wir alle. Hast du eine ungefähre Vorstellung, wo der Zentrale Controllo zu finden
sein müßte?«
»Habe ich, Ren... aber wirklich nur ungefähr...«
»Dann lotst du uns von hier aus hin. Wir bleiben per Helmvipho miteinander in Kontakt. Die Frequenz muß der Controllo erst mal finden, ehe er sie stören kann.« Er federte aus seinem Sitz hoch. Im Ausgang prallte er mit Dan Riker zusammen, der ihn einfach in die Zentrale zurückschob. »Du bleibst hier, mein Bester«, sagte er entschlossen. »Du wirst nämlich noch gebraucht! Deinen Platz im Flash kann ein weiterer Cyborg einnehmen. Über Doorn läßt sich reden, der Technik wegen, aber die Cyborgs sollten nicht auch noch auf dich aufpassen müssen! Und falls wir POINT OF und EPOY trennen müssen, bist momentan du der einzige, der Jims Schiff fliegen kann! Weil nur du bei der Gedankensteuerung autorisiert bist!« »Aber...« Dhark verstummte. Sein Freund hatte recht. »Warum hat mich eigentlich keiner geweckt«, knurrte Riker, während er Dhark wieder zum Kommandopult bugsierte. »Wollt ihr den ganzen Spaß nicht mit einem frischgebackenen Oberstleutnant teilen?« Dhark seufzte. Dann rief er über die Bordverständigung nach Amy Stewart. Die fühlte sich wahrscheinlich schon übergangen, weil er sie für den Flasheinsatz nicht benannt hatte. »Stewart zum 110 Flashdepot. Auftrag bekannt - und raus! Ständige Helmviphover-bindung mit Jim Smith und mir! Wir lotsen euch in Zielnähe!« Die oberste Ringetage mit der Dachplattform blieb unter dem Gleiter zurück. Nachdem die vorgeschriebene Flughöhe erreicht war, übergab Henk de Groot die Maschine dem Autopiloten. Der Hochleistungsgleiter aus dem Fuhrpark der Regierung bewegte sich in nordöstlicher Richtung über die wolkenstürmenden, gigantischen Ringpyramiden hinweg, deren Terrassen und Flachdächer das gelbe Licht der Riesensonne widerspiegelten. Für kurze Zeit war ein Loch in der dichten Wolkendecke aufgerissen und gab den Blick auf die Systemsonne frei. Aus der Entfernung von Babylons Umlaufbahn hatte sie etwa die Größe der irdischen Sonne, war aber in Wirklichkeit ein Sternenungeheuer, gegen das Beteigeuze, der von der Erde aus gesehene östliche Schulterstern des Sternbildes Orion mit seinem mehr als 300fachen Durchmesser der irdischen Sonne, geradezu mickrig wirkte. Das System besaß achtunddreißig Planeten, von denen die inneren zehn unwirtliche Gluthöllen waren, vergleichbar mit Merkur oder anderen Welten, die einfach zu nahe um ihre Sonnen kreisten. Erst die Nummern elf bis siebzehn bewegten sich innerhalb der Ökosphäre, waren Atmosphärenwelten, mehr oder minder geeignet zur Besiedlung durch Sauer Stoff atmer. Die weiter draußen gelegenen Welten waren gigantische Gasriesen, die äußeren, für die die Systemsonne nichts als ein Lichtpunkt unter den unzähligen anderen war, dämmerten unter Panzern gefrorener Gase dem Ende der Zeit entgegen. Dort draußen in der ewigen Nacht war noch kein einziger FO-Kreuzer gewesen. Und für eine eigene, umfassende Exploration ihres Systems hatten die Babylonier weder Zeit noch Muße oder gar die nötige technische Ausrüstung. Die hatte der Hyperraumblitz aus den Tie111 fen des Alls auf geringfügige Reste zusammenschrumpfen lassen, die für alles mögliche gebraucht wurden - nur nicht für langwierige und aufwendige Exkursionen in die äußeren Bereiche des Planetensystems. Dreißig Minuten später erreichte der Gleiter die Peripherie des halbwegs erforschten Bereiches und folgte dem einprogrammierten Kurs in Richtung auf sein Ziel. Die topographische Karte, die sich im Suprasensor des Hochleistungsgefährts befand, stammte in ihren Grundzügen noch aus der Zeit, als Ren Dhark mit der POINT OF und Major Lefter als Kommandant der FO VII Babylon entdeckt hatten und erstmals auf die Statue des Goldenen Menschen gestoßen waren. Natürlich war sie im Laufe der Zeit verbessert worden, dennoch
enthielt sie noch lange nicht alle Einzelheiten der Planetenoberfläche. Zu viele weiße Flecken existierten nach wie vor, genau wie damals auf den Karten der alten Erde, als Afrika und Asien noch nicht erforscht waren und ihre Geheimnisse erst nach und nach und unter den größten Strapazen und Entbehrungen den wagemutigen Forschern und Abenteurern preisgaben, die in diese unbekannten Regionen vorstießen, oftmals unter dem Einsatz ihres Lebens. Bald lagen nur noch Parkanlagen unter dem Gleiter, die, wie Henk mit einem gewissen Bedauern bemerkte, immer mehr verwilderten. Seit dem Ausfall der Roboter kümmerte sich niemand mehr um die Pflege der Anlagen. Der von den Menschen bewohnte Bereich blieb hinter ihnen zurück. Doch auch hier standen inmitten der ehemaligen Parks die gigantischen Ringpyramiden, die seit tausend Jahren nicht genutzt wurden. Es war ein heller Tag; doch auch heute war der Himmel fast vollständig von der auf Babylon üblichen Wolkendecke verhangen. »Wohin fliegen wir?« fragte Charlize gutgelaunt. Sie hatte die 112 Füße auf die hufeisenförmige Steuerkonsole gestemmt und sah durch die Kanzelverglasung auf die unter ihnen hinweghuschende Landschaft. »Hast du ein bestimmtes Ziel?«, »Das habe ich«, nickte Henk. »Kenne ich es?« »Kaum. Es liegt von uns aus gesehen auf der entgegengesetzten Seite des Planeten.« »Und was wollen wir dort, mitten in der unerforschten Wildnis?« Henk drehte den Gliedersessel in ihre Richtung und wippte mit der entsperrten Lehne. /vv »Ich habe einfach Sehnsucht nach unberührter Natur«, sagte er leichthin. »So!« Ihr Tonfall ließ ahnen, daß da noch etwas nachkam. Und genauso war es. Spitz sagte sie: »Ich dachte bislang immer, du hättest einzig und allein Sehnsucht nach mir.« Henk seufzte innerlich. Wie sollte man als Mann auf eine derartige Bemerkung der Herzallerliebsten reagieren? Mit überschwenglichen Beteuerungen dessen, was man für den weiblichen Gegenpart empfand? Oder sollte man sich klug und weise verhalten - und gar nicht antworten? Henk beschloß, einen Mittelweg zu gehen. Er schenkte ihr sein allerbestes Lächeln, mit dem er schon Tausende von Frauen -jetzt übertreibst du aber schamlos, mein Bester! sagte eine kleine, spöttische Stimme in seinem Kopf - auf allen bekannten Planeten betört hatte. »Tut mir leid«, sagte er, und das meinte er in vollem Ernst. Er war rücksichtslos gewesen - eines Gentleman ganz und gar unwürdig. Aber einer Charlize Farmer konnte er natürlich nichts vormachen. Sie musterte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. »Nun gib es schon zu, es tut dir überhaupt nicht leid. Du hast was im Sinn. Du bist hinter etwas ganz Bestimmtem her, denn warum sonst haben wir das ganze Zeugs dabei?« »Zeugs?« Henk versuchte noch einmal harmlos zu lächeln. Er 113 kam sich wie ein ausgemachter Trottel vor. »Welches Zeug?« »Na, die ganze Ausrüstung!« Sie deutete mit dem Daumen in den hinteren Teil des Gleiters. »Was soll sein mit dem bißchen Ausrüstung?« »Ich zähle mal auf: zwei Zentner Notrationen. Sulfonamide. Verbandszeug, Seren. Antiseptika. Einige Rollen mit unzerreißbaren Mylarseilen. Zwei Äxte mit molekularverdichteten Unitall-schneiden, die man als Werkzeuge und als Waffen gleichermaßen einsetzen kann. Einen kleinen Reaktor als unerschöpfliche Energiequelle. Zwei schwere Blaster mit integrierter Abschußvorrichtung für Signalraketen, dazu die entsprechenden Pakete Signalmunition - natürlich mit sensorbestückten Köpfen. Und als kleine, aber feine Beigabe ein atomar betriebener Jetski.« Sie grinste spöttisch. »Wie gesagt,
nur ein bißchen Zeug. Sag, willst du mich verscheißern,de Groot?« »Ich werde mich hüten«,
antwortete er rasch. »Aber immerhin wollen wir doch vierzehn Tage fernab der Kolonie
verbringen. Da braucht man all das Zeug. Noch nie etwas von Abenteuerurlaub gehört?« »Abenteuerurlaub? Pah!« Sie schüttelte temperamentvoll den Kopf, daß die blonden Haare
nur so flogen. »Wildnis? Pah! Daß ich nicht lache! Babylon ist das Paradies schlechthin.
Keine Raubtiere, die uns gefährlich werden könnten. Keine Krankheitskeime, nach allem, was
unsere Bio- und Serologen herausgefunden haben. Keine gefährlichen Sand- oder
Staubstürme. Ich glaube, da will mich jemand wirklich auf den Arm nehmen.« »Nichts täte
ich lieber als das«, versicherte er rasch. »Wenn ich könnte, würde ich es dir beweisen.«
»Du willst es mir beweisen? Wie denn?« Die erste Andeutung eines Lächelns nistete sich in
ihren Mundwinkeln ein, während ihre Hand seinen Nacken suchte und ihn sachte kraulte.
»Laß uns erst einmal am Strand im Licht der untergehenden Sonne liegen. Ein paar
eisgekühlte Drinks...«
»Aus der Plastikflasche«, spottete sie.
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»... ein süperbes Dinner...«
»In heißem Wasser gequollenes Konzentrat. Hmm, köstlich!«
Er machte trotz ihres immer breiter werdenden Grinsens tapfer weiter.
»Leise Musik. Und dann...«
»Was dann?« begehrte sie zu wissen, als er schwieg. »Verflixt, was ist los mit dir? Immer
wenn es anfängt, interessant zu werden, hörst du auf zu reden!«
»Und dann... na ja, alles, was uns dann so einfällt.«
Sie lachte perlend und gab ihm einen Klaps auf den Arm.
»Du bist ein Spinner, Henk de Groot. Ein hoffnungslos romantischer Spinner, obwohl du gar
nicht den Eindruck machst. Aber ich weiß es besser. Und deshalb liebe ich dich.«
»Wenn du es sagst«, murmelte er und lächelte zufrieden.
»Also«, begann sie nach einer Weile des Schweigens. »Was gibt es wirklich dort? Und
schwindle mich nicht an, verstehst du!«
Er tat es nicht, sondern berichtete ihr von einem großen, aber relativ flachen Binnenmeer mit
phantastischen Stränden, wildromantischen Inseln und Pyramidenanlagen, die den Eindruck
erweckten, speziell der Erholung am Wasser zu dienen.
»Ich habe die Aufnahmen, die von einem Raumschiff beim Überflug aufgenommen worden
waren, zufällig im Archiv der kartographischen Abteilung des Kolonialamtes entdeckt«,
erklärte er. »Wir werden dort in einer der Pyramiden am Wasser Strandurlaub machen.«
»Deshalb der Jetski!«
»Ein Geschenk des Präsidenten«, sagte er.
»Ziemlich teures Geschenk, wenn du mich fragst. Wie kommt so etwas nach Babylon?«
»Eigentlich will ich das gar nicht wissen«, bekannte er freimütig. »Vermutlich im Rahmen
eines Warenaustausches von Terra importiert, denke ich mal.«
Der Autopilot führte den Gleiter sicher auf das Ziel zu.
Eine Stunde verstrich.
115
Die zweite.
Die dritte verstrich...
»Du bist so schweigsam«, ließ sich Charlize vernehmen.
»Hmmpff?«
»Ich sagte, du redest seit geschlagenen vierzig Minuten kein Wort. Was ist los mit dir?«
»Nichts«, erwiderte er lahm.
»Nichts gibt es nicht«, sagte sie spitzfindig. »Was hast du?«
Oh, diese Frauen!
Da hatte er eine plötzliche Inspiration
»Wußtest du eigentlich, daß es eine Untersuchung über den aktiven Wortschatz der Spezies Mensch gibt, wonach Männer nur etwa zweitausend Wörter kennen, Frauen hingegen siebentausend.« »Und?« Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. »Ahm... ich habe meine zweitausend schon verbraucht.« »Henk de Groot«, sagte sie mit eindeutigem Tadel in der Stimme, »Mit dir nimmt es mal ein schlimmes Ende - wenn ich nicht höllisch auf dich aufpasse.« »Ich befürchte es...« murmelte er und erntete einen Knuff in die Seite für diese Bemerkung. Das Landschaftsbild unter ihnen hatte sich unmerklich verändert. Die verwilderten Parks zwischen den hier erbauten Pyramiden besaßen savannenartigen Charakter. Die Sonne hatte den Zenit erreicht und begann bereits wieder abwärts zu wandern. Da tauchten die lang hingestreckten, zerklüfteten Fels- und Eismassive einer phantastischen Gebirgswelt am Horizont auf, zwölftausend und mehr Meter hoch. Dazwischen, über vierzehntausend Meter in die Troposphäre ragend, wildgezackte Gipfel deren vergletscherte Flanken hell schimmerten. Aus der Ferne wirkte es, als hielten die Ringpyramiden respektvollen Abstand zu den Bergen. Der Gleiter stieg automatisch höher. Der Autopilot suchte sich den sichersten Weg durch Hochtäler und über Pässe. 116 Nebel brodelte in Schrunden und bodenlosen Spalten. Die Außentemperatur sank von Minute zur Minute, je höher der Gleiter stieg. In den Hochtälern rumorte es; die Außenmikrophone fingen die Geräusche ein. Frost ließ überhängende Vergletscherungen mit Donnergrollen bersten. Eislawinen lösten sich und rauschten mit Urgewalt über die senkrechten Wände in die Tiefe. Wirbelnde Schneeschauer peitschten immer wieder gegen die Kanzelvergla-sung. Charlize fröstelte unwillkürlich. Ein rein subjektives Empfinden; im Innern des Gleiters saßen sie sicher wie in Abrahams Schoß, und es herrschten normale Temperaturen. Henk im Pilotensessel ließ den Blick von einer Anzeige zur anderen schweifen, um sich ein Urteil über ihre Lage zu verschaffen. Seine Miene wirkte ungerührt, er vertraute der Technik des Gleiters voll und ganz. Charlize Farmer hingegen fühlte eine Nervosität, die sie auf höchst intensive Weise irritierte und ein unbehagliches Gefühl in ihr hervorrief. Schlagartig erhöhte der Autopilot die Leistung der Aggregate und veränderte gleichzeitig den Flugvektor. Der Gleiter stieg in einer Parabel empor und flog in eine Schlucht hinein. Zu beiden Seiten rasten hohe Felswände an der Maschine vorbei. Riesig und dräuend ragten sie vor und neben ihr auf, schienen das vergleichsweise winzige Gefährt zwischen sich zermalmen zu wollen. Die Wirbelschleppe des Gleiters löste Lawinen aus. Schneebretter brachen von den Flanken der Abhänge und donnerten in die Tiefe, alles hinwegfegend oder unter sich begrabend, was sich ihnen in den Weg stellte. Erneut änderte sich der Flugvektor. Die Maschine jagte mit hoher Fahrt zwischen zwei Gipfeln hindurch - und kam auf der anderen Seite der Gebirgskette wieder heraus. »Da!« kam Henks Stimme. Er deutete nach vorn. »Wir sind durch! Was sagst du?« 117 Der gewaltige Paß lag hinter ihnen. Steil führte er geradewegs in die Tiefe und schien kein Ende nehmen zu wollen. Der Autopilot erhöhte den Abwärtsschub; der Schweber senkte sich, und im gleichen Maß fiel auch das Gelände unter ihnen. Innerhalb weniger Minuten sank der Gleiter aus 13 000 Metern Höhe bis auf 300 Meter über Grund herab, um dann seinen Flug fortzusetzen.
Vor und unter den beiden Terranern öffneten sich erneut die Weiten endloser ehemaliger Savannen, in denen die Ringpyramiden ein wenig weiter auseinanderzustehen schienen als in dem von den Menschen bewohnten Teil. »Ein Flug der Überraschungen!« murmelte Charlize. Dann, lauter: »Liege ich falsch, wenn ich annehme, daß wir die Gebirgskette hätten auch einfach überfliegen können?« Er starrte sie verdutzt an. »Aber dann wäre dir ein einmaliges Erlebnis entgangen, Liebes,« »Ich habe Ängste ausgestanden.« »Dazu lag kein Grund vor. Der Autopilot hatte alles unter Kontrolle.« »Das glaube ich jetzt einfach nicht! Automatiken können auch mal versagen, geht das nicht in deinen Dickschädel?« Er schüttelte den Kopf. »Dann wäre noch immer ich zur Stelle gewesen, um einzugreifen.« »Bist du ein so guter Pilot?« »Der beste!« sagte er mit Überzeugung. »Sag schon! Habe ich dich jemals in Gefahr gebracht?« »Nein, Henk. Nein. Ganz und gar nicht«, gestand sie, schon wieder halbwegs beruhigt. Sie legte ihre kleine Hand auf seine große und lächelte. Henk de Groot nickte und drückte leicht ihre Finger. Bei mir bist du sicher, hieß das. Was sie auch so empfand. Schweigend flogen sie weiter. Jeder in Gedanken an den anderen versunken. 118 Am Nachmittag erreichten sie ihr Ziel. »Da! Das Meer«, sagte Henk. »Siehst du?« Charlize nickte. l Henk deaktivierte den Autopiloten und übernahm selbst die teuerung des Gleiters. An der Berührungslinie von Wasser und [Strand nahm er Kurs auf eine Pyramidenanlage, die in der Ferne auftauchte. Wenig später überflogen sie sie; die Terrassenbauten waren nicht ganz so hoch wie gewohnt, wichen aber in Aussehen und Bauweise nicht von den anderen Anlagen der Mysterious ab. Die Gebäude schienen zu strahlen im gedämpften Nachmittagslicht. Breite Promenaden erstreckten sich zwischen ihnen und dem Strand, aufgelockert durch Baumbewuchs und Blütenstauden. Stege führten hinaus ins Wasser und endeten auf dort verankerten Pontons, die kleine Pavillons trugen. Alles trug den Stempel von Leichtigkeit und Frohsinn. Eine Oase der Entspannung. Ein Urlaubsparadies auf einem sowieso schon nahezu paradiesischen Planeten. Charlize stellte sich vor, daß hier die Gäste miteinander geplaudert und sich bei Musik und Getränken im Licht des Abends und einer warmen Brise entspannt hatten, während draußen auf dem Wasser die bunten Segel schnittiger Boote vorüberzogen. Du kannst nicht von eurer Kultur auf die einer fremden Rasse schließen, warnte eine leise Stimme in ihrem Innern sie vor einer Verallgemeinerung der Maßstäbe. Konnte gut sein, daß die Mysterious überhaupt nicht den Vorstellungen entsprachen, die sie sich von diesem geheimnisvollen Volk angeeignet hatten. Dennoch, gänzlich andersartig beschaffen konnten die ehemaligen Bewohner der ringförmigen Terrassenbauten nicht sein. Alle Geräte, alle Bedienungselemente, die Beschaffenheit und Dimensionen der Inneneinrichtungen, die die Menschen in den leeren Ringpyramiden vorgefunden hatten, die Korridore, Lifte und Treppen, die Türen - alles das ließ Rückschlüsse auf eine humanoide Gesellschaft zu, deren Mitglieder ungefähr die Größe des Homo sapiens 119 besessen hatten. Henk de Groots Stimme riß Charlize aus ihren Gedanken.
»Schau mal!« forderte er sie auf und deutete nach unten. Sie hatten die Ferienanlage passiert und wieder ein Stück freien Strand vor sich, dem der Ingenieur folgte, mit wesentlich verringerter Geschwindigkeit. »Siehst du, was ich sehe?« Sie folgte der Richtung seiner Hand. Tatsächlich, da war etwas, das sie irgendwie an die Vergangenheit gemahnte. An die irdische. An eine Zeit, in der sie und Henk noch gar nicht geboren waren, die sie aber aus den Medien kannten und aus den Unterrichtseinheiten in der Schule über technische Großtaten der Menschheit. »Ich sehe es«, sagte sie langsam und war noch dabei, die Umrisse des Objektes einzuordnen. Dann hatte sie es. Was dort unten dicht vor dem Strand halb untergetaucht im seichten Wasser lag, war das Wrack eines offenbar notgelandeten Raumgleiters. So ähnlich hatten einmal die Fluggeräte der ehemaligen Raumfahrtbehörde NASA ausgesehen. Charlize blickte ihren Partner von der Seite an. »Kannst du dir einen Reim darauf machen?« »Sekunde!« de Groot prüfte ein paar Anzeigen; seine Finger glitten über die Sensorfelder des kleinen Monitors auf der verbreiterten Armlehne des Pilotensitzes. »Schauen wir mal... Nein, keine Energie feststellbar! Das Wrack ist energetisch tot wie ein... ein...« Er suchte nach einem passenden Vergleich. »Wie ein toter Fisch?« half ihm Charlize aus der Klemme. »Wie? Hmm, ja. Natürlich. Und wie passend!« Er grinste kurz. Dann nickte er. »Ich werde mir das mal näher ansehen.« Charlize Farmer setzte zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber bleiben. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie bei Henk. Einmal zu etwas entschlossen, würde ihn nichts und niemand davon abhalten können. Es sei denn, man schlug ihn bewußtlos, aber das traute sie sich nun doch nicht zu. Henk bekam von all den Überlegungen seiner Freundin nichts 120 mit. Er flog eine Kontrollrunde um das havarierte Objekt und landete dann in allernächster Nähe auf dem Strand. Er öffnete das Schott und verließ die Kabine. »Hilfst du mir mal?« bat er, während er im feinkörnigen Sand nach hinten zum Frachtabteil stapfte. »Wenn man mich so nett bittet...!« Er bekam es gar nicht mit; vollauf mit dem Geheimnis des Wracks beschäftigt, hantierte er bereits an der Hydraulik, die die kleine Lade- und Entladerampe im Heck betätigte. Die Klappe senkte sich zu Boden und gab den Blick ins Frachtabteil frei. Im Innern stand, mit kräftigen Klammern verankert, der Jetski. Eine stromlinienförmige Einheit für zwei Personen. Es handelte sich um ein Standardmodell aus der Fertigung von Wallis Industries. Ein reines Spaßsportgerät, angetrieben von einem winzigen, vollgekapselten Atomreaktor, der die Verdichterschaufeln in den links und rechts angeordneten Tunneldüsen in Drehung versetzte. Der Jetski war primär für den Einsatz auf Wasser gedacht, dank einer leichten Antigravanlage konnte er sich jedoch eine Handbreit vom Boden erheben, so daß man ihn an Land gleiterähnlich bewegen konnte. Damit war eines der größten Probleme der früheren Modelle beseitigt: Es war kinderleicht, das Gerät über den Strand ins Wasser zu schaffen. Henk inspizierte den Jetski kurz, entfernte die Dockklammern und hockte sich auf die angenehm profilierte Sitzbank. Die Lenkung war ein wuchtiges, höhenverstellbares Gebilde, dessen Handgriffe bequem zu bedienen waren. »Machst du mal Platz«, bat er Charlize, die unmittelbar am Fuß der Rampe stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. »Ich denke gar nicht daran«, sagte Charlize ohne sichtbare Gemütsbewegung. »Wie... was?«
»Henk de Groot. Du gehst nirgendwo hin ohne mich. Du kennst doch den Spruch: >Wo du hingehst, da will auch ich hingehen...Verdammtem zu tun zu haben«, faßte Gisol die Diskussion der Giants zusammen. Die Cyborgs, Doorn und der Roboter hörten ihn über Helmfunk. »Und ich wundere mich, diesen Begriff hier zu hören«, erwiderte Ren Dhark. »Daß die Giants in unserer Galaxis uns so bezeichneten, ist ja sattsam bekannt und mittlerweile auch geklärt, aber diese hier können doch gar nicht wissen, daß wir aus Nal stammen!« Fragend sah er Gisol an. »Ich habe dafür keine Erklärung«, gestand der Worgun. In der Station veränderte sich die Situation soeben schlagartig. Das häßliche Schlangenzischen wurde bösartiger. »Verdammten ist der Zutritt nicht gestattet«, übersetzte Gisol. Es war der Moment, in dem die Giants zu den Waffen griffen... Grelle Blasterstrahlen fauchten durch den großen Raum, in dem die Flash gelandet waren. Ihre Einstiegsluken waren wieder geschlossen, die Strahlen, welche die Unitallzellen trafen und funkensprühend umtanzten, konnten im Inneren keinen Schaden anrichten. Acht Cyborgs und ein Roboter hatten plötzlich damit zu tun, den hochenergetischen Strahlenbahnen auszuweichen. Holger Alsop riß Doorn einfach mit sich. Ein Strahl flammte nur wenige Zentimeter an dem Sibirier vorbei. 134 Die Cyborgs und Artus setzten Paraschocker ein. Die Lähmstrahlen fächerten zwischen die Giants und brachten sie reihenweise zu Fall. So rasend schnell, wie die Cyborgs sich bewegten, konnten die Biostrukte sich darauf nicht einstellen. Obgleich künstlich geschaffene Kreaturen, wurden sie durch ihre biologische Komponente in ihrem Reaktionsvermögen beeinträchtigt. Ihre Hytroniken dachten schneller als ihre Körper reagieren konnten. In weniger als 30 Sekunden war der Spuk vorbei. Die Giants lagen paralysiert am Boden. Doorn nickte Alsop zu. »Danke«, sagte er leise. Der Cyborg schien es nicht wahrzunehmen. Mark Carrell wandte sich dem Sibirier zu. »Doorn, wir alle haben aufs Zweite System geschaltet und sind damit gewissermaßen außen vor. Können Sie über die Gedankensteuerung die Flash dazu ingen, daß sie in unserer Abwesenheit die Intervallfelder ein-Ichalten und erst wieder deaktivieren, wenn wir zurückkommen?« »Ich versuch's«, brummte Doorn. »Halten Sie mir solange die Giants vom Leib, falls die Nachschub kriegen!« Er öffnete die Einstiegsluke eines Flash wieder und nahm mentalen Kontakt mit der Gedankensteuerung auf, um ihr seine Anweisungen aufzudrängen. Sie mußte ihre Passivortung aktiviert lassen und jede sich nähernde Person identifizieren . Verstanden, Ausführung, erklang die lautlose Stimme in ihm. Zufrieden trat er vom Flash zurück, schloß die Einstiegsluke und ging auf Sicherheitsabstand. Im nächsten Moment fuhren die fünf Beiboote ihre Ausleger ein, sanken damit auf den Boden nieder, und gleich darauf zeichnete sich das Flimmern der Intervallfelder ab, die eng um die Maschinen herum lagen, statt wie bei der POINT OF ein großes Raumvolumen zu füllen. »Hoffentlich sinken die jetzt nicht in den Boden, und wir können sie später im Schwerkraftzentrum der Station suchen«, unkte Doorn. Carrell fragte über Helmvipho bei Gisol nach, wie es weiterge135 hen sollte. Der Worgun gab die Marschrichtung an. »Waffen bereithalten«, sagte Carrell. »Giants paralysieren, Roboter abschießen! Zuerst schießen und erst danach fragen, sonst haben wir keine Chance.« Zumindest Arc Doorn hatte damit gerechnet, daß Artus protestierte - immerhin war ja auch er ein Roboter, so menschlich er sich auch zu geben versuchte. Aber zu seiner Überraschung blieb der Blechmann still.
Sie eilten auf das Schott zu, das in einen anderen Raum oder in einen Korridor führte. Die Cyborgs brauchten jetzt keine Anweisungen mehr. Sie hatten derlei Situationen oft genug geübt, und ihre Programmgehirne gaben ihnen die richtigen Empfehlungen. Schott öffnen! Sichern! Mit unglaublicher Geschwindigkeit, die selbst Artus in Erstaunen versetzte, stürmten die Cyborgs hinaus. Drei Giants, die sich im Korridor befanden und zu ihren Blastern griffen, wurden sofort paralysiert. Weiter! Ule Cindar packte Doorn, warf ihn sich wie einen Sack über die Schulter und rannte mit ihm los. Dem fiel auf, daß in dieser Station nicht das typische Blaulicht vorherrschte, wie es an Bord der Ringraumer üblich war. Neben ihnen flog ein Schott auf. Mehrere Giants, die dahinter lauerten, schössen sofort. Cindar machte einen weiten Sprung zur Seite, prallte gegen die Wand und achtete nicht darauf, daß er Doorn trug. Dem bekam der Aufprall gar nicht gut, und wütend brüllte er auf, löste sich aus dem Griff des Cyborgs und verpaßte dem einen kräftigen Tritt in den anatomischen Südpol. »Paß doch auf, Mann! Du bist nicht allein hier!« raunzte er ihn an. Cindar merkte von dem Tritt weniger als Doorn von dem Anprall und feuerte mit dem Paraschocker auf Giants, die nicht aus dem Nebenraum kamen, sondern hinter den Terranern im Korridor auftauchten, um ihnen in den Rücken zu fallen. Die Biostrukte mußten gemerkt haben, daß die »Verdammten« keine tödlichen Waffen gegen sie einsetzten, und gingen entsprechend risikofreudiger vor. Selbst benutzten sie weiterhin ihre Blaster. Weiter! Aus den Helmviphos kamen Gisols Richtungsempfehlungen. Je weiter sie vorstießen, desto erbitterter wurde der Widerstand der Giants und bewies den Cyborgs damit, daß sie sich tatsächlich auf dem richtigen Weg befanden. Plötzlich änderten die Biostrukte ihre Taktik und setzten >Defensive< ein. Diese Roboter waren schneller und gefährlicher. Artus griff verstärkt ein. Er konnte sich besser in Roboterlogik hineindenken als die Cyborgs, die auch im Bereich ihres Zweiten Systems immer noch in erster Linie Menschen waren. Artus schien vorauszusehen, wo die nächsten Roboter lauerten und auf welche Weise sie angriffen, um ihnen zuvorzukommen. »Wer ist bloß auf die Schwachsinnsidee gekommen, diese Kampfmaschinen als >defensiv< zu bezeichnen?« fragte Doorn. »Wenn die nicht offensiv sind, dann waren auch die Rahim das freundlichste und toleranteste Völkchen, das jemals Drakhon und die Milchstraße durchflogen hat...« »Beschweren Sie sich bei Jim Smith«, rief ihm Amy Stewart zu. »Der hat sie so genannt!« Cindar schrie nicht einmal auf, als ihn ein Streifschuß am Oberschenkel erwischte. Er hatte seine Strahlwaffe umgeschaltet und machte mit seinem Blasterstrahl den >Defensiven•
»Wir wollen vor Überraschungen sicher sein. Mehr nicht. Immerhin ist dies ein hochsensibler
Bereich - eine funktionierende M-Anlage unter der Pyramide. Die muß geschützt werden.
Stimmen Sie mir zu?«
Henk verzog das Gesicht
»Wenn Sie es sagen - na gut«, er wandte sich halb um. »Dann werde ich die Jungs mal
einweisen. Schließlich erwartet uns eine Menge Arbeit.«
Daß er eigentlich Urlaub hatte, hatte Henk de Groot schlicht vergessen.
»Die Jungs, ja!« Petain betonte das erste Wort sehr ironisch. »Sie-nein!«
»Wie... was?«
»Die Leute hier werden ohne Sie auskommen müssen, Henk«, bedauerte der Oberst. »Ich
habe Order vom Präsidenten, Sie und Ihre reizende Freundin mit zurück zur Babylon-Kolonie
zu nehmen. Sie werden dort dringend gebraucht. Tja, so ist das nun mal, wenn man sich selbst
unentbehrlich macht. Und das noch auf so hoher Ebene.«
Während Charlize Farmer zu lachen begann, forderte der Oberst die beiden mit einer
übertrieben einladenden Handbewegung auf, ihm zum Gleiter zu folgen.;
Henk seufzte innerlich. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen, als er Präsident
Appeldoorns Angebot akzeptierte, seinen Babylon-Plan selbst zu koordinieren?
Er hoffte nur, daß er diesen Entschluß niemals bereuen würde.
182
10.
Jede Persönlichkeit, die etwas auf sich hielt, hatte mindestens zwei Vornamen. Alex Basil
Christian David Edward Fortro$e hatte deren fünf.
Das war auch schon das einzig Besondere an ihm.
Er war in einer kinderreichen Lehrerfamilie aufgewachsen, hatte in jungen Jahren fortlaufend
das Studienfach gewechselt und war schließlich Anwalt geworden. Ein Entschluß, den er
schon bald wieder bereut, aber niemals rückgängig gemacht hatte.
Mittlerweile war Fortrose siebzig. Sein sich allmählich verflüchtigendes graues Haar bedeckte
nur noch die hintere Kopfhälfte, und in seinem fahlen Gesicht kämpfte ein kümmerlicher
Oberlippenbart ums Überleben. Seine Kleidung war so färb- und einfallslos wie er selbst.
Der Jurist bezog ein durchschnittliches, leistungsbezogenes Einkommen, wußte mit seinem Geld aber eigentlich nichts so recht anzufangen. Alkohol und Tabak waren ihm verpönt, selbst vor einer guten Tasse Kaffee schreckte er zurück. Kulinarische Genüsse schlugen ihm auf den Magen, weshalb er Schonkost und Kamillentee bevorzugte. Eine Ehefrau hatte er nicht, nicht einmal eine Freundin. Und seine einzigen kulturellen Interessen bestanden darin, daheim von einem Holounterhaltungskanal zum nächsten zu zappen. A. B. C. D. E. Fortrose war kein aufrichtiger Mensch. Seine persönlichen Ansichten behielt er lieber für sich und dachte sich seinen Teil. Das machte es schwierig, ihn richtig einzuschätzen. Diese Undurchschaubarkeit, die von seinen Gegnern fälschlicherweise als Verschlagenheit interpretiert wurde, war sein wichtigster Pluspunkt vor Gericht. Dadurch hatte er schon so manchen schwierigen Prozeß für sich entscheiden können. Terence Wallis hatte es nicht nötig, sich mit stapelweise Vornamen zu schmücken. Der facettenreiche Noch-Sechsundvierzigjäh183 rige war auch ohne derlei Schnickschnack eine interessante Persönlichkeit durch und durch. Obwohl ehrlich bis ins Mark, hatte er beruflich Karriere gemacht, vor allem durch geschickte Investitionen und lukrative Firmenkäufe. Seine Methoden waren unkonventionell und manchmal ziemlich rigoros, aber niemals ungesetzlich. Heute gehörte ihm das größte Industriekonglomerat der Erde. Von klassischen Beziehungsgeflechten hielt er nichts, weder im Privatleben noch in der Politik. Seinen Kopf gebrauchte er zum Denken, benutzte ihn aber auch gelegentlich, um damit durch die Wand zu gehen - geradeaus, nicht auf Umwegen. Umständliche Verschleierungstaktiken lagen ihm nicht. Seine größte Begabung lag darin, die Begabungen anderer Menschen zu erkennen und zu nutzen, sprich: jeden Mitarbeiter entsprechend seiner persönlichen Fähigkeiten einzusetzen und selbige durch langsam steigende Herausforderungen zu fördern. Wer das nicht beherrschte, hatte in einer Führungsposition nichts verloren, denn diese Gabe war wichtiger als jegliches Geschäftsgespür. Wallis war ein Frauentyp: groß, schlank, sportlich. Sein langes, leicht schütteres Haar trug er meist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der ehemalige Basketballspieler bevorzugte heute Golf und kleidete sich nur noch in seiner Freizeit so leger wie früher. Er liebte elegante Anzüge, konnte es sich aber nicht verkneifen, ab und zu grellbunte Westen zu tragen. Gutes Essen war für ihn eine Passion. Seinen Durst löschte er überwiegend mit Mineralwasser, manchmal mit einem guten Rotwein und hin und wieder mit schottischem Single Malt - aber bitte ohne Wasser, auch nicht in Form von Eis. Hätte man Fortrose einen attraktiveren Körper, ein wenig Modebewußtsein und außergewöhnlichere Freizeitbeschäftigungen verpaßt - die Frauenwelt hätte sich trotzdem nicht für ihn interessiert. Ein Langweiler blieb langweilig, wie sehr er sich auch bemühte, den Charmeur herauszukehren. Hingegen hätte man Terence Wallis einen Mehlsack umhängen und sein Gesicht einer »Phantom184 der-Oper«-Operation unterziehen können, er hätte dennoch viele weibliche Herzen zum Höherschlagen gebracht. Denn so ganz nebenbei war er der reichste Mann des terranischen Imperiums. Und Geld machte bekanntermaßen attraktiv - was auf beide Geschlechter gleichermaßen zutraf. Zwei derart grundverschiedene Männer atmeten nur selten denselben Sauerstoff, weil sie sich so gut wie nie im selben Zimmer aufhielten. Und schon gar nicht zogen sie beruflich am selben Strang. Bei Wallis und Fortrose war das anders.
Terras reichster Mann war ständig bemüht, sein Vermögen zusammenzuhalten und zu mehren. Und Terras farblosester Anwalt half ihm dabei. Schließlich wurde er von Wallis dafür bezahlt - er war einer seiner Firmenjuristen. Die achtzig Quadratkilometer umfassende Konzernzentrale von Wallis Industries lag bei Pittsburgh, Pennsylvania. Früher hatte es hier Stahlwerke gegeben, heute wurde Tofirit verarbeitet und Roboterentwicklung betrieben. Auf dem Gelände befanden sich ein eigener Jettport und ein kleiner Raumhafen, direkt neben der firmeneigenen Raumschiffswerft. Außerdem gab es dort einen weitläufigen Komplex mit Flachbauten, in denen unter anderem Versuchslabors untergebracht waren. Das dreistöckige Verwaltungsgebäude war verhältnismäßig unscheinbar. Es widersprach Wallis' Lebensphilosophie, seine Geschäftspartner durch unnötigen Pomp zu beeindrucken. Gegen einen gewissen Luxus am Arbeitsplatz hatte er zwar nichts einzuwenden, doch zuviel davon lenkte ihn nur von seinen Aufgaben ab. Für seine Verwaltungsmitarbeiter galt das gleiche. An diesem Morgen hatte Wallis die Elite seiner Ingenieure zu sich ins Büro gebeten. Er bot ihnen keinen Platz an, sie empfingen ihre Anweisungen im Stehen. Auch der Vertreter des Werkschutzes, der ebenfalls anwesend war, durfte sich nicht setzen. »Sie sollen es sich hier nicht bequem machen, sondern so schnell wie möglich wieder an die Arbeit gehen«, antwortete der 185 Firmenchef, als ihn einer der Ingenieure nach einem Stuhl fragte. »Ich erwarte Höchstleistungen von Ihnen. In der nächsten Zeit werden Sie sich vorwiegend der Aufgabe widmen, zwölf 200-Meter-Ikosaeder zu bauen. Über die Bewaffnung der Raumschiffe erhalten Sie noch gesonderte Anweisungen.« Ikosaederraumer wurden aus vorgefertigten, pyramidenförmigen Baueinheiten zusammengesetzt, jeweils zwanzig an der Zahl. Die Pyramiden bestanden aus dreieckigen Tofiritplatten, deren Stärke unterschiedlich war, je nachdem, ob es sich um Innenwände oder die Außenhülle handelte. Alle übrigen Strukturen im Schiff wurden aus Gewichtsgründen aus Leichtmetallen und Kunststoffen gefertigt. Maschinenräume und Zentrale lagen im Kern des Schiffes, der rundum durch ein zusätzliches Panzerschott geschützt war. Kein Raumschiff der Terranischen Flotte bot den lebenswichtigen Einrichtungen und den Insassen so viel geballte Sicherheit, denn die , Tofiritpanzerung war wirkungsvoller als die üblichen Schutzschirme und blieb auch nach einem totalen Energieausfall wirksam. »Darf ich fragen, wofür die zwölf Schiffe benötigt werden?« erkundigte sich ein Ingenieur. »Als Schutzflotte für das Achmed-System«, erwiderte Wallis. »Die Regierung verlangt neuerdings Horrorgebühren für ihren Schutz, darum werden wir in Zukunft darauf verzichten.« Er wandte sich dem stellvertretenden Werkschutzleiter zu. »Sie und Ihre Mitarbeiter werden Besatzungen für die Schiffe anwerben und ausbilden. Gefragt sind in erster Linie erfahrene, schlachtenerprobte Raumfahrer. Lassen Sie Ihre Beziehungen spielen, und schrecken Sie auch nicht davor zurück, anderswo geeignete Männer abzuwerben. Trawisheim muß begreifen, daß ich problemlos ohne ihn auskomme. Er wird mich nicht in die Knie zwingen!« Fortrose, der etwas abseits in einem Sessel saß, verfolgte die Unterredung voller Skepsis mit. Seiner Ansicht nach lehnte sich Terence Wallis ziemlich weit aus dem Fenster. Zu weit? Nachdem das Prospektorenehepaar Art und Jane Hooker seinerzeit im System NGK 1324/58, das seitdem den Namen Achmed-System trug, einen kolossalen Asteroidengürtel aus purem Tofirit entdeckt hatte, war umgehend die Abbaugesellschaft Wallis Star Mining gegründet worden. Nach zähen Verhandlungen hatte man sich auf folgende Aufteilung geeinigt: 72,5%
an der Gesellschaft waren an Terence Wallis gegangen, 25% an die terranische Regierung und 2,5% hatte man den Hookers zugesprochen, die seither nur noch für Wallis arbeiten durften. Für den Schutz des System war die terranische Flotte verpflichtet worden, natürlich kostenfrei. Mittlerweile hatte sich so einiges geändert. Ren Dhark hatte im Rahmen der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Nogk die Unterlagen über die terranische Wuchtkanone an diese treuen Verbündeten weitergegeben. Darauf, daß Wallis Industries ein Patent auf die Kanone hatte, hatte der Commander der Planeten bei seiner mutigen Entscheidung keine Rücksicht genommen. Dhark war kein Papiertiger, sondern ein Mann der Tat. Genau das wußte Wallis an ihm zu schätzen. Insgeheim bewunderte er den Commander für seine entschlossene Handlungsweise. Das war für ihn allerdings kein Grund, auf die ihm zustehenden Lizenzgebühren zu verzichten. Wallis hatte der terranischen Regierung eine saftige Rechnung präsentiert, in Gegenwart eines Notars. Aus Sorge um einen Staatsbankrott hatte Dharks Stellvertreter Henner Trawisheim zähneknirschend zugestimmt, den fünfundzwanzigprozentigen Regierungsanteil von Wallis Star Mining als Ausgleichszahlung für entgangene Lizenzgebühren an den Multimilliardär abzutreten. Doch Trawisheim war nicht umsonst der einzige Cyborg auf rein geistiger Basis. Nach Unterzeichnung der notariellen Unterlagen hatte er noch eine Trumpfkarte aus dem Ärmel gezogen und angekündigt, den militärischen Schutz des Tofiritabbaus von nun an nur gegen Bezahlung zu leisten. Andernfalls würde er die bewaff186 187 neten Schiffe der TF abziehen. Das hatte Wallis nicht bedacht. Jetzt mußte er sich selbst um den Schutz des Asteroidengürtels kümmern - oder zahlen, und zwar heftig. Seine erste Maßnahme hatte darin bestanden, den Notar zu feuern. Als nächstes wollte er eine eigene Kriegsflotte auf die Beine stellen. Die Ingenieure und der Mann vom Werkschutz verließen sein Büro. Nur Anwalt Fortrose blieb zurück. Wallis wandte sich ihm zu. »Nun sagen Sie es schon!« fuhr er den unscheinbaren Juristen an. »Nur heraus mit der Sprache, Sie Leisetreter! Ich sehe Ihnen doch an, daß Sie mir Vorhaltungen machen wollen. Sie denken, ich handele falsch, stimmt's?« Fortrose öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Wallis fuhr ihm ins noch unausgesprochene Wort. »Ich weiß auch ohne Ihre juristischen Kommentare, daß private Raumschiffe nur mit leichten Waffen ausgestattet sein dürfen, Fortrose, und selbst dafür wird eine Sondergenehmigung benötigt. Trawisheim hat mich mit gehässigem Grinsen unmißverständlich darauf hingewiesen und mich gewarnt, dagegen zu verstoßen. Sollte auch nur einer meiner Wachraumer über stärkere Waffen als Triple-Hy-Laser oder Paralysestrahler verfügen, vielleicht sogar über eine firmeneigene Wuchtkanone, mache ich mich strafbar.« Wieder setzte der Anwalt zu einer Bemerkung an, doch Wallis redete sich nun so richtig in Fahrt. »Wie soll ich mich Ihrer Meinung nach denn verhalten, Fortrose? Nachgeben und zahlen? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich unterstütze diese unfähige Regierung finanziell weiß Gott schon mehr als genug! Eigene Kriegsschiffe zu bauen kommt mich billiger als die Schutzgelder, die Trawisheim mir aus der Tasche ziehen will. Und wenn der Staat mir die Genehmigung dafür verweigert, dann... dann...« 188
Dann? Fortrose hielt den Atem an, das Schlimmste befürchtend. »... dann brauche ich halt einen eigenen Staat!« sprach Wallis es aus und ließ seine Faust auf die Schreibtischplatte krachen. Der blasse Anwalt wurde noch eine Spur weißer um die Wangen herum. Offensichtlich hatte Wallis das Ende vom Anfang erreicht (die freundliche Umschreibung eines Menschen, der im Begriff war, seine geistige Orientierung zu verlieren). Fortrose fühlte sich an Wallis' verwirrtem Zustand irgendwie mitschuldig, obwohl es dafür gar keinen Grund gab. Nicht er hatte Wallis auf die Palme gebracht, der Milliardär war von allein hinaufgeklettert. Glücklicherweise kam er langsam wieder herunter, atmete tief durch. »Soweit ich informiert bin, Fortrose, haben Sie noch einen Termin mit dem Klienten in Cleveland«, sagte er nach einer Weile mit ruhiger Stimme. »Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich verlasse mich auf Ihre Loyalität und Schweigepflicht. Am besten, Sie vergessen, worüber wir uns gerade unter vier Augen unterhalten haben.« Unterhalten? dachte der schmächtige Jurist. Ich bin doch gar nicht zu Wort gekommen. Er haßte es, wenn sein Boß sich furchtbar aufregte und gleich danach erschreckend ruhig wurde. In diesem Zustand war Wallis unberechenbar und brandgefährlich. Wallis' Firmenanwalt Fortrose und die Sicherheitsbeauftragte Liao Morei gaben sich vor dem Büro ihres Chefs quasi die Türklinke in die Hand. »Reizen Sie ihn nicht«, raunte der siebzigjährige Engländer der einunddreißigjährigen Chinesin zu. »Er ist heute nicht gut drauf.« Liao schenkte ihm ein unergründliches asiatisches Lächeln und tratein. 189 Sie war knapp einssechzig groß und wirkte zerbrechlich wie ein zartes Pflänzchen. Größere Gewächse taten allerdings gut daran, sie nicht zu unterschätzen. Die wendige Frau beherrschte sage und schreibe elf verschiedene Nahkampf Sportarten plus eine zwölfte, die sie selbst entwickelt hatte und unterrichtete. Und weil sie zudem über einen messerscharfen Verstand verfügte, setzte Terence Wallis sie überwiegend zu seinem persönlichen Schutz sowie für Sonderaufgaben ein. Liao Morei befehligte die gesamte Wachmannschaft, sowohl den Werkschutz als auch die Truppe für Außeneinsätze. Da sie sich in diesem weiträumigen Arbeitsbereich nicht um alles selbst kümmern konnte, vor allem deshalb, weil Wallis sie fortwährend mit Beschlag belegte, wurden die jeweiligen Abteilungen von selbständig agierenden Stellvertretern geleitet. Der Multimilliardär begrüßte seine Mitarbeiterin mit finsterer Miene. Offenbar brütete er etwas aus. »Eine Handvoll Dollar für Ihre Gedanken«, sagte sie zu ihm und setzte sich, ohne daß er sie dazu aufgefordert hatte. »Wer diesen Spruch einst erfand, hatte keine Ahnung vom Marktwert der Gedanken«, knurrte Wallis. »Herauszufinden, was andere denken, ist eine kostspielige Angelegenheit. Apropos: Haben Sie das Dossier zur Wahl im November fertig?« Liao nickte und zückte eine Mikro-CD. »Statistiken, Umfrageergebnisse, Analysen, Zahlen... das alles und noch mehr befindet sich auf diesem winzigen Datenträger. Zu früheren Zeiten hätte ich einen Stapel Aktenordner zum Durchblättern anschleppen müssen.« Wallis nahm den Datenträger entgegen und legte ihn in seinen Suprasensorein. Im Jahr 2054 war Ren Dhark von fast allen damals existierenden Parteien für den Posten als Commander der Planeten vorgeschlagen worden. Terra brauchte einen starken Anführer, und Dhark war der einzige, dem die Wähler eine solche Machtfülle hatten zugestehen wollen, nach allem, was er für die Menschen getan hatte. 190 Kein Berufspolitiker hätte nach der Befreiung der Erde eine Chance gegen ihn gehabt, darum hatte man die Flucht nach vorn ergriffen und Dhark aufs Podest gehoben.
Von dort sollte er möglichst bald wieder herunter, zumindest nach dem Willen der meisten Parteien. Deren damaliges Kalkül ging nämlich hier und jetzt allmählich auf: Die Menschheit hatte sich an einen Commander der Planeten gewöhnt - so daß dieser Posten nun ebensogut von einem Berufspolitiker besetzt werden konnte. Dhark hatte gesät, ernten wollten die anderen. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen. Unterstützt wurde Ren Dhark nur von der PfD - der Partei für Demokratie, deren Ehrenvorsitzender er war. Geleitet wurde die PfD von Henner Trawisheim, Dharks Stellvertreter auf Terra. Trawisheim hielt auf der Erde immer dann den Kopf für den Commander hin, wenn selbiger mal wieder in den Weiten des Weltalls unterwegs war. Befand sich Dhark auf seinem Heimatplaneten, nahm er sich nur wenig Zeit zum Regieren und konnte es kaum erwarten, mit der POINT OF erneut zu fremden Sternen aufzubrechen. Daß er lieber dem Geheimnis der Mysterious nachjagte als sich um Terras Probleme zu kümmern, nahmen ihm immer mehr Menschen übel - und vergaßen dabei, daß ohne die M-Technik die Erde noch heute unter Giant-Herrschaft stehen würde. War es da nicht verständlich, daß der Commander ständig versuchte, mehr über die unbekannten Retter der Menschheit herauszufinden? Obwohl die Partei für Demokratie bei der Bevölkerung noch viele Freunde hatte, sah man dort kaum eine Chance für einen Wahlsieg im Herbst. Dhark war das einzige Zugpferd, das man vor den Wahlkarren spannen konnte, doch das genügte inzwischen nicht mehr für die absolute Mehrheit. Im übrigen stand der derzeitige Amtsinhaber für den Wahlkampf ohnehin nicht zur Verfügung, da er wie üblich in Weltraumtiefen verschwunden war. Mögliche Koalitionspartner waren stärker als die PfD und hatten kein Interesse, sich mit einer Partei zu vereinen, die ums Überle191 ben kämpfte. Ohne die großzügigen Spenden, die Terence Wallis der PfD zukommen ließ, hätte sie sich wohl längst aufgelöst. Der bei der Bevölkerung derzeit angesagte Favorit hieß Antoine Dreyfuß - Spitzenkandidat der Fortschrittspartei. Er war Ende Fünfzig, schlank, bartlos und stets adrett, jedoch nie zu auffällig gekleidet. Als typischer, blaßgrauer Berufspolitiker legte sich Dreyfuß mit seinen Aussagen nie fest, so daß seine Reden immer etwas Schwammiges an sich hatten. Um die Wahl zu gewinnen, versprach er allen alles, ließ sich aber allezeit ein Hintertürchen offen. Er legte seinen Finger gern in die Wunden der anderen Parteien, wobei er sich darauf verstand, die Fehler seiner eigenen Fraktion geschickt zu kaschieren. Seine guten Aussichten für die Wahl verdankte er vor allem dem Medienkonzern Intermedia, der die Fortschrittspartei hemmungslos unterstützte und unverhohlen zur Abwahl der derzeitigen Regierung aufrief. Die ständigen Hetztiraden gegen Ren Dhark in den Klatschblättern waren Teil dieser Schmutzkampagne. Terra-Press berichtete zwar ebenfalls regelmäßig über die politischen Geschehnisse, hielt sich aber mit Wertungen zurück. Neutralität war für Sam Patterson und seine Mannschaft oberstes Gebot. »Mich würde interessieren, warum Intermedia so parteiisch ist«, sagte Terence Wallis, nachdem er das Dossier am Bildschirm überflogen hatte. »Da steckt mehr dahinter als pure Sympathie für den Kandidaten.« »Soll ich in dieser Richtung weiterermitteln?« fragte ihn Liao Morei. »Dann brauchte ich allerdings zusätzliche Mitarbeiter und...« »Sie bekommen alles, was Sie benötigen«, unterbrach Wallis sie. »Ich erhöhe Ihren Etat. Die Obergrenze bestimmen Sie selbst. Hauptsache, Sie bringen mir konkrete Ergebnisse, und zwar möglichst gestern.« »Bin schon so gut wie weg«, erwiderte die Chinesin, nickte ihm 192
kurz zu und verließ den Raum. Wallis nutzte volle neunzig Sekunden, um sich ein wenig zu entspannen und nachzudenken. Dann erhob er sich mit einem Ruck aus seinem Sessel und ging aus dem Büro. Im Vorzimmer aktivierte er kurz sein Armbandvipho und setzte sich mit Fortrose in Verbindung. Der Firmenanwalt befand sich bereits auf dem Weg in die Nachbarstadt Cleveland. Wallis wies ihn an, dort noch eine Erledigung einzuschieben, die keinen Aufschub duldete. Er hatte einen spontanen Entschluß gefaßt - und das bedeutete für einige seiner Mitarbeiter Ärger und zusätzliche Arbeit. Robert Saam nannte sich mit Fug und Recht Terras größtes Universalgenie (intellektuelle Bescheidenheit war keine seiner Stärken). Die Menschheit verdankte ihm viele bedeutsame Erfindungen. Nicht nur im Bereich der Raumschiffsbewaffnung hatte er sich verdient gemacht, auch praktische Schöpfungen stammten von ihm, beispielsweise die BlechmannRoboter. Genie und Wahnsinn lagen bei dem siebenundzwanzigjährigen Norweger dicht beieinander im Gegensatz zu seinem blonden Haar, das es irgendwie immer schaffte, wirr von seinem Kopf abzustehen, insbesondere nach dem Kämmen. Frauen waren ihm egal, zumindest behauptete er das. Wer ihn jedoch dabei beobachtete, wie er des öfteren in den Ausschnitt seiner vier Jahre älteren Assistentin schielte, mochte das schwer glauben. Regina Lindenberg kam aus der Schweiz. Die schöne Biologin hatte schon mehr Auszeichnungen erhalten als viele ältere Wissenschaftler in ihrem ganzen Leben. Das machte sie stolz, aber nicht eingebildet. Zu Robert pflegte sie ein freundliches, kollegiales Verhältnis, mehr aber auch nicht. Zwar war sie nicht unbedingt abgeneigt, 193 doch er sollte schon den ersten Schritt tun - und dafür war er zu schüchtern, zu verklemmt. Saams zweiter Assistent Saram Ramoya, ein neununddreißig-jähriger indischer Funk- und Ortungsspezialist, kannte Verklemmungen nur vom Hörensagen. Er war ein Macho durch und durch und neigte als Mann manchmal zur Selbstüberschätzung. Seiner Arbeit tat das allerdings keinen Abbruch, seine Kollegen (auch die Kolleginnen) konnten sich felsenfest auf ihn verlassen. Der dritte im Assistentenbunde war Kanadier und hieß George Lautrec. Der Zweiundsechzigjährige verfügte zwar über weniger Auszeichnungen als Regina, war aber auf vielen wissenschaftlichen Gebieten erfahrener als sie. Gemeinsam bildeten Saam, Lindenberg, Ramoya und Lautrec ein unschlagbares Quartett. Jeder einzelne von ihnen hätte eine steile Karriere in der Militärforschung oder eine geruhsame im Universitätsbereich machen können - doch sie zogen es vor, in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Terence Wallis vereinnahmte sie fast gänzlich für sich, wobei er nahezu »erpresserische« Methoden anwandte: Er stellte ihnen auf dem Werksgelände in Pittsburgh die bestausgestatteten Labore und die modernsten Apparaturen zur Verfügung, schränkte ihren Etat nicht ein, ließ sie ihre Mitarbeiter frei auswählen und zahlte ihnen zudem ein überdurchschnittliches Gehalt plus Erfolgsprämien. Hinzu kam, daß Wallis die vier nur selten kontrollierte. Es genügte ihm, zu wissen, woran sie gerade arbeiteten. Ansonsten interessierten ihn ausschließlich die Resultate ihrer Forschungen, keine Details oder Zwischenergebnisse. Nur was vollständig ausgereift und erprobt war, konnte wirtschaftlich genutzt werden -Halbfertiges war auf dem Markt nicht gefragt. Robert Saam war der Kopf des Wissenschaftlerquartetts, der Planer, der Bestimmer. Ohne Druck von außen arbeitete er am effektivsten, allerdings schoß er so manches Mal übers Ziel hinaus. Und nicht immer sprach er sich mit seinem Gönner Wallis über
194 seine Vorhaben ab. Schlimmer noch: Wenn ihn der Forscherdrang packte, ignorierte er sämtliche ihm zugeteilten Aufgaben und be-schritt seine eigenen Wege. Bei seinen Assistenten stieß er damit nicht immer auf Gegenliebe. Regina, Saram und George waren sich nur zu gut darüber im klaren, daß Roberts eigenmächtiges Handeln jedesmal einen Haufen Scherereien nach sich zog. Diesmal war ihnen das jedoch egal. Die Forschungen, die sie seit einiger Zeit ohne das Wissen des Milliardärs betrieben, zogen sie so sehr in den Bann, daß sie dafür eventuellen Ärger gern in Kauf nahmen. »Das ist die größte Entdeckung seit der Erfindung des Rades«, bemerkte Ramoya euphorisch, als die neuesten Ergebnisse vorlagen. »Genaugenommen ist es keine Entdeckung, sondern mehr eine Entwicklung«, meinte Lautrec, der sich mit ihm im Großraumlabor aufhielt. »Ohne unsere intensive Forschungsarbeit wären wir nie so weit gekommen.« »Sollten wir nicht warten, bis wir am Ziel angelangt sind, bevor wir uns mit Lorbeeren überschütten?« gab Lindenberg nach einem Blick auf die Forschungsunterlagen zu bedenken. »Die letzten Tests sind noch nicht abgeschlossen.« »Reine Formsache«, warf Saam ein. »Ich bin überzeugt, daß die gesamte Testreihe positiv verlaufen wird. Ich kann es kaum erwarten, Terence vor vollendete Tatsachen zu stellen.« Robert Saam wußte immer, wann er kurz davor stand, eine bahnbrechende Erfindung zu machen. In solchen Augenblicken bewunderte Regina ihn heimlich für sein Selbstbewußtsein, das er dabei an den Tag legte. Selbst wenn es unerwartete Fehlschläge gab, ließ er sich nicht beirren und verfolgte den eingeschlagenen Weg konsequent weiter - so lange, bis er alle Hindernisse weggeräumt hatte. Wieder einmal schien er sich selbst übertroffen zu haben. Falls die noch ausstehenden Überprüfungen hielten, was man sich von 195 ihnen versprach, würde Wallis Industries schon bald mit einem neuen, bahnbrechenden Produkt auf den Markt kommen. Das Forscherquartett arbeitete nicht allein. Zahlreiche Labormitarbeiter standen den vieren zur Verfügung, um die Arbeit zu beschleunigen. Allerdings wußten nur Saam und seine drei engsten Vertrauten Bescheid, worum es eigentlich ging. Alle anderen kümmerten sich ausschließlich um ihren eigenen kleinen Aufgabenbereich, ohne zu wissen, wo und wie die Fäden am Ende zusammenliefen. »Bald ist es soweit«, murmelte Saam, der seine innere Anspannung kaum verbergen konnte. »Wenn bloß nichts dazwischenkommt...!« Regina war erstaunt. Sollte das Genie der Genies doch noch letzte Zweifel am Gelingen des Unternehmens haben? Oder befiel ihn plötzlich eine böse Vorahnung? Sie versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie ganz nah an ihn herantrat und ihre rechte Hand auf seine linke Schulter legte. Irgendwie schien ihn das allerdings noch nervöser zu machen. Er wandte ihr sein Gesicht zu, und ihr fiel auf, daß seine Mundwinkel leicht zuckten. Anstatt sich diskret zurückzuziehen, damit sich seine Herzschläge wieder etwas verlangsamten, schaute Regina ihm tief in die Augen. Es gefiel ihr, ihm nur durch ihre pure Nähe den Kopf zu verdrehen, ohne daß dabei ein Wort gesprochen wurde. Normalerweise wich der junge Norweger ihren Blicken aus, sobald sie ihm zu intensiv erschienen. Diesmal hielt er den Augenkontakt jedoch tapfer aufrecht. Beide verspürten tief in sich eine Art chemischer Reaktion, einen Funken, den man zwar fühlen, aber optisch nicht erfassen konnte, verbunden mit einem Knistern, das akustisch nicht wahrnehmbar war.
Zaghaft legte Robert seine Hand auf Reginas. Die Frau nahm an, er wolle ihre Hand von seiner Schulter entfernen und zog sie freiwillig zurück. Schnell griff er zu, hielt die schlanke, zarte Hand 196 sanft fest... In diesem Moment öffnete sich der Seiteneingang zum Labor, und Terence Wallis trat ein. »Das habe ich gern!« machte er sich sogleich bemerkbar. »Terra steht vor einem politischen Kollaps, meine Firma wird systematisch in den Konkurs getrieben - und zwei meiner bestbezahlten Mitarbeiter flirten ungeniert miteinander. Hat das nicht Zeit bis Feierabend?« Von einer Sekunde zur anderen war der Zauber des Augenblicks verflogen. Robert und Terence verband so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis, obwohl sie in keiner Weise miteinander verwandt waren. Papa ließ seinem Filius manches durchgehen, solange er es nicht übertrieb. »Ihr begleitet mich auf eine Dienstreise«, ordnete Wallis ohne Umschweife an, und aus seinem Tonfall war herauszuhören, daß jedweder Widerspruch zwecklos war. »Alle vier. Jetzt sofort.« »Unmöglich!« erwiderte Saam. »Unsere laufenden Forschungsprojekte erlauben uns nicht...« »Die müßt ihr halt aufschieben. Mein Anliegen hat äußerste Priorität. Eure Mitarbeiter werden schon ein Weilchen ohne euch auskommen.« »Aber wir befinden uns mitten in der abschließenden Testphase«, warf Regina ein. »Wir benötigen nur noch etwas...« »Interessiert mich nicht«, schnitt Wallis auch ihr das Wort ab. »Ich weiß sowieso nicht, woran ihr gerade arbeitet, weil es niemand für nötig gehalten hat, mich zu informieren.« George Lautrec hatte Mühe, einen Fluch zu unterdrücken. »Verd...! Da gibt man wochenlang sein Bestes, und nun soll ich bei den letzten Tests mit dem Carborit nicht mit dabei sein?« ; »Carborit?« wiederholte der Milliardär. »Nie gehört. Was ist das?« Robert kam Georges Antwort zuvor. »Laß dich überraschen, Terence. Na schön, wenn es nicht anders geht, begleiten wir dich 197 halt. So ein kleiner Dienstausflug mit dem Schweber dauert schließlich nicht ewig. Wir müssen unseren Mitarbeitern lediglich noch ein paar Anweisungen erteilen, damit sie ohne uns weitermachen können. Wo treffen wir uns?« »Auf meinem Raumhafen. Ihr braucht nichts einzupacken, ich habe eure persönlichen Sachen bereits auf die SEARCHER bringen lassen. Im übrigen sind die Unterkünfte dort überaus komfortabel, es wird euch an nichts mangeln.« »Auf die SEARCHER?« entfuhr es Ramoya. »Heißt das, wir fliegen ins All?« »Logisch«, antwortete Terence Wallis lakonisch. »Und jetzt beeilt euch. Zeit ist Geld. Und eure Zeit ist mein Geld.« Art und Jane Hooker verfügten auf Terra über keinen festen Wohnsitz. Wozu auch? Die meiste Zeit verbrachten sie eh in ihrem diskusförmigen Raumschiff SEARCHER, immer dann, wenn sie im All unterwegs waren. Hielten sie sich auf der Erde auf, bezogen sie entweder eine Hotelsuite oder sie mieteten kurzfristig ein möbliertes Apartment an. Oftmals blieben sie auch auf ihrem Schiff, denn dort fühlten sie sich am wohlsten. Das Privatdeck war mit allem nur erdenklichen Luxus ausgestattet. Zudem bot es ausreichend Platz für Mitreisende. Bevor die Eheleute in die Dienste von Terence Wallis getreten waren, hatten beide als Freiberufler eine eigene Firma betrieben. Ihre Einkünfte hatten gerade so für das Nötigste gereicht. Als »Vagabunden des Weltalls« hatte man sie damals bezeichnet, und im großen und ganzen hatten sie sich recht wohlgefühlt.
Insbesondere Art war es nicht leichtgefallen, seine Freiheit aufzugeben, doch er hatte die wirtschaftliche Notwendigkeit eingesehen und war den Pakt mit dem Milliardär eingegangen. Seither waren der hagere Prospektor und seine gertenschlanke Frau vermögende Leute. 198 Mehr noch: Sie besaßen sogar ein Stück von einem Planeten. In den Monaten Mai und Juni 2058 hatten sie sich - im Auftrag von Wallis Star Mining - im noch unerforschten Kugelhaufen M 53 auf die Suche nach einer Welt begeben, die einer begrenzten Anzahl von Menschen Schutz vor der Strahlungsfront der vom Untergang bedrohten Milchstraße bieten sollte. Nach einem ersten »Fehlgriff« war es ihnen tatsächlich gelungen, einen solchen Platz ausfindig zu machen. Eden hatten sie die Welt getauft - und als Anteilseigner von Wallis Star Mining hatten ihnen 2,5 Prozent davon zugestanden, mit dem Recht der ersten Wahl als Entdecker. Selbstverständlich hatten sich Art und Jane seinerzeit das leckerste Stück vom Kuchen ausgesucht: einen Inselkontinent zwischen Subtropen und Tropen, ein Naturparadies, das sie Aloha genannt hatten. Aloha war für einen Urlaub wie geschaffen. Da sich aber auf Eden nach Rettung der Milchstraße niemand angesiedelt hatte, gab es dort auch niemanden, der Erholung brauchte. Erholung - ein Fremdwort für die Hookers, da Wallis sie laufend mit neuen kleinen und großen Aufträgen zuschüttete. »Manchmal komme ich mir wie sein Leibeigener vor«, bemerkte Art, der sich mit seiner Frau auf einer weiträumigen Hoteldachterrasse aufhielt. »Seit wir bei ihm unter Vertrag stehen, schickt er uns von einem Ende der Welt zum anderen. Es gibt Tage, da sehne ich mich nach unserem früheren Leben zurück.« »Aber garantiert nicht an Tagen wie heute, oder?« fragte Jane ihn lächelnd »Garantiert nicht«, bestätigte ihr Mann. »Derlei Bequemlichkeiten hätten wir uns damals nämlich nicht leisten können.« Die Terrasse war mit palmenartigen Gewächsen bepflanzt. Dazwischen hatte die Hotelleitung nicht etwa gewöhnliche Liegestühle, sondern bequeme Liegesessel und eine urgemütliche Sitzecke plaziert. Der Clou aber war ein überdimensionales, quadratisches Wasserbett, auf dem sich die Hookers unter einer dünnen Decke räkelten. Zwar war der Morgen lange schon vorüber, doch sie sahen keine Notwendigkeit, aufzustehen. Frühstück war ausgefallen, und das Mittagessen hatten sie sich auf die Terrasse senden lassen. Es war auf einem großen Tablett hereingeschwebt, direkt bis ans Bett. Selbstverständlich hätten die Eheleute auch in der angrenzenden geräumigen Suite schlafen und speisen können, doch die Dachterrasse war ihnen lieber. In der warmen Jahreszeit konnte man sich hier an der frischen Luft lümmeln, und an kühleren Tagen - derzeit schrieb man April 2059 - ließ sich die beheizte Terrasse rundum mit Glaswänden und einem Glasdach verschließen, dafür genügte ein einziger Knopfdruck. , Ihre Viphogeräte hatten die Hookers ausgeschaltet. Sie wollten von keiner Menschenseele gestört werden - was insbesondere für einen gewissen Terence Wallis galt, der die lästige Angewohnheit hatte, seine beiden »Lieblingsanteilseigner« während ihrer freien Tage anzurufen, um sie mit einer neuen Aufgabe zu betrauen. Damit ihnen das diesmal nicht passierte, hatten ihm Art und Jane eine falsche Urlaubsadresse hinterlassen. »Ob er wohl gerade in Reykjavik nach uns fahnden läßt?« bemerkte Art bestens gelaunt. »Wie ich ihn kenne, suchen seine Leute die gesamte Erdkugel nach uns ab«, entgegnete Jane und kuschelte sich an ihren Mann. »Aber auf den Gedanken, daß wir uns in unmittelbarer Nähe von Pittsburgh aufhalten könnten, kommt er nie. Frechheit siegt.« Die SEARCHER stand auf dem kleinen Raumhafen von Wallis Industries. Die Besitzer des diskusförmigen Raumschiffs befanden sich quasi um die Ecke, im teuersten Hotel von Cleveland. Hier, so hofften sie, würden sie ungestört eine volle freie Woche verbringen können. Heute war ihr vierter Urlaubstag.
Über das bruchsichere Glasdach der Terrasse tobte ein leichtes Unwetter hinweg. Regen prasselte rundum an die Scheiben, und hin und wieder erhellte ein Blitz den leicht verdunkelten Himmel. Jane fand das schlechte Wetter ungeheuer anregend. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd. In dieser Aufmachung fiel es ihr nicht schwer, ihrem Ehemann deutlich zu machen, worauf sie gerade unbändige Lust verspürte. Janes Anblick und das sanfte Schaukeln des Wasserbetts brachten Art auf den richtigen Gedanken. Stürmisch zog er seine Frau an sich und küßte ihre weichen, warmen Lippen... »Ähem!« Ein dezentes Räuspern brachte die sprudelnde Leidenschaft schlagartig zum Versiegen. Erschrocken zuckten die beiden zusammen. Der Einschlag einer Bombe direkt neben dem Bett hätte keine größere Wirkung erzielen können. Im Durchgang zur Suite stand der Hotelmanager, ein breitschultriger, fetter Koloß im Maßanzug. »Bitte verzeihen Sie mein Eindringen«, entschuldige er sich mit breitem Grinsen. »Ich war gezwungen, zum Öffnen der Tür die Generalchipkarte zu benutzen. Es ging niemand ans Vipho, und auf mein Klopfen hat leider niemand reagiert.« »Ach nein?« erwiderte Art gereizt. »Woran könnte das bloß liegen? Vielleicht daran, daß wir unsere Ruhe haben möchten?« »Daraus wird leider nichts«, bedauerte sein Gegenüber und trat zwei Schritte auf die Terrasse. »Ich möchte Sie höflichst bitten, die Suite noch heute zu räumen.« »Wie bitte?« entfuhr es Jane. »Sie wollen uns vor die Tür setzen, nur weil Sie uns beim Sex erwischt haben? Wir sind verheiratet. Sowohl die Kirche als auch der Gesetzgeber segnen derlei intime Begegnungen zwischen Eheleuten ausdrücklich ab.« Art nickte zustimmend. »Als Ehepaar sind wir gewissermaßen verpflichtet dazu. Sex unter Verheirateten ist kein pures Vergnügen, sondern eine Amtshandlung.« »Ich mag Menschen, die auf überraschende Situationen mit schlagfertigem Humor reagieren«, entgegnete der Hotelmanager. »Keine Sorge, ich werfe Sie nicht hinaus. Sie müßten lediglich in eine andere Etage umziehen, diese hier habe ich soeben komplett vermietet.« »An wen?« wollte Art wissen. 200 201 »Labyrinth«, antwortete der Manager in geheimnisvollem Flüsterton und schaute die Eheleute abwechselnd an. »Da staunen Sie nicht wahr? Fassen Sie sich, und bewahren Sie bitte äußerstes Stillschweigen. Die Jungs sind inkognito hier. Deshalb habe ich ihnen die komplette obere Etage zugesichert. Dafür haben Sie doch sicherlich Verständnis, oder? Selbstverständlich zahlen Sie für Ihre neue Unterkunft keinen Cent. Betrachten Sie sich von nun an als Gäste des Hauses.« Art und Jane machten ratlose Gesichter. »Labyrinth?« »Jungs?« »Labyrinth heißt die derzeit angesagteste Boygroup des Universums«, half ihnen der Manager auf die Sprünge. »Die Jungs haben ihre technischen Mitarbeiter, den Bandmanager sowie einige Groupies mit dabei und benötigen daher eine Reihe von Zimmern und Suiten.« »Dann bringen Sie die Halbstarkentruppe doch in einer anderen Etage unter«, schlug Jane vor. »Unmöglich, sie bestehen auf der obersten Etage. Nur hier gibt es vier große Suiten mit Dachterrassen, verstehen sie?« Art nickte. »Verstehe ich gut. Auch wir wissen die Terrasse zu schätzen. Eben deshalb ziehen wir erst nach Ablauf der vereinbarten sieben Tage aus.« »Die übrigen Gäste auf diesem Stockwerk waren kooperativer«, hielt der Hotelmanager den beiden vor. »Der Botschafter von Liechtenstein zog mit seinen drei preisgekrönten Pekinesen
ohne viel Federlesens ins Erdgeschoß, und die junge Lady of Black, eine vornehme Dame aus bester Gesellschaft, erbat sich als Gegenleistung lediglich einige Autogramme von den Bandmitgliedern.« »Was soll ich mit Unterschriften von Leuten, die mir völlig unbekannt sind?« knurrte Art. »Meinethalben können sie allesamt nebenan einziehen, solange sie uns in Frieden lassen. Richten Sie ihnen schöne Grüße von uns aus und sagen Sie ihnen, sie mögen des Nachts bitte nicht zu laut singen.« 202 Das Grinsen entschwand aus den Gesichtszügen des Managers. »Allmählich reicht es mir mit Ihnen, Mister Hooker. Bis jetzt habe ich es mit Freundlichkeit versucht, aber ich kann auch andere Saiten aufziehen. Ist es Ihnen lieber, wenn ich mich auf mein Hausrecht berufe und Sie gegen Ihren Willen des Hotels verweise?« »Gegen den Willen meiner Mandanten geschieht hier überhaupt nichts«, sagte plötzlich jemand, der hinter dem Hotelmanager aus der Suite trat. Art und Jane erkannten den kleinen, unscheinbaren Mann mit dem schwarzen Aktenkoffer. Es war einer von Wallis' Firmenanwälten: Fortrose. > »Wenn ein Gast bei Ihnen eincheckt und Sie dagegen keine Einwände äußern, gehen Sie juristisch einen mündlichen Vertrag mit ihm ein«, belehrte A. B. C. D. E. Fortrose den Hotelmanager und reichte ihm seine Visitenkarte. »Von diesem Augenblick an dürfen Sie ihn nicht ohne triftigen Grund vor Ablauf der vereinbarten Zeit aus dem Haus weisen. Das Hausrecht an den vermieteten Räumlichkeiten liegt von jenem Zeitpunkt an bei Ihren Gästen. Sie würden mich enttäuschen, wenn Sie das nicht wüßten, junger Mann.« »Aber ich habe einen triftigen Grund! Eine prominente Band benötigt die oberste Etage für sich und ihren Anhang. Wissen Sie eigentlich, was für einen Imageverlust unser renommiertes Haus erleidet, wenn sich herumspricht, daß wir Labyrinth abgewiesen haben?« vi »Das ist Ihr Problem. Die unerwartete Ankunft von Prominenten lst als Vertragskündigungsgrund nicht ausreichend. Hat Mister Hooker die Zimmervorhänge in Brand gesteckt? Singt Mrs. Hooker unter der Dusche so laut, daß sich die Gäste unter ihr beschweren? Oder hegen Sie den Verdacht, die beiden planen, sich ohne zu bezahlen bei Nacht und Nebel abzusetzen? Derlei Verhaltenswei-en wären triftige Gründe für eine vorzeitige Auflösung des mlindlichen Vertrages. Da Sie aber nichts dergleichen vorgetragen haben, schlage ich vor, Sie schicken den Kindergarten, der sich unten in der Hotelhalle breitmacht, wieder heim. Oder wollen Sie eine Klage wegen Vertragsbruch riskieren? Außerdem müssen Sie damit rechnen, von den Hookers wegen entgangener Urlaubsfreuden verklagt zu werden.« Der Manager warf einen Blick auf die Visitenkarte in seiner Hand. »Sie sind Anwalt von Wallis Industries?« »Richtig«, bestätigte ihm Fortrose. »Und diese beiden Herrschaften sind enge Mitarbeiter und persönliche Freunde von Terence Wallis. Besser, Sie legen sich nicht mit ihnen an. Einen schönen Tag noch. Und schließen Sie beim Hinausgehen die Tür hinter sich, vorhin stand sie einen Spalt offen.« Der Hotelmanager, der sichtlich beeindruckt war, verließ umgehend die Suite. »Großartig, das haben Sie prima gemacht!« lobte Art Hooker den Juristen. Der Prospektor, der nur mit seiner Unterwäsche bekleidet war, erhob sich von dem Wasserbett und schüttelte dem Anwalt die Hand. Jane schlang sich die Bettdecke um den Körper und stand ebenfalls auf. »Was machen Sie eigentlich hier?« erkundigte sie sich. »Hat Wallis Ihnen ebenfalls ein paar Tage Urlaub gewährt?« »Nein, er hat mich zu Ihnen geschickt, um seine dringliche Bitte auszurichten, auf der Stelle zurückzukommen.«
»Warum hetzt er ausgerechnet einen Anwalt auf uns?« fragte Jane. »Hätte es der Bürobote
nicht auch getan?«
»Sicher, aber Mister Wallis ging wohl davon aus, daß Sie Schwierigkeiten machen würden.
Ein Bürobote würde Sie sicher nicht davon überzeugen können, auf ihren wohlverdienten
Urlaub zu verzichten, um Mr. Wallis einen persönlichen Gefallen zu erweisen. Aber er ist
wirklich äußerst dringend auf ihre Kooperationsbereitschaft angewiesen. Im übrigen hatte ich
eh in Clevelanu zu tun.«
»Woher wußte Wallis überhaupt, wo wir uns aufhalten.«
204 schimpfte Art Hooker. »Wir haben seiner Sekretärin lediglich eine Anschrift in Island
hinterlassen.«
»Ist mir bekannt«, antwortete Fortrose schmunzelnd. »Die halbe Geschäftsetage hat sehr
darüber gelacht. Haben Sie wirklich geglaubt, unser großer Boß würde auf so einen billigen
Trick hereinfallen?«
»Und wieso haben Sie den Hotelmanager zusammengestaucht?« stellte Art ihm die nächste
Frage. »Warum haben Sie ihm nicht gesagt, daß wir ohnehin ausziehen werden?«
»Ich führe ein ziemlich freudloses Leben«, räumte Fortrose offen ein. »Deshalb gönne ich mir
manchmal ein kleines Erfolgserlebnis. Es bereitete mir diebische Freude, den Kerl in seine
Schranken zu verweisen. Er mag körperlich umfangreicher sein als ich, doch auf juristischem
Gebiet hat er mir nichts entgegenzusetzen.«
Der Anwalt verabschiedete sich.
Auf dem Hotelflur traf Fortrose mit dem Hotelmanager zusammen, der noch nicht in die
Hotelhalle zurückgekehrt war. Statt dessen saß er mit nachdenklicher Miene in einem breiten
Korbsessel. »Probleme?« sprach Fortrose ihn feixend an.
»Still, ich bin am Abwägen«, erwiderte der Manager. »Eine Geldstrafe wegen Vertragsbruch
zu riskieren, ist eine Sache - eine der bekanntesten Boygroups abzuweisen eine andere.
Zugegeben, Terence Wallis ist ein mächtiger Mann. Aber er bringt nur selten Privatgäste bei
uns unter. Hingegen zahlt Labyrinth für die oberste Etage jeden Betrag, den ich fordere.
Vielleicht sollte ich das Risiko, mir Wallis' Unmut zuzuziehen, einfach eingehen. Was kann er
unserem Hotel schon groß anhaben?«
»Ich beuge mich Ihrer intellektuellen Überlegenheit«, sagte Fortrose mit gewichtiger Miene.
»Gratuliere, Sie haben Wallis Industries in die Knie gezwungen, wir geben klein bei. Unsere
beiden Mitarbeiter werden die Suite umgehend verlassen.« Es gab Tage, da machte ihm sein
ungeliebter Beruf so richtig Spass.
11.
Selbstvernichtung!
»Dieser Controllo muß doch 'ne Macke haben«, murrte Arc Doorn.
»Es ist völlig unlogisch«, stimmte auch Jan Burton zu. »Wenn er Sicherheit will, erreicht er
die doch nicht, indem er sich und die Station sprengt!«,
Doorn, wieder in seiner mundfaulen Phase, nickte nur. Burton, dessen Spezialgebiet die
Logistik war, hatte recht. Und man mußte kein Cyborg und auch kein Logistiker sein, um das
zu erkennen.
Aber vielleicht sah die Logik des Zentralen Controllo ganz anders aus, als Menschen sie sich
vorstellen konnten...?
»Wieviel Zeit bleibt uns?« wollte Mark Carrell wissen.
»Maximal fünf Minuten«, sagte Artus.
»Und minimal?«
»Der Countdown läuft seit einer halben Minute.«
»Klasse«, knurrte Doorn. »Und in der Zeit schaffen wir's nicht zurück zu den Flash. Die
POINT OF muß hierher durchbrechen und uns 'rausholen...«
Er winkte ab, als er sah, daß Carrell etwas erwidern wollte. Der Sibirier wußte selbst, daß das reines Wunschdenken war. Sie mußten hier vor Ort mit der Situation fertig werden, oder in weniger als viereinhalb Minuten wurde diese Station zu einer kleinen Sonne, die ihre gesamte Energie in einem einzigen Aufblitzen verstrahlte und dabei alles vernichtete, was sich in ihr befand. Wie krieg' ich das Mistding kaputt? fragte sich Doorn und verwünschte die Mysterious einmal mehr in die heißeste Ecke der Hölle. Er starrte die Verkleidung des Zentralen Controllo an. Dieser Superrechner war nichts für ihn. Er besaß die Fähigkeit, die Funktionsweise fremder technischer Geräte intuitiv zu erfassen, aber hier ging es nicht um die Funktionsweise, sondern um die Programmierung. Das war' was für den Dicken, dachte er und 206 wünschte sich Chris Shanton her, der für seinen Robothund Jimmy ständig neue Programmerweiterungen entwarf und hier sicher wertvolle Hinweise hätte geben können. »Wir müssen den Kasten aufmachen und ihm die Drähte abklemmen«, erklärte Doorn. Das war die einzige Chance, die er sah. »Drähte?« staunte Bram Sass. Doorn seufzte. Er betrachtete die Verkleidung des Controllo. Wo konnte die Schaltung verborgen sein, mit welcher dieser Rechner geöffnet werden konnte? Er entsann sich daran, wie damals die Salter in der Zentrale der POINT OF die Transmitter aus den fugenlosen Wänden hatten ausfahren lassen, oder wie die Verkleidung des Checkmasters geöffnet worden war. Langsam streckte er die Hand aus. »Checkmaster versucht stärkeren Einfluß auf den Controllo zu nehmen«, meldete Artus, der nach wie vor die Kommunikation der beiden Rechner verfolgte. Über den Helmfunk ließ Gisol wieder von sich hören. Er schien , zu ahnen, was Doorn plante. »Wenn Sie die Freifläche rechts neben der orange-grün-wechselnden Anzeige berühren, müßte sich die Verkleidung des Controllo öffnen. Etwa zehn Sekunden Ansprechdauer.« »Verdammt lang«, knurrte Doorn, dem die Zeit ebenso davonlief wie den anderen. Die Cyborgs waren in diesem Moment kaum eine Hilfe, weil sie zu wenig von M-Technik verstanden. Die Datengrundlagen, die in ihren Programmgehirnen gespeichert waren, nützten ihnen hier nichts. Er suchte die orange-grün changierende Anzeige und fand sie schließlich in Augenhöhe. Daneben berührte er die UnitallVerkleidung des Controllo. Zehn Sekunden... Eine Ewigkeit, wenn nur noch wenige Minuten zur Verfügung standen! »Warnung. Zentraler Controllo richtet Sperrschaltung ein«, kam eine monotone Stimme aus dem Helmvipho. Der Checkmaster der 207 POINT OF meldete sich per Funk direkt bei den Menschen vor Ort! »Kannst du das nicht verhindern?« funkte Artus prompt zurück. »Du stehst doch mit ihm in Verbindung!« »Aufschneiden!« verlangte Carrell und griff zu seinem Blaster. »Treten Sie zur Seite, Doorn.« Bevor der den Cyborg darauf hinweisen konnte, daß es sich bei der Verkleidung um Unitall handelte, gegen das die Blasterstrahlen nicht ankamen, öffnete sich die ControlloVerkleidung. Der Sibirier wollte schon aufatmen, als sich die Wandung unmittelbar danach wieder schloß. »Ist es denn wahr?« stöhnte er auf und wiederholte den Vorgang. Erneut öffnete sich die Verkleidung, aber diesmal war Doorn schnell genug und klemmte seinen Blaster als Stopper ein. Die Öffnung konnte sich nicht mehr komplett schließen. Bram Sass trat hinzu. »Wollen doch mal sehen, ob wir den nicht austricksen können«, sagte er. Mit seiner Cyborgkraft stemmte er sich gegen die Verschlußplatte und schob sie
zentimeterweise zurück. Äußerlich war ihm keine Anstrengung anzusehen, aber nicht nur
Doorn ahnte, welchen ungeheuren Kraftaufwand es erforderte, gegen den
Schließmechanismus anzukämpfen.
»Ich bin ausdauernder«, sagte Artus plötzlich. Er griff ein und löste den Cyborg ab. Der
Roboter brachte es tatsächlich fertig, die Öffnung noch schneller zu vergrößern, als es Sass
bisher gelungen war. Plötzlich knackte irgend etwas. Danach war es leicht, die Platte
zurückzuschieben, und sie schloß sich auch nicht mehr von allein.
Doorn klopfte dem Roboter auf die Schulter. »Gut gemacht, mein Junge. Dafür bekommst du
zum Geburtstag 'ne Dose Rostlö-ser.«
»Da gibt es ein Problem«, erklärte Artus. »Mein Herstellungsdatum ist zwar der 26. Januar
2058, aber meine Bewußtwerdung erfolgte in der Nacht vom 18. auf den 19. September 2058.
An welchem dieser Tage darf ich nun mein Geburtstagsgeschenk erwarten? Außerdem«, er
stoppte kurz und klang dann regelrecht em-
rt: »Rostlöser? Ich roste nicht!«
Doorn hörte schon gar nicht mehr zu. Er betrachtete die Schalterbindungen, die vor ihm lagen.
Der Zentrale Controllo bestand,
ie die meisten M-Geräte, aus einem System von verschachtelten Elementen, die dicht an dicht
gepackt waren. Thermische Probleme wie bei terranischen Rechnern schienen die Worgun nie
gekannt zu haben. Kein terranischer Suprasensor hätte so gebaut werden können; die
Prozessoren und Speicher hätten vor ihrer eigenen Wärmeentwicklung kapituliert.
Etwas besorgt registrierte der Sibirier, daß Artus die Verschlußplatte nicht mehr festhielt.
Wenn die jetzt plötzlich wieder zuschnappte, noch während er seine Hände am Gerät hatte...
aber der entsprechende Mechanismus schien ernsthaft beschädigt zu sein.
»Smith«, sagte Doorn in den Helmfunk. »Was kann ich jetzt am besten tun?«
»Schildern Sie mir den inneren Aufbau«, verlangte der Worgun.
»Wenn's mehr nicht ist...«
»Noch zwei Minuten«, meldete Jan Burton.
Doorn wurde grob. »Klappe halten!« fuhr er den Cyborg an. Und wenn die Zeit noch so
drängte, er konnte sich jetzt nicht unter Druck setzen lassen, weil das seinen Gedankenfluß
beeinträchtigte. Entweder sie schafften es in den zwei Minuten, oder sie waren tot. Damit
mußten sie leben oder sterben.
Er konzentrierte sich auf die Rechnerarchitektur des Controllo und schilderte sie Gisol. »Erstaunlich«, bemerkte der. »Da sind ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht kenne. Versuchen
Sie mal, den Tril-Phent von der Gan-Basis zu lösen. Das müßte...«
Doorn seufzte. »Smith, ich habe keine Ahnung, was ein Tri-dingsbums und diese Basisgans
sind. Beschreiben Sie mir die Teile!«
Gisol begann zu erklären.
»Noch 45 Sekunden«, meldete Burton.
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»Dann hätten wir vielleicht doch noch eine Chance, die Flash zu erreichen und auszufliegen.
Auch die POINT OF sollte es versuchen«, schlug Burton vor. »Neuberechnung
abgeschlossen: Die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg beträgt 12 Prozent.«
»Der Checkmaster hat den Zentralen Controllo manipuliert«, sagte Artus übergangslos. »Er
hat die Zeitzählung verdoppelt, seit das Tri-Phent nicht mehr mit der Gan-Basis verbunden
war.«
»Wieviel Zeit bleibt uns jetzt effektiv noch?« fragte Burton.
Doorn achtete nicht mehr darauf. »Smith, ich sehe hier Symbole auf den Tasten, die ich nicht
kenne. Sagen Sie mir, wie die Symbole aussehen, auf die ich drücken muß.«
»Sofort, Arc. Aber mit der letzten Eingabe müssen Sie zugleich eine andere Rechnerkomponente als Kontrollinstanz installieren.« Artus hatte mitgehört. »Ich stehe zur Verfügung. Wie erfolgt die Installation?« »Sie kann über folgende Funkfrequenz erfolgen, die dann nicht mehr unterbrochen werden darf, solange die Kontrolle stattfindet.« Gisol nannte die Zahl. »Gespeichert und geöffnet. Bin bereit«, erklärte Artus. Gisol beschrieb Doorn die Tasten, die er zu betätigen hatte. Es war eine Folge von einundzwanzig Zeichen. »Fertig...« »Übernehme Kontrolle«, sagte Artus. Und dann: »Übernahme nicht möglich...« »Das ist doch eine dreimal verfluchte...« setzte Doorn zornig an, sah Amy Stewarts tadelnden Blick und vollendete seine Verwünschung auf russisch. »Smith, wieso kann Artus diesen Controllo immer noch nicht unter seine Kontrolle nehmen? Was läuft hier eigentlich für ein Scheißspiel? Ich kündige, verdammt noch mal! Ich geh' nach Hause, sofort...« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Gisol. »Es 212 hätte funktionieren müssen!« »Der Checkmaster meldet, daß er sich als Kontrollinstanz installiert hat«, sagte Artus plötzlich. »Mit einer Art Vorrangimpuls. Dagegen komme ich nicht an.« »Das heißt also, wir haben es geschafft?« fragte Mark Carrell. »Ja«, sagte Artus. »Aber es ist unfair. Ich wollte es tun. Schließlich bin ich hier bei euch im Risikoeinsatz. Der Checkmaster ruht sich in Sicherheit aus und übergeht mich einfach. Das finde ich gar nicht gut.« »Ja, mein Lieber«, sagte Sass. »Das ist nun mal so im Leben. Die Kleinen machen die Drecksarbeit, und die Großen ernten den Ruhm. Aber wichtig ist doch, daß wir überleben und daß dieser Zentrale Controllo uns jetzt keine Schwierigkeiten mehr machen wird. Oder etwa doch noch?« »Er wird keine mehr machen«, sagte Artus. »Diese Station gehört jetzt uns.« Das allerdings hielten alle anderen für reichlich optimistisch. Die SEARCHER war grob in drei Deckbereiche unterteilt. Oben lagen Unterkünfte und Frachträume, unten befanden sich Maschinenraum, Dozerhangar sowie weitere Frachträume, und die Mitte wurde hauptsächlich von der Kommandozentrale ausgefüllt. Von hier aus erfolgte die Kontrolle der Steuerung und der Waffensysteme. Der ehemalige Frachter war lediglich mit einer leichten Bewaffnung für Notfälle ausgerüstet, allerdings konnte ein suprasensorgesteuertes Gefechtssystem die Geschütze so koordinieren, daß sie in der Wirkung einem viel schwereren Kaliber gleichkamen. Nicht alle Frachträume waren leer. Da die Searcher über keinen M-Antrieb verfügte, waren in einigen davon zusätzliche Deuterium- und Tritiumtanks eingebaut worden, damit auch sehr weite Strecken bewältigt werden konnten - zum Beispiel ein Flug nach 213 M 53, jenem Kugelhaufen, der ursprünglich als letzter Fluchtpunkt für die Menschheit vorgesehen war. Art und Jane Hooker waren inzwischen ein paarmal dort gewesen, um sich um ihr Anwesen auf Eden zu kümmern und bei den Vorbereitungen für die Teil-Evakuierung der Erde mitzuhelfen. Letztere hatte dann glücklicherweise nie stattfinden müssen. M 53 (oder NGC 5024) lag im Sternbild Coma, etwa 56 000 Lichtjahre von Terra entfernt, 40 000 Lichtjahre über der Hauptebene der Milchstraße. Nach dorthin war die SEARCHER nun erneut unterwegs. Außer den Hookers wußte niemand, daß Wallis und seine vier besten Forscher fünf bequeme Quartiere auf dem Schiff belegten. Die Dienstreise fand unter strengster Geheimhaltung statt. Nicht einmal Wallis' Sekretärin wußte Genaueres; sie hatte lediglich den Auftrag erhalten, in nächster Zeit alle wichtigen Termine abzusagen und die
unwichtigen sowieso. Maximal 5000 Lichtjahre konnte die SEARCHER bei jeder Transition überwinden. Damit das Material nicht überlastet wurde, führte das Pilotenduo jedoch nur Sprünge von 3000 Lichtjahren durch, was auch der Energieersparnis diente. Aus den gleichen Gründen riskierten sie nur einen Sprung alle sechs Stunden. Der gesamte Flug würde also fast fünf Tage dauern, Rückflug nicht mit eingerechnet. Theoretisch konnte das diskusförmige Schiff von einer einzigen Person geflogen werden. Weil das aber mit größter Anstrengung und ständiger Aufmerksamkeit verbunden war, ließen sich Art und Jane von Robotern unterstützen. Derzeit befanden sich fünf Billigroboter mit an Bord sowie zwei hochleistungsfähige Kegelroboter namens Cash und Carry. Die beiden Kegel hatten früher Terence Wallis beim Golf begleitet, als Caddys und Diskussionspartner - bis er ihrer überdrüssig geworden war. Daraufhin hatte er sie den Hookers überlassen. Auf dem Planeten Uriah, den Art und Jane zuerst als Fluchtplatz für die Menschheit in Erwägung gezogen hatten (was sich aber als Fehlgriff entpuppt hatte), waren die Roboter von einem 214 seltsamen Steinriesen-Fremdvolk manipuliert worden und hatten sich auf merkwürdige Weise verändert. Cash unterhielt sein Umfeld seither mit spontanen Opernarien, während sich Carry manchmal zum Philosophieren hinreißen ließ. Ansonsten benahmen sie sich wie ganz normale Roboter, die sie ja auch waren. Als leblose Maschinen waren sie sich ihres Verhaltens gar nicht bewußt; die Arien und philosophischen Texte entnahmen sie ihren Speichern. Uriah durfte von den Menschen nie mehr angeflogen werden, so war es mit den riesigen Ureinwohnern, die sich inzwischen wieder in eine Art Ewigkeitstrance versetzt hatten, vereinbart worden. Eden lag nur wenige Lichtjahre davon entfernt, auf der der Milchstraße abgewandten Seite des Kugelhaufens, und wies noch günstigere Lebensbedingungen für terranische Siedler auf. Von der Größe und der Gravitation her ähnelte dieser Planet der Erde, die Zusammensetzung der Atmosphäre war praktisch identisch. Zudem verfügte Eden über einen Mond. Nach terranischer Zeitaufteilung dauerte ein Edentag exakt 25 Stunden, 25 Minuten, 25 Sekunden und 25 Zehntel - ein zufälliges Phänomen ohne besondere Bedeutung. Ein Edenjahr zählte 333 Edentage. Bis zur Ankunft vertrieb sich jeder Passagier der SEARCHER die Zeit auf seine eigene Weise. Terence Wallis war als einzigem Sinn und Zweck dieser Reise bekannt. In seiner Kabine stellte er Planungen, Berechnungen und Überlegungen an, über die er mit niemandem an Bord sprach. Sein weiteres Vorgehen hatte er noch nicht vollständig durchdacht, zunächst einmal war er seinen spontanen Eingebungen gefolgt. Zwar wußte Wallis, was er wollte, doch über die exakte Durchführung seiner ehrgeizigen Zukunftspläne hatte er sich bisher keine greifbaren Gedanken gemacht. Es fehlte ihm der zündende Funke, die rettende Idee... Auch Robert Saam saß vor seinem Suprasensor und rechnete und plante. Das gehörte bei ihm zum gewohnten Alltag. Selbst 215 ohne konkrete Zielsetzung hatte er ständig irgend etwas auszutüfteln. Die besten Einfälle bescherte ihm der Zufall. Je mehr er sich anstrengte, ein Problem zu lösen, um so schwieriger erschien es ihm. Ging er die Sache jedoch locker an, flogen ihm die Ideen nur so zu. Momentan war es mit seiner Lockerheit allerdings nicht weit her. Seit dem Start ins All fiel es ihm schwer, sich auf seine wie auch immer geartete Arbeit zu konzentrieren. Ständig mußte er an Regina denken - an den kurzen Augenblick im Labor, in dem sie sich ganz nahegekommen waren. Rund fünf Tage Flug durch die unergründlichen Weiten des Weltraums lagen vor ihnen. Fast eine ganze Woche, in der alles oder auch nichts passieren konnte.
Robert war fest entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Wissenschaftlicher Erfolg allein machte auf Dauer nicht glücklich. Jedes denkende und fühlende Lebewesen brauchte auch etwas fürs Herz. Regina Lindenberg empfand das ebenso. Sie hielt sich die meiste Zeit über in der kleinen Bordbibliothek auf, wo es außer zeitgemäßen Datenträgern auch echte Bücher (!) gab. Hier bildete sie sich weiter, oder sie las nur so zu ihrem Vergnügen, je nach Lust und Laune. Und wenn sie ihre Nase gerade nicht in ein Buch steckte, dachte sie an Robert, der ihr Herz mehr berührt hatte, als sie sich eingestehen mochte. Mit Herzensangelegenheiten hatte Saram Ramoya nicht sonderlich viel am Hut. Zwar verstand er sich wie kein anderer darauf, Frauen genau die Komplimente zuzuflüstern, die sie hören wollten, doch mit wahrer Liebe hatte das nur wenig gemein. Seine Gefühle wurden überwiegend von seinen Hormonen gesteuert. Regina »flachzulegen« betrachtete er als eine sportliche Herausforderung. Zwar entzog sie sich ihm immer wieder und hielt seinen Annäherungsversuchen stand, aber gerade dieses Verhalten heizte seinen männlichen Ehrgeiz noch mehr an. Sie spielte nur mit ihm, davon war der gutaussehende Inder fest überzeugt. Früher 216 oder später... Liebe und Triebe waren derzeit keine relevanten Themen für George Lautrec, der sich in seiner Bordunterkunft ganz und gar der Carborit-Forschung widmete. Es wurmte ihn unsagbar, daß er den vielfältigen Versuchen, die auf Terra durchgeführt wurden, nicht beiwohnen konnte. Deshalb absolvierte er ein paar eigene Tests als Simulation auf dem Suprasensor. Das war zwar nicht dasselbe wie die realen Experimente in den Labors von Wallis Industries, aber besser als nichts. Zwischendurch suchte er immer mal wieder das bescheidene Labor der SEARCHER auf, doch zum Erzielen von brauchbaren Ergebnissen fehlten ihm die nötigen Materialien und Zutaten. Am liebsten hätte sich George mit seinen Laborassistenten in Verbindung gesetzt, solange Terra noch in Hyperfunkreich weite war. Leider hatte Wallis ein Funkverbot über das Schiff verhängt, damit sich keiner verplappern konnte. Nur die Hookers durften im Ausnahmefall mit der Erde in Verbindung treten, wobei es ihnen nicht erlaubt war, über die Anwesenheit und Identität ihrer Passagiere zu sprechen. Offiziell befand sich die SEARCHER auf einem Privatflug nach Eden, was nichts Ungewöhnliches war, schließlich besaß das Prospektorenehepaar dort einen Inselkontinent. Die restlichen 97,5% des Planeten gehörten Wallis Star Mining - und somit Terence Wallis persönlich. Die Regierung hatte keinen Anspruch mehr auf ihr ursprünglich vereinbartes Viertel, schließlich war sie aus dem WSM-Gesellschaftervertrag ausgeschieden. So sah es zumindest der Multimilliardär. In Wahrheit war bei der Auflösung des Vertrages, beziehungsweise bei der Rückgabe des fünfundzwanzigprozentigen Regierungsanteils gar nicht über Eden gesprochen worden. Die Verhandlung hatte sich ausschließlich ums AchmedAsteroidensystem gedreht. Daß Eden ebenfalls davon betroffen war, empfand Wallis als Selbstverständlichkeit. Mit dem Ausstieg aus der Gesellschaft 217 waren sämtliche bisherigen Vereinbarungen mit der Regierung hinfällig. Natürlich erwartete Wallis nicht, daß Dhark und Trawisheim das so einfach hinnehmen würden. Ganz im Gegenteil, er rechnete mit einem Haufen Ärger. Aber war Ärger nicht das Salz in der Suppe des Lebens? 218 12.
»Ich weiß alles, Fortrose.«
Liao Morei schaute den unscheinbaren Anwalt mit ernster liene an. In ihrer Hand hielt sie ein Stück Folie, einen Farbausjck ihres Suprasensors. Alex B. C. D. E. Fortrose, der hinter seinem viel zu großen Büroschreibtisch noch kleiner wirkte als sonst, machte ein ratloses Gesicht. Er bearbeitete gerade ein paar Kanzleiunterlagen und hatte eigentlich nicht gestört werden wollen. »Sie sprechen in Rätseln«, bekannte er. »Normalerweise empfange ich keinen unangemeldeten Besuch. Bei Ihnen habe ich eine Ausnahme gemacht, weil ich annahm, es sei wichtig. Kommen Sie bitte zur Sache.« »Ist Ihnen illegaler Handel mit Drogen wichtig genug?« fragte ihn die Chinesin. »Sie sind enttarnt, Fortrose. Die Presse berichtet bereits ausführlich über Ihr Doppelleben.« Sie legte die Folie auf seinen Schreibtisch. Siebzigjähriger Anwalt wegen Rauschgifthandels angeklagt! stand darauf zu lesen. Darunter war eine Fotografie des Angeklagten abgebildet. Neben dem Foto befand sich ein zweispaltiger Bericht. »Im Zuge meiner derzeitigen Ermittlungen stochere ich gerade ein bißchen im Medienbereich herum«, erklärte ihm Liao. »Dabei fiel mir zufällig diese aktuelle Meldung von Intermedia ins Auge. Finden Sie nicht auch, daß Ihnen der Dealer ziemlich ähnlich sieht?« Fortrose besah sich die Folie näher und schüttelte den Kopf. »Was für ein häßlicher Bursche.« »Sie beide haben sogar denselben Vornamen: Alex«, fuhr Liao fort. »Na ja, eigentlich heißt er Alexander. Und genaugenommen hat er den Anwaltsberuf seit drei Jahrzehnten nicht mehr ausgeübt. Drogengeschäfte erschienen ihm wohl lukrativer und weniger 219 anstrengend. Alexander Helmut Wagner ist gebürtiger Deutscher und treibt seit Jahren in Marseille sein Unwesen. Jetzt geht es ihm wohl endlich an den Kragen.« »Solchen gewissenlosen Verbrechern ist nur schwer beizukommen«, entgegnete Wallis' Firmenanwalt und legte die Folie beiseite. »Jede Wette, daß er sich bald wieder auf freiem Fuß befindet. - Und nun heraus mit der Sprache: Was wollen Sie von mir? Sie sind doch nicht allen Ernstes gekommen, nur um mir diesen Medienbericht zu zeigen?« »Nein, damit wollte ich nur die Gesprächsatmosphäre etwas auflockern«, gab die Chinesin schmunzelnd zu. »Ich habe nämlich eine große Bitte an Sie.« Sie nahm Platz und ließ die Folie achtlos im Papierkorb verschwinden. »Ich weiß ja, daß Sie als Rechtsanwalt zum Schweigen verpflichtet sind, was Ihren Mandanten betrifft. Dennoch möchte ich Sie bitten, mir den momentanen Aufenthaltsort von Terence Wallis zu nennen, damit ich ihn über den Stand meiner Ermittlungen unterrichten kann. Seit fast einer Woche ist er wie vom Erdboden verschluckt.« »Wie kommen Sie darauf, daß ausgerechnet ich darüber informiert bin, wo Mister Wallis sich aufhält?« wunderte sich der Anwalt. »Seine Sekretärin gab mir den Tip«, antwortete Liao Morei. »Bevor Wallis zahlreiche Termine verlegen ließ und diverse Aufgaben auf die Schnelle delegierte, soll er am Vipho mit Ihnen gesprochen haben. Sie haben in Cleveland etwas für ihn erledigt.« »Nur belanglose Geschäfte«, erwiderte Fortrose. »Außerdem sollte ich die Hookers auffordern, umgehend ihren Urlaub abzubrechen und sich in Wallis' Büro zu melden.« »Art und Jane machten Urlaub in Cleveland?« »Sie hatten wohl gehofft, Wallis würde sie dort nicht vermuten. Doch sie haben ihn unterschätzt, er war jede Sekunde über ihren Aufenthaltsort informiert. Wahrscheinlich hat er den beiden einen Schatten angehängt, einen Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung. Darüber müßten Sie eigentlich besser Bescheid wissen als ich.« Liao winkte ab. »In letzter Zeit bin ich ständig im Sondereinsatz. Wallis betraut mich mit den seltsamsten Aufgaben. Der alte Fuchs plant etwas, aber bislang ist es mir noch nicht gelungen,
herausfinden, was in seinem Kopf vorgeht. Manchmal grübelt er tagelang über irgendwas nach. Dann wiederum trifft er Entscheidungen ganz spontan, einfach aus dem Bauch heraus. Ich werde nicht schlau aus ihm. Welchen Eilauftrag könnte er den Hookers erteilt haben?« Fortrose zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nichts Näheres, ehrlich. Soweit ich unterrichtet bin, sind beide in privater Angelegenheit nach Eden unterwegs.« »Wäre die Sache privat, hätten sie nicht ihren Urlaub abbrechen müssen. Nein, ich bin überzeugt, Wallis hat sie nach Eden geschickt. Oder ganz woanders hin - Eden könnte nur ein Vorwand sein. Möglicherweise befindet sich der Chef sogar mit an Bord der SEARCHER.« »Sie sind die engste Vertraute unseres Brötchengebers«, sagte der Anwalt und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. »Wenn die Zeit gekommen ist, wird er Sie garantiert in alle Einzelheiten einweihen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, aber ich habe noch viel zu tun und möchte pünktlich Feierabend machen.« Liao verabschiedete sich von ihm und verließ nachdenklich das Büro. Kaum war sie fort, holte Fortrose die Folie aus dem Papierkorb und nahm sie noch einmal näher in Augenschein. Anschließend stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich selbst. »Nie im Leben sieht mir dieser Strolch ähnlich«, murmelte er kopfschüttelnd. 221 Durchs Weltall reisen, fremde Sonnensysteme besuchen - noch vor wenigen Jahrzehnten war das als Wunschtraum unbelehrbarer Science-Fiction-Fans und -Autoren abgetan worden, die sich mit der Realität nicht abfinden wollten. Doch der Fortschritt hatte sich nicht zerreden lassen. Was gestern noch mild belächelte Zukunftsphantasien waren, stellte heute die ganz normale terranische Wirklichkeit dar. Früher hatte der Weg ins All nur gut ausgebildeten Astronauten oder zahlungskräftigen Millionären offengestanden. Sonderlich weit waren die Sternenreisenden nie gekommen, ihren heimatlichen Himmelskörper hatten sie stets im Blickfeld behalten. Heutzutage, im April 2059, waren die nahegelegenen Planeten für jeden Bürger erreichbar, und die Terranische Flotte hatte inzwischen nicht nur fremde Systeme, sondern auch eine neue Galaxis erkundet. Augenblicklich war Drakhon zwar wieder in unerreichbare Ferne gerückt, doch das Wiedersehen mit den Galoanern, Owiden, Rahim, Nomaden und all den anderen Völkern dort war - vielleicht - nur eine Frage der Zeit. Über Flüge durchs All war schon viel geschrieben und berichtet worden. Unbekannte, endlose Weiten versetzten die Raumfahrer immer wieder aufs neue in Faszination und weckten die Abenteuerlust in ihnen. Allerdings durfte man die Gefahren, die da draußen überall lauerten, niemals unterschätzten. Deshalb mußten die Schutz- und Abwehreinrichtungen ständig erneuert und verbessert werden. Die engen Kapseln von einst hatte man längst ins Museum verbannt, es gab jetzt bequemere Raumfahrzeuge. Insbesondere die größeren Schiffe glichen fliegenden Häusern, manche stellten sogar Kleinstädte in den Schatten. Den Passagieren mangelte es an nichts - außer an uneingeschränkter Bewegungsfreiheit. Zwar existierten riesige Kreuzer, die man fast schon als eigene kleine Welt bezeichnen konnte, doch auch dort wurde man zwangsläufig mit einer unüberwindlichen Barriere konfrontiert: mit der Außenwand des Raumers. 222 Den Passagieren auf der SEARCHER erging es nicht anders. Zum Ende des Fluges hin kamen sie sich vor wie Vogelspinnen in einem artgerecht ausgestatteten Terrarium. Die regelmäßige Fütterung und der geregelte, höhepunktlose Tagesablauf machten sie träge, weshalb sie es kaum erwarten konnten, ihren Käfig zu verlassen und auf die Jagd zu gehen. Die Landung auf Eden stand kurz bevor. Jeder an Bord zog seine persönliche Reisebilanz. Terence Wallis war ein paarmal versucht gewesen, das in seinen Diensten stehende Spezialistenquartett in seine Pläne einzuweihen. Letztlich hatte er sich jedoch dafür entschieden, damit noch ein wenig zu warten. Da er mit seinen Überlegungen nicht über einen gewissen Punkt hinauskam und aufgrund seiner Geheimniskrämerei mit niemanden darüber
diskutieren konnte, hatte er sich während der zweiten Hälfte des Fluges weitgehend darauf beschränkt, die Freizeiteinrichtungen zu nutzen. Auch George Lautrec hatte sich die meiste Zeit über Zerstreuungen hingegeben. Mit seinen im kleinen Rahmen durchgeführten Berechnungen und Forschungen auf dem Carborit-Gebiet kam er schon seit geraumer Weile nicht mehr weiter. Er benötigte die Testergebnisse aus den Labors von Wallis Industries. Bevor er nicht wußte, wie die Versuche dort verlaufen waren, würde er mit Sicherheit keine Nacht mehr durchschlafen können. Robert Saam kannte die Testergebnisse ebenfalls nicht, was ihm allerdings keine sorgenvollen Gedanken bereitete. Er war fest davon überzeugt, daß auf Terra alles positiv und somit in seinem Sinne verlief. Daß er dennoch abends mitunter nicht sofort in den Schlaf fand, lag an seiner Unzufriedenheit mit sich selbst, genauer gesagt mit seinem unbefriedigenden Privatleben. Zwar hatte er sich redlich Mühe gegeben, Regina während der Reise menschlich näherzukommen, aber er schaffte es einfach nicht, seine Schüchternheit zu überwinden und ihr seine Zuneigung offen einzugestehen. Regina Lindenberg wußte seine Nähe zu schätzen. Robert war in 223 schöner Regelmäßigkeit zu ihr in die Bordbibliothek gekommen und hatte sich lesend zu ihr gesellt. Beide hatten in den vergangenen Tagen so manches interessante wissenschaftliche Gespräch geführt, ohne jedoch ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Hin und wieder war Saram Ramoya mit hinzugekommen und wie ein lüsterner Kater um Regina herumgestreunt. Irgendwann war ihm das Spiel allerdings zu langweilig geworden. Während Saams Anwesenheit war er sich jedesmal vorgekommen wie das dritte Rad am Tretroller - einem primitiven, oft totgesagten Kinderspielzeug, an dem auch Erwachsene ihren Gefallen fanden, und das schon seit vielen Jahrzehnten. > Lediglich für die Hookers war die Zeit wie im Fluge vergangen - im wahrsten Sinne des Wortes. Als Besitzer und Piloten der SEARCHER hatten sie ständig gut zu tun gehabt. Im übrigen betrachteten sie den diskusförmigen Raumer als ihr Zuhause. Davon hatten sie mittlerweile mehr als eines. Aloha auf Eden war für sie wie eine zweite Heimat. Der zwi-, sehen Tropen und Subtropen gelegene Inselkontinent verfügte in etwa über die Landmasse Chinas. Zusammen mit den zahlreichen Inselgruppen ringsherum und den Aloha umgebenden Wasserflächen nahm der hookersche Privatbesitz 2,5 Prozent der Oberfläche Edens ein. Die SEARCHER landete auf einer Aloha vorgelagerten Insel im Tropengürtel. Dort hatten sich Art und Jane von Robotern ein gemütliches Strandhaus bauen lassen. In einiger Entfernung vom Haus war ein Stück Strandfläche betoniert worden; es diente als Landeplatz. Sanft setzte das Raumschiff dort auf, ein Routinemanöver, das die beiden Grundstückseigentümer schon mehrmals vollzogen hatten. Es war hellichter Tag auf diesem Teil des Planeten. Die Passagiere verließen das Schiff, welches ihnen rund fünf Tage lang als fliegende Unterkunft gedient hatte. Eben noch hatten sie sich über die »Enge« innerhalb des Diskusraumers beklagt -nun strebten Saam, Lautrec, Ramoya und Lindenberg mit ihrem Handgepäck dem Strandhaus zu, als ob sie darin das Paradies erwartete. Lediglich Terence Wallis schlug eine andere Richtung ein. Er schritt dem Meer entgegen. In der Nähe des Hauses gab es eine anheimelnde Badebucht, nur einen kurzen Fußweg entfernt. Wallis zog es jedoch nicht nach dorthin, sondern zu den niedrigen Klippen, die dem einstöckigen Strandhaus direkt gegenüberlagen und an denen sich fortwährend das Wasser brach. Immer wieder stürmte die See heran, zog sich wieder zurück, startete einen erneuten geräuschvollen Angriff... da kein Unwetter herrschte, brandeten die Wellen nicht allzu hoch, so daß sich Wallis den Klippen gefahrlos nähern konnte.
Neben einem von sanften Fluten glattpolierten Felsen blieb er stehen - das war nahe genug. Tief atmete er die gesunde Seeluft ein. Ein sanfter, beruhigender Wind wehte durch sein zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes langes Haar. Weiter draußen schlug das Meer an ein Korallenriff. Nach einer Weile drehte sich Wallis langsam um und vergewisserte sich, daß die anderen bereits ins Haus gegangen waren. Niemand konnte ihn jetzt hören. Der Multimilliardär wandte sich wieder der See zu, holte noch mal tief Luft und stieß dann einen langgezogenen, markerschütternden Schrei aus. Mit mächtiger Stimme brüllte er gegen das um die Klippen tosende Meer an. Das war seine Art, diesen Planeten in Besitz zu nehmen. Erst als seine Lungen nicht mehr mitspielten, senkte er seine Stimme. Das Brüllen des Meeres war stärker als er. Es klang wie eine Warnung. Was maßt du dir an, Menschlein? Glaubst du wirklich, du könntest mich bezwingen? »Keine Sorge«, sprach Wallis heiser in den Wind. »Ich werde nicht zulassen, daß hier dieselben unverzeihlichen Fehler gemacht werden wie auf Terra. Eden wird für seine zukünftigen Bewohner 225 mehr sein als ein Objekt gnadenloser Ausbeutung. Wir werden dich behandeln wie einen guten Freund.« Terence Wallis drehte sich um und ging gemächlichen Schrittes auf das Strandhaus zu, dessen Front in Richtung der Klippen zeigte. Irrte er sich, oder war das Gebäude tatsächlich als Quadrat angelegt worden? Die Maße der Vorderfront schienen auf den ersten Blick mit den seitlichen Abmessungen identisch zu sein. Terence hatte allerdings nicht die Absicht, das ganze nachzumessen. Direkt über dem ersten und einzigen Stockwerk befand sich ein mit Gras und bunten Wildblumen bepflanztes Flachdach. Einen Dachboden gab es offensichtlich nicht. Wallis vermutete, daß sich die Hookers statt dessen ein Kellergeschoß angelegt hatten. Unter der Erde war es mit Sicherheit kühler als unter dem Dach. Sämtliche Fensterrahmen waren mit Fliegengittern ausgestattet. Zwar konnte Wallis nirgends stechfreudige Insekten entdecken, aber Art und Jane hatten sich bei dieser Maßnahme sicherlich etwas gedacht. Möglicherweise wimmelte es hier am Abend von kleinen Blutsaugern. Augenblicklich bevölkerte lediglich Schmetterlings- und käferähnliches Kleingetier die warme, sonnendurchflutete Luft. Beim Betreten des Hauses staunte der Milliardär nicht schlecht. Dort, wo sich normalerweise die Haupteingangstür hätte befinden müssen, gab es lediglich zwei niedrige Schwingtüren wie im Eingang zu einem Western-Saloon. Nicht gerade ein sicherer Einbrecherschutz, dachte Wallis. Als ihm bewußt wurde, daß sich derzeit nur eine Handvoll Menschen auf Eden aufhielt, schmunzelte er über diesen Gedanken. Diebe gab es weit und breit keine. Wie er kurz darauf feststellte, hatten die Hookers dennoch einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Zu seiner Linken befand sich im Mauerwerk eine stabile, bewegliche Tür, die jederzeit elektronisch ausgefahren werden konnte. Vermutlich ließen sich die Fensteröffnungen bei Bedarf auf ähnliche Weise verschließen, mittels 226 versteckter Fensterläden. Dadurch wurde das Haus im Fall eines Angriffs zu einer kleinen Festung. Wallis hielt nach verborgenen Waffen Ausschau, konnte aber keine entsprechenden Wandöffnungen entdecken. Der Eingangsbereich hielt, was die originellen Schwingtüren versprachen. Art und Jane hatten den Vorraum ähnlich einem Saloon eingerichtet - mit kleinen Tischen sowie bequemen
Polstersesseln anstelle von harten Holzstühlen. Es gab sogar eine richtige Theke mit einem breiten Spiegel dahinter. Ein Wallis-Billigroboter, der während der Abwesenheit seiner Besitzer Haus und Grundstück versorgte, schenkte den Gästen Getränke ihrer Wahl ein und servierte sie auf ferngesteuerten Schwebetabletts. Saam & Co. hatten es sich in den Sesseln bequem gemacht. Ihr Handgepäck hatten sie rundum auf dem Fußboden verteilt, irgendein Roboter würde es nachher sicherlich auf ihre Zimmer bringen. Die Hookers betraten ihr Haus. Cash und Carry befanden sich in ihrer Begleitung und trugen ihre Gepäckstücke. Cash hüllte sich in Schweigen, aber Carry ließ sich, angesichts der Unordnung auf dem Boden, zu einer unfeinen Bemerkung hinreißen. »Dreitägiger Fisch taugt auf keinen Tisch. Und dreitägiger Gast wird einem oft zur Last.« »Willkommen in der Villa Paradiso, liebe Freunde«, fuhr Art dem Kegelroboter rasch ins Wort, bevor er begann, ausführlich über den Sinngehalt seiner boshaften Anmerkung zu philosophieren. »Unser Robotbutler zeigt Ihnen nachher gern die Gästezimmer. Sie können zwischen sieben verschiedenen Einrichtungsstilen wählen. Zur Auswahl stehen Rokoko, Biedermeier, zwanzigstes Jahrhundert, griechisch-römisch, Modern Art, geheimnisvolles Persien oder die Präsidentensuite.« »Die nehme ich«, stellte Wallis sogleich klar. »Wird der jeweilige Flair mittels Holoprojektion erzeugt? Oder haben Sie all den Kram von Terra nach Eden transportiert?« 227 »Kram?« entrüstete sich Jane. »Jedes Möbelstück, jeder Teppich und jeder sonstige Einrichtungsgegenstand wurde von meinem Mann und mir sorgsam ausgesucht - bei angesehenen Antiquitätenhändlern. Die Einrichtungspläne wurden von namhaften terrani schen Architekten entworfen und von unseren Robotern perfekt umgesetzt.« »Aber weshalb so viele unterschiedliche Stilrichtungen?« wollte der Milliardär wissen. »Beabsichtigen Sie, hier einen Hotelbetrieb aufzuziehen?« »Hier?« entgegnete Art. »Auf gar keinen Fall. Zwar könnte man über den Bau einiger Hotels an anderer Stelle nachdenken, zu einem späteren Zeitpunkt, aber dieser herrliche Platz bleibt uns und unseren Privatgästen vorbehalten. Wir wollten unser schönes Strandhaus lediglich besonders abwechslungsreich ausstatten. Bei dem vielen Geld, das Wallis Star Mining abwirft, können wir uns solche Vergnügungen leisten.« Er sagte das voller Schadenfreude, denn er wußte, daß Terence Wallis jeder Cent wurmte, den er laut Vereinbarung an die Hookers abdrücken mußte. Auch daß sie sich mit Aloha das »Filetstück« des Planeten herausgepickt hatten, ärgerte ihn. Doch Vertrag war nun einmal Vertrag, das hatte er auch in Bezug auf seine Abmachung mit Trawisheim einsehen müssen. Art gab Cash die Anweisung, das Gepäck der Gäste aufzusammeln und in die gewünschten Zimmer zu bringen. Der Roboter kam dem Befehl sofort nach, und weil Arbeit bekanntlich fröhlich macht, stimmte er die Arie »Letzte Rose« aus der romantischkomischen Oper »Martha« an. Daß es sich dabei eigentlich um eine traurige Arie handelte, ein Abschiedslied, das einer irischen Volksweise nachempfunden worden war, war ihm nicht bewußt -schließlich war er nur eine tumbe Maschine. Cashs Interpretation war so stimmungsvoll, daß man meinen konnte, sich von einem geliebten Menschen zu trennen sei eine lustige Sache. Wallis war zufrieden mit seiner Suite. Die das Zimmer umspannende Fototapete zeigte das Mount Rushmore National Memorial, und an den Wänden hingen Bilder von weiteren, nicht nur amerikanischen Staatsoberhäuptern. Ansonsten war die Suite so luxuriös ausgestattet, wie man es als Präsident eines weltweit bekannten Unternehmens erwarten konnte. Selbst das obligatorische Zigarrenkistchen fehlte nicht. Robert Saam hatte sich für das Zwanzigste-Jahrhundert-Zimmer entschieden, Regina Lindenberg für Rokoko, und George Lautrec gesellte sich zu den Griechen und Römern.
Saram Ramoya war es egal, wo er wohnte. Cash brachte sein Gepäck ins BiedermeierZimmer - dabei war der Inder alles andere als bieder. Obwohl Siegar von ansehnlicher Gestalt war, zählte er auf seinem Heimatplaneten Burun zu den Kleinwüchsigen. Seine dreibeinigen Artgenossen überragten ihn im Durchschnitt um eineinhalb Impf. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er nur selten unter Burunier ging und statt dessen lieber mit seinem Weltraumgleiter fremde Galaxien besuchte. Es bereitete ihm Freude, neue Welten zu entdecken, besonders dann, wenn die Bewohner dort kleiner waren als er und fasziniert zu ihm aufsahen. Der in einem Kugelhaufen gelegene Planet, auf dem er diesmal gelandet war, schien leider überhaupt nicht bewohnt zu sein, jedenfalls nicht von intelligenten Lebewesen. Siegar konnte nur primitive Daseinsformen ausmachen. Er beschloß, hier eine kleine Reisepause einzulegen und verließ seinen Gleiter. Grüne Büsche und Bäume, knallbunte blühende Blumen, klare Meere und Seen... und dazwischen immer wieder weite Freiflächen. Dieser Planet war ein Naturparadies ohnegleichen, geradezu prädestiniert zum Besiedeln. Siegar legte sich ins Gras, lehnte seinen viereckigen Schädel gegen einen Baumstamm, schloß für einen Moment den Sehschlitz ließ seine Phantasie spielen. Er stellte sich bildlich vor, wie 228 229 sich die fremdartige Atmosphäre dieses Planeten positiv auf seinen Körperwuchs auswirkte und wie er zum Riesen mutierte. In neuer monströser Gestalt kehrte er nach Burun zurück und verbreitete dort Angst und Schrecken unter denen, die ihn wegen seiner Kleinwüchsigkeit immer verspottet hatten... Der Burunier verscheuchte seine düsteren Phantasien, öffnete den Sehschlitz und stand auf. Er nahm sich vor, in Zukunft keinen Gedanken mehr an seine Körpergröße zu verschwenden. Wahre Größe kam schließlich von innen. Was nutzte einem Lebewesen seine mächtige Statur, wenn es dumm war wie Grüff? Siegar wollte zu seinem Raumgleiter zurückkehren, da senkte sich ein großer, tief schwarzer Schatten auf ihn herab. Ein riesiger Rachen öffnete sich, und zweihundertsechzig spitze Zähne schnappten gnadenlos zu. Der unvorsichtige Sternenreisende wurde innerhalb weniger Augenblicke zermalmt und verschlungen. Von einem Urbewohner des Planeten, einem kolossalen fleischfressenden Saurier, dessen Gehirn nicht größer war als ein Staubkorn. : Der Saurier war der letzte Überlebende seiner Art, ein Einzelgänger, und sein erbärmliches Dasein bestand nur aus Fressen und Überleben. Daß er soeben einen anderen Außenseiter verzehrt hatte, war ihm nicht bewußt, und hätte man es ihm mitgeteilt, er hätte es aufgrund seiner mangelnden Intelligenz überhaupt nicht registriert. Noch während er auf seinen säulenartigen Beinen da-vonstapfte, hatte er den blutigen Vorfall bereits vergessen... »Was ist das für ein merkwürdiges Gestell auf Ihrem Kopf?« er" kundigte sich George Lautrec bei Art Hooker. Der Prospektor saß in seinem Zimmer in einem Sessel, mit Blickrichtung zur Tür. Obwohl er leicht weggetreten wirkte, registrierte er, daß jemand den Raum betreten hatte. Art trug ein brillenähnliches Gerät, das er jetzt absetzte. »Ich hatte angeklopft«, entschuldigte sich der Kanadier, »aber es hat niemand reagiert. Haben Sie vergessen, daß wir uns gestern zu einem Rundflug über Eden verabredet haben?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Hooker und schaute auf sein Wandchronometer. »Ich habe unter dem Sensorium nur nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangenen ist.« »Sensorium?« wiederholte Lautrec. »Davon habe ich schon gehört. Diese Geräte sind angeblich der letzte Schrei.«
»Wenn Sie Stillschweigen bewahren, leihe ich es Ihnen mal aus«, versprach Art ihm. »Jane war dagegen, daß wir uns so ein Ding zulegen, deshalb habe ich mir eines heimlich gekauft. Gerade eben habe ich es zum ersten Mal ausprobiert. Einfach phantastisch! Holographie ist dagegen kalter Kaffee!« »Und? Was haben Sie sich angeschaut?« »Eine Filmerzählung über einen heimatvertriebenen Außerirdischen, der auf einem unbesiedelten Planeten von einem Saurier gefressen wird. Den Chip gab's gratis als Werbegeschenk - entsprechend ist auch die Handlung einzustufen. Glücklicherweise habe ich mir noch drei weitere Chips gekauft, mit einer Dokumentation über Giftspinnen auf der Venus, einem englischen Edgar-Wallace-Krimi und der Neuproduktion eines weltberühmten Musicalklassikers.« Art Hooker ließ das Sensorium in seiner Schreibtischschublade verschwinden, in welcher auch die zusätzlichen Chips lagen. Anschließend begaben sich George und er zu Wallis und den anderen, die bereits hinter dem Haus auf sie warteten. Dort stand startbereit ein großer Gleiter. Angesichts der vielen Sitzplätze argwöhnte Wallis, daß die Eheleute den Gleiter nicht ausschließlich für eigene Zwecke zu verwenden gedachten. Offensichtlich spielten sie mit dem Gedanken, bezahlte Rundflüge für Touristen anzubieten. In puncto Geschäftstüchtigkeit lernen sie allmählich dazu, achte Wallis anerkennend, während sich der Gleiter in die Lüfte 230 231 erhob. Dabei liegen noch gar keine aktuellen Besiedelungspläne vor. »Gibt es hier eigentlich Saurier?« fragte George Lautrec, in Anspielung auf die SensoriumSzene, die Art ihm geschildert hatte. »Mir sind noch keine begegnet«, erwiderte der Prospektor, der neben ihm saß. Gesteuert wurde der Gleiter von einem Blechmann, so daß sich alle Passagiere voll und ganz auf die Besichtigungstour konzentrieren konnten. Edens Durchmesser war mit dem Terras fast identisch. Auch sonst hätte man Eden durchaus als »Erde zwo« bezeichnen können. Ozeane dominierten die Oberfläche, die nur zu einem guten Drittel von Landmassen bedeckt waren. Acht unterschiedlich große Kontinente (Aloha mitgezählt), die teilweise aneinandergrenzten, bildeten die »Landfraktion«. Sechs davon waren noch ohne Namen, da bislang nur provisorische geographische Karten angefertigt worden waren. Bevor die Gruppe zu den übrigen Kontinenten aufbrach, zeigten Art und Jane ihren Gästen Aloha in seiner ganzen Pracht. Nicht nur Sommerurlauber würden hier auf ihre Kosten kommen. Im ewigen Schnee eines hochalpinen Gebirges hatten sie sich eine rustikale Skihütte bauen und gemütlich einrichten lassen - natürlich von Robotern. Die Hookers hatten allerdings nicht vor, Touristen zu bewirten. Aloha sollte ihr »kleines« Privatparadies bleiben. Auch die übrigen Landstriche konnten sich sehen lassen. Der gesamte Planet sah aus wie eine unberührte Erde. Wallis hatte auf dem Hinflug sämtliche Informationen über Eden studiert, so daß er sich nun als Reiseführer betätigen konnte. »Nach Edens Entdeckung wurden hier zahlreiche Robotsonden ausgesetzt. Sie haben weder gefährliche Keime noch sonstige Lebensformen ausmachen können, die dem menschlichen Organismus schaden könnten. Auch sonst drohen künftigen Siedlern keine Gefahren. Die Vögel und Säugetiere sind friedfertig. Um auf ihre Frage nach Sauriern zurückzukommen, George: Der größte Landbewohner ist ein sechsbeiniges, einäugiges Irgendwas, das ungefähr Dackelgröße hat und bisher über keine biologische Bezeichnung verfügt.«
»Wie steht es mit den Meeresbewohnern?« erkundigte sich die Schweizer Biologin. »Die Meere sind fischreich«, antwortete Terence Wallis. »Gefährliche Unterwasserräuber scheint es keine zu geben.« »Keine Haie oder Muränen?« staunte Saram Ramoya. »Bisher nicht«, erwiderte der Milliardär trocken. »Jedenfalls nicht, bevor sich die ersten Geschäftsleute angesiedelt haben.« Der Besichtigungsflug wurde in gemäßigten Breiten fortgesetzt. Dort hatten Roboter eine große Zahl von Billigunterkünften für die geplante Notevakuierung der Menschheit gebaut. Nun wurden die primitiven Gebäude von denselben Blechmännern wieder abgerissen - wie bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Eine Gruppe von sechs Männern und Frauen überwachten die Arbeiten. Als sie den Gleiter erblickten, winkten sie den Insassen zu. Art wies den Roboter an, im Kreis zu fliegen und dabei die Scheinwerfer ein paarmal aufblinken zu lassen. Der Blechmann kam dem Befehl zwar nach, betonte aber, den Zweck dieses seltsamen Flugmanövers nicht zu begreifen. »Warum läßt du die Unterkünfte eigentlich abreißen, Terence?« erkundigte sich Robert Saam bei seinem Freund und Gönner. »Über kurz oder lang soll Eden doch sowieso besiedelt werden.« Wallis nickte. »Mehr über lang als über kurz. Da wir uns mit der Besiedelung jetzt viel Zeit lassen können, brauchen wir uns nicht auf billige Baracken zu beschränken, sondern können solide Häuser errichten. Die ersten Baupläne sind bereits in Arbeit. An diesem Platz werden jedoch keine Wohnsiedlungen entstehen. Ich beabsichtige, hier meine neue Firmenzentrale einzurichten. Nach und nach soll mein gesamter Firmensitz nach Eden verlagert werden.« »Einfach so?« wunderte sich Jane Hooker. »Müssen Sie nicht 232 233 erst mit der Regierung darüber verhandeln?« »Dhark und Trawisheim sind raus aus dem Rennen«, erklärte Wallis. »Eden gehört jetzt ausschließlich Wallis Star Mining. Im Klartext: Ihnen und Ihrem Mann gehört Aloha - der Rest des Planeten ist mein Privatbesitz. Ohne meine Einwilligung darf sich hier niemand ansiedeln. Übrigens plane ich, die Industrie prinzipiell unter der Erdoberfläche verschwinden zu lassen, nach dem Vorbild der Rahim, von deren Lebensumständen mir berichtet wurde. Eden soll weitgehend seinen natürlichen Charakter behalten.« »Und um uns das mitzuteilen, haben Sie uns nach hierher verschleppt?« fragte Regina Lindenberg. »Hauptsächlich wollte ich euch einen Vorschlag unterbreiten. Ich beabsichtige, die erste Gruppe Siedler so bald wie möglich nach Eden zu verbringen. Handverlesene, risikobereite Freiwillige, deren Dossiers ich mir persönlich vornehmen werde. Ich möchte, daß ihr vier Sie, George, Sie, Regina, Sie, Saram, und du, Robbie - euch dieser Pioniergruppe anschließt. Ihr werdet die Spitze einer Elite bilden, die Eden zum wirtschaftlich wichtigsten Planeten des bekannten Weltalls machen wird, ohne das vorhandene Paradies aus Leichtsinn und Unvernunft zu zerstören.« »Abgelehnt«, äußerte sich Robert Saam unmißverständlich. »In Pittsburgh habe ich exakt die Arbeitsbedingungen, die ich für meine vielfältigen Forschungen benötige. Du hast bislang von meinem Genius nicht schlecht profitiert. Wenn das so weitergehen soll, darfst du mich keinesfalls in diese Einöde abschieben.« »Wir werden auf Eden neue Labore und Werkstätten errichten«, versicherte ihm der Multimilliardär und fügte pathetisch hinzu: »Größer und schöner als alles zuvor.« Robert verhielt sich weiterhin ablehnend. »Bis das neue Unternehmen den Standard des alten erreicht hat, bin ich alt und grau.« Nun schlug Lautrecs große Stunde.
»Ich weiß, wie Ihnen beiden geholfen werden kann«, verkündete er geheimnisvoll - und jeder im Gleiter spitzte die Ohren (bis auf den Roboter, der keine hatte). Spontane Geistesblitze waren eigentlich Saams Privileg. Doch George hatte einen Einfall, der sämtliche bisherigen Ideenrekorde um Längen schlug. Er sagte nur ein einziges Stichwort: »Carborit.« 234 235 13. In der Tat stand die Erron-Station den Terranern nun offen. Die Giants kooperierten mehr oder weniger bereitwillig. Sie blieben mißtrauisch. Wären sie reine Roboterkonstruktionen, hätten sie den neuen Anweisungen des Zentralen Controllo bedingungslos gehorcht. Aber sie waren eben auch lebendig, und der biologische Anteil leistete den Anweisungen des silbrigen Schlangenkörpers Widerstand, in dem sich die Hytronik verbarg. Sie wußten nur zu gut, daß sie bis vor kurzem noch die »Verdammten« bekämpft hatten. Und jetzt sollten sie mit ihnen zusammenarbeiten. Das gefiel ihnen nicht. Sie schienen zu ahnen, daß der jähe Sinneswandel des Controllo nicht mit rechten Dingen zuging. Aber sie hatten ihm zu gehorchen. Ren Dhark kam in die Zentrale der Station. Gisol hätte ihn liebend gern begleitet, konnte die POINT OF aber nicht verlassen. Die merkwürdige Strahlung war, wie sich bei einem weiteren Test mit einer unglücklichen Kakerlake herausstellte, auch innerhalb der Erron-Station wirksam. Also blieb dem Worgun nichts anderes übrig, als weiter in der POINT OF zu verbleiben und über Helmvipho Kontakt mit Dhark und den anderen zu halten. So mißtrauisch die Giants waren, so mißtrauisch zeigte sich auch Ren Dhark. Er traute diesen Wesen nicht über den Weg. Jedesmal, wenn er eines dieser raubtierköpf igen, gelbhäutigen Geschöpfe sah, mußte er an die Erde denken. An damals, als sie mit der POINT OF von Hope zurückkehrten und feststellen mußten, daß während ihrer Abwesenheit das Sol-System von den Giants besetzt und unterjocht worden war. Immer wieder tauchten die Bilder von mental versklavten Menschen vor ihm auf, deren Gehirne durch die CE-Strahlung der Giants zu Funkempfängern gemacht worden waren. Menschen als willenlose Marionetten, die ohne entsprechende Befehle der Invasoren nicht einmal essen oder 236 schlafen konnten... Die hiesigen Giants hatten damit nichts zu tun, das wußte er. Keines dieser Biostrukte, wie Gisol sie nannte, war jemals in der Milchstraße gewesen; vermutlich ahnten sie nicht einmal, daß ihre »Artverwandten« dort unter dem Befehl des CAL eigene Wege gegangen waren. Und doch - die einen wie die anderen waren Giants, und so wie jene in der Milchstraße nannten sich auch diese hier in Orn »All-Hüter«! Und die bösen Erinnerungen an die damaligen Kämpfe und Gefahren ließen sich nicht einfach beiseiteschieben. Der Verstand sagte Ren, daß eines mit dem anderen nichts zu tun hatte, aber das Gefühl schrie ihm zu, es mit Feinden zu tun zu haben. Zu bitter waren die Erinnerungen an einst. Giants und Mysterious... All-Hüter und Worgun. Die Zentrale der Station war riesig. Der Zentrale Controllo stellte nur einen kleinen Teil dar, und seit er unter dem Befehl des Checkmasters stand, hatte sich der Raum erheblich verändert. Wände waren im Fußboden oder in der Decke verschwunden. Der riesige Saal erinnerte Ren an Erron-1, war aber dennoch anders aufgebaut. Teilweise kam es ihm so vor, als hätte man hier mehrere Ringraumerzentralen ineinander verschachtelt. Der Kommandositz immerhin war unverkennbar.
Dhark nahm darin Platz. Er versuchte, Kontakt mit der Gedankensteuerung der Station zu bekommen und hatte auf Anhieb Erfolg. Auf diesem Weg setzte er sich mit dem Zentralen Controllo in Verbindung. Er verlangte Informationen. Die kamen mit kurzer Verzögerung. Offenbar war der Controllo von sich aus doch nicht ganz so kooperativ, aber der Checkmaster zwang ihn dazu, sein Wissen preiszugeben. Er stellte die höhere Instanz dar, und an dieser kam der Controllo nicht vorbei. Er hatte dem Vorrangbefehl zu gehorchen, und der verlangte, Ren Dhark die angeforderten Informationen zur Verfügung zu stellen. So erfuhr der Commander, daß die POINT OF als »das Schiff der 237 Meister« in der Gaswolke erwartet worden war, daß der Zentrale Controllo aber »überrascht« darüber war, daß sie von »Verdammten« gelenkt wurde. »Wir wurden erwartet?« hakte Dhark nach. »Wieso?« Der Controllo teilte ihm mit, daß die entsprechende Information vom Planeten Golden gekommen war - natürlich nannte er eine andere Bezeichnung, aber es war völlig klar, welche Welt damit gemeint war. Über Vipho rief Dhark die Funk-Z der POINT OF an. »Feststellen, ob während unseres Aufenthalts auf Golden oder später ein Hyperfunkspruch vom Planeten hierher geschickt wurde.« »Negativ, Dhark«, meldete Funker Elis Yogan kurz darauf. »Nichts gespeichert. Wenn es tatsächlich einen solchen Funkspruch gegeben hat, dann wurde der auf einer Frequenz gesendet, die von der POINT OF nicht erfaßt werden kann. Hätte mich auch stark gewundert, wenn uns da irgendwas entgangen wäre. Übrigens, Commander, ich habe eben mal die Echokontrolle benutzt und Golden abgetastet. Dort gibt's ein paar hundert sende- und empfangsklare Hyperfunkgeräte.« Das paßte. Wie auf Babylon, mußten auch die Goldenen Menschen von Golden mit leistungsstarken Sendern und Empfängern ausgerüstet sein und nicht nur als unwahrscheinlich stark bewaffnete Wächter fungieren. Dennoch blieb rätselhaft, auf welche Weise die POINT OF hier avisiert worden war. Der Zentrale Controllo ließ sich darüber nicht weiter aus. Statt dessen verdeutlichte er Dhark, daß das »Schiff der Besiegten« nicht in die Wolke einfliegen sollte. Dharks Rückfrage ergab, daß mit diesem Begriff eindeutig die EPOY gemeint war. »Controllo, nach welchen Kriterien unterscheidest du zwischen dem >Schiff der Meisten und dem >Schiff der Besiegtem? Wie kannst du Unterschiede treffen und definieren?« Darauf antwortete der Controllo nicht. In diesem Fall übte auch der Checkmaster keinen Druck aus. Offenbar war die Frage irrelevant. 238 Zumindest für die Logik der beiden Superrechner. Aber immerhin ließ der Controllo sich dazu herab, klarzustellen: »Das Schiff der Besiegten ist von den All-Hütern zu untersuchen und gegebenenfalls zu zerstören.« »Das wird keinesfalls gestattet«, sagte Ren Dhark. »Diese Anordnung hat untergeordnete Priorität. Dem Schiff der Besiegten wird der Weiterflug oder die Rückkehr nicht gestattet.« »Aber die POINT OF darf weiterfliegen?« »Das Schiff der Meister soll in seinen Aktionen nicht eingeschränkt werden«, gab der Controllo zu verstehen. »Eine schützende Begünstigung des Schiffes der Besiegten kann hingegen nicht toleriert werden.« Ren seufzte. Er nahm wieder Funkkontakt mit Gisol auf und berichtete ihm von dem, was er via Gedankensteuerung als Vermittler vom Controllo erfahren hatte.
»Eine Untersuchung und Zerstörung der EPOY ist indiskutabel«, sagte Gisol scharf. »Das müssen wir diesem verdammten Controllo begreiflich machen. Die EPOY ist mein Schiff. Was damit geschieht, bestimme nur ich und niemand sonst, schon gar nicht ein größenwahnsinnig gewordener Hyperkalkulator, der als Controllo fungiert. Ren, ich versuche das über den Checkmaster dem Controllo klarzumachen, ja?« »Wenn du's schaffst... meinen Segen dazu hast du«, erwiderte der Commander, fragte sich aber, auf welche Weise Gisol den Checkmaster zu einer solchen Aktion bringen wollte. Und er fragte sich, wie der Controllo seine Forderungen durchsetzen wollte, obwohl er vom Checkmaster kontrolliert wurde. Wie erwartet, kam es zu Schwierigkeiten - allerdings auf beiden Seiten. Der Zentrale Controllo bestand nach wie vor auf seiner Forderung, und der Checkmaster konnte ihn davon nicht abbringen. Es schien, als sei das Grundprogramm des Hyperkalkulators nicht zu knacken. Fünf Giants hielten sich seit einer halben Stunde in der Zentrale der Erron-Station auf. Sie ignorierten die Terraner und gingen friedlich ihrer Arbeit nach, worin auch immer diese bestehen mochte. Dennoch blieben die Cyborgs wachsam und mißtrauisch. Sass und Oshuta, der kleine Japaner mit dem Temperament einer Quecksilberkugel, hielten sich bereit, Dhark jederzeit zu schützen. Einmal sah der Commander zu Artus hinüber, der sich ebenso wie die Cyborgs immer noch vor Ort befand. Er fragte sich, wie der Roboter mit dem Controllo hätte zurechtkommen wollen, wenn das schon der Checkmaster nur teilweise schaffte. »Wenn das Mistding weiter Widerstand leistet, baue ich's aus und werfe es auf den Schrott«, drohte Arc Doorn an. Im gleichen Moment richteten fünf Giants, die sich seit ihrem Dienstantritt nicht für die Terraner interessiert hatten, ihre Strahlwaffen auf den Sibirier. Schlangenzischen wurde laut. Die Giants dachten keine Sekunde lang daran, daß kein Terraner ihre Sprache verstand. Aber sie selbst verstanden die Sprache der Cyborgs! Nicht nur Sass und Oshuta, sondern auch die anderen hielten plötzlich ebenfalls ihre Blaster in den Händen, und selbst Artus demonstrierte deutlich, daß er bewaffnet und durchaus bereit war, seine Waffe gegen die Biostrukte einzusetzen. »Sieht so aus, als hätten die Giants etwas dagegen, daß Sie den Controllo zerlegen wollen, Doorn«, vermutete Dhark. »So wie Smith etwas dagegen hat, daß sie seine EPOY zerlegen«, knurrte Doorn. »Offenbar kommen wir alle nicht richtig miteinander klar. Wenn wir wenigstens die Giants verstehen könnten - die verstehen nämlich verdammt gut, worüber wir uns unterhalten!« Ungeachtet der Strahlwaffen ging Dhark auf die Giants zu und blieb direkt vor einem von ihnen stehen. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um dem vierarmigen Riesen ins Raubtiergesicht sehen zu können. »Mach dem Zentralen Controllo begreiflich, daß er 240 zerstört wird, wenn er weiter auf seiner unannehmbaren Forderung beharrt! Aber so, wie ihr uns nicht zwingen könnt, die EPOY auszuliefern, könnt ihr uns auch nicht an der Zerstörung des Controllo hindern. Auch mit euren lächerlichen Waffen nicht!« Er griff zu und nahm dem völlig überraschten Giant den Blaster aus der Hand, warf ihn weit von sich. »So einfach geht das, Freundchen. Und jetzt erzähl deinem Controllo, woran er ist!« > : Geradezu wütendes Schlangenzischen war die Antwort. Plötzlich redeten alle fünf Giants wild durcheinander, bis einer von ihnen sich plötzlich an seinen Arbeitsplatz zurückbegab und Eingaben an einem Tastenfeld machte. Blitzschnell war Artus neben ihm, um ihm auf die Finger zu sehen.
»Ach, so machen die das«, sagte er dann. »Wenn wir das vorher gewußt hätten, hätten wir uns nicht mit dem Öffnen der Verkleidung herumplagen müssen! Diese Bedienungskonsole ist viel besser als die interne! Unser Mister Smith scheint, was die Technik seines Volkes angeht, nicht gerade auf dem aktuellsten Stand zu sein.« Doorn trat neben den Commander. »Dhark, hatten Sie eben vor, Selbstmord zu begehen, als Sie dem Giant fast auf die Füße getreten sind? Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.« »Sie doch nicht, Are!« erwiderte Ren. »Ich gebe zu, daß mir bei der Sache nicht ganz wohl war, aber ich habe darauf vertraut, daß die Giants nicht deshalb auf mich schießen würden, und gehofft, die Cyborgs mit ihrer überlegenen Reaktionsschnelligkeit würden Schlimmeres verhindern. Manchmal muß man einfach bereit sein, ein Risiko einzugehen. Erinnern Sie sich an den Singu der Rateken? Bei dem half auch nur, ihm gehörig auf die Finger zu klopfen und seine Frechheit mit eigener zu beantworten.« »Und beide Male hatten Sie unverschämtes Glück und Cyborgs n Ihrer Seite... irgendwann werden Sie es mal übertreiben, Commander.« m. 241 Plötzlich meldete sich der Zentrale Controllo über die Gedankensteuerung. Es wird zugesichert, daß das Schiff der Besiegten nicht zerstört und wieder freigegeben wirdy sofern bei der Untersuchung keine versteckte Gefahr festgestellt wird. Die Untersuchung muß unter allen Umständen erfolgen. »Na, das ist doch schon mal ein Kompromiß«, sagte Dhark trok-ken. »Wenn jetzt auch Gisol einen Schritt vorwärts macht...« Gisol zögerte, diesen Schritt zu tun. Er wollte wissen, was der Zentrale Controllo mit »versteckter Gefahr« meinte, doch der Controllo wollte sich dazu nicht näher äußern. Einmal mehr drohte alles zu versacken. »So kommen wir doch nicht weiter«, drängte Dhark. »Einer wird nachgeben müssen. Es geht nicht an, daß wir uns weiter unter ständiger Bedrohung für die EPOY in dieser stellaren Wolke bewegen, oder daß diese Bedrohung auch in anderen Bereichen Orns auftritt! Wir müssen hier und jetzt zu einem für uns zufriedenstellenden Ergebnis kommen!« Aber hier trafen Sturköpfe aufeinander - ein sturer Mysterious und ein sturer Rechner, der von Mysterious konstruiert worden war. Nach einigem Hin und Her erklärte sich Gisol dann aber doch endlich damit einverstanden, daß die Giants sein Schiff untersuchen durften. Aber er verlangte eine verbindliche Zusage, daß die EPOY nicht zerstört werden dürfe. »Falls der Controllo sich nicht an diese Zusage hält, fliege ich mit der POINT OF einen Angriff und zerstöre diesen verdammten Hyperkalkulator«, drohte er an. »Vergiß nicht, daß die POINT OF mein Schiff ist«, erinnerte ihn Dhark. »Der Controllo wird sich daran halten, weil der Checkmaster ihn überwacht. Das reicht, Gisol! Oder hast du tatsächlich etwas an Bord zu verbergen, das als >versteckte Gefahr< erkannt werden könnte?« »Unsinn!« knurrte der Worgun wütend. »Ich kann's nicht fassen! Früher waren Roboter unsere Diener, und jetzt soll ich mich den Wünschen eines Roboters beugen? Den Wünschen eines Rechenknechts? Begreift das Ding überhaupt nicht, wen es vor sich hat?« »Einen Besiegten, Gisol«, sagte Ren Dhark. »Die alten Zeiten sind vorbei, waren es schon vor deiner Geburt. Wer auch immer hinter dieser Programmierung des Controllo steckt, er weiß nur zu gut, daß dein Volk keine Rolle mehr spielt auf der kosmischen Bühne. Tut mir leid...« Gisol schwieg einige Minuten lang. Dann erklang seine Stimme wieder aus dem Helmfunk: »Die Biostrukte sollen die EPOY untersuchen. Ich öffne die Haupteingangsschleuse. Aber
wenn die nur einen Fehler machen, ist das das Ende des Controllo und vielleicht der ganzen Station.« Der neunundzwanzigjährige Sensationsreporter Bert Stranger war altersmäßig schwer einzuschätzen. Sein untersetzter Körper wies rundliche Pölsterchen auf, und auf seinem kanonenkugelförmigen Kopf zeigten sich die ersten Geheimratsecken. Allerdings trug er sein rotes Haar so kurz, daß letztere nur bei genauem Hinsehen auffielen. Zudem verfügte er über kindliche Gesichtszüge, die dem unschuldigen Antlitz eines Babys ähnelten. ^ Bert hielt sich in einem Linienjett auf, hoch über den Wolken, auf dem Flug nach Frankreich. Er war, wie so oft, im Auftrag von Terra-Press unterwegs und einer heißen Sache auf der Spur. Obwohl er ein Vollprofi war, hätten ihn seine Recherchen diesmal beinahe nicht nur das Leben, sondern auch die Seele gekostet. Und schuld daran war das Sensorium... Eine bislang noch anonyme Firma hatte es mit großem Werbe242 243 aufwand auf den Markt geworfen. Rein äußerlich sah das Gerät lediglich wie ein Kopfhörerbügel mit einer glaslosen Brille aus, keine große Besonderheit also - aber das Sensorium hatte es in sich! Es übertrug Bilder und Töne direkt ins Bewußtsein seines Trägers und stellte damit jede technisch noch so perfekte Holoauf-nahme in den Schatten. Obwohl man für den Erwerb des Geräts, das leicht zu bedienen war, ein paar tausend Dollar lockermachen mußte, schien der Untergang von Holo-TV und Holo-Kino bereits absehbar zu sein. Der Konkurrenzsender Intermedia stellte bereits auf Sensoriumstechnik um, so daß Terra-Press bald wohl oder übel würde nachziehen müssen. Oder auch nicht. Strangers Ermittlungen führten derzeit in eine Richtung, die sämtliche Pläne der (noch) unbekannten Sensorium-Vertreiber zunichte machen konnte. Am eigenen Leib hatte er erfahren müssen, wie schädlich die Geräte für ihre Träger waren -wenn man eine ganz spezielle Art von Chip einsetzte. Die handelsüblichen, nicht gerade billigen Chips enthielten harmlose Aufzeichnungen, Filme, die man nach Belieben immer wieder abspielen konnte. Es gab auch die Möglichkeit, leere Chips zum Selbstbeschreiben zu kaufen. Damit ließen sich eigene Filme aufnehmen und hinterher ebenfalls so oft abspielen, wie man wollte. In beiden nahm man Bild und Ton wahr, als wäre man leibhaftig dabei, ein Effekt, der mit den gewohnten Hologrammen bisher nur unzureichend erzeugt wurde. Zu unerwünschten Nebenwirkungen kam es nicht. Das Sensorium mit seinen normalen, bei jedem Händler erhältlichen Chips war demzufolge eine tolle Sache. Doch da gab es noch eine weitere Art von Chip, die sich während des Abspielens automatisch löschte und daher jeweils nur ein einziges Mal verwendet werden konnte. Damit spürte man die gespeicherten Geschehnisse wesentlich intensiver. Sie drangen so tief in das menschliche Gehirn ein, daß es dem Sensoriumsnutzer während der Anwendung unmöglich war, Fiktion und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Sämtliche Sinne wurden angesprochen, man erlebte die aufgezeichnete Handlung, als wäre sie vollV kommen real. Entsprechend der Natur des Menschen waren die in diesem System aufgezeichneten Erlebnisse überwiegend sexueller Art. Hinterher fühlte man sich fix und fertig, aber auch unendlich glücklich und befriedigt, zumindest für eine Zeitlang. Beit Stranger hatte mehrere jener Chips bis zur Neige ausgekostet und die wildesten Sexabenteuer »erlebt«. Und mit jedem neuen Datenträger hatte es noch eine Steigerung gegeben, bis hin zu Praktiken, die ihn zum Schluß hin entsetzt und abgestoßen hatten und die er bei klarem Verstand strikt abgelehnt hätte. Den ersten Speicher dieser Sorte hatten ihm zwei Unbekannte nach einem Überfall gewaltsam aufgenötigt. Danach hatte er es kaum erwarten können, weitere zu erhalten. Er hatte sie
bekommen, über zwielichtige Kanäle aus anonymer Hand - unter der Bedingung, daß er seine Nachforschungen in puncto Sensorium einstellte. Stranger hatte sich gefügt, seine heiligsten Prinzipien achtlos über Bord geworfen, seine Seele dem Teufel verkauft... Fast schon zu spät hatte er begriffen, daß er süchtig nach den Intensivchips war, schlimmer als ein Drogenjunkie. Erst als ihn seine unbekannten Peiniger unverhohlen aufgefordert hatten, bei den kommenden Wahlen eine bestimmte Partei - die Fortschrittspartei - zu unterstützen, hatte er gehandelt und sich einer lebensgefährlichen Entgiftung unterzogen, bei der sein Blut komplett ausgetauscht und ein Teil seiner Erinnerungen gelöscht worden war. Der geheilte Journalist besaß jetzt noch neun volle Intensivchips. Würde er auch nur einen einzigen davon verwenden, wäre er sofort wieder süchtig. Unheilbar süchtig, denn eine zweite Entgiftungstortur würde er nicht mehr überleben. Vor dem Abflug hatten ihn die beiden Unbekannten erneut überfallen und versucht, ihn wieder abhängig zu machen. Doch Sam Patterson, der oberste Chef von Terra-Press, hatte seinem besten Mann vorsichtshalber einen Roboter-Leibwächter mitgege244 245 ben: Theta 3. Der Blechmann hatte den Verbrechern keine Chance gelassen und sie kompromißlos getötet. Bert Stranger war unterwegs nach Le Puy, um dort ein zweites Mal Veronique de Brun von der Firma Biotechnologique aufzusuchen. Das französische Unternehmen, das zu Wallis Industries gehörte, war auf den medizinisch-technischen Bereich spezialisiert. Der Reporter hoffte, dort eine Möglichkeit zu finden, die von den Intensivchips erzeugten Impulse zu analysieren. Bei seinem ersten Besuch hatte ihn die brünette, leicht unterkühlte Veronique ziemlich unfreundlich abgefertigt. Inzwischen wußte sie über fast alles Bescheid; er hatte sie per Vipho eingeweiht und auch seine über-standene Sucht nicht unerwähnt gelassen. Die Wissenschaftlerin war bereit, ihm einen halben Tag ihrer wertvollen Arbeitszeit zu opfern. Zwei wichtige Vorkommnisse hatte Bert ihr bisher verschwiegen. Er würde sie zu gegebener Zeit davon unterrichten. Während des Fluges war ihm eine Stewardeß aufgefallen, die anfangs fahrig und nervös wirkte, sich den Passagieren aber kurz darauf gut gelaunt und euphorisch präsentierte. Das hatte ihn mißtrauisch gemacht. Unauffällig hatte er sich zum Personalabteil begeben und einen Blick hineingeworfen. Seine Befürchtungen waren bestätigt worden. Auf einem Hocker hatte das Gestell eines Sensoriums gelegen. Welche Chipsorte gerade verwendet worden war, daran gab es für Bert nicht den geringsten Zweifel. Eine rasche Inaugenscheinnahme des Gerätes bestätigte seinen Verdacht. Offensichtlich war er nicht der einzige, den seine unbekannten Widersacher, die geheimnisvollen Drahtzieher im Hintergrund, süchtig gemacht hatten. Wie viele Menschen haben sie inzwischen wohl unter Kontrolle? fragte er sich. Werden sie alle gezwungen, die Fortschrittspartei zu unterstützen? Das war der Stand der Dinge, als Bert Stranger auf dem Flughafen von Lyon eintraf. Am Jettport wartete ein Firmenschweber von 246 Biotechnologique auf ihn und Theta 3. Von dort aus ging es weiter zu der kleinen, im kargen französischen Zentralmassiv gelegenen Ortschaft Le Puy. Die dreißigjährige Veronique de Brun war die Standortleiterin der hiesigen Firmenniederlassung. Sie staunte nicht schlecht, als Stranger in Begleitung eines Roboters ihr Büro betrat. »Respekt, Euer Gnaden reisen mit eigenem Diener«, spöttelte sie, während sie hinter ihrem Schreibtisch hervorkam. »Theta 3 ist nicht mein Diener, sondern mein Leibwächter«, stellte Bert richtig.
»Sieh an, der prominenteste unter den prominenten Starreportern leistet sich neuerdings eine Leibwache«, stichelte de Brun weiter. »Fürchten Sie sich so sehr vor mir, daß Sie einen Blechmann zu Ihrem Schutz benötigen? Keine Sorge, ich werde mir jeden Annäherungsversuch verkneifen, und das fällt mir nicht einmal Schwer.« »Schade, daß die beiden Typen, die mich auf dem Jettport von Alamo Gordo überfallen haben, nicht ebenso zurückhaltend waren«, entgegnete Stranger scharf. »Dann wären sie jetzt noch am Leben. Theta 3 hat kurzen Prozeß mit ihnen gemacht. Der Oberkörper des ersten Angreifers wurde von einem Strahlenschuß glatt durchschlagen. Das ging so schnell, daß er es gar nicht mitbekam und noch bei seinen letzten Atemzügen die Waffe auf mich anlegte. Daraufhin schoß ihm der Roboter den Unterarm weg. Anschließend zerschmolz er den zweiten Angreifer mit beiden Blastern gleichzeitig. Der ätzende Geruch von verbranntem Menschenfleisch breitete sich überall im Raum aus... was ist denn, Made-moiselle de Brun? Sie spotten ja gar nicht mehr.« »So plastisch hätten Sie mir das ganze nicht zu schildern brauchen«, erwiderte die Frau mit belegter Stimme. »Ich wollte Ihnen nur begreiflich machen, wie ernst die Lage ist. Wenn wir nicht umgehend etwas gegen diese Verbrecher unternehmen, wird sich die Sensoriumssucht epidemieartig ausbreiten. Glauben Sie mir, ich übertreibe nicht, dieses Lumpenpack macht 247 vor niemandem Halt. Auf dem Linienflug hierher beobachtete ich eine Stewardeß, die sich eine kleine Sensoriums-Arbeitspause gönnte - mit einem jener gefährlichen Chips im Gerät. Allmählich erlangt die Sache weltpolitische Bedeutung.« Veronique, die sich weiterhin von ihrer skeptischen Seite zeigte, forderte Bert auf, mit ihr zu kommen. Beide begaben sich in ihr Labor, wo eine kleine Mannschaft von Spezialisten bereits auf sie wartete. Alle machten sich kurz miteinander bekannt und anschließend an die Arbeit, denn Zeit war auch bei Biotechnologique bares Geld. Zunächst besah man sich die zehn mitgebrachten Chips oberflächlich von außen. Sie wiesen keine Besonderheiten auf. Als nächstes ließ sich Veronique den Chip mit der Nummer 1 gfeben, den der Journalist nach eigenen Angaben zuletzt abgespielt hatte. »Ein handelsübliches Billigprodukt«, stellte sie nach eingehender Überprüfung fest. »Absolut leer, verbraucht bis aufs letzte Bit. Was soll daran so außergewöhnlich sein? Sind Sie wirklich sicher, daß wir hier alle nicht unsere Zeit verschwenden, Mister Stranger?« Sie nahm einen weiteren Chip zur Hand, einen vollen. Bert hielt sie davon ab, den Chip in den Suprasensor einzulegen. »Warten Sie, ich muß Ihnen vorher noch etwas beichten. Ich habe Ihnen nämlich etwas verschwiegen.«; , »Ach ja?« entgegnete de Brun. »Was denn?« »Als man mir diese zehn Chips zuspielte, hatte ich noch einen aus einer früheren Lieferung übrig. Bratislav, ein Suprasensorspe-zialist, der mir noch einen Gefallen schuldig war, unterzog den elften Chip einer Analyse...« »Und was war das Ergebnis der Untersuchung?« »Ein total zerstörter Suprasensor mitsamt drei Monitoren.« Veronique blickte den Reporter ärgerlich an. »Und damit rücken Sie erst jetzt heraus? Wollten Sie mit Ihren verdammten Chips unsere Firma komplett ausradieren?« »Vielleicht passiert ja gar nichts, schließlich stammen die mitge248 brachten Chips aus einer neueren Lieferung«, meinte Stranger. »Isolieren Sie den Suprasensor trotzdem vorsichtshalber vom Firmennetz.« »Worauf Sie sich verlassen können«, erwiderte de Brun und leitete umgehend alles in die Wege.
Für den Versuch verwendete man einen älteren Rechner, auf den man notfalls verzichten konnte. Alle schauten gespannt zu, wie Veronique de Brun höchstpersönlich den Chip in den Aufnahmeschlitz schob - einen von den letzten neun vollen..... »Großartig! Wirklich großartig!« Veronique de Brun funkelte Bert Stranger böse an. »Eine Glanzleistung erster Klasse! Nie zuvor habe ich einen Suprasensor so schnell durchbrennen sehen. Das Innenleben des Geräts wurde komplett zerstört, genau wie der Chip. Haben Sie noch mehr solcher Zauberkunststücke auf Lager?« »Wir können das ganze noch achtmal wiederholen«, erwiderte der Journalist ungerührt. »Ich hatte Sie ja gewarnt, Mademoiselle de Brun. Das Programm hat eine Sicherheitssperre, die jeden unberechtigten Zugriff abwehrt und zerstörerisch wirkt. Offensichtlich ist gegen diese Chaosschaltung kein Kraut gewachsen. Tut mir leid, daß ich Sie überfordert habe.« »Überfordert? Mich?« Veroniques Stimme überschlug sich fast. »Wenn Sie glauben, ich würde aufstecken, irren Sie sich gewaltig, Mister Stranger. Ich laufe jetzt erst richtig zur Hochform auf.« Ihre Labormitarbeiter konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Offenbar hatte der Reporter bei Veronique de Brun den richtigen Nerv getroffen. Das Programm auf den Intensivchips zu entschlüsseln war für sie nun eine Frage der Ehre. »Was grinst ihr so blöd?« fuhr sie ihre Leute an. »Besorgt mir gefälligst einen neuen Suprasensor! Aber nicht irgendeinen, sondern den Suprasensor. Ich habe eine Idee, wie wir die verdammten 249 Chips überlisten können.« Wenig später wurde im Labor ein zweites Gerät aufgestellt. Gerät? Eine hochmoderne Anlage mit diversen Nebenstellen und mehreren Beobachtungsbildschirmen breitete sich über mehrere Tische aus. Es dauerte seine Zeit, bis alle Anschlußstellen miteinander verbunden waren. Anschließend wurde die Anlage vom übrigen Netz isoliert. »Normalerweise holt sich der Suprasensor die Daten vom Chip in einem Stück«, erläuterte Veronique ihren Plan. »Wir setzen eine Verzögerungsschaltung ein, die nur geringfügige Datenmengen durchläßt, kleinste Bits-und-Bytes-Häppchen sozusagen. Die analysieren wir dann Portion für Portion.« *»Könnte funktionieren«, meinte Stranger. »Könnte? Es wird funktionieren!« entgegnete Veronique selbstbewußt. »Falls es nicht klappt, nehme ich Ihre Einladung zum Essen an.« »Welche Einladung?« wunderte sich Bert. »Haben Sie ein schlechtes Gedächtnis?« stellte de Brun ihm die Gegenfrage. »Schon vergessen, daß ich Sie abblitzen ließ?« »Aber... aber das ist Wochen her«, stotterte der Journalist perplex. »Seinerzeit war es Februar, inzwischen schreiben wir den Monat April.« »Heißt das, Ihre Einladung hat keine Gültigkeit mehr?« »Doch, doch, natürlich gilt sie noch! Gesagt ist gesagt. Ich begreife nur nicht, warum Sie Ihre Meinung inzwischen geändert haben.« »Habe ich doch gar nicht«, widersprach Veronique. »Ich bin fest davon überzeugt, daß mein Plan funktioniert. Also werden Sie heute abend wieder einmal allein das Dinner einnehmen müssen. Aber das sind Sie ja sicherlich gewohnt.« Sie hat den Charme eines Kühlschranks, dachte Bert Stranger und verkniff sich jede weitere Bemerkung. Nachdem der Suprasensor entsprechend präpariert und mit dem nächsten Chip versehen worden war, versammelte sich das kleine 250 Forschergrüppchen im Halbkreis am Tisch. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es im Zimmer, als Veronique die Schaltung aktivierte.
Langsam, ganz langsam versuchte man, dem Chip seine Geheimnisse zu entlocken. Da
jeweils nur sehr geringe Datenmengen abgerufen werden durften, stellte man sich auf eine
harte Geduldsprobe ein.
Mit ersten konkreten Ergebnissen wurde erst in Stunden gerechnet.
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14. Strangers Robot-Leibwächter Theta 3 war der einzige im Labor, dem Warten nichts ausmachte. Teilnahmslos stand er etwas abseits im Raum, so als ginge ihn das ganze Geschehen um ihn herum nichts an. Hingegen wurde Berts Geduldsfaden auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Der SensoriumChip, den Veronique de Brun und ihr Team zu analysieren versuchten, gab seine Geheimnisse nur sehr zögerlich preis - genaugenommen überhaupt nicht. »Wieso dauert das so lange?« fragte der Journalist ungeduldig. »Weil wir nichts falsch machen dürfen«, antwortete de Brun. »Dieser Suprasensor ist keine Klapperkiste wie der vorige, sondern ein hochwertiges Spezialgerät auf dem allerneuesten Stand der Technik. Eine Zerstörung dieser Anlage wäre kein Bagatell-schaden, sondern eine Katastrophe. Wir gehen Schritt für Schritt vor, wie es mein Plan vorsieht. Wenn Ihnen das zu lange dauert, können Sie inzwischen ja einen Kaffee trinken gehen.« »Noch mehr Kaffee?« stöhnte Bert. »Mein Kreislauf fährt bereits Achterbahn mit mir. Mit dem rabenschwarzen Zeug, das eure Kantinenautomaten ausschenken, könnte man einen ganzen Straßenzug teeren.« »Wir rufen nur winzigste Datenmengen aus dem Chip ab«, fuhr Veronique unbeirrt fort. »Aus Sicherheitsgründen werden sie zunächst in kleinen Päckchen auf die Nebenstellen des Suprasen-sors verteilt und sorgfältig untersucht. Droht Gefahr, koppelt sich die betreffende Nebenstelle selbsttätig vom Suprasensor ab. Erst nach einer gründlichen Kontrolle fließen die Daten zurück zum Suprasensor, wo sie nach und nach zu einem Paket zusammengefügt werden.« »Und wann erfahre ich, was in dem Datenpaket enthalten ist?« hakte Stranger nach. »Sobald es uns gelingt, es aufzuschnüren«, informierte ihn einer 252 von Veroniques Assistenten. »Das hätte theoretisch längst der Fall sein müssen, aber...« »Aber was?« »... aber leider behält das Datenpaket seinen Inhalt hartnäckig für sich.« »Wahrscheinlich ist es noch nicht komplett gefüllt«, suchte de Brun nach einer Erklärung. »Um eine sinnvolle Analyse vornehmen zu können, benötigen wir offenbar eine bestimmte Mindestmenge an zusammenhängenden Daten. Deshalb erhöhen wir die Datenrate nach und nach in langsamen Schritten - ein Vorgang, der sehr viel Zeit beansprucht, will man keinen Fehler machen.« »Wo liegt das Problem?« fragte Bert Stranger. »Um bei Ihrem plastischen Beispiel zu bleiben: Inzwischen müßte doch wenigstens teilweise ersichtlich sein, was sich in dem Paket befindet.« »Ist es aber nicht«, entgegnete seine Gesprächspartnerin. »Die bisher heruntergeladenen Daten lassen sich partout nicht lesen. Der Chip scheint Informationen erst ab einer gewissen Größenordnung freizugeben. Ab wann genau das der Fall ist, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Wir müssen uns in Geduld üben.« Der Reporter seufzte. »Darin habe ich mittlerweile reichlich Übung. Was soll's? Hole ich mir halt noch einen Kaffee.« Gerade wollte er sich von seinem Stuhl erheben, da legte Veronique eine Hand auf seine Schulter. »Warten Sie, setzen Sie sich wieder hin. Ich glaube, es tut sich was.«
In der Tat kam endlich Bewegung in die Sache. Offenbar war die erforderliche Datenmenge erreicht worden. Einem Blick ins Innenleben des Sensorium-Intensivchips stand somit nichts mehr im Wege, wie es schien. Veronique hörte ihr Herz schlagen. Oder war es das von Bert Stranger, der wie gebannt auf den Suprasensor starrte? 253 Zunächst gab nur eine der angeschlossenen Nebenstellen ihren Präzisionsmaschinengeist auf. Der Bildschirm erlosch von einer Sekunde auf die andere. Weitere Monitore und sonstige Apparaturen folgten. Im Labor breitete sich der Geruch von durchgeschmorten Kabeln und zerschmolzenen Metallplättchen aus. »Experiment abbrechen!« rief Veronique de Brun, während sie verzweifelt versuchte, den unberechenbaren Chip aus dem Supra-sensor zu entfernen. »Trennt die beschädigten Geräte vom Hauptanschluß!« Ein sinnloses Unterfangen, schließlich ging die Störung hauptsächlich vom Suprasensor selbst aus. Zwar vergriff sich die Chaosschaltung zuerst an den angeschlossenen Nebengeräten, den Hauptrechner rettete das jedoch nicht, ihm wurde lediglich ein kleiner »Überlebensaufschub« gewährt. Als der Suprasensor geräuschvoll und funkensprühend durchbrannte, war vom Rest der Anlage kein Stück mehr heil. Einige Apparate wirkten äußerlich unversehrt, doch ihre Innereien hatten sich in eine breiige, schwarzsilbrige Masse verwandelt. »Gott sei Dank haben wir die Anlage vom übrigen Firmennetz isoliert!« bemerkte einer der Laborassistenten erleichtert. »Sonst wäre ganz Biotechnologique jetzt handlungsunfähig.« »Ist der Chip noch zu gebrauchen?« fragte Bert Stranger leichtsinnigerweise. Veronique warf ihm einen Killerblick zu, der ihn augenblicklich zum Verstummen brachte. Zu spät erkannte der Journalist, daß er besser seinen vorlauten Mund gehalten hätte. »Sie wagen es, sich nach Ihrem dreimal verfluchten Teufelschip zu erkundigen?« zischte ihn die Standortleiterin an. »Sind Sie eigentlich des Wahnes, Stranger? Vor meinen Augen wurde gerade eine unserer teuersten Computerlagen vernichtet. Sämtlichen Geräten wurde innerhalb von Sekunden das Lebenslicht ausgeblasen. Die Anlage wurde ausgetilgt, niedergemacht, ausgerottet mit 254 Stumpf und Stiel... und Sie Unglücksbringer machen sich Sorgen um das Teil, das die Katastrophe ausgelöst hat? Der Chip ist hin, und wäre er es nicht, dann würde ich ihn jetzt höchstpersönlich in seine Einzelteile zerlegen. Wie soll ich das bloß der Versicherung erklären?« »So ganz begreife ich immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist«, bekannte eine Laborassistentin. »Wir sind doch mit äußerster Vorsicht vorgegangen.« »Der Chip wurde offenbar so programmiert, daß er beim unbefugten Lesen der Daten als erstes die Chaosschaltung freigibt«, vermutete Stranger. »Befugtes Datenlesen erfolgt ausschließlich durch das Sensorium, alle sonstigen Geräte werden gnadenlos hingerichtet.« »Aber warum haben wir nicht vor dem Zusammenfügen der jeweiligen Datenpäckchen gemerkt, daß wir im Begriff waren, uns ein Kuckucksei ins Nest zu legen?« hakte die Assistentin nach. Diesmal kam die Antwort von Veronique. »Es ist nicht möglich, einzelne Abschnitte der Chaosschaltung zu analysieren, weil sie nur an einem Stück freigegeben wird, als datenmäßig kleines, aber überaus gefährliches Paket. Sobald es komplett ist, entwickelt es eine rasante Zerstörungswut, in dessen Verlauf sich der Chip letztlich selbst eliminiert. Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Der Schutz vor einer Entschlüsselung des Sensorium-Vollprogramms ist somit perfekt.« »Es gibt nichts Perfektes auf dieser Welt«, meinte Stranger. »Irgendeine Schwachstelle hat jeder - das gilt für Lebewesen und technische Apparaturen gleichermaßen.«
»Sagen Sie bloß nicht, Sie haben schon wieder eine Idee«, fuhr Veronique ihn ungehalten an. »Ich verzichte dankend, die beiden zurückliegenden Pannen reichen massig aus. Der halbe Tag, den ich Ihnen zugestanden habe, ist eh so gut wie um.« »Ein paar Minuten werden Sie schon noch entbehren können«, entgegnete der kugelige Reporter. »Im übrigen stammte die Idee, nur winzigste Datenmengen aus dem Chip herauszulassen und sie 255 erst nach gründlicher Überprüfung zu einem Datenpaket zusammenzufügen, nicht von mir, sondern von Ihnen. Ein genialer Einfall, wie ich zugeben muß. Leider waren die Programmierer jener speziellen Sensorium-Datenträger auf diese technische Möglichkeit vorbereitet. Eben deshalb müssen wir einen anderen Weg finden.« »Ich werde Ihren durchgeknallten Chips keinen dritten Suprasensor opfern«, machte de Brun ihm deutlich. »Wie viele volle Chips haben Sie eigentlich noch?« »Sieben. Und das zum Abspielen notwendige Sensorium habe ich ebenfalls mitgebracht - für einen ganz speziellen Test.« ff ; »Das Sensorium bleibt aus dem Spiel! Oder wollen Sie etwa ein weiteres Selbstexperiment an sich vornehmen?« »Keine zehn Pferde bringen mich jemals wieder dazu, mir ein Sensorium aufzusetzen«, versicherte Stranger ihr. »Ich benötige einen Freiwilligen.« »Das lasse ich niemals zu!« machte Veronique ihm unmißverständlich klar. »Wenn Sie glauben, ich würde einen meiner Assistenten überreden, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen...« »Sie verstehen mich falsch«, sagte Stranger und grinste sie frech an. »Ein Assistent käme bei der Bedeutsamkeit des geplanten Versuchs nicht in Frage. Ich dachte da an jemand wichtigeren.« Veronique de Brun wußte nicht so recht, was sie von Strangers Idee halten sollte. Manchmal entpuppten sich ja gerade die simpelsten Einfälle als die genialsten. Aber einem Roboter ein Sensorium aufsetzen...? Bert versuchte, ihre Zweifel zu zerstreuen. »Entweder es funktioniert, oder es funktioniert nicht. Was haben wir schon groß zu verlieren?« »Einen weiteren Chip und einen wertvollen Roboter«, antwor256 tete de Brun. »Wenn ich es mir allerdings recht überlege... Bio-technologique hat eine teure Suprasensoranlage eingebüßt. Wäre es da nicht ausgleichende Gerechtigkeit, wenn ausnahmsweise mal Terra-Press bluten muß?« »Theta 3 wird nicht durchbrennen«, war Stranger überzeugt. »Sein eingebauter Selbstschutz würde das Sensorium eliminieren, noch bevor es in ihm nennenswerten Schaden anrichten könnte. Im übrigen zieht er keine Daten direkt aus dem Chip, wie wir es mit den Suprasensoren versucht haben. Diese Aufgabe übernimmt das Sensorium, das bekanntlich von der Chaosschaltung als befugt akzeptiert wird. Somit wird die Schaltung erst gar nicht ausgelöst, und das Sensorium kann die freigegebenen Daten in Form von Sinneseindrücken an den Roboter weiterleiten. Theta 3 wiederum informiert uns über sein Sprachmodul, was er gerade sieht, hört und empfindet.« »Genau darin liegt Ihr Denkfehler, Mister Stranger. Diese Maschine auf Beinen kann rein gar nichts empfinden, sie kann auch nicht sehen oder hören wie wir Menschen. Das Sensorium wurde hergestellt, um die Gehirnströme von biologischen Lebewesen zu manipulieren. Hingegen wird das Zentralgehirn des Roboters die ausgestrahlten Sinnesreize überhaupt nicht wahrnehmen.« »Genau das möchte ich mit diesem kleinen Experiment in Erfahrung bringen. Ich muß wissen, ob das Sensorium auch auf Roboter Einfluß nehmen kann, und ich hoffe inständig, daß Sie recht haben, Mademoiselle de Brun, und daß Theta 3 unempfänglich für die Ausstrahlungen
des Gerätes ist. Nicht auszudenken, wenn der Test positiv verläuft. Dann könnten die
Hersteller des Sensoriums eines Tages riesige Robotarmeen befehligen.«
»Eine entsetzliche Vorstellung, aber ziemlich unrealistisch. Derlei Phantasien gehören in den
Bereich Science Fiction. Glauben Sie mir, Sie verpulvern nur unnötig einen Ihrer Chips.«
Bert kratzte sich am Kinn, dachte über Veroniques Worte nach. In der Tat würde er nach dem
Experiment nur noch über sechs dieser speziellen Chips verfügen. War es das wert?
257 Gewöhnliche Sensorium-Chips konnte er sich überall im normalen Handel besorgen, aber die
raren Intensivchips hatte er ausschließlich über seine unbekannten Peiniger bezogen. Diese
Quelle war nun versiegt. Leere Chips waren für weitere Tests und Analysen ohne jeden
Nutzen, er mußte daher sparsam mit ihnen umgehen.
»Nach Ihrem letzten Besuch habe ich mir übrigens ebenfalls ein Sensorium angeschafft«,
teilte ihm de Brun zu seiner Überraschung mit. »Meine Neugier war geweckt - und ich wurde
nicht enttäuscht. Ich tauchte in mehrere harmlose Erlebnis weiten ein und war total
fasziniert.« In ihrer Begeisterung ließ sie sich zu einem breiten Lächeln hinreißen - ein
hübscher, aber seltener Anblick. Die schöne Biotech-nologin war stets auf ein gewisses Maß
an menschlicher Distanz bedacht, und man sah sie nur im Ausnahmefall lächeln.
»Erstaunlich«, kommentierte der Reporter ihre spontane Begeisterungsbekundung. »Ich hätte
nicht gedacht, daß ausgerechnet eine gebildete Frau wie Sie Spaß an derlei profaner
Unterhaltung findet.« Augenblicklich wurde es wieder kühl im Raum.
»Mit Spaß hat das nichts zu tun«, behauptete sie. »Meine Nachforschungen auf diesem Gebiet
dienten rein wissenschaftlichen Zwecken. Im Anschluß an die Selbsterfahrungstests schloß
ich mein Sensorium an ein Analysegerät an. Dabei stellte sich heraus, daß tatsächlich nur
Deltawellen anzumessen waren.«
Stranger nickte. »So steht es auch in der Patentschrift. Aber wie verhält es sich, wenn das
Sensorium mit den Spezialchips gefüttert wird? Um das zu ermitteln, sollten wir gleich noch
einen weiteren Versuch mit dem Analysegerät anschließen. Nein, mir fällt gerade etwas
Besseres ein! Wir koppeln das Analysegerät an Theta 3. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit
einer Klappe. Erstens finden wir heraus, ob Roboter tatsächlich unempfindlich für Sensorium-
Ausstrahlungen sind. Zweitens können wir gleichzeitig die Wellenmessung vornehmen. Auf
diese Weise verbrauchen wir nur
einen einzigen Chip.«
»Sind Sie sicher, daß sich Theta 3 auf Ihr geplantes Experiment einläßt?« fragte ihn
Veronique. »Ich könnte mir vorstellen, er mag es gar nicht, wenn man ihm an seine Innereien
geht.«
»Der Roboter untersteht meinem Befehl und tut das, was ich ihm sage«, entgegnete Bert.
In wenigen Worten erklärte er seinem Leibwächter, was Veronique und er vorhatten.
»Negativ«, sagte die Maschine mit ihrer Metallstimme. »Mein Auftrag lautet, Sie zu
beschützen. Ich kann es daher nicht gestatten, daß Schaltungen an mir vorgenommen werden,
durch die meine Programmierung beschädigt oder gelöscht werden könnte.«
»Ich werde zum Ankoppeln des Analysegerätes einen erfahrenen Techniker hinzuziehen«,
sagte Veronique. »Er wird achtgeben, daß die bestehende Programmierung von unseren
Aktivitäten nicht berührt wird.« Theta 3 lehnte ihr Vorhaben erneut ab. »Negativ.«
»Positiv!« widersprach Stranger ihm ärgerlich. »Du bist verpflichtet, mich in jeder Situation
zu beschützen. Die am Sensorium durchgeführten Experimente und Messungen dienen
meinem Schutz. Dieses vermaledeite Gerät hat mich krank gemacht, und wenn es mir nicht
gelingt, herauszufinden, wie genau das vonstatten gegangen ist, könnte mir dasselbe noch
einmal zustoßen. Verweigerst du meinen BefehL fügst du mir damit unter Umständen
körperlichen und seelischen Schaden zu.«
Theta 3 schwieg zunächst. Sein Maschinengehirn war damit beschäftigt, das Für und Wider
von Strangers Argumentation abzuwägen. Offensichtlich bereitete ihm das Schwierigkeiten,
denn er wurde sichtlich unruhig.
»Hoffentlich habe ich seine Schaltkreise nicht allzusehr verwirrt«, flüsterte Bert Veronique
zu. »Wenn diese Blechkiste durchdreht, möchte ich nicht in der Nähe sein. Mein Erlebnis auf
dem Flughafen schreit nicht nach Wiederholung.«
Der Roboter griff nach seiner Schußwaffe.
»Ich betrachte jede technische Manipulation an mir als Angriff!« schnarrte seine mechanische
Stimme. »Ich habe das Recht, mich gegen Angriffe zu wehren. Ich werde Sie töten...!«
Der letzte Satz war an Veronique de Brun gerichtet.
260
15. In der POINT OF blieben Dan Riker und der Erste Offizier Hen Falluta vorsichtig und schauten Gisol sehr genau auf die Finger. Keinem war daran gelegen, daß der Worgun einen Amoklauf startete, falls das Resultat der Untersuchung anders ausfiel, als er es sich wünschte. Der Worgun fieberte vor Unruhe. Er konnte weder an Bord der EPOY gehen, um die Giants zu beaufsichtigen, noch konnte er sich in der Erron-Station bewegen. Hier wie dort war immer noch die rätselhafte Strahlung wirksam, die ihn sofort ausgeschaltet, wenn nicht sogar getötet hätte. Es gefiel ihm nicht, daß jemand sich in seinem Raumschiff bewegte, ohne daß er die Kontrolle darüber hatte. Schon bei Rani Atawa und Ren Dhark hatte er seine Bedenken geäußert. Aber jetzt wimmelte es plötzlich von Biostrukten an Bord! Sein Unbehagen war ihm deutlich anzusehen. Auf irgendeine Weise schienen bestimmte Regungen und Reaktionen typisch für humanoide Gestaltgebung zu sein; so wie die Tel in ihrer Körpersprache den Terranern glichen, glich ihnen auch Gisol in seiner Smith-Gestalt. Und das, obwohl er in seiner wahren Gestalt alles andere als humanoid war! Daß er seine Unruhe nur künstlich darstellte, um sie den Terranern deutlich zu zeigen, war mehr als unwahrscheinlich. Diese Unruhe ging so weit, daß er Juanita in die EPOY schicken wollte, damit sie ihm berichtete, was die Biostrukte da taten. Aber Riker hielt ihn davon ab. »Zu riskant«, warnte er. »Die Giants könnten das für eine Überwachungsmaßnahme ihrer Tätigkeit halten...« »... was es ja auch sein soll!« knurrte Gisol. »... und eventuell aggressiv reagieren. Außerdem bin ich nicht sicher, ob Juanita den Anblick dieser raub tierköpf igen, vierarmi261 gen Riesen seelisch verkraftet. Gisol, sie ist noch ein Kind!« »Sie hat auch meine Originalgestalt seelisch verkraftet«, konterte der Worgun. »Das ist etwas ganz anderes«, sagte Riker. »Ihr hat geholfen, daß sie Sie als eine Art Vaterfigur ansieht. Die Giants aber sind für sie Fremde. Fremde wie die Grakos, die ihre Mutter töteten. Fremde, die die Erde überfielen und die Menschheit versklavten.« »Diese hier doch nicht.« »Aber sie sehen genauso aus wie die anderen!« »Die sie höchstens aus Bildreportagen kennt.« »Bilder zu sehen und einem solchen Wesen direkt gegenüberzustehen, sind zwei verschiedene Dinge, Gisol. Hinzu kommt die Art, in der die Giants reden, dieses bösartige Schlangenzischen. Schicken Sie Juanita nicht zur EPOY. Oder Sie bekommen gewaltigen Ärger mit mir.« Widerwillig gab Gisol nach. Aber seine Unruhe und sein Unbehagen blieben.
Nach einigen Stunden beendeten die Giants ihre Überprüfung und teilten das Ergebnis mit.
Versteckte Geheimwaffen hatten sie nicht gefunden.
»Nichts anderes habe ich erwartet«, gab Gisol über Funk durch.
Per Gedankensteuerung setzte Dhark sich mit dem Zentralen Controllo in Verbindung. Da das
Untersuchungsergebnis negativ ausfiel, wirst du die EPOYalso freigeben, verlangte er.
Das widerspricht meiner Programmierung.
»Geht das jetzt schon wieder los?« seufzte Dhark. Den verständnislosen Blicken seiner
Mitarbeiter begegnete er mit einer kurzen Erklärung und sprach dann seine und die Rede des
Controllo laut mit. »An dem Punkt waren wir doch schon einmal! Deine Programmierung
steht hier nicht zur Debatte. Wir haben deine Zusage.«
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»Sie widerspricht meiner Programmierung.«
»Wir diskutieren nicht länger«, entschied Dhark. »Wir kehren sofort an Bord der POINT OF
zurück. Der Zentrale Controllo ist mit allen Mitteln zu vernichten. Ich setze das Hy-Kon ein.
Es wird punktuell begrenzt, so daß es nur den Controllo ausschaltet. Das schaffen Sie doch,
Doorn, oder?«
Der holte tief Luft. »Ja«, sagte er. »Natürlich. Ein Kinderspiel.« Er trat zu Dhark und flüsterte
ihm zu: »Wenn Sie mir verraten, wie ich das machen soll! Wir wissen ja nicht mal, wo die
Emitter eingebaut sind...«
Dan Riker meldete sich über Funk.
»Gerade teilt der Checkmaster mit, daß der Controllo die EPOY freigibt. Aber nicht, weil du
mit dem Hy-Kon drohst, Ren, sondern weil der Controllo sich der Autorität des Checkmasters
beugen mußte.«
Das Schiff der Besiegten wird freigegeben, meldete sich gleichzeitig der Controllo via
Gedankensteuerung.
»Du wirst noch ein wenig mehr freigeben müssen, mein lieber Zentraler Controllo«, verlangte
Ren Dhark. »Nämlich Navigationshilfen für uns. Wir verlangen eine detaillierte Karte dieser
Gas wölke, um uns darin orientieren zu können.«
Datenpaket wird freigegeben, bestätigte der Controllo.
Aber irgendwie schien in der mentalen Botschaft der Gedankensteuerung eine gehörige
Portion Wut mitzuschwingen...
Das dreidimensionale Kartenwerk wurde sofort in den Check-master und auf Dharks
Veranlassung von dort unverzüglich in den Bordrechner der EPOY überspielt. Die kosmische
Gas wölke trug den Namen »Gardas« - das Worgunwort für »Bastion«.
Dhark wechselte wieder zurück in die POINT OF. In der Astro-abteilung sah er sich mit
Riker, Gisol, den Astronomen und den Astrophysikern die Karten an.
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Die Struktur der Gas wölke war genau zu erkennen.
Gardas war unregelmäßig geformt, bei einem durchschnittlichen Durchmesser von 370
Lichtjahren. Die Wolke war heiß, was sie schon selbst festgestellt hatten, und sehr aktiv. Es
gab eine Reihe von Bereichen im präsolaren Stadium. Das bedeutete, daß sich das Gas in
diesen Bereichen besonders dicht zusammenballte. Dabei heizte es sich so stark auf, daß hier
in einigen tausend Jahren Sonnen entstehen würden.
Was aber die Astronomen und Astrophysiker als höchst ungewöhnlich bezeichneten, war, daß
es in der Gaswolke keine bereits bestehende Sonne gab - von einer einzigen Ausnahme
abgesehen. Unter normalen Umständen hätte es, dem Alter der Galaxis Orn entsprechend, hier
längst mehrere junge Sonnen geben müssen.
»Was bedeutet das?« fragte Dan Riker.
Jerome Sheffield räusperte sich. Der Astronom balancierte eine Tasse Kaffee vor sich her,
deren aromatischer Duft den anderen verlockend in die Nase stieg. Der Himmel mochte
wissen, wo Sheffield immer wieder seine Vorräte echten Bohnenkaffees hortete, während andere sich mit synthetischem Gebräu zufriedengeben mußten. Dafür war er schon auf Hope berüchtigt gewesen. Und natürlich dachte Sheffield niemals daran, sein Geheimnis mit anderen zu teilen... »Das deutet darauf hin«, sagte er, »daß diese Wolke künstlichen Ursprungs ist.« Dabei sah er Jim Smith fast drohend an. »Offenbar haben die Worgun auch hier wieder mal mit Schöpfungskräften gespielt«, warf Sheffields Kollege Jens Lionel ein. »So wie sie in unserer Galaxis Sterne an andere Positionen verschoben haben... aber diese Wolke setzt allem die Krone auf.« »Kann ich was dafür?« murrte Gisol. »Sie sollten so etwas als einen Triumph der Technik ansehen und nicht dermaßen abschätzig darüber reden, als hätten meine Vorfahren mit ihren großartigen Experimenten Verbrechen begangen!« »Nun fühlen Sie sich doch nicht gleich in die Ecke gedrängt«, seufzte Sheffield und nippte am heißen Kaffee, um dann fortzufahren: »Schließlich sind wir Terraner und keine Zydingsbumse.« »Zyzzkt«, half Gisol aus. »Werd' ich nie aussprechen können«, brummte Sheffield. »Hätten diese Superwespen sich nicht einen vernünftigeren Namen aussuchen können?« »Vermutlich wird es den Zyzzkt ebenso schwer fallen, den Begriff Terraner zu artikulieren«, erwiderte Gisol spöttisch. »Klar. Worgun können sie auch nicht aussprechen. Deshalb haben sie Ihr Volk ja auch kleingemacht, Smith. Sie sollten unsere Bezeichnung übernehmen: Mysterious! Das ist für die Zischkatz sicher einfacher zu artikulieren, und sie lassen euch danach endlich in Ruhe...« »Sheffield«, drohte Riker. »Sie beleidigen unseren Freund und das ganze Worgunvolk. Wenn Sie weiter so idiotisch herumkaspern, lasse ich Ihnen den Mund mit Sekundenkleber schließen.« »Das wäre aber übel. Dann könnte ich ja keinen echten Bohnenkaffee mehr trinken«, seufzte der Astronom. »Um so mehr bleibt für uns andere übrig«, konterte Riker. »Könnten wir zwischendurch vielleicht auch mal wieder zur Sache kommen?« mahnte Ren Dhark. »Wir haben uns hier nicht versammelt, um über unaussprechliche Namen und Kaffee zu reden.« Sie kamen zur Sache. Und zu den Überraschungen, bei denen die einzelne Sonne nur eine von vielen war. Aus dem Kartenwerk ging hervor, daß es insgesamt 59 Stationen wie diese gab! Sie waren gleichmäßig über die Peripherie der Wolke verteilt, immer etwa 15 Lichtjahre vom Außenrand entfernt. Dhark erschauerte bei dem Gedanken an die Macht der Stationen und die unzähligen in ihnen stationierten Ringraumer. Die Gardas-Wolke war wirklich eine Bastion, im wahrsten Sinne des Wortes! Außerdem gab es ein feingesponnenes Netz mit Milliarden von Generatorstationen in den umkonstruierten Xe-Flash, die das Anti-Worgun- und Anti-Insektenfeld erzeugten. Es umfaßte Gardas wie eine Schale, reichte von der äußeren Hülle rund 50 Lichtjahre nach 264 265 innen. Somit gab es im Inneren der Wolke also offenbar einen Bereich von etwa 270 Lichtjahren Durchmesser, in dem dieses Feld nicht wirkte. »Eine Schale, die etwa 50 Lichtjahre stark ist«, überlegte Dhark leise. »Sieben mal sieben ist 49... und vier mal sieben ist 28, 280 oder auch 270 Lichtjahre, das paßt, und damit haben wir wieder die Basiszahl sieben der Mysterious...« »Die in diesem Fall aber irrelevant ist, Ren«, sagte Gisol. »Weil unsere Lichtjahre nicht unbedingt euren entsprechen. Meine Heimatwelt hat eine andere Umlauf zeit als eure. Aber
brauchst du diese Zahlenmystik wirklich, um auf meine Vorfahren als Konstrukteure dieser Wolke zu schließen?« Dhark lächelte. »Glaubst du selbst, daß sie es waren? Warum sollten sie dann ein Strahlungsfeld installieren, das gegen ihre eigenen Leute wirkt?« »Dann verstehe ich dein Spiel mit der Zahl sieben erst recht nicht«, erwiderte Gisol. »Vielleicht will uns jemand vorgaukeln, die Worgun hätten diese Gaswolke geschaffen?« »Ren, mit dir geht die Fantasie durch«, protestierte Riker, und Gisol stimmte ihm zu. »Laß uns auf dem Boden der Tatsachen bleiben, statt wilde Spekulationen in den Raum zu stellen. Alles, was wir in dieser Erron-Station gesehen und erlebt haben, ist Wor-guntechnik. Die Goldenen Menschen auf Golden, die uns hierher verwiesen, sind Worguntechnik. Verdammt, was willst du mehr? Früher hättest du dich blind darauf gestürzt. Und jetzt läßt du Zweifel zu? Mann, wer außer den Worgun wäre denn überhaupt in der Lage, so etwas zu erschaffen?« Der kleine rote Fleck an seinem Kinn zeigte sich wieder einmal, deutliches Zeichen für seine innere Erregung. »Lassen wir uns einfach überraschen«, sagte Dhark. »Und schauen wir mal nach, was uns Gardas noch alles zu bieten hat.« 266 Es blieb bei dem einzelnen Stern, der im Zentrum der Gaswolke existierte. Das Kartenmaterial gab nichts weiter darüber her; exakte Angaben fehlten»Vielleicht sollten wir unseren Freund, den Zentralen Controllo, danach fragen«, schlug Riker vor. Aber der Controllo gab zu verstehen, nichts über den einsamen Stern zu wissen. Weder ob er Planeten aufwies noch ob es Besonderheiten gab. Auch über die Wolke selbst besaß er bemerkenswert wenige Informationen. »Der lügt uns doch in die Tasche«, behauptete Riker. »Ein Rechner seines Formats und seiner Bedeutung muß doch über entsprechendes Wissen verfügen!« »Oder auch nicht... immerhin ist diese Station nur eine von 59, und nur für einen begrenzten Sektor der Wolke zuständig«, sagte Dhark. »Was deine Zahlenmystik übrigens am Boden zerschmettert«, sagte Gisol trocken. »56 wäre eine Siebener-Zahl - drei mehr liegt verdammt weit daneben.« Ren zuckte mit den Schultern. »Nimm's nicht so ernst. Ich denke aber, wir sollten diesen Stern anfliegen. Warum sonst hätten uns die Goldenen hierher schicken sollen? Nur, um das Anti-Feld zu erleben und uns mit Computern wie dem Controllo herumzuschlagen?« »Vielleicht war es der Weg in eine Falle«, gab Riker zu bedenken. »Das wäre schließlich nicht das erste Mal.« »Ich glaube nicht daran«, widersprach Dhark. »Sie hätten es einfacher haben können, uns zu vernichten.« »Denke an die Schranke hinter Soradan«, erinnerte Riker seinen Freund. »Entsinnst du dich der Inschrift auf jener Unitalltafel? >Es tut gut, sich gerächt zu haben, auch wenn die Rache erst später wirksam wird