BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 45
DIE TRÄUMENDE GALAXIS von Manfred Weinland Fernab unserer Milchstraße...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 45
DIE TRÄUMENDE GALAXIS von Manfred Weinland Fernab unserer Milchstraße kommt es in der Großen Magellanschen Wolke zum Showdown gegen die Virgh, die das einstige Reich der Foronen schon vor rund 30.000 Jahren zerschlugen. Die RUBIKON steuert unter dem Kommando von John Cloud eine gewaltige Raumstation an, zu der die PERSPEKTIVE, das Schiff der befreundeten Satoga, von den Virgh gelockt wurde. So zumindest scheint es – doch dann erfahren die Menschen, welche Rolle die Satoga wirklich spielen. Dass in Wahrheit sie der uralte Feind sind, gegen den die Virgh – und die hinter ihnen stehenden Jay’nac – die Magellanschen Wolken einst präparierten. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen einer gewaltigen Satoga-Flotte, die das bisherige Kräfteverhältnis kippen lässt, sieht sich die RUBIKON-Besatzung mit der nächsten Hiobsbotschaft konfrontiert: Ortungen ergeben, dass Hunderte von Sonnen der heimatlichen Galaxis spontan zu Supernovae entartet sind. Trifft der Verdacht der Satoga zu, dass die Jay’nac dabei sind, ihre Spuren in der Milchstraße zu verwischen – auf Kosten unzähliger Lebewesen?
1. Gegenwart Große Magellansche Wolke Umgebung des Virghstocks Selbst aus einer Entfernung von drei Lichtsekunden war die EXPANSION EINS ein Schiff, das fast alles in den Schatten stellte, was Cloud jemals zu Gesicht bekommen hatte. Schon die Form, eine Ellipse, war ungewöhnlich und schien so gar nicht zum bisher bekannten Satoga-Schiffstyp zu passen, dem auch Artas’ PERSPEKTIVE angehörte. Die Ausmaße des elliptischen Gebildes – siebzig mal dreißig mal zehn Kilometer – taten ein Übriges, um seine Imposanz zu unterstreichen. Im Gegensatz zu den zahlenmäßig am stärksten vertretenen Satoga-Einheiten, die äußerlich an Atommodelle erinnerten, besaßen die insgesamt 53 Ellipsen der Armada weder Aufsätze noch Ein- oder Ausbuchtungen – nicht einmal einen sichtbaren Antrieb. Waren sie die logistischen Zentren? Die Knotenpunkte, wo alle Fäden zusammenliefen und von denen aus die riesige Armada – die sich aus insgesamt 103.629 Schiffen zusammensetzte – koordiniert wurde? Artas’ Rückzug in eines dieser Gigaobjekte jedenfalls deutete darauf hin. Womit die Rolle und Position des Satoga, der sich selbst als Freund der Menschen bezeichnete, aber auch nicht durchschaubarer wurde. Dass er nicht aus der Kleinen Magellanschen Wolke, der Nachbargalaxis, stammte, wie ursprünglich behauptet, war inzwischen von ihm zugegeben worden. Auch die wahre Bedeutung der Virgh hatte er angedeutet: Offenbar waren sie nicht mehr als ein Dienervolk der Jay’nac, einer anorganischen
Spezies, die nach Clouds Kenntnisstand in der Milchstraße beheimatet war. Die Virgh hatten die Große Magellansche Wolke, in die es die RUBIKON verschlagen hatte, zu einem Bollwerk von astronomischer Größe ausgebaut, gegen den Erzfeind der Jay’nac, gegen die Satoga. Diesem Ausbau war das gesamte foronische Reich vor 30.000 Jahren zum Opfer gefallen – und ungezählte andere Völker, die irgendwann versucht hatten, den Schwerkraftfesseln ihrer Welten zu entkommen und das All für sich zu erschließen. Die Virgh schoben solchem Versuch seit Jahrzehntausenden einen Riegel vor und erstickten die Entstehung von Hochzivilisationen im Keim – nur um ihr Bollwerk stabil zu halten und für den Moment gewappnet zu sein, da der Urfeind den Weg in die Magellanschen Wolken finden würde! Was nun geschehen war... Doch die Virgh hatten die Satoga unterschätzt. Deren Entwicklung war in den letzten Jahrtausenden fraglos weiter fortgeschritten als die der Virgh. Es waren ungleiche Gegner, die hier aufeinander prallten. Aber die Bewunderung der überlegenen Technologie der Satoga war nur eine Seite der Medaille. Ihre Flotte erzeugte auch... Unbehagen. Noch immer standen offene Fragen zwischen Satoga und Menschen, und es musste sich erst herausstellen, was von Artas’ Beteuerungen, ihnen freundschaftlich gesinnt zu sein, zu halten war. Um dies aber herauszufinden, mussten sie miteinander sprechen. Länger und tiefschürfender als bislang geschehen. Artas hatte seine Einladung dazu ausgesprochen, und der vereinbarte Zeitpunkt rückte unaufhaltsam näher... »Was glaubst du? Warum hat Artas seine Einladung für das Treffen zurückgezogen?«, fragte Scobee, die neben Cloud auf dem leicht erhöhten Sockel der RUBIKON-Zentrale stand. Dort, wo sieben Sitze zu einem Kreis angeordnet waren, in
dessen Zentrum sich die Bildsäule bis zur Decke des domartigen Raumes erstreckte. In diesem holographischen Zylinder spiegelte sich das Weltall – die unmittelbare Nähe der RUBIKON mit dem eroberten Virghstock und den Flotteneinheiten der Satoga. Die Säule war in einzelne »Fenster« unterteilt, von denen jedes bestimmte Ausschnitte hervorhob. Der Virghstock dominierte eines dieser Segmente, die EXPANSION EINS ein anderes. Cloud löste den Blick und sah stattdessen Scobee an. »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler – oder auch nicht...« Er schnitt eine Grimasse. Sie hielten sich allein in der Zentrale auf. Von ihren Gefährten ging jeder einer anderen Beschäftigung nach. Sie hatten sich in ihre Kabinen oder an andere Stellen der RUBIKON zurückgezogen, seit klar geworden war, dass der Besuch auf der Satoga-Einheit EXPANSION EINS auf unbestimmte Zeit verschoben war. »Er wirkte... irritiert«, sagte Scobee, »als er sich meldete, um das Treffen zu canceln.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du es sagst. Du kennst ihn besser als ich, vielleicht am besten von uns allen. Ich persönlich vermag noch immer nicht viel aus seinen Gesichtszügen herauszulesen. Was aber mag geschehen sein, das ihn dazu bewegte, die Verabredung platzen zu lassen? Er...« SESHA unterbrach: »Ich baue jetzt die Simulation auf.« »Die Simulation?«, fragte Cloud etwas schwerfällig. »Die Auswertung der von den Satoga übermittelten Ortungsdaten ist abgeschlossen. Das Ergebnis ist eindrucksvoll.« Eindrucksvoll. Noch während Cloud über die Bedeutung dieses Wortes aus dem »Munde« einer KI nachsann, materialisierte die
heimatliche Milchstraße innerhalb der Holosäule. Sämtliche anderen Fenster schlossen sich wie die Facette einer antiken Kamera. Zurück blieb nur die Spiralgalaxie, deren Kern ein Super Black Hole mit mehr als 2,6 Millionen Sonnenmassen bildete. Dieser Kern geriet jedoch in die Bedeutungslosigkeit angesichts dessen, was SESHA in der Simulation markierte. Den Orionarm der Galaxis. »Was bedeuten die roten Punkte?«, fragte Cloud, obwohl er es bereits ahnte. Über den Seitenarm verstreut leuchteten nicht nur gelblich weiße Punkte, sondern auch Hunderte von düster rot glühenden Markierungen. SESHA legte ein Raster über den Orionarm. Der Raster entsprach den Maßgaben einer herkömmlichen Sternenkarte und war auf die Größenverhältnisse der Simulation abgestimmt. Im nächsten Moment wurden etliche der selteneren roten und der massenhaft vorhandenen gelblichen Punkte durch Namen ersetzt. Gelb kennzeichnete unauffällig gebliebene Sternensysteme, rot jene, deren Sonnen nach Meinung der Satoga zur Supernova entartet waren. Das Solare System blieb gelb. Cloud spürte, wie die Spannung abrupt aus ihm wich. Befreit atmete er durch. Scobee reagierte fast synchron in gleicher Manier. »Ich hoffe nicht«, unkte sie, »dass jetzt gleich SESHA-Joke 17 folgt, und sie uns trocken mitteilt: Moment, das war die falsche Darstellung, ich kehre die Markierung nun um...« Cloud war nicht nach Scherzen zumute. Auch jetzt nicht.
Denn glaubte und folgte man den Aussagen der Satoga, blieb der Tatbestand, dass die immer noch rot hervorgehobenen Milchstraßensonnen explodiert waren. Er beugte sich etwas vor und fragte: »Beruht die Namensgebung auf einem Abgleich mit den Daten, die uns Darnok seinerzeit über die CLARON-Welten überlassen hat?« Darnok. Während er den Namen aussprach, wurde ihm bewusst, dass der Außerirdische, der ihr wichtigster Verbündeter in den turbulenten Tagen nach dem Zeitsprung gewesen war, vielleicht schon nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sie hatten ihn in einer Lage auf der Erde zurückgelassen, die mit hoffnungslos noch milde umschrieben war. »Korrekt«, antwortete SESHA prompt. Cloud kniff die Augen noch stärker zusammen, neigte sich noch weiter nach vorne. »Dann sollte ich entweder ein paar Dioptrien zulegen – oder du erhöhst ein klein wenig die Schriftgröße«, knurrte er. Die KI gehorchte. »Hauptsystem der Ceyniden«, pickte sich Scobee eine beliebige Koordinate heraus. Sie machte eine kleine Pause und las an anderer Stelle: »Reichsplanet der Laschkanen.« Es gab Dutzende solcher Bezeichnungen, die aus Darnoks Datenbestand übernommen worden waren, und jede einzelne bedeutete, dass drüben in der Milchstraße an den genannten Positionen womöglich Milliarden Lebewesen gestorben waren. Eine Supernova ließ keine sie umlaufende Welt ungeschoren. Etwas anderes als deren totale Vernichtung war somit unvorstellbar... *** Der Friedhof der RUBIKON machte seinem Namen insofern alle Ehre, dass er ein abgeschiedener Ort war und
noch dazu einer, der nicht einmal auf den zweiten Blick wie der Bestandteil eines Sternenschiffes wirkte. Cloud hatte sich bei der Gestaltung selbst übertroffen. Als Einziger von ihnen war er in der Lage, Räumlichkeiten allein Kraft seines Geistes umzustrukturieren, ihnen ein neues, fast beliebiges Gesicht zu verleihen – sobald er sich in die Umkapselung seines Sarkophags zurückzog und eins wurde mit diesem Wunderwerk foronischer Hochtechnologie. Einem Raumschiff, das eine halbe Ewigkeit im Herzen des AquaKubus geschlafen und erst von ihnen – von Cloud, Scobee, Resnick, Darnok und ihm – aus seinem Schlummer erweckt worden war. Jarvis blieb einen Moment im offenen Trennschott stehen und nahm das Bild des Friedhofs in sich auf. So lange er die komplexeren Wahrnehmungsmöglichkeiten seines neuen Körpers ausgrenzte und seine Sensoren auf der Sehfrequenz arbeiten ließ, die dem menschlichen Auge am nächsten kam, konnte er vergessen, dass das, was er »sah« eine Kombination aus foronischer Holo- und Nanotechnik war. Es hatte tatsächlich den Eindruck, als läge vor ihm ein Friedhof, wie er in jeder Kleinstadt der Erde hätte vorkommen können – der Erde des 21. Jahrhunderts zumindest. Wie die Friedhöfe der Gegenwart aussahen, konnte Jarvis nicht beurteilen. Er hatte sich auch noch nie – bis jetzt – Gedanken darüber gemacht, obwohl Aylea es ihm vermutlich hätte sagen können. Sie war die Einzige, die »normal« auf der Erde aufgewachsen war. Bis zu dem unseligen Tag jedenfalls, als sie »auffällig« und vom gnadenlosen Machtsystem der Master ins Getto verbannt wurde. Jarvis löste sich von der Schwelle, und das Schott glitt leise hinter ihm zu. Im Anschluss schloss sich auch die Lücke in der Projektion, sodass es endgültig den Anschein hatte, als hätte er einen kleinen Stadtfriedhof betreten. Am Himmel stand eine
falsche Sonne, die viele Reihen falscher Gräber beschien. Bäume warfen Schatten. Vögel zwitscherten... Da waren dissonante Töne enthalten, weit entfernt von Perfektion. Jarvis nahm sich vor, Cloud darum zu bitten, die Vögel auszublenden. Sie störten die Illusion, der er sich hier hingeben wollte. Langsam ging er den Pfad entlang. Unter seinen Sohlen knirschte Kies. Überall waren Grabkreuze und -steine und Inschriften unterschiedlichster Art. Eine Mauer umlief die Ruhestätte. Darüber spannte sich ein Himmel wie an einem typischen Sommernachmittag im amerikanischen Südwesten. Jarvis blieb stehen. Sein Körper zeigte keine Reaktion, wie es ein lebender in diesem Moment sicherlich getan hätte. Wenn Wehmut ihn durchströmte. Wenn sich ein trauriger Kloß in seinem Hals bildete... All dies geschah nicht, während er sich bewusst wurde, wie viel dieser falsche Friedhof mit seiner früheren Existenz insgesamt gemein hatte. Er hatte seit jeher mit Fälschungen leben müssen. Falschen Erinnerungen an ein Leben, das er so nie gelebt hatte. Geboren in einem Labor, nicht in einem Mutterleib, und aufgewachsen im Zeitraffer: ein Klon, der mittels Wachstumsbeschleunigern binnen zweier Jahre zu einem äußerlich erwachsenen, körperlich imposanten Mann herangereift war, dessen Gehirn im Anschluss mit nie wirklich erlebten Erinnerungen geimpft worden war. Und wie ihm war es auch Resnick ergangen, mit dem er später auf seiner Odyssee in der Transportkapsel der RUBIKON so viel Echtes erlebt hatte. Scobee nicht. Scobee war ein Sonderfall. Sie war so alt, wie sie aussah. Dafür hatte sie anderes, nicht weniger Traumatisches erfahren müssen... Jarvis setzte sich wieder in Bewegung und erreichte kurze Zeit später die drei bislang einzigen wirklichen Gräber. Auf
einem war Resnicks Name verewigt, auf dem zweiten Boreguirs und auf dem dritten... Der meine. Er trat vor Boreguirs letzte Ruhestätte. Die Blumen, die darauf sprossen, waren real – Jelto hatte sie beigesteuert und kümmerte sich in regelmäßigen Abständen persönlich um sie, obwohl auch SESHA dazu in der Lage gewesen wäre. Er nannte es seinen Beitrag zum ehrenden Gedenken an die hier Begrabenen. Jelto war längst zu einem wahren Freund geworden. Zumal sie denselben unsichtbaren Stempel trugen, was ohnehin verband. Klone halten zusammen. Noch während er es dachte, wusste er, dass dies ein ebenso fragwürdiges Klischee war, wie der Standpunkt, dass Normalgeborene menschlicher als Klone seien. »Boreguir, alter Junge...« Er lauschte dem Klang seiner künstlichen Stimme, die ihm immer noch fremd war. »Ich wünschte, wir hätten etwas für dich tun können. Aber selbst SESHA musste passen.« Er stockte kurz und kniete nieder, als könnte er dem Toten dadurch näher kommen. »Was bist du nur für ein unglaublicher Kerl, dass nicht einmal die KI in der Lage ist, deinen Organismus zu begreifen. So zu begreifen, dass sie dich hätte reanimieren können. Ich wünschte, ich hätte noch andere wie dich kennen lernen können. Oder deine Heimat, die... außergewöhnlich sein muss, wenn sie Außergewöhnliches wie dich hervorbringt.« Eine Weile kniete er nur da und ließ Boreguir in unterschiedlichsten Erinnerungssequenzen vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Ob alle Saskanen deine Fähigkeit haben, sich »vergessen« zu machen? Er hatte Boreguir nie danach gefragt.
Er erhob sich und widmete auch Resnick einige Gedanken, die fast an ein Gebet erinnerten, obwohl er nie im religiösen Sinne gläubig gewesen war. Ganz zuletzt trat er vor das Grab, das ihm am vertrautesten, zugleich aber auch am unheimlichsten war. »SESHA?«, sagte er. Auch jetzt hätte ein Gedankenimpuls genügt, um mit der KI in Kontakt zu treten. Aber er bevorzugte es, sich selbst beim Reden zuhören zu können. Es milderte ein wenig das Gefühl, selbst nur noch ein Gespenst zu sein. »Ich höre dich.« Auch die KI befleißigte sich der akustischen Kommunikation. »Du weißt, warum ich gekommen bin.« »Menschen trauern um ihre Toten.« »Ja, das auch«, wiegelte Jarvis ab. »Aber ich komme aus einem bestimmten Grund. Du erinnerst dich, worüber wir gesprochen hatten. Nur wir beide... hoffe ich.« »Es war nicht wichtig genug, um an den Kommandanten weitergeleitet zu werden.« Für einen Moment bereute Jarvis, sich überhaupt auf einen so privaten Dialog mit SESHA eingelassen zu haben. Ihre Formulierungsweise stieß ihn immer noch bei etlichen Gelegenheiten vor den Kopf. Dabei war ihm bewusst, dass er erst so sensibel reagierte, seit er kein GenTec mehr war. Seit er erfahren hatte, was es hieß zu sterben. »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte er. »Natürlich.« »Aber ich bin mir unschlüssig. Wir haben noch nicht über alle Eventualitäten gesprochen.« »Du willst eine Garantie?«, fragte die KI. »Ist das nicht verständlich?« »Ich kann ein Restrisiko nicht ausschließen.« »Woraus besteht es?«, fragte Jarvis. »Der biologische Körper könnte dich abstoßen.«
»Du meinst... wie ein Organ, das transplantiert, aber vom neuen Körper nicht akzeptiert wird? Das auf Immunabwehrreaktionen stößt?« »Man könnte es damit vergleichen«, stimme SESHA zu. »Nur dass es für solche Organreaktionen wirksame Therapien gibt – für das, über das du nachdenkst, nicht.« »Du vergisst, dass ich kein Fremdkörper wäre.« »Das sehe ich anders.« »Erkläre es mir«, bat der ehemalige GenTec. »Mein Angebot steht«, sagte SESHA. »Dieses Schiff ist ausgerüstet, um selbst komplizierte Klonverfahren zu bewältigen. Wie du weißt, konnte dein Leichnam erhalten und vor Verwesung geschützt werden... Möchtest du ihn sehen?« »Nein!«, beeilte sich Jarvis zu antworten. »Nein, ich glaube dir auch so. Ich möchte mich nicht... tot sehen.« »Du siehst aus, als würdest du schlafen.« »Wirklich?« »Ja«, antwortete die KI. »Trotzdem. Es bleibt beim Nein. Vielleicht... ein anderes Mal. Fahr fort. Worin bestünde das Risiko, wenn du meinen Körper neu klonen, mein Bewusstsein aus diesem... Ding hier herauslösen und in die lebende Hülle, die aus meinen originalen Erbinformationen geschaffen wurde, transferieren würdest? Warum sollte es zu Widerstand kommen? Ich gehöre in den Jarvis-Klon – wenn nicht ich, wer dann?« »Es ist komplizierter. Zum einen, weil es eine langwierige Prozedur erfordert, dein Erbgut von den Defekten zu reinigen, die ihm anhaften, und zum anderen weil der geklonte Körper bereits besetzt sein wird.« Jarvis konnte das Gefühl, das ihn bei SESHAs Erklärung überrollte, gar nicht in Worte fassen. »Schon besetzt?«, echote er. »Du bist ein Klon. Du müsstest es wissen.«
Er musste dagegen ankämpfen, sich nicht völlig in der Erkenntnis zu verlieren, die ihn völlig unvorbereitet traf, obwohl er es tatsächlich hätte wissen müssen! Wie konnte ich so blind sein? In seiner Vorstellung war der neu geklonte Körper, in den er mit SESHAs Hilfe schlüpfen wollte, um endlich wieder atmen, lachen, essen, lieben zu können, stets eine jungfräuliche leere Hülle gewesen, die nur auf seine Inbesitznahme wartete. In Wirklichkeit war es, wie die KI es prognostizierte: Auch ein Klon war beseelt. Er, Jarvis, war als Klon zur Welt gekommen, von Beginn an mit einem Bewusstsein, das im nachhinein von den GenTec-Schöpfern lediglich geformt wurde. »Dann... ist es also unmöglich.« Es fiel ihm schwer, den Dialog mit SESHA fortzusetzen. »Das habe ich nicht gesagt. Es wird schwierig. Und es ist nicht risikofrei. Eine Garantie kann ich dir folglich nicht geben.« »Ich könnte, wenn es missglückt, immer noch wieder in diesen Körper zurückkehren, oder?« »Auch dafür gibt es keine Garantie«, erklärte die KI. »Warum nicht?« »Weil ich nicht vorhersagen kann, welche Spuren dein Aufenthalt in dem organischen Hirn bei deinem Bewusstsein hinterlässt. Es ist denkbar, dass du unterbewusst die Rückkehr in die Rüstung, die dein Körper geworden ist, verweigern wirst. Du unterschätzt die Macht des Unterbewussten. Sollte es zu einer solchen Instinktreaktion kommen, wäre es vorbei.« »Vorbei?« »Du würdest verloren gehen. Du. Das, was dich ausmacht. Keine Technologie der Welt vermag alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Es ist deine Entscheidung. Du kannst alles gewinnen, was du dir erhoffst – aber du kannst auch alles verlieren, was du in diesem Moment sicher hast. Von der
Unsterblichkeit, die dir dieser und nur dieser Körper zu bieten vermag, einmal ganz abgesehen...« *** Wenn Aylea die Augen schloss, kamen die Bilder. Wenn sie schlief, kamen die Bilder. Wenn sie mit anderen sprach, egal worüber, kamen – immer warnungslos, immer wenn sie es am wenigsten erwartete – die Bilder. Von allem, was sie verloren hatte. Von ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrem Zuhause auf der Erde. Von den Gleichaltrigen, mit denen sie Umgang hatte. Von den Träumen, die sie wie jedes andere Kind auch in ihrem Herzen getragen hatte, bevor der Albtraum alles erstickte. Bevor die Lawine sie erfasst und ins Nirgendwo gerissen hatte. Wo sie jetzt war. Im Nirgendwo... Schweißgebadet lag sie in ihrer Koje und bettelte geradezu um Licht. Der Sensor reagierte zwar unmittelbar auf ihren akustischen Befehl, trotzdem kam es ihr wie eine qualvolle Ewigkeit vor, bis die Dunkelheit wich. Sie richtete sich auf, wischte sich über das Gesicht und hatte immer noch die letzte Szene ihres Traums vor Augen: den Moment, als die Leute kamen und sie aus ihrem Zuhause in einen wartenden Gleiter zerrten. Ihre Mutter, die sie festzuhalten versuchte, nicht gehen lassen wollte (was so nie geschehen war). Ihr Dad, der ihr nachrannte, sich vor die Handlanger der Master stellte und sie daran hindern wollte, Aylea abzutransportieren (was so nie geschehen war). Die Tränen in den Augen ihrer Eltern... Die nie vergossen worden waren. Nicht, während Aylea dabei war, jedenfalls. Ich hasse sie!
Sie wusste, dass das nicht stimmte, aber manchmal half die wilde Wut ihr mehr als alle Versuche, das Verhalten ihrer Eltern verstehen zu wollen. Wie haben sie es zulassen können? Aber niemand hatte eine Chance gegen das Regime. Sie hätten mir wenigstens zeigen können, wie sie leiden, dass ich gehen musste... Wenn es eine Werteskala ihrer Enttäuschungen gab, dann stand die Gleichgültigkeit, mit der ihre Eltern sich von ihr verabschiedet hatten, ganz an der Spitze. Sie schwang die Beine aus der Koje und stand auf. Ihr Herz schlug so flatterhaft wie das eines verängstigten Vogels, aber es war ihr kaum bewusst, und nach ein paar Sekunden wurde es besser. Der Chronometer verriet, wie lange sie geschlafen hatte: zwei Stunden. Sie ging in die kleine Hygienezelle, wusch sich und streifte sich dann den Overall über, den sie trug, seit sie begonnen hatte, sich in der RUBIKON häuslich einzurichten. Noch während sie die Stoffränder übereinander legte und diese sich nahtlos verbanden, schweifte ihr Blick durch die kleine Kabine. Sie hörte einen spitzen, lauten Schrei und wusste im ersten Moment nicht, dass sie ihn ausgestoßen hatte. Mit geweiteten Augen machte sie einen Satz nach vorne. Nein!, dachte sie. Nicht auch das noch. Und dann tat sie, was ihre Mutter versäumt hatte. Und auch ihr Vater. Damals. Sie brach in Tränen aus...
2. Vergangenheit Milchstraße einige Wochen zuvor Crol wurde von sphärischer Musik geweckt, die der Mikroempfänger seiner Sinnesmuschel zugänglich machte. Er öffnete die Augen, orientierte sich im Dunkel. Nasra lag unweit von ihm zusammengerollt in ihrer Nestkuhle. Ihr Atem war selbst über die psychedelischen Klänge hinweg klar zu hören. Für eine Weile lag der Finrage einfach nur da und genoss die Intimität, die ihn mit seiner Gefährtin verband. Niemand sonst würde sie jemals im Schlaf betrachten, niemand sie anschauen dürfen, während ihr Geist in der Null umherschweifte und sich an visionären Dingen ergötzte, die den Finragen nur im Traum zugänglich waren. Andere Völker hatten andere Namen für das Traumland. Auf Egarnif, der Krume, die die Finragen einst aus dem Gedärm eines gewaltigen Nornwurms hervorgebracht hatte, war es die Null – das vollkommenste Symbol, das ihre Zivilisation kannte. »Träumst du noch?« Seine Stimme streichelte über Nasra hinweg, und er konnte sehen – ahnen, spüren –, wie sich ihr kurzes Fellhaar sträubte. Sie entkugelte sich und richtete sich auf. »Schon? Du willst schon gehen?« »Ich habe mir die Zeit nicht ausgesucht. Direktor Xaf hat entschieden, dass wir im Hellen aufbrechen.« »Warum?« Sie klang schläfrig, als hafte ein Teil ihres Geistes noch immer in der Null.
Crol verließ seine Senke und berührte Nasra mit der Spitze seiner feuchtkühlen Schnauze. Eine Welle von Behagen durchströmte ihn. Auch Nasra zitterte leicht. »Er sagt, er habe den Flug genau berechnet«, erklärte er. »Wir werden exakt mit Sonnenuntergang auf dem Südkontinent eintreffen. Dann bleibt uns die komplette Nacht, um den Fund freizulegen.« »Hätten das nicht die Jerks tun können?« Ein dunkler Ton rollte aus ihrem Rachen. »Manchmal begreife ich euch nicht. Die Jerks wurden eigens für Oberflächenarbeiten gezüchtet. Sie sind zuverlässig... Warum setzt man sie dann nicht ein?« »Offen gestanden verstehe ich Direktor Xaf, was das angeht, sehr gut«, erwiderte Crol und sog den Duft seiner Gefährtin in sich ein, als könnte er ihn dort in der Tiefe seiner Lungen bis zu ihrem Wiedersehen bewahren. »Dann erkläre es mir.« »Nun... es könnte die Entdeckung werden.« »Das hast du schon oft geglaubt.« »Ja, aber dieses Mal spricht alles dafür, dass es sich tatsächlich um ein Artefakt handelt. Um den Überrest einer Kultur, die einst über der Erde siedelte. Dann wären die alten Legenden mehr als nur Geschichten. Dann hätten wir den greifbaren Beweis, dass es eine Zeit gab, in der Egarnif zwei Geschlechtern Lebensraum bot.« »Aber die Oberfläche ist... ist nicht gut... tut nicht gut – keinem Finragen!« Er berührte die felllose Stelle unter ihrem Kopf, die nur sichtbar wurde, wenn sie sich auf den Rücken wälzte. Ihr Schnurren lenkte ihn fast von seinem Vorhaben ab. Gewaltsam löste er sich aus ihrem Bann und wich zwei Schritte zurück. »Genau darum geht es. Genau das könnte die Sensation sein, auf die wir hoffen.« Sie unternahm keinen Versuch, ihm zu folgen. »Ich verstehe nicht...«
»Ich dürfte eigentlich nicht darüber sprechen, noch nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Aber ich vertraue dir – und teile Direktor Xafs Ansicht: Die Oberirdischen, von denen wir glauben, dass sie einmal im Südland ansässig waren, könnten einer völlig anderen Art entsprungen sein als...« Jetzt unterbrach sie ihn. »Du meinst: Es waren gar keine Finragen? Keine wie... wir?« Zuletzt hatte sie völlig atemlos geklungen. »Das hoffe ich. Das hoffen alle, die an dem Projekt beteiligt sind. Wünsch uns Glück, süße Nasra. Wünsch uns Glück und Erfolg! Vielleicht bringe ich dir ein Geschenk mit, wie es noch keine Frau je von ihrem Mann in die Kuhle gelegt bekam...« *** Als er in die Vorhöhle schlüpfte, passierte er ein Saugfeld, das die Schlafsporen aus seinem Fell entfernte. Sie entwichen mit einem Zirpen in die Aufbewahrungskammer. Ihr Beitrag zur nächtlichen Katharsis wurde Crol kaum noch bewusst. Seit ungezählten Generationen lebten die Finragen mit ihnen in Symbiose. Die Sporen ernährten sich von Bakterien, die an den Haarwurzeln des Fells nisteten. Als Gegenleistung erzeugten sie Schwingungen, die Körper und Geist als angenehm, mehr noch: als labend und erholsam empfanden. Tagsüber waren die Symbiosepartner eher hinderlich, zumindest wenn man geistig rege und körperlich aktiv sein wollte. Es gab allerdings Finragen, die sich die Sporen nie aus dem Fellhaar ziehen ließen und Tage wie Nächte in einem gedämpften Zustand zubrachten – nicht ganz wach, nicht ganz schlafend. Das war gesellschaftlich verpönt, was die Betroffenen allerdings wenig störte und erst recht nicht von ihrem Tun abbrachte.
Müßiggänger, dachte Crol verächtlich. Er würde nie verstehen, wie man sein Leben auf diese Weise vergeuden konnte. Während er in seine Arbeitsmontur stieg – die in der Hauptsache aus mehreren, über Kreuz laufenden Gürteln bestand, an denen unterschiedlichstes Werkzeug befestigt war –, schwebte die allmorgendliche Nachrichteninjektion heran. Die dünne Nadel durchbohrte die Drüse in seinem Nacken und leitete selbst auflösende Nanopartikel hinein, die sofort ihre Informationen abgaben. Besorgt sondierte Crol das so auf ihn übertragene Wissen – eine Zusammenfassung der Ereignisse seit dem gestrigen Abend, als er den Nachrichteninjektor zuletzt konsultiert hatte. Er überlegte, ob er noch einmal zu Nasra zurückkehren sollte, um sie auf die beunruhigende Entwicklung vorzubereiten. Aber er entschied sich dagegen. Sie würde von der Verschlechterung der galaktopolitischen Lage noch früh genug erfahren. Bevor er seine Behausung verließ und sich in einer Expresskapsel zum verabredeten Knotenpunkt katapultieren ließ, überprüfte er noch den Memoprojektor, ohne den er seine Höhle – und Nasra – niemals verließ. Im Hightech-Zeitalter gab es unentbehrliche und zuverlässige Hilfen, um dem Vergessen vorzubeugen – er fragte sich allerdings, wie die Finragen der Prä-Techno-Ära mit ihrem Handicap zurechtgekommen waren. Hatten sie sich nie länger als ein paar Stunden von ihren Partnern getrennt? Oder war es Teil der Evolutionsstrategie gewesen, dass sie sich immer wieder neu hatten orientieren müssen? Crol kannte etliche Theorien dazu, aber keine war rundum überzeugend. Er schüttelte sich kurz, als müsste er noch ein paar besonders widerspenstige Sporen eigenhändig aus dem Fell
befördern. Einige Gegenstände an den Gürteln schlugen gegeneinander; es klang dumpf blechern. Crol gab sich einen Ruck und verließ die Höhle, die er gemeinsam mit Nasra bewohnte. In diesem Moment schob er die Spannung, die ihn ergriffen hatte, auf die bevorstehende Expedition. Aber vielleicht ahnte er auch schon, dass sich dieser Tag, dieser Aufbruch zu einer Exkursion, von allen anderen unterscheiden würde, die ihn von Nasra weggeführt hatten. Hätte er es geahnt, wäre Direktor Xaf an diesem Morgen wohl ohne Crol in die Wildnis gereist. So aber kam alles, wie es kommen musste... *** Egarnif war eine kleine Welt, ihre Schwerkraft eben ausreichend, um eine dichte, sauerstoffreiche Atmosphäre zu binden. Als zweiter von sieben Planeten umrundete sie die gelborangefarbene Sonne Og, deren Strahlung, Licht und Wärme das Leben auf den beiden einzigen Landmassen, die von tiefen Ozeanen umspült wurden, auf einer Weise beeinflusste, wie sie gegensätzlicher nicht hätte sein können. Der Nordkontinent bot sich einem Betrachter als öde, unwirtlich und lebensfeindlich dar. Die Temperatur lag im Jahresmittel nur bei etwa zwei Grad Celsius und erreichte selten mehr als sieben Grad. Dafür gab es lange Frostperioden, die nur karge Vegetation hatte entstehen lassen. Im Gegensatz dazu barst der Südkontinent schier vor Leben unterschiedlichster Ausprägung. Dampfende Dschungellandschaften bedeckten das Land, wohin man auch schaute. Das Sonnenlicht war hier von einer Stärke und Farbe, dass es von den Pflanzen in reichem Maße in Wachstum umgewandelt werden konnte. Der Süden war bunt, grell... und schrecklich.
Finragen, die dorthin reisten, galten allgemein als verrückt. Oder dumm. Sie bevölkerten ausschließlich den unwirtlichen Norden, und auch diesen nicht sichtbar. Ihr Lebensraum lag von Alters her tief unter der Erde. Es gab Pläne, den Süden in ein ähnliches Paradies, bar aller Vegetation und übermäßiger Wärme zu verwandeln, aber in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Population auf der anderen Seite der Planetenkugel perfekt eingependelt hatte und es keinen Mangel an Platz und Nahrung gab, würden sie vielleicht niemals realisiert werden. Diese Pläne stammten auch von keinem Finragen. Die Anderen hatten den Vorschlag gemacht. Weil sie glaubten, der Süden böte ideale Voraussetzungen für die Erprobung neuer Kulturen. Pilzkulturen. Während Crol etwas umständlich aus der Kapsel des Nahverkehrssystems kletterte, gingen ihm die Meldungen durch den Kopf, die der Injektor ihm verabreicht hatte. Jenseits des Og-Systems war der Krieg entbrannt, von dem seit langem gemunkelt wurde, an dessen Ausbruch aber kaum ein Finrage wirklich geglaubt hatte. Das Leben eines Finragen war von Optimismus geprägt – und vom Glauben an die Vernunft. Wer sollte von einem Krieg von interstellarem Ausmaß profitieren? Es mochte einen Sieger geben – aber keinen Gewinner. Obwohl wenig mehr über die Erinjij bekannt war, als dass sie neben CLARON ein zweites Imperium zu installieren versuchten – eigentlich ein drittes, korrigierte sich Crol, auch wenn er kaum etwas über jene dritte Macht, Jay’nac genannt, wusste –, hatten die Finragen stets an eine friedliche Beilegung der Streitigkeiten geglaubt. Bis heute... Die Nachrichten, die der Injektor an diesem Morgen verabreichte, ließen keinen Spielraum mehr für Hoffnung. Die
Allianzverbände, so hieß es darin, hatten offenbar die bis dato unbekannten Koordinaten des Erinjij-Heimatsystems ermittelt... und belagerten es nun mit einem Großaufgebot an Schlachtschiffen sämtlicher Vollmitgliedsvölker. Die jüngste Meldung war die, dass den Erinjij ein Ultimatum zur Einstellung ihrer aggressiven Expansionsbestrebungen übermittelt worden war. Und dass diese es abgelehnt hatten... *** Während der ganzen Reise zum Südkontinent war die Stimmung gedrückt. Direktor Xaf hatte keinen Moment ernsthaft in Erwägung gezogen, die Expedition zu verschieben, bis sich die galaktopolitische Lage wieder spürbar stabilisiert hatte. Egarnif, führte er aus, sei von dem, was CLARON und die Erinjij miteinander ausfochten, nicht betroffen, ganz egal wie es ausging. Selbst wenn beide Parteien sich gegenseitig merklichen Schaden zufügten, würde das kaum Auswirkungen auf das Leben der Krume haben. Die Finragen waren wirtschaftlich autark und somit in der Lage, ausschließlich von dem zu leben, was ihre eigene Welt ihnen an Erträgen schenkte. Die Kontaktaufnahme war seinerzeit von Seiten der Allianz erfolgt, nicht umgekehrt, nachdem eines ihrer Spähschiffe eher zufällig auf die Krume aufmerksam geworden war und dann das Handelspotenzial weitergemeldet hatte. Von da ab war das Myzelgeflecht, das bei der Züchtung der eigentlichen Finragen-Nahrungspilze als Abfallprodukt anfiel, zum Exportschlager geworden. Was immer die Allianz damit anstellte, offenbar wuchs der Bedarf von Jahr zu Jahr. Mir soll’s recht sein, dachte Crol. Was ihm nicht recht war, war die dunkle Drohung, die über seiner Heimatkrume schwebte. Er teilte Direktor Xafs
Einschätzung, der Krieg zwischen CLARON und Erinjij ginge die Finragen nichts an, in keinster Weise. Im Gegenteil! Und es sorgte ihn um so mehr, da er vorhatte, in absehbarer Zukunft mit Nasra Nachwuchs zu zeugen. In welche Welt werden wir ihn entlassen? Er machte eine brüske Bewegung, um die Schatten fortzuwischen, und das veranlasste Direktor Xaf, der neben ihm auf dem Stratofloß saß, zu fragen: »Alles in Ordnung, Assistent?« »Natürlich«, versicherte Crol. Verstohlen berührte er den Projektor, der ihm Nasras Merkmale spendete und damit die größte vorstellbare Katastrophe verhinderte, selbst wenn Umstände es erforderten, dass sich Crol tagelang von ihrer gemeinsamen Höhle und seiner Gefährtin fern hielt. In früheren Zeiten, ohne Hilfsmittel wie den Projektor, hatte dies zur Katastrophe geführt. Es war der Stoff, aus dem die Melodramen der Injektorfilme gestrickt wurden: Die Trennung zweier Liebender und dann... das zwangsläufige Vergessen... Die leicht näselnde Stimme des Direktors riss Crol aus seinen Träumen. »Wir sind da. Dort unten! Man kann die Umrisse mit dem bloßen Auge erkennen. Sehen Sie genau hin, Assistent Crol, sehen Sie ganz genau hin!« Sofort fielen sämtliche anderweitigen Gedanken von Crol ab, und die nächsten Stunden, nachdem das Stratofloß auf dem Südkontinent gelandet war, gab es nur noch ihre Arbeit. An Nasra verschwendete er keinen einzigen Gedanken mehr, was keine Folgen hatte, da der Projektor ihn in regelmäßigen Abständen mit ihren Individualstimulanzien fütterte. Bis zur Dämmerung hatten sie der Wildnis beachtliche Teile einer Ruine entrissen. Ruine? Crol vermochte seine Erregung kaum noch im Zaum zu halten. Das hier war etwas völlig anderes als eine Ruine. Das
gleichschenklige Dreieck, das die üppige Vegetation wie ein Teppich bedeckte, sah an den freigelegten Stellen aus, als wäre es gerade erst vollendet worden! *** Die Wand war mit unbekannten Glyphen übersät, das Material, aus dem sie bestand, von keinem der AnalyseInstrumente bestimmbar. »Es ähnelt mehr einem Artefakt aus einer völlig anderen Welt, als dem Überbleibsel einer vergangenen Epoche unserer Krume«, sagte Crol – er wusste nicht, zum wievielten Mal er dies tat. Direktor Xaf und die anderen Teilnehmer an der Expedition beachteten es gar nicht. Sie alle waren mit der Abtastung der Wand beschäftigt, mit dem Versuch, in den unbekannten Zeichen ein System zu erkennen, das ihre Entzifferung ermöglichte. Crol hatte noch nie eine vollkommenere Schrift gesehen; sie strömte eine Harmonie aus, die sich beim bloßen Betrachten übertrug. Und wenn man die Konturen der leicht erhabenen Symbole nachfuhr, war es, als ginge eine ebenso harmonische Kraft auf einen über. Wenn die Erbauer dieses Dreiecks die einstigen Bewohner des Südkontinents gewesen waren... welche Zivilisation verbarg sich dann dahinter? Crol kam sich im Schatten des Überbleibsels plötzlich ganz klein und völlig barbarisch vor! Hör auf, ermahnte er sich selbst. Was ist in dich gefahren? Von ein paar Zeichen auf eine Kultur schließen zu wollen ist... Er stockte, weil er wusste, dass es mehr als die Harmonie war, die er aus dem Artefakt herauslas. Es war auch die Tatsache, dass sich der Baustoff jeder Analyse entzog. So etwas war noch niemals vorgekommen. Die Legierung – oder was auch immer es war – musste sich demzufolge aus etwas
zusammensetzen, was den Finragen selbst in seinen Einzelelementen völlig unbekannt war! »Tretet zurück!«, erreichte ihn Professor Xafs Ruf. Verwirrt sah er sich nach dem Leiter der Expedition um. Dieser stand unweit und hielt einen schweren Detonator, dessen Mündung unverhohlen auf die etwa drei Finragenlängen in die Höhe reichende nördliche Flanke des Dreiecks zielte. »Direktor! Halt! Tun Sie das nicht, es könnte...« Die krumme Gestalt des Direktors ignorierte ihn völlig. Crol sah noch die Wellenbewegung, die sich vom kurzen Lauf der Waffe aus in Richtung Wand entfernte – aufs äußerste komprimierte Luft, die dem Schockstrahl zu entkommen versuchte, der sich aus dem Lauf löste –, dann überlagerte ein sinnesbetäubender Lärm für eine lange Weile jede weitere Wahrnehmung. Als Crol das nächste Mal bewusst zu dem Artefakt hinüberschaute, klaffte darin ein kreisrundes Loch, hinter dem es verführerisch schimmerte. Dann, warnungslos, brach dieser Schimmer hervor, leckte und züngelte Crol entgegen und übergoss den Finragen. Und das Verhängnis, oft als Schicksal missverstanden, nahm seinen Lauf...
3. Gegenwart Große Magellansche Wolke Umgebung des Virghstocks Das All schien plötzlich zu kochen, zu brodeln, als wäre es mehr als nur eisiges Vakuum, als gäbe es in Wahrheit einen Hauch von Luft, vielleicht den geheimen Atem der Sterne, der sonst unsichtbar blieb, in diesem Moment aber aufgewühlt wurde von berserkerhaften Gewalten. Die Schlacht war aufs Neue entbrannt. Minuten zuvor hatte es noch ausgesehen, als hätten die Satoga alles unter Kontrolle, doch nun... Nun zeigt sich, dass auch Artas nicht jede Eventualität im Griff hat, stellte Cloud fest. Die Virgh geben nicht einfach klein bei. Hat das wirklich jemand geglaubt? Nach allem, was wir von ihnen wissen? Allein schon von ihrem puren Zahlenstärke! Sie sind gewiss in der Lage, eine Materialschlacht sondergleichen zu führen – und haben vermutlich noch mehr Trümpfe in der Hinterhand als uns lieb sein kann. Cloud war eins geworden mit dem Schiff. Sein Kommandositz hatte sich geschlossen und ermöglichte ihm so den intensivsten Zugriff auf Steuerung, Waffen und Ortungssysteme, den die Konstrukteure des Rochens vorgesehen hatten. Wann immer er mit der RUBIKON auf diese Weise verschmolz, war er das uralte Schiff. SESHA existierte dann wie ein Bewusstsein neben ihm, mit dem er sich einen Körper, ein Gehirn teilte. So ähnlich, mutmaßte er, musste sich Jarvis drüben im anderen Universum gefühlt haben, als ihm klar wurde, dass er
die Nanohülle seines robotischen Körpers mit einem zweiten, bis dahin verborgen agierenden Bewusstsein geteilt hatte: mit dem von Mont. Mont war Vergangenheit. Mont war von den Foronen isoliert und in eine andere Trägerform transferiert worden. Und »drüben« geblieben... Eine Plasmakugel streifte im Vorbeiflug den Schmiegschirm der RUBIKON und belastete ihn mit knapp zwanzig Prozent. Cloud registrierte es eher beiläufig, verschaffte sich stattdessen einen Überblick über die Kampfsituation und Kräfteverteilung insgesamt. Und für einen Moment war er fast geneigt, den Todesmut der Virgh zu bewundern. Sie waren chancenlos, und sie mussten sich darüber im Klaren sein. Dennoch hatte sich ein gemischter Verband aus etwa fünfhundert Einheiten – Dreizacke und Federschiffe – inmitten des Satoga-Schwarms aus dem übergeordneten Reisemedium geschält und war sofort zum Angriff übergegangen. Doch nicht einmal ihre stärkste Waffe, die Plasmakanone, brachte die Satoga in Verlegenheit. Mit den Cybersinnen der RUBIKON beobachtete Cloud, wie Satoga-Raumer der kleinsten 212-Meter-Klasse selbst einen direkten Treffer unversehrt überstanden. Ihre Schilde flackerten nicht einmal. Das Plasma perlte an ihnen ab, strömte daran entlang und verwandelte sie kurzzeitig in kometenähnliche Objekte. Doch sobald die Energie verpufft war, kamen die Satoga-Schiffe unverändert aus den Schlieren und Schleiern hervor. Wie Phönix aus der Asche. Cloud nahm mit der RUBIKON Fahrt auf und lenkte sie vom Kerngebiet der neu entfachten Kämpfe fort. Er sah keine Notwendigkeit, sich an der Schlacht zu beteiligen, die für die Satoga keine Risiken zu bergen und nur einen Sieger zu kennen schien. Zu seinem Erstaunen lösten sich gut ein Dutzend
Satoga-Einheiten der 424-Meter-Klasse und gingen auf Parallelkurs mit der RUBIKON. Als wollten sie uns Geleitschutz geben. Ob Artas sie abkommandiert hat? Aber warum, zur Hölle, reagiert er dann seit Stunden nicht mehr auf unsere Kontaktversuche? Noch während er mit dieser Tatsache haderte, schickte er einen erneuten Ruf aus. Die Frequenz war bekannt. Es gab keinen Zweifel, dass der Spruch die EXPANSION EINS – oder die PERSPEKTIVE in der Riesenellipse – auch tatsächlich erreichte. Eine Antwort blieben die Satoga auch diesmal schuldig. Cloud fragte sich, was geschehen wäre, wenn die RUBIKON einfach uneingeladen zur EXPANSION EINS aufgeschlossen hätte. Angesichts der wieder aufgeflammten Kämpfe zog er diese Möglichkeit aber zu keiner Sekunde ernstlich in Betracht. Er wollte die Nervosität der Satoga, die bislang nicht zu existieren schien, nicht fahrlässig herausfordern. Zumal Artas’ Rolle in der Hierarchie dieses Fremdvolkes Ungewisser denn je war. Es herrschte Erklärungsbedarf. Und wir brauchen, dachte er zähneknirschend, offenbar vor allem eins: eine Engelsgeduld. Das bewahrheitete sich erst recht, als auch dieser Versuch von aus den Tiefen der Magellanschen Wolke herbeigeeilten Flottenkontingente abgeschmettert war und um den Virghstock wieder Ruhe einkehrte. Aber... hatte er die? War er bereit, sie noch lange aufzubringen? Engelsgeduld? *** Das Kakteenwäldchen war zu Jeltos bevorzugtem Aufenthaltsort geworden. Es bildete das Zentrum des riesigen
hydroponischen Gartens und lag leicht erhöht, weshalb man von hier aus die übrigen Bereiche bestens überblicken konnte. Jelto wusste, dass das wahre Zentrum des farbenprächtigen, vor Leben strotzenden Spektakels er selbst war. Aber er zog keinen Hochmut aus diesem Bewusstsein. Er hatte sich nie als Herr über die Flora verstanden, sondern stets als ihr dienendes Element. Er war der Florenhüter. Noch immer. Daran änderte auch die unvorstellbare Distanz nichts, die ihn von dem Ort trennte, an dem er über viele Jahre hinweg gewirkt und sich in den Dienst der dortigen Vegetation gestellt hatte. Seit er den hydroponischen Garten mit SESHAs Hilfe auf der RUBIKON II etabliert hatte, verkam die Sehnsucht nach der Erde immer mehr zu einer verschwommenen Erinnerung. Die Aufgabe hier war nicht weniger anspruchsvoll, nicht weniger erfüllend als das Amt, das ihm die Master zugewiesen hatten. Er war ein Klon mit herausragendem Einfühlungsvermögen, was Pflanzen anging. Einer seiner neu gewonnenen Freunde – war es John Cloud gewesen oder Scobee? – hatte ihn einmal als personifizierten »grünen Daumen« bezeichnet. Seit er wusste, was damit gemeint war, fühlte er sich davon gebauchpinselt. Es war für ihn höchstes Lob und Bestätigung, etwas Sinnvolles zu tun, in einem. Auch hier auf dem ehemaligen Archenschiff der Foronen hatte der Garten binnen kürzester Frist enormen Anklang gefunden. Auch wenn die Crew bislang nur aus fünf – noch dazu höchst unterschiedlichen – Menschen bestand, so nutzten diese doch jede sich bietende Gelegenheit, um unter dem künstlichen Sonnenlicht zu promenieren und immer mal wieder zwischendurch etwas Abstand zu den schwerwiegenden Problemen zu gewinnen, die sonst ihren Alltag bestimmten.
Auch Jelto meditierte hier oft, wenn nicht gerade sein Eingreifen in das Gleichgewicht des Gartens erforderlich war – und meist wählte er dafür die Umgebung des Kakteenwäldchens, das er aus Samen erschaffen hatte, den ihm die KI der RUBIKON zur Verfügung stellte. Samen, den einst die Foronen mit an Bord ihres Fluchtschiffes genommen hatten – vor rund 30.000 Erdjahren. Der Klon lag mit geschlossenen Augen und rücklings in demselben warmen Sand, in dem auch die mannshohen Gewächse wurzelten, deren Stacheln fünf Mal am Tag ihre Farbe änderten, unabhängig davon, dass das Licht ihres hiesigen Lebensraumes sich nicht in entsprechenden Zyklen veränderte. Jelto hatte Zugang zu den außerirdischen Kakteen gefunden, sowohl gefühlsmäßig als auch auf der mentalen Ebene. Das ermöglichte ihm eine Ansprache an sie, die beinahe einer wechselseitigen Kommunikation gleich kam, wobei er weniger mit Worten als mit Bildern arbeitete. Sein Gesicht war völlig entspannt, verlor aber selbst in diesem Zustand nicht die tiefe Melancholie, die sich darin eingeprägt hatte... und die regelrecht explodierte, sobald er die Augen aufschlug. Zumindest behaupteten das andere, insbesondere... In die Stille sickerte ein Geräusch, das den Florenhüter selbst in seiner Versunkenheit erreichte. Es kam näher, und als es endete, hob er die Lider. Der Anblick des Mädchens, das tränenüberströmt vor ihm stand, war ein kleiner Schock, der ihn schneller in die Realität zurückholte, als ihm lieb war. »Aylea! Um Himmels willen!« Sein Blick wanderte zu dem, was sie in ihren Händen hielt, und sofort stockte ihm die Stimme. Er kam auf die Beine und eilte zu ihr, nahm ihr das Mitbringsel ab, das sie nur widerstrebend hergab.
»Kannst du...«, begann sie schluchzend. »Kannst du mir helfen? Bitte! Es ist mir so wichtig.« *** Die Blume stammte angeblich aus einem anderen Universum. Sie war scharlachrot – zumindest war sie das einmal gewesen – und ihr daumendicker Stiel hatte einmal geglitzert, als wäre er lückenlos mit winzigen Diamantenschuppen besetzt. Jetzt hing der Blütenkopf welk und geschlossen tief nach unten, berührte fast das Erdreich in dem Topf, in den Jelto den Samen auf Scobees Bitte hin gepflanzt hatte. Kurz nach ihrer Flucht von Poranauu, der Doppelmond-Welt in dem anderen Kosmos, in den die RUBIKON von ihrer eigenen Kontinuumswaffe entführt worden war. Es war nur eine Episode gewesen, dennoch hatte sich das Abenteuer tief ins Gedächtnis aller Beteiligten geprägt. Besonders Aylea hatte darunter gelitten. Ihre Psyche hatte die Erkenntnis, möglicherweise nur bedeutungsloser Bestandteil eines beliebigen Universums unter unzähligen zu sein, nicht schadlos verkraftet. Scobee war schließlich auf die Idee gekommen, ihr etwas Schönes aus dem anderen Universum zu schenken, etwas, das ihr beim bloßen Ansehen, beim Berühren und an ihm riechen das Gefühl gab, dass dort »drüben« nicht alles schlecht oder furchtbar war – und dass man nur gewinnen konnte, wenn man das Erlebnis für sich selbst nicht als traumatisch, sondern als wertvolle Erfahrung einstufte, die kaum einem anderen Menschen vergönnt war. Die Blume, die in Wahrheit ebenfalls SESHAs Depot foronischer Pflanzen entstammte – Scobee hatte weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, sich auf Poranauu nach tatsächlichen Gewächsen umzusehen –, hatte Aylea tatsächlich binnen
kürzester Frist geholfen, die Depression zu überwinden, die sich ihrer hatte bemächtigen wollen. Insbesondere der Duft der Hiitji-Blüte war unvergleichlich. »Hör auf zu weinen«, bat Jelto. »Ich werde mich darum kümmern. Was ist passiert?« »Ich hatte mich etwas hingelegt. Die Warterei... Ich bin nicht die Einzige, die das ganz kirre macht.« »Ich weiß. Es geht uns allen so.« Sie wischte sich mit den Handrücken über das Gesicht. »Als ich wach wurde, war... war sie bereits so.« Während er die Blume mit einer Hand hielt, strich er mit der anderen über Ayleas Haar. »Blumen welken. Manchmal vergisst man...« »Aber ich hab sie nicht vergessen! Ich gieße sie andauernd!« Jelto betrachtete die Erde im Topf. Sie war dunkel und so nass, dass sie sich in eine klebrige, pampige Masse verwandelt hatte. »Ich fürchte...« »Ja?« »Du hast es zu gut gemeint – und dabei übertrieben.« Er erklärte ihr, was sie hätte wissen können, wenn echte Pflanzen noch zum normalen Dekor einer Wohnung in einer Metrop auf der Erde gehört hätten. Dem war aber nicht so. Dennoch erschien es Jelto, der über Ayleas beachtlichen IQ informiert war, befremdlich, wie hilflos sie im Umgang mit einer simplen Blume war. Andererseits wäre es wohl an ihm gewesen, sie kurz in der Pflege zu unterweisen, was er versäumt hatte, weil er dieses Wissen vorausgesetzt hatte... Die Hand, mit der er die Pflanze hielt, begann plötzlich zu leuchten, und dieses Licht weitete sich nach und nach über den ganzen Körper des Klons aus. Er aktivierte seine Kirlianaura, um in die welke Pflanze hineinzuhorchen. Was er fand, war endgültiger, als er es erwartet hätte.
Die Aura erlosch. »Und?«, fragte Aylea ängstlich. »Lass sie mir eine Weile da – ich päppele sie auf. Bald strahlt und duftet sie wieder so, wie du sie kennst. Sei unbesorgt. Und für die Zukunft: Ich schreibe dir auf, wie oft und wie reichlich du sie gießen und was du sonst noch alles beachten musst. Einverstanden?« Sie wirkte wie befreit. Ihr Lächeln beseitigte jeden Zweifel in Jelto, dass eine Lüge in diesem Fall angebracht gewesen war. Als sie gegangen war, wandte er sich an SESHA. »Ich brauche einen neuen Hiitji-Samen, sofort.« Von der Decke löste sich eine Röhre, die sich teleskopartig nach unten verjüngte, während sie Jelto entgegenwuchs. Als sie zum Stillstand kam, öffnete er eine Klappe und entnahm das gewünschte Korn. Erneut erwachte die Aura, und der Samen begann noch in Jeltos hohler Hand zu keimen. Ich wünschte, alle Probleme ließen sich so einfach lösen, dachte er. Als Aylea zwei Stunden später wiederkam, brachte sie Gesellschaft mit. Und all die Probleme, für die Jelto keine Lösung hatte... *** Sie hatten sich auf der Lichtung eingefunden, und die Zusammenkunft mit einem Picknick zu verknüpfen mutete mindestens so surreal an wie das, was sich jenseits der Schiffshülle im freien Weltraum tat. Dort, wo der Virghstock inzwischen von einer gigantischen Satoga-Flotte eingekesselt und – vertraute man Artas’ Angaben, und welchen Grund sollte es geben, sie anzuzweifeln – von ihr kontrolliert wurde.
Der Virghstock: die zentrale Bastion oder eine der zentralen Bastionen der Virgh innerhalb der Großen Magellanschen Wolke. Die Satoga: Bis vor kurzem noch als Entdecker aufgetreten, die behaupteten, mit nur einem Schiff – einem Prototyp namens PERSPEKTIVE – erstmalig aus der Kleinen zur Großen Magellanschen Wolke gereist zu sein, um hier nach Luminium-Vorkommen zu suchen. Luminium: Artas’ Worten zufolge ein Mineral, ein Stoff, in dem Kräfte noch aus der Zeit des Urknalls gespeichert waren und der den Satoga als Grundlage für ihre interstellare Raumfahrt diente. Eine nette Geschichte, die nur einen winzigen Schönheitsfehler hat, dachte Cloud, während er an dem Becher nippte, in dem sich nichts anderes als kristallklares, kühles Wasser befand. Sie ist erstunken und erlogen. »Noch immer keine neue Nachricht von Artas?«, fragte Jelto, der zwischen Aylea und Jarvis im Gras saß und Scobee, die ihm gegenüber neben Cloud hockte, etwas anbot, das entfernt an eine irdische Mango erinnerte. In einer großen Schale reihte sich ein exotische Frucht an die andere, und der Einzige, der noch von keiner gekostet hatte, war Jarvis, der für solche Genüsse nicht mehr empfänglich war. Dennoch waren die Zeiten vorbei, da er wie ein Fremdkörper zwischen ihnen gewirkt hatte. Er war akzeptiert, mehr noch: geschätzt. Und es gab keinen Tag, an dem Cloud nicht hoffte, eines Tages eine Möglichkeit zu finden, ihn aus seiner toten Hülle aus Nanogewebe befreien und in einen lebenden, atmenden Körper zurückzutransferieren. Es gab diesbezüglich Ideen, die er bislang noch nicht mit Jarvis selbst, sondern lediglich mit SESHA erörtert hatte. Aber um sie zu realisieren bedurfte es neben Jarvis’ Einverständnis auch einer entspannteren
Grundsituation. Und die war momentan weniger denn je gegeben. Noch immer warteten sie auf Aufklärung seitens der Satoga, die sich als diejenigen entpuppt hatten, gegen die sich offenbar sämtliche vor Jahrzehntausenden begonnenen Maßnahmen der Virgh richteten. Nicht gegen die Foronen, wie von diesen geglaubt. Sobeks Volk, das die Große Magellansche Wolke bis zum Auftauchen der Virgh uneingeschränkt beherrscht hatte, war nicht mehr als ein Störfaktor gewesen, der von den Dienern der Jay’nac ebenso konsequent wie rigoros beseitigt worden war. Die Jay’nac. Heilige Scheiße... »Nein«, beantwortete Cloud Jeltos Frage. »Seit er die Einladung zurückgezogen hat, hat er sich nicht mehr gemeldet. Er antwortet auch nicht auf Nachfragen unsererseits. Irgendetwas scheint passiert zu sein. Offenbar hat er momentan genug anderes um die Ohren, da sind wir Nebensache.« Es gelang ihm nicht völlig, die Bitterkeit aus seinem Tonfall zu filtern. »Wenn er wenigstens Ohren hätte«, sagte Aylea grinsend. Sie hatte einen seligen Gesichtsausdruck, saß im Schneidersitz da und hatte einen Blumentopf zwischen ihren Beinen eingeklemmt. Cloud kannte die Geschichte zu dieser Pflanze, wunderte sich aber, dass Aylea sie neuerdings nicht mehr in ihrer Kabine aufbewahrte, sondern mit sich herumschleppte. Selbst aus der Entfernung vermochte er den anregenden Duft aufzuschnappen, der dem Blütenkelch entströmte. »Jedenfalls ist das der Grund, weshalb ich euch um dieses Treffen gebeten habe. Ich will eure Meinung kennen lernen zu dem, was ich vorschlage.« »Leg los«, forderte Scobee ihn auf. Ihr Gesicht war blasser als sonst, ihre grünen Augen wirkten stumpfer, und die tätowierten Brauen, die ihr sonst etwas Extravagantes
verliehen, hoben sich in einer Weise vom Rest ihres Gesichtes ab, als wären sie gerade erst gestochen worden. Irgendwie war die Harmonie des schnörkelreichen Arrangements abhanden gekommen. Cloud stellte sich vor, wie sie mit echten Augenbrauen ausgesehen hätte und war sich sicher, dass es ihm gefallen hätte. Er nickte. Nacheinander fasste er jeden der Anwesenden ins Auge, was bei Jarvis am schwersten fiel, da dessen Erscheinung nur rudimentär an den Menschen erinnerte, der er einmal gewesen war. Schließlich sagte Cloud: »Ich wollte den Vorschlag machen, den Satoga ein Ultimatum zu stellen.« »Ein Ultimatum?« Jelto blinzelte. »Inwiefern? Willst du ihnen drohen? Ich halte das nicht für sehr...« »Drohen?«, fiel ihm Cloud ins Wort und zuckte die Achseln. »Wie man’s nimmt. Ich will ihnen nicht mit Gewalt drohen, das wäre ebenso lächerlich wie irrwitzig und aussichtslos, sondern mit unserer Abreise.« Scobee blinzelte. »Und du glaubst, davon werden sie sich beeindrucken lassen?« »Das kommt darauf an, ob Artas wenigstens in einem Punkt die Wahrheit gesagt und uns nicht belogen hat.« »Könntest du das etwas näher erläutern? Von welchem Punkt redest du?« »Davon, dass er nach wie vor darauf pocht, unser Freund zu sein«, erläuterte Cloud. »Und wenn wir abreisen, wenn er uns abreisen lässt...« »... spricht das nicht gerade für seine Behauptung«, vollendete er und nickte. »Also? Was meint ihr? Wie lange wollen wir noch Däumchen drehen und uns ignorieren lassen?« »Wenn wir drohen«, meldete sich Jarvis, »dann darf es keine leere Drohung sein. Dann müssen wir notfalls auch tatsächlich danach handeln. Das hieße dann – wie inzwischen rein technisch ja wieder möglich – Rückkehr in die
Milchstraße. An einen Ort, der verdammt heiß geworden zu sein scheint, falls uns in dieser Hinsicht nichts vorgegaukelt wurde.« Cloud schürzte die Lippen. »Ja«, sagte er, »das ist der andere Grund, weshalb ich tatsächlich so schnell wie möglich zur Erde zurück will.« Bevor auch dort eine Sonne in den Kollaps getrieben wird... Von wem? Von den Menschen selbst? Steckten sie hinter dem Horrorszenario verbrennender Reiche? Oder war es so, wie die Satoga es angedeutet hatte? Artas mysteriöser Satz rückte ihm wieder in den Sinn. Die Dex haben begonnen, ihre Spuren zu verwischen. Indem sie nichts als verbrannte Erde, Sternenglut und Asche hinterließen? Eine solche Barbarei war Cloud nicht ohne Weiteres bereit, irgendjemandem zuzutrauen. Auch keiner fast unbekannten Spezies, deren Leben auf ganz anderer Basis beruhte als das der organischen Völker des Universums. Möglicherweise hatte er einem Angehörigen der Jay’nac bereits einmal persönlich gegenübergestanden, ohne ihn damals als solchen zu erkennen: bei ihrer Entführung vom Mars, unmittelbar nach Beginn der Erdinvasion, als sie ihre Erkundung im Äskulapraumer unternommen und auf einen Gegner gestoßen waren, den sie »als eine Art Roboter« eingestuft hatten. Im Nachhinein war es wahrscheinlicher, dass es sich um einen Anorganischen gehandelt hatte – ob es ein Jay’nac war oder ob es bei den Anorganischen ähnliche Bündnisse wie bei den Organischen gab, in denen sich Völker unterschiedlichster Couleur tummelten, ließ er einmal dahingestellt. »Bliebe noch die Frage«, mischte sich in diesem Moment Aylea in die Diskussion ein, wobei sie gar nicht von ihrer Blume aufsah, sondern mit dem Zeigefinger sacht über eines
der scharlachroten Blütenblätter strich, »ob uns Artas überhaupt gehen lassen wird.« Auch diese Möglichkeit musste in Betracht gezogen werden. Cloud nickte. »Du hast es erfasst, Mädchen.« In diesem Augenblick wurde ihnen die Entscheidung abgenommen, die ein etwaiges Ultimatum betrafen. Und zwar von demjenigen, der einmal mehr unter Beweis stellte, wer die Zügel in der Hand hielt – fest in der Hand. »Ich empfange eine Nachricht von der EXPANSION EINS«, meldete SESHA. Sämtliche Augen richteten sich zur Decke – eine unbewusste Reaktion auf etwas, das sprach, aber nicht zu sehen war. »Artas?«, fragte Cloud. »Artas«, bestätigte die KI. »Wie lautet die Nachricht?« »Sie lautet: Seid gegrüßt, Freunde. Die Umstände – und damit meine ich nicht den neuerlichen Angriff eines VirghKontingents – vereitelten bislang eine klärende Zusammenkunft. Aber jetzt steht dem nichts mehr im Wege. Ein Shuttle ist bereits unterwegs. Ich werde all eure Fragen beantworten... Artas. Erster Expanser der Satoga.«
4. Vergangenheit Solares System Erde, Metrop Washington Der Besucher kam gänzlich unangemeldet – dennoch war er willkommen. Allein schon der Respekt gebot dies, aber darüber hinaus auch eine Verbundenheit, deren Bande über bloße Freundschaft unter Bündnispartnern weit hinausgingen. Zuneigung... ja, am ehesten wäre es wohl mit der tiefen, innigen Zuneigung vergleichbar gewesen, die Menschen mitunter füreinander empfanden. Menschen. Meine Kinder, dachte Arabim. So wie wir ihre Kinder sind. Das sternenlose Firmament über dem Häusermeer markierte die Nachtperiode auf dem Exilplaneten der letzten Keelon. Keine Sterne... Arabim – der Herr der Herren, wie er sich von seinesgleichen gerne nennen ließ – gestand es sich selten ein, aber er vermisste die blinkenden Lichter im Samtschwarz des Nachthimmels. Nicht die funkelnden Juwelen, wie die Menschen eines vergessenen Zeitalters sie gekannt, in bestimmten Momenten sogar angebetet hatten... Nein, er vermisste die Sterne Roogals, seiner verlorenen – geopferten! – Heimat. Er vermisste Primogender, Akto und Terzenwohl, das Dreigestirn, das den Keelon Leben gespendet und darüber hinaus das Magoo stimuliert hatte wie es seither kein anderes Sonnenfeuer mehr vermochte. Arabim hatte oft mit dem Gedanken gespielt, ein Schiff zu besteigen und sich für kurze Zeit noch einmal in die einstige Heimat zu begeben, wo auf Roogals alter, exzentrischer Bahn seit dem Vernichtungsschlag der Erinjij nur noch Trümmer
kreisten. Aber die Sonnen existierten noch unangetastet, streuten ihr Licht und ihre spezielle Strahlung ins All – ohne dass sie ein Echo fanden... Wie sie es in den Keelon immer gehabt hatten. Ein dankbares Echo... Arabim war seltsam berührt, dass er ausgerechnet unter den Augen des Besuchers von sentimentalen Erinnerungen und Sehnsüchten übermannt wurde. Er straffte sich, breitete seine Strünke aus und ging dem Toten entgegen. Nur Narren würden ihn als tot bezeichnen. Seit wann bist du ein solcher Narr? Meist genoss er den inneren Dialog mit sich selbst, weil ihm oft kein anderer Gesprächspartner blieb – erst recht keiner, dem er so vertraute wie der kritischen Stimme seines eigenen Ichs. Heute war es anders. Heute war er... überrascht, fühlte sich irgendwie überrumpelt und seinerseits nicht halb so respektiert, wie er dies für unabdingbar im ungetrübten Vater-KindVerhältnis ansah. Oder war es eine Mutter-Kind-Beziehung? Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob die Schöpfer für sich selbst eine solche Unterscheidung überhaupt kannten: männlich/weiblich. Das waren Attribute, die man geneigt war, organischem Leben zuzubilligen. Ich grüße dich, Meister Arabim. Die Gestalt des Jay’nac erinnerte an ein Insekt, das Arabim aus den Aufzeichnungen der Erinjij kannte: eine Assel. Allerdings eine vieltausendfach vergrößerte Assel, die sich geschmeidig auf ihren Extremitäten voranbewegte. Ich wurde nicht auf dein Erscheinen vorbereitet, erwiderte Arabim auf die gleiche Weise, in der auch der Jay’nac zu ihm gesprochen hatte: in Gedanken. Darf ich deinen Namen erfahren? Ich weiß, ihr hängt daran. Namen...
Auch die Jay’nac unterscheiden sich meines Wissens untereinander auf diese Weise, warf Arabim ein. Diese Begegnung war von der ersten Sekunde an anders als alle vorherigen Kontakte mit den Schöpfern. Er konnte den Unterschied förmlich greifen. Nicht untereinander. Nur für andere. Es gibt andere, klarere Unterscheidungsmerkmale als die willkürliche Aneinanderreihung von Lautfolgen oder Buchstaben. Arabim merkte, dass er nicht in der Stimmung war, darüber zu diskutieren. Was führt dich zu mir? Die Lage, Master, die Lage. Ich bin der Sprecher des Granogk und gekommen, um dich über den wahren Ernst der Lage aufzuklären. Den wahren Ernst der Lage?, wiederholte Arabim. Unwillkürlich glitt sein Blick zu dem Käfig, in dem der Gefangene sein Dasein fristete. Und der bald sterben würde, weil er die Geißelung seines Magoos nicht ewig ertragen konnte. Darnok lag wie ein schlaffer Lederbeutel am Boden des Energiekerkers. Er hatte an Substanz verloren und war völlig apathisch. Seit Tagen hatte er auf keinen von Arabims Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, reagiert. Die Vitalanzeigen bestätigten den äußeren Anschein: Die Stunden des Keelon, der zu Arabim einmal wie zu einem Vater aufgeschaut hatte, waren gezählt. Und niemand – niemand! – bedauerte dies mehr als der Master. Aber es kam keine Schonung. Eine Begnadigung war völlig unmöglich, sie hätte nur einen neuen Bodor herangezogen, einen noch unberechenbareren Verräter als den ehemaligen Mitverschwörer, den Arabim hatte exekutieren müssen. Ja, bestätigte das Siliziumwesen. Der Moment der größten Bewährung steht bevor – eurer wie unserer. Die Worte genügten bereits, um Arabims Herzen kurzzeitig aus dem Takt zu bringen. Sie beruhigten sich jedoch
schlagartig wieder, als der Jay’nac eine Gedankenkette auf den Keelon projizierte, die Schranken in seinem Bewusstsein niederriss, von deren Existenz er bis dahin nicht einmal geahnt hatte. Eine Flut hochwertiger Informationen brandete über ihn hinweg, so folgenschwer in ihrer Bedeutung, dass er eigentlich hätte straucheln müssen. Aber er stand da wie ein Fels, unerschütterlich und gestärkt von dem Wissen, das vom Vertrauen der Schöpfer zeugte. Das endgültig belegte, dass die Keelon nicht nur Figuren waren im Spiel höherer Mächte. Die Jay’nac achteten ihre Kreationen. Arabim wandte sich neu gewappnet an den Besucher. Ich danke dir. Wofür? Für die Einsichten, die du mir gewährst. Ich ahnte ja nicht... ... dass es schon immer in dir schlummerte? Das Wissen um deine... eure Bestimmung? Die Assel rückte noch einen Schritt näher, sodass Arabim nur die Strünke hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Doch das verbot sich von selbst. Niemand berührte einen Gott – auch wenn dieser ihm gerade seine Liebe bewiesen hatte. Um den Sinn unseres bisherigen Wirkens, ja, bestätigte Arabim. Selbst das Spiel, das wir ihnen gaben... es war immer auch ein Instrument der Kontrolle, aber ich wusste nicht, dass es... dass es noch so viel mehr ist... Es ist unsere Hoffnung – eine unserer Hoffnungen. Du weißt nun, welche Bedeutung euch und den Erinjij und all den besiegten Völkern der Allianz zukommt. Ich weiß es. Dann sei bereit. Der Schöpfer rückte unvermittelt von Arabim ab, und der Keelon glaubte bereits, er wolle sich ebenso abrupt verabschieden, wie er gekommen war. Doch dann glitt das Siliziumwesen nicht auf den Ausgang zu,
sondern schnellte förmlich dem Käfig entgegen, in dem Darnok steckte. Vor den Stäben hielt der Jay’nac inne. Von irgendwo aus seinem Körper drang ein gebündeltes Licht, das sich um den Körper des Gefangenen legte und viele Herzschläge lang anhielt, ohne dass Darnok sich regte oder darauf reagierte. Als das Licht erlosch, war Arabim überzeugt, dass der Schöpfer dem Siechtum des Keelon ein Ende bereitet, ihn getötet und erlöst hatte. Aber der Jay’nac meldete sich anderslautend in seinem Kopf: Er ist wertvoll. Du solltest ihn nicht verrotten lassen. Wir sollten ihn nicht verrotten lassen. Wertvoll? Arabim machten keinen Hehl aus seiner Verblüffung. Er hatte Kontakt zu denen, die jetzt dort sind, wo sie auftauchten. Er könnte uns dienlich sein. Arabim kam ein Gedanke. Wäre es auch bei ihm möglich, das Wissen um seine Aufgabe, das Wissen um seine Bestimmung freizusetzen, indem du... Das habe ich gerade versucht. Es ist misslungen. Schon der bloße Gedanke, dem Schöpfer könnte irgendetwas misslingen, was mit seinen Kindern zu tun hatte, machte Arabim schaudern. Wie kann das sein? Seine Gefangenschaft könnte daran schuld sein. Das, was ihm bei dir widerfuhr... über eine lange Zeit. Der Hass, der sich in ihm angesammelt hat. Er blockiert jeden Zugang, aber... Aber? Es gibt andere Wege. Du bist loyal. Du wirst dich nicht dagegen sperren. Wogegen? Ihn zu töten... Arabim verneinte ohne Zögern. Natürlich nicht. Er wird...
Der Jay’nac hatte noch nicht zu Ende gesprochen. Nun tat er es. ... und auch dich ein wenig. Der Schauder verwandelte sich in etwas, das sich wie eine zweite Haut aus Eis um Arabim legte. Und auch dich ein wenig... TÖTEN? Das Grauen, das über ihn hinwegspülte, riss jeden klaren Gedanken mit sich. Über dem Schöpfer bildete sich unvermittelt ein Hologramm. Seltsamerweise half es Arabim, sich wieder zu fangen. Benommen klammerte er sich an die Idee, den Schöpfer missverstanden zu haben, und widmete seine Aufmerksamkeit dem Bild. Es zeigte ein überaus imposantes, überaus schlankes Gebilde, das Arabim zunächst für einen der Türme hielt, die den Mastern als Residenzen auf der Erde dienten – hervorgegangen aus den Schiffen, mit denen sie vor mehr als zwei Jahrhunderten auf der Menschenwelt landeten. Aber dann wurde das zuerst leicht verschwommene Bild klarer, und er erkannte seinen Irrtum. Was... ist das? Ein Turm? Und wenn ja, wozu dient er? Er verkörpert die nächste Stufe des Planes, antwortete der Besucher bereitwillig. Wie du sicher weißt, braucht eine perfekte Falle auch den perfekten Köder...
5. Gegenwart Große Magellansche Wolke Das Shuttle – ein Raumjäger der Satoga, der Ähnlichkeit mit irdischen Stealthbombern des ausgehenden 20. Jahrhunderts hatte – verließ den Hangar der RUBIKON. Durch die halb transparente Kanzel schimmerte verschwommen das Sternenmeer. Die Einheiten der Flotte waren mit dem bloßen Auge nicht auszumachen, weil sie kein Eigenlicht abgaben. Und eine Sonne, die nahe genug stand, um sie anzuleuchten, existierte weit und breit nicht. Auch die Entfernung zum Virghstock war zu groß, um ihn durch das Kanzelglas zu lokalisieren. Nur die RUBIKON war schemenhaft zu erkennen – ein dunkles Gebirge, das seitlich wegkippte, als der Jäger beschleunigte. Cloud genoss kurz das Gefühl, ohne jeden spürbaren Andruck durch die glitzernde Samtschwärze zu rasen. Auch auf der RUBIKON kamen im Normal!all keine Beschleunigungskräfte durch. Aber hier war es etwas völlig anderes, etwa so verschieden wie der Aufenthalt auf einem Ozeanriesen gegenüber dem Geschaukel in einer winzigen Nussschale von Beiboot. Der Satoga am Steuer wirkte wie ein Bruder von Artas, die optischen Unterschiede waren nicht sehr ausgeprägt. Und offenbar hatte er Order, einen Stummen zu mimen. Abgesehen von ein paar Floskeln zur Begrüßung verlief der kurze Flug von seiner Seite her in völligem Schweigen.
Cloud hatte ursprünglich damit gerechnet, dass Artas zu ihnen übersetzen würde. Aber der Shuttledienst galt ihnen – allen, die nach Antworten dürsteten. Und dazu gehörten auch... »Macht endlich ein Ende! Diese Folter ist unwürdig! Haben wir euch nicht immer gut behandelt? Ihr revanchiert euch schlecht, Menschen!« Der dröhnende Vorwurf kam aus der Sprachmembran Sobeks, einem der beiden Foronenführer, die nach dreißig Jahrtausenden wieder aus dem Staseschlaf erwacht waren und sich mit einer völlig veränderten Machtkonstellation konfrontiert sahen. Erst recht, seit das Kommando über die ehemalige Arche auf John Cloud übergegangen war. Als Cloud nicht reagierte, schallte es aus Jarvis Hülle: »Halt die Klappe, Mister! Sei froh, dass wir dir die Möglichkeit bieten, auch deinen Scheuklappen-Horizont ein wenig zu erweitern. Der lange Schlaf scheint dir nicht bekommen zu sein, sonst wüsstest du das zu schätzen. Höchste Zeit, das Wort Dankbarkeit in deinen Wortschatz aufzunehmen...« Cloud schottete sich innerlich gegen das fruchtlose Geplänkel ab. Sie waren unterwegs zur EXPANSION EINS und zu Artas, der sich Erster Expanser nannte – zumindest hatte SESHA seinen Titel so übersetzt. Der Begriff Expansion schien von vorrangiger Bedeutung im Leben eines Satoga zu sein. Konnte darin die Ursache der uralten Fehde zwischen Jay’nac und Satoga begründet liegen? Wie in der Vergangenheit des Öfteren bei Foronen und Virgh stellte sich Cloud nun im Zusammenhang mit Satoga und Jay’nac immer häufiger die Frage, wer von beiden die größere Gefahr darstellte. Er hoffte, dies und mehr von Artas zu erfahren. Und er hoffte insbesondere, nicht nur die Schönfärberei eines Betroffenen zu hören, sondern eine möglichst objektive Schilderung der Zusammenhänge. Traumtänzer, warf er sich selbst vor.
Wenig später schwebte das Shuttle in die Ellipse ein, von der Cloud immer noch annahm, dass es sich um eine riesige Trägereinheit der Satoga-Flotte handelte. Es war nicht der einzige Punkt, in dem er sich revidieren musste. Nicht die einzige Überraschung, die ihn und seine Begleiter erwartete. Die Luke öffnete sich. »Müssen wir nicht erst vorbereitet werden, bevor wir unseren Fuß in eure Bordumgebung setzen können?«, wandte sich Scobee an den Piloten. Sie hatte die Verhältnisse an Bord des Magnetschiffs, der PERSPEKTIVE, noch plastisch vor Augen. Der Satoga verneinte. »Das ist nicht nötig. Die Umweltbedingungen entsprechen Werten, die verträglich für euch sind.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Scobee sah fragend zu Cloud. Ihre Miene drückte es aus: Sollen wir das riskieren? Ich hatte dir doch berichtet, wie es in den Magnetschiffen zugeht. Cloud war so weit, auch Risiken einzugehen, die er in früheren Situationen vielleicht gescheut hätte. Zum Greifen nahe schienen die Antworten, nach denen er suchte, seit die Geschehnisse zusehends aus dem Ruder liefen. Er signalisierte den Gefährten, auf Artas zu vertrauen. Aber es fiel ihm selbst schwer, mit gutem Beispiel voranzugehen. Jenseits der Schleusenöffnung schimmerte es hell und... grün? Cloud fiel Jeltos Veränderung erst auf, als der Florenhüter sich nach vorne drängte und das Shuttle als Erster verließ. Er machte keine Anstalten, ihn daran zu hindern. Draußen erwartete sie ein künstlicher Himmel und eine Umgebung, die Jelto wie das reine Paradies vorkommen musste. Das Shuttle war entgegen aller Erwartung nicht in einem nüchternen Hangar gelandet, sondern...
»Grundgüter«, rann es über Scobees Lippen. Sie trat neben Cloud. »Kneif mich mal!« Er ignorierte ihren Wunsch und sog stattdessen die Luft ein, die ihnen warm und aromatisch entgegenströmte, während sie eine kurze Rampe hinabschritten. Artas kam ihnen entgegen. Er trug ein fließendes, weit fallendes Gewand, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der uniformartigen Montur hatte, in der sie ihn kennen gelernt hatten. In einiger Entfernung standen mehrere Magnetmeister. Ihre übergroßen Schädel schienen die kleinen Gesichter zu erdrücken. Kurz bevor er sie erreichte, breitete Artas in irritierend menschlicher Manier die Arme aus und sagte: »Seid uns willkommen!« *** »Das ist eine Täuschung, nicht wahr?« Cloud hatte seinen Begleitern signalisiert, stehen zu bleiben, während er selbst Artas entgegenging. Unmittelbar vor dem Satoga stoppte er. »Was meinst du?«, fragte Artas. Cloud machte eine Geste, die alles in der Umgebung einschloss. »Dieser Ort. Er täuscht vor, sich auf einem Planeten zu befinden. Ich sehe nirgends einen Hinweis darauf, dass wir uns im Innern eines Raumschiffs befinden.« So weit das Auge reichte, war nach oben hin Himmel und zu allen Seiten hin harmonisch-exotische Landschaft. Einzig das Shuttle wirkte wie ein Anachronismus in der sonst technofreien Umgebung. »Wir denken nicht in solchen Kategorien«, bekam er zur Antwort. »Es ist, was du siehst. Einerseits verständlich, dass du
über die Ausmaße dieses Ortes erstaunt bist, andererseits wird dasselbe Prinzip auf eurem Schiff praktiziert.« Sein Lächeln hatte schon immer mehr einem Feixen geähnelt. Aber der warme Glanz seiner Augen ließ darüber hinwegsehen. Nach allem, was geschehen war, hatte Cloud neue, unerfreuliche Einsichten bei der Wiederbegegnung nicht ausgeschlossen. Er verbuchte es auf der Positivseite, dass sich Artas nicht anders gab als bei ihren früheren Begegnungen. Die Umstände waren andere, das Bild der Satoga als Gesamtheit hatte sich gewandelt... aber Artas war immer noch der, als der er sich ausgab. Ein Freund... Zumindest hoffe ich das, dachte Cloud. Andererseits wusste er, dass er sich etwas vormachte, wenn er aus dem flüchtigen Eindruck, den er bisher gewonnen hatte, bereits so tief greifende Schlüsse zog. Artas musste erst noch beweisen, dass Freundschaft für ihn mehr war als eine hohle Phrase – oder ein Mittel zum Zweck. »Wie geht es deinem Schiff?«, fragte Scobee. Sie hatte sich nicht an Clouds Weisung gehalten, sondern war zu ihnen aufgerückt, im Schlepptau die anderen. Artas wandte ihr das Gesicht zu. »Es nähert sich seiner vollständigen Wiederherstellung, danke.« »Es trug keine irreparablen Schäden davon?« »Nein.« »Wo befindet es sich?« »In den Tiefen Kammern, wo es sich unter dem Einfluss der Mentoren regeneriert.« »Tiefe Kammern? Regeneriert? Reden wir von derselben Sache?« »Von der PERSPEKTIVE.« Sie nickte. »Ein Ding. Bei dir klingt es aber, als würdest du von einem lebendigen Wesen berichten.«
»Die Satoga-Technik orientiert sich eng am Vorbild der Natur«, erwiderte Artas. »In jedem Fragment des Materials, das wir zum Schiffsbau nutzen, ist der vollständige Plan des Ganzen enthalten. Im Bereich der Tiefen Kammern wird diese Grundsubstanz angeregt, Schäden – und dazu gehören auch fehlende Teile – zu beheben.« »Du meinst, ihr lasst die demontierten Teile einfach nachwachsen?« »Ohne sich in die Details dieses Prozesses zu vertiefen, könnte man es so ausdrücken«, bestätigte Artas. »Doch jetzt... die Loge wird ungeduldig.« Er zeigte zu der Gruppe der Magnetmeister, die sich weiterhin im Hintergrund hielt, und an der Cloud auch keinerlei Zeichen von Nervosität entdecken konnte. »Wir sollten beginnen. Die Zeit drängt.« »Warum drängt sie plötzlich, nachdem du uns erst hast warten lassen?«, erkundigte sich Cloud. Die Spitze konnte er sich nicht verkneifen. »Erwartet ihr weitere Angriffswellen der Virgh? Wie ist ihre Kräfteverteilung innerhalb der Magellanschen Wolken? Ist diese ihre einzige Bastion oder handelt es sich nur um eine von vielen?« »Die Zeit drängt, weil wir uns hier nicht lange aufhalten können. Das geortete Zerstörungswerk ist der beste Beweis dafür.« »Du sprichst von der Milchstraße?« »Ich spreche von den Dex«, erwiderte Artas. »Wie ich schon bei unserem zurückliegenden Kontakt sagte: Sie sind dabei, ihre Spuren zu verwischen. Aber diesmal werden wir sie nicht davonkommen lassen. Kein Satoga begeht den gleichen Fehler zweimal.«
6. Vergangenheit Milchstraße, Krume Egarnif Als Crol zu sich kam, war es Nacht – Labsal für seine Augen. Aber es machte ihm auch unmissverständlich klar, dass mehr hinter ihm lag als nur eine kurzzeitige Sinnestrübung. Er blickte auf seine Uhr – derzufolge nur eine winzige Spanne hätte vergangen sein dürfen! Nur wenige Zeiteinheiten waren verstrichen, seit er sie das letzte Mal konsultiert hatte. Wie passte das zusammen? Ein Defekt? Crol hantierte an der Sensorik des Chronometers. Er arbeitete einwandfrei. Jetzt zumindest. Aber vielleicht hatte er einen Aussetzer... wie ich. Rings um ihn zirpte, zwitscherte, knurrte, fauchte und heulte es – die ganz normale Kulisse einer Dschungelwildnis, für die ein Finrage, der beinahe sein ganzes Leben unter der Oberfläche verbrachte, einfach nicht geschaffen war. Auch Crol nicht. »Direktor?«, rief er, erst halblaut, dann beherzter: »Direktor Xaf!« Nicht einmal ein Echo, wie in den Höhlensystemen unter Tage üblich, antwortete ihm. Er blickte um sich. Seine Augen waren in der Lage, bei Dunkelheit so klar zu sehen, wie die der Oberflächenwesen bei größter Tageshelle. Die Erinnerung an die Reaktion auf die gewaltsame Öffnung des Bauwerks sprang ihn regelrecht an. Der Glimmer... seine
Berührung und das Gefühl, erst davon durchdrungen und dann... davon aufgelöst zu werden... Crol atmete unwillkürlich schwerer, rappelte sich auf und streifte über die gerodete Fläche vor dem Relikt aus unbekannter Zeit. Relikt? Die Nerven seines Sterngeflechts, Sitz der Fruchtbarkeit, zogen sich schmerzhaft zusammen. Erst in diesem Moment bemerkte er, dass sich seine Umgebung grundlegend verändert hatte. Man hatte ihn... abtransportiert? Aber wo waren diejenigen, die ihn von dem freigelegten und gewaltsam geöffneten Bauwerk weggebracht hatten? Wo war Direktor Xaf, wo seine Helfer? Warum antwortete niemand? Crol kam auf die Beine. Leichter Schwindel behinderte ihn, aber mit jedem Atemzug wurde es besser, fühlte er sich wieder mehr bei Kräften... und der Situation gewachsen. An einem der Bäume, die die Lichtung säumten, blieb sein Blick hängen. Dann inspizierte er eine andere Stelle, wo das Gras weitflächig niedergedrückt war. Und noch eine Auffälligkeit: Da war ein Erdloch, das der Direktor unmittelbar nach der Ankunft auf dem Südkontinent hatte graben lassen, um den mitgebrachten Lebendproviant im lockeren Boden frisch zu halten, was ihn schmackhafter machte. Das niedergedrückte Gras kennzeichnete die Stelle, wo das Stratofloss mindestens ein paar Stunden gestanden hatte. Und die Kuhle beinhaltete sogar noch die Reste der proteinreichen Nahrung, die sie sich in den Arbeitspausen zugeführt hatten... Crol begriff, dass er keineswegs, wie zunächst geglaubt, seinen Aufenthaltsort gewechselt hatte. Der Platz war noch immer derselbe... beinahe jedenfalls. Nur in einer Hinsicht hatte er sich eklatant verändert: Das Artefakt existierte nicht mehr!
*** Crol war fassungslos. Und dieser Zustand steigerte sich, je länger er die Umgebung absuchte. Das Bauwerk war riesig gewesen, und nun war es in einer Weise von der Bildfläche verschwunden, die fast nur den Schluss zuließ, dass es nie da gewesen war. Dass es ihrer Einbildung entsprungen war. Denn: Es gab auch keine Reste, die auf eine Zerstörung hinwiesen, keine Brandspuren, keine Asche, keine geschwärzten Ruinen, nicht einmal Staub. Die Dschungeldecke überzog alles. Das Gestrüpp, von dem das Artefakt überwuchert gewesen war, hatte keinerlei Schaden genommen, nur... Crol fand die Stelle. ... nur dort, wo die Finragen es beschädigt hatten. Wo sie eine Lücke in den Wildwuchs gerodet hatten, um zu dem darunter liegenden Bau vorzustoßen. Aber selbst an dieser offensichtlichen Markierung fand sich nur ganz normaler Dschungelboden. Wurm- und mikrobendurchdrungene Erde. Crol war der Verzweiflung nahe. Zwischendurch rief er immer wieder nach seinen Begleitern, die unauffindbar blieben. Schließlich untersuchte er die Stelle näher, an der das Stratofloss geparkt hatte – und wurde fündig. Anders als erhofft, aber immer noch besser als gar nichts! Sie hatten ein Rettungspack zurückgelassen. Ein rucksackartiges Ausrüstungsstück, das alles Erforderliche für eine Notfallsituation beinhaltete. Crol spürte, wie die Erleichterung sein Sterngeflecht durchpulste, und überprüfte die Funktionen des Packs. Die Sende- und Empfangseinheit leuchtete in giftigem Blau – was seine Hoffnung sofort empfindlich dämpfte.
Kein Empfang? Die Sendeeinheit schien störungsfrei zu arbeiten, und so entschied Crol, unverzüglich einen Notruf abzustrahlen. Ob er den Adressaten erreichte, konnte er jedoch nur hoffen. Warum hatten Direktor Xaf und die anderen nicht die Funktionstüchtigkeit des kompletten Pakets sichergestellt, bevor... Ja, bevor sie was getan hatten? Starten und zum Nordkontinent zurückfliegen? Waren sie geflohen vor dem, was nach Crol gegriffen hatte? War ihnen keine Zeit mehr geblieben, die Notausrüstung zu testen? Sie haben sie einfach abgeworfen. Das ist die einzige Erklärung. Crol zögerte nicht länger. Er aß eine der Kompri-Rationen, dann schirrte er sich das Rucksackaggregat auf den Rücken und aktivierte den Antrieb. Taumelnd erhob er sich in die Lüfte, bekam die Steuerung aber rasch in den Griff. Sie alle hatten irgendwann den Umgang mit Notfallausrüstungen geübt, aber die Einweisung war eher oberflächlich geblieben. Vieles, was Crol längst wieder vergessen hatte, eignete er sich während des Fluges dicht über den Wogen des Ozeans neu an. Immer wieder geriet er dabei in prekäre Situationen. Licht und Hitze, denen er, anders als auf dem Stratofloss, fast schutzlos ausgesetzt war, peinigten ihn ebenso wie Sturm und Hagelschlag. Der Empfang blieb während des gesamten Fluges gestört, dennoch setzte Crol immer wieder eigene Signale ab in der Hoffnung, Gehör zu finden. Aber es kam ihm keine Hilfe entgegen, und der Finrage begann zu fürchten, sein Zuhause – Nasra! – nie mehr wiederzusehen. Und das war das Schrecklichste, was er sich überhaupt vorstellen konnte.
Bis zu dem Moment, da das noch Schrecklichere zur unumstößlichen Realität wurde... *** Das Ende des Martyriums rückte näher. Glaubte Crol, als die Küste des Nordens vor ihm auftauchte. Die Dünenlandschaft ohne jede Vegetation. Nur Sand, so weit das Auge reichte, Sand und... Was ist das? Die Finragen bewohnten ausschließlich den kleinen Nordkontinent. Die Ozeane ihrer Welt waren fast unerforscht, und dasselbe traf auch auf den fernen Süden zu, aus dem Crol gerade kam. Aber nicht einmal der Norden offenbarte seine Schönheit dem Betrachter, der sich in die Lüfte schwang, sich auf dem Strom eines Jetantriebs durch die Nacht treiben ließ. Denn das Leben spielte sich unter der Oberfläche ab – ausschließlich! Es gab nur ein paar vereinzelte Bauten und Stationen, die nicht unterirdisch angelegt waren. Einige dienten der Sternbeobachtung, andere maßen Umweltparameter, die auch auf die Welt im Innern Einfluss nehmen konnten. Und natürlich gab es Luftschächte. Tore, die nach unten führten. Aber selbst die seltenen Gebäude ähnelten nicht einmal entfernt dem, was sich Crols Blicken darbot, als er nun heimkehrte. Eine Halluzination... Er war felsenfest davon überzeugt zu halluzinieren! Einen Turm wie diesen... hatte es nie gegeben... und er machte auch keinen Sinn. Er... Er ist so hoch, dass seine Spitze sogar in den Weltraum reichen könnte.
Obwohl er dies dachte, glaubte Crol immer noch an eine Täuschung seiner überreizten Sinne. Die Strapaze der Reise. Die Sorgen und Fragen, die sich in seinem Kopf türmten... all das hatte ihn – verwirrt. Der Turm ähnelte aber auch von seiner Größe abgesehen in nichts dem, was Finragen je errichtet hatten. Was für ein Material ist das? Es machte ihn noch konfuser, dass er das Trugbild hinterfragte. Dann aber wurde er von dem abgelenkt, was zu Füßen des Turms sichtbar wurde. Er erhob sich in unmittelbarer Nähe von einem der Tore zur Unterwelt, bei denen sich auch eine der Relaisanlagen befand, mit deren Hilfe eine Funkverständigung zwischen Oberfläche und Unterwelt ermöglicht wurde. Von der Relaisstation existierte nur noch ein Schlackehaufen. Und auch in der sonstigen Umgebung gab es Kampfspuren, wie Crol im Näherkommen bemerkte. Handelte es sich bei dem Turm um... ein fremdes Fahrzeug von den Sternen? Es ähnelte keinem der Schiffe, die jemals von der Allianz nach Egarnif entsandt worden waren, um Tauschhandel zu betreiben. Dennoch... Crol spürte, wie eine neue Angst in ihm zu keimen begann. Zum einen rechnete er nun jeden Moment damit, von dem Turm oder etwas, das mit ihm in Zusammenhang stand, attackiert – getötet! – zu werden. Zum anderen graute ihm vor der Antwort auf die Frage, wie es wohl unter der Oberfläche aussehen mochte, wenn es oben schon so aussah. Ob es Mut war oder blinde Verzweiflung hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Jedenfalls setzte er seinen Flug fort, landete wenig später und drang in das Tunnelsystem ein, das ihn auf schnellstem Weg zu Nasra führen sollte. Wenn sie lebte, war alles gut. Wenn überhaupt noch ein Finrage lebte...
7. Gegenwart Große Magellansche Wolke Die Satoga führten sie zu einem kleinen Wasserfall, zu dem eine Anlage gehörte, die an ein altrömisches Amphitheater erinnerte. Aus der Ferne hatte es noch wie eine natürlich gewachsene Felsstruktur gewirkt, erst aus der Nähe entpuppte es sich als Versammlungsort. »Was soll das, Artas?« Cloud konnte seine Ungeduld nicht mehr beherrschen. »Warum redest du nicht endlich Klartext? Erst hältst du uns hin, ziehst deine Einladung zurück, und jetzt...« Er schüttelte den Kopf. »Offen gestanden glaube ich weniger denn je, dass du uns überhaupt Erklärungen geben willst. Sind wir deine Gefangenen? War das etwa nur eine elegante Art, uns aus der RUBIKON zu locken, wo wir vielleicht den Hauch einer Chance gehabt hätten, euch die Stirn zu bieten... oder einfach nur zu entkommen...?« Zum ersten Mal wirkte Artas empört. »Das würdest du mir zutrauen, John Cloud?« »Du tust wenig, um das Vertrauen, das ich in dich hatte, neu zur Entfaltung kommen zu lassen.« »Ich habe euch keineswegs aus Willkür warten lassen. Es gab ein Ereignis, um das ich mich erst kümmern musste.« »Welches Ereignis? Oder darfst du darüber nicht sprechen? Geht es nur die Satoga an?« Während ihres Disputs gelangten sie durch eine schluchtartige Einkerbung zum Boden des »Theaters«, der einen Durchmesser von etwa zehn Metern hatte. Mehr als zwei Dutzend Ränge verliefen von hier aus stufenartig nach oben. Sie alle waren leer, wenn jetzt auch ein paar Plätze der
untersten Reihe von Magnetmeistern belegt wurden, die Artas offenbar überallhin begleiteten. Wie Satelliten, dachte Cloud. Als gehörten sie untrennbar zusammen. Davon war in der Vergangenheit nichts zu spüren gewesen. Aber in der Vergangenheit hatten die Satoga nachweislich auch in anderen Punkten nicht ihr wahres Gesicht gezeigt. »Nehmt auch Platz«, forderte Artas sie auf. Sie gehorchten, wenn auch widerstrebend. Nur Artas blieb stehen. Wie ein Zirkusdirektor in der Manege, dachte Cloud. Verdammt, mein Bedarf an Kunststückchen ist gedeckt. Versuch es langsam mit der nackten, meinetwegen auch schonungslosen und bitteren Wahrheit. Aber sag endlich etwas! Wir können einiges verkraften. Sein Blick fiel auf Sobek und Siroona. Die beiden Foronen verhielten sich geradezu abnorm schweigsam. Erkannten sie die Autorität und Überlegenheit der Satoga an? Oder schmiedeten sie bereits Pläne, wie sie die gegenwärtig aussichtslose persönliche Lage vielleicht doch noch in einen Sieg umwandeln konnten? Cloud verfolgte den Gedanken nicht weiter. Artas beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Für einen Moment hatte es den Anschein, als walle um den Satoga herum Nebel auf. Dieser verdichtete sich rasch zu einem Bild, in dem Artas stand, deutlich abgegrenzt von der Szene, die ihn umgab. Ein Raum, in dem etwas wie eine dunkle Flamme flackerte. Unbekannt, stellte Cloud fest. Er konnte die Räumlichkeit nicht zuordnen. Aber sie unterschied sich beträchtlich von allem, was er bislang auf EXPANSION EINS gesehen hatte. Was aber nichts bedeuten muss, da wir nicht wirklich viel zu Gesicht bekommen haben...
Er wollte Artas erneut drängen, endlich zu den wesentlichen Dingen zu kommen, als sich die Szene jäh veränderte. Aus der »Flamme« trat etwas hervor. Eine Gestalt, gefolgt von einer weiteren und schließlich... von einer dritten und letzten. Und obwohl sie auch die ersten beiden Ankömmlinge kannten, war es vor allem diese letzte Gestalt, die Scobee zu einem ungläubigen Ausruf veranlasste – und auch Cloud an seinem Verstand zweifeln ließ. Keines der Wesen, die sich nach Verlassen der Flamme sofort zueinander orientierten, ähnelte dem anderen. Zwei waren hager und hochgewachsen und entfernt humanoid, das dritte schlug völlig aus der Art, erinnerte mehr an ein Gebüsch. Dennoch war es nicht diese nicht-humanoide Lebensform, die Clouds vorrangige Aufmerksamkeit auf sich zog – und Scobees leisen Schrei provoziert hatte –, sondern das einzige Geschöpf, das sie wirklich näher kannten. Es war entfernt menschenähnlich, bis auf die Flügel, die aus seinen Schulterblättern sprossen. Aber schon die strahlende Rüstung war unverkennbar. Das Nabiss, erinnerte sich Cloud, bevor es heiser über seine Lippen rann: »Jiim...?« *** Die Verblüffung sprang nun auch auf Artas über. »Ihr kennt sie?« Cloud entging weder Artas’ Erstaunen noch die Unruhe, die plötzlich von den Magnetmeistern Besitz ergriff. Sie gestikulierten, wie er es noch nie beobachtet hatte. Aber sie blieben stumm. »Eventuell«, schränkte Cloud ein, der auch die CLARONBotschafter Cy und Algorian erkannt zu haben glaubte, die sie
Monate zuvor aus ihrem zerstörten Schiff geborgen hatten. »Wo ist das aufgenommen? Was soll uns die Szene zeigen?« »Ich wollte euch nur erklären, was unsere Verabredung hinausschob«, erwiderte Artas. »Diese drei Geschöpfe materialisierten innerhalb des Virghstocks, nachdem er bereits unter unserer Kontrolle war. Es gelang uns, den Transmitter sofort im Anschluss unbrauchbar zu machen, um erstens eine Flucht und zweitens Nachschub zu verhindern.« »Das flammenartige Ding ist... ein Transmitter?« »Ein unerhört leistungsstarker sogar, ja.« Cloud schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch alles keinen Sinn.« Er wandte sich an Scobee. »Oder hast du eine Idee, wie Jiim, Cy und Algorian – falls sie es sind – in dieses Puzzle hier passen könnte? Die beiden Botschafter wurden von Darnok nach Crysral gebracht. Und wir selbst haben Jiim auf Kalser zurückgelassen, ein Planet, der in keinerlei Verbindung zu...« Er stockte, als ihm bewusst wurde, dass auf Kalser einst die Äskulapschiffe gebaut wurden, mit denen die Keelon die Erde in ihre Gewalt brachten. »Okay, eine Verbindung gibt es möglicherweise...« Er berichtete Artas, wen sie erkannt zu haben meinten – und unter welchen Umständen sie den Nargen und die CLARON-Botschafter kennen gelernt hatten. »Das ist erstaunlich. Ganz erstaunlich«, urteilte Artas, als Cloud die knappe Schilderung beendete. »Aber wenn ich richtig verstehe, müssen es nicht zwangsläufig die Individuen sein, die ihr zu kennen glaubt. Es könnten auch beliebige andere Angehörige der entsprechenden Völker sein, oder ist ihr Aussehen so charakteristisch und unverwechselbar?« »Du hast Recht. Sie unterscheiden sich für das menschliche Auge nur in winzigen Details. Aber als wir auf Kalser waren, gab es nur einen Nargen, der eine solche Rüstung sein eigen nannte... nachdem er sie vom Suprio ergattert hatte. Und die Konstellation der beiden anderen Geschöpfe lässt für mich
persönlich kaum einen Zweifel offen, dass es sich um die handelt, die wir kennen.« »Ich werde euch zusammenführen, das ist kein Problem. Später. Die Bilder, die ihr seht, sind etliche eurer Stunden alt. Inzwischen ist viel geschehen. Wir konnten uns einen Eindruck von der Natur der Ankömmlinge machen. Drei von ihnen sind vollkommen harmlos. Der vierte jedoch...« »Ich sehe nur drei.« »Der vierte ist ein Dex – und unsichtbar.« *** »Die Dex sind unsichtbar?« Es war Jelto, der die Frage stellte. Er hatte den Arm um Aylea gelegt, und sie schien sich darin wohl zu fühlen. Auf ihrem Gesicht war ein großes Staunen. Von ihnen allen bewies sie vielleicht die größte Geduld. Sie schien offen für jede Erklärung. Von uns allen ist sie am authentischsten, am unverfälschsten, dachte Cloud. »In diesem Fall – ja«, sagte Artas. »Ich komme später darauf zurück. Zunächst...« Die Szene, in der Artas stand, wechselte. Weltraum. Die Ellipse der EXPANSION EINS und die Rochenform der RUBIKON wurden sichtbar – von Letzterer zumindest ein Teil. Derjenige nämlich, der noch nicht in der Ellipse verschwunden war. »Artas!«, rief Cloud. Der Satoga machte eine beschwichtigende Geste. »Es ist nicht so, wie es scheint. Wir nehmen euer Schiff lediglich an Bord.« »Das war nie zwischen uns vereinbart. Wir...«
»Wenn ihr darauf besteht, werde ich den Vorgang unverzüglich stoppen und euer Schiff wieder ausschleusen.« Die Bereitwilligkeit, mit der er dies anbot, nahm Cloud viel Wind aus dem Segel. Dennoch war er mehr als verärgert. »Was hast du vor? Welcher Gedanke steckt hinter der RUBIKONAufnahme in euer Schiff?« »Meine Erklärungen zur Situation und zu den Hintergründen wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die wir sinnvoller nutzen sollten, als hier bei der ehemaligen Virgh-Bastion auszuharren. Unsere Flotte – ein Großteil von ihr jedenfalls – sammelt sich gerade. Wir werden in den nächsten Minuten Fahrt aufnehmen und zu eurer Galaxis starten.« Cloud hatte immer noch die Fäuste geballt, löste sie jetzt. »Das ist keine Antwort auf meine Frage. Was hat unser Schiff mit eurem Aufbruch zu tun? Wir betrachten uns als freie...« »Das seid ihr: frei. Ihr könnt tun und lassen, was euch beliebt. Auch hier in Mara Styga bleiben, wenn es euch nicht ebenfalls dorthin drängt, wo eure Heimat liegt. Und das auf dem schnellsten Weg.« »Natürlich tut es das«, mischte sich Scobee ein. »Aber wir sind durchaus in der Lage...« »Ich weiß, wozu ihr in der Lage seid«, unterbrach Artas sie. »Niemand kennt euer Schiff besser als ich. Nicht einmal ihr selbst, könnte ich mir vorstellen.« Cloud wurde an die Aussage des Satoga erinnert, er habe die RUBIKON gescannt und so Zugang zu sämtlichen Daten in ihren Speicherbänken erhalten. Offenbar spielte er auf die dabei gewonnenen Erkenntnisse an. Seine nächsten Worte bestätigten dies. »Deshalb sprach ich vom schnellsten Weg. Unsere Einheiten sind eurem Schiff, auch was die Geschwindigkeit angeht, hoch überlegen.« »Womit wir wieder bei der Geschichte von den armen, Luminium suchenden Satoga wären, die aus der Kleinen zur
Großen Magellanschen Wolke kamen, um hier nach neuen Vorkommen zur Aufrechterhaltung ihrer Raumfahrt zu suchen«, versetzte Scobee mit beißendem Spott. »Ich habe bereits eingeräumt, dass Mara Forna, meine Heimatgalaxie, nicht identisch mit der Sternenballung ist, die ihr Kleine Magellansche Wolke nennt.« »Ja«, bestätigte Scobee unvermindert kämpferisch aufgelegt, »aber das ist auch schon alles, was du eingeräumt hast. Wir wäre es, wenn wir einmal zu den wirklich wichtigen Aussagen kämen?« Die RUBIKON tauchte gerade vollends in die Hülle der EXPANSION EINS ein. Cloud wurde bewusst, dass dies – falls Artas doch ein falsches Spiel trieb – gerade gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Schiffes sein konnte. Sein Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. »Artas«, sagte er. »Wo ist die RUBIKON jetzt? Ich meine... wo genau? Was geschieht mit ihr?« »Sie ist dort, wo sich auch die PERSPEKTIVE befindet.« »In der Tiefen Kammer?« »In einer Tiefen Kammer«, bestätigte der Satoga. »Und die Mentoren garantieren dafür, dass sie unseren Flug unbeschadet übersteht.« »Der wann beginnt?«, wollte Scobee wissen. Ihre Stimme bebte leicht. »Der bereits begonnen hat«, sagte Artas. Die EXPANSION EINS verschwand aus der Szene, die sich um den Satoga aufgebaut hatte. Stattdessen wurde der Virghstock sichtbar... wie er in atemberaubendem Tempo schrumpfte, hinter ihnen zurückblieb. »Wir sind unterwegs und werden den Halo eurer Milchstraße in einem knappen Tag erreichen. Von dort aus werden wir ins Kerngebiet der Zerstörung vorstoßen.«
8. Vergangenheit Milchstraße, Krume Egarnif Die Normalität, auf die er mit Betreten der Unterwelt stieß, traf ihn fast härter als jedes Katastrophenszenario. Crol hatte seinen Rucksack abgelegt und tauchte in das Leben der Krume ein, in das fast unüberschaubare Gewirr von Gängen und Räumen einer Stadt, die sich unter dem gesamten Nordkontinent erstreckte. Er war völlig unterhöhlt, und in einer dieser Höhlen wartete... Er spürte eine Hitze wie von Fieber in sich aufsteigen. Mit jedem Schritt, den er weiter vordrang. Sein Ziel war eines der Röhrensysteme, die die Zentren der riesigen Stadt miteinander verbanden. Von einem der öffentlichen Kommunikationspunkte aus versuchte er eine Verbindung zu Nasra herzustellen. Er sandte sein Kennung und wartete. Aber die Gesprächsannahme wurde verweigert. Crol fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Eine Weile stand er einfach nur da. Der Verkehr, Passanten und kleinere Fahrzeuge, wälzten sich an ihm vorbei. Er vermisste das Gefühl dazuzugehören und fühlte sich wie auf einem fremden Planeten. Plötzlich kam Unruhe auf. Sie hatte nichts mit ihm zu tun, sondern mit einer Gestalt, die sich aus einem der Tunnel gelöst hatte und auf den großen, gewölbeüberdachten Platz trat. Crol hatte ein solches Wesen noch niemals zuvor gesehen. Ein... Roboter?, überlegte er, während die massige Gestalt an ihm vorbeiging und auf der anderen Seite des Platzes wieder in einem anderen Schacht verschwand.
Bislang hatte Crol den direkten Kontakt mit anderen Finragen vermieden. Jetzt aber schnappte er sich den Nächstbesten und hielt ihn fest. »Was... war das?« Der andere schien durch ihn hindurchzusehen. »Du hast es doch auch gesehen. Dieses Ding. Dieses Wesen. Wer oder was ist es? Hat es mit dem Turm zu tun? Mit den Zerstörungen?« Der andere starrte immer noch durch ihn hindurch. Crol ließ ihn los, worauf sich der Finrage entfernte, als wäre nichts geschehen. Crol wandte sich einem beliebigen anderen Passanten zu. Auch dieser ignorierte ihn, ganz gleich wie hartnäckig Crol auf ihn einredete, an ihm zupfte und zuletzt sogar zerrte. Von da ab nahm er seine Umgebung anders wahr als zuvor. Bewusster. Klarer. Und ihm begann zu dämmern, was er die ganze Zeit seit dem Eintauchen in die Unterwelt eines beharrlich ignoriert hatte: Er sah die hier lebenden Finragen – aber die Finragen schienen ihn nicht zu sehen. Weder zu sehen noch zu hören. Es war, als existierte er für sie überhaupt nicht. Als wäre er nie aus dem fernen Süden zurückgekehrt. *** Der Schock, den diese Erkenntnis mitbrachte, ebbte nur langsam ab. Plötzlich erlangte auch Nasras Gesprächsverweigerung eine neue mögliche Bedeutung. Er hoffte, sich zu täuschen, aber die Umstände ließen nichts Gutes erahnen. Bis zu diesem Moment war ihm Einsamkeit fremd gewesen. Nun fühlte er sich regelrecht davon einzementiert.
Der Turm. Der Fremde, den er gesehen hatte. Die Beschädigungen an der Oberfläche... Was war hier geschehen? Er entschied sich, sein Wiedersehen mit Nasra zu verschieben. Stattdessen würde er Direktor Xaf kontaktieren. Jetzt, sofort. Und zwar nicht über eine Kommunikationsanlage, sondern persönlich! *** Das Institut lag abseits jedes Hauptknotenpunktes, was viel über den Stellenwert verriet, den man Oberflächenerkundungen beimaß – noch dazu im Süden, noch dazu Relikte aus grauer Vorzeit betreffend. Auf dem Weg dorthin sah Crol weitere der bizarren Wesen – oder Maschinen? –, aber er machte stets einen weiten Boden um sie und befragte auch keinen Passanten mehr nach ihnen. Irgendwie hatte er das Gefühl, die Ignoranz, mit der man ihm seit seiner Rückkehr begegnete, zu seinem Vorteil nutzen zu müssen... so lange sie anhielt. Ein anderes Gefühl sagte ihm, dass die echten Probleme erst beginnen würden, sobald er nicht mehr ignoriert wurde. Du leidest an Verfolgungswahn. Er wünschte, er hätte es glauben können. Die Wahrheit, daran hatte er kaum noch Zweifel, war sehr viel komplizierter – und noch um einiges bedrohlicher. Er hetzte die Stufen des Haupteingangs empor. Die Dunkelheit war voller Markierungen, die den Weg in die verschiedenen Trakte wiesen. Crol kannte sich hier besser aus als jeder andere Finrage, Direktor Xaf selbst vielleicht ausgenommen. Er traf ihn in seinem Büro, in Unterlagen und ein Sammelsurium von Funden vertieft.
Crol platzte einfach herein. Die Umstände ließen ihn jede Form von Höflichkeit – oder Respekt – vergessen. »Direktor!«, rief er. Der ältere Finrage sah nicht auf. »Direktor Xaf!« Crol eilte quer durch den Raum und blieb neben dem Leiter des Instituts, in dem auch er beschäftigt war, stehen. Der Finrage zeigte immer noch keine Reaktion, und dies in einer Weise, dass Crol keinen Moment in Betracht zog, der Direktor würde ihn absichtlich nicht beachten. Er sieht mich nicht. Er sieht und hört mich nicht. Aber... Die Internkommunikation summte. Xaf reagierte augenblicklich und nahm das Gespräch entgegen. Es handelte sich um einen seiner Assistenten, den auch Crol kannte. »Ich komme«, beendete der Direktor nach wenigen Sätzen das Gespräch. Crol stellte sich ihm in den Weg – aber Xaf schob ihn einfach weg; es sah nach einer unbewussten Reaktion aus. Crol ließ ihn ziehen. Wie betäubt atmete er eine Weile nur tief ein und aus und bemühte sich um das, was er längst verloren hatte: seine Fassung. Schließlich kam ihm eine Idee. Er wusste, dass der Direktor Tagebuch führte. Durch Zufall war er einmal an das Passwort gelangt, mit dem sein Vorgesetzter die entsprechende Datei im Rechnerverbund sicherte. In der Vergangenheit hatte es sich als überaus hilfreich erwiesen, über Xafs private Gedanken informiert zu sein. Über seine Vorhaben und Einschätzungen von Mitarbeitern... Crol setzte sich vor den Büro-Anschluss und tippte die Symbolfolge ein, die seine Autorisierung nachwies. Schon im nächsten Moment entfaltete sich vor ihm ein Display, das ihm Einblick in Xafs geheimste Gedanken gewährte.
Aber schon das Datum der aktuellen und an oberster Stelle stehenden Eintrags irritierte ihn. Dieses Datum lag in der Zukunft. Egarnif musste seine Sonne erst noch einmal zu einem Viertel umrunden, ehe der Tag kam, den Xaf hier bereits aufgearbeitet hatte... Crol scrollte zurück bis zum vorherigen Eintrag. Auch dieses Datum war falsch, markierte einen Zeitpunkt... Crol erstarrte. Sein Blick fiel auf die winzige Einblendung, mit der der Rechnerverbund selbst das aktuelle Datum inklusive Uhrzeit anzeigte. Er brauchte lange, bis er auch tatsächlich begriff, was er sah. Bis zu diesem Augenblick war er der festen Überzeugung gewesen, höchstens einen Tag im Süden verbracht zu haben. Glaubte er dem Rechner, den er gerade konsultierte – oder Xafs privaten Niederschriften –, war dies ein fataler Trugschluss von unabsehbarer Tragweite. Demnach war er länger von Nasra und seinem Zuhause getrennt gewesen als jemals zuvor. Genau so lange wie Xafs jüngster Eintrag die vermeintliche Zukunft markierte, die nichts anderes als die wahrhaftige Gegenwart war. Der Fehler lag ganz allein bei ihm, seiner subjektiven Empfindung. Statt ein paar Stunden hatte ihn der Zwischenfall auf dem Südkontinent Monate seines Lebens gekostet! Oder, um es noch komplizierter zu machen, für ihn selbst war nur ein Wimpernschlag vergangen, während für ganz Egarnif und alle Finragen offenbar eine völlig neue Epoche angebrochen war... Zum ersten Mal kam Crol der Gedanke, in Wahrheit vielleicht tot und nur als Geist heimgekehrt zu sein. Aber auch dieser Erklärungsversuch hielt einer genauen Prüfung und den folgenden Ereignissen nicht stand.
9. Gegenwart an Bord der EXPANSION EINS Cloud beratschlagte sich kurz mit den anderen. Das Ergebnis war einstimmig – selbst die nicht stimmberechtigten Foronen äußersten ihr Einverständnis. Kurz darauf wandte sich Cloud in seiner Funktion als Sprecher ihrer Gruppe an Artas. »Wir sind einverstanden. Zumindest bis wir den Halo erreichen. Dort aber möchten wir erstens auf unser eigenes Schiff zurück und zweitens ausgeschleust werden.« »Ihr seid freie Geschöpfe«, bekräftigte der Satoga noch einmal. »Dann wäre das geklärt.« »Beinahe«, schränkte Cloud ein. »Eine kleine – nenn es Bitte – hätten wir noch.« »Welche?« »Wir möchten unser Schiff sehen. Den Ort, wo es... geparkt wurde.« »Ihr wollt wissen, ob es wirklich aufgenommen wurde – oder von uns zerstört?« Artas hatte sie sofort durchschaut. »Ich weiß, unser Misstrauen hat bereits leicht psychotische Züge angenommen, aber – ja!« »Ich verstehe und akzeptiere deine Anspielung. Seht!« Wieder wechselte die Szene, zeigte einen Bereich, der sich Artas’ Ausführungen zufolge innerhalb der Ellipseneinheit befand. Er war in merkwürdige Rottöne gebadet und erinnerte an das Innere einer kristallbewachsenen Höhle. Die Spitzen der zahllosen herausragenden Stalagmiten und Stalagtiten wiesen allesamt auf die RUBIKON. »Ist das eine eurer Tiefen Kammern?«, fragte Scobee. Artas bejahte.
»Und wo sind diese Mentoren, von denen du gesprochen hast? Ich sehe niemanden, nur diese funkelnden Dinger...« Artas’ Züge blieben trotz des ewigen Feixens seltsam ausdruckslos. »Die funkelnden Dinger, wie du sie nennst, sind die Mentoren.« *** Cloud wusste nicht warum, aber auch er war von Satoga ausgegangen, die die Mentoren verkörperten – zumindest aber von lebenden Wesen. Stattdessen schien es sich um nichts anderes als Kristalle mit besonderen Eigenschaften zu handeln. »Es sind anorganische Züchtungen. Wenn ihr wollt, könnt ihr es mit dem Bemühen der Dex vergleichen, organische Strukturen zu erschaffen«, sagte Artas. »Wie die Virgh. Oder das Wesen, das im Stock aufgetaucht ist.« »Es waren drei... oder vier, wenn wir deinen Ausführungen folgen«, fragte Scobee. »Welches davon meinst du? Wer davon ist eine Züchtung der Dex?« Cloud erwartete die Antwort des Satoga so gespannt wie die Frau, die mit ihm auf Kalser gewesen war. In ihren Augen schien ein Flehen zu stehen, das rief: Lass es nicht Jiim sein – um Himmels willen, er hat auch so schon genug hinter sich! »Das Pflanzenwesen«, sagte Artas, und die Erleichterung ließ zwei Menschen gleichzeitig seufzen. »Wie die Virgh«, fuhr Artas fort, »ist es keineswegs vollkommen – aus Sicht der Dex und bedenkt man ihren vermuteten selbst gesetzten Anspruch, jedenfalls. Alle ihre Experimente, die wir bislang aufspürten, besitzen neben der Biostruktur auch noch einen mehr oder weniger ausgeprägten anorganischen Kern.« »Warum züchteten sie Organisches?«, fragte Aylea. »Ich verstehe das nicht.«
»Zum einen«, kam Cloud einer möglichen Antwort von Artas zuvor, indem er die eigene Erfahrung in die Waagschale warf, »wollten sie auf diese Weise wohl Agenten innerhalb der organischen Völker einschleusen. Von wenigstens einem solchen Fall haben wir Kenntnis. Und zum anderen könnten sie es tun oder getan haben, um sich besser in die Psyche ihrer Gegner hineinversetzen, zu lernen... Ist das denkbar, Artas?« »Wir vermuten noch ein anderes Motiv«, erwiderte der Satoga im weiten, tunikaartigen Gewand. »Sie erforschen das Organische, um seine Schwachstellen auszuloten. Insbesondere auch die körperlichen.« »Aber wäre es da nicht viel effizienter gewesen, sich auf eine einzige Art zu beschränken?«, fragte Scobee. »Die nämlich, mit der sie sich befehden? Sie hatten doch sicher Gelegenheiten, Satoga in ihre Gewalt zu bringen, wenn ihr mit ihnen schon seit so langer Zeit verfeindet seid.« Artas ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte.« »Eine Geschichte?«, drang es aus Jarvis’ Nanokörper. »Danach werdet ihr vieles klarer sehen.« »Fang an«, forderte Cloud ihn auf. »Das werde ich.« Artas zeigte zu den Magnetmeistern mit den übergroßen Köpfen, in deren winzigen Gesichtern sich nichts ablesen ließ, was ihre Empfindungen oder gar Gedanken verraten hätte. »Womit wir bei dem Grund wären, warum sich mir eine Loge angeschlossen hat.« »Ich hoffe, es bedeutet nichts Unangenehmes«, sagte Cloud. »Für uns.« »Nein, aber ich will euch vorwarnen, damit ihr keinen feindlichen Akt dahinter vermutet.« »Wohinter?« Jarvis klang plötzlich überaus wachsam. »Wir Satoga haben eine ganz eigene Art, Wissen zu vermitteln«, sagte Artas ruhig. »Wir beginnen jetzt. Bleibt ganz ruhig und entspannt. Es sieht vielleicht gefährlich aus, aber es
ist absolut schmerzfrei. Danach werdet ihr verstehen, woher die Feindschaft zwischen den Dex und uns rührt... Und wie es dazu kam, dass wir nach so langer Zeit ihrer Spur folgen.« Nachdem er gesprochen hatte, war es Sekunden lang so still, dass Cloud die Atemzüge seiner Begleiter hören konnten – und auch seine eigenen. Da lösten sich unvermittelt aus den Schädeln der Magnetmeister züngelnde Blitze, von denen ein jeder ein anderes Ziel fand. Selbst Jarvis wurde von einem dieser »Energiefäden« getroffen. Cloud sah es aus den Augenwinkeln. Aber da schlug der Blitz auch schon bei ihm selbst ein und elektrisierte seinen Geist. Übergoss ihn mit Bildern, Tönen und Stimmen, die sich sofort zu einem »Film« vermischten, in den er hineingezogen wurde und dessen Bilderrausch jeden weiteren Gedanken diktierte. Die von Artas angekündigte Geschichte begann sich vor dem geistigen Auge eines erlesenen Publikums zu entfalten... *** Die sonnenzugewandte Seite eines paradiesisch wirkenden Planeten. Grünblau, von Wolkenmustern durchzogen, gewaltige Kontinente, nur ein großer Ozean, der von den Landmassen umkränzt wurde. Das Meer funkelte türkis und war von kleineren Archipelen durchdrungen. Cloud hatte das Gefühl, auf die freundliche Welt zuzustürzen, auf eine der Küsten zu. Und je näher er kam, desto mehr verlangsamte sich der vermeintliche Fall, rückten Details in den Blick. Plötzlich raste von unten etwas auf ihn zu – mitten durch ihn hindurch, wie es ihm vorkam – und verschwand über ihm in der grenzenlosen Weite des Alls.
Ein Raumschiff, ähnlich geformt wie die ersten Feststoffraketen der Menschheit, aber bulliger, imposanter wirkend. »Zu jener Zeit steckten wir noch in den Anfängen unserer technischen Entwicklung«, erfuhr Cloud von einem unsichtbaren Moderator – Artas? einer der Magnetmeister? –, der die auflebenden Bilder in unaufdringlicher Weise kommentierte. »Wir hatten erst begonnen, unser eigenes Sonnensystem zu besiedeln, und das erste Raumschiff, die EREMIT, kehrte gerade aus interstellaren Weiten zurück. Es war Jahre zuvor zum nächstgelegenen Sternensystem aufgebrochen, dem die Astronomen eine Reihe von Planeten attestierten. Über ihre Beschaffenheit und ob sie eventuell sogar Leben trugen, war erst vor kurzem mehr bekannt geworden – nachdem das nun heimkehrende Schiff seiner eigenen Ankunft einen umfangreichen Bericht vorausgesandt hatte. Die Nachricht war lichtschnell, der Absender erreichte allenfalls zehn Prozent dieser Geschwindigkeit. So kam es, dass die Satoga im Heimatsystem schon einiges über den Fund wussten, noch ehe die EREMIT landete und ihn der Wissenschaft in großem Maßstab zugänglich machte. Bei dem Fund handelte es sich um ein Mineral, wie es in ihrem eigenen System auf keinem Planeten vorkam, zumindest war es noch nirgendwo entdeckt worden. Die Forscher tauften es Luminium, was so viel wie ›Segen‹ bedeutet. Und zum Segen wurde es, obwohl die EREMIT nur vergleichbar geringe Mengen davon hatte bergen können. Das Vorkommen am Fundort aber sollte gewaltig sein, und so vertiefte sich die geistige Elite unseres Volkes in den Fabelstoff und seine unglaublichen Eigenschaften. Anfangs hielt man ihn für Überbleibsel jener Urmaterie, die sich schon kurz nach dem Big Bang gebildet hatte. Wie er auf einen Planeten gelangt sein konnte, der sich erst viele Milliarden Jahre später formte, blieb
dabei ebenso ein ungelöstes Rätsel wie die Frage, warum er im Nachbarsystem, nicht aber bei den Satoga vorkam. Es gab Theorien, wonach der Stoff als Meteorit auf der Fundwelt niedergegangen sein mochte. Aber sie blieben unbelegt, und nach und nach lernte man Näheres über den Stoff, kam hinter mehr und mehr seiner geheimnisumwobenen Eigenschaften. Fakt war: Er band, speicherte... oder wie immer man es ausdrücken wollte... die Singularität, die das Universum zum Zeitpunkt des Urknalls durchdrungen hatte. Und diese Eigenschaft, diese in ihm gespeicherte Energie, stieß den Satoga das Tor zu den Sternen, das sich bis dahin allenfalls einen winzigen Spalt weit geöffnet hatte, sperrangelweit auf. Auf der Basis von Luminium als Treibstoff wurde in relativ kurzer Zeit ein Experimentalantrieb entwickelt, der zunächst nur eine Sonde durch Raum und Zeit schickte – milliardenfach schneller als das Licht – und nach dem gelungenen Test ein riesiges Fahrzeug, das fast ausschließlich aus Lagerraum bestand. Es wurde ins Nachbarsystem entsandt, wo sich ein eigens geschultes Team an den Abbau des dortigen LuminiumVorkommens machte. Noch vor Jahresfrist kehrte die STERNENTOR zurück. Mit Vorräten, die es gestatteten, eine regelrechte Flotte von weiteren Schiffen in Angriff zu nehmen. Für die Satoga erfüllte sich damit ein uralter Traum. Erstmals, seit wir uns eine fortschrittliche Zivilisation nennen durften, erhielten wir die Chance, unsere Nachkommenschaft ohne die seit Generationen notwendigen Opfer heranwachsen zu sehen.« Das verstehe ich nicht, dachte Cloud, der wie im Zeitraffer zu jeder Aussage des Moderators entsprechende Bilder empfangen hatten, die sein Wissen um die Satoga und ihre Lebensweise – damals – anreicherten. Von welchen Opfern ist die Rede? Sein Einwand fand Gehör. »Wir Satoga sind eine ungeheuer fruchtbare Spezies. Du hast unseren Planeten gesehen, seine
Landmasse war zum Zeitpunkt unseres Aufbruchs ins All völlig übervölkert, uns blieb im Grunde keine andere Wahl, als in den Weltraum auszuweichen – nachdem wir auch schon unseren Ozean aufwändig mit unterseeischen Kolonien durchsetzt hatten. Unsere Fruchtbarkeit wurde schon früh in unserer Geschichte zu einem Problem. Als wir noch nicht in der Lage waren, andere Welten zu erreichen, brachte sie uns mehrfach an den Rand des Untergangs. Unsere Welt platzte förmlich aus ihren Nähten, sodass schließlich Regeln – Gesetze – erlassen werden mussten, die der bis dahin ungestümen Fortpflanzung Riegel vorschoben.« Geburtenkontrolle, dachte Cloud. Die Satoga entdeckten also das weite Feld der Verhütung... »Im weitesten Sinne. Es gab das dunkle Zeitalter der gezielten Tötung, in dem Abermilliarden Satoga ihr Leben ließen.« Aber warum wurden sie getötet? Warum brachte man sie erst zur Welt, wenn man doch wusste, dass es keinen Lebensraum für sie gibt? Seine Empörung fand keinen Widerhall. Der Moderator ging nicht auf den Einwand ein, stattdessen trug die Bilderflut Cloud weiter zur nächsten Station der Enthüllungen. »Wir waren«, fuhr die geistige Stimme nach kurzem Schweigen fort, »wie schon erwähnt, auf neuen Siedlungsraum angewiesen. Seit ein paar Generationen war ein beängstigendes Phänomen spürbar geworden: Ab einem bestimmten Punkt in unserer Geschichte vermehrten wir uns nach langen Phase gemäßigter Fruchtbarkeit plötzlich explosionsartig. Unsere Wissenschaft fand dafür keine Erklärung – bis heute nicht übrigens, und das, obwohl wir den genetischen Bauplan der Satoga bis ins letzte sichtbare Detail erforschten. Unsere Vermehrungssucht ist und bleibt ein ungelöstes Rätsel – und ein Problem, das unser ganzes Dasein prägt. Unser eigener Planet wurde uns schnell zu klein.
Anstrengungen, andere Planeten unseres Urheimatsystems zu besiedeln, erbrachten nicht das gewünschte schnelle Ergebnis. Sie waren zu lebensfeindlich, der Aufwand stand in keinem Verhältnis zum erzielten Nutzen oder gewonnenen Lebensraum. So kam es zur Entsendung erster Schiffe in viel versprechende Nachbarsysteme. Die EREMIT war eines davon – und das erste, das mit hoffnungsvollen Resultaten zurückkehrte. Luminium wurde binnen kürzester Frist zur Zauberformel. Kaum hatten wir damit die ersten funktionsfähigen Überlichtantriebe entwickelt, siedelten wir auf neuen Sauerstoffwelten an. So ging es immer weiter – die Kolonisationsrate wuchs adäquat zur Vermehrungsrate. Und auch das Einflussgebiet meines Volkes wurde immer größer. Auf andere intelligente Völker oder gar solche, die eine nennenswerte technische Zivilisation errichtet hatten, trafen wir in jener Phase nicht ein einziges Mal, sodass sich der Glaube durchsetzte – der auch lange Zeit unsere Religion bestimmte –, dass wir die einzige beseelte Lebensform in unserer Galaxie, wahrscheinlich sogar im ganzen Universum waren.« Eure Galaxie, warf Cloud ein. Wo liegt sie? Wenn es nicht die Kleine Magellansche Wolke ist... »Ihr nennt sie Sculptor-System.« Ein Darstellung entstand, die die genannte Kleingalaxie im Orchester der Lokalen Gruppe zeigte. Und plötzlich wurde Cloud verständlicher, warum die Jay’nac die Magellanschen Wolken zu ihrem Bollwerk gegen die Satoga ausgebaut hatten. Sie lagen, kosmisch gesehen, genau zwischen Milchstraße und Sculptor-System. »Der Glaube von unserer Einzigartigkeit wurde erst erschüttert, als wir bereits einen Radius von gut dreihundert Lichtjahren um unsere Heimatsonne Satog erkundet und gewaltige Umsiedlungen vorgenommen hatten«, fuhr der
Moderator fort. »Eines Tages landete ein Luminium-Suchschiff auf einem unwirtlichen Planeten jenseits des erforschten Gebietes. Und dort fand die Besatzung erstmals etwas, was unsere Überzeugung, einzigartig zu sein, als folgenschweren Irrglauben entlarvte: FREMDE INTELLIGENZ. Noch dazu in solch bizarrer Form, dass es lange brauchte, ehe die Entdecker überhaupt wahrhaben wollten, was sie gefunden hatten – und was sie gefunden hatte. Es war unsere erste Begegnung, unser erster Kontakt mit einer anorganischen Intelligenz, die damals noch keinen Namen hatte, die aber bald zu unseren erbitterten Gegnern wurden: die Dex.« Cloud hatte das Gefühl, den Atem anzuhalten. Er fragte: Was geschah damals auf jenem Planeten? Wie kam es dazu, dass ihr Feinde wurdet? Wie sahen die Dex aus, in welchen Strukturen lebten sie? »Das kann ich dir nicht beantworten. Es kam nie zu einer Verständigung.« Nie zu einer Verständigung? Ihr habt Krieg gegen sie geführt – was war der Grund? Der Auslöser? »Sie griffen uns grundlos an. Dort auf dem Planeten mit dem Luminiumvorkommen. Wir nehmen an, dass auch sie es als unentbehrlichen Stoff für ihre Sternenschiffe benötigten.« War es ihre Heimatwelt, auf der ihr auf sie getroffen seid? »Nein, es gab keinerlei Anzeichen einer Besiedlung – nicht einmal durch Wesen, die auf den ersten Blick gar nicht als lebendig, geschweige denn intelligent erkannt werden. Sie waren dort wegen des Luminiums, eine andere Erklärung gibt es nicht.« Vor Clouds geistigem Auge entstand eine fremdartige Planetenlandschaft. Darin eingebettet ein Raumschiff, dem Satoga entstiegen. Sie errichteten Anlagen, mit denen offenbar Bodenproben genommen, vielleicht auch schon regelrechter Abbau des kostbaren Luminiums betrieben werden sollten. Was geschah? Was genau geschah?, drängte Cloud.
»Ich sagte es schon...« Am Himmel über dem Satoga-Schiff erschien ein riesiges, abstraktes Gebilde, das Cloud spätestens in dem Moment den Dex zuordnete, als es das Feuer auf die Satoga eröffnete. Tumultartige Szenen entbrannten. Die Schiffsbesatzung flüchtete an Bord, ein Schutzfeld legte sich um ihr Raumschiff, es startete und erwiderte das Feuer. Die Dex-Einheit erwies sich als stärker, am Ende gelang den Satoga mit knapper Not die Flucht in den übergeordneten Raum. »Wir kehrten zurück – ein kleiner Verband unserer wehrhaftesten Schiffe. Aber wir fanden keine Spur mehr von dem Dex-Schiff. Mehr noch...« Mehr noch?, fragte Cloud ungeduldig. »... es gab auch kein Luminiumvorkommen mehr auf der Welt, die unser Suchschiff gefunden hatte. Damit lieferten die Dex den endgültigen Beweis, dass es ihnen auch nur um das Luminium ging. Und dass sie an keiner friedlichen Einigung interessiert waren. Dennoch bemühten wir uns weiter um Gespräche, um Verhandlungen, denn es blieb nicht bei diesem einen Zusammenstoß. Es war, als hätten wir in ein Insektennest gestoßen – plötzlich waren die Dex überall, wo unsere Sucher Luminium ausfindig machten. Wir mussten Unsere Schiffe hochrüsten, statt einzelner Einheiten waren fortan nur noch regelrechte Flotten unterwegs – und natürlich reagierten die Dex adäquat. Es war uns nicht möglich, Funksendungen von ihnen aufzufangen, um auf diese Weise ihre Sprache zu entschlüsseln und mehr über ihre Lebensweise, mehr über ihr Denken in Erfahrung zu bringen... Grundlagen für eine Verständigung zu schaffen. Erst sehr viel später wurde uns klar, dass sie sich telepathisch verständigten, was wir zum Anlass nahmen, uns auch auf diesem Gebiet fortzuentwickeln. Entsprechende Module wurden entwickelt.« Module?
»Ihr würdet uns als Cyborgs bezeichnen. Wir haben im Laufe der Zeit immer perfektere Methoden entwickelt, unsere Körper mit Hilfe von Mikrosystemen aufzuwerten. Die ersten noch unausgereiften Implantate entstanden in den damaligen Kriegswirren, als die Feindseligkeiten offen entbrannten und sich nicht mehr allein auf Zusammenstöße über LuminiumPlaneten beschränkten. Die Dex verfolgten unsere Schiffe, wir verfolgten die Dex. Dadurch lernten sie die Positionen unserer Welten kennen und wir die der ihren. Binnen weniger Jahre verwandelte sich unsere Galaxis in eine Hölle. Und niemals – in all der Zeit nicht, bei keiner Gelegenheit – kam es jemals zu einem Dialog mit dem Gegner. Zu Gesprächen oder auch nur dem Austausch von Standpunkten.« Ja, dachte Cloud, sich an die Erde erinnernd. Es klingt banal. Es klingt verrückt. Aber so... genau so entstehen Kriege. »Die Vermehrungsrate meines Volkes steigerte sich proportional zur Kolonisierung neuer Welten«, sagte der Moderator, den Cloud inzwischen sicher als Artas identifiziert zu haben glaubte. »Es war, als verfügten unsere Hormone über Eigenintelligenz, als passten sie sich permanent den gestiegenen Möglichkeiten zur Vermehrung und Ausbreitung unserer Art an.« Ihr habt dafür wirklich nie die Ursache ermitteln können? Cloud machte aus seinen Zweifeln keinen Hehl. Ein Volk wie die Satoga... »Nie. Bis heute nicht. Auch wenn dies unglaublich und unglaubwürdig für euch klingen mag. Der Krieg jedenfalls stachelte mein Volk zu immer neuen Hochleistungen an. Bald waren unsere Waffen stärker, unsere Defensivschilde widerstandsfähiger und unsere Raumschiffe schneller als die der Dex, deren Welten wir nach und nach aufspürten und...« Artas zögerte. Und? »Und annektierten...«
Was bedeutet »annektieren« im Sprachgebrauch der Satoga? »Die Welten, von denen die Rede ist«, sagte Artas, »waren nicht nur Lebensräume der Dex, sie zeichneten sich auch ausnahmslos durch immense Luminiumvorkommen aus. Aus diesem Grund... besiegten wir erst die Dex und nahmen die Planeten danach für uns in Besitz. Unser Bedarf an Luminium wuchs in jener Zeit von Jahr zu Jahr.« Wenn es die Basis eurer Antriebe ist, ist das verständlich, dachte Cloud. »War«, sagte Artas. »Damals war es unverzichtbar. Und so spürten wir nach und nach alle Dex-Welten auf. Am Ende brauchten wir nur noch unseren auf Luminium geeichten Suchinstrumenten zu folgen.« Was geschah mit den Dex? »Sie hatten – oder haben, ich glaube nicht, dass sich daran etwas änderte – eine höchst unangenehme Eigenschaft: Sie geben nie auf. Für sie gibt es keine Kapitulation. Ein Planet ist erst erobert, wenn sich kein einziger Dex mehr auf seiner Oberfläche... oder in seinem Untergrund verbirgt.« Ihr habt sie also ausgerottet. Und »leiser«, nur für sich selbst bestimmt, dachte er: Wie die ersten Europäer die Indianer. »Wir waren am Rand des Genozids. Aber uns blieb keine Wahl, hätten wir sie nicht eliminiert, hätten sie es mit uns getan. Wie hätte euer Volk sich verhalten? Wahrscheinlich haargenau so, dachte Cloud bitter. Es gefiel ihm trotzdem nicht. Aber offenbar entgingen sie eurer... Verfolgung. Wie? »Indem sie aus Mara Forna flohen. Es gab einen regelrechten Exodus. Unsere damaligen Führer entschieden, sie ziehen zu lassen. Es war der größte Fehler unserer Geschichte.« Das verstehe ich nicht. Mara Forna gehörte fortan euch, oder? Euch ganz allein. Beziehungsweise euch und den
zahllosen anderen Spezies, die nur noch keine mit der euren vergleichbare Technologie entwickelt hatten – oder die es ganz einfach nicht in den Weltraum zog. »In Mara Forna gab es nur die Dex und uns.« Cloud spürte, wie das überwunden geglaubte Misstrauen neu erwachte. Wie er zu fürchten begann, dass Artas ihnen noch immer nicht die ganze Wahrheit auftischte. Oder war dies aus seiner Sicht doch der Fall? Er wäre nicht der Erste gewesen, der nicht über sämtliche Gräueltaten des eigenen Volkes unterrichtet war und der selbst hinters Licht geführt wurde, was die Geschichte seiner Art, der Satoga, anging. Dir ist bewusst, wie unglaublich das klingt? »Natürlich. Aber wir haben eine einleuchtende Erklärung dafür gefunden.« Welche? »Die Dex. Sie müssen Mara Forna schon vor unserer Erstbegegnung von sämtlichen organischen Intelligenzen gesäubert haben, die sie aufspürten. Als wir an der Reihe waren, stießen sie jedoch erstmals auf ernsthafte Gegenwehr und jemanden, der sie in ihre Schranken verwies.« Das ist eine billige Erklärung, dachte Cloud, ohne zu versuchen, seine weiter bestehende Skepsis vor Artas zu verbergen. Das klingt, als wären die Dex – oder Jay’nac, wie wir sie nennen – das Böse-an-sich. Ich tue mir schwer mit solchen Behauptungen. Sehr schwer. »Ihr seid freie Wesen. Es bleibt euch vorbehalten, mir zu glauben oder Aussagen anzuzweifeln. Ich fahre jetzt fort: Nach dem Exodus der Dex pegelte sich unsere Wachstums- und Vermehrungsquote aus bis heute unerfindlichem Grund für einige Jahrtausende auf ein verträgliches Maß ein. Der Drang, immer und immer neue Welten zu finden und zu besiedeln, wurde schwächer. Wir erschlossen Mara Forna jetzt langsamer für uns... und stießen dabei auch immer einmal auf Spuren
derer, die uns auslöschen wollten und die am Ende wir besiegen und vertreiben konnten.« Wie sahen diese Spuren aus? »Hinterlassenschaften. Undurchschaubare Bauten, die vielfach an... Mahn- oder Denkmale erinnerten. Nichts jedenfalls, was uns das bessere Begreifen ihrer Kultur, ihrer Werte oder auch nur ihrer Denkweise ermöglicht hätte.« Was tatet ihr mit den Funden? »Wir beließen sie an Ort und Stelle. Für uns wurden es Symbole unseres eigenen, unseres wichtigsten Triumphes.« Vor Clouds Geist entstand ein sonderbar geformter Obelisk als ein Beispiel von vielen. Eine Art Spirale, vielfach gewunden, die sich empor in den Himmel zu schrauben schien. Das Gebilde bestand aus einem anthrazitfarbenen Material, und darin eingraviert waren Zeichen, deren Bedeutung ihm Artas vermittelte: WIR SIND DAS WAHRE LEBEN. Die Aussage der Schrift bereitete Cloud Unbehagen, ohne dass er den Grund präzise hätte benennen können. Noch einmal zu den Dex, dachte er. Ihr habt sie einfach fliehen lassen, wolltet nicht wissen, wohin sie sich wandten? Immerhin lag es nahe, dass sie irgendwann gestärkt zurückkehren und versuchen würden, Rache zu üben. »Was ein aussichtsloses Unterfangen gewesen wäre. Unsere Macht und Stärke wuchs von Jahr zu Jahr. Nicht nur quantitativ, auch... du müsstest es selbst bezeugen können... qualitativ. Aber du hast Recht. Irgendwann – vor relativ kurzer Zeit: etwa zweihundert eurer Jahre – wollten wir wissen, ob sie dort noch sind, wohin sie damals flohen.« Und wohin war das? Warum erst vor zweihundert Jahren? Gab es einen besonderen Anlass? »Durchaus. Zum einen schnellte unsere Vermehrungsrate wieder drastisch nach oben, sodass absehbar wurde, wann Mara Forna uns nicht mehr genug Raum für unsere Kinder bieten würde, und zum anderen... nun, unserer
Fernbeobachtung fiel eine ganze Reihe unerklärlicher »Energieblitze« in der kleineren der beiden Sternenwolken auf, auf die die Dex damals Kurs genommen hatten. Wir entsandten Robotaufklärer und fanden bei einer der Koordinaten, an denen es zu den Blitzen gekommen war, eine Welt, auf der Maschinen eine Art Stützpunkt errichteten, der eindeutig der uns vertrauten, kaum fortentwickelten Jay’nac-Technologie entsprach. Jay’nac selbst konnten jedoch nicht aufgespürt werden. Die Aufklärungssonde blieb unbemerkt und verfolgte den Ausbau des Stützpunkts, bis sich dieser hinter einen perfekten Tarnschirm zurückzog. Nach eingehender Beratung und Auswertung der Daten nach Rückkehr des Aufklärers entschied die Satoga-Führung, ein Spezialrobotkommando zu dem Stützpunkt zu entsenden und hinter die Tarnung zu dringen. Dies hielt sie für dringend geboten, da sie auch nach all der Zeit noch mit einem Vergeltungsakt der Anorganischen rechnen musste. Das Robotkommando drang also in den Stützpunkt ein und entdeckte Absonderliches in rauen Mengen, aber keinen einzigen Jay’nac, obwohl die installierte Technik, wie erwähnt, keinen Zweifel an den Jay’nac als Urheber ließ. Die Station erinnerte an eine gigantische Antennenanlage, die jedoch inaktiv war. Statt der Jay’nac fanden die SatogaRoboter eine andere Lebensform, die dort im Tiefschlaf ruhte. Die Roboter versuchten, eines der Wesen zu bergen – was eine Katastrophe auslöste. Die komplette Anlage zerstörte sich selbst, die Satoga-Aufklärer konnten im letzten Moment entkommen...« Wie sah diese schlafende Lebensform aus, die ihr in der Kleinen Magellanschen Wolke fandet? Ein Bild entstand – und es verblüffte Cloud mindestens so sehr wie die Aufnahmen von Jiim, Cy und Algorian. Das... ist ein Keelon! ***
Ein Keelon – die herzartige Form war absolut unverwechselbar. Er ruhte in einem Stasebehälter... und die Bilder, die folgten, verdeutlichten, dass er keineswegs der Einzige war. Es gab Dutzende, Hunderte vergleichbarer Tanks. »Du hattest Kontakt mit Wesen dieser Art, ich weiß. Und es gibt klare Anzeichen dafür, dass sie in der engstmöglichen Verbindung zu den Dex stehen.« Und die wäre?, fragte Cloud völlig verwirrt. »Es handelt sich um eine ihre halborganischen Züchtungen.« Das allein war schon eine Behauptung wie ein Donnerschlag. Aber Cloud dachte nur: Halborganisch? »Dex-Züchtungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sämtlich einen anorganischen Kern besitzen, dessen genaue Funktion und Bedeutung wir bislang nicht entschlüsseln konnten. Das jedenfalls, was ich aus euren Datenbanken über den Keelon namens Darnok oder die Master auf eurer Heimatwelt Erde erfahren habe, lässt die schlafenden Keelon in der Kleinen Magellanschen Wolke in neuem Licht erscheinen – die ein noch rascheres Vorgehen erfordert. Deshalb verlieren wir auch keine Zeit. Deshalb ist Zeit vielleicht der größte Gegner, der uns droht...« Was meinst du damit? »Die Dex züchten nichts ohne Grund. Die Keelon sind sicher vielfach verwendbar – am effektivsten aber sicher als ultimative Waffe.« Ultimative Waffe? »Sie könnten damit, wenn sie sich so bedroht fühlen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, das absolute Zeitparadoxon herbeiführen und ein Universum kreieren wollen, in dem wir Satoga uns niemals zum Machtfaktor entwickelten.«
10. Vergangenheit Milchstraße, Krume Egarnif Direktor Xafs Tagebuchaufzeichnungen... Crol ging mit wachsender Nervosität zurück zu dem Tag, als sie zum Südkontinent aufgebrochen waren. Xaf hatte Entsprechendes vermerkt – und seine Einträge nach der überstürzten Rückkehr ergänzt und fortgesetzt. Er schilderte darin, wie sie das fremdartige, alte Bauwerk gewaltsam geöffnet, wie Crol in »ein schreckliches Licht« getaucht worden... und spurlos verschwunden war. Kurz darauf habe sich das gesamte Artefakt aufgelöst, und Xaf hatte nach erfolgloser Suche befohlen, ein Notfallpack für Crol zu hinterlassen, falls dieser doch noch einmal auftauchte. Zurück im Norden hatte er Nasra von seinem wahrscheinlichen Tod informiert – über ihre Reaktion war nichts vermerkt. In den folgenden Einträgen erwähnte Xaf hin und wieder kurz, dass er versuchte, eine neue Expedition in den Süden durchzusetzen, aber offenbar stieß er dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten. An Crols Rückkehr glaubte er nicht mehr. Und dann, Wochen später, kam es zu dem Ereignis, das ihn Crol ohnehin vergessen ließ. Und als dieser die Einträge las, hatte er dafür sogar Verständnis... auch wenn es ihm schwer fiel, überhaupt weiterzulesen, denn der Gedanke, dass Nasra ihn für unwiederbringlich tot hielt – seit Monaten schon! –, machte ihm schwer zu schaffen. Das von Xaf geschilderte Ereignis aber zog ihn dann doch in seinen Bann.
Er erfuhr, wie der Turm entstanden war. Unter welch entsetzlichen Umständen! Fremde Schiffe, die eindeutig nicht zur Allianz CLARON gehörten, waren auf der Krume gelandet. Zuvor hatte es bereits Besorgnis erregende Meldungen von einer Eskalation der Gewalt in der Milchstraße gegeben. Die Hauptwelten CLARONs würden von den anorganischen Jay’nac überrannt, hieß es darin. Überall würden die Aggressoren triumphieren und Planet um Planet erobern... Und anders als von Direktor Xaf beteuert, fanden sie die Krume Egarnif offenbar nicht zu unbedeutend, um sich ihr nicht ebenfalls zuzuwenden und... Atemlos las Crol, wie Xaf die Tage der Invasion erlebt hatte. Und plötzlich begann er zu ahnen, dass die Roboter, die überall in den Tunneln umherliefen, gar keine Roboter waren, sondern eben jene Anorganischen, die gesamte Unterwelt der Krume in ihre Gewalt gebracht hatten und brutal gegen die Finragen vorgegangen waren. Jeder Hauch von Gegenwehr war mit solcher Gewalt niedergeschlagen worden, dass bald jeder Widerstand erlosch. Und während an der Oberfläche mit dem Bau des Turms begonnen worden war, den Crol fertig gestellt gesehen hatte, war sämtlichen Finragen von den Jay’nac etwas einoperiert worden. Eine Art Chip, wie Xaf es beschrieb – bevor sich seine Eintragungen jäh veränderten, nur noch aus Belanglosigkeiten bestanden und die Invasion völlig ignorierten! Als wäre er einer Gehirnwäsche unterzogen worden, dachte Crol schaudernd. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Die Tür glitt auf, und Crol musste schmerzhaft erfahren, dass er – anders als zeitweise vermutet – wohl definitiv kein Geist sein konnte, denn ein solcher hätte sicher nicht erlitten, was er nun erleiden musste.
Alles ging fürchterlich schnell, ließ ihm keine Chance zur Flucht oder gar zur Gegenwehr. Er rechnete zunächst damit, dass Direktor Xafs zurückgekehrt war. Aber der war es nicht, sondern eines dieser Wesen, die in den Tunneln herumstrichen. Ein Jay’nac? Erst als es zielstrebig auf Crol zukam, fiel ihm auf, wie unerhört geschmeidig es sich bewegte. Trotz der seltsam starr wirkenden Haut. Das Wesen zerrte ihn brutal aus dem Büro und weiter aus dem Institut heraus. Crol strampelte, zappelte und schrie – aber kein Finrage, der ihnen begegnete, wurde darauf aufmerksam. Sie alle verhielten sich weiterhin, als gäbe es ihn gar nicht, als wäre er Bestandteil eines anderen »Films«, in dem sie nicht mitspielten. So gelangte Crol an einen Ort, wo ihm dasselbe widerfuhr, wie zuvor schon jedem anderen Finragen der Krume Egarnif. Ihm wurde ein Chip implantiert. Und von diesem Moment an wurde alles gut. Er wurde Bestandteil des Traumes, den inzwischen ganze Welten träumten...
11. Gegenwart Milchstraße Ankunft in der Virtusphäre Das von Artas entworfene Szenario eines Zeitparadoxons, dem vielleicht nicht nur die Satoga, sondern auch andere Völker – die Menschen? – zum Opfer fielen, wirkte immer noch in Cloud nach, obwohl der Moderator schon eine geraume Weile schwieg, ohne dass sein Auditorium in die Wirklichkeit zurück entlassen wurde. Es fühlte sich mehr wie eine Pause vor weiteren Enthüllungen an. Und sein Instinkt trog Cloud nicht. Irgendwann nahm Artas wieder den Faden auf. »Wir rechnen mit vielfältigen Teufeleien der Dex. Die Bollwerke Große und Kleine Magellansche Wolke sind weitestgehend unter unserer Kontrolle. Ich habe Befehl zur Zerstörung der uns bekannten Basen gegeben. Aber auch in eurer Heimatgalaxie ist mit Fallen zu rechnen. Die Dex sind heimtückischer als ihr es euch vorstellen könnt. Sie werden sich nicht mit Zerstörungen zufrieden geben, so schrecklich diese für sich allein genommen auch schon sind – aber sie haben all dies nicht getan und seit Jahrtausenden ausgebaut, um uns ungeschoren davonkommen zu lassen.« Sie scheinen euch hoffnungslos unterlegen. »Der Schein trügt allzu oft. Ich gehe nicht davon aus, dass sie ihr Pulver bereits verschossen haben. Ihre Diener, die Virgh, verwenden veraltete Technologie. Dasselbe erwarte ich von den Dex selbst dort, wo sie sich eingenistet haben, nicht.« Wie sehen eure Vorkehrungen dagegen aus?
»Das werde ich vor Ort entscheiden.« Welchen Rang nimmst du bei deinem Volk... oder einfach innerhalb dieser unglaublichen Flotte ein? Du kannst kein einfacher Raumschiffkommandant sein. Dieser würde kaum... »Ich bin der Erste Expanser. Ich leite die Aussaat, sobald die Dex endgültig der Vergangenheit angehören.« Aussaat? Neue Bilder, Darstellungen und Szenen wogten auf. Sie zeigten die EXPANSION EINS – oder eine ihr vergleichbare Satoga-Einheit. Zunächst von außen, doch dann wurde der Betrachter regelrecht darauf zugezogen und drang in sie ein, erhielt eine Schiffsführung im Zeitraffer. Cloud musste erkennen, dass die Gebilde dieser Klasse gar keine Sternenschiffe im klassischen Sinne waren. Viel mehr ähnelten sie winzigen Welten. Und die Tiefen Kammern, durch die Artas sie in seiner Funktion als Moderator lotste, waren keineswegs nur geschaffen, um beschädigte Magnetschiffe zu »heilen«. Was... ist das?, dachte Cloud, von Beklemmung erfasst, als er in Bereiche vordrang, von denen eine schwer verdauliche Präsenz auf ihn einwirkte. Die Struktur der Wände, von Boden und Decke war identisch mit den Orten, an denen sich die RUBIKON oder die PERSPEKTIVE aufhielten. Mentoren. Stalagmiten- und stalagtitenförmig. In unterschiedlichen Farbtönen leuchtend, manche pulsierend. Sie beschienen jedoch keine Gegenstände, Schiffe oder andere Fahrzeuge, sondern... »Unsere Brutstätten«, sagte Artas. »Wie ich schon sagte: Unsere Heimat birst. Die letzte außerzyklische Welle hat uns gezwungen, diese Armada zusammenzustellen, deren Aufgabe es nicht nur ist, die Dex zu verfolgen, zu stellen und endgültig als stete latente Bedrohung zu bannen, sondern auch...«
Cloud hatte das Gefühl, von Grauen, das ihm die Luft zum Atmen abschnürte, überwuchert zu werden. Eine Vorahnung – nein, mehr als das. »... sondern auch, um eine neue Galaxie für uns zu erschließen. Die Magellanschen Wolken bieten sich aufgrund der Virgh-Manipulationen in nächster Zeit nicht an. Wir müssen erst sicherstellen, dass sie keine Manipulationen vorgenommen haben, die uns schaden könnten. Eure Galaxie hingegen ist groß. Es gibt genug Raum... für viele Arten...« *** Cloud nahm an, dass Artas letzter Satz das Auditorium beruhigen sollte – es gelang ihm nicht. Die Bilder verblassten, die bekannte Umgebung des Amphitheaters kehrte zurück, und rings um Cloud waren nur Gesichter im Schockzustand zu sehen. Selbst Aylea hatte den Hintersinn und die Konsequenzen von Artas’ Aussage verstanden. »Ihr wollt... euch die Milchstraße aneignen?« Scobees Stimme schwankte. Und während Cloud seinen Kopf abtastete, als könnte er dort Nachwirkungen der »Blitze« finden, die ihn vorübergehend mit den gespenstischen Magnetmeistern vernetzt hatten, trat Artas auf Scobee zu und verneinte ihre Sorge. »Wir sind keine skrupellosen Eroberer«, versicherte er. »Wie ich schon sagte: Eure Galaxie ist riesig. Wir werden uns nur Welten zuwenden, die von keinem anderen mit Anspruch belegt sind. Im Zentrumsgebiet... oder auf der eurer Erde entgegengesetzten Seite.« Selbst wenn er all dies ernst meinte, blieb ein schales Gefühl zurück.
Mehr als das. Zumal Cloud wusste, dass er Artas von diesem Vorhaben nicht abbringen konnte. Ein Gedanke flammte in ihm auf: Wir haben also die Wahl zwischen Jay’nac und Satoga. Zwischen Pest... und Cholera? »Ich werde euch jetzt mit den Gefangenen zusammenführen. Das Dex-Bewusstsein wurde von uns aus dem Pflanzenwesen herausgelöst – es wird gegenwärtig einer speziellen Verhörmethode unterzogen. Die erwähnten drei, die ihr kennt, sind selbst Opfer der Dex. Sie werden in eure Obhut übergeben, wenn ihr einverstanden seid.« »Natürlich!«, beeilte sich Cloud zu versichern. »Aber ich hoffe, dass du das zuvor angeschnittene Thema noch ausführlicher mit uns erörtern wirst. Nicht nur wir brauchen Garantien, dass ihr es mit eurer Friedensliebe ernst meint. Auch die Völker der Milchstraße werden sich nicht mit ein paar warmen Worten zufrieden geben.« »Das ist uns bewusst.« »Gut. Können wir dann an Bord der RUBIKON zurück?« Artas bejahte. »Wir werden euch mit Erreichen des Zielgebietes ausschleusen.« »Wo genau liegt das Zielgebiet?« »In der Nähe einer der Supernovae. Dort werden wir mit der Spurensuche beginnen, um die Dex aufzuspüren. Und hoffen, dass unsere schlimmste Befürchtung, die mit den Keelon zusammenhängt, noch zu vereiteln ist... Kommt, das Shuttle wird euch in die Tiefe Kammer bringen – zu eurem Schiff...« *** Die Stunden vergingen. Vieles – wenn nicht alles – war anders geworden. Der Aufenthalt an Bord der RUBIKON erinnerte an die erste Zeit des sich hier Zurechtfindens, als alles noch fremd und beklemmend gewesen war.
Ein unsichtbarer Druck lastete auf sämtlichen Mitgliedern der Crew, selbst Sobek und Siroona zeigten sich davon betroffen. Sie hatten sich in ihre Zellen zurückgezogen. Klaustrophobie, dachte Cloud, der sich in der Zentrale aufhielt, zusammen mit Scobee. Das ist es. Das Wissen, dass um uns herum nicht Weltraum, sondern die Tiefe Kammer liegt, setzt der Psyche zu. Vielleicht steckt auch mehr dahinter. Vielleicht üben die Mentoren Einfluss auf uns aus... Sein Misstrauen war kaum noch zu bezähmen. Artas meldete sich über Funk. »Wir haben den Halo erreicht und stoßen jetzt in die Milchstraße selbst vor. Sobald wir den von euch als Orion-Arm bezeichneten Sektor erreichen, schleusen wir euch aus, einverstanden? Wir erkunden dann parallel zueinander. Ihr habt sicher vorrangige Ziele, die sich von unseren unterscheiden. Die Erde vielleicht, oder...« »Ja«, unterbrach ihn Cloud. »Die Erde. Gibt es dazu neue Ortungsergebnisse. Neu entflammte Supernovae, die damit in Zusammenhang stehen könnten? Ich gestehe, dass ich permanent damit rechne, dass auch unsere Heimatsonne...« »Negativ«, sagte Artas. »Euer Heimatsystem ist nicht vom Sternenbrand betroffen.« »Wann können wir Jiim, Cy und Algorian erwarten?«, fragte Scobee. »In Kürze. Sie sind bereits unterwegs zu euch.« *** Das Wiedersehen fand im Haupthangar der RUBIKON statt. Ein Satoga-Shuttle landete und entließ drei Gestalten, die offenbar von niemandem auf die bevorstehende Begegnung vorbereitet worden waren. Entsprechend groß war die Überraschung für das Trio – zugleich schwanden die letzten Zweifel, dass es sich dabei
auch tatsächlich um genau jene Personen handelte, die Cloud und Scobee von Anfang an vermutet hatten. Jiim trug kein Nabiss, sondern Kleidung, die ihm offenbar von den Satoga überlassen worden war und die Artas’ Toga ähnelte. »Guma Tschonk! Guma Sco Pi!« Jiims begeistert keckernde Rufe waren noch nicht verhallt, als sie einander auch schon in den Armen lagen. Die Begrüßung der CLARON-Botschafter verlief verhaltener, aber die Freude des Wiedersehens war auch bei ihnen unverkennbar. Die nächste Stunde, in der die Satoga-Flotte in den Seitenarm der Milchstraße vorstieß, verging beim gemeinsamen Informationsaustausch wie im Flug. Und dann, noch während die RUBIKON sich im Leib der EXPANSION EINS bei den Mentoren befand, schnappte die Falle der Dex zu! Eine ganze Armada wurde von einem Moment zum anderen wehrlos, ohne auch nur das Geringste davon zu bemerken. Und nur ein einziges Wesen blieb davon unbetroffen...
12. In der Pararealität »Gleich«, sagte GT-Scobee. »Gleich da vorne ist die Stelle, wo sie damals verschwanden. Das Bohrgerät steht noch da, als wäre es erst gestern gewesen.« Ja, dachte Cloud. Gestern – vor zweiundzwanzig Jahren. Er stoppte das Fahrzeug. Marsstaub wirbelte auf. »Da ist auch der Rover, mit dem mein Vater hierher fuhr«, stellte er fest. »Und dort, weiter hinten, ein zweiter, mit dem ihm seine Kameraden folgten, um nachzusehen, was geschehen war, als er nicht zum Habitat zurückkehrte.« Vor drei Tagen waren sie gelandet, nach einem 180-tägigen Flug, den Cloud und die anderen Nichtklone überwiegend in Stase zurückgelegt hatten. Drei Tage hatte es gebraucht, um die Vorbereitungen zum Vorstoß abzuschließen und den Konvoi in Bewegung zu setzen. Nun waren sie am Ziel angelangt... dem Ziel, dem Cloud fast sein ganzes Leben gewidmet hatte. In den anderen Fahrzeugen steckten die GenTec-Trupps, bis an die Zähne bewaffnet und zu allem entschlossen. Niemand wusste, was genau sie hier auf dem roten Planeten erwartete. Aber sie glaubten, bildeten sich ein, hofften, ihm gewachsen zu sein. Cloud wartete, bis die anderen Fahrzeuge gestoppt hatte, und gab den Befehl zum gemeinsamen Ausstieg. ***
Jenseits der Pararealität Nach allem Eigentümlichen, allem Absonderlichen und Furcht einflößenden, das Cy bislang erlebt hatte, war diese Erfahrung die mit Abstand schockierendste. Von einem Moment zum anderen entglitten ihm die anderen. Entglitten... ein treffenderes Wort fiel ihm nicht ein. Sie befanden sich in der Zentrale der RUBIKON, die ihn damals nach dem Angriff der Jay’nac in der Milchstraße aufgelesen hatte. Gerettet. Das Schicksal hatte ihn erneut hierher gewürfelt. Aber irgendetwas stimmte nicht. Den kurzen Aufenthalt bei den Satoga hatte Cy eher positiv in Erinnerung, war er dort doch von dem Jay’nac-Bewusstsein Porlac befreit worden. Seither gehörte der Körper, in dem er einst auf der Spore Auri geboren worden war, wieder ganz allein ihm. Was aus Porlac geworden war, wusste er nicht. Auch Cloud schien es nicht zu wissen. Cloud... »John!« Cy stieß den Mann, den Menschen, erneut mit einer seiner astartigen, knospenübersäten Extremitäten an. Doch dieser nahm ihn nicht wahr, verhielt sich wie trunken oder wie in einer tiefen Trance. Der Versuch, Algorian um Rat und Hilfe zu bitten, scheiterte an dem Umstand, dass auch der Aorii ihn plötzlich nicht mehr zu sehen und zu hören schien. Keiner der in der Zentrale Versammelten tat dies noch! Ich bin der Einzige, der noch bei Verstand ist, dachte Cy. Über die Gründe rätselte er vergeblich, und eine Zeitlang hielt
er es sogar für denkbar, dass nicht alle anderen, sondern er ganz allein den Verstand verloren hatte. Aber die Indizien sprachen dagegen. Cloud, Scobee, Jiim, der mit ihnen über die Brücke in den Virghstock gelangt war, Algorian... »SESHA!« Er kannte die KI von seinem früheren Aufenthalt an Bord, und auch wenn er wenig Hoffnung hegte, ihr Befehle erteilen zu können, so war es immerhin möglich, dass sie ihn hörte – und reagierte. »SESHA! Was geht hier vor? Du musst erkennen, dass etwas nicht stimmt. Sie alle verhalten sich merkwürdig... unnatürlich. Als lebe jeder in seinem eigenen Traum...!« Die KI reagierte nicht, und Cy dachte: Bei der Spore! Die KI ist davon auch befallen! Konnten künstliche Intelligenzen – Rechner – psychotische Symptome entwickeln? Kybernetische Paranoia? Lange Zeit irrte er hilf- und ratlos durch die RUBIKONZentrale. Irgendwann floh er von dort, weil es keine, absolut keine Möglichkeit gab, mit den anderen oder der KI in Kontakt zu treten. Er irrte durch das Labyrinth der Gänge, in dem er völlig die Orientierung verlor. Und als er schon glaubte, nie mehr zurück oder ein anderes Wesen zu finden, entdeckte er den Garten mit all seinen Pflanzen... und dem, der sie hütete... *** Cy drang in den hydroponischen Garten ein und rief sofort um Hilfe. Er erhielt zwar keine Antwort, egal wie oft er die Laute aus seinem Stamm presste, aber von weit hinten, aus einem Dickicht heraus, drang ein Leuchten, vom dem fast hypnotische Kraft ausging. Es zog ihn an wie ein Magnet. Und
plötzlich wusste er, dass er diesem Licht, diesem Leuchtfeuer, schon seit Verlassen der Zentrale gefolgt war – ohne es zu wissen. Es wisperte, rief und lockte und kitzelte seine Sinnesknospen. Und dann erreichte er die Quelle. Das Dickicht öffnete sich, und dahinter stand der Mensch, den er zuvor nur flüchtig bei der Begrüßung gesehen hatte. Jetzt war er verändert, stand da, über eine Pflanze gebeugt, und strahlte von innen heraus, als verberge sich unter seinem Fleisch eine Sonne. Das Leuchten umgab ihn wie eine Aura, es hüllte die Blume und ein paar angrenzende Gewächse ein. Cy meinte, ein wohliges Seufzen zu hören, das er sich aber vermutlich nur einbildete. »Du bist Jelto«, sagte er und trat auf den Menschen zu. »Jelto... was ist mit dir? Bist du... krank?« Vielleicht hätte er vorsichtiger sein sollen, mehr Acht auf seine eigene Gesundheit geben müssen, aber er war schon zu verzweifelt, um noch Risiken zu scheuen. Ganz nah trat er an den Mann heran... ... und tauchte dabei selbst in das Licht, das diesen umgab. »Jelto!«, rief er erneut, ohne große Hoffnung, Gehör und Beachtung zu finden. Doch diesmal war alles anders. *** Er hatte sich in den Garten zurückgezogen. Manchmal war er das Treiben in der Bordzentrale einfach Leid. Manchmal sehnte er sich danach, nur noch für die da zu sein, die keine andere Forderung an ihn stellten, als da zu sein, einfach nur für sie da zu sein.
Er hatte alles um sich herum vergessen, hatte in Erinnerungen an die Erde geschwelgt, an den Wald, dessen Hüter er war... Und plötzlich war es, als wäre er nie von dort fortgegangen. Er war auf der Erde. Er hatte sie nie verlassen. Er wusste nichts von der Welt jenseits des Waldes. Nichts vom Getto, in dem diejenigen ihr Dasein fristeten, die dem Regime zu problematisch geworden waren, den Mastern. Alles war gut. Alles war, wie er es wollte. Bis... Die Stimme durchdrang ihn wie ein Dolch. »Jelto! Jelto, bitte... kannst du mich hören? Ich brauche Hilfe. Deine Hilfe!« Er erwachte. *** Er erwachte. Der Staub des Mars, die Silhouetten der GenTecs vor der Röte des Horizonts, die Stimmen im Helmfunk... all das wich jäh vor ihm zurück. Verblasste. Wurde ersetzt von anderer Umgebung, anderem Licht, anderen Gestalten. »... zu dir! John, du musst zu dir kommen!« Er war doch bei sich! Immer gewesen... In dem Moment, als er dies dachte, wusste er, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Er sah Jelto, er sah eine in grelles Licht getauchte Umgebung... nicht der Mars... ein Raum, groß und hoch wie eine Kathedrale... Die Erinnerung, die Wirklichkeit kehrte endgültig zurück. »Jelto?«, stieß Cloud hervor. »Was...?«
Hinter dem Florenhüter kam eine andere Gestalt hervor, die ihm nur bis zum Nabel reichte. Cy. »Wir haben ein Problem«, zirpte der Außerirdische. *** Nach und nach erwachten alle, die von Jeltos Aura berührt wurden. Und während sie gegen den Nachhall ihrer individuellen Träume ankämpften, wandte sich Cloud bereits an SESHA: »Status!« Die KI behauptete: »Unverändert. Wir befinden uns im Herzen Tovah’Zaras, Hoher Sobek.« Da wusste Cloud, dass sie wirklich ein Problem hatten. »Was kann dahinterstecken?«, fragte Scobee, die auf ihn zustakste. »Ein Angriff? Die Jay’nac?« »Oder diese Mentoren«, knurrte Cloud. »Und damit indirekt die Satoga... Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber wir sollten etwas dagegen tun – so lange wir noch können.« Er winkte Jelto zu sich. »Wie lange kannst du deine Aura in dieser Stärke aufrecht erhalten? Ich kann mir denken, dass es dich enorme Kraft kostet...« Der Florenhüter nickte. »Im Höchstfall eine Stunde. Danach dürfte ich... ausgebrannt sein.« Cloud ging davon aus, dass er dies wörtlich meinte. »Dann gibt es keinen anderen Weg!« »Was meinst du?«, fragte Scobee. Cloud ließ sie stehen und erklomm das Podest, auf dem die Kommandositze angeordnet waren. Er warf sich in einen davon und initiierte den Sarkophag. Im nächsten Moment baute sich das Gehäuse aus Nanoteilchen um ihn herum auf, kapselte ihn von der ZentraleUmgebung ab, und ließ ihn mit der RUBIKON verschmelzen.
Sofort stand ihm deren gesamte Palette an Ortungsmöglichkeiten zur Verfügung. Aber die Tiefe Kammer war die Grenze. Sie schluckte jeden Scannstrahl, der sie verlassen wollte. Cloud aktivierte den Funk und schickte eine Nachricht an Artas. Der Spruch wiederholte sich in einer Endlosschleife. Als auch nach Minuten keine Antwort erfolgte, entschied sich Cloud für Plan B. Aus der RUBIKON ergossen sich Tod und Vernichtung über die Mentoren.
13. Die Entscheidung In der Wandung der EXPANSION EINS entstand ein gewaltiges Leck, eine Öffnung, aus der keinerlei Gase entwichen, dafür aber – die RUBIKON. Sie löste sich aus der unsichtbaren Umklammerung, die sie zwischen den Kristallen gehalten hatte und schwebte hinaus ins All. Und Cloud, der das Schiff in diesen Momenten war, da niemand wusste, wie die Satoga auf diesen Akt von Zerstörung reagieren würden, spürte, wie alle Beschränkungen von den Ortungssystemen abfielen. Mit den Augen der RUBIKON verschaffte er sich ein Bild der Umgebung. Das Ergebnis übertraf noch seine schlimmsten Befürchtungen. Der Umgebungsscan erfasste sämtliche Satoga-Einheiten, die den »Sprung« von der Großen Magellanschen Wolke zur Milchstraße vollzogen hatten. Eine riesige Armada – die an eine wehrlose Schafsherde erinnerte, unter die sich ausgehungerte, reißende Wölfe gemischt hatten! Was sind das für Schiffe? Erinjij, Hoher Sobek, beantwortete die KI seine Frage. Eine hiesige Spezies – es befinden sich Daten in meinen Speicherbänken. Cloud befahl, eines der Nicht-Satoga-Schiffe heranzuzoomen, das nur knapp dreihunderttausend Kilometer entfernt im Verband mit anderen kreuzte. Die optische Erfassung lieferte ein erstaunlich scharfes Bild. Der Bautyp war Cloud bekannt – er entsprach dem, was er an Kriegsschiffen der Menschen kennen gelernt hatte. Und auf der Außenhülle, zwischen den immer wieder aufgrellenden
Geschützantennen, hob sich sogar der Name lesbar ab: BERLIN. Eine Stadt, die längst aufgehört hatte zu existieren, zumindest aber in eine Metrop verwandelt worden war. So genau wusste Cloud es nicht. Es gab noch 74 Gigametropolen auf der Erde. Sie beherbergten insgesamt rund 150 Millionen Menschen – nur 150 Millionen Menschen. Aber sie waren nicht die einzigen Erinjij, nicht einmal die wahren, die in den Kriegsschiffen der Flotte dienten. Dort, das wusste er inzwischen, verrichteten ausschließlich in-vitroGeborene ihr blutiges Handwerk. Die drastisch reduzierte Erdbevölkerung stellte den genetischen Pool, aus dem von den Keelon geschöpft wurde. Es hatte mehrere Generationen gezielter Bevölkerungskontrolle gebraucht, um nur noch den Erdbewohnern Nachwuchs zu erlauben, die über einwandfreies Erbgut verfügten. Und über andere Qualitätsmerkmale, zu denen hohe Intelligenz gehörten. Das übrige Sonnensystem war kolonisiert, Planeten wie die Venus, wie Mars und selbst der Jupitermond Titan terraformt worden. Dort existierten in diesen Tagen die Wohnstätten und Ausbildungslager des anderen, weitaus größeren Teils der Menschheit: der Klone. Daraus rekrutierte sich die irdische Sternenflotte. Und diese hatte mehr als einmal bewiesen, wie rigoros sie eigene Interessen durchsetzte. Eigene Interessen... Okay. Aber das hier ist ein Massaker! Die Bilder brannten sich regelrecht in sein Gehirn. Hier: die Satoga-Flotte, die sich nicht mehr in ihrem übergeordneten Reisemedium befand, sondern ins Normaluniversum zurückgestürzt war und ohne jede Gegenwehr – ohne jede Reaktion – durch den Weltraum driftete. Dort: die Einheiten der Erinjij, zahlenmäßig völlig unterlegen – Cloud ermittelte ein Verhältnis von über 100:1 zu Gunsten der Satoga –, aber durch die fehlende Gegenwehr in
die Lage versetzt, eine Art gespenstisches Tontaubenschießen zu praktizieren. Die Satoga-Schiffe waren immer noch in ihre Schilde gehüllt, die sich wie Blasen um die zu schützenden Objekte spannten. Leistungsstarke Defensivsysteme – die aber dem hochkonzentrierten Beschuss aus bis zu zehn Erinjij-Einheiten gleichzeitig nicht standzuhalten vermochten. Immer wieder erblühten in der Umgebung der RUBIKON und EXPANSION EINS »Blumen« von grausiger Schönheit und extremer Kurzlebigkeit. Sie markierten die Stellen, wo das gebündelte Erinjij-Feuer Wirkung zeigte. Wo Satoga in unbekannter Zahl starben. Die Versuche, mit Artas in Verbindung zu treten, liefen unaufhörlich weiter. Nun aber, im Angesicht der Tötungs- und Zerstörungsorgie, die die Menschen anrichteten, schickte Cloud auch ihnen einen Ruf entgegen. »Aufhören! Stellt das Feuer ein! Wir müssen reden – Missverständnisse aufklären. Die Satoga sind gesprächsbereit, sie kommen nicht als Eroberer...« Er wusste nicht einmal, ob das wahr war. Er hoffte es. In diesem Augenblick registrierte die RUBIKON Strukturerschütterungen, die nicht mit dem Muster der ErinjijAntriebe übereinstimmten. Cloud erfasste eine Zahl von neu hinzugekommenen Raumschiffen, die noch einmal der der bislang schon agierenden Erinjij-Einheiten entsprach. Nicht einen Moment zog er in Erwägung, dass diese Schiffe den Satoga zu Hilfe eilten. Nicht nur ihre Energiemuster, auch ihre Formen unterschieden sich komplett von den Konstruktionen der Menschen. Grundgütiger Himmel... Niemand brauchte es ihm zu sagen, er wusste es ganz einfach: Die Neuankömmlinge waren Jay’nac – Dex! ***
Sie sahen aus wie skurril geformte Gebirge. Keine Form glich der anderen. Ihre Antriebsweise ließ sich nicht ermitteln, wohl aber ihre Masse, und diese deutete darauf hin, dass sich innerhalb der Körper keine oder bestenfalls geringfügige Hohlräume befanden. Cloud wurde von einer Stimme überrascht, die sich in seinem Bewusstsein bemerkbar machte: »Es ist wie damals, als unser Schiff CLARON von den Jay’nac angegriffen wurde«, sagte Algorian, der ein schwacher Telepath war und dem es offenbar gelungen war, auf diese Weise zu Cloud vorzudringen. »Die letzten Messdaten vor der Zerstörung unseres Schiffes entsprachen dem, was du gerade feststellst. Wir kamen zu dem Schluss, dass diese Schiffe die Jay’nac sind.« Du meinst... ? »Die Anorganischen treten selbst in den unterschiedlichsten Erscheinungsbildern auf. Wir wissen nicht, ob sie ihre Gestalt ändern, oder ob die Natur sie einfach nur sehr variabel hervorbringt.« Aber wie könnten sie Raumschiffe sein? »Sie waren es sicherlich nicht von jeher. Aber vielleicht haben sie Wege gefunden, ihre Körper aufzurüsten, ›reisetauglich‹ zu machen und mit Waffensystemen auszustatten...« Eine Theorie, mehr nicht. Aber Cloud spürte, wie ihm diese Vorstellung erstmals das tatsächliche Ausmaß von Fremdartigkeit, das die Jay’nac umfing, nahe brachte. Für Augenblicke vernachlässigte er die Ortungssysteme. Die RUBIKON befand sich immer noch im knapp fünf Kilometer breiten Raum zwischen der Außenhülle der EXPANSION EINS und deren Schutzschild... ... als dieser Schild plötzlich äußerster Belastung unterzogen wurde.
Mehrere mutmaßliche Jay’nac-Einheiten hatten sich dem gewaltigen Satoga-Schiff genähert und nahmen es nun unter unerbittlichen Beschuss. Die RUBIKON, die innerhalb des Schildes gefangen war, eröffnete das Feuer aus ihren konventionellen Geschützen auf die Angreifer. Die Energiebahnen durchdrangen den Schild – der RUBIKON selbst war dies als Festkörper unmöglich, doch die Schüsse verpufften wie Nadelstiche. Cloud Beobachtungen zufolge würde der von unvorstellbaren Energien gespeiste EXPANSION-Schild dem konzentrierten Beschuss trotz seiner Macht allenfalls noch ein, zwei Minuten standhalten. Und dann... Dann bleibt uns selbst nur noch der Versuch, unsere Haut durch Flucht zu retten. Aber er bezweifelte stark, dass die Jay’nac sie davonkommen lassen würden. Oder die Erinjij. Was blieb, war die Kontinuums-Waffe – die mächtigste aller Möglichkeiten zu Verteidigung, die in der RUBIKON schlummerte. Cloud konnte versuchen, den Vorgang, der sie erst jüngst in ein Paralleluniversum versetzt hatte, noch einmal zu wiederholen. Aber dies barg auch das Risiko, dass »dieses letzte Schlupfloch« in ein völlig chaotisches, lebensfeindliches Kontinuum führte, wo ihnen ein noch viel schreckliches Ende drohte als hier im Feindfeuer... Da, schneller als erwartet, kam der Moment der Wahrheit. Der Satoga-Schild kollabierte. Und die erste gegnerische Salve, die den Schutz durchdrang, traf nicht die EXPANSION EINS, sondern die RUBIKON. Cloud hatte das Gefühl, ins eigene Fleisch getroffen zu werden. Schwerer Treffer!, meldete SESHA unaufgefordert. Hüllenbruch in Sektion... Es folgte ein Angabe, die Cloud ignorierte, weil bereits weitere Einschläge erfolgten.
Er versuchte noch, die K-Waffe auszulösen, obwohl er wusste, dass auch die nahe Satoga-Ellipse dabei ins Verderben gerissen wurde – doch sie kam nicht zum Einsatz, denn wichtige Elemente waren von den Treffern beschädigt worden. Warum die RUBIKON zum vorrangigen Ziel der Jay’nac geworden war, ließ sich leicht erklären: Sie war die einzige Einheit, die den Angreifern Paroli zu bieten versuchte. Ihr Gegenfeuer hatte den Zorn der Dex wie ein Magnet auf sich gezogen! Mein Fehler, dachte Cloud. Und löste den Sarkophag auf, um im Moment des Todes bei seinen Freunden zu sein. *** Er war nur als Beobachter hier, gekommen, um dem beizuwohnen, was die Schöpfer »die große Vergeltung« nannten. Den späten Konterschlag. Die Wegöffnung in eine Zukunft der freien Entfaltung... Der Beobachter verfolgte die matt gesetzte Flotte und ihre systematische Vernichtung über einen taktischen Schirm, der etwa zehn Meter im Quadrat groß war und die gesamte Decke einnahm. Jedes der mehr als hunderttausend Feindschiffe war als atommodellartiges Symbol darauf zu erkennen, und einige Dutzend – auch farblich und etwas größer hervorgehoben – waren elliptisch geformt. Die Armada des Urfeindes, die führungslos im Einfluss der Virtusphäre dahintrieb. Ihre Insassen bemerkten den Tod nicht einmal, der nach ihnen griff. Sie träumten eine Realität, die falsch war und ihre Sinne gegen die Gefahr verschloss. Es hatte auf der Erde begonnen... und auf dem ersten von den Erinjij annektierten Planeten, der eine eigene intelligente Urbevölkerung besaß. Mit einem winzigen Chip hatte es
angefangen, und schnell war ein Lichtjahre umspannendes Netzwerk daraus geworden. Die Menschen der Erde glaubten, ein Spiel zu spielen. Aber es war immer schon sehr viel mehr, nämlich grausame Wirklichkeit gewesen. PACKA, so der Name des Netzwerks, über das nun die Falle gestellt worden war. Und was den Köder anging... Der Beobachter konsultierte einen kleineren Schirm, der vor seinem Ruhebecken angebracht war. Dort war eine stilisierte Ansicht der Milchstraße zu finden und des Seitenarms, in dem sie sich befanden. Hunderte von Lichtern markierten die Positionen der Türme, die hyperenergetische, überlichtschnelle Emissionen aussandten, die den Eindruck von Sternen erzeugten, die fast gleichzeitig zu Supernovae geworden waren. Einziger Zweck dieser Leuchtfeuer war es gewesen, den eintreffenden Feind in das Gebiet zu manövrieren, wo er erwartet wurde. Vom Packa-Netz. Von der initialisierten psionischen Kraft, die von Abermilliarden denkenden Wesen erzeugt und aufrecht erhalten wurde. Und die sich ausschließlich gegen rein organische Gehirne wandte. Wie die des Urfeindes – aus der Urheimat der Jay’nac. Der Beobachter richtete sein Hauptaugenmerk auf die größten Einheiten der Feindflotte, die Ellipsen... als die angekündigte Verstärkung eintraf. Die Schöpfer selbst wollten sich an der Ausmerzung der Gegnerschaft beteiligen. Der Beobachter nahm eine Veränderung am taktischen Schirm vor, worauf nur noch die eigenen Kräfte und die größten Feind-Einheiten zu sehen waren. Bei einer der Ellipse tat sich plötzlich etwas Unerwartetes: Sie wurde von innen heraus beschädigt. Kurze Zeit später löste sich ein Gebilde daraus, das der Beobachter – etwas in ihm – augenblicklich erkannte.
Und ab diesem Moment war nichts mehr wie zuvor. In dem Beobachter entbrannte ein lautlos, verzweifelt und erbittert geführter Kampf. Mit weitreichenden Folgen... *** »John!« »Ich weiß.« Er stemmte sich aus dem Sitz. »Es ist vorbei. Es tut mir Leid...« Kreidebleich, wächsern, die Gesichter fast aller Gefährten. Selbst Cy, das Pflanzenwesen, schien alle Farbe verloren zu haben. SESHA sagte: »Das gegnerische Feuer wurde eingestellt.« Cloud realisierte es zunächst gar nicht. Aber dann stieß Jarvis ins gleiche Horn: »John... Leute... Seht doch!« Der ausgestreckte Arm des Nanokörpers wies hin zur holographischen Säule, in der sich der umgebende Weltraum mit all seinen Objekten widerspiegelte. Und wo es aufgehört hatte zu blitzen. Wo keine neuen Miniatursonnen geboren wurden, die schon nach Sekunden wieder erloschen. Cloud schüttelte alle aufkeimenden Fragen ab und rief: »Bestätigung: Ruhen wirklich sämtliche Waffen?« »Den Sensoren zufolge ja.« »Unser Status?« »Schwere bis schwerste Schäden in verschiedenen Sektionen. Reparabel.« Reparabel. Cloud schwirrte der Schädel. Mit Gewalt musste er die Hoffnung, die in ihm aufstieg, gering halten. Nichts war gewonnen, das Ende nur hinausgeschoben. Dass Jay’nac und Erinjij eine Waffenpause eingelegt hatten, bedeutete nicht... »Empfange Nachricht.« Die KI klang entnervend unaufgeregt.
»Artas?«, fragte Cloud. Endlich! »Negativ. Ein Schiff ganz am Rande des Geschehens.« In der Holosäule entstand ein Fenster, in dem eine einzelne Erinjij-Einheit sichtbar wurde. Auf der Außenwandung stand: ROOGAL. Cloud spürte einen Stich, als er den Namen des ehemaligen Keelon-Heimatplaneten las, zumal dies ein Novum zu sein schien: Bislang waren sie nur Erinjij -Schiffen begegnet, die das Regime nach früheren irdischen Städten benannt hatte. Waren den Mastern die Namen ausgegangen? Eine eher an den Haaren herbeigezogene denn sehr wahrscheinliche Erklärung. »Wie lautet der Inhalt der Sendung?«, wollte er wissen. »Sie lautet: Identifiziert euch! Identifiziert euch umgehend!« Cloud blickte von einem zum anderen, ehe er knurrte: »Sind sie nicht höflich? Sie wollen offenbar wissen, wen sie umbringen, bevor sie ihn umbringen.« Ein wildes, fast infernalisches Grinsen huschte über seine Züge. »Okay, dann tun wir ihnen mal den Gefallen... SESHA...?« Er holte tief Luft. »Identifiziere uns!« Im nächsten Moment begriff er den Denkfehler. Er wollte noch rufen: Halt! Kommando zurück! Aber in diesem Moment erlosch – versagte – Jeltos Aura. Der Florenhüter brach entkräftet zusammen. Und sämtliche Bewusstseine an Bord glitten wieder in die andere Realität.
14. 1+1=1? Cloud erwachte. Diesmal dauerte es nur einen Wimpernschlag, bis er wusste, dass das, was er gerade durchlebt hatte – ein biederes Leben in einer amerikanischen Kleinstadt mit keinerlei Ambition, jemals in den Weltraum aufzubrechen –, nur ein Traum gewesen war. Die Realität war hier. Oder hatte er nur die Träume gewechselt? »Wo... bin ich?« Das war nicht länger die RUBIKON: Das Metall der Wände... das technische Interieur... die Gestalt, die sich vor ihm aus einer muldenartigen Bodenvertiefung löste und sagte: »Willkommen, ehrwürdiger Sobek...« Täuschte er sich, oder schwang Ironie in den leisen Worten mit? Sobek: Das war der Fehler gewesen, den er zu spät bedacht hatte, als er die KI anwies, sich gegenüber dem Erinjij-Schiff zu identifizieren. Denn SESHA war in dem Irrglauben gefangen, der ihr suggerierte, Cloud sei ihr einstiger Foronenherr Sobek, und womöglich sah sie in den anderen weitere Mitglieder des früheren, längst gesprengten Herrscherrats... »Wer bist du?« Cloud blickte sich um Er war überzeugt, sich in einem der Erinjij -Schiffe zu befinden – was bedeutete, dass die RUBIKON zumindest gekapert, wenn nicht gar vernichtet worden war. »Wo ist meine... Besatzung?« »In Sicherheit.« »In Gewahrsam?« Die Gestalt, in der Cloud zweifelsfrei einen Keelon erkannt hatte – wenngleich es ihm unmöglich war, die Keelon
untereinander zu unterscheiden –, kam auf ihren Strünken näher. Sie schien keinerlei Scheu oder Sorge zu haben, Cloud könne ihr gefährlich werden. Und damit hatte sie vermutlich Recht. Es war schwer vorstellbar, dass ein Master keine entsprechenden Vorkehrungen traf, um sich zu schützen. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte der Keelon, dessen Extremitäten wie abgetrennte Adern wirkten. Die Haut war lackschwarz und von unzähligen Augen durchsetzt, die Cloud ausnahmslos anstarrten. »Wir kennen uns also.« »Vielleicht sollte man es vorsichtiger ausdrücken: Wir kannten uns.« »Dann bist du Arabim.« Der Master der Master, der Herr aller Keelon, die ihr Gespinst der Macht von den Residenztürmen der Erdmetrops aus woben. »Sonst bin ich noch keinem maßgeblichen Keelon begegnet – abgesehen von den Exilanten in Skytown. Die beiden anderen scheiden aus. Bodor ist tot, du hast ihn vor unseren Augen hingerichtet, und Darnok...« Cloud spürte, wie ihm der Schmerz, den die Erinnerung an den lieb gewonnenen Freund mitbrachte, kurz die Stimme stahl. Er räusperte sich. »Und Darnok lebt wahrscheinlich auch nicht mehr...« Der Keelon war jetzt ganz nah, etwa zwei Armlängen von Cloud entfernt. »Deine Schlussfolgerungen sind in höchstem Maße korrekt. Darnok ist tot.« Cloud spürte, wie die Bestätigung seiner Befürchtung den Wall von Vernunft niederriss, den er um sich herum errichtet hatte und der ihn davon abhielt, sich auf den Master zu stürzen. »Du...« Mit geballten Fäusten stürzte er auf den Keelon zu. Etwas hielt ihn Zentimeter von dem Außerirdischen auf. Eine Kraft – sanft, aber bestimmt – hinderte ihn, seine Wut auszuleben.
»Der Darnok zumindest, den du kanntest«, sagte der Master in diesem Moment. »Ich bin nicht mehr er, noch bin ich Arabim. Die Schöpfer formten einen Zwitter aus mir: Darabim...« *** Darabim. Welch absurde Vorstellung. Ein Zwitter. Ein Konglomerat aus... zwei Keelon? Miteinander verschmolzen zu einer Gestalt, einem Bewusstsein? Wer könnte – selbst wenn dies machbar gewesen wäre – Interesse an einem solchen Hybriden haben? »Die Schöpfer entschieden, dass ich Arabim vervollkommnen könnte – mit meinem Wissen, meiner Erfahrung, die ich nicht zuletzt im Zusammensein mit euch gewann.« Cloud wich wieder einen Schritt zurück. »Du... klingst nicht wie das, was du vorgibst zu sein. Wenn du so sprichst, hörst du dich nicht nach Arabim an, sondern einzig und allein wie...« »Ich habe ihn besiegt. Niedergerungen. Sonst wärt ihr nicht mehr am Leben. Sonst wäre inzwischen keiner mehr am Leben. Die Falle existiert immer noch. Der Feind ist darin gefangen. Die Frist, die ich erbat, läuft bald ab. Dann bringen Erinjij und Schöpfer zu Ende, was sie begannen.« »Du nennst die Jay’nac Schöpfer?« »Wir Keelon sind ihre Kinder – spirituell, nicht biologisch, versteht sich. Die Verschmelzung mit Arabim hat mich hinter die letzten Geheimnisse blicken lassen. Wir Keelon sind die jüngste, letzte und perfekteste Schöpfung der Jay’nac. Sobald die Gefahr beseitigt ist, widmen wir uns wieder unseren
eigenen Interessen. Aber wir werden jederzeit wieder bereit sein, die Schöpfer zu schützen.« »Jetzt«, sagte Cloud in ehrlicher Trauer, »klingst du nicht mehr wie Darnok.« »Ich sagte bereits, dass es den Darnok, den du kanntest, nicht mehr gibt. Ich habe gelernt... und begriffen, was zählt. Für mich und mein Volk. Für den noch existierenden Rest.« »Wie kannst du ein solches Gemetzel gutheißen?« Cloud schüttelte den Kopf. »Wenn du wirklich noch etwas von Darnok in dir hast, dann hilf mir!« »Helfen? Wobei? Euch geschieht nichts. Ihr seid nicht in den Konflikt verstrickt. Ich verbürge mich auch weiterhin für euch. Ihr könnt...« »Ich rede nicht von uns. Ich rede von den Satoga. Von all den Unschuldigen, die hier sterben sollen, nur weil die Jay’nac es nie verstanden, sich mit ihnen zu verständigen! Sie, die du Schöpfer nennst, sind die Schurken – die Satoga folgen nur ihrer Natur, die sie dazu zwingt...« »Das haben sie dir erzählt?« »Weißt du es besser?« Darabim bejahte. Und fragte: »Was würdet ihr Menschen tun, wenn eine andere Spezies zu euch käme und systematisch daran ginge, euch auszurotten, indem sie kompromisslos all eure Kinder tötet?« *** Artas erwachte. »John Cloud...« Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Wo bin ich? Das hier...« »... ist nicht die EXPANSION EINS, ich weiß. Und das, was jetzt auf dich einstürzt, wird dich vielleicht überfordern. Aber ich bitte dich, ernsthaft zu versuchen zu verstehen – und die Chance zu nutzen, die sich euch bietet. Die einzige Alternative,
wenn du dazu nicht bereit oder in der Lage bist, wird sein, dass ihr alle sterbt.« Er brauchte eine Weile, um auch nur die veränderte Situation zu begreifen. Und danach... »Du hast dich auf ihre Seite ziehen lassen!«, zischte Artas. Der Vorwurf des Satoga prallte an Cloud ab. Inzwischen hatte er ausreichend Zeit gehabt, Darabims Behauptungen zu hinterfragen. Der ehemalige Freund – oder das, was aus ihm geworden war – hatte eine Verbindung zu den Jay’nac hergestellt. Hatte sein ganzes eigenes Gewicht und seinen Einfluss dafür verwandt, dass die Anorganischen wenigstens prüften, was Cloud... und was die Satoga ihnen über die Missverständnisse der Vergangenheit zu sagen hatten. Das war mehr – unendlich mehr –, als Artas oder ein anderer in dieser hoffnungslosen Lage überhaupt hätte erwarten dürfen. Gleichzeitig bewies es, dass die Dex nicht das waren, was die Satoga noch heute in ihnen sahen. Der Knackpunkt wird sein, die Vorurteile und Vorverurteilungen auf beiden Seiten abzubauen... »Nein«, sagte Cloud mit einer Inbrunst, die er vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. »Tatsache ist, dass ich – meine ganze Crew – auf keiner von beiden Seiten stehe. Ich bin dir lediglich einen Schritt voraus, was die wahre Einschätzung der Geschehnisse angeht, die zu eurem unheilvollen Krieg geführt haben.« »Erklär es mir.« Artas blickte immer noch grimmiger als Cloud es je erlebt hatte. »Das Luminium ist an allem Schuld«, sagte Cloud. »Ich bin sicher, wenn ihr geahnt hättet...« »Was geahnt?«, drängte Artas voller Ungeduld. Er wirkte wie ein in einen winzigen Käfig gesperrtes Raubtier.
»Dass es nicht einfach nur ein Stoff ist, um Raumschiffe zu betanken und schneller als das Licht durch das Weltall zu Jagen...« »Sondern?« »Das, was ihr als Rohstoff mit fantastischen Eigenschaften betrachtet habt, war... ihre Brut, die sie, seit es sie gab, auf vielen Welten von Mara Forna ausbrachten und die irgendwann ins All aufbrachen, um es allein Kraft ihres Geistes zu durchstreiften...« Cloud schluckte. »Sobald sie erwachsen waren. Aber dazu habt ihr es nicht kommen lassen.« Er schüttelte den Kopf. »Artas... ihr habt – wie kann ich es drastisch genug ausdrücken, damit du es endlich begreifst? – ihr habt ihren Nachwuchs abgeerntet und für eure Reisen zwischen den Sternen missbraucht!« *** »Warum haben sie uns das nie... nicht einmal... gesagt?«, fragte Artas fassungslos. »Es wurden Fehler auf beiden Seiten gemacht – und genau das ist eure Chance. Springt über euren Schatten, geh du mit gutem Beispiel voran. Dein Wort hat unter deinem Volk Gewicht, und ich traue dir zu, auch den richtigen Ton bei den Dex zu finden.« »Darauf haben sie sich eingelassen?« »Ich habe ihnen gesagt, dass sie unmöglich glauben können, es würde bei dieser einen Flotte bleiben, die die Satoga zur Milchstraße entsenden«, erzählte Cloud. »Das Verschwinden so vieler Schiffe muss Konsequenzen haben, und ob es nicht klüger... vernünftiger wäre, die verkrusteten Standpunkte und Fronten aufzubrechen...« »Das haben sie akzeptiert?« »Noch lange nicht«, erwiderte Cloud. »Ich sagte doch: Auf dich wartet eine einmalige Chance – aber auch eine
Heidenarbeit. Ich für mein Teil drücke dir jedenfalls beide Daumen, dass es gelingt... Freund.« Artas stand lange nur da und schwieg und dachte über das Gehörte nach. Schließlich fragte er: »Mit wem kann ich sprechen?« »Ein Freund, den ich einmal hatte, schlug vor, es mit Porlac zu versuchen – dem Jay’nac-Bewusstsein, das inzwischen aus eurer Gefangenschaft befreit wurde. Er bot sich als Mittler an... und ich würde das als gutes Zeichen werten.« Die Skepsis in Artas’ Augen schien eine andere Auffassung zu dokumentieren. Aber er gab sich einen Ruck. »Danke«, sagte er. »Danke, Freund.« In diesem Moment wusste Cloud noch nicht, dass er zwar einen Freund wiedergewonnen, dafür aber den vielleicht wichtigsten Menschen in seinem Leben für immer verloren hatte. Erst bei seiner Rückkehr in die von mehreren Treffern in Mitleidenschaft gezogene RUBIKON erfuhr er es. In einer der betroffenen Sektionen hatte sich sein Vater befunden... *** Und noch eine Nachricht erwartete ihn, nachdem SESHA von ihrem Wahn geheilt war: Die beiden Foronen Sobek und Siroona waren aus ihren Zellen verschwunden. Die einzige Spur, die gefunden wurde und damit in direktem Zusammenhang stehen mochte, war das Fehlen einer der Transportkapseln der RUBIKON. Sobek und Siroona schienen die instabile Situation an Bord für eine erfolgreiche Flucht genutzt zu haben – was Cloud die 87 Schiffe in Erinnerung rief, die baugleich mit der RUBIKON waren und von Sobek vor ihrem Aufbruch zur Magellanschen Wolke noch mit
unbekannten Zielen über die Milchstraße verteilt worden waren. »Wir gehen unruhigen Zeiten entgegen«, sagte er an Scobee gewandt. »Selbst wenn sich Artas und die Jay’nac einig werden.« Er zwinkerte ihr zu. »Wie sehen deine Pläne für die nächsten Jahre aus?« »Überleben«, erwiderte sie trocken. »Ich werde einfach nur versuchen zu überleben. Ich fürchte, das wird meine volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Und du?« »Leben«, erwiderte er. »Ich werde mich bemühen, zwischen dem Überleben auch ein bisschen Zeit zum Leben zu finden.« Er lachte die Frau an, die er selten als das gesehen hatte, was sie zweifellos war: eine attraktive junge Frau. »Vielleicht«, erwiderte sie das Lächeln, »können wir das hin und wieder zusammen versuchen.« Epilog I Als der Traum von ihm abfiel, war Crol bei Nasra, und das half ihm, das ausbrechende Chaos unter den Finragen zu überstehen. Von einem Moment zum anderen sahen sie wieder, was real um sie vorging, nicht mehr das, was jeder Einzelne für sich glaubte zu erleben. Das Chaos war nicht auf die Krume Egarnif beschränkt. Überall auf den Welten der Allianz, die von den Jay’nac überrannt worden waren, kehrten Chip-Träger in die Wirklichkeit zurück. Die Virtusphäre war abgeschaltet worden. Die Türme, die den Satoga Supernovae vorgaukeln sollten, hatten ihren Dienst eingestellt, waren nur noch tote Bauten, die vielerorts in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren niedergerissen wurden.
Aber schon bald rückten neue Ereignisse, neue Bedrohungen und Herausforderungen in den Blickpunkt. Und auch die alten Feinde machten von sich reden. Die Menschen beispielsweise, die wohl immer die Erinjij bleiben würden... Epilog II »Ihr werdet euch aus der Milchstraße zurückziehen, wie ihr es versprochen habt?«, fragte John Cloud »Ja«, antwortete der Erste Expanser der Satoga. »Es gibt andere Ziele, anderen möglichen Lebensraum – je weiter er von den Dex entfernt liegt, desto besser. Beide Seiten haben Fehler begangen. Das Missverständnis ist behoben, aber was geschehen ist, hat Spuren, Narben hinterlassen. Es ist besser, wenn Satoga und Dex einander für eine lange Zeit aus dem Wege gehen.« »Ihr werdet auch anderswo nicht willkommen sein. Wohin ihr auch geht, es wird immer Völker geben, die euch eures Vermehrungsdranges wegen fürchten.« »Damit leben wir seit wir in die Fesseln unserer Ursprungswelt hinter uns ließen. Aber es gibt Hoffnung.« Cloud spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen, und noch bevor Artas weitersprach, wusste er, worauf der Satoga hinauswollte. »Du...« Artas stockte, um sich zu verbessern. »Ihr seid der Beweis, dass es eine friedliche Koexistenz mit anderen geben kann. Es bedeutet Arbeit, harte Arbeit und eine Kommunikation, die niemals abreißen darf, aber dann wird es möglich sein, sich Sterneninseln mit anderen zu teilen.« Cloud nickte nur. Er hoffte, dass Artas Recht behalten würde, hoffte es für den Satoga und sein fruchtbares Volk. Während sie zu den anderen zurückkehrten, musste er an die eigene Heimat denken, die weiter entfernt lag, als irgendein
Planet dort draußen im Sternenozean. Etwas Tückischeres als Entfernung trennte ihn von ihr: Jahrhunderte. Er wusste, dass er diese Heimat nie mehr betreten würde. Es war Zeit, sich damit abzufinden und in der Gegenwart Wurzeln zu schlagen, heimisch zu werden, die einmal unerreichbare Zukunft für ihn schien. Vielleicht bin ich einfach nur angekommen, dachte er. Dort, wo meine Bestimmung liegt. Wo Freundschaften und Erfahrungen für mich bereitstehen, die ich dort, wo ich herkomme, nie hätte gewinnen können. Nachdem Artas die RUBIKON verlassen hatte, suchte er den Friedhof auf, der Zuwachs an Gräbern bekommen hatte. Er blieb lange am Grab seines Vaters stehen und sprach so viel mit ihm, wie seit seiner frühen Kindheit nicht mehr. ENDE